Soziologie
Hartmut Esser
Soziologie Spezielle Grundlagen
Band 6: Sinn und Kultur
Campus Verlag Frankfurt/New York ...
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Soziologie
Hartmut Esser
Soziologie Spezielle Grundlagen
Band 6: Sinn und Kultur
Campus Verlag Frankfurt/New York
Soziologie Spezielle Grundlagen Band 1: Situationslogik und Handeln Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft Band 3: Soziales Handeln Band 4: Opportunitäten und Restriktionen Band 5: Institutionen Band 6: Sinn und Kultur
Hartmut Esser ist Professor für Soziologie und Wissenschaftslehre an der Universität Mannheim. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen. Zuletzt erschien von ihm als Buch die „Soziologie. Allgemeine Gundlagen“(3. Aufl. 1999)
Impressum Satz: Cornelia Schneider und Thorsten Kneip
Inhalt
IX
Vorwort Einführung: Was ist Kultur? Oder: Vom Sinn der Grenzen und von den Grenzen des Sinns
1
Teil A: Orientierung und Interpretation 1.
Das System der normativen Orientierung
35
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
36 40 51 59 65
Das Dilemma des Utilitarismus Die voluntaristische Theorie des Handelns Orientierung und Systeme Die Pattern Variables und das AGIL-Schema Das allgemeine Handlungssystem
Exkurs über Talcott Parsons und andere, die nicht wußten oder immer noch nicht wissen, was eigentlich eine Handlungs-„Theorie“ oder eine „Theorie“ überhaupt ist und was sie erfordert
75
2.
79
Symbole, Bedeutung und Interpretation 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Das normative und das interpretative Paradigma Der Prozeß der Interpretation Gesten und Symbole Geist und Bewußtsein Wiederkehrende Situationen
Exkurs über das Verhältnis von Nutzen, Normen und Bedeutung
80 90 96 106 111 114
VI 3.
4.
Inhalt
Der Horizont der Welt
117
3.1 3.2 3.3 3.4
120 140 150 162
Das Wählen zwischen Handlungsentwürfen Alltagshandeln Rahmen und Rezepte Soziales Handeln und Verstehen
Die Zerbrechlichkeit des Sinns
Exkurs über den Labelling Approach
171 194
Teil B: Die Konstitution des Sinns Eine kurze Zwischenbemerkung
203
5.
205
Kognition und Orientierung
Exkurs über die Kategorien des Verstandes Exkurs über den (Radikalen) Konstruktivismus
224 231
6.
Die „Einstellung“ auf die Situation
239
7.
Framing: Die Selektion des Bezugsrahmens
259
7.1 Framing: Die grundlegenden Vorgänge 7.2 Die Selektion von Modell und Modus 7.3 Der Wechsel des Bezugsrahmens
261 268 273
Exkurs über die Frage, wie es denn möglich wäre, sich zu entscheiden, nicht zu entscheiden 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8 7.9
Die Interaktion von Modell- und Modus-Selektion Framing und Handeln Einige spezielle Vorgänge Die Typen des Handelns: Noch einmal Wertrationalität Towards a General Theory of Action?
Exkurs über die „Rationalität“ bei der „Definition der Situation“
278 281 291 297 307 311 329 331
VII 8.
Inhalt
Identität
335
8.1 Dimensionen der Identität 8.2 Identität, Institution und Interaktion 8.3 Die „Verfassung“ des Selbst
336 345 358
Exkurs über Harald Schmitt, die Titanic und die Suche nach Moral und Identität in der Moderne
368
9.
371
Sozialisation
10. Das System der Lebenswelt
395
Exkurs über einen in diesem Zusammenhang vielleicht etwas überraschenden Fall: Die Lebenswelt des Schützengrabens
412
11. Soziale Gruppen
415
11.1 11.2 11.3 11.4
Das Konzept der sozialen Gruppe Die Gruppe als soziales System Bezugsgruppen Gruppenbildung und Gruppendruck
416 423 432 465
Exkurs über die Fremden
482
12. Soziale Konstitution
489
12.1 Drei Ansätze: Interpenetration, symbolische Interaktion und Autopoiesis 12.2 Soziale Konstitution als soziales Framing 12.3 Die Eigendynamik des sozialen Framings
490 496 509
Exkurs über den Kommunitarismus Exkurs über einen besonderen Fall der Bestimmungsleistung der Gruppe
518 527
Epilog
531
VIII Register Anhang
Inhalt
560 563
Vorwort
Unter Kultur versteht man – ganz allgemein – die erlernten oder sonstwie angeeigneten, über Nachahmung und Unterweisung tradierten, strukturierten und regelmäßigen, sozial verbreiteten und geteilten Gewohnheiten, Lebensweisen, Regeln, Symbolisierungen, Wert- und Wissensbestände der Akteure eines Kollektivs, einschließlich der Arten des Denkens, Empfindens und Handelns. Auch die Relikte dieses Handelns gehören dazu, wie der Kölner Dom, Max und Moritz, Messer und Gabel oder das White Horse von Iffington. Das Handeln der Menschen und dessen Folgen, etwa in Form der beschriebenen Relikte, können, so hat uns das Max Weber nahegelegt, nur dann als richtig „erklärt“ gelten, wenn man den dahinter stehenden „Sinn“ erfaßt und die Akteure in ihrem Tun „verstanden“ hat. Der Schlüssel zu diesem Verstehen sind einerseits die Intentionen und Interessen, der „subjektive“ Sinn also, den die Menschen mit ihrem Tun verbunden haben. Andererseits dann aber vor allem die jeweils besondere „Definition der Situation“, die die Sicht der Akteure auf die Situation mit einem oft unverrückbar festen „Rahmen“ versieht. Ein zentraler Bestandteil der „Definition“ der Situation ist die Orientierung der Akteure an gewissen, auch mit Emotionen verbundenen, Vorstellungen und gedanklichen „Modellen“, die sie als „Muster“ in ihrem Kopf haben und die durch gewisse Objekte in der Situation, den Symbolen, mit denen sie gedanklich und auch emotional assoziiert sind, aktiviert werden. Die mit der Kultur verbundenen gedanklichen Modelle und „Einstellungen“ und die damit assoziierten Objekte und Symbole bilden im Prozeß der „Definition“ der Situation die Verbindungsstelle der Vermittlung der „objektiven“ äußeren und mit den „subjektiven“ inneren Bedingungen der Situation, mit der „Identität“ des Akteurs also. Erst über die Aktivierung eines kulturellen Bezugsrahmens werden die materiellen Opportunitäten und die zunächst nur „extern“ geltenden institutionellen Regeln auch subjektiv „sinnvoll“ und damit handlungsrelevant. Ein „Verstehen“ der Akteure und der Folgen ihres Tuns, ein „Verstehen“ des „Sinns“ der sozialen Prozesse, Systeme und Gebilde also, ist daher erst über eine Erklärung auch dieses Vorgangs der kulturellen Definition von Situationen möglich. Um diese Verbindung zwischen innerer und äußerer Situation
X
Vorwort
über den Prozeß der kulturellen „Definition“ der Situation geht es in dem nun folgenden, die „Speziellen Grundlagen“ abschließenden Band 6. Er beginnt mit einer „Einführung“, in der zunächst die Begriffe „Sinn“ und „Kultur“ etwas genauer geklärt werden. Und dann werden einige – klassische und auch weniger klassische – Fälle der manchmal etwas kuriosen oder auch bedenklichen Folgen von kulturellen Situationsdefinitionen an insgesamt zehn Beispielen beschrieben. Der Band gliedert sich daran anschließend in zwei Teile. Der Teil A behandelt unter dem Titel „Orientierung und Interpretation“ vier grundlegende und gut etablierte soziologische „Ansätze“ der Erklärung des Vorgangs der kulturellen Definition der Situation: Das sog. normative Paradigma der Soziologie und das sog. interpretative Paradigma in seinen drei wichtigsten Varianten: Dem Symbolischen Interaktionismus nach George H. Mead und Herbert Blumer, der sog. phänomenologischen Soziologie nach Alfred Schütz und der sog. Ethnomethodologie nach Harold Garfinkel. Beim normativen Paradigma, das in Kapitel 1 ausführlich in der Gestalt der strukturfunktionalen Systemtheorie von Talcott Parsons dargestellt wird, wird davon ausgegangen, daß die Akteure, sozusagen, automatisch und „mechanisch“ den institutionellen und kulturellen Vorgaben der Situation folgen. Der Ausgangspunkt ist das Konzept des sog. unit act. Das ist ein Handlungskonzept, das postuliert, daß jedes Handeln und alle „Ziele“ und „Mittel“ einer, wie es heißt „normativen Orientierung“ unterliegen. Und daß es daher grundsätzlich kein Handeln und keine soziale Ordnung geben könne ohne eine solche normative Orientierung. Das interpretative Paradigma in der Form des Symbolischen Interaktionismus (nach Mead und Blumer insbesondere) dagegen betont die Offenheit vieler Situationen, die „aktive“ und „interpretierende“ Rolle der Akteure und ihrer Interessen bei der daher nötigen „Definition“ der Situation, daß sich die Menschen gerade durch ihren „Geist“, die „rationale“ Reflexion der Folgen also, von anderen Organismen unterscheiden, und daß sie die handlungsleitenden Orientierungen immer nur in durch Symbole geleiteten Interaktionen neu herstellen (Kapitel 2). Alfred Schütz hat – unabhängig von diesen Auseinandersetzungen – schon früh eine Art von Vermittlungsposition entwickelt. Sein Ansatz wird in Kapitel 3 vorgestellt. Er gibt an, unter welchen Bedingungen die Akteure, wenn man so will, dem normativen Paradigma folgen und wann sie anfangen, sich unsicher zu fühlen, nachzudenken und zu interpretieren. Der Hintergrund ist eine interessante Theorie der Strukturierung des Wissens und Handelns der Menschen: Die meisten Dinge bleiben als „offene Möglichkeiten“ latent im Hintergrund, werden aber sofort als „problematische Möglichkeiten“ aktiviert, wenn es in der Situation gewisse Störungen gibt. Dann kommt es auch zu „rationalen“ Entscheidungen und zur Suche nach neuen Informationen. Diese Suche wird aber sofort wieder aufgegeben, wenn
Vorwort
XI
sie sich nicht weiter zu lohnen scheint. Und was zunächst „problematisch“ und bedenkenswert erschien, wird alsbald wieder in den latenten Horizont der jetzt erneut „offenen“ Möglichkeiten abgeschoben. Diese Gedanken werden in den späteren Teilen des Bandes u.a. dazu genutzt, eine „einheitliche“ Theorie des Handelns zu entwickeln, in der der Gegensatz zwischen normativautomatischem und interpretativ-rationalem Handeln aufgehoben ist. Was bei solchen Störungen genau geschieht und wie wenig „bewußt“ den Menschen meist ist, was sie als fraglos selbst-„verständlich“ unterstellen, hat Harold Garfinkel mit der von ihm entwickelten Ethnomethodologie gezeigt. Kapitel 4 berichtet darüber und handelt insbesondere davon, wie erfinderisch und flexibel die Menschen sind, wenn ihnen die subjektive Sicherheit darüber abhanden gekommen ist, daß alles (s)einen Sinn hat, und wie leicht es möglich ist, sie auch in die absurdesten subjektiven Welten zu überführen, in denen sie sich aber alsbald (wieder) mit traumwandlerischer Sicherheit bewegen und hinterher oft nicht wahrhaben wollen, daß sie es waren, die so sonderbar gedacht, empfunden und gehandelt haben. Die vier beschriebenen soziologischen Perspektiven verstehen sich – nach wie vor – untereinander nicht gut. Jede hält sich für etwas Besonderes. Und mit der Theorie des „rationalen Handelns“ und einer erklärenden Soziologie wollen sie allesamt nichts zu tun haben. In Teil A werden die Beiträge zu den vier „klassischen“ Ansätzen daher jeweils auch möglichst werksgetreu wiedergegeben und (noch) ohne Versuch einer Einordnung in das Modell der soziologischen Erklärung. Darum geht es dann in Teil B mit dem Titel „Die Konstitution des Sinns“. Ausgangspunkt ist eine naheliegende Frage: Wenn man nur etwas distanzierter und abstrahierender auf diese Ansätze schaut, dann geht es letztlich immer nur um das Folgende: Wie sieht eigentlich die „Interaktion“ der materiellen Interessen der Menschen und der objektiven institutionellen Vorgaben des Handelns mit den symbolischen Konstruktionen der Kultur und den subjektiven Sinnwelten in ihren Köpfen bei der „Definition“ einer Situation aus? Und dann: Wieviel „Sinn“ legen die Menschen eigentlich in ihr Handeln, auch im Sinne, daß sie sich selbst über den – subjektiven und sozialen – Sinn ihres Tuns noch einmal „reflexiv“ vergewissern – oder aber es auch bleiben lassen? Und wie kann es kommen, daß sich die Akteure gegenseitig die Situation in der einen oder anderen Weise so „definieren“, daß ihnen schließlich auch nicht der Hauch eines Zweifels bleibt, es könnte alles ganz anders sein. Die Kapitel 5 bis 7 klären die für die kulturelle „Definition“ der Situation wichtigen kognitiven und handlungstheoretischen Zusammenhänge, gerade auch vor dem Hintergrund der sich derzeit rasant entwickelnden kognitiven (Sozial-)Psychologie und Gehirnforschung. In Kapitel 5 geht es in diesem Zu-
XII
Vorwort
sammenhang unter dem Titel „Kognition“ über die, zum großen Teil auch chemisch und biologisch vermittelte Prozesse, über die das Gehirn die eingehenden objektiven Sinnesreizungen in „Modelle“ der Wahrnehmung überführt. Das gibt auch Anlaß zu einer Betrachtung über die Möglichkeit, daß gewisse Elemente der „kulturellen“ Voreinstellungen des Gehirns schon angeboren sind und als „transzendentale Voraussetzungen“ die erlebte Wirklichkeit immer schon und allgemein in bestimmter Weise „definieren“, zum Beispiel als zeitlich, räumlich und kausal geordnete Strukturen. Kapitel 6 stellt die Verbindung zur sozialpsychologischen Einstellungsforschung her. Hier ist insbesondere die inzwischen erfolgte Integration der älteren Theorie der Einstellung, etwa im Anschluß an Gordon W. Allport, mit neueren Konzepten der Einstellung als „Intention“ durch Martin Fishbein und Izek Ajzen von Interesse, wie sie von Russell H. Fazio entwickelt wurde. Dessen Ansatz erinnert in deutlicher Weise an den Vorschlag von Alfred Schütz: Menschen handeln solange „automatisch“ nach eingelebten Einstellungen und Routinen, wie alles ist wie gewohnt. Erst wenn etwas Außergewöhnliches geschieht, fangen sie an mit dem „Interpretieren“. Und „rational“ nachdenken tun sie dann schließlich auch, allerdings nur, wenn ihnen das wichtig genug erscheint, wenn die Kosten dafür nicht zu hoch sind und, nicht zuletzt, wenn das in der Situation überhaupt möglich ist. Damit sind die wichtigsten Einzelheiten beisammen, zur Formulierung einer auch explizit nomologischen Erklärung der kulturellen „Definition“ der Situation – was in den bis dahin dargestellten Ansätzen allenfalls andeutungsweise vorkam. Diese Erklärung der „Definition“ der Situation wird in Kapitel 7 unter der Überschrift „Framing: Die Selektion des Bezugsrahmens“ beschrieben und an einer Reihe spezieller und weit verstreuter Problembereiche sozusagen auf ihre Haltbarkeit „getestet“. Der Kern des Framingkonzepts ist die Idee, daß die „Definition“ der Situation aus der Aktivierung gewisser, im Gedächtnis gespeicherter „Modelle“ für typische Situationen besteht und daß dabei sowohl der „Match“ von (erwarteten) Symbolen und diesen Modellen, wie auch die Opportunitätskosten einer eventuell „falschen“ Orientierung eine steuernde Rolle spielen. Und dann kann es, unter denen im Framing-Konzept beschriebenen Bedingungen, auch zu einem Wechsel von einem „automatisch-spontanen“ zu einem „reflektierend-kalkulierenden“ Modus der Informationsverarbeitung kommen. Es sei hier schon hinzugefügt, daß die Modellierung dieses Vorgangs formal mit den Mitteln der bisher meist verwandten Wert-Erwartungstheorie erfolgt, daß die für diese Selektion angenommenen inhaltlichen Mechanismen aber keine sind, die zwingend eine „rationale Wahl“ unterstellen. Es ist eine Theorie des Handelns, die ganz ausdrücklich von der, empirisch unabweisbaren, begrenzten Rationalität des Akteurs ausgeht und davon, daß sich ihm die objektive Umgebung immer nur in
Vorwort
XIII
Form von kulturell vorgefertigten, mit Symbolen assoziierten, vereinfachenden gedanklichen „Modellen“ vermittelt. Der Hintergrund ist der Versuch, eine allgemeine Theorie des Handelns für alle Gesellschaftswissenschaften zu entwickeln, die zum Beispiel erklären kann, wann es warum zu welchem „Typ“ des Handelns kommt, wann also, etwa, nach dem Modell des homo sociologicus und wann nach dem des homo oeconomicus gehandelt wird. Wir glauben, daß dieser Versuch gelungen und damit ein wichtiger Schritt hin zu einer „General Theory of Action“ getan ist, die gegenüber den anderen Ansätzen den Vorzug hat, sich nicht auf einen speziellen Aspekt zu beschränken – und dazu noch eine wirkliche „Erklärung“ im Sinne des Hempel-OppenheimSchemas darstellt. Das Framing-Konzept ist, wenn man so will, das Herzstück der hier vorgestellten „kultursoziologischen“ Erweiterung oder auch Anreicherung (und damit: Verallgemeinerung) des „einfachen“ Rational-Choice-Ansatzes. Insbesondere stellt es die kognitions- und handlungstheoretische Verbindung der Identität des Akteurs zum „strukturellen“ Konzept der sozialen Produktionsfunktionen her, wie sie in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich besprochen wurden: Die kulturellen Frames korrespondieren systematisch mit den institutionell definierten (und in ihrer Verfolgung auch materiell begrenzten) Oberzielen der sozialen Produktionsfunktionen, den primären Zwischengütern also, in den unterschiedlichen funktionalen Sphären, kulturellen Milieus und Norm- bzw. Devianzbereichen einer Gesellschaft. Die Frames bilden, anders ausgedrückt, den Code des – subjektiv wie sozial – sinnhaften Handelns in diesen Bereichen. Jeder Verstoß gegen diesen „Sinn“ wäre ein Verstoß daher auch gegen die vitalen Interessen der Akteure, die sich in den betreffenden Bereichen bewegen. Und hieraus beziehen die – an sich zunächst einmal – recht harmlosen kulturellen Symbole ihre oft starke emotionale Komponente – bis hin zu dem – leider – nicht gerade selten zu beobachtenden Phänomen, daß man sich wegen einer Kopfbedeckung den Schädel einschlägt oder wegen ein paar Steinhaufen den Krieg erklärt. Die restlichen Kapitel benutzen oder unterstellen das Konzept des Framing. Und das in zwei Richtungen: Erstens zur Erläuterung der Dimensionen und der Entstehung der Ausstattung der Akteure mit einem Satz von gedanklichen „Modellen“ der Kultur einer Gesellschaft. Und zweitens in Hinsicht auf die Erklärung der „interaktiven“ Genese dieser gedanklichen Modelle der kulturellen Orientierung. Das Kapitel 8 befaßt sich daher mit der „Identität“ der Akteure, die man als den Satz der gespeicherten gedanklichen Modelle verstehen kann, in denen auch die Beziehungen des Akteurs zu seiner sozialen Umgebung für typische Situationen definiert sind. Und in Kapitel 9 kommen
XIV
Vorwort
wir auf ein früher einmal mehr beachtetes Problemfeld der Soziologie, dem Prozeß der Sozialisation, zu sprechen, jenen Vorgang also, innerhalb dessen sich die Identität der Menschen ausbildet. Kapitel 10 behandelt dann den für die jeweilige Identität und das aktuelle Empfinden und Handeln der Menschen besonders wichtigen Bereich der Nahumwelt des Alltags, dem Jürgen Habermas, auch im Anschluß an Alfred Schütz, die Bezeichnung „Lebenswelt“ gegeben hat. Das führt über zu einer ausführlichen Darstellung eines speziellen sozialen Systems, das gerade für die kulturelle Prägung der Akteure und für die vermittelnde „Definition“ von Situationen von enormer, oft übersehener Bedeutung ist: die soziale Gruppe (von denen die „Lebenswelt“ ein Spezialfall ist) als „Ort“, an dem die individuellen Akteure ihren „Bezugsrahmen“ finden und von dem sie die nachhaltigsten Anstöße zu ganz bestimmten Orientierungen erhalten – und durch ihr eigenes Handeln diese Leistung auch für die jeweils anderen Mitglieder vollbringen. An diesem wohl wichtigsten Fall des sozialen Systems vom Typ der „Assoziation“ kann insbesondere deutlich gemacht werden, auf welche Weise sich die über persönliche Beziehungen und persönliche Interaktionen vollziehende soziale Konstitution der gesellschaftlichen Strukturen vollzieht – im Unterschied zur anonymen systemischen Konstitution über die Märkte einerseits bzw. die Organisationen andererseits. Das geschieht in Kapitel 11 noch recht nahe an den üblichen Darstellungen der Gruppensoziologie bzw. -(Sozial-) Psychologie. In Kapitel 12 wird der Vorgang der sozialen Konstitution schließlich explizit mit dem zuvor entwickelten Framing-Konzept verbunden und als „soziales Framing“ rekonstruiert. Dieses Kapitel hat auch ein sozusagen pädagogisches Ziel: Es soll demonstrieren, daß sich das Modell der soziologischen Erklärung ohne weiteres auch dazu eignet, die interaktive Genese gemeinsam geteilter Muster und Modelle der Orientierung und Handelns zu erklären – und damit die Entstehung von Kultur und sozialem Sinn als kollektiven Phänomenen. Der – bis auf den Epilog – den ganzen Band 6 abschließende „Exkurs über einen ganz besonderen Fall der Bestimmungsleistung der Gruppe“ wurde angefügt, um einigen besonders gängigen und gleichzeitig inzwischen besonders unverständlichen Einwänden gegen die vorgestellte Perspektive auch in einer etwas deutlicher werdenden Diktion zu begegnen. Das müßte dann schon verstanden werden. Der Band wird beschlossen durch einige Serviceleistungen für den Hauptzweck des Unternehmens. Es gibt ein Gesamtinhaltsverzeichnis und ein Gesamtregister für alle sechs Bände der „Speziellen Grundlagen“. Und dann wird noch ein Vorschlag für eine Vorlesung „Grundzüge der Soziologie“ gemacht, einschließlich von Text- und Leseempfehlungen für eine begleitende Übung. Die Vorlesung und die Übungen sind auf insgesamt 28 Lektionen für zwei Semester angelegt. Die Grundstruktur hat sich in Mannheim im Rahmen des Grundstudiums der Soziologie schon seit einer längeren Zeit sehr bewährt.
Vorwort
XV
Dieser Band 6, „Sinn und Kultur“, setzt mehr an Lektüre der vorangegangenen Bände der „Speziellen Grundlagen“ voraus als die anderen, besonders aber wohl die des Bandes 1, „Situationslogik und Handeln“, und des Bandes 2 über „Die Konstruktion der Gesellschaft“. Manche der dort offen gebliebenen Fragen, wie die nach der Erklärung der „Definition der Situation“, nach den „Typen“ des Handelns oder der „Optimierung der Orientierung“ oder nach dem genauen Vorgang der „sozialen Konstitution“ konnten erst jetzt behandelt werden. Die vorherige Kenntisnahme anderer Einzelheiten der (Allgemeinen wie der Speziellen) „Grundlagen“ ist aber wohl auch vertretbar (und nötig), weil hier an besonders vielen Stellen und in mancher Hinsicht besonders weitreichend auch neue und für den „normalen“, an den herkömmlichen Paradigmen klebenden, Soziologen ungewohnte Wege beschritten wurden, die nicht alle auf den ersten Blick evident erscheinen mögen. Der Band 6 über „Sinn und Kultur“ ist zwar immer noch ein, hoffentlich gut verständliches und lesbares, „Lehrbuch“, aber in besonderem Maße ist er auch ein deutlicher Schritt über das – nicht nur in der Soziologie – Übliche hinaus. Um Nachsicht und Geduld für evtl. noch verbliebene Undeutlichkeiten bei diesen neuen Wegen wird daher gebeten. Und, bitte, möglichst auch um die Vermeidung der üblichen Standardeinwände gegen den „Rational-Choice-Ansatz“, wie sie inzwischen und schon seit einiger Zeit unter dem Titel der „Grenzen von Rational-Choice“immer wieder neu dahergebetet werden. Das Modell der soziologischen Erklärung, einschließlich der Idee von den sozialen Produktionsfunktionen und des (damit systematisch verbundenen) „kulturellen“ FramingKonzeptes, ist etwas Neues. Lassen Sie sich überzeugen! Damit bleibt nur noch denen zu danken, die bis zum Schluß eines langen und so nicht immer geplanten Weges so tatkräftig und umsichtig geholfen haben, das gesamte Werk, sogar einigermaßen fristgerecht, zu Ende zu bringen. Insbesondere aber wieder Thorsten Kneip und Cornelia Schneider, die die „Speziellen Grundlagen“ über die ganze Zeit begleitet haben, sowie Aline Freye, die die technische Betreuung speziell für den Band 6 übernommen hat. Ulrich Knevels, der an der Universität Essen eine Magisterarbeit zum Thema „Die Reichweite des ‚rational-choice‘-Ansatzes in den Sozialwissenschaften“ geschrieben und mit mir darüber den e-mail-Kontakt gesucht hat, danke ich für die intelligente und verständige Hartnäckigkeit seiner Fragen, die mich, gerade noch rechtzeitig, dazu gebracht haben, bestimmte Einzelheiten des Framing-Konzeptes in Kapitel 7 noch deutlicher zu machen. Und Jan van Deth danke ich für seine kritische und sehr hilfreiche Kommentierung von Kapitel 7, vor allem aber der Rekonstruktion des Problems der Wertrationalität in Abschnitt 7.8. Ich widme diesen abschließenden Band 6, „Sinn und Kultur“, der „Speziellen Grundlagen“ Hans Albert zu seinem 80. Geburtstag. Von ihm habe ich
XVI
Vorwort
mich wohl am meisten in der Überzeugung leiten lassen, daß es sich lohnt und eigentlich ganz unumgänglich ist, sich um „reduzierende“ und „korrigierende“ Erklärungen und damit um die „Einheit der Gesellschaftswissenschaften“ zu bemühen – und es eben nicht bei den üblichen bequemen Revierabgrenzungen oder gar beim rat- und rastlosen „Anything Goes“ zu belassen, das nach wie vor viele Teile der Sozialwissenschaften zu beherrschen scheint. Das Problemfeld von „Sinn und Kultur“ hat sich wie kaum ein anderes geeignet zu zeigen, daß es geht und daß es der Mühe wert ist. Hartmut Esser
Mannheim, im April 2001
Einführung Was ist Kultur? Oder: Vom Sinn der Grenzen und von den Grenzen des Sinns
Die in einer Situation vorhandenen „objektiven“ Möglichkeiten und die „Geltung“ der institutionellen Regeln des Handelns sind dem Akteur zunächst nur äußerlich. Sie berühren ihn innerlich nicht weiter. Oft kennt er sie noch nicht einmal. Eine Verbindung der äußeren Bedingungen der Situation zur inneren Welt seines subjektiven Empfindens, seiner Vorstellungen und Bewertungen gibt es nämlich so ohne weiteres nicht. Ohnehin wäre – ohne eine gewisse Vorstrukturierung – jede Situation für den Akteur viel zu komplex: Kein Mensch dieser Welt ist in der Lage, alle jeweils existenten Möglichkeiten und Regeln in einer Situation zu erkennen, in ihren Folgen zu bedenken, zu bewerten und daraus dann eine einigermaßen sinnvolle Entscheidung zu treffen. Das gilt für das Handeln in einfachen parametrischen Situationen schon. Um wieviel mehr dann aber für die besonderen Komplexitäten und Kontingenzen des sozialen Handelns! Die Situation muß, wie wir bereits aus den Kapiteln 1 und 2 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ wissen, immer erst „definiert“ werden. Und das heißt: Es muß immer erst ein Bezugsrahmen aktiviert werden, der einer „objektiven“ und daher überkomplexen Situation die für das Handeln nötige Vereinfachung und subjektive Struktur gibt und die Situation auf diese Weise verläßlich mit einem typischen Sinn versieht.
Kultur Bezugsrahmen sind gedankliche und von den Akteuren kollektiv geteilte Modelle des sozial „richtigen“ Denkens, Fühlens und Handelns für typische Situationen. Die gedanklichen Modelle sind mit gewissen typischen „objektiven“ und erkennbaren Merkmalen von Situationen, mit Symbolen, assoziiert. Die Gesamtheit aller in einer Gesellschaft vorkommenden und sozial geteilten Bezugsrahmen und darauf bezogener Symbole, einschließlich der damit verbun-
Sinn und Kultur
2
denen Handlungen und der Artefakte, die daraus entstanden und ggf. in Museen ausgestellt sind, wird auch als Kultur bezeichnet. Die Kultur ist, sozusagen, der Vorrat, aus dem die Akteure schöpfen können (und müssen), wenn sie ihr Handeln mit Sinn versehen und „verstanden“ werden wollen. Die Vorstellung von der symbolischen Steuerung des Handelns und der sozialen Prozesse durch gedankliche und mit Emotionen verbundene Modelle, die die Akteure zuvor in ihrer Biographie erworben und in ihren Gedächtnissen verankert haben und die sie in einem Kollektiv untereinander teilen, ist so alt wie die Soziologie. Ihr Gründungsvater, Emile Durkheim, beispielsweise, beschrieb das folgendermaßen: „Was uns lenkt, sind nicht die wenigen Ideen, die gegenwärtig unsere Aufmerksamkeit beanspruchen; es sind die Residuen, die unser bisheriges Leben hinterlassen hat. Die angenommenen Gewohnheiten, die Vorurteile und Bestrebungen sind es, die uns bewegen, ohne daß wir uns dessen bewußt wären ... .“1
Und in der „General Theory of Action“, einer Art von Manifest für die Soziologie der damaligen Zeit, stellen Talcott Parsons und Edward Shils später fest: „A shared symbolic system is a system of ,ways of orienting‘ plus those ,external symbols‘ which control these ways of orienting … . Such a system, with its mutuality of normative orientation, is logically the most elementary form of culture.”2
Die gedanklichen Modelle der sozial geteilten Kultur, die kollektiv verbreiteten „ways of orienting“, steuern, nein: „kontrollieren“ gar die Orientierungen also – und darüber das Handeln der Akteure und damit alle daran hängenden sozialen Prozesse. Und das geht über die in der Situation „extern“ existierenden und von den Akteuren wahrgenommenen und ggf. noch zu „interpretierenden“ Symbole. Gedankliche Modelle und Symbole machen die „Kultur“ aus und sie „definieren“, kurz gesagt, die Situation in einer typischen Weise.
Sinn Die „Definition“ der Situation aber ist der Kern der Bedeutung des „Sinns“ eines Handelns und der daran anschließenden sozialen Prozesse (vgl. zu den 1
Emile Durkheim, Soziologie und Philosophie, Frankfurt/M. 1976a, S. 50f.
2
Talcott Parsons, Edward A. Shils, Gordon W. Allport u.a., Some Fundamental Categories of the Theory of Action: A General Statement, in: Talcott Parsons und Edward A. Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge, Mass., 1954, S. 16; Hervorhebung nicht im Original.
Einführung
3
verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Sinn“ in der Soziologie auch den „Exkurs über Sinn“ schon in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Die Festlegung des Sinns geschieht dabei in mehrfacher Hinsicht. Erstens wird damit der soziale Sinn festgelegt – die für die jeweilige Situation kollektiv „geltenden“ Oberziele, Codierungen und Regeln. Jedes „sinnhafte“ oder „sinnvolle“ Handeln muß sich an diese Vorgaben halten; die anderen Akteure würden es sonst nicht „verstehen“. Daraus ergibt sich dann zweitens sofort auch der subjektive Sinn des Handelns. Das ist die Angemessenheit des Tuns eines Akteurs vor dem Hintergrund seiner eigenen Motive und Absichten und seines Wissen über die in diesem Rahmen für die Erreichung seiner Ziele angemessenen Mittel. Das alles muß, wie man leicht sieht, immer auch, wenngleich nicht nur, an den Vorgaben des sozialen Sinns orientiert sein, weil dadurch ja vor allem die „soziale“ Angemessenheit der Ziele und der Mittel festgelegt ist. Und die sollte gerade ein Akteur, der seine eigenen Ziele „rational“ verfolgt, tunlichst beachten oder wenigstens im Auge halten. Und drittens wird über die kulturelle „Definition“ der Situation auch der sog. nomische Sinn geschaffen. Das ist die von den Akteuren bei ihrem Tun (meist) fraglos vorausgesetzte gedankliche Ordnung in einer an sich leeren und chaotischen Welt. Diese gedankliche Ordnung gilt freilich stets immer nur: „bis auf weiteres“, wie Alfred Schütz betont hat. Und jede Störung der latenten Erwartungen über das Auftreten von gewissen Hinweisen, Zeichen und Symbolen bringt den nomischen Sinn meist kräftig durcheinander.
Kultur und Sinn Diese engen Verbindungen von Kultur und Sinn hat Hans-Georg Soeffner in einer ganz besonders treffenden Weise so ausgedrückt: „Kultur als der unser Wahrnehmen, Deuten und Handeln umgebende, gedeutete und ausgeleuchtete Sinnhorizont ist nicht nur in unseren Lebensäußerungen allgegenwärtig, sondern auch der von uns allen – in je unterschiedlichen konkreten Rahmungen – berücksichtigte, aufrechterhaltene und immer wieder hergestellte Ordnungszusammenhang, der das Geordnete und Sinnhafte vom bloß Zufälligen und Sinnlosen abgrenzt.“3
Die Kultur ist also der Schlüssel zum Sinn, den die Akteure mit ihrem Tun verbinden, und daher ist jedes „verstehende“ Erklären des Handelns der Akteure an eine Untersuchung der „kulturellen Systeme“ gebunden, die die Ak3
Hans-Georg Soeffner, Kulturmythos und kulturelle Realität(en), in: Hans-Georg Soeffner, Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen, Weilerswist 2000, S. 167f.
4
Sinn und Kultur
teure als gedankliche Modelle miteinander teilen (vgl. zum Konzept des kulturellen Systems im Zusammenhang auch der Ko-Konstitution von kulturellen, psychischen und sozialen Systemen bereits Abschnitt 2.1 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“; siehe dazu auch noch Kapitel 12 unten in diesem Band). Es ist daher nicht zuletzt die „verstehende“ Soziologie von Max Weber gewesen, die die Kultur eben nicht, wie später andere Zweige der Sozialwissenschaften, entweder ganz ignoriert haben oder bloß als einen speziellen Bereich der Gesellschaft ansehen konnten, etwa in der Form der Werte einer Gesellschaft oder der funktionalen Sphäre der „Kultur“, beispielsweise in Gestalt der Welt des Theaters oder des Ressorts eines Kultusministers. Weber sah die Kultur vielmehr als einen Grundzug eines jeden Handelns und eines jeden sozialen Prozesses an, schon allein deshalb, weil jedes Handeln und jeder soziale Prozeß mit „Sinn“ versehen ist und weil das Handeln und die sozialen Prozesse nur dann auch als „erklärt“ gelten können, wenn dieser Sinn rekonstruiert ist.
Die Verankerung von Sinn und Kultur Ein altes Problem ist die Frage nach der Verankerung der Kultur und des Sinns. Die Antwort darauf läßt sich mit Max Weber auch leicht geben. Eine kulturell definierte Situation ist für Weber zunächst nichts weiter als „ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.“4
Dieser gedankliche Ausschnitt reproduziert sich dann – unter Umständen – durch das Handeln der Menschen, die mit ihrem Handeln die jeweiligen (Kultur-)Bedeutungen, an denen sie sich orientieren, immer wieder bekräftigen und sie darüber dann zu eigenständig erscheinenden sozialen Gebilden werden lassen, etwa als protestantische Ethik oder als Geist des Kapitalismus oder gar als ko-konstituierte Kombination von beidem. Kultur und Sinn haben – als „kulturelles System“ – somit immer zunächst eine Verankerung in den individuellen Akteuren, lassen sich aber gleichzeitig stets auch immer nur den Kollektiven und sozialen Gebilden zuordnen, denen die Menschen angehören und die sie durch ihr Handeln tragen. Das ist nichts geheimnisvolles: Der physische „Ort“ der Kultur sind nur die Gedächtnisse der individuellen Men4
Max Weber, Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Herausgegeben von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1982 (zuerst: 1904), S. 180; Hervorhebung im Original.
Einführung
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schen. Was denn sonst? Aber die darin gespeicherten gedanklichen Modelle sind erst dann „Kultur“, wenn sie von den individuellen Akteuren kollektiv geteilt werden. Die sozial geteilten gedanklichen Modelle und Symbolisierungen, die kulturellen Systeme also, sind damit – sozusagen – das Scharnier zwischen den äußeren und den inneren, den objektiven und den subjektiven Bedingungen der Situation, aus denen sich das Handeln und die „dadurch“ erzeugten Folgen ergeben. Einer Zusammenfassung des Kulturbegriffs von Max Weber durch Wolfgang Schluchter lassen sich die folgenden acht Punkte entnehmen, aus denen das noch einmal ganz deutlich wird:5 1. Kultur ist ein Zusammenhang von Zeichen und Symbolen, der sowohl ein Modell der Wirklichkeit wie ein Modell für die Wirklichkeit darstellt. 2. Dieser Zusammenhang von Zeichen und Symbolen hat kognitive, evaluative und expressive Komponenten. Diese können ausdifferenziert sein und werden von je eigenen Codes regiert. 3. Solche Codes wie wahr/falsch, schön/häßlich, gut/böse oder nützlich/schädlich grenzen Wertsphären voneinander ab und können in Lebensordnungen institutionalisiert sein. 4. Kultur wirkt und reproduziert sich über Prozesse der Institutionalisierung, der Internalisierung und der Interpretation. 5. Kultur besteht immer auch auf Wissen. Und es gibt zwei Arten von Wissen: Evaluatives Wissen in Form von Bewertungen und Motiven einerseits und kognitives Wissen in Form von Erwartungen und „theoretischem“ Wissen über „praktische“ Zusammenhänge andererseits. 6. Die „Träger“ der Kultur sind sowohl die Individuen wie die Kollektive, die sie bilden. 7. Wegen dieser „Doppelnatur“ der Kultur müssen die kulturellen Modelle immer auch öffentlich „repräsentiert“ sein. Das geschieht vorzugsweise über Rituale und Zeremonien. 8. Das kulturell orientierte Handeln ist selbst immer wieder ein „welterrichtendes Handeln“, das dazu führt, daß die Abläufe des äußerlich sichtbaren Tuns den Akteuren wiederum etwas „bedeuten“ und zur „reflexiven“ Bekräftigung oder einer anderen Veränderung des Zusammenhangs von sichtbarem Symbol und gedanklichem Modell bei den Individuen in einem Kollektiv führt.
In den Ritualen zeigt sich diese Doppelnatur der Kultur wohl am deutlichsten: Sie werden immer nur von Individuen ausgeführt. Das aber in kollektiv gleichförmiger Weise und auf der Grundlage kollektiv geteilter (und durch die Rituale darin auch immer wieder bekräftigter) gedanklicher Modelle, die oft einen Inhalt mit kollektivem Bezug aufweisen. Aber immer könnten die Individuen auch davon abweichen. Und manchmal geschieht das ja auch.
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Wolfgang Schluchter, Handlungs- und Strukturtheorie nach Max Weber, in: Wolfgang Schluchter, Individualismus, Verantwortungsethik und Vielfalt, Weilerswist 2000a, S. 98f.
6
Sinn und Kultur
Sinn, Kultur und das Modell der soziologischen Erklärung Die Kultur legt auch fest, welchen „Wert“ die Akteure gewissen Sachverhalten zuweisen und welche „Erwartungen“ sie mit bestimmten Umständen verbinden. Sie steuert, anders gesagt, die Präferenzen der Akteure und ihr Wissen, und zwar für typische soziale Situationen in jeweils typischer Weise. Darin allein schon zeigt sich, daß das bisher verwendete (handlungs)theoretische Instrumentarium, die Wert-Erwartungstheorie, innerhalb des jeweiligen „Rahmens“ einer kulturellen Definition der Situation problemlos anwendbar ist. Das gilt insbesondere auch deshalb, weil mit der kulturellen Festlegung des Wissens und der Werte deutliche Strukturen einer bestimmten „Logik“ der Situation gegeben sind, die die Modellierung der „Logik der Situation“ durch den Soziologen, die Formulierung von Brückenhypothesen also, leiten kann (und muß). Es bleibt allerdings ein Problem offen: Wie und nach welchen Regeln vollzieht sich die kulturelle Definition einer Situation? Denn das ist ohne Zweifel ja auch eine „Selektion“ aus Alternativen, und zur Erklärung dieser Selektion müßte wieder eine (Selektions-)Regel eingesetzt werden können. Der folgende Band versucht insbesondere auf diese Frage eine Antwort zu geben. Er stützt sich dabei sowohl auf eine Reihe „klassischer“ Ansätze“ der Soziologie (Teil A) wie auf einige Ergebnisse der älteren wie der neueren (Sozial-)Psychologie, insbesondere zum Problem der Wahrnehmung und der „Orientierung“ an gewissen „mentalen Modellen“, Schemata und Skripten vor allem (Teil B). Die Lösung folgt jedoch wiederum dem Grundansatz des Konzepts der soziologischen Erklärung: Auch die „Definition“ der Situation kann als eine „Selektion“ zwischen Alternativen modelliert werden, bei der wiederum Bewertungen und Erwartungen, bzw. die Beobachtung der aktuellen Situation und der Vergleich mit gewissen Erwartungen, eine systematische Rolle spielen. Und die Erklärung der Stabilisierung bestimmter „kollektiver“ Definitionen der Situation ist auch nichts anderes als ein Spezialfall einer soziologischen Erklärung: „Kultur“ ist keine statische oder feste Größe, die sich den Akteuren irgendwie blind auferlegt und mit der sie sonst nichts zu tun hätten, sondern sie ist – wie andere soziale Prozesse und Gebilde auch – das oft so nicht intendierte Ergebnis des (kulturell) orientierten Handelns von Akteuren, etwa auch als strategisch erzeugter „Kompromiß“ in einem „Kulturkampf“.
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Anschlüsse Mit dieser Einordnung der Begriffe „Sinn“ und „Kultur“ in das Konzept der soziologischen Erklärung eröffnen sich deutliche Möglichkeiten zur Anknüpfung der herkömmlichen, sich von den „erklärenden“ Sozialwissenschaften meist deutlich absondernden „kultur“-soziologischen Sichtweise an die anderen Gesellschaftswissenschaften, an die neuere (Institutionen-)Ökonomie etwa und an die aktuelle (Sozial-)Psychologie: Die kulturelle „Definition“ der Situation ist als Ergebnis gewisser kognitiver „Selektionen“ von Akteuren und deren aggregierter Folgen rekonstruierbar, unter Umständen sogar von Prozessen der strategischen Interaktion, wie sie sich mit den Mitteln der Spieltheorie modellieren läßt. Diese Sicht der Einordnung der Kultursoziologie in den Rahmen der „Einheit der Gesellschaftswissenschaften“ mag zunächst als etwas sehr ungewöhnlich und gewagt erscheinen. Das ist sie aber nicht. Inzwischen gibt es beispielsweise eine deutliche Konvergenz des „Begriffs“ der Kultur in der neueren Kulturanthropologie und dem Konzept des gedanklichen Modells in der neueren kognitiven (Sozial-)Psychologie. Die Kultur ist in dieser Sicht beispielsweise nichts anderes als „ … an extensive and heterogeneous collection of ,models‘, models that exist both as public artifacts ,in the world‘ and as cognitive constructs , in the mind‘ of members of a community.”6
Und der Kulturanthropologe Andreas Wimmer schlägt für die theoretische Bearbeitung von Phänomenen des kulturellen Wandels vor, das bisherige Konzept des kulturell „übersozialisierten Individuums“ durch das eines „strategisch handelnden Menschen“ zu ersetzen. Er beruft sich in dieser Deutung ausdrücklich auch auf Pierre Bourdieu und dessen Begriffe des Habitus und der auch strategisch eingesetzten „Distinktion“, die er dann ebenso explizit „mit der Schematheorie in Verbindung“ bringt, „die in der neueren kognitiven Ethnologie eine große Rolle spielt“.7 Von daher ist es auch nicht weit bis zur Spieltheorie und den diversen Modellen von Verhandlung und Tausch in der Ökonomie, insbesondere dann, wenn man das Konzept des kulturellen Kapitals mit einbezieht und sich daran erinnert, daß das alles andere als eine unschuldige, nicht-materielle Größe ist (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 und Ab6
Bradd Shore, Culture in Mind. Cognition, Culture, and the Problem of Meaning, New York und Oxford 1996, S. 44.
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Andreas Wimmer, Kultur. Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen Grundbegriffs, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48, 1996, S. 407.
Sinn und Kultur
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schnitt 3.2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, und Abschnitt 8.3 von Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“ dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie insbesondere auch noch Kapitel 7 unten in diesem Band).8 Und außerdem: So gänzlich neu sind diese Perspektiven selbst in der herkömmlichen Kultursoziologie nicht. George Herbert Mead, beispielsweise, faßte die „Interpretation“ von Symbolen – zumindest: auch – als einen „bewußten“, und das heißt auch: „berechnenden“, Vorgang auf, bei dem die Akteure versuchen, eine Handlungslinie zu finden, die (auch) ihren Interessen entspricht. Erving Goffman ist später noch viel weiter in genau diese Richtung gegangen: Menschen nutzen die kulturellen Vorgaben oft höchst geschickt und in strategischer Absicht, nämlich als Hinweise für das jeweils angemessene Tun, für den besten Weg zur Erhaltung eines positiven Selbstbildes und zur absichtsvollen und für sie möglichst zuträglichen „Definition“ der Situation angesichts dessen, was gerade symbolisch oder gestisch „angesagt“ erscheint. Alfred Schütz schließlich hat gezeigt, wie „ökonomisch“ die Menschen mit einem ganz besonders knappen Gut, dem der Aufmerksamkeit nämlich, umgehen und wie geschickt sie dabei Routinen und Relevanzstrukturen, die „Kultur“ ihrer alltäglichen Lebenswelt also, nutzen. Und von Harold Garfinkel kann man vor allem lernen, wie brüchig die oft so fest erscheinenden kulturellen Konstruktionen sind – und wie findig die Menschen darin sind, sich gleich wieder ein festes Dach der Orientierung zu bauen, damit sie in ihren Alltagsgeschäften alsbald ungestört weitermachen können (vgl. dazu u.a. schon Kapitel 8 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie noch die Kapitel 2 bis 4 unten in diesem Band).
Soziale Konstitution Wie immer man aber die Konzepte von Sinn und Kultur theoretisch einordnen mag: Die damit in Verbindung gebrachten Vorgänge lassen sich deutlich beschreiben. Zwei Prozesse sind theoretisch auseinander zu halten: Die kulturelle „Rahmung“ einer momentanen Situation durch einen individuellen Akteur und den „interaktiven“ Prozeß einer kollektiven „Definition“ der Situation. Ersteres wird im Folgenden als Orientierung (bzw. als Framing) bezeichnet, letzteres als soziale Konstitution (vgl. dazu aber auch schon Kapitel 5 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ausführlich). Die Orientierung legt fest, mit welchem „Blick“ die Akteure 8
Siehe dazu auch: Eric H. Rambo, Interests and Meaningful Purposes: Conceiving Rational Choice as Cultural Theory, in: Rationality and Society, 11, 1999, S. 317-342.
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eine Situation sehen und worum es ihnen zuallererst geht. Beispielsweise wird darüber bestimmt, um welches Oberziel, um welchen Code also, sich das Geschehen jeweils dreht, um die Wahrheit in der Wissenschaft etwa oder um die Wählerstimmen in der Politik, ob die Akteure egoistisch oder altruistisch handeln (sollen) oder wie viel sie jeweils nachdenken und reflektieren (müssen). An dieser Stelle verbindet sich das Konzept der Kultur bzw. des Sinns systematisch mit dem Konzept der sozialen Produktionsfunktionen und erhält damit eine materielle und institutionelle Fundierung (vgl. dazu auch schon Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Das an einem kulturellen Bezugsrahmen orientierte Handeln hat für die Akteure dann sofort auch wieder „symbolische“ Wirkungen und steuert deren momentane Orientierungen. Wenn man es denn so ausdrücken will: Es ist ein Prozeß der kollektiven Festlegung und Verbreitung kultureller Orientierungen, der oben genannte Vorgang der sozialen Konstitution von Sinn und Kultur also. Es ist die kollektive „Konstruktion“ der gedanklichen Modelle, die die Kultur ausmachen und das soziale Geschehen mit Sinn versehen.
Das Zusammenspiel von materiellen Opportunitäten, institutionellen Regeln und kulturellen Bezugsrahmen Ein einmal aktivierter Bezugsrahmen kann alle „rationalen“ Überlegungen über gewisse Folgen des Handelns komplett außer Kraft setzen. Das Handeln unter einem Bezugsrahmen ist nicht zwingend in einem irgendwie „kalkulierenden“ Sinne „erfolgsorientiert“, sondern folgt oft ganz spontan und automatisch dem spezifischen Code des Bezugsrahmens. Kultur ist zwar sicher nicht bloß belangloser „Überbau“. Sie ist aber auch nicht alles, was wichtig ist. Keine Kultur gedanklicher Modelle kann die objektiven Widerständigkeiten und Knappheiten aus der Welt schaffen. Und kein spezifischer Sinn eines Bezugsrahmens kann die grundlegende Orientierung des menschlichen Handelns völlig überstrahlen: die effiziente Produktion des Nutzens und die Reproduktion des Alltags. Wichtig bleibt daher, daß bei der Erklärung des Handelns in Situationen und dessen Folgen alle drei Elemente der Situation – materielle Opportunitäten und Knappheiten, institutionelle Regeln und kulturelle Bezugsrahmen – jeweils gleichzeitig berücksichtigt werden. Kurz: Jeder Sinn hat seine Grenzen, und das im mehrfachen Sinn sogar. Und auch die (materiellen und institutionellen) Grenzen schaffen zuweilen einen ganz besonderen Sinn, den Sinn einer festen Orientierung an gewissen Oberzielen und Maximen, oft noch fester und nachhaltiger als das irgendeine kulturelle Vorstellung leisten
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könnte. Zur Einstimmung auf diese Probleme, um die es in diesem, die „Soziologie“ abschließenden Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ geht, seien einige Beispiele dazu, nicht nur aus der soziologischen Literatur, geschildert.
Fall 1: Einstweilen wird es Mittag In einer der mit Recht berühmtesten Studien der Soziologie haben Marie Jahoda, Hans Zeisel und Paul F. Lazarsfeld zu Beginn der 30er Jahre in dem Dörfchen Marienthal in Niederösterreich untersucht, welche Folgen die erzwungene Arbeitslosigkeit für die Menschen und das soziale Leben einer Gemeinde hat.9 In Marienthal gab es eine Tuchfabrik, die das wirtschaftliche Leben des Ortes weitgehend bestimmte. Sie wurde als Folge auch der Weltwirtschaftskrise im Sommer 1929 geschlossen. Schon bald nach der Stillegung der Fabrik änderte sich im Ort – ganz abgesehen von den wirtschaftlichen Dingen – viel: Das Vereinsleben brach zusammen, die politischen Parteien verzeichneten einen beträchtlichen Rückgang ihres Mitgliederbestandes, und nicht nur das Bibliotheksbuch der Marienthaler Arbeiterbibliothek zeugte vom „Einschrumpfen der Lebensäußerungen“ (ebd., S. 57) insgesamt. Besondere Folgen zeigten sich im Umgang mit der Zeit. Hier einige Auszüge aus dem Kapitel „Die Zeit“ aus der Studie (Jahoda, Zeisel und Lazarsfeld 1975, S. 83-92; die engzeiligen Passagen im Text sind Zitate aus diesem Kapitel). Viele Stunden stehen die Männer auf der Straße herum, einzeln oder in kleinen Gruppen; sie lehnen an der Hauswand, am Brückengeländer. Wenn ein Wagen durch den Ort fährt, drehen sie den Kopf ein wenig; mancher raucht eine Pfeife. Langsame Gespräche werden geführt, für die man unbegrenzt Zeit hat. Nichts mehr muß schnell geschehen, die Menschen haben verlernt, sich zu beeilen. ... Doppelt verläuft die Zeit in Marienthal, anders den Frauen und anders den Männern. Für die letzteren hat die Stundeneinteilung längst ihren Sinn verloren. Aufstehen – Mittagessen – Schlafengehen sind die Orientierungspunkte im Tag, die übriggeblieben sind. Zwischendurch vergeht die Zeit, ohne daß man recht weiß, was geschehen ist. Die Zeitverwendungsbogen zeigen das drastisch. Ein 33jähriger Arbeitsloser schreibt: 6-½7 stehe ich auf, 7-8 wecke ich die Buben auf, da sie in die Schule gehen müssen, 9
Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie, Frankfurt/M. 1975 (zuerst: 1933).
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8-9 wenn sie fort sind, gehe ich in den Schuppen, bringe Holz und Wasser herauf, 9-10 wenn ich hinaufkomme, fragt mich immer meine Frau, was sie kochen soll; um dieser Frage zu entgehen, gehe ich in die Au, 10-11 einstweilen wird es Mittag, 11-12 (leer) 12-13 1 Uhr wird gegessen, da die Kinder erst aus der Schule kommen, 13-14 nach dem Essen wird die Zeitung durchgesehen, 14-15 bin ich hinunter gegangen, 15-16 zum Treer (Name des Kaufmanns, HE) gegangen, 16-17 beim Baumfällen im Park zugeschaut, schade um den Park, 17-18 nach Hause gegangen, 18-19 dann nachtmahlten wir, Nudeln in Grieß geröstet, 19-20 schlafen gehen. Das Aufwecken der Kinder hat gewiß keine volle Stunde in Anspruch genommen. Der Kaufmann Treer (15-16) ist 3 Minuten vom Wohnort dieses Arbeiters entfernt, und der Weg vom Park nach Hause, den er zwischen 17-18 zurücklegt, ist 300 Schritte lang. Was ist also in der fehlenden Zeit geschehen? Und so wie dieser Bogen sind alle ausgefüllt.
Die Frauen, die fast alle vorher auch in der Fabrik beschäftigt waren und dabei nur mit größter Mühe Haushalt und Beruf miteinander verbinden konnten, sind auch arbeitslos geworden. Über den Verlauf von deren „Zeit“ wird das Folgende berichtet: Das alles gilt aber nur für die Männer, denn die Frauen sind nur verdienstlos, nicht arbeitslos im strengsten Wortsinn geworden. Sie haben den Haushalt zu führen, der ihren Tag ausfüllt. Ihre Arbeit ist in einem festen Sinnzusammenhang, mit vielen Orientierungspunkten, Funktionen und Verpflichtungen zur Regelmäßigkeit. Wie anders der Tag der Frauen verläuft als der der Männer, zeigt folgende Übersicht über die Hauptbeschäftigung von 100 Frauen:
Haushalt Wäsche Kinderpflege Kleine Haushaltsbeschäftigungen (Nähen, Kinder) und Nichtstun
Vormittag
Nachmittag
74 10 6
42 8 12
9
38
100
100
Der typische Zeitverwendungsbogen einer Frau sieht so aus: 6-7 7-8 8-9 9-10 10-11 11-12 12-13 13-14
ankleiden, einheizen, Frühstück herrichten, waschen, frisieren, Kinder ankleiden und zur Schule begleiten, Geschirr abwaschen und einkaufen gehen, Zimmer aufräumen, Kochen herrichten, fertig kochen und essen, Geschirr abwaschen, Küche zusammenräumen, Kinder in das Heim begleiten,
Sinn und Kultur
12 14-15 15-16 16-17 17-18 18-19 19-20 20-21 21-22 22-23
stopfen und nähen, stopfen und nähen, stopfen und nähen, Kinder abholen, Nachtmahl essen, Kinder auskleiden und waschen und schlafen legen, nähen, nähen, schlafen gehen.
So ist der Tag für die Frauen von Arbeit erfüllt: Sie kochen und scheuern, sie flicken und versorgen die Kinder, sie rechnen und überlegen und haben nur wenig Muße neben ihrer Hausarbeit, die in dieser Zeit eingeschränkter Unterhaltsmittel doppelt schwierig ist. Man vergleiche damit die oben angeführte Tabelle für die Männer.
Die Männer in Marienthal haben also viel Zeit – und können sie nicht einhalten. Nicht nur eine Frau beklagt sich dann auch so: Wir haben jetzt regelmäßig Krach beim Mittagessen, weil mein Mann nie pünktlich da sein kann, obwohl er doch früher die Uhr selbst war.
Was des Abends geschah, wo die Männer schon gegen sieben ins Bett gehen, die Frauen aber noch bis elf beim Nähen sitzen, wird nicht weiter berichtet. Man kann es sich aber leicht vorstellen.
Fall 2: Die Zufriedenheit der Nigerianer Geld alleine macht nicht glücklich, das ist gewiß. Aber wenn es fehlt, ist das auch kein Grund zum Jubeln. In einer Untersuchung des American Institute of Public Opinion Poll aus dem Jahre 1970 fand sich der folgende, nicht unplausible Zusammenhang zwischen dem Einkommen und der Zufriedenheit (Tabelle 0.1):10
10
Vgl. Robert H. Frank, Choosing the Right Pond. Human Behavior and the Quest for Status, New York und Oxford 1985, S. 26ff. Die Daten entstammen: Richard A. Easterlin, Does Economic Growth Improve the Human Lot? Some Empirical Evidence, in: Paul A. David und Melvin W. Reder (Hrsg.), Nations and Households in Economic Growth. Essays in Honor of Moses Abramovits, New York und London, 1974, S. 100 ff.
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Tabelle 0.1: Der Zusammenhang zwischen Einkommen und Zufriedenheit in den USA im Jahre 1970
Einkommen (in 1000$)
Zufriedenheit (Anteil „very happy“)
15+ 10-15 7-10 5-7 3-5 unter3
56 49 47 38 33 29
Es sieht also in der Tat so aus, als ob das Einkommen das Glück beeinflußt. Zwischen 1946 und 1970 war das Pro-Kopf-Einkommen in den USA nicht unbeträchtlich gestiegen: von 2500 $ auf 3850 $. Die Zufriedenheiten insgesamt änderten sich in dieser Zeit, glaubt man den regelmäßig veröffentlichten Umfragedaten, wie folgt (Tabelle 0.2): Tabelle 0.2: Die Veränderung der Zufriedenheit in den USA zwischen 1946 und 1970
Jahr
Zufriedenheit (Anteil „very happy“)
1946 1947 1948 1952 1956 1957 1963 1966 1970
39 42 43 47 52 53 47 49 43
Und was sieht man: Die Zufriedenheit folgt nun keineswegs der Höhe des Einkommens. Es scheint also, wenn genügend Zeit verstreicht, eine Art von
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Fall 3: Der anomische Selbstmord In seiner Studie über den „Selbstmord“ kommt Emile Durkheim einem im Vergleich zum Beispiel gerade eben noch seltsameren empirischen Zusammenhang auf die Spur:11 Er stellt fest, daß die Selbstmorde nicht nur, wie zu erwarten, in den Zeiten der wirtschaftlichen Krise zunehmen, sondern, fast mehr noch, in Perioden und Ländern des wirtschaftlichen Aufschwungs und Wohlstands. Das wird beispielsweise in der folgenden Aufstellung deutlich. Sie setzt die Selbstmordrate in verschiedenen Departements Frankreichs zwischen 1878 und 1887 mit dem Anteil der Personen dort in Beziehung, die nicht arbeiten müssen, sondern nur von ihren Zinsen leben können (vgl. Tabelle 0.3, etwas modifiziert nach Durkheim 1973, S. 278). Tabelle 0.3: Zusammenhang von Selbstmordraten und Anteil der Couponschneider an der Bevölkerung
Selbstmorde pro 100.000 Einwohner
Zahl der betrachteten Departements
Mittelwert der Personen, die von ihren Zinsen leben, pro 100.000 Einwohner
43-48 31-38 24-30 18-23 13-17 8-12 7-13
5 6 6 15 18 26 10
127 73 69 59 49 49 42
Durkheim hat diesen empirischen Zusammenhang kausal gedeutet: Reichtum erzeuge eine höhere Neigung zum Selbstmord und die Armut sei ein wirksamer Schutzwall dagegen (ebd., S. 278): Die weitaus niedrigsten Selbstmordraten haben in seiner Aufstellung die ärmsten Länder Europas – Irland, Kalabrien, Spanien und die ärmsten Provinzen in Frankreich (vgl. die Aufstellung der geographischen Verteilung ebd., S. 511). Durkheims Erklärung ist einfach 11
Emile Durkheim, Der Selbstmord, Neuwied und Berlin 1973, Kapitel 4, S. 242-272.
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und klingt uns inzwischen wohlvertraut (etwa aus Abschnitt 1.2 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die Funktion von Institutionen): Menschen sind – anders als die genetisch-biologisch festgelegten Tiere – ohne eine gesellschaftliche Stütze nicht in der Lage, Ordnung in ihre subjektive Befindlichkeit zu bringen. Insbesondere können Menschen nicht aus sich heraus festlegen, welches ihre Ziele sind und mit welchem Grad an Bedürfnisbefriedigung es ihnen genug ist: „Die unterschiedlichen Grenzen, von denen wir gesprochen haben und die für die einzelnen erforderlich sind, können also nicht mit seiner Natur gesetzt sein. ... . Wenn aber von draußen keine mäßigenden Wirkungen zu uns durchdringen, dann kann sie nur eine Quelle von Qualen sein. Denn unbegrenzte Wünsche sind ex definitione nicht zu befriedigen; ... . Es ist also nichts da, was sie beschwichtigen könnte. Ein unstillbarer Durst ist ein immerwährendes Strafgericht.“ (Ebd., S. 281)
Zum Glück gibt es die nötigen Grenzen normalerweise. Das können Grenzen der materiellen Not, aber auch definierende Regeln und kollektive „Meinungen“ sein, die in einer gesellschaftlichen Gruppe festlegen, welche Ziele als erreichbar und erlaubt und welche als unerreichbar und verboten gelten: „Unter dem Druck dieser Meinungen macht sich jeder in seiner Lebenssphäre ein ungefähres Bild davon, wie weit sein Ehrgeiz gehen kann, und er trachtet nach nichts, was darüber hinausgeht. ... . Damit sind seinen Begierden Ziel und Grenze gesetzt. ... . Das Gleichgewicht seines Glückes ist stabil, weil es begrenzt ist, und einige Enttäuschungen können es nicht erschüttern.“ (Ebd., S. 284f.)
Jede nachhaltige Veränderung bedroht dieses Gleichgewicht, sicher auch eine drastische Verschlechterung der Lage. Aber „ ... die Dinge liegen gar nicht anders, wenn die Krise durch ein plötzliches Anwachsen von Macht und Reichtum entsteht.“ (Ebd., S. 288; Hervorhebung nicht im Original)
In Zeiten des wirtschaftlichen Aufbruchs und bei Personen, denen keine materiellen Schranken gesetzt sind, brechen die Grenzen der Mäßigung also bald auf. Nun werden die Wünsche uferlos, und das Streben unbegrenzt. Es ist mit keinem denkbaren Ergebnis zufrieden zu stellen: „Man weiß nicht mehr, was möglich ist und was nicht, was noch und was nicht mehr angemessen erscheint, welche Ansprüche und Erwartungen erlaubt sind und welche über das Maß hinausgehen. Es gibt dann nichts mehr, worauf man nicht Anspruch erhebt.“ (Ebd., Hervorhebung nicht im Original)
Durkheim nennt die Form des Selbstmordes, die er auf diese Maßlosigkeit zurückführt, den anomischen Selbstmord (ebd., S. 296) – den Typ eines Selbstmordes, der auf einer Störung des gesellschaftlichen Gleichgewichts beruht
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und die Menschen in Anomie und Orientierungslosigkeit mit ihren Wünschen und Möglichkeiten alleine läßt. Den anomischen Selbstmord unterscheidet Durkheim dann bekanntlich noch vom egoistischen Selbstmord, der aus der sozialen Isolation der Menschen entsteht, und vom altruistischen Selbstmord, der nichts anderes ist als ein Selbstopfer für das Wohl einer Gemeinschaft (Durkheim 1973, S. 162ff., S. 242ff.). Bestimmte Berufsgruppen seien – so Durkheim – für den anomischen Selbstmord besonders anfällig: der Handel und die Industrie, auch die freien Berufe, deutlich weniger jedoch die Landwirtschaft. Aber auch das Junggesellendasein ist unter diesem Gesichtspunkt nicht ohne Gefahr. Der getreue Ehegatte fühlt sich, weil er nicht anders kann, in einem kommoden, wenngleich etwas engen Gleichgewicht der Gefühle: „Seine Freuden sind zwar beschränkt, aber auch garantiert, und diese Gewißheit konsolidiert seine geistige Grundhaltung.“ (Ebd., S. 311)
Ganz anders der Junggeselle: „Da er frei jede Bindung eingehen kann, die ihm gefällt, will er alles haben und nichts befriedigt ihn. ... . Sobald man von nichts in Grenzen gehalten wird, kann man selbst keine Grenzen einhalten. Über das Vergnügen hinaus, das man erlebt hat, stellt man sich weitere vor und will sie haben. Wenn man fast den ganzen Bereich der Möglichkeiten ausgekostet hat, träumt man vom Unmöglichen; man hat Verlangen nach etwas, das es nicht gibt. ... . Fortlaufend tauchen neue Hoffnungen auf, die dann enttäuscht werden und ein Gefühl des Überdrusses und der Ernüchterung zurücklassen. Wie könnte die Begierde denn je ein festes Ziel finden, wenn sie nicht sicher ist, das zu behalten, was sie anzieht? ... . Die Ungewißheit über die Zukunft, die mit seiner eigenen Entschlußlosigkeit verbunden ist, verurteilt ihn zu einer nicht endenden Geschäftigkeit. Das alles zusammen schafft einen Zustand von Unruhe, Erregung und Unzufriedenheit, durch den die Möglichkeit eines Selbstmordes realer wird.“ (Ebd., S. 311 f.)
Merkt Euch das, Raver, bevor Ihr demnächst wieder zur Love Parade nach Berlin aufbrecht!
Fall 4: Die Macht der Worte (I) Das vierte Beispiel haben wir bereits in den Abschnitten 7.2 und 8.3 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ behandelt. Es ist das bekannte „Framing“-Experiment von Amos Tversky und Daniel Kahneman.12 Wenn von „Bezugsrahmen“ die Rede ist, muß es erwähnt wer12
Amos Tversky und Daniel Kahneman, The Framing of Decisions and the Psychology of Choice, in: Science, 211, 1981, S. 453-458.
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den. Kein anderes empirische Ergebnis hat die Ökonomen derart beeindruckt und manche von ihnen auch davon überzeugt, daß die Opportunitäten, Nutzen und Kosten und die statistischen Erwartungen eben nicht alles sind, wenn es gilt, das Handeln der Menschen zu erklären. Zur Erinnerung: Es ging darum, ein Programm gegen eine drohende Grippeepidemie zu empfehlen. Die objektive Wirksamkeit war bei beiden Programmen exakt die gleiche. Sie unterschieden sich aber darin, ob die Wirkung entweder mit Sicherheit oder mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auftrat. Die Aufgabe wurde nun in zwei verschiedenen sprachlichen Formen dargeboten. Eigentlich hätte dies auf die Entscheidung keine Auswirkung haben dürfen, weil die „objektiven“ Folgen ja jeweils gleich waren. Das Ergebnis war aber eindeutig: War von „retten“ die Rede, dann wurde mit großer Mehrheit das sichere Programm empfohlen; hieß es in der Vorgabe dagegen, daß Menschen „sterben“ würden, dann bevorzugten die meisten das riskante Programm. Anders gesagt: Die sprachliche Rahmung bestimmte die Entscheidung – und eben nicht die objektiven Auszahlungen in Form des Erwartungswertes von Überlebenden.
Noch immer wird weithin darüber gerätselt, warum die sprachliche Rahmung der Entscheidungsaufgabe diese deutliche Wirkung hatte. Eine Erklärung dafür haben wir in Abschnitt 8.3 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ schon gegeben. Sie ließ von dem sprachlichen Effekt der Rahmung nicht viel mehr übrig. Lesen Sie das am besten selbst noch einmal nach! Es geht also manchmal auch ohne den Bezug auf das Konzept des Bezugsrahmens. Ein anderes Ergebnis der Experimente ist dagegen bis heute nicht geklärt: Meist wird – auch wenn von „retten“ die Rede ist – die riskante Alternative mit Mehrheit bevorzugt, und diese Mehrheit wächst dann noch, wenn das Wort „sterben“ fällt. Eine Vermutung zur Erklärung dieser Schiefverteilung zugunsten des riskanten Programms ist die, daß mit der Aufgabe insgesamt weit verbreitete Normen aktiviert werden: Wenn es um Menschenleben geht, will niemand den Herrn über Leben und Tod spielen. Jeder soll, so denken offenbar jedenfalls Studenten, eine faire „zufällige“ Chance haben, wenn es denn schon um Leben und Tod geht, und eben nicht schon von vornherein verdammt oder erwählt sein. Und das besonders dann, wenn man ja selbst unter Umständen betroffen sein könnte und die Entscheidung über das Programm doch vor einem sehr dichten Schleier der Ungewißheit zu treffen hätte, angesichts dessen man nie wissen kann, auf welcher Seite man sich befindet. Studenten höheren Semesters und solche, die Statistik und Entscheidungs theorie gehört haben, fallen übrigens normalerweise auf das sprachliche Fra-
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ming und auf die normative Gewichtung der Alternativen nicht herein – trotz aller Normen der Fairneß, die auch sie wohl teilen.13
Fall 5: Die Macht der Worte (II) Hitler hatte zahllose willige Helfer bei seinen Verbrechen an den Juden, aber es gab weitaus mehr, die nicht unmittelbar beteiligt waren, wohl aber ahnten, was geschah, gleichwohl weggesehen und das Ungeheuerliche verdrängt haben. Was hätte man auch tun können? – so fragte man sich und andere später beschwichtigend. Das galt selbst, wie man verstehen kann, für die Bevölkerung in den von den Deutschen besetzten Gebieten. Immerhin aber wird auch von einer ganzen Reihe von Menschen berichtet, die, obwohl sie wohl wußten, was auf dem Spiele stand, Juden vor dem sicheren Tod gerettet haben. Einem davon, Oskar Schindler, hat Steven Spielberg ein filmisches Denkmal gesetzt. Der hatte aber, wie durchaus bekannt war, auch ganz handfeste Gründe für seine Heldentat: Er brauchte die Juden für seine Fabrik, und die stellte kriegswichtige Dinge her – und das haben die Nazis, die mit Schindler sozusagen kollaborierten, vielleicht auch wieder gewußt und stillschweigend berücksichtigt. Der Fall Schindler mit seinen unverkennbar auch „ökonomischen“ Motiven war ohne Zweifel eine Ausnahme unter den Ausnahmefällen jener Zeit, daß Juden überhaupt gerettet wurden. Aber was waren dann die Gründe für jenen durchaus lebensgefährlichen und (auch daher) nicht allzu verbreiteten Altruismus der Bevölkerung der besetzten Gebiete? Die – raren – Untersuchungen zu dem Thema hinterlassen eine gewisse Ratlosigkeit: Es gibt anscheinend keine systematisch benennbaren „Faktoren“, wie etwa: Bildung, bestimmte Werte, Möglichkeiten, etwa die Verfügbarkeit eines Verstecks, oder gewisse Persönlichkeitsstrukturen, die schlüssig erklären können, warum der eine einen Juden gerettet hat und der andere nicht. Das schlechte Gewissen oder eine bestimmte moralische Vorstellung waren es, folgt man diesen Studien, wohl auch nicht. Das Helfen – auch unter großer Gefahr – scheint vielmehr die Folge einer höchst „persönlichen“ und „individuellen“ Ansprache gewesen zu sein. Die Ukrainerin Jean Kowalyk Berger, die in einem Dorf nahe an einem
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Vgl. dazu ausführlich Volker Stocké, Form oder Inhalt? Die unterschiedlichen Ursachen für Framing-Effekte. Eine theoretische und empirische Untersuchung der Einflüsse der Informationsverarbeitung am Beispiel des „Asian Disease Problem“, München 2001.
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deutschen Arbeitslager mit Juden lebte und einen davon versteckt hat, drückte es so aus: „When I saw people being molested, my religious heart whispered to me, ,Do not kill. Love others as you love yourself‘.“14
Aber das alleine reichte nicht. Erst als ein jüdischer Arzt, den sie kannte, eines Nachts bei ihr anklopfte und dringend um Hilfe bettelte, konnte sie die Schwelle überwinden. Und sie half dann wirklich. Als das einmal geschehen war, wurde die Sache für andere leichter, und es entstand so etwas wie ein Schneeball-Effekt des Helfens in der ganzen Nachbarschaft, nachdem sie damit begonnen hatte. Das war ein Einzelfall, und die meisten Studien zu dem Thema sind derartige „narrative“ Einzelfallstudien gewesen. Federico Varese und Meir Yaish haben diesen Vorgang neuerdings jedoch auf der Grundlage einer soliden Datenbasis untersucht.15 Verglichen wurde ein Sample von „rescuers“, identifiziert vor allem aus der Yad Vashem-Liste der „Gerechten der Welt“ und eine Kontrollgruppe von „non-rescuers“, (nicht-deutsche) Personen in den von den Nazis besetzten Gebieten, die nicht an Rettungsaktionen beteiligt waren (vgl. zu den technischen Einzelheiten der Stichprobenbestimmung: Varese und Yaish 2000, S. 313ff.). Erfaßt waren, außer dem „Verhalten“, eine Reihe von unabhängigen Variablen: Alter, Bildung, Religiosität, Geschlecht, ökonomische Situation, die Wohnsituation, einschließlich der Verfügbarkeit von Versteckmöglichkeiten, die Wohnortgröße, Anzahl von jüdischen und nichtjüdischen Nachbarn und die Zugehörigkeit zum Widerstand gegen die Nazis, wie etwa die Resistance. Erhoben worden ist aber auch, ob sie von jemandem um Hilfe persönlich gefragt wurden. Schon in der bivariaten Betrachtung zeigt sich ein deutliches Ergebnis (Tabelle 0.4): Tabelle 0.4: Rettungsverhalten und persönliche Ansprache
Rettung Ja
Ansprache Ja Nein 237 (96.0%)
122 (60.1%)
359
13
Gay Block und Malka Drucker, Rescuers: Protraits of Moral Courage in the Holocaust, New York 1992, S. 237.
14
Federico Varese und Mair Yaish, The Importance of Being Asked: The Rescue of Jews in Nazi Europe, in: Rationality and Society, 12, 2000, S. 307-334.
Einführung
21
Nein
10 (4.0%)
81 (39.9%)
203
n,N
247 (100%)
203 (100%)
450
Das ist ein beachtlicher Zusammenhang: Zwar halfen immerhin knapp 40% auch ohne persönliche Ansprache, aber von denjenigen, die gefragt wurden, haben sich nur 4% (!) verweigert. Die multivariate Analyse bestätigt diesen Zusammenhang dann in beeindruckender Weise (vgl. Tabelle = 0.5): Tabelle 0.5: Faktoren des Rettungshandelns (logistische Regression)
Unabhängige Variablen
Modell 1
Modell 2
Alter (im Jahr 1940) Geschlecht Höhere Bildung Religiosität Viele Nachbarn Keller im Haus Zimmerzahl Stadt Widerstand
0.078** -0.959** -0.196 0.468** -0.890 -0.723 0.295 -1.087 10.203
0.109** -1.890** 0.229 0.501* -1.153 -0.061 0.261 -0.979 11.378
Ansprache
2.847**
Das Modell 1 enthält die genannten Faktoren – ohne den der persönlichen Ansprache, das Modell 2 dann auch die persönliche Ansprache. Das Ergebnis ist eindeutig:16 Es ist vor allem die persönliche Kommunikation, die die Schwelle überwinden hilft. Zwar spielen auch das Alter und das Geschlecht eine Rolle: Ältere und Frauen helfen eher. Und auch die Anzahl der Zimmer als räumliche Bedingung des Helfens ist wichtig. Aber alles andere, auch die Zugehörigkeit zum Widerstand, ist – buchstäblich wie statistisch – nicht-signifikant. 16
Die Koeffizienten geben, vereinfacht gesagt, die Änderungen der Wahrscheinlichkeit einer Rettungshandlung wieder. Die Sternchen bezeichnen die statistisch signifikanten Ergebnisse.
Sinn und Kultur
22
„Signifikant“ ist insbesondere die sprachliche Geste, die – wie auch immer – dazu beiträgt, daß alle Bedenken in den Hintergrund treten. Sie erhöht die Bereitschaft zur Hilfe um das 17-fache (exp(2.847)=17.235). Der Effekt der Religiösität ist im übrigen etwas unerwartet. Der Koeffizient ist in beiden Fällen positiv, und man sollte annehmen, daß eine höhere Religiösität zu einem höheren Altruismus führt, wie das das Beispiel von Jean Kowalyk Berger ja auch zu belegen scheint. Das Gegenteil ist der Fall: In der Studie ist die höchste Religiosität mit 1 und die niedrigste mit 4 kodiert. Es gibt also einen negativen Einfluß der Religiosität auf das Rettungshandeln den Juden gegenüber. Varese und Yaish kommentieren das so: „A plausible explanation for this negative effect is that a very religious person might be more receptive to anti-Semitism.” (Varese und Yaish 2000, S. 320)
Es kommt also, wie man sieht, auch auf den Inhalt an, den eine Moral verkörpert.
Fall 6: Hi, Ray! Der amerikanische Sozialpsychologe Harold Garfinkel, auf den wir schon in Abschnitt 8.2 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ mit der netten Geschichte vom Professor als Kellner gestoßen waren, hat eine ganze Serie von Experimenten durchgeführt, in denen er es mit ganz einfachen Mitteln schaffte, in kürzester Zeit für Erstaunen, Verwirrung und – oft genug – großen Ärger zu sorgen. Eines dieser Experimente ging folgendermaßen: Eine Versuchsperson S trifft einen von Garfinkel instruierten Bekannten E. S beginnt die Begegnung mit einer der üblichen Floskeln. Darauf reagiert E nicht eigentlich unhöflich, unverständlich oder falsch, aber irgendwie höchst sonderbar. Das Gespräch verlief so:17 (S) Hi, Ray. How is your girl friend feeling? (E) What do you mean, ‚How is your girl friend feeling?‘ Do you mean physical or mental? (S) I mean how is she feeling? What‘s the matter with you? (He looked peeved.) (E) Nothing. Just explain a little clearer what do you mean? (S) Skip it. How are your Med School applications coming? (E) What do you mean, ‚How are they?‘ (S) You know what I mean. (E) I really don‘t.
17
Harold Garfinkel, Studies on the Routine Grounds of Everyday Activities, in: Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs, N.J., 1967a, S. 42f.
Einführung
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(S) What‘s the matter with you? Are you sick?
Der weitere Fortgang des Gesprächs ist nicht überliefert. Es gehört aber nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, was geschah. Jedenfalls reagieren in allen von Garfinkel durchgeführten Experimenten ähnlicher Art die Opfer auf eine ähnliche Weise wie hier: Sie sind irritiert, können es nicht glauben und halten den anderen – und schließlich auch sich selbst – für etwas verrückt. Alle sind sie froh, wenn der Spuk vorbei ist. Manche sind so erschüttert, daß sie sich auch Tage danach noch nicht beruhigen können. Und einige sind so erbost, daß sie sich gegen weitere Belästigungen dieser Art massiv zur Wehr setzen. Besonders aus Familien, in denen Studenten im Auftrag von Garfinkel ähnliche Experimente mit ihren Eltern versuchten, wird diese Reaktion berichtet. Lassen Sie es also besser!
Fall 7: Jenningers Rede Am 10. November 1988 hat der damalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger eine denkwürdige Rede zum 50. Jahrestag der sog. Reichskristallnacht gehalten. Das Bild ging um die Welt: Die Schauspielerin Ida Ehre, die gerade vorher die „Todesfuge“ von Paul Celan rezitiert hatte, sitzt zusammengesunken und, wie es scheint, auf das höchste bedrückt auf der Bundesratsbank neben dem tapfer dahinredenden Jenninger. Was war geschehen? Jenninger war dabei, eine Rede zu halten, in der viele Dinge enthalten waren, die ohne Zweifel dem puren Inhalt nach richtig waren, wie etwa der berauschende Eindruck, den die Deutschen ganz offensichtlich von den innen- und außenpolitischen Erfolgen Hitlers während der ersten Jahre der Naziherrschaft hatten. Sebastian Haffner und Joachim Fest haben das vorher ganz ähnlich beschrieben und bewertet, ohne daß sich jemand sonderlich aufgeregt hätte. Aber die gesprochene Rede Jenningers „paßte“ irgendwie nicht zum Anlaß und zum erwarteten Stil des Zeremoniells. Der Wendepunkt war das Wort vom „Faszinosum“ für die Triumphe der Nazis, das Jenninger in einem Ton aussprach, als wäre er selbst innerlich noch ganz begeistert von dieser „großen“ Zeit Deutschlands. Weite andere Teile der Rede, gespickt auch mit zitierenden Vokabeln aus dem rassistischen Wortschatz der Nazis, wurden von Jenninger auch so vorgetragen, daß nicht immer deutlich war, von welcher Warte aus er sprach. Sogar die schwere Kindheit Hitlers wurde bemüht, um dessen Judenhaß zu erklären. Und alles das geschah in einem Rahmen, vor dem der Duktus und der Stil von fast allen als mindestens ungeschickt und von vielen als auf eine atemberaubende Weise unpassend angese-
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Sinn und Kultur
hen wurde. Sebastian Haffner hat die Sache später besonders treffend auf den Punkt gebracht: „Wenn ein Mensch ermordet worden ist, spricht man am Grab nicht von der interessanten Persönlichkeit des Mörders.“ Zahlreiche Abgeordnete verließen irritiert und empört den Plenarsaal, und Phillip Jenninger trat wenig später als Bundestagspräsident zurück. Ein Jahr später hat Ignatz Bubis, als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, in der Westend-Synagoge in Frankfurt/M. eine Rede zur 51. Wiederkehr des Tages der Synagogenzerstörungen gehalten – und dabei, ganz bewußt, in weiten Teilen Passagen aus der Jenninger-Rede entnommen, unter anderem die folgende: „Waren die Juden in früheren Zeiten für Seuchen und Katastrophen, später für wirtschaftliche Not und ‚undeutsche‘ Umtriebe verantwortlich gemacht worden, so sah Hitler in ihnen die Schuldigen für schlechthin alle Übel: Sie standen hinter den ‚Novemberverbrechern‘ des Jahres 1918, den ‚Blutsaugern‘ und ‚Kapitalisten‘, den ‚Bolschewisten‘ und ‚Freimaurern‘, den ‚Liberalen‘ und ‚Demokraten‘, den ‚Kulturschändern‘ und ‚Sittenverderbern‘, kurz, sie waren die eigentlichen Drahtzieher und Verursacher allen militärischen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Unglücks, das angeblich Deutschland heimgesucht hatte.“18
Diesmal geschah nichts. Erst im November 1995 kam die Sache, eher zufällig, heraus und sorgte natürlich für großes Aufsehen. Was war geschehen? Diesmal „stimmte“ offenbar der Rahmen: Niemand konnte auch nur den Hauch eines Zweifels haben, daß Ignatz Bubis die zitierte Passage nicht klammheimlich womöglich als eigene Meinung teilen würde, während das offenbar für manche Abgeordnete bei Jenninger nicht ganz so selbstverständlich gewesen ist – und der eine oder andere wohl auch klammheimlich manches daran fand, ihn in eine schwierige Situation zu bringen. Ida Ehre ließ übrigens später verlauten, sie habe ihren Kopf vor Erschöpfung in die Hand gelegt, und sie habe von der Rede Jenningers so gut wie nichts mitbekommen. Und die FAZ feierte die entstandene Irritation, die Bubis etwas hintersinnig erzeugt hatte, ausgiebig auf eine selbst recht irritierende, letztlich aber auch wiederum kaum überraschende Weise.
18
Vgl. Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, 10. November, Bonn 1988, S. 7273; Ignatz Bubis, Ansprache anläßlich der Gedenkstunde der 51. Wiederkehr der Synagogenzerstörungen 1938 in Deutschland am 09. November 1989 in der Westend-Synagoge in Frankfurt/M., S. 4f.
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Fall 8: Tobias Schneebaum Der amerikanische Maler Tobias Schneebaum unternahm im Jahre 1955 in Verfolgung seiner künstlerischen Interessen eine Reise in den Dschungel von Peru. Während dieser Reise verliert er mehr und mehr das Interesse an seiner Kunst. Er sah sich vielmehr immer tiefer in das eigenartige Leben der Akaramas, einem dort lebenden steinzeitähnlichen Stamm, hineingezogen. Über seine Erlebnisse hat er später ein Buch geschrieben.19 Die beiden amerikanischen Sozialpsychologen Hugh Mehan und Houston Wood haben es benutzt, um zu zeigen, wie es möglich ist, daß Menschen sich in eine subjektive Welt hineinbegeben können, von der sie weder vorher noch nachher auch nur haben denken können, daß sie es gewesen sind, denen das passierte. Wir übernehmen zur Beschreibung des Falles eine Passage aus dem Artikel von Hugh Mehan und Houston Wood, einschließlich eines Zitates aus dem Buch von Tobias Schneebaum.20 Erst beschreiben Mehan und Wood den Prozeß der allmählichen Übernahme der Bräuche und des Zeitgefühls der Akaramas bei Tobias Schneebaum und das Aufkeimen des Gefühls, daß seine ursprüngliche eigene subjektive Welt immer mehr in den Hintergrund zu treten beginnt. Und dann passiert das Folgende (Mehan und Wood 1976, S. 55f.): „Eines Tages bricht er (Tobias Schneebaum; HE) mit seinen Schlafgefährten wie gewöhnlich zu einem Jagdzug auf. An diesem Tag gehen sie jedoch weiter als je zuvor. Sie bemalen sich auf eine neue Art und Weise und wiederholen neue Gesänge. Schließlich erreichen sie ein fremdes Dorf. Sie überfallen es, stoßen religiöse Rufe aus und töten alle Männer, die sie fangen können, schlitzen ihnen die Bäuche auf und enthaupten sie an Ort und Stelle; auch Schneebaum macht mit. Sie brennen alle Hütten nieder und entführen gewaltsam Frauen und Kinder. Ohne anzuhalten wandern sie dann eine ganze Nacht hindurch zu ihrem eigenen Dorf zurück. Zuhause wird ein neuer Tanz begonnen. Das Fleisch der Männer, die sie ermordet und das sie mitgebracht haben, wird gekocht. Mit dem Einsetzen eines neuen Bewegungsablaufs des Tanzes wird dieses Fleisch genüßlich gegessen. Schließlich erschöpft, stolpern sie übereinander auf den Boden. Dann wird der Rest des Fleisches für ein Zeremoniell verwendet: ‚ ... wir saßen oder lagen um das Feuer herum, aßen, summten Lieder, schwankten vorwärts und rückwärts, bewegten uns aus der Hüfte vorwärts und rückwärts. Ruhe und Stille kam über uns, über alle Männer. Vier von ihnen standen auf, einer nahm ein Herz aus der Glut, und sie gingen in den Wald. Andere kleine Gruppen erwachten, wählten ein Stück Fleisch aus und verschwanden in andere Richtungen. Wir drei waren allein, bis Ihuene, Baaldore und Reindude vor uns standen und Reindude in seiner Hand das Herz des Wesens um-
19
Tobias Schneebaum, Keep the River on Your Right, New York 1969.
20
Hugh Mehan und Houston Wood, Fünf Merkmale der Realität, in: Elmar Weingarten, Fritz Sack und Jim Schenkein (Hrsg.), Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, Frankfurt/M. 1976, S. 54ff.
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faßt hielt, das wir von so weit hergetragen hatten, das Herz dessen, der in jener Hütte gelebt hatte, die wir betreten hatten, um ihn zu töten. Wir streckten uns flach auf dem Boden aus und legten uns nebeneinander, so daß sich unsere Schultern berührten. Michii schaute zum Mond auf und zeigte ihn dem Herzen. Er biß hinein, als ob es ein Apfel wäre, nahm einen großen Biß, es war fast die Hälfte, und kaute es einige Male, spuckte es in eine Hand, trennte das Fleisch in sechs Teile und legte ein Stück in den Mund eines jeden von uns. Wir kauten und schluckten. Mit der anderen Hälfte des Herzens machte er dasselbe. Er drehte Darinimbiak auf seinen Bauch und hob seine Hüften hoch, so daß er auf allen Vieren kroch. Darinimbiak knurrte, Mayaariii-ha!, Michii knurrte, Mayaariii-ha!, bückte sich, um sich auf Darinimbiaks Rücken zu legen und drang in ihn ein.‘ (Schneebaum 1969, S. 106f.) Massenmord, Zerstörung eines ganzen Dorfes, Diebstahl aller wertvollen Güter, Kannibalismus, rituelles Verspeisen eines Herzens vor dem öffentlichen Ausführen homosexueller Handlungen sind einige der Geschehnisse, an denen Schneebaum teilnahm. Er hätte das nicht an seinem ersten Tag im Dschungel tun können. Aber nach seiner schrittweisen Übernahme der Realität der Akaramas sind diese Handlungen selbstverständlich geworden. Es wäre für ihn ebenso unmoralisch gewesen, sich zu weigern, an dem Beutezug seiner Brüder und an der Siegesfeier teilzunehmen, wie es für ihn unmoralisch gewesen wäre, dieselben Handlungen in einer westlichen Gemeinschaft zu vollziehen. Seine Realität hatte sich gewandelt. Die moralischen Tatbestände waren andere.“
Tobias Schneebaum konnte später alles dies selbst kaum glauben. Trotz aller Durchdringung seiner subjektiven Welt von der neuen Wirklichkeit der Akarama-Kultur vergaß er seine alte Identität und Wirklichkeit – den Maler Tobias Schneebaum aus New York – jedoch nicht. Und als er merkte, daß es wohl auch bald kein Zurück mehr dorthin geben könnte, wenn er der neuen Wirklichkeit gestatten würde, sich seiner noch mehr zu bemächtigen, verließ er die Akaramas. Die vermißten ihn übrigens nicht. Für die Akaramas existieren Lebewesen einfach nicht, die von ihnen getrennt sind.
Fall 9: Bischof Dyba und der Besuch der alten Dame Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung stand zu Ostern 1998 die folgende Zusammenfassung von Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ des Journalisten Christian Nürnberger zu lesen: „Güllen, eine Kleinstadt irgendwo in Mitteleuropa, steht vor dem Ruin. Die Leute sind arm, arbeitslos und ohne Hoffnung. Doch plötzlich naht die Rettung. Die Ölmilliardärin Claire Zachanassian, die selbst aus Güllen stammt, hat ihren Besuch angekündigt. Alle sind sicher: Sie wird uns helfen. Das will sie auch. Doch die alte Dame stellt eine Bedingung. Sie fordert Gerechtigkeit. Ihre Gerechtigkeit. Die Kleinstädter sollen den Krämer Alfred Ill ermorden. Das ist die Rache dafür, daß der Krämer vor 45 Jahren seine damalige Freundin Claire verleugnet hatte, als sie ein Kind von ihm erwartete und sie deshalb die Stadt verlassen und sich fern ihrer Heimat prostituieren mußte, um sich und ihr Kind durchzubringen. Später wurde sie dann reich durch Heirat, und diesen Reichtum setzt sie nun ein, um ihr Verständnis von Gerechtigkeit durchzusetzen.
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Natürlich weisen die braven Bürger von Güllen das Ansinnen der alten Dame entrüstet zurück, können sich aber nicht dazu durchringen, die Dame aus der Stadt zu jagen. Zu groß ist die Not, und zu groß die Hoffnung, daß sich vielleicht doch etwas arrangieren ließe. So ernst wird sie es mit ihrer Forderung ja wohl nicht meinen, denken sie sich, und sie beginnen, auf großem Fuß zu leben, machen Schulden. Aber die alte Dame beharrt darauf: Alfred Ill muß sterben. Und da kippt die Stimmung in der Stadt. Nicht zu Lasten der unmenschlichen Alten, nein, zu Lasten ihres Mitbürgers Ill. Hat er sich sein Schicksal nicht selbst zuzuschreiben? fragen die Bürger plötzlich. War sein Verhalten nicht schweinisch? Hat das gedemütigte Mädchen von damals nicht einen Anspruch auf Sühne? Die Bürger von Güllen wühlen in der großen Kiste der Rechtfertigungs – Schablonen, finden Fertigteile wie „Willen zur Gerechtigkeit“ oder „notwendiges Opfer für die Allgemeinheit“. Und da bringen sie ihren Mitbürger während einer Ratsfeier um, denn sie wissen, es wird weder Kläger noch Richter geben. „Tod durch Herzschlag“ diagnostiziert der Arzt. „Tod aus Freude“ schlagzeilt die Lokalzeitung. Und die Bürger von Güllen lebten in Wohlstand bis an ihr Lebensende.“21
Die Überschrift des Beitrags lautete „Mord am Sonntag“ und hatte den Untertitel: „Wer Werte zur Disposition stellt, hat sie schon aufgegeben.“ Was das mit dem „Besuch der alten Dame“ zu tun hat, erläutert der Autor, Christian Nürnberger, mit einem Hinweis auf den Philosophen Robert Spaemann, der dieses Stück vor einiger Zeit aufgegriffen hatte, um auf die inzwischen kaum mehr gestellten Fragen hinzuweisen, die mit der immer einmal wieder geforderten Abschaffung des Sonntags zusammenhängen mögen: Wer auch nur fragt, so Spaemann, „Was kostet uns der Sonntag“, hat den Sonntag bereits „zum Abschuß“ freigegeben, und diese Frage wirke exakt so, wie der Besuch der alten Dame in Güllen. Das aber störe, so wundert und empört sich Christian Nürnberger, gerade jene CSU und jenen Bischof Dyba kaum, die doch kurz vorher noch einen heiligen Kreuzzug für das Kruzifix in den Schulen angeführt hätten: „Wäre die CSU tatsächlich so christlich, wie sich ihre Repräsentanten bei ihrer Demo für das Kruzifix in Schulen gefeiert haben, dann müßte der Sonntag – auch als Chiffre für christlichabendländische Werte – für die CSU unantastbar sein, Bischof Dyba in Fulda müßte die Kirchenglocken läuten und mit der CSU die Frage stellen: Wie lösen wir unsere Produktionsprobleme unter der Voraussetzung, daß bestimmte Werte unserer Kultur nun einmal nicht zur Disposition stehen?“ (Ebd.)
Die beiden Hervorhebungen stehen im übrigen nicht im Original. Da steht zum Schluß nur noch, was wohl geschehen mag, wenn einmal wirklich bloß noch der Markt die Werte der Gesellschaft bestimmen würde, und daß jetzt eigentlich „die Politiker mit dem C im Firmenschild, und auch die Politiker mit dem S für sozial und dem D für demokratisch“ diese „Moral der Mafia“ erkennen und bekämpfen müßten. Denn: „Wenn wir uns die (die Moral der 21
Mord am Sonntag. Wer Werte zur Disposition stellt, hat sie schon aufgegeben, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 83, 1998, S.13.
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Mafia; HE) zu eigen machen – wozu feiern wir dann noch Ostern?“ So „unbedingt“, wie sie das doch eigentlich sollten, gelten die Werte des Christentums, der sozialen Gerechtigkeit und der Demokratie offenkundig wohl nicht, wenn es an die Produktivitäten und an die Gewinne geht. Offenbar schon gar nicht bei Bischof Dyba, Gott habe ihn selig, beileibe aber auch nicht nur bei ihm.
Fall 10: Mauvaise foi Damit Institutionen „gelten“, müssen sie einen unmittelbaren Bezug zur Wissens- und Gefühlswelt, zur Identität des Akteurs bekommen. Das ist der Grund für die Wichtigkeit der Sozialisation und der Vermittlung einer besonderen Einstellung der Legitimität einer Institution: Die Akteure müssen eine innere Einstellung entwickeln, die sie – sofern die Situation mit ihrer typischen Symbolik gegeben ist – auch mit ihren Emotionen ganz fraglos erfaßt und sie ohne weiteres Überlegen handeln läßt, so wie es die Regeln vorsehen. So können auch soziale Rollen und soziale Drehbücher, das haben wir in den Kapiteln 7 und 8 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, ja auch schon gesehen, den Menschen voll und ganz erfassen. Für das, was sie tun, fühlen sie dann oft genug auch keine besondere moralische Verantwortung als „individuelle“ Person. Es war ja nur die Pflicht, die rief, und die Rolle, die das betreffende Tun verlangte. Die fraglose Erfassung durch den Bezugsrahmen von Rollen und sozialen Drehbüchern geschieht am ehesten noch bei den vielen kleinen Routinehandlungen des Alltags. Wenn es jedoch plötzlich um etwas Belangvolleres geht, melden sich bei jedem gewisse Bedenken, ob denn das alles seine Richtigkeit hat. Beispielsweise: Ein Richter, der nicht wie üblich bloß den kleinen Parksünder zu verurteilen hat, sondern gerade dabei ist, über jemanden das Todesurteil zu verhängen, wird sicher doch einmal, wennzwar vielleicht nur kurz, ins Grübeln kommen. Etwas anders gesagt: Wenn die Opportunitätskosten für die Rollenausübung deutlich steigen, kommt auch der fragloseste Bezugsrahmen ins Wanken. Was aber nun? Abweichendes Verhalten? Etwa aus Mitleid? Bei einem Richter? Was ist mit der Karriere? Und was mit der Pension? Also: Ausgeschlossen! Aber es nagen dennoch die Bedenken. Und wieder zeigen sich die besonderen Fähigkeiten der Menschen: Sie können die Situation umdeuten, die entstehende Spannung auflösen und schließlich ganz beruhigt im Programm der Rollenausübung fortfahren.
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Und das geht so: Es wird innerlich das als notwendig definiert, was tatsächlich immer noch eine freie Wahl gewesen wäre. Peter L. Berger, dem wir auch bei der Besprechung des Problems der Legitimation von Institutionen in Abschnitt 11.1 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ begegnet sind, bezeichnet diesen Trick mit einem Ausdruck von Jean Paul Sartre als mauvaise foi: „Mauvaise foi ist, wenn man als notwendig ausgibt, was tatsächlich im eigenen Belieben steht, Flucht vor der Freiheit also, feiges Kneifen vor der ‚Agonie der Wahl‘.“22
Das Leben, das gewöhnliche wie das ungewöhnliche, ist voll davon: „Der Kellner, der im Caféhaus durch sein Revier schlurft, hat mauvaise foi, wenn er sich einbildet, die Kellnerrolle wäre sein ganzes Sein und er sei, wenn auch nur in seinen Dienststunden, der Kellner. Die Frau, die ihren Körper Glied für Glied hingibt und sich dabei unschuldsvoll mit dem Verführer unterhält, ist in mauvaise foi befangen, wenn sie vorgibt, was mit ihrem Körper geschehe, sei außer ihrer Kontrolle. Der Terrorist, der seine Morde damit entschuldigt, er habe keine andere Wahl gehabt, weil die Partei ihn sonst hätte töten lassen, hat mauvaise foi, denn er tut so, als wäre sein Leben ohne Ausweg an die Partei gebunden.“ (Ebd.; Hervorhebung im Original)
Rollen und soziale Drehbücher, stereotype Zuschreibungen und soziale Identitäten ganz allgemein erzeugen als Bezugsrahmen eine ganz eigene subjektive Welt, in der die absonderlichsten Hirngespinste und Konstruktionen zur Wirklichkeit werden. Und es gibt immer ganze Bündel von, oftmals selbst stereotypisierten, Interpretationshilfen um sie herum, die das mauvaise foi dabei unterstützen. Der Antisemitismus und die Konzentrationslager der Nazis waren ein besonders drastisches Beispiel dafür, aber bei weitem nicht das einzige: „Man liebt und haßt und mordet in einer mythischen Welt, in der alle Menschen ihre gesellschaftlichen Kennzeichnungen sind. In solcher Welt ist ein SS-Mann, was seine Abzeichen sagen, und ein Jude ist das Inbild der Verächtlichkeit, die seine KZ-Lumpen bedeuten sollen.“ (Ebd., S. 159; Hervorhebungen im Original)
Rollen und soziale Drehbücher sind ohne Zweifel wichtige Hilfen zur Herstellung der sozialen Ordnung, zur Unterstützung von Kooperation und darüber zur Produktion der für ein menschliches Leben benötigten Ressourcen. Die Auferlegtheit eines Bezugsrahmens ist sicher eine auch wichtige und gute Stütze gegen alle opportunistischen Versuchungen, die es sonst noch geben mag. Es gibt wohl auch vorgefertigte Entschuldigungen und innere Hilfen für jemanden, der sich für andere opfert und ganz „objektiv“ eigentlich der 22
Peter L. Berger, Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive, München 1971 (zuerst: 1963), S. 157.
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Dumme wäre. Berger betrachtet in seiner ihm eigenen Perspektive den Mechanismus aber bewußt einmal von der anderen Seite: die Verbindung von Auferlegtheit, Entfremdung, mauvaise foi und – wie er sagt – Unmenschlichkeit: „Die Todesstrafe ist ein Paradebeispiel für den Teufelspakt von mauvaise foi und Unmenschlichkeit. Jeder einzelne Schritt dieser monströsen Prozedur ... ist ein Akt von mauvaise foi, wobei gesellschaftlich kontrollierte Rollen als Alibis für individuelle Feigheit und Grausamkeit herhalten müssen. Ankläger, Richter und Schöffen unterdrücken angeblich ihr persönliches Mitgefühl, um eine harte Pflicht zu erfüllen. Im Drama einer Gerichtsverhandlung über ein Kapitalverbrechen ist jeder einzelne, der zur Hinrichtung des Angeklagten beiträgt, in mauvaise foi befangen: jene Täuschung, daß er nicht als Person, sondern als Träger einer Rolle fungiert, die im Räderwerk legaler Fiktionen auf ihn zukommt. Bis zum dramatischen Schluß, der Vollstreckung des Urteils, wird die Vermeintlichkeit durchgehalten. Alle, die das Töten anordnen, überwachen oder ausführen, sind vor persönlicher Verantwortung durch die Fiktion geschützt, daß nicht sie selbst es seien, die alles das tun, sondern anonyme Wesen, ‚Repräsentanten‘ des Rechts, des Staates oder des Volkswillens. Die Ausstrahlung dieser Fiktionen ist so stark, daß die Leute sogar mit den armen Wächtern und Henkern sympathisieren, die in Erfüllung ihrer harten Pflicht so grausame Dinge tun ‚müssen‘.“ (Ebd., S. 174)
Peter L. Berger hat seine Anklage des mauvaise foi vor allem in humanistischer Absicht geführt. Er wollte damit auch der Soziologie eine humanistische Funktion zuweisen, weil sie in einem ganz besonderen Maße in der Lage sei, das mauvaise foi zu entlarven. Die für uns wichtige theoretische Botschaft nennt Berger aber auch: Menschen sind in ihrer Weltoffenheit eben keine Tiere, die in ihrem Tun biologisch festgelegt sind. Ihre Weltoffenheit und Handlungsfreiheit verlieren sie grundsätzlich auch angesichts der Geltung mächtiger Institutionen nicht. Menschen haben immer die Wahl (ebd., S. 156f.). Auch der stärkste Bezugsrahmen und die eingeschliffenste Routine schalten den Verstand nicht gänzlich aus. Und man kann auch einen Bezugsrahmen wechseln, wenn man das will und für sinnvoll hält und darauf kommt, daß er ganz und gar nicht „unbedingt“ gelten muß. *** Was lernen wir aus den Beispielen? Zunächst wohl dies: Menschen verbinden mit ihrem Handeln immer einen Sinn oder könnten es zumindest tun. Meist denken sie über den Sinn ihres Tuns nicht sonderlich nach, sondern sind in ihm mehr oder weniger gefangen. Aber diese Geltung hängt an einer gewissen „Unbedingtheit“: Wer anfängt nachzudenken oder zu „rechnen“, hat die Unschuld schon verloren. Woher aber kommen der Sinn des Handelns und die Unbedingtheit der Orientierungen dabei? Gewiß nicht von den einzelnen Menschen selbst. Er kommt – so lehrt uns die Soziologie seit Durkheims Zeiten – nur von einem
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sinnstiftenden Rahmen, der ihnen vorgegeben ist, der sie sicher in ihren Zielen begrenzt und der dem Denken, Fühlen und Handeln einen unbedingten Bezug, eine feste Richtung und eine fraglose Plausibilität gibt. Ihre orientierende Kraft erhalten die Modelle der Bezugsrahmen durch feste äußere Grenzen: durch schiere Unmöglichkeiten, große zeitliche, räumliche, kulturelle Distanzen, unbefragte Alltagsroutinen, zentrale Oberziele und eindeutige Interessen. Jeder derartige Bezugsrahmen errichtet selbst wiederum Grenzen: die Grenzen des jeweiligen Sinns. Das Denken, Fühlen und Handeln ist nur innerhalb dieser Sinngrenzen nachvollziehbar und vernünftig, oft genug moralisch geboten und gar nicht anders denkbar. Jenseits der Grenze der betreffenden Sinnsphäre wäre das gleiche Handeln, Denken und Fühlen sinnlos, unverständlich, unmoralisch, undenkbar. Diese Grenzen gelten aber auch immer nur begrenzt. Und das in zweierlei Hinsicht. Erstens: Kein Bezugsrahmen ist gänzlich sicher. Immer kann es Störungen geben, weil etwas Unerwartetes geschieht. Immer können Zweifel aufkommen, ob der Rahmen noch stimmt. Im Grunde weiß das jeder, auch der überzeugteste Fundamentalist: Hinter dem Horizont des Selbstverständlichen und hinter jeder noch so festen „Unbedingtheit“ ist im Grunde alles möglich. Und wenn etwas geschieht, was eigentlich auf keinen Fall geschehen dürfte, dann weiß man plötzlich nicht mehr, ob man selbst oder der andere den Verstand verloren hat, und ob die Welt noch die gleiche ist wie noch bis kurz vorher. Und zweitens: Kein Bezugsrahmen kann die Kosten des Handelns und die materielle Realität ganz verdrängen. Die harte Welt der „wirklichen“ Wirklichkeit und der zu treibende Aufwand bilden stets eine Quelle der Störung eines nur bis zu einer gewissen Grenze konstruierbaren Sinns. Solange sich alles im grünen Bereich des Üblichen bewegt, irritieren empirische Gegenevidenzen und hohe (Opportunitäts) Kosten und Risiken des Tuns nicht besonders. Wenn aber plötzlich sehr viel auf dem Spiele steht und alles davon abhängt, ob der Rahmen auch wirklich gilt und das Handeln darin auch wirklich erfolgreich ist, dann gerät auch der sicherste Bezugsrahmen an die Grenze seiner Fraglosigkeit und Unbedingtheit.
Die Grenzen des Sinns zeigen sich im normalen Alltag – gottlob – nur selten. Störungen des Selbstverständlichen schrecken dafür umso nachhaltiger aus der unreflektierten Routine der unbedingten Geltung eines Bezugsrahmens auf. Sie geben eine drohende Ahnung davon, was hinter dem Horizont des Bezugsrahmens steht: das Grauen der Anomie und der Sinnlosigkeit. Und dann unternehmen die Menschen alles, um den verlorenen Sinn wiederzugewinnen – von der Erfindung der Religion bis zur kollektiven Selbstaufgabe an einen charismatischen Führer, vom Verleugnen der Wirklichkeit bis zum mauvaise foi der erniedrigenden und auch unmenschlichen alltäglichen und außeralltäglichen Rituale der Rollenausübung, von der Heirat bis zum Sprung in die Unerbittlichkeit der Tiefe – wenngleich einstweilen vorsichtshalber noch am Bunjee-Seil.
Teil A Orientierung und Interpretation
Kapitel 1
Das System der normativen Orientierung
Kaum eine Vorstellung steht enger mit der Entstehung und der Betonung wissenschaftlicher Eigenständigkeit der Soziologie in Verbindung als jene, wonach das Handeln der Menschen ohne jede kulturelle oder normative Orientierung undenkbar wäre. Den Ausgangspunkt der Überlegung haben wir im vorigen Kapitel im Beispiel vom anomischen Selbstmord bei Emile Durkheim und bei seiner Kritik an Herbert Spencer über die Möglichkeit einer „mutualistischen“ sozialen Ordnung in Abschnitt 5.1 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ bereits kennengelernt: Die bloße Nutzenorientierung läßt den Menschen in Ziellosigkeit und die Gesellschaft in Unordnung zurück. Nur mit einem übergeordneten, der Entscheidung des Menschen entzogenen, normativen Bezugsrahmen können die schwankenden Psychen der Menschen ihren Halt und das soziale Handeln seine Ordnung finden. Talcott Parsons insbesondere war es, der beginnend mit seiner epochemachenden Arbeit über „The Structure of Social Action“ (SSA) von 19371 diesen Standpunkt genauer begründet, entwickelt und ausgebaut hat. Im nun folgenden Kapitel wollen wir die wichtigsten Einzelheiten seines Konzeptes darstellen. Zwei zentrale Grundlagen hat das Konzept. Das ist erstens die Annahme, daß die Akteure in ihrem Handeln zwar durchaus Ziele verfolgen und dabei nach Maßgabe der Bedingungen der Situation auch in zweckgerechter Weise Mittel einsetzen, daß sie sich dabei aber immer auch an gewissen übergreifenden Normen orientieren – auch beim „rationalen“ Handeln. Im abschließenden Kapitel XIX des zweiten Bandes der „Structure of Social Ac1
Talcott Parsons, The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers, Band 1, New York und London 1937a; Band 2, New York und London 1937b. Vgl. zu den handlungstheoretischen Überlegungen von Parsons zu dieser Phase seiner Arbeiten insbesondere noch: Talcott Parsons, Aktor, Situation und normative Muster: ein Essay zur Theorie sozialen Handelns, Frankfurt/M. 1986. Es ist die deutsche Übersetzung eines Manuskriptes, das Parsons im Jahr 1939 beendete und noch vor der Fertigstellung von „The Structure of Social Action“ begann.
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tion“ verweist Talcott Parsons auf die Vorrangigkeit der normativen Orientierung bei der Selektion des Handelns ganz unmißverständlich: „As process, action is, in fact, the process of alteration of the conditional elements in the direction of conformity with norms. Elimination of the normative aspect altogether eliminates the concept of action itself ... .“ (Parsons 1937b, S. 732; Hervorhebungen nicht im Original)
Diese Position ist mit dem zweiten, daran anschließenden Gedanken eng verknüpft: Die Elemente des Handelns bilden stets ein System. Und das ist selbst – als „Handlungssystem“ – immer auch Teil weiterer, übergreifender systemischer Zusammenhänge: Die orientierenden Normen, das dadurch gesteuerte Handeln, die „Persönlichkeiten“ der Akteure und ihre organismischen Bedürfnisse sind aufeinander bezogen und begrenzen und ermöglichen sich wechselseitig. Die „Handlungs“-Theorie ist daher, so Parsons, notwendigerweise immer gleichzeitig auch eine „System“-Theorie. Wegen der Betonung der Normen für jedes Handeln und jeden sozialen Prozeß wurde Talcott Parsons der Begründer des sog. normativen Paradigmas in der Soziologie. Dieses Etikett ist zwar – wie alle Etiketten – etwas einseitig, weil Parsons in seiner Theorie des Handelns immer auch die Bedeutung der „Bedingungen“ in der Situation und der daran orientierten Zweck-Mittel-Wahl betont hat (siehe dazu noch unten bzw. bereits Kapitel 1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das Etikett ist aber insofern nicht falsch, weil er in der Tat letztlich doch den normativen Orientierungen die Priorität für die Selektion des Handelns und für die Erklärung der Entstehung sozialer Ordnung eingeräumt hat.
Die Theorie von Talcott Parsons ist also beides: eine Theorie des Handelns wie eine Theorie der Einbettung des Handelns in soziale Zusammenhänge und der „Konstitution“ dieser Einbettung, eine Systemtheorie also. Wir beginnen die Zusammenfassung der Theorie mit dem eher handlungstheoretischen Teil und gehen dann schrittweise auf die systemtheoretische Perspektive über. Das entspricht in groben Zügen auch der Entstehung des Theoriegebäudes von Talcott Parsons über einen Zeitraum von etwa 40 Jahren hinweg.
1.1 Das Dilemma des Utilitarismus Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist das von Parsons so genannte utilitarian dilemma, das Dilemma des Utilitarismus. Damit ist gemeint, daß weder die Frage nach der Ordnung des Handelns noch die nach der sozialen Ordnung mit einer „utilitaristischen“ Nutzentheorie beantwortet werden könne. Und zwar: aus grundsätzlichen Problemen dieser Theorie heraus. Im Hintergrund steht eine Untersuchung des Vorschlags, den der wohl wichtigste Vertreter der utilitaristischen Auffassung gemacht hat: Thomas Hobbes. Talcott Parsons behandelt dessen Po-
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sition unter der Überschrift „Hobbes and the Problem of Order“ (Parsons 1937a, S. 89ff.). Er beginnt seine Kritik am Utilitarismus mit einer Darstellung der Überlegungen von Hobbes zu den „Leidenschaften“ und zum „Verhalten der Menschen“ und zu den „natürlichen Bedingungen des Menschseins“ in dessen Werk über den „Leviathan“.2 Schon Hobbes gibt – so Parsons – zu den beiden Problemen, der Ordnung des Handelns und der sozialen Ordnung, eigentlich eine eindeutige Antwort. Nämlich: Auf der Grundlage des Utilitarismus sind beide Probleme grundsätzlich nicht lösbar. Und wir hatten ja – in Kapitel 5 und 7 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ – gesehen: Das stimmt für große Gesellschaften und für instabile Situationen mit einem kurzen Schatten der Zukunft sogar. Wir wollen das Argument von Thomas Hobbes hier nur noch einmal kurz wiederholen (vgl. Abschnitt 5.2 von Band 3, „Soziales Handeln“ dieser „Speziellen Grundlagen“ bereits dazu): Die Menschen sind von einer Vielzahl von Begierden, Leidenschaften und Neigungen erfüllt. Es gibt keine Regel und keine Grundlage, die diesen vielen Begierden, Leidenschaften und Neigungen irgendeine Dauerhaftigkeit verleihen kann. Die Ziele sind von „Natur“ aus nicht begrenzt und variieren daher „at random“. Die Menschen haben eigentlich nur einen einzigen Antrieb: den Hunger nach Macht. Dieser unstillbare Hunger der Menschen nach Macht ist zwar kein dem Menschen eigenes Bedürfnis, wird aber durch die besondere Situation fortwährend erzeugt, in der sie sich befinden: Da schon die bloße Möglichkeit ausreicht, von irgendeinem anderen übervorteilt zu werden, muß ein jeder, auch derjenige, der selbst nicht arglistig sein will, auf der Hut sein, will er nicht den eigenen Untergang riskieren. Thomas Hobbes sieht die Lösung im Leviathan: die Abgabe der individuellen Souveränität an den Staat. Leider funktioniert diese Lösung von alleine und spontan nicht.
Talcott Parsons zieht aus diesen Schwierigkeiten einen weitreichenden Schluß: Im Rahmen der Annahmen des Utilitarismus ist das Problem der sozialen Ordnung grundsätzlich nicht lösbar. Rationale Egoisten können zur Ordnung nicht finden.
„Lösungen“ Talcott Parsons beläßt es nicht dabei, lediglich die Position von Thomas Hobbes und die beiden Probleme der Ordnung darzustellen und in ihrer eigenen Logik für sich sprechen zu lassen. Er versucht die innere Widersprüchlichkeit eines jeden Versuches zu beweisen, die allen utilitaristischen Lösungen des Problems der
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Thomas Hobbes, Leviathan oder Wesen, Form und Gewalt des kirchlichen und bürgerlichen Staates, Reinbek 1965 (zuerst: 1651), S. 37ff., S. 76ff., S. 96ff.
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Ordnung des Handelns anhaftet. Das Dilemma des Utilitarismus3 besteht danach darin, daß er entweder erstens die Willensfreiheit der Menschen annehmen muß, dann aber keine Lösung des Problems der zufälligen Variation der Ziele finden kann. Oder aber es wird zweitens akzeptiert, daß empirisch die Ziele nicht variieren. Dann findet der Utilitarismus aber innerhalb seiner Annahmen keinen Ort mehr, von wo eine „freie“ Selektion des Handelns ausgehen könnte. Die Widerlegung der ersten Lösung setzt an der Grunddoktrin des Utilitarismus von der Subjektivität der Wünsche an (vgl. Parsons 1937a, S. 344). Subjektiv seien die Wünsche dabei in doppelter Hinsicht: Es sind Kreationen der Akteure selbst, und sie rangieren damit außerhalb jeder Determination von außen. Sie sind die ganz und gar privaten Angelegenheiten der Akteure, woraus sich ergibt, daß die anderen Akteure stets nur als „Mittel“ oder als „Bedingungen“ für die eigene Zielerreichung denkbar sind. Genau dies führe aber zur völligen Zufälligkeit der Wünsche. Eine „Wahl“ unter zufälligen Zielen mache aber keinerlei Sinn. Einigermaßen verständig selegieren kann man nur unter hinreichend stabilen, und das heißt: strukturierten, Alternativen. Subjektivität und eine Freiheit der Wahl gibt es – nur scheinbar paradoxerweise – nur dann, wenn diese Wahl sich an strukturierten und begrenzten Alternativen orientieren kann. Dies aber schließt der Utilitarismus gerade aus. Wenn die erste Lösung an einem inneren Widerspruch scheitert, wird die Überprüfung der zweiten Lösung, die den Utilitarismus retten könnte, umso wichtiger: die Akzeptanz externer Begrenzungen der Handlungsziele. Zwei prinzipielle Arten einer solchen Lösung gebe es im Rahmen des utilitaristischen Denkens: Die Ziele sind entweder selbst an die externen Bedingungen optimal angeglichen. Oder die Ziele werden einer Situation optimal angepaßt und – gewissermaßen – von den Akteuren auf der Grundlage der Situation selbst „gewählt“ – und zwar dann wieder nach dem Kriterium der Optimierung. Beide Lösungen des zweiten Vorschlags hält Parsons für unhaltbar. Die erste Lösung dieses zweiten Vorschlags – die Anpassung der Ziele an die Situation etwa durch Vererbung oder durch Milieueinflüsse (Parsons 1937a, S. 345) – scheitert daran, daß nun die Ziele ja keine subjektiven Hervorbringungen der Akteure mehr sind und das Handeln dann nicht mehr als utilitaristische „Wahl“ stattfindet. Es ist dann nichts als ein kausal-deterministischer Vorgang, der mit den Prämissen des Utilitarismus – Subjektivität und nutzenmaximierende Wahlhandlung – nicht zu vereinbaren ist. Die zweite Lösung des zweiten Vorschlags setzt dann wieder voraus, daß die Akteure ihre Wahl „ ... auf optimaler Kenntnis der Handlungsbedingungen und Handlungsmittel“ (Joas 1992, S. 25) treffen. Denn: Nun sind die Ziele ja gewissermaßen die Mittel der Nutzenmaximierung. Eine Abweichung der empirischen Handlungsziele – als „Mittel“ – vom Ideal der optimalen Situationsanpassung kann dann aber nur auf Unwissen3
Vgl. Parsons 1937a, S. 344f. Wir orientieren uns in der Zusammenfassung der Argumente an der gut verständlichen Darstellung der Position von Talcott Parsons bei Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/M. 1992, S. 24ff.
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heit und Irrtum beruhen. Der Utilitarismus macht nun aber in seinen Grundannahmen die Annahme der perfekten Information. Und dies steht im Widerspruch zur Möglichkeit, daß sich ein Akteur über die Optimalität seiner Ziele in einer Situation irrt (vgl. dazu auch noch Abschnitt 1.2).
Kurz: Die utilitaristische Theorie ist „in sich unstabil“ (Joas 1992, S. 26), da sie immer nur durch das Verdrängen mindestens einer ihrer Prämissen – die Willensfreiheit oder die perfekte Information – bei dem Versuch gerettet werden kann, die Ordnung des Handelns zu erklären.
Faktische Ordnung So gibt es im Rahmen des utilitaristischen Denkens nur zwei Arten der Erklärung einer faktisch vorliegenden sozialen Ordnung: Ordnung durch Vertrag und freien Tausch einerseits und die Ordnung, die sich durch eine übergeordnete Zentralgewalt einstellt, andererseits. Aber auch diese beiden Varianten lassen sich – so Talcott Parsons – im Rahmen der Annahmen des Utilitarismus nicht erklären: Verträge können ohne externe Sicherungen und ohne innere Bindungen jederzeit gebrochen werden. Und einen Vertrag zur Gründung einer zentralen Ordnungsmacht gibt es genau deshalb nicht, weil alle die Brechung dieses Vertrags schon vorab befürchten müssen. Das Fazit lautet damit für ihn: „A purely utilitarian society is chaotic and unstable, because in the absence of limitations on the use of means, particularly force and fraud, it must, in the nature of the case, resolve itself into an unlimited struggle for power ... .“ (Parsons 1937a, S. 93f.; Hervorhebung nicht im Original)
Der Utilitarismus ist nach Parsons also bereits von seiner inneren Logik her widersprüchlich. Das Entstehen sozialer Ordnung kann er deshalb grundsätzlich nicht erklären. Nun gibt es aber in der sozialen Welt keineswegs nur Chaos, sondern zuweilen ganz beeindruckend stabile und vielfältige Formen der sozialen Ordnung. Und es stellt sich dann die Frage: Wenn es soziale Ordnung faktisch gibt und wenn der Utilitarismus sie nicht erklären kann, welche Theorie (des Handelns der Menschen) ist dann dazu in der Lage? Die voluntaristische Theorie des Handelns ist die erste Antwort von Talcott Parsons auf das utilitaristische Dilemma.
1.2 Die voluntaristische Theorie des Handelns Die voluntaristische Theorie des Handelns (VTA von „Voluntaristic Theory of Action“) ist der Ausgangspunkt und Kern aller theoretischen Überlegungen von
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Talcott Parsons gewesen. Manche seiner Interpreten sehen die späteren, auf den ersten Blick immer weniger „handlungs“-theoretischen und immer stärker „system“-theoretischen Entwicklungen auch nicht als Bruch in seinem Werk, sondern als den Ausbau und die konsequente Weiterführung der ursprünglichen Idee der VTA. Dies ist keine unbegründete Interpretation – wie man rasch feststellen kann, wenn man sich die VTA einmal genauer ansieht. Der Ausgangspunkt der voluntaristischen Theorie des Handelns und aller weiteren auch systemtheoretischen Überlegungen ist das Kapitel II der „Structure of Social Action“ (Parsons 1937a, S. 43ff.). Die Grundlage ist das Konzept des unit act. Darauf haben wir bereits bei der Bestimmung des Begriffs der Situation in Kapitel 1 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, verwiesen. Das Konzept sei hier im Zusammenhang des Problems nicht der Logik der Situation (wie in Kapitel 1 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“), sondern der handlungstheoretischen Frage nach der Logik der Selektion etwas ausführlicher dargestellt.
Der unit act Von einem „‚unit‘ act“ spricht Parsons bei seinem Konzept der Handlung („act“) deshalb, weil er dieses Konzept als Einheit bestimmter unaufgebbarer, den Begriff erst konstituierender Elemente einführen will. So wie in der klassischen Mechanik die Partikel nur in bestimmten Kombinationen von festgelegten Eigenschaften – wie Masse, Geschwindigkeit, Raum und Zeit – definiert seien, so treffe das auch für das Basiskonzept der Handlung zu. Die Eigenschaften, deren Kombination in Analogie dazu dann das Konzept des „acts“ konstituieren, nennt Parsons den frame of reference seiner Handlungstheorie – den Bezugsrahmen aller seiner weiteren Überlegungen. In diesem Sinne besteht eine Handlung – wie Parsons sagt: „logically“ – aus vier Elementen. Wir zitieren die Stelle am besten komplett. Das vermeidet Mißverständnisse und macht mit einer wirklich klassischen Formulierung der Soziologie bekannt. Also: „In this sense then, an ‚act‘ involves logically the following: (1) It implies an agent, an ‚actor‘. (2) For purposes of definition the act must have an ‚end‘, a future state of affairs toward which the process of action is oriented. (3) It must be initiated in a ‚situation‘ of which the trends of development differ in one or more important respects from the state of affairs to which the action is oriented, the end. This situation is in turn analyzable into two elements: those over which the actor has no control, that is which he cannot alter, or prevent from being altered, in conformity with his end, and those over which he has such control. The former may be termed the ‚conditions‘ of action, the latter the ‚means‘. Finally (4) there is inherent in the conception of this unit, in its analytical uses, a certain mode of relationship between these elements. That is, in the choice of alternative means to the end, in so far as the
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situation allows alternatives, there is a ‚normative orientation‘ of action.“ (Parsons 1937a, S. 44; Hervorhebungen nicht im Original)
Gänzlich ungewöhnlich erscheint das Konzept des unit act selbst vor dem Hintergrund der ökonomischen Nutzentheorie zunächst nicht. Auch dort wird ja von Akteuren, von Zielen, von Bedingungen und von Mitteln gesprochen. Denn was ist die Maximierung des Nutzens bzw. die optimierende Bedienung der Präferenzen anderes als die Verfolgung eines „Zieles“? Die „Bedingungen“ bezeichnen die externen Restriktionen in Gestalt der Budgetrestriktion aus Einkommen und Preisen, auf die der Akteur unmittelbar ja keinen Einfluß hat. Und die „Mittel“ sind nichts weiter als das verfügbare Einkommen, das der Akteur für seine „Ziele“ einsetzen kann. Den zentralen Unterschied zwischen allen Theorien mit dem Kriterium der Optimierung und seiner Theorie des Handelns nennt Parsons dann aber sofort: die normative Orientierung, das vierte Element seines unit act, die die Ziele, die Mittel und die Bedingungen erst „definieren“ und den Maßstab für jede weitere Selektion oder Wahl einer Handlung bilden. Dieses normative Element hält Parsons für „essentiell“, für unaufgebbar also: „What is essential to the concept of action is that there should be a normative orientation, not that this should be of any particular type. As will be seen, the discrimination of various possible modes of normative orientation is one of the most important questions with which this study will be confronted.“ (Ebd., S. 45; Hervorhebungen nicht im Original)
Handeln können die Menschen danach also nur, wenn die Elemente „Akteur, Ziele, Bedingungen und Mittel“ in eine Beziehung gebracht sind. Das muß keine „bestimmte“ Beziehung eines „particular type“ sein. Aber es ist notwendig, daß die gesamte Situation unter den Rahmen eines bestimmten „mode“ des Handelns durch eine normative Orientierung gestellt ist.
Sechs Implikationen Talcott Parsons nennt insgesamt sechs Implikationen seines Konzepts des Handelns (Parsons 1937a, S. 45ff.). Zum Teil sind sie uns bereits in Kapitel 6 bei der Behandlung des Begriffs des Handelns begegnet. 1. Zukunftsbezug Jedes Handeln ist ein „process in time“. Ziele sind nicht präsente Zustände, die ohne ein Tun des Akteurs nicht eintreten würden. Der Prozeß dahin wird auch als Zielverwirklichung bezeichnet („attainment“, „realization“, „achievement“; ebd., S. 45).
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2. Irrtum Über seine Möglichkeiten, sowohl was die Ziele wie die Mittel angeht, können die Akteure sich, auch in Kombination mit der normativen Orientierung, irren. Dies bezieht sich insbesondere auf das Verfehlen eines Zieles und auf den Irrtum in der Wahl der „richtigen“ Mittel. 3. Subjektivität Der Rahmen des Handelns ist dem Akteur subjektiv präsent und nur so handlungswirksam. Die Elemente – Ziele, Bedingungen, Mittel, normative Orientierung – sind nur bedeutsam, „ ... as they appear from point of view of the actor“ (ebd., S. 46). Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen, die die Sozialwissenschaften von allen Naturwissenschaften trennt: Die subjektive Sicht der Akteure und die „objektive“ Sicht des Sozialwissenschaftlers können auseinanderfallen, aber der Sozialwissenschaftler hat die subjektive Sicht der Akteure als sein Ausgangsmaterial zu nehmen. Dieses Problem war uns unter der Bezeichnung „doppelte Hermeneutik“ in den Abschnitten 6.5 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“ und in Abschnitt 3.2 von Band 5, „Institutionen“ dieser „Speziellen Grundlagen“, bereits begegnet. Die zweite Konsequenz betrifft die Beziehung des Akteurs zu sich selbst in der Situation. Die sonst – etwa in der Biologie – noch relativ einfache Unterscheidung von Organismus und Umwelt ist bei menschlichen Akteuren wegen ihrer Subjektivität nicht möglich: Organismus und Identität, Körper und Geist sind für ihn stets sowohl (interne wie externe) Bedingung wie ein durch ihn selbst einsetzbares Mittel gleichzeitig. 4. Der unit act als kleinste Einheit Das Schema der Theorie des Handelns bezieht sich auch auf physische und biologische Sachverhalte. Muß deshalb aber „ ... the student of action, then, become a physicist, chemist, biologist in order to understand his subject?“ (Ebd., S. 47) Die Antwort ist für Talcott Parsons eindeutig: nein. Der unit act mit seinen Grundelementen – „end, means, conditions and guiding norms“ (ebd., S. 48) – ist die kleinste denkbare Einheit, in der sinnvollerweise über „Handeln“ gesprochen werden kann. Vertiefungen oder „Reduktionen“ auf „darunter“ liegende Vorgänge sind nur insoweit relevant wie sie sich auf die Elemente des unit act dann wieder beziehen lassen. 5. Das Konkrete und das Abstrakte Ein wichtiger Bestandteil aller Überlegungen von Talcott Parsons war seine Unterscheidung von konkreten empirischen Sachverhalten und theoretisch unterscheidbaren abstrakten Aspekten dabei. Die vielen empirischen Dinge dieser Welt müssen vom Wissenschaftler in theoretische, nur „analytisch“ unterscheidbare, Kategorien eingeordnet werden. Beispielsweise: Eine konkrete Schreibmaschine ist ein „Mittel“ für einen Studenten, der eine Seminararbeit anfertigt und dabei das „Ziel“ des Examens anstrebt. Die Schreibmaschine alleine hat keinerlei „theoretische“ Bedeutung. Der Hintergrund ist eine wichtige methodologische Grundeinstellung, die letztlich auf die Erkenntnistheorie von Immanuel Kant zurückgeht: Sinnvolle Beobachtungen von empirischen Daten kann es nur vor der Folie von bereits vorliegenden theoretischen Konzepten geben. Unmittelbare, an der direkten Anschauung der „positiv“ gegebenen Dinge gewonnene Erkenntnis ist grundsätzlich nicht möglich. Die Elemente des unit act bilden für Parsons einen solchen theoretischen frame of reference, der erst die Einordnung
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der konkreten Dinge der sozialen Welt ermöglicht, dabei aber auch kein wichtiges Element ausläßt. 6. Totale Handlungssysteme Die Unterscheidung von konkreten Dingen und abstrakten Kategorien benutzt Parsons schließlich zur Präzisierung einiger wichtiger Differenzierungen, die ansonsten dem „fallacy of misplaced concreteness“ zum Opfer gefallen wären. Er nennt die Trennung der normativen und der nicht-normativen Elemente beim Handeln als Beispiel und die Präzisierung des Begriffs des Zieles als „difference between the anticipated future state of affairs and that which could have been predicted would ensue from the initial situation without the agency of the actor having intervened.“ (Ebd., S. 49; Hervorhebungen so nicht im Original) Diese Differenzen können nur in den Blick kommen, wenn man das Schema des Handelns insgesamt als theoretische Kategorisierung vor Augen hat. Eine weitere Unterscheidung spricht Parsons schließlich noch an: die zwischen dem Handeln eines konkreten Akteurs in einer konkreten Situation und den – wie Parsons sie nennt – „total systems of action“ (ebd., S. 50). An dieser Stelle kündigt sich die systemtheoretische Wende bei Parsons deutlich an: „This problem of the relation between the analysis of the action of a particular concrete actor in a concrete, partly social environment, and that of a total action system including a plurality of actors will be of cardinal importance in later discussion.“ (Ebd., S. 50f.)
Auch die sechs Implikationen sind uns nicht unvertraut: Zukunftsbezug, Irrtumsmöglichkeit und Subjektivität sind ein Grundzug des Begriffs des Handelns bei Max Weber. Und auch die Betonung der Wichtigkeit theoretischer Konzepte für jede „konkrete“ Analyse ist nicht ungewöhnlich. Aber es gibt auch eine ganz neue – und im Rahmen der üblichen Überlegungen zur Theorie des Handelns ganz ungewöhnliche – Implikation: die Idee des Handelns als eines „totalen“ Systems, als eines Handlungssystems also.
Systeme des Handelns Die Konzeption des Handlungssystems bezieht sich in der VTA auf zwei Ebenen: das dem einzelnen Akteur präsente „System“ der Logik der Situation; und die Ebene eines systemischen Gleichgewichtes des abgestimmten Handelns eines Kollektivs von Akteuren (vgl. dazu noch die Abschnitte 1.3 bis 1.5 näher gleich unten in diesem Band). Der unit act ist das theoretische Konzept für das „System“ der Logik der Situation aus der Sicht des einzelnen Akteurs (!) für ein bestimmtes Handeln zu einem bestimmten Zeitpunkt: Die Ziele, die Situation und die normative Orientierung sind gegeben. Und nun handelt der Akteur auf dieser Grundlage. Dies ist das bisher behandelte und übliche Konzept des Handelns aufgrund einer bestimmten Logik der Situation – mit der Besonderheit gegenüber der Nutzentheorie, daß die subjektive Logik der Situation zu einem System der normativen Ori-
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entierung zusammengeschlossen ist. Dieses „System“ befindet sich als normatives bzw. kulturelles Modell der Situation im Kopf der Akteure. Das Konzept des total action system geht über die Einzelsituation, über das System einer normativen Orientierung des Akteurs und über den Einzelakt hinaus. Hier wird – aus der Sicht des Beobachters (!) und für eine Pluralität von Akteuren – untersucht, welche kollektiven Folgen deren Handeln schließlich in einem „System“ von aneinander anschließenden Handlungen und der so stattfindenden permanenten Neukonstitution dieses Systems hat. Der Unterschied zwischen den beiden Betrachtungsweisen ist also nichts anderes, als der zwischen manifesten und latenten Funktionen und der Logik der Situation allein aus der Sicht des Akteurs und einer kompletten Situationslogik auch der Rückwirkungen des Handelns auf die Situation. Und ganz ohne Zweifel sind dies interessante und wichtige Aspekte des Handelns, der davon erzeugten Folgen, die dann wieder das Handeln strukturieren ... und so weiter – bis ein Gleichgewicht eines „Handlungssystems“ entstanden ist. In diesem Zusammenhang wird auch die typisierende Beschreibung solcher kompletter Handlungssysteme mit ihren typischen normativen Vorgaben und den entsprechenden normativen Orientierungen der Akteure zu einer wichtigen Aufgabe der Soziologie. Beispielsweise die Beschreibung des Handlungssystems der Wirtschaft mit ihrer normativen Verpflichtung der Akteure auf den Rahmen der Zweckrationalität. Oder die des Handlungssystems der Interaktion zwischen Gästen, Kellnern und Köchen in einem Restaurant. Dazu zählt auch die Untersuchung etwa der „funktionalen“ Bedeutung bestimmter normativer Orientierungen für die Stabilisierung bestimmter Handlungssysteme – sagen wir: die Orientierung auf die protestantische innerweltliche Askese in ihrer Bedeutung für die Entstehung des Kapitalismus; oder die Funktion der Orientierung eines Chefarztes an einem Stil der patriarchalischen Jovialität, wenn er bei einem Patzer des Assistenzarztes am Operationstisch den notwendigen Verweis in eine Form packt, die das Gelingen der Operation nicht sofort gefährdet.
Anders gesagt: Ein total action system ist ein System der Reproduktion eines sozialen Systems als fortdauernde und zu einem Gleichgewicht konvergierende Sequenz von Situation, Handeln, kollektiven Folgen, neuer Situation, neuem Handeln, neuen kollektiven Folgen ... und so weiter bis zu einem dann immer wieder reproduzierten Gleichgewicht. Eine Gesellschaft besteht aus lauter solchen, miteinander auch verbundenen Systemen, und sie ist selbst ein derartiges total action system (vgl. dazu auch schon Kapitel 20 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“, sowie Kapitel 2 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die VTA als „formales“ Schema Der Anspruch der VTA ist es, ein komplettes Modell der für die Selektion des Handelns wichtigen Elemente abzugeben. Talcott Parsons entwickelt es vor dem Hintergrund anderer handlungstheoretischer Perspektiven: dem sog. Utilitarismus, der alleine die Nutzenmaximierung isolierter Akteure kenne, dem sog. Posi-
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tivismus, der nur von dem objektiven Wissen als alleiniger Grundlage der Orientierung der Akteure ausgehe, und dem sog. Idealismus, der sich um die externen Bedingungen der Situation nicht kümmere und das Handeln als einen bloßen Ausfluß von geistigen Kräften sehe, die über den Akteuren schweben. Alle diese Konzepte seien in typischer Weise einseitig, und diese Einseitigkeiten überwinde die VTA.
Der „unit act“ Um das zu belegen, „formalisiert“ Parsons den unit act (Parsons 1937a, S. 77ff.). Der unit act wird mit A bezeichnet. Er besteht dann erstens aus einer Situation S, und die wiederum aus den folgenden Elementen: C – die Bedingungen M – die Mittel I – die normativen Elemente ie – die symbolischen Ausdrücke der normativen Elemente.
Die symbolischen Ausdrücke ie führt Parsons an dieser Stelle etwas versteckt ein. Auf sie wird sich das sog. interpretative Paradigma in der Nachfolge von Überlegungen bei George Herbert Mead besonders stützen (vgl. Kapitel 2 gleich unten in diesem Band, siehe auch schon Kapitel 1 in Band 1 „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). So wie sie an der betreffenden Stelle benannt sind, haben sie die gleiche Funktion wie bei Mead: Es sind die symbolischen Markierungen der Situation, an denen die Akteure erkennen können, welcher Typ von normativ definierter Situation gerade gilt. Zweitens benennt Parsons die Beziehungen des Akteurs zur Situation. Diese bestehen aus seinem subjektiven Wissen über die Bedingungen und über die Mittel. Dieses Wissen gliedert Parsons so auf: T – wissenschaftlich verifizierbares Wissen; dieses besteht selbst wiederum aus: F – Aussagen über verifizierbare Fakten; L – logisch korrekte Ableitungen aus F; t – Wissenselemente, die nicht in Übereinstimmung mit wissenschaftlich gesichertem Wissen stehen. Dazu zählen: f – fälschliche Tatsachenaussagen l – logische Fehlschlüsse ig – Nichtwissen.
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Hinzu treten Zufallselemente r des Wissens relativ zu den Formulierungen in T und t. Zum unit act zählen dann weiterhin noch das Ziel E und die normative Orientierung N der selektiven Standards, die das Ziel E und die Situation S miteinander verbinden.
Das „system of action“ Das wäre die Beschreibung der Elemente der Logik der Situation, aus der sich das Handeln in einer einzelnen Situation ableitet: Ziele, subjektives Wissen über Bedingungen und Mittel, die normativen Orientierungen. An dieser Stelle führt Parsons dann die für ihn so wichtige Idee des Handlungssystems ein. Ein solches „system of action“ bezeichnet er mit Z. Z besteht aus einer Menge von unit acts A1, A2, A3 ... An und drei Arten von Relationen darüber. Diese sind: Rel – elementare Relationen von unit acts, die das betreffende Handlungssystem konstituieren, etwa die für das Handlungssystem eines Abendessens in einem Restaurant zusammengehörenden Einzelakte – Plazierung, Bestellung, Einnehmen des Mahles, Bezahlen und Gehen zum Beispiel. Rel bezeichnet also nichts anderes als ein soziales Drehbuch. RI – Relationen von unit acts, die sich auf „organized units called individuals or actors“ beziehen. Es sind – gewissermaßen – die an den menschlichen Organismen hängenden Mengen von unit acts. Sie werden in der Soziologie auch als „Rollensatz“ bezeichnet (vgl. Abschnitt 7.1 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). RC – Beziehungen der Akteure untereinander als Mitglieder von sog. „collectivities“. Soziale Systeme also. Organisationen, Gruppen, Versammlungen, Teams, ganze Gesellschaften sind Beispiele dafür (vgl. Kapitel 2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft dieser „Speziellen Grundlagen“)
In seiner allgemeinsten Form läßt sich das System des Handelns dann so beschreiben: A = S(M manifestiert in T,t,r + C manifestiert in T,t,r + ie manifestiert in T,t,r) + E + N (definiert in T,t,r,i oder ie) + r (als ir soweit nicht schon bei S berücksichtigt); Z = (A1 + A2 + A3 + ... + An) + Rel + RI + RC.
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Wir wollen nicht fragen, welchen Sinn die Pluszeichen in der Formel des Systems der VTA haben. Gemeint ist wahrscheinlich keine funktionale Beziehung zwischen A und den verschiedenen Ausdrücken auf der rechten Seite, sondern eine Mengenvereinigung der für wichtig gehaltenen Variablen.
Die VTA als „general“ theory of action Talcott Parsons meint nun, daß alle anderen Konzepte des Handelns nur unvollständige Spezialfälle dieses Modells seien. Und er geht dann auch einige dieser unvollständigen Varianten systematisch in seinem Buch über die Struktur des sozialen Handelns durch. Beispielsweise beschreibt er den Utilitarismus in der Sprache seiner Gleichungen so (Parsons 1937a, S. 81): A = S(T,r) + E(T,ir) + N(T,ir) Z = (A1 + A2 + A3 + ... + An) + Rel (+ RI).
Der „Utilitarimus“ ist demnach, wenn Sie es dann selbst nachprüfen mögen, eine Theorie des Handelns, die auf objektiv zutreffendem Wissen beruht, wobei aber sowohl die Ziele E wie die normativen Orientierungen N zufällig variieren und es Beziehungen der Akteure als Mitglieder von Kollektivitäten nicht gibt. Er ist die spezielle Handlungstheorie für den isolierten, autonomen, von normativen Standards nicht begrenzten, perfekt informierten, aber in seinen Vorhaben auch ganz und gar erratischen Akteur. Parsons sah darin – und in anderen Varianten etwa der „idealistischen“ Theorie des Handelns, bei der es eigentlich nur symbolische Ausdrücke und keinerlei begrenzende Bedingungen gibt – eine außerordentliche Verkürzung der Theorie des Handelns. Und das kann man vor dem Hintergrund des „vollen“ Modells der VTA auch verstehen: Es wäre mindestens fahrlässig, eine Komponente wie die normativen Orientierungen einfach schon von den Prämissen her aus der Theorie des Handelns auszuschließen. Der Anspruch der VTA ist es dann auch, die für das Handeln wichtigen Elemente komplett zu benennen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Parsons seine VTA für eine „allgemeine“ Handlungstheorie hielt, vor der alle anderen Handlungstheorien immer nur einen – verzerrenden – Spezialfall darstellen.
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Die Interdependenz von Bedingungen und Normen Talcott Parsons betont damit einen Aspekt, den die herkömmliche Nutzentheorie ganz ausgeblendet hatte: die Bedeutung von kulturellen Werten und institutionellen Normen für das Handeln der Menschen. Diese Lösung des Problems des utilitarian dilemma ist oft als rein „normativistisch“ interpretiert worden. Die Etikettierung von Parsons als dem Erfinder des „normativen“ Paradigmas beruht auf dieser Deutung. Das wäre aber nicht nur ungerecht, sondern würde die zentrale Grundidee der VTA geradezu unkenntlich machen. Darin sollen ja gerade auch die utilitaristischen Elemente beibehalten, aber dann mit dem Element der normativen Orientierung komplettiert und zu einer brauchbaren und nicht einseitig verzerrten Theorie des Handelns integriert werden. Das konnte man ja schon an der Formel der VTA sehen. Parsons beginnt seine „Formalisierung“ der VTA daher auch ganz deutlich mit der Feststellung: „The voluntaristic system does not in the least deny an important role to conditional and other non-normative elements, but considers them as interdependent with the normative.“ (Parsons 1937a, S. 82)
Auf die „Interdependenz“ der nicht-normativen und der normativen Elemente in der VTA hat insbesondere Richard Münch gegenüber einer einseitig normativen Deutung der VTA deutlich hingewiesen. Münch benutzt für diese Interdependenz der Bedingungen und der normativen Orientierungen auch den Begriff der „Interpenetration“, der wechselseitigen Durchdringung der normativen und der nicht-normativen Elemente in der VTA.4 Gemeint ist damit, daß bei allen Nützlichkeitserwägungen, die dem Handeln der Menschen – in bestimmten Situationen – zugrundeliegen mag, es immer eine – wenigstens: auch – derartige normative Orientierung gibt, die dem Handeln einen Bezugsrahmen verleiht, innerhalb dessen die Ziele und die Mittel verläßliche Begrenzungen erhalten. Erst vor dem Hintergrund eines solchen normativen Bezugsrahmens erhält das Handeln jene Konstanz und Konsistenz, die es unabhängig davon machen, daß die Akteure plötzlich neue Ziele entwickeln oder an andere Mittel denken. Der normative Bezugsrahmen schließt bestimmte Dinge als grundsätzlich nicht mehr wählbar aus. Und er setzt in der Situation gleichzeitig bestimmte übergreifende und unbedingt geltende Prioritäten. Dies erst garantiert, daß die
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Richard Münch, Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, Frankfurt/M. 1982, S. 39. Vgl. dann auch schon Abschnitt 2.3 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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„ ... Akteure z.B. ihre Abmachungen untereinander nicht wechseln wie das Hemd.“ (Münch 1082, S. 40)
Der normative Bezugsrahmen setzt aber, wohlgemerkt, die Nutzenorientierung der Menschen nicht außer Kraft. Er verleiht ihr jedoch eine bestimmte Richtung, an der sich alle Akteure wiederum auch „strategisch“ orientieren können: „Innerhalb der dadurch festgelegten Grenzen wird das Handeln durch Nutzenerwägungen motiviert und ist dementsprechend ... variabel ... .“ (Münch 1982, S. 41; Hervorhebungen nicht im Original)
An den Bezugsrahmen der normativen Orientierung ist jedoch eine essentielle Bedingung gebunden: Es muß sich um eine kategorische Regel handeln. Er muß die Akteure wirklich binden und darf selbst nicht zur Disposition der Akteure stehen, weil ja sonst das ganze Theater mit der Ordnung des Handelns und der sozialen Beziehungen nur eine Stufe höher – auf der Ebene der Wahl des Bezugsrahmens also – von neuem losginge. Umso wichtiger wird dann die Frage: Woher kommt der erforderliche kategorische Charakter der normativen Orientierungen? Es ist offenkundig selbst wieder die Frage nach der sozialen Ordnung (vgl. dazu ausführlich schon Kapitel 4 in Band 3, „Soziales Handeln“ und Kapitel 10 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Talcott Parsons hatte darauf im Wesentlichen zwei Antworten: durch die Internalisierung der Normen und durch Institutionen der sozialen Kontrolle.
Die Konvergenzthese Talcott Parsons hat die VTA nicht einfach erfunden, sondern aus einem ausführlichen Vergleich von vier „Recent European Writers“ herausdestilliert. Seiner Meinung nach konvergieren die Beiträge der vier Autoren – Alfred Marshall, Vilfredo Pareto, Emile Durkheim und Max Weber – in den Elementen der VTA. Diese Auffassung wird auch als Konvergenzthese bezeichnet. Der Ausgangspunkt der Konvergenzthese ist die Kritik an drei, wie Parsons meint, einseitigen Doktrinen: dem Utilitarismus, dem Positivismus und dem Idealismus. Am Utilitarismus wird das bemängelt, was oben ausführlich unter dem Begriff des utilitarian dilemma diskutiert wurde: seine Unfähigkeit, Ordnung zu erklären. Der Positivismus – als der Versuch einer bloß kausalen Erklärung sozialer Prozesse ohne jeden Bezug zum Sinn des Handelns – scheitert an der grundlegenden Fähigkeit des Menschen zu willentlichen Entscheidungen, zum „voluntaristischem“ Handeln also. Und der Idealismus
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schließlich sieht das Handeln der Menschen und die sozialen Prozesse alleine als Ergebnis der „Emanation“ und Eigenentwicklung übergreifender geistiger Mächte und Ideen. Das Ergebnis des Vergleichs und der Kern der Konvergenzthese sind drei Konzepte, die im Zentrum dann auch aller weiteren Arbeiten von Parsons stehen. Dies ist erstens das Konzept des sog. analytischen Realismus, wonach Theorien einen ordnenden begrifflichen Rahmen für empirische Sachverhalte bilden müßten und daß alle konkreten empirischen Sachverhalte nur innerhalb eines solchen Bezugsrahmens einen Sinn bekommen können. Das ist zweitens die besprochene voluntaristische Handlungstheorie, wonach das Handeln zwar stets in der freien willentlichen Entscheidung der Akteure verbleibe, aber gerade darin erst im Rahmen einer übergreifenden normativen Orientierung möglich werde. Und es ist drittens – eng damit verbunden – eine normative Theorie der sozialen Ordnung, wonach soziale Ordnung nur als Folge der Verpflichtung der Akteure auf eine geteilte normative Orientierung möglich werde und nicht (allein) als bloße unintendierte Folge einerseits oder als Ergebnis einer ordnenden Zentralgewalt andererseits.
Parsons war der Meinung, daß Marshall, Pareto, Durkheim und Weber in dieser Perspektive konvergierten, obwohl sie alle zunächst von ganz verschiedenen, einseitigen Standpunkten ausgegangen waren und obwohl sie allesamt aus ganz unterschiedlichen nationalen und intellektuellen Kontexten stammten: der Brite Marshall und der Italiener Pareto als Ökonomen vom Utilitarismus, der Franzose Durkheim vom Positivismus und der Deutsche Weber vom Idealismus (vgl. dazu auch die Zusammenfassung der Konvergenzthese bei Joas 1992, S. 30ff.). Alfred Marshall habe – von der utilitaristischen Ökonomie herkommend – darauf verwiesen, daß es auch Handlungen gebe, die nicht bloß als „Mittel“, sondern „aus sich heraus“ schon wertvoll sind und so „als solche“ angestrebt werden. Marshall befaßte sich auch mit den charakterlichen Voraussetzungen und Folgen des wirtschaftlichen Handelns und entdeckte so die Bedeutsamkeit von Werten. Vilfredo Pareto war ebenfalls Ökonom. Er war es bekanntlich, der neben den „logischen“ die „nichtlogischen“ Handlungen unterschied, zu denen unreflektierte Affekte genauso zählen wie die konsequente, aber oft höchst unvernünftige Orientierung an Werten. Von Emile Durkheim und dessen Analyse des Problems der sozialen Ordnung bzw. von deren Gegenteil – der Anomie – bezieht Parsons die wohl wichtigsten Anregungen. Insbesondere ist dies der Hinweis auf den zunächst ganz und gar externen, „positivistischen“ und deshalb zwingenden Charakter der sozialen Normen, dann aber auch auf die Bedeutsamkeit des Heiligen, des Symbolischen und der Rituale für die Geltung von Werten, sowie insbesondere auf die Verinnerlichung der Normen und Werte in das Bedürfnissystem der Menschen. Max Weber schließlich habe – vom deutschen Idealismus ausgehend – den Schlüssel für die Vermeidung der Gefahr des Idealismus ohne Rückfälle in positivistisches Denken geliefert. Er habe zwar stets die Bedeutung des „Sinns“ des Handelns und der Werte betont, dabei aber immer auf die komplexen Wechselbeziehungen zwischen sozialen Institutionen, individuellen Interessen und mit Werten verbundenen Ideen abgestellt.
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Alle vier Autoren seien aber noch nicht hinreichend konsequent und vollständig in der Überwindung von Utilitarismus, Positivismus und Idealismus gewesen. Nämlich: Marshall habe nur an ökonomische Werte denken können und die anderen ausgeblendet. Pareto habe kein theoretisches Mittel zur Ordnung des Verhältnisses von logischen und nichtlogischen Handlungen gehabt. Durkheim sei mit seiner Betonung der Sakralität wieder nahe an die Einseitigkeiten des Idealismus gekommen. Und Weber habe leider auch keine wirklich allgemeine und übergreifende Theoriekonstruktion vorgelegt.
Erst das Konzept der voluntaristischen Handlungstheorie vermeide die Einseitigkeiten dieser drei Einzeldoktrinen und verbinde sie alle zu einer neuen Einheit. Die Soziologie ist diesen Gedanken von Talcott Parsons, die ihr für die Beantwortung ihrer Forschungsfragen einleuchtend und in der Abgrenzung zu den weiterhin übermächtig scheinenden Konkurrenten etwa der utilitaristischen Ökonomie, der positivistischen Psychologie oder der idealistischen Geschichtswissenschaft auch hilfreich erschienen, bereitwillig gefolgt. Und das kann man auch gut verstehen.
1.3 Orientierungen und Systeme Talcott Parsons hat das Handeln immer als „System“ gesehen: als System von interdependenten Elementen, von denen der Akteur bei seiner Selektion ausgeht – Ziele, Bedingungen, Mittel und normative Orientierungen. Und als ein System, das selbst wieder aus anderen Systemen besteht: dem Akteur, den sozialen Beziehungen und den kulturellen Werten. Das war in „The Structure of Social Action“ bereits angedeutet. Dort stand allerdings die Situation des Akteurs und seine subjektive Sicht noch im Mittelpunkt der Betrachtung. Danach drängte sich jedoch immer mehr der zweite Aspekt – die Betrachtung des Handelns als Teil und im Kontext anderer Systeme – in den Vordergrund. Auf eine kurze Formel gebracht: Die soziologische Theorie von Talcott Parsons wird nach und nach von einer Handlungstheorie immer mehr zu einer Systemtheorie. Einen wichtigen Zwischenschritt bei dieser Entwicklung stellen dabei die Beiträge in dem Sammelband „Toward a General Theory of Action“ (TGTA) aus dem Jahre 19545 dar. Weil darin das Grundkonzept der VTA und die Idee des Handelns als „Orientierung“ besonders deutlich werden und weil hier auch die Entwicklung der Theorie des Handelns hin zu einer Systemtheorie ihren eigentlichen Ausgang nimmt, seien die wichtigsten Einzelheiten daraus in dem folgenden Abschnitt etwas genauer dargestellt. Dabei werden verschiedene Bestandteile von zwei Beiträgen aus TGTA zusammenführt: dem von einer ganzen Gruppe von Sozi5
Talcott Parsons und Edward A. Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge, Mass., 1954.
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alwissenschaftlern verfaßten Grundsatzpapier über „Some Fundamental Categories of the Theory of Action: A General Statement“ (FCTA) und dem von Talcott Parsons und Edward A. Shils geschriebenen Beitrag über „Values, Motives, and Systems of Action“ (VMSA).6 Zuerst werden die neu überdachten und ausgebauten Einzelelemente und Grundprozesse des Handelns zusammengefaßt (aus FCTA; S. 10f. und VMSA; S. 53ff.); und dann wird das in den späteren Arbeiten immer wichtiger werdende Konzept der „Systems of Action“ erläutert (aus FCTA, S. 6ff.; VSMA, S. 54ff.).
Die Darstellung soll auch die Entwicklung der Theorie des Handelns von einer Handlungs- zu einer Systemtheorie aus der Sicht von Parsons etwas verständlicher machen. Wichtig ist dabei zu beachten, daß es sich aus der Sicht von Parsons jeweils nicht um einen Perspektivenwechsel – etwa von einer Akteursorientierung hin zu einer Systemorientierung – handelt, sondern um eine Art von schrittweisem „Ausbau“ des Potentials der VTA, deren Grundlagen jedoch schon – im Prinzip – in der SSA gelegt waren.
Orientierungen des Handelns Die Komponenten des – wie Parsons und Shils ihr Konzept des Handelns nennen – „Frame of Reference of the Theory of Action“ sind in den Beiträgen FCTA und VMSA etwas anders gewichtet als in der Grundlegung der VTA in „The Structure of Social Action“. Nun sind es zwar auch Akteure, eine Situation und die Orientierung der Akteure auf die Situation, die das System des Handelns, den unit act sozusagen also, bilden. Parsons und Shils fügen aber einige Ergänzungen und Erläuterungen, insbesondere zum Konzept der Orientierung hinzu (FCTA, S. 4ff.; VMSA, S. 56ff.).
Objekte der Orientierung Die Komponenten des Handlungssystems sind Akteure, Situationen und die für die Rahmung des Handelns so wichtigen Orientierungen. Akteure können sowohl Individuen wie auch Kollektive sein. Ein Akteur ist im Rahmen eines Handlungssystems sowohl selbst ein „system of action“, wie ein Bezugspunkt für das Handeln der anderen Akteure. Die Situation ist der Teil der externen Umgebung, der 6
Talcott Parsons, Edward A. Shils, Gordon W. Allport u.a., Some Fundamental Categories of the Theory of Action: A General Statement, in: Parsons und Shils 1954, S. 3-29; Talcott Parsons und Edward A. Shils (mit Unterstützung durch James Olds), Values, Motives, and Systems of Action, in: Parsons und Shils 1954, S. 45-275.
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für die Akteure eine „Bedeutung“ hat, indem sie sich daran orientieren. Situationen sind somit Objekte der Orientierung der Akteure. Objekte der Orientierung können entweder sozialer oder aber nicht-sozialer Art sein. Soziale Objekte der Orientierung schließen andere Akteure – Individuen oder Kollektive – ein. Nicht-soziale Objekte sind solche Objekte, die keine Akteure sind. Sie können in zwei Gruppen unterteilt werden: physikalische und kulturelle Objekte. Physikalische Objekte sind Objekte, die selbst nur Gegenstand, nicht aber „Subjekt“ von Orientierungen sind. Die Ziele und Mittel des Handelns gehören dazu, auch die zu überwindenden Widerstände und die „significant symbols“ in der Situation. Kulturelle Objekte sind dagegen „elements of the cultural tradition or heritage (for example laws, ideas, recipes)“ (VMSA, S. 58). Sie können von den Akteuren sowohl als externe Objekte der Orientierung angesehen werden, aber auch „become internalized elements of the culture for the actor“ (ebd.; Hervorhebung nicht im Original).
Arten von Orientierungen Eine Orientierung ist nach Parsons und Shils der Satz von „cognitions, cathexes, plans and relevant standards“ (VMSA, S. 56), über die der Akteur mit der Situation verbunden ist. Orientierungen können in zwei Aspekten unterschieden werden: motivationale Orientierungen und Wert-Orientierungen.
Motivationale Orientierungen Motivationale Orientierungen beziehen sich auf Wünsche, Ziele und Pläne. Sie richten sich auf die „actual or potential gratification or deprivation of the actor‘s need-dispositions“ (ebd.); also: auf die mit der Bedürfnisbefriedigung verbundenen Aspekte der Situation. Parsons und Shils unterscheiden drei verschiedene Modi dieser motivationalen Orientierung: den kognitiven, den kathektischen und den evaluativen Modus. Der kognitive Modus bezieht sich auf die bloße Wahrnehmung der Eigenschaften der Situation und der Objekte darin. Der kathektische Modus beinhaltet die „Lust-Unlust“-Besetzung der Objekte, ihre affektive Bedeutung für den Akteur also. Und der evaluative Modus schließlich verweist auf die Allokation von „energy“ in verschiedene Handlungen in ihrem Bezug auf die „cathected“ Objekte. Dies hat einen bestimmten Zweck: Es geschieht als „attempt to optimize gratification“ (VSMA, S. 59). Hierüber organisiert der Akteur „his cognitive and cathectic orientations into intelligent plans“ (ebd.).
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Bei den Bewertungen der alternativen Handlungen wird also Wissen zur Lenkung des Aufwandes und vor dem Hintergrund der Bedürfniserfüllung eingesetzt: „Evaluation is functionally necessary for the resolution of conflicts among interests and among cognitive interpretations which are not resolved automatically; and which thus necessitate choice, or at least specific selective mechanisms.“ (VMSA, S. 59; Hervorhebungen nicht im Original)
Kurz: Die Evaluation ist der Vorgang, über den die Akteure den verschiedenen Alternativen nach bestimmten Kriterien Gewichte zuordnen, aus denen sich dann die Selektion des Handelns ergibt. Es ist, wenn man so will, der Vorgang der Bestimmung der EU-Gewichte für die diversen Alternativen.
Wert-Orientierungen Die Evaluation unterliegt bestimmten Kriterien. Denn: Die Nutzenorientierung ist ja eben nicht die einzige Form der Evaluation. Sie ist selbst nur ein spezielles Kriterium. Welche Kriterien bei dieser Evaluation zum Zuge kommen, das bestimmt nun die Wert-Orientierung. Das sind die festen Bindungen – „commitments“ – an bestimmte Normen, Regeln, Standards, Typen des Handelns bzw. Selektionskriterien, denen die Akteure bei allen ihren Entscheidungen unterliegen. Sie geben den bindenden Rahmen vor, innerhalb dessen die Akteure die Situation nur sehen können. Sie selbst sind eben „ ... not random but tend to form a system of value-orientations which commit the individual to some organized set of rules (so that the rules themselves do not contradict one another).“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Letztlich sind es also die Wert-Orientierungen, die alle „darunter“ liegenden Prozesse der Selektion des Handeln steuern: Sie „ ... guide the choices made by actors and ... limit the types of interaction which may occur among actors.“ (VMSA, S. 55; Hervorhebungen nicht im Original)
Über diese Steuerung gewinnt der handelnde Organismus die benötigte bindende Richtschnur für eine letztlich jedem Handeln unterliegende existentielle Entscheidung: Welche Ziele soll ich in der Situation überhaupt anstreben? Und wie stark darf ich dabei meinen unmittelbaren Bedürfnissen nachgeben? Also: „Value-orientation refers to those aspects of the actor‘s orientation which commit him to the observance of certain norms, standards, criteria of selection, whenever he is in a contingent situation which allows (and requires) him to make a choice. Whenever an actor is forced to
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choose among various means objects, whenever he is forced to choose among various goal objects, whenever he is forced to choose which need-disposition he will gratify, or how much he will gratify a need-disposition – whenever he is forced to make any choice whatever – his value-orientations may commit him to certain norms that will guide him in his choices.“ (VMSA, S. 59; Hervorhebungen nicht im Original)
Parallel zu den Modi der motivationalen Orientierung gibt es auch drei verschiedene Modi der bindenden und übergreifend steuernden WertOrientierung: einen kognitiven, einen ästhetischen und einen moralischen Modus (ebd., S. 60). Der kognitive Modus der Wert-Orientierung bezieht sich auf die für bindend angesehenen Standards der Verläßlichkeit und der „Wahrheit“ des Wissens, das in den WertOrientierungen enthalten ist: Wenn es der Herr Professor Esser gesagt hat, dann muß es eben stimmen. Der ästhetische (im Original: „appreciative“) Modus hat damit zu tun, ob ein Objekt bestimmte Anforderungen der „Angemessenheit“ in einer Situation erfüllt – beispielsweise ein Standard über den richtigen Musikgeschmack oder Kleidungsstil. Die Objekte erhalten dadurch eine eigene Dimension der Bewertung und besitzen so eine unmittelbare „gratificatory significance“ für den Akteur. Wer mit Jeans zu einer Beerdigung geht oder unter Soziologen Heino mag, weiß, was damit gemeint ist. Der moralische Modus schließlich hat mit der Bewertung bestimmter Folgen eines Handelns in Bezug auf die Integration des gesamten Handlungszusammenhangs zu tun. Und zwar: für den Akteur und für die „integration of his own personality system“ einerseits, wie für die „integration of the social systems in which he is a participant“ (ebd.) andererseits: Zum ersten Hochzeitstag schenkt man sich eben kein Geld – im Interesse der eigenen „Integration“, sowie der Eigenschaft des familiären sozialen Systems, das man auch als schiefhängenden Haussegen bezeichnen könnte.
Als „System“ sind die Wert-Orientierungen mit ihren verschiedenen Modi dem Akteur sowohl in seinen Orientierungen, in seiner Identität also, präsent, wie als Teil der Kultur einer Gesellschaft über die Akteure hinweg verbreitet.
Die Organisation des Handelns Handlungen sind keine isolierten Angelegenheiten, sondern treten nach Parsons (und Shils) immer in bestimmten „constellations“ auf. Dies verweist auf den Aspekt der Integration von Handlungen zu ganzen Systemen. Parsons und Shils unterscheiden bei dem „System“ des Handelns wiederum drei Aspekte bzw. drei Modi, in denen die Elemente des Handlungssystems übergreifend zu einer Einheit – zum System des Handelns – organisiert sind: Persönlichkeiten bzw. personale Systeme, soziale Systeme und kulturelle Systeme (vgl. FCTA, S. 6ff.; VMSA, S. 54ff.).
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Personale Systeme Ein personales System ist die organisierte Gesamtheit der motivationalen und Wert-Orientierungen eines individuellen Akteurs. Ein derart integriertes System personaler Orientierungen wird auch Person oder Persönlichkeit genannt (FCTA, S. 7). Personale Systeme haben drei Besonderheiten (VMSA, S. 55). Erstens „bestehen“ sie aus den gebündelten und untereinander verbundenen Handlungen eines bestimmten Akteurs – dem Satz seiner Gewohnheiten, Rollen und regelmäßigen Aktivitäten. Die Handlungen sind zweitens um die besondere Struktur seiner Bedürfnisdispositionen („need dispositions“) herum organisiert. Und alles dies – die Ziele, Normen und Bedürfnisse des Akteurs – ist wiederum zu einem integrierten System organisiert, bei dem sich die verschiedenen Komponenten wechselseitig stützen und begrenzen: „Just as the goals or norms which an actor in a social system will pursue or accept will be affected and limited by those pursued or accepted by the other actors, so the goals or norms involved in a single action of one actor will be affected and limited by one another and by other goals and norms of the same actor.“ (VMSA, S. 55; Hervorhebungen nicht im Original)
Das personale System ist also in etwa das, was wir bisher als die „Identität“ des Akteurs bezeichnet haben. Es ist so etwas wie ein System verschiedener „Akteure“, die sich „innerhalb“ des Systems des einen Akteurs zu einer abgestimmten Einheit organisiert haben (vgl. dazu noch Kapitel 8 und 9 unten in diesem Band).
Soziale Systeme Soziale Systeme bilden sich (nach Parsons und Shils) aus den Beziehungen einer Vielzahl von Akteuren. Die besondere Art der Beziehungen ergibt sich dabei aus der typischen Art der Anordnung der Akteure untereinander, nicht aber aus den Eigenschaften der „individuellen“ Akteure unmittelbar (FCTA, S. 7). Soziale Systeme haben drei Charakteristika (VMSA, S. 54f.). Erstens beinhalten sie „a process of interaction between two or more actors“ (VMSA, S. 55). Es ist dieser Interaktionsprozeß „an sich“, der hier wichtig ist. Zweitens beinhaltet die Situation, auf die hin sich die Akteure orientieren, soziale Objekte, andere Akteure also. Diese sind entsprechend Gegenstand kognitiver, kathektischer, evaluativer und moralischer Orientierungen. Die Orientierungen der anderen Akteure dienen dem Akteur dabei sowohl als Mittel wie als Ziele dieser Orientierungen – und sind daher selbst wiederum Gegenstand von
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evaluativen Orientierungen. Und drittens beruhen soziale Systeme auf aufeinander abgestimmten Handlungen, auf „concerted actions“, wobei „ ... the concert is a function of collective goal orientation or common values, and of a consensus of normative and cognitive expectations.“ (VMSA, S. 55; Hervorhebungen nicht im Original)
Diese Bedingung – geteilte Werte und Konsensus in den Erwartungen – ist eine sehr starke Annahme. Sie schließt es aus, daß sich soziale Systeme gewissermaßen hinter dem Rücken der Akteure integrieren – wie das ja etwa auf Märkten geschieht (vgl. dazu Kapitel 6 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“ dieser „Speziellen Grundlagen“). Parsons (und Shils) gingen ganz offensichtlich von jenem Modell der Gesellschaft aus, das auch das soziologische Denken von Emile Durkheim geprägt hatte: die einfache Stammesgesellschaft, in der der Lebenszusammenhang tatsächlich auf gemeinsam geteilten Bewertungen und Erwartungen beruhen.
Kulturelle Systeme Die integrierte Gesamtheit der Normen, Werte und Symbole, die die Orientierungen und darüber das Handeln der Akteure steuern, nennen Parsons und Shils das kulturelle System (FCTA, S. 7). Von einem kulturellen System läßt sich dabei in zweierlei verschiedener Hinsicht sprechen (vgl. dazu auch schon Abschnitt 2.1 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Es ist einerseits ein Element der Orientierungen der Akteure – „ihr“ Wissen und „ihre“ Bewertungen von Normen, Werten und Symbolen. Und es ist andererseits ein Objekt der Orientierungen der Akteure und als solches ein eigenständiger Teil der die Akteure umgebenden sozialen Systeme, ein soziologischer Tatbestand. Als derart eigenständiges System existiert es als „ ... a body of artifacts and as systems of symbols“ (FCTA, S. 7). Vier Besonderheiten kultureller Systeme sind darüber hinaus zu nennen: Kulturelle Systeme bestehen erstens unabhängig von den Interaktionen und der Organisation des Handelns bei den einzelnen Akteuren. Sie stehen im Hintergrund der Steuerung und Begrenzung der Interaktionen und der Organisation des Handelns. Deshalb sind zweitens kulturelle Systeme nicht ähnlich „empirisch“ wie Personen oder Interaktionen, können sich aber in unmittelbar sichtbaren Gegenständen manifestieren: in Symbolen, die bestimmte Bedeutungen – Wissen und Werte – „ausdrücken“. Solche „expressiven“ Symbole werden bei Handlungen und Interaktionen gezeigt und ausgetauscht und tragen damit die Last der Steuerung des Handelns und der Interaktionen. Auch
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die kulturellen Systeme sind drittens intern abgestimmt, organisiert und integriert und haben ein gewisses Mindestmaß an interner Konsistenz. Ein kulturelles System besteht deshalb viertens aus untereinander verbundenen Teilen von drei Arten kultureller Untersysteme: Wertsysteme, Wissenssysteme und Symbolsysteme (im Original: value systems, belief systems, systems of expressive symbols; VMSA, S. 55).
Die Einheit der Systeme Alle drei Systeme – die personalen, die sozialen und die kulturellen Systeme – sind theoretisch grundsätzlich voneinander als unabhängig anzusehen. Sie lassen sich nicht aufeinander reduzieren. Interaktionen und andere soziale Probleme und Gebilde erschöpfen sich nicht in Personen und in Systemen von Symbolen und Bedeutungen; Personen sind etwas anderes als geteilte Werte oder abgestimmte Handlungen; und expressive Symbole und deren Bedeutungen gibt es ganz unabhängig von konkreten Akteuren und deren Tun. Gleichzeitig sind die drei Systeme voneinander abhängig und ohne einander nicht denkbar: Nur Menschen können handeln, interagieren und etwas wissen und bewerten; nur über Interaktionen und im symbolgesteuerten Austausch können sich die Menschen reproduzieren und kulturelles Wissen und Werte aufnehmen und zur Organisation ihrer Person nutzen; und expressive Symbole, Wissen und Werte „leben“ nur in den Interaktionen, Handlungen und Orientierungen der Menschen, wobei sie diese wieder – als kollektive Folge der Handlungen und Orientierungen vorher – begrenzen und steuern.
Jede der drei Ebenen von Systemen ist also gleichzeitig eigenständig und von der jeweils anderen Ebene in ihrer Konstitution abhängig. Es liegt dann nahe, davon auszugehen, daß alle drei Systeme – „normalerweise“ und in einem „Gleichgewicht“ – ein einziges und abgestimmtes System bilden. Damit es dazu kommt, muß es nach Parsons (und Shils) bestimmte Prozesse der wechselseitigen Durchdringung der drei Systeme geben. Im Prinzip lassen sich zwei solcher Prozesse benennen: Institutionalisierung und Internalisierung. Die Institutionalisierung ist die Durchdringung des sozialen Systems durch das kulturelle System: Expressive Symbole und die Wertstandards steuern die Interaktionen wirksam. Internalisierung ist die Verankerung der Standards – der Normen, der Werte und der expressiven Symbole – des kulturellen Systems im personalen System. Es ist der Prozeß der Verinnerlichung der Werte und Normen im Bedürfnissystem der Akteure, insbesondere über den Vorgang der Sozialisation der Menschen. Zusammengefaßt werden die Prozesse der Institutionalisierung und Internalisierung auch als Interpenetration bezeichnet.
Gelingt die komplette Interpenetration der Systeme, gelingen Institutionalisierung und Internalisierung, dann funktioniert das, was Parsons (und Shils) für die wichtigste Bedingung des Handelns halten: die feste kulturelle Orientie-
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rung über die Ziele und die normative Regulierung der Mittel der Akteure (VMSA, S. 56) – mit der Folge einer Überwindung des utilitarian dilemma und der Entstehung von Systemen sozialer Interaktion, in denen die Akteure ihre Bedürfnisbefriedigung finden können. Dann gewinnen die drei Systeme eine „threefold reciprocal integration“ (FCTA, S. 26). Sie werden zu einer systemischen Einheit. Talcott Parsons bezeichnet diese Einheit als das allgemeine Handlungssystem. Es ist selbst Teil einer noch weiter gezogenen Einbettung in andere Systeme der menschlichen Existenz (siehe dazu noch Abschnitt 1.5 gleich unten näher).
1.4 Die Pattern Variables und das AGIL-Schema Die grundlegende Besonderheit der Handlungstheorie von Talcott Parsons (und Edward A. Shils) ist die Annahme, daß vor jeder eigentlichen „Wahl“ des Handelns die Selektion einer Orientierung stehe, die diese Wahl leitet und alle daran orientierten sozialen Handlungen limitiert (Parsons und Shils 1954, S. 55). Gleich im Anschluß an diese allgemeine Hypothese haben Talcott Parsons und Edward A. Shils eine Spezifikation für diese vorgängige Selektion eines typischen „Musters“ der Situation vorgenommen. Es sind die sog. pattern variables.
Fünf Dichotomien Bei den pattern variables handelt es sich um einen Satz von fünf Dichotomien von Dimensionen, die den Raum für die Orientierungen der Akteure aufspannen sollen. In jeder Situation habe der Akteur das besondere Problem, aus diesen fünf Dichotomien jeweils ein Muster auszuwählen, das dann die Grundlage seiner Orientierung in der Situation – und damit für sein Handeln – bilde (Parsons und Shils, S. 48f; 77ff.). Die fünf Dichotomien sind: (1) Affektivität – affektive Neutralität (2) Selbst-Orientierung – Kollektiv-Orientierung (3) Universalismus – Partikularismus (4) Askription – Leistung (5) Spezifizität – Diffusität Die Dichotomien ergeben sich – so Parsons und Shils – aus fünf grundlegenden „Dilemmata“, die sich für einen Akteur in einer jeden sozialen Situation auftun.
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Das erste Dilemma ist das zwischen dem unmittelbaren Nachgeben auf affektuelle Impulse oder der Kontrolle dieser Impulse zugunsten einer Orientierung an der „affektiven Neutralität“. Das zweite Dilemma besteht in der Frage, ob der Akteur eher den eigenen Interessen des Selbst oder kollektiven Verpflichtungen nachgehen soll. Das dritte Dilemma berührt die Frage, ob der Akteur in einer Situation alle „Objekte“ – einschließlich: andere Akteure! – gleichermaßen universalistisch vor einem bestimmten Standard beurteilen soll, oder ob es angeraten ist, partikulare Unterschiede zu machen. Das vierte Dilemma hat damit zu tun, daß ein Akteur ein Objekt danach beurteilt, was es tatsächlich tut oder leistet, oder danach, welche festen, zugeschriebenen, unverlierbaren Qualitäten und Eigenschaften es – von der Leistung unabhängig – aufweist. Das fünfte Dilemma bezieht sich auf die Reichweite der Reaktionen des Akteurs auf ein Objekt in der Situation: Soll der Akteur auf die „diffuse“ Gesamtheit aller Eigenschaften des Objekts oder lediglich auf ausgewählte, „spezifische“ Teile davon reagieren?
Die pattern variables ordnen Situationen in einer typischen Weise eines jeweils für solche Situationen dann immer geltenden „Musters“ der Einzel„Variablen“ aus den fünf Dichotomien. Talcott Parsons, der seine akademische Biographie mit einem Medizin-Studium begann, hat sie u.a. auf das Verhältnis zwischen Ärzten und ihren Patienten angewandt. Leicht lassen sich damit beispielsweise die Unterschiede in der Beziehung eines Patienten zu seinem wohlvertrauten Hausarzt und zu dem Spezialisten für ein bestimmtes Organ, zu dem er gerade überwiesen wurde, beschreiben: Beide Typen von Ärzten sollten zwar affektiv neutral und nur an ihrer gesundheitsfördernden Leistung orientiert sein. Von einem Hausarzt wird aber – im Unterschied zum Spezialisten – erwartet, daß er – wenigstens: auch – etwas Gemüt zeigt, dem Kollektiv der Familie und der Gemeinde verpflichtet ist, die persönlichen partikularen Besonderheiten des Patienten besonders beachtet und sich auch noch für mehr zuständig fühlt als bloß für das geschäftige Verschreiben einer Droge.
Gemeinschaft und Gesellschaft Die pattern variables erinnern deutlich an die bekannte Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies (vgl. Abschnitt 13.3). Dabei entspricht das Variablen-Muster „Affektivität-Kollektivorientierung-PartikularismusAskription-Diffusität“ dem Typus der Gemeinschaft: Der Akteur gibt seinen Gefühlen nach, fühlt sich der Gruppe verpflichtet, reagiert auf die individuellen Besonderheiten der Objekte in der Situation, achtet nicht auf deren Leistung, sondern auf ihre inneren Qualitäten und beurteilt sie in der Ganzheit ihrer Eigenschaften insgesamt. Entsprechend repräsentiert das Muster „affektive Neutralität-Selbstorientierung-Universalismus-Leistung-Spezifizität“ das Muster der Orientierungen des Handelns in der „Gesellschaft“: Der Akteur kontrolliert seine Impulse, handelt nach Maßgabe seiner individuellen Interessen, beurteilt die Objekte kühl nach allgemeinen Standards ohne Berücksichtigung der besonderen Eigenschaften und nur nach der aktuellen Leistung, sowie nur auf der Grundlage der spezifischen Eigenschaften, die in
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der jeweiligen Situation zur Debatte stehen. Aber auch halb-moderne Gesellschaften lassen sich damit charakterisieren. So wären beispielsweise das nationalsozialistische Deutschland oder die Sowjetunion Gesellschaften von einem universalistisch-askriptiven Typus gewesen.
Wichtiger noch als der Bezug zu Ferdinand Tönnies ist für das Verständnis der pattern variables die Uminterpretation der Begriffe „Gemeinschaft und Gesellschaft“ durch Max Weber als „Vergemeinschaftung“ bzw. als „Vergesellschaftung“. Der Unterschied zu Tönnies dabei war ja die Betonung des Aspektes der „sozialen Beziehung“ und insbesondere der jeweils besonderen „Einstellung des sozialen Handelns“ in einer Situation. Diese Einstellung ist aber nichts anderes als die Orientierung der Akteure an die jeweils mit der Situation verbundenen Modellvorstellungen – etwa über eine Ehe, eine Freundschaft, einen Streit oder auch: die besondere Art der sozialen Beziehung zu einem Arzt (vgl. zum Begriff der sozialen Beziehung Kapitel 9 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Diese spezifischen Muster der Orientierung des Handelns in typischen Situationen sind es, was Parsons und Shils mit den pattern variables vor allem betonen möchten.
Muster der Situationsdefinition Die Dimensionen der pattern variables erinnern nicht nur über die zitierte Verbindung von Tönnies zu Weber auch an die vier Handlungs-Typen des zweckund wertrationalen, des affektuellen und des traditionalen Handelns (vgl. Abschnitt 6.7 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Besonderheit bei den pattern variables ist, daß nun auch bestimmte, eventuell sehr gemischte Orientierungen möglich sind. In komplexeren Situationen, bei denen beispielsweise als oberster Orientierungsrahmen eine Kollektivorientierung gilt, gleichwohl aber eine ganz un-gemeinschaftliche Affektkontrolle verlangt wird, werden demnach also ganz spezielle Kombinationen der Orientierung an bestimmte „Typen“ des Handelns möglich. Die pattern variables geben fest institutionalisierte Muster von Orientierungen wieder. Die Akteure kennen – so die Annahme – diese Muster aus der Verschränkung des kulturellen Systems, in dem ja die Orientierungen verankert sind, mit dem personalen System. Entsprechend definieren sie die jeweilige Situation nach dem jeweiligen Muster. Wie die Akteure es dann schaffen, jeweils die „richtigen“ Muster zu finden – darüber erfahren wir bei Parsons und Shils nicht sehr viel. Gelegentlich wird angedeutet, daß hierbei die Symbole bedeutsam werden, über die das Wissen und die Werte des kulturellen Systems aktiviert werden. Auf diesen Prozeß der Orientierung durch eine symbolische Definition der Situation gehen – gerade in Kritik an der stati-
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schen Konzeption der pattern variables – insbesondere die interpretativen Ansätze ein. Wie die sich das vorstellen werden wir gleich anschließend in Kapitel 2 unten in diesem Band erfahren.
Das AGIL-Schema Die pattern variables stellen zunächst nur ganz allgemeine, fast noch formale Orientierungen und Bezugsrahmen dar. Konkrete Situationen sind aber oft sehr viel spezifischer definiert, als dies über die fünf Dimensionen möglich wäre. Wie die Dimensionierung der Orientierung in einer Situation im Einzelfall aussieht, ist – einmal ganz ohne Parsons und seine Soziologie betrachtet – natürlich eine empirische Frage: Soziale Systeme und darin gegebene Situationen gibt es wie Sand am Meer, und es werden immer neue Arten im Verlaufe der Evolution der Gesellschaften in die Welt gesetzt. Und entsprechend ändern sich auch die Orientierungen und die Bezugsrahmen des Handelns. Lange Zeit hat die Soziologie aber – mit Talcott Parsons – angenommen, daß über die inhaltliche Codierung der Situationen bereits vorab etwas gesagt werden könne. Der Hintergrund ist eine systemtheoretische Überlegung: Jede Gesellschaft bzw. jedes soziale System hat einige grundlegende funktionale Erfordernisse, ohne die sie bzw. es nicht existieren kann. Diese funktionalen Erfordernisse sind Leistungen, die im Interesse der Existenz des sozialen Systems „notwendigerweise“ immer wieder erbracht werden „müssen“. Daher könne davon ausgegangen werden, daß die funktionalen Erfordernisse auch ganz typische und wiederkehrende inhaltliche Elemente der Definition der Situation für die Akteure konstituieren. Und wenn es immer wieder die gleichen funktionalen Erfordernisse sind, die auftreten, dann müßten sich auch vorab die entsprechenden funktionalen Orientierungen angeben lassen, die in den betreffenden Systemen als Rahmen des Handelns zu gelten hätten. Damit ist die Wende zur systemtheoretischen Konzeption der Handlungserklärung bei Talcott Parsons endgültig vollzogen: Die Orientierungen, die sich den Akteuren in bestimmten Situationen in Form typischer Verteilungen der pattern variables als fester Bezugsrahmen auferlegen, sind nicht beliebig oder bloß „empirisch“. Sie folgen vielmehr gewissen vorgegebenen funktionalen Notwendigkeiten der Reproduktion des jeweiligen Systems im Gesamtzusammenhang seiner Einbettung in andere Systeme und ihrer wechselseitigen Unterstützung.
Das System der normativen Orientierung
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Die funktionalen Grundprobleme, die dabei immer wieder auftreten und gelöst werden müssen, hat Talcott Parsons bekanntlich in dem sog. AGILSchema zusammengefaßt.7 Zur Erinnerung (vgl. dazu bereits ausführlich Kapitel 23 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“): Die vier funktionalen Grundprobleme sind adaption (A), goal attainment (G), integration (I) und latent pattern maintenance (L). Im Einzelnen: Immer müsse ein System sich an die äußere Umwelt anpassen und vor allem von dort die Ressourcen und Mittel für sein Überleben beziehen (A-Funktion). Immer benötige ein System die Ausrichtung seines inneren Zustands an der Erfüllung für das unmittelbare Überleben wichtiger Ziele (G-Funktion). Stets sei auch dafür zu sorgen, daß die inneren Teile des Systems nicht zerfallen, sondern untereinander eine solidarische Einheit bilden (IFunktion). Und auch sei zu gewährleisten, daß das System nach außen zu seinen Umwelten seine Besonderheiten bewahre und sich von der Umwelt wirksam abgrenze (L-Funktion).
Talcott Parsons war der Auffassung, mit diesem Schema den Schlüssel zum Verständnis aller Systemprozesse gefunden zu haben: „Damit“ gesellschaftliche (und andere) Systeme existieren können, „müssen“ sie fortwährend diese vier Funktionen erfüllen. Und alle Strukturen und Prozesse dieser Welt sind darauf ausgerichtet, in wechselseitiger Konstitution jene vier funktionalen Erfordernisse zu bedienen.
Funktionale Bedingungen und normative Standards Das AGIL-Schema ist so auch aus Überlegungen entstanden, die mit der Idee der normativen Orientierung des Handelns und mit den pattern variables zusammenhängen: Wenn man erklären will, warum bestimmte Situationen von dieser – und eben nicht von jener – normativen Definition der Situation bestimmt sind, und warum diese Orientierung eben nicht dem Belieben der Akteure untersteht, dann kann man vermuten, daß in einem „Gleichgewicht“ von Situationen die jeweilige normative Orientierung etwas mit einer „Anpassung“ an die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Akteure im wechselseitigen Austausch zu tun hat. Genau davon ist auch Talcott Parsons ausgegangen: Die normativen Standards der Situationen spiegeln die funktionalen Bedingungen des reproduktiven Gleichgewichts 7
Vgl. zur Logik der Begründung des AGIL-Schemas u.a. die Erläuterungen bei Talcott Parsons und Neil J. Smelser, Economy and Society. A Study in the Integration of Economic and Social Theory, London 1956, S. 16ff.; Talcott Parsons, General Theory in Sociology, in: Robert K. Merton, Leonard Broom und Leonard S. Cottrell, Jr., (Hrsg.), Sociology Today. Problems and Prospects, New York 1959, S. 4ff.; Talcott Parsons, An Outline of the Social System, in: Talcott Parsons, Edward Shils, Kaspar D. Naegele und Jesse R. Pitts (Hrsg.), Theories of Society. Foundations of Modern Sociological Theory, Vol. 1, New York 1961, S. 61ff.
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Sinn und Kultur
eines Gesamtsystems wieder. Und eine Verletzung der Standards stört sofort das Gleichgewicht – und erinnert alle daran, daß auch die „bloß“ kulturellen Orientierungen keine Angelegenheit einer bloßen „Wahl“ oder „Entscheidung“ der Akteure sind, die mit der materiellen Reproduktion nichts zu tun hätten.
Die funktionale Zuordnung der pattern variables Talcott Parsons meinte dann insbesondere in den 1953 erschienenen Working Papers in the Theory of Action8, daß typische Muster von vier der fünf Dimensionen der pattern variables sich den typischen Bestandsproblemen sozialer Systeme zuordnen lassen. Die pattern variables lassen sich danach je zu zweit in zwei Gruppen aufteilen: nach der Kategorisierung der Objekte und nach der Einstellung der Akteure zu den Objekten in der Situation. Daraus ergeben sich vier Muster der Kombination von Kategorisierung und Einstellung. Und jedes dieser Muster entspricht einem typischen funktionalen Grundproblem für den Bestand des Systems. Wir folgen in Abbildung 1.1 der Zusammenfassung dieser Zuordnung der pattern variables zum AGIL-Schema bei Seymour M. Lipset und Stein Rokkan:9
Kategorisierung der Objekte der Situation
Einstellung zu den Objekten
Funktionen für das System
I. Universalismus/ Partikularismus
III. Spezifizität/ Diffusität
Adaption Integration
II. Leistung/ Zuschreibung
IV. Affektivität/ Neutralität
Goal Attainment Latent Pattern Maintenance
Abb. 1.1: Die funktionale Zuordnung der pattern variables
8
Talcott Parsons, Robert F. Bales und Edward A. Shils, Working Papers in the Theory of Action, New York und London 1953, Kapitel III und V.
9
Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan, Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments: An Introduction, in: Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan (Hrsg.), Party Systems and Voter Alignments: Cross National Perspectives, New York und London 1967, S. 6ff.
Das System der normativen Orientierung
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Wohl aus Gründen der formalen Ordnung in vier Grundfunktionen mußte die ursprünglich noch vorhandene fünfte Dimension der pattern variables – die Selbst- versus Kollektivorientierung – der Vierfelderlogik des AGIL-Schemas geopfert werden. Schön sichtbar wird hier die Denklogik von Talcott Parsons: Die funktionalen Erfordernisse für den Bestand sozialer Systeme erzeugen typische Muster der Orientierung: Universalismus und Spezifizität wären danach beispielsweise Teile jener Orientierung, von der sich die Akteure leiten lassen, wenn sie die A-Funktion bedienen – etwa im Bereich des wirtschaftlichen Handelns. Tun sie das nicht, dann wird die Funktion nicht erfüllt, das System vergeht – oder die aufkommenden Spannungen bringen die Akteure rasch wieder auf den Pfad der funktional notwendigen und daher (!) normativ richtigen Orientierung zurück. Und so kommt es, daß die Orientierungen für die A-Funktion universalistisch und spezifisch sind – oder daß es das soziale System nicht gibt. Quod erat demonstrandum.
1.5 Das allgemeine Handlungssystem Talcott Parsons ist der Begründer der soziologischen Systemtheorie bzw. jener speziellen Variante davon, die als Struktur-Funktionalismus bezeichnet wird. Die von ihm entwickelte Handlungstheorie ist dabei immer auch schon eine „System“-Theorie: Das Handeln bildet mit seinen verschiedenen Elementen ein System und ist selbst Teil von übergreifenden systemischen Zusammenhängen. Das war ja schon in der frühesten Fassung der VTA in „The Strucure of Social Action“ erkennbar gewesen. Mit der Verbindung von pattern variables und AGILSchema wird diese Vorstellung konsequent weiterentwickelt und zugespitzt – bis in die letzten Arbeiten Ende der 70er Jahre hinein. Das Ziel aller Überlegungen ist die Entfaltung des sog. allgemeinen Handlungssystems – des „general system of action“. Es bildet den Kern und die Grundlage der Parsonschen soziologischen Theorie als einer konsequent verfolgten Systemtheorie.
Vier Subsysteme In der Schrift „Toward a General Theory of Action“ wird der Kern des Konzeptes des allgemeinen Handlungssystems in seinen Umrissen bereits deutlich: Talcott Parsons und Edward A. Shils unterscheiden dort für die Konzeptualisierung des Handelns drei Systeme: das personale, das soziale und das kulturelle System (vgl. Abschnitt 1.3 oben in diesem Band). Sie alle drei bilden eine einzige, interpenetrierende Einheit – das System des Handelns.
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Unter dem Einfluß einer intensiven Beschäftigung mit den Schriften von Sigmund Freud gelangt Talcott Parsons dann später, insbesondere im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zu den Prozessen der Sozialisation und der Verinnerlichung, zu der Auffassung, daß ein viertes System zum allgemeinen Handlungssystem hinzutreten muß:10 Der menschliche Organismus mit seinen biologischen Eigenschaften und animalischen Antrieben. Neben das Über-Ich der verinnerlichten Werte aus dem kulturellen System und die spontanen Elemente des Ich im personalen System tritt auch die Triebstruktur des Organismus, das Es mit seinen unkontrollierten energetischen Antrieben auf das Handeln. Dieses System wird als organismisches System, als Verhaltenssystem bzw. einfach als Organismus bezeichnet. Angedeutet war dieses vierte System bereits in „Toward a General Theory of Action“ mit dem Hinweis auf die Bedeutung der „need-dispositions“ für die Selektion des Handelns und der motivationalen Orientierungen des Akteurs. Aber erst mit der Erfindung des AGILSchemas ist Talcott Parsons wohl darauf gekommen, daß es eigentlich vier Systeme sein müßten, die das Handlungssystem bilden.
Das allgemeine Handlungssystem ist dann nichts anderes als die Einheit der so unterschiedenen vier Systeme, die – irgendwie – alle beim Handeln beteiligt sind: organismisches System, personales System, soziales System und kulturelles System. Es sind in der Sprache der strukturfunktionalen Theorie von Parsons die vier Subsysteme des allgemeinen Handlungssystems. Wenn man sie in ein Vierfelder-Schema schreibt, ergibt sich die Anordnung wie in Abbildung 1.2.11
10
Vgl. insbesondere die Beiträge in: Talcott Parsons, Robert F. Bales und Edward A. Shils (Hrsg.) 1953; Talcott Parsons und Robert F. Bales, Family, Socialization and Interaction Process, London 1956.
11
Vgl. Talcott Parsons und Gerald M. Platt, Die amerikanische Universität. Ein Beitrag zur Soziologie der Erkenntnis, Frankfurt/M. 1990 (zuerst: 1973), S. 30.
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Das System der normativen Orientierung
kulturelles System
(L)
soziales System
(I)
organismisches System
(A)
personales System
(G)
Abb. 1.2: Die vier Subsysteme des allgemeinen Handlungssystems
Die vier Subsysteme des allgemeinen Handlungssystems lassen sich nach Auffassung von Talcott Parsons den vier grundlegenden funktionalen Problemen nach dem AGIL-Schema systematisch zuordnen. Nämlich: Das organismische System sorgt im Zusammenhang eines Handlungssystems für den Austausch nach außen und für die Bereitstellung der Mittel zum „Überleben“ des Systems in der organischen und physikalischen Umwelt; es hat damit die A-Funktion. Im personalen Systemen geschieht die konsummatorische Ausrichtung des Handelns an motivational angeregten Zielen: Das Agieren der Personen folgt den dringenden Bedürfnissen des Organismus, wenngleich stets unter den Bedingungen der Begrenzungen durch die anderen Systeme; deshalb kann dem personalen System die G-Funktion zugewiesen werden. Im sozialen System erfolgt die Koordination und Abstimmung des Handelns zu einer funktionsfähigen kollektiven Einheit; es erfüllt daher die I-Funktion. Und das kulturelle System schließlich sorgt für die wirksame Kontrolle der Erhaltung der grundlegenden Strukturen des Handelns und der anderen Subsysteme durch die steuernde Wirkung von Werten und expressiven Symbolen; ihm obliegt also die L-Funktion im allgemeinen Handlungssystem.
Das kulturelle System hat also die L-Funktion, das soziale System die IFunktion, das personale System die G-Funktion und der Organismus die AFunktion. Dies erklärt die Zuordnung der Buchstaben in Abbildung 1.2.
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Sinn und Kultur
Der Austausch von Information und Energie
Damit das allgemeine Handlungssystem zu einem „System“ wird, müssen die Subsysteme in ihren jeweiligen speziellen Funktionen natürlich miteinander in Beziehung treten. Talcott Parsons bezeichnet diese wechselseitige Kontaktnahme der Subsysteme auch als Interpenetration. Zwei Mechanismen der Interpenetration der Subsysteme des allgemeinen Handlungssystems hatten wir bereits kennengelernt: Institutionalisierung und Internalisierung. Sie verbinden die drei Subsysteme des kulturellen, des sozialen und des personalen Systems. Nun ist aber ein viertes System hinzugekommen: das organismische System. Parsons benennt hierfür keinen eigenen Mechanismus der Interpenetration zwischen personalem und organismischem System. Wir führen an dieser „Lücke“ den Vorgang ein, den Niklas Luhmann für die „Überschneidung“ der beiden Systeme – Organismus und Person – nennt: Lernen.12
Die Verbindung der vier Subsysteme zu einem System des Handelns über die Mechanismen der Institutionalisierung, der Internalisierung und des Lernens folgt einer Anordnung der Systeme nach zwei Arten von Beziehungen: nach dem Grad der Information, die sie füreinander bereitstellen, und nach dem Ausmaß der Energie, das sie jeweils weitergeben. Daraus ergibt sich eine typische Anordnung der vier Subsysteme in Form eines Austauschs „kybernetischer Beziehungen“: Das kulturelle System ist in der Informationshierarchie ganz oben angesiedelt. Es stellt die obersten Standards der Selektionen und Orientierungen bereit, von dem alles andere an Selektionen eingegrenzt ist. Das soziale System befindet sich in dieser Hierarchie unter dem kulturellen System, steuert aber über die Weitergabe von Information durch die Mechanismen der sozialen Kontrolle und der Sozialisation das personale System. Und die Strukturen der Persönlichkeit steuern schließlich auch die Art, wie sich der Organismus „biologisch“ fühlt. Umgekehrt enthält das organismische System das höchste Ausmaß an Energie. Die „need-dispositions“ und der brodelnde Kessel der biologischen Triebe und das ungebändigte Es treiben das personale System zu Korrekturen und Lösungen von Problemen, die aus einer beständigen Verletzung der biologischen oder psychischen Bedürfnisse entstehen würden. Und diese Energie gibt das personale System – der Akteur als motivierte Person also – in seinem Handeln und Interagieren schließlich weiter an das soziale System, mit den entsprechenden Auswirkungen auch auf die Entwicklung der selektiven Standards in den Normen und Werten des kulturellen Systems.
Kurz: Die Subsysteme versorgen sich in einem gegenläufigen Tauschvorgang mit zwei jeweils für das Funktionieren des Gesamtsystems notwendigen Inputs: Energie und Information. In einem Schema läßt sich dieser gegenläufige Kreislauf von kontrollierender Information und motivierender Energie so zusammenfassen (Abbildung 1.3).
12
Niklas Luhmann, Interpenetration – Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme, in: Zeitschrift für Soziologie, 6, 1977, S. 63.
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„unten“ an die Ebene der „organischen Umwelt“. Hier deutet Parsons die Weiterentwicklung seiner Systemtheorie an: Das allgemeine Handlungssystem ist selbst in andere Systeme eingebettet – das System der menschlichen Existenz (siehe dazu gleich unten). Und es trägt gleichzeitig dieses System der menschlichen Existenz – mit einer ganz bestimmten funktionalen Zuordnung gemäß dem AGIL-Schema. Gleich unten kommen wir darauf zurück. Versuchen Sie aber hier schon einmal zu raten, welche Funktion das sein könnte.
Handlungssystem und Gesellschaft
Das allgemeine Handlungssystem ist in der Tat sehr allgemein. Es schließt von seiner Theoriearchitektur grundsätzlich alle Phänomene und Prozesse ein, die in der Welt des Handelns nur denkbar sind. Alles, was nicht kulturell, sozial, personal oder organismisch ist, gehört zur „Umwelt“ des Handlungssystems. Daraus ergibt sich nur eine scheinbar paradoxe Konsequenz: Der für die Soziologie als praktischer und angewandter Wissenschaft allgemeinste Gegenstand, die Gesellschaft der Menschen als nach außen abgegrenzte und selbstgenügsame Einheit, ist nicht „Umgebung“, sondern ein Teil des allgemeinen Handlungssystems. Genauer gesagt: Die Gesellschaft ist im Zusammenhang der Theorie des allgemeinen Handlungssystems eine spezielle Variante eines sozialen Systems und damit – gewissermaßen – der Teil eines Teiles des Systems des Handelns.14 Als ein solches soziales System bildet die Gesellschaft ihrerseits ein System; das heißt: eine Einheit von Subsystemen. Das sind – wir ahnen es schon – erneut wieder genau vier an der Zahl, die jeweils wieder für das System der Gesellschaft eine spezifische Funktion nach dem AGIL-Schema erfüllen. Die vier Subsysteme der Gesellschaft sind die Wirtschaft als das System mit der A-Funktion der Bereitstellung der Mittel aus der Umwelt für das Überleben des Systems; die Politik als dasjenige System, das die anzustrebenden Ziele jeweils definiert und vorgibt und somit die G-Funktion übernimmt; die gesellschaftliche Gemeinschaft als das Subsystem, das den Erhalt der Solidarität nach innen sichert und damit die I-Funktion wahrnimmt; und schließlich das sog. Treuhandsystem, dem die Kontrolle der Strukturen und Besonderheiten des Systems der Gesellschaft in Abgrenzung zur jeweiligen Umwelt und damit die L-Funktion zufällt.
Die vier Subsysteme Wirtschaft, Politik, gesellschaftliche Gemeinschaft und Treuhandsystem bilden die zentralen funktionalen Sphären einer Gesellschaft als soziales System nach Maßgabe des AGIL-Schemas. In ihnen „müssen“ sich die Akteure nach den jeweiligen funktionalen Imperativen richten, die 14
Vgl. Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften, München 1972 (zuerst: 1971), S. 12-29; Parsons 1975, S. 19ff.
Das System der normativen Orientierung
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dort als Oberziel des Handelns, jeweils abgeleitet aus der funktionalen Zuordnung des Subsystems, gelten. Die jeweiligen funktionalen Imperative A, G, I oder L sind damit die funktionalen Codes, über die das Handeln der Menschen dort jeweils seinen Bezugsrahmen und damit seine selektiven Standards der Orientierung, seinen subjektiven wie seinen sozialen Sinn findet (vgl. dazu auch noch Kapitel 8 und 9, sowie den Abschnitt 11.3 unten in diesem Band, sowie schon Abschnitt 2.1 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“ dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Gesellschaft ist als soziales System aber immer nur ein Teil des allgemeinen Handlungssystems. Als „soziales“ System ist sie daher immer umringt von drei anderen Systemen als ihre jeweiligen „Umwelten“ bzw. besonderen „Milieus“ (Parsons 1975, S. 21ff.): dem kulturellen, dem personalen und dem organismischem System. In ihrer Beziehung nach außen zu diesen Milieus bzw. Umwelten und damit im Rahmen des allgemeinen Handlungssystems hat die Gesellschaft als soziales System dabei die Funktion der Integration. Sie „besteht“ aber auch nur insoweit wie diese, von ihr selbst zu verantwortende und betriebene, Integration des Handlungssystems gelingt. Nach innen wird die Gesellschaft von ihrem eigenen Subsystem der gesellschaftlichen Gemeinschaft integriert. Die gesellschaftliche Gemeinschaft hat damit – gewissermaßen – eine doppelt-integrative Funktion für das allgemeine Handlungssystem: Sie integriert die Gesellschaft als dasjenige soziale System, dem seinerseits die Integration des Handlungssystems obliegt.
Das allgemeine Handlungssystem im System der Human Condition
Oben war schon im Zusammenhang der kybernetischen Kontrollhierarchie angedeutet worden, daß das allgemeine Handlungssystem seinerseits ein Subsystem eines noch allgemeineren Systems ist – das System der menschlichen Existenz. Diese Ideen breitet Parsons zum Ende seines Lebens in einem Buch mit dem jetzt einleuchtenden Titel „Action Theory and the Human Condition“ aus.15 Der Ausgangspunkt ist die naheliegende Überlegung, daß die Menschen nicht im luftleeren Raume handeln: „All students of human action have long been aware of the importance to human beings of the physical world, the organic world, and, though its status has been more controversial, the ‚transempirical‘ (telic) world, besides that of action itself in our technical sense.“ (Parsons 1978, S. 361; Hervorhebungen nicht im Original)
15
Talcott Parsons, Action Theory and the Human Condition, New York und London 1978.
72
Sinn und Kultur
Diese vier (!) Systeme bilden das System der Human Condition, dem Talcott Parsons jetzt den richtigen Bezugsrahmen geben will. Von „oben“ nach unten“: das telische System der letzten „grounding of social action“, das Handlungssystem als „symbolic organization“ der menschlichen Existenz, das System der organischen Welt als ihre „teleonomic organization“ und das physikochemische System als die „material basis for living systems“. Das Schema der vier Systeme der menschlichen Existenz sieht dann so aus (Abbildung 1.4):
telisches System
physikalischchemisches System
(L)
HandlungsSystem
(I)
(A)
organismischbiologisches System
(G)
Abb.1.4: Die vier Subsysteme der Human Condition und ihre funktionale Zuordnung (Parsons 1978, S. 361)
Wie könnten diese vier Systeme der Human Condition nun aber systematisiert werden? Sie haben es erraten: „It will be no surprise to followers of the theory of action that the framework chosen for this effort is the familiar scheme of four functional categories that we have been using in a variety of ways for more than twenty years.“ (Ebd.; S. 361)
Zum Verständnis dieser Systematisierung ist noch wichtig, daß die vier Systeme der Human Condition aus der Sicht der Menschen, aus einem „anthropocentric point of view“, unterschieden und systematisiert werden: die physische, die organische und die telische Welt so wie sie für die Menschen „Bedeutung“ hat. Es geht also bei den Systemen der menschlichen Existenz um das Wissen der Menschen über die funktionalen Aspekte der davon berührten
Das System der normativen Orientierung
73
„Umwelten“ ihres Daseins. Und so bekommt das System der conditio humana auch einen verständlichen Sinn. Anders wäre der Begriff der telischen Welt auch kaum ohne etwas metaphysische Annahmen zu rechtfertigen: „Accordingly, the paradigm categorizes the world accessible to human experience in terms of the meanings to human beings of its various parts and aspects. Since we are engaged in constructing scientific theory, the paradigm itself must be judged in terms of its cognitive meanings as a ‚contribution to knowledge‘ put forward by one set of human beings for consideration and evaluation by others who may be interested in it.“ (Ebd., S. 361f.; Hervorhebung im Original)
Die zentrale Frage für Parsons ist nun: Welche speziellen funktionalen Aufgaben haben die vier Systeme des Wissens über die menschliche Existenz? Parsons beginnt mit dem Handlungssystem (Parsons 1978, S. 362f). Er ordnet es der integrativen Funktion zu: Nur die Menschen und ihr Handeln bringen das Wissen über die drei anderen Systeme in eine Ordnung. Die physische Welt – bzw. das Wissen davon – wird der adaptiven Funktion zugeordnet: Sie ist die grundlegende Quelle aller Ressourcen, an denen die Existenz der lebenden Systeme hängt. Das organische System nimmt nach Parsons die Funktion der Zielerreichung wahr: Organische Systeme steuern und kontrollieren die physischen Prozesse. Bleibt noch das telische System – und eine der vier AGIL-Funktionen. Somit ergibt sich – wie Parsons selbst schreibt – die Zuordnung des telischen Systems der „letzten Werte“, an die die Menschen glauben, zur Funktion der Mustererhaltung L „by deductive logic alone“ (Parsons 1978, S. 363). Aber wohl nicht nur: Es ist schon sehr plausibel, den an letzten, unhinterfragbaren Dingen anknüpfenden Werthaltungen der Menschen eine solche steuernde, spannungsmindernde und orientierende Funktion zuzuordnen.
Deshalb stehen in Abbildung 1.4 auch schon die vier AGIL-Buchstaben neben den jeweiligen Subsystemen der Human Condition. Das Handlungssystem besteht aber – ebenso wie die anderen drei Systeme der Human Condition – bekanntlich selbst wieder aus vier, mit den vier funktionalen Grundproblemen betrauten Subsystemen: dem kulturellen, dem sozialen, dem personalen und dem organismischen Subsystem. Und wenn wir diese „Vertiefung“ des Handlungssystems (aus Abbildung 1.3) in das Modell der menschlichen Existenz (in Abbildung 1.4) eintragen, dann erhalten wir die Subsysteme im Kontext der Human Condition (vgl. Abbildung 1.5).16
16
Vgl. dazu auch die Zusammenfassungen bei Stefan Jensen, Talcott Parsons. Eine Einführung, Stuttgart 1980, S. 128ff.
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kulturelles System telisches System
Handlungs System
(L)
organismisches System
physikalischchemisches System
(A)
soziales System
(L)
(A)
(I)
(I)
personales System
(G)
organismischbiologisches (G) System
Abb. 1.5: Das System des Handelns im Kontext der Systeme der „Human Condition“
Die vier Subsysteme des allgemeinen Handlungssystems erfüllen im Kontext des Systems der menschlichen Existenz – und im Zusammenhang der Funktion des Handlungssystems natürlich auch – genau festgelegte Funktionen. Beispielsweise das personale System: Es hat für das Handlungssystem die Zielerreichungsfunktion G und darin für das System der Human Condition als Teil des Handlungssystems die integrative Funktion I (vgl. die AGILZuordnungen in den Klammern der jeweiligen Felder). Nun wird auch deutlich, was genau mit den beiden „angrenzenden“ Systemen im Modell des kybernetischen Austausches gemeint war: Das Handlungssystem grenzt mit seinem kulturellen Subsystem „nach oben“ an das telische System der „letzten Werte“ der menschlichen Existenz an; und mit seinem organismischen System „nach unten“ an das organisch-biologische System. Selbstverständlich könnte man sich jetzt daran machen, auch die anderen Felder des Systems der Human Condition weiter zu vierteilen und die entsprechenden funktionalen Zuordnungen vorzunehmen – immer tiefer in die Geheimnisse der einzelnen Subsysteme und der Logik des AGIL-Schemas folgend in Viererpotenzen rasch ins Aschgraue ausufernd. Das haben Talcott Parsons und nach ihm einige seiner Bewunderer dann in der Tat auch noch ausgiebig getan.
Das System der normativen Orientierung
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So wird beispielsweise von Talcott Parsons selbst das telische System in die vier Subsysteme „ultimate ground“, „ultimate order“, „ultimate fulfilment“ und „ultimate agency“ unterteilt; und das organische System in die Subsysteme „phenotypical organism“, „ecological adaptation“, „genetic heritage“ und „breeding population“ (Parsons 1978, S. 382). Richard Münch teilt in freier Parsons-Interpretation – zum Beispiel – das personale System aus dem Handlungssystem in die vier Subsysteme Ich, Es, Ich-Identität und Über-Ich auf (Münch 1982, S. 118). Er hat die Grundidee der funktionalen Vierteilung der menschlichen Existenz in Viererpotenzen besonders virtuos gehandhabt.
Die verschiedenen Felder der unterteilten Subsysteme der menschlichen Existenz bilden dabei den jeweiligen Handlungsraum für die Akteure: Sie geben den funktionalen Imperativ und damit den Bezugsrahmen an, unter dem die Situation jeweils definiert ist und an dem sich die Akteure orientieren „müssen“, wenn sie sinnhaft handeln wollen. Das ist Kern der handlungstheoretischen Überlegungen von Talcott Parsons im Anschluß an Emile Durkheim immer gewesen: Handeln erfolgt stets im Bezugsrahmen einer Orientierung an gesellschaftlich vorgegebenen normativen Standards. Und mit der funktionalen Aufteilung der Welt in beliebig tief gestaffelte AGIL-Handlungsräume gibt es auch ein fertiges und soziologisch begründetes System dieser normativen Vorgaben.
Exkurs über Talcott Parsons und andere, die nicht wußten oder immer noch nicht wissen, was eigentlich eine Handlungs„Theorie“ oder eine „Theorie“ überhaupt ist und was sie erfordert Wir sind damit an das Ende der Darstellung der Handlungstheorie von Talcott Parsons und der von ihm angemahnten Erweiterung der einfachen Nutzentheorie um den Aspekt der normativen Orientierung angelangt. Man kann schon ganz fasziniert sein von dem imposanten Gedankengebäude, vor dem man bei Talcott Parsons insbesondere in der Systematisierung der verschiedenen Handlungssphären der Gesellschaft und der zwischen ihnen vermittelnden, „interpenetrierenden“ Mechanismen und Prozesse steht. Und diese Faszination der Theorie des allgemeinen Handlungssystems wirkt – direkt und mittelbar – auch heute noch fort, wenngleich sie als Leitidee der aktuellen Soziologie oder gar der empirischen Forschungen längst vergangen ist. Diejenigen aber, die verstanden haben, worum es bei soziologischen Erklärungen geht, werden inzwischen wohl schon etwas ungeduldig geworden sein. Und das ist auch kein Wunder: In Abschnitt 6.9 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, war eine Liste von Anforderungen genannt worden, die als Voraussetzungen für eine erklärende Handlungstheorie genannt wurden. Darunter fällt auch die Anforderung, daß es ei-
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ne präzise Selektionsregel geben muß, die spezifiziert, welche Auswirkungen gewisse Variationen in den Randbedingungen der Theorie bzw. in bestimmten Kombinationen der Randbedingungen auf die Selektion des Handelns haben. Die Nutzentheorie benennt Erwartungen und Bewertungen als unabhängige Variablen und eine zwar einfache, aber sehr präzise Selektionsregel: die Maximierung des erwarteten Nutzens. Das machte sie – unter anderem – zur Handlungstheorie der Wahl im Modell der soziologischen Erklärung. Die Theorie des Handelns von Talcott Parsons, ist jedoch – von Beginn der VTA an bis in die Verästelungen des allgemeinen Handlungssystems – gar keine „Theorie“ des Handelns im Sinne der gesuchten Logik der Selektion. Warum das so ist, liegt eigentlich auf der Hand: Die VTA und das System des Handelns nennen zwar eine Reihe von – ohne Zweifel wichtigen und für eine „vollständige“ Theorie des Handelns wohl auch unaufgebbaren – Randbedingungen des Handelns – wie Ziele, Bedingungen, Mittel und normative Orientierungen. Auch werden Elemente genannt, die für eine Theorie der Selektion wichtig wären: Daß Akteure sich zwischen Alternativen zu entscheiden haben und daß es dafür Regeln und Standards gebe. Aber an keiner Stelle findet man einen Hinweis auf die funktionale Verbindung zwischen diesen Randbedingungen und der Selektion eines bestimmten Handelns. Sehen wir uns doch die VTA daraufhin noch einmal an! Das „formale“ Schema der VTA beschreibt am übersichtlichsten die für wichtig angesehenen Randbedingungen, von denen gemäß der VTA das Handeln der Menschen ausgeht. Mit der Nutzentheorie teilt die VTA die Elemente der Ziele (dort: die Bewertungen von Situationen über die Präferenzen) und das Wissen über Bedingungen und Mittel (dort: Erwartungen über die Kontrolle bzw. über die Geeignetheit von Mitteln zur Zielerreichung). Der wichtigste Unterschied in den Randbedingungen des Handelns bzw. den Variablen der Handlungstheorie liegt im Fehlen des Elementes der normativen Orientierung in der Nutzentheorie gegenüber der VTA, die dieses Element zwingend mit einschließt.
Aber nach welcher Regel selegieren die Akteure in der VTA – bei gegebenen Randbedingungen – dann das Handeln? Welches Gesetz des Handelns, welche Logik der Selektion, die doch für eine Theorie des Handelns unerläßlich wären, werden eigentlich genannt? Die Antwort ist erstaunlich: Nichts dergleichen. Talcott Parsons spricht zwar gelegentlich von der „Interdependenz“ der Elemente der VTA bei der Handlungsselektion. Aber wie diese genau aussehen soll, das verrät er an keiner Stelle – im übrigen auch nicht in den zahllosen Schriften zur Theorie des Handelns, die noch nach der „Structure of Social Action“ von Parsons und vielen anderen erscheinen sollten. Bis heute hat niemand aus dieser Schule gesagt, wie die funktionale Selektionsregel der VTA genau aussehen soll.
Das System der normativen Orientierung
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Das aber ist ein sehr schwerwiegender Mangel der VTA. Denn: Nur zu sagen, daß – etwa – das Handeln eine „Funktion“ von E, C, M und N sei und dann vielleicht noch zu schreiben: A = f(E, C, M, N), ist nur eine scheinpräzise Benennung der Variablen, aber noch keine funktionale Regel, die den Anforderungen an eine auch erklärende Logik der Selektion erfüllt. Dazu müßte nämlich eine präzise funktionale Beziehung zwischen den Variablen E, C, M und N einerseits und dem Handeln A andererseits angegeben werden. Und darin müßte – unter anderem – auch stehen, was geschieht, wenn die Ziele verlockend und die Mittel effizient sind, aber die Normen gegen die Mittelwahl sprechen und wenn sich dieses Mißverhältnis immer weiter gegen die „institutionalisierten Mittel“ verändert – wie beispielsweise in dem Modell des Anomieschemas von Robert K. Merton über die Innovationen der vom Aufstieg ausgeschlossenen Einwanderergruppen (in Kapitel 12 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Und genau dies ist das Hauptproblem mit der soziologischen Handlungstheorie – nicht nur bei Talcott Parsons: Sie macht sich große, tiefschürfende und ohne Zweifel auch interessante und wichtige Gedanken über die für das soziale Handeln und für die Erklärung von Ordnung bedeutsamen Randbedingungen. Aber sie gibt keine hinreichend explizite oder gar präzise Selektionsregel für die Handlungswahl unter variierenden Randbedingungen und unterschiedlichen „Interdependenzen“ von Zielen, Mitteln und normativen Orientierungen an. Kurz: Mit der VTA – und mit anderen soziologischen Handlungstheorien – kann man in der vorliegenden Form ein bestimmtes Handeln – leider – nicht erklären. Aber genau das wird von der Logik der Selektion gerade erwartet. Das ist ihre spezifische und unverzichtbare Aufgabe im Modell der soziologischen Erklärung. Es käme also darauf an, die in der VTA fehlende Selektionsregel noch zu benennen. Bei Talcott Parsons jedenfalls findet man eine solche nicht, und erst recht nicht in seinen späteren Arbeiten. Ohne Zweifel enthält die VTA im Anschluß an die Kritik der einfachen Nutzentheorie für den Prozeß der Selektion des Handelns gegenüber der einfachen Nutzentheorie wichtige Ergänzungen: Es gehören Orientierungen an unbedingten Standards sicher auch dazu. Und „vor“ jedes Handeln ist ein eigener Vorgang der Definition der Situation – die Selektion der dann handlungsleitenden normativen Standards – geschaltet. Aber ohne eine Regel, wonach diese Selektion der Standards erfolgt, wenn es – beispielsweise – in einer Situation einmal konkurrierende Möglichkeiten dafür gibt, wie dies ja bei den sog. Rollenkonflikten ständig vorkommt, ist diese Ergänzung auch wirkungsund damit nutzlos. Der Ausbau der Theorie des Handelns zu einer „System“-Theorie, zu einer umfassenden Klassifikation der äußeren und inneren Umwelten und „Milieus“ des Handelns – etwa im Schema des allgemeinen Handlungssystems und der Human Condition – löst das Problem der fehlenden Selektionsregel nicht. Es bleibt immer eine bloße, mit gewissen „funktionalen“ Etiketten versehene, Beschreibung des an sich trivialen Sachverhaltes, daß jedes Handeln von Ak-
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teuren mit einer gewissen Identität zu deren organismischer Bedürfnisbefriedigung in Interaktion mit anderen Akteuren ausgeführt wird und dabei von kulturellen Elementen durchdrungen ist. Das aber ist erst recht keine „Theorie“ des Handelns. Es ist auch keine System-„Theorie“. Theorien von Systemprozessen erfordern weit mehr als Vierfeldertafeln, begriffliche Etiketten und Pfeile nach oben und nach unten. Die Klassifikation der Lebewesen in ein Schema der Arten und der Umwelten, in denen sie leben, ist ja auch noch in keiner Weise eine theoretische Erklärung der Mechanismen wie diese Arten entstanden sind, sich als Organismen jeweils verhalten und sich als Populationen reproduzieren. Das wird jeder Biologe bestätigen, der nicht bloß mit einer Botanisiertrommel durch die Gegend läuft und anschließend seine Schmetterlinge unter Glas legt – vielleicht nach einem gewissen Vierer-Schema sogar. Es wird also nötig sein, für die von Talcott Parsons nicht zu Unrecht gegenüber der einfachen Nutzentheorie angemahnten Erweiterungen der Theorie des Handelns eine Regel der Logik der Selektion zu benennen. Und zwar eine solche, die nach den Regeln der Kunst erklären kann, warum sich die Akteure in einer Situation in unbedingter Weise an den Bezugsrahmen A und eben nicht an einen dazu alternativen Bezugsrahmen B – oder vielleicht sogar an gar keinen – orientieren. In Kapitel 7 unten in diesem Band werden wir dazu einen Vorschlag machen. Parsons hätte ihn begrüßen müssen, wenn er seine Formeln aus der VTA ernstgenommen hat – was wir hier einmal annehmen wollen.
Kapitel 2
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Aus Kapitel 8 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die sog. sozialen Drehbücher kennen wir einen gewissen Paul bereits, dem in einem Restaurant der Kellner ein Dessert servierte. Wir wollen annehmen, daß Paul dabei von einem anderen Gast versehentlich angestoßen wird und daß Paul dem Unglücksraben sofort und ohne weiteres Zögern seine geballte Faust entgegenstreckt. Was geschieht nun? George Herbert Mead hat die wohl übliche innere Reaktion auf eine geballte Faust so beschrieben: „Die ... geballte Faust ist der Anreiz für das andere Wesen, sich zu verteidigen oder zu flüchten.“1
Die geballte Faust ist also ein „Anreiz“ oder ein unmißverständliches Zeichen, das etwas bei den Akteuren auslöst. Und zwar: Sowohl ein Bild der gesamten Situation wie ein Modell des darin angemessenen, erwarteten, üblichen oder auch reflexartig ausgelösten Handelns. Die geballte Faust stellt eine Geste dar, die, so Mead, „den Inhalt der Handlung selbst“ in sich trägt: „Für den Beobachter bedeutet die Geste Gefahr und die Reaktion des Individuums auf diese Gefahr. Sie löst eine bestimmte Handlung aus. Wenn wir ein Bewußtsein annehmen, in dem der Reiz nicht nur in Form einer Empfindung, sondern auch in Form einer Idee auftritt, dann gibt es im Geist die Empfindung, in der dieser Reiz erscheint, ein Bild der geballten Faust, und außerdem die Idee des Angriffs. Man kann daher sagen, daß die geballte Faust, insoweit sie diese Idee auslöst, die Gefahr bedeutet.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Jetzt wäre wohl ein rascher Präventivschlag angeraten – oder aber die unverzügliche Flucht aus dem Lokal. Aber vor allen Gästen? In diesem vornehmen Etablissement? Und was soll denn die neue Freundin von mir – Paul – denken? Soll ich denn als Schlägertyp oder als Hasenfuß meinen Einstand bei ihr haben? Wäre nicht vielmehr eine beschwichtigende Entschuldigung erst einmal besser – zumal eine solche, die mich als welterfahren und cool ausweist? Und grinst der 1
George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt/M. 1973 (zuerst: 1934), S. 93; Hervorhebung nicht im Original.
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der andere nicht auch ein bißchen? Und auch das noch: Das ist ja Erwin, der alte Sportsfreund, dem ich so lange schon nicht mehr begegnet bin! Mit einer halb freundschaftlich, halb ernst geballten Faust haben wir uns doch auch nach den übelsten Tritten vors Schienbein immer wieder versöhnt! Und was als Versehen begonnen hatte, endet nicht als Schlägerei oder Flucht, sondern als ausführliche Wiedersehensfeier, bei der die mitgebrachten LebensabschnittsgefährtInnen langsam sauer werden und auch mit ihren immer intensiveren Gesten des Frustes und der Langeweile – vorerst – keine Chance haben.
Die kleine Szene ist eine Illustration für eine in der Soziologie durchaus verbreitete Handlungstheorie, die das Handeln – auf den ersten Blick wenigstens – nicht direkt über den Nutzen und nicht unmittelbar über die Normen, sondern über die symbolisch vermittelte Bedeutung des Handelns in einem vom Akteur als einsichtig und sinnhaft interpretierten sozialen Kontext erklärt. Zentral dabei ist der Vorgang der Interpretation der Situation: die Wahrnehmung und Beurteilung von Zeichen, insbesondere von Symbolen: Zeichen, die mit bestimmten „Ideen“ vorab typisierter Situationen assoziiert und von den Menschen – mehr oder weniger – geteilt und ähnlich verstanden werden. Das Handeln ist dann als eine selbst-„verständliche“ Fortsetzung einer ebenfalls als sinnvoll angesehenen Sequenz anzusehen – und eben nicht als Ergebnis einer kalkulierenden Nutzenmaximierung oder einer unbedachten Konformität zu Normen oder Standards der Orientierung.
2.1 Das normative und das interpretative Paradigma Die soziologische Schule, die das soeben skizzierte Handlungsmodell ausgearbeitet hat, bezeichnet sich selbst als interpretatives Paradigma (vgl. bereits Abschnitt 7.6 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ dazu). Der Ausdruck entstammt einem inzwischen als klassisch geltenden, programmatischen Artikel von Thomas P. Wilson.2
2
Thomas P. Wilson, Theorien der Interaktion und Modelle soziologischer Erklärung, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Band 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie, Reinbek 1973, S. 54-79. Nahezu alle Äußerungen des interpretativen Paradigmas gehen auf Überlegungen von George Herbert Mead zurück. Wir werden uns deshalb – in Fortführung und in Ergänzung einiger bereits in Kapitel 1 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ abgehandelten Einzelheiten – vor allem auf die Ideen von George Herbert Mead unmittelbar stützen. Eine vorzügliche Zusammenfassung der Konzeption von George Herbert Mead findet sich bei Jürgen Ritsert, Die gesellschaftliche Basis des Selbst. Entwurf einer Argumentationslinie im Anschluß an Mead, in: Soziale Welt, 31, 1980, S. 292ff. Vgl. auch Johannes Siegrist, Das Consensus-Modell. Studien zur Interaktionstheorie und zur kognitiven Sozialisation, Stuttgart 1970, S. 20ff. Zum Werk von Mead insgesamt vgl. die Zusammenfassung bei Hans Joas, Praktische Intersub-
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Der Hintergrund: Parsons und Homans Das interpretative Paradigma hat sich etwa Mitte der 60er Jahre in ausdrücklicher Reaktion auf bestimmte mechanistische Erklärungen des Handelns und unter Berufung auf einige etwas ins Vergessen geratene Gründerväter vor allem der amerikanischen Soziologie und Sozialpsychologie – William James, John Dewey, William I. Thomas, Charles H. Cooley und insbesondere: George Herbert Mead – herausgebildet. Gegen Ende der 50er und zu Beginn der 60er Jahre standen die strukturfunktionale Systemtheorie und das Konzept des Handelns als normative Orientierung von Talcott Parsons auf ihrem Höhepunkt (vgl. dazu auch schon Kapitel 1 oben in diesem Band ausführlich). George C. Homans setzte damals der funktionalistischen Systemtheorie die Idee der individualistischen Erklärung sozialer Prozesse entgegen. Und dem Konzept des Handelns als normativer Orientierung begegnete er mit der Hypothese, daß alles Handeln letztlich durch Reize in der Situation nach Maßgabe der vorausgegangenen Lern- bzw. Verstärkungsgeschichte ausgelöst werde (vgl. dazu bereits Abschnitt 6.1 und Kapitel 9 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das interpretative Paradigma ist eine Gegenreaktion auf beide Entwicklungen gewesen. Es entstand aus einem doppelten Unmut. Einerseits aus dem Unmut über die Vorstellung, daß die menschlichen Akteure als eigentlich nur ganz unbeachtliche Agenten der Systemprozesse auf der Makroebene anzusehen wären. Demgegenüber wird vom interpretativen Paradigma die Auffassung vertreten, daß „ ... menschliche Gruppen und Gesellschaften im Grunde nur in der Handlung bestehen und in Handlungskategorien erfasst werden müssen.“3
Kurz: Die Menschen machen ihre Gesellschaften, von denen sie selbst wiederum konstituiert werden. In dieser Hinsicht, daß es bei soziologischen Analysen einen systematischen theoretischen Bezug auf die Akteure geben muß, stimmen das interpretative Paradigma und die verhaltenstheoretische Soziologie eines George C. Homans also durchaus überein. Aber sie unterscheiden sich in der Art, wie dieser theoretische Bezug aussehen soll. Hierin seien sich – so das interpretative Paradigma – der Ansatz von Parsons und der von Homans ähnlich: In beiden Fällen würden die Akteure als mechanistisch reagierende Marionetten der Situajektivität. Die Entwicklung des Werkes von George Herbert Mead, Frankfurt/M. 1980; vgl. dort insbesondere die Kapitel 5, 7 und 8. 3
Herbert Blumer, Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Band 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie, Reinbek 1973, S. 85; Hervorhebungen im Original.
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tion aufgefaßt: hier der normativen Vorgaben des cultural system, dort der situativen Reize nach Maßgabe der Verstärkungsbiographien.
Das normative Paradigma In dem bereits erwähnten Artikel hat Wilson daher die beiden nichtinterpretativen Varianten unter eine Bezeichnung gebracht: das normative Paradigma. Die Grundannahmen des normativen Paradigmas lassen sich nach Wilson folgendermaßen zusammenfassen: Der Akteur ist einerseits mit bestimmten Dispositionen ausgestattet und andererseits bestimmten Erwartungen durch die soziale Umgebung ausgesetzt. Die Dispositionen umschreiben seine individuellen Bedürfnisse, Ziele und Einstellungen. Die Erwartungen sind die normativ definierten und institutionalisierten Erwartungen. Die sozialen Beziehungen sind durch diese normativen Erwartungen vorab strukturiert, insbesondere über die sozialen Rollen. Alle Probleme des sozialen Handelns werden vor diesem Hintergrund betrachtet – Konflikte zwischen normativen Anforderungen und das Problem des abweichenden Verhaltens insbesondere. Ferner werde im normativen Paradigma angenommen, daß alle Akteure eines Kollektivs bestimmte Symbole und die damit indizierten Bedeutungen, insbesondere in Form einer gemeinsamen Sprache, kennen und – vor allem – untereinander als kulturelles System teilen. Auch werde unterstellt, daß die Akteure aus Erfahrungen systematisch lernen: Gute Erfahrungen werden als Verstärkungen von Dispositionen gespeichert, schlechte führen zur Abschwächung oder gar zur Löschung. Und – ganz allgemein – seien die Akteure stets darauf aus, in der Situation – bzw. generalisierend über deren Wiederholung – ein Höchstmaß an Gratifikation zu erlangen. Und diese Annahmen teilen – so Wilson – sowohl die „soziologischen“ Varianten dieses Ansatzes – wie bei Talcott Parsons oder Edward A. Shils – wie auch die behavioristischen Ansätze der Handlungserklärung – wie sie etwa George C. Homans vorgeschlagen hat.
Die entscheidende Besonderheit des normativen Paradigmas ist jedoch die Art, in der die Akteure in einer Situation zu einer Definition der Situation und darüber dann zum Handeln kommen. Der Kern dieses Vorgangs ist eine als fix angenommene Verbindung zwischen den situativ vorhandenen Reizen bzw. den erkennbaren Symbolen, der Erkennung der Erwartungen und der Auslösung des Handelns durch die damit wieder verknüpften Dispositionen der Akteure. Die Erwartungen sind allein deshalb als fixiert zu betrachten, weil sie als ein sozial verbindlicher „Imperativ“ gelten, dem sich die Akteure nicht entziehen können. Die gelernten Dispositionen verbinden den Akteur schließlich fest mit dem Handeln. Sie bilden auf der Ebene des individuellen Akteurs die internalisierte Verknüpfung zwischen der vom Akteur identifizierten Situation und den darin verankerten sozialen Erwartungen. Weil durch diese beiden Fixierungen – eine soziale und eine individuelle Fixierung gleichzeitig – die Situation fest, gewissermaßen unter Ausschaltung des Akteurs als eigenständiger Entscheidungsinstanz, mit dem Handeln verbunden ist, werden die sozialen Strukturen auch direkt als
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Handlung H in Form einer „deduktiven“ Ableitung des Handelns aus der Regel mit dem Vorliegen der „Randbedingung“ von S gleichsam „logisch“ miterledigt: „Der Handelnde behandelt also spezifische Ereignisse als Beispielsfälle von Situationen und konkrete Verhaltensweisen als Beispielsfälle von Handlungen.“ (Wilson 1973, S. 57)
Kollektives Handeln ist dann nichts anderes, als ein durch eine Situation bei den Individuen eines Kollektivs gleichermaßen durch (Rand-)Bedingungen „ausgelöstes“ und so gleichförmig ausgeführtes Handeln. Alles, was der Soziologe nun noch wissen muß, sind die im Kollektiv institutionalisierten Erwartungen, der kognitive Konsens über die Symbole und die damit assoziierten Bedeutungen, sowie die internalisierten Dispositionen der Akteure. Über die individuellen Besonderheiten braucht man nichts weiter zu wissen. Die Akteure ähneln sich ja – in bestimmten Kollektiven einer gemeinsamen Kultur – in der Kenntnis der sozialen Erwartungen, dem symbolischen Wissen und den daran gebundenen Dispositionen zum Handeln ohnehin weitgehend.
Komplexe Situationen Für eine einfache, stabile und nicht-strategische Situation – wie etwa zu Zeiten des Wunders von Bern oder im beschaulichen Milieu des Fernsehhundes Lassie – ist dies ein durchaus brauchbares und erfolgreiches Modell der Handlungserklärung. Die Welt wurde aber – spätestens mit Elvis Presley und dem Hereinbrechen der Beatles und der Rolling Stones, mit den Schwabinger Krawallen, mit Benno Ohnsorge, mit dem Chaostheoretiker Heinrich Lübke und mit den bürgerlich gewordenen Sozialdemokraten in den 60er Jahren – komplizierter, als es die Annahmen des normativen Paradigmas erlaubten. Rollenkonflikte, nichtdefinierte Situationen, die „Individualisierung“ des Lebens, das Zerbrechen eindeutiger Spaltungslinien und konsistenter Lebenspläne und nicht zuletzt: die Zunahme von Optionen erzeugen – mehr oder weniger – komplexe, irritierende und unübersichtliche Situationen. Sie erzwingen mehr und mehr ein „reflektiertes“ und selegierendes, oft genug auch mit der Schlechtigkeit der Menschen strategisch „rechnendes“ Handeln. Kurz: Das normative Paradigma war auf eine Welt der übersichtlichen und wohlformierten, in stabil integrierte Sektoren unterteilten Gesellschaft zugeschnitten, in der die Menschen tatsächlich etwas marionettenhaft handelten – wie das die Familie Schölermann, die betuliche Lindenstraße der späten 50er Jahre, dem Adenauerland Ende der 50er Jahre vorführte. Aber diese Welt zerbrach zusehends. Und mehr und mehr wurde offenbar, daß die Menschen keine Marionetten und auch keine Deppen sind, die sich alles bieten lassen, was ein versteinertes kulturelles System ihnen vorschreibt. Und es zeigte sich auch, wie brüchig selbst internalisierte Normen sein können, wenn die Welt zerfällt, in denen diese Normen einmal ihren guten
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Sinn hatten, oder die Anreize und Komplikationen zunehmen, die sich der einfachen Normbefolgung in den Weg stellen.
Das interpretative Paradigma war die theoretische Antwort der Soziologie auf den offenkundig immer weniger anwendbaren Spezialfall, den das normative Paradigma unausgesprochen voraussetzte: massive ständische Elemente in einer nur formal modernen Gesellschaft (vgl. dazu auch schon die Einleitung in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die Grundidee Die Grundidee des interpretativen Paradigmas ist einfach: Situationen drängen sich dem Akteur nicht einfach auf, und das Handeln ist keine bloße Frage der Wiedererkennung von typischen Situationen, der „logischen“ Ableitung und mechanischen Ausführung des damit fest verbundenen Handelns. Sondern: Es ist ein „interpretativer Prozeß“ und im Grunde eine von den Akteuren bewußt reflektierte Entscheidung (Wilson 1973, S. 58). Das schließt zwei Formen der „Reflektion“ der in der Situation erkennbaren Bedingungen ein. Erstens: Wie ist die Situation eigentlich „definiert“ in dem Sinne, daß benennbar wird, welche Regeln gerade „gelten“? Und zweitens: Wie kann ich meine Erfahrungen und meine Interessen – meine Identität also – vor dem Hintergrund der bereits erkennbaren Definition der Situation dann noch einbringen und in einer möglichst günstigen Weise gestalten?
Drei Prämissen Freundlicherweise hat Herbert Blumer die nicht immer sehr transparenten Grundideen des interpretativen Paradigmas in einigen einfachen Grundsätzen zusammengefaßt (Blumer 1973, S. 81ff.). Der Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die Annahme, daß das Handeln der Menschen in dem fortwährenden Versuch bestehe, in den ununterbrochenen Strom ihres Tuns eine sinnvolle Linie, eine „Handlungslinie“, zu bringen: „Im wesentlichen besteht das Handeln eines Menschen darin, dass er verschiedene Dinge, die er wahrnimmt, in Betracht zieht und auf der Grundlage der Interpretation dieser Dinge eine Handlungslinie entwickelt.“ (Blumer 1973, S. 95; Hervorhebungen nicht im Original)
Die Grundelemente, aus denen sich der Akteur die Konstruktion eines Sinns des Handelns in einer solchen Handlungslinie zusammensetzt, sind seine
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„ ... Wünsche und Bedürfnisse, seine Ziele, die verfügbaren Mittel zu ihrer Erreichung, die Handlungen und die antizipierten Handlungen anderer, sein Selbstbild und das wahrscheinliche Ergebnis einer bestimmten Handlungslinie.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Bei wohlwollender Bereitschaft zu einer gewissen Abstraktion, lassen sich Übereinstimmungen sowohl mit der Nutzentheorie wie mit der normativen Theorie des Handelns feststellen: Das Handeln ist zielgerichtet und an dem erkennbaren sozialen Sinn der Situation orientiert. Diesen Sinn vor dem Hintergrund der Interessen und Ziele des Akteurs herauszufinden, ist die Leistung der Interpretation, die jedem Handeln vorausgeht. Es wird aber wie wir gleich sehen werden noch eine zweite Idee betont: die Vorstellung, daß letztlich alle Situationen, in denen die Akteure handeln, und alle deren Elemente – Optionen, Normen, Symbole und Bedeutungen – das Ergebnis vorausgegangener Interaktionen handelnder menschlicher Akteure sind – und eben nicht einfach: in Stein gemeißelte „Strukturen“, mit denen die Menschen nichts zu tun haben und mit denen sie sich nur „auseinander“setzen müßten. Diese beiden Grundideen präzisiert Herbert Blumer in drei speziellen Prämissen.
Die erste Prämisse: Die Bedeutung der Dinge Die erste Prämisse des interpretativen Paradigmas beinhaltet, „ ... dass Menschen anderen ‚Dingen‘ gegenüber auf der Grundlage von Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie haben.“ (Blumer 1973, S. 81; Hervorhebung nicht im Original)
Unter „Dingen“ wird dabei alles verstanden, was überhaupt wahrgenommen werden kann: Bäume oder Stühle, konkrete einzelne andere Personen und abstrakte Kategorien von anonymen Menschen, Institutionen, Handlungen, Ideen und auch die Situationen, in denen das „bedeutungsvolle“ Handeln stattfindet. Dinge, Menschen oder Handlungen sind für einen Akteur aber keine „objektiven“ Gegebenheiten, sondern verweisen immer auf etwas anderes und sind selbst Objekte von Verweisungen. Dies liegt daran, daß Menschen niemals in einer „objektiven“ Umgebung, sondern immer nur in einer subjektiven Sinnwelt leben, die sich aus der Bedeutung der Dinge für sie ergibt. In gleichen objektiven Umgebungen können Menschen ganz unterschiedliche subjektive Sinnwelten haben. Und daraus folgt, „ ... dass, will man das Handeln von Menschen verstehen, man notwendigerweise ihre Welt von Objekten bestimmen muss.“ (Ebd., S. 91; Hervorhebung nicht im Original)
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Dinge, Menschen oder Handlungen fungieren für die handelnden Akteure dabei immer auch als Anzeichen für bestimmte Bedeutungen und andere Sinnwelten. Und beim Handeln geht es insbesondere darum, die Beziehungen zwischen diesen Anzeichen bzw. den Symbolen und den dadurch angezeigten Bedeutungen zu erkennen und vor dem Hintergrund der eigenen Interessen zu handhaben. Die „Bedeutung“ – oder der „Sinn“; englisch: meaning – eines Symbols bedeuten dabei auch im deutschen Sprachgebrauch zweierlei: die hermeneutische Verständlichkeit des Symbols im Sinne seiner richtigen Einbettung in – meist auch: sprachliche und damit grammatikalische – Regeln, die der Akteur kennt und anzuwenden weiß. Und seine Relevanz für die Probleme, die der Akteur gerade zu lösen hat. Ein weiterer Gründungsvater des interpretativen Paradigma, Arnold M. Rose, drückt diesen Zusammenhang von Symbol, verständlicher Bedeutung und Relevanz so aus: „A symbol is defined as a stimulus that has a learned meaning and value for people ... . A meaning is equivalent to a ‚true‘ dictionary definition, referring to the way in which people actually use a term in their behavior. A value is the learned attraction or repulsion they feel toward the meaning.“4
Stets müssen sich die Akteure in Situationen also mit diesen Fragen auseinandersetzen: Was bedeutet dies hier alles? Was ist von Wichtigkeit für meine Ziele? Und was ist auf der Grundlage dessen und vor dem Hintergrund meiner Interessen und Ziele jetzt zu tun? Und nicht immer sind die Situationen in ihrer Bedeutung eindeutig und einfach zu beurteilen. Dies ist eine Konsequenz der grundsätzlichen Offenheit aller Situationen. Nie weiß man wirklich ganz sicher, woran man ist. Die stets vorläufige und auch immer wieder revidierbare Identifikation einer bestimmten Bedeutung ist in der Fiktion einer gemeinsam geteilten Handlungslinie die Grundlage eines jeden sinnhaften Handelns und einer jeden abgestimmten Kooperation.
Die zweite Prämisse: Bedeutung und Interaktion Die zweite Prämisse von Herbert Blumer besagt folgerichtig, daß die Bedeutung der Dinge, Menschen und Handlungen nicht fixiert ist, sondern aus den Interaktionen der Menschen heraus immer wieder neu konstruiert wird. Das interpretative Paradigma geht davon aus, 4
Arnold M. Rose, A Systematic Summary of Symbolic Interaction Theory, in: Arnold M. Rose (Hrsg.), Human Behavior and Social Processes. An Interactionist Approach, Boston 1962, S. 5; Hervorhebungen nicht im Original.
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„ ... dass die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht.“ (Ebd., S 81; Hervorhebungen nicht im Original)
Die wichtigsten Mechanismen dabei sind die Prozesse des Anzeigens von Zeichen, der Interpretation der angezeigten Absichten und das gedankliche Durchspielen alternativer Möglichkeiten von Interpretationen und Handlungen – in einem sequentiellen und prinzipiell endlosen Prozeß, in wechselseitiger und jeweils auch reflektierter Aktion und Reaktion. Die Abfolge des Anzeigens, der Interpretation, des Handelns, des erneuten Anzeigens, einer erneuten Interpretation – und so weiter – kann dann zu einer Konvergenz der wechselseitigen Deutungen und so auch zur Verschränkung der Perspektiven führen. Und auf diese Weise kann es durchaus wiederkehrende Situationen und dynamische Gleichgewichte von Situationsgenese, Interpretation von Bedeutungen und sinnhaftem Handeln geben, die äußerlich wie fixierte Strukturen aussehen. Es ist die Grundidee von der Konstitution eines sozial geteilten Sinns, etwa in Form von instituionellen Regeln oder kulturellen Modellen, über den Vorgang der symbolischen Interaktion (vgl. dazu bereits Kapitel 5 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie auch noch Abschnitt 2.5 in diesem Kapitel und Kapitel 12 weiter unten in diesem Band).
Die dritte Prämisse: Interpretation Der Prozeß der symbolischen Interaktion erklärt, wie eine bestimmte, „bedeutungsvolle“ Situation als kollektives Phänomen entsteht (vgl. dazu auch noch Abschnitt 2.3 unten). Die dritte Prämisse bezieht sich auf den Vorgang der Selektion des Handelns in einer zuvor entstandenen und so schon „bestehenden“ Situation. Sie lautet ganz einfach, „ ... dass diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozess, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Dies ist der eigentliche Kern der interpretativen Theorie des Handelns: der Vorgang des reflektierenden Umgangs mit den Umständen der Situation, der intentionalen Handhabung der Anzeichen und Symbole und der schließlichen Selektion einer dann handlungsleitenden, bedeutungsvollen und sinnhaften Interpretation (siehe dazu auch noch Abschnitt 2.2 unten in diesem Kapitel). Herbert Blumer legt großen Wert darauf, den Vorgang der Interpretation von zwei „traditionellen Wegen“ abzugrenzen, mit denen sonst die Herkunft der Bedeutung einer Sache erklärt
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wird. Dies sei einerseits die Auffassung, daß die Dinge ihre Bedeutung „immer schon“ in sich tragen: „So ist ein Stuhl eindeutig von sich aus ein Stuhl, eine Kuh eine Kuh, eine Wolke eine Wolke, eine Rebellion eine Rebellion und so weiter.“ (Blumer 1973, S. 82) Die Bedeutung geht in dieser Sicht also – sozusagen – vom Gegenstand selbst aus. Es dreht sich dann nur noch darum, diese verborgene Bedeutung aufzudecken. Die zweite Betrachtung verlegt die Bedeutung zwar nicht in die Dinge selbst, wohl aber in die fest mit ihnen assoziierten psychischen Empfindungen, die die Menschen an die Dinge herantragen.
Dies sieht das interpretative Paradigma ganz anders: Bedeutungen wohnen den Dingen nicht inne und sie erschöpfen sich auch nicht in fixen psychischen Dispositionen. Es sind vielmehr „ ... soziale Produkte, sie sind Schöpfungen, die in den und durch die definierenden Aktivitäten miteinander interagierender Personen hervorgebracht werden.“ (Blumer 1973, S. 83f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Bedeutungen werden also in einem interaktiven Prozeß geschaffen. Und der Kern dieses Prozesses sind die verschiedenen Akte der Interpretation der Situation durch die Akteure. Diese Interpretation wiederum ist ein eigener, reflektierter, intentionaler, durchaus auch bewußter Akt der Orientierung, ein Akt der „Definition“ der Situation durch den Akteur, der jedem dann sozial wirksamen Handeln vorausgeht.
Die subjektive Konstruktion der Wirklichkeit Menschen handeln also erst nach den Bedeutungen, die sie bestimmten Dingen zuschreiben. Die Bedeutungen entstehen aus einem Prozeß der sozialen Interaktion und werden vom einzelnen Akteur dabei jeweils in einem eigenen intentionalen Akt der Interpretation gebildet (vgl. dazu auch schon Kapitel 8 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über den Vorgang der Interaktion). Dies hat eine wichtige Folge für die Perspektive, mit der das interpretative Paradigma auf die Situation der Akteure und auf die Strukturen der Gesellschaft sieht: Da der gesamte Prozeß der Definition von Bedeutungen auf wechselseitigen Schlüssen aus zwar „angezeigten“, aber nicht sicher gewußten Absichten und Deutungen anderer Akteure besteht, können keine Interpretation und keine Interaktion jene eherne Sicherheit erlangen, von der doch bei der Verhaltenstheorie mit der Verbindung von Reiz und Reaktion, bei der Nutzentheorie mit Preisen und Einkommen und bei der normativen Handlungstheorie mit dem cultural system und dessen Symbolisierungen in Form von soziologischen Tatbeständen immer ausgegangen wurde. Noch einmal Thomas P. Wilson dazu: „Nach dem interpretativen Paradigma können daher, im Unterschied zum normativen Paradigma, Situationsdefinitionen und Handlungen nicht als ein für allemal, explizit oder implizit,
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getroffen und festgelegt angesehen werden ... . Vielmehr müssen Situationsdefinitionen und Handlungen angesehen werden als Interpretationen, die von den an der Interaktion Beteiligten an den einzelnen ‚Ereignisstellen‘ der Interaktion getroffen werden, und die in der Abfolge von ‚Ereignisstellen‘ der Überarbeitung und Neuformulierung unterworfen sind.“ (Ebd., S. 61; Hervorhebungen nicht im Original)
Die menschlichen Akteure kreieren, konstruieren und konstituieren sich die Situationen also letztlich immer wieder – in einem wechselseitigen Bestätigungs- und Veränderungsprozeß – selbst. Und sie gehen schließlich fiktional davon aus, daß ihr Handeln eine feste Grundlage hätte. Sich diese Fiktion stets wieder neu zu bestätigen, ist eine der wichtigsten Grundlagen eines geregelten Alltagslebens – und eine der erstaunlichsten Leistungen der Menschen angesichts der Brüchigkeit ihrer selbsterzeugten Sinnwelten. Die sog. Ethnomethodologie ist jene Variante des interpretativen Paradigmas, die sich dafür interessiert, wie die Menschen sich die Fiktion der Stabilität ihrer Alltagswelt immer wieder neu schaffen. In Kapitel 4 unten in diesem Band, über die Zerbrechlichkeit des Sinns, kommen wir darauf zurück.
Es ist dann vor allem aber das Symbolsystem der Sprache, das ununterbrochene Summen und Gemurmel der alltäglichen Konversation, das – gewissermaßen nebenbei und meist unintendiert – dafür sorgt, daß die Fiktionen der subjektiven Sinnwelten stabil bleiben. Mit Konversation und Sprechen versorgen sich die Akteure gegenseitig ununterbrochen mit Hinweisen auf die gerade geltende „Definition“ der Situation. Und so werden auch die stets prekären Interpretationen recht leicht und einfach aufeinander abstimmbar. Nicht aus Zufall hat die Analyse sprachlicher Konversationen im Rahmen des interpretativen Paradigmas bzw. der Ethnomethodologie eine besonders hohe Bedeutung bekommen.
2.2 Der Prozeß der Interpretation Der Ausgangspunkt auch der interpretativen Handlungstheorie ist eine inzwischen schon vertraute Gemeinsamkeit – fast – aller Handlungstheorien: Handeln ist der Versuch der Lösung drängender Probleme. Und diese drängen in der Tat fortwährend. Anders als bei den bisher behandelten Theorien des Handelns bzw. des Verhaltens, ist aber schon die Definition der Situation für den Akteur ein großes Problem. Und das hat zur Folge, „ ... dass das menschliche Individuum einer Welt gegenübersteht, die es, will es handeln, interpretieren muss, und nicht einer Umgebung, auf die es vermöge seiner Organisation reagiert. Es muss mit Situationen fertig werden, in denen es gezwungen ist zu handeln, indem es sich der Bedeutung der Handlungen anderer versichert und seinen eigenen Handlungsplan im
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Hinblick auf eine derartige Interpretation entwirft. Es muss seine Handlung aufbauen und steuern, anstatt sie nur in Reaktion auf Faktoren, die auf es einwirken oder durch es hindurch wirken, freizusetzen.“ (Blumer 1973, S. 94f.; Hervorhebung nicht im Original)
Und das heißt: Vor jeder „handelnden“ Problemlösung muß zuerst einmal das Problem der Interpretation gelöst werden. Wie aber geht das?
Das Finden einer Handlungslinie Ausgangspunkt des problemlösenden Handelns sind auch im Konzept des interpretativen Paradigmas die Bewertung gewisser Objekte einerseits und die Erwartungen über bestimmte Folgen des Tuns eines Akteurs andererseits. Herbert Blumer nannte ja schon die Wünsche und Bedürfnisse, die Ziele und die verfügbaren Mittel, die Handlungen und die antizipierten Handlungen anderer, das Selbstbild und das wahrscheinliche Ergebnis als Bezugspunkte. Dieses Tun muß aber, weil die Ziele, die Mittel, die Erwartungen und auch die Wünsche von zugeschriebenen Bedeutungen abhängen und deswegen eben vorher nicht immer schon festliegen, erst noch in eine einigermaßen konsistente Ordnung gebracht werden, bevor überhaupt gehandelt werden kann. Und das heißt: Der Akteur beurteilt die möglichen Bedeutungen, schätzt sie ab und wählt schließlich eine davon aus, die ihn zum Entwurf eines – mehr oder weniger weitreichenden – Plans für die zufriedenstellende Lösung des anstehenden Problems bringt. Vor das eigentliche Handeln ist also ein Prozeß geschaltet. Und dieser dem sichtbaren Tun vorausgehende Prozeß der inneren Interaktion ist es, was das sinnhafte und verständige „Handeln“ ausmacht: „In diesem Sinne ist der Mensch, der eine Interaktion mit sich selbst eingeht, nicht ein rein reaktiver, sondern ein handelnder Organismus – ein Organismus, der auf der Grundlage dessen, was er in Betracht zieht, eine Handlungslinie ausformen muss, anstatt nur eine Reaktion auf das Einwirken einiger Faktoren auf seine Organisation freizusetzen.“ (Ebd., S. 94; Hervorhebung nicht im Original)
Handeln ist also kein einfach durch Reize ausgelöstes, durch Faktoren bewirktes oder über Normen einfach gesteuertes, sondern ein vom Akteur auf die Verwirklichung von Zielen hin entworfenes, auf die Zukunft gerichtetes, planvolles Handeln. Und der Plan selbst entsteht erst in der Situation als Ergebnis eines interaktiven Prozesses der Interpretation – mit sich selbst. Herbert Blumer faßt den Vorgang der Interpretation in zwei Schritten zusammen: das innere Anzeigen verschiedener möglicher Bedeutungen und die schließliche Auswahl einer dieser Möglichkeiten.
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Der erste Schritt: Inneres Anzeigen Das innere Anzeigen meint nichts weiter, als daß der Akteur sich selbst auf die Objekte aufmerksam macht, die eine Bedeutung haben könnten. Dies hat man sich als eine Art innerer Kommunikation vorzustellen, bei der der Akteur mit sich selbst interagiert. Dies ist auch in der individuellen Erwägung keine einsame Angelegenheit. Jeder Akteur besitzt verschiedene soziale Selbste. Es sind die von ihm vermuteten Bilder, die andere Akteure von ihm in typischen Sektoren seiner sozialen Beziehungen haben, die Me’s also in der Terminologie von Mead (vgl. bereits Kapitel 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie noch Kapitel 8 unten in diesem Band über die Identität der Menschen). Die Person spricht sich im Vorgang des inneren Anzeigens gewissermaßen selbst in ihren verschiedenen Facetten ihrer Identität an: „Wir können eindeutig solch eine Interaktion in uns selbst wahrnehmen, da jeder von uns feststellen kann, dass er auf sich selbst ärgerlich ist, oder dass er sich selbst zu seinen Aufgaben antreiben muß, oder daß er sich selbst daran erinnert, dieses oder jenes zu tun, oder daß er zu sich selbst spricht, wenn er einen Handlungsplan entwirft.“ (Blumer 1973, S. 93)
Man könnte diesen Vorgang auch als Denken bezeichnen. Denken ist nach Auffassung des interpretativen Paradigmas „ ... the process by which possible symbolic solutions and other future courses of action are examined, assessed for their relative advantages and disadvantages in terms of the values of the individual, and one of them chosen for action.“ (Rose 1962, S. 12)
Denken ist ein Weg zum Finden einer „best solution“, wenn das umständliche Verfahren von Versuch und Irrtum zu riskant oder zu langwierig wäre (vgl. dazu noch Abschnitt 3.1 unten in diesem Band über „Das Wählen zwischen Handlungsentwürfen“). Mit dem Denken als innerer Kommunikation wird es möglich, dem Handeln in der Vorstellung einen Sinn in dem Sinne zu geben, daß es in zeitlicher Hinsicht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft übergreift und sachlich in eine verständliche und akzeptable Ordnung bringt: „Through thinking, man brings the imagined or expected future into the present, so that present behavior can be a response to future expected stimuli, and courses of action can be laid out for quite some time into the future ... . Present and future courses of action may be selected in terms of what the individual knows, or thinks he knows, about the past.“ (Rose 1962, S. 13)
Das Ziel des Denkens als innerer Reflexion von Möglichkeiten und Folgen ist aber nicht nur eine zeitliche und eine sachliche Ordnung des Handelns und der Situation, sondern vor allem auch die Herstellung einer sozialen Ordnung der gesuchten Handlungslinie. Die Reflexion der Situation bezieht immer auch
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das Handeln anderer Menschen ein – und zwar so, als ob diese ebenfalls ihrem Handeln eine sinnvolle Handlungslinie geben würden. Nur vor dem Hintergrund dieser Unterstellung wird die Projektion einer eigenen, als sinnvoll angesehenen Handlungslinie möglich.
Der zweite Schritt: Die Selektion einer Bedeutung Wie findet der Akteur diese Handlungslinie aber? Die Antwort: Im Reflexionsprozeß der inneren Kommunikation werden die verschiedenen, dabei entwickelten Hypothesen vor dem Hintergrund der jeweiligen Situation verglichen, zurückgestellt, umgruppiert und umgeändert. Dies ist ein „ ... formender Prozess, in dessen Verlauf Bedeutungen als Mittel für die Steuerung und den Aufbau von Handlung gebraucht und abgeändert werden.“ (Blumer 1973, S. 84; Hervorhebungen nicht im Original)
Aber nach welcher Regel? Hier wird das interpretative Paradigma undeutlich. Aber es lassen sich zwei verschiedene Arten der Selektion einer bestimmten Bedeutung unterscheiden: die dokumentarische Interpretation und die mit Gründen versehene Wahl. Die erste Variante ist etwas weniger aktivistisch als die zweite.
Dokumentarische Interpretation Die erste Art der Selektion von Bedeutungen sei – einem Ausdruck von Harold Garfinkel, einem der Hauptvertreter der bereits erwähnten Ethnomethodologie, folgend – als die Methode der dokumentarischen Interpretation bezeichnet.5 Der Begriff der Methode der dokumentarischen Interpretation geht auf den deutschen Wissenssoziologen Karl Mannheim zurück (vgl. Kapitel 4 unten in diesem Band dazu noch näher). Sie besteht darin, daß ein soziales Muster identifiziert wird, das einer Reihe von Einzelereignissen zugrundeliegt. Jedes Einzelereignis ist dann ein Hinweis, ein „Dokument“ für dieses allgemeine Muster. Mit der gelungenen Identifikation des Musters über ein solches Dokument wird das Muster selbst wieder bestätigt. Etwa: Ein Freund gilt solange ohne jeden Zweifel als Freund, wie er sich freundschaftlich verhält. Das Muster „Freund“ und seine erkennbaren „Dokumente“, die „freundschaftlichen“ Akte, bestärken sich also gegenseitig – so-
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Harold Garfinkel, Common Sense Knowledge of Social Structures: The Documentary Method of Interpretation in Lay and Professional Fact Finding, in: Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs, N.J. 1967b, S. 77ff.; Harold Garfinkel und Harvey Sacks, IV. Anhang: Zum Phänomen der Indexikalität, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973, S. 210ff.; vgl. auch Wilson 1973, S. 60f.
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lange keine besonderen Störungen auftreten, und der Freund beispielsweise das freundschaftliche Vertrauen mißbraucht.
Die wechselseitige Bestätigung von abstrakten vorgestellten Mustern und ihren konkret erlebten Einzelerscheinungen zu ganzen, dann fraglos geltenden gedanklichen „Gestalten“ führt zu dem Phänomen, das Harold Garfinkel als Indexikalität bezeichnet. Damit ist gemeint, daß jedes Einzelereignis einem bestimmten, aber über das Einzelereignis hinausweisenden, Kontext zugeordnet wird. In bezug auf diesen Kontext wird es also mit einem „Index“ versehen werden: Der Freund heißt Erwin-Kurt und gehört zur allgemeinen Klasse der Freunde, so wie sie in westlichen Gesellschaften als Muster für einen bestimmten Typ einer sozialen Beziehung definiert sind. Zwei Indizes sind also nötig: eines für Freund als allgemeines Muster; und der Eigenname für die konkrete Person, mit der ich so meine besonderen Erfahrungen habe, als spezielles Muster. Die Indexikalisierung verleiht dem Ereignis somit eine umschreibbare und von Bedingungen abhängig erscheinende Erwartbarkeit und gibt ihm somit einen „Sinn“.
Die Indexikalität der Einzelereignisse wird auf diese Weise zur Grundlage der subjektiven Ordnung des Alltags. Die Methode der dokumentarischen Interpretation ist der Weg dorthin. Die Menschen wenden sie fortwährend in der Interpretation der alltäglichen Situationen an. Die dokumentarische Interpretation bzw. die Indexikalisierung sehen auf den ersten Blick wie eine Art von automatischer Informationsverarbeitung und weitgehend reflexionsloser Wiedererkennung von Situationstypen aus – ein so gesehen recht passiver Vorgang, etwas in Widerspruch zu der ansonsten sehr aktivistischen Grundposition des interpretativen Paradigmas, das ja doch gerade davon ausging, daß die Definition der Situation eben nicht nur ein einfaches, reflexartiges Wiedererkennen von Grundmustern sei. Die dokumentarische Interpretation ist aber so auch nicht gemeint. Vielmehr besteht eines ihrer wesentlichen Merkmale darin, daß einmal gefundene Deutungen durch später auftretende Erscheinungen, immer zu einer Revision des zuerst selegierten Musters führen können: Der Freund, der jetzt schon wieder von mir Geld ausleihen will, wird so bald wohl nicht mehr unter dem Modell „Freund“ interpretiert, weil dieser Index zum Muster des Freundes nicht so recht passen will. Und wenn er jetzt noch einmal kommt, dann sehe ich auch seine Freundschaft von früher plötzlich in einem ganz anderen Licht: Die Freundschaft hat er wohl nur gesucht, um an mein Geld heranzukommen. Erbtanten und ältere reiche Gönner wissen hinterher nur zu gut, was mit dem Begriff der „Revision“ und „Reinterpretation“, von eimmal ganz anders gedachten und eigentlich für sicher gehaltenen Definitionen der Situation, gemeint ist.
Aber auch solche Revisionen können immer noch als vergleichsweise passive Reaktionen auf gewisse, das bisher unangezweifelte Muster störende Zeichen verstanden werden. Das innere Anzeigen ist dann also nicht viel mehr als das Einordnen der Zeichen und Symbole in den im Gedächtnis gespeicherten Satz typischer Situationen – mit eventuell auftretenden Komplikationen, die aber
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letztlich wieder durch das Zugreifen auf eine andere vorhandene Typik aufgelöst werden. So ganz wird sich die Idee von der dokumentarischen Interpretation also nicht davon befreien können, in einiger Nähe zum an sich doch so verdammten normativen Paradigma zu stehen. Und das ist auch nicht ganz unverständlich: Die Opfer der versteckten Kamera, wie die von Harold Garfinkel in ihren Krisenexperimenten, sind im Moment einer gestörten Indexikalität in der Tat ganz ratlos und wissen nicht, wie ihnen geschieht.
Gründe Die zweite Variante der interpretierenden Selektion von Bedeutungen knüpft wohl auch deshalb viel ausdrücklicher an das Konzept des reflektierenden und bewußten inneren Anzeigens an: Als Ergebnis der inneren Kommunikation bzw. des Denkens wird – aus einem vorgestellten Satz von Bedeutungsalternativen – jene Bedeutung selegiert, die den Wünschen des Akteurs vor dem Hintergrund der erkennbaren Umstände und möglichen Folgen am ehesten entspricht – oftmals unter deutlicher Änderung der jeweils „angebotenen“ Alternativen. Nicht zuletzt George Herbert Mead, auf den die geschilderten beiden Auffassungen zur Interpretation vor allem zurückgehen, hat den Vorgang der reflektierenden Bedeutungsselektion als „rationalen“ Vorgang angesehen – und auch ausdrücklich so bezeichnet. Die innere Kommunikation sei eng mit einem „Bewußtsein“ des Tuns verbunden: „Reflexion oder reflektives Verhalten entsteht nur unter der Voraussetzung, daß es ein Bewußtsein gibt, und ermöglicht die zweckorientierte Kontrolle oder Organisation des Verhaltens des einzelnen Organismus im Hinblick auf seine gesellschaftliche und physische Umwelt ... .“ (Mead 1973, S. 131; Hervorhebung nicht im Original)
Genau diese Art der reflektierenden Selektion mache den Unterschied der menschlichen zur tierischen Intelligenz und die Differenz des von ihm vertretenen „Sozialbehaviorimus“ zum einfachen S-R-Behaviorimus, etwa eines John B. Watson, aus: „Wir sagen gewöhnlich, der Mensch sei ein rationales Wesen, das Tier aber nicht. Zumindest was die behavioristische Psychologie betrifft, versuchte ich aufzuzeigen, daß wir bei dieser Unterscheidung an jene Merkmale denken, die zu der Reaktion führen, die wir einem Objekt gegenüber haben. Das Hinweisen auf die eine Reaktion auslösenden Merkmale ist genau dasjenige, was einen von einem Detektivbüro ausgeschickten Mann von einem Bluthund unterscheidet, der einen Mann verfolgt.“ (Ebd., S. 133)
Und worin liegt der Unterschied?
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„Der Unterschied zwischen der Intelligenz des Detektivs und der des Bluthundes liegt in der Fähigkeit des ersteren, die spezifischen Merkmale aufzuzeigen, die seine Reaktion, eben die Jagd auf den Mann, auslösen.“ (Ebd.)
Und das heißt: Der Detektiv kann für sein Tun bestimmte „rationale“ Gründe angeben, die ihn zu seinem Tun veranlaßten, als er die Verfolgung aufnahm. Das kann er, weil er sich diese Gründe innerlich vorher selbst vorgelegt und dann in einen Plan integriert hat, den er dann in seinem Tun verfolgt hat. Der Bluthund kann dagegen nur reflexartig seiner Nase folgen, wenn er auf die Spur gebracht wurde. Und er kann hinterher allenfalls nur böse knurren, wenn er die Belohnung nicht bekommt, nachdem er den Übeltäter gestellt hat. *** Will man den Unterschied zwischen der dokumentarischen Interpretation nach Garfinkel und der Interpretation als reflektierte, begründbare, rationale Wahl nach Mead bei der Selektion der Bedeutungen an dem Beispiel etwas übertreibend verdeutlichen, dann sieht Mead die Menschen also eher als Detektive, und Garfinkel eher als Bluthunde, freilich wohl solche Bluthunde, die sich hinterher immer noch wieder neu erklären können, warum sie in blindem Eifer der Spur nachliefen. Darüber denken sie aber erst nach, nachdem – unerwarteterweise! – die Wurst ausgeblieben war. Bei Mead macht sich der Detektiv schon vorher die Gedanken – auch darüber, daß alles schief gehen könnte.
2.3 Gesten und Symbole Die Interpretation einer Situation ist eine Selektion, die der Akteur in der Situation vornimmt: Die innere Entscheidung für eine bestimmte Bedeutung, die die Situation jetzt für ihn hat. Es ist der Vorgang der subjektiven Definition der Situation: die Auswahl eines vorgestellten „Modells“ der Situation und des darin angebrachten Handelns, auf der Grundlage der inneren und der äußeren Bedingungen der Situation – so wie dies in Kapitel 1 und 5 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ allgemein zusammengefaßt worden war. Die dafür vom interpretativen Paradigma vorgeschlagene Logik der Selektion bringt einen gegenüber der herkömmlichen Nutzentheorie und gegenüber der normativen Theorie des Handelns neuen Gedanken ins Spiel: Dem Handeln gehen – mehr oder weniger aktiv gesteuerte – kognitive und symbolvermittelte Prozesse voraus, über die erst festgelegt wird, was etwa in einer Situation als „nützlich“ anzusehen wäre oder was als „normativ“, als verbindlich zu gelten hätte. Insoweit handelt es sich in der Tat um eine andere Art der Handlungserklä-
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rung, als sie bisher vorgestellt wurden. Sie würde die Lücke schließen, die sich nach dem allgemeinen Modell der Situation aus Kapitel 1 und 5 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ noch auftut und die den Anlaß für diesen ganzen Band 6 der „Speziellen Grundlagen“ über „Sinn und Kultur“ geben hat: Nicht nur die Opportunitäten und die institutionellen Regeln, sondern auch – und vor allem! – der durch Symbole angezeigte Bezugsrahmen der Situation steuert die Selektion der Orientierung und des Handelns und die daran hängenden kollektiven Prozesse.
Diese Erweiterung scheint sich zunächst allein auf die Selektion des Handelns, in einer bestimmten Situation zu beziehen. Damit gibt sich aber das interpretative Paradigma – ähnlich wie Talcott Parsons mit seiner Theorie vom Handlungssystem – nicht zufrieden: es sollen nicht allein die Selektion des Handelns, sondern auch die Genese der Umstände erfaßt werden, die zu der jeweiligen Situation geführt haben. Das interpretative Paradigma besteht darauf, daß der Prozeß der Interpretation immer ein sozialer Vorgang sei, stets in einem ununterbrochenen Strom der Interaktion der Menschen stattfinde und auch nur so richtig verstanden werden könne. Diese Auffassung hat mit zwei weiteren wichtigen Besonderheiten des interpretativen Paradigmas zu tun. Erstens wird davon ausgegangen, daß menschliche Organismen die Fähigkeit der Empathie besitzen, daß sie also in der Lage sind, bei der Interpretation der Situation als innerer Kommunikation sich vorzustellen, was den jeweils anderen Akteur bewegt: Menschen können sich in andere Menschen gedanklich hineinversetzen und ihre Perspektiven, die Welt zu sehen, miteinander verschränken. Sie zeigen sich innerlich die möglichen Absichten und denkbaren Reaktionen der anderen an – und reagieren dann vor diesem Hintergrund. Und nicht nur das: Was die Menschen von sich selbst halten, ihre Identität also, ist zweitens weitgehend ebenfalls das Ergebnis eines inneren Anzeigens. Nämlich: Es ist ein Resultat der Vermutungen des Akteurs darüber, wie ihn aus seiner Sicht die anderen Akteure wahrscheinlich sehen. Und diese Vermutungen stammen aus den Reaktionen der anderen auf das Tun des Akteurs in vergangenen Situationen. Kurz: Die Fähigkeit zur Empathie bringt den Akteur zur gedanklichen Interaktion mit anderen Akteuren, gesteuert unter anderem von den Spuren vergangener Interaktionen in seiner Identität.
Man kann es auch so sagen: Die vermuteten Vorstellungen der jeweils anderen Akteure einerseits und das in der Vergangenheit aus den Reaktionen der anderen Akteure entstandene Selbstbild eines Akteurs ragen über die Verschränkung der Perspektiven in die aktuelle Situation unmittelbar hinein und steuern so den Prozeß der Interpretation, der jedes einzelne Handeln bestimmt, immer auch auf eine soziale Weise.
Der Strom des Handelns Normalerweise denken die Menschen in ihrem alltäglichen Handeln und der dabei ablaufenden Routine von Problemlösungen nicht besonders darüber nach, wie sie ihre Situation definieren und was sie tun sollen. Sie befinden sich viel-
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mehr in einem ununterbrochen scheinenden Strom einer – wie George Herbert Mead im Anschluß an William James und John Dewey sagt – ongoing activity. Dieser Handlungsstrom routinehafter Problembewältigung kann deshalb ganz ungestört ablaufen, weil sich die Aktivitäten meist bald in ein relativ gut abgestimmtes Gleichgewicht interaktiver Kooperation einpendeln, innerhalb dessen die Menschen ein sie zufriedenstellendes Auskommen finden. Kurz: Es werden Gleichgewichte der Reproduktion gefunden. Es bleiben aber auch bei solchen Systemen, aufeinander abgestimmter und sich selbst erhaltender Handlungsströme, stets immer nur die einzelnen Handlungen – die acts – der individuellen Akteure die Grundlage der Dynamik, die die diese Gleichgewichte – und eventuelle Abweichungen davon – steuern. Der Handlungsstrom mit seinen unzähligen aneinander anschließenden Einzelakten bewegt sich immer in den Bahnen der durch die Akte erzeugten Lust-Unlust-Erfahrungen und der damit verbundenen Bestrebungen, bei Deprivationen wieder zu einer befriedigenderen Situation zu kommen. Daß das gelingt, ist nicht selbstverständlich, geschieht aber gleichwohl erstaunlich oft und rasch. In jedem Fall ist es ein – mehr oder weniger langer – Weg von Versuch und Irrtum und wechselseitiger Anpassung mit zahllosen Irritationen, Seitenwegen, Sackgassen, oft aber auch überraschenden Auswegen und Lösungsperspektiven.
Gleichgewichte solcher Systeme von Handlungsströmen haben die Eigenschaft, daß nun die Akteure insgesamt für ihre Probleme eine hinreichend zufriedenstellende Lösung gefunden haben, daß jede Abweichung davon selbst als deprivierend erlebt und auch so antizipiert wird – und daß aus der Umwelt dieses Gleichgewichts tatsächlich keine besonderen Überraschungen mehr auftreten. Es kann dabei durchaus Variationen des genauen Verlaufs eines Handlungsstromes geben. Aber diese Abweichungen von der Normalität werden – gewissermaßen – bereits erwartet und gehören damit selbst zur Routine. Im Gleichgewicht gibt es also nichts, was jetzt noch besonders zu bedenken wäre. Über alternative Wege muß man nicht nachsinnen. Unnötige Sorgen braucht sich niemand zu machen. Innovation und Kreativität sind dann eher Gefahren für die gefundene Dauerlösung der Probleme. Und so verrinnen die Tage im trägen Strom der Interaktionsrituale des Lebens – solange nichts dazwischenkommt.
Problemsituationen Das Leben ist aber ein Abenteuer – in modernen Zeiten und in strategischen Situationen zumal. Überall lauern Überraschungen, die in der – mehr oder weniger – breiten Spanne des Handlungsstromes nicht vorgesehen sind. Und es sind solche tatsächlich unerwarteten Überraschungen, nicht die immer noch vorhandenen kleinen Mängel des Handlungsstromes, die die Menschen irritieren, frustrie-
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ren und ratlos zurücklassen und jenen trägen Strom des Alltagshandelns jäh unterbrechen. Ein Problem ist also nicht unbedingt ein „Problem“, das es zu lösen gilt. Das Alltagshandeln ist stets auch als Problemlösung um dauernd wiederkehrende Probleme herum organisiert. Ein „‚Problem‘“ ist vielmehr in diesem Sinne nichts anderes als eine derartige Unterbrechung eines an sich als weitergehend gedachten Handlungsstromes durch eine unerwartete Änderung oder Widerständigkeit im Handlungsfeld. In diesem Sinne sind auch freudige Überraschungen „Probleme“: Sie unterbrechen das stille Glück im abgeschiedenen Winkel des gewohnten Handlungsstromes. Wir kennen das alle: Gerade hat die Sportschau begonnen, draußen schellt es, und die Schwiegermutter steht vor der Tür. Welch eine Überraschung! Und was für eine Katastrophe! Nicht alle Lottogewinner sind mit dem vielen Geld zurandegekommen. Nicht jedes Paar hat die diversen freudigen Ereignisse unbeschadet überstanden. Und manch einer, der nicht damit rechnen konnte, ist über ein unerwartet gutes Examen fast an sich selbst verzweifelt.
Oft hat der Akteur sich die Überraschung und das Problem – unbeabsichtigt – selbst bereitet: Sein eigentlich ganz naiv gedachtes Handeln stellte für seine Umgebung einen Anlaß dar, die sie ihrerseits zu einer Reaktion brachte, die der Akteur jetzt als Widerständigkeit, als Unterbrechung, als Problemsituation erlebt. Und die Frage ist in allen diesen Fällen nur noch: Wie kommt es nach einer solchen Störung des Handlungsstromes wieder zu einem neuen Gleichgewicht.
Interaktive Anpassung Die Auflösung solcher Problemsituationen besteht darin, daß sich ein neues Gleichgewicht einstellt, bei dem eine durch einen Widerstand abgebremste Aktivität wieder in einem ununterbrochenen Handlungsstrom fortgesetzt werden kann – meist unter neuen Bedingungen nach einer entsprechenden wechselseitigen Anpassung der beteiligten Akteure. Das ist die Grundidee der interaktiven Anpassung lebender Organismen zu befriedigenden – und deshalb stabilen – Systemen wechselseitiger Kooperation und erfolgreicher Reproduktion in einer bestimmten Umgebung. Bei der interaktiven Anpassung menschlicher Akteure treten einige – beachtenswerte – Besonderheiten hinzu. Aber das Grundmodell bleibt das Gleiche: die Wiederherstellung eines Handlungsstromes permanenter Problemlösung nach Unterbrechungen durch unerwartete Ereignisse. Für nicht-menschliche Organismen läßt sich dieser Vorgang schon im Rahmen einfacher Reiz-Reaktions-Ketten rekonstruieren: Eine – irgendwie motivierte – „abweichende“ Reaktion eines Tieres wird für die anderen Tiere zum Reiz, der in ihnen eine Reaktion auslöst, die für das erste Tier selbst zum
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Reiz wird und eine erneute Reaktion auslöst – simultan für alle Tiere in einer Sequenz unendlich kleiner Anpassungschritte und Veränderungen bis ein neues, stets gefährdetes, Gleichgewicht wieder erreicht ist. George Herbert Mead hat diesen Gedanken wieder und wieder geäußert. Eine der vielen Stellen dazu lautet so: „Dabei ist der Beginn der Handlung des einen Tieres ein Reiz für das andere, auf eine bestimmte Weise zu reagieren, während der Beginn dieser Reaktion wiederum zum Reiz für das erste Tier wird, seine Tätigkeit auf die ablaufende Reaktion abzustimmen.“ (Mead 1973, S. 187)
In der Abendsonne tanzende Mücken halten, auch wenn der Abendwind die Randmücken jeweils etwas abtreibt, so ihren Schwarm interaktiv zusammen, weil alle Mücken sofort dahin streben, wo die meisten Mücken jeweils sind. Das geschieht ganz ähnlich wie bei Heringsschwärmen oder Fußballmannschaften der F-Jugend, die sich zwar in der Richtung etwas erratisch, aber in einem erstaunlich zusammenhängenden Schwarm durch ihr Medium bewegen, weil alle Individuen gleichzeitig und sequentiell und nach einer einsehbaren Regel aufeinander reagieren.
Gleichgewichte Oft gelingt nach der störenden Unterbrechung des ursprünglichen Gleichgewichts die „Vergesellschaftung“ rasch wieder: Die Organismen finden zu einem Zustand der wechselseitigen Reaktion, der für sie alle zufriedenstellend ist und der ihnen eine relativ problemfreie Reproduktion in der jeweiligen Umgebung erlaubt. Dies muß freilich nicht immer eintreten: Büffelherden geraten durch eine unvorsichtige Bewegung in eine Stampede – bis das Leittier nicht mehr kann und stehen bleibt. Und schon manche Demo ist aus dem Gleis geraten, weil ein unerfahrener Polizist eine unerwartete Unterbrechung der eigentlich bis dahin ganz friedlichen Gewaltrituale provozierte. Es kann also durchaus auch zu Eskalationen des Ungleichgewichts und zu einem Gleichgewicht einer unendlichen Geschichte wechselseitiger „Unterbrechungen“ kommen. Manche sogenannte Beziehungskiste hat diese unerfreuliche Sequenz-Struktur, wenn sich die beiden Akteure nicht trauen, endlich Schluß zu machen.
Mit dem Wiederfinden eines befriedigenden Gleichgewichtes kommt es zur Neuformierung von eingespielten und stabilen Mustern der Verhaltensformen der Organismen und ihrer Beziehungen. Hält das Gleichgewicht an, dann können diese Muster als relativ fixierte Verhaltensdispositionen von den Organismen gespeichert – „gelernt“ – werden. Solche, in ein Gleichgewicht von Interaktionen eingebetteten, erlernten und schließlich recht fixierten Dispositionen des Handelns sind als ein Element dessen anzusehen, was Mead
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tionen des Handelns sind als ein Element dessen anzusehen, was Mead das Me, das soziale Selbst, nennt (vgl. dazu bereits Kapitel 1 und 5 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie noch Kapitel 8 unten in diesem Band): typisierte Vorerwartungen für die Reaktion des anderen und der damit verbundenen eigenen Reaktion in einer bestimmten, durch typische „Reize“ angezeigten Situation. Es sind die inneren Einstellungen für die „Modelle“ bestimmter sozialer Beziehungen, die – neben den äußeren Bedingungen – die Definition der Situation leiten.
Gesten Die wechselseitige Abstimmung des Tuns geschieht über gewisse Gesten. Das sind typische Zeichen für typische Absichten und Reaktionsbereitschaften. Sie erlauben es, die jeweils eigenen Absichten anzuzeigen. Und sie können genutzt werden, um die Absichten des jeweils anderen zu erschließen. Das gilt, so Mead, für alle halbwegs intelligenten „Organismen“, die Menschen eingeschlossen (vgl. dazu bereits Abschnitt 8.2 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die „Symbolische Interaktion“). Die Beziehung zwischen den „Organismen“ besteht dabei in einer bestimmten, nicht-sprachlichen „Konversation“ über die Gesten. Und sie wird getragen von der fixierten Bedeutung, die die Gesten jeweils für die „Organismen“ haben.
Vokale Gesten Eine ganz besondere Art von Gesten sind die von Mead so genannten vokalen Gesten. Dies sind sprachliche Zeichen. Sie haben zunächst auch nur eine bloße Signalfunktion. Ihre Eigenart ist, daß sie aufgrund der Besonderheiten des menschlichen Sprech-Hörapparates besonders gut, genau und differenziert kontrolliert werden können. Deshalb bieten die vokalen Gesten besonders reichhaltige Möglichkeiten der interaktiven Gestenkonversation – selbst dann, wenn die Akteure den Sinn der ausgetauschten Laute nicht ganz verstehen.
„Vollständige Handlungen“ Das schließliche Resultat des gesamten Vorgangs einer interaktiven Abstimmung über Gestenkonversation – wie etwa hier: ein zusammenhängender Schwarm, eine freundliche Kooperation, eine Stampede oder eine blutige Keilerei – nennt
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Mead gelegentlich auch „vollständige Handlung“. Die Vorgeschichte dazu hin, ist nichts als eine „Vorbereitung“ zu dieser vollständigen Handlung: „So wird die vollständige Handlung vorbereitet, was schließlich zu jenem Verhalten führt, das das Ergebnis dieser Vorbereitung ist.“ (Mead 1973, S. 187)
Dieses Ergebnis haben – so nimmt Mead jedenfalls an – nicht-menschliche Organismen nicht im Sinn, wenn sie aufeinander reagieren. Das ist – wenigstens im Prinzip – für menschliche Akteure anders: Sie können sich gedanklich vorstellen, was sie mit einer bestimmten (Re-)Aktion anrichten können, wie die jeweils anderen reagieren würden und welches schließliche Resultat zu erwarten wäre. Die typischen Ergebnisse und den üblichen Weg dorthin haben sie in ihrem Gedächtnis gespeichert. Die jeweiligen Reaktionen sind für die menschlichen Akteuren also immer gleichzeitig auch Anzeichen für derartige mögliche „vollständige Handlungen“. Auf diese Weise kann es zu einer – nunmehr recht problemlosen – Orientierung an einem gemeinsamen Fixpunkt eines gemeinsam angestrebten Projektes kommen: Einer von den Akteuren in ihren Absichten gemeinsam gewollten, mit ihren Gesten gemeinsam gemeinten und mit ihrem Tun gemeinsam verwirklichten „vollständigen Handlung“.
Haltungen Solche „vollständige Handlungen“ sind der innere Bezugspunkt der Orientierung der Akteure. Mead spricht auch von der Haltung, die ein Organismus bzw. ein Akteur bei einer Handlung einnimmt. Bei nicht-menschlichen Organismen bestehen solche Haltungen in gewissen – mehr oder weniger fixierten – Reaktionsdispositionen bei Vorgabe eines Reizes: Hunde sind zornig und angriffslustig, wenn man sie lange genug ärgert. Aber sie haben wohl keine besondere Vorstellung von einer „vollständigen Handlung“ mit der Bezeichnung „Angriff“. Das ist bei Menschen und deren Haltungen anders. Hier umfassen die Haltungen manifeste Absichten, bestimmte „Ideen“, Projekte und Modelle bzw. die erwähnten „vollständigen Handlungen“. Und genau diese Ideen, fertigen Projekte und typischen Modelle sind es, die sich Menschen mit ihren Handlungen und ihren Gesten wechselseitig und innerlich selbst anzeigen. So war es Paul im Restaurant gegangen als er die geballte Faust erblickte: „Wenn ... jemand die Faust vor unserem Gesicht schüttelt, so nehmen wir an, daß er nicht nur eine feindselige Haltung ausdrückt, sondern daß dahinter auch noch eine Idee steckt. Man nimmt an, daß es nicht nur möglichen Angriff bedeutet, sondern daß dieser Mensch in seiner Erfahrung eine Idee hat.“ (Mead 1973, S. 84)
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Die „Idee“ ist das gedankliche „Modell“ der Situation und des darin angemessenen Handelns. Sie leitet alles, was jetzt noch kommt.
Signifikante Symbole Gesten, mit denen die Akteure eine „Idee“ über eine vollständige Handlung verbinden, werden von Mead als signifikante Symbole bezeichnet. Nichtmenschliche Organismen interagieren nur über Gesten, die deshalb für sie keine signifikanten Symbole sind, weil sie mit den Gesten keine „Idee“, sondern nur eine fixe Reiz-Reaktionsverbindung assoziieren. Signifikante Symbole ermöglichen den menschlichen Organismen die gedankliche Koordination über als „Idee“ aktivierte gemeinsame Projekte und erlauben damit eine unaufwendige Abstimmung auch sehr komplexer Handlungsabläufe. Die Sprache mit ihren „vokalen Gesten“ ist das wichtigste System signifikanter Symbole.
Sinn Die Fähigkeit, sich aufgrund von Anzeichen bzw. von, vor allem: vokalen, Gesten bestimmte Ergebnisse des Tuns vorzustellen und das Handeln auf geteilte Ideen interaktiv auszurichten, ist der Kern dessen, was Mead mit Sinn bezeichnet. Sinn ist in diesem Sinne eine dreistellige Beziehung: die Beziehung zwischen der Geste und einem ersten Organismus, die zwischen der Geste und einem zweiten Organismus und die zwischen der Geste und den anschließenden Handlungen – bis hin zur Vollendung einer „vollständigen Handlung“. „Sinn“ entsteht somit erst in dieser Dreierrelation: die anpassende Reaktion eines Organismus auf die Geste eines anderen Organismus mit der „Vollendung“ einer bestimmten Handlung. Insoweit kann es „Sinn“ also auch bei den Reaktionen nicht-menschlicher Organismen geben: „So ist z.B. die Reaktion des Kükens auf das Glucken der Henne eine Reaktion auf den Sinn des Gluckens; das Glucken weist je nachdem auf Gefahr oder Nahrung hin und hat für das Küken diesen Sinn oder diese Bedeutung.“ (Mead 1973, S. 116)
Kurz: „Sinn“ entsteht aus einem aus der Sicht der Organismen „sinnvollen“ und mit „Bedeutung“ verbundenen Reagieren auf Zeichen und aus der Funktionalität dieser Reaktionen für das Gelingen einer abgestimmten Reproduktion. Bei menschlichen Organismen kommt – lediglich! – noch die Besonderheit hinzu, daß diese dreistellige Relation durch die Aktivierung geteilter „Ideen“ mit Hilfe signifikanter Symbole und der Sprache besonders leicht und
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effizient gesichert werden kann. Aber das ist ja auch erforderlich: Der „Sinn“ der Gestenkonversation von Glucke und Küken wird ja – so kann vermutet werden – nur durch genetisch programmierte „Bedeutungen“ gesichert. Die Menschen mit ihrer Weltoffenheit benötigen die Sprache zur Erzeugung von Sinn, weil sie sich auf die Festigkeit der Instinkte bekanntlich nicht verlassen können.
Die Verschränkung der Perspektiven Warum die Sprache bei der Erzeugung von Sinn so effizient ist, wurde bereits angedeutet: Sie erzeugt „Ideen im Denken beider“ an einer Interaktion beteiligten Akteure. Dies ist etwas ganz anderes als das – auch heute noch gebräuchliche – Modell der sprachlichen Kommunikation als bloßer „Übertragung“ von Informationen von einem „Sender“ auf einen „Empfänger“ (vgl. dazu bereits Abschnitt 8.3 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die Kommunikation). Nämlich: Die Akteure verschränken mit der sprachlichen Aktivierung der jeweils gleichen Ideen ihre Perspektiven. Sie sehen sich selbst dadurch auch jeweils aus der Sicht der jeweils anderen und machen sich selbst – gedanklich – zum Objekt der Reaktionen der anderen. Und da dies wechselseitig und in Orientierung an gewissen Fixpunkten – den „Ideen“ über die „vollständigen Handlungen“ – geschieht, kann es auch zu einer – an sich ganz unwahrscheinlichen – allseits befriedigenden Koordination des Handelns kommen. Auf die Wichtigkeit von gedanklichen Fixpunkten für das rasche Finden eines Gleichgewichts von Handlungen sind wir bereits gestoßen: bei der Lösung des sog. Koordinationsproblems durch Koorientierung (vgl. Abschnitt 3.1 und 8.1 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Dort war auch schon der verborgene Hintergrund deutlich geworden: Die gemeinsamen Ideen sind Anhaltspunkte der individuellen Akteure, ihre eigenen Ziele besser erreichen zu können. Und sofern sie dazu die anderen brauchen, orientieren sie sich gern daran, was sie mit dem anderen gedanklich teilen. In gewissen Grenzen lassen sich hierdurch ja sogar Konflikte einvernehmlich lösen. Aber auch hier gilt: Die gedankliche Koordination funktioniert nur so lange, wie beide davon etwas haben.
Empathie und Sympathie „Sinn“ ist für die Koordination des menschlichen Handelns deshalb so bedeutsam, weil er – speziell in der Form der Erzeugung über signifikante Symbole – dadurch entsteht,
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„ ... daß sich der Einzelne dazu anregt, die Haltung des anderen in seiner Reaktion auf das Objekt zu übernehmen.“ (Mead 1973, S. 129)
Diese Fähigkeit der gedanklichen Übernahme des Standortes und der Haltung des anderen wird auch als Empathie bezeichnet. Es ist die gedankliche Leistung, sich in mögliche Absichten und Reaktionen anderer Akteure vorauseilend hineinzuversetzen. Der Begriff ist ganz neutral gemeint – so wie diese Fähigkeit auch zu guten wie zu bösen Zwecken genutzt werden kann. Sie ist zum Beispiel für Schachspieler und Feldherren unerläßlich, die ihr Spiel gewinnen wollen. Aber auch für liebende Paare, die sich wechselseitig die Wünsche von den Lippen abzulesen versuchen und darin finden, was sie sich wünschen. Unter Sympathie wird demgegenüber das affektiv gefärbte „Mitfühlen“ mit anderen verstanden. Das meint bereits: das Mitfreuen und das Mitleiden mit anderen – auch ohne selbst an den Umständen der Freude und des Leides selbst unmittelbar beteiligt zu sein. Adam Smith hat in seiner „Theory of Moral Sentiments“ dem Begriff der Sympathie seine besondere Bedeutung gegeben: Es ist der Gedanke an eine Empfindung, die man verspüren würde, wenn man in derselben Lage wäre, wie derjenige, den ich gerade beobachte. Sympathie rührt also ebenfalls – wie die Empathie – aus einer gedanklichen Leistung des Hineinversetzens in den anderen. Nun ist die gedankliche Einfühlung aber mit einem moralischen Urteil verbunden: die Billigung oder Mißbilligung eines Schicksals oder einer als richtig oder als ungerecht beurteilten Behandlung. Adam Smith beginnt seine „Theory of Moral Sentiments“ sogar so – und zwar als eine ihm ganz offenkundig wichtige, ja unerläßliche, Ergänzung seiner ansonsten ja durchaus utilitaristischen Ansichten über die menschliche Natur: „How selfish soever man may be supposed, there are evidently some principles in his nature, which interest him in the fortune of others, and render their happiness necessary to him, though he derives nothing from it except the pleasure of seeing it. ... . The greatest ruffian, the most hardened violator of the laws of society, is not altogether without it.“6
Für die bloße Abstimmung sozialer Handlungen ist Sympathie also nicht weiter wichtig. Es kommt nur auf das Eine an – um ein letztes Mal eine der unzähligen Stellen bei Mead dazu zu zitieren: „Insoweit der Einzelne ihn (den durch das signifikante Symbol angezeigten Sinn; HE) sich selbst in der Rolle des anderen aufzeigt, macht er sich dessen Perspektive zu eigen, und da er ihn dem anderen aus seiner eigenen Perspektive aufzeigt, das Aufgezeigte also identisch ist, muß es in verschiedenen Perspektiven auftreten können.“ (Mead 1973, S. 129)
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Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments, Oxford 1976 (zuerst: 1759), S. 9.
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Hier wird noch einmal deutlich, worin Mead den entscheidenden Punkt der interaktiven Abstimmung des Handelns sieht: in der als identisch aufscheinenden Idee bei den verschiedenen Akteuren. Die Idee kann deshalb als identische entstehen, weil sich mit Hilfe des signifikanten Symbols die Perspektiven der Akteure in einem Akt des empathischen gedanklichen Hineinversetzens verschränken.
2.4 Geist und Bewußtsein Wenn man das Konzept der interaktiven Anpassung soweit betrachtet, dann gibt es nur einen Unterschied zwischen der gestenvermittelten Interaktion und der Koordination über signifikante Symbole: Die Gestenabstimmung erfolgt „instinktiv“, die über signifikante Symbole über den Mechanismus der durch die Symbole ausgelösten Perspektivenverschränkung. Menschliche Interaktion würde damit zwar stärker auf gedanklichen Prozessen beruhen als die Formen der tierischen Gestenkonversation, aber es wäre auch eine reichlich mechanische Angelegenheit – zumal dann, wenn es die Ideen fix und fertig immer schon gibt. Genau das ist aber mit dem Konzept der symbolischen Interaktion nicht gemeint. George Herbert Mead betont immer wieder die prinzipielle Offenheit sowohl bei der Bedeutungszuschreibung, wie bei der schließlichen Selektion einer Handlung. Anders gesagt: Die Perspektivenverschränkung führt keineswegs zu einer fixierten, an einer geteilten Idee fest orientierten, Abstimmung. Mead begründet diese Besonderheit mit der typisch „reflexiven Intelligenz“ des Menschen bzw. mit der – grundsätzlichen – Bedeutung des „Bewußtseins“ bei allem seinen Tun. In der Prämisse 3 von Blumer, mit dem Konzept der Interpretation und dem Hinweis auf das Denken als innerer Kommunikation war darauf ja schon hingewiesen worden (siehe Abschnitt 2.2 gerade oben in diesem Band). Das Bewußtsein macht erst den Unterschied zwischen einem Detektiv und einem Bluthund aus.
Sozialbehaviorismus Kurz: Menschliches Handeln ist im Prinzip „bewußtes“ und an Folgen orientiertes, reflektierendes Tun. George Herbert Mead hat die von ihm entwickelte Theorie des Handelns auch als „Sozialbehaviorismus“ bezeichnet. Damit ist eine auf den ersten Blick widersprüchlich scheinende Kombination gemeint: die Anerkennung von Kategorien wie Sinn, Geist, Bewußtsein, Reflexion, Spontanität und Kreativität einerseits unter Beibehaltung des Anspruchs ande-
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rerseits, das Handeln der Menschen „kausal“ erklären zu wollen – und auch zu können. Menschliches Handeln ist als „geistiges Verhalten“ – anders als der einfache Behaviorismus meint – nicht auf bloße S-R-Assoziationen zurückführbar. Aber es bleibt – so Mead ganz nachdrücklich – als mit Sinn verbundenes Verhalten gleichwohl einem kausal-erklärenden Zugang offen: „Geistiges Verhalten kann nicht auf nicht-geistiges Verhalten reduziert werden, doch können geistiges Verhalten und geistige Phänomene durch nicht-geistiges Verhalten oder nichtgeistige Phänomene erklärt werden ... .“ (Mead 1973, S. 49)
Mead wirft seinem behavioristischen Kontrahenten also nicht vor, daß diese das Handeln der Menschen zu erklären versuchen. Das will er ja selbst auch. Er bemängelt vielmehr, daß der Behaviorismus dabei nicht genau genug vorgehe: Es gebe eine – erklärbare – zeitliche und sachliche „Organisation“ des Handelns vor der eigentlichen Ausführung und nach der Wahrnehmung bestimmter Umgebungsreize. Und diese „Organisation“ des Beginns und des Ablaufs eines Tuns finde intern im Akteur, genauer im „Zentralnervensystem“ statt. Diese interne Prüfung der Reaktion vor dem Hintergrund gegebener Reize sei das, was das spezifisch menschliche Handeln überhaupt ausmacht: die Fähigkeit, immer noch einmal eine Reflexionsschleife einzuschlagen, über eine Impulshemmung die Situation gewissermaßen einzufrieren und – mehr oder weniger bewußt – einen bestimmten Weg des Handelns nach einer eigenen Evaluation der Möglichkeiten auszuwählen. Als eines von vielen Beispielen beschreibt Mead die Situation eines Menschen, der bei einer Wanderung auf eine Kluft stößt, die er nicht überspringen kann (Mead 1973, S. 164f). Was geschieht? Als erstes wird die gesamte Aufmerksamkeit auf das durch die „Unterbrechung“ entstandene Problem gelenkt. Dann tritt der Akteur in eine Prüfung der Situation ein, bei der vergleichbare Situationen aus der Vergangenheit erinnert und erwägend herangezogen werden: Hier ist eine Stelle, da wird es etwas enger, dort ragt ein Baum hinüber und da hinten scheint es eine günstige Absprungstelle zu geben. Anders als ein Hund in ähnlicher Lage, der zwar nach Lösungen sucht, dies aber mehr oder weniger mechanisch tut, zeigt sich der Mensch innerlich an, was jeweils die Folge eines Versuchs wäre, ehe er ihn dann schließlich wagt oder verzagt abbricht – oder etwas ganz Neues erfindet: den Stabweitsprung zum Beispiel.
Kurz: Anders als ein nicht-menschlicher Organismus wird ein menschlicher Akteur durch die Erwägung der verschiedenen Möglichkeiten und durch die Reflexion eventueller Folgen aufgehalten: „Er erwägt alle möglichen Methoden, hinüberzukommen; er kann sie durch Symbole erfassen und zueinander in Beziehung setzen, um zu einer endgültigen Handlung zu gelangen. Der Beginn der Handlung ist in seiner Erfahrung gegeben. Es besteht bereits die Tendenz, eine bestimmte Richtung einzuschlagen, und was er tun wird, bestimmt bereits sein Verhalten.
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Und nicht nur diese Bestimmung ist in seiner Haltung gegeben, sondern auch das, was durch den Satz ‚dort ist es schmal, dort kann ich hinüberspringen‘ herausgegriffen wird. Er ist zum Sprung bereit, und dieser Reflex kann seine Tätigkeit bestimmen.“ (Mead 1973, S. 164)
Aber: Die „Reize“ der Umgebung lösen nicht einfach die „Reaktion“ des Sprunges nach den Regeln der Lerntheorie und unmittelbar aus – etwa die: Springe an der schmalsten Stelle, aber springe unbedingt! –, sondern die Umgebungsbedingungen werden als Indikatoren, als Anzeichen, als Symbole für die innere Prüfung möglicher Reaktionen „intelligent“ genutzt. Und folglich: „Die Symbole sind nicht einfach eine Konditionierung von Reflexen, sondern Möglichkeiten, jene Reize herauszugreifen, damit sich die verschiedenen Reaktionen in Form einer Handlung organisieren können.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Menschen sind also in der Lage, die Reize in einem eigenen Bewertungs- und Selektionsprozeß „herauszugreifen“ und auf ihre Folgen hin, man könnte fast sagen, zu gewichten – gerade so wie das etwa auch in der WertErwartungstheorie des rationalen Handelns angenommen wird.
Sechs Aspekte Sechs Aspekte des Bewußtseins bzw. der menschlichen Intelligenz sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung: Impulshemmung, Selektivität, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Intentionalität und Kreativität. Impulshemmung meint, daß Menschen auf Reize aller Art – auch auf Gesten und signifikante Symbole natürlich – mit Verzögerung reagieren und eine bis dahin übliche Reiz-Reaktions-Kette jederzeit unterbrechen können – was dann bei den anderen Akteuren meist zu Ärger führt, weil jetzt deren üblicher Handlungsstrom unterbrochen und die Problemsituation da ist. Selektivität bedeutet, daß Menschen grundsätzlich bei ihren Aktivitäten wählen können – auch bei den Interpretationen, die sie den erkennbaren Symbolen zuweisen. Das Gedächtnis ist wichtig, weil damit in der Vergangenheit erlebte Eindrücke auf aktuelle Situationen bezogen werden können und sich darüber gewisse Vorstellungen und Haltungen entwickeln können, die nichts anderes sind als „vorangegangene Erfahrungen“. Schließlich sind Menschen in ganz besonderer Weise befähigt, sich spezifischen Aspekten einer Situation mit besonderer Aufmerksamkeit zuzuwenden und andere Aspekte dabei gänzlich auszublenden. Auch dies kann also als ein selektiver Akt angesehen werden. Alle Selektionen – der Aufmerksamkeit, der Zuweisung von Bedeutungen, der Orientierung an geteilten Ideen wie der schließlichen Handlungen – unterliegen grundsätzlich der Intentionalität der Akteure: Die Aufmerksamkeit kostende
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Orientierung an signifikanten Symbolen erfolgt, weil die Aussicht auf Abstimmung eine Reihe von Vorteilen erwarten läßt. Der Abstimmungsprozeß gerade beim sozialen Handeln wird dadurch enorm verkürzt, und als Ergebnis ist ein zufriedenstellendes Kooperationsgleichgewicht zu erwarten. Aus dieser sog. „Motivationsgünstigkeit“ der erfolgreichen Abstimmung leitet sich dann auch die – oft als eigentümlich zwingend angesehene – Macht der Symbole ab. Es ist – wie Jürgen Ritsert dazu bemerkt – die „Problemlösungskapazität von Symbolen, die einen nicht unerheblichen Teil ihres Geltungscharakters ausmacht.“ (Ritsert 1980, S. 299)
Da insbesondere die sprachlichen signifikanten Symbole sich auf flexible Weise zu ganz neuartigen Konstellationen zusammenstellen lassen, erwächst gerade hieraus eine ständige Quelle der Innovation von „Sinn“: „Symbolisation schafft bislang noch nicht geschaffene Objekte, die außerhalb des Kontextes der gesellschaftlichen Beziehungen, in denen die Symbolisation erfolgt, nicht existieren würden.“ (Mead 1973, S. 117)
Diese grundlegende, in der „triebungebundenen“ Art der signifikanten Symbole verankerte, Kreativität in der Situationsdefinition – nicht zuletzt auch wegen der vielen möglichen anderen Selektivitäten – führt schließlich dazu, daß menschliches Handeln und die daraus entstehenden sozialen Systeme gelungener Abstimmungen nicht irgendwie bloß passiv „hervorgebracht“, sondern immer aktiv erzeugt werden.
Symbolisation, Bewußtsein und Rationalität Kurz: Menschliches Handeln ist – im Grundsatz – intentional-auswählendes, die Folgen reflektierendes und an einem möglichst „motivationsgünstigen“ Ergebnis orientiertes Agieren – gerade auch dann, wenn es um das Finden einer abgestimmten Lösung geht und wenn dabei signifikante Symbole und die Verschränkung der Perspektiven in geteilten Ideen den Prozeß anleiten. Mead führt für diese besonderen Fähigkeiten zum intelligenten interaktiven Verhalten eine Reihe von Einzelheiten des Funktionierens des menschlichen Zentralnervensystems an: „Intelligentes Verhalten ist der Prozeß, durch den eine Reaktion auf den Reiz der jeweiligen Situation in der Umwelt verzögert, organisiert und ausgewählt wird. Ermöglicht wird der Prozeß durch den Mechanismus des Zentralnervensystems, der es dem Einzelnen erlaubt, die Haltung des anderen gegenüber sich selbst einzunehmen und somit sich selbst zum Objekt zu werden.“ (Mead 1973, S. 140)
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Bewußt-intelligentes, auswählend-verzögerndes Handeln ist also auch Teil und Bedingung der empathischen Perspektivenverschränkung. Im Prozeß der symbolischen Interaktion kommt – sozusagen: sequentiell-simultan – beides zum Zuge: „Er (der Kommunikationsprozeß; HE) tut es dadurch, daß er uns jene Gesten bereitstellt, die durch ihre identische Wirkung auf uns wie auf andere die Haltung des anderen auslösen, die wir so weit übernehmen, wie wir dessen Rolle übernehmen. Die Haltung, den Sinn, erhalten wir innerhalb des eigenen Kontrollbereiches, und die Kontrolle besteht darin, daß wir alle diese möglichen Reaktionen kombinieren, um die neu entworfene Handlung auszustatten, die das jeweilige Problem erheischt.“ (Mead 1973, S. 138)
Das Bewußtsein mit seinen sechs Komponenten ist es dann vor allem, was das Handeln und Interagieren des Menschen vom Reagieren der Tiere unterscheidet. George Herbert Mead nennt derartiges Handeln auch „rational“. Hier wiederum nur eine der vielen Stellen dazu: „Was ist nun der Unterschied zwischen einer solchen Situation (nämlich: die eines Nüsse sammelnden Eichhörnchens oder eines jagenden Raubtiers; HE) und dem Verhalten des Menschen, der, wie wir sagen, rational handelt? Der grundlegende Unterschied liegt darin, daß der Mensch dieses Merkmal (die Objekte in der Situation; HE), wie immer es beschaffen sein mag, anderen Personen und sich selbst aufzeigt. Die Symbolisation durch diese aufzeigende Geste stellt den Mechanismus dar, der zumindest die Bestandteile des intelligenten Verhaltens liefert.“ (Mead 1973, S. 161; Hervorhebung nicht im Original)
Symbolisation, Perspektivenverschränkung, Intelligenz, Impulshemmung und die „Rationalität“ des Handelns bilden ganz offenkundig eine Einheit. Mead sieht sie als die Grundlagen des Handelns des Menschen und seiner Vergesellschaftung an.
Identität Die innere Instanz der Reflexion der Folgen und der Hemmung einer allzu direkten Ausführung von „Reaktionen“ nennt George Herbert Mead auch „Bewußtsein“ oder „Geist“ („mind“), allgemein aber Identität. Es ist der Satz der erworbenen „Einstellungen“ eines Akteurs über typische Situationen und typische – signifikante und generalisierte – „andere“ Akteure darin, mit dem er eine Situation betrachtet und sich dann, gesteuert über Anzeichen, Gesten und Symbole und auch das Handeln selbst, seine Linie des Handelns in Interaktion mit den anderen Akteuren sucht. Wir werden darauf noch in Kapitel 8 und auch 9 unten diesem Band ausführlich zurückkommen.
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2.5 Wiederkehrende Situationen Handeln ist in der Sicht des interpretativen Paradigmas immer eine über Zeichen und deren Interpretation jeweils neu gesteuerte, Sinn verwendende und Sinn herstellende „symbolische“ Interaktion. Es wird nicht durch Regeln geleitet, die irgendwie schon „vorher“ bestanden hätten. Die Regeln, denen das Handeln folgt, werden in der Sicht der interpretativen Handlungstheorie grundsätzlich immer erst in den Interaktionen selbst geschaffen. Es gibt keine „Strukturen“, die nicht in jedem Moment von handelnden und interpretierenden Akteuren immer wieder neu erzeugt werden. Institutionelle Regeln und soziale Strukturen ganz allgemein bestehen also nicht irgendwie „unabhängig“ von den menschlichen Akteuren, sondern immer nur im Vollzug, Anzeigen, Interpretieren und erneutem Vollzug des Handelns: „Es ist der soziale Prozess des Zusammenlebens, der die Regeln schafft und aufrechterhält, und es sind nicht umgekehrt die Regeln, die das Zusammenleben schaffen und erhalten.“ (Blumer 1973, S. 99)
Gleichwohl kennt die interpretative Handlungstheorie durchaus auch typische und wiederkehrende und die Akteure leitende Situationen – wie etwa einen Parteitag, einen Frisiersalon oder eine Schlange vor der Kaufhofkasse.
Gemeinsame Handlungen Herbert Blumer sieht in den – von ihm so genannten – „gemeinsamen Handlungen“ solche festeren Kerne der symbolischen Interaktion. Hier finden sich die Akteure zu Tätigkeiten zusammen, die sie einzeln nicht unter Kontrolle haben: „Eine gemeinsame Handlung unterscheidet sich, obwohl sie aus verschiedenen Teilhandlungen, die in ihre Entstehung eingehen, aufgebaut ist, von jeder einzelnen von ihnen wie auch von ihrer reinen Zusammenfassung. Die gemeinsame Handlung hat einen spezifischen eigenständigen Charakter, einen Charakter, der in der Verbindung und Verknüpfung selbst begründet ist, unabhängig von dem, was nun verbunden oder verknüpft wird.“ (Blumer 1973, S. 97; Hervorhebungen nicht im Original)
Solche gemeinsamen Handlungen konstituieren somit relativ eigenständige, von den Akteuren als Ablauf gewußte und schließlich als eigenständig behandelte „Modelle“ typischer Situationen: „Aus diesem Grunde kann die gemeinsame Handlung als solche bestimmt werden, man kann über sie sprechen und mit ihr umgehen, ohne dass sie in die einzelnen Handlungen, die sie ausmachen, zerlegt werden müsste.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
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Eine „gemeinsame Handlung“ ist also eine „Handlung“ in dem Sinne, wie wir von Mustern vorgestellter typischer Abläufe in Abschnitt 6.1 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, und in Kapitel 8 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ gesprochen haben: ein Modell, ein Projekt, ein soziales Drehbuch eine „vollständige Handlung“ für typische Situationen – vorher von den Akteuren gewußt und in der Situation von ihnen als Handlungslinie beachtet und ausgeführt.
Soziale Gebilde Über wiederkehrende typische Situationen entwickeln sich dann allmählich typisierte und für ganz selbstverständlich gehaltene Erwartungen. Bei solchen – immer nur: vorgestellten! – Abläufen und sozialen Gebilden bedarf es also keiner besonderen Kenntnis über konkrete einzelne Akteure, um zu wissen, woran man ist: „Genau so gehen wir vor, wenn wir von solchen Dingen wie Heirat, einem Handel, einem Krieg, einer parlamentarischen Diskussion, oder einem Gottesdienst sprechen. Entsprechend können wir von einer Gesamtheit sprechen, die gemeinsames Handeln eingeht, ohne die individuellen Mitglieder jener Gesamtheit bestimmen zu müssen, wie wir es zum Beispiel tun, wenn wir von einer Familie, einer Handelsgesellschaft, einer Kirche, einer Universität oder einer Nation sprechen.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Die verschiedenen sozialen Gebilde sind also nichts anderes als „Ensembles“ von Akteuren, die sich in typischen Situationen zu gemeinsamen Handlungen zusammenfinden, die Situation als eine „typische“ wechselseitig interpretieren und definieren – und dadurch, daß sie ihr Handeln daran orientieren, die betreffenden sozialen Gebilde immer wieder neu konstituieren (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“ dieser „Speziellen Grundlagen“). Deshalb wird im interpretativen Paradigma die Gesellschaft der Menschen auch als nichts anderes als eine gigantische und ununterbrochene Konstruktion der Menschen verstanden, die sie tagtäglich in Myriaden von Einzelhandlungen, Interpretationen und Interaktionen immer wieder neu konstituieren: „Dieser Ansatz (der Symbolische Interaktionismus; HE) betrachtet eine menschliche Gesellschaft als die Zusammenfassung von Personen, die am Leben teilnehmen. Solch ein Leben ist ein Prozess fortlaufender Aktivität, in dem die Teilnehmer in den mannigfachen Situationen, denen sie begegnen, Handlungslinien entwickeln. Sie sind in einem unermesslichen Interaktionsprozess eingefangen, in dem sie ihre sich entwickelnden Handlungen aneinander anpassen müssen. Dieser Interaktionsprozess besteht darin, dass sie den anderen anzeigen, was sie tun sollen, und indem sie selbst das von den anderen Angezeigte interpretieren.“ (Ebd., S. 101)
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Nicht also die Gegenstände der soziologischen Analyse sind im interpretativen Paradigma anders als im normativen, sondern die Art der Erklärung, wie die festeren sozialen Gebilde sich konstituieren, funktionieren und sich wandeln, und wie ein in typische Situationen kristallisiertes soziales Handeln zustandekommt: „Man sollte erkennen, was richtig ist, dass nämlich die mannigfaltig zusammengesetzte Gruppe von Teilnehmern, die in dem Netzwerk unterschiedliche Positionen innehaben, ihr Handeln in diesen Positionen auf der Grundlage der Benutzung gegebener Sets von Bedeutungen eingeht. Ein Netzwerk oder eine Institution funktioniert nicht automatisch aufgrund irgendeiner inneren Dynamik oder aufgrund von Systemerfordernissen; sie funktionieren, weil Personen in verschiedenen Positionen etwas tun – und zwar ist das, was sie tun, ein Ergebnis der Art und Weise, in der sie die Situation definieren, in der sie handeln müssen.“ (Ebd., S. 100; Hervorhebungen nicht im Original)
In den typischen Situationen des „gemeinsamen Handelns“ und in den „Gesamtheiten“, die daraus entstehen können, gibt es also durchaus auch so etwas wie „vorab“ definierte Positionen und daran fixierte Erwartungen. Die sozialen Rollen sind der wohl wichtigste Fall davon. Rollen sind in der Sicht des interpretativen Paradigmas zusammenhängende Muster von „Bedeutungen“, die die Akteure in der Situation freilich immer wieder neu erzeugen (vgl. dazu bereits das Konzept der Rollenübernahme in Abschnitt 7.6 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Anders aber als in der Sichtweise des normativen Paradigmas steuern die institutionellen Regeln der Rollen das Handeln nicht „von oben nach unten“ und sie wirken auch nicht in der Art der „Interpenetration“ oder der unausweichlichen Auferlegung, wie dies die normative Handlungs(system)theorie von Talcott Parsons nahelegt. Sie sind vielmehr – lediglich! – Anhaltspunkte für den Vorgang, den das interpretative Paradigma so betont: die in einem inneren Reflexionsvorgang immer noch einmal bedachte Auswahl einer Definition der Situation.
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Exkurs über das Verhältnis von Nutzen, Normen und Bedeutung Die interpretative Handlungstheorie hat sich selbst als eine solche stilisiert, die nichts, aber auch gar nichts mit den anderen Theorien des Handelns zu tun habe: Weder Nutzen und Kosten, noch Normen und Werte, sondern allein die Interpretation der Bedeutung von Zeichen steuern das Handeln und darüber alle sozialen Prozesse. Wieder aber müssen, wie schon an Parsons und an das normative Paradigma, die unangenehmen Fragen der erklärenden Soziologie gestellt werden: Welche Selektionsregel wird eigentlich genannt? Und ist eine Verbindung zu den anderen Handlungstheorien wirklich unmöglich? Und in der Tat suchen wir auch bei der interpretativen Handlungstheorie vergeblich nach einer expliziten Selektionsregel. Implizit ist diese Regel aber umso eindeutiger: Die Interpretation von Zeichen und die subjektive Definition der Situation ist eine Frage der Wahrscheinlichkeit und der „Motivationsgünstigkeit“: Es wird die Interpretation selegiert, die angesichts der vorhandenen Anzeichen am mühelosesten, mit einem im Gedächtnis gespeicherten „Modell“ zu verbinden ist. Und von den verschiedenen, gleich wahrscheinlichen Varianten wird dann diejenige selegiert, die die in der Situation sozial „sinnvollste“ zu sein scheint. Diese Orientierung am sozialen Sinn ist dann auch der Kern, der die Akteure zur Empathie motiviert: Es ist schon in ihrem Interesse, sich an den Vorstellungen der anderen Akteure zu orientieren. Dieses Interesse stellt auch sicher, daß die Wahrnehmungen und die Deutungen eben – trotz aller aktiven interpretativen und somit „konstruktiven“ Leistungen – in der Regel nicht von den sozial eingespielten Mustern des Alltagslebens abweichen. Das gilt für die Sicht der externen Situation wie sogar für den Bereich, den man in der Interpretation noch am ehesten unter seiner Kontrolle zu haben glaubt: das Bild seines Selbst. Weil die sozial korrekte Wahrnehmung und Interpretation auch des Selbst ein hohes Gut für ein mittelfristig erfolgreiches Handeln ist, kommen realitätsferne Umdeutungen erst dann in Frage, wenn die „Realität“ so wichtig nicht mehr ist oder ganz besonders unangenehme Seiten bekommen hat. Kurz: Es ist von hohem Nutzen, die Situation sozial korrekt zu interpretieren. Und manchmal lohnt es sich auch, die Gedanken des anderen lesen zu können und etwas an Reflektion in das „Verstehen“ der anderen zu investieren. Im eigenen Interesse! Jetzt werden, wie man sieht, plötzlich auch die Normen wieder interessant. Sie sind ja nichts anderes als Modelle eines sozial erwarteten Handelns, von denen man ausgehen kann, daß sie allgemein bekannt sind und eine gewisse
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Verbindlichkeit haben. Normen können so zu hilfreichen und oft dringend gesuchten Anhaltspunkten für die interpretativen Überlegungen werden, welche „Bedeutung“ die Situation gerade habe. Das ist noch stark untertrieben: Es sind die wohl wichtigsten Hinweise auf die jeweils „korrekte“ Definition der Situation. Und die Akteure wären ganz schön dumm, wenn sie diese Hinweise nicht nutzen würden – natürlich auch dann, wenn sie die Normen nicht internalisiert und auch vor den Sanktionen keine besondere Furcht haben. Normen dienen somit der Interpretation und der subjektiven Definition der Situation und werden so auch von den Akteuren gerne genutzt. Wegen der besonderen Verläßlichkeit von Normen als Modellen der Situation und als Anzeichen für erwartete Erwartungen gibt es meist auch keine andere vernünftige Wahl, als sich an ihnen zu orientieren. Weil sich die Menschen gegenseitig unterstellen, daß dies so ist, halten sie sich auch daran. Die Normen determinieren das Handeln also nicht, aber sie beeinflussen es dadurch, daß der Akteur sie klugerweise als Hinweis nutzt (vgl. dazu auch schon Abschnitt 9.6 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die Organisation als Handlungsfeld). Menschen sind in der Tat keine Deppen, die blind den Normen folgen. Sie wären aber auch schön dumm, die Normen und institutionellen Regeln zu ignorieren, wenn davon auszugehen ist, das es sie gibt und sie Geltung haben.
Kapitel 3
Der Horizont der Welt
Der Alltag der Menschen ist – gottlob – meist eine wenig aufwendige und nur mäßig aufregende Sache: Die Dinge greifen nahezu unmerklich ineinander über, und es gibt – zum Glück – meist wenig Anlaß sich zu wundern oder zu sorgen. Sie werfen beispielsweise abends einen Brief in den nahegelegenen Postkasten – und gehen dabei ganz selbstverständlich davon aus, daß der Kasten geleert, der Brief richtig sortiert und pünktlich an den Adressaten ausgeliefert wird. Nachgedacht, entworfen, gezweifelt und „entschieden“ wird dabei nicht viel. Ganz im Gegenteil: Sie suchen, während Sie noch mit einer Hand die Klappe des Kastens öffnen, schon ganz mechanisch mit der anderen nach dem Hausschlüssel, weil hinter Ihnen – wie üblich – die Haustür zugefallen ist. Und worüber sollten Sie sich auch sorgen? Daß die Leerung des Kastens ausgerechnet heute nicht erfolgen sollte? Daß die Sortiererin betrunken ist? Oder daß der Briefträger die Post bei sich zu Hause sammelt? Das kann ja wohl nicht wahr sein!
Gelegentlich wird diese eingespielte und auf die Dauer auch etwas langweilige Routine jedoch unterbrochen, etwa wenn es um gravierendere Folgen geht oder wenn es neue Situationen gibt. Wer zum Beispiel ein Haus bauen möchte, wird sich das in der Regel gut überlegen: Sorgfältig werden die verschiedenen Alternativen durchgegangen, Pläne gefaßt und wieder verworfen, Vorteile und Nachteile abgewogen, eventuelle Altlasten und künftige Nebenfolgen recherchiert, Fachzeitschriften gelesen, geprüft, welche Finanzierung die günstigste ist – und so weiter. Meist sind die Unterschiede zwischen den Alternativen nicht eindeutig, und die Entscheidung deshalb nicht leicht: Was gut ist, ist meist auch teuer. Jede zunächst günstig scheinende Variante zeigt irgendwo doch noch einen Pferdefuß. Und selbst die schlechteren unter ihnen haben oft irgendwie doch etwas. Vorläufige Gewißheiten und stets neue Zweifel – sowie Familienkräche – säumen den Weg des Projekts. Aber schließlich muß eine Entscheidung fallen: Ich mach‘ das jetzt – und zwar mit der Deutschen Bank! Und diese Entscheidung ist dann eindeutig – und kann es ganz rasch gar nicht anders sein, weil mit dem ersten Schritt für die eine Alternative alle anderen praktisch nicht mehr wählbar sind.
Und manchmal brechen der gewohnte Trott und der schöne Schein der Normalität ganz unerwartet, aber nachhaltig, auf eine äußerlich ganz unauffällige Weise zusammen.
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Herr Fussbroich aus Köln-Höhenhaus begrüßt etwa des freitagsabends – wie immer – seine Gattin bei der Heimkehr von der Arbeit „beim Ford“ mit einem flüchtigen Kuß und mit der knappen Frage „Wie isset?“. Und er erhält – anders als üblich – diesmal als Antwort nicht die ebenso knappe und erwartete Gegenfrage „Wie soll et senn?“, sondern die folgende Auskunft – auf Hochdeutsch: „Ich glaube, daß diese Frage heute nicht einfach zu beantworten ist.“ Die Antwort von Herrn Fussbroich und der weitere Verlauf des Abends sind nicht überliefert. Aber es ist leicht vorstellbar, was Herr Fussbroich empfunden hat.
Das sind – wie es scheint – drei ganz verschiedene Umstände, Arten und Abläufe des Handelns und der Interaktion, mit denen eine allgemeine Theorie des sozialen Handelns und der alltäglichen gesellschaftlichen Abläufe zurechtkommen müßte: das ganz unreflektierte, aber durchaus erfolgreiche und zweckdienliche, routinemäßige Alltagshandeln; das – wie Alfred Schütz im Anschluß an John Dewey sagt – „dramatische Ausproben“ und sorgfältige Abwägen verschiedener, im Entwurf durchgespielter Alternativen; und die irritierte Reaktion auf die plötzliche Unterbrechung eines gewohnten Ablaufs und die anschließenden Versuche, zur Wiederherstellung der gestörten Ordnung. Das zentrale Konzept zum Verständnis dieser Vorgänge ist das des Horizontes der Welt: der fraglos gegebene Hintergrund des Wissens im Alltag. In der Regel wissen die Akteure über den Horizont ihrer alltäglichen Welt nichts Genaues. Er hat unscharfe Ränder – Fringes, wie William James es ausdrückte. Und das ist auch gut so. Die Unschärfe macht ja seine Fraglosigkeit und seine beruhigende Wirkung für den Alltag aus. Diese Unschärfe ist aber keine unverrückbare Eigenschaft des Horizontes des Alltagswissens. Bei Bedarf wird es möglich, in einzelne Teile der Unschärfe genauer einzudringen, sie hervorzuheben und besonderes Augenmerk darauf zu richten. Das geschieht insonderheit, wenn die Entscheidung wichtig und riskant ist und wenn davon auszugehen ist, daß es sich lohnt, mehr in Erfahrung zu bringen. Gelegentlich bricht der Rahmen der Fraglosigkeit dieses Horizontes aber ganz unerwartet zusammen – wie bei den Fussbroichs an jenem denkwürdigen Freitagabend. Das vermag die Akteure in tiefste Verwirrung zu stürzen. Die Verwirrung wird nicht dadurch ausgelöst, daß ein Problem auftritt. Probleme gibt es immer wieder. Aber wir lösen sie normalerweise ganz routinemäßig. Jetzt ist die Situation anders: Man weiß nicht, was das Problem ist, noch nicht einmal sicher, ob es überhaupt ein Problem gibt, und schon gar nicht, was jetzt zu tun ist. Zum Horizont der Welt gehört vor allem auch ein Wissen über Dinge, die nicht geschehen dürfen. Jetzt sind sie aber passiert. Und dies läßt die – wie Alfred Schütz sagt – Relevanzstruktur des Handelns ganz zusammenbrechen. Daß dies jederzeit droht, wissen die Menschen eigentlich ganz genau. Sie sorgen sich auch darum. Ein großer Teil des Alltagshandelns ist alleine damit befaßt, ununterbrochen die vielen „normalen“ Begleitumstände der Situation zu scannen, um herauszufinden, ob auch alles noch seine Ordnung hat. Zum Alltagshandeln gehört eine Unzahl von Tricks, die vorbeugen helfen, den Horizont
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des Selbstverständlichen nicht einbrechen zu lassen. Das fortwährende Reden der Menschen miteinander im Alltag ist eine der – in dieser Wirkung nicht immer auch beabsichtigten – Vorsichtsund Prüfmaßnahmen dafür. Allein deshalb ist die Konversation für die Menschen so wichtig: Sie erhält die Fraglosigkeit des Horizontes ihres Alltagswissens, ohne die alles „sinnlos“ wäre.
Um die Beziehungen zwischen diesen drei, auf den ersten Blick ganz verschiedenen, Arten des Handelns geht es in den beiden folgenden Kapiteln über zwei ebenfalls gut etablierte Paradigmen der Soziologie: die phänomenologische Soziologie und die Ethnomethodologie. Es geht darum, herauszufinden, nach welchen Regeln die Menschen mal sorgfältig erwägen, was sie tun sollen, mal ganz sorglos daherhandeln und mal aber auch erschrocken wieder versuchen, Ordnung in einen gestörten Ablauf zu bringen. Dazu wird in diesem Kapitel 3 die von Alfred Schütz begründete soziologische Schule, die sog. phänomenologische Soziologie, dargestellt.1 Sie enthält im Grunde drei Teile: eine Erklärung für das sorgfältig abgewogene, „rationale“ Handeln; eine für das gewohnheitsmäßig-unbedachte Handeln im Alltag; und eine dafür, wann jemand von dem einen „Typ“ des Handelns auf den anderen umschaltet. Im darauf folgenden Kapitel 4 wird dann eine, gelegentlich, etwa in Abschnitt 8.2 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, schon erwähnte, besondere Richtung der Soziologie skizziert, die sich mit der „Konstitution“ der Fraglosigkeiten des Alltagswissens befaßt: die Ethnomethodologie, insbesondere in der Version ihres wichtigsten Begründers: Harold Garfinkel. Sie ist in gewisser Weise eine Fortsetzung der Überlegungen von Alfred Schütz: Wie schaffen es die Menschen immer wieder, dem Horizont ihrer subjektiven Welt jene Fraglosigkeit zu verleihen, ohne die ein individuell sinnvolles und sozial abgestimmtes Handeln unmöglich ist.
Es geht – um das so zu sagen – um die Logik der Selektion für eine den Akteuren fraglose und plausible Logik der Situation. Denn daraus besteht das Alltagshandeln: dem Tun unaufwendig einen Sinn zu geben und mit der beständigen Bedrohung des Sinns verständig umzugehen.
1
Die folgende Zusammenfassung des Ansatzes von Alfred Schütz stützt sich auf verschiedene Beiträge aus den Gesammelten Aufsätzen sowie auf sein Hauptwerk über den „sinnhaften Aufbau der sozialen Welt“. Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt/M. 1974; Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971a; Band 2: Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag 1972; Band 3: Studien zur phänomenologischen Philosophie, Den Haag 1971b. Auf die drei Bände der Gesammelten Aufsätze wird im Text jeweils mit Schütz I, II oder III und auf die daraus zitierten Aufsätze mit Kürzeln verwiesen. Vgl. auch Hartmut Esser, Alltagshandeln und Verstehen. Zum Verhältnis von erklärender und verstehender Soziologie am Beispiel von Alfred Schütz und „Rational Choice“, Tübingen 1991; Hartmut Esser, The Rationality of Everyday Behavior. A Rational Choice Reconstruction of the Theory of Action by Alfred Schütz, in: Rationality and Society, 5, 1993, S. 7-31.
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3.1 Das Wählen zwischen Handlungsentwürfen Alfred Schütz geht vom Normalfall des sozialen Lebens aus: das alltägliche Handeln von ganz normalen, erwachsenen und – wie Schütz ausdrücklich betont – „hell-wachen“ Menschen.2 Das Handeln findet danach immer in einem Kontext eines nicht weiter problematisierten Wissens statt. Dieses Wissen ist die subjektive Welt, in der die Menschen leben und die „objektive“ natürliche wie die intersubjektive soziale Welt ihres Alltags sehen. Diese gedanklich konstruierte subjektive Welt bezeichnet Alfred Schütz im Anschluß an den Phänomenologen Edmund Husserl (1859-1938) als Lebenswelt (vgl. dazu auch noch Kapitel 10 unten in diesem Band).3 Sie bildet den Horizont, vor dem die verschiedenen – mehr oder weniger dramatischen – Entscheidungen stattfinden, über die der Akteur die auftretenden Probleme löst.
Handeln und Entwurf Handeln ist für Alfred Schütz – im Anschluß an Max Weber und in Übereinstimmung auch mit dem hier gewählten Verständnis – ein Verhalten, das mit subjektivem Sinn versehen ist (vgl. dazu insgesamt schon ausführlich Kapitel 6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Alfred Schütz fügt eine wichtige Präzisierung hinzu: Der subjektive Sinn des Handelns besteht in einem gedanklichen Entwurf dessen, was jetzt geschehen soll: „Der Begriff ‚Handeln‘ soll einen ablaufenden Prozeß menschlichen Verhaltens bezeichnen, der vom Handelnden vorgezeichnet wurde, anders gesagt, der auf einem vorgefaßten Entwurf beruht.“4
Der subjektive Sinn des Handelns – und damit: der Unterschied zum bloßen Verhalten – besteht also in der „Vorimagination“ einer Handlungslinie, in die die Ziele des Akteurs und sein subjektives Wissen eingehen. Der vorher durchphantasierte Entwurf und das zielgerichtete Verfolgen eines Plans sind der Unter2
Alfred Schütz, Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis menschlichen Handelns (WI), in: Schütz I, S. 8.
3
Alfred Schütz, Strukturen der Lebenswelt (SL), in: Alfred Schütz III, S. 153.
4
Alfred Schütz, Das Wählen zwischen Handlungsentwürfen (WH), in: Schütz I, S. 77; Hervorhebungen nicht im Original. Dieser Artikel bildet die Grundlage der folgenden Darstellung. Die zentralen Aussagen zum Problem der Wahl kommen jedoch an vielen anderen Stellen der Arbeiten von Alfred Schütz immer wieder in ähnlicher Weise vor.
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schied zwischen einem Baumeister und einer Biene, die nur ihrer genetischen Programmierung folgt. Schütz unterscheidet – darauf wurde bereits in Abschnitt 6.2 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ hingewiesen – das eigentliche „Handeln“ also von der „Handlung“ – das durch das Handeln verwirklichte, zuvor ausgedachte und entworfene Projekt. Das gedachte Projekt – die „Handlung“ – ist aber selbst schon das Ergebnis eines „inneren Tuns“, eines „coverten“ Handelns: des Ausphantasierens der verschiedenen Möglichkeiten und deren Abwägung. Dem overten Handeln geht demnach eine innere Entscheidung voraus. Es ist die Umwandlung des zunächst bloß phantasierten Entwurfs in eine wollende Absicht mit dem Entschluß, jetzt anzufangen: „fiat“ – wie dies der Psychologe William James genannt hat. Und dieser Entschluß kann dann natürlich auch lauten: Ich verzichte auf die Ausführung des Projektes – wie bei einem Chirurgen, der dann doch lieber nicht mehr operieren mag; oder bei einem Börsenmakler, der die insider-Information eben doch nicht ausnutzt. Der Entschluß zum Handeln und zur Verwirklichung eines entworfenen Projektes ist somit das Ergebnis einer intern getroffenen Entscheidung. Sie findet als ein covertes „Wählen zwischen Handlungsentwürfen“ statt: „Ich kann sogar mein Abwägen, ob ein entworfenes Handeln auszuführen sei oder nicht, als die Wahl zwischen zwei Entwürfen, zwischen zwei erwarteten Endzuständen, interpretieren: nämlich zwischen einem Zustand, der durch das entworfene Handeln, und einem anderen Zustand, der durch Enthaltung vom Handeln erreicht werden soll.“ (WH; S. 78)
Wie läuft dieser Vorgang ab, und welche Bedingungen sind dabei wichtig?
Abwägen Jeder Entwurf besteht darin, sich die Folgen eines bestimmten Handelns für eine bestimmte „Handlung“ vor Augen zu führen. Es ist die gedankliche Vorwegnahme der Zukunft. Das Abwägen der Möglichkeiten ist, wie das John Dewey, auf den sich Alfred Schütz in seinen Überlegungen hier besonders stützt, es etwas theatralisch ausdrückt, „ ... a dramatic rehearsal (in imagination) of various competing possible lines of action. ... . Deliberation is an experiment in finding out what the various lines of possible action are really like. It is an experiment in making variuos combinations of selected elements of habits and impulses, to see what the resultant action would be like if it were entered upon.“5
5
John Dewey, Human Nature and Conduct. An Introduction to Social Psychology, New York 1930, S. 190; Hervorhebung nicht im Original.
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So ist es. Der Architekt muß sich vorher zu einer – sogar im wörtlichen Sinne – „haltbaren“ Vorstellung von dem Bau durchringen, bevor er mit den Zeichnungen anfangen kann. Und das ist oft durchaus ein dramatischer Kampf, bei dem heutzutage vielleicht CAD-Programme und Computersimulationen etwas helfen können. Die Biene fängt dagegen gleich mit dem Bauen an und denkt nicht an das Produkt, das durch ihr Tun entstehen wird – und schon gar nicht: in „dramatischer“ Weise. Der Vorteil des Entwerfens und Abwägens liegt auf der Hand: So können gerade bei wichtigen Entscheidungen Fehler vermieden und optimale Lösungen erreicht werden – ohne den mühseligen und verlustreichen Weg von Versuch und Irrtum: „The experiment is carried on by tentative rehearsals in thought which do not affect physical facts outside the body. Thought runs ahead and foresees outcomes, and thereby avoids having to await the instruction of actual failure and disaster.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Für das menschliche Handeln ist das Entwerfen, Abwägen und schließliche Entscheiden für ein bestimmtes „Projekt“ allein deshalb wichtig, weil es hier – anders als bei den Bienen – keine genetische Festlegung erfolgreicher Praktiken gibt. In dem Entwerfen wird gewissermaßen ein evolutionärer Prozeß simuliert: Es scheitern die Gedanken, aber – noch – nicht die realen Projekte.
Modo Futuri Exacti Der Entwurf antizipiert – um in der Terminologie von Schütz zu bleiben – die Verwirklichung einer Handlung. Es geht dabei um das gedankliche Hineinversetzen in eine zukünftige Zeit, in der das fragliche Handeln – wie Schütz sich ausdrückt – „bereits wird ausgeführt worden sein“ (WH, S. 79; Hervorhebungen im Original). Das klingt schon im Satzbau sehr nach Lateinunterricht. Und in der Tat: Die gedankliche Vorwegnahme entspricht der zeitlichen Form des modo futuri exacti – wie Alfred Schütz öfters sagt: Die Akteure versetzen sich mit ihrem Entwurf in eine zukünftige Zeit, so als ob der Entwurf verwirklicht wäre, es jetzt aber noch nicht ist. Zwei Bezugspunkte hat das gedankliche Ausprobieren möglicher Zukünfte im modo futuri exacti. Erstens: das Wissen über früher ausgeführte Handlungen oder über typisch-ähnliche Situationen – wie genau und richtig, wie offen und diffus, wie verzerrt oder falsch dieses Wissen auch im Einzelfall sein mag. Und zweitens: die Motive, die den Akteur leiten, und die Ziele, die er mit seinem Tun erreichen möchte.
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Wissen Wissen ist das Ergebnis von Erfahrungen: Erlebnisse in der Vergangenheit und Wahrnehmungen in der Gegenwart. Es sind wiederum zwei Arten von Erfahrungen, die das Wissen des Akteurs in einer solchen Situation bestimmen: die als „selbstverständlich hingenommene Welt“ (WH, S. 85) einerseits; und die „biographisch bestimmte Situation“ andererseits (WH, S. 87). Die als selbstverständlich hingenommene Welt ist das, was oben als Lebenswelt bezeichnet wurde (vgl. dazu noch den nächsten Abschnitt 3.2 sowie Kapitel 10 unten in diesem Band): Es ist das Wissen aus Erfahrungen, das bisher alle Prüfungen überstanden hat – und deshalb als fraglos gültig hingenommen und nicht weiter problematisiert wird. Dieses Wissen ist typischerweise typisiertes Wissen: über Gegenstände, Lebewesen, andere Menschen und das Selbst, soziale Beziehungen, bestimmte Handlungsabläufe – unter anderem. Es ist in – mehr oder weniger: groben – Kategorien geordnet und – meist – mit sprachlichen Markierungen deutlich hervorgehoben und strukturiert. Insbesondere enthält dieses Wissen – ebenfalls: typisierte – Kausalannahmen über die Wirkung eines bestimmten Tuns in einer typischen Situation: mehr oder weniger grobe Alltagstheorien über wahrscheinliche Folgen eines Tuns unter typischen Umständen. Und solange dieses Wissen nicht durch eine Anomalie gestört wird, bleibt es als fragloser Horizont und Rahmen des Entwerfens wirksam – und der Akteur merkt und problematisiert es nicht. Das lebensweltliche Wissen trägt der Akteur gewissermaßen als Potential – als stock of knowledge – mit sich herum. Es ist ein Teil seiner Identität. Die biographisch bestimmte Situation, in der der Entwurf entsteht, tangiert dagegen das Wissen, das der Akteur genau zum Zeitpunkt des Entwerfens hat: die Wahrnehmung seiner räumlichen, zeitlichen und sozialen Positionierung. Insbesondere gehören zu der biographisch bestimmten Situation die aktuell erlebten bzw. wahrgenommenen Möglichkeiten und Restriktionen, die „Reichweite“ des möglichen Handelns und der Grad der Kontrolle über die verschiedenen Mittel und Ressourcen. Die biographisch bestimmte Situation bildet also – gewissermaßen – den Kranz der Randbedingungen für die Anwendung des lebensweltlichen Wissens.
Eine Folge der biographischen „Bestimmung“ einer Situation ist, daß jetzt auch konkret entschieden werden muß, welche Sektoren innerhalb und außerhalb der Reichweite des möglichen Handelns besonders hervorzuheben sind. Alfred Schütz sagt hier ganz deutlich: Es ist das Interesse der Akteure, das jeweils geltende Oberziel der Nutzenproduktion, das primäre Zwischengut also, das bestimmt, was in einer biographisch bestimmten Situation als „relevant“ ausgewählt und in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt wird. Das lebensweltliche Wissen besteht aber auch aus einem Wissen über die miteinander verbundenen Interessenverflechtungen eines Akteurs. Es ist das Relevanzsystem der Alltagswelt, in der er lebt. Als Chirurg habe ich beispielsweise ein Interesse, daß sich möglichst wenige Patienten über mich beklagen, ebenso wie eines an einer günstigen Geldanlage. Das eine hat zwar mit dem anderen zu tun – nur lebende, aber auch behandlungsbedürftige Patienten bringen Geld, das ich anlegen kann. Aber in der jeweils „bestimmten“ Situation wäre es nicht klug, die jeweiligen Interessensphären zu verwechseln. Menschen wissen meist ganz genau, welches Interesse wann „relevant“ ist. Und wenn sie sich unsicher sind, dann helfen ihnen viele Hinweise, herauszufinden, was gerade „angesagt“ ist: Die erkennbare Symbolik in der Situation, besonders die Sprache, und die Reaktionen
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der anderen sind die Anzeichen für typische „bestimmte“ Situationen. Nichts ist peinlicher, als mit einem Patienten über das viele Geld zu sprechen, das seine Behandlung kostet und das der Arzt zum Kauf der S-Klasse verwenden wird. Unter anderem deshalb sind die Versicherungen, die gestrengen Vorzimmerdamen des teuren Klinikdirektors und das Ethos der Medizin erfunden worden.
Das Relevanzsystem strukturiert die Situationen nach Interessen, das Kausalwissen der Alltagstheorien nach wahrgenommenen Möglichkeiten des Handelns. Beide Wissenssysteme leiten – auf der Grundlage von Wahrnehmungen der aktuellen Umstände – die Selektion dessen, was in der konkreten biographisch bestimmten Situation als besonders wichtig und erfolgversprechend gilt.
Motive Wissen alleine ist für das erfolgreiche Lösen von Problemen nicht ausreichend: Das Handeln soll ja – letztlich – der Reproduktion des Organismus dienlich sein. Damit kommen die Motive des Handelns ins Spiel. Alfred Schütz unterscheidet zwei Klassen von Motiven: die Um-zu-Motive und die Weil-Motive.
Um-zu-Motive Wenn jemand dabei ist, einen Raubmord zu begehen, dann tut er das, „um“ an das Geld des Opfers „zu“ kommen. Handlungen, entworfen im modo futuri exacti, werden – ganz allgemein – schließlich ausgeführt, „um“ ein bestimmtes Ziel „zu“ erreichen. Hier: die Inbesitznahme eines Geldbetrags, über den der Raubmörder zuvor nicht verfügt. Der Mord war dabei das Mittel zum Zweck. Das vor dem Handeln vorgestellte, in der Zukunft liegende und aktuell als „verwirklicht“ phantasierte Ziel nennt Alfred Schütz das Um-zu-Motiv. Das Handeln ist – unter anderem – über die Stärke des Um-zu-Motivs motiviert. Der Entwurf selbst muß dagegen nicht unbedingt durch ein Um-zu-Motiv angeregt sein: Jeder kann in seiner Phantasie einen Mord entwerfen, ohne daß an eine Ausführung jemals gedacht wird. Wer wüßte nicht, wovon die Rede ist? Das Um-zu-Motiv motiviert also nicht die Phantasie, sondern den Entschluß, das „wollende ‚fiat‘, die Entscheidung ‚Los!‘“ (WH, S. 80): Ich mach’ das jetzt mit der Deutschen Bank! Den Banküberfall nämlich beispielsweise.
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Weil-Motive Nicht jeder, der Geld braucht, kommt aber auch nur auf den Gedanken, jemanden umbringen oder eine Bank ausrauben zu wollen. Jeder Entwurf beruht auf einer Vorgeschichte, die die Phantasie lenkt. Diese Vorgeschichte, seine Biographie und Sozialisation, hat der Akteur selbst erlebt und konnte sie nur in Teilen selbst beeinflussen. Und auf bestimmte Entwürfe kommen die Akteure nur, „weil“ sie diese und keine anderen Erfahrungen gemacht haben: „Der Mörder wurde zur Ausführung seiner Handlungen motiviert, weil er in dieser oder jener Umgebung aufgewachsen ist, weil er, wie uns die Psychoanalyse lehrt, in seiner Kindheit bestimmte Erfahrungen hatte, etc.“ (WH, S. 80; Hervorhebungen nicht im Original)
Die während der Biographie bzw. im Verlaufe der Sozialisation erworbenen Vorlieben und Wissenselemente über mögliche Alternativen, bestimmte Ziele erreichen zu können, nennt Alfred Schütz deshalb auch die Weil-Motive des Akteurs. Die Weil-Motive beeinflussen zunächst nur die Art des Entwurfs – nicht aber das Handeln unmittelbar: „Um seinen Geldmangel zu beheben, wären dem Handelnden mehrere andere Wege offen gewesen, als gerade einen Mann zu töten: er hätte das Geld zum Beispiel in einer gut bezahlten Beschäftigung verdienen können. Sein Gedanke, dieses Ziel durch Tötung eines Mannes zu erreichen, wurde durch seine persönliche Situation, genauer gesagt, durch die Besonderheit seiner Lebensgeschichte bestimmt (‚verursacht‘), wie sie in seiner persönlichen Verfassung sedimentiert vorlag.“ (WH, S. 80 f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Kurz: Welchen Inhalt der Entwurf eines Handelns haben kann, bestimmt sich aus der Biographie und ihren Sedimenten, der Identität des Akteurs. Kommt es zum Handeln, dann sind das die Weil-Motive der Tat – eine freudlose Kindheit in einer Umgebung, in der Raub und Mord gang und gäbe waren, zum Beispiel. Die Ausführung selbst wird darüber aber noch nicht motiviert. Jetzt muß es erst noch ein hinreichend starkes Um-zu-Motiv geben: die Höhe der Schulden etwa und eine Vermutung darüber, daß sich das Opfer nicht wehren kann, daß man nicht gleich festgenommen wird und daß sich die Tat bei dem betreffenden Opfer finanziell auch lohnt. In dem Entwurf selbst beachtet der Akteur seine Weil-Motive nicht. Wenn er das Handeln aber ausgeführt hat, dann kann er natürlich zurückblicken und untersuchen, was ihn wohl zu dem Entwurf gebracht hatte. Der Handelnde kann aber auch schon vorausblickend zurückblicken: Er entwirft das Handeln ja im modo futuri exacti und kann sich deshalb gedankenexperimentell fragen, was ihn, wenn er es denn getan haben würde, dann veranlaßt haben könnte, so – verwerflich oder moralisch – zu denken und zu handeln. Echte Weil-Motive nennt Alfred Schütz solche, die sich auf fertig ausgeführte Handlungen beziehen. Sie implizieren „die zeitliche Perspektive der Vergangenheit“ und verweisen „auf die Entstehung des Entwerfens selbst.“ (WH, S. 82)
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Die Um-zu-Motive sind eine ausschließlich subjektive Angelegenheit: Der Mörder und Bankräuber hatte ganz subjektiv die Vorstellung, daß dies der beste Weg sei, um sein Problem zu lösen. Warum er dazu kam, dies so zu sehen, ist dagegen keine bloß subjektive Sache. Ein Beobachter wäre im Prinzip in der Lage, über die Rekonstruktion der Biographie objektiv zu erhellen, warum der Raubmörder zu dem wurde, was er jetzt ist. Kurz: Die Weil-Motive können durchaus objektiv ermittelt werden. Das kann der Akteur sogar für sich selbst tun: als „externer“ Beobachter seines Tuns in dem Versuch einer Beantwortung der Frage, wie das alles sich mit ihm entwickelt hat. Es ist das, was im interpretativen Paradigma die Reflexion des Handelns genannt wird (vgl. dazu schon Kapitel 2 oben in diesem Band).
Aufmerksamkeit Handeln ist die Ausführung eines Entwurfs. Und das Entwerfen eines Handelns ist ein gedankliches Durchspielen von Alternativen, die von den Akteuren als Möglichkeiten betrachtet werden, wenn sie glauben, daß sie mit den verfügbaren Mitteln ausführbar sind. Normalerweise ist das eine einfache, fast schon automatisierte Angelegenheit: Für typische Situationen gibt es typische Entwürfe eines Handelns. Und das Handeln kann dann auch als „entworfenes“ Handeln wie ein Reflex erfolgen. Andere Möglichkeiten werden dabei erst gar nicht bedacht. Und das wäre auch nicht erforderlich: Warum sollte das, was bisher – wie die Post mit meinen Briefen – gut funktioniert hat, ausgerechnet jetzt ein Problem werden? Ich habe genug anderes noch zu tun und zu bedenken, um mir ausgerechnet um den gerade eingeworfenen Brief ungebührliche Sorgen zu machen. Kurz: Auch das Entwerfen ist ein Handeln, das – wie jedes Handeln – Ressourcen verschlingt: Zeit, Nerven und manchmal viel Geld. Und deshalb alleine sind die Menschen gut beraten, wie sie die sehr knappe Ressource der Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Probleme ihres Tuns verteilen.
Gewißheit und offene Möglichkeiten Beim normalen Alltagshandeln wird die knappe Ressource der Aufmerksamkeit also nicht unterschiedslos auf alle Möglichkeiten des Tuns verteilt: Was sich bis jetzt bewährte, verschwindet aus dem Horizont der Aufmerksamkeit. Diese Möglichkeiten, von denen die Akteure zwar durchaus wissen, daß auch sie nicht fest und sicher sind, für die sie aber keinen besonderen Grund des Zweifels haben, nennt Alfred Schütz – im Anschluß wieder an Edmund Husserl – die offenen
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Möglichkeiten. Sie bilden einen „leeren“ Horizont nicht weiter problematisierter Alternativen und Entwicklungsrichtungen. Und deshalb gibt es auch keinen Grund, bei derartigen offenen Möglichkeiten etwas für problematisch zu halten. Die offenen Möglichkeiten bilden den Horizont der als unproblematisch angesehenen Teile der Alltagswelt: „Die als selbstverständlich hingenommene Welt ist der allgemeine Rahmen offener Möglichkeiten, von denen keine ein ausgezeichnetes Gewicht hat, von denen keine mit anderen im Widerstreit liegt, solange sie als fraglos hingenommen werden. Von allen wird bis auf weiteres, bis zur Feststellung des Gegenteils angenommen, daß sie in empirischer oder mutmaßlicher Gewißheit gegeben sind.“ (WH, S. 95; Hervorhebungen nicht im Original)
Die Gewißheit des Selbstverständlichen entsteht im Verlaufe eines längeren Lernprozesses, der mit hohen Graden der Aufmerksamkeit und begieriger Suche nach Informationen startet, mit dessen Fortdauer sich aber erweist, daß der Einsatz von Aufmerksamkeit und Informationssuche sich immer weniger lohnt. Schließlich wird dieser Vorgang abgebrochen und in eine offene Generalisierung – Schütz sagt erneut mit Husserl: Idealisierung – überführt: die Idealisierung des „Und so weiter“. Wenn der Brief bisher stets pünktlich angekommen ist, dann gehe ich schließlich mit dieser, den Alltag sehr entlastenden, Idealisierung an den Briefkasten – und mache mir wenigstens darüber keine Sorgen.
Zweifel und Fragen Die bisherige Erfüllung von Erwartungen ist die Grundlage des Selbstverständlichen und des Fraglosen. Es ist aber ein schwankender Grund. Auf vielerlei Weise kann die Gewißheit der als selbstverständlich hingenommenen Welt erschüttert werden. Und stets hat diese Erschütterung mit zwei Sachverhalten zu tun: mit der bisherigen Gewohnheit widersprechenden Erfahrungen und mit einer außergewöhnlichen Wichtigkeit der Entscheidung.
Widersprechende Erfahrungen Widersprechende Erfahrungen beziehen sich auf die Enttäuschung von als selbstverständlich angesehenen Erwartungen. Ist die Enttäuschung so, daß gar kein Zweifel darüber mehr bestehen kann, daß ich mich vollkommen geirrt habe, dann endet der Vorgang hier. Es ist – gewissermaßen – eine Gewißheit gelöscht oder im Vorzeichen komplett gedreht worden. Meist führen bestimmte „signifikante“ Symbole und andere „untrügliche“ Anzeichen unmittelbar dahin: Der bisher stets klug dreinschauende Student macht eine Bemerkung, die erschauern läßt:
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si tacuisses!. Der – zeitweise – katholische und moralpredigende Philosoph Max Scheler wird im Kölner Rotlichtviertel ertappt – und muß schon eine sehr katholische Ausrede dafür finden. Eine Hotelrechnung für zwei Personen in der Jackettasche und Lippenstift am Kragen des bislang ganz untadeligen Gemahls, dem man das nun wirklich nicht zugetraut hätte – zum Beispiel. Und jedesmal ist das Ergebnis dasselbe: Unglaublich, unfaßbar, aber wohl wahr! Das alles gilt im übrigen auch für freudige Überraschungen.
Für das Problem der Verteilung von Aufmerksamkeit beim Entwurf ist ein anderer Fall der Enttäuschung wichtiger: Zwar wird die Erwartung ebenfalls nicht – wieder – bestätigt. Aber für die endgültige Widerlegung des bisher Gültigen sind die Hinweise nicht ausreichend. Es könnte auch die Ausnahme von der Regel gewesen sein. Jetzt weiß man nur: „Nicht so, wie bisher angenommen“. Man weiß jedoch nicht: „Das aber jetzt“. Es liegen in diesem Fall – wie Alfred Schütz sagt – „zwei verschiedene Auffassungen im Widerstreit miteinander“, und „eines bestreitet das andere und wird von dem anderen bestritten“ (WH, S. 92): „Das Ich schwankt zwischen den beiden Auffassungstendenzen hin und her. Beide Auffassungen werden als Möglichkeiten bloß ‚vorgeschlagen‘. Das Ich ist im Streit mit sich selbst: es ist geneigt, einmal dies, einmal jenes zu glauben.“ (WH, S. 93)
Kurz: Es gibt für die erschütterte Alternative kein mit den vorhandenen Daten vereinbares alternatives und gleichzeitig sicheres „Modell“, das als neue Selbstverständlichkeit sofort in den Horizont der offenen Möglichkeiten abgelegt werden könnte. Das ist die Situation des Zweifels. Solche Zweifel können über alles mögliche bisher Selbstverständliche entstehen. Alfred Schütz betont – in starker Anlehnung an die sog. Phänomenologie Edmund Husserls, die nichts anderes ist als eine philosophische Spekulation über kognitive Prozesse der Verarbeitung von Informationen – vor allem die vergangenen Erfahrungen und aktuellen Wahrnehmungen der Akteure als Quelle des Zweifels: Frau Fussbroich spricht plötzlich Hochdeutsch. Das hat sie doch noch nie getan! Was ist denn hier los – ganz unabhängig vom Inhalt des Gesagten?
Wichtigkeit Aber nicht nur unerwartete Erfahrungen führen zur Erschütterung der Fraglosigkeit des Tuns. Es ist auch die Wichtigkeit der Entscheidung, die die Menschen dazu bringt, jetzt doch einmal innezuhalten. Das ist etwas anderes als der Zweifel über die Geltung bisheriger Selbstverständlichkeiten. Es ist die Frage, ob die eingespielte Routine für die „in Frage“ stehende Entscheidung wirklich der beste Weg ist und ob man es sich leisten kann, jetzt so zu tun, als stünde nichts auf dem Spiel. Deshalb werden Häuser sorgfältiger geplant als – sagen wir einmal – der Kauf von zwei Paar Socken.
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Die Wichtigkeit der Alternativen löst Fragen vor allem wegen des Problems der drohenden Verluste bei einer falschen Entscheidung aus. Solche drohenden Verluste können natürlich auch die Opportunitätskosten einer Entscheidung sein: Wenn ich eine sehr günstige Alternative übersehe, dann ist das auch ein herber Verlust, selbst dann wenn die gewählte Alternative ganz brauchbar ist. Wenn wenig auf dem Spiele steht, dann lohnt es sich kaum, sich über Verluste Gedanken zu machen. Die Befürchtung von Verlusten spielt im übrigen auch schon eine Rolle dabei, ob es nach widersprechenden Erfahrungen zu einem kompletten Wechsel des Bildes oder – erst einmal – nur zu Zweifeln kommt: Wenn die neue Gewißheit sehr unangenehm wäre, dann suche ich lieber noch einmal nach Hinweisen, die dies verhindern. Und wenn auch die Zweifel schon Ärger bereiten, dann bleibe ich erst einmal bei der Fiktion der unerschütterten Gewißheit. Kurz: Auch die Wahrnehmung und die Akzeptanz von Signalen als Widerspruch gegen eine Gewißheit, hat mit den Motiven der Menschen zu tun und mit den Verlusten, die sie erleiden können, wenn sie bestimmte Erfahrungen annehmen oder ignorieren würden. Zweifel sind nicht nur eine Frage der „Kognition“. Die Verdrängung der Realität ist oft akzeptabler als der Zweifel an einer günstigen Selbstverständlichkeit oder – gar – die Übernahme einer neuen, aber sehr verlustreichen Gewißheit. Das trifft insbesondere für die Gewißheiten über ein – oft ja sehr mühselig erworbenes und lebensnotwendiges – positives Selbstbild zu.
Normalerweise leben die Menschen in einem ununterbrochenen stream of thought – ebenfalls ein Ausdruck von William James, auf den sich Alfred Schütz stützt. Widerstreitende Erfahrungen und drohende Verluste sind dann Formen der „Unterbrechung“ dieses Stromes und der gewohnten Routine des Alltagshandelns. Sie lösen Zweifel und Fragen aus. Und sie geben dem Akteur allen Anlaß, jetzt doch auch solchen Dingen Aufmerksamkeit zu schenken, an die er gar nicht mehr gedacht hatte. Jetzt gibt es ein Problem, wo vorher keines war. Und deshalb muß die Situation erst einmal neu überdacht und reflektiert, neu interpretiert und definiert werden. Bei George Herbert Mead waren wir in Kapitel 2 oben in diesem Band auf diese Besonderheit des menschlichen Handelns schon gestoßen.
Problematische Möglichkeiten Als offene Möglichkeiten bezeichnet Alfred Schütz – so hatten wir oben gesehen – jenen latenten unscharfen Kranz des fraglos gegebenen Horizonts der Lebenswelt. Es ist ein Rahmen von vollkommen „leeren Erwartungen“ (WH, S. 94). In ihrer – wahrgenommenen! – Bedeutung sind die offenen Möglichkeiten allesamt gleich unwichtig. Und deshalb allein gibt es keinen Anlaß sie zu problematisieren:
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„Keine der offenen Möglichkeiten hat irgendein Gewicht, sie sind alle gleich möglich. Für sie gibt es keine vorkonstituierte Alternative, sondern innerhalb eines Rahmens der Allgemeinheit sind alle möglichen Besonderungen in gleicher Weise offen. Nichts spricht für die eine offene Möglichkeit, das gegen die anderen sprechen würde.“ (WH, S. 94)
Gerade das macht aber das alltägliche Leben so viel leichter. Mit der „Unterbrechung“ des Selbstverständlichen wird dem Akteur – stets: plötzlich und unerwartet – klar, daß es dabei nicht bleiben kann – wenn er nicht großen Schaden erleiden will. Und deshalb muß er jetzt aufpassen und sich etwas einfallen lassen, wo er vorher getrost weiterhin träge dem vorgezeichneten Weg folgen konnte. Dies bedeutet vor allem, daß den bislang offenen Möglichkeiten mit ihren leeren Erwartungen jetzt bestimmte Erwartungen zugewiesen werden müssen. Möglichkeiten, denen genauer bezifferte Erwartungen zugewiesen werden, nennt Alfred Schütz auch problematische – oder auch: fragliche – Möglichkeiten. Die problematischen Möglichkeiten sind – im Unterschied zu den „leeren“ offenen Möglichkeiten – mit fixierten subjektiven Wahrscheinlichkeiten verbunden, daß dieses oder jenes Handeln zu diesem oder jenem Ziele führen würde. Und daraus ergeben sich auch unterschiedliche „Gewichte“ für die verschiedenen Möglichkeiten – wo es vorher – bei den gleichen Alternativen als offene Möglichkeiten – weder Gewichte noch Wichtigkeiten gab: „Problematische Möglichkeiten setzen Glaubensanmutungen voraus, die in der Situation motiviert sind und miteinander im Streit liegen; für jede Möglichkeit spricht irgendetwas, jede hat ein gewisses Gewicht.“ (WH, S. 94; Hervorhebungen nicht im Original)
Offene Möglichkeiten gibt es vor der Gewißheit, daß es keine beachtenswerten weiteren Probleme gibt, problematische Möglichkeiten vor dem Wissen, daß irgendwie „entschieden“ werden muß. Die Zweifel und die Fragen sind es, die den Akteur veranlassen, die Fraglosigkeit der offenen Möglichkeiten in Frage zu stellen. Das tut er, indem er dem bis jetzt ausgeblendeten Fraglosen gezielt Aufmerksamkeit zukommen läßt, um die „Wahrscheinlichkeiten“ und damit die „Gewichte“ der – jetzt: problematischen – Möglichkeiten möglichst richtig bestimmen zu können. Kurz: Jetzt werden die offenen in problematische Möglichkeiten umgewandelt. Und das ist eine eigene Leistung einer Selektion durch den Akteur: „Das Individuum in seiner biographisch bestimmten Situation verwandelt eine gegebene Gruppe dieser offenen Möglichkeiten in problematische Möglichkeiten, indem es zwischen den als selbstverständlich hingenommenen Dingen auswählt.“ (WH, S. 95; Hervorhebung nicht im Original)
Wo der Akteur vorher tatsächlich keine Wahl hatte, weil sich die Fraglosigkeit dem Akteur ganz selbstverständlich „auferlegte“, gibt es nunmehr eine “Wahl“:
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„Die problematischen Möglichkeiten stehen von nun an zur Wahl: Jede hat ihr Gewicht und verlangt eine angemessene Probe, jede zeigt die widerstreitenden Tendenzen, von denen Dewey spricht.“ (Ebd.)
Es ist der Prozeß, den John Dewey also wohl nicht zu Unrecht als „dramatisches“ Ausproben bezeichnet hatte. Obwohl der Vorgang sich zunächst nur in Gedanken abspielt, entscheidet sich hier, was schließlich getan wird. Deshalb ist diese Wahl, die selektive und gezielte „Definition“ einer problematisch gewordenen Situation, der entscheidende Schritt zur Bestimmung dessen, was Menschen tun, wenn sie der Fraglosigkeit der offenen Möglichkeiten nicht mehr zu folgen vermögen. Wie kann nun aber das Verfahren des Wählens beschrieben werden? Schütz unterscheidet zwei Varianten: die Wahl zwischen „Gegenständen in meiner Reichweite“ und die „Wahl zwischen Entwürfen“.
Die Wahl zwischen Gegenständen in Reichweite Das konkrete Handeln ist nichts anderes als eine Wahl zwischen Gegenständen in meiner Reichweite. Die erste und unabdingbare Voraussetzung dafür wird im Titel der Zwischenüberschrift genannt: Die Objekte der Wahl sind „in Reichweite“ und unterliegen deshalb alle in gleicher Weise der Kontrolle des Akteurs (WH, S. 96). „In Reichweite“ heißt dabei speziell: Die Gegenstände sind „mit der gleichen Anstrengung“ erreichbar. Man könnte es auch so sagen: Die Alternativen liegen alle innerhalb des Möglichkeitsraumes, und ihre relativen Preise sind die gleichen. Der Vorgang der Wahl sieht dann für den einfachen Fall einer Wahl zwischen zwei Alternativen A und B so aus: „Ich schwanke zwischen A und B als zwei gleicherweise verfügbaren Möglichkeiten hin und her. A hat genau so wie B einen gewissen Reiz für mich. Ich neige jetzt dazu, A zu wählen; diese Neigung wird dann durch eine Neigung, B zu wählen, überstimmt; diese wird sodann wieder durch jene ersetzt, die endlich die Oberhand gewinnt: Ich entscheide mich für A und lasse B aus.“ (WH, S. 96; Hervorhebung nicht im Original)
Bei jeder Wahl von Gegenständen in Reichweite gibt es immer die Möglichkeit einer Unterbrechung des unreflektierten Handlungs- und Bewußtseinsstromes. Das wissen die Akteure eigentlich auch ganz genau – auch wenn sie darüber nicht mehr nachdenken. Der Akteur merkt aber in den meisten Fällen – in einem ununterbrochenen Prozeß des scannens der Situationselemente für jeden Moment seines Tuns –, daß es für die Situation tatsächlich vorgefertigte Muster problematischer Möglichkeiten gibt. Und deshalb ist das mit der Wahl zwischen Gegenständen in Reichweite auch meist eine ganz einfache Sache:
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„Es wird angenommen, daß der Mensch sich jederzeit selbst zwischen mehr oder weniger genau definierte problematische Alternativen gesetzt sieht, beziehungsweise, daß eine Anordnung von Präferenzen ihm erlaubt, den Verlauf seines zukünftigen Verhaltens zu bestimmen.“ (WH, S. 96; Hervorhebung nicht im Original)
Die Präferenzen und die feste Definition der Situation folgen aus der Biographie des Akteurs, aus seinen Weil-Motiven und aus seiner Interessenstruktur. Seine Vergangenheit hat den Akteur – sozusagen – mit einem Repertoire von Möglichkeiten ausgestattet, mit im Prinzip ja immer offenen Situationen so umzugehen, daß sie rasch und ohne größere Reflektion in ein überschaubares Feld von mit festen Wahrscheinlichkeiten versehenen problematischen Möglichkeiten umgeformt werden. Und daß dies so einfach ist, hat vor allem damit zu tun, daß die Vortypisierungen vom Akteur nicht mehr zu beeinflussen sind – und daß er das auch ganz genau weiß: „Im Falle der Wahl zwischen zwei oder mehr Gegenständen, die alle tatsächlich in meiner Reichweite und verfügbar sind, sind alle problematischen Möglichkeiten sozusagen vorgefertigt und wohl umschrieben. Ihre Konstitution liegt als solche außerhalb meiner Kontrolle, ich muß eine der Möglichkeiten ergreifen oder sie beide so belassen, wie sie sind.“ (WH, S. 97; Hervorhebungen nicht im Original)
Die subjektive „Definition“ der Situation – als Umwandlung offener in problematische Möglichkeiten und als Voraussetzung der Wahl zwischen Gegenständen in Reichweite – ist also meist kein besonderes Problem für den Akteur, weil die Situation schon eindeutig sozial definiert ist und sich ihm die Alternativen mit ihren Vorzügen und Nachteilen „auferlegen“ (vgl. dazu auch schon Kapitel 6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): „Der Mensch, der in der Sozialwelt handelt und auf Mitmenschen einwirkt, entdeckt, daß die vorkonstituierte Sozialwelt ihm in jedem Augenblick verschiedene Alternativen auferlegt, zwischen denen er wählen muß. Die heutige Soziologie sagt, der Handelnde müsse ‚die Situation definieren‘. Er tut dies, indem er eine soziale Umwelt ‚offener Möglichkeiten‘ in ein geschlossenes Feld ‚problematischer Möglichkeiten‘ verwandelt, in welchem Wahl und Entscheidung, insbesondere die sogenannte ‚rationale‘ Wahl und Entscheidung möglich werden.“ (WH, S. 96; Hervorhebungen nicht im Original)
Kurz: Weil dem Akteur in einer Situation normalerweise die Gegenstände als problematische Möglichkeiten mit festen Wahrscheinlichkeiten fertig vortypisiert und als Feld einfach strukturierter Alternativen vorliegen, ist ihm im Alltagshandeln eine einfache und in aller Einfachheit gleichzeitig sinnvolle Wahl möglich. Man kann sogar sagen: Gerade die Vortypisierung der Alternativen erlaubt ihm eine rationale Wahl – ohne längeres Durchdenken, welches die günstigste Alternative wäre: Der Akteur wäre ja töricht, die angesichts der „auferlegten“ Typisierungen die offenkundig beste Alternative zu ignorieren – jedenfalls, so lange er keinen Grund hat, an der Gültigkeit der Typisierung zu zweifeln oder
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besondere Fragen zu stellen (vgl. dazu auch noch die Abschnitte 3.2 und 3.3 unten in diesem Band).
Die Wahl zwischen Entwürfen Die Wahl zwischen Entwürfen geht anders vor sich als die Wahl des Handelns. Der wichtigste Unterschied zum Handeln liegt darin, daß die Phantasie bekanntlich nicht an Reichweiten und an Grenzen der Kontrolle gebunden ist: Die Gedanken sind frei. Es gibt noch einen weiteren Unterschied: Das Handeln ist eine Wahl zwischen Alternativen, die – wie Alfred Schütz sagt – in der „äußeren Zeit“ gleichzeitig vorliegen. In der Phantasie können die Alternativen aber nacheinander durchgegangen, wieder verworfen, in anderer Reihenfolge und ganz von vorne – mit dann meist veränderten Ansichten – durchgegangen werden. Und zwar – wie Schütz es ausdrückt – „ausschließlich in der inneren Zeit“, der sog. „durée“, die der Akteur dabei in seinem Denken durchläuft (WH, S. 98; Hervorhebung im Original). Die Frage stellt sich letztlich aber dann genau so wie bei der Wahl zwischen den Gegenständen in Reichweite: Welcher der durchphantasierten Entwürfe ist es dann schließlich, der die Oberhand behält? Und wie läßt sich der Prozeß der Wahl eines Entwurfes beschreiben und erklären?
Drei Philosophien des Wollens Alfred Schütz schlägt für das phantasierende Entwerfen als Vorstufe eines Handelns unter problematisch gewordenen Möglichkeiten eine interessante Theorie vor: Letztlich „wählen“ die Menschen, bei aller Freiheit ihrer Phantasie, auch ihre Entwürfe nach einem einsehbaren Muster. Und zwar: Ganz ähnlich so, wie sie die Gegenstände und das Handeln selegieren: auf der Grundlage eines abwägenden Vergleichs. Alfred Schütz kommt auf seine Theorie der wählenden Phantasie vor dem Hintergrund eines Vergleichs der Beiträge von drei Philosophen zu dem Thema: Henri Bergson (1859- 1941), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) und dem bereits mehrfach erwähnten Edmund Husserl. Wir wollen die Sicht dieser drei Philosophen aus dem Blickwinkel von Schütz zusammenfassen, weil dadurch erst verständlich wird, was Schütz meint. Alle drei Philosophen – Bergson, Leibniz, Husserl – unterscheiden sich zwar in ihren Ideen und Vorschlägen – wie bei bloß nachdenkenden Philosophen üblich – nicht wenig, konvergieren aber in einer wichtigen Hinsicht: Die Wahl zwischen alternativen Entwürfen fällt schließ-
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lich „wie eine reife Frucht vom Baume“. Nämlich: als Ergebnis einer Gewichtung der Entwürfe, die die Akteure in ihrem inneren Abwägen selbst vornehmen.
Henri Bergson Henri Bergson geht in seiner Theorie der inneren Zeit von einer Kritik an einer – auch heute noch – sehr gängigen Vorstellung aus.6 Danach schwanke das an sich recht festgefügte Ich unschlüssig zwischen zwei entgegengesetzten Empfindungen und entscheide sich schließlich für eine davon. Das Ich und die mit den Empfindungen verbundenen Dinge sind also – in dieser von Bergson kritisierten Fassung – wohldefiniert und bleiben über den Ablauf des Geschehens konstant. Davon könne aber eben nicht ausgegangen werden: Es entsteht vielmehr eine dynamische Folge einander durchdringender Bewußtseinszustände. Die Alternativen – sagen wir: X und Y – sind dabei keine „wirklichen“ Gegensätze, sondern nur Symbole für verschiedene Tendenzen des Ich in den aufeinanderfolgenden Phasen der durée, der inneren Zeit, die das Ich durchläuft. Das Ich ändert sich während dieser Zeit, es wächst und erweitert sich kontinuierlich. Im Prozeß des Abwägens wird die Person also immer wieder eine andere. Daher ist nach Bergson das Reden von verschiedenen Tendenzen oder Richtungen rein metaphorisch: Es gibt immer nur ein Ich, das gerade von seiner Unschlüssigkeit lebt, und sich so lange entwickelt „ ... bis das freie Handeln sich von ihm löst wie eine reife Frucht.“ (WH, S. 99) Bei der Entscheidung für einen bestimmten Entwurf gibt es also keinen vorgezeichneten Weg mit einer bestimmten Richtung und einer Verzweigung an einer bestimmten Stelle: „Nur das ausgeführte Handeln hat den Weg gelegt.“ (WH, S. 100) Das Abwägen ist keine Oszillation zwischen gegebenen Kräften, sondern ein „ ... dynamischer Prozeß, in dem sowohl das Ich als auch seine Motive in einem kontinuierlichen Zustand des Werdens sind.“ (Ebd.; Hervorhebungen im Original) An Bergson kritisiert Schütz, daß seine Auffassung zwar wohl für das „reine“ Entwerfen in der Phantasie zutreffe, aber nicht für ein Entwerfen, bei dem der Akteur sich auch an fertigen Handlungen – mit allen ihren Konsequenzen – orientiert – wie das ja für die drängenden Probleme und die wichtigen Projekte des Alltags erforderlich ist. Sobald sich im Hin- und Her des Durchdenkens im modo futuri exacti bestimmte Alternativen als gangbar, andere als weniger vertretbar erweisen, tritt alsbald auch eine Intention hinzu, die eine oder die andere Möglichkeit in die Tat umzusetzen. Und dann hat es ein Ende mit der Zirkularität der 6
Henri Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 1948.
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inneren Zeit und dem ewigen Wachsen und Werden des Ich. Jetzt muß gehandelt, zuvor aber erst noch entschieden werden, welche der Möglichkeiten es denn sein soll. Zwar nötigen die Motive den Menschen nicht unmittelbar zum Handeln, aber die „Vernunft“ wird „ ... ihn dabei leiten, die Vor- und Nachteile jeder Möglichkeit abzuschätzen.“ (WH, S. 102) In den Worten von Alfred Schütz: „Sobald die Möglichkeiten meines zukünftigen Handelns als problematische Möglichkeiten in einem vereinigten Feld konstituiert sind, anders gesagt, sobald zwei oder mehr Entwürfe zur Auswahl stehen, kann das Gewicht jeder Möglichkeit in Akten des Urteilens festgestellt werden.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Und dieses Gewicht bestimmt, welche der durchphantasierten Alternativen in die Tat umgesetzt wird.
Gottfried Wilhelm Leibniz Genau das ist aber die Überlegung von Gottfried Wilhelm Leibniz gewesen, wie er sie in seiner Arbeit über die Theodizee niedergelegt hat.7 Gottfried Wilhelm Leibniz wendet sich zunächst ebenfalls gegen eine andere Auffassung: die des französischen Philosophen Pierre Bayle (1647-1706). Der hatte die Seele mit einer Waage verglichen, auf der die Vernunft auf der einen und die verschiedenen Neigungen auf der anderen Schale als Gewichte fungieren. Die Waage ist zunächst immer im Gleichgewicht. Sie neigt sich zu einer Seite, wenn sich die Gewichte jeweils unterscheiden und der Inhalt einer Schale schwerer wird als der der anderen. Ein hinzutretendes Argument erhöht das Gewicht einer Idee, eine neue Idee überstrahlt die anderen, die Besorgnis vor schwerem Mißvergnügen vermag mehrere erwartete Vergnügen aufzuwiegen. Die Entscheidung fällt für die Schale mit dem höheren Gewicht. Sie fällt umso schwerer, je mehr sich die Gewichte gegensätzlicher Argumente angleichen.
Diese Auffassung hält Leibniz für nicht richtig, weil es oft mehr als zwei Schalen gebe, weil es in jeder Phase des Abwägens wollende Absichten gebe und weil keineswegs immer zu Beginn ein Gleichgewicht herrsche. An die Stelle des Waage-Modells setzt Leibniz deshalb eine andere Idee: die Vorstellung verschiedener, sequenziell zu durchlaufender „Phasen des Wollens“. Leibniz unterscheidet dabei drei Phasen. In der ersten Phase, der volonté antécédente, wird jedes Gewicht getrennt und für sich betrachtet. Wenn es jetzt kein Gegengewicht gäbe, würde dies den Entschluß bedingen. Die mittlere Phase, die der volonté moyenne, entsteht in dem Aufkommen von Gegengewichten: Den positiven Gewichten werden negative beigegeben, und falls die positiven Gewichte dann immer noch überwiegen, wird der Wille dieser Kombination zuneigen. An dieser Stelle findet ein Abwägen der 7
Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee, Leipzig 1879; insbesondere Teil IB: Versuche über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, S. 181ff. und 263 ff.
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Entwürfe durch die „prüfende Vernunft“ statt. Das endgültige Wollen entspringt aber dem Konflikt und dem „Zusammenströmen all dieser einzelnen Begehrungen“. Und zwar so „ ... wie in der Mechanik (sic!; HE) die zusammengesetzte Bewegung aus allen Tendenzen resultiert, die in ein und demselben beweglichen Körper auftreten, aber auch jeder einzelnen Tendenz genügt, indem sie sie alle gleichzeitig verwirklicht.“ (WH, S. 103f.; Hervorhebung nicht im Original) Dies ist die letzte Phase, die der volonté finale. Als Folge des Abwägens in der mittleren Phase, in der Tendenz auf Gegentendenz folgt, kommt es in diesem abschließenden, „finalen“ Wollen zum wollenden fiat und zum endgültigen Entschluß: So lasset uns denn die Deutsche Bank zwecks eines Überfalls betreten!
Erst dieses letzte Wollen, die volonté conseqénte, décrétoire et défintive, legt fest, was getan wird: „Dieses nachfolgende, endgültige Wollen bestimmt die Richtung der Handlung, und von diesem Wollen sagt man, daß jeder das ausführt, was er ausführen will, wenn er es nur ausführen kann.“ (WH, S. 104)
Alfred Schütz schließt sich erkennbar dieser Idee von Leibniz von den verschiedenen Phasen des Wollens an. Allerdings nicht, ohne – mit Leibniz – auf einige Begrenzungen hinzuweisen. Vier Grenzen des „vernünftigen“ Wollens nach Leibniz nennt Schütz: Erstens ist unser Wissen unvollständig und inhomogen. Zweitens neigt unser Verstand zu systematischen Fehlurteilen; insbesondere scheinen zeitlich, räumlich und sozial naheliegende Dinge uns mehr zu beeinflussen als entferntere, besonders in dunkler Zukunft liegende. Drittens sind Menschen kaum in der Lage, alle Einzelgewichte nach „dem Verfahren des Buchhalters“ auch wirklich genau aufzulisten und pedantisch zu vergleichen. Und das liegt viertens vor allem daran, daß uns die Mittel fehlen, die uns zu einer perfekt informierten Abschätzung der objektiven Wahrscheinlichkeiten und der Gewichte befähigen würden.
Hieran knüpft Schütz mit seiner Vorstellung an, daß es ein perfekt informiertes Abwägen nicht geben könne, daß aber gleichwohl der Akteur mit der Komplexität der Dinge nicht alleine gelassen sei: Die Lebenswelt ist bereits vorstrukturiert und gibt zahllose Anhaltspunkte dafür, was jetzt vernünftigerweise zu tun ist.
Edmund Husserl Die Position von Edmund Husserl hatten wir bereits kennengelernt: Es ist die Idee des Zweifels, ausgelöst durch eine unerwartete Erfahrung und die dadurch veranlaßte Überführung der offenen in problematische Möglichkeiten – bis zu dem Punkte, an dem der Zweifel in eine neue Gewißheit verwandelt worden ist. Noch einmal: In einer Reihe aufeinanderfolgender, nicht endgültiger Entscheidungen nimmt das Ich Partei für eine der wetteifernden Möglichkeiten und Gegenmöglichkeiten und stellt fest, was jeweils dafür und was dagegen spricht. Dieser Prozeß hält so lange an, bis es keinen Zweifel mehr gibt – sei es, daß jetzt eine Entscheidung fällt, wenngleich die Sache noch nicht bereinigt ist, oder
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sei es, daß der Zweifel in eine vorläufige, aber brauchbare Gewißheit, eine praktisch verwendbare Gewißheit „auf Widerruf“ verwandelt wird (vgl. WH, S. 106).
Laut Alfred Schütz konvergieren alle diese drei Ansätze in drei Punkten: Erstens versetzen sie sich in die Perspektive des abwägenden Akteurs während des Entscheidungsvorgangs selbst. Zweitens werden die gemachten Erfahrungen und deren Wirkung auf das Geschehen, insbesondere für die Ausgangssituation und die Änderung der jeweiligen Gewichtungen systematisch beachtet. Und drittens sind es schließlich bestimmte Gewichte, die den Entwürfen „beigegeben“ werden, die den Ausschlag dafür geben, welcher der erwogenen bzw. schließlich entwickelten Entwürfe die Grundlage für das fiat und damit für das konkrete Handeln bildet.
Gewichte und Bezugsrahmen Die Bestimmung der Gewichte wird damit zu dem Problem bei der Entscheidung über Entwurf, Wollen und schließliches Handeln. Sicher ist, daß die Gewichte den verschiedenen Projekten nicht von vornherein und fest zugewiesen gewissermaßen „innewohnen“. Andererseits wird die Bewertung nicht im Entwerfen selbst ganz neu geschaffen. In diesem Punkte hatte sich Schütz ja vor allem von Bergson abgewandt. Wo also kommen die Gewichte her? Alfred Schütz knüpft hier an eine Idee an, die wir bereits bei Talcott Parsons und seiner Theorie der normativen Orientierung in Kapitel 1 oben in diesem Band kennengelernt hatten. Danach werden ja alle Situationen erst einmal in einem übergeordneten Bezugsrahmen bewertet. Anders ist ein konsistentes Handeln gar nicht denkbar, weil die Ziele und die Mittel sonst at random schwanken. Und genau dasselbe schreibt auch Alfred Schütz für den Fall der notwendig gewordenen Gewichtung der Entwürfe: „ ... der Entwurf wird in einem vorgegebenen Bezugsrahmen bewertet.“ (WH, S. 107; Hervorhebung nicht im Original)
Danach ist also jede tatsächliche Situation, auch dann, wenn sie problematisch geworden ist, immer in einen Rahmen von Werten und Interessen eingelagert. Das hat insbesondere damit zu tun, daß es keine isolierten Interessen und Werte gibt, sondern immer nur Systeme davon. Motive, Zwecke und Mittel bilden – horizontal und vertikal gegliederte – Zusammenhänge (vgl. dazu auch noch die Abschnitte 3.2 und 3.3 unten). Und wenn an einer Stelle ein Problem entsteht, dann wird diese Lücke immer im „Rahmen“ dieses Gesamtsystems geschlossen: „Jeder Zweck ist nur ein Mittel für einen anderen Zweck; jeder Entwurf ist in einem übergeordneten System entworfen.“ (WH, S. 108; Hervorhebungen nicht im Original)
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Jede Wahl eines einzelnen Entwurfes verweist auf ein zuvor entstandenes, bzw. zuvor gewähltes, übergeordnetes System von untereinander verbundenen, mehr oder weniger abstrakten, vortypisierten Erwartungen. Diese bilden das System von Plänen, Schemata und Drehbüchern, das unser Wissen und die subjektiv erlebte Welt in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht ordnet, so wie wir uns das für unser Leben zurechtgelegt haben bzw. wie es uns von der Lebenswelt „auferlegt“ worden ist: „In unserem täglichen Leben sind unsere entworfenen Zwecke Mittel in einem vorbedachten, besonderen Plan – für die Stunde oder das Jahr, für die Arbeit oder die Freizeit; alle diese besonderen Pläne sind jedoch unserem Lebensplan als dem umfassendsten Plan unterworfen, der die untergeordneten Pläne bestimmt, selbst wenn diese untereinander nicht harmonieren.“ (WH, S. 108)
Kurz: Die Lebenswelt ist „immer schon“ über bestimmte Vorerfahrungen von einer Hierarchie von Plänen, Interessen und Zonen unterschiedlicher Wichtigkeit durchzogen. Und es ist diese Relevanzstruktur, die den Rahmen für die Zuteilung der Gewichte an die zunächst ganz schwerelos durchphantasierten Entwürfe bildet. Dieser Rahmen wird vor allem dann benötigt, wenn es an bestimmten Stellen Zweifel und Fragen gibt. Meist funktioniert wegen der Existenz des Bezugsrahmens die rasche Wiederherstellung der subjektiven Ordnung des Alltags ganz gut. Aber es gibt auch Situationen und Konstellationen, in denen sogar der Rahmen der Relevanzstruktur einbricht. Solche Situationen seien niemandem gegönnt. Die Nachtmahre der Sinnlosigkeit beginnen dann ihren Flug. Und kaum etwas verwirrt die Menschen mehr als der Verlust des obersten Rahmens der Fraglosigkeiten, der es ihnen erlaubte, die vielen Fragen und Zweifel des Alltags mit souveräner Leichtigkeit zu übergehen. Zum Glück kommt das nicht allzu oft vor.
Eine kurze Zusammenfassung Eine kurze Zusammenfassung ist jetzt wohl nützlich. Handeln ist nach Alfred Schütz ein im Prinzip entworfenes und reflektiertes Tun. Aber die dafür nötige Aufmerksamkeit wird geschickt verteilt: dorthin, wo es nötig ist. Die „hell-wachen“ Menschen handeln also stets mit Sinn: Sie verfolgen Ziele und wollen – bzw. müssen – Probleme lösen. Sie stellen sich in Gedanken vor, was sie mit ihrem Tun in Zukunft bewirken können. Und sie handeln schließlich gemäß der Stärke ihrer Um-zu-Motive, aufruhend auf den Weil-Motiven ihrer Biographie. Nicht immer denken sie sich bei ihrem Tun etwas Besonderes, vor allem dann nicht, wenn es fertige, bisher gut bewährte Lösungen gibt. Das Handeln findet meist in einem fraglosen Rahmen der offenen Möglichkeiten, der leeren Erwartungen am Horizont des Wissens, statt. Manchmal werden die Menschen aber verunsichert: Wenn etwas anders ist als gewohnt und wenn die Entscheidung wichtig ist. Dann kommen Zweifel auf, wo vorher Gewißheit war, und es entstehen Fragen, wo zuvor Fraglosigkeit herrschte. Besonders dann
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machen Menschen neue Pläne, reflektieren Konsequenzen, bewerten denkbare Alternativen und wissen nicht mehr, was sie tun sollen. Nun müssen Teile der leeren Erwartungen aus dem Horizont herausgegriffen und zu problematischen Möglichkeiten umgewandelt werden. Dazu spielen die Menschen in der Phantasie – modo futuri exacti – Entwürfe durch; und sie „definieren“ ggf. die Situation in einem eigenen intentionalen Akt derart, daß eine neue Gewißheit einfach hergestellt wird. Das ist nicht immer, aber oft genug, ein sehr mühseliger Akt. Stets ist jedoch auch diese Wiederherstellung der Gewißheit von vortypisiertem Wissen geleitet: Die Menschen wissen zwar nicht – mehr – genau, was sie jetzt tun sollen. Aber sie kennen weiterhin ihre übergeordneten Interessen und die groben Strukturen der Welt, in der sie leben. Es ist dieser Bezugsrahmen, der es erlaubt, auch bei Zweifeln und bei Fragen den durchphantasierten Entwürfen alsbald wieder Gewichte zu verleihen – und einen Entwurf davon als Grundlage für das Handeln auszuwählen. Die Gewichte sind nichts anderes als die Vorteile und Nachteile der verschiedenen Alternativen in bezug auf die Interessen der Menschen. In einem – manchmal mehr, manchmal weniger – „dramatischen“ Ringen über diese Gewichtung der Alternativen fällt schließlich eine aus der Sicht des Akteurs sinnhafte und vernünftige Entscheidung – und zwar: mit der quasi-kausalen Notwendigkeit, mit der eine reife Frucht vom Baume fällt. Diese Entscheidung ist – wenn nichts Ungebührliches weiter geschieht – die Basis dafür, daß die neue Lösung alsbald wieder in den, nun veränderten, Horizont der offenen Möglichkeiten abgelagert wird. Es ist eine Gewißheit auf Widerruf: bis zum nächsten Zweifel und bis zur nächsten wichtigen Entscheidung.
Handeln ist also nach Schütz stets eine Entscheidung, auch das innere Tun der Auswahl durchphantasierter Entwürfe und das auslösende wollende fiat. Diese Entscheidungen treffen die Menschen nicht nach Zufall, aber auch nicht perfekt informiert oder konsistent motiviert. Sie sind auch nicht von normativen Vorgaben blind getrieben, sondern orientieren sich vielmehr in verständiger Weise darin. Sie sind nicht allein von äußeren Zeichen stimuliert, nehmen sie aber als Hinweise wahr und interpretieren sie verständig. Und ihr Ich schwankt auch nicht bloß in einem „dynamischen Werden“ nach Maßgabe der inneren durée, wie Henri Bergson glaubte. Sondern es bewertet die Entwürfe nach ihrer Brauchbarkeit im Bezugsrahmen der Relevanzstruktur ihres Wissens und ihrer Interessen.
3.2 Alltagshandeln Handeln ist für Alfred Schütz also ein im Grunde entworfenes Verhalten. Das aufwendig-reflektierte Durchgehen von Entwürfen kennzeichnet aber, so Alfred Schütz weiter, nur bestimmte Spezialsituationen. Wir hatten sie mit zwei Umständen in Verbindung gebracht: aufkommende Unsicherheit bei einem an sich routinisierten Ablauf; und die Annahme von weitreichenden Konsequenzen des Tuns. Schütz nennt den Chirurgen und den Börsenmakler als Beispiele. Der Häuslebauer zu Beginn dieses Kapitels war auch ein solcher Fall. Nicht alle Menschen handeln aber als Chirurgen, Spekulanten oder Bauherren. Und auch die treffen in ihrem Leben keineswegs immer riskante oder folgenschwere Ent-
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scheidungen. Und was ist mit dem Menschen, der des Abends zum Postkasten geht und dabei vieles tut – nur nicht lange nachdenken? Das ist der Fall des Alltagshandelns, den Alfred Schütz in seiner Theorie – neben dem Vorgang des Wählens zwischen Entwürfen – vor allem beschreibt. Es ist das Handeln in der von Alfred Schütz so genannten – Lebenswelt. Es ist der Normalfall des sozialen Lebens.
Das Konzept der Lebenswelt Alfred Schütz hat das Konzept der Lebenswelt dem Begriff der „Welt der natürlichen Einstellung“ des schon öfters genannten Philosophen Edmund Husserl und der Idee von der „relativ natürlichen Weltanschauung“ des ebenfalls bereits erwähnten kölner Wissenssoziologen Max Scheler (1874-1928) entlehnt.8 Damit ist – in einer Formulierung von Aaron Gurwitsch – die Orientierung des Alltagsmenschen auf „ ... die Welt, in der wir uns in jedem Augenblick unseres Lebens befinden“ gemeint, und zwar so „ ... wie sie sich uns in unserer alltäglichen Erfahrung darbietet.“9 In der neueren Soziologie hat Jürgen Habermas in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ das Konzept der Lebenswelt ebenfalls aufgegriffen, in seiner Bedeutung aber verändert. Der Unterschied zu Husserl, Scheler, Gurwitsch und vor allem zu Schütz ist der, daß dort die Lebenswelt sich ausschließlich auf die Art des Wissens der Menschen in ihrer „relativ natürlichen Einstellung“ und auf die Bedeutung dieses Wissens für die Erleichterung alltäglicher Abläufe bezieht. Habermas fügt zu dieser Funktion der Reproduktion des Alltags zwei weitere Funktionen der Lebenswelt ein: die Integration der Menschen in Bezugsumwelten und die Sozialisation der Menschen bzw. die Stützung ihrer Identität.10 Wir werden diese – andere – Bedeutung des Begriffs der Lebenswelt in Kapitel 10 unten in diesem Band noch einmal gesondert aufgreifen und dort auch in aktuellere und andere theoretische Problemstellungen der Soziologie einbetten.
Wie sieht die „natürliche Einstellung“ in der Lebenswelt nun aber aus?
8
Max Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens, in: Max Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926.
9
Aron Gurwitsch, Einführung, in: Schütz I, S. XV.
10
Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt/M. 1981, Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt, S. 210ff. insbesondere.
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Die „natürliche Einstellung“ In der natürlichen Einstellung in der Lebenswelt sind die Umstände, unter denen gehandelt wird, ganz selbstverständlich: Sie gelten ihm ohne jeden Zweifel – allerdings nur bis auf Widerruf: „In dieser Einstellung ist die Existenz der Lebenswelt und die Typik ihrer Inhalte als bis auf Widerruf fraglos gegeben hingenommen.“ (SL, S. 153)11
Diese Selbstverständlichkeit dient als eine nicht mehr bedachte, unmittelbar verfügbare Informationsressource: „In seinem täglichen Leben hat der gesunde, erwachsene und voll wache Mensch (wir sprechen nicht von anderen) dieses Wissen, sozusagen, automatisch zur Hand.“ (PR, S. 32)
In der natürlichen Einstellung lebt der Mensch in einem „Horizont der Vertrautheit und des Bekanntseins“ (WI, S. 8), bestehend aus „unangezweifelten Vorerfahrungen“ (ebd.) und aus für die Lösung wiederkehrender Probleme ausreichenden „Gebrauchsanweisungen“ und „Rezepten“(DF, S. 58). Er macht sich in seinem Alltagshandeln buchstäblich keine Gedanken – und dazu gäbe es auch keinen Grund.
Idealisierungen Die Selbst-Verständlichkeit und die Fraglosigkeit der natürlichen Einstellung bestehen in zwei – wie Schütz es nennt – Idealisierungen: die Idealisierung des „und so weiter“ und die Idealisierung des „ich kann immer wieder“. Damit ist einerseits die Erwartung gemeint, daß die bisher als richtig erlebten Erwartungen weiterhin gültig bleiben werden. Und andererseits, daß ich das, was ich bisher in der Welt bewirken konnte, auch in Zukunft werde bewirken können.
11
Der Abschnitt folgt in weiten Teilen der Darstellung von Schütz in seinem Aufsatz über die „Strukturen der Lebenswelt“. Die Einzelheiten des Konzepts finden sich jedoch in vielen anderen Beiträgen von Schütz in ähnlicher Weise wieder: Alfred Schütz, Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis menschlichen Handelns (WI), in: Schütz I, S. 3-54; Alfred Schütz, Begriffs- und Theoriebildung in den Sozialwissenschaften (BT), in: Schütz I, S. 55-76; Alfred Schütz, Das Wählen zwischen Handlungsentwürfen (WH), in: Schütz I, S. 77-110; Alfred Schütz, Das Problem der Rationalität in der sozialen Welt (PR), in: Schütz II, S. 22-50; Alfred Schütz, Der Fremde (DF), in: Schütz II, S. 53-69; Alfred Schütz, Die soziale Welt und die Theorie der sozialen Handlung (SW), in: Schütz II, S. 3-21.
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Konstanz Die beiden Idealisierungen sind Teile von generalisierten Erwartungen über die Konstanz der Umstände, unter denen gehandelt wird. Drei solcher Konstanzannahmen gibt es: die Konstanz der Weltstruktur allgemein, die Konstanz der Gültigkeit unserer Erfahrungen von der Welt und die Konstanz der „Vermöglichkeit, auf die Welt und in ihr zu wirken.“ (SL, S. 153; Hervorhebung nicht im Original)
Imperfektes und negatives Wissen Das Wissen in der natürlichen Einstellung ist kein homogenes und schon gar kein „objektiv“ richtiges Wissen: Es ist gegliedert in Zonen unterschiedlicher Genauigkeit und Kohärenz, sowie in Bereiche verschiedener Bedeutung für das Handeln. Die Menschen sind also alles andere als „perfekt informiert“. Über viele wichtige Dinge wissen sie nichts – und müssen es auch nicht wissen. Gerade weil bestimmte Dinge nicht genau gewußt werden, entsteht die Fraglosigkeit der Lebenswelt. Und der Schein der Ordnung kann genau deshalb erhalten bleiben, weil das Wissen im Grau eines offenen Horizontes verschwimmt, von dem die Akteure im Prinzip wissen, daß sie einzelne Aspekte bei Bedarf herausgreifen und genauer thematisieren könnten, es aber normalerweise nicht müssen. Letztlich beruhen die Offenheit des Horizontes und die Fraglosigkeit der natürlichen Einstellung eher auf einer Art von negativem Wissen. Bestimmte Dinge dürfen auf keinen Fall geschehen, damit der offene Rand des Wissenshorizontes nicht weiter thematisiert werden muß. Zum Beispiel: Bei Höflichkeitsfloskeln darf nicht nachgefragt werden, wie die Frage nach dem Befinden gemeint sei, ein Kellner darf einem Gast nicht seine Lebensgeschichte erzählen, aus einem Postkasten darf kein Rauch aufsteigen und bei einer Beerdigung darf am offenen Grab nicht gelacht werden. Wenn es aber doch passiert: Ende der Fraglosigkeit und eine – mehr oder weniger – verzweifelte Suche nach dem Sinn der Situation. Bei aller Ungenauigkeit und Inkohärenz ist das Wissen in der natürlichen Einstellung also gleichzeitig immer auch ein Wissen, das für den Akteur Sinn macht, auch wenn nicht alle Einzelheiten durchdrungen sind und es weite Felder der Ignoranz gibt. Der Sinn hängt jedoch daran, daß an den Stellen, an denen das nicht vorgesehen ist, auch tatsächlich keine Fragen und Zweifel auftauchen.
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Aufschichtungen des Wissens Die Fraglosigkeit des Wissens im Alltag beruht also nicht auf der perfekten Information eines homo oeconomicus, sondern auf der Differenzierung des Wissens in gestaffelte Zonen von unterschiedlicher Reichweite, Genauigkeit und Tiefe. Grundlegendes Merkmal der Struktur des lebensweltlichen Wissens ist diese „Aufschichtung der Welt“ in Zonen unterschiedlicher „Typik“ und „Reichweite“.
Typisierungen Das lebensweltliche Alltagswissen variiert zunächst im Grad der Typisierung, in seiner „Inhaltsfülle“ (WI, S. 2O), in „Initimität und Anonymität“ (PR, S. 29), im Grad der „Klarheit, Unterscheidbarkeit, Genauigkeit und Vertrautheit“ (WI, S. 16). Diese Staffelung bezieht sich ganz allgemein auf die Wichtigkeit der Differenzierung des Wissens für die erfolgreiche Reproduktion im Normalalltag in der jeweiligen natürlichen und sozialen Umgebung: Je näher und je „relevanter“ der jeweilige Ausschnitt der Lebenswelt ist, umso genauer ist das Wissen; je ferner er ist, umso typischer und einfach-strukturierter ist das Wissen – und kann es auch sein. Eskimos können, so hört man, etwa 22 Sorten Schnee unterscheiden, Bewohner des Ruhrgebiets nur zwei. Für Eskimos ist die Differenzierung des Schnees sehr viel wichtiger, als für die Bewohner von Bottrop. Dafür wissen die Eskimos nicht viel über die Vorzüge der Viererkette, von deren Funktionieren in den Lebenswelten des Ruhrgebietes hingegen viel abhängt.
Reichweite Neben der Differenzierung in der Typik ist die Reichweite das zweite Merkmal, nach dem das Alltagswissen strukturiert ist. Die Differenzierung der Reichweite hat wiederum verschiedene Dimensionen: die zeitliche und die räumliche Entfernung und – vor allem – die soziale Distanz der Dinge, auf die sich das Wissen bezieht und für die es wichtig wäre. In zeitlicher Hinsicht werden die Dinge nach ihrer aktuellen Reichweite der Hörweite, Sehweite, der unmittelbaren Wahrnehmung, der „Hand“-habung und Kontrolle von denen unterschieden, die nicht in unmittelbarer Reichweite sind. Es gibt eine Welt, „die vormals in meiner Reichweite war“ (SL, S. 155; Hervorhebung nicht im Original), es jetzt aber nicht mehr ist. Davon gibt es einige, die ich wieder in die aktuelle Reichweite bringen könnte, und andere, für die das
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unmöglich ist. Ferner existieren Dinge, die durch bestimmte Aktivitäten in Reichweite gebracht werden können, es jetzt aber noch nicht sind. Dies ist die erlangbare Reichweite. Handeln kann dann als der Versuch betrachtet werden, erlangbare Dinge in aktuelle Reichweite zu bringen. Die zeitliche Differenzierung der Reichweite ist nichts anderes als die Struktur der Erwartungen, die die Akteure über die Kontrolle der verschiedenen Dinge und Ressourcen haben. Für die räumliche Differenzierung der Reichweite können die gleichen Überlegungen angestellt werden: Es gibt räumlich unmittelbar erreichbare, entfernte, aber prinzipiell erreichbare, sowie entfernte, aber nicht erreichbare Dinge. Wanderung, Reisen, Transport, Kommunikation sind sämtlich Versuche, räumliche Distanzen zu verringern und die räumliche Reichweite der Dinge zu vergrößern. Die räumliche und die zeitliche Differenzierung der Reichweite bezieht sich auch auf die soziale Umwelt: Manche Akteure sind in unmittelbarer räumlicher und zeitlicher Nähe. Sie sind körperlich präsent. Andere dagegen nicht. Es gibt Vorgänger, Zeitgenossen und Nachfolger. Und nur mit den Zeitgenossen können wir unmittelbar zu tun haben. Die Lebenswelt besteht aus Personen, die – wenigstens zu einem erheblichen Teil – präsent sind. Dies macht ihre eigenartige bestimmende Kraft vor allem aus.
Das Wissen in der natürlichen Einstellung hat vor allem auch eine soziale Komponente. Es ist die Differenzierung und Typik des Wissens über die „soziale Mitwelt“ der auch noch lebenden „Nebenmenschen“: „Nebenmenschen wissen voneinander in einer mannigfach gegliederten Typisierung, die alle Grade der Erfülltheit, Klare, Intensität und Anonymität durchläuft und die zu beschreiben Aufgabe einer philosophischen Soziologie ist.“ (SL, S. 156)
So wie alle anderen Objekte so nehmen sich Menschen gegenseitig auch je nach „Relevanz“ unterschiedlich genau und unterschiedlich typisiert wahr: Je wichtiger und je näher die soziale Mitwelt ist, umso genauer und umso differenzierter sind die „Stereotype“ über andere Menschen und Gruppen. Soziale „Vor“Urteile sind also nicht nur unvermeidlich. Sie sind ein Teil des Umgangs der Menschen mit einer sehr knappen Ressource: Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung.
Kollektives Wissen, Gruppen und Kultur Das zeitlich, räumlich und sozial gegliederte Wissen unterscheidet sich in seiner Typisierung, Differenzierung und Reichweite zwischen Individuen und sogar innerhalb ein und desselben Individuums – je nachdem in welcher Situation es sich befindet. Dann aber ist das Wissen auch wieder – mehr oder weniger – homogen und kollektiv geteilt. Es ist ein kollektives Wissen von sozialen Gruppen, Le-
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benswelten oder Milieus. Und dann gibt es auch – mehr oder weniger deutliche – Unterschiede im typischen Wissen zwischen Gruppen. Es sind die Unterschiede nicht nur in dem, was die Menschen jeweils wissen, sondern – vor allem – was sie für wichtig, für selbstverständlich und für fragwürdig halten (vgl. dazu auch noch Kapitel 11 und 12 unten in diesem Band ausführlich). Und fragwürdig ist für die Mitglieder einer Gruppe oft genau das, was in der anderen für selbstverständlich gilt. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, was geschieht, wenn Gruppen mit unterschiedlichem Wissen in Kontakt zueinander treten. Die Wissenssoziologie ist der Zweig der Soziologie, der die soziale Verteilung des Wissens untersucht, beschreibt und zu erklären versucht. Eine der wichtigsten Orientierungshypothesen dabei war die von Karl Marx: Die materielle Basis bestimmt den Überbau der Ideen, und die herrschenden Gedanken sind die Gedanken der Herrschenden. Das stimmt zwar so nicht. Aber alle Wissenssoziologen – Karl Mannheim, Max Scheler, Peter L. Berger und Thomas Luckmann etwa, auch Max Weber und Pierre Bourdieu – haben auch herausgefunden, daß es enge Verbindungen zwischen den Alltagsproblemen der Menschen, ihrer Lebenspraxis, und der Art gibt, wie sie ihre Welt „anschauen“: Jedes Wissen ist insofern „standortgebunden“ und „relativ natürlich“. Es ist anders eigentlich gar nicht vorstellbar.
Die typischen Strukturen dieser Aufschichtungen des Wissens in einer Gruppe, die – wie Schütz sie nennt – „Ausdrucks- und Bedeutungsschemata“, können ganz allgemein als die Kultur der Gruppe bezeichnet werden. Und „ ... die Kultur – und sie vor allem – ist ein Bestandteil der uns als selbstverständlich erscheinenden Lebenswelt. Sie ist mitbestimmend für das, was in unserer Kulturwelt als fraglos gegeben, was als fraglich, was als fragwürdig zu gelten hat. Und sie ist auch mitbestimmend für die Abgrenzung der auszulegenden Horizonte, d h. für die Bedingungen unter denen für Zwecke des sozialen Lebens ein auftauchendes Problem als gelöst anzusehen ist.“ (SL, S. 156f.)
Die Kultur ist also nichts anderes als der Vorrat an typisiertem Wissen, das – abgeleitet, entstanden und letztlich „legitimiert“ durch die von den Akteuren im Alltag empfundenen Relevanzstrukturen – die Menschen benutzen, um mit der Überfülle der Informationen fertig zu werden – und dadurch handlungsfähig zu bleiben. Es wäre ohne Grund ganz töricht, von diesen Vorgaben abzuweichen und – zum Beispiel – im Ruhrgebiet genau wissen zu wollen, ob es nicht noch eine dreiundzwanzigste Sorte von Schnee gibt – sofern nicht gerade für „Wetten daß ...“ ein neues Spiel trainiert wird.
Vertrautheits- und Bekanntheitswissen Das Wissen, das die Lebenswelt ausmacht, ist nur ausnahmsweise ein vom Akteur selbst „durchdrungenes“, selbst erworbenes, selbst geprüftes und deshalb
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genaueres und „objektiveres“ und über die Zusammenhänge besser informiertes Wissen. Im Anschluß an William James unterscheidet Alfred Schütz zwei Arten von Wissen, die sich typischerweise in dieser Hinsicht der Genauigkeit unterscheiden: Vertrautheitswissen und Bekanntheitswissen. Das Vertrautheitswissen ist ein Wissen, das „sachverständig“ (SL, S. 157) ist. Es bezieht sich „ ... auf jenen relativ sehr schmalen Sektor des Wissens, von dem jeder von uns gründliche, klare, bestimmte und widerspruchslose Kenntnis nicht nur des Was und Wie, sondern auch ein Verständnis des Warum hat, in dem er also ‚sachverständig‘ ist.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Vertrautheitswissen enthält also auch Wissen über die inneren Mechanismen eines Vorgangs. Es ist eine Art von erklärendem Wissen, von Wissen über Zusammenhänge und über die Folgen, wenn bestimmte Randbedingungen nicht erfüllt sind. Vertrautheitswissen bilden die Menschen für jene Bereiche des Alltags, für die sie es tatsächlich und wiederkehrend brauchen: Ein Automechaniker muß wissen, warum eine Zündspule vorhanden ist und wie er vorgehen müßte, wenn sie ausfällt. Frau Prof. Dr. Helma-Beate Wiesbaden-Wohlbestallt, die wir schon in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ kennengelernt haben, begnügt sich damit zu wissen, was zu tun ist, um ihren MX-5 in Gang zu setzen: Den Zündschlüssel herumdrehen. Sie ist aber stets ganz aufgeregt, wenn es um ihre Karriere geht. Das Wissen von Frau Prof. Dr. Helma-Beate Wiesbaden-Wohlbestallt über ihr Auto ist also ein Wissen, das sich nur auf das Was des Tuns bezieht – Bekanntheitswissen. Solange ihr Mazda funktioniert – und es einen freundlichen Helfer für den Notfall gibt – braucht sie auch nicht mehr zu wissen: „Bekanntheitswissen bezieht sich nur auf das Was und läßt das Wie unbefragt. Was sich begibt, wenn wir die Wählscheibe des Telephons drehen, ist dem Nichtfachmann unbekannt, unverständlich und auch gleichgültig; ihm ist es genug, daß sich der gewünschte Partner meldet. Der Apparat, die Prozedur, das Rezept, die Maximen unseres praktischen Verhaltens werden sich, so nehmen wir an, im normalen Lauf der Dinge in Hinkunft so bewähren, wie dies bisher der Fall war, ohne daß wir wissen, warum dies so ist und worauf sich unsere Zuversicht bezieht.“ (SL, S. 157f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Das Bekanntheitswissen ist umgeben von jenem Horizont der offenen Möglichkeiten, vor dem die Menschen ihre Selbstsicherheit und den Spielraum gewinnen, sich den jeweils aktuellen und wichtigen Problemen mit Hilfe ihres Bekanntheits- und Vertrautheitswissens zuzuwenden: „Die Bereiche unseres Bekanntheits- und Vertrautheitswissen sind umgeben von Dimensionen bloßen Glaubens, die wiederum nach Wohlfundiertheit, Plausibilität, Vertrautheit, Vertrauen auf fremde Autorität, blinde Hinnahme bis hin zur vollen Ignoranz in mannigfacher Weise abgestuft sind.“ (SL, S. 158)
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Wenn das Vertrautheitswissen einmal versagt, dann ist das zwar ärgerlich, aber nicht beunruhigend. Es ist ein Anlaß, sich die Sache noch genauer anzusehen. Manchmal gehört zu den Problemen aber eines, das aus dem Versagen des Bekanntheitswissens herrührt. Das unterbricht den Alltag schon stärker: Der Mazda springt plötzlich nicht – wie gewohnt – an. Rasch ist das Handy zur Hand. Man weiß zwar auch nicht, wie das funktioniert. Aber der Mechaniker kommt sofort. Das Problem ist gelöst, und das Leben kann nach der Behebung der Unterbrechung des Gewohnten weitergehen – bis zu dem Morgen, an dem sich nach dem Herumdrehen des Zündschlüssels die Motorhaube langsam öffnet und vor der Windschutzscheibe eine grüne Hand sichtbar wird.
Sinnzusammenhänge Die Wissenssysteme der Lebenswelt und die individuellen Pläne und „Entwürfe“ sind zwar inkohärent und unvollständig, aber sie sind nicht ohne Beziehung zueinander. Sie stehen – „normalerweise“ – „für das erlebende Subjekt immer in Sinnzusammenhängen“(SL, S. 159; Hervorhebung nicht im Original). Ihre Einzelbestandteile bilden – bei aller sonstigen Unvollständigkeit – eine übergreifende Einheit (vgl. auch noch WI, S. 28). Diese Einheit bezieht sich auf zwei Aspekte: erstens auf die sachliche Integration des Wissens bei den Akteuren selbst und zweitens auf die soziale Verschränkung der Wissens-Systeme über die Akteure hinweg – bis hin zu kompletten, funktionierenden und sozial kontrollierten Zusammenhängen von Handlungsbereitschaften und Erwartungsstrukturen (siehe zu dem zweiten Aspekt unten).
Die sachliche Einheit des Wissens Die Integration des Wissens auf der Ebene des individuellen Akteurs bezieht sich auf die sachliche Abstimmung der subjektiven Kausalannahmen des Zusammenhanges von Mitteln und Zwecken. Es ist das System der Alltagstheorien der Akteure bzw. das der subjektiven – zeitlichen, räumlichen, sachlichen und sozialen – Ordnung bestimmter Projekte und Vorhaben: „Die Kausalrelationen der objektiven Welt sind subjektiv erlebt als Mittel und Zweck, als Hindernis oder Förderung der spontanen Aktivität des Denkens oder Handelns. Sie weisen sich aus als Interessenzusammenhänge, als Problemkreise, als Systeme von Projekten und diesen inhärierenden Durchführbarkeiten. Das System dieser mannigfach verschlungenen Zusammenhänge erlebt das Individuum subjektiv als System seiner Pläne für die Stunde oder für den Tag, für Werk oder Muße, wobei alle diese Einzelpläne in ein oberstes, alle anderen umgreifendes, obschon nicht wi-
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derspruchsfreies System zusammengeschlossen sind, das wir den ‚Lebensplan‘ nennen wollen.“ (SL, S. 159f.)
Die Verwirklichung von Teilzielen kann dann als Zwischenphase zur Bewerkstelligung der übergreifenden Projekte und Pläne angesehen werden: Alle Teilprojekte sind Zwischenschritte und „ ... bloße Mittel, um das Endziel zu erreichen, wie es im ursprünglichen Entwurf definiert wurde. Die Spannweite des ursprünglichen Entwurfs schmiedet die Kette der Teil-Projekte in eine Einheit.“ (WI, S. 27)
Die Zwischenziele sind – um es hier einmal in der Terminologie des Konzepts der sozialen Produktionsfunktionen zu sagen – die indirekten und primären Zwischengüter, die innerhalb einer bestimmten Lebenswelt wichtig werden, um die „eigentlich“ angestrebten Ziele – ein positives Selbstbild bzw. soziale Anerkennung und physisches Wohlbefinden – erreichen zu können (vgl. dazu das Konzept der Sozialen Produktionsfunktionen in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Erst diese Abstimmung eines Systems von subjektiven Kausalbeziehungen und die Einbettung der Einzelpläne in eine übergreifende Planstruktur, im Extremfall die eines Lebensplanes bzw. einer übergreifenden Identität des Selbstes des Akteurs, verleiht den einzelnen Elementen des Wissens ihren subjektiven Sinn. Es ist eine Abstimmung der verschiedenen Wissenselemente in einem – wie Alfred Schütz auch sagt – übergreifenden Interessenzusammenhang (SL, S. 159) – eine Art von Master-Plan für alle Eventualitäten des Lebens. Dieser Plan schmiedet die verschiedenen Segmente und Zonen des Alltagswissens in all seiner Unvollständigkeit, Inkohärenz und Ungenauigkeit für den Akteur zu einer immer noch überschaubaren, „verständlichen“ und deshalb auch sinnvollen Einheit zusammen.
Die soziale Abstimmung des Wissens Für die meisten „Projekte“ wird – über die sachliche Einheit hinaus – die soziale Abstimmung der eigenen Pläne bedeutsam. Denn: „Diese Welt hat nicht nur für mich, sondern auch für dich und dich und für jeden einen Sinn.“ (SW, S. 10)
Anders gesagt: Die Sinnzusammenhänge des lebensweltlichen Wissens haben einen „intersubjektiven Charakter“ (WI, S. 11; Hervorhebung nicht im Original). Diese soziale Integration des Wissens in der Lebenswelt bezieht sich auf drei Aspekte: Das Alltagswissen ist erstens „strukturell sozialisiert“, es ist zweitens „genetisch sozialisiert“ und es ist drittens „im Sinn einer sozialen Wissensvertei-
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lung sozialisiert“ (BT, S. 70f). Der erste Aspekt bedeutet, daß die Akteure von der grundsätzlichen Vertauschbarkeit ihrer Standorte ausgehen (können). Alfred Schütz nennt dies die „Idealisierung der Reziprozität der Perspektiven“ (BT, S. 71; Hervorhebungen nicht im Original). Der zweite Aspekt verweist darauf, daß die Wissensstrukturen und insbesondere ihre Typisierungen und Sinnzusammenhänge in der Regel sozial vorgegeben und meist normativ abgestützt, „sozial gebilligt“ und kontrolliert sind.
Institutionen Der Aspekt der „sozialen Wissensverteilung“ spricht schließlich das Problem der Institutionalisierung an: Man kann sich in der Regel darauf verlassen, daß das Wissen in typischer Weise verteilt ist und daß auf diese Weise soziale Prozesse auch ohne weiteres ablaufen: „Werfe ich einen Brief in den Postkasten, so erwarte ich, daß mir unbekannte Personen, Postbeamte genannt, in typischer, mir nicht völlig verständlicher Weise handeln werden, damit mein Brief in typisch bemessener Zeit den Adressaten erreicht.“ (WI, S. 19f.)
Jede Interaktion, die komplexesten Abläufe des organisierten Handelns, jedes Funktionieren eines sozialen Systems, beruhen darauf: „Eine solche Konstruktion miteinander verwobener Handlungsmuster enthüllt sich also als eine Konstruktion miteinander verwobener Um-zu- und Weil-Motive, die vermeintlich invariant sind. Je institutionalisierter und standardisierter ein solches Verhaltensmuster ist, je stärker es also in sozial anerkannten Weisen typisiert ist, wie in Gesetzen, Regeln, Vorschriften, Sitten, Gewohnheiten etc., umso größer ist die Chance, daß mein eigenes selbsttypisierendes Verhalten den beabsichtigten Zustand hervorbringen wird.“ (WI, S. 29)
Institutionen sind in dieser Sicht also eine spezielle Form der Wissensstrukturen der Akteure: Es sind – relativ sichere – Erwartungen über das Verhalten von Akteuren. Es ist ein Wissen vor allem darüber, daß Abweichungen von den Vorgaben sanktioniert werden – auch wenn nicht genau bekannt ist, wie das im Einzelnen geschieht (vgl. dazu bereits Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ insgesamt). Institutionen beruhen nach Schütz im Prinzip also auf einer typischen Verteilung typischer, sozial gebilligter und sozial verschränkter, Wissensstrukturen. Sie sind der wichtigste Teil des lebensweltlichen Wissens der Akteure, über das sie die Routine ihres Alltags gestalten. Und schon im Interesse der Wirksamkeit des eigenen Handelns ist es daher wichtig, die sozialen Verschränkungen, die kollektiv verbreiteten, gewußten und als gültig unterstellten institutionellen Regeln des sozialen Handelns selbst in das subjektive Alltagswissen mindestens soweit aufzu-
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nehmen, wie dies für die Bedienung der eigenen Interessen als „relevant“ erscheint.
3.3 Rahmen und Rezepte Handeln ist nach Alfred Schütz also zwar im Prinzip durchdachtes und in die Zukunft hinein projiziertes Tun. Normalerweise ist aber für ihn das „Wissen des Menschen, der in der Welt seines täglichen Lebens handelt und denkt“, überwiegend „inkohärent“, „nur teilweise klar“ und „nicht frei von Widersprüchen“ (DF, S. 56): „Unser Wissen im Alltagsleben ist nicht ohne Hypothesen, Induktionen und Vorhersagen, aber sie alle haben den Charakter des Ungefähren und Typischen. Das Ideal des Alltagswissens ist nicht die Gewißheit, nicht einmal die Wahrscheinlichkeit im mathematischen Sinn, sondern bloß die gewöhnliche Wahrscheinlichkeit.“ (PR, S. 32)
Gleichwohl ist dieses bloß ungefähre und nur typische Wissen für die Gestaltung der Alltagsroutinen in der Regel vollauf ausreichend – auch wenn die Akteure durchaus ahnen mögen, daß es bessere Möglichkeiten gibt. Aber warum sollten sie danach suchen, wenn die eingespielte Routine befriedigende Ergebnisse bringt, die Suche nach der besseren Möglichkeit aufwendig ist und – nicht zuletzt – keineswegs einen sicheren Erfolg verspricht?
Die Ökonomie des Nichtwissens Es ist also, so meint Alfred Schütz, eine durchaus vernünftige Entscheidung, sich mit einem unvollständigen Wissen zufrieden zu geben, weil damit, wie die Erfahrung gezeigt hat und verglichen zu dem Aufwand, der für die Suche nach einer besseren Lösung zu treiben wäre, die „ ... besten Resultate ... mit einem Minimum von Anstrengung und bei Vermeidung unerwünschter Konsequenzen erlangt werden können.“ (DF, S. 58; Hervorhebungen nicht im Original)
Die Differenzierung des Wissens in der Genauigkeit ist daher nichts als ein kluger und sehr ökonomischer Umgang mit den immer knappen Mitteln zur vollen Durchdringung der Situation: „Nirgendwo12 haben wir die Garantie für die Verläßlichkeit all dieser Annahmen, durch welche wir uns leiten lassen. Andererseits sind diese Erfahrungen und Regeln aber ausreichend, um das 12
In der – hier verwendeten – deutschen Übersetzung der „Collected Papers“ heißt es, „Irgendwo“, im Original dagegen „Nowhere“. Wir haben uns am Original orientiert.
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Leben zu meistern. Da wir normalerweise handeln müssen und nicht reflektieren können, um den Forderungen des Augenblicks zu genügen, kümmern wir uns nicht um die ‚Forderung nach Gewißheit‘. Wir sind zufrieden, wenn wir eine faire Chance der Realisierung unserer Absichten haben, und diese Chance haben wir, so denken wir jedenfalls, wenn wir den Mechanismus der Gewohnheiten, Regeln und Prinzipien in Bewegung setzen, der sich früher einmal bewährt hat und sich hoffentlich auch jetzt bewähren wird.“ (PR, S. 32; Hervorhebungen nicht im Original)
Daraus wird auch verständlich, daß der Alltagsmensch nur für einige wenige „relevante“ Bereiche seines Alltags ein hochinformierter Experte, ausgestattet mit genauerem Vertrautheitswissen, ist. Für alle anderen Bereiche bleibt er – klugerweise – Laie, mit je nach Ferne des Bereiches zunehmenden Graden an Vergröberung, Ungenauigkeit und Anonymität eines bloßen Bekanntheitswissens – bis hin zur kompletten, ignoranten Ausblendung ganzer Felder möglicher Handlungssphären. Solange die Routine des Alltagswissens einigermaßen zufriedenstellend verläuft und – vor allem – solange keine besonderen Überraschungen und Unterbrechungen auftreten, gibt es auch keinen Anlaß, von ihr abzuweichen. Die Vereinfachungen der Strukturen der Lebenswelt gelten, wenngleich prinzipiell nur bis auf Widerruf, aber sie gelten. Darauf kann man sich verlassen. Und das muß es auch, weil die Energien für etwas anderes benötigt werden als für die möglicherweise erfolglose Suche nach neuen Wegen für verhältnismäßig unwichtige Dinge. Außerdem wissen die Menschen in der natürlichen Einstellung der Lebenswelt aus eigener Erfahrung selbst ganz genau, daß Überraschungen und Unterbrechungen nur ausnahmsweise vorkommen. Aber solche Unterbrechungen kommen natürlich vor. Zum Beispiel dann, wenn plötzlich sehr viel auf dem Spiele zu stehen scheint, wenn sich die Situation in „signifikanter“ Hinsicht ändert, wenn sich das vertraute Wissen mit einem Male nicht länger als ausreichend für die Lösung typischer Probleme erweist, wenn also das „Denken wie üblich“ mit einem Male unwirksam wird (DF, S. 58f.) – wie beim Fremden, der mit dem sozialen Wissen einer ihm bis dahin unvertrauten Gruppe im Alltag in Berührung kommt. Und dann muß etwas in „bewußter“ Weise geschehen, was zuvor ganz automatisch, unreflektiert und ohne besondere Anstrengung geschah: die „Definition“ der Situation.
Die „Definition“ der Situation Letztlich geht es beim Alltagshandeln also um die Frage, auf welche Weise die jeweilige Situation definiert wird und ob dabei von der Routine des Alltagshandelns abgewichen werden muß. Den Vorgang der Definition der Situation kann man sich – mit Alfred Schütz – als einen doppelten, aber simultan ablaufenden, Prozeß der Überprüfung des „Denkens wie üblich“ vorstellen. In einer ersten Dimension wird geprüft, welche Art von Situation, welcher Rahmen der Orien-
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tierung, eigentlich gerade vorliegt. Und in einer zweiten Dimension geht es um die Wahl der richtigen Mittel im gerade geltenden Rahmen der jeweiligen Situation, es geht um Rezepte, die für die Bewältigung der jeweiligen Situation bereitstehen und sich in der Vergangenheit bewährt haben. In der Routine des Alltags vollzieht sich die Definition der Situation meist auf beiden Dimensionen gleichzeitig: Mit dem Rahmen liegen meist auch schon die Rezepte fest. Wer ins Hochamt geht, weiß genau, wann das Agnus Dei kommt. Wer eine Herrensitzung der Blauen Funken besucht, weiß was eine Rakete ist und was dabei zu tun sein wird. Und wer bei Borussia auf der Nordtribüne inmitten eines Meers schwarzgelber Schals und Fahnen steht, weiß, was angesagt ist, wenn die Bayern kommen.
Noch einmal: Zweifel und Fragen Auf jeder Stufe und Dimension der Definition der Situation kann es aber zu Unterbrechungen kommen. Wir hatten oben in Abschnitt 3.1 zwei Arten von Unterbrechungen genannt: Zweifel und Fragen. Sie beziehen sich auf jeweils zwei typische Formen der Abweichung von der Routine der Situationsdefinition – sei es die Routine der Rahmung oder die der Rezeptwahl. Zweifel beziehen sich auf das Problem, ob die bisher als gültig angenommene Lösung auch weiterhin als gültig angenommen werden kann – oder ob nicht manches dafür spricht, daß eine andere, aber im Prinzip ebenfalls denkbare und ausführbare Lösung angemessener wäre. Zweifel beziehen sich also auf das Schwanken zwischen im Grunde fertigen und verfügbaren, alternativen Lösungen: Ist der bisher vermutete oder der jetzt denkbare andere Rahmen der richtigere – fragt sich der Freund jenes Freundes, der schon wieder Geld leihen will? Wäre nicht das bisher verwandte oder das ebenfalls bekannte, aber bislang bei dieser Gelegenheit nicht ausprobierte, andere Rezept das bessere? – fragt sich voller Zweifel die ausgehbereite Lady mit prüfendem Blick vor dem Spiegel und dem überquellenden Kleiderschrank und endet mit dem Seufzer: Ich habe nichts anzuziehen! Zweifel entstehen also, wenn die Wahl zwischen fertigen Projekten des Handelns unsicher geworden ist. Fragen richten sich dagegen auf die Entscheidung, ob die Situation ganz neu durchdrungen werden muß, etwa weil es kein plausibles Modell für die Situation gibt, weil jetzt – anders als sonst – eine Fehlinterpretation oder eine falsche Wahl der Mittel weitreichende Folgen hätte oder weil offenbar das vorliegende Datenmaterial ausreicht, um die Situation – mit allen Zweifeln – dennoch zu definieren. Wie bei den Zweifeln, so kann es auch Fragen für beide Dimensionen der Definition der Situation geben – für die Rahmung und
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für die Rezeptwahl: Jetzt, so denkt sich Herr Fussbroich, muß ich erst einmal im herrschaftsfreien Diskurs argumentativ klären, ob ming Frau nit op eimol janz raderdoll gewooden ess. Jetzt, so überlegt der Bauherr mit Architekten, müssen wir erst einmal Angebote für die Finanzierung des Projektes einholen, ehe man weitersehen kann. Bei Zweifeln bleibt der Akteur also letztlich im Rahmen der bisher bekannten und angewandten Situationsdefinitionen. Fragen führen dagegen zu einer neuen Art der Aktivität: die Suche nach Informationen über bessere bzw. besser interpretierbare Alternativen. Die Möglichkeit – und Notwendigkeit! – ganz anderer Lösungen ist der Anlaß für die Abweichung von der Routine der Situationsdefinition. Sie erst führen zu einer „rationalen“ Durchdringung des zuvor Fraglosen und zu einer Abweichung von der Routine der Situationsdefinition.
Rahmung Die erste Frage bei der Definition der Situation lautet also: Was ist hier los? Was geht hier vor? In welchem „Film“ befinde ich mich gerade? Es geht um die Rahmung, um das Framing, der Situation. Mit der Rahmung wird festgelegt, um was es in der Situation eigentlich geht. Anders ausgedrückt: Es wird das jeweils „relevante“ Oberziel in der Situation, das jeweils gültige primäre Zwischengut, die Codierung, das Leitmotiv herausgehoben, an dem sich – so vermutet der Akteur jedenfalls einstweilen – die Akteure alle orientieren: die schnelle Mark bei der Prostituierten in der Interaktion mit dem Freier und die gefühlvolle Liebe in der Beziehung zum Lebensgefährten – hoffentlich. Und es ist schon wichtig für alle Beteiligten, daß hier keine Verwechslungen und Unsicherheiten auftreten.
Es geht bei der Rahmung der Situation um die Selektion eines Modells der Situation und der damit verbundenen Festlegung des Zieles, das jetzt im Mittelpunkt des Interesses und der Orientierung der Akteure steht (vgl. dazu auch schon die Abschnitte 6.7 und 6.8 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie noch insbesondere das Kapitel 7 unten in diesem Band). Die Rahmung ist die Phase, die im interpretativen Paradigma als „Interpretation“ bezeichnet wurde. Dort war das ein sehr reflektierter Vorgang der inneren Kommunikation. Meist kommt es – wie wir schon gesehen haben – zu einer besonderen inneren Aktivität aber gar nicht erst, weil der Rahmen der Situation schon eindeutig genug definiert ist: Kein Zweifel stört die Entscheidung, das über die jeweiligen Symbole „angesagte“ Modell der Situation sofort und automatisch zu übernehmen. Erst wenn die Symbolik gestört oder das rahmende Modell der Situation nicht eindeutig „angezeigt“ sind, kommt der Akteur auf die Idee,
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daß vielleicht ein anderer Rahmen der richtigere wäre. Falls es einen solchen anderen Rahmen gibt, vor dem die aktuellen „Daten“ leichter zu deuten sind, dann wechselt der Akteur seine Rahmung sehr rasch: Aha, das ist kein Pontifikalamt, sondern die Lachende Sporthalle, weil Weihbischöfe selten Pappnasen tragen, wenn sie eine Messe lesen, und weil es in der Lachenden Sporthalle nach einem ähnlich strengen Ritus zugeht wie im Kölner Dom zur Osternacht. Falls es zu einer raschen Reinterpretation und Redefinition der Situation aber nicht kommt – sei es, daß die Störungen durch kein verfügbares Modell aufgefangen werden, sei es, daß man überhaupt nicht mehr weiß, worum es jetzt geht – , stellt sich der Akteur die Frage, ob er nicht mehr über die Sache wissen sollte. Nun erst wird er versuchen, die zuvor für ganz unproblematisch gehaltene Situation näher zu durchdringen. Er wird, so könnte man in Anschluß an Abschnitt 6.7 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ sagen, den Modus der Informationsverarbeitung, die Heuristik der Entscheidungsfindung, wechseln und mehr „reflektieren“ als normalerweise üblich (vgl. auch dazu noch Kpitel 7 unten in diesem Band). Dazu wird er umso eher neigen, je mehr Ungereimtheiten gegenüber der gewohnten Rahmung auftreten, je wichtiger es ihm erscheint, jetzt keine falsche Definition des Rahmens der Situation zu treffen und je geringer der Aufwand ist, eine neue, bessere Rahmung zu finden.
Rezeptwahl Innerhalb der richtigen Rahmung muß eine zweite Entscheidung getroffen werden: Was ist jetzt zu tun? Wie soll ich vorgehen? Was ist für das Erreichen des Zieles zu empfehlen. Kurz: Es geht – nach der richtigen Definition der leitenden Ziele – um die Wahl der richtigen Mittel für die jeweils gerahmte Situation. Normalerweise ist auch diese Entscheidung kein besonderes Problem. Nicht nur die Rahmung und die Definition des Oberziels, sondern auch die Wahl der Mittel läßt „alle Anzeichen von Habitualität, Automatismus und Halbbewußtsein erkennen“ (DF, S. 65): „Im habituellen und Routinehandeln des Alltags wenden wir offensichtlich die gerade beschriebene Konstruktion in Form von Rezepten und Faustregeln an, die die Probe bis dahin bestanden haben, oder wir verknüpfen häufig Mittel und Zwecke ohne ein klares ‚Wissen von‘ ihrer wirklichen Verbindung zu haben.“ (WI, S. 24)
Gewählt wird also wieder ein Modell, diesmal ein vortypisiertes Modell der angemessenen Mittel, mit denen die Ziele aus dem Modell des Rahmens der Situation habituell und routinehaft erreicht werden können. Zur Erledigung der normalen Alltagsgeschäfte genügen dabei – zumal unter den Bedingungen einer
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eindeutigen Rahmung – die üblichen Rezepte und nur ein grobes Bekanntheitswissen um die Zusammenhänge vollauf: „Das Kochbuch hat Rezepte, Listen von Zutaten, Mischungsformeln und Anweisungen für die Zubereitung. Das ist alles, was wir brauchen, um einen Apfelkuchen zu machen, und auch alles was wir brauchen, um mit den Routineangelegenheiten des täglichen Lebens zurechtzukommen. Wenn wir den so zubereiteten Apfelkuchen genießen, fragen wir nicht, ob die durch das Rezept angezeigte Herstellungsart vom hygienischen oder alimentarischen Gesichtspunkt aus die angemessenste ist, ob sie die kürzeste und die billigste ist. Wir essen ihn und freuen uns daran.“ (PR, S. 33; Hervorhebungen nicht im Original)
So ist es wohl. Jedenfalls: Solange der Kuchen schmeckt. Aber manchmal weiß man nicht, ob jetzt ein Apfelkuchen das Richtige ist, weil – sagen wir einmal – die Erbtante lieber Buttercremetorte mag, und wie eine Buttercremetorte, die speziell ihr zusagt, zubereitet werden kann. Das Problem, das jetzt entsteht, ist formal das gleiche wie das bei der Rahmung der Situation. Es geht um die Frage, ob eine einmal eingespielte Routine ausreichend ist, ob die bisher erfolgreichen Rezepte des Handelns weiter zufriedenstellend zu sein versprechen. Oder: Ob es Zweifel gibt, das herkömmliche Rezept bedenkenlos weiter zu verwenden – oder jetzt ein anderes zu versuchen. Oder: Ob Fragen auftauchen, die es erforderlich machen, von der Routine der Rezepte abzuweichen, den Modus der Informationsverarbeitung für die Wahl der Mittel zu ändern und nach neuen Wegen zu suchen. Wie bei der Rahmung werden aufkommende Fragen aber nur dann zu einer stärkeren Durchdringung bei der Mittelwahl führen, wenn eine bessere Alternative im Bereich der Möglichkeiten zu vermuten ist, wenn das neue Rezept wesentlich besser wäre als das herkömmliche und wenn das nötige Wissen verhältnismäßig leicht zu beschaffen ist. Ansonsten wird auch hier das geschehen, was für Fragen nach der richtigen Rahmung zu sagen war: Es wird die Routine auch für die Rezepte beibehalten – wohlwissend, daß es auch anders ginge.
„Projekte“ Normalerweise wird die Situation in Hinsicht auf beide Aspekte – das Modell für den Rahmen und das obere Ziel und das Modell der Rezepte für die dazu angemessenen Mittel – simultan definiert. Dies hat einen einfachen Grund: Das lebensweltliche Wissen besteht vor allem aus einem System von fix und fertigen Modellen von Situationen, in denen der Rahmen und die Routine zu einer Einheit zusammengeschlossen sind. Und genau das macht das alltägliche Leben noch einmal ein ganzes Stück leichter: Mit der Rahmung ist gleichzeitig auch festgelegt, was jetzt zu tun ist. Und wenn der Rahmen fraglos ist, dann ist es auch
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die Routine. Zum Hochamt gehen wir immer im Frack ohne, zur Lachenden Sporthalle stets im Frack mit Pappnase. Allerdings muß es diese Einheit von Rahmen und Routine keineswegs immer geben – auch im normalen Alltag nicht. Für viele ganz eindeutig definierte Situationen ist nicht festgelegt, was zu tun ist: Parties, small talk im Zugabteil oder kriegerische Auseinandersetzungen legen nicht fest, was jetzt zu tun ist. Und eine Menge von Rezepten sind für ganz unterschiedliche Rahmungen geeignet: Autofahren, Höflichkeitsfloskeln oder die Zubereitung eines Festmahls lassen sich für ganz unterschiedliche Rahmungen nutzen. Gleichwohl gibt es meist recht enge Verbindungen von Rahmen und Rezepten. Es gibt auch eine Routine der Festlegung des Handelns, die nicht auf fertige Rezepte zugreifen muß. In manchen Grenzfällen ist die rationale Durchdringung, die freie Intuition und das Neufinden von Rahmen und Rezepten geradezu vorgeschrieben: Jetzt muß nachgedacht werden! Jetzt ist Kreativität verlangt! Jetzt müssen wir ungezwungen sein! Aber auch das wissen die Akteure meist vorher und sind schon darauf eingestellt. Das macht beispielsweise das Künstlerleben so schön – und so anstrengend –, weil Künstler – sobald zu merken wäre, daß ihre Phantasie auch Regeln folgt – sich gegenseitig bald daran erinnern, daß es die Regel ihres Lebens ist, daß es keine geben darf.
Mit gewissen Symbolen fest verbundene, als fertige Modelle des Handelns verfügbare, Einheiten des Wissens um Rahmen und Rezepte seien auch als Projekte bezeichnet. Es sind die kognitiven Grundeinheiten der normalen Vollzüge des Alltagshandelns. Sie sind die Eckpfeiler und Grundmarkierungen für die vielen, eigentlich höchst prekären, Entscheidungen des Alltags und der Abstimmung der Akteure untereinander. Wir sind ihnen unter vielerlei anderen Bezeichnungen schon begegnet: soziale Drehbücher, Rollen, mentale Modelle unter anderem. Und wir haben sie unter anderen Namen schon vorher kennengelernt: „Handlungen“, cultural systems, Me-Bereiche oder Handlungslinien zum Beispiel (vgl. insgesamt dazu und zu einer systematischen Verbindung dieser Gedanken zur erklärenden Soziologie vor allem noch Kapitel 7 über das „Framing“ von Situationen unten in diesem Band).
Praktiken und kollektive Ignoranz So weit die Routine des Alltags: die Routine der Rahmung wie die Routine der Mittelwahl. Sie trägt die Grundlast der Problemlösungen und der erfolgreichen Reproduktion im Alltag. Sie entsteht – meist – in einem länger andauernden Prozeß von Versuch, Irrtum und Auslese erfolgreicher Praktiken. Die Lebenswelt spiegelt insofern nichts als ein eingespieltes Gleichgewicht von kulturellen Praktiken, die in ihren Ergebnissen den Interessen und Bedürfnissen der Menschen nicht allzu fern stehen dürften – auch wenn es „objektiv“ bessere Lösungen geben könnte. Vor allem ist davon auszugehen, daß diese Praktiken der Lebenswelt das einzig wirklich Verläßliche sind, von dem die Akteure in ihren vielen Entscheidungen im Alltag ausgehen können. Schon die bloße Unsicherheit, ob die
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„bessere“ Lösung von den anderen Akteuren auch geteilt, verstanden und auch befolgt würde, bringt alle Akteure in einer Art kollektiver Ignoranz dazu, sich auf das zu verlassen, was bisher üblich war – auch wenn alle für sich eine bessere Lösung schon zur Hand haben sollten. Allein deshalb – wegen des Fehlens auch nur annähernd verläßlicherer Alternativen in der Reziprozität der Perspektiven – ist es nicht unklug, von den ziemlich groben und keineswegs perfekten Strukturen der Lebenswelt „bis auf Weiteres“ auszugehen.
Die Relevanzstruktur Die Rahmung der Situation und die – daran anknüpfende – Wahl der Mittel ist damit also keine Frage der freien Reflektion, der individuellen Interpretation und der stetigen Neuschöpfung von Situationsdefinitionen. Es ist ein von den Interessen der Akteure, von dem ihnen verfügbaren lebensweltlichen Wissen und – insbesondere – von der Unsicherheit und vom Nichtwissen über Alternativen gesteuerter Vorgang. Das Muster der typischen Interessen und des – damit verbundenen – typischen Wissens über die verschiedenen Bereiche der Lebenswelt, nennt Alfred Schütz die Relevanzstruktur der Lebenswelt der Akteure. Mit dem „Prinzip der Relevanz“ (PR, S. 44f.) ist allgemein die Notwendigkeit zur Selektion eines „Hauptthemas“ bzw. eines „Sinnhorizontes“ in einer gegebenen Situation gemeint, um den alle anderen – denkbaren – Aspekte der Situation herumgruppiert sind. Die Relevanzstruktur ist für Alfred Schütz in diesem Sinne das System der Pläne und der Zonen von Interessen, unter dem alle speziellen Situationen – gewissermaßen hierarchisch und als typisierte Untersysteme – angegliedert sind. Es ist in der Biographie entstanden – und zwar aus wiederkehrenden Situationen und Erfahrungen dessen, was jeweils für den Akteur „relevant“ war und was nicht. „Relevant“ heißt dabei letztlich: Für seine Reproduktion, für sein Selbstbild und für sein physisches Wohlbefinden als wichtig und erfolgreich erlebt.
Thematische Relevanz In der unbefragten Routine des Alltags bestimmt also – ganz automatisch – die unbefragte Relevanzstruktur die Definition der Situation. Alfred Schütz spricht für diesen Fall auch von der Motivationsrelevanz. Im Rahmen der Motivationsrelevanz
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„ ... vollzieht sich diese (die Definition der Situation; HE) selbst als ‚selbstverständlich‘ in der Weise des fraglos Gegebenen. Dies wird bei allen unseren Routinegeschäften der Fall sein.“ (SL, S. 161)
Aber nicht immer – so haben wir gesehen – bleibt es bei dieser Freundlichkeit im Fraglosen. Manchmal wird die ansonsten so einfache Definition der Situation zu einem Problem, angesichts dessen die Routine der Situationsdefinition nicht mehr weiterhilft. Diesen Fall bezeichnet Alfred Schütz als thematische Relevanz. Es ist der Fall einer Situation, bei der es Zweifel und Fragen gibt: „Das vordem als fraglos gegeben Angesetzte wird dann zum Problem, einem theoretischen, praktischen oder zu einem emotionalen Problem, das formuliert, analysiert und gelöst werden muß.“ (SL, S. 154)
Nun erst beginnt die – oft unendlich mühselige – Suche nach einer neuen Routine, für die Rahmung wie für die Rezeptwahl, und nach einer Wiedergewinnung jener Sicherheit, die den Alltag erst gestaltbar und lebenswert macht. Ausgelöst wird diese Suche durch eine Abweichung von der gewohnten „Typik“ der Situation und durch die dadurch ausgelösten Störungen. Schütz benutzt hier wieder einen Begriff von Husserl: Die unterbrochene „Synthesis der Rekognition“, die problematisch gewordene Wiedererkennung der Situation also und die gestörte Einordnung in ein gewohntes Schema, sind der Auslöser für die Zweifel und für die Fragen: „Sind aber nicht alle motivationsmäßig relevanten Elemente ‚adäquat‘, die in zureichenden Vertrautheitsgraden vorgewußt sind, oder weist sich die Situation als eine solche aus, die nicht durch eine Synthesis der Rekognition auf eine vormalige dem Typus nach gleiche, ähnliche bezogen werden kann, weil sie eben radikal ‚neu‘ ist, dann wird es nötig sein, von diesen Elementen ‚mehr zu wissen‘, sei es daß neues Wissen erworben, sei es daß vorhandenes Wissen in andere Vertrautheitsgrade überführt werden muß. Ein solches Element wird dann für weiteren Wissenserwerb relevant und damit auch relevant für die Definition der Situation. ... . Nunmehr ist das relevante Element nicht mehr ein als fraglos selbstverständlich Gegebenes: Es ist vielmehr fragwürdig, aber auch befragenswert und deshalb relevant geworden.“ (SL, S. 161; Hervorhebung imOriginal)
Im Fall der thematischen Relevanz ist also das „ ... relevant gewordene Thema ... nun selbst zu einem Problem geworden.“ (SL, S. 161). Zuvor war die – fraglos einfache – Definition der Situation ein Teil der Lösung des Problems, jetzt ist sie selbst das Problem. Bei thematischer Relevanz muß neues Wissen erworben und altes Wissen verändert und umgruppiert werden.
Der Hintergrund Wie geht das aber vor sich? Eine wichtige Hilfe steht dem Akteur – so Alfred Schütz – bei allen Zweifeln und Fragen immer noch bereit: Die Suche nach einer besseren Lösung findet nicht im luftleeren Raume statt. Sie hat immer den Hin-
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tergrund der weiterhin ja unangetasteten Relevanzstruktur insgesamt – auch wenn ein Teil der Selbstverständlichkeiten jetzt „fragwürdig“ geworden ist: „ ... alles Problematische entsteht auf dem Urgrund des fraglos Gegebenen (das im eigentlichen Wortsinn ‚fragwürdig‘ wird) und alle Problemlösungen bestehen darin, das fragwürdig Gewordene durch den Prozeß des Befragens in ein neues fraglos Gewordenes zu verwandeln.“ (SL, S. 154)
Die Relevanzstruktur spiegelt das, was der Akteur in seiner Biographie als wichtig erlebt und für die Selektion der Situationsdefinitionen als hinreichend erfolgreich erlebt hat. In ihnen spiegeln sich also Erfahrungen von Problemtypen und typischen Problemlösungen. Und letztlich sind es daher wieder die – an die Bedürfnisse der Menschen angekoppelten und mit typisiertem Wissen verbundenen – Interessen, die die Definition der Situation steuern: „Es ist das jeweilige Interesse, das bestimmt, welche Elemente das Individuum aus der es umgebenden und in der vorgeschriebenen Weise gegliederten objektiven Welt auswählt, um seine Situation zu definieren. Es ist das nämliche Interesse, das aus dem vorgegebenen Wissensvorrat des Individuums jene Elemente auswählt, die zur Definition der Situation erforderlich sind. Mit anderen Worten: das Interesse bestimmt, welche Elemente der ontologischen Struktur der vorgegebenen Welt und andererseits des aktuellen Wissensvorrats für das Individuum relevant sind, um seine Situation denkend, handelnd, emotional zu definieren, sich in ihr zu orientieren und mit ihr fertig zu werden.“ (SL, S. 160; Hervorhebungen so nicht im Original)
Das Interesse leitet also die Auswahl des Gesichtspunktes, auf den sich jetzt die Aufmerksamkeit richtet, wenn – um eine Einzelheit aus dem letzten Abschnitt dieses Kapitels aufzugreifen – aus dem leeren Horizont der offenen Möglichkeiten ein bestimmter Aspekt herausgegriffen und näher durchdrungen wird. Der Akteur weiß dabei nicht viel. Er weiß nur eines: Dieses Problem muß erst gelöst werden: „Dies allein steht, wie wir sagen, im Mittelpunkt unseres Interesses, das darin beschlossene Problem haben wir zuerst zu lösen, bevor wir uns anderen Dingen zuwenden können. Wir sagen: ‚first things first‘ – ‚das Wichtigste zuerst‘ – und haben damit in der Umgangssprache eine ausgezeichnete Definition des thematisch Relevanten gegeben.“ (SL, S. 162; Hervorhebungen nicht im Original)
Die Relevanzstruktur, die anzugeben vermag, was jetzt „zuerst“ wichtig ist, ist – so Alfred Schütz – in einem hierarchischen System von Master-Programmen – „für das Leben“ zum Beispiel – und Unterprogrammen für spezielle Bereiche – „für das Jahr, den Monat, den Tag“ zum Beispiel – strukturiert. Und wenn bei einem „unteren“ System einmal ein Problem entsteht, dann weiß der Akteur immer noch über seine übergreifenden Interessen und über die wichtigen und unwichtigen Dinge des Lebens so viel – und von besseren Alternativen so wenig! –, daß er bei der Neu-Definition der Situation nicht ganz von vorne anfangen muß: Zwar ist gerade die Freundin davongelaufen. Und das ist schon eine massive Un-
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terbrechung des gewohnten Ablaufs. Aber jetzt muß erst einmal Examen gemacht werden. Danach werden wir weitersehen.
Die (Wieder-)Gewinnung der Gewißheit Wie geht der Vorgang der Neu-Definition einer einmal fragwürdig gewordenen Situation, die Beseitigung der Zweifel und der Fragen also, aber vor sich? Vor allem sind es neue Erfahrungen besonderer problemlösender Ereignisse und Umstände und die fortwährende Bestätigung der allmählich entstehenden Erwartungen in wiederholten Situationen ähnlicher Art, die das neue Routine-Wissen entstehen lassen (WI, S. 9): Immer wenn der Motor nicht anspringt und die grüne Hand erscheint, dann müssen drei Ave Maria gebetet werden. Erscheint die grüne Hand nicht, dann muß der Mechaniker kommen. Der Prozeß der Wiedergewinnung der Routine wird ebenfalls nur durch seinen „zufriedenstellenden“ Erfolg bei der Lösung des jeweiligen Problems gesteuert. Es geht auch jetzt in keiner Weise um „Maximierung“. Wie lange dauert dann aber dieser Vorgang der „Verwandlung“ des Fragwürdigen in das Fraglose? Die Antwort erinnert sehr an das Marginalprinzip der Nutzentheorie – unter Einschluß der Betrachtung aller Kosten auch weiterer Informationen: „Wir brechen aber diese endlose Aufgabe ab, sobald wir hinreichende Kenntnis des fraglich Gewordenen erlangt zu haben glauben, und erklären dann durch einen scheinbar willkürlichen Entschluß das uns beschäftigende Problem als in einer für unsere Zwecke hinreichenden Weise gelöst.“ (SL, S. 154)
Die Beendigung der Suche nach einer neuen Lösung ist also ebenfalls eine innere Handlung des Akteurs: Wir erklären das Problem für gelöst, wenn es eine neue, als „hinreichend“ angesehene Routine gibt. Die Schwelle für diese Entscheidung ist – letztlich – wieder durch die Interessen der Akteure gezogen: Sie hängt von der Motivationsrelevanz des weiter gültigen Rahmens der Relevanzstruktur und der in diesem Zusammenhang aufgeworfenen speziellen Problemlage ab: „Die motivationsrelevanten Zusammenhänge bleiben nämlich auch weiterhin, als Außenhorizonte des thematisch relevant Gewordenen erhalten: Wir können uns ihnen immer wieder zuwenden, sie auslegend befragen und wir tun dies in der Tat, um festzustellen, wann wir die weitere Erforschung des thematisch Relevanten abzubrechen haben, weil unser Wissen von ihm hinreichend klar und vertraut geworden ist, um das vorliegende thematische Problem relativ zu dem umgreifenden Zusammenhang als gelöst zu betrachten.“ (SL, S. 161 f.; Hervorhebung nicht im Original)
Hier werden insbesondere die Kosten der Informationsbeschaffung relativ zu dem zu erwartenden Ertrag und zu den anderen Interessen und Zwängen wichtig, auf die der Akteur achten muß: Der weitere Wissenserwerb und die Suche nach einer adäquateren Definition der Situation werden dann abgebrochen, wenn vor
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dem Hintergrund des – motivationsrelevanten – Problems eine Lösung gefunden worden ist, die nur noch mit deutlich höherem Aufwand zu verbessern wäre. Die Variablen, die dazu führen, daß neue Informationen über die Situation gesucht bzw. eine einmal begonnene Suche abgebrochen wird, lassen sich leicht zusammenfassen. Wir sind ihnen bei der Darstellung des Vorgangs der Situationsdefinition im Zusammenhang mit dem Problem des Zweifelns und der Fragen immer wieder begegnet: Je weniger wahrscheinlich es erscheint, daß der normale Rahmen oder das übliche Rezept weiterhin gelten, je weniger brauchbar und anwendbar sie jetzt schon sind, je folgenschwerer – im Positiven wie im Negativen – eine Beibehaltung der fragwürdig gewordenen Rahmung oder Rezeptwahl wäre, je wahrscheinlicher es erscheint, daß es tatsächlich einen besseren neuen Rahmen bzw. ein besseres neues Rezept gibt, wenn man nur danach suchte, und je verfügbarer und billiger die nötigen Informationen sind, die besseren Lösungen zu finden, umso eher wird der Akteur dazu neigen, nach einer neuen, von der Routine abweichenden Situationsdefinition zu suchen und dafür die nötigen Informationen zu sammeln. Ansonsten wird er – bei allen Zweifeln und weiter gestellten Fragen – die Situation so belassen wie sie ist und sich selbst einen Reim auf das Ganze zu machen versuchen. Und ganz analog wird die weitere Beschaffung immer neuer Informationen dann abgebrochen, wenn die neu gefundene Lösung als wiederholbar und als brauchbar, eine weitere Alternative als unwahrscheinlich und nur wenig besser und – vor allem – jede weitere Informationssuche sehr aufwendig wären (vgl. dazu insgesamt schon Kapitel 8 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie noch Kapitel 7 über das „Framing“ unten in diesem Band).
Zweifel und Fragen und alle geschilderten Vorgänge der Wiedergewinnung der Gewißheit sind aber für die Strukturen der Lebenswelt des Alltags nicht typisch. Sie sind für folgenschwere Entscheidungen, für nicht-definierte Situationen, für Übergangszeiten, für Fremde, für Aufsteiger, für Menschen in biographischen Übergängen und Krisen kennzeichnend. Für den normalen Alltag sind gut identifizierbare Relevanzstrukturen – mit dem typisierenden Wissen um Rahmen und Rezepte für die gut institutionalisierten Interaktionsrituale des organisierten Alltagshandelns – die Hauptbestandteile der Lebenswelt. Ihre wichtigste Funktion ist die Entlastung des Alltagshandelns von vermeidbarem Aufwand. Im Alltag ist deshalb die Definition der Situation so routinisiert und von Zweifeln und Fragen unangetastet, daß sie als eine Art von „auferlegtem“ Schicksal erscheint – und gar nicht als eine eigene Selektionsleistung der Akteure.
3.4 Soziales Handeln und Verstehen Das Handeln im Alltag folgt – soweit es nicht durch ungewöhnliche Umstände unterbrochen wird – den Typisierungen des Wissens und der Wiedererkennung „relevanter“ Situationen. Bisher wurde aber „ ... nur die Einstellung eines isoliert Handelnden beobachtet, ohne zu unterscheiden, ob dieser Handelnde mit der Handhabung eines Werkzeuges beschäftigt ist oder mit anderen und für andere handelt, von anderen motiviert ist und andere selbst motiviert.“ (SW, S. 15; Hervorhebungen nicht im Original)
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Kurz: Es ging bisher lediglich um den „einsamen“ Akteur in einer sog. parametrischen Situation. Alfred Schütz nennt ihn auch Ego. Es ging um ein Handeln, bei dem andere Akteure nicht als selbst aktive und handlungsfähige Agenten vorkamen. Sobald ein anderer Akteur – Schütz nennt ihn auch Alter Ego – anwesend ist und auf das Handeln des Akteurs eingehen und reagieren kann, wandelt sich die parametrische in eine soziale Situation (vgl. Kapitel 1 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ dazu schon ausführlich). Alfred Schütz spricht für diesen Fall – im Anschluß an Max Weber – vom sozialen Handeln. Eine soziale Handlung ist danach eine solche Handlung „ ... die sowohl die Einstellungen als auch die Handlungen der anderen mit einbezieht, und in ihrem Verlauf auf diese hin orientiert ist.“ (SW, S. 15; Hervorhebungen nicht im Original)
Die wichtigste Besonderheit des sozialen in Abgrenzung zum nicht-sozialen Handeln besteht darin, daß der Erfolg des eigenen Handelns auch davon abhängig ist, was der jeweils andere Akteur tut. Und weil der sich auch für ein bestimmtes Tun entscheiden kann und eben nicht in seinem Tun festgelegt ist, reicht einfaches Kausalwissen nicht aus. Nun wird die Frage der wechselseitigen Reaktion aufeinander und die der Abstimmung des Handelns mehrerer Akteure zu einem eigenen Problem. Und deshalb müssen sich die Akteure – schon im eigenen Interesse – Gedanken darüber machen, wie der andere wohl handeln würde, wenn ich es in bestimmter Weise tue: „Mein soziales Handeln ist dann nicht nur auf die physische Existenz dieses Alter ego gerichtet, sondern auch auf das Handeln des anderen, welches ich durch meine eigene Handlung herausfordern werde.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Die Reaktion des jeweils anderen Akteurs ist im Fall des sozialen Handelns also das Um-zu-Motiv des jeweils einen Akteurs: Ich weiche etwa als Radfahrer einem anderen Radfahrer nach rechts aus, „um“ den anderen „zu“ veranlassen, das auch zu tun, wenn er es bemerkt. Und wenn er meine Absicht bemerkt, dann wird er sicher auch versuchen, nach rechts auszuweichen, „weil“ er gesehen hat, was ich tue, und weil das seinerseits die angemessene Reaktion wäre, „um“ dem drohenden Unfall „zu“ entgehen. So war in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, das soziale Handeln, nicht zuletzt auch im Anschluß an Max Weber, schon verstanden worden.
Verstehen Im Hintergrund des sozialen Handelns steht also immer noch der „einsame“ Wunsch, möglichst ungeschoren am anderen vorbei zu kommen. Trotz dieser
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sehr monadischen Motivation verlangt aber schon das eigene Interesse eine empathische Leistung der Akteure (vgl. dazu auch schon Abschnitt 2.3 oben in diesem Band). Alfred Schütz spricht von einer „sozialen Beziehung“, die durch eine „intersubjektive Motivkette“ wechselseitiger Antizipation gebildet werde: „Wenn ich mir vorstelle, indem ich ein Handeln entwerfe, daß du mein Handeln verstehen wirst und daß dies Verstehen deine Reaktion veranlassen wird, dann antizipiere ich, daß die Um-zuMotive meines eigenen Handelns die Weil-Motive deiner Reaktion werden, und umgekehrt.“ (Ebd., S. 16; Hervorhebungen nicht im Original)
Soziales Handeln setzt daher das wechselseitige Eindringen in die jeweiligen Um-Zu- und Weil-Motive der Akteure voraus: „Da ich mein eigenes soziales Handeln nach den Weil-Motiven (der anderen Akteure; HE) richten muß, die zu dem auf mich gerichteten sozialen Handeln der anderen gehören, muß ich stets deren Um-zu-Motive herausfinden und die Struktur der sozialen Beziehung klären, indem ich das Handeln der anderen vom subjektiven Standpunkt des Handelnden aus auslege.“ (SW, S. 17; Hervorhebungen nicht im Original)
Alfred Schütz nennt diese Leistung der Einnahme des subjektiven Standpunktes des anderen also Verstehen. Es ist der gleiche Vorgang, den George Herbert Mead und andere mit taking the role of the other beschrieben hatte (vgl. dazu auch schon Abschnitt 7.6 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie Kapitel 2 oben in diesem Band insgesamt). Es ist der gedankliche Prozeß, der hinter der Idealisierung der Reziprozität der Perspektiven steckt. Verstehen ist somit der Versuch, hinter die Gründe zu kommen, die den anderen bewegen und zu einem bestimmten Handeln veranlassen könnten: Wenn man die Gründe, die Ziele und das Wissen des anderen kennt, dann läßt sich abschätzen, was er wohl tun wird. Zu dieser Abschätzung wird aber eine Regel für die Selektion des Handelns benötigt. Die einfachste und naheliegendste ist die, daß der andere Akteur kein Depp ist, sondern sinnhaft, situationsgerecht und deshalb „vernünftig“ handelt. Insofern setzt jedes Verstehen ein Mindestmaß an „rationaler“ Durchdringung von Wissen und Motiven beim anderen sowie die Unterstellung voraus, daß er zu einem „rationalen“ Handeln fähig und bereit ist.
Die Unwahrscheinlichkeit des Verstehens Das wechselseitige Verstehen aus der exakten Kenntnis der jeweiligen Um-Zuund Weil-Motive wäre damit die Lösung des Problems. Aber schon das geordnete einsame, nicht-soziale Handeln ist ja eine höchst voraussetzungsreiche Leistung: Die Situationen müssen deutlich typisiert und das nötige Wissen vorhanden sein, und – vor allem – es dürfen keine Überraschungen auftreten. Gerade damit
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muß man aber rechnen, wenn in der Situation andere handelnde Akteure vorkommen, die immer noch etwas anderes tun könnten, als wir gerade verstehend angenommen haben. Und das verstehende Antizipieren der Reaktion des anderen selbst? Ist es nicht ein äußerst komplizierter Versuch, einen Handlungsablauf modo futuri exacti korrekt zu entwerfen – unter der Bedingung, daß Alter Ego ebenfalls einen korrekten Entwurf modo futuri exacti für sein Handeln macht, unter der Annahme, daß Ego sein Handeln modo futuri exacti korrekt entwirft, und zwar in Hinsicht auf die Vermutung, daß Alter Ego ... und so weiter – bis ins Aschgraue eines unendlichen Regresses wechselseitig angestellter Vermutungen über ein zukünftiges Tun? Für die Abstimmung der Entwürfe und des Handelns müßten die Akteure also nicht nur gegenseitig eine genaue Kenntnis der jeweiligen Motive und Wissensstrukturen haben, sondern auch abschätzen können, bei welcher Stufe der Wechselseitigkeit des Verstehens sie aufhören. Und dafür gibt es grundsätzlich keine Grenze, von der die Akteure mit Sicherheit ausgehen können.
Alfred Schütz betont zwar, daß unter diesen Umständen des „rationalen“ Verstehens ein abgestimmtes soziales Handeln praktisch „undurchführbar“ (WI, S. 36) würde. Aber er stellt auch fest: „Nichtsdestoweniger erhalten wir vernünftige Antworten auf unsere vernünftigen Fragen, unsere Anweisungen werden erfüllt, wir führen in Fabriken, Laboratorien und Büros höchst ‚rationalisierte‘ Tätigkeiten durch, wir spielen Schach zusammen, kurz gesagt, wir kommen in angemessener Weise mit unseren Mitmenschen aus. Wie ist das möglich?“ (WI, S. 36)
Es ist die gleiche Frage und das gleiche Erstaunen, das Talcott Parsons angesichts des Hobbesschen Problems einerseits und der weithin erkennbaren faktischen Existenz sozialer Ordnung andererseits erfaßte (vgl. Abschnitt 1.1 oben in diesem Band).
Die Gemeinsamkeit des Bezugsrahmens Welche Antwort hat Alfred Schütz für das Problem? Sie ist im Grunde der von Talcott Parsons ähnlich und ganz simpel: Es gibt – wie für das „einsame“ Handeln auch schon – fertige und typisierte Modelle auch des sozialen Handelns und der damit verbundenen Motive der Akteure. Es reicht für die soziale Abstimmung des Handelns aus, „ ... daß ich das Handeln des Anderen auf dessen typische Motive reduzieren kann, einschließlich deren Bezug zu typischen Situationen, typischen Zwecken, typischen Mitteln usw.“ (SW, S. 14; Hervorhebungen nicht im Original)
Anders gesagt: Die Akteure wissen in typisierten Situationen genau, daß sich die jeweils anderen Akteure – ebenfalls wie Ego selbst – an dem jeweiligen typischen Modell – der Motive, der Zwecke, der Mittel – orientieren. Und daran
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zweifeln sie ebensowenig wie daran, daß in Dr. Oetkers Kochbuch ein Rezept für einen hinreichend wohlschmeckenden Apfelkuchen steht: „Mehr oder weniger naiv setze ich die Existenz eines gemeinsamen Bezugsschemas für mein eigenes Handeln und für das Handeln der anderen voraus.“ (SW, S. 17)
Das Bezugsschema bzw. den Bezugsrahmen, den die Akteure – normalerweise – fraglos teilen, besteht aus – mehr oder weniger groben oder detaillierten, vorgeschriebenen oder offenen – Anweisungen über ein für die Situation erwartetes typisches, aber diesmal: sozial abgestimmtes, Handeln. Es sind die normativen Orientierungen, die Parsons als Voraussetzung für ein geordnetes Handeln ansah. Normen, Rollen, soziale Drehbücher, Institutionen ganz allgemein sind nichts anderes als solche Modelle typisierter Um-zu- und Weil-Motive, typischer Zwecke und Mittel und typischen Handelns der Akteure mit der Funktion eines gemeinsamen Bezugsrahmens. Alfred Schütz sieht diese Modelle des sozialen Handelns ganz ähnlich wie die Modelle des Handelns allgemein: Sie gruppieren sich in großen und zusammenhängenden Systemen von hierarchischer Ordnung und bilden so ebenfalls eine Relevanzstruktur von übergreifenden und untergeordneten Anweisungen. Es gibt nur einen Unterschied: Es sind Modelle für das soziale Handeln. Und das wissen – so kann normalerweise angenommen werden – die Akteure wechselseitig – und unterstellen es bei den jeweils anderen. Die besondere Leistung der Modelle des sozialen Handelns als „gemeinsames Bezugsschema“ des sozialen Handelns liegt also darin, das alltägliche Leben auch dann in entlasteter Weise zu ermöglichen, wenn es auf eigentlich sehr unwahrscheinlichen, weil höchst komplexen und außerordentlich kontingenten, Abläufen sozial koordinierter Tätigkeiten beruht: der Straßenverkehr, ein Schachspiel oder ein Streichquartett, betriebliche Abläufe, das Osterfest, Tarifverhandlungen, ein Abendessen, das Gespräch im Zugabteil zum Beispiel. Gerade nun, im Fall des sozialen Handelns, wird aber die Fraglosigkeit des Bezugsrahmens besonders wichtig: Gerade weil die Menschen über einander nicht viel wissen können – und meist auch: nicht wollen –, müssen sie sich auf die Fraglosigkeit der Routinen und Vorschriften verlassen können, die die Ankerpunkte des koordinierten sozialen Handelns bilden sollen. Es ist, wenn man so will, die Überführung eines hoch-kontingenten sozialen Handelns der wechselseitigen Ungewißheit in die fraglose Sicherheit einer sozialen Beziehung – so wie wir den Begriff der sozialen Beziehung im Anschluß wieder an Max Weber in Kapitel 9 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ verstanden und festgelegt hatten. Erst wenn diese Routinen nicht mehr richtig arbeiten, wenn Zweifel und Fragen über die Geltung des Bezugsschemas auftreten, werden das wechselseitige „Verstehen“ und die „rationale“ Durchdringung der Gründe notwendig. Erst jetzt
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wird den Akteuren erkennbar, daß es ein Problem der sozialen Ordnung gibt: doppelte Kontingenz und strategische Situation. Erst jetzt wird bewußt, daß die Situation auch anders definiert werden könnte. Erst nun tritt in den Vordergrund, was vorher latent und unbefragt bleiben konnte: Daß die anderen Akteure in ihrer Orientierung sich immer noch anders entscheiden können.
Noch einmal: Husserl Man kann die Frage nach der Geltung des Bezugsrahmens aber auch von der anderen Seite her stellen. Nämlich: Woher beziehen die Menschen eigentlich jenes wichtige, aber auch eigentlich ja ganz unbegründete, Gefühl der Selbstverständlichkeit der Ordnung, in der sie leben, und der Sicherheit, mit der sie handeln und soziale Beziehungen unterhalten? Viele Philosophen haben sich mit diesem Thema befaßt. Darunter nicht zuletzt auch Edmund Husserl, von dem Alfred Schütz ja weitgehend ausgegangen war. Husserl hatte die Sicherheit der subjektiven Ordnung in einem ganz einsamen, einem monadischen Akt des letztlich in sich geschlossenen erkennenden Subjekts gesehen. Alfred Schütz hat die These dagegen gesetzt, daß es wohl vor allem eine intersubjektive Leistung ist, die den „Sinnhaften Aufbau der sozialen Welt“ ermöglicht.
Edmund Husserl hatte aber auch einen anderen wichtigen Gedanken formuliert, von dem Alfred Schütz ganz begeistert war und der dann im Mittelpunkt seiner weiteren Überlegungen stand (vgl. Schütz 1974, insbesondere den zweiten Abschnitt): Die Orientierung in einer Situation ist – als ein „sinngebendes Bewußtseinserlebnis“ – eine intentionale Leistung des erkennenden Subjekts in einer aktuell wahrgenommenen Umgebung. Es handelt sich um einen Vorgang vom „Typus Ichakt“, um einen „stellungnehmenden Akt“, um eine Art von „Urteil“ und so um ein „gestaltendes Tun, Handeln“ (Schütz 1974, S. 71f.). Damit wollte Alfred Schütz die Auffassung von Max Weber untermauern, daß das Handeln der Menschen nicht auf irgendeinem „transzendentalen“, objektiven Sinn, sondern auf einem jeweils aktuellen, empirischen, subjektiven Sinn beruht. Und das war wiederum der Ausgangspunkt für Alfred Schütz, seinerseits über Max Weber hinauszugehen und die „Konstitution“ jenes subjektiven Sinns in der sozialen Welt genauer zu untersuchen.
Der Vorgang der „phänomenologischen Konstitution“ der Außenwelt im Bewußtsein der Subjekte war für Husserl einer, bei dem das erkennende Subjekt – in seiner ganzen Intentionalität – grundsätzlich in den Grenzen seiner eigenen Subjektivität verbleibt. Erkennen ist danach immer ein monadischer, ein „egologischer“ Vorgang. Und das – so Husserl – gilt auch für die Wahrnehmung der Beweggründe anderer Menschen. Erkennbar sind am anderen Menschen, auch
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wenn er ganz in meiner Nähe ist, nur äußere Anzeichen seiner inneren Gemütsverfassung. Und wir haben sicher auch Vermutungen darüber, auf was die Anzeichen hinweisen. Aber letztlich ist uns das Innere des anderen immer verborgen: „Husserl hat klar erkannt, daß das Bewußtseinsleben des Anderen mir nicht unmittelbar, sondern nur in der Appräsentation zugänglich ist. Die von mir wahrgenommenen Gegenstände oder Ereignisse in der äußeren Welt, zum Beispiel der Körper des Anderen als Ausdrucksfeld, die körperlichen Bewegungen des Andern oder ihre Produkte, wie zum Beispiel kulturelle Gegenstände, werden von mir als Zeichen und Symbole von Ereignissen im Bewußtsein des Anderen gedeutet.“13
Kurz: Husserl versucht das Problem der Intersubjektivität dadurch zu lösen, daß die Akteure feste Hypothesen über die Verbindung zwischen äußeren Anzeichen und inneren Zuständen unterhalten und in den betreffenden Situationen anwenden. Alfred Schütz fragt sich angesichts dieses Konzepts vom einsamen, im Stahlgehäuse seines Selbst verschlossenen, homo clausus – ein Ausdruck, den Norbert Elias für das betreffende Menschenbild verwandt hat – wie es möglich ist, daß sich die Menschen gleichwohl anscheinend oft sehr gut verstehen und kaum Probleme haben, aufeinander einzugehen – wenn sie es denn wollen. Mit der Orientierung an „Typen“ anderer Menschen und sozialer Beziehungen in der natürlichen Einstellung alleine scheint ihm das Problem der Intersubjektivität nicht lösbar. Vor allem fragt er sich: Wie kommen die Hypothesen über die anderen eigentlich zustande? Und wie kommt es, daß sie erstaunlich oft stimmen? In der etwas umständlichen Ausdrucksweise der phänomenologischen Soziologie: Wie kommt es zur Konstitution der Intersubjektivität in jener Selbstverständlichkeit wie sie für die fraglosen Strukturen der sozialen Lebenswelt so typisch und so notwendig ist?
Intersubjektivität und soziale Konstitution Seine Lösung ist im „Sinnhaften Aufbau“ schon angedeutet.14 Es ist letztlich die Idee der wechselseitigen Spiegelung in einer „umweltlichen“ Beziehung von Personen, die einander unmittelbar und aktuell begegnen und sich so in einer raum-zeitlich koordinierten „Dubeziehung“ wiederfinden. Hier – in ihrer unmittelbaren „Appräsentation“ – können sie genauer aufeinander eingehen und in einem auf das besondere Selbst bezogenen Prüfprozeß herausfinden, welches Zei13
Alfred Schütz, Husserls Bedeutung für die Sozialwissenschaften, in: Schütz I, S. 171.
14
Schütz 1974, Teil C: Soziale Umwelt, Teil D: Soziale Mitwelt und Idealtypus.
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chen genau für welchen inneren Zustand beim jeweiligen Du steht. Es ist die Idee der wechselseitigen Einfühlung durch die Spiegelung der Reaktionen im Verhalten des anderen, die bereits Adam Smith, Charles H. Cooley und George Herbert Mead als Bedingung für die Entstehung der „Sympathie“ für einander gefunden hatten (vgl. dazu schon Abschnitt 2.2 oben in diesem Band, sowie auch noch das gleich folgende Kapitel 4). So sorgfältig und genau können die Akteure aber nur in der „Wirbeziehung“ der „sozialen Umwelt“ ihrer Selbste aufeinander Bezug nehmen. Der Alltag läßt es nicht zu, alle Seelenwindungen des anderen jeweils detailliert erst noch zu erforschen. Kurz: In der anonymeren „sozialen Mitwelt“ und in den unvermeidlichen Trennungen der „Ihrbeziehungen“ in Raum und Zeit muß es dann wieder mit gröberen Typisierungen gehen:
„Das Du in der Mitwelt wird niemals als ein Selbst erfahren und niemals in vorprädikativer Erfahrung. Vielmehr ist alle Erfahrung von der Mitwelt eine prädikative, die sich urteilend in der Explikation meines Erfahrungsvorrates von der Sozialwelt überhaupt ... vollzieht.“ (Schütz 1974, S. 255; Hervorhebung so nicht im Original)
Und daher gilt für die Intersubjektivität der Ihrbeziehungen in der sozialen Mitwelt eben nicht mehr die reflektierte Spiegelung der Selbste wie noch in den Wirbeziehungen der sozialen Umwelt, sondern: die Orientierung an – mehr oder weniger groben – Bezugsschemata des sozialen Handelns: „Die mitweltliche Ihrbeziehung besteht also in einer subjektiven Chance dafür, daß jenes Deutungsschema, welches ich meinem als personalen Idealtypus erfaßten Partner unterstelle, durch eben dieses alter ego, für welches hinwiederum ich nur ein personaler Idealtypus bin, kongruent angewendet wird. An die Stelle der vielfältigen Spiegelung einander fundierender Blickwendungen auf die Erlebnisse des alter ego in der umweltlichen Sozialbeziehung tritt daher in der mitweltlichen Sozialbeziehung die Reflexion auf das den beiden Partnern gemeinsame Schema der Typisierung.“ Ebd., S. 283f.; Hervorhebungen so nicht im Original)
Damit vollzieht Alfred Schütz eine interessante Differenzierung. „Husserl“ mit seiner monadischen Typisierung gilt, aber nur für die relativ anonymen Ihrbeziehungen der sozialen Mitwelt. Dies kann aber nicht die Grundlage der Intersubjektivität alleine sein. In den Besonderheiten der Wirbeziehungen der sozialen Umwelt wird dies deutlich: Sie beruhen auf der Gemeinsamkeit von Typisierungen. Und deshalb sind dort die eigentlichen Fundamente der Intersubjektivität zu suchen: Einfühlung und im aktuellen Erleben sich bildende Intersubjektivität sind Grundkategorien der menschlichen Existenz – und die Basis für alle weiteren Typisierungen. Alfred Schütz kommt damit zu der Einsicht,
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„ ... daß Husserls Versuch, die Konstitution der transzendentalen Intersubjektivität aus den Bewußtseinsleistungen des transzendentalen Ego zu begründen, nicht gelungen ist. Es steht zu vermuten, daß Intersubjektivität nicht ein innerhalb der transzendentalen Sphäre lösbares Problem der Konstitution, sondern eine Gegebenheit der Lebenswelt ist. Sie ist die ontologische Grundkategorie des menschlichen Seins in der Welt und somit aller philosophischen Anthropologie. Solange Menschen von Müttern geboren werden, fundiert Intersubjektivität und Wirbeziehung alle anderen Kategorien des Menschseins.“ (Schütz 1971b, S. 116; Hervorhebungen nicht im Original)
Intersubjektivität ist also durch eine einsame Bewußtseinsleistung alleine nicht denkbar – wenngleich dadurch für die stärker typisierenden Formen der Ihrbeziehung schon herstellbar. Sie ist vielmehr in den Wirbeziehungen der Menschen begründet und – wegen der fundamentalen Bedeutung bestimmter Wirbeziehungen im Prozeß der Sozialisation – eine unhintergehbare anthropologische Voraussetzung des sozialen Handelns. Gleichwohl sieht man, daß es sich auch bei der so vollzogenen „sozialen“ Konstruktion der „Inter“-Subjektivität immer um „individuelle“ Leistung handelt: Die Akteure orientieren sich an einem „Schema der Typisierung“, an einem kulturellen Modell der Beziehung also. Die besondere Sozialität besteht dann nur noch darin, daß die Akteure dieses Schema gemeinsam haben und teilen. Die soziale Verbreitung kultureller Modelle und Orientierungen aber ist eine Frage, die über die einzelnen Akteure wieder hinausweist. Es ist ein Problem der „Diffusion“ kultureller Modelle (bzw. „kultureller Systeme“ in der Terminologie von Kapitel 2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“) über ganze Kollektive von Akteuren und damit auch eine Frage der Aggregation individueller Effekte – geradeso, wie das das Modell der soziologischen Erklärung ja auch vorsieht.
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Für den Philosophen Edmund Husserl beruhte die Fraglosigkeit der Lebenswelt auf einem intentionalen, subjektiven und ganz und gar monadischen Akt der Entscheidung des grundsätzlich einsamen Akteurs. Alfred Schütz zeigte, daß dies eine Illusion ist: Die Fraglosigkeit des individuellen Bewußtseins ruht in der Intersubjektivität der sozialen Bezüge in der Lebenswelt, der sozialen Konstitution des Wissens und der Werte – letztlich in den Wirbeziehungen der jeweiligen Nahumwelten. Es war der bereits öfter erwähnte amerikanische Soziologe Harold Garfinkel, der hier einen weiteren – und durchaus radikalen – Schritt gemacht hat. Intersubjektivität ist nach seiner Auffassung kein irgendwie sicheres Fundament, sondern selbst eine immer wieder von den Akteuren neu erbrachte Leistung. Und zwar: die Leistung der Konstitution jener sozialen Ordnung, die sich im Bewußtsein der Akteure als intersubjektiv gültiger Sinnzusammenhang herstellt. Garfinkel untersucht dann genau diese Leistungen der Menschen in ihrem Alltag: die Techniken und Methoden, mit deren Hilfe sich die Mitglieder einer Lebenswelt gegenseitig die Geordnetheit, Durchschaubarkeit und Bewältigbarkeit der Sozialwelt anzeigen und sich wechselseitig vormachen, daß alles am rechten Platz, einsehbar und „rational“ ist.1 1
Vgl. die Zusammenstellung verschiedener Aufsätze von Garfinkel in Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs, N.J., 1967. Vgl. auch Harold Garfinkel, Das Alltagswissen über soziale und innerhalb sozialer Strukturen, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Band 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie, Reinbek 1973, S. 189262. Eine gute und übersichtliche Zusammenfassung des Ansatzes von Garfinkel bzw. der Ethnomethodologie findet sich bei Rolf Eickelpasch, Das ethnomethodologische Programm einer „radikalen“ Soziologie, in: Zeitschrift für Soziologie, 11, 1982, S. 7-27. Für einen kurzen Überblick und für einige Hinweise auf die in Anspruch genommene „Radikalität“ des Ansatzes vgl. Elmar Weingarten und Fritz Sack, Ethnomethodologie. Die methodische Konstruktion der Realität, in: Elmar Weingarten, Fritz Sack und Jim Schenkein (Hrsg.), Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, Frankfurt/M. 1976, S. 7ff. Einige wichtige weitere Beiträge finden sich in dem Sammelband von Jack D. Douglas (Hrsg.), Understanding Everyday Life. Toward The Reconstruction of Sociological Knowledge, London 1971. Siehe zu einer kurzen kritischen Übersicht:
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Diese Sichtweise bedeutet eine Abkehr auch von Alfred Schütz, dessen Theorie des Handelns und der Intersubjektivität zwar auf die Bedeutung der „sozialen Umwelt“ für die Entstehung der Intersubjektivität hingewiesen, diese letztlich aber dann doch auch in einer Art von Anwendung eines einmal erworbenen Wissensvorrats auf typische soziale Situationen erklärte. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Der beim sozialen Handeln jeweils „angewandte“ Wissensvorrat besteht in der Auffassung von Garfinkel und der Ethnomethodologie nicht irgendwie „vor“ oder „unabhängig“ von der Situation und „vor“ der Orientierung in ihr. Sondern das Wissen, die Typisierungen und die Fraglosigkeiten der Lebenswelt werden immer wieder erst in der Situation hergestellt. Und das ist eine eigene – und aufwendige und stets neu zu erbringende – Leistung, eine Tätigkeit, die die Akteure mit ihrem Handeln gleichzeitig vollziehen müssen, damit sie überhaupt etwas wahrnehmen, typisieren und in bestimmter und „rationaler“ Weise handeln können.
Krisenexperimente Auf die Idee von der immer wieder neu zu vollziehenden Konstitution des Selbstverständlichen im interaktiven Handlungsvollzug selbst, ist Garfinkel anläßlich einer rechtssoziologischen Studie gekommen, bei der er das Verhalten von Geschworenen während einer Gerichtsverhandlung untersuchte.2 Garfinkel versuchte in der Studie herauszufinden, wie die Geschworenen mit ihrer Rolle zurecht kamen. Das ist keine leichte Aufgabe, besonders wenn die Akteure unerfahren, die Angelegenheit wichtig und gleichzeitig undurchschaubar ist. Drei Fragen stellen sich bei jedem Urteil: die Feststellung der Missetat und des Schadens, die Zuweisung der Verantwortlichkeit und die Entscheidung über das daraus folgende Vorgehen. Zu klären war also, wie die Geschworenen den verhandelten Sachverhalt feststellten, wie sie zu einem Urteil darüber gelangten und wie sie sich die Richtigkeit ihrer Entscheidungen „bewiesen“. Ausschlaggebend für Garfinkel war die Feststellung, daß die Entscheidungsfindung der Geschworenen auf einer Vielzahl von unthematisierten, ganz fraglos angewandten Wissensbeständen, Verfahrens- und Begründungsstrategien beruhten. Indem sie diese fraglosen Bestände in ihrem offenkundigen Handeln auch erkennbar anwandten, schufen die Geschworenen sich und anderen eine „Gewißheitswelt“, die jeden Zweifel an der Richtigkeit des Urteilsspruches ausschloß. Und indem sie diese Gewißheitswelt schufen, bestärkten sie gleichzeitig die dazu angewandten Wissensbestände der Fraglosigkeit im Hintergrund wieder. Kurt Hammerich, Rezeption und Reflexivität. Marginalien zur Rezeption „alltagstheoretischer“ Ansätze in der Bundesrepublik, in: Kurt Hammerich und Michael Klein (Hrsg.), Materialien zur Soziologie des Alltags, Sonderheft 20 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1978, S. 110ff. 2
Vgl. Harold Garfinkel, Some Rules of Correct Decisions That Jurors Respect, in: Garfinkel 1967c, S. 104ff.
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Das Hintergrundwissen ist also beileibe kein totes oder überflüssiges Wissen. Es wird vielmehr immer wieder – unbewußt – geprüft, ob die Situation noch besteht, die es anwendbar werden läßt. Situationen sind umgeben von einem ganzen Kranz von jedermann zugänglichen Hinweisen darauf, „was“ das jetzt für eine Situation ist. Und diese Hinweise werden gesehen, aber solange nicht bemerkt wie es sie gibt: „Such attributions are features of witnessed events that are seen without being noticed. They are demonstrably relevant to the common sense that the actor makes of what is going on about him.“ (Garfinkel 1967a, S. 57)
Wie kann man aber jenes unthematisierte Hintergrundwissen freilegen – angesichts der Schwierigkeit, daß es aufgrund der Besonderheit, nicht explizit bekannt zu sein, ja nicht einfach abgefragt werden kann? Garfinkel hat einen hübschen Trick gefunden: Schaffe experimentell eine Situation, in der genau das geschieht, was nach dem unthematisierten Hintergrund eben nicht geschehen darf. An ein solches Experiment sollte die in Kapitel 3 oben in diesem Band eingangs geschilderte Begebenheit bei den Fussbroichs in KölnHöhenhaus erinnern. Das Beispiel „Hi, Ray“ aus dem Vorkapitel zu diesem Band, „Vom Sinn der Grenzen und den Grenzen des Sinns“ stammt auch von ihm, ebenso wie der in Abschnitt 8.2 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ beschriebene Versuch mit dem verzweifelten Professor im Restaurant, der konsequent als Kellner behandelt wird – und schließlich selbst dran glaubt und etwas resigniert mitmacht. Garfinkels „Studies in Ethnomethodology“ und die meisten Arbeiten dieser Art, Soziologie zu betreiben, bestehen zu einem Großteil aus ähnlichen Versuchen. Auf ihrer Logik beruhen auch Sendungen wie „Die versteckte Kamera“ oder „Verstehen Sie Spaß“. Witze, Horrorgeschichten und Peinlichkeiten sind dann auch nichts anderes als das: die Verletzung von fraglosen Selbstverständlichkeiten, bei der den Akteuren ganz unerwartet klar wird, auf welch schwankendem Boden die „Wirklichkeit“ ihrer Lebenswelt aufgebaut ist. Nicht nur Gelächter, sondern auch Wut, Empörung und Entsetzen und – ganz allgemein – das Gefühl, die Welt nicht mehr zu verstehen, sind die natürlichen Reaktionen darauf.
Ethnomethodologie Die Ethnomethodologie ist dann jener Zweig der Soziologie, der sich mit der Untersuchung der Techniken der normalen Menschen im Alltag befaßt, sich die Situation gegenseitig als durchschaubar, als geordnet und als fraglos gegeben anzu-
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zeigen und dadurch die für das Handeln nötige Ordnung zu schaffen. Die wohl treffendste und daher berühmteste Definition der Ethnomethodologie als Forschungsrichtung stammt von Garfinkel selbst: „Ethnomethodological studies analyze everyday activities as members‘ methods for making those same activities visibly-rational-and-reportable-for-all-practical-purposes, i.e. ‚accountable‘, as organizations of commonplace everyday activities.“3
Das Alltagshandeln besteht danach ganz überwiegend darin, daß sich die Menschen gegenseitig ihr Tun als vernünftig, als verständlich, als „berechenbar“ und als richtig organisiert darzustellen versuchen. Dazu haben die Menschen für den Normalalltag eine Reihe von Tricks – „Methoden“ – zur Verfügung, die sicherstellen, daß die Illusion der Berechenbarkeit auch dann nicht verfällt, wenn es zu Problemen kommt. Noch einmal Garfinkel dazu: „Ich verwende den Begriff Ethnomethodologie, um auf verschiedene Vorgehensweisen, Methoden, Ergebnisse, Risiken und Irrwitzigkeiten zu verweisen, mit denen das Studium der rationalen Eigenschaften praktischer Handlungen als kontingente, fortlaufende Hervorbringungen der organisierten kunstvollen Praktiken des Alltags festgelegt und durchgeführt werden kann.“4
Es geht also um die „Methoden“, mit denen das gemeine Volk – der „ethnos“ – den sinnhaften Aufbau seiner sozialen Welt im Alltag immer wieder hinbekommt, obwohl es keinerlei festen Grund für den Sinn des Alltagslebens gibt. Das Präfix „ethnos“ in dem Begriff „Ethnomethodologie“ mutet etwas befremdlich an. Daß es vorkommt, hat damit zu tun, daß der Begriff der Ethnomethodologie ursprünglich in Parallele zur sog. Ethnotheorie entwickelt wurde. Der Ethnotheorie geht es um die Untersuchung kollektiver Wissensbestände, Terminologien, Klassifikationen und Taxonomien, mit denen die Mitglieder schriftloser Kulturen ihre physische und soziale Umwelt wahrnehmen, beschreiben und deuten. Die Ethnomethodologie versteht sich auch als eine Art von Ethnographie kultureller Wissensbestände: die Ethnographie der Kultur auch der dem Soziologen eigenen Gesellschaft. Der Unterschied zur klassischen Ethnographie ist im Wesentlichen der, daß in der Ethnomethodologie untersucht wird, wie die Menschen die Sinndeutungen ihres Alltags mit Hilfe bestimmter „Methoden“ generieren.
Auf den ersten Blick könnte man vermuten, daß auch Mead und Schütz bereits Ethnomethodologie betrieben hätten. Auch ihnen ging es ja darum, zu erklären, wie die Menschen auf der Grundlage bestimmter Zeichen und Symbole und damit verbundener Wissensbestände zu einer gemeinsamen Definiti-
3
Harold Garfinkel, Preface, in: Garfinkel 1967, S. VII.
4
Harold Garfinkel, Remarks on Ethnomethodology, in: John J. Gumperz und Dell Hymes (Hrsg.), Directions in Sociolinguistics. The Ethnography of Communication, New York u.a. 1972, S. 309; die Übersetzung stammt aus Weingarten und Sack 1976, S. 11.
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on der Situation und zu einer sozialen Konstitution der gesellschaftlichen Wirklichkeit kommen. Die Ethnomethodologie ist aber keine Fortsetzung der Überlegungen von Mead oder Schütz nur unter einer anderen Bezeichnung. Der Bruch zu ihnen könnte vielmehr radikaler kaum sein. Mead und Schütz gehen beide ja immer noch davon aus, daß das wechselseitige Verstehen der Menschen die Grundlage ihrer Handlungskoordinationen sei. Und sie nehmen an, daß das Verstehen auf einer festen Einheit von Ideen im Kopf der Akteure, von Symbolen, die diese Ideen repräsentieren, und von darauf verweisenden Objekten der Welt beruhe: auf der „Bedeutung“ als eine über die Gemeinsamkeit von Erfahrungen schließlich doch „fixierte“ Beziehung zwischen diesen Einheiten. Das ist der Grund dafür, daß Schütz immer noch einen starken Schuß des Husserlschen Autismus für die Erklärung des sozialen Handelns bemühen kann – und muß (vgl. dazu auch den Schluß des Abschnitts 3.4 gerade oben in diesem Band). Und das von Mead einmal ganz abgesehen, der ja das innere – und damit auch recht einsame – Gespräch des Akteurs als Schlüssel der Interpretation der Situation ansah (vgl. Abschnitt 2.2 oben in diesem Band).
Dagegen geht die Ethnomethodologie davon aus, daß Bedeutungen sich immer nur innerhalb einer unaufhörlichen Sequenz praktischer Handlungen herausbilden. Hierbei bringen die vielen Einzelhandlungen den Sinn erst hervor, vor dessen Hintergrund sie gleichzeitig als mit Sinn belegt – als „accountable“ – erscheinen können. Und genau deshalb wendet sich die Ethnomethodologie noch viel radikaler gegen die herkömmliche Soziologie und gegen die übliche Sozialpsychologie, als das interpretative Paradigma nach Mead oder Blumer und als die phänomenologische Theorie des Alltagshandelns nach Husserl oder Schütz: Es gibt keinerlei festen Grund des Sinns des Handelns außerhalb der praktischen Vollzüge des Handelns selbst.
Noch einmal: Dana und die Parkuhr Das klingt alles ganz ohne Zweifel etwas sehr „reflexiv“ und deshalb auch etwas sehr mystisch. Das ist es aber nicht. Der zentrale Begriff ist hierbei die Indexikalität des Alltagshandelns, dem wir ja bereits in Abschnitt 3.2 oben in diesem Band begegnet waren. Was damit gemeint ist, läßt sich an dem zu Beginn von Kapitel 8 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ berichteten Beispiel über die Interaktion eines Studentenpaares über ihr gemeinsames Kind Dana erklären. Das Gespräch beginnt, wie Sie in diesem Band 3, den Sie sicher auch schon in Ihrem Bücherregal stehen haben, vielleicht nachlesen möchten, damit, daß der stolze Vater berichtet, wie das Kind es doch tatsächlich geschafft habe, einen Penny in die Parkuhr zu stecken, ohne daß es hochgehoben werden mußte. Und es endet mit einem milden Tadel der Partnerin, die abgelaufenen Absätze an den Schuhen bald erneuern zu lassen. Der externe Beobachter hätte sich kaum einen Reim auf die Gesprächsfetzen ma-
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chen können. Mit den Erläuterungen über die jeweils gemeinten Hintergründe, wird jedoch alles plötzlich ganz sinnvoll und zusammenhängend. Die ausgetauschten Worte waren dabei aber nicht nur blanke Informationen über gewisse, vom Kontext der Akteure unabhängige oder davon ablösbare „Botschaften“, sondern stets auch genau registrierte Anzeichen für Anknüpfungen an ein gemeinsames Hintergrundverständnis, das sich mit dem Fortgang der Interaktion jedoch selbst immer wieder verändert.
Handeln und Kommunikation Nicht nur sprachliche Laute, sondern das Handeln selbst ist dabei stets auch ein derartiges Anzeichen und ein Hinweis auf andere Dinge: auf die Motive und auf das Hintergrundwissen des handelnden Akteurs zum Beispiel. Im Sprechen und Handeln wird gleichzeitig immer etwas über den Handelnden mitgeteilt, wenngleich meist unbeabsichtigt. Insofern verschwimmen die Unterschiede zwischen Sprechen bzw. Kommunikation und Handeln (vgl. dazu auch schon das Konzept des „Sozialen Systems“ in Abschnitt 2.1 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und deshalb liegt es auch keineswegs fern, das Handeln der Menschen auch in Hinsicht auf seinen kommunikativen Gehalt und seine kommunikativen Wirkungen und in Analogie zur Analyse von Sprachen zu untersuchen – als eine Art von „Linguistik“ des Tuns mit der Aufdeckung der „Tiefengrammatik“ des auf der Oberfläche sichtbaren Geschehens. Und genau das schlägt die Ethnomethodologie vor.
Die Erzeugung des Hintergrunds Die Koordination des sozialen Handelns ist für Alfred Schütz, wie wir in Abschnitt 3.4 gerade oben in diesem Band gesehen haben, ein Problem des Verstehens. Für ihn bilden die Typisierungen des gemeinsamen Bezugsrahmens typischer Situationen den festen Hintergrund, an dem sich die Akteure entlangtasten – und so lange keine Zweifel und Fragen haben, wie keine besonderen Überraschungen, das heißt: Fehler im Verstehen, auftreten, die durch die Reaktion des anderen offenbar werden. Das Handeln und das Kommunizieren können deshalb fraglos geschehen, weil das Tun und sämtliche Äußerungen in diesen Rahmen des Selbstverständlichen passen. Das prüft der Akteur jeweils immer alleine und für sich. Und er bewertet das Handeln des jeweils anderen auch immer als Hinweis darauf, daß alles noch in bester Ordnung ist. Dieses Wissen über den gemeinsamen Hintergrund ist für Schütz der feste, von den konkreten Handlungen
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zunächst einmal unabhängige Kontext des Verstehens und koordinierten Handelns. Nun aber macht die Ethnomethodologie wirklich ernst: Es gibt keinen solchen festen Hintergrund. Und es gibt keine Trennung von Hintergrund und aktuellem Geschehen. Sondern: Das Geschehen konstituiert seinen jeweils eigenen Hintergrund – uno actu. Und dies nur in der Interaktion der Personen. Der Hintergrund wird also immer erst durch das aktuelle Geschehen und durch die einzelnen interaktiven Sequenzen der wechselseitigen Reaktion geschaffen. Das Handeln und sein Hintergrund, der Sinn und das darin sinnhafte Tun, sowie die Interaktion der Personen bilden so eine unauflösliche und nur „aus sich heraus“ verstehbare Einheit der wechselseitigen Ermöglichung.
Ein Beispiel: Die Konstitution des Grußes durch das Grüßen Wie das gemeint ist, haben Hugh Mehan und Houston Wood am Beispiel des Grußes illustriert.5 Danach sind beispielsweise das Wort „Hallo“ – oder auch die Frage „Wie isset?“ – nur innerhalb eines Kontextes der Institution des Grußes sinnvoll. Und sie konstituieren gleichzeitig in der interaktiven Handlung von Gruß und Gegengruß den Kontext des Grußes als Institution wieder. „Hallo“ oder „Wie isset?“ zu sagen oder zu fragen bedeutet demnach sowohl die Anerkennung und Aufrechterhaltung einer fraglosen Sinnwelt der Institution des Grußes in einem bestimmten Kontext, wie die Konstruktion dieser Sinnwelt und des Kontextes – und zwar: in einem Akt. Mit dem Gruß und seiner Erwiderung erkennen die Akteure gegenseitig einen normalerweise nicht thematisierten Horizont von Selbstverständlichkeiten an. Beispielsweise: Daß sie sich manchmal sehen können, daß sie Zeichen austauschen können, daß sie erwarten können, Zeichen zu erhalten, daß einige Menschen Kölsch verstehen können, andere aber nicht, daß manche zurückgrüßen werden, manche aber auch nicht – und so weiter. Kurz: „Ohne den geradezu abergläubischen Gebrauch von Grüßen würde keine Welt entstehen, in der Grüße mögliche ‚Objekte‘ sind. Ein Gruß schafft ‚Raum‘ für sich selbst. Aber wird erst einmal ein solches verbales Verhalten regelmäßig ausgeführt, so wird eine Welt aufgebaut, die den Gebrauch von Grüßen als selbstverständlich hinnehmen kann.“ (Mehan und Wood 1976, S. 36; Hervorhebung nicht im Original)
5
Hugh Mehan und Houston Wood, Fünf Merkmale der Realität, in: Elmar Weingarten, Fritz Sack und Jim Schenkein (Hrsg.), Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, Frankfurt/M. 1976, S. 36.
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Und zwar: Bis auf das „Hallo“ etwa ein eisernes Schweigen und auf das „Wie isset?“ eine umständliche Gegenfrage auf Hochdeutsch folgen, die anzeigen, daß mit dem angenommenen Hintergrund etwas nicht stimmt.
Handeln, Zeichen und Kontext Ein Gruß ist – wie jede andere sprachliche oder nicht-sprachliche Tätigkeit – also immer eine Handlung und ein Zeichen für einen Kontext im Hintergrund gleichzeitig. Und nur aus dem so geschaffenen Kontext heraus wird der Gruß als Handlung oder als sprachliche Äußerung wieder sinnvoll. Dieser unauflösliche Zusammenhang von Handlung bzw. Zeichen und Kontext ist eine der wichtigsten Annahmen der Ethnomethodologie überhaupt: Es gibt kein Handeln und kein Zeichen ohne seinen Kontext. Und es gibt keinen Kontext ohne sein Handeln und sein Zeichen. Und erst aus der ununterbrochenen, wiederholten wechselseitigen Konstitution von Kontext und Handeln bzw. Zeichen entsteht jene Fraglosigkeit des Wissens und des Tuns im Alltag, die Schütz als die Basis des Handelns ansah.
Die „unheilbare“ Indexikalität des Alltagshandelns Die Annahme der unauflösbaren Kontextgebundenheit des Handelns bzw. der Zeichen wird als die These von der „unheilbaren“ Indexikalität bezeichnet. Dabei meint „Indexikalität“, daß eine bestimmte Handlung oder Äußerung immer mit einem kontextspezifischen „Index“ versehen sein muß, der auf den Hintergrund verweist, vor dem die Handlung oder die Äußerung erst verständlich wird. Alfred Schütz sprach in diesem Zusammenhang von seinem Hund Fido als einem Individuum, das auch noch zur Kategorie der deutschen Schäferhunde gehöre.6 Fido war für Schütz ein ganz besonderer Hund und nicht irgendeiner. Und das könnte man mit einem „Index“ anzeigen. Mein Kater Felix gehört zur Spezies der felidae. Aber es ist mein Kater, er ist rot getigert und ärgert mich jetzt, am 24. März 1998, indem er mir beim Schreiben über die Tastatur läuft. Und er hat daher den Index Ffxyz, mit dem er für mich einen besonderen Sinn bekommt.
Der Ausdruck der Indexikalität ist der Linguistik entnommen und bezieht sich auf das Problem des Sprachverstehens im engeren Sinne: Viele sprachliche Ausdrücke sind erst verständlich, wenn man ihren Kontext kennt. Der Befehl „Mach‘ die Tür zu!“ ist eine sog. indexikalische Äußerung, weil nur aus der 6
Alfred Schütz, Strukturen der Lebenswelt, in: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 3: Studien zur phänomenologischen Philosophie, Den Haag 1971b, S. 162.
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konkreten Sprechsituation erschlossen werden kann, wer wann welche Tür schließen soll. Bestimmte Zusätze zu einem nicht-indizierten Ausdruck, sog. „deiktische Elemente“, können den Bezug erläutern: hier, jetzt, du, ich, dann usw. Sie sind die Indizes, die den Bezug auf den Kontext herstellen helfen.
Entindexikalisierung Alltagsmenschen – wie die Sozialwissenschaftler mit ihrem Drang nach Verallgemeinerung – versuchen nun aber fortwährend, die kontextspezifischen Indizes durch kontextungebundene Ausdrücke zu ersetzen. Dies sind Versuche zur „Heilung“ der an sich unheilbaren Indexikalität: die Begriffe möglichst ohne zusätzliche Indizes mit Verweisungen auf einen Kontext verständlich zu machen. Die – versuchte – Heilung der Indexikalisierung wird auch Entindexikalisierung genannt. Das geschieht dadurch, daß die Alltagsmenschen immer wieder ihr Tun in Hinblick auf allgemeinere Sachverhalte und Kategorien zu erläutern versuchen. Entindexikalisierung ist somit eine Art, sich und anderen anzuzeigen, daß das jeweilige Handeln eben nicht ideosynkratisch ist, sondern zu einer erwartbaren Klasse von allgemeineren Hintergrundannahmen gehört. Und je weiter und je typisierter der Hintergrund, desto kontextfreier und damit selbstverständlicher wäre das Handeln. Und genau dadurch könnte der Eindruck der Geordnetheit und der Systematik der Welt und der Vernünftigkeit des Handelns über alle Buntheiten der Kontexte hinweg entstehen. Der Versuch der Entindexikalisierung ist also eine der „Ethnomethoden“, die die Menschen zur Herstellung von Rationalität und Berechenbarkeit in der Alltagswelt anwenden. Aber leider: Die Indexikalität des Handelns und des Sprechens läßt sich nach Auffassung der Ethnomethodologie grundsätzlich nicht heilen. Da ist durchaus etwas dran. Für die Richtigkeit dieser Annahme, daß die Indexikalität des Handelns nicht zu heilen ist, spricht unter anderem, daß es bis heute nicht gelungen ist, brauchbare Übersetzungscomputer zu bauen. Und man weiß auch warum: Weil das Problem der – für den Rechner nötigen – Entindexikalisierung der Sprache bisher nicht gelöst werden konnte.
Sinnkontexte Warum ist aber die Indexikalität derart unheilbar und warum sind alle Versuche der Entindexikalisierung erfolglos geblieben? Der Grund liegt nach Auffassung der Ethnomethodologie darin, daß es Sinn – im Sinne von Geordnetheit, Durch-
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schaubarkeit, Vernünftigkeit – außerhalb von spezifischen Sinnkontexten nicht geben kann. Das Problem hat mit der Frage nach dem Sinn des Handelns zu tun (vgl. dazu auch schon den Exkurs über „Sinn“ in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“ und Kapitel 6 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Sinnfragen sind Fragen nach dem „Warum“ spezieller unerklärlicher Ereignisse, einschließlich des eigenen Handelns. Antworten auf Warum-Fragen lassen sich – wie bei allen Erklärungen – durch die Einordnung des Ereignisses in einen allgemeineren Zusammenhang geben. Sinnprobleme treten immer dann auf, wenn es unerklärliche Überraschungen gibt, wenn der übliche Kontext zur Einordnung des speziellen Ereignisses nicht ausreicht und wenn ein neuer Kontext für das überraschende Element erst noch gefunden werden muß, aber weit und breit nicht zu sehen ist. Genau das geschieht zum Beispiel in den Krisenexperimenten. Und die Menschen reagieren dann so, wie dies auch Schütz beschrieben hatte: Sie denken plötzlich über etwas nach, was sie vorher ganz ohne Verweisung und ohne Index lassen konnten (vgl. die Abschnitte 3.2 und 3.3 oben in diesem Band). Und dieses Nachdenken ist nichts anderes, als die Suche nach dem für das spezielle Ereignis „zuständigen“ Kontext, der es als zwar überraschend, mit der neuen Kontextualisierung aber wiederum als erklärlich, transparent und letztlich doch wieder wohlgeordnet erscheinen läßt.
Sinn entsteht also durch die Thematisierung eines Aspektes aus dem Horizont der offenen Möglichkeiten und mit der Zuschreibung von nicht mehr nur leeren Erwartungen über problematische Möglichkeiten mit festen Wahrscheinlichkeiten – um die Ausdrucksweise von Alfred Schütz aus Kapitel 3 oben noch einmal zu bemühen. Im Alltag sind die Menschen häufig genug mit dem Problem der Überraschung und mit der Frage nach dem Sinn derselben konfrontiert: Worauf verweist eigentlich das überraschende Handeln des anderen Akteurs? Und was soll ich tun, wenn das Handeln mit dem erwarteten Kontext nicht sofort verbunden werden kann? Zum Beispiel: Ich habe soeben den ansonsten zwar etwas steifen, formal aber stets korrekten, Kollegen Graf Hoppenstedt aus der Fakultät freundlich gegrüßt. Aber der ist finster blickend und wortlos an mir vorbei gegangen. Warum nur? Was habe ich ihm getan? Wird in der Fakultät nicht mehr gegrüßt? Hätte ich „Euer Gnaden“ hinzufügen müssen? Und dann die naheliegende Vermutung als neuer gedanklicher Kontext, der das Geschehen verstehbar macht: Lange habe ich ihn ja schon nicht mehr gesehen. Aha! Er hat ja ein Freisemester. Und er war wohl gerade wieder in Gedanken mit seinem Buch beschäftigt, das er jetzt endlich fertigstellen will, nachdem das Akademiejahr letztlich dafür nicht gereicht hat. Und außerdem ist es ja geradezu der Beruf der Professoren, gedankenverloren zu sein und die sonstige Welt zu vergessen. Mir geht es ja auch laufend so, daß ich die Freundlichkeiten der Umwelt glatt übersehe. Und adlig ist er ja auch noch. Deshalb: Entwarnung. Alles nicht so schlimm. Es kann weiter gegrüßt werden.
Um einem überraschenden Ereignis einen – neuen – Sinn zu geben, muß ein zuvor nicht thematisierter Aspekt, aus dem Horizont der leeren Erwartungen herausgehoben werden. Dieser Aspekt bildet jetzt den Kontext, aus dem sich der Sinn des neuen Ereignisses ableitet. Und wenn ein solcher neuer Kontext gefunden ist, dann hat das Ereignis auch wieder einen verweisenden Index.
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Wenn aber nicht: Dann geht die Suche so lange weiter, bis sie erfolgreich ist. Und sie ist erfolgreich! Immer! Kurz: „Sinn“ kann ein Ereignis nur erhalten, wenn es in einen „erklärenden“ oder sonstwie übergeordneten Kontext eingeordnet werden kann – sei es als Kausalerklärung physischer Vorgänge, sei es als Handlungserklärung, sei es typologisierende Klassifikation. Die Frage nach einem kontextfreien Sinn einer Handlung oder eines Zeichen, die Frage nach der Möglichkeit der kompletten Entindexikalisierung, wäre also im Rahmen der ethnomethodologischen Überlegungen etwa so sinnvoll wie die, was denn der Unterschied zwischen einem Nilpferd sei. Der wichtigste Anlaß für eine Indexikalisierung in bezug auf zuvor nicht thematisierte Kontexte, sind also die Überraschungen des Lebens. Je komplexer, je turbulenter und je instabiler die Welt ist, umso öfter ist mit solchen, zu einer neuen Indexikalisierung zwingenden Überraschungen zu rechnen. In komplexeren, funktional differenzierten Gesellschaften ist dies der Normalfall: Das Handeln findet hier in ständig wechselnden und sich stets neu bildenden Sinnsphären statt. Versuche zur Entindexikalisierung scheitern hier schon aus strukturellen Gründen immer wieder. Wohl nicht aus Zufall war die Ethnomethodologie – wie das interpretative Paradigma insgesamt – eine der theoretischen Antworten auf diese Strukturveränderungen der Gesellschaft – im Vergleich mit den verhältnismäßig überraschungsfreien Bedingungen in einer Stammes- oder einer Ständegesellschaft. Übergreifende Werte und „bedingungslos“ geltende Normen, die unter ihrem Dach durchaus den Schein der Entindexikalisierung des Handelns entstehen lassen könnten, gibt es in komplexen Gesellschaften nicht in dem Maße, daß an eine Entindexikalisierung des Handelns ernsthaft gedacht werden könnte (vgl. dazu auch schon den „Exkurs über die Frage, ob es eine Beziehung zwischen dem Typ des Rollenhandelns und den gesellschaftlichen Verhältnissen gibt, in Band 5, „Institutionen“ dieser „Speziellen Grundlagen“).
Immer – so postuliert die Ethnomethodologie – muß das erkennbare Handeln der anderen also in einen „verständlichen“ Kontext eingeordnet werden. Ist dies nicht möglich, dann treten die in den Krisenexperimenten beschriebenen Irritationen auf. Aber gerade dann versuchen die Menschen ja noch, einen sinngebenden Kontext für das Unfaßbare aufzuspüren: Ming Frau iss jetz entjöltich verröck gewoode! – als die rettende, aber auch nicht allzu fern liegende Hypothese für Herrn Fussbroich, daß die Welt in Köln-Höhenhaus an sich doch noch in Ordnung ist: Jeahnt hann isch datt jo schon fröher. Hatt se nit och en knatschverröckte Tant? Jenau! Jezz ess jo alles klor! Jott sei Dank!
Die Konstruktion der „Wirklichkeit“ Sinnhaftes, den Akteuren verständliches und vernünftiges Handeln besteht damit vor allem in einer Technik des richtigen Umgangs mit indexikalen Äußerungen: in der einsehbaren und schließlich wieder als vernünftig angesehenen Identifikation und Schaffung eines erklärenden Kontextes und der darin thematisierten Re-
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geln, die das spezifische Ereignis als – innerhalb dieses Rahmens! – erwartbar erscheinen lassen. Und wenn es zu Überraschungen kommt, besteht die Kunst des sozialen Handelns darin, wieder eine sinnhaft erscheinende Fortsetzung des Handelns nach einer „neuen“, für alle einsehbaren und verständlichen Indexikalisierung zu finden. Damit können Lücken und Unterbrechungen im Fluß des Geschehens überbrückt und durch ungewohnte Wendungen gefährdete Sequenzen des Tuns und des Sprechens gerettet werden. Intelligentes soziales Handeln besteht insbesondere daraus, diese Klippen durch Neufinden und Anzeigen von Verweisungen bzw. von Indizes zu umschiffen. Soziales Handeln ist insofern ein Prozeß der stetigen interaktiven Neuschaffung von Kontexten und Indizes, von dem aus das Handeln und das Verstehen und die konstruktive Festigung einer eventuell ganz neuen „Wirklichkeit“ mit großer Selbstverständlichkeit weitergehen können. Und zwar so, „als ob“ es vernünftig, durchschaubar und selbst„verständlich“ wäre – auch wenn einem objektiven Beobachter die Haare zu Berge stehen oder er nur noch Bahnhof versteht. Die Ethnomethodologie radikalisiert damit die für die interpretative Soziologie insgesamt so zentrale Idee der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit. Und daran kann ja auch kaum gezweifelt werden: Der „subjektive Sinn“ des Handelns ist ja nichts anderes als der Bezug des Handelns auf eine nur den Subjekten eigene Sinnwelt, die sie in ihrem Handeln jeweils schaffen.
Fünf Eigenschaften der „Wirklichkeit“ Fünf Eigenschaften werden der so konstruierten subjektiven „Wirklichkeit“ zugeschrieben: Reflexivität, Kohärenz, Realität als interaktive Konstruktion, Fragilität und Permeabilität.7 Sie bilden – auch das ist eine der typischen Annahmen der Ethnomethodologie – eine unauflösbare Einheit. Sie könnten eigentlich nur gleichzeitig besprochen werden. Dennoch wollen wir versuchen, hintereinander zu erläutern, was jeweils gemeint ist.
Reflexivität und die Methode der dokumentarischen Interpretation Die Reflexivität ist der oben beschriebene, immer etwas mystisch klingende Vorgang der Indexikalisierung einer Handlung bzw. einer sprachlichen Äußerung 7
Wir orientieren uns in dieser Aufzählung und Erläuterung der Eigenschaften der gesellschaftlich konstruierten und durch die Ethnomethoden erhaltenen „Wirklichkeit“ und in den folgenden Erläuterungen, insbesondere an dem Beitrag von Mehan und Wood 1976.
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durch die Handlung bzw. die sprachliche Äußerung selbst. Wir hatten dies am Beispiel des Grußes zu erläutern versucht: Ein Tun wird sinnvoll im Rahmen des Kontextes, den es selbst schafft und auf den es durch sich selbst wiederum verweist: „Eine Äußerung liefert nicht nur eine bestimmte Information, sie schafft auch eine Welt, in der eine Information als solche erscheinen kann.“ (Mehan und Wood 1976, S. 36)
Das Handeln bzw. die Äußerung schafft also – in einem weiten Horizont der unaufhebbaren Sinnungewißheit – durch sich selbst eine Gewißheitswelt, die ihm – gewissermaßen vorweg-gleichzeitig-nachträglich – einen Sinn verleiht. Diese Gedanke war uns bereits einmal begegnet: bei dem Konzept der Methode der dokumentarischen Interpretation nach Karl Mannheim (vgl. Abschnitt 3.2 oben in diesem Band). Mannheim beschreibt sie als Suche nach einem identischen Muster, das den unterschiedlichen Erscheinungen bei allen ihren Variationen zugrunde liegt. Dabei werden die gegebenen Eindrücke eines Handelns als „Dokumente“ für eine „Kulturobjektivation“ benutzt. Mannheim erläutert die Idee u.a. am Beispiel eines Freundes, der einem Bettler ein Almosen als milde Gabe überreicht.8 Dieses Tun kann in verschiedener Weise gedeutet werden: als physische Tat oder als „Träger eines Sinnes, der in diesem Falle ‚Hilfe‘ heißt“. Dann ist der Freund ein „Hilfeleistender“, der gegenüberstehende Herr ein „Bettler“ und die Gabe ein „Almosen“. Erst letzteres verleiht dem Tun einen „objektiven Sinn“: die „Hilfe“ als soziale Handlung. Daneben ist der „intendierte Sinn“ zu unterscheiden: Was hat sich der Freund dabei gedacht? Er hat vielleicht dem Bettler nicht nur helfen, sondern auch mir und ihm sein Mitleid kundtun wollen. Das ist der „intendierte Ausdruckssinn“ des Handelns. Aber es gibt noch eine dritte Sinnschicht: „Ich sehe nämlich plötzlich, die gegebenen Zusammenhänge verfolgend, daß diese ‚milde Gabe‘ ein Akt der ‚Heuchelei‘ war. In diesem Falle kommt es mir gar nicht darauf an, was der Freund objektiv getan, geleistet hatte, auch nicht darauf, was er durch seine Tat ausdrücken ‚wollte‘, sondern was durch seine Tat, auch von ihm unbeabsichtigt, sich für mich über ihn darin dokumentiert.“ (Mannheim 1970, S. 108)
Nämlich: eine bodenlose Heuchelei – die als „Heuchelei“ selbst ein mir sehr bekanntes Muster bildet, das sich in seinem Handeln deutlich dokumentiert hat, vor dessen Hintergrund ich jetzt den Freund mit ganz neuen Augen sehe – und jetzt entsprechend selbst handeln werde. Nicht ausgeschlossen ist, daß der Freund das seinerseits bemerkt, mein Handeln seinerseits „dokumentarisch in8
Karl Mannheim, Die Gegebenheitsweise der Weltanschauung. Die drei Arten des Sinnes, in: Karl Mannheim, Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Eingeleitet und herausgegeben von Kurt H. Wolff, 2. Aufl., Berlin und Neuwied 1970, S. 104ff.
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terpretiert“, und wir beide dann zu einer ganz neuen Definition unserer Beziehung kommen: Du Heuchler! Du Moralapostel! Nach verschiedenen Seiten ab! Die reflexive Indexikalisierung von Äußerungen und Handlungen ist also nichts anderes als das, was Mannheim als Methode der dokumentarischen Interpretation beschreibt. Garfinkel erläutert die Methode so: „The method consists of treating an actual appearance as ‚the document of‘, as ‚pointing to‘, as ‚standing on behalf of‘ a presupposed underlying pattern. Not only is the underlying pattern derived from its individual documentary evidences, but the individual documentary evidences, in their turn, are interpreted on the basis of‚what ist known‘ about the underlying pattern. Each is used to elaborate the other.“9
Etwas seltsam klingen der kursivgedruckte Satz im Zitat oder der Ausdruck „durch sich selbst“ schon. Sie sollen die „Reflexivität“ von Dokument und Muster sprachlich bezeichnen. Das Wort Reflexivität hört sich sowieso immer etwas nach dem Problem von Henne und Ei an, mit dem sich die Philosophen wohl auch deshalb so gerne beschäftigen, weil eine „analytische“ oder eine kausale Lösung ausgeschlossen, und nur eine interpretative bzw. hermeneutische Sichtweise möglich scheinen. Aber schon bei Mannheim und bei Garfinkel geht es nicht ganz so „reflexiv“, sondern durchaus auch „kausal“ zu: Das gedankliche Modell der Heuchelei besteht schon vor der Einordnung des Freundes darin. Und Garfinkel spricht von einem „presupposed underlying pattern“, für das das Ereignis ein Dokument wäre. So dürfte ein Ethnomethodologe eigentlich nicht sprechen. Gleichwohl ist die Idee nicht falsch, daß sich durch Dokumente der Heuchelei auch die kulturelle Idee der Heuchelei wieder bestärken mag und daß dadurch bestimmte Handlungen erst recht wieder auch als Heuchelei erkennbar werden. Das mag man gerne reflexiv nennen. Es ist aber nichts als eine ganz harmlose Kausal-Sequenz von Handeln, Interpretieren und neuem Handeln – mit dem eventuellen Ergebnis der Entstehung eines Gleichgewichtes von Handeln und einem damit verbundenem kulturellem Muster, durch das das Handeln „durch sich selbst“ einen Sinn erhält. Wenn man in unendlich kleinen kausalen Sequenzen denken kann – und weiß, was Infinitesimalrechnung ist –, dann verliert die Idee der Reflexivität vollends jede Mystifizierung. Es ist nur ein anderer Ausdruck für Rückkopplung und Reproduktion (vgl. dazu noch Kapitel 12 unten in diesem Band).
9
Harold Garfinkel, Common Sense Knowledge of Social Structures: The Documentary Method of Interpretation in Lay and Professional Fact Finding, in: Garfinkel 1967b, S. 78; Hervorhebungen nicht im Original; vgl. auch Garfinkel 1973, S. 210ff.
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Bei vorab bei den Akteuren gut bekannten Modellen des Tuns wird das Gleichgewicht sofort gefunden. Nur Verrückte oder Weise, wie Harold Garfinkel oder Harald Schmidt, stören die fraglose und normalerweise ganz uninteressante Reflexivität des Alltags. Schwieriger wird die Sache schon bei offenen Situationen – wie die erste befangene Begegnung nach der Heiratsanzeige. Aber ganz offen sind Situationen nur selten. Die Begegnung von Robinson Crusoe und Freitag gehörte wohl dazu. Fast immer gibt es einen Grundvorrat an unverfänglichen Themen, von dem aus die reflexive Kontextbestimmung ihren prekären Ausgang nehmen kann: Guten Abend. Scheußliches Wetter heute! Habe ich Sie nicht schon einmal gesehen? – zum Beispiel. Und wenn man Glück hat – und wenn die Akteure merken, daß eine rasche Verständigung ihnen etwas bringen würde –, dann wird auch bald ein reflexives Gleichgewicht gefunden. Gute Parties und erfreuliche Begegnungen lassen sich ethnomethodologisch so kennzeichnen. Aber nicht alle Parties und nicht alle Begegnungen enden in einem für alle erfreulichen, weil als sinnhaft erlebten, Gleichgewicht.
Einer der wichtigsten Tricks für das Beibehalten eines einmal gefundenen reflexiven Gleichgewichts ist das „Ausschöpfen“ von Hypothesen über die jeweils geltende Wirklichkeit. Dies geschieht bei Störungen und Überraschungen: „Eigentlich“ gilt der alte Index des Grußes noch: Auch zerstreute Professoren sollten einander grüßen. Die Sache mit Graf Hoppenstedt ist aber eine leicht erklärliche Ausnahme von der Regel. Ich muß meinen Glauben an die Geltung der Institution des Grußes nicht korrigieren und kann weitergrüßen. Und die Folge: Der unkorrigierbare Glaube erhält den Kontext des Grußes über einzelne Ausnahmen hinweg. Und auch ich bin nicht blamiert, sondern eher der Herr Graf, der seine Weltabgewandtheit nun aber wirklich ganz penetrant kultiviert (vgl. dazu insgesamt bereits Abschnitt 8.2 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Technisch gesehen handelt es sich bei dem reflexiven Erhalt eines unkorrigierbaren Glaubens um die Einfügung von rettenden Hilfshypothesen für eine Alltagstheorie, die augenscheinlich widerlegt ist. Auf diese Weise kann jede Alltagstheorie erhalten bleiben. Die Parallelen zum Konzept der negativen Heuristik bei Forschungsprogrammen nach Imre Lakatos und zum Begriff des Paradigmas bei Thomas Kuhn liegen auf der Hand: Es gibt einen unwiderlegbaren Kern von Annahmen, die von einem Schutzgürtel von Hilfshypothesen umgeben sind. Störungen und Widerlegungen werden durch dieses Immunsystem abgefangen. Und die Folge: Das Paradigma der Alltagstheorie kann in seiner Fraglosigkeit auch bei Anomalien erhalten bleiben und als sinnstiftender Kontext selbst noch für die Überraschungen dienen. Und so kann das Leben dann wieder weitergehen.
Nicht nur wissenschaftliche Paradigmen, sondern auch die Sinnprovinzen des Alltagslebens erhalten sich auf diese Weise der reflexiven Abwehr von Anomalien. Und in dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen der Relativitätstheorie, an die die Physiker glauben, und dem Glauben an das Orakel, den die Zande in Afrika den Berichten von E. E. Evans-Pritchard zufolge ebenso für unkorrigierbar halten – auch wenn die jeweiligen Voraussagen keineswegs immer zutreffen. Es gibt immer eine „Erklärung“ dafür, warum das alles so sein „mußte“.
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Kohärenz Unter der Kohärenz der subjektiven Realität wird verstanden, daß die Akteure zwar keineswegs für alle Bereiche, mit denen sie in Berührung kommen könnten, durchgearbeitete und „reflektierte“ Wissens-Modelle zur Verfügung haben. Aber: Sie wissen über diese Unvollständigkeit. Und sie können sie gut begründen: Es wäre ganz unnütz, mehr über etwas zu wissen, was im Alltag kaum gebraucht würde. Umso wichtiger sind die Sphären, in denen es um etwas geht. Und für die ihnen wichtigen Bereiche besitzen die Alltagsmenschen daher ein sehr elaboriertes System mit einer sehr ausgeprägten Kohärenz. Mehan und Wood zitieren dazu eine interessante unveröffentlichte Studie von Don H. Zimmerman und D. Lawrence Wieder über die Wissensbestände von Drogenfreaks (Mehan und Wood 1976, S. 38). Eine der Besonderheiten von deren Kultur war es, ganz bewußt anarchisch und „irrational“ zu sein. Um das aber tatsächlich und effektiv zu können, hatten sie eine ganz ausgefeilte Taxonomie und eine höchst „rationale“ Alltagstheorie des Drogenkonsums entwickelt, die alle Anzeichen der kohärenten, „perfekten Information“ boten. Zimmerman und Wieder fanden, „ ... wenn es zu jenen Aktivitäten kommt, die von Freaks sehr hoch bewertet werden, wie das Einnehmen von Drogen, Lieben und andere ‚billige Erregungen‘, so existiert ein sorgfältig ausgearbeiteter Bestand an überliefertem Wissen. Freaks und andere benutzen dieses Wissen, wie man Drogen einnimmt, liebt usw., indem sie auf verständige, bedachte und planvolle Art und Weise verschiedene Konsequenzen entwerfen, Ergebnisse vorhersagen, sich die Möglichkeiten einer Handlung in mehr oder weniger klarer und deutlicher Weise vorstellen und zwischen zwei oder mehreren Mitteln zur Erreichung des gleichen Zieles wählen.“10
Kurz: Es ist ganz vernünftig und „kohärent“, sein Wissen inkohärent zu verteilen. Auf diese Weise können die wirklich wichtigen Dinge auch effektiv bewältigt werden. Die besondere Form der inkohärenten Kohärenz des Wissens ist dabei die Folge einer intelligenten Lenkung der knappen Ressource der Aufmerksamkeit. Alfred Schütz nannte das Ergebnis dieser Verteilung der Aufmerksamkeit die Relevanzstruktur: First Things First! Die oben geschilderte Wiederherstellung des Wissens nach Überraschungen als unkorrigierbaren Glauben ist ein Mittel der Aufrechterhaltung dieser so wichtigen Struktur der Kohärenz: Erst wenn wirklich alles und dauernd zusammenbricht, würde es sich lohnen, die Kohärenzstruktur des Wissens zu ändern. Bis dahin sind die Ausnahmen besser Ausnahmen von einer absolut gesetzten Regel. Es wäre – einstweilen – töricht, das anders zu sehen. 10
Don H. Zimmerman und D. Lawrence Wieder, The Social Basis for Illegal Behavior in the Student Community. First Year Report, Scientific Analysis Corporation, Santa Barbara und San Francisco o.J., S. 102; zitiert nach Mehan und Wood, S. 38.
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Realität als interaktive Konstruktion Subjektive Realitäten sind in sich instabil: Sie zerfallen rasch, wenn ihre Modelle nicht immer wieder in aktuell erlebten Kontexten des Handelns „dokumentarisch“ bekräftigt werden können. Dies macht die überragende Bedeutung von persönlichen sozialen Beziehungen für die Geordnetheit der subjektiven Welt aus: Institutionen leben nur über die beständige „reflektive“ Bekräftigung im konkreten Handeln der Akteure in wechselseitiger Wahrnehmung und Interpretation ihres Tuns (vgl. dazu auch noch das Kapitel 12 unten in diesem Band ausführlich). Die Geordnetheit der subjektiven Wirklichkeit ist die Folge eines Gleichgewichts einer interaktiv reproduzierten Sinnwelt: Das Handeln ist für die Akteure das Zeichen für die Geltung der Sinnwelt, und das Wissen um die Geltung treibt das Handeln voran. Deshalb ändern sich die subjektiven Wirklichkeiten auch nur, wenn sich diese Gleichgewichte ändern. Und dann geschieht das, was Mannheim bei seinem mildtätigen Freund erlebte: Er sieht das physikalisch absolut gleiche Handeln plötzlich mit ganz anderen Augen an. Und insbesondere: Jetzt fallen ihm Dinge auf, die er früher ganz anders gesehen hatte. Denn das neue Wissen „muß“ wieder ähnlich einfach, kohärent und selbstevident sein wie das andere. Und das gelingt nur, indem die Ereignisse der Vergangenheit vor dem Hintergrund des neuen Gleichgewichts des Wissens eingeordnet werden und dadurch einen neuen Rahmen der Sicht der Dinge gewonnen haben. Mehan und Wood berichten von einem Fall in einer psychiatrischen Klinik, der den interaktiven Wechsel von Gleichgewichten subjektiver Sinnwelten und die nachträgliche Reinterpretation „objektiver“ Merkmale und Ereignisse gut illustriert. In der Klinik gab es – wie überall – einige vorfixierte Modelle von „Typen“ von Insassen mit den entsprechenden sprachlichen Etiketten: „Depressiver“, „Nigger“ oder „Soziopath“ zum Beispiel. Ein farbiger Patient mit dem Namen Jackson, der zunächst ganz umstandslos als Nigger galt, verletzte sich eines Abends durch einen Ausrutscher in eine Glasscheibe schwer am Arm. Die Frühschicht der Pfleger, die den Vorfall nicht richtig mitbekommen hatte, teilte der Spätschicht mit, Jackson habe einen Selbstmordversuch unternommen und sei ein Depressiver. Die Spätschicht übernahm diese Deutung. Was aber wichtiger war: Alle Ereignisse in der Vergangenheit wurden nun im Lichte dieser neuen Sicht neu gewertet: Jackson war doch immer schon etwas schwermütig gewesen, und man müsse ihn jetzt etwas schonender behandeln. Wenige Wochen später kam heraus, daß der „Selbstmordversuch“ tatsächlich ein Unfall war. Jetzt galt derselbe Jackson als Betrüger, als Soziopath, dem man einen Selbstmordversuch nicht einmal mehr zutraute. Und wiederum geschah das Gleiche: Alle vorherigen Ereignisse wurden im Lichte dieser neuen Deutung uminterpretiert und „rationalisiert“.
Die Uminterpretationen halten sich solange, wie keine einfach wegzuerklärenden Anomalien auftreten. Der Motor des Geschehens, des Erreichens und der Änderung der Sinngleichgewichte, sind die Interaktionen der Beteiligten. Von zentraler Bedeutung sind dabei die sprachlichen Etiketten für Modelle
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bestimmter Sinnwelten in der jeweiligen Interaktionsgemeinschaft. Jede Interaktionsgemeinschaft teilt einen Satz fertiger Modelle von Situationen und dazu gehöriger sprachlicher Etiketten: Nigger, Depressiver, Soziopath – zum Beispiel. Immer gilt eines der Modelle. Und immer ist dann das entsprechende Etikett im Umlauf. Die anderen Modelle und Etiketten sind aber vergessen. Sie „ruhen“ – bis auf Abruf. Aktiviert werden sie erst durch die wechselseitige, interaktive Bestärkung, daß das jetzt tatsächlich ein Dokument dafür ist, daß Jackson mal ein Nigger, mal ein Depressiver oder mal ein Soziopath ist: „Etiketten sind ... indexikalische Ausdrücke. Bedeutungen sind situational bestimmt. Sie sind von dem konkreten Kontext abhängig, in dem sie erscheinen. Das Interaktionshandeln der Teilnehmer strukturierte die indexikalische Bedeutung der Etiketten, die auf der Station gebraucht wurden. Die Beziehung der Teilnehmer zu dem Gegenstand, die Szene, in der etwas geschieht, die Umstände, die eine Definition umgeben, bestimmen die Bedeutung der Etiketten und der Gegenstände.“ (Mehan und Wood 1976, S. 49)
Zwar muß ein „signifikantes“ Ereignis eintreten. Aber das kann praktisch jedes Ereignis sein. Damit es zu dem ersten Schritt weg von dem alten Gleichgewicht der Geltung eines bestimmten Modells hin zu einer neuen, wieder: stabilen, Etikettierung kommt, braucht es nur als Dokument für eine „neue“ Wirklichkeit zur Geltung gebracht werden. Und das geschieht in Interaktionen – auch aus kleinsten Anfängen heraus – durchaus. Besonders dann, wenn eine gewisse Bereitschaft dazu schon vorab besteht und wenn die neue Deutung die gestörte Sinnordnung der Gemeinschaft wieder herstellen kann. Der Fall der in Abschnitt 3.3 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ beschriebenen Sekte der Seekers, die an den Fehlschlag ihrer Weltuntergangsprophezeiung nicht glauben mochten, weil sich die Mitglieder immer wieder gegenseitig neu einreden konnten, daß alles doch so sei, wie angenommen, war ein instruktives Beispiel dafür. Und in Kapitel 12 unten in diesem Band werden wir noch weitere Beispiele kennenlernen. Die Existenz eines alternativen Modells, seine markante sprachliche Etikettierung, eine hohe Dichte der Interaktion und – nicht zuletzt – die Wichtigkeit der neuen Deutung für die Lösung von Problemen bei den Interaktionsteilnehmern, sind die wichtigsten Faktoren und Prozesse dabei. Und da sich alle bald so verhalten, „als ob“ das Modell anwendbar und die Etikettierung „richtig“ sei, wird das Modell auch anwendbar und wird das Etikett auch „richtig“ – in den subjektiven Welten der Beteiligten wie dann auch manchmal in der wirklichen Realität. Auf diese Weise können alle möglichen – und zunächst ohne Zweifel objektiv falschen – Vorurteile im Zuge ihrer sich selbsterfüllenden Prophezeiung eine reale Grundlage bekommen. So läßt sich beispielsweise erklären, daß jeder, der einmal vorbestraft ist, auch tatsächlich später Mühe hat, die Zuschreibungen einer Wirklichkeit abzuwehren, die jetzt
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auf ihn einstürmen (vgl. auch den Exkurs über den Labeling Approach gleich unten in diesem Band).
Fragilität Die subjektive Wirklichkeit des Alltagshandelns findet ihre Fraglosigkeit in den Gleichgewichten seiner interaktiven Reproduktion. Und dann gilt sie den Akteuren tatsächlich als ganz unerschütterlich – bis die Krise der unerwarteten Verletzung eines an sich für ganz unantastbar gehaltenen Regel hereinbricht. Das ist mit der grundsätzlichen Fragilität der subjektiven Wirklichkeit gemeint: Der Kern der negativen Heuristik im Forschungsprogramm des Alltagshandeln hat einen Sprung bekommen. Und jetzt droht eine Revolution des Alltagswissens, weil die bisher gut funktionierenden Tricks der reflexiven Indexikalisierung doch auf einmal versagen. Und das Schlimme: Wenn das einmal geschehen ist, dann ist es mit der Unerschütterlichkeit des Glaubens in die Wohlgeordnetheit der Welt vorbei. Ein für allemal!
Permeabilität Die Fragilität des Wissens ist natürlich nur ein Korrelat dafür, daß sich das Wissen verändern kann. Meist gehen solche Veränderungen aber nicht in Form von „Revolutionen“, von Konversionen, von komplettem „Gestaltwandel“ also, vor sich, sondern schrittweise und in gerade noch erträglichen Dosierungen von einem Gleichgewicht zum anderen. So werden Menschen schrittweise älter und gelangen fast problemlos in die Sinnwelt der Greise – auch wenn sie sich als Kinder nicht vorstellen konnten, jemals das 14. Lebensjahr zu überschreiten. Die – schrittweise oder komplette – Veränderlichkeit der subjektiven Wirklichkeit ist die Permeabilität des Wissens, seine grundsätzliche Durchlässigkeit. Die interessante Frage bei der Permeabilität ist die, wie die Übergänge vollzogen werden und wovon es abhängt, daß sie vollzogen werden können. Es ist das Problem, das Alfred Schütz mit dem Schock beschreibt, den der Übergang von einer in die andere der „mannigfaltigen Wirklichkeiten“ erzeugt. Solche Schocks gehören – so Alfred Schütz ausdrücklich – zum Alltagsleben selbst. Zwar
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„ ... wir sind nicht bereit, diese Einstellung (der Fraglosigkeit; HE) aufzugeben, ohne einen spezifischen Schock erlebt zu haben, der uns zwingt, die Grenzen dieses ‚geschlossenen‘ Sinnbereichs zu durchbrechen und den Wirklichkeitsakzent auf einen anderen zu verlegen.“11
Aber ich erlebe „ ... im alltäglichen Leben oft solche Schockerfahrungen; sie gehören ausdrücklich zur Wirklichkeit des Alltags. Sie lassen uns erkennen, daß die Wirkwelt in der Standardzeit nicht der einzige geschlossene Sinnbereich ist, sondern nur einer unter vielen anderen, die meinem intentionalen Leben zugänglich sind.“ (Ebd.; S. 265f.; Hervorhebung nicht im Original)
Tagtäglich werden solche Übergänge vollzogen: Aufwachen, Aufstehen, Frühstücken, Straßenbahn, Vorlesung, Freundin ... und so weiter. Und immer gibt es tatsächlich einen kleinen Schock. Glücklicherweise wissen wir meist, wo die Grenzen sind. Und auch zum Glück existieren für die wichtigsten Übergänge vorgefertigte Muster, manchmal sogar deutlich markierte Übergangsrituale, die uns anzeigen, welche subjektive Realität jetzt für uns wichtig und gültig ist: Standardbiographien zum Beispiel und die vielen Feste, die den Weg durch sie hindurch markieren. Besonders interessant für das Phänomen der Permeabilität sind solche Fälle, in denen Akteure ganz unmerklich in eine subjektive Welt geführt werden, die sie sich zuvor nicht im Traume haben ausdenken können. Das oben im Vorkapitel „Vom Sinn der Grenzen und den Grenzen des Sinns“ geschilderte Abenteuer des Malers Tobias Schneebaum, der von New York aus zu den Akaramas in den peruanischen Dschungel ging, dort eine zeitlang lebte und mit ihnen schließlich die unglaublichsten Dinge trieb, war ein Beispiel dafür (Mehan und Wood 1976, S. 54ff.). Viele der Unglaublichkeiten auch in der „zivilisierten“ Welt – auch die unsagbaren Barbareien in den Konzentrationslagern der Nazis durch ganz „normale“ Alltagsmenschen – werden verständlicher, wenn man begriffen hat, daß sich auch die groteskesten Welten Schritt für Schritt und in der Abstützung durch interaktiv erzeugte Sinnwelten als Fraglosigkeiten darbieten können. Und daß man dahin keineswegs nur über monströse Wechsel in der gesamten „Weltanschauung“ auf einmal, sondern eher über viele kleine Schritte und ganz unmerklich kommen kann. Hätte Daniel Goldhagen nur ein wenig davon gewußt, hätte er nicht so psychologistisch und damit so unsoziologisch und irreführend argumentiert, als er das bis heute noch kaum nachvollziehbare Nebeneinander von Barbarei und Un-
11
Alfred Schütz, Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten, in: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971a, S. 265; Hervorhebung im Original.
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menschlichkeit mit Zärtlichkeit und Zivilisation bei Hitlers willigen Helfern zu erklären versuchte. Mit der Ethnomethodologie und der Idee der Permeabilität wird alles das sofort verständlich.
Die Basisregeln der Interaktion Die Ethnomethodologie ist ein Produkt der Erfahrung, daß die Fraglosigkeit des Alltags von Überraschungen und Störungen nicht frei ist – und unter komplexeren Verhältnissen geradezu alltäglich davon durchzogen wird. Letztlich handelt es sich um die Skizze einer Theorie der Informationsverarbeitung bei nichtpassenden Daten und der Reaktion darauf (vgl. dazu auch noch die nun gleich unten in Teil B folgenden Kapitel 5 bis 7): Was machen die Menschen, wenn sie auf unerwartete Elemente in einer Situation stoßen? Wie verarbeiten sie die neue Information? Und wie gelingt es ihnen auch angesichts von Störungen, ihre Orientierung und eine Handlungslinie beizubehalten? Die Lösung des Problems der Überbrückung von Sinnlücken haben wir schon bei Alfred Schütz angesprochen. Sie wird dabei zunächst in einer Intensivierung der Suche nach Informationen gesehen: Was vorher fraglos gültig war, muß jetzt thematisiert werden. Und wenn es gelingt, die Ausnahme von der Regel als erwartbaren Fall unter speziellen Bedingungen einzuordnen, dann kann die Sache als erledigt betrachtet werden. Diese Lösung knüpft im Grunde an eine sehr einfache Idee an: Die Akteure besitzen ein zwar meist nur grobes Wissen. Aber sie haben auch für Sonderfälle genügend Modelle gespeichert, so daß die neue Indexikalisierung gelingen kann: Es gibt – sozusagen – einen Korpus an Wissensbeständen auch für die wichtigsten Ausnahmen. Und wenn ein solcher Sonderfall eintritt, dann ist die Ausnahme eine spezielle Regel. Eine „neue“ Definition der Situation wird eigentlich nicht nötig. Es wird nur eine speziellere – mit einem entsprechenden speziellen „Index“ versehene – anstelle der bisher gewohnten, aus dem Gedächtnis abgerufen.
Aber ist das eine Lösung auch für die tatsächlich immer häufigeren Fälle, in denen es das erforderliche spezielle Wissen und das Modell mit dem besonderen Index aber eben nicht gibt? Wäre damit unser armes Hirn nicht ohnehin sehr überfordert? Und was wäre mit den tatsächlich „neuen“ Situationen, für die es ein „spezielles“ Modell ja gar nicht geben kann? Genau diese Frage haben sich auch einige Ethnomethodologen gestellt, allen voran Don H. Zimmerman und Melvin Pollner (vgl. Eickelpasch 1981, S. 22f.). Sie schlagen daher ein anderes Konzept vor: Nicht irgendwelche konkreten und spezifischen, in der Situation schon vorhandenen, Inhalte von Situationen leiten die Überbrückung der Störungen. Das meinen zwar die Akteure. Für sie „gibt“ es subjektiv diesen Corpus des Wissens objektiv und unabhängig von ihnen. Das ist aber ein Trugschluß. Der Ethnomethodologe weiß es – wie immer – besser:
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„For the member the corpus of setting features presents itself as a product, as objective and independent scenic features. For the analyst the corpus is the family of practices employed by members to assemble, recognize, and realize the corpus-as-a-product.“12
Der spezielle Wissenskorpus wird also erst in der Situation erzeugt – und zwar auf der Grundlage von einer „Familie“ von allgemeinen und abstrakten Regeln der Generierung einer neuen Situationsdefinition, für die es bisher kein konkretes Vorbild geben mußte. Die Vertreter dieser Version der Ethnomethodologie werden daher auch ganz treffend, als „radical situationalists“ bezeichnet. Wie soll das aber geschehen? Die Antwort hatte eigentlich Alfred Schütz auch schon gegeben, auf den sich Zimmerman und Pollner auch stützen: Es gibt bestimmte, gewissermaßen a priorische, vorsituationelle Regeln, Praktiken und Unterstellungen, die in jeder konkreten Situation als nicht thematisierbarer Rahmen aller konkreten Interaktionen vorausgesetzt werden – die verschiedenen Idealisierungen des sozialen Handelns. Dazu zählen – um sie hier zu wiederholen – insbesondere die Idealisierung von der Reziprozität der Perspektiven und die der Kongruenz der Relevanzsysteme (vgl. dazu bereits Abschnitt 3.3 und 3.4 oben in diesem Band). Die Idealisierungen des sozialen Handelns bilden somit gewisse Basisregeln der Interaktion, die – in einem Akt heroischer Vereinfachung, naiver Vertrauensseligkeit und Leugnung einer schlechten Wirklichkeit – jeder Akteur beim anderen als gültig unterstellt. Und vor diesem Hintergrund können dann die unglaublichsten Dinge geschehen: Die Akteure suchen sich im Rahmen der Basisregeln dann schon einen Sinn darin. Von Aaron Cicourel stammt der Versuch, in Erweiterung der Kategorien von Alfred Schütz, solche Basisregeln als eine Art von Tiefengrammatik der Oberflächenstruktur jeder konkreten Interaktion, aufzuzählen. Sechs sind es an der Zahl: die Reziprozität der Perspektiven, die et-ceteraAnnahme, Normalformen, den retrospektiv-prospektiven Eigensinn, die Selbstreflexion von Gesprächen und deskriptive Vokabularien als indexikalische Ausdrücke.13 Wir lassen es bei dieser Aufzählung.
Wenn man genauer hinsieht, dann handelt es sich bei den Basisregeln geradezu um das Gegenteil dessen, was die Wissenskorpus-These besagt: Die Akteure wissen nur, daß sie übereinstimmen. Aber sie wissen nicht worin. Und gerade in dieser Fiktion der Übereinstimmung stimmen sie überein:
12
Don H. Zimmerman und Melvin Pollner, The Everyday World as a Phenomenon, in: Douglas 1971, S. 95; Hervorhebung im Original.
13
Aaron V. Cicourel, Sprache in der sozialen Interaktion, München 1975 (zuerst: 1973), S. 31f.
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„Die Teilnehmer scheinen übereinzustimmen, obwohl keiner von ihnen irgendwelche expliziten Grundlagen oder eine deutliche ‚Gesprächsbasis‘ für die Übereinstimmung angezeigt hat. ... . Die Teilnehmer ziehen üblicherweise die Äusserungen der jeweils anderen nicht in Zweifel, indem sie unabhängige Belege verlangen, solange jeder annimmt, dass er ‚Einzelheiten‘ über Widersprüche, die im Gespräch aufgedeckt worden sind, bekommen kann ... . Aber selbst wenn es Zweifel gibt, wird der Interaktionspartner versuchen, dem anderen zu ‚helfen‘, die Unterhaltung durchzustehen. Direkte Konfrontationen erfordern radikale Verschiebungen in der von jedem Teilnehmer eingenommenen Perspektive: aber als erste Annäherung gehen beide selbstverständlich davon aus, dass jeder von ihnen versteht, was sie mit ihren Äusserungen sagen und meinen.“14
Kurz: Die Menschen vertrauen einander zunächst einmal – auch wenn sie sich in den konkreten Handlungen mißtrauisch beäugen. Ihr Vertrauen bezieht sich auf die abstrakte Grundlage der Interaktion, nicht auf den Inhalt des Handelns oder der mitgeteilten Informationen. Und es hat auch damit zu tun, daß sie sich gar nicht vorstellen könnten, daß es anders wäre. Daß die Basisregeln tatsächlich gelten, beobachten die Menschen im Alltag gleichwohl sehr genau. Sie sind hellwach und eben keine Deppen. Aber diese ununterbrochene Aufmerksamkeit auf Dinge, die auf keinen Fall sein dürfen, wird nicht als besondere Leistung vermerkt. Sie läuft gewissermaßen nebenbei mit. Bei dieser ständigen Vergewisserung, daß an der „Basis“ alles stimmt, dabei hilft vor allem die Sprache, das, wie das Peter L. Berger und Thomas Luckmann wieder einmal so schön gesagt haben, ununterbrochene Rattern der Konversationsmaschine des Alltagsgesprächs. Über die Einhaltung bestimmter Grundregeln des Sprechens versorgen sich die Akteure ununterbrochen mit den nötigen Hinweisen, daß die Basisregeln der Interaktion tatsächlich weiter gültig sind. Und außerdem erfahren sie auch noch andere interessante Dinge dabei. Die Einhaltung der Basisregeln – und damit das fortlaufende Sprechen – bildet die Grundlage der Fraglosigkeit des Alltags. Es ist aber eine Fraglosigkeit in der „Tiefe“, keine auf der „Oberfläche“ der aktuell angezeigten Normen und konkreten Modelle des Handelns. Erst wenn diese Regeln verletzt werden, dann bricht das Grauen wirklich aus. Damit rechnet niemand. Und deshalb ist in den Krisenexperimenten alles so furchtbar. Denn dort geschieht genau das, was nicht geschehen darf: Es werden die letzten Grundlagen der subjektiven Ordnung verletzt. Übertretungen in konkreten, speziellen Erwartungen lassen die Menschen dagegen meist ganz kalt. Sie rechnen damit.
14
Aaron V. Cicourel, Basisregeln und normative Regeln im Prozeß des Aushandelns von Status und Rolle, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Band 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie, Reinbek 1973, S. 184f.; Hervorhebung nicht im Original.
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Exkurs über den Labeling Approach Eine besonders einflußreiche Variante des ethnomethodologischen Denkens ist für die soziologische Analyse des sog. abweichenden Verhaltens bzw. der Kriminalität entwickelt worden:15 „Abweichendes Verhalten“ – wie Selbstmord, Drogensucht oder gewisse Nervenkrankheiten – und eine strafrechtlich eindeutig definierte „Kriminalität“ gibt es danach, ebenso wie „Täter“ mit bestimmten verwerflichen Motiven und eindeutigen kriminellen Handlungen, in einem objektiven Sinne eigentlich nicht. Sondern: Täter und Taten werden als eine eigene Wirklichkeit, in einem besonderen interaktiven Prozeß der Zuschreibung der Eigenschaft „kriminell“ immer erst konstruiert. Die Begründung folgt unmittelbar aus der Prämisse der unheilbaren Indexikalisierung allen Tuns: Die Taten der „Täter“ tragen das label „abweichend“ oder „kriminell“ nicht von sich aus und ohne jede Kontextualisierung „objektiv“ schon in sich. Sondern „abweichende“ und „kriminelle“ Handlungen werden – ebenso wie die „Täter“ – immer erst vor dem Hintergrund eines bestimmten Interpretationsrahmens als solche definiert. Einer der Hauptvertreter dieses Ansatzes hierzulande, Fritz Sack, hat diesen ethnomethodologischen Grundgedanken einst so formuliert: „Dies bedeutet aber, daß eine bestimmte Handlung mehr als eine Rekonstruktion zuläßt. Die Handlung selbst liefert ihre eigene Interpretation nicht mit. Diese wird an sie von außen herangetragen.“16
Vor Gericht geht es – anders als der Volksglaube meint – ja nicht so sehr um eine absolute „Wahrheit“, sondern um die „Revisionssicherheit“ der Entscheidungen in einem formal festgelegten Verfahren. Und nur im Rahmen der Schlüssigkeit und der formalen Entsprechung der Regeln des Verfahrens werden alle Entscheidungen als „wahr“ oder „wirklich“ bedeutsam. Das hatte ja Garfinkel schon bei seinen Geschworenen festgestellt: Die Urteile, die ein Gericht fällt, sind keine zweifelsfrei deskriptiven, sondern in erster Linie askriptive, zuschreibende Aussagen, die dem Fortgang des Verfahrens, nicht aber unbedingt der „Wahrheitsfindung“ dienen. Und bei Zuschreibungen finden ja 15
Vgl. allgemein zur Erklärung des sog. abweichenden Verhaltens die Übersichten bei KarlDieter Opp, Abweichendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur, Darmstadt und Neuwied 1974; Günter Wiswede, Soziologie des abweichenden Verhaltens, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1979; Siegfried Lamnek, Theorien abweichenden Verhaltens, 5. Aufl., München 1993. Vgl. auch schon Kapitel 6 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie Abschnitt 3.3 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
16
Fritz Sack, Neue Perspektiven der Kriminologie, in: Fritz Sack und René König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, Frankfurt/M. 1968, S. 465.
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immer Vereinfachungen und Festlegungen statt, die mit der wirklichen Wirklichkeit nicht in Einklang stehen müssen. Der englische Rechtsphilosoph H.L.A. Hart hat dies so ausgedrückt: „The sentences ‚I did it‘, ‚you did it‘, ‚he did it‘ are, I suggest, primarily utterances with which we confess or admit liability, make accusations, or ascribe responsibility.“17
Die Feststellung, daß jemand eine strafrechtlich belangvolle Handlung beging, ist also nicht primär eine Aussage über eine „objektive“ Wirklichkeit, sondern eine – zunächst jedenfalls – nur juristisch belangvolle Entscheidung, von der ab jetzt allerdings alle als von einer „objektiven“ Tatsache ausgehen (müssen) – auch der „Täter“. Es werden – wenn nicht ein Wunder geschieht – nun daran anknüpfende weitere Zuschreibungen erfolgen, die dann allerdings eine höchst wirksame „Wirklichkeit“ entfalten. Und zwar vorzugsweise diejenige, die im sozialen Drehbuch bestimmter krimineller Karrieren als Normalfahrplan „vorgesehen“ sind: Nach einer ersten „Definition“ der Situation und des Akteurs als „kriminell“, handeln alle so, „als ob“ dies eine objektive Tatsache sei. Und schließlich wird der „Täter“ vielleicht auch tatsächlich ein „Krimineller“, nicht zuletzt in seiner eigenen Selbstwahrnehmung und Identität, weil es kaum eine Chance gibt, eine andere Identität gegen die Macht der zugeschriebenen Realität durchzusetzen. Wer aber kann das? Wer tut das? Wie geht das? Und in welchem Interesse geschieht das? Das besorgen – so die radikalisiertere Version der entsprechenden ethnomethodologischen Position – insbesondere die Verfolgungs-, Sanktionierungs-, Vollzugs- und Resozialisationsinstanzen: Polizei, Justiz, Strafanstalten und Sozialarbeiter, manchmal sogar die eigenen Angehörigen des „Täters“. Sie greifen selektiv bestimmte Typen aus einem eigentlich beliebigen Reservoir heraus und etikettieren sie aufgrund bestimmter Merkmale und Marken, eher als „kriminell“ oder „abweichend“ als andere. Dahinter stehen, so glauben manche, mitunter finstere Mächte: die „Herrschenden“ und alle diejenigen, die an der Unterdrückung der unteren Schichten ein Interesse haben. Und nur diese Frage ist diejenige, die die Soziologen zu interessieren hätte: „Aus den potentiell zu Kriminellen verurteilbaren Personen wird nur ein sehr kleiner Ausschnitt herausgefiltert, der auch tatsächlich verurteilt wird. Die entscheidende wissenschaftliche Frage, die hieran anzuknüpfen ist, besteht darin, wie man sich den Prozeß des Herausfilterns der letztlich ‚kriminellen Population‘, d.h. derjenigen, gegen die schließlich ‚im Namen des Volkes‘ ein Urteil gesprochen wird, vorzustellen hat.“ (Sack 1968, S. 463f.)
17
H. L. A. Hart, The Ascription of Responsibility and Rights, in: Antony Flew, Logic and Language, First Series, Oxford 1963, S. 160; Hervorhebungen im Original.
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Die Grundlage der Hypothese über die selektive Zuschreibung von Abweichung ist die – empirisch gesicherte? – Vermutung der Etikettierungstheoretiker, daß „eigentlich“ jeder einmal eine strafwürdige Handlung begeht, daß aber längst nicht jeder dann auch in einer sog. kriminellen Karriere landet. Vielmehr werden nur bestimmten Typen von Akteuren „herausgefiltert“ – und zwar höchst selektiv nach bestimmten sozialen Merkmalen: „Wir haben davon auszugehen, daß dieser Selektionsprozeß nach bestimmten Regelmäßigkeiten abläuft, daß sich soziologische Gesetzmäßigkeiten nachweisen lassen, die hier im Spiele sind.“ (Sack 1968, S. 464)
Einer der ohne Zweifel beachtlichen soziologischen Hintergründe für diesen selektiven Etikettierungsprozeß über das labeling als „kriminell“, sind wohl die Alltagsprobleme von Polizei, Justiz, Strafanstalten und Resozialisierung in der Organisation ihrer Arbeit: Unter Unsicherheit, unter Entscheidungsdruck und – nicht zuletzt – mit der Routine des Alltags orientieren sich ja alle Menschen an Typisierungen. Es geht gar nicht anders – wie nicht zuletzt Alfred Schütz gezeigt hat. Und man „weiß“ ja zum Beispiel in Polizistenkreisen ganz fraglos, daß Bankeinbrüche selten von Klinikdirektoren begangen werden. Also suche ich nach einem Bankraub die möglichen Bankräuber eben nicht in den Villenvierteln, sonders anderswo – und finde sie dort dann auch. Und wenn nicht die Bankräuber, so doch wenigstens den kleinen Handtaschendieb. Und auch das wäre ja schon etwas! Und die Folge ist, „ ... daß jemand, der diesen sozialen Situationen entstammt, damit rechnen muß, daß sein Verhalten eine größere Wahrscheinlichkeit in sich trägt, von anderen, insbesondere aber von den Trägern der öffentlichen sozialen Kontrolle, als abweichend bzw. kriminell definiert zu werden, als jemand, der sich in gleicher Weise verhält, jedoch einer anderen sozialen Schicht angehört oder aus einem intakten Familienmilieu kommt.“ (Sack 1968, S. 472f.).
Diese Erklärung des abweichenden Verhaltens wird auch als Labeling Approach bzw. als etikettierungstheoretischer Ansatz bezeichnet.18 Er grenzt sich deutlich von dem – in unseren Alltagstheorien und bei der Justiz – geläufigeren Ansatz ab, wonach jemand deshalb kriminell wird, weil er – aus gewissen „Motiven“, manchmal sogar mit „niedrigen Beweggründen“ – ein Gesetz übertreten hat. Jeder Krimileser fragt – wie Kommissar Derrick oder der Alte – 18
Die Grundidee zu dieser etikettierungstheoretischen Deutung des abweichenden Verhaltens bzw. zum Labeling Approach stammt von Howard S. Becker in einer Untersuchung über den schrittweisen Prozeß, „wie man Marihuana-Benutzer wird“. Howard S. Becker, Außenseiter. Zur Soziologie des abweichenden Verhaltens, Frankfurt/M. 1971 (zuerst: 1963), S. 159ff. Vgl. zu dem Ansatz – neben dem programmatischen Artikel von Sack 1968 – auch die vergleichenden Arbeiten von Wiswede und Lamneck: Wiswede 1979, Kapitel 3: Labeling; Lamnek 1993, Kapitel 2.5.
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ganz spontan immer erst nach dem „Motiv“, wenn er an die Lösung eines Falles geht. Beispielsweise, daß der mutmaßliche Mörder hohe Schulden hatte und den Mord deshalb beging, „um“ an Geld „zu“ kommen, „weil“ er bei seinen guten Bekannten gesehen hatte, daß dies ganz leicht funktioniert, und „weil“ es angesichts seiner Biographie und aktuellen Situation, keine andere Möglichkeit für ihn zu geben schien. Dieser Ansatz, der mit einer „täterorientierten“ Kausalerklärung des kriminellen Handelns argumentiert, wird auch als ätiologischer Ansatz bezeichnet. Die in Kapitel 6 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ benannten Erklärungen des abweichenden bzw. kriminellen Verhaltens, gehören zu solchen täterorientierten Ansätzen. Dazu gehörten früher auch biologische, neurophysiologische, psychologische und psychoanalytische Erklärungen. Sie werden heute nicht mehr ernst genommen. Durchgesetzt haben sich verschiedene soziologische Erklärungsangebote, die alle eng mit der Idee der Situationsgebundenheit des Handelns zusammenhängen: Kriminell werden Menschen beispielsweise, weil ihnen die legitimen Möglichkeiten verschlossen sind, sie aber gleichwohl – wie alle anderen – dem kulturellen Ziel nach materiellem Wohlstand anhängen; weil sie mit anderen Menschen Kontakt haben, die ihnen zeigen, wie beispielsweise ein Bankeinbruch geht oder eine Steuererklärung frisiert wird; oder weil sie in einer Umgebung leben, in der das, was anderswo als kriminell gilt, ganz normal und sogar normativ vorgeschrieben ist. Leicht wird erkennbar, daß es handlungstheoretische Erklärungen des abweichenden Verhaltens sind. Sie stellen sich den Täter als jemanden vor, der sich in einer bestimmten problematischen Situation befindet, mit einer ins Auge gefaßten – als „kriminell“ irgendwo deklarierten – Handlung bestimmte Ziele verfolgt und dabei seine verschiedenen Möglichkeiten des Handelns und die Erwartungen seiner Bezugsumgebung berücksichtigt.
Die täterorientierten Ansätze gehen also davon aus, daß die Menschen auch für das abweichende Verhalten ihre guten Gründe haben. Das heißt: Daß sie für ihr Handeln subjektiv verständliche „Um-zu-Motive“ haben und eine Biographie besitzen, die ihre kriminellen „Weil-Motive“ erklärt, und daß sie oft genug auch in Rechnung stellen, was ihnen blüht, wenn sie erwischt werden und wie groß das Risiko dafür ist. Kurz: Auch das abweichende bzw. das kriminelle Verhalten ist durchaus „rational“: Immer hängt es vom Wert der Alternativen und von der Kontrolle der Möglichkeiten ab, was die Täter tun – ob sie normenkonform handeln oder den Versuchungen der Gesetzesübertretung nachgeben ist eine Frage der Nutzenerwartung der jeweiligen Alternativen. Die oben skizzierten soziologischen Erklärungen sind nur Spezialfälle dieser Idee. Der ätiologische Ansatz gilt unter Ethnomethodologen und Verfechtern des Labeling Approach – wie jeder Versuch einer, noch dazu: kausalen, „Erklärung“ des Handelns – dagegen als ganz verfehlt. Manche von ihnen halten ihn für eine Irreführung, ja – immer noch – für ein Instrument der bürgerlichen Klassenjustiz, die ja schon durch ihre Macht zur Satzung ganz bestimmter Normen ihre Interessen mit Hilfe des Justizapparates durchsetzen kann. Und wenn man dann nach „Ursachen“ der Abweichung fragt, dann wird ja nur da-
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von abgelenkt, daß die Abweichung doch in Wirklichkeit nur – durch Normsatzung, durch Normdurchsetzung und durch die daran orientierte selektive Etikettierung – „definiert“ wird: „Die Frage nach dem Warum eines ‚delinquenten Verhaltens‘ verleugnet die Tatsache, daß die Gesellschaft einen beträchtlichen Rechtsapparat in finanzieller, personeller und institutioneller Hinsicht aufwendet, die erst die Frage zu entscheiden hat, welches konkrete Verhalten als delinquent oder kriminell zu gelten hat. In diesem Prozeß spielen die Motivationen, Interessen und Verhaltensweisen einer Reihe von Personen und Institutionen hinein, die im Dunkeln bleiben, wenn man erst an dem Endprodukt dieses langen Weges ansetzt, d.h. bei der getroffenen Entscheidung, daß ein Verhalten als delinquent zu betrachten und zu behandeln sei. Das aber tut die Kriminologie mit ihrer Frage nach den Gründen des kriminellen Verhaltens.“ (Sack 1968, S. 442)
Die Debatte zwischen dem ätiologischen Ansatz und dem Labeling Approach wurde anfangs der 70er Jahre sehr heftig geführt.19 Heute ist es stiller um sie geworden. Gelernt haben wohl beide Seiten.20 Einerseits kann nicht bestritten werden, daß es tatsächlich „definierte“ kriminelle Karrieren und eine gewisse Selektivität in der Suche nach Tätern und in der Verurteilung gibt. Andererseits ist aber auch nicht zu leugnen, daß manche Menschen wirklich etwas tun, was nicht nur im Interesse der Herrschenden verboten ist, daß sie das auch wissen und auch wissen oder sogar erwarten, zu Recht bestraft zu werden, wenn man sie erwischt: „Man kann z.B. schon nicht plausibel machen, daß Mord und Vergewaltigung, Heroingenuß oder Unzucht mit Abhängigen nur deshalb in das Feld der Abweichungen geraten sind, weil ihre Einstufung als abweichend den Interessen der ‚Herrschenden‘ dient. Ebensowenig dient es den Interessen der Herrschenden, wenn ein Vater eingesperrt wird, der sein Kind erschlug, weil es zu laut geschrien hat. Niemand dürfte wohl auch behaupten, daß Herr X an der Verkehrsampel bei ‚rot‘ nur deshalb halten muß, weil dies den Interessen der ‚Herrschenden‘ dient. Auch kann man wohl nicht gut behaupten, daß Gesetze gegen Umweltverschmutzung, Mieterschutzgesetze, Verordnungen gegen unlauteren Wettbewerb – um nur diese herauszugreifen – den Interessen der Herrschenden dienen.“ (Wiswede 1979, S. 34)
Kurz: Es wäre wohl eine maßlose Übertreibung, anzunehmen, daß es Vergewaltiger, rechtsradikale Rabauken und Fahrerflüchtige nicht doch auch unabhängig von bloßen Etikettierungen und Realitätskonstruktionen „gäbe“, son-
19
Vgl. die Auseinandersetzung zwischen Karl-Dieter Opp und Fritz Sack darüber: KarlDieter Opp, Die „alte“ und die „neue“ Kriminalsoziologie. Eine kritische Analyse einiger Thesen des labeling approach, in: Kriminologisches Journal, 1, 1972, S. 32-52; Fritz Sack, Definition der Kriminalität als politisches Handeln: der labeling approach, in: Kriminologisches Journal, 1, 1972, S. 3-30.
20
Siehe die vergleichenden Zusammenfassungen bei Lamnek 1993, Kapitel 3: Die Beurteilung der Theorien; Wiswede 1979, Kapitel 4: Lernprozesse.
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dern nur als solche „definiert“ werden. Und das dann auch noch: im Interesse einer gewissen Klassenjustiz. Niemand vertritt diese These aus den wilden und manchmal auch intellektuell etwas wirren 68er-Tagen heute noch ernsthaft. Die Annahme, daß es „Täter“ und „Kriminalität“ gibt, läßt sich aber auch aufrechterhalten, wenn man die vom Labeling Approach zu Recht benannten Prozesse, der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen selektiver Etikettierungen, ernst nimmt. Es ist ja wohl auch nicht zu bestreiten, daß es solche selektiven Zuschreibungen und dadurch ausgelösten Konstruktionen einer unerbittlichen kriminellen Karriere gibt – und daß auch hierbei die oberen Schichten auffällig besser wegkommen. Und dies nicht zuletzt durch die Mitwirkung von Polizisten und Vollzugsbeamten, die meist aus den unteren Schichten kommen, wissen wie es da zugeht und entsprechend eher geneigt sind, dort zu suchen, wenn es um die Aufklärung eines Falles – und um ihren Feierabend – geht. Was ist also von den beiden Ansätzen, dem Labeling Approach und dem täterorientierten Ansatz, zu halten? Es ist wohl wie so oft im Leben: Wenn zwei Seiten sich so heftig und so nachhaltig befehden und von ihrer Sicht nicht lassen wollen, dann haben beide wohl einen wichtigen und – als theoretisches Problem! – auch richtigen und einsehbaren Punkt am Wickel: Ohne Zweifel gibt es Situationen, die Menschen dazu bringen, von Normen abzuweichen und schlimme Dinge zu tun – und dabei ganz genau wissen, daß es verboten ist. Und es ist wohl auch nicht falsch, davon auszugehen, daß die Verfolgungsbehörden als Organisationen ihre ganz eigenen Routinen entwickeln, mit den anfallenden Problemen möglichst reibungslos – und formal korrekt – fertigzuwerden. Und dann muß schon damit gerechnet werden, daß auch gewisse „Auffälligkeiten“ dazu führen, daß nicht alle, die „wirklich“ kriminell werden, auch als solche schließlich gelten und behandelt werden. „Klassenjustiz“ ist das dann vielleicht sogar auch – aber kaum als direkte Intention und Tat der „Herrschenden“, sondern allenfalls als unintendierte Folge des Alltagshandelns bei Polizei, Justiz und Knastpersonal.
Teil B Die Konstitution des Sinns
Eine kurze Zwischenbemerkung Das chinesische Ehepaar, mit dem Richard T. LaPiere in seinem berühmten Experiment in den 30er Jahren in den USA verschiedene Hotels und Campingplätze ansteuerte, fand, wie das zu Beginn von Kapitel 2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, zur Illustration des Vorgangs der Definition der Situation und des Thomas-Theorem schon berichtet worden ist, nahezu ausnahmslos bereitwillige Aufnahme und meist sogar Freundlichkeit – obwohl sich später herausstellte, daß die Mehrzahl der Besitzer ganz privat für sich eigentlich ganz schön rassistisch gestimmt war und mit Chinesen nichts zu tun haben wollte. Mit Anreizen, etwa mit den Einnahmen aus dem Übernachtungsentgelt, und mit bloßen Höflichkeitsnormen Fremden gegenüber alleine war das nicht zu erklären: Die Besitzer waren im Moment der Begegnung freundlich und hilfsbereit, und selbst der eine Campingplatzbesitzer, der das Paar abwies, tat das nicht ohne Zögern und Beteuerungen, daß er leider nicht anders könne. Das Handeln der Hotelbesitzer folgte offenbar einem die Situation definierenden und vor allem von der Sprache und dem Aussehen des Paares gesteuerten Bezugsrahmen, der die gesamte Situation in einem bestimmten und bestimmenden Licht erscheinen ließ, sich, wie es schien, auch mühelos gegen starke andere Motive und Dispositionen durchsetzte und ein ganz anderes „soziales System“ erzeugte als das, was sich allein aus den privaten Einstellungen hätte erwarten lassen. Die soeben in Teil A dieses Bandes dargestellten soziologischen Ansätze des normativen und der verschiedenen Spielarten des interpretativen Paradigmas waren allesamt Versuche, die Vorgänge der Schaffung einer zwar immer nur subjektiven, gleichwohl aber stets auch „objektiven“ Welt der Orientierung und eines bestimmten kulturellen Sinns in den Griff zu bekommen. Und alle diese Ansätze hatten etwas durchaus Beachtliches dazu beizusteuern. – Parsons, Mead und Blumer, Schütz, Garfinkel, um auch die wichtigsten damit verbundenen Normen zu nennen – Nämlich: So gut wie jedes Handeln ist von einer im Moment der aktuellen Situation vorgegebenen normativen oder kulturellen Orientierung gerahmt. Diese Orientierung ist in einen vorbewußten, aber auch jederzeit wieder thematisierbaren Horizont von – mehr oder weniger vagen – Selbstverständlichkeiten eingebettet, wozu auch die vielen unbefragten Routinen und Rezepte des Alltagshandelns gehören. Dieser Horizont kann indessen jederzeit durch bestimmte, nichtpassende Details teilweise oder vollkommen erschüttert werden. Diese Erschütterung löst wiederum innere Aktivitäten der Aufmerksamkeit und von Anstrengungen zur „Erklärung“ und Heilung der Erschütterung und ein genaueres Durchdenken und Interpretieren der Situation über evtl. weitere Folgen aus, wobei diese Aktivitäten umso stärker sind, je mehr dabei auf dem Spiel zu stehen scheint. Sowohl der Horizont wie die einzelnen Orientierungen beruhen dabei aber nicht auf irgendwelchen „festen“ Fundamenten, sondern werden durch das Handeln selbst und über das ge-
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genseitige Anzeigen des „Sinns“ des Tuns immer wieder neu und in wechselseitiger Verstärkung bestätigt (oder auch nicht). Insofern bilden die kulturellen Orientierungen, der angenommene und unterstellte „Sinn“ und das äußerlich sichtbare Tun eine unauflösliche prozessuale Einheit, eine Einheit, auf der letztlich alle sozialen Systeme und damit auch die scheinbar unverrückbarsten Institutionen des sozialen Lebens beruhen.
Leider verstanden sich die verschiedenen Ansätze eine lange Zeit – und teilweise bis heute – nur als unüberbrückbar anzusehende, eigenständige „Paradigmen“ der Soziologie, und viel an einer zufriedenstellenden und kunstgerechten Erklärung war in ihnen auch nicht zu finden, wie wir ja gesehen haben, etwa am Beispiel der Voluntaristic Theory of Action von Talcott Parsons. In dem nun folgenden Teil B, „Kulturelle Rahmung und soziale Konstitution“, dieses die „Speziellen Grundlagen“ abschließenden Bandes 6 geht es darum, diese Ansätze, die jeweils für sich ohne Zweifel einen besonderen, wichtigen und nicht hintergehbaren Gesichtspunkt hervorheben und sich darin auch oft als unvergleichlich und nicht-„reduzierbar“ stilisieren, aber auch in vielerlei Hinsicht miteinander konvergieren, in ein erklärendes Modell der kulturellen Rahmung von Situationen und der sozialen Konstitution von „Sinn“ zusammenzuführen. Dazu sollen ihre jeweils beachtlichen Beiträge in ein theoretisches Konzept integriert werden – in das Konzept der soziologischen Erklärung, versteht sich. Dieses Konzept wäre folglich um Prozesse auch der kulturellen Rahmung von Situationen und der sozialen Konstitution von gesellschaftlich geteilten Orientierungen komplettiert. Es ist die Vervollständigung des Modells der soziologischen Erklärung um das – neben den materiellen Opportunitäten und den institutionellen Regeln – dritte grundlegende Element aller Situationen des Handelns und der damit zusammenhängenden sozialen Prozesse: Die kulturellen Bezugsrahmen, die dem Handeln der Menschen Sinn und Orientierung verleihen und dadurch und durch die symbolischen Folgen dieses Handelns immer wieder selbst neu erzeugt und konstituiert werden.
Kapitel 5
Kognition und Orientierung
Die kulturelle Rahmung einer Situation ist das Ergebnis von zwei Selektionsleistungen, die einem jeden bestimmten Handeln vorausgehen: Kognition und Orientierung. Kognition meint dabei die Aufnahme von Reizen, die Verarbeitung von Informationen in der Situation und die „Wahrnehmung“ gewisser Eigenschaften und Ereignisse in der äußeren Umgebung. Das Ergebnis ist die Aktivierung bzw. die interne „Konstruktion“ eines oder mehrerer alternativer mentaler Modelle der Situation. Die Orientierung besteht demgegenüber in der Selektion eines dieser Modelle, die Welt zu sehen – oder in der weiteren Suche nach einer „Definition“ der Situation, wenn die Kognition ein eindeutiges Ergebnis nicht erbracht hat. Es ist die „Entscheidung“ für ein bestimmtes „Urteil“ über die Situation, für eine bestimmte „Zuschreibung“ also. Meist erfolgt die Orientierung schon simultan mit der Kognition, weil, wenn alles so ist wie „üblich“, es keinen Gedanken an ein „alternatives“ mentales Modell gibt. Ist aber nicht alles wie üblich, dann erfordert die Orientierung weitere Selektionsleistungen, insbesondere die Suche nach neuen oder latenten Informationen und die Kalkulation eventueller Folgen des Handelns. Diese Suche ist von deutlich erhöhter Aufmerksamkeit und einem stark reflektierenden „Bewußtsein“ begleitet. Für die Orientierung gibt es also zwei verschiedene Modi der Art der Informationsverarbeitung: automatisch, unbewußt, reflexhaft und nicht-konsequenzenorientiert versus verzögert, bewußt, reflexiv und konsequenzenorientiert.
Das über die Kognition mit der Orientierung aktivierte mentale Modell bildet den Bezugsrahmen für die momentane Definition der Situation, für den damit verbundenen subjektiven Sinn und für das daran anknüpfende „situationsgerechte“ Verhalten oder Handeln. Der Bezugsrahmen – der „Horizont“ also, unter dem alles gesehen wird – verklammert dabei die objektiven äußeren Bedingungen der Situation mit den subjektiven inneren Bedingungen, mit der Identität der Akteure also. Es ist das, was die frühere Soziologie gelegentlich und etwas mißverständlich mit der „Interpenetration“ von personalem und kulturellem System bezeichnet hat (vgl. dazu auch schon Kapitel 1 oben, sowie noch Abschnitt 12.1 unten in diesem Band). Das wichtigste Verbindungsglied bei diesem Vorgang sind die Symbole: in der Situation vorhandene und erkennbare Objekte, die mehr oder
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weniger fest mit den in der Identität gespeicherten mentalen Modellen und Einstellungen verbunden sind und die damit assoziierten Ideen, Affekte und Verhaltensbereitschaften auszulösen vermögen.
Wahrnehmung Die Kognition der äußeren Umgebung ist demnach der erste Schritt bei der orientierenden Definition der Situation über einen kulturellen Bezugsrahmen. Es handelt sich, etwas vereinfachend gesagt, um die „Wahrnehmung“ der Dinge und Vorgänge in der Welt.1 Jede Wahrnehmung ist aber schon ein höchst selektiver und ein konstruktiver Vorgang, bei dem die bereits im Gedächtnis als „Modelle“ der äußeren Umwelt gespeicherten Erwartungen eine zentrale Rolle spielen. Zahllose psychologische Experimente belegen das. Eines dieser Experimente ging folgendermaßen:2 In einem Kasten wurden zwei Luftballons nebeneinander fest angebracht. Für die Versuchspersonen unsichtbar waren diese Ballons mit einem Blasmechanismus so verbunden, daß sie wechselseitig aufgebläht wurden oder schrumpften. Durch eine geschickte Beleuchtung wurden die Ballons so angestrahlt, daß sie wie Kugeln aussahen. Die Versuchspersonen wurden an den Kasten herangeführt und sollten berichten, was sie sahen.
Und was sahen die Versuchspersonen? Solange die Ballons gleich groß waren, nahmen sie zwei gleich große massive Kugeln wahr. Sobald aber der Blasemechanismus in Gang gesetzt wurde, sahen die Versuchspersonen deutlich weiterhin zwei massive Kugeln, von denen die eine sich nach vorn, die andere sich nach hinten bewegte. Und sie hatten keinen Zweifel, daß das auch die „Wirklichkeit“ sei.
1
Vgl. zu den physiologischen, neurologischen und psychobiologischen Vorgängen der Kognition insbesondere Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt/M. 1994, S. 24ff.; siehe auch: Volker Gadenne, Bewußtsein, Kognition und Gehirn. Einführung in die Psychologie des Bewußtseins, Bern 1996, Kapitel 3 und 4. Zu den Vorgängen der „sozialen“ Kognition vgl. den Überblicksband von Susan T. Fiske und Shelley E. Taylor, Social Cognition, 2. Aufl., New York u.a. 1991, insbesondere die Kapitel 4-7.
2
Vgl. Franklin P. Kilpatrick, The Nature of Perception: Some Visual Demonstrations, in: Franklin P. Kilpatrick (Hrsg.), Explorations in Transactional Psychology, New York 1961, S. 44ff.; vgl. auch Alfred Bohnen, Zur Kritik des modernen Empirismus. Beobachtungssprache, Beobachtungstatsachen und Theorien, in: Hans Albert (Hrsg.), Theorie und Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, 2. Aufl., Tübingen 1972, S. 183.
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Die Einheit der Wahrnehmung Die „Wahrnehmung“ der äußeren Umgebung besteht also offenbar aus zwei simultan ablaufenden Vorgängen: erstens das Erfassen einer Vielzahl einzelner elementarer Objekte und Merkmale in der Situation, und zweitens die Zusammenfassung dieser Objekte und Merkmale zu einer vereinfachenden und „bedeutungsvollen“ Einheit oder „Gestalt“.
Das Phänomen der Kippbilder Das ist nicht immer eine eindeutige Angelegenheit. Das Phänomen der sog. Kippbilder und reversiblen Figuren belegt das. Ein bekanntes Beispiel dafür ist ein Bild, bei dem der Eindruck ständig zwischen der Wahrnehmung einer jungen und einer alten Frau hin und her schwankt (vgl. Abbildung 5.1).3 Es gibt eine ganze Reihe solcher Kippbilder, bei denen der Eindruck immer zwischen zwei ganz verschiedenen „Gestalten“ oszilliert, beispielsweise auch ein solches, in dem die Wahrnehmung zwischen einem Pokal und einem Gesicht hin- und herschwankt (vgl. Gadenne 1996, S. 33). Ludwig Wittgenstein, der späte, hat sich an Hand eines Bildes, das manchmal eine Ente, manchmal einen Hasen darzustellen scheint, seine tiefen philosophischen Gedanken zur Analogie von solchen „Gestalten“ mit der ebenfalls ja nur ganzheitlich interpretierbaren Bedeutung von sinnvollen „Sätzen“ und Lebensweisen gemacht.
3
Vgl. die Darstellung bei Albert H. Hastorf, David J. Schneider und Judith Polefka, Person Perception, Reading, Mass., u.a. 1970, S. 5. Das Experiment geht auf Robert W. Leeper zurück. Robert W. Leeper, The Role of Motivation in Learning: A Study of the Phenomenon of Differential Motivation Control of the Utilization of Habits, in: Journal of Genetic Psychology, 46, 1935, S. 3-40.
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Abb. 5.1: Das Phänomen des Kippbildes
Das Besondere an den Kippbildern ist nun, daß sie auf den gleichen „objektiven“ Sinneseindrücken beruhen – und dennoch gänzlich unterschiedliche „Wahrnehmungen“ auslösen. Zum „Kippen“ der Bilder kommt es ganz unwillkürlich und ohne daß der beobachtende Organismus etwas dagegen tun könnte. Probieren Sie es selbst, betrachten Sie dazu aber das Bild eine ganze Weile! Es gibt bei dem Kippen der Bilder auch keine Alternative: Entweder sieht man eine junge oder eine alte Frau. Tertium – wenigstens hier – non datur. Das hat einen einfachen Grund: Es ist vor dem Hintergrund der elementaren Informationen auf dem Blatt im Erwartungsrepertoire der wahrnehmenden Subjekte in unserem Kulturkreis kein drittes Modell aktivierbar, etwa eines, das eine „Mischung“ zuläßt. Ein Wesen wie Uschi Glas (derzeit im Dezember 2000 in einem Alter von deutlich 50+ und damit stark zwischen „schon und noch“) kann jedenfalls beim besten Willen in dem Kippbild nicht wahrgenommen werden, obwohl es ein solches „Modell“ vielleicht in den Erwartungen in unserem Kulturkreis inzwischen durchaus gibt.
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Erwartungen und Gedächtnis Ohne die besondere Anordnung der „wirklichen“ Striche und Schattierungen funktioniert das Kippbild also nicht. Aber es muß auch modellhafte und „typische“ Erwartungen geben, in die der wahrnehmende Organismus sozusagen einrastet und mit denen er die Eindrücke zu einer ihm sinnvollen Einheit zusammenfassen kann. Diese Erwartungen sind üblicherweise vorher schon im Gedächtnis gespeichert und werden dann nur noch aktiviert, eventuell geleitet durch kurze Beobachtungen eines bestimmten „Ankers“ vorher. Die Experimente mit dem Kippbild der alten und der jungen Frau haben zum Beispiel ergeben, daß 100% der Versuchspersonen, die zuvor das Bild a in Abbildung 5.2 präsentiert bekamen, sofort in den Eindruck „junge Frau“ einrasteten, und 95% der Versuchspersonen mit der Präsentation von Bild b in Abbildung 5.2 in den Eindruck „alte Frau“ (vgl. Hastorf, Schneider und Polefka 1970, S. 5f.). Versuchen Sie es ruhig selbst einmal!
a. junge Frau
b. alte Frau
Abb. 5.2: Strukturierte Muster und die Strukturierung der Erwartungen
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Die Kippbilder weisen zwei relativ deutliche Strukturen gleichzeitig auf, zwischen denen dann die Wahrnehmung vor dem Hintergrund vorhandener und ebenso strukturierter Erwartungen oszilliert. Die Erwartungen für ein Muster von Reizen können aber auch erst aufgebaut und „konstruiert“ werden. Betrachten Sie jetzt zum Beispiel einmal die folgende Darstellung (Abbildung 5.3):
Abb. 5.3: Ein (zunächst) unstrukturiertes Muster eines bekannten Objektes
Kaum jemand ist in der Lage, spontan zu sagen, um was es sich bei dem „Bild“ handelt. Gerhard Roth, aus dessen Buch die Abbildung 5.3 übernommen ist, berichtet, daß er niemanden gefunden habe, der sofort gesehen hätte, was dargestellt ist (Roth 1995, S. 241). Die Intelligenz scheint dabei keine besondere Rolle zu spielen: Aus einer Gruppe von Stipendiaten der Studienstiftung des Deutschen Volkes, einer angeblich besonders begabten Subspezies des homo sapiens, gelang es nur einer Person nach 10 Minuten. Alle anderen waren auch nach 20 Minuten noch ganz ratlos. Manchmal aber helfen kleinere Hinweise schon, um dem Gehirn bei seiner Konstruktionsarbeit auf die Sprünge zu helfen. Was sehen Sie beispielsweise, wenn Sie jetzt den Namen „Franziska van Almsiek“ lesen? Immer noch nichts? Und was, wenn hier nun steht „Lila Pause“? Auch nichts? Dann also geradeheraus: Das Bild zeigt eine Kuh bzw. ein Kalb (mit dem Kopf auf der linken Seite des Bildes). Jetzt müßte – plötzlich – etwas geschehen. Versuchen Sie es noch ein-
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mal. Und noch einmal. Und jetzt? Aha! Genau! Jetzt sehen Sie die Kuh – oder auch immer noch nicht. Auch das geschieht häufig genug.
Jetzt wollen wir aber annehmen, daß Sie wirklich die Kuh in dem Bild gesehen haben. Wenn ja: Legen Sie das Buch für einige Minuten zur Seite und sehen sich das Bild dann wieder an. Was geschieht nun? Genau: Man sieht die Kuh schon viel leichter und eher. Und wenn Sie die Sache noch ein paar mal wiederholen, dann sehen Sie praktisch nur noch die Kuh, und zwar aus jeder Lage des Bildes. Die elementaren Objekte auf der Zeichnung, sind mit der Übung zu einer stabilen und sinnvollen Einheit geworden und im Gedächtnis als „Gestalt“ verankert. Das kognitive System hat jetzt für dieses Muster der äußeren Objekte – und ähnliche Anordnungen – eine „plausible“ Lösung bereit und aktiviert diese nahezu automatisch, wenn die betreffende Reizkonfiguration wieder auftaucht.
Woher stammen die Modelle? Die Herstellung der Einheit der Wahrnehmung geschieht über Erwartungen, allgemeiner gesagt: über gewisse Regeln und Ordnungsprinzipien, über die das kognitive System bereits verfügt, bevor es in die Situation kommt. Woher aber kommen diese Regeln? Die Antwort darauf kann inzwischen mit einiger Verläßlichkeit so gegeben werden (vgl. Roth 1996, S. 235ff.): Ein Teil der Regeln ist, man glaubt es kaum, bereits angeboren und entstammt der physiologischen Grundorganisation, der genetisch festgelegten „Grobverdrahtung“ des Gehirns. Das ist sozusagen die anthropologische Grundausstattung zur Wahrnehmung und inneren Visualisierung der Welt (vgl. dazu auch noch den Exkurs über die Kategorien des Verstandes unten in diesem Band). Dazu gehören u.a. Grundfähigkeiten der Farbwahrnehmung und des räumlichen Sehens, der Sprachfähigkeit, sowie der Disposition, die Dinge der Welt in Kausalrelationen zu interpretieren. Das sind Regeln, die das Gehirn unabhängig von jeder Umwelteinwirkung benutzt und die es befähigen, durch ein rein internes Prozessieren eine strukturelle Ordnung der „Wahrnehmung“ herzustellen. Dazu kommen Regeln, die aus der Interaktion mit der Umwelt entstehen. Hier sind zwei Vorgänge zu unterscheiden. Der Aufbau gewisser Grunderfahrungen in der frühkindlichen Sozialisation und das daran anschließende Erlernen von Modellen aufgrund von mehr individuellen Erfahrungen (vgl. auch schon Kapitel 9 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie auch noch Kapitel 9 unten in diesem Band dazu). Die Grunderfahrungen knüpfen unmittelbar an die genetische Grundausstattung an. Sie verfestigen sich sehr rasch zu einer weiteren, nahezu „physiologisch“ verfestigten Grobverdrah-
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tung des Gehirns und können später kaum noch geändert werden. Sie bilden die Basis für alle weiteren Prozesse des späteren Erwerbs von kognitiven Modellen. Kurz: Es gibt bei den Regeln, die die Einheit der Wahrnehmung steuern, solche, die wir mit allen anderen Menschen – und sogar mit manchen anderen Säuge- und Wirbeltieren – aufgrund der genetischen Struktur teilen, und solche, in denen gewisse kulturelle Prägungen und Erfahrungen zum Ausdruck kommen und die dazu führen, daß je nach kulturellem Bezugsrahmen die Welt ganz anders gesehen werden kann.
Wie kommen die „Bilder“ zustande? Die oben geschilderten Experimente zeigen allesamt deutlich, was mit der Kognition als einer „Konstruktion“ der inneren Wirklichkeit gemeint ist: Die Wahrnehmung der äußeren Umgebung wird durch gewisse Reize angeregt, aber nicht bestimmt. Daß dies so ist, hat wieder einen physiologischen Grund. Die Objekte der Umgebung werden nicht irgendwie „analog“ und „qualitativ“ über die Sinnesorgane und die Nervenzellen im Gehirn „abgebildet“. Alles, was geschieht, ist vielmehr eine „digitale“ quantitative und unspezifische Reizung der Sinnesorgane: Schallwellen, Lichtwellen oder chemische Reizungen verändern immer nur die elektrischen Entladungen in den Nervenzellen der Sinnesorgane. Bloße Unterschiede in den Frequenzen dieser Entladungen werden dann über Nervenstränge in gewisse Regionen des Gehirns weitergeleitet, die für die betreffenden Wahrnehmungen „zuständig“ sind. Und dort erst werden dann diese quantitativen unspezifischen Reizungen, in qualitative spezifische Bilder umgesetzt. Was da draußen „wirklich“ zugeht, weiß das Gehirn also nicht – und kann es auch nicht wissen. Es ist von der Umwelt abgeschlossen, es ist ein sich selbst organisierendes System. Das Gehirn macht sich sein inneres Bild von der Umgebung. Und das nach seinen eigenen, teils genetisch, teils durch Erfahrungen gewonnenen Regeln, stets nur auf der Grundlage von Unterschieden in den elektrischen Ladezuständen der Sinnesorgane. Die Wahrnehmung der Welt ist so gesehen eine Art von Instrumentenflug durch die „Wirklichkeit“ – Abstürze nicht ausgeschlossen (vgl. dazu auch noch den unten folgenden Exkurs über den (Radikalen) Konstruktivismus).
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Wiedererkennung und „Match“ Entscheidend für die Aktivierung eines bestimmten Modells ist, ob die Organismen in der Anordnung der Reizinformationen bestimmte Muster wiedererkennen, für die sie ein ihnen verständliches, plausibles, sinn- und bedeutungsvolles mentales Modell in ihren Erwartungen gespeichert haben. Wenn das registrierte Muster zu unstrukturiert ist, um zu einem gespeicherten Modell zu passen, oder wenn es kein strukturiertes mentales Modell gibt, dann geschieht nichts weiter – außer einer gewissen Irritation vielleicht. Alles kommt dabei auf die Passung, auf den „Match“ zwischen den äußeren Reizen und den inneren Erwartungen an. Menschen erwarten zum Beispiel vor dem Hintergrund der gegebenen Sinnesreizungen im Ballonexperiment normalerweise einfach nicht, daß Größenveränderungen bei massiven Kugeln möglich sind. Sie greifen daher zu der – zunächst jedenfalls – plausibleren Hypothese, daß sich die Gegenstände vor- und zurückbewegen. „Wahrgenommen“ wird also nur über das Wiedererkennen von Mustern in den gespeicherten mentalen Modellen der Welt. Und wenn es für das erkennbare Muster ein plausibles, aber „objektiv“ falsches Modell gibt, dann erscheint das falsche Modell als selbstverständliche Realität.
Wahrnehmung als „Deduktion“ Die „objektiven“ Eindrücke aus der Sinnesreizung werden also offenbar mit einem zuvor aufgebauten Hypothesensystem verglichen und daraufhin überprüft, ob sie mit den Hypothesen kompatibel sind. Und erst die festgestellte Kompatibilität erzeugt die „Wahrnehmung“ der Umgebung. Eine Wahrnehmung ist so gesehen nichts anderes als eine Art von psychologischer Alltags-Deduktion mit den eingehenden Sinneseindrücken nach dem Muster der deduktiv-nomologischen Erklärung. Das Explanandum ist dabei eine bestimmte „Wahrnehmung“, die gespeicherten Erwartungen sind die theoretischen Hypothesen über gewisse (kausale) Zusammenhänge, und die eingehenden Sinneseindrücke sind die Daten über das Vorliegen gewisser Randbedingungen. Die Wahrnehmung besteht dann aus nichts anderem als aus der „Ableitung“ der Wahrnehmung aus den theoretischen Hypothesen und den Daten. Wie bei jeder Erklärung kann auch hier nicht gesagt werden, welcher Teil des Explanans wichtiger ist: Randbedingung oder theoretische Hypothese? Beide Komponenten erlauben erst gemeinsam die Ableitung des Explanandums. Spielen wir das einmal am Beispiel mit den Ballons durch. Gegeben sei der Sinneseindruck A als Randbedingung:
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Zwei runde, offenbar massive Körper werden größer und kleiner.
Das interpretierende, bereits vorher vorliegende Hypothesenschema, die Alltagstheorie H, aus der aufgrund dieser Randbedingung eine „Wahrnehmung“ abgeleitet werden könnte, sähe wohl etwa so aus: Wenn ein Gegenstand zur Klasse der massiven Kugeln gehört, dann gehört er auch zur Klasse der Gegenstände, die in ihrer Form nicht veränderbar sind. Wenn sich Eindrücke einer Veränderung der Größe einstellen, dann kann dies nur die einer Perspektivenverschiebung sein. Perspektivenverschiebungen sind aber die Folge von Bewegungen des Gegenstandes im Raum.
Die Deduktion von der Randbedingung über die Theorie auf das Explanandum, vom Eindruck auf die Wahrnehmung also, ist dann die Anwendung der „Randbedingung“ A auf die „Theorie“ H. Das Ergebnis der Deduktion lautet: Die beiden Körper bewegen sich im Raum.
Die Deduktion der Bewegung der Körper ist der Vorgang der „Interpretation“ der Sinnes-Daten. Der „Geist“ – das gespeicherte Hypothesensystem und das prüfende kognitive System, sprich: das Gehirn – macht die an sich sinnlosen Daten erst sinnvoll und ermöglicht damit erst eine stabile „Wahrnehmung“ der Welt – wie auch immer diese „wirklich“ aussehen mag.
Die Hypothesentheorie der Wahrnehmung Die skizzierte Konzeption zur Erklärung der Wahrnehmung wird auch die Hypothesentheorie der Wahrnehmung genannt. Sie geht ursprünglich auf Jerome S. Bruner und Leo Postman zurück.4 Danach wird die Wahrnehmung bestimmter Strukturen der äußeren Umgebung, ganz analog zu dem Prozeß der wissenschaftlichen Theorieprüfung, rekonstruiert. Zunächst werden bestimmte Hypothesen über die Strukturen der Welt bereitgehalten. Das sind die Erwartungen bzw. die im Gedächtnis gespeicherten mentalen Modelle über die Welt. Dann erfolgt die Eingabe der Informationen über die Sinnesreizungen, als den Daten über die vor4
Jerome S. Bruner und Leo Postman, An Approach to Social Perception, in: Wayne Dennis und Ronald Lippitt (Hrsg.), Current Trends in Social Psychology, Pittsburgh 1951, S. 71118; vgl. auch Hastorf, Schneider und Polefka 1970, Kapitel 1. Zum aktuelleren Stand der Hypothesentheorie der Wahrnehmung vgl. Waldemar Lilli, Hypothesentheorie der Wahrnehmung, in: Dieter Frey und Siegfried Greif (Hrsg.), Sozialpsychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen, München, Wien und Baltimore 1983, S. 192ff.; Waldemar Lilli und Dieter Frey, Die Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung, in: Dieter Frey und Martin Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsychologie, Band I: Kognitive Theorien, 2. Aufl., Bern u.a. 1993, S. 49-78.
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liegenden Randbedingungen. Und dann werden die Daten mit den Hypothesen verglichen. „Paßt“ die Hypothese mit den Daten, dann „stimmt“ sie, das damit verbundene mentale Modell wird aktiviert und akzeptiert und als „Wahrnehmung“ erlebt. Paßt die Hypothese dagegen nicht zu den Daten, dann hat das kognitive System ein Problem – und muß sich auf die Suche nach dem Fehler oder nach einer alternativen Hypothese machen, die besser mit den Daten übereinstimmt.
Determinanten der Wahrnehmung: Hypothesenstärke, Motivation und Reizinformation Kognition und Wahrnehmung bestehen also aus einem Zusammenspiel von eingehenden Daten und Reizinformationen und den („theoretischen“) Erwartungen über den Zusammenhang gewisser Konfigurationen von Reizen und mentalen Modellen. Das „Passen“ von Hypothese bzw. Modell und den eingehenden Daten ist der entscheidende Schritt. Das Passen aber ist keine fixierte Angelegenheit, sondern von gewissen Bedingungen in der äußeren Umgebung und den inneren Dispositionen des Organismus abhängig. Genauer: von der Hypothesenstärke, der Motivation und der Reizinformation.
Hypothesenstärke Die wichtigste Determinante dafür, daß eine bestimmte Hypothese bei gewissen Reizinformationen akzeptiert wird, ist die sog. Hypothesenstärke (vgl. Lilli und Frey 1993, S. 53ff.). Die Hypothesenstärke ist der Grad der Verankerung eines mentalen Modells im Gedächtnis des Akteurs. Je stärker diese Verankerung ist, desto eher wird die Wahrnehmung über dieses Modell gesteuert und desto eher werden auch „Lücken“ in den Daten übergangen. Je schwächer die Verankerung dagegen ist, desto reichhaltiger, lückenloser und eindeutiger müssen die Daten sein, um eine entsprechende Wahrnehmung auszulösen. Wenn es in dem Beispiel mit der Kuh kein starkes Modell „Kuh“ im Gedächtnis geben würde, würde auch eine stark konturierende Zeichnung zu keiner Wahrnehmung einer Kuh führen. Je stärker eine Hypothese verankert ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie bei einer entsprechenden Reizinformation aktiviert wird, umso geringer muß die zur Aktivierung erforderliche Menge an Reizinformation sein und umso größer kann die Menge an nicht-passenden Reizinformationen sein, damit sie als „widerlegt“ gilt und nicht zur Wahrnehmung und Orientierung führt.
Die Hypothesenstärke ist ihrerseits von einer Reihe von Bedingungen abhängig. Dazu gehören das Ausmaß der bestätigenden Erfahrungen in der Vergangenheit
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(wie bei dem Beispiel mit den Ballonen) und die Existenz konkurrierender Hypothesen und Modelle für das gleiche Muster an Reizinformationen (wie bei den Kippbildern). Besonders starke und gleichzeitig „konkurrenzlose“ Hypothesen und mentale Modelle werden auch als Stereotype bezeichnet. Ihre Aktivierung führt zu einer besonders raschen und verzögerungsfreien Orientierung, oft genug verbunden mit der Emittierung eines bestimmten Handelns (vgl. dazu auch noch Kapitel 6 unten in diesem Band über die Handlungswirksamkeit von „Einstellungen“). Es sind verfestigte und kaum von einer Einzelerfahrung zu ändernde „Vor“-Urteile über die Strukturen der Welt.
Motivation Nicht-passende oder gar widerlegende Informationen sowie das Auftreten konkurrierender Hypothesen führen zu einer Abschwächung der Hypothesenstärke, schließlich sogar zu ihrer kompletten Löschung oder zur Übernahme einer der konkurrierenden Hypothesen. Die Aktivierung und Beibehaltung einer einmal gefaßten Hypothese ist aber, wie bei der wissenschaftlichen Theorieprüfung auch, keineswegs nur eine Frage der Hypothesenstärke, der „Daten“ und der „Passung“, sondern hat auch mit der Bedeutung der Geltung der Hypothese für den Akteur zu tun. Kurz: Bei der Annahme, Beibehaltung oder Ablehnung einer Hypothese spielt auch die Motivation eine Rolle. Je stärker die Motivation ist, eine Hypothese beizubehalten, umso weniger passende Reizinformation ist notwendig, damit sie beibehalten wird und der Orientierung dient, und umso größer müßte die Menge an widerlegenden Reizinformationen sein, damit sie aufgegeben wird.
Reizinformationen Nicht zuletzt spielen natürlich auch Eigenschaften der Reizinformationen eine wichtige Rolle. Lückenlose und in den Konturen ungestörte Reize sind – wieder: ceteris paribus – eher geeignet, automatische Wahrnehmungen auszulösen. Eine besondere Rolle spielen offenbar die sog. Kontrasteffekte: Ein Weißer fällt in einer Gruppe von Schwarzen eher auf als in einer Gruppe Hellhäutiger – und löst daher auch erst in einem solchen „Kontrast“ eventuell bestehende Stereotype gegenüber Weißen aus. Auch die sog. Vividness scheint von Bedeutung zu sein: Konkrete Informationen und solche über „naheliegende“ Ereignisse, etwa aus dem Alltag oder der näheren Bekanntschaft, fallen stärker ins Gewicht als abs-
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trakte Informationen und ferner liegende Vorgänge.5 Die physischen und chemischen Eigenschaften von Reizen können ferner durch soziale Einflüsse und durch sozial etablierte Kategorien und Schemata nahezu beliebig verstärkt (und auch abgeschwächt) werden: durch Gruppendruck und durch Symbole.6 Die Abhängigkeit von einer Gruppe und die Assoziation bestimmter Inhalte mit sozial und kulturell fest definierten Reizinformationen vermögen gewisse mentale Modelle und die dazu gehörenden Modelle sozialer Drehbücher mit Nachdruck zu aktivieren, auch wenn es ansonsten noch sehr starke andere Reizinformationen und andere Motive gibt. Wer schon einmal in einem Meer schwarz-gelber Fahnen in Dortmund gestanden hat, weiß, was damit gemeint ist.
Ein Beispiel: Geschlechtswahrnehmung Erwartungen, Motive und Reizinformationen spielen bei jeder Wahrnehmung eng zusammen. Das gilt schon für die, wie es scheint, einfachsten Dinge. Eine der problemlosesten, weil offensichtlichsten Wahrnehmungsleistungen, scheint die Klassifikation der Menschen nach ihrem Geschlecht zu sein. Für uns erscheint die Identifikation von Männern und Frauen nicht nur leicht, sie ist auch geradezu zwangsläufig: die Geschlechtszugehörigkeit ist weder zu verbergen, noch zu übersehen. Geschlechter werden jedoch nicht einfach „gesehen“, sondern in einem durchaus komplizierten Entscheidungsprozeß zugeschrieben. Ohne Zweifel helfen bei dieser Entscheidung einige feste Erwartungen. Wir wissen, daß es nur zwei Geschlechter geben kann und daß Personen ihr Geschlecht dauerhaft haben und nicht einfach wechseln können. Und es wird auch erwartet, daß eine einmal vorgenommene Zuschreibung beibehalten wird. Das Problem liegt natürlich darin, daß normalerweise die primären Geschlechtsmerkmale verhüllt sind und daß daher jede Geschlechtszuschreibung einen Induktionsschluß von sichtbaren auf nicht sichtbare Eigenschaften voraussetzt. Viele „sekundäre“ Merkmale und Hinweise helfen dabei. Und meist gibt es auch keinen Zweifel. Den darf es aber auch nicht geben, weil die Interaktion ja fortgeführt werden „muß“, ohne daß es größeres Aufsehen gibt. Die „richtige“ Klassifikation des Geschlechts ist in vielen Interaktionen ja eine Vorausset-
5
Vgl. Richard Nisbett und Lee Ross, Human Inference: Strategies and Shortcomings of Social Judgment, Englewood Cliffs, N.J., 1980, insbesondere Kapitel 3.
6
Vgl. Charles A. Kiesler und Sara B. Kiesler, Conformity, Reading, Mass., u.a. 1969, Kapitel 2; Fiske und Taylor 1991, Kapitel 4 insbesondere. Vgl. auch noch Abschnitt 11.3 unten in diesem Band dazu.
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zung dafür, daß es überhaupt losgehen kann. Und daher haben normalerweise die Akteure ein Interesse daran, mühelos „richtig“ klassifizieren zu können und ihrerseits „richtig“ klassifiziert zu werden. Gleichwohl gibt es manchmal Probleme. Ein besonders interessanter Fall dafür sind Transsexuelle im Stadium des Wechsels ihres Geschlechtes. Der Bielefelder Alltagsethnograph Stefan Hirschauer hat den Prozeß der Geschlechtswahrnehmung über die Beobachtung der Begleitung von Transsexuellen während dieses Stadiums untersucht.7 Zunächst scheinen sich die Wahrnehmungsleistungen deutlich zu verlangsamen, weil die Teilnehmer nicht mehr sofort zu einem eindeutigen Urteil kommen können. Sie suchen, oft verzweifelt, nach Hinweisen, nach „Geschlechtsindizien“. Meist hakt sich die Attribution dann an einem besonders signifikanten „Identitätszeichen“ ein, wie Erving Goffman solche Indizien genannt hat, die es erlauben, die soziale Identität eines Akteurs zu entziffern – etwa die Stimme, die Kleidung oder der Gang (vgl. dazu Abschnitt 8.2 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ bereits). Danach ordnet er alle anderen Merkmale um diesen Anker herum – sofern das nicht allzu gequält und widersprüchlich ist. Der Kontext der Interaktion, der Kontrast zur jeweiligen „normalen“ Umgebung und die eingespielten „Beziehungszeichen“ spielen dabei eine zentrale Rolle: Auf einer Damentoilette oder in einer Frauenklinik wird normalerweise kein Mann erwartet. Und wenn sich eine männliche Transsexuelle mit einer besonders zierlichen Freundin zeigt, dann ist es fast sicher, daß sie auch dann als Mann kategorisiert wird, wenn ihre Füße durchaus zierlich geraten sind und sie keinen Adamsapfel hat. Der gesamte Vorgang trägt alle Anzeichen einer „Gestalt“-Wahrnehmung: Die Hinweise unterstützen sich gegenseitig, und etwaige Unstimmigkeiten und Dissonanzen werden „übersehen“ oder ausgebügelt. Aber nicht nur die Hinweise aus der äußeren Erscheinung der Personen stützen sich gegenseitig, sondern auch die Reaktionen aufeinander. Geschlechtswahrnehmung ist ein reflexiver und interaktiver Vorgang der wechselseitigen „Konstitution“ eines Einverständnisses, das zwar meist sehr rasch erzielt wird, aber auf komplexen Prozessen der Identifikation, der Attribution und des daran orientierten Verhaltens mit einer Verstärkung oder Abschwächung der ursprünglichen Attribution beruht (vgl. dazu auch noch Kapitel 12 unten in diesem Band zur „sozialen Konstitution“). Diese Zuschreibungen sind oft komplizierte „Entscheidungen“, die die Akteure auch vor dem Hintergrund eventueller Folgen zu treffen haben: „Geschlechtsattribution ist nicht einfach ein objektiv richtiges Erkennen von Geschlechtsmerkmalen und bedient sich auch nicht eines sie restlos vorstrukturierenden Codes von Indizien. ... . Sie 7
Stefan Hirschauer, Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Über die Medizin und den Geschlechtswechsel, Frankfurt/M. 1993, S. 32ff.
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stehen unter den moralischen und kognitiven Zwängen der Personenwahrnehmung, und sie sind reflexive Prozesse, die sich selbst und unter Mithilfe des ‚Objektes‘ ihrer Richtigkeit vergewissern.“ (Hirschauer 1993, S. 37f.; Hervorhebung im Original)
Die psychologischen Grundlagen des sozialen Prozesses der Geschlechtsattribution sind freilich in der Situation selbst wiederum nicht-sozial, sondern werden sozusagen individuell „eingebracht“ und immer nur im Moment der „Konstruktion“ individuell wirksam: die vorab erworbenen Erwartungen in den Gehirnen der beteiligten Akteure und die Vorgänge der inneren Konstruktion von Geschlechtsbildern über Kognition und Orientierung, wenn die Sinnesorgane etwa eine sehr feminine Frau mit langen weichen Haaren, aber einer auffällig tiefen Stimme und einem kernigen Adamsapfel melden. Die Erwartungen können sich in der Situation dann selbstverständlich wieder ändern, je nachdem, was geschieht. Aber auch das beruht wiederum nur auf Vorgängen bei den Individuen: Sie nehmen wahr und ändern ihre Erwartungen, etwa nach den Gesetzen der Lerntheorie (vgl. dazu bereits Kapitel 9 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Aufmerksamkeit und Bewußtsein Bei Zweifeln über die „richtige“ Kategorisierung des Geschlechts verlangsamten die Versuchspersonen in den Untersuchungen von Stefan Hirschauer das Tempo ihrer Urteile. Es lassen sich beim Vorgang der Kognition offensichtlich also vereinfachend zwei Fälle unterscheiden: erstens Match zwischen gespeicherten Hypothesen und eingehenden Reizinformationen über die elementaren Eigenschaften der Situation sowie rasches Urteil; und zweitens Mismatch und verzögerte Zuschreibung. Diese beiden Fälle sind für den an die Kognition anschließenden Prozeß der Orientierung, der Urteilsbildung und der Zuschreibung also, entscheidend wichtig. Bei einem perfekten Match ist die Sache einfach: Das betreffende mentale Modell wird aktiviert – und zwar: automatisch, und das heißt: unmittelbar, unwillkürlich und ohne jeden weiteren Gedanken an irgendwelche Konsequenzen. In diesem Fall bedeutet die Kognition simultan auch schon die Orientierung des Akteurs. Er weiß, „was der Fall“ ist und was jetzt sinnvollerweise zu geschehen hat, und er muß darüber nicht mehr besonders nachdenken. Einen (perfekten) Match gibt es unter drei Bedingungen, wie wir aus der Hypothesentheorie der Wahrnehmung wissen: Es muß ein stark verankertes mentales Modell bereits gespeichert sein, die Reizinformationen müssen hinreichend vollständig und eindeutig sein, und es darf keine besondere Motivation geben, das verfügbare mentale Modell nicht auch als „wirklich“ wahrzunehmen (vgl. dazu auch schon Ab-
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schnitt 8.3 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und die Bedingungen des Verstehens und der Rezeption von Kommunikationen). Das ist ganz anders bei einem Mismatch. Nun gibt es Zweifel und Fragen und eine – mehr oder weniger: intensive – Suche nach einer Lösung des Problems, das an der raschen Orientierung gehindert hat: Stimmen die Daten überhaupt? Gibt es alternative Modelle der Wirklichkeit? Welches der konkurrierenden Modelle ist das richtigere oder das nützlichere? Kurz: Bei einem Mismatch mutiert die Beziehung zwischen Kognition und Orientierung von einer simultanen und automatischen Aktivierung in eine sequentielle und reflexive Suche nach dem Fehler, nach weiteren Informationen, nach anderen Modellen und der evtl. Passung der Daten mit einem solchen anderen Modell, sowie nach eventuellen Folgen eines bestimmten Handelns in der Situation. Dieser Vorgang der angestrengten Suche nach einer Lösung des aufgetretenen Problems und eventuellen Folgen eines Fehlverhaltens ist von einer stark erhöhten Aktivität des kognitiven Systems und des physiologischen Apparates (!) begleitet und – insbesondere – durch jenes subjektive Erlebnis gekennzeichnet, das als Bewußtsein bezeichnet wird. Bewußtsein ist die Folge der Aktivierung des Gehirns und der Lenkung einer verstärkten Aufmerksamkeit auf einen Vorgang der Orientierung, der – „wider Erwarten“ – nicht mehr „automatisch“ als erledigt angesehen werden kann.
Bekanntheit und Wichtigkeit Bewußtsein und Aufmerksamkeit variieren mit zwei Eigenschaften der Reizinformationen in ihrer Beziehung zum kognitiven System des Organismus (vgl. Roth 1995, S. 207ff.): Bekanntheit einerseits und Wichtigkeit andererseits. Und daran hängt es auch, auf welche Weise die Orientierung gelingt. Einen sehr geringen Grad an Aufmerksamkeit und Bewußtsein gibt es bei Vorgängen, die als gleichermaßen bekannt und unwichtig eingestuft werden. Mehr noch: Solche Dinge berühren uns nicht und werden praktisch nicht wahrgenommen. Das sind die üblichen Routinen und Standardprobleme des Alltags, die früher vielleicht einmal neu und wichtig waren, aber durch Erfahrung und Gewöhnung diese Eigenschaften allmählich verloren haben. Ebenfalls kaum von Bewußtsein und Aufmerksamkeit begleitet sind unbekannte und unwichtige Angelegenheiten. Solche Reize werden zwar fortwährend auch aufgenommen, sie berühren das kognitive System aber nicht weiter. Es sind die „Hintergrundgeräusche“, die zwar vernommen werden, aber weiter keinen Einfluß haben. Mit einer gewissen, wennzwar immer noch relativ niedrigen Bewußtseinsstufe werden die bekannten und wichtigen Ereignisse behandelt. Das sind Hintergrundsignale, die zwar vertraut sind, aber gleichwohl eine wichtige Funktion haben: Sie signalisieren, daß alles (noch) seine Ordnung hat. Und solange es diese Signale gibt, kann sich die Aufmerksamkeit auf andere Dinge konzentrieren. Das ändert sich schlagartig, wenn sich bei diesen „signifikanten“ Hintergrundsignalen etwas ändert – wie dies bei den Krisenexperimenten von Harold Garfinkel beispielsweise geschah (vgl. dazu Kapitel 4 oben in diesem Band). Dann wird das Bewußtsein extrem verstärkt
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und die Aufmerksamkeit ebenso extrem auf die aufgetretene „Anomalie“ gelenkt. Das ist ein Spezialfall jener Konstellation, in der es um unbekannte und wichtige Dinge geht. Ein einschlägiges Beispiel dafür wäre eine Prüfung, bei der der Prüfling nicht gut vorbereitet ist: Die Sache ist äußerst wichtig und fast alles ist neu. Nun wird das Bewußtsein in extremer Weise beschäftigt – oft so, daß man nicht mehr systematisch denken kann. Durch die damit verbundene Lenkung der Aufmerksamkeit werden jetzt auch schwächste Reize, die zuvor untergegangen wären, als bedeutsam erlebt: das leichte Kopfnicken des Prüfers als eventuelles Anzeichen der Zustimmung, obwohl es nur der Beginn eines Alterstremens war; die Nebenbemerkung in der Rede des Ministers, von dessen Entscheidung die weitere Zahlung der Subventionen abhängt; oder die nicht unfreundliche Reaktion der potentiellen Geliebten, die zu den schönsten Hoffnungen Anlaß geben könnte, aber eigentlich nicht sonderlich ermutigend war.
Ob eine Reizinformation als bekannt oder unbekannt bzw. als wichtig oder unwichtig eingestuft wird, und damit: ob es zu Bewußtsein und Aufmerksamkeit kommt oder nicht, entscheidet das kognitive System interessanterweise ohne jedes aktive Dazutun. Es ist ein automatischer Vorgang der Reizverarbeitung in der Interaktion zwischen dem Haupthirn, dem Neocortex also, dem Stammhirn, dem limbischen System also, und dem sog. Hippocampus, jeweils typischen Regionen des Haupt- und des Stammhirns. Zu beachten ist dabei insbesondere der Einbezug des limbischen Systems, in dem alle tiefsitzenden Bewertungen, auch die angeborenen „Triebe“, verankert sind. Hierdurch wird verständlich, daß Kognition und Orientierung nicht nur eine „kalte“ kognitive, sondern auch eine „heiße“ motivationale und emotionale Seite haben. Es ist der Grund dafür, daß Bewußtsein und Aufmerksamkeit nicht allein schon dann eingeschaltet werden, wenn etwas neu und unbekannt ist, sondern nur dann, wenn es auch um wichtige und „bewegende“ Dinge geht, von denen – unter Umständen – die Existenz des Organismus abhängt. Ohne den Einbezug der Bewertungen in Kognition und Orientierung, wäre es wohl nicht zu einer erfolgreichen Evolution des homo sapiens (und der anderen Organismen) gekommen.
Die Funktion des Bewußtseins Das „Bewußtsein“ seiner selbst ist eine beim Menschen besonders stark ausgebaute Fähigkeit (vgl. dazu auch noch Kapitel 8 in diesem Band über die „Identität“). Manche zählen sie sogar zur conditio humana, zur Besonderheit der menschlichen Existenz. Aber Menschen tun nicht alles mit Bewußtsein. Im Gegenteil: Die meisten Dinge des Alltag werden in ziemlich dumpfer und automatischer Routine abgearbeitet. Wenn man genauer hinsieht ist das aber auch nicht dumm: Mit den Anstrengungen, die mit Bewußtsein und Aufmerksamkeit verbunden sind, gehen die Menschen, wie die anderen halbwegs „intelligenten“ Organismen, nicht verschwenderisch, sondern sehr ökonomisch um. Denn: Nur wenn etwas unbekannt und wichtig ist, leisten sie sich den Luxus des Nachden-
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kens, des Reflektierens und der verstärkten Aufmerksamkeit. Ansonsten dämmern sie vor sich hin und sparen sich ihre knappen Energien für die anderen Dinge des alltäglichen Lebens. Auch das ist ein Reproduktionsvorteil, der ohne Zweifel bei der Evolution der Arten sehr geholfen hat – oder sogar „notwendig“ gewesen ist. Aber warum erregen wichtige und unbekannte Dinge die Aufmerksamkeit und das Bewußtsein? Ist es eine Reaktion des „Geistes“? Die Antwort ist erstaunlich: Bewußtsein entsteht aus rein physiologischen und daher unbewußt ablaufenden Prozessen (vgl. dazu Roth 1995, S. 211ff.). Erst wenn es physikalisch „eingeschaltet“ ist, beginnt das freie Spiel des Geistes. Der Hintergrund der Vorgänge ist eine Art von Überwachungssystem im Gehirn, das sog. ARASSystem. Hier werden die eingehenden Informationen in Hinsicht auf ihre Bekanntheit und Wichtigkeit geprüft. Alles was bekannt und/oder unwichtig ist, wird erst gar nicht an das Haupthirn weitergeleitet – und das Bewußtsein bleibt ausgeschaltet. Nur wenn etwas als hinreichend wichtig bewertet wird, wird der Neocortex alarmiert. Aber auch dann geschieht noch nicht viel. Erst wird noch geprüft, welche Areale des Neocortex für das plötzlich so wichtige Problem „zuständig“ sind. Findet das Hirn jetzt „fertige“ Nervennetzwerke, die das Problem routinemäßig bewältigen können, so kann es auch bei hoher Wichtigkeit bei der „automatischen“ Abarbeitung bleiben. Erst wenn bei einem wichtigen Problem keine fertigen neuronalen Netze gefunden werden, entsteht das, was wir Bewußtsein nennen: das reflexive „Entscheiden“ jedes einzelnen Schrittes bei einem als komplex erlebten Problem, für das es (noch) keine Lösung gibt.
Bewußtsein entsteht also als eine Art von Nebenerscheinung der Bewältigung eines ungelösten und wichtigen Problems. Mit der erfolgreichen Lösung werden gleichzeitig jedoch neue Nervenbahnen angelegt, die dann, wenn das Problem wieder auftaucht, wieder als gespeicherte Lösung zur Verfügung stehen. Das neue Nervennetz mit seinen neuen „Hypothesen“ und Modellen über die Welt wird mit seiner fortschreitenden „Bewährung“ schließlich immer weiter verfestigt. Und entsprechend können mit dem Voranschreiten dieses Vorgangs – mit dem „Lernen“ neuer Assoziationen also – das Bewußtsein wieder zurückgenommen und die Aufmerksamkeit wieder anderen Dingen zugewandt werden. Das Bewußtsein ist also, wie Gerhard Roth es ausdrückt, nichts weiter als ein „ ... Eigensignal des Gehirns für die Bewältigung eines neuen Problems (ob sensorisch, motorisch oder intern-kognitiv) und des Anlegens entsprechender neuer Nervennetze.“ (Roth 1995, S. 213; Hervorhebung im Original)
Inzwischen gibt es einige unzweifelhafte Hinweise darauf, daß das subjektive Erlebnis des Bewußtseins nach gewissen Erregungen des Gehirns auftritt und durch die physiologischen Prozesse gewissermaßen „automatisch“ eingeschaltet wird (vgl. Roth 1995, S. 219f.). Was danach passiert ist freilich nicht mehr „automatisch“. Jeder weiß es: Wenn plötzlich ein unerwartetes Problem auftaucht, wird jeder einzelne Schritt zu einem Problem, bei dem man heftig ins Grübeln kommt.
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Der Trost ist nur: Auch hier macht Übung wieder den Meister, den Meister der entlasteten Alltagsroutine nämlich.
Eine kurze Zusammenfassung Den Vorgang der Kognition kann man – ganz allgemein – als die Aktivierung bzw. die Konstruktion von inneren Repräsentationen der äußeren Umgebung auf der Grundlage gewisser objektiver, aber unspezifischer Sinnesreizungen und im Gehirn gespeicherter Erwartungen und mentaler Modelle verstehen. Diese Konstruktion wiederum besteht im Wesentlichen aus zwei Aktivitäten: die Erstellung der inneren Bilder auf der Grundlage der eingehenden Reizinformationen über Deduktionen, Zusammenfassungen, Kategorisierungen, Klassifikationen, Generalisierungen und Differenzierungen einerseits, und die variable Lenkung und Aktivierung von Aufmerksamkeit, Denk-, Erinnerungsund Kalkulationsleistungen mit jeweils sehr unterschiedlichen Graden der Intensität der Informationsverarbeitung und des „Bewußtseins“ andererseits. Im Prozeß der Kognition werden auf der Grundlage objektiver Sinnesreizungen und Nervenerregungen also bestimmte subjektive mentale Modelle der Welt aktiviert oder neu konstruiert. Die Orientierung besteht im Anschluß an den Vorgang der Kognition in der Bildung eines Urteils über die Situation bzw. einer Zuschreibung. Es ist die Aktivierung oder Konstruktion einer bestimmten „Einstellung“ zur Situation, die auch eine Disposition zu einem bestimmten Handeln einschließt. Dazu kommt es auf zwei verschiedenen Arten des Modus der Informationsverarbeitung, des Grades an Aufmerksamkeit und an Bewußtsein: automatisch oder reflexiv. Im automatischen Modus gibt es mit der Kognition unmittelbar auch die Orientierung. Die „Orientierung“ ist dann als ein Zustand zu verstehen. Im reflexiven Modus ist die Orientierung das Ergebnis einer eigenen „orientierenden“ Aktivität: die Suche nach Hinweisen, welches der sich anbietenden Modelle geeigneter wäre und welche Konsequenzen sich jeweils bei einem bestimmten Handeln ergeben würden. In welchem Modus die Orientierung an einem bestimmten Modell erfolgt, hängt insbesondere vom (Mis-)Match zwischen den Sinnesreizungen und einem gespeicherten mentalem Modell ab. Ist der Match perfekt, dann gibt es die Orientierung sofort und automatisch mit der Kognition und der inneren Repräsentation der Situation. Ist der Match dagegen nicht perfekt und geht es um wichtige und unbekannte Dinge, dann ist die Orientierung das Ergebnis einer eigenen „reflexiven“ Leistung des Organismus, für die er Aufmerksamkeit und Anstrengung benötigt und bei der er sich dieser Aktivität auch bewußt wird. In Kapitel 7 unten,
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in diesem Band werden wir dazu ein systematisches Erklärungsmodell formulieren.
Exkurs über die Kategorien des Verstandes Die im Prozeß der Kognition erzeugten inneren Bilder sind, so haben wir in Kapitel 5 dieses Bandes gerade eben gesehen, keine direkte Abbildung oder gar eine „richtige“ Wiedergabe der umgebenden Welt, sondern „nur“ praktisch bewährte, daher als angemessen erlebte und nicht weiter problematisierte „strukturerhaltende“ Darstellungen, an denen man nicht zweifeln muß, solange es keine unerwarteten störenden Hinweise gibt. Die inneren Bilder des Gehirns sind so etwas wie Landkarten, die dabei helfen, die wichtigsten Ziele nicht zu verfehlen – weiter nichts. Landkarten enthalten ja auch nicht die ganze bunte Wirklichkeit. Das sollen sie ja gerade nicht. Es sind zu bestimmten Zwecken hergestellte Muster, die bewußt nur ausgewählte Aspekte der „wirklichen“ Topographie enthalten, dann aber solche, die ein Zurechtfinden gut erlauben, weil sie mit der „Wirklichkeit“ auf eine bestimmte, dem Akteur oft nicht klare Weise „korrespondieren“. Für den Organismus haben die inneren Repräsentationen meist eine wichtige, oft sogar eine lebenswichtige „Bedeutung“: Sie machen für ihn subjektiv Sinn und haben eine zentrale Funktion in seinen Beziehungen zur sozialen und nicht-sozialen Umgebung: „Kognition bezieht sich auf komplexe, für den Organismus bedeutungsvolle, d h. für Leben und Überleben (besonders auch für das psychosoziale Überleben) relevante und deshalb meist erfahrungsabhängige Wahrnehmungs- und Erkenntnisleistungen. Diese arbeiten in der Regel mit Repräsentationen im Sinne einer ‚Stellvertretung‘ sowie mit rein internen ‚Modellen‘ der Welt und der Handlungsplanung, gleichgültig ob diese bewußt oder unbewußt sind.“ (Roth 1994, S. 29; Hervorhebungen so nicht im Original)
Das ist eine eigentlich ganz plausible Auffassung von der Wahrnehmung bzw. der Erkenntnis der Welt: Wir nehmen die Welt nicht so wahr, wie sie „wirklich“ ist, aber unsere inneren Bilder der Welt haben doch etwas mit deren „objektiven“ Strukturen zu tun, weil wir sonst nicht überleben würden. Diese Sicht war in der Philosophie und Psychologie der Erkenntnis nicht immer selbstverständlich. Es lassen sich zwei extreme Pole bei der sog. Erkenntnistheorie unterscheiden:8 die 8
Vgl. die Gegenüberstellung der mehr sensualistischen und mehr konstruktivistischen Ansätze der Wahrnehmungspsychologie bei Bohnen 1972, S. 182ff. Vgl. auch Richard L. Gregory, Mind in Science. A History of Explanations in Psychology and Physics, London 1981, Kapitel 12. Für eine Übersicht über die verschiedenen erkenntnistheoretischen philosophischen Auffassungen vgl. Alan Musgrave, Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus. Eine historische Einführung in die Erkenntnistheorie, Tübingen 1993.
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Wahrnehmung als ein Vorgang, bei dem der Organismus die externe Welt gewissermaßen naturgetreu und ohne eigenes Dazutun in sich aufnimmt; und die Wahrnehmung als ein Prozeß, bei dem alle Eindrücke vollständig durch den Verstand selbst „konstruiert“ werden. Die erste Auffassung wird auch als Sensualismus, die zweite als Rationalismus bezeichnet.
Sensualismus Der Sensualismus ist eine Form des sog. Naiven Realismus oder Naiven Empirismus. Er geht in seiner einfachsten Form davon aus, daß alles, was die Menschen „wissen“ (können), eine unmittelbare Folge ihrer Sinneseindrücke und des direkten Transfers von isomorphen „Bildern“ der physischen Umgebung, über die Sinnesorgane in das Gehirn seien. Mehr noch: Der Geist ist für den Sensualismus nichts anderes als das, was er über die Sinnesorgane aufgenommen hat. Der englische Philosoph und Begründer des Liberalismus John Locke (16321704) hat diese Grundauffassung in die Worte gekleidet: Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu. Und der französische Aufklärer und AmateurPsychologe Etienne Bonnot de Condillac (1715-1780) meinte, daß die Sinneswahrnehmung allein schon „alle Fähigkeiten der Seele“ umschließe. Dahinter stand das tiefe Mißtrauen in die Spekulationen der philosophischen und theologischen Metaphysik jener Tage, mit denen die Aufklärung Schluß machen wollte. Und es stand dahinter durchaus auch eine damals sehr aufrührerische Idee der Demokratisierung des Erkenntnisgewinns: Alle Menschen haben ihre fünf Sinne beisammen und es gibt daher grundsätzlich keine Privilegien eines Zugangs zu den Wahrheiten der Welt. Der Sensualismus macht einige sehr bestimmte inhaltlich-psychologische Annahmen über die Erklärung von Wahrnehmungen. Die wichtigste ist, daß es eine feste, invariante Beziehung zwischen den „Reizen“, die von den Sinnesorganen aufgenommen werden, zu der eigentlichen „Wahrnehmung“ der Umgebung gebe. Einer der letzten Versuche, die Phänomene der Wahrnehmung strikt auf diese Weise zu erklären, war der Ansatz von James J. Gibson (1904-1979).9 James J. Gibson ging davon aus, daß alle Wahrnehmungen – etwa von sichtbaren Objekten – unmittelbar über die physische Anordnung von Lichtpunkten mit veränderlichen Helligkeitsgraden auf der Netzhaut bestimmt sind. Nach der Theorie von Gibson läßt sich die Wahrnehmung von Konturen, Oberflächen, Räumen und Entfernungen nach absolut invarianten Regeln spezifischer Dichteverteilungen der Elemente des Netzhautbildes erklären. Der räumliche Tiefeneindruck einer mit Kopfsteinen gepflasterten Straße entsteht zum Beispiel danach dadurch, daß die Lichteindrücke der Steine auf der Netzhaut immer enger zusammenrücken. Und diese Dichteverteilung 9
James J. Gibson, The Perception of the Visual World, Cambridge, Mass., 1950.
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einer „Verengung“ der Lichtpunkte auf der Netzhaut entspricht genau der „wirklichen“ Linienführung der Straße.10 Die Wahrnehmung besteht dann in der direkten Übertragung dieser „Bilder“ in das Gehirn.
Der wichtige Punkt bei allen sensualistischen Ansätzen ist die Annahme einer absolut stabilen, von sonstigen Einflüssen unabhängigen Zuordnung der Reize zu den Wahrnehmungen. Der wahrnehmende Akteur ist also nichts als eine Art von Photoapparat, der bei diesem Akt nichts selbst mehr tut – außer der Öffnung der Augen. Eine eigene „Interpretation“ der Eindrücke findet nicht statt. Wahrnehmung ist eine vollständig passive Angelegenheit. Das Gehirn und der „Geist“ des Menschen haben dabei buchstäblich nichts zu sagen: „ ... the function of the brain when looped with its perceptual organs is not to decode signals, nor to interpret messages, nor to accept images ... . The function of the brain is not even to organize the sensory input or to process the data, in modern terminology. The perceptual systems, including the nerve centres at various levels up to the brain, are ways of seeking and extracting information about the environment from the flowing array of ambient energy.“ (Gregory 1981, S. 376; Hervorhebungen nicht im Original)
Es sei noch erwähnt, daß die These von der absoluten Invarianz der Wahrnehmungen und Beobachtungen die Grundlage für die wissenschaftstheoretische Auffassung des Klassischen Empirismus bzw. des Positivismus gewesen ist: Die Beobachtungs-„Daten“, mit denen bestimmte Theorien konfrontiert werden, seien gegenüber dem theoretischen Kontext, in dem sie verwandt werden und gegenüber den „Hypothesen“ des Wissenschaftlers „invariant“: „Wenn mehrere Beobachter einen gegebenen Sachverhalt wahrnehmen und ihre Beobachtungsergebnisse in Form von Aussagen niederlegen, so müssen die geäußerten Beobachtungssätze für alle Beteiligten ein und dieselbe stets gleichbleibende Bedeutung haben, völlig unabhängig davon, ob jeder einzelne Beobachter von unterschiedlichen Theorien oder Annahmen über den vorliegenden Sachverhalt bei seiner Wahrnehmung ausgegangen ist oder nicht.“ (Bohnen 1974, S. 180)
Rationalismus Der Rationalismus war die philosophische Gegenposition zum Sensualismus. Das war auch eine Position der Aufklärung. Er ging davon aus, daß der menschliche Verstand im wahrsten Sinne des Wortes zu allem fähig sei. Der Begründer des Rationalismus als Erkenntnistheorie ist der französische Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes (1596-1650) gewesen. Auch er geht von einer allgemeinen menschlichen Konstanten und Fähigkeit aus: der 10
Vgl. die bildliche Darstellung bei Gibson 1950, S. 174ff. Vgl. auch Bohnen 1972, S. 182f.; sowie Gregory 1981, S. 375ff.
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Vernunft. Sicher ist für Descartes zunächst nur der Zweifel des denkenden Subjekts. Aber im Zweifel wird plötzlich sicher: Cogito, ergo sum. Von dort gelangt Descartes zu einem „rationalen“ Gottesbeweis: Die Gottesidee kann nicht vom zweifelnden Subjekt ausgegangen sein, also muß Gott die Ursache für diese Idee selbst sein. Und aus der Klarheit und Deutlichkeit der Gottesidee folge, daß auch alles andere, was ich klar und deutlich „erkenne“, auch „wahr“ sein muß. Alle Erkenntnisse sind daher letztlich nichts anderes als Produkte der „reinen Vernunft“, der Intuition, der Logik und der mathematischen Operationen.
Kant Die Überwindung des zunächst scheinbar unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Sensualismus und Rationalismus stammt von keinem geringeren als Immanual Kant (1724-1804). Sein Konzept wird auch als Transzendentalphilosophie bezeichnet. Die Lösung klingt uns nach der Lektüre des Kapitels 5 oben in diesem Band ganz vertraut: In der Wahrnehmung bzw. in der Erkenntnis werden die Sinneseindrücke aus der „objektiven“ Umgebung und die subjektiven Hypothesen des „Geistes“ über die Welt systematisch zusammengeführt. Nach Kant beruhen Erkenntnisse zwar auf der Erfahrung und auf den Sinneswahrnehmungen: Nur die Sinne geben uns Kunde von der realen Außenwelt. Dennoch entspringt die Erkenntnis nicht vollständig aus der sinnlichen Erfahrung. Sie wird vielmehr vom erkennenden „Geist“ geprägt – und zwar im Rahmen gewisser apriorischer Vorgaben der „Denkgesetze“ und der transzendentalen „Bedingungen der Möglichkeit“ der Erkenntnis. Danach gibt es weder eine Erkenntnis der Dinge, so wie sie sind und „an sich“, noch eine Erkenntnis ausschließlich als Produkt der „reinen Vernunft“. Die Erkenntnis ergibt sich aus dem Zusammenspiel von eingehenden Reizinformationen und bereits vorhandenen Erwartungen.11 Die sensualistische Vorstellung ist von Karl R. Popper auch als die Kübeltheorie der Erkenntnis bezeichnet worden:12 Wahrnehmungen sind sozusagen ein Rohstoff, der dem Kübel unseres Geistes von außen zugeführt wird und der in dem Kübel einer Art von (automatischer) Verarbeitung oder Verdauung unterworfen wird. Stattdessen schlägt er die sog. Scheinwerfertheorie vor: Wir gehen nicht unvorbereitet durch die Welt, sondern sehen sie immer nur mit den „Scheinwerfern“ gewisser, vorher schon bestehender Erwartungen und Hypothesen. Und diese Erwartungen und 11
Vgl. zu einer leicht verständlichen Erläuterung der Kantschen Position: Musgrave 1993, S. 218ff.
12
Vgl. etwa Karl R. Popper, Naturgesetze und theoretische Systeme, in: Hans Albert (Hrsg.), Theorie und Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, 2. Aufl., Tübingen 1972, S. 43ff.
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Hypothesen „bewähren“ sich angesichts gewisser „Beobachtungen“ – oder aber sie tun das nicht. Tun sie es nicht, dann gibt es Anlaß zur Revision der Erwartungen, und die so veränderten Erwartungen bilden dann den neuen Scheinwerfer, mit dem wir die Welt beleuchten. Unschwer sind die Verbindungen zur Position von Kant und zur oben in Kapitel 5 skizzierten Hypothesentheorie der Wahrnehmung zu sehen, wie auch zum Vorgang der wissenschaftlichen Prüfung und evtl. Revision von Hypothesen. Popper benutzt den Vergleich mit dem Kübel und dem Scheinwerfer insbesondere dazu, um deutlich zu machen, daß es keinerlei erwartungs-, hypothesen- oder theoriefreie Beobachtung geben könne. Und daß gerade deshalb zur kritischen Überprüfung von Theorien mit Daten erst einmal systematische theoretische Hypothesen aufgestellt werden müssen, die dann erst die Sonden bilden, mit denen der Wissenschaftler sich an das Geschäft der Datenbeschaffung und der Beobachtung der „Wirklichkeit“ macht. Der Verstand braucht schon gewisse Vorgaben, um überhaupt etwas beobachten zu können. Und genau deshalb kann es einen voraussetzungsfreien Zugang zur Wirklichkeit nicht geben – schon gar nicht in narrativen Interviews oder lebensweltlichen Beobachtungen. Eine derart „voraussetzungsfrei“ und theorieunbelastete „qualitative Sozialforschung“ wäre – so gesehen – nichts anderes als ein Fall für die Kübeltheorie. Übel. Ganz übel.
Die apriorischen Vorgaben des Verstandes erlauben nach Kant also die Erkenntnis von gewissen empirischen Sachverhalten bereits vor jeder Erfahrungstätigkeit. Das ist das Erbe des Rationalismus in der Kantschen Erkenntnistheorie. Solche Aussagen über die Welt werden synthetische Sätze a priori genannt. Diese Bezeichnung wird erst verständlich vor dem Hintergrund zweier anderer Arten von Sätzen: analytische und synthetische Sätze. Analytisch ist ein Satz genau dann, wenn er oder seine Negation aus den vorangehenden Definitionen und Axiomen logisch folgt. Die Sätze der Logik und der Mathematik sind daher analytisch. Ein Satz ist synthetisch genau dann, wenn er nicht analytisch ist. Empirisch oder a posteriori ist eine Aussage, wenn für ihre Begründung Beobachtungen erforderlich sind. Das sind die Aussagen der empirischen Wissenschaften. A priori ist ein Satz genau dann, wenn er nicht empirisch ist. Alle analytischen Sätze sind daher a priori, alle empirischen Sätze a posteriori.
Kant behauptet nun also, es könne Urteile und Sätze geben, die synthetisch und gleichzeitig a priori sind. Es sind Urteile und Sätze, die der Verstand „a priori“ über die „wirkliche“ Welt machen kann, auch ohne die wirkliche Welt „empirisch“ zu untersuchen, etwa, daß die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten die Gerade sei.13 Der Hintergrund für diese Möglichkeit der Gewinnung synthetischer Urteile über die „Natur“ sei die Existenz gewisser „transzendentaler“ Vorbedingungen der Erkenntnis, Vorstrukturierungen des Verstandes also, die Welt in einer bestimmten Weise wahrzunehmen. Ohne diese vorgängigen „Kategorien des Verstandes“ sei eine Erkenntnis der Natur schlechterdings unmöglich,
13
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1993 (zuerst: 1781), S. 49. Kant behauptet zwar, dieser Satz sei synthetisch. Das ist er aber wohl nicht: Daß die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist, läßt sich nämlich mathematisch zeigen – ohne jede „Erfahrung“. Die meisten der von Kant gebrachten Beispiele für synthetische Sätze a priori scheinen derart versteckte analytische Sätze zu sein.
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und was erkannt werde, folge zwingend diesen Kategorien. Mehr noch: Die Kategorien des Verstandes leiten die Wahrnehmung: „Selbst der Hauptsatz, ... daß allgemeine Naturgesetze a priori erkannt werden können, führt schon von selbst auf den Satz: daß die oberste Gesetzgebung der Natur in uns selbst, d.i. in unserem Verstande liegen müßte, und daß wir die allgemeinen Gesetze derselben nicht von der Natur vermittelst der Erfahrung, sondern umgekehrt die Natur, ihrer allgemeinen Gesetzmäßigkeit nach, bloß aus den in unserer Sinnlichkeit und dem Verstande liegenden Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung suchen müssen; ... .“
Mehr noch sogar: Nach alledem „ ... klingt es zwar anfangs befremdlich, ist aber nichtsdestoweniger gewiß, wenn ich in Ansehung der letzteren sage: der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.“14
Die Gesetze der Natur sind also die Gesetze, denen der Verstand folgt. Drei „Kategorien des Verstandes“ unterscheidet Kant: die Natur in einer zeitlichen, einer räumlichen und einer kausalen Ordnung strukturiert zu sehen. Zeit, Raum und Kausalität sind demnach die grundlegenden Strukturen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Drei Fragen stellen sich mit den drei Kategorien sofort: Woher kommen sie? Korrespondieren die derart gewonnenen Erkenntnisse mit der „wirklichen“ Natur? Und warum tun sie es gegebenenfalls?
Evolutionäre Erkenntnistheorie Die Antwort auf diese lange (und immer noch) umstrittenen Fragen liegt inzwischen auch vor – mit der Evolutionären Erkenntnistheorie.15 Sie lautet ganz einfach und ist hier und da von Kant selbst schon angedeutet worden: Die Kategorien des Verstandes sind – teilweise wenigstens – angeboren und werden genetisch vermittelt. Sie sind in der physiologischen Grobverdrahtung des Gehirns verankert. Deshalb sind sie das Resultat der biologischen Evolution des homo sapiens. Da jede Evolution aber eine reproduktionsförderliche „Anpassung“ von Organismen und Umgebung voraussetzt, kann davon ausgegangen werden, daß die subjektiven „Kategorien des Verstandes“ mit den objektiven Strukturen der Natur tatsächlich korrespondieren. Deshalb muß man in die „Denkgesetze“ des 14
Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Leipzig 1920 (zuerst: 1783), S. 81f.; Hervorhebungen so nicht im Original.
15
Vgl. Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie. Angeborene Erkenntnisstrukturen im Kontext von Biologie, Psychologie, Linguistik, Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart 1975, Kapitel D und F insbesondere.
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Verstandes auch nichts metaphysisches hineingeheimnissen. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat diesen ganz plausiblen Gedanken so ausgedrückt: „Unsere vor jeder individuellen Erfahrung festliegenden Anschauungsformen und Kategorien passen aus ganz denselben Gründen auf die Außenwelt, aus denen der Huf des Pferdes schon vor seiner Geburt auf den Steppenboden, die Flosse des Fisches, schon ehe er dem Ei entschlüpft, ins Wasser paßt. Bei keinem derartigen Organ glaubt irgendein vernünftiger Mensch, daß seine Form dem Objekte seine Eigenschaften ‚vorschreibe‘, sondern jedermann nimmt als selbstverständlich an, daß das Wasser seine Eigenschaften völlig unabhängig von der Frage besitzt, ob Fischflossen sich mit ihnen biologisch auseinandersetzen oder nicht.“16
Kurz: Es gibt die Natur unabhängig vom erkennenden Verstand, und es gibt gewisse Grundkategorien des Verstandes, die vor jeder konkreten Erkenntnis vorhanden sind. Wie die Natur vom Organismus erfahren und wahrgenommen wird, hängt daher in der Tat von den angeborenen „Denkgesetzen“ ab. Aber diese Denkgesetze schreiben der Natur ihre Gesetze nicht vor. Die hat sie von ganz alleine, ohne daß jemand sie erkennen muß. Gleichwohl korrespondieren die Denkgesetze mit der Natur – schlicht deshalb, weil ansonsten eine erfolgreiche Evolution nicht möglich gewesen wäre (vgl. Vollmer 1975, S. 129f.). Noch einmal Konrad Lorenz dazu: „Wir sind überzeugt, daß das ‚Apriorische‘ auf zentralnervösen Apparaten beruht, die völlig ebenso real sind wie etwa unsere Hand oder unser Fuß, völlig ebenso real wie die Dinge der an sich existenten Außenwelt, deren Erscheinungsform sie für uns bestimmen. Diese zentralnervöse Apparatur schreibt keineswegs der Natur ihr Gesetz vor, sie tut das genau so wenig, wie der Huf des Pferdes dem Erdboden seine Form vorschreibt. ... . Aber so wie der Huf des Pferdes auf den Steppenboden paßt, mit dem er sich auseinandersetzt, so paßt unsere zentralnervöse WeltbildApparatur auf die reichhaltige reale Welt, mit der sich der Mensch auseinandersetzen muß, und wie jedes Organ, so hat auch sie ihre arterhaltend zweckmäßige Form in äonenlangem stammesgeschichtlichem Werden durch diese Auseinandersetzung von Realem mit Realem gewonnen.“ (Lorenz 1941/42, S. 98f.; Hervorhebungen im Original)
Bis zum Gegenbeweis ist also davon auszugehen, daß die Natur und die Denkgesetze der zeitlichen, räumlichen und kausalen Ordnung eine wirkliche Entsprechung haben. Die zeitliche, räumliche und kausale Ordnung, die der Verstand in die Sinneseindrücke hineinbringt, ist daher kein bloßes Hirngespinst, ebensowenig wie sich die Natur ihre Gesetze durch die Gehirne der Menschen und die Denkgesetze vorschreiben lassen würde, denen ihre Wahrnehmungen unterliegen.
16
Konrad Lorenz, Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie, in: Blätter für deutsche Philosophie. Zeitschrift der Deutschen Philosophischen Gesellschaft, 15, 1941/42, S. 99.
Kognition und Orientierung
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Exkurs über den (Radikalen) Konstruktivismus Weder die bloßen Sinneswahrnehmungen, noch die „reine Vernunft“ vermögen es also, die Erkenntnis zu erklären. Es ist das Zusammenspiel von „Natur“ und „Verstand“, auf das es ankommt: Der Verstand bzw. das Gehirn „konstruiert“ die inneren Bilder der Umgebung aktiv nach Maßgabe der eingehenden Reize, der angeborenen Grundkategorien und der erworbenen Erwartungen und Hypothesen über die Welt. Erkenntnistheoretische Positionen, die die aktive und konstruktive Seite des Geistes bei der Wahrnehmung betonen, werden zusammenfassend auch als Konstruktivismus bezeichnet. Der Rationalismus ist, ebenso wie die Transzendentalphilosophie von Immanuel Kant, somit eine Variante des Konstruktivismus. In der neueren Zeit hat sich nun eine besonders „radikale“ Variante des Konstruktivismus zu Wort gemeldet, der sog. Radikale Konstruktivismus (RK). Diese Variante hat, wenngleich sie inzwischen nicht mehr ganz so vorlaut daherkommt, eine gewisse Beachtung verdient, weil sie rasch und bereitwillig von vielen aufgegriffen worden ist, die immer schon darauf gewartet haben, daß man sich eigentlich um die sog. Wirklichkeit nicht sonderlich zu kümmern brauche und alles in der Welt nur eine virtuelle Konstruktion sei, sie selbst eingeschlossen. Der RK geht zunächst davon aus, daß der oben geschilderte sensualistische Standpunkt vom Alltagsmenschen sowie – nach wie vor – von den meisten Psychologen und Sozialwissenschaftlern geteilt werde (was im übrigen nicht der Fall ist!): „Der sogenannte gesunde Menschenverstand ebenso wie die meisten Wahrnehmungstheoretiker und Philosophen gehen bei ihren Überlegungen davon aus, daß wir über unser Wahrnehmungssystem in direktem Kontakt mit der Welt stehen.“17
Mindestens werde davon ausgegangen, daß die richtige „Passung“ der Sinnesorgane und die dadurch ermöglichte Orientierung die Grundlage des erfolgreichen Umgangs mit den Problemen der Umgebung sei – wie das die Evolutionäre Erkenntnistheorie in der Tat tut. Auch der Nachweis zahlreicher Phänomene von Sinnestäuschungen und des Einflusses von Emotionen und Erwartungen auf die Wahrnehmung habe nicht grundsätzlich die Ansicht geändert, daß es in erster Linie auf die Sinnesorgane ankomme. Der uns aus Kapitel 5 inzwischen gut bekannte Hirnforscher Gerhard Roth nennt in einem früheren Beitrag, den er explizit zum Programm des RK verfaßt hat, diese Auffassung den „Standpunkt des kritischen Realismus“. Er lautet: 17
Siegfried J. Schmidt, Der Radikale Konstruktivismus: Ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs, in: Siegfried J. Schmidt, Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/M. 1987, S. 13; Hervorhebung nicht im Original.
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Sinn und Kultur
„ ... unsere Sinnesorgane bilden die Welt ab, so gut sie eben können, d.h. im Rahmen des physikalisch und physiologisch Möglichen und evolutiv Bewährten. Sie sind die Tore des Gehirns zur Welt; durch sie strömt die jeweils spezifisch benötigte Information ins Gehirn ein und wird von diesem zur adäquaten Wahrnehmung, z.T. unter Zuhilfenahme angeborener und erworbener Gestaltungsmuster, zusammengefügt.“18
Roth bezeichnet diese Position auch als „sinnesphysiologische Perspektive“. Sie wird vom RK radikal abgelehnt. Der Hintergrund sind die Ergebnisse aus der neueren neurophysiologischen Forschung zur Funktionsweise des Gehirns und zur Art, auf welche Weise die Reize der Umgebung über die Sinnesorgane an das Gehirn weitergeleitet und dort zu Wahrnehmungen verarbeitet werden – so wie wir sie in Kapitel 5 oben in diesem Band und nicht zuletzt über Roth selbst kennengelernt haben. Der Grundgedanke ist der einer radikalen Grenze zwischen den Sinnesorganen und dem Gehirn. Die Sinnesorgane nehmen zwar – wie dies James J. Gibson annahm – durchaus „Bilder“ der Welt auf. Aber diese werden nicht als Bilder, sondern nur noch als unspezifische „neuronale Erregung“ an das Gehirn weitergeleitet. Oder etwas anders ausgedrückt: Die spezifischen Sinneseindrücke werden in eine unspezifische „Einheitssprache“ von bioelektrischen Impulsen übersetzt. Und aus diesen unspezifischen Impulsen setzt das Gehirn dann eine „Wahrnehmung“ zusammen – nach seinen ganz und gar eigenen Funktionsgesetzmäßigkeiten: „All dies führt zu der merkwürdigen Feststellung, daß das Gehirn, anstatt weltoffen zu sein, ein kognitiv in sich abgeschlossenes System ist, das nach eigenentwickelten Kriterien neuronale Signale deutet und bewertet, von deren wahrer Herkunft und Bedeutung es nichts absolut Verläßliches weiß.“ (Roth 1987, S. 235; Hervorhebungen nicht im Original)
Wahrnehmungen sind damit ganz und gar interne, „abgeschlossene“ Operationen „im“ Gehirn. Sie sind von Vorgängen des Denkens, des Vorstellens und des Phantasierens somit nicht grundsätzlich zu unterscheiden. Der Unterschied zur Konzeption von Gibson, wonach das Gehirn ja gerade nicht „interpretiert“ oder „organisiert“, könnte größer nicht sein. Dies liegt vor allem daran, daß das Gehirn – in der Sprache des RK – als ein „funktional und semantisch selbstreferentielles System“ aufgefaßt wird: „Unter funktionaler Selbstreferentialität eines Systems verstehe ich die Eigenschaft, mit den eigenen Zuständen rekursiv oder zirkulär zu interagieren, so daß jeder Zustand aus der Interaktion früherer Zustände resultiert. Selbstreferentielle Systeme sind in ihren Zustandssequenzen selbstbestimmt oder autonom. Ihre Zustandssequenzen sind nicht von außen steuerbar.“ (Roth 1987, S. 240f.; Hervorhebungen nicht im Original)
18
Gerhard Roth, Erkenntnis und Realität: Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit, in: Siegfried J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/M. 1987, S. 231.
Kognition und Orientierung
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So weit, so interessant und gut. Aber heißt dies auch, daß das Gehirn in seinen „Wahrnehmungen“ machen kann, was es will? Doch wohl offenkundig nicht. Denn: Die Organismen „orientieren“ sich ja doch erfolgreich in ihrer Umgebung, lösen Probleme aufgrund von Wahrnehmungen und wären in ihrer Reproduktion sehr gefährdet, wenn dies ganz und gar „unabhängig“ von den externen Bedingungen und nur nach Maßgabe der internen Eigengesetzlichkeiten der neuronalen Hirnvorgänge geschähe. Die Frage stellt sich damit auch bei Annahme der Selbstreferentialität und der Autonomie der Hirnfunktionen ganz nachhaltig: Muß das Hirn nicht auch durch externe Reize wenigstens in irgendeiner und mit den Gegebenheiten der „objektiven“ Umwelt irgendwie doch systematisch korrespondierenden Weise beeinflußt werden, soll der Organismus nicht Gefahr laufen, in der blinden Selbstreferentialität seines Gehirns unterzugehen? Und in der Tat finden wir im RK: „Das Gehirn ist als neuraler Apparat ein solches selbstreferentielles System. Seine neuralen Zustände sind zirkulär angeordnet, sie interagieren in unendlich rekursiver Weise miteinander. Es kann über die Sinnesorgane von Ereignissen der Umwelt beeinflußt werden, aber die Art und Weise dieser Beeinflussung wird von ihm selbst (durch seine funktionale Organisation) festgelegt.“ (Roth 1987, S. 241; Hervorhebung nicht im Original)
Damit wird eine zunächst ungewöhnlich und widersprüchlich klingende Konzeption vorgeschlagen: Die „ ... eigentümliche Gleichzeitigkeit von kognitiver Abgeschlossenheit und Beeinflußbarkeit durch die Umwelt.“ (Ebd., S. 243)
Wie soll dann aber diese abgeschlossene Beeinflußbarkeit aussehen? Roth nimmt ein Bild zur Hilfe, um das Konzept verständlich zu machen: Das Gehirn wird mit einer Person verglichen, die ein fremdes Land bereist, wichtige Dinge in Erfahrung bringen muß, aber die Sprache nicht versteht und daher auf einen Dolmetscher angewiesen ist. Das Problem ist dann: Wie kann die Person – unser Gehirn also – überprüfen, daß der Dolmetscher jeweils korrekte Übersetzungen abliefert? Roth gibt drei Möglichkeiten an (Roth 1987, S. 242f.): Die erste ist die grundsätzliche Einschätzung der Zuverlässigkeit des Übersetzers. Dies entspricht der Grobverdrahtung des Gehirns, die genetisch festgelegt ist und auf diese Weise mehr oder weniger zuverlässig bestimmte externe Anregungen an die „richtigen“ Stellen im Gehirn weiterleitet, das dann dort die ihm spezifischen, aber mit gewissen Sinnesorganen korrespondierenden Eindrücke entwickelt. Die zweite Möglichkeit ist die interne Konsistenzprüfung: Die eingehenden Mitteilungen werden über die verschiedenen Sinnesareale hinweg verglichen und auf ihre Stimmigkeit geprüft. Kleinere Diskrepanzen werden rasch durch Verhaltensanpassungen beseitigt. Erst bei nachhaltigen Mißerfolgen bei diesen Anpassungen besteht die Gefahr eines Kollaps für das Gesamtsystem. Die dritte Möglichkeit ist schließlich die konsekutive Konsistenzprüfung. Dies ist die Überprüfung der Stimmigkeit der eingehenden Mitteilungen vor dem Hintergrund vorhergehender Erfahrungen: „ ... und zwar mit Hilfe des Gedächtnisses“.
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Sinn und Kultur
Das Gehirn ist also einerseits in sich geschlossen, andererseits aber dennoch durch die Umwelt beeinflußbar. Noch einmal Roth, weil der Gedanke in der Tat auf den ersten Blick vielleicht nicht ganz einleuchtend erscheint: „Wir haben also mit dem menschlichen Gehirn ein System vor uns, das, obwohl kognitiv abgeschlossen gegenüber der Umwelt, dennoch über die Sinnesorgane von dieser in vielfältiger Weise beeinflußt werden kann. Aber das Gehirn erfährt die Einwirkungen der Umwelt nicht direkt, sondern nur an und in sich selbst, sozusagen am eigenen Geiste, und es muß aus der einförmigen Sprache der Neuronen die Vielfalt der äußeren Welt konstruieren.“ (Roth 1987, S. 243)
Die entscheidende Instanz des Abgleichs der Konsistenz der eingehenden Informationen ist damit das Gedächtnis über vergangene Wahrnehmungen und über das so entwickelte interne System von gedanklichen Hypothesen über die externe Welt. Wahrnehmung ist damit die Einordnung der von den Sinnesorganen aufgenommenen, von den Neuronen in unspezifische Signale übersetzten und über die – recht verläßliche – Grobverdrahtung an die „richtige“ Stelle des Gehirns jeweils weitergeleiteten neuronalen Erregung, in das System der bis dahin aufgebauten Erwartungen und Hypothesen über die Umwelt: „Unsere Wahrnehmung, die uns von unmittelbarer Sensorik bestimmt erscheint, besteht in Wirklichkeit zum größten Teil aus Gedächtnisprodukten, d h. aus Ereignissen, die das Gehirn in einer minimal abgetasteten Umwelt als wahrscheinlich vorhanden ansieht.“ (Roth 1987, S. 247; Hervorhebung nicht im Original)
Das alles sind sicher keine uninteressanten und unbegründeten Gedanken und Feststellungen: Das Gehirn operiert wohl, wenigstens teilweise, tatsächlich in sich abgeschlossen und nach eigenen Kategorien und Gesetzen, die teilweise angeboren, teilweise durch Erfahrungen erworben sind. Und es ist niemals möglich, die „Wirklichkeit“ so wahrzunehmen und zu beschreiben, wie sie „tatsächlich“ ist. Das aber ist seit langem bekannt. Nicht zuletzt der Kritische Rationalismus und Sir Karl R. Popper haben immer wieder betont, daß Beobachtungen immer „im Lichte“ von Theorien über die Wirklichkeit erfolgen und daß eine letztgültige Erkenntnis der Welt ausgeschlossen ist (vgl. dazu auch schon den Exkurs über die Kategorien des Verstandes oben). Alles Wissen ist durch Hypothesen und Erwartungen gefiltertes und geprägtes Wissen, auch natürlich das Wissen darüber, wie die Gehirne funktionieren und wie die Wahrnehmung abläuft. Insofern rennt der RK weit offene Türen ein. Der RK geht nun aber weiter. Er sagt, daß, wenn sowieso alles, was wir wissen können, nur „Konstruktionen“ des Gehirns sind, es keinerlei Sinn mehr mache, nach irgendeiner „Korrespondenz“ zwischen der sog. Wirklichkeit und den Konstruktionen des Gehirns zu suchen. Das gilt seiner eigenen Einschätzung nach natürlich auch für ihn selbst: „Tatsächlich liefert der Radikale Konstruktivismus keine Möglichkeit, in einem korrespondenztheoretischen Sinne zwischen Wahrheit oder Falschheit von Aussagen über‚ die Wirklichkeit‘ zu
Kognition und Orientierung
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unterscheiden. Er liefert auch keine Handhabe, die Wahrheit seiner eigenen Aussagen (in diesem realistischen erkenntnistheoretischen Sinne) festzustellen.“ (Schmidt 1987, S. 41)
Obwohl das keine sonderlich aufregende Feststellung ist, weil niemand in der Lage ist, die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage schlüssig „festzustellen“, kann man den Satz aber auch als eine Verabschiedung von der Vorstellung werten, daß Wissenschaft nur dann Sinn macht, wenn man nach irgendeiner Korrespondenz zwischen Aussagen und „Wirklichkeit“ sucht – auch dann, wenn diese Korrespondenz nie schlüssig festzustellen sein wird. Das aber halten die Vertreter des RK für überflüssig und gar irreführend. Alles, was noch interessiere, sei die Frage, wie „nützlich“ die Kognitionen, zu denen auch die wissenschaftlichen Hypothesen über die Welt gehören, für uns sind – ganz unabhängig davon, ob es eine Korrespondenz zu einer wie immer gearteten Wirklichkeit gebe. Ohne Zweifel gebe es einerseits „ ... für die Annahme einer ikonischen Übereinstimmung unseres Wissens mit der ‚Natur‘ des Mediums, in dem wir mitsamt unserem Wissen so existieren, wie wir es erleben und uns bewußt machen können, keinen Anlaß.“19
Andererseits aber gelte auch: „Wir sind vielmehr darauf angewiesen, innerhalb unserer Kognitionsbereiche und mit den Mitteln unserer Anschauung, Wahrnehmung und konzeptuellen Organisationen, kurz: mit unserem von uns selbst abhängigen Wissen, solches Verhalten zu synthetisieren, das nicht nur nicht zu unserem Ableben führt, sondern darüber hinaus unser Leben unter allen denkbaren Gesichtspunkten erleichtert, angenehmer und vielleicht auch lebenswerter macht.“ (Ebd., S. 199f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Okay. Aber: Hat das denn nichts mit der Wirklichkeit zu tun? Was heißt denn hier „nicht zum Ableben führen“, „erleichtert“, „angenehmer“ und „lebenswerter machen“? Na klar: Es ist der Nutzen, den die Kognition und das damit verbundene Verhalten dem Organismus stiftet. Aber kann sich ein Organismus, der sich in einer für das Leben letztlich immer feindlichen Umgebung zu behaupten hat, den Nutzen seiner Wahrnehmungen immer nur vorstellen? Kaum. Denn: Ein bloß virtuelles Käsebrötchen macht ja auf die Dauer ganz objektiv nicht satt, und im Internet kann man noch nicht einmal ein Bier trinken, wie Norbert Blüm ganz richtig festgestellt hat. Müßte sich dieses Erlebnis nicht doch irgendwie auf das „wirkliche“ Verhältnis des Organismus zu seiner Umwelt beziehen. Genau das scheint auch der RK zu meinen: „In diesem Sinne haben wir uns mit all unserem Wissen, das wir mit Hilfe des ‚Instrumentes‘ unserer Erfahrungswirklichkeit gewinnen, in dem Medium, in dem wir existieren und dessen Er19
Gebhard Rusch, Erkenntnis, Wissenschaft, Geschichte. Von einem konstruktivistischen Standpunkt, Frankfurt/M. 1987, S. 199.
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kenntnis uns, gerade weil wir leben, verschlossen ist, zu bewähren. Das heißt, wir müssen nach solchen Verhaltensweisen und Denkarten suchen und solche Verhaltensweisen und Denkarten realisieren, mit denen wir unsere Ziele erreichen können und mit denen wir nicht an dem Medium, in dem wir existieren, scheitern.“ (Ebd., S. 200; Hervorhebungen nicht im Original)
Wenn das dazu erforderliche Wissen aber nicht bloß solipsistisch vorgestelltes Wissen sein soll, dann muß es etwas mit den „wirklichen“ Widerständen und Möglichkeiten der Welt zu tun haben: Wiederkehrende und dem Organismus „wirklich“ zuträgliche Erfahrungen, die nicht bloß vorgestellte Fiktionen des Gehirns sind. Nur jene Organismen, die irgendwie mitbekommen, was ihnen „wirklich“ gut tut und was nicht, haben eine Chance in der Evolution des Lebens. Kurz: Der RK muß, will er nicht zu einem bloßen Solipsismus der gedanklichen Vorstellungen schrumpfen, auch an die wie immer geartete Korrespondenz zwischen den Konstruktionen des Gehirns und einer darauf bezogenen Wirklichkeit anknüpfen. Und das tut er ja auch, indem er beispielsweise die Wirklichkeit plötzlich nicht mehr als „Wirklichkeit“, sondern etwas verschämt und esoterisch als „Medium“ bezeichnet, „in dem wir existieren“. Das Gesagte gilt nicht zuletzt auch für einen der wichtigsten Ausgangspunkte des RK: die Aussagen über die Kognition und über die Funktionsweise des Gehirns. Der RK hat sich hier in eine richtige Zwickmühle hineinmanövriert:20 Wenn er sich selbst ernst nimmt, dann muß er die Aussagen zur Wahrnehmung, auf die er sich gründet, irgendwie schon als „realistisch“, wenngleich natürlich nicht als „ikonisch“ beweisbar, ansehen. Das kann er aber nicht, weil er den Realismus ja gerade ablehnt. Wenn er die Aussagen jedoch nicht realistisch deutet, dann sind alle die Ausführungen über die angeblichen Konstruktionsleistungen des Gehirns hinfällig, auf die der RK sich selbst gründet. Unangenehm. Und aus dieser Zwickmühle helfen auch alle philosophischen Tricks nicht viel – auch nicht die als Entgegnung bemühte Metapher von Wittgensteins Leiter, wonach man mit Hilfe der Leiter der empirischen Hirnforschung erst einmal auf die Mauer der Erkenntnis hinaufgestiegen sei, diese Leiter dann aber habe abstoßen können und so über den Umweg der (eigentlich ja belang-, da wirklichkeits- und damit gegenstandslosen) empirischen Forschung zur Einsicht in die Weisheiten des RK gekommen sei, die dann diesen Ausgangspunkt aber auch nur noch als für das Überleben „nützliche“ Fiktion des Gehirns zu betrachten brauche. Und 20
Vgl. dazu Hans Jürgen Wendel, Moderner Relativismus. Zur Kritik antirealistischer Sichtweisen des Erkenntnisproblems, Tübingen 1990, S. 211ff.; vgl. zur Kritik am Radikalen Konstruktivismus auch: Ralf Nüse, Norbert Groeben, Burkhard Freitag und Margit Schreier, Über die Erfindung/en des Radikalen Konstruktivismus. Kritische Gegenargumente aus psychologischer Sicht, Weinheim 1991; sowie neuerdings wieder: Ulf Dettmann, Der Radikale Konstruktivismus. Anspruch und Wirklichkeit einer Theorie, Tübingen 1999.
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daß sie überleben, das sehen die (Radikalen) Konstruktivisten ja – an den Bankauszügen zu den Tantiemen ihrer Bücher. Der RK bleibt offenbar ein Widerspruch in sich, jedenfalls solange er sich auf die empirische Gehirn- und Wahrnehmungsforschung und auf die „Nützlichkeit“ der Konstruktionen für das Überleben beruft. Die Wahrnehmung ist sicher etwas anderes als die naturgetreue Abbildung der Umwelt im Organismus, und das Gehirn operiert wohl auch durchaus nach seinen eigenen Gesetzen. Der naive Realismus ist daher ohne Zweifel keine angemessene Konzeption der Wahrnehmung und der Erkenntnis. Auch ist nicht zu beweisen (aber auch nicht zu widerlegen!), daß es eine Wirklichkeit wirklich gibt. Aber der um die Erkenntnis aufgeklärte Realismus bzw. Kritische Rationalismus, daß jede Wahrnehmung erwartungsgesteuert und nach Denkgesetzen strukturiert abläuft, ist die einfachere und daher plausiblere Hypothese für das, was wir tun – im Alltag wie in der Wissenschaft. Und gegenüber dem „Radikalen“ Konstruktivismus hat der (aufgeklärte, nichtnaive) Realismus des Kritischen Rationalismus überdies den Vorteil, sich nicht selbst zu widersprechen, wenn in seinem Namen theoriegeleitete empirische Forschung betrieben wird.
Kapitel 6
Die „Einstellung“ auf die Situation
Mit Kognition und Orientierung hat der Akteur eine definitive „Haltung“ zur Situation eingenommen: Er sieht sie in einer besonderen Sicht, verbindet sie mit ganz bestimmten Gefühlen und neigt zu einem spezifischen Handeln, ganz so wie das bei den Hotel- und Raststättenbesitzern in dem Experiment von Richard T. LaPiere jeweils der Fall war – freundlich und kundenorientiert in Gegenwart des chinesischen Ehepaares oder ablehnend bis verbissen fremdenfeindlich alleine mit der Anfrage von LaPiere auf dem Schreibtisch (siehe dazu auch schon Kapitel 2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Mit der Orientierung sind die Akteure auf die Situation eingestellt. Und das durchaus in jenem wörtlichen Sinne, in dem ein Trainer seine Mannschaft auf einen bestimmten Gegner „einstellt“: Er sagt ihr, worin die Stärken und Schwächen des Gegners tatsächlich bestehen, er versetzt sie in eine besondere affektive Stimmung und bereitet sie so auf ein Verhalten vor, das die Mannschaft dann auch hoffentlich auf dem Platz umsetzt. Nicht immer, so wissen wir, kommt es dazu dann auch.
Das Konzept der Einstellung Die besondere Haltung, in der die Wahrnehmung der Situation, die Gefühle zu den Objekten und die Bereitschaft zum Handeln in besonderer Weise gebündelt auf die Umstände der Situation bezogen sind, wird auch als Einstellung oder als Attitüde bezeichnet. Das Konzept der Einstellung geht auf eine Überlegung von William I. Thomas und Florian Znaniecki zurück. Sie führen es zur Erklärung des Verhaltens der polnischen Immigranten in den USA ein. Es geht um die Vermittlung der objektiven kulturellen Elemente des Alltagslebens mit den subjektiven Eigenschaften und Haltungen der Akteure über den uns aus Kapitel 2 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ bereits wohlvertrauten Vorgang der „Definition der Situation“ durch ihre besonde-
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re Rahmung. Die objektiven Elemente nennen Thomas und Znaniecki social values. Ein social value ist „ ... any datum having an empirical content accessible to the members of some social group and a meaning with regard to which it is or may be an object of activity. Thus, a foodstuff, an instrument, a coin, a piece of poetry, a university, a myth, a scientific theory are social values.“1
Social values haben also einen bestimmten bedeutungsvollen Inhalt. Sie werden mit gewissen Vorstellungen verbunden, die den Akteuren Sinn machen: Nahrung dient der Stillung des Bedürfnisses nach physischem Wohlbefinden, ein Werkzeug zur Herstellung eines Wandschranks, Geld dem Kaufen und Verkaufen von Gütern, zum Beispiel. Diese „Bedeutung“ des social values stellt die Verbindung zwischen den Objekten als „natürlichen“ Gegenständen und einem sinnhaften Handeln her. Eine Einstellung oder Attitüde ist vor diesem Hintergrund dann das subjektive Bewußtsein, das zwischen dem objektiven sozialen Wert eines Objektes und dem Handeln der Akteure vermittelt: „By attitude we understand a process of individual consciousness which determines real or possible activity of the individual in the social world.“ (Ebd.)
Wie etwa: der Hunger, der die Aufmerksamkeit des Organismus auf die Nahrungsaufnahme drängt, der Plan des Schreiners, der ihn dazu bringt, einen Schrank in einer ganz bestimmten Weise zu bauen, oder die mehr oder weniger mühsam abgerungene Entscheidung, nun doch 25 000 DM für ein neues grünes Auto auszugeben. Der Hunger, der Plan, die Entscheidung wären danach, weil sie zwischen den social values und dem Handeln vermitteln, allesamt Attitüden bzw. Einstellungen. Das ist schon damals kein sehr klares Konzept gewesen. Und ohne Zweifel ist auch 70 Jahre nach Thomas und Znaniecki der Begriff der Einstellung immer noch nicht frei von Unbestimmtheiten. Wenigstens das aber läßt sich festhalten: Eine Einstellung hat etwas mit einer inneren Disposition und mit dem sichtbaren Handeln zu tun. Sie ist ein latenter subjektiver Zustand, der zwischen der objektiven Situation und dem (inneren oder sichtbaren) Handeln des Akteurs vermittelt. Es ist, ganz allgemein und mit Gordon W. Allport gesagt, ein „neurophysic state of readiness for mental and physical activity“, angeregt und aktiviert durch die in der Situation vorhandenen Objekte, Reize und Symbole.2 1
William I. Thomas und Florian Znaniecki, Methodological Note, in: William I. Thomas und Florian Znaniecki, The Polish Peasant in Europe and America, Band 1, 2. Aufl., New York 1927, S. 58; Hervorhebungen nicht im Original.
2
Gordon W. Allport, The Historical Background of Social Psychology, in: Gardner Lindzey und Elliot Aronson (Hrsg.), Handbook of Social Psychology, Band 1: Theory and Method, 3. Aufl., New York 1985, S. 36.
Die „Einstellung“ auf die Situation
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Das Konzept der Einstellung ist – bis auf den heutigen Tag – eines der prominentesten Konstrukte in der (Sozial-)Psychologie.3 Auch in der empirischen Soziologie wird es gerne verwandt, etwa wenn es um die Erklärung von Handeln über gewisse Werte wie Postmaterialismus, um Parteiidentifikation oder um Einstellungen zur Familie oder zu Ausländern geht. Seine systematische Bedeutung fiel wohl zuerst dem deutschen Psychologen Ludwig Lange auf, der feststellte, daß Versuchspersonen, die auf eine bestimmte Aufgabe, etwa das Drücken eines Knopfes nach einem Signal, vorbereitet worden waren, die Aufgabe deutlich rascher erledigten.4 Diese „innere Vorbereitung“ auf ein Tun wurde in der Folge von der damaligen Psychologie auf sehr unterschiedliche Weise bezeichnet: als Absicht, als Zielvorstellung, als Bezugsvorstellung, als Richtungsvorstellung, als determinierende Tendenz, als Haltung, als Bewußtseinslage und eben auch als „Einstellung“.
Die sozialpsychologische Einstellungstheorie hat auf der Grundlage dieser Ideen und Konzepte eine interessante Entwicklung vollzogen. Sie begann mit einem besonders einfach scheinenden Konzept, dem sog. Konsistenzmodell der Einstellung. Eine breite empirische Forschung schien aber dieses Konzept zu widerlegen, weil die Beziehung zwischen Einstellung und Verhalten sich als nicht so eng erwies, wie es das Konsistenzmodell annimmt. Vor allem in Reaktion darauf wurde von Martin Fishbein und Icek Ajzen die wohl wichtigste Alternative zum Konsistenzmodell entwickelt: die Theorie des überlegten Handelns. Inzwischen zeigt sich jedoch, daß es für beide Konzepte einige empirische Evidenz gibt. Und es entsteht die naheliegende Frage: Wann folgt das Handeln warum mal dem Konsistenzmodell und mal der Theorie des überlegten Handelns? Das sog. MODE-Model, vorgeschlagen von Russell H. Fazio, bietet eine theoretische Integration dieser beiden Ansätze – und eine interessante und wichtige Verbindung zu alledem, was wir in Kapitel 5 oben über den Vorgang der Kognition und der Orientierung gelernt haben.
3
Vgl. die Übersichten u.a. von Icek Ajzen, Attitudes, Personality and Behavior, Chicago 1988; Dagmar Stahlberg und Dieter Frey, Einstellungen I: Struktur, Messung und Funktionen, in: Wolfgang Stroebe, Miles Hewstone, Jean-Paul Codol und Geoffrey M. Stephenson (Hrsg.), Sozialpsychologie. Eine Einführung, 2. Aufl., Berlin u.a. 1992, S. 144-170; Alice H. Eagly und Shelly Chaiken, The Psychology of Attitudes, Fort Worth u.a. 1993; James M. Olson und Mark P. Zanna, Attitudes and Attitude Change, in: Annual Review of Psychology, 44, 1993, S. 117-154; Richard E. Petty, Duane T. Wegener und Leandre R. Fabrigar, Attitudes and Attitude Change, in: Annual Review of Psychology, 48, 1997, S. 609-647.
4
Vgl. Ludwig Lange, Neue Experimente über den Vorgang der einfachen Reaktion auf Sinneseindrücke, in: Philosophische Studien, 4, 1888, S. 480ff.
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Sinn und Kultur
Das Konsistenzmodell Die ursprüngliche Fassung des Einstellungskonzeptes beinhaltete im Anschluß an die frühen Überlegungen der deutschen Psychologie und von Thomas und Znaniecki eine einfache Überlegung: Mit der Aktivierung einer Einstellung kommt es gleichzeitig sowohl zu bestimmten Wahrnehmungen, wie zu bestimmten Emotionen und Gefühlen, wie auch zu einem bestimmten Verhalten – und zwar unmittelbar, ohne Zögern und ohne jedes weitere Überlegen. In einer Einstellung seien eine auf die Wahrnehmung bezogene kognitive, eine auf die Gefühle und Emotionen bezogene affektive und eine auf das Verhalten bezogene, wie es heißt, konative Dimension zu einem konsistenten System gebündelt. Dieses System werde jeweils als Ganzes aktiviert, und mit der Aktivierung der Einstellung würden alle drei Reaktionen simultan ausgelöst. Wegen der angenommenen engen Übereinstimmung der drei Dimensionen hat das Konzept dann die Bezeichnung Konsistenzmodell oder Konsistenztheorem erhalten.5 Die Hypothese von der Konsistenz von Kognition, Affekt und Verhalten wurde dabei insbesondere mit dem „Prinzip der Kongruenz“ bzw. mit der „Theorie der (kognitiven) Dissonanz“ begründet: Zur Vermeidung von „Dissonanzen“ sei der Akteur bemüht, seine Wahrnehmungen, seine Gefühle und sein Handeln aufeinander abzustimmen, und auftretende Dissonanzen würden rasch durch eine Anpassung wieder ausgeglichen (vgl. Meinefeld 1977, S. 25f.; auch schon Abschnitt 3.3 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ zur sog. Theorie der kognitiven Dissonanz).
Das Konsistenzmodell wird auch als Dreikomponentenmodell der Einstellung bezeichnet.6 Es war die Grundlage für die rasche Verbreitung des Konzepts in der sozial-psychologischen und soziologischen Forschung – nicht zuletzt, weil die dazu erforderlichen Messungen der kognitiven, der affektiven und der konativen Dimension, über Fragebögen relativ unaufwendig zu bewerkstelligen waren. Und dabei störte zunächst auch nicht, daß das „Verhalten“ fast immer nur „verbales Verhalten“ in einem persönlichen Interview oder einem schriftlichen Fragebogen war.
5
Vgl. die Zusammenfassung bei Werner Meinefeld, Einstellung und soziales Handeln, Reinbek 1977, Abschnitt 2.1: Die Konsistenz-Konzeption: Einstellung als mehrdimensionales System, S. 25-37; vgl. auch Stahlberg und Frey 1992, S. 145f.
6
Vgl. Milton J. Rosenberg und Carl I. Hovland, Cognitive, Affective, and Behavioral Components of Attitudes, in: Milton J. Rosenberg, Carl I. Hovland, William J. McGuire, Robert P. Abelson und Jack W. Brehm (Hrsg.), Attitude Organization and Change. An Analysis of Consistency Among Attitude Components, New Haven 1960, S. 1-14; Milton J. Rosenberg, An Analysis of Affective-Cognitive Consistency, in: Rosenberg, Hovland, McGuire, Abelson und Brehm 1960, S. 15-64.
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Einstellung und Verhalten Die wohl wichtigste Implikation des Dreikomponentenmodells war die Hypothese, daß es zwischen der inneren Einstellung und dem sichtbaren Verhalten eine enge Verbindung geben müßte. Das Experiment von Richard T. LaPiere war ein erster deutlicher Hinweis darauf, daß es eine solche enge Verbindung wenigstens nicht immer gibt. Dieser und einige andere Hinweise wurden jedoch nicht sehr ernst genommen. Erst im Jahre 1969 war die Zeit offenbar reif für die Einsicht, daß die Sache nicht ganz so einfach ist, wie es das Konsistenzmodell angenommen hatte. Ein Artikel von Alan W. Wicker über das empirisch nachweisbare Verhältnis zwischen Einstellung und dem sichtbaren Verhalten in einer großen Anzahl von Studien dazu, kommt zu einem doch recht niederschmetternden Ergebnis: „Taken as a whole, these studies suggest that it is considerably more likely that attitudes will be unrelated or only slightly related to overt behaviors than that attitudes will be closely related to actions.“7
Eines der typischen Experimente, in denen sich zeigte, daß die inneren Einstellungen mit dem sichtbaren Verhalten wenigstens nicht immer unmittelbar in Beziehung stehen, ging so:8 Studentinnen in einem Einführungskurs in Soziologie wurden über ihre Bereitschaft befragt, sich mit einem Farbigen photographieren zu lassen. Vier Wochen später wurden die befragten Studentinnen um die Teilnahme an Interviews gebeten, bei denen es – angeblich – um die Entwicklung eines neuen Persönlichkeitstests ging. Während des Interviews wurde den Versuchspersonen von dem Interviewer, einem Farbigen, erzählt, daß die Organisation, die diese Interviews durchführte, auch einen psychologischen Test entwickele, bei dem Bilder von gemischtrassigen Paaren gezeigt werden sollten. Die Studentinnen wurden dabei gebeten, sich für solche Photos zur Verfügung zu stellen und schriftlich die Erlaubnis zu geben, daß die Photos von der Organisation verwandt werden könnten. Am Ende des Interviews wurden die Versuchspersonen mit einem zweiten Farbigen bekannt gemacht, der, wieder: angeblich, eine Organisation für eine Kampagne zur Rassenintegration vertrat: Die Organisation interessiere sich für die Photos, und man möge doch auch ihr die Verwendung der Photos für die Kampagne gestatten. Die dabei vorgegebenen sieben 7
Allan W. Wicker, Attitudes versus Actions: The Relationship of Verbal and Overt Behavioral Responses to Attitude Objects, in: Journal of Social Issues, 25, 1969, S. 65; Hervorhebungen nicht im Original. Vgl. zu dem Problem neuerdings u.a. Thomas Eckes und Bernd Six, Fakten und Fiktionen in der Einstellungs-Verhaltens-Forschung: Eine Meta-Analyse, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie, 25, 1994, S. 253-271; Jörg Doll und Klaus Jonas (Hrsg.), Einstellungs-Verhaltens-Relationen, Themenheft der Zeitschrift für Sozialpsychologie, 27, 1996.
8
Vgl. Lawrence S. Linn, Verbal Attitudes and Overt Behavior: A Study of Racial Discrimination, in: Social Forces, 43, 1965, S. 353-364; vgl. zu diesem Experiment auch die kritische Zusammenfassung bei Hans Benninghaus, Ergebnisse und Perspektiven der Einstellungs-Verhaltens-Forschung, Meisenheim am Glan 1976, S. 74ff.
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Sinn und Kultur
Stufen des Einverständnis waren identisch mit den Fragen, die vier Wochen vorher gestellt worden waren. Wenn die Versuchsperson zustimmte, wurde ein Termin für das Photo vereinbart, und wenn sie erschien, wurde sie über das Experiment aufgeklärt. 34 Studentinnen beteiligten sich an dem Experiment. Die Ergebnisse waren eindeutig (Linn 1965, S. 358f.): Die Mittelwerte der Einstellungsskalen zeigten deutlich geringere Werte als die Verhaltensskala. Und in 59% der Fälle wichen die Angaben auf dem Fragebogen und das Verhalten bei der Einwilligung um mehr als zwei Skalenpunkte voneinander ab, wobei die Abweichungen zwischen Einstellung und Verhalten umso stärker waren, je freundlicher die zuvor verbal geäußerte Einstellung war.
In der Nachfolge des Artikels von Wicker wurde es eine Zeitlang geradezu zum Volkssport, zu zeigen, daß es zwischen Einstellungen und Verhalten praktisch kaum eine Beziehung gäbe und daß daher das Konsistenzmodell erledigt sei. Und man wurde auch nicht müde anzuprangern, daß das leichte Geschäft der empirischen Einstellungsmessungen mit der „Wirklichkeit“ des Verhaltens in konkreten Situationen nicht viel zu tun habe.
Bedingungen der Konsistenz Aber ganz so einfach war die Sache dann doch nicht. Schon die Übersicht bei Alan W. Wicker zeigte, daß es mitunter doch ganz erhebliche Beziehungen zwischen erfragten Einstellungen und – berichtetem wie „tatsächlichem“ – Verhalten gab (vgl. Tabelle 1 bei Wicker 1969, S. 49f.). Und auch später wurde immer einmal wieder darauf hingewiesen, daß das Konsistenzmodell zwar sicher nicht generell gelte, daß es aber wenigstens unter bestimmten Umständen eine merkliche Beziehung zwischen Einstellung und Verhalten gebe. Inzwischen ist auf der Grundlage einer sehr breiten Forschung durchaus bekannt, wovon es abhängt, daß sich die Beziehung zwischen Einstellung und Verhalten lockert oder nicht. Im Groben lassen sich drei Faktoren angeben, die die Beziehung zwischen Einstellung und Verhalten modifizieren: Eigenschaften der Einstellung selbst, Persönlichkeitseigenschaften und – insbesondere – situationale Umstände (vgl. u.a. Wicker 1969, S. 66-74; Stahlberg und Frey 1992, S. 161-169; Eagly und Chaiken 1993: Kapitel 4). Bei den Eigenschaften der Einstellung ist offenbar die Spezifizität der Einstellung bzw. der Einstellungsobjekte und des betreffenden Verhaltens von besonderer Bedeutung: Eine generelle, positive oder negative, Einstellung, etwa zu Farbigen, läßt beispielsweise noch offen, ob sich ein Akteur mit ihm auch photographieren lassen würde oder nicht oder ob er mit ihm tatsächlich zusammenarbeiten würde oder nicht. Allgemein gesagt: Spezifisches Verhalten läßt sich nur über spezifische Einstellungen, generelle Handlungsmuster auch über generelle Einstellungen vorhersagen. Hierauf hat vor allem schon früh Fishbein hingewiesen. Es ist der Kern der von ihm, zusammen mit Icek Ajzen, entwickelten Theorie des überlegten Handelns (siehe dazu noch gleich unten). Hinzu kommen der Grad der Strukturiertheit der Einstellung, der Grad der Verankerung der Einstellung, ihre zeitliche Stabilität und – last not least – die Konsistenz von Kognition und Affekt, kurz: die Zugänglichkeit der Einstellung in der Identität des Akteurs, wenn das betreffen-
Die „Einstellung“ auf die Situation
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de Objekt in der Situation erscheint (vgl. dazu unten noch näher im Zusammenhang mit dem MODE-Modell von Russell H. Fazio). Bei den Persönlichkeitseigenschaften scheinen konkurrierende Einstellungen in der Identität des Akteurs die Beziehung zwischen Einstellungen und Verhalten abzuschwächen, das „self-monitoring“ der Akteure und ihre Neigung zu moralischem und konsistenten Handeln sie dagegen zu verstärken. Am wichtigsten sind jedoch die situationalen Bedingungen. Am bedeutsamsten scheinen die mit dem konkreten Handeln erwarteten Konsequenzen zu sein. Darüber läßt sich leicht verstehen, warum die Anwesenheit dritter Personen, insbesondere solche aus der engeren Bezugsumgebung, oder die mögliche Veröffentlichung des Verhaltens deutlich dazu beitragen, daß sich die Akteure anders verhalten, als sie innerlich eingestellt sind. Dazu kommen die Opportunitätskosten des einstellungsgemäßen Handelns: Aufwand an Zeit und entgangener Gewinn – etwa der Verzicht auf das Übernachtungsgeld des chinesischen Ehepaares bei einer Abweisung. Nicht zu vergessen ist schließlich auch der Umstand, daß ein einstellungsgemäßes Handeln einfach außerhalb der Möglichkeiten des Akteurs liegen kann und allein deshalb unter Umständen unterbleiben muß.
Faßt man die verschiedenen „Faktoren“ etwas abstrakter zusammen, dann sind es also im wesentlichen zwei Bedingungen, die dafür sorgen, daß das Verhalten von einer Einstellung abweicht oder nicht: der Grad der Stärke bzw. der Zugänglichkeit der Einstellung beim Akteur und die mit dem der Einstellung entsprechenden Handeln verbundenen Konsequenzen – sofern, natürlich, das Handeln überhaupt innerhalb des Möglichkeitsraumes des Akteurs liegt. Eine Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten ist danach insbesondere dann zu erwarten, wenn die Einstellungsstärke nicht sehr groß ist und/oder wenn negativ bewertete Konsequenzen zu erwarten sind. Und je nach Konstellation muß sich ein Akteur schon genauer überlegen, was er tun soll: Soll er, etwa bei einer recht starken Einstellung, seinen Wahrnehmungen und Bewertungen auch im Verhalten folgen oder auch noch andere Konsequenzen bedenken und ggf. etwas anderes tun?
Die Theorie des überlegten Handelns Genau diese Überlegung ist der Ausgangspunkt der Theorie des überlegten Handelns, der Theory of Reasoned Action (TORA), wie sie von Fishbein und Ajzen entwickelt und empirisch in vielen Feldern (erfolgreich) angewandt wurde:9 Die Akteure folgen eben nicht blind ihren Einstellungen, sondern beurteilen – wenigstens: auch – die mit dem betreffenden Handeln verbundenen Konsequenzen. Aber wie tun sie das?
9
Vgl. Martin Fishbein, Attitude and the Prediction of Behavior, in: Martin Fishbein (Hrsg.), Readings in Attitude Theory and Measurement, New York, London und Sydney 1967, S. 477-492; Icek Ajzen und Martin Fishbein, Understanding Attitudes and Predicting Social Behavior, Englewood Cliffs, N.J., 1980; vgl. auch die Zusammenfassung bei Eagly und Chaiken 1993, S. 168-174.
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Sinn und Kultur
Die wichtigste Änderung der TORA gegenüber dem einfachen Konsistenzmodell besteht darin, daß jetzt die kognitive, die affektive und die konativen Dimension auseinanderfallen. Ein Verhalten B ist nicht länger die Konsequenz der Aktivierung der Einstellung alleine, sondern folgt einem Konstrukt, das in der TORA mit der Intention BI zu einem spezifischen Verhalten („behavioral intention“) bezeichnet wird. Diese Intention setzt sich wiederum aus zwei Komponenten zusammen: aus der Einstellung AB gegenüber dem (spezifischen) Verhalten und aus der sog. subjektiven Norm SN, wobei mit der subjektiven Norm eventuelle Reaktionen der Bezugsumgebung des Akteurs gemeint sind. Die Einstellung AB wird mit einem Gewicht w1, die subjektive Norm SN mit einem Gewicht w2 versehen. Und alles zusammen läßt sich dann in eine Gleichung schreiben, die das Modell für eine lineare Regressionsfunktion abgibt, nach der die Gewichte w1 und w2 dann bestimmt werden können – nach entsprechenden empirischen Messungen von AB und SN, versteht sich. Die Gleichung lautet: B ~ BI = w1AB + w2SN. Die Konstrukte AB und SN setzen sich nun ihrerseits jeweils wiederum aus zwei Komponenten zusammen: beliefs b und evaluations e, Erwartungen und Bewertungen also. Bei der Einstellung zum spezifischen Verhalten AB sind das die Erwartungen für eventuelle Konsequenzen des Verhaltens und die Bewertungen dieser Konsequenzen. Bei n erwarteten Konsequenzen ergibt sich die (spezifische) Einstellung AB dann als Produktsumme der Erwartungen und Bewertungen für jede Konsequenz i über die n Konsequenzen: n
AB = Σbiei. i
In ähnlicher Weise wird die subjektive Norm berechnet: Wenn es insgesamt r Bezugspersonen gibt, dann ist bj die Erwartung, daß die Bezugsperson j das betreffende Handeln billigt, und mj ist der Grad der Motivation, mit dem der Akteur mit der Bezugsperson j übereinstimmen möchte. Also: r
SN = Σbjmj. j
Eingesetzt in die Gleichung ergibt das: n
r
i
j
B ~ BI = w1Σbiei + w2Σbjmj.
Das komplette Modell der TORA versucht dann noch, gewisse externe Variable mit den Konstrukten der Theorie zu verbinden: Demographische Variablen, Einstellungen gegenüber den Objekten, um die es geht, und gewisse Persönlichkeitseigenschaften. Die „unabhängigen“ Variablen des Kernmodells der TORA – beliefs und evaluations in Bezug auf die Konsequenzen und die Bezugsumge-
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Sinn und Kultur
tion wird ja, ganz anders als bei der „unüberlegten“ Aktivierung des Verhaltens im Konsistenzmodell, „berechnet“. Und erst die durchaus kompliziert zu bestimmende Intention bestimmt das Verhalten, das durch die innere Berechnung zu einem „Handeln“ wird. Das derart konsequenzenorientierte Handeln gemäß der TORA ist dann manchmal eben eine Abweichung von dem nichtkonsequenzenorientierten Verhalten gemäß der generellen Einstellung einem Objekt gegenüber nach dem Konsistenzmodell. Der inzwischen geübte Leser hat es wohl schon sofort erkannt: Die Theorie des überlegten Handelns ist nichts anderes als eine Variante der Wert-Erwartungs-Erklärung des Verhaltens, wie wir sie aus Kapitel 7 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ gut kennen. Wenn wir für die beliefs b die Erwartungen p einsetzen und für die evaluations e bzw. für die motivations m die Bewertungen U, dann sieht man sofort, daß die Intention nichts anderes ist als ein EU-Gewicht: n
r
i
j
B ~ BI = w1∑piUi + w2∑pjUj = EUB. Freilich ist das Ganze schon etwas ungewöhnlich gegenüber der üblichen WE-Modellierung. Denn: Die Gewichte w1 bzw. w2 sind eigentlich überflüssig. Unterschiede in den Teilgewichten der Intention müßte man mit Unterschieden in den beliefs und/oder den evaluations modellieren. Man fragt sich auch, warum nicht weitere denkbare outcomes in der Theorie angenommen werden als die Bezugsgruppenreaktionen. Und nicht zuletzt wundert man sich, was denn die alternativen Handlungen sein sollen, gegen welche sich das Verhalten B mit der Intention BI durchsetzen soll, und welche Intentionen es denn vielleicht dafür gibt. Daß das betreffende Verhalten eventuell sogar ganz außerhalb des Möglichkeitsraumes liegen könnte, wurde in einer späteren Erweiterung der Theorie dann auch explizit berücksichtigt: die Theorie des geplanten Verhaltens (Theory of Planned Behavior; TOPB).10 Hier wird zu den beiden Teilgewichten AB und SN noch ein drittes hinzugefügt: die wahrgenommene Kontrolle des angestrebten Verhaltens. Normalerweise würde man die Kontrolle aber auch schon über die p-Terme berücksichtigen und nicht über eine neue „Variable“ in der EU-Gleichung: Wenn das Verhalten außerhalb der Möglichkeiten liegt, werden die entsprechenden beliefs gleich null. Das hätte man schon vorher bei der TORA wissen können und berücksichtigen müssen. Und last but not least: Kosten des Verhaltens gibt es offenbar keine.
Kurz: Die TORA (bzw. die TOPB) ist eine Variante der Theorie des rationalen Handelns, wenngleich eine etwas seltsam aufgebaute, unvollständige und auch fehlerhafte. Daß sie an der Rationalität der Menschen anknüpfen wollen, schreiben Ajzen und Fishbein selbst gleich zu Beginn ihrer richtungsweisenden Arbeit und begründen damit auch die Bezeichnung ihres Entwurfs als „Theory of Reasoned Action“:
10
Vgl. dazu: Icek Ajzen, The Theory of Planned Behavior, in: Organizational Behavior and Human Decision Processes, 50, 1991, S. 179-211.
Die „Einstellung“ auf die Situation
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„Generally speaking, the theory is based on the assumption that human beings are usually quite rational and make systematic use of the information available to them. We do not subscribe to the view that human social behavior is controlled by unconscious motives or overpowering desires, nor do we believe that it can be characterized as capricious or thoughtless. Rather, we argue, that people consider the implications of their actions before they decide to engage or not to engage in a given behavior. For this reason we refer to our approach as ‚a theory of reasoned action‘. (Ajzen und Fishbein 1980, S. 5; Hervorhebungen nicht im Original)
Das aber ist schon etwas überraschend: Die wohl wichtigste sozialpsychologische Theorie des Verhaltens bzw. des Handelns, die Einstellungstheorie, nur eine Variante der Theorie des rationalen Handelns? Kaum zu glauben, aber wohl wahr! Wenigstens in weiten Teilen.
Gewohnheiten Aber Vorsicht! Die TORA ist, ebensowenig wie vorher das Konsistenzmodell, auch wieder nicht die ganze Story. Denn das gute alte Konsistenzmodell hat immer noch etwas für sich: Es gibt neben der ohne Zweifel gut belegten empirischen Bewährung der TORA (bzw. der TOPB) auch eine Reihe von Hinweisen, daß die überlegte „Einstellung“ nicht alles erklärt und nicht in jeder Situation vorkommt. So haben beispielsweise Peter M. Bentler und G. Speckard versucht, den offenbar nicht bedeutungslosen Einfluß von Gewohnheiten zu berücksichtigen, die sich eben auch gegen die „rationalen“ Gewichte der Einstellung und der subjektiven Norm durchsetzen. Und wenn eine Einstellung stark verankert und somit leicht „verfügbar“ ist, dann gehen dem Verhalten ganz offenkundig keine komplizierten Berechnungen voraus, sondern es wird mit der „spontanen“ Aktivierung einer Einstellung „automatisch“ abgerufen und ohne weiteres Nachdenken ausgeführt.11 Weite Bereiche des Alltagshandelns folgen diesem Ablauf, wie wir u.a. ja schon von Alfred Schütz wissen (vgl. die Abschnitte 3.2 und 3.3 oben in diesem Band). Anders wäre der Alltag gar nicht zu bewältigen.
11
Peter M. Bentler und George Speckart, Models of Attitude-Behavior Relations, in: Psychological Review, 86, 1979, S. 452-464; Peter M. Bentler und George Speckart, Attitudes ‚cause‘ Behaviors: A Structural Equation Analysis, in: Journal of Personality and Social Psychology, 40, 1981, S. 226-238; Russell H. Fazio, Martha C. Powell und Paul M. Herr, Toward a Process Model of the Attitude-Behavior Relation: Accessing One’s Attitude Upon Mere Observation of the Attitude Object, in: Journal of Personality and Social Psychology, 44, 1983, S. 723-735.
Die „Einstellung“ auf die Situation
251
Nach dem Konsistenzmodell gibt es in einer gegeben Situation S eine unmittelbare Aktivierung der Einstellung und damit die spontane und automatische Auslösung kognitiver und affektueller Reaktionen sowie des der Einstellung entsprechenden Verhaltens. Die Verbindung zwischen äußerer Situation und der sichtbaren Reaktion ist direkt und nicht durch irgendwelche Bewußtseinsleistungen unterbrochen. Das Modell erinnert an die S-R-Theorie des Verhaltens aus Abschnitt 6.1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, gemäß der ja schon das bloße Auftreten eines Reizes die entsprechende Reaktion reflexhaft auslöst. Demgegenüber ist bei der Theorie des überlegten Handelns die Verbindung zwischen der äußeren Situation und der sichtbaren Reaktion indirekt und durch eine, mehr oder weniger aufwendige, innere Reflexions- und Kalkulationsleistung des Organismus unterbrochen: Es müssen verschiedene Konsequenzen berechnet und bewertet und die Ergebnisse zu einer Intention zusammengeführt werden, aus der sich die Stärke der Handlungstendenz ergibt. Es ist eine überlegte und bewußte Reaktion, die an die Konzeption der S-O-R-Theorie des sinnhaftrationalen Handelns, nach der ein Reiz aus der Situation vom Organismus eigens einer reflexiven Bewertung unterzogen wird und wonach die Reaktion erst darauf und dann in Form einer kalkulierten „Entscheidung“ erfolgt. Die beiden Formen der „Einstellung“ erinnern damit deutlich an die in Kapitel 5 oben besprochenen Modi der Wahrnehmung und der Informationsverarbeitung: ohne oder mit Aufmerksamkeit, ohne oder mit Bewußtsein, ohne oder mit einer besonderen Suche nach neuen Daten. Und es stellen sich spätestens jetzt die Fragen: Wann kommt ein Akteur dazu, dem einen oder dem anderen Modus zu folgen? Wann trifft einmal das Konsistenzmodell und das andere Mal die Theorie des geplanten Verhaltens zu? Und vor allem: Warum?
Das MODE-Modell der Einstellung
Genau diese Fragen beantwortet das MODE-Modell der Einstellung, wie es Russell H. Fazio vorgeschlagen hat.12 Es geht um die Erklärung der Frage, wann das Verhalten eines Akteurs dem Konsistenzmodell der spontanen Reaktion oder dem Modell des überlegten Handelns folgt. 12
Russell H. Fazio, Multiple Processes by Which Attitudes Guide Behavior: The MODE Model as an Integrative Framework, in: Mark P. Zanna (Hrsg.), Advances in Experimental Social Psychology, San Diego u.a. 1990, S. 75-109. Vgl. auch: Russell H. Fazio, How Do Attitudes Guide Behavior?, in: Richard M. Sorrentino und E. Tory Higgins (Hrsg.), Handbook of Motivation and Cognition. Foundations of Social Behavior, Chichester u.a. 1986, S. 204-243; David M. Sanbonmatsu und Russell H. Fazio, The Role of Attitudes in
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Sinn und Kultur
Alles beginnt mit der Beobachtung bestimmter Objekte in einer Situation (vgl. Fazio 1990, S. 78ff.). Manche dieser Objekte haben vorab eine „Bedeutung“ für den Akteur: Sie zeigen ihm an, daß dies eine Situation ist, mit der er eine bestimmte Einstellung verbindet. Fazio nennt solche Objekte auch cues, Hinweise also auf bestimmte weitere Assoziationen, die der Akteur damit verbindet. Die entscheidende Variable ist dann die von Fazio so genannte attitude accessibility, die Zugänglichkeit einer bestimmten Einstellung im Gedächtnis des Akteurs bei der Beobachtung bestimmter Objekte oder cues. Vom Grad der attitude accessibility hängt dann alles weitere ab. Hier verzweigt sich der Prozeß in den Modus der automatischen Aktivierung der Einstellung und der spontanen Auslösung der dazu gehörenden Kognitionen, Affekte und verhaltensbezogenen Reaktionen gegenüber der reflexiven und kalkulierten Bildung einer Intention nach den Annahmen der Theorie des überlegten Handelns. Stimmen die cues mit einer gut zugänglichen Einstellung gut überein, ist also der Match von situationalen Objekten und verfügbarer Einstellung perfekt, dann werden zunächst alle weiteren Wahrnehmungen selektiv in Konsistenz zur Einstellung gelenkt. Und sofern es keine sonstigen Störungen gibt, etwa in Form gegenläufiger normativer Vorgaben, dann ist mit der Aktivierung der Einstellung und der selektiven Wahrnehmung aller anderen Objekte in der Situation auch die komplette Definition der Situation nach Maßgabe der Einstellung gegeben. Und die löst unmittelbar das dazu gehörende Verhalten aus. Über den Match der cues mit einer im Gedächtnis gespeicherten Einstellung kommt es also zur automatisch-spontanen kognitiven, affektiven und konativen Reaktion nach dem Konsistenzmodell – und somit zu einer engen Korrelation von Einstellung und Verhalten. Russell H. Fazio berichtet über ein von ihm durchgeführtes Experiment, das diese Zusammenhänge gut belegt (Fazio 1990, S. 87). Es sollten 10 Produkte, Süßigkeiten verschiedener Art, nach „like“ oder „dislike“ beurteilt werden. Dazu sollte jeweils ein spezieller Knopf gedrückt werden. Die Reaktionszeit für das Drücken der Knöpfe wurde als ein (objektiver) Indikator für die attitude accessibility den Produkten gegenüber gewertet. Dann sollten die Versuchspersonen die Produkte noch einmal auf einer 7-Punkte Skala bewerten. Und schließlich wurde ihnen angeboten, 5 der auf einem Tisch präsentierten Produkte als Entlohnung für ihre Mühe mitnehmen zu dürfen. Die
Memory-Based Decision Making, in: Journal of Personality and Social Psychology, 59, 1990, S. 614-622. Vgl. zu der grundlegenden Idee auch: Shelly Chaiken, Heuristic versus Systematic Information Processing and the Use of Source versus Message Cues in Persuasion, in: Journal of Personality and Social Psychology, 39, 1980, S. 752-766; Richard E. Petty und John T. Cacioppo, The Elaboration Likelihood Model of Persuasion, in: Leonard Berkowitz (Hrsg.), Advances in Experimental Social Psychology, Vol. 19, Orlando u.a. 1986, S. 123-205; Kenneth J. Dunegan, Framing, Cognitive Modes, and Image Theory: Toward an Understanding of a Glass Half Full, in: Journal of Applied Psychology, 78, 1993, S. 491ff.
Die „Einstellung“ auf die Situation
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Antworten auf den Skalen sollten die Einstellungen, die Mitnahme der Produkte das Verhalten messen. Es zeigte sich, daß die Korrelation zwischen Einstellung und Verhalten deutlich am stärksten bei denjenigen war, die die höchste attitude accessibility bei den Bewertungen hatten.
Der enge Zusammenhang von Einstellung und Verhalten beruht vor allem darauf, daß alles ohne jedes weitere Nachdenken, ohne irgendein Bewußtsein und ohne besondere Aufmerksamkeit und in einer, offenbar als Einheit empfundenen, Sequenz abläuft: „This entire sequence need not involve any deliberate reflection or reasoning. Instead, behavior simply follows from a definition of the event that has been biased by the automatically activated attitude. Neither the activation of the attitude from memory nor the selective perception component require conscious effort, intent, or control on the part of the individual. ... . Such an automatic process will operate only to the extent that a strong evaluative association has been established toward the attitude object.“ (Fazio 1990, S. 84f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Der perfekte Match und die automatische Aktivierung ist die eine Verzweigung. Die andere Verzweigung beginnt – logo – damit, daß der Match zwischen cues und attitude accessibility nicht perfekt ist. Im einfachsten Fall: Der Akteur verbindet mit den Objekten in der Situation keine besondere Einstellung und damit auch keine durch das Gedächtnis gesteuerte Wahrnehmung und Definition der Situation. Was nun? Nun sucht der Akteur, oft etwas verzweifelt, nach weiteren Hinweisen, die ihm helfen, die Situation zu „definieren“ und sich ihr entsprechend zu verhalten. Weil er aber in seinem Gedächtnis keinerlei Anhaltspunkt findet, hakt er sich an den nächstbesten, meist sehr vordergründigen Eindrücken ein, etwa das, was er zuerst sieht, oder Dinge, die irgendwie herausgehoben sind. Auch das zeigte sich in dem Experiment sehr schön (Fazio 1990, S. 87f.). Die 10 Produkte waren auf dem Tisch in zwei Reihen aufgebaut. Die Produkte in der ersten Reihe hatten dadurch eine höhere, wie Fazio es nennt, Salienz als die in der hinteren Reihe. Die Versuchspersonen mit einer hohen attitude accessibility ließen sich davon nicht beeinflussen: Sie nahmen die Produkte, für die sie bereits vorher eine klare Einstellung hatten. Das war anders bei den Versuchspersonen ohne besondere Einstellung: Sie nahmen deutlich eher die Produkte aus der ersten Reihe.
Die Wahrnehmung und die Definition der Situation sind bei einer geringen attitude accessibility also von den aktuellen Daten in der Situation bestimmt. Sie sind „data driven“ und nicht „theory driven“. Jetzt werden alle Hinweise benutzt, um eine irgendwie geartete Linie in die „Definition“ der Situation und in das Handeln zu bringen. Wir wollen diesen Vorgang des Versuchs einer „Deutung“ der zunächst undefinierten Situation als Interpretation bezeichnen. Es ist die genauere Untersuchung der Situation auf eventuelle Konsequenzen, die zuvor, bei der unmittelbaren Reaktion nach dem Match, überhaupt nicht interessiert hatten. Die Interpretation der Situation kann wiederum auf zweierlei Weise vor sich gehen: Entweder bleibt es bei der vordergründigen und rasch beendeten Suche nach Hilfshinweisen – oder aber der Akteur versucht, der Sache auf den Grund
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Sinn und Kultur
zu gehen und möglichst sorgfältig die verschiedenen Aspekte der Situation zu beurteilen und die eventuellen Konsequenzen eines bestimmten Tuns zu bewerten. Wir wollen die beiden Alternativen mit spontaner Interpretation und mit überlegter Interpretation bezeichnen. Die Art der Informationsverarbeitung bzw. der Interpretation einer Situation wird auch als Heuristik oder als Decision Strategy bezeichnet.13 In der einfachsten Form lassen sich zwei Extremfälle solcher Heuristiken unterscheiden: die systematische gegenüber der unsystematischen (oder auch: „heuristischen“) Nutzung der verfügbaren Informationen. Dabei wäre die systematische Nutzung in ihrer reinsten Form die zweckrationale Kalkulation der Konsequenzen, etwa nach den Regeln der WE-Theorie, und die am meisten unsystematische Nutzung irgendeine zufällige Reaktion – oder aber die „spontane“ Reaktion aufgrund der Aktivierung eines gedanklichen Modells. Es gibt zahlreiche Zwischenformen zwischen systematischer und unsystematischer Informationsverarbeitung. Beispielsweise: die Heuristik der Elimination by Aspects, die lexikographische Heuristik oder das Satisficing (vgl. Payne, Bettman und Johnson 1988, S. 536ff.). In der Strategie der Elimination by Aspects wird zuerst der am wichtigsten erscheinende Aspekt des Problems bestimmt, und dann werden alle die Alternativen gestrichen, bei denen dieser Aspekt einen bestimmten Mindestwert nicht erreicht. Bleiben danach mehr als eine Alternative übrig, geht es zum zweitwichtigsten Aspekt – und so weiter, bis es tatsächlich nur noch eine Alternative gibt. Bei der lexikographischen Heuristik wird zuerst auch der wichtigste Aspekt bestimmt. Auf diesen Aspekt werden dann alle Alternativen hin betrachtet. Es wird schließlich die Alternative gewählt, die auf dieser Dimension den höchsten Wert hat. Beim Satisficing schließlich werden alle Alternativen zunächst gleichzeitig betrachtet. Für jeden Aspekt des Problems gibt es einen Mindestwert, der überschritten werden muß, damit die Alternative überhaupt in Betracht kommt. Dann werden zunächst die Alternativen ausgeschlossen, die bei einem der Aspekte den Mindestwert unterschreiten. Die erste Alternative, die bei allen Aspekten über dem Mindestwert liegt, wird gewählt. Wenn keine der Alternativen den Mindestwert überschreitet, wird nach der Zufallsheuristik bestimmt.
Bei den verschiedenen Heuristiken gibt es einen wichtigen Zusammenhang: Je unaufwendiger die Heuristik ist, umso weniger ist sie geeignet, „neue“ und „wichtige“ Situationen „richtig“ zu bewerten. Es gibt einen payoff zwischen dem Ertrag der Informationsverarbeitung, also: der „Richtigkeit“ der Situationsdefinition, und dem dazu zu treibenden Aufwand. Am aufwendigsten, aber auch am korrektesten ist die zweckrationale Kalkulation nach der WE-Theorie. Und dann werden die Heuristiken jeweils in dieser Reihenfolge weniger aufwendig, aber auch weniger korrekt: Elimination by Aspects, lexikographische Heuristik, Satisficing, Zufallsreaktion (vgl. Payne, Bettman und Johnson 1988, S. 539ff.). Eine wichtige Ausnahme von dieser Regel gibt es: Auch das Handeln nach der automatischen Aktivierung einer verankerten Einstellung ohne jedes Nach13
Vgl. John W. Payne, Task Complexity and Contingent Processing in Decision Making: An Information Search and Protocol Analysis, in: Organizational Behavior and Human Performance, 16, 1976, S. 366-387; John W. Payne und James R. Bettman, Adaptive Strategy Selection in Decision Making, in: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory and Cognition, 14, 1988, S. 534-552.
Die „Einstellung“ auf die Situation
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denken ist sehr effizient, in dem gedanklichen Modell spiegelt sich ja die erfahrene Rationalität vergangener Problemlösungen (vgl. dazu bereits Kapitel 5 oben in diesem Band). Das gilt jedoch nur, wenn die Situation so ist, wie gewohnt. Dann ist das „unsystematische“ spontane Handeln genauso effizient wie die systematische WE-Kalkulation. Und der Aufwand dabei ist sehr gering. Es ist die Ökonomie des Alltagshandelns, das der kondensierten Weisheit vergangener Problemlösungen ohne Zögern und verlustfrei folgt. Eine ganz ähnliche Konzeption wurde im Zusammenhang der sog. Image-Theory von Lee Roy Beach und Terence R. Mitchell entwickelt.14 Der erste Schritt bei einer Entscheidung ist dabei ein Test auf Kompatibilität: Es wird geprüft, ob eine Alternative die Erwartungen für bestimmte, vorab bestehende „images“, hier: über das „Selbstbild“ einer Organisation, verletzt oder nicht. Dieser Test ist „simple and easy“, weil nur deutlich strukturierte Muster hinsichtlich einfach definierter Schwellenwerte der Abweichung verglichen werden. Mit der Feststellung der Kompatibilität ist die Alternative gewählt. Erst wenn dieser Test schief geht, wird genauer nachgesehen. Das ist der Test auf Profitabilität. Dieser Test wird jedoch nicht bedingungslos begonnen oder endlos weiter getrieben, sondern nur so weit, wie die Erträge aus der zusätzlichen Informationssuche den erforderlichen Aufwand der Überprüfung übersteigen.
Und so stellt sich die Frage: Wann kommt es zur spontanen und wann zur überlegten Interpretation? Drei Variablen sind nach dem MODE-Modell hierbei beteiligt: Motivation, Aufwand und Opportunitäten. Mit Motivation ist die Furcht vor einem Fehlurteil über die Definition der Situation und vor den damit unter Umständen verbundenen (Opportunitäts-)Kosten des Handelns gemeint. Wenn es sich um eine „low cost“-Situation handelt und um nichts weiter geht, dann ist es egal, ob ich – in dem Experiment von Fazio – das Mars aus der zweiten oder das Snickers aus der ersten Reihe nehme. Wenn es aber möglicherweise doch eine „high cost“-Situation ist, und ich nicht weiß, ob der freundliche Interviewer, der nach der Ausländerfeindlichkeit im Osten oder nach der Einstellung zu den Castortransporten fragt, wirklich ein harmloser Diener der Wissenschaft ist oder nicht vielleicht doch vom Verfassungsschutz kommt, dann prüfe ich doch lieber noch einmal, ob ich die Situation richtig einschätze: wissenschaftliches Interview oder verdeckte Überprüfung auf Staatstreue? Unter Aufwand sind alle Kosten der mit der „Definition“ der Situation verbundenen Bemühungen gefaßt: die Zeit, die für andere Verwendungen verloren geht, das, was ich für das Herausfinden der wirklich „richtigen“ Definition der Situation hergeben müßte, und, vor allem, die nicht geringen Anstrengungen der erhöhten Aufmerksamkeit und des bemühten und schlafraubenden Bewußtseins. Und mit den Opportunitäten schließlich sind die schieren Möglichkeiten
14
Vgl. Lee Roy Beach und Terence R. Mitchell, A Contingency Model for the Selection of Decision Strategies, in: The Academy of Management Review, 3, 1978, S. 439-449; Terence R. Mitchell und Lee Roy Beach, „... Do I Love Thee? Let Me Count ...“ Toward an Understanding of Intuitive and Automatic Decision Making, in: Organizational Behavior and Human Decision Processes, 47, 1990, S. 1-20. Vgl. zu weiteren Ansätzen in der ähnlichen Richtung die Übersicht bei: John W. Payne, James R. Bettman und Eric J. Johnson, Behavioral Decision Research: A Constructive Processing Perspective, in: Annual Review of Psychology, 43, 1992, S. 87-131.
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Sinn und Kultur
gemeint, die Situation sorgfältiger als bloß spontan zu interpretieren. Insbesondere der Mangel an Zeit zählt zu jenen Restriktionen, die auch bei hoher Motivation und relativ geringem Aufwand eine überlegte Interpretation verhindern.
Zu einer überlegten Interpretation kommt es nach dem MODE-Modell aber nur dann, wenn alle drei Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind: eine hohe Motivation, ein geringer Aufwand und reichliche Möglichkeiten der Reflexion und Kalkulation. Die Theorie des überlegten Handelns ist ein Spezialfall des Modells der überlegten Interpretation. Entsprechend „gilt“ dieses Konzept nur unter den genannten Umständen: Die attitude accessibility bzw. der Match zwischen cues und gespeicherter Einstellung müssen gering und die drei Bedingungen für eine überlegte Interpretation müssen gegeben sein. Sofern bei einem Mismatch bzw. bei einer nur geringen attitude accessibility auch nur die Motivation nicht genügend hoch ist oder der Aufwand die Sache nicht lohnend macht oder, natürlich, wenn es keine Opportunitäten gibt, dann unterbleibt die weitere Durchdringung der Situation. Es kommt dann „nur“ zur spontanen Interpretation mit dem Einhaken in vordergründige Aspekte der Situation, gegebenenfalls aber auch: zu einer rein zufallsgesteuerten Reaktion. In Abbildung 6.3 sind die drei Verzweigungen des MODE-Modells mit ihren jeweiligen Bedingungen skizziert. Russel H. Fazio hat mit dem hier etwas weiter systematisierten MODEModell der Einstellung einen wichtigen Schritt zur theoretischen Integration der Einstellungstheorie und zur Überwindung der alten Frage gemacht, welches Konzept denn das „richtige“ sei. Ihm ist zuzustimmen, wenn er sagt: Beide treffen zu, jedes aber nur unter bestimmten Umständen. Er beläßt es also nicht einfach bei der Aufzählung von „Typen“ des Handelns, wie das etwa noch Jon Elster tat, als er das normative vom rationalen Handeln unterscheiden wollte und meinte, daß diese beiden „Typen“ des Handelns grundsätzlich nicht aufeinander zu beziehen seien (vgl. dazu schon Abschnitt 6.7 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“):
258
Sinn und Kultur
und Opportunitäten) und der abhängigen Variable – die Geltung entweder des Konsistenzmodells eines automatischen S-R-Reagierens oder das Modell des überlegten rationalen S-O-R-Handelns. Aber weit ist es mit den Vorarbeiten von Fazio dahin nicht mehr. Das werden wir jetzt gleich in Kapitel 7 unten sehen.
Kapitel 7
Framing: Die Selektion des Bezugsrahmens
Das Handeln der Menschen folgt immer einer subjektiven „Definition“ der Situation. Darin ist Talcott Parsons mit seinem Konzept des unit acts und der Erweiterung der Elemente einer Situation um das Konzept einer „normative orientation“ wohl zuzustimmen. Aber es bleiben natürlich auch die anderen Elemente wirksam: die Ziele der Akteure, die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel und die „Bedingungen“, unter denen die Selektion des Handelns erfolgen muß. Die subjektive Definition der Situation erfolgt durch die Selektion eines kulturellen Bezugsrahmens, durch das sog. Framing. Es ist die Selektion einer Orientierung, die „Einstellung“ auf eine Situation. Die dabei wichtigen Prozesse und Konstrukte kennen wir inzwischen aus den Kognitions- und Einstellungstheorien: die objektiven Sinnesreizungen und die Strukturen des Gedächtnisses, die Symbole und die cues, die Neuheit und die Wichtigkeit der Situation, die Anreize, die Kosten und die Möglichkeiten der Reflexion von Folgen. Aber wie spielen die verschiedenen Vorgänge und Umstände ineinander? Und welcher Regel folgen die Selektionen? Die Antwort liegt eigentlich nahe: Wenn das Framing eine Selektion ist, dann müßte die WE-Theorie als allgemeine „Logik der Selektion“ im Prinzip auch darauf anwendbar sein. Das ist die Kernüberlegung bei der folgenden Modellierung der Selektion des Bezugsrahmens des Handelns bzw. des Framings einer Situation. Dieses Modell der Frame-Selektion führt alle diejenigen Bedingungen in einer expliziten Funktion zusammen, die Talcott Parsons in seinem Konzept des unit act nur als bedeutsam aufgezählt hatte. Und es bezieht die Vorgänge der symbolischen Interpretation nach George Herbert Mead, sowie die Besonderheiten des relevanzstruktur- und routinegeleiteten Alltagshandelns von Alfred Schütz und die Folgen von „Störungen“ einer Situation, wie sie Harold Garfinkel beschreibt, in die Modellierung und in den Selektionsvorgang ein.1 1
Die folgende Modellierung der Selektion des Bezugsrahmens über die (formalen) Regeln der WE-Theorie orientiert sich an Überlegungen zu einigen ähnlichen Problemstellungen
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Sinn und Kultur
Das Framing-Konzept geht von einigen grundlegenden Prozessen, Konstrukten und Zusammenhängen aus. Nichts davon ist wirklich neu, wenn Sie die „Speziellen Grundlagen“ einigermaßen kennen und insbesondere diesen Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ mit seinen ausführlichen Hinweisen auf einige Klassiker der soziologischen Kultur- und Handlungstheorie etwas genauer bis hierher gelesen haben. Alle diese kulturellen Vorgänge sind, wie inzwischen verstanden wird, in den Kognitionsund Einstellungstheorien der (kognitiven) Sozialpsychologie verankert, die wir in den Kapiteln 5 und 6 dieses Bandes gerade eben besprochen haben.2 Das Konzept ist auch nicht kompliziert, wenngleich in manchen Einzelheiten zunächst vielleicht etwas ungewohnt. Aber die Art der Modellierung der „Definition der Situation“ über das Framing ist sicher nicht ganz geläufig. Daher sind in den folgenden Abschnitten einige Erläuterungen und Vertiefungen notwendig, damit die „Logik“ des Konzeptes möglichst deutlich wird. Die aber sollen auch zeigen, daß der Vorgang des Framing und das hier vorgestellte Modell einer Handlungstheorie die wichtigen Einzelheiten auch der verschiedenen soziologischen Paradigmen und Theorien der Orientierung und des Alltagshandelns miteinander verbinden kann. und Vorgängen, die uns in verschiedenen anderen Teilen der „Speziellen Grundlagen“ schon begegnet sind, wie etwa die Plazierung von Vertrauen, das satisficing, die Affektkontrolle, die Zurückhaltung bei Revolutionen, das Verstehen und die Rezeption beim Vorgang der Kommunikation, die Koorientierung oder die Festlegung bzw. die Beibehaltung eines Anspruchsniveaus. Vgl. dazu u.a. die Abschnitte 7.2, 7.3, 8.3 und 8.4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, 8.1 und 8.3 in Band 3, „Soziales Handeln“, 7.5 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, und 3.3 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“. Vgl. zur inhaltlichen Uminterpretation der WE-Theorie dabei insbesondere noch den Exkurs über die „Rationalität“ bei der „Definition der Situation“ ganz am Schluß dieses Kapitels. 2
Vgl. zu diesen neuerdings auch explizit benannten Verbindungen von „Culture and Cognition“ bzw. von Kulturanthropologie bzw. Kulturssoziologie und der neueren kognitiven (Sozial-)Psychologie u.a. Paul DiMaggio, Culture and Cognition, in: Annual Review of Sociology, 23, 1997, S. 263-287; Bradd Shore, Culture in Mind. Cognition, Culture, and the Problem of Meaning, New York und Oxford 1996, insbesondere Kapitel 2: Rethinking Culture as Models, S. 42-71; Roy G. D’Andrade, Cultural Cognition, in: Michael I. Posner (Hrsg.), Foundations of Cognitive Science, Cambridge, Mass., und London 1989, S. 795830; Roy G. D’Andrade, Schemas and Motivation, in: Roy G. D’Andrade und Claudia Strauss (Hrsg.), Human Motives and Cultural Models, Cambridge u.a. 1992, S. 23-44; Roy G. D’Andrade, The Development of Cognitive Anthropology, Cambridge u.a. 1995. Siehe dazu auch schon das Kapitel 8 in Band 5, “Institutionen”, dieser “Speziellen Grundlagen“ über „Soziale Drehbücher“. Normalerweise bleiben im sog. kultursoziologischen Diskurs diese Verbindungen zu „erklärenden“ Ansätzen auch neuerdings nur sehr implizit, wenn sie denn überhaupt gesehen oder für möglich gehalten werden; vgl. etwa Andreas Reckwitz, Der Status des ‚Mentalen‘ in kulturtheoretischen Handlungserklärungen. Zum Problem der Relation von Verhalten und Wissen nach Stephan Turner und Theodore Schatzki, in: Zeitschrift für Soziologie, 29, 2000, S. 167-185.
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7.1 Framing: Die grundlegenden Vorgänge Das Framing beginnt mit der Beobachtung der in der Situation objektiv vorhandenen Objekte bzw. deren Eigenschaften. Die Objekte werden zunächst physisch wahrgenommen. Im Prozeß der Kognition aktiviert und „konstruiert“ das Gehirn danach ein im Gedächtnis des Akteurs gespeichertes mentales Muster, ein bestimmtes inhaltliches Modell der Situation, also. Dieses gedankliche Modell ist der Frame der Situation. Es ist, wie wir in Kapitel 2 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ gesagt haben, ein kulturelles System. Es bildet die Grundlage der Orientierung des Akteurs bzw. des psychischen Systems in der Situation und seiner „Einstellung“ darauf, und es dient dadurch – unter anderem – der relativ reibungslosen sozialen Konstitution der sozialen Systeme (vgl. dazu auch noch Kapitel 12 unten in diesem Band). Mit der Orientierung an einem Frame ist das Handeln aber noch nicht bestimmt. Erst wird noch gedanklich geprüft, ob es ein im Reaktionsrepertoire gespeichertes inhaltliches Modell auch des Handelns für den betreffenden Frame der Situation gibt. Dieses gedankliche Modell ist das Skript des Handelns. Die Selektion der Modelle für Situation und Handeln, von Frame und Skript also, kann dabei in einem jeweils unterschiedlichen Modus geschehen: mit oder ohne systematische Beachtung von Folgen des Handelns, allein vergangenheitsbestimmt oder konsequenzenorientiert also. Zu welchem Modell und zu welchem Modus der Orientierung es kommt, ist in erster Linie von der „Passung“ der in der Situation beobachteten Objekte und den im Gedächtnis für das Modell gespeicherten Erwartungen abhängig, vom Match zwischen vorhandenen und erwarteten „Symbolen“ also. Bei einem perfekten Match gibt es keinerlei weitere gedankliche Aktivitäten. Liegt dagegen ein Mis-Match vor, dann beginnt das Gehirn – unwillkürlich – mit unspezifischen inneren Aktivitäten der Informationssuche, die dann evtl. – nach den nun darzustellenden Selektionsregeln – zu einer Änderung in der „Wahl“ des Modus oder des Modells führen. Das Matching und die damit verbundene innere Suche nach Informationen und die evtl. Einleitung einer Änderung von Modell und Modus sind dabei ein Vorgang, den der Akteur nicht unter Kontrolle hat (vgl. dazu auch noch den Exkurs über die „Rationalität“ bei der „Definition der Situation“ unten in diesem Band). Modell- und Modus-Selektion von Frame und Skript führen über die Prozesse der Beobachtung, der Kognition und der Orientierung dann zusammen zu einer jeweils typischen Art der „Einstellung“ auf die Situation: die Einstellung nach dem Konsistenz-Modell der Einstellungstheorie mit der unmittelbaren Auslösung von Kognition, Affekt und Handeln; oder die Bildung einer In-
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tention gemäß der Theorie des überlegten bzw. des geplanten Handelns. Dabei sind auch verschiedene Kombinationen möglich, je nachdem wie der Modus bei der Frame- oder der Skript-Selektion aussieht (vgl. dazu auch noch Abschnitt 7.5 unten näher). Erst jetzt kommt es, wenn überhaupt, zum eigentlichen sichtbaren Handeln. Es ist „nur“ noch die motorische Ausführung der zuvor gebildeten „Einstellung“ zur Situation. Aber auch das ist keine ganz und gar unproblematische Angelegenheit, wie wir alle leider wissen, deren Vorstellungen und Pläne nicht immer mit dem übereinstimmen, was tatsächlich geschieht, weil, beispielsweise, der Frame zwar willig, die Muskeln aber zu schwach waren an der Kraftmaschine.
Gedankliche Modelle der Situation: Frames und Skripte Frames und Skripte sind im Gedächtnis gespeicherte, mit spezifischen Inhalten verbundene, die „Wirklichkeit“ drastisch vereinfachende und auf gewisse Aspekte zuspitzende gedankliche Modelle von typischen Situationen bzw. von typischen Handlungssequenzen. Diese vereinfachenden gedanklichen Modelle werden gelegentlich auch als mental model, image, prototype, Situations-, Interpretations- oder Signifikationsschema, Interpretationskonstrukt, Leitcode, weltschaffende Unterscheidung, Orientierung, kollektives Wissensmuster, Mentalmodell, Weltbild, Gestalt, mentale Repräsentation, Attitüde oder Stereotyp einerseits bzw. als Routine, standard operating procedure, Trajektorie, Handlungsschema, habit oder Habitus andererseits bezeichnet. Es sind die „kollektiven Repräsentationen“, die „Werte“ bzw. die habitualisierten „Traditionen“ oder „Mentalitäten“, die die Identitäten der (einzelnen) Akteure, wie sie – insofern sie von den Akteuren geteilt werden – die Kultur einer Gruppe, eines Handlungsfeldes oder einer Gesellschaft ausmachen. Es sind die kulturellen Systeme also, die bei der (Ko-)Konstitution der psychischen und sozialen Systeme als Verbindungsglieder fungieren und dabei selbst ihrerseits immer wieder als „Akteursfiktionen“ neu konstituiert werden (vgl. dazu bereits Abschnitt 27.3 in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“, Kapitel 1 und 5 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, Kapitel 2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, Abschnitt 8.3 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie die Einleitung und Kapitel 1 oben und noch Kapitel 12 unten in diesem Band). Soziale Normen und vor allem die sozialen Rollen sind die wichtigsten institutionellen Grundlagen der Frames und der Skripte (vgl. dazu bereits die Kapitel 3 und 7 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
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Ein Frame enthält dabei in typisierter Form die spezielle inhaltliche Definition der Situation, insbesondere aber das Oberziel, um das es in der betreffenden Situation geht. Das Oberziel definiert den funktionalen, kulturellen oder normativen Code des Frames (vgl. dazu bereits Abschnitt 6.7 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie Kapitel 3 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Der Code legt damit die Bewertungen von möglichen Handlungsergebnissen und somit eine bestimmte Präferenzordnung fest. Das Framing bedeutet damit die Selektion einer auf die spezielle Situation bezogenen Präferenz. Der Code eines Frames hängt dabei insbesondere von der „Verfassung“ eines Kollektivs, von den Festlegungen der sozialen Produktionsfunktionen also, ab (vgl. dazu bereits Kapitel 3, 4 und 12 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Er folgt den darüber bestimmten primären Zwischengütern. Je nachdem also: den grundlegenden Interessen der Akteure, den jeweils geltenden funktionalen Imperativen einer gesellschaftlichen Sphäre, den kulturellen Fokalobjekten oder den normativen Vorgaben, um die es in einem Kollektiv geht:3 Borstenvieh und Schweinespeck beim Schweinezüchter, die Wahrheit in der Wissenschaft, Siege bzw. Rekorde beim Sport oder Guildo Horn und Stefan Raab, eine Zeit lang wenigstens, im Milieu der Viva-Generation – beispielsweise. Ein Skript beschreibt in ähnlicher Weise die typischen, am Code des Frames orientierten, inhaltlichen Abläufe und Verzweigungen für ganze Bündel und Sequenzen von Handlungen (vgl. dazu bereits Abschnitt 8.1 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Es ist das Programm des Handelns innerhalb eines bestimmten Frames. Das Programm enthält die auf die Situation bezogenen typischen Erwartungen und Alltagstheorien über die typische Wirksamkeit typischer Mittel. Auch die sind über die sozialen Produktionsfunktionen strukturiert. Sie folgen den materiellen, institutionellen und kulturellen Festlegungen für die indirekten Zwischengüter und den darin eingespielten Gewohnheiten: die Routinen der Schweinezucht und der etwas rauhe Habitus des Umgangs mit den Kunden von den Schlachthöfen; die etablierten Regeln der Wahrheitsfindung und die eingespielten Umgangsweisen der Forscher in der Normalwissenschaft; die Trainingsmethoden und strategischen Schachzüge beim Sport; oder die Rituale des augenzwinkernden Kultes 3
Vgl. zu dieser (auch) ressourcen- und interessenorientierten Verankerung kultureller Orientierungen und ihrer strategischen Bedeutung für die Sicherung oder den Ausbau der eigenen (Macht-)Position insbesondere Ann Swidler, Culture in Action: Symbols and Strategies, in: American Sociological Review, 51, 1986, S. S. 276ff.; oder Andreas Wimmer, Kultur. Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen Grundbegriffs, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48, 1996, S. 407ff.
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um Guildo Horn, Stefan Raab und den guten alten deutschen Schlager, einschließlich der gelegentlich darin eingestreuten Ausbrüche von kalkulierter Spontaneität – zum Beispiel.
Binäre Codierung Es gibt unendlich viele Modelle der Definition der Situation und von sozialen Drehbüchern – so viele wie es gesellschaftliche Gruppierungen, funktionale Sphären, kulturelle Milieus und Norm- bzw. Devianzbereiche gibt. Sie sind auch historisch stets neu, allein weil es immer neue Formen der funktionalen, der kulturellen und der normativen Differenzierung gibt. Siehe: Guildo Horn, den bis vor kurzem wirklich niemand als Fokalobjekt der Kultur unseres Landes kannte, der es dann eine kurze Zeit lang ganz heftig war – und heute kennt ihn fast niemand mehr. Bei der Modell-Selektion, sei es Frame oder Skript, geht es aber immer nur um zwei Alternativen: Ein gedankliches Modell i in Differenz zu dem nächst plausibelsten gedanklichen Modell j. „Plausibel“ heißt dabei: Das Modell erscheint als das „wahrscheinlich“ naheliegendste angesichts der erkennbaren Objekte in der Situation, die als Hinweise für ein bestimmtes Modell wahrnehmbar sind – als cues oder als Symbole also. Alle anderen denkbaren Modelle bleiben – einstweilen wenigstens – im Hintergrund der, wie Alfred Schütz sagt, offenen Möglichkeiten. Die ModellSelektion vollzieht sich also immer nur als zunächst symbolgesteuerte Selektion in binären Codierungen bzw. Programmen: ein Frame i gegen einen Frame j, ein Skript k gegen ein Skript l – je nachdem, was die erkennbaren „Zeichen“ nahelegen. Es wird also davon ausgegangen, daß immer nur Paare von einander ausschließenden Alternativen zur Wahl stehen und daß es damit gedanklich verbundene Objekte in einer Situation gibt, die vorhanden sein „müssen“, damit die Akteure sicher sein können, daß die jeweilige Alternative „gilt“ oder nicht, die Symbolisationen der gedanklichen Modelle bzw. der kulturellen Systeme also. Diese Annahme hat einen einfachen Grund: Ihre Funktion als Vereinfachung können die gedanklichen Modelle nur dann haben, wenn sie wirklich deutlich vereinfachen und wenn sie mit ganz bestimmten „typischen“ Objekten verbunden sind – und mit anderen eben nicht. Die Aktivierung eines binär codierten Paares von Alternativen für die Beurteilung einer Situation und die Selektion aus nur zwei Alternativen ist die denkbar simpelste. Aber zwei Alternativen müssen es dann doch schon sein; es soll ja eine „Selektion“ bleiben. Beispiele für solche binäre Codierungen und Programme für bestimmte Situationen wären die Definition einer sozialen Beziehung als „Freund vs. Feind“ oder die eines Handelns als „Egoismus vs. Altruismus“. Und die allereinfachste Form einer solchen vereinfachenden binären Codierung ist natürlich die bloße „Negation“ eines bestimmten Frames. Auf sie greifen die Akteure dann zurück, wenn sie keine „bestimmte“ Alternative sehen. Nicht zuletzt Niklas Luhmann hat diesen Gedanken in seiner soziologischen Systemtheorie benutzt und für die Soziologie bekannt gemacht, etwa im Rahmen seines Konzepts der „binären Schematismen“
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für das Handeln und die Kommunikation (vgl. dazu auch schon Kapitel 27 in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Auch die pattern variables von Talcott Parsons knüpften an diese „zweiwertige Logik“ der Codierung von Situationen an, und Luhmann hat sich nicht nur in dieser Beziehung von Parsons leiten lassen.
Es gibt aber auch verläßlichere Belege für die Triftigkeit dieser Annahme als Parsons, Luhmann und die übrige soziologische Systemtheorie. Für den „dyadischen Instinkt“, sich die Welt (zunächst) in einfachen binären Schematismen gedanklich und emotional zurechtzulegen, zu „reifizieren“ und zu ordnen, gibt es eine Reihe von gut belegten kulturanthropologischen, ja fast schon: biologisch-evolutionären Hinweisen, die der Soziobiologe Edward O. Wilson etwa so zusammengefaßt hat: „Reifikation ist der schnelle und einfache mentale Algorithmus, um Ordnung in einer Welt zu schaffen, die ansonsten unbegreiflich und überwältigend detailreich wäre. Eine Ausdrucksform davon ist der sogenannte dyadische Instinkt, also die Tendenz, Zweierbündnisse einzugehen oder duale Klassifizierungen vorzunehmen, um wichtigen sozialen Ordnungsstrukturen zu begegnen. Alle Gesellschaften teilen Menschen in In- und Out-gruppen ein, Kinder versus Erwachsene, Verwandte versus Nichtverwandte, Verheiratete versus Singles, und Handlungen in geheiligt versus profan, gut versus böse. Sie verstärken die jeweilige Grenze mit Tabus und Ritualen. Um von der einen Gruppe in die andere wechseln zu können, bedarf es diverser Initiationsriten, einer Hochzeit, Segnung, Ordination oder anderer kulturspezifischer Wandlungsrituale.“4
Zur „Wahl“ stehen in einer konkreten Situation also subjektiv immer nur zwei gedankliche Modelle aus der unendlichen Vielfalt der „wirklich“ vorhandenen: dasjenige, das sich angesichts der erkennbaren Umstände am ehesten „anbietet“, und das dazu nächst-plausibelste, jedoch im Inhalt und insbesondere im Oberziel dazu unterschiedliche Modell, im einfachsten Fall also, wie gesagt, lediglich die „Negation“ des gerade wahrscheinlichsten Frames: Wahrheit oder Unwahrheit, Haben oder Nichthaben, Liebe oder keine Liebe, zum Beispiel. Sie alle, auch die einstweilen im Hintergrund bleibenden, sind jedoch im Prinzip vorhanden: Sie sind – mitsamt den daran hängenden Erwartungen, Bewertungen und emotionalen Assoziationen – als „offene“ Möglichkeiten in den Gedächtnissen der Akteure abgespeichert und machen deren Identität aus (vgl. dazu schon Kapitel 1 und 5 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie die Kapitel 8 und 9 unten in diesem Band). Aber sie sind eben nicht alle immer auch aktiviert. Das geschieht erst durch den Vorgang, um den es hier geht – das Framing. Es ist die Überführung der offenen in „problematische“ Möglichkeiten, wenn man hier wieder auf die Terminologie von Alfred Schütz zurückgreifen möchte. 4
Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, Berlin 1998, S. 206. Vgl. dazu auch noch Abschnitt 11.4 unten diesem Band.
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Der Modus der Informationsverarbeitung Die Modelle für Frames oder Skripte werden auf unterschiedliche Arten der Informationsverarbeitung selegiert. Das ist der Modus, die Heuristik bzw. die Entscheidungsstrategie bei der Selektion der gedanklichen Modelle für die Frames und die Skripte. Das kann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen, wobei hier besonders der Grad interessiert, in dem die verfügbaren Informationen „systematisch“ bzw. „elaboriert“ genutzt werden, nach latenten Informationen im Gedächtnis gesucht oder aber auch „entschieden“ wird, jetzt erst einmal eine Suchphase einzuschalten, ob es nicht ganz neue, bisher vollkommen unbekannte und auch nicht latent gespeicherte Aspekte gibt, ehe die endgültige Selektion eines Frames, eines Skriptes oder auch einer einzelnen Handlung erfolgt. Die verschiedenen Arten der (mehr oder weniger elaborierten) Informationsverarbeitung werden auch als Heuristiken bezeichnet, von denen es eine ganze Reihe gibt (vgl. dazu schon Kapitel 6 oben in diesem Band). Sie unterscheiden sich dabei nicht nur im Grad der Elaboration, sondern, interessanterweise, gleichzeitig auch im Aufwand an Gehirnaktivität, der mit ihnen verbunden ist: Je elaborierter ein Modus, um so „teurer“ ist er auch. Kaum verwunderlich in unserer Welt der Knappheiten. Aber es gibt auch Vorteile, so ist zu vermuten: Je elaborierter die Informationsverarbeitung ist, um so „angemessener“ sollte sie auch sein. Das stimmt, wieder: interessanterweise, auch. Und die Folge: Es gibt einen payoff zwischen dem Grad der Elaboration hinsichtlich der Kosten einerseits und der Zugewinne an „Angemessenheit“ des schließlichen Tuns. Der Einfachheit halber seien im Folgenden nur zwei Modi bzw. zwei Heuristiken der Entscheidung unterschieden: die spontan-automatische Aktivierung eines gedanklichen Modells ohne besondere Berücksichtigung von Konsequenzen und die reflexiv-kalkulierte Bildung einer „Intention“ mit dem Versuch, dabei möglichst systematisch die Konsequenzen des Handelns zu bedenken. Es sind, sozusagen, die beiden Extrempole des Handelns, wie sie mit dem behavioristischen S-R-Konzept einerseits und mit dem S-O-R-Konzept des „rationalen“ Handelns andererseits beschrieben sind (vgl. dazu auch schon Kapitel 6 und 9 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
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Vier Konstrukte, vier Selektionen Zur Selektion stehen also Modelle für Frames und Skripte jeweils in verschiedenen Modi der Informationsverarbeitung. Die Selektion des Bezugsrahmens ist damit das Ergebnis einer zweifachen Selektion auf zwei Ebenen: die Bestimmung je eines Modells für den Frame der Situation und für das Skript des Handelns; und die Selektion des Modus, in dem die Bestimmung der Modelle des Frames und des Skriptes dabei jeweils vor sich geht. Wir wollen sie mit Frame-Modell und Frame-Modus, mit Skript-Modell und Skript-Modus bezeichnen. Alle vier Konstrukte müssen vom Akteur beim Framing geprüft, bewertet und selegiert werden, bevor es zum konkreten sichtbaren Handeln kommt. Und eine solche Prüfung findet auch dann statt, wenn sie dem Akteur keinerlei Mühe bereitet oder sie auch ganz automatisch und unbewußt verläuft. Das hört sich komplizierter an, als es normalerweise ist. Für das Alltagshandeln liegen in aller Regel gut zugängliche und über „signifikante“ Zeichen in der Situation leicht identifizierbare Frames und Skripte vor. Sie werden praktisch gleichzeitig mit der Beobachtung der Objekte und ohne jedes weitere Nachdenken aktiviert. Gleichwohl können die Selektionen auch ganz anders aussehen. Ein Frame kann automatisch aufgerufen werden, aber es mag kein fertiges Skript dafür geben, so daß jetzt nachgedacht und über das Handeln immer wieder neu „entschieden“ werden muß – wie bei dem Katholiken, der längere Zeit nicht mehr in der Kirche war und die neue Liturgie nicht mehr mitbekommen hat. Oder der Frame ist nicht sicher, und man denkt die ganze Zeit darüber nach, was hier eigentlich vorgeht. Aber für jeden der alternativen Frames hätte man ein fertiges Skript parat – wie bei dem katholischen Touristen aus Mainz, der nicht genau erkennen kann, ob der grotesk-pompöse Umzug vor dem Kölner Dom zum Karneval oder zu einem Hochamt gehört, aber jeweils genau wüßte, was zu tun ist, wenn die Situation erst einmal „definiert“ wäre (vgl. dazu auch noch die Abschnitte 7.3 und 7.5 unten in diesem Band).
Der Vorgang des Framing läßt sich dann wie in Abbildung 7.1 als Sequenz der Selektion von Frame-Modell und Frame-Modus und von Skript-Modell und Skript-Modus, sowie der Bildung einer Einstellung zur Situation, von der dann das motorische Handeln ausgeht, schematisch zusammenfassen. Das Schema benennt die grundlegenden Prozesse und Konstrukte, aber noch nicht die Regeln, nach denen Modell und Modus jeweils für Frame und Skript sowie die „Einstellung“ auf die Situation selegiert werden. Es ist – wie im Grunde auch noch das MODE-Modell von Russell H. Fazio (vgl. dazu bereits das Kapitel 6 gerade oben in diesem Band) – nur eine grobe Orientierungshypothese, aber noch keine Erklärung der Definition der Situation und des daran anschließenden Handelns. Und warum nicht? Na klar: Weil bislang kein „Gesetz“ genannt wurde, das die diversen Pfeile verbinden könnte.
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Bevor wir mit der Modellierung der Prozesse bei der Frame-Selektion in der Sprache der WETheorie beginnen, ist eine Bemerkung zu einem eher grundsätzlichen Problem erforderlich, das zu gewissen Mißverständnissen Anlaß geben könnte. Zwar ist die WE-Theorie formal eine Variante der Theorien des „rationalen“ Handelns, sie muß aber für ihre Verwendung zur Erklärung gewisser Selektionen substantiell nicht in dem Sinne verstanden werden, daß die Akteure irgendwie „bewußt“ kalkulieren oder „perfekt“ informiert sein müßten und sich stets an Erwartungen oder Bewertungen über eine bestimmte Zukunft orientieren. Hier wird vielmehr davon ausgegangen, daß menschliche Akteure die Welt ohnehin nicht so sehen (können), wie sie in ihrer komplexen Vielfalt „ist“, sondern immer nur über gewisse mentale Vereinfachungen und „Repräsentationen“, die sie in ihrer Identität gespeichert haben. Diese Vereinfachungen machen einen Teil der „begrenzten“ Rationalität der Akteure aus. Die in mentalen Modellen bzw. kulturellen Systemen strukturierte Identität der Akteure, ist dann der substantielle Kern des Framing-Konzeptes im Anschluß an die Anerkennung der bounded rationality der Menschen. Die Identität – als Satz der gespeicherten Modelle der Orientierung und des Handelns – ist das in der Situation, wenigstens momentan, vorhandene latente Repertoire an Frames – und sei es auch nur im Rahmen des unthematisierten Hintergrundes der offenen Möglichkeiten im Sinne von Alfred Schütz. Innerhalb dieser Vereinfachungen sind gewisse Erwartungen und Bewertungen über die diversen Alternativen dann jedoch sehr wohl vorhanden und im Gedächtnis abgespeichert, wenngleich nicht immer auch aktiviert. Insofern „können“ die Akteure durchaus auch die Parameter in die nun folgenden WE-Gleichungen einsetzen – wenn sie dazu einen Anlaß haben. Die Akteure wissen, sozusagen, daß es in ihrem Haushalt Kochbücher mit den guten Rezepten gibt, aber sie suchen nicht immer danach, sondern nur, wenn sie sie wirklich brauchen. Die diversen „Entscheidungen“ nach den WEGleichungen sind dann (in der Regel) auch keineswegs „bewußte“ Vorgänge, sondern es wird angenommen, daß die Akteure nach diesen Regeln einfach „funktionieren“. Warum sie das tun ist – leider – noch nicht richtig geklärt, obwohl inzwischen die Neurophysiologie und die Evolutionsbiologie eine Reihe von Mechanismen haben benennen können, aus denen heraus ganz gut erklärt werden kann, warum – beispielsweise – das Gehirn erst dann „aktiv“ wird, wenn es um neue und wichtige Dinge geht, wenn also p mal U in der Situation für eine bestimmte Reaktion einen gewissen Betrag erreichen (vgl. dazu auch schon Kapitel 5 oben in diesem Band). Der zentrale Mechanismus bei der Frame-Selektion ist vielmehr ein nichtkontrollierbarer Vorgang: die „Mustererkennung“ und die „Passung“ der vom Gehirn in einem mentalen Modell für eine typische Situation „erwarteten“ Objekte mit den tatsächlich von den Sinnesorganen wahrgenommenen Informationen darüber. Diese Mustererkennung kann dann aber „wie“ eine Erwartung modelliert werden: als zwischen null und eins variierender Parameter der jeweils erkannten Einschätzung darüber, daß die Situation einem bestimmten Modell entspricht oder nicht. Kurz: Es wird zwar mit der WE-Theorie ein Handlungsmodell herangezogen, das üblicherweise für „bewußtes“ Handeln und auf die Zukunft bezogene Erwartungen und Bewertungen vorgesehen wird. Sie läßt sich aber, wie wir auch noch näher sehen werden, durchaus auch auf „Selektionen“ anwenden, die keine „Entscheidungen“ im üblichen Sinne der „rationalen Wahl“ sind (vgl. dazu im übrigen auch schon Abschnitt 8.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie – insbesondere – den gleich nach Abschnitt 7.3 unten diesem Band folgenden Exkurs über die Frage, wie es denn möglich wäre, daß man sich entscheiden kann, nicht zu entscheiden, und auch noch den Exkurs über die „Rationalität“ bei der „Definition der Situation“ im Anschluß an Abschnitt 7.8 unten in diesem Band).
Die folgenden Überlegungen gelten für die Selektion der Frames wie der Skripte gleichermaßen, denn die Vorgänge der Modell- und der ModusSelektion für die Frames und die Skripte sind formal jeweils gleich. Das vereinfacht die Darstellung ein wenig.
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Modell-Selektion Das Framing einer Situation besteht also aus der „Selektion“ eines bestimmten gedanklichen Modells der Orientierung. Zur „Wahl“ stehen, wie wir oben in Abschnitt 7.1 bereits ausführlich begründet haben, stets nur zwei Alternativen: ein Modell i gegenüber einem dazu ausschließlichen Modell j. Die Selektion eines Modells i in „Differenz“ zu einem Modell j meint dann: Das alternative Modell hat einen anderen Code und ein anderes Oberziel bzw. ein anderes Programm. Daher können sich die Modelle in ihrer Geltung auch nicht „überschneiden“. Sie stehen, gewissermaßen, orthogonal zueinander. Und die Frage ist dann: Wann wird das Modell j dem Modell i vorgezogen? Die Selektion eines bestimmten Modells folgt, wenn wir die Regeln der WE-Theorie anwenden, im Grunde wieder nur zwei Größen: den Erwartungen über die „Geltung“ des einen oder des anderen Modells einerseits, und den Bewertungen gewisser Folgen, wenn den Vorgaben des einen oder des anderen Modells in der Situation tatsächlich im sichtbaren Handeln entsprochen würde. Die Erwartungen über die Geltung eines Modells lassen sich einfach bestimmen. Sie folgen dem Grad des Matches der erkennbaren Objekte in der Situation mit den im Gedächtnis gespeicherten gedanklichen Modellen. Ist der Match für ein Modell mit den Objekten der Situation perfekt, dann ist die über den Grad des Matches bestimmte Erwartung über die „Geltung“ des Modells gleich eins. Da sich die gedanklichen Modelle gegenseitig ausschließen, sind die Erwartungen für die Geltung der Modelle komplementär und addieren sich jeweils zu eins: Wenn das Modell i mit dem Match m gilt, dann gilt das Modell j mit der Erwartung (1-m). Bei einem perfekten Match des Modells i (mit m=1) wäre die Erwartung für die Geltung des Modells j also gleich null – und umgekehrt. Der Match m setzt sich dabei aus drei Komponenten zusammen, die multiplikativ verknüpft sind: die Zugänglichkeit a des gedanklichen Modells in der Identität des Akteurs, die Existenz e der damit assoziierten Objekte in der Situation und die Abwesenheit von „Störungen“ u bei der Beobachtung der Objekte. Es gilt also: m=a⋅e⋅u. Die drei Bedingungen können als Variablen angesehen werden. Entsprechend kann sich der Match für ein bestimmtes Modell durch das Fehlen eines zugänglichen Modells, das Fehlen der dafür „signifikanten“ Objekte oder durch Störungen der Situation auch bei anwesenden Objekten verringern. Und im gleichen Maße würde sich das dazu nächst-„passende“ Modell aufdrängen.
Der Grad des Matches m bzw. (1-m) eines zugänglichen gedanklichen Modells mit den beobachteten Objekten sei dann als die Modell-Geltung bezeichnet. Die Bewertungen der Konsequenzen bei einer Orientierung an Modell i bzw. j werden über die Nutzenterme Ui bzw. Uj wiedergegeben. Zu den Bewertungen gehören alle Aspekte an „Nutzen“ und „Kosten“, die der Akteur
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mit der Aktivierung eines gedanklichen Modells assoziativ erlebt, diejenigen, die unmittelbar mit den inneren Empfindungen und Affekten dabei verbunden sind, aber auch diejenigen, die er als Folgen des Handelns im betreffenden Rahmen erwartet. Es wird zur Vereinfachung der Modellierung und der noch folgenden graphischen Darstellungen in der Regel davon ausgegangen, daß Ui und Uj nur Werte größer als null annehmen. Die Bewertungen Ui und Uj seien dann als der Modell-Nutzen der jeweiligen Modelle bzw. kulturellen Systeme bezeichnet. Aus diesen Annahmen lassen sich die EU-Gewichte für die Selektion der Modelle i und j bestimmen: Die Wert-Erwartung für die Selektion eines Modells i besteht aus dem für das Modell i im Grade der Modell-Geltung m erwarteten Modell-Nutzen Ui, die Wert-Erwartung für das dazu komplementäre Modell j entsprechend aus dem mit (1-m) erwarteten Modell-Nutzen Uj: EU(i) = mUi EU(j) = (1-m)Uj. Entsprechend den Regeln der WE-Theorie wird in einer gegebenen Situation dann dasjenige Modell aktiviert, bei dem das EU-Gewicht höher ist.
Modus-Selektion Für die Modus-Selektion werden (vereinfachend) die beiden Alternativen der automatisch-spontanen Reaktion (as-Modus) und der reflexiv-kalkulierenden Überlegung (rc-Modus) angenommen (siehe dazu bereits oben Abschnitt 7.1 in diesem Band). Wovon hängt nun aber die Selektion des einen oder des anderen Modus ab? Die Umstände für die Selektion der verschiedenen Modi, Heuristiken bzw. Entscheidungsstrategien sind u.a. mit dem MODE-Modell von Russell H. Fazio gut geklärt (vgl. dazu schon Kapitel 6 oben in diesem Band ausführlich, insbesondere die Abbildung 6.3): Gibt es ein gut zugängliches gedankliches Modell und passen die erkennbaren Einzelheiten der Objekte der Situation perfekt zu diesem Modell, dann erfolgt die automatisch-spontane Aktivierung des entsprechenden gedanklichen Modells ganz ungebrochen. Bei einem Mismatch zwischen erkennbaren Objekten und gedanklichen Erwartungen, bei erkennbar wichtigen Angelegenheiten und bei sonstigen „Störungen“ der gewohnten Abläufe ist diese automatische Aktivierung unterbrochen. Jeder Mismatch erzeugt, automatisch und unkontrollierbar, zunächst eine gewisse Irritation und unspezifische Aufmerksamkeit des Gehirns (vgl. dazu auch schon die Kapitel 4 bis 6 oben in diesem Band). Damit ist die – mehr oder weniger: angestrengte – Suche nach intern gespeicherten Informationen zur „Erklärung“ der Störung verbunden. Und im Zuge dieser internen Aktivitäten werden die bis dahin latenten Informationen aktiviert: die Bewertung der Alternative und die Möglichkeiten und die Kosten für weitere Aktivitäten, um das aufgetretene Problem zu lösen. Was nach dieser internen Aktivierung nun weiter ge-
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schieht, ist – im Anschluß unmittelbar an das MODE-Modell von Russel H. Fazio – von drei Bedingungen abhängig. Nämlich: Motivation, Aufwand und Opportunitäten. Je höher die Motivation, zu einem tatsächlich und nicht nur fiktiv „situationsgerechten“ Frame bzw. Skript zu kommen, je geringer der dazu erforderliche Aufwand und je höher die zur Verfügung stehenden Opportunitäten sind, umso eher kommt der reflexiv-kalkulierende rc-Modus zum Zuge. Ansonsten wird – damit immer noch im as-Modus – eine ganz unsystematische Heuristik, die vordergründige spontane „Interpretation“ der Situation, im Extremfall die hilflose Zufallsreaktion, selegiert (siehe dazu auch noch den Exkurs über die Frage, wie es denn möglich wäre, sich zu entscheiden, nicht zu entscheiden, im Anschluß an Abschnitt 7.3 gleich unten in diesem Band).
Vor diesem Hintergrund lassen sich die WE-Gewichte für die Selektion des einen oder des anderen Modus bestimmen. Ausgangspunkt sei ein bestimmter Status quo: ein gerade über die Frame-Selektion aktiviertes gedankliches Modell i (weil mUi>(1-m)Uj war). Die Frage ist nun, unter welchen Umständen dies automatisch-spontan oder reflexiv-kalkulierend geschieht. Zunächst die EU-Gewichte für den as-Modus. Die Bewertung des Status quo bei der automatischen Aktivierung im as-Modus ist einfacherweise der Wert Ui für das in der Modell-Selektion aktivierte Modell i: Wenn nicht weiter nachgedacht wird, zählt nur das, was gerade in den Sinn gekommen ist. Und das ist ja nur der Frame i mit allem, was dazu gehört.5 Bei einem eventuellen Mismatch mit m m/(1-m). Der Quotient Uj/Ui sei als das Reframing-Motiv, der Quotient m/(1-m) als die Reframing-Schwelle bezeichnet. Für einen Wechsel muß also das Reframing-Motiv Uj/Ui größer sein als die Reframing-Schwelle für den Übergang von Modell i zu Modell j. Allgemein gilt damit: Je attraktiver das neue Modell j und je schwächer die Geltung des alten Modells i jeweils im Vergleich sind, umso eher kommt es zum Reframing und zum Wechsel in Bezugsrahmen und im als angemessen angesehenen sozialen Drehbuch. Aber man sieht auch schon, daß die ReframingSchwelle immer stärker ansteigt, wenn m gegen eins geht, wenn also die Geltung des Modells i immer fragloser wird, und daß schließlich bei einem m von eins kein noch so hohes Reframing-Motiv diese Schwelle überschreitet, weil dann ja wegen 1-m=0 der Quotient m/(1-m) sogar gegen unendlich geht (siehe dazu auch gleich unten mehr).
Reflexion Die Übergangsbedingung vom as-Modus auf den rc-Modus ergibt sich entsprechend über die Annahme EU(rc)>EU(as): EU(rc) > EU(as) p(1-m)Uj + (1-p)mUi – C > mUi . . . (1-m)Uj – mUi > C/p. Die Differenz Uj-mUi ist das Reflexions-Motiv. Es ist, wie man leicht sieht, die Differenz der EU-Gewichte von Modell j zu Modell i: EU(j)-EU(i). In der Terminologie des MODE-Modells von Russell H. Fazio ist es die „Motivation“ zur überlegten Reaktion. C beschreibt entsprechend den ReflexionsAufwand, und p die Reflexions-Opportunitäten. Und der Quotient C/p ist dann entsprechend die Reflexions-Schwelle des Übergangs vom as-Modus in den rc-Modus.
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Eine elaboriertere Informationsverarbeitung wird, wie man sieht, immer von einem Mismatch eingeleitet. Der aber ist noch nicht genug. Für den Wechsel vom as- auf den rc-Modus müssen zusätzlich das Reflexions-Motiv möglichst hoch und der Reflexions-Aufwand niedrig und es müssen Reflexions-Opportunitäten vorhanden sein. Und wenn es sich nicht lohnt und/oder wenn es unmöglich ist, über andere Alternativen nachzudenken, dann läßt man die weitere systematische Reflexion eben und flüchtet sich in irgendeine vordergründige „Interpretation“ oder „Rationalisierung“ der gegebenen Verhältnisse. Und auch hier steigt die Reflexions-Schwelle u.U. immer steiler an, so daß kein Reflexionsmotiv hoch genug werden kann, „damit“ es dazu kommt; dann nämlich, wenn die Reflexions-Opportunitäten p gegen null gehen und damit der Quotient C/p gegen unendlich.
Die Übergangsschwellen Die beiden Übergangsschwellen, die Reframing-Schwelle m/(1-m) und die Reflexions-Schwelle C/p, haben, wie wir gesehen haben, also eine interessante Gemeinsamkeit: Im Nenner stehen jeweils Erwartungen bzw. Wahrscheinlichkeiten, und wenn der Nenner gegen null geht, dann steigt die jeweilige Schwelle des Übergangs immer steiler an. In Abbildung 7.2 sind die Übergangsbedingungen für die Modell- und die Modus-Selektion in Abhängigkeit von der Modell-Geltung m bzw. von den Reflexions- Opportunitäten p dargestellt. Einige wichtige Besonderheiten des Framing von Situationen lassen sich daran ablesen. Die Diagramme beschreiben jeweils die Übergangsbedingungen beim Reframing (Abbildung 7.2a) und bei der Reflexion (Abbildung 7.2b). Unten links unter den Übergangsschwellen stehen jeweils die Regionen für Konstellationen in den Anreizen, unter denen das Modell i bzw. der as-Modus zum Zuge kommen, oben rechts die dazu jeweils komplementären Alternativen j bzw. rc. Die Reframing-Schwelle m/(1-m) beschreibt die für einen Wechsel des Modells nötige Mindesthöhe des Reframing-Motivs Uj/Ui, die Reflexions-Schwelle C/p entsprechend die nötige Mindesthöhe des ReflexionsMotivs Uj-mUi. Die Punkte 1 und 2 bzw. 3 und 4 kennzeichnen dann jeweils spezielle Konstellationen der Erwartungen. Bei Punkt 1 ist der Match des Modells i nahezu perfekt (m nahe eins), und bei Punkt 3 gibt es praktisch keine Opportunitäten für die Reflexion (p nahe null). Punkt 2 und 4 beschreiben dagegen Konstellationen, in denen das Modell i nicht mehr perfekt gilt (m deutlich kleiner als eins) und es Opportunitäten für die Reflexion gibt (mit p deutlich größer als null). Die Linie C‘/p gibt ein mögliches Ansteigen des Aufwandes von C auf C‘ wieder.
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Sinn und Kultur
ne Erhöhung des Reflexions-Aufwandes C, etwa auf die Höhe C‘, hat – viertens – einen davon unabhängigen dämpfenden Effekt: Steigen die Kosten der Reflexion sehr an, dann werden auch durchaus vorhandene Opportunitäten nicht genutzt.
Das wohl wichtigste Ergebnis dieser Modellierung der Selektion eines Bezugsrahmens ist, daß bei einem perfekten Match von Umgebungsobjekten und gedanklichem Rahmen die Situation in der Tat fest „definiert“ ist und nur unter diesem Gesichtspunkt gesehen wird, und daß andere Dinge – Anreize, Alternativen, Möglichkeiten – keine Rolle spielen. Es ist ein Modell zur Erklärung der „Unbedingtheit“ von Situationsdefinitionen und damit eines, das die besondere Kraft von Symbolen und „Werten“ und den für die normale Theorie des rationalen Handelns praktisch unerklärlichen Vorgang erklären kann, daß Menschen manchmal alles opfern wegen eines scheinbar bedeutungslosen kulturellen Symbols.
Exkurs über die Frage, wie es denn möglich wäre, sich zu entscheiden, nicht zu entscheiden Zu einem Wechsel des Bezugsrahmens kann es dem Framing-Konzept nach also nur kommen, wenn der Match nicht perfekt ist. Das hatten wir schon ganz zu Beginn des Abschnitts oben gezeigt. Bei einem perfekten Match mit m=1 muß nichts weiter bedacht werden. Der Akteur muß nur feststellen, daß alles „paßt“, und irgendwie erleben oder ahnen, daß Ui wenigstens etwas größer als null ist. Das ist nicht viel, und wenn der Match weiter perfekt bleibt, dann können sich Ui und alles andere in der dann ja ausgeblendeten Umgebung ändern, wie es will: Es geschieht nichts. Ein Wechsel des Bezugsrahmens bzw. des Modus der Informationsverarbeitung wird also immer von einem Mismatch eingeleitet. Der Wechsel des Frames und der evtl. Übergang zur Reflexion wird nun aber, wie wir gesehen haben, als eine Selektion modelliert, die wie eine doch recht komplizierte „Entscheidung“ aussieht. Und man könnte sich fragen, wie der normale, in seiner Rationalität doch stets recht beschränkte Akteur das denn schafft. Und insbesondere fragt sich, woher denn ein Akteur plötzlich etwas wissen kann, was er vorher nicht präsent hatte und was ihn auch in keiner Weise beschäftigt hat, nämlich die für das Reframing und die Reflexion nun auch wichtigen Parameter Uj, p und C und den jetzt auch genauer erforderlichen Wert von Ui. Wir schreiben zur Veranschaulichung der Komplexität der Vorgänge beim Reframing und bei der Reflexion die WE-Gewichte noch einmal hin:
Framing: Die Selektion des Bezugsrahmens
EU(i) = mUi EU(j) = (1-m)Uj
279
EU(as) = mUi EU(rc) = p(1-m)Uj+(1-p)mUi-C.
Es geht also um die Frage, wie es zur Übernahme der insgesamt fünf erforderlichen Parameter – Ui, Uj, m, p und C – bei einem nur „beschränkt“ rationalen Akteur kommt, wenn er „entscheiden“ soll, sich eventuell nicht („rational“) zu entscheiden. Die Antwort ist nach allem, was wir inzwischen aus der Kognitionspsychologie und der Gehirnforschung wissen, nicht schwer (vgl. dazu die Kapitel 5 und 6 oben in diesem Band). Also dann noch einmal: Der Parameter m ist mit dem Vorgang des Mismatches als Folge einer bloßen Beobachtung schon „mechanisch“, d.h. ohne jede weitere innere Aktivität des Akteurs, gegeben: Die Störung wird unmittelbar als Abweichung des Parameters m vom Wert 1 beobachtet und wahrgenommen, und zwar umso mehr, je stärker und je „signifikanter“, das heißt: je unerwarteter, die Störung jeweils ist. Das Framing-Konzept setzt nun voraus, daß der Akteur jetzt die Parameter Ui, Uj, p und C genauer bestimmen kann, um zu „entscheiden“, ob er jetzt das mentale Modell der Orientierung und/oder den Modus der Informationsverarbeitung wechseln soll oder nicht. Woher aber soll er dieses Wissen beziehen, gerade wenn er bisher noch nicht nachgedacht hat und eben nicht von Beginn an „perfekt“ informiert ist? Die Antwort zu diesem Problem besteht in zwei Teilen. Der erste Teil besteht in der Annahme, daß der normale Alltagsmensch über seine Umgebung sicher nicht perfekt informiert ist, daß er aber gleichwohl mit einem Satz von – mehr oder weniger grobem und geordnetem – Wissen über typische Situationen mit typischen Symbolisationen und typischen Bewertungen ausgestattet ist. Das ist der Satz der im Gedächtnis gespeicherten mentalen Modelle bzw. kulturellen Systeme, hierarchisch geordnet in einem System einer übergreifenden Relevanzstruktur, wie das Alfred Schütz genannt hat. Es ist seine „Identität“, die er durch Lernen und Sozialisation erworben hat (vgl. dazu schon die Abschnitte 3.3 und 7.1 oben, sowie die Kapitel 1 und 5 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, und auch noch die Kapitel 8 und 9 gleich unten in diesem Band). Beim Matching wird nun – über die oben beschriebene Regel des Framings – jeweils eines dieser Modelle über typische cues bzw. Symbole aktiviert. Die anderen Modelle bleiben dabei latent, sind aber durchaus vorhanden – und daher im Prinzip auch aktivierbar. Sie befinden sich im Horizont der, wie Alfred Schütz schreibt, „offenen Möglichkeiten“, und sie bleiben dort auch – „bis auf weiteres“. Das führt zum zweiten Teil der Antwort. Jeder Mismatch bei der Wahrnehmung von Umgebungsobjekten, so hatten wir in Kapitel 5 gesehen, irritiert den Akteur und erhöht – schlagartig und automatisch – die Aufmerksamkeit des Gehirns. Interessanterweise scheint schon bei dieser spontanen Auslösung von Aufmerksamkeit nach einem Mismatch die WE-Regel zu gelten: Je weniger vertraut eine Situation (plötzlich) ist und als je wichtiger sie vom Organismus bewertet wird, umso stärker ist diese Aufmerksamkeitserregung des Kognitions- und Informationsverarbeitungssystems eines Organismus. Auch die Krisenexperimente von Harold Garfinkel und die Untersuchungen von Russell H. Fazio zu seinem MODE-Modell haben übereinstimmend gezeigt, was bei einer solchen Störung des Gewohnten weiter geschieht: Es beginnt ein – mehr oder weniger – intensives Suchen im Gedächtnis nach Alternativen, „Erklärungen“ und Lösungsmöglichkeiten der mit einem Male problematischen Situation. Weil aber in der Identität des Akteurs auch die alternativen „Modelle“ – als „offene Möglichkei-
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Sinn und Kultur
ten“ nach Alfred Schütz oder (wenigstens) als „Basisregeln“ nach Aaron Cicourel – gespeichert sind und damit verbundene Erfahrungen und Einschätzungen im Prinzip verfügbar sind, wird, so kann man annehmen, auch das – in der Identität im Prinzip ja vorhandene – latente Wissen über Uj, p und C aktiviert. Kurz und in der Sprache von Alfred Schütz: Über den Mismatch werden die „offenen“ in „problematische“ Möglichkeiten transformiert. Manches ist außerdem praktisch unmittelbar präsent oder wird sofort bewußt, wenn erst überhaupt einmal der normale fraglose Ablauf gestört ist: Eine nicht berufstätige ältere Ehefrau auf dem Lande „weiß“ wohl sofort, daß für sie die Suchkosten C höher und die Auszahlung Uj geringer sind als für eine junge Karrierefrau in der Stadt, wenn es darum ginge, die eigene Ehe für gescheitert zu definieren, wenn der Gatte plötzlich über Nacht wegbleibt. Und wenn, etwa, der Zeitdruck für eine elaborierte Entscheidung sehr hoch ist, dann „weiß“ jeder auch sofort, daß das p sehr klein sein muß, um zu der „richtigen“ Lösung durch systematische Reflexion zu gelangen. Außerdem wird durch die erhöhte Aufmerksamkeit nun auch die Einschätzung von Ui verfeinert, die vorher, beim perfekten Match, ja nur darin bestehen mußte, daß Ui größer als null ist. Kurz: Der Mismatch löst eine erhöhte Aufmerksamkeit aus, die dann ihrerseits dazu führt, daß latentes Wissen und latente Bewertungen aktiviert und in konkrete „problematische“ Einschätzungen transformiert werden, die dann, sozusagen, in die Gleichungen eingesetzt werden können, nach denen dann das Reframing und/oder die Reflexion selegiert werden.
Die durch den Mismatch ausgelösten inneren Aktivitäten sind – zunächst – ganz unspezifisch und auch ziellos, und sie haben zuerst bloß die Aktivierung der Suche nach allen möglichen latenten Informationen zur Folge. Das alles geschieht, es kann nicht oft genug wiederholt werden, spontan und automatisch, ausgelöst nur durch den (Mis-)Match m, und zwar, wie man vermuten kann, über neurophysiologische Prozesse, die ja eben nicht unter „willentlicher“ Kontrolle stehen. Auch in ihrer Rationalität sehr beschränkte Menschen finden bei der so ausgelösten inneren Suche dann bald (irgend)etwas, das sie für ein evtl. Reframing bzw. Reflexion nutzen können. Und nun können auch von ihnen die EU-Gewichte gebildet und verglichen werden und die „Entscheidung“ getroffen werden, welcher Frame jetzt gelten und wieviel an systematischer Informationsverarbeitung jetzt eingesetzt werden soll (vgl. dazu auch noch den Exkurs über die „Rationalität“ bei der „Definition der Situation“ im Anschluß an dieses Kapitel unten in diesem Band). Nur bei komplett „Fremden“ ist das anders. Deren Problem ist nicht so sehr, daß sie über ihre neue Umgebung nicht viel wissen und deshalb immerfort mit „Störungen“ umgehen müssen. Ihr Problem ist vielmehr, daß sie keine funktionierende Relevanzstruktur ihres Wissens (mehr) haben und daß sie auf die Störung deshalb eben nicht mit einem relativ geschlossenen Horizont an latenten „offenen Möglichkeiten“ reagieren können und damit auch keine „problematischen Möglichkeiten“ zur „Entscheidung“ heranziehen können, sich vielleicht nicht zu entscheiden. Nicht ohne Grund hat Alfred Schütz diesem besonderen Fall des Fremden eine eigene Betrachtung gewidmet.6 6 Alfred Schütz, Der Fremde, in: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 2: Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag 1972, S. 53-69. Vgl. auch Kapitel 6 in Band 2, „Die
Framing: Die Selektion des Bezugsrahmens
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7.4 Die Interaktion von Modell- und Modus-Selektion Die Selektionen des Modells und des Modus sind nicht unverbunden. Die an beiden Selektionen beteiligten Konstrukte sorgen für diese Interaktion schon aus logischen Gründen. Die erste Verbindung geht über die unmittelbaren Auswirkungen einer Änderung des Modell-Nutzens Ui bzw. Uj auf das Reflexions-Motiv. Es sei angenommen, daß sich der Modell-Nutzen für das Modell j im Wert von Uj um einen Betrag a erhöht. Damit steigt das Reframing-Motiv auf (Uj+a)/Ui, gleichzeitig aber auch das Reflexions-Motiv auf (1-m)(Uj+a)-mUi. Eine ähnliche Wirkung hätte die Absenkung des Modell-Nutzens für das Modell i, etwa um den Betrag b. Nun steigen das Reframing-Motiv auf den Betrag Uj/(Ui-b) und das Reflexions-Motiv auf (1-m)Uj-m(Ui-b). Alles gilt natürlich auch umgekehrt für die Absenkung von Uj und die Zunahme von Ui. Und es sind auch beliebige Kombinationen möglich, wobei sich die verschiedenen Effekte auch ausgleichen oder verstärken können.
Die zweite Verbindung geht über die Modell-Geltung m bzw. (1-m) bei der Modell-Selektion. Sie wirkt über die Gewichtung der Nutzenerwartungen im Reflexionsmotiv (1-m)Uj-m(Ui) nach Maßgabe des (Mis-)Matchs m bzw. (1m). Zwei Extremfälle sind zu unterscheiden. Wenn der Match des Modells i perfekt ist, dann wird über m=1 und (1-m)=0 das Reflexions-Motiv gleich -Ui. Da es immer Kosten C größer als null geben dürfte, kommt es in diesem Fall also nie zu einer Reflexion. Der andere Extremfall ist nicht so ohne weiteres zu bestimmen. Es ist der Wert von (1-m)Uj-m(Ui), bei dem immer noch mUi>(1-m)Uj gilt, weil sich alles weiter im Frame i abspielt, der zuvor über die ModellSelektion aktiviert worden ist. Und das ist ja die Bedingung dafür. Für den Spezialfall, daß Uj=Ui ist, wäre die maximale Schwelle für das Reflexionsmotiv 0.5⋅Uj-0.5⋅Ui, weil bei einem Wert von m EU(aski) pi+m(Ui+Ui+) + (1-pi+)mUi – C > mUi. . . . mUi+ > C/pi+. Und das ist schon interessant: Zu einer Abweichung von der SOP in einem einmal aktivierten Frame kommt es nur dann, wenn der Zusatznutzen Ui+ (gewichtet immer mit dem Match m des Framings natürlich) größer ist als der Reflektions-Aufwand C bezogen auf die Erfolgswahrscheinlichkeit pi+. Und ist die Erfolgswahrscheinlichkeit, wie üblich, relativ klein, dann wird über eine Änderung des Skriptes auch bei größeren Beträgen von Ui+ nicht sonder-
293
Framing: Die Selektion des Bezugsrahmens
lich nachgedacht. Es ist wohl einer der Gründe für die Zählebigkeit einmal eingelebter Regeln und Routinen, etwa in Organisationen oder in den Lebenswelten des Alltags. Ein Spezialfall der beschriebenen Skript-Selektion liegt vor, wenn es kein „Skript“ für komplette Handlungssequenzen, sondern immer nur punktuelle Einzelhandlungen als Alternativen gibt. Dann muß jeder einzelne Akt neu „entschieden“ werden. Das geht meist nicht ohne Reflektion, weil es dann eben keine „Standard“ Operating Procedure gibt. Es ist der Fall des „rationalen“ Handelns in einem vorliegenden Frame: Aus einer Vielzahl unterschiedlicher Alternativen muß, im „Rahmen“ des jeweiligen Frames, eine ausgewählt werden. Diese Auswahl ist freilich schon durch das Framing etwas vereinfacht: Es muß nur noch auf ein Ziel hin maximiert werden. Aber auch das ist meist schon aufwendig und anstrengend genug. Und wenn die Zeit drängt und die Motivation für eine sorgfältige Entscheidung nicht sehr hoch ist, dann ist die vernünftigste Reaktion die nach außen am wenigsten rationale: die Zufallsheuristik.
Gibt es jedoch eine eindeutige SOP und ist sie hinreichend stark auferlegt, etwa weil eine bessere Lösung weit und breit nicht zu sehen ist, dann folgt das Handeln dem betreffenden Skript-Modell automatisch und unmittelbar. Andernfalls wird interpretiert, reflektiert, kalkuliert, abgewogen und ggf. eine „Intention“ gebildet, an die erst sich das konkrete Handeln anschließt.
Reflexhaftes und reflexives Handeln Weil die Frame-Selektion wie die Skript-Selektion jeweils im automatischen wie im reflexiven Modus möglich sind, lassen sich alle möglichen Kombinationen automatischer und reflexiver Selektion des Handelns vorstellen. In Abbildung 7.7 sind sie zusammengefaßt.
Frame Skript automatisch reflexiv
automatisch
reflexiv
reflexhaftes Handeln (Reflex) reflexives Handeln (Reflexion)
Abb. 7.6: Kombinationen beim Modus der Frame- und der Skript-Selektion
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Zwei Pole der Verbindung zwischen Situation und Handeln lassen sich unterschieden: das reflexhafte und das reflexive Handeln.10 Sie sind als typische Kombinationen des Modus bei der Frame- und der Skript-Selektion erkennbar. Beim reflexhaften Handeln wird weder über den Rahmen, noch über das Tun nachgedacht. Deshalb ist es auch „unbedingt“ und, sofern der Match mit der Situation perfekt ist, ausschließlich durch die Vergangenheit determiniert. Es ist ein Fall der S-R-Reaktion, wie sie der Behaviorismus annimmt. Das Alltagshandeln von Alfred Schütz und das Handlungskonzept des normativen Paradigmas nach Talcott Parsons, das traditionale und das affektuelle Handeln von Max Weber sowie das Handeln nach dem Konsistenzmodell der Einstellung fallen darunter. Beim reflexiven Handeln wird dagegen über alles reflektiert – über die Richtigkeit des Rahmens, wie über die Angemessenheit der Mittel. Es ist daher durch erwartete Konsequenzen in der Zukunft bestimmt. Es ist ein Fall des „sinnhaften“ S-O-R-Handelns.
Das zweckrationale Handeln nach Max Weber bildet, ebenso wie die verschiedenen Varianten der Nutzentheorie und des „rationalen“ Handelns, die reinste Form dieser Kombination. Dazu zählen aber auch die mit Denken und Bewußtsein verbundene symbolische Interpretation nach George H. Mead und Herbert Blumer, das Abwägen von Handlungsentwürfen nach Alfred Schütz und die Bildung einer Intention nach der Theorie des überlegten bzw. des geplanten Handelns nach Martin Fishbein und Icek Ajzen. Die Gegenkombinationen sind nicht so einfach zuzuordnen. Wir haben sie in Abbildung 7.7 auch nicht eigens benannt. In dem einen Fall gilt der Frame „unbedingt“, aber über das Handeln wird reflektiert. Das ist wohl (auch) mit der „Wert“-Rationalität bei Max Weber gemeint (siehe dazu auch unten in Abschnitt 7.7 dieses Bandes noch näher). Im anderen Fall wird über die Geltung des Frames reflektiert, man wüßte aber genau, was zu tun wäre, wenn die „Entscheidung“ für einen bestimmten Rahmen gefallen ist. Es ist der Fall des gehörnten Ehemannes aus dem Beispiel von William I. Thomas und Florian Znaniecki, von dem in Kapitel 2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ die Rede war, der, nachdem er sich nach längerem Hin und Her einmal für eine bestimmte „attitude“ entschieden hat, jetzt kein Halten mehr kennt, weil das Skript, sagen wir: für den Frame der Eifersucht, eindeutig ist.
Empirisch überwiegt als „Alltagshandeln“ das reflexhafte Handeln, die verzögerungsfreie simultane Auslösung von Frame, Skript und konkretem Handeln weitaus. Das überlegte oder gar das (zweck-)rationale Handeln sind dagegen überaus seltener Ausnahmefall.
10
Vgl. etwa für die Teilnahme an sozialen Bewegungen aus einer nicht mehr reflektierten kollektiven Identifikation gegenüber „kalkulierten“ Gründen: Bernd Simon, Michael Loewy, Stefan Stürmer u.a., Collective Identification and Social Movement Participation, in: Journal of Personality and Social Psychology, 74, 1998, S. 646-658.
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Die Weisheit der Routine Die automatische Befolgung der Routine eines einmal aktivierten Frames hat einen guten Grund: Die Frames sind den Erfordernissen des Alltags meist so gut angepaßt, und die Befolgung der SOPs in den Skripts ist meist derart effektiv in der Nutzenproduktion, daß das Nachdenken über Konsequenzen in aller Regel gänzlich unnötig, ja höchst unvernünftig wäre. In den Frames und in den Skripten des Alltags spiegelt sich ja die, oft mühselig zuvor in zahllosen „reflexiven“ Schritten entwickelte, Weisheit der Routine, sozusagen als geronnene Rationalität früherer Problemlösungen, die jetzt, zu fertigen gedanklichen Modellen stilisiert, abrufbereit und unaufwendig zur Verfügung steht. Das macht ja gerade ihre Auferlegtheit aus: Wenn der Match stimmt, dann ist das betreffende Handeln auch ohne jede weitere Überlegung „optimal“. Es ist die Optimierung des Handelns überhaupt: Die Früchte vorheriger, damals oft kostspielig in Versuch und Irrtum abgerungener Optimierungen stehen jetzt praktisch kostenlos und sofort zur Verfügung. Die gedanklichen Modelle des Alltagshandelns können dabei auch durchaus „objektiv“ falsche Inhalte haben. Es genügt, daß sie für die Klasse an Problemen, mit denen die Akteure bisher konfrontiert waren, geeignet waren. Deshalb halten die Menschen an den betreffenden Techniken und Regeln der Problemlösung erst einmal auch dann fest, wenn das Problem etwas anders bzw. komplexer geworden ist – und wenn nicht erkennbar ist, daß ein „Fehler“ zu schwerwiegenden Folgen führen würde. Dazu gibt es zahllose Experimente in der (Sozial-)Psychologie. Eines davon ging so:11 Einer Stichprobe von Krankenschwestern wurden 100 Karten mit Daten hypothetischer Patienten vorgelegt. Zwei Arten von Informationen waren auf den Karten enthalten: Ob der betreffende Patient ein bestimmtes Symptom zeigte oder nicht; und ob er eine bestimmte Krankheit hatte oder nicht. Die Verteilung der 100 hypothetischen Patienten über die verschiedenen Kombinationen dieser beiden Eigenschaften sah so aus (vgl. Tabelle 7.1):
11
Jan Smedslund, The Concept of Correlation in Adults, in: The Scandinavian Journal of Psychology, 4, 1963, S. 165-173; Richard A. Shweder, Likeness and Likelihood in Everyday Thought: Magical Thinking in Judgments about Personality, in: Current Anthropology, 18, 1977, S. 638f.
296
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Tabelle 7.1: Verteilung von Symptomen und Krankheit bei 100 hypothetischen Patienten Symptom vorhanden
nicht vorhanden
Summe
vorhanden
37
17
54
nicht vorhanden
33
13
46
Summe
70
30
100
Krankheit
Die Schwestern sollten nun sagen, ob die Symptome ein Anzeichen für die Krankheit wären oder nicht. Dazu hätten sie die „Korrelation“ zwischen Symptom und Krankheit innerlich berechnen sollen. Dazu hatten sie aber nur die Karten, nicht die Tabelle. Das Experiment simulierte also in etwa den Alltag im Krankenhaus: Es werden Patienten mit bestimmten Symptomen eingeliefert, die anschließend untersucht und auf bestimmte Krankheiten hin behandelt werden. Und daraus entstehen dann gewisse Eindrücke, die über die erfolgreiche Praxis im Alltag verfestigt werden. Was kam bei den Schätzungen heraus? Die meisten Schwestern meinten, daß das Symptom in der Tat eine Ursache für die Krankheit wäre. Und ihr „Grund“ für diese Antwort: Die 37 Patienten mit der Kombination Symptom und Krankheit kämen ja am häufigsten vor. Wie aber sieht die Wirklichkeit aus? Dazu muß man nur spaltenweise prozentuieren. Und dann sieht man, daß der Anteil der Kranken mit dem Symptom mit 37:70=0.53 sogar ein wenig kleiner ist als der Anteil der Kranken ohne das Symptom mit 17:30=0.57. Kurz: Der Kausalschluß der Schwestern war falsch.
Raymond Boudon, der von diesem Experiment berichtet, fragt dann aber weiter:12 Warum haben die Schwestern nicht besser nachgedacht? Und seine Antwort: Sie hatten gute Gründe, nicht von der groben, aber in ihrem praktischen Alltag erfolgreichen Regel abzuweichen, daß bei einer Häufung von Symptomen bei einer bestimmten Krankheit davon auszugehen ist, daß die Symptome mit der Krankheit zusammenhängen. Oder anders gesagt: Sie hielten an ihren offenkundig falschen „beliefs“ fest, weil es keinen überzeugenden Grund gab, die Sache diesmal anders zu sehen, etwa als eine Prüfungsfrage in Statistik. Erst eine nachhaltige Störung des Matchs mit der SOP des Alltags macht ein Nachdenken über erfolgreiche Rahmungen und Gewohnheiten erforderlich. Und genau deshalb sind die Menschen so tiefgreifend irritiert, wenn plötzlich, wie beim ICE-Unglück in Eschede, eine für sicher geglaubte Welt gerade an einer der Stellen einen Knacks bekommt, wo es am wenigsten erwartet wird – bei einem simplen Radreifen aus Gußstahl in
12
Raymond Boudon, The ,Cognitivist Model‘: A Generalized ,Rational-choice Model‘, in: Rationality and Society, 8, 1996, S. 126ff.
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einem hochmodernen Hightec-Zug der deutschen Bundesbahn. Aber auch erst dann: Ein terroristischer Anschlag hätte die sichere Welt der Eisenbahn weit weniger tangiert. Alfred Schütz war es vor allem, der gezeigt hat, daß die unbeschwerte Orientierung an einer (bisher) gut funktionierenden Relevanzstruktur und (bisher) erfolgreichen Rezepten eine der wichtigsten Grundlagen für entlastete und daher besonders effektive Problemlösungen im Alltag ist – und damit für eine besonders wirksame Organisation von Produktion und Reproduktion (vgl. dazu insbesondere Kapitel 3 oben in diesem Band). Und daß es daher ganz besonders „rational“ ist, sich daran zu halten. Aber er hat auch gezeigt, daß diese Weisheit des Verbleibens in der Routine stets nur „bis auf weiteres“ besteht. Und Harold Garfinkel hat mit seinen Krisenexperimenten offengelegt, was dieses „bis auf weiteres“ bedeutet: bis nämlich etwas geschieht, was zwar bisher nicht bedacht wurde, wovon man aber latent wußte, daß es nicht geschehen durfte (vgl. dazu Kapitel 4 oben in diesem Band). Alfred Schütz hat die Reaktion der Menschen darauf dann wieder so beschrieben: Sie sind zuerst ohne Zweifel irritiert oder gar schockiert. Aber sie suchen und finden alsbald auch dafür wieder eine Lösung, die als neue Routine abgespeichert wird, sobald sie merken, daß es eine funktionierende Lösung gibt und daß sich die Suche nach weiteren Verbesserungen nicht zu lohnen scheint.
Das Framing-Konzept ist nichts weiter als eine Präzisierung dieser klugen Gedanken über die ganz besonders raffinierte Vernunft der Menschen, mit ihrer begrenzten Rationalität umzugehen.
7.6 Einige spezielle Vorgänge Mit Hilfe des Framing-Konzeptes lassen sich eine Reihe, aus der Warte der „einfachen“ Theorie des „rationalen Handelns“ recht seltsamer oder auch oft unbeachteter Vorgänge leicht rekonstruieren. Etwa: die Entstehung des Gefühls der Legitimität eines Tuns, die „Rationalisierung“ von Vorgängen, die „an sich“ so nicht sein dürften, die „Exhaustion“ von „Widerlegungen“ einer bestimmten Überzeugung gegen allen Augenschein oder auch die plötzliche „Konversion“ von einer alles fest rahmenden Sicht der Dinge zu einer anderen, den Vorgang der kollektiven Definition der Situation, das soziale Framing also, wie wir es nennen wollen, sowie einen auf den ersten Blick etwas seltsam anmutenden Vorgang, das Framing einer Situation durch ein bestimmtes Handeln selbst, den man daher auch als Selbst-Framing bezeichnen könnte (vgl. dazu insgesamt aber auch noch die Kapitel 8 bis 12 unten in diesem Band).
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Legitimation Die Grundlage des Framings sind, so haben wir schon in Abschnitt 7.3 oben festgehalten, spontane Prozesse. Bei einem perfekten Match herrscht genau auch deshalb die unreflektierte Unbedingtheit. Stimmt jetzt auch noch der Modell-Nutzen des Frames und ist daher das Reframing-Motiv sehr klein, dann hat alles seinen fraglosen Sinn und seine unbezweifelte Ordnung: Die Welt ist nicht anders denkbar, und sie ist – subjektiv und vorläufig jedenfalls – die beste aller vorstellbaren Welten. Es ist der Zustand der ganz selbstverständlichen Richtigkeit und Rechtmäßigkeit der Situation und von allem, was sie umgibt. Dieses Gefühl der Legitimität ist das psychische Korrelat der perfekten „Geltung“ eines gedanklichen Modells der jeweils vorliegenden sozialen Situation, eines hohen Modell-Nutzens und seiner dadurch extrem starken Salienz. Es ist der Fall des nachhaltig vollzogenen Umschlags einer bloß kognitiven und kalten „Erwartung“ in einen auch affektuell gestützten, heißen „Anspruch“ (vgl. dazu auch bereits Abschnitt 3.3, sowie die Kapitel 4 und 11 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Was aber geschieht, wenn sich die Salienz abschwächt, etwa weil es plötzlich Zweifel an der unbedingten Geltung des Rahmens gibt oder das Reframing-Motiv größer wird, und somit die empfundene Selbstverständlichkeit und darüber dann auch die Legitimität der betreffenden Definition der Situation leidet – wie immer dann, wenn die Geltung des Modells einer institutionalen Ordnung nicht mehr unmittelbar über deren problemlösende Leistungen erlebt wird, sondern an neue Mitglieder einer Gesellschaft übertragen werden muß? Nun gibt es, technisch gesehen, einen mehr oder weniger großen Mismatch, weil die „Zugänglichkeit“ der Einstellung zur Institution nicht mehr perfekt ist. Und die „muß“, „damit“ die Institution ihre Geltung behält, wiederhergestellt werden. Und das umso mehr, je größer das Reframing-Motiv und damit der Reflexions-Anreiz eventuell schon geworden sind, weil die segensreichen Wirkungen der Institution nicht mehr unmittelbar erlebt werden oder sich andere, attraktivere institutionelle Ordnungen am Horizont zu zeigen beginnen. Kurz: Es beginnt – etwa bei den politisch Verantwortlichen in einem Land, die am Fortbestand der fraglosen Legitimität der „herrschenden“ Verhältnisse ein naheliegendes Interesse haben – eine Reflexion, die auf die Wiederherstellung des „alten“ Frames abzielt und nicht auf den (leichten) Wechsel hin zu einer neuen Ordnung. Was könnte man nun tun? Am besten wäre jetzt wohl die (Wieder-)Herstellung eines perfekten Matches. Denn dann sind alle Anreize zum Reframing (wieder) außer Kraft gesetzt und alle Zweifel und Fragen (wieder) beseitigt (vgl. dazu auch noch die Ausführungen zur Begründung der sog. Wertrationalität gleich unten in Abschnitt 7.8 in diesem Band). Normalerweise hat man aber gerade das nicht in der Hand, eben weil das Matching eine spontane Angelegenheit ist, und die „Realität“
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nachdrücklich anders ist. Trotzdem kann etwas versucht werden. Die Möglichkeit kennt jeder Wissenschaftler, dem einmal eine Hypothese, an die er fest glaubte und die ihm sehr wichtig war, durch Daten widerlegt wurde: Man versucht zu „erklären“, warum „eigentlich“ die Daten doch zu der Hypothese „passen“. Und wenn die Erklärung des Fehlers „plausibel“ ist, dann „gilt“ die Hypothese weiter, obwohl der Augenschein der Wirklichkeit dagegen spricht (siehe dazu mehr gleich noch in diesem Abschnitt im Zusammenhang der „Exhaustion“ u.a. von wissenschaftlichen Theorien, die widerlegt zu sein scheinen).
Genau das aber kann man ja auch für ein plötzlich nicht mehr perfekt passendes und deshalb nicht mehr unzweifelhaft als legitim geltendes Modell einer institutionellen Ordnung versuchen: die Angabe von „guten Gründen“ dafür, daß ein Mismatch „eigentlich“ nicht vorliegt und die Geltung des Modells in Wirklichkeit immer noch perfekt ist. Es ist der Vorgang der Wiederherstellung einer ins Wanken geratenen Legitimität durch die verschiedenen Techniken der Legitimation, wie sie in Kapitel 11 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ beschrieben wurden. Der ursprüngliche starke Match und der hohe Modell-Nutzen sind die Grundlage der unbefragten primären Legitimität einer institutionellen Ordnung. Mit dem Heranwachsen einer neuen Generation und/oder mit dem Kontakt mit anderen Kulturen kann diese ursprüngliche Gewißheit jedoch nicht mehr bruchlos erhalten werden. Alles, was jetzt an Möglichkeiten erfunden wurde, um diesen Gewißheitscharakter wieder zu festigen, ist nichts anderes als der Versuch, den ursprünglich perfekten Match wiederherzustellen: sprachliche Etikettierung des Modells, Legenden und Lebensweisheiten zu seiner Stützung, ausgebaute Legitimations„Theorien“, die Erzeugung kompletter symbolischer Sinnwelten, und schließlich die „rationale“ Argumentation und der Diskurs des kommunikativen Handelns. Technisch gesehen wird dadurch der Match m eines Modells i, der deutlich kleiner als 1 geworden ist, wieder erhöht. Dadurch steigt die Salienz auch bei einem stärker gewordenen Reframing-Motiv wieder, es sinkt das Reflexions-Motiv und die Legitimität der Ordnung nimmt wieder zu. Aber gänzlich ungebrochen und ungefährdet ist sie nicht mehr: Der Match ist eben nicht mehr perfekt, und schon der nächste kleinere Zweifel bricht unwiderruflich ein in die fragil gewordene Welt der einst unbefragten Gewißheit.
Die Religion kann als diejenige gesellschaftliche Institution angesehen werden, die für die zentralen Frames des Lebens die unbedingte Geltung zu sichern verspricht. Mit der Ablösung der Legitimität vom unmittelbaren Erleben werden solche Ersatzmaßnahmen für die „primäre“ Legitimität des Alltags immer bedeutsamer – und aufwendiger. Aber es geht durchaus. Insbesondere die beständige Wiederkehr der immer gleichen Abläufe sorgt wirksam für die Erneuerung der alten Gewißheiten. Rituale sind ein sehr probates Mittel zur beständigen Wiederherstellung der Zugänglichkeit von Einstellungen, zur Stärkung der Salienz bestimmter Modelle der Weltauslegung und damit der Kräftigung ihrer Legitimität. Sie sind die Grundlage der sicher geglaubten „Geltung“ der vielen Rahmungen unseres Alltags. Leider finden sie – aus Zeit- und Mobilitätsgründen – immer weniger statt. Und die Surrogaterfindung für die „rationale“ Wiederherstellung der Geltung eines ethischen
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Rahmens, der argumentative Diskurs, greift auch nur dann, wenn die Interessen der Akteure übereinstimmen und es nur etwas zu „koordinieren“ gibt (vgl. auch dazu schon Abschnitt 11.3 und 11.4 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie noch Abschnitt 7.8 gleich unten über das Problem der Begründung von Werten bei der Wertrationalität). Und so muß sich auch keiner wundern, daß es in den modernen Gesellschaften feste und unbefragte Rahmungen kaum mehr gibt, und wenn, dann sind sie nicht von sehr langem Bestand.
Rationalisierung, Exhaustion und Konversion Die Überlegungen zur Legitimation als einem Versuch zur Wiederherstellung der Geltung einer nicht mehr ganz selbstverständlichen institutionellen Ordnung führen zu einer naheliegenden Erweiterung des Framing-Modells, insbesondere in Hinsicht auf den Bezug der „rationalen“ Reflexion einer einmal gestörten Situation. Bisher waren wir stets davon ausgegangen, daß sich eine Reflexion auf die Suche nach Informationen darüber bezieht, ob nicht – nach einer Störung des bis dahin fraglos geltenden Frames – „in Wirklichkeit“ der jeweils andere Rahmen Geltung hat. Leicht lassen sich auch andere Bezüge und Ziele von Reflexionen denken, wie sie in der Folge von „Störungen“ einer gewohnten Routine auftreten. Beispielsweise die Suche nach Informationen darüber, ob die aktuelle Störung auch „wirklich“ vorliegt und ob nicht tatsächlich der „alte“ Frame weiter gilt, ohne daß an die Suche nach einem anderen Frame gedacht würde, etwa weil dessen „wirkliche“ Geltung ganz außerhalb der Vorstellungskraft der Akteure liegt, insbesondere weil dann massive Verluste drohen würden. Beispiele dafür wären eine Sekte, die den Weltuntergang vorhergesagt hatte und jetzt vor der Situation steht, daß das nicht geschehen ist, und man jetzt eigentlich seinen ganzen Glauben, an dem das Leben gehangen hat, ablegen müßte (vgl. dazu auch schon das Beispiel über die Seekers-Sekte in Abschnitt 3.3 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Oder eine Ehefrau, die ihre ganze Karriere für ihren Gatten an den Nagel gehängt hat, jetzt ganz von ihm abhängig ist und allein deshalb nicht einmal daran denken kann, daß ihr guter Gatte sie im Stich lassen könnte. Oder, wie oben schon angedeutet, ein Wissenschaftler, der ganz fest auf ein bestimmtes Konzept setzt, etwa auf das der Theorie der rationalen Wahl, und jetzt immer mehr mit Anomalien konfrontiert ist, aber nicht glauben kann, daß alle seine Gedanken und Investitionen wertlos gewesen sein sollten, und dem jetzt nur noch Spott und Mißachtung drohen, wenn er seinen Irrtum einfach zugäbe und seiner Irrlehre abschwören würde.
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Jedesmal stellt sich also nicht nur die Frage: „‚Ignorieren‘ (im as-Modus) versus ‚Suche nach der Geltung des anderen Frames‘ im rc-Modus“?, sondern auch: „‚Ignorieren‘ versus ‚Suche nach Belegen, ob nicht doch der alte Frame weiter gilt‘?“. Es geht also bei dieser Art der Reflexion um die Beibehaltung des ursprünglichen Frames, wie die – mehr oder weniger: verzweifelte – „Rationalisierung“ der falschen Prophezeiung bzw. eine – mehr oder weniger: gequälte – „Exhaustion“ eines in Bedrängnis geratenen Glaubens, der Fiktion einer funktionierenden Ehe oder eines wissenschaftlichen Konzepts oder Paradigmas.
Wie ließe sich das nun aber im Framing-Konzept modellieren? Wohl so: Die Nutzenerwartung für den die Störung ignorierenden Verzicht auf eine weitere Reflexion (as)ign sei, der Modellierung des as-Modus folgend, EU(as)ign=mUi, wobei Ui die Bedeutsamkeit des Konzepts und m den Grad der Bestätigung bzw. der Widerlegung durch gewisse „Anomalien“ wiedergeben. Die Alternative wäre eine rationalisierende bzw. exhaurierende Reflexion (rc)exh. Was wäre der Anreiz dafür? Natürlich: der Ertrag, der sich bei einer weiter ungestörten Geltung des ins Gerede gekommenen Frames i ergibt. Das aber wäre Ui, nun aber eben nicht mit dem aktuell gegebenen (Mis-)Match m gewichtet, sondern mit eins, weil nun die volle Geltung des Frames i und die volle Auszahlung Ui ja das Ziel der ganzen Reflexion und Informationsbeschaffung sind. Damit wäre, wie üblich, die Wahrscheinlichkeit p zu gewichten, daß die Rationalisierung bzw. die Exhaustion jeweils auch wirklich gelingen. Und es müßten, auch wie üblich, die Kosten C der rationalisierenden und exhaurierenden Reflexion berücksichtigt werden, sowie die bewertete Wahrscheinlichkeit, daß Rationalisierung und Exhaustion angesichts des Status quo von mUi schief gehen können und man weiter mit der Störung leben müßte. Daraus ergibt sich für die Entscheidung zwischen exhaurierender Reflexion gegenüber der verdrängenden Ignoranz: EU(as)ign = mUi EU(rc)exh = pUi + (1-p)mUi – C. Als Übergangsbedingungen vom nicht weiter reflektierenden Ignorieren der „Anomalien“ auf die reflektierenden Rationalisierungen und Exhaustionen findet man dann: Ui – mUi > C/p. Der Ausdruck (Ui-mUi) könnte als das Exhaustionsmotiv für einen (noch) geltenden Frame bezeichnet werden. Dieses Motiv steigt, wie man leicht sieht, mit der Abschwächung der Geltung des Frames i, also: mit der Anzahl und der Gewichtigkeit der „Anomalien“. Und je mehr mit Ui auf dem Spiel steht, umso größer wird bei einer gegebenen (proportionalen) Abschwächung von m das Exhaustionsmotiv.
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Leicht ließen sich daran weitere Überlegungen und Fragen anschließen. Etwa: Was geschieht, wenn die Exhaustionen allesamt mißlingen und die Rationalisierungen immer schwerer fallen und schließlich gar nicht mehr funktionieren? Wahrscheinlich würden sich allmählich die Erfolgserwartung p abschwächen und die Exhaustionskosten zunehmen, so daß, wenn es keine weitere Alternative gäbe, man schließlich zur ignorierenden Verdrängung zurückkehrt – oder sich auf den mühsamen Weg zu einem anderen Konzept macht (siehe dazu auch noch unten zu einer analogen Modellierung von Konversionen zu dem alternativen Frame j). Mit dem Modell ließe sich wohl auch erklären, wann die Versuchung zur Fälschung von wissenschaftlichen Ergebnissen größer wird, wann ein Ehepartner alle Anzeichen, daß etwas nicht stimmt, verdrängt, oder wann eine Sekte, wenn ihre Prophezeiung fehlschlägt, sich ganz besonders darum bemüht, den Schaden, etwa durch eine besonders intensive Anwerbung neuer Mitglieder, zu beheben: Wenn an der unbefragten Geltung des Konzepts, der Fiktion oder des Glaubens sehr viel hängt, wenn also Ui sehr groß ist, – und wenn ein Umschwenken auf die Alternative j, nämlich: „das Konzept ist falsch“, „meine Ehe ist gescheitert“ oder „der Glaube war ein Irrtum“, ausgeschlossen ist, dann wird alles getan, um i wieder in Geltung zu bringen (vgl. dazu auch noch Abschnitt 7.8 und das Konzept der Wertrationalität näher). Wenn, etwa, das Eingestehen einer Niederlage mit (deutlich) negativen Werten verbunden ist, wenn es also um Leben oder Tod geht, dann ist eine Reflexion mit dem Ziel des Reframing (fast) ausgeschlossen. Dann wird – ganz im Gegenteil – alles versucht, um das gegebene Konzept zu retten – wie bei manchem verzweifelten Wissenschaftler, bei mancher anscheinend blinden Ehefrau, bei den Seekers. Oder aber auch im Führerbunker in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, als in der Tat das Rationalisieren und Exhaurieren auch der dünnsten Hoffnung wahre Triumphe feierte, etwa beim Tod von Roosevelt, der von Goebbels und Hitler als Zeichen der Vorsehung verstanden wurde, daß alles doch noch, wie einst bei Friedrich dem Großen im Siebenjährigen Krieg, gut enden würde, nein: müßte. Das versuchte Goebbels sich und den Deutschen zum Schluß noch einzureden: Wir werden siegen, weil wir siegen müssen! Und nicht wenige haben das geglaubt
Das führt zur ganz analogen Frage, wann denn dann die Versuche zur Exhaustion aufhören und die Suche nach der Geltung einer Alternative j zu i einsetzt, etwa bei der Frage, ob man nicht doch besser auf ein neues Paradigma setzen, einen neuen Partner suchen oder auf einen anderen Glauben j bauen soll, statt i immer weiter zu verfolgen. Es ist die Frage nach der Vorbereitung auf eine eventuelle Konversion der Sicht der Dinge gegenüber der bisherigen Strategie der alle Anomalien ignorierenden Exhaustion. Hierfür gelten entsprechend die folgenden Parameter: EU(as)ign = mUi EU(rc)con = pUj + (1-p)mUi – C. Uj ist die Attraktivität des alternativen Paradigmas oder Glaubens, Ui die des alten, m ist der Mismatch des alten Paradigmas oder Glaubens, p die Wahrscheinlichkeit, für die (sichere) Geltung von j die nötigen Belege zu finden, und C beschreibt die Konversions- und Suchkosten. Und als Übergangsbedingung findet man jetzt: Uj – mUi > C/p.
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Und wieder sieht man leicht, was geschieht, insbesondere wieder, wie wichtig die Wahrscheinlichkeit p ist, überhaupt eine neue, attraktivere Perspektive zu finden. Wenn p sehr klein ist, dann gibt es nichts, was einen Akteur zur systematischen Suche nach einem neuen Rahmen bewegen könnte. Das erklärt, etwa, warum so oft auch an nachweislich „falschen“ Theorien und Konzepten, „unpassenden“ Partnern oder fragwürdigen religiösen Ideen festgehalten wird: Die bessere Alternative ist zwar denkbar, aber weit und breit nicht in Sicht, und ein schlechtes Konzept, Partner oder Glaube ist immer noch besser als gar nichts dergleichen. Genau deshalb halten, etwa, viele Ökonomen, die es durchaus auch besser wissen, trotz aller Anomalien am „homo oeconomicus“ mit seinen gottähnlichen Fähigkeiten fest: Es gibt für sie keine brauchbare Alternative. Es sei denn, sie haben bis hierher die „Speziellen Grundlagen“ gelesen. Das führt zu einer (an dieser Stelle:) letzten Überlegung, wie man mit Anomalien eines Paradigmas oder Glaubens umgehen kann: Exhaustion und Konversion könnte man auch als (Reflexions-)Alternativen für den Fall verstehen, daß es einen Mismatch beim Paradigma bzw. Glauben i gibt. Für den Fall, daß die Suchkosten und die Erfolgswahrscheinlichkeiten für beide Fälle gleich sind, ergäbe sich: EU(rc)exh = pUi + (1-p)mUi – C EU(rc)ref = pUj + (1-p)mUi – C. Und sofort sieht man, daß dann die Entscheidung für eine Exhaustion oder eine Konversion alleine von den Größen der Erträge Ui bzw. Uj abhängt. Meist aber dürften die Parameter C und p nicht gleich sein. Bei einem (nachweislich) degenerativen Paradigma, das nur durch immer neue Exhaustionen zu retten ist, dürfte zum Beispiel p immer kleiner werden. Und wer sich (zu) früh mit dem neuen Paradigma beschäftigt, hätte vergleichsweise hohe Suchkosten zu überwinden. Pioniere in der Wissenschaft sollten mit ihren revolutionären Gedanken warten, bis sie beamteter Professor geworden sind. Aber dann fehlt ihnen meist die Phantasie, der drive und die Zeit dazu, sie auch wirklich in dicken (Lehr-) Büchern umzusetzen. Ausnahmen gibt es freilich auch.
Soziales Framing Dem Handeln geht, so haben wir bisher immer angenommen, in einer momentan gegebenen Situation ein Framing voraus. Daran schließen sich jedoch meist sofort wieder weitere Akte des Framings und des weiteren Handelns an.
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Denn das Handeln geschieht ja als nach vorne offener Prozeß und in einer, wie auch immer gearteten, Öffentlichkeit: Andere Akteure nehmen die sichtbaren Akte wahr, interpretieren sie als Hinweis auf ein mögliches Modell der Situation und selegieren danach „ihren“ Frame für die Situation. Wenn ich sehe, daß ein älterer buntgekleideter dicklicher Herr mit einer Gesichtsfarbe, die es nur nach einer strengen Rotweindiät gibt, einer dumpf murmelnden Menge ein Kruzifix vorherträgt, dann weiß ich ziemlich sicher, daß dies eher eine Prozession als ein Karnevalsumzug ist. Und ich murmele demütig mit und stecke so meine evtl. noch unschlüssige Umgebung mit dem Modell „Prozession“ an oder bestärke sie in ihrer Definition dieser Situation darin. Das Handeln der individuellen Akteure im Rahmen von Frames hat also selbst wieder Folgen für das Framing in ganzen Kollektiven von Akteuren. Es ist ein Zeichen dafür, daß die (anderen) Akteure das Modell der Situation teilen – oder auch nicht. Und wenn das Handeln dem vermuteten Frame nicht entspricht, dann gibt es Irritationen, Interpretationen und die Suche nach der dazu besser passenden Alternative des Rahmens, unter Umständen sogar einen Wechsel in einen ganz anderen Rahmen der Definition der Situation. Mit der Erweiterung des Framing-Modells als Sequenz von Framing, Handeln und erneutem Framing können eine ganze Reihe von häufig beobachteten, mit einer einfachen Theorie des „rationalen“ Handelns nur schwer faßbaren Vorgängen leicht erklärt werden, wie etwa die Entstehung von Identifikationen mit einem Kollektiv oder einer Gruppe und eines nicht weiter befragten Systems des generalisierten Tausches (vgl. dazu bereits Abschnitt 11.1 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie noch die Kapitel 11 und 12 unten in diesem Band insgesamt). Dazu gehört auch das Phänomen des sog. crowding out. Damit ist Folgendes gemeint: Wenn man Kindern, Mitarbeitern oder Professoren für etwas, was sie bisher unentgeltlich, gerne und mit innerer Begeisterung freiwillig getan haben, plötzlich Geld anbietet, etwa um ihnen im Zuge der BWLisierung und Schröderisierung dieser Welt das „Leistungsprinzip“ beizubringen, dann lassen sie die freiwillige Leistung plötzlich, wollen für alles Geld haben und rechnen ab jetzt kleinlich nach.13 In der Ökonomie werden diese Effekte über „verborgene Kosten“, in der (Sozial-)Psychologie über die sog. „Over-Justification“ erklärt.14 Das sind aber nur andere Bezeichnungen für das Phänomen: Monetäre Belohnungen
13
Vgl. zu diesen „Verdrängungseffekten“: Bruno S. Frey, Tertium Datur: Pricing, Regulating and Intrinsic Motivation, in: Kyklos, 45, 1992, S. 161-185; Bruno S. Frey und Iris Bohnet, Die Ökonomie zwischen extrinsischer und intrinsischer Motivation, in: Homo Oeconomicus, 11, 1994, S. 1-19; Bruno S. Frey, Moral und ökonomische Anreize: Der Verdrängungseffekt, in: Rainer Hegselmann und Hartmut Kliemt (Hrsg.), Moral und Interesse. Zur interdisziplinären Erneuerung der Moralwissenschaft, München 1997, S. 120ff.; vgl. zusammenfassend auch: Iris Bohnet, Kooperation und Kommunikation. Eine ökonomische Analyse individueller Entscheidungen, Tübingen 1997, S. 48ff.
14
Vgl. Kenneth O. McGraw, The Detrimental Effects of Reward on Performance: A Literature Review and a Prediction Model, in: Mark R. Lepper und David Greene (Hrsg.), The Hidden Costs of Reward: New Perspectives on the Psychology of Human Motivation,
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erzeugen neue Kosten, die über den Anreiz hinausgehen, und Menschen lassen sich nicht zusätzlich durch externe Anreize motivieren, wenn sie es schon intrinsisch genügend sind. Mit dem Framing-Konzept gibt es eine einfache Erklärung, die auch eine wirkliche Erklärung ist: Das crowding out ist die symbolische Folge der Präsentation der monetären Anreize, indem gerade durch diese Präsentation vom „Modell“ des generalisierten Tausches in das des einfachen „ökonomischen“ Tausches gewechselt wird. Und warum? Genau: Die Zahlung von Geld „paßt“ kulturell einfach nicht zu einer eingespielten und bis dahin fraglos funktionierenden sozialen Beziehung, die über intrinsische Motivation, generalisierten Ausgleich und auch Altruismus definiert ist. Geld ist vielmehr das Symbol dafür, daß jetzt das Modell des Marktes, das des bilateralen, sofortigen Ausgleichs und des Zweifels in die Verläßlichkeit des anderen angesagt ist. Und dann wundert es auch nicht, wenn mit der zunehmenden Formalisierung und Kommerzialisierung, etwa der Unterhaltung von Kirchen und anderen auf der Definition von „Gemeinschaft“ basierenden Unternehmungen, wie Parteien oder Vereine, das Gemeindeleben immer mehr verfällt. Oder wenn Ehen, bei denen die Partner vorab einen Vertrag geschlossen haben, in dem fein säuberlich alles geregelt ist, auch für den Fall der Scheidung, ein deutlich höheres Risiko haben, zu scheitern: Sie zeigen sich gleich zu Beginn das eigentlich Undenkbare als möglich an. Und schon geht es wirklich schief (vgl. dazu auch den Fall 5 in der Einführung zu diesem Band über die Wirkung persönlicher Anfragen auf die Bereitschaft, Juden in den von Nazis besetzten Gebieten vor der Verfolgung zu retten).
Das wechselseitig wahrgenommene und interpretierte Handeln leitet so die kollektive Herausbildung und Stabilisierung von Situationsdefinitionen und sichert sie symbolisch-interaktiv ab, vor allem dann, wenn das Handeln in deutliche Gesten und sprachliche Kommunikation eingebettet ist. Es ist der Vorgang der sozialen Konstitution der Frames (und der Skripte). Auf derart sozial konstituierte und in das Gedächtnis der Akteure übertragene Modelle der Rahmung stützen sich die Akteure in jedem Moment des Handelns, das dann wieder ein Zeichen für eine bestimmte Rahmung ist ... und so weiter. Und so können kollektiv geteilte Situationsdefinitionen u.U. auch dann entstehen, wenn sie mit der „Wirklichkeit“ nicht viel zu tun haben (vgl. dazu bereits Kapitel 6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“ und Kapitel 8 über die „Interaktion“ in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das Framing-Konzept ist die handlungstheoretisch-erklärende Grundlage für alle diese Prozesse, die insbesondere von der symbolisch-interaktionistischen Soziologie so gerne beschrieben, aber bisher leider nie so recht auch wirklich „erklärt“ worden sind. In den noch folgenden Kapiteln, besonders aber in Kapitel 11 und 12 unten in diesem Band werden wir darauf noch ausführlich zurückkommen.
New York u.a. 1978, S. 33-60; Edward L. Deci, Effects of Externally Mediated Rewards on Intrinsic Motivation, in: Journal of Personality and Social Psychology, 18, 1971, S. 105-115.
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Selbst-Framing Das Handeln ist beim Framing aber nicht nur ein Zeichen für andere Akteure, sondern auch eines für den Akteur selbst. Es ist, sozusagen, ein Zeichen, das sich der Akteur selbst in der Situation setzt und das dann seine Orientierung leitet. Weil praktisch jedes Handeln – mehr oder weniger: fest – mit einem bestimmten kognitiven Modell der Situation verbunden ist, kann es daher durchaus vorkommen, daß ein – irgendwie, auch zufällig oder gedankenlos begonnenes – Handeln als „Objekt“ in der Situation die „Definition“ der Situation übernimmt und damit dem Framing der Situation – sozusagen – vorausgeht. Die Definition der Situation durch einen Akteur folgt in diesem Fall also dem Handeln eines Akteurs selbst und leitet es im „Rahmen“ dieser Definition weiter. Man könnte daher, wie das der Handlungsphilosoph Hans Joas tut, durchaus auf den Gedanken kommen, „ ... Wahrnehmung und Erkenntnis nicht der Handlung vorzuordnen, sondern als Phase des Handelns aufzufassen, durch welche das Handeln in seinen situativen Kontexten geleitet und umgeleitet wird.“ (Hervorhebungen nicht im Original)15
Und so kann es dann so aussehen, als würden sogar die Ziele, die Intentionen, die „Zwecke“ des Handelns erst mit dem Handeln entstehen: „Die Setzung von Zwecken geschieht – in dieser alternativen Sichtweise – nicht in einem geistigen Akt vor der eigentlichen Handlung, sondern ist Resultat einer Reflexion auf die in unserem Handeln immer schon wirksamen, vor-reflexiven Strebungen und Gerichtetheiten.“ (Ebd.; Hervorhebungen im Original)
Diese „vor-reflexiven Strebungen und Gerichtetheiten“ sind für Joas im „Körper“ des Akteurs fest verankert. Es sind „ ... seine Fertigkeiten, Gewohnheiten und Weisen des Bezugs auf die Umwelt ... .“ (Ebd.)
Und die „ ... Intentionalität selbst besteht dann in einer selbstreflexiven Steuerung unseres laufenden Verhaltens.“ (Ebd.)
Der Akteur beobachtet also nach Joas laufend sein eigenes Tun. Und das schaltet dann eines der im „Körper“, genauer wohl: im Gedächtnis, gespeicherten Modelle ein, dessen Code dann das Ziel und den Zweck bestimmt, an dem sich das Folgehandeln „reflexiv“ orientiert. Kurz: Man tut etwas, was (auch) dadurch „gerahmt“ wurde, was man selbst vorher getan hat. 15
Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/M. 1992, S. 232.
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Soweit also Joas mit seiner „alternativen“ Vorstellung vom Handeln der Menschen. Er hat in seinem Buch den Eindruck erweckt, als gehe es um eine ganz andere, sozusagen nicht-kausale Form der Handlungstheorie. Daran war der Handlungsphilosophie immer schon sehr gelegen, und noch heute werden auch in der Soziologie alle Vorschläge begierig aufgenommen, die zu zeigen versuchen, daß es beim Handeln „kausale“ Erklärungen gar nicht geben könne (vgl. dazu auch schon Abschnitt 6.4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und die „Vorordnung“ des Handelns vor der Definition der Situation, das wir als Selbst-Framing bezeichnen wollen, stellt ja in der Tat auch wieder, auf den ersten Blick wenigstens, die übliche Vorstellung auf den Kopf, wonach das Framing bzw. die Bildung von Intentionen dem Handeln vorausgehe und es kausal bestimmt.
Mit der Selbstverständlichkeit, daß irgendein Handeln eines Akteurs jedem Framing dieses Akteurs vorausgeht, verliert die Vorstellung von Hans Joas jedoch ihr metaphysisches Geheimnis sofort. Die „Vorordnung“ des Handelns ist in keiner Weise eine Aufhebung der üblichen Kausalprozesse und schon gar keine „neue“ Erklärung des Handelns, sondern ein ganz normaler Vorgang, der damit zu tun hat, daß es natürlich vor jeder bestimmten Definition der Situation immer schon ein Handeln – im einfachsten Fall: anderer Akteure – gibt, von dem das Framing geleitet wird. Aber auch schon dieses Handeln „vorher“ fand ja nicht im luftleeren Raume statt. Und zu dieser Vorgeschichte gehört das, was jemand selbst getan hat, natürlich auch immer dazu. Wer verstanden hat, was eine Sequenz-Erklärung ist (vgl. die Einleitung sowie Kapitel 6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“), hat auch mit der „Vorordnung“ des Handelns vor die Definition der Situation keinerlei Probleme, ebensowenig wie mit der sozialen Konstitution des Framings durch das Handeln anderer. Das Selbst-Framing schließlich ist dann nur jener – wahrscheinlich recht seltene – Spezialfall, daß ein Akteur sich zunächst zufällig oder irgendwie sonst „sinnlos“ verhält und sich damit begnügt, seine eigene soziale Umgebung zu sein, auf die er dann wieder reagiert. Der normale Alltagsmensch ist so dumm meist nicht und auch weitaus weniger autistisch. Gottlob. In jeder Hinsicht.
7.7 Die Typen des Handelns: Noch einmal Die Soziologie leistet sich, wie wir wissen, nach wie vor den Luxus sehr verschiedener und sich gegenseitig auch als ausschließlich verstehender Handlungstheorien: Die Weberschen Handlungstypen, die Unterscheidung von normativem und rationalem Handeln bei Jon Elster, das kreative Handeln bei Hans Joas oder aber auch die inzwischen etwas ins Vergessen geratene Typologie von Jürgen Habermas gehören dazu. Und es sind nicht die einzigen Vorschläge (vgl. dazu bereits ausführlich Abschnitt 6.7 und 6.8 in Band 1, „Situa-
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tionslogik und Handeln“, sowie u.a. Kapitel 3 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie die Kapitel 1 bis 4 oben in diesem Band). Stets wird behauptet, daß es grundsätzlich zu unterscheidende Handlungstypen gebe und daß die jeweils dabei geltende „Logik“ eine ganz andere sei. Und daher könne es keine „allgemeine“ Theorie des Handelns geben, sondern immer nur verschiedene, die für jeweils besondere Arten von Situationen oder Gesellschaftsformen reserviert seien: das „rationale“ Handeln etwa für den Bereich der Wirtschaft und für Gesellschaften vom Typ der kapitalistischen Marktwirtschaft, das „normative“ Handeln vielleicht in Politik, Recht und Organisation und das „kreative“ dann ... ja wofür denn eigentlich? Und jeder Versuch, eine bestimmte Handlungslogik als „allgemeine“ zu inthronisieren, sei daher schon a priori zum Scheitern verurteilt, weil ein stets nur spezieller, situationsabhängiger Aspekt unzulässigerweise generalisiert werde. Ohne Zweifel „gibt“ es empirisch ganz verschiedene Typen des Handelns: Manchmal denken die Menschen beim Handeln, durchaus auch planvoll, nach, oft genug aber auch nicht, gelegentlich sind sie von Gefühlen getrieben und folgen auch, wie es scheint, ganz „unbedingt“ bestimmten Grundsätzen. Keine Frage. Aber kann das denn alles sein, was man wissen will oder – für die Zwecke einer soziologischen Erklärung – sogar muß? Wir glauben nein, und das in dreifacher Weise: Erstens wären soziologische Erklärungen, die verschiedene Typen des Handelns und damit verschiedene Handlungstheorien als „Logik der Selektion“ zu berücksichtigen hätten, sehr kompliziert und allein deshalb lohnt sich die Suche nach einer, dazu: möglichst einfachen, Theorie des Handelns, die als allgemeine „Logik der Selektion“ fungieren könnte (und die, es sei wiederholt, eigentlich für das Geschäft der soziologischen Erklärung noch relativ am unwichtigsten, wenngleich unentbehrlich ist). Zweitens wäre es auch nicht sehr befriedigend, daß sich sozusagen die grundlegende „Natur“ des Menschen immer wieder ändern würde, je nachdem in welcher Situation er sich befindet bzw., gravierender noch, je nachdem, welche Gesellschaftstheorie auf ihn blickt: Homo oeconomicus und rationales Handeln bei den Ökonomen und homo sociologicus und normatives Handeln bei den Soziologen, zum Beispiel. Und in der Tat - die moderne biologische Anthropologie lehrt etwas anderes (vgl. Wilson 1998; Kapitel 7, insbesondere aber S. 181ff.; siehe auch schon Teil C der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“ insgesamt): Es gibt einen homo sapiens und der scheint, nach allem, was man weiß, auch nach einheitlichen Gesichtspunkten des „Verhaltens“ in Umgebungen zu reagieren, wobei die in neuronalen Strukturen, in „Gedächtnisknoten“, wie Edward O. Wilson sagt, verankerten kulturellen Schemata eine zentrale Rolle spielen. Der dritte Grund ist der hier gravierendste: Selbst wenn es verschiedene „Naturen“ des Menschen für verschiedene gesellschaftliche Situationen gäbe – wie sollte man aber nun auch, ohne eine übergreifende, „allgemeine“ Theorie der Selektion von Handlungstypen, erklären, wann ein Akteur warum gerade welche „Natur“ annimmt und sich nach einem bestimmten „Typ“ des Handelns richtet? Denn „daß“ es die Typen gibt, das wissen wir. Aber wir wollen (und müssen für die Zwecke der soziologischen Erklärung) wissen, „warum“ es dazu jeweils kommt. Kurz: Es würde gerade dann eine übergreifende Logik der Selektion benötigt, die regelrecht erklären kann, wann welcher Typ des Handelns gerade relevant ist, wenn man deren Existenz und Bedeutung anerkennt.
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Eine solche Erklärung der Selektion bestimmter „Typen“ des Handelns liefert das Framing-Konzept. Das wäre damit ein gewichtiger Schritt hin zu einer einheitlichen soziologischen Handlungstheorie, die davon ausgeht, daß es verschiedene „Typen“ des Handelns und entsprechend auch unterschiedliche „Logiken“ desselben gibt, die aber gleichwohl eine, sozusagen „darüber“ stehende, Logik benennt, nach der die Selektion der Typen des Handelns erfolgt. Der nun folgende Abschnitt soll genau das zeigen. Dabei gehen wir so vor: Weil sich das Problem am deutlichsten bei dem Konzept der von Max Weber so genannten Wertrationalität zeigt, werden die anderen Typen des Handelns (verschiedener Autoren; vgl. zu den Einzelheiten die Abschnitte 6.7 und 6.8 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“) eher kursorisch abgehandelt. Das genügt auch. Der eigentliche „Test“, ob eine „allgemeine“ und richtig erklärende Theorie des Handelns möglich ist, erfolgt dann in einem ausführlicheren Abschnitt über die sog. Wertrationalität (Abschnitt 7.8 unten in diesem Band).
Jon Elster: Normatives Handeln Am einfachsten ist die Rekonstruktion der Unterscheidung von normativem und rationalem Handeln von Jon Elster: Das normative Handeln ist, wenn es nicht schon „rational“ über Sanktionserwartungen gesteuert ist, ein durch eine Norm als Frame im as-Modus gesteuertes Handeln, und das rationale Handeln eines, das im rc-Modus stattfindet. Das normative Handeln ist dann also, genau wie Elster das feststellen möchte, eben nicht über die Kalkulation zukünftiger Konsequenzen, sondern über gewisse, zuvor erworbene Gedächtnisstrukturen gesteuert und, natürlich, über deren Match mit der erkennbaren Symbolik in der Situation (vgl. dazu auch die ganz analoge Unterscheidung einer „Logik der Kalkulation“ von einer „Logik der Angemessenheit“, wie sie James G. March und John P. Olsen vorschlagen, oder die der normativen und der interpretativen Rollentheorie; siehe dazu die Abschnitte 3.4 und 7.6 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie Abschnitt 2.1 oben in diesem Band). Das ist es eigentlich schon – einschließlich der Klärung der Frage, woraus denn jener eigenartige „grip on the mind“ besteht, den Elster für das normative Handeln für so typisch ansieht (vgl. dazu auch schon Abschnitt 5.2 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das ist, in der Sprache des Framing-Konzepts, nichts anderes als ein hoher Grad der Imposition des Frames, die Differenz also zwischen Reflexions-Motiv und Reflexionsschwelle, und die ist dann stets hoch genug für einen solchen „grip“, wenn der Match
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für den betreffenden Frame perfekt ist (vgl. zu den technischen Einzelheiten die Abschnitte 7.1 bis 7.4 oben in diesem Kapitel). Weil das Problem indessen nicht ganz so einfach ist, wie es hier scheint, und weil es auch noch andere Interpretationen der „Unbedingtheit“ einer Norm bzw. eines Wertes gibt, kommen wir darauf noch einmal zurück – bei der Frage nach der Wertrationalität im folgenden Abschnitt 7.8.
Max Weber: Affektuelles und traditionales Handeln Bei den – neben der Wertrationalität – drei weiteren Typen des Handelns von Max Weber (zweckrationales, affektuelles und traditionales Handeln) ist die Zweckrationalität der Fall, daß Frame- und Skript-Selektion im rc-Modus stattfinden, verstärkt womöglich noch durch einen eigenen, kulturell gestützten Frame der Rationalität als Code der Situation (vgl. dazu auch noch den folgenden Exkurs über die „Rationalität“ bei der „Definition der Situation“). Das affektuelle und das traditionale Handeln sind demgegenüber beides Fälle der unbedingten Geltung eines Frames bzw. eines Skriptes mit einer starken Imposition – weitab von jedem Gedanken an eine (zweck-)rationale Durchdringung der Situation oder der Kalkulation von zukünftigen Konsequenzen. Diese „Geltung“ ist beim affektuellen Handeln auch deutlich psychobiologisch, ja hormonell verankert und an gewisse, vom Akteur „rational“ kaum kontrollierbare, „trigger“ gebunden, wie Neid, Trauer, Liebe, Eifersucht, Haß, Frustration, Ärger oder Schuld, die jeweils von gewissen typischen Ereignissen unwiderstehlich ausgelöst werden.
Jürgen Habermas: Kommunikatives Handeln Das kommunikative Handeln bei Jürgen Habermas ist dann nichts anderes als eine besondere Art der inhaltlich rahmenden Orientierung auf die Situation: der Frame eines fraglosen Motivs der Verständigung. Die „Geltung“ dieses Frames wird jedoch nicht durch einen Match und eine automatische Reaktion, sondern durch „Argumente“ und „gute Gründe“ erzeugt (vgl. dazu oben in Abschnitt 7.6 bereits die Idee von dem Matching durch Legitimation). Es ist eine Art der „bewußt“ oder gar „rational“ herbeigeführten (unbedingten) Geltung dieses Rahmens – und eben nicht: eine Variante des „automatischen“ oder für die Folgen blinden Reagierens. Auch darauf werden wir gleich unten in Abschnitt 7.8 im Zusammenhang des Konzeptes der Wertrationalität noch näher einzugehen haben. Ansonsten lassen sich für die anderen Typen des
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Handelns bei Habermas die bisherigen Zuordnungen für das rationale Handeln (teleologisch bzw. strategisch bzw. dramaturgisch) einerseits und für das normative Handeln andererseits verwenden: Das teleologische bzw. das strategische und auch das dramaturgische Handeln (im Anschluß an Erving Goffman) ist auch im expliziten Verständnis von Habermas jeweils eine besondere Variante des (zweck-)rationalen Tuns. Und für das Habermassche „normative“ Handeln gilt entsprechend das, was oben zu Elster und seinem Typus des normativen Handelns und zu Weber zum Typ des traditionalen Handelns gesagt wurde: Es ist ein Fall für den as-Modus im Rahmen irgendeiner inhaltlich definierten und situational aktivierten Norm als „Frame“ der Situation, bei der über den „Sinn“ der Norm – „präkonventionell“ oder „konventionell“ – nicht weiter nachgedacht wird.
Hans Joas: Kreatives Handeln Bleibt noch das kreative Handeln von Hans Joas. Das soll, wie wir aus Abschnitt 6.8 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“ wissen, eine Art von integrierender Übertheorie für die beiden Pole des rationalen versus des normativen Handelns bilden. Nach seiner eigenen Einlassung ist für Joas die „Kreativität“ also keine Residualkategorie, etwa derart, daß darunter alles fällt, was nicht „rational“ oder „normativ“ erklärt werden kann. Leider verrät uns Joas aber nicht, wie diese Integration eigentlich gelingen soll, und wir fürchten, daß das mit den Mitteln der Handlungsphilosophie alleine auch nicht möglich ist. Das Framing-Konzept bietet aber gerade diese, für das kreative Handeln reklamierte Integration eine Lösung, denn es verbindet, wie wir gesehen haben, Aspekte des rationalen und des normativen Handelns und erklärt ja auch, wann der eine oder der andere Typus des Handelns vorliegt. Was will man mehr? Und das Selbst-Framing, von dem gerade oben in Abschnitt 7.6 die Rede war, jener besondere, von Joas für das (kreative) Handeln herausgestellte Vorgang, wonach sich das Handeln sozusagen selbst erst die Situation definiert, ließ sich ebenfalls leicht als ein weiterer Spezialfall des FramingKonzeptes rekonstruieren. Noch Fragen?
7.8 Wertrationalität Wir sehen: Mit den „Typen“ des Handelns kommt man über das FramingKonzept ganz gut zurecht, teilweise sogar schon mit der einfachen WETheorie. Die von Max Weber gesondert unterschiedene Wertrationalität ist je-
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doch ein ernsteres Problem. Wir werden aber zeigen, daß auch das nichts weiter ist als ein, wenngleich bemerkenswerter, Spezialfall des Framing-Konzeptes, wenn nicht sogar schon der einfachen WE-Theorie.
Was ist Wertrationalität? Werte sind kollektiv geteilte und für verbindlich angesehene Vorstellungen über wünschenswerte Zustände. Wir zitieren noch einmal die klassische Stelle bei Clyde Kluckhohn (u.a.) dazu (vgl. auch schon Abschnitt 4.1 aus Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): A value is a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means, and ends of action.” 16
Werte sind also gedankliche „Modelle“ des Wünschenswerten, und sie können damit als eine spezielle Form der kulturellen Frames verstanden werden, die das Handeln der Akteure rahmen und alles andere in der Tat ausblenden können. Insofern würde sich die Anwendung des Framing-Konzepts unmittelbar anbieten. Ein wertgeleitetes Handeln wäre demnach eines, bei dem der Frame des jeweiligen Wertes salient ist, ganz analog also zu den Fällen des normativen bzw. des traditionalen und des affektuellen Handelns, bei denen bestimmte Normen bzw. gewisse Emotionen salient sind. Das aber sind Formen des Handelns, bei denen es eine „Rationalität“ nicht gibt. Hier aber ist von der Wertrationalität die Rede. Was bedeutet das nun aber genau? Die klassische Definition von Max Weber sei hier vorsichtshalber noch einmal wiederholt (vgl. auch schon Abschnitt 6.7 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). „Wertrational“ ist danach ein Handeln, das bestimmt ist: „durch bewußten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg, ... .“17
16
Clyde Kluckhohn u.a., Values and Value-Orientations in the Theory of Action. An Exploration in Definition and Classification, in: Talcott Parsons und Edward H. Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge, Mass., 1954, S. 395; Hervorhebung so nicht im Original.
17
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 12; Hervorhebungen so nicht im Original. Vgl. auch schon Abschnitt 6.7 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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Wertrational zu handeln heißt also offenbar zuerst einmal, das Tun selbst als ein eigenes Ziel für „unbedingt“ wertvoll zu halten. Kaiser Wilhelm, der Zwote, und nicht nur er, hatte das als eine typisch deutsche (Primär-)Tugend so beschworen: „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun.“ Das klingt nicht nur heute etwas nach Kadavergehorsam, war aber, wenn man Weber, was man immer tun sollte, aufmerksam liest, offenkundig so einfach auch nicht gemeint: Die Werte beruhen bei der Wertrationalität auf einem „bewußten Glauben“, auf einem vom Akteur als wahr angenommenen Wissen also, das gedanklich reflektiert ist. Es handelt sich bei der Wertrationalität also offenbar um eine Art von Kombination des rationalen und des normativen bzw. traditionalen Handelns: Einerseits zählt hierbei kein einfacher instrumenteller und berechneter „Erfolg“, andererseits handelt es sich aber gleichwohl auch um einen „bewußten“, also wohl auch: „überlegten“, Glauben an die Bedeutsamkeit des „Eigenwertes“ des Tuns. Es ist, wenn man so will, der Fall, daß ein, auch emotional verankerter, „Anspruch“ durch eine „bewußt“ durchdachte und irgendwie „begründete“ Überlegung aufgebaut worden ist und jetzt so „besteht“ und das Tun bestimmt. Es ist offenkundig ein Spezialfall des Problems der Legitimität bzw. der Legitimation durch die Angabe von – mehr oder weniger elaborierten – „Erklärungen“, warum der betreffende Wert seine unbedingte Geltung richtigerweise beanspruchen kann (vgl. dazu schon Abschnitt 3.3, Kapitel 4 und Kapitel 11 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die weiteren Erläuterungen von Weber lassen an dieser Deutung des wertrationalen Handelns als einer Kombination von bewußtem, aber – wie es scheint – nicht irgendwie an einem instrumentellen Erfolg orientierten und Cfür sich“ auch schon wichtigen und mit gewissen Emotionen belegten, Tun keinen Zweifel: „Rein wertrational handelt, wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät, oder die Wichtigkeit einer ‚Sache‘ gleichviel welcher Art ihm zu gebieten scheinen.“ (Ebd.; Hervorhebungen so nicht im Original)
Die mangelnde Rücksicht auf die Folgen und eine gewisse, auf Internalisierungen zurückgehende, emotionale Besetzung ist typisch für das „normative“ bzw. das traditionale Handeln. Eine „Überzeugung“, die erste Komponente der Wert„rationalität“, ist aber stets eine Frage der im Prinzip durchdachten Überlegung: Der Akteur müßte auf Befragen – mehr oder weniger: wohlüberlegte – „gute Gründe“ angeben können, „warum“ er gerade diesem Grundsatz so bedingungslos folgt. Und so heißt es dann auch noch, daß sich das wertrationale Handeln gerade
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„ ... durch die bewußte Herausarbeitung der letzten Richtpunkte des Handelns und durch konsequente planvolle Orientierung daran ... “
vom affektuellen Handeln unterscheide (ebd.; Hervorhebungen so nicht im Original). Zwei Fragen stellen sich. Erstens: Wie ließe sich die so verstandene Wertrationalität dann im Rahmen des Framing-Konzeptes, bzw., einfacher vielleicht noch, der WE-Theorie unmittelbar, modellieren? Und zweitens: Wie ließe sich erklären, wann und warum Akteure ein derart wertrationales Handeln zeigen bzw., fast wichtiger noch, zu den dahinter stehenden „bewußten“ Überzeugungen kommen?
Die Modellierung der Wertrationalität: Drei Varianten Worin die Wertrationalität „besteht“ und wie sie sich dann auswirkt, läßt sich zunächst (formal) recht leicht modellieren. Drei Möglichkeiten bieten sich an. Alle drei sind nicht sehr zufriedenstellend. Man könnte erstens in die EU-Gleichung einer einfachen WEModellierung für das betreffende „wertrationale“ Handeln A, neben irgendeiner auch noch bestehenden Nutzenerwartung p⋅U, einen eigenen Nutzenterm U(A) einfügen, der mit dem Handeln „um seiner selbst willen“ unmittelbar auch sofort realisiert wird (vgl. dazu auch schon Abschnitt 5.2 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ zur Modellierung des intrinsischen Nutzens der Befolgung einer Norm). Das ist genau der „Wert“ in Nutzeneinheiten, den das Handeln „an sich“ für den Akteur hat. Die EUGleichung sähe dann so aus: EU(A)=p⋅U+U(A), wobei p⋅U das Gewicht der nicht auf den Wert bezogenen Anreize für die Alternative A wiedergibt, und U(A) den „unbedingten Eigenwert“ des betreffenden Tuns A. Und man sieht gleich: Es käme auch noch auf die Kosten des betreffenden Handelns und auf die Gewichte der im Prinzip immer vorhandenen Alternativen an, ob der Akteur dann tatsächlich seinen „Werten“ folgt oder nicht. Von „Unbedingtheit“ oder kompletter Ausblendung von Erfolgserwägungen könnte in diesem Falle also keine Rede sein. So geht es also wohl nicht. Daher liegt – zweitens – die für das normative bzw. das traditionale Handeln oben vorgesehene Modellierung über das Framing-Konzept näher: Wertrational ist ein Handeln dann, wenn der Match zwischen Situation und (wertender) Einstellung perfekt ist. Dann gibt es, wie wir wissen, ja keine weiteren Überlegungen, Anreize oder Erfolgserwartungen, sondern eine starke Salienz des Frames (bzw. „Wertes“) und eine hohe Imposition, eine starke „Auferlegtheit“ des Wertes also, die alle anderen Erwägungen und Umstände in den
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Hintergrund rückt. Aber das wäre gerade auch ein nicht sonderlich „bewußtes“ Handeln. Außerdem ist hier die Rede von einem Match etwas irreführend. Denn es dürfte ja, weil der Wert „unbedingt“ gilt, eben keinen Mismatch geben. Der Parameter m ist bei der Geltung von Werten immer gleich eins und darin gegen Änderungen in der Situation gerade unempfindlich (siehe dazu gleich unten mehr). Das wäre also auch keine Lösung. Die dritte Variante wird – an die Framing-Interpretation anschließend – durch das o.a. Zitat bei Weber nahelegt, das von einer „planvollen Orientierung“ des wertrationalen Handelns an den Maximen des Wertes spricht. Das könnte man auch so lesen: „Unbedingt“ gilt der Wert als Frame der Orientierung, weil der Match für die Geltung der Maximen unverrückbar „perfekt“ ist, aber innerhalb dieses Rahmens werden dann die einzelnen Handlungen bzw. Skripte „zweckrational“ ausgewählt. Genauso wie die Katholische Kirche auch immer zum unbedingten Lobpreis des Allerhöchsten ganz genau und sehr planvoll wußte, wie man an die irdischen Mittel dazu heranzukommen vermag. Oder wie die Nazis den (unglaublichen) Wert ihrer Rassenideologie für fraglos gültig hielten, die Umsetzung aber mit allen Mitteln der (Zweck-) Rationalität betrieben. Aber auch hier wäre die Orientierung an dem Wert nicht sonderlich „bewußt“, und deshalb ist auch das nicht die Antwort auf die Frage nach der Einordnung der Wertrationalität in die allgemeine Handlungstheorie des Framing-Konzeptes.
Die Unbedingtheit der Werte Wir sehen: Als Variante der „Logik der Selektion“ läßt sich das wertrationale Handeln formal zwar mühelos in das Konzept des Framings einfügen wie die anderen Typen des Handelns auch. Alles hängt dabei an dem „Match“ m von Situation und dem in der Identität der Akteure gespeicherten mentalen Modell des Wertes. Dieser Match muß für das wertrationale Tun „perfekt“, also gleich eins, sein, geradeso wie das auch für das normative bzw. das traditionale und das affektuelle Handeln gilt. Anders als bei diesen Handlungstypen, deren Auftreten – mehr oder weniger – auch von bestimmten Situationsumständen abhängig ist, darf sich dieser Match bei einem Wert jedoch unter keinen Umständen ändern. Denn sonst könnte nicht von einem „Wert“ und nicht von (absoluter) „Unbedingtheit“ gesprochen werden. Genau hier liegt aber, wie wir eben schon gesehen haben, das Problem, das den inhaltlichen Hintergrund für die recht einfache formale Modellierung abgibt. Man könnte nämlich einwenden, daß die o.a. Modellierung zwar formal in Ordnung sei, daß aber das inhaltliche Problem damit noch keineswegs ge-
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löst wäre. Nämlich: Wie kommt es denn, daß der Match auch dann perfekt und stabil ist, wenn die Situationsumstände eigentlich dagegen sprechen oder sich deutlich ändern? Denn das wertrationale Handeln ist ja, ganz anders als das „dumpfe“ traditionale Handeln, eben nicht die bloße und unreflektierte Ausübung des immer Gewohnten angesichts der immer gleichen Situationen. Es ist vielmehr die „bewußte“ Pflege einer kontrafaktischen Einstellung, gerade dann, wenn die Welt anders ist als es der Wert vorsieht. Es ist auch keine Folge irgendeiner „natürlichen“ Neigung der Menschen, etwa zu Fairneß oder Sympathie. Auch nicht die einer erworbenen Persönlichkeitsfixierung, etwa auf die Erfüllung von Pflichten, aufgrund von Konditionierungen eines „Gewissens“ im Prozeß der Sozialisation, mit der Folge, daß man sich ganz schlecht fühlt, wenn man anders handelt. Und es ist auch nicht bloß das Ergebnis einer stabilen sozialen Einbettung und von Prozessen des festen sozialen Framings, der wechselseitigen symbolischen Bestärkung einer bestimmten Definition der Situation also, wie das beispielsweise in Gruppen mit einer hohen Interaktionsdichte, etwa bei der Seekers-Sekte, bei den Wehrmachtsangehörigen im 2. Weltkrieg oder bei den Kindern in den Ferienlagerexperimenten bei Carolyn und Mustafer Sherif der Fall war (vgl. dazu auch noch Abschnitt 11.4 und die Kapitel 10 bis 12 unten in diesem Band). In allen diesen Fällen gibt es zwar auch eine „Unbedingtheit“ gewisser „Werte“ und, wie es aussieht, ein Fehlen der Orientierung an intendierten Erfolgen, und dann wäre die o.a. formale Modellierung in der Tat leicht und naheliegend. Aber das sind allesamt eben keine Formen des von Prinzipien und „bewußten“ Überzeugungen geleiteten Handelns. Kurz: Die Unbedingtheit der „Werte“ ist beim wertrationalen Handeln immer irgendwie auch „bewußt“ zu begründen. Wie aber wäre das denn möglich? Zwei Lösungen bieten sich an: subjektive Überzeugungen und argumentativer Diskurs.
Subjektive Überzeugungen Die erste Möglichkeit ist die Herausbildung einer individuellen (subjektiven) Überzeugung, daß es für die Geltung des betreffenden Wertes eine Reihe unhintergehbarer „guter Gründe“ gibt, die jedoch mit irgendwelchen „Konsequenzen“ oder gar einem „Erfolg“ nichts zu tun haben dürfen – denn sonst wäre es ja wieder irgendeine Variante der Zweckrationalität. Raymond Boudon hat das Problem am Beispiel des Diebstahls erläutert.18 18
Raymond Boudon, Multiculturalism and Value Relativism, in: Claudia Honegger, Stefan Hradil und Franz Traxler (Hrsg.), Grenzenlose Gesellschaft? Verhandlungen des 29. Kon-
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Der „Wert“, daß das Stehlen etwas schlechtes sei und daher zu Recht bestraft werden müsse, gilt so gut wie überall. Das aber habe nichts mit irgendwelchen „Konsequenzen“ zu tun. Denn wenn man es nur etwas genauer betrachte, dann gebe es keine negativen Konsequenzen des Stehlens, eher sogar das Gegenteil. Zwar verliere der Bestohlene sein Eigentum, sagen wir ein Autoradio, aber das habe jetzt ja der Dieb. Im Grunde seien die Folgen also neutral. Durch die Hehlerei von Diebesgut komme es zudem sogar zu einer Reihe von durchaus positiv zu sehenden gesellschaftlichen Folgen: Nun können sich auch die unteren Schichten hochwertiges elektronisches Gerät besorgen. Es tritt also eine Umverteilung des Reichtums von oben nach unten ein, viel wirksamer mitunter als das jede Fiskalpolitik tun könnte. Außerdem schafft das Stehlen Arbeitsplätze: für Polizisten, Rechtsanwälte, Richter und Vollzugsbeamte, bei den Versicherungen, sowie bei den Firmen, die für die Ersatzbeschaffung des Diebesgutes zusätzliche Aufträge erhalten. Kurz: Stehlen ist – so gesehen – alles andere als ein „bad thing“ (ebd., S. 112).
So geht es also nicht. Trotzdem gilt der Wert „Du sollst nicht stehlen“ so gut wie überall. Warum aber? Boudons Antwort ist die für die „bewußte“ Begründung von Werten übliche: Es müssen „gute Gründe“ angegeben werden, die sich aber eben nicht auf „Konsequenzen“ beziehen: „To explain the normal feeling that ‘stealing is ‚bad‘, one has actually to reconstruct the nonconsequential reasons behind it.“ (Ebd.)
Und wie soll das gehen? Nichts leichter, so Boudon, als das: „They are not difficult to find. Social order is based on a crucial principle: The principle that retribution and contribution – reward and contribution – should be congruent with one another. With the exception of particular circumstances, when for instance, citizens are physically or mentally unable to contribute, a reward must correspond to a contribution. Now, stealing is a typical violation of this basic principle of social organization, since the thief onesidedly attributes to himself a reward, without offering any contribution as a counterpart.” (Ebd.)
Also: Die soziale Ordnung insgesamt steht, so glauben die Akteure, auf dem Spiel, wenn man das Stehlen zuläßt, und zwar, weil die soziale Ordnung auf dem Prinzip der Reziprozität beruht, das durch das Stehlen typischerweise und signifikant verletzt wird. Das sind die „guten Gründe“, die „reasons“ für den Wert. Die aber aber, so Boudon weiter, hätten eben nichts mit irgendwelchen „konsequentialistischen“ Überlegungen zu tun: „Obvious as it is, this case shows that reasons, though of the not consequential type, can easily be discovered behind the feelings normally aroused by the act of stealing.” (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
gresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, des 16. Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie, des 11. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Freiburg i.Br. 1998, Teil 1, Opladen 1999, S. 111f. Siehe auch schon: Boudon 1996.
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Ähnliches gelte für andere Werte. Boudon nennt als Beispiele u.a. noch die Korruption, deren wirklicher Schaden nur sehr gering sei, und die Verringerung der Kindersterblichkeit durch eine bessere medizinische Versorgung, obwohl gerade das, wie man gut wisse, über die Folge der Überbevölkerung zur Verarmung mancher Länder der dritten Welt massiv beitrage. Aber praktisch überall rege man sich kräftig über die Korruption auf und wäre empört, wenn man Kinder sterben lasse, wenn eine medizinische Versorgung möglich wäre.
Argumentativer Diskurs Die zweite Antwort knüpft unmittelbar daran an, daß die Werte ihre Grundlage in „guten“ und letztlich von jedermann dann auch einsehbaren „Gründen“ haben. Sie erweitert diesen Gedanken nur um ein spezielles Verfahren zur Genese des Glaubens an die Unverzichtbarkeit und „Richtigkeit“ bestimmter Werte. Im ersten Fall war es die, wie auch immer erworbene, bloß „individuelle“ subjektive Einsicht in gewisse „notwendige“ Bedingungen und „Prinzipien“. Hier geht es um die soziale Konstitution eines solchen Wissens bzw. einer derartigen „bewußten“ Überzeugung. Es ist die insbesondere von Jürgen Habermas vorgeschlagene „argumentative“ und „diskursive“ Begründung gewisser Prinzipien des „guten“ gesellschaftlichen Lebens (vgl. dazu schon Abschnitt 11.2 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie noch einige Passagen aus Kapitel 9 unten in diesem Band). Das ist in seinem Kern nichts anderes als die in „herrschaftsfreier“ Kommunikation in einem Kollektiv von kompetenten und motivierten Akteuren vollzogene Vergewisserung, daß die Befolgung bestimmter „Prinzipien“ tatsächlich unerläßlich ist und daß das für alle – „kollektiv“ sowieso, aber auch „individuell“ – das Beste wäre. Dazu bedarf es auch einer Klärung von Sachfragen. Deshalb müssen die Teilnehmer an diesem Diskurs auch gewisse Kompetenzen besitzen. Vor allem aber müssen, so Habermas, alle vom „kommunikativen“ Motiv einer wirklichen Verständigung über die für das gute Leben wohl notwendigen Bedingungen durchdrungen sein und keinerlei „strategische“, „egoistische“ bzw. „perlokutionäre“ Hintergedanken pflegen oder gar eine Täuschung bewußt beabsichtigen. Die Angelegenheit ist stets die gleiche: die Benennung von – dann zwanglos einsehbaren und daher „universal“ geltenden – Grundsätzen, deren Befolgung für die Verwirklichung des Guten (und des Wahren und des Schönen) notwendig ist oder als notwendig erscheint. Habermas verfolgte dabei im übrigen auch das Ziel, gewisse „universale“ Werte herauszuarbeiten, die dann sogar, wenn man sich in einem argumenta-
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tiven Diskurs auf sie einigen könnte, eine „objektive“ Geltung beanspruchen könnten. Daß das nicht geht, für Werte ebenso wenig wie für deskriptive Aussagen, hat er bis heute nicht eingesehen – obwohl es viele sehr gute Gründe für die Auffassung gibt, daß sich eigentlich nichts „objektiv“ begründen läßt (siehe dazu auch noch unten mehr).
Gute Gründe versus Konsequenzen? Werte erhalten also, wenn wir Boudon und Habermas und mit ihnen vielen anderen folgen, durch „gute Gründe“ ihre „bewußte“ Unbedingtheit, nicht aber durch irgendwelche Überlegungen, die mit „Konsequenzen“ zu tun hätten. Wenn das so wäre, dann gäbe es für die hier beabsichtigte Vereinheitlichung der soziologischen Handlungstheorie unter dem Dach des Framing-Konzeptes in der Tat ein ernsthaftes Problem. Denn das Framing-Konzept ist – letztlich – immer noch eine Handlungstheorie, bei der, in der Modellierung jedenfalls, die von den Akteuren erwarteten oder sonst wie „assoziierten“ Konsequenzen eine systematische Rolle spielen (wenngleich auch, wie wir gesehen haben, Situationen leicht modellierbar sind, in denen diese Konsequenzen empirisch komplett ausgeblendet sind). Aber ist das wirklich so, daß bei den „guten Gründen“ gar keine Konsequenzen im Spiele sind? Wir glauben: nein. Die Antwort hat Boudon eigentlich selbst gegeben (ebenso, wenn man es denn nachlesen möchte, Habermas und alle anderen, die ähnlich argumentieren): Die Akteure bedenken vielleicht nicht, um im Beispiel zu bleiben, die Konsequenzen des Stehlens selbst, etwa für die Umverteilung von Reichtum oder den Erhalt von Arbeitsplätzen. Wohl aber denken sie an gewisse Folgen für die „soziale Ordnung“ insgesamt. Sie nehmen – richtigerweise oder nicht – an, daß mit der Zulassung des Stehlens diese Ordnung insgesamt auf das Höchste gefährdet sei. Und deshalb unterstützen sie den Wert, daß Diebstahl etwas schlechtes wäre – egal, ob wirklich gestohlen wird oder nicht und egal welche einzelnen sonstigen Folgen das hat. Die Befolgung eines Wertes wird offenbar als eine Art von notwendiger Bedingung für die Fortführung der gesamten gesellschaftlichen – und damit auch: der individuellen – Existenz angesehen. Es handelt sich bei den „guten Gründen“ um eine spezielle Alltagstheorie über die kausal als unerläßlich angesehene Funktion des wertgeleiteten Handelns für ... ja was denn? Na klar: für den Erhalt der „sozialen Ordnung“. Und das sind natürlich auch „Konsequenzen“. Was denn sonst?19 19
Vgl. dazu auch die entsprechende Kommentierung auf den oben geschilderten Versuch von Boudon, die „guten Gründe“ für die Werte als nicht-konsequentialistisch einzustufen,
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So gesehen schrumpft der Unterschied des zweckrationalen zum wertrationalen Handeln also darauf, daß es jetzt um „gesellschaftliche“ Konsequenzen geht und daß der betreffende Wert als eine nicht substituierbare „notwendige“ Bedingung dafür angesehen wird, an der alles Weitere hängt, und daß daher das betreffende Tun „unbedingt“ erfolgen muß. Es ist ein wenig so, wie wenn man einen Schlüssel verloren hat: Ohne ihn geht nichts mehr, und deshalb muß alles getan werden, daß er nicht verloren geht. Oder, wenn es denn doch passiert, muß alles andere stehen und liegen bleiben, und es wird ganz „unbedingt“ der Schlüsseldienst geholt – koste es, was es wolle. Die Schlüsseldienste schreiben gerade deswegen gerne sehr überteuerte Rechnungen – und die Kunden zahlen die dann auch (meistens). Die Suche nach einem verlorenen Schlüssel hat viel von dem an sich, was Max Weber mit Wertrationalität meint: Man ist überzeugt davon, daß es jetzt nur darum geht, wenn nicht alles verloren sein soll, und alles andere ist – einstweilen – unwichtig. Ähnliches gilt für abhanden gekommene Lebenspartner oder nicht anspringende Autos am Montagmorgen. Aber auch das gilt: Sind der Schlüssel oder der Lebenspartner wieder da, und springt das Auto dann doch wieder an, ist es mit dem Spuk der „Unbedingtheit“ sofort wieder vorbei. Bei Werten dürfte das nicht anders sein.
Und schon wird deutlich, daß es auch bei den Werten letztlich doch auch irgendwie um bestimmte „Ziele“ und gewisse „Konsequenzen“ geht, die mit dem wertgeleiteten Handeln in Verbindung stehen. Das wären dann zwar vielleicht keine kleinlichegoistischen Ziele und Konsequenzen, wohl aber „gesellschaftliche“, und – letztlich – damit also auch solche, bei denen durchaus auch die eigene individuelle Existenz betroffen ist.
Konstitutionelle Interessen Die guten Gründe berühren also offenbar insbesondere den Fall der sog. konstitutionellen Interessen. Das ist das Interesse der Akteure an der Geltung bestimmter Regeln des Zusammenlebens insgesamt, Regeln, die erkennbar dafür sorgen, daß es den Menschen unter dem Dach der betreffenden Verfassung ganz gut geht. Es geht dabei um die Erhaltung ganzer Lebensweisen und damit um die Geltung des eingelebten und für kaum ersetzbar gehaltenen Systems von bestimmten sozialen Produktionsfunktionen insgesamt, die etwa einer ethnischen Gruppe, einer Religionsgemeinschaft oder eines Berufsstandes. Dieses konstitutionelle Interesse ist dann besonders groß, wenn die geltende Lebensweise als zuträglich erlebt wird, wenn es einen individuellen exit nicht gibt und wenn eine gleichwertige Alternative nicht erkennbar ist (vgl. dazu auch schon Abschnitt 5.4 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Wenn es dann um diese Regeln und um die gesamte Alltagsorganisation geht, dann werden die Menschen, verständlicherweise, von Siegwart Lindenberg, The Extension of Rationality: Framing versus Cognitive Rationality, in: Raymond Boudon, L’acteur et ses raisons, Paris 2000, S. 179ff.
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stets sehr aufgeregt: Jetzt geht’s ums Ganze. Und wenn jetzt nichts geschieht, so weiß dort ein jeder, dann droht unter Umständen der komplette Untergang bzw. der komplette Verlust der eingelebten Alltagsverhältnisse. Und deshalb ist es dann ganz „unbedingt“ nötig, alles zu tun, damit diese Katastrophe eben nicht geschieht. Erst ein solches Wissen um diesen Zusammenhang erzeugt also die für das wertrationale Handeln so typische moralische und „unbedingte“ Tönung. Aber der „Wert“ des Wertes des entsprechenden wertrationalen Handelns ist gleichzeitig offenbar nichts anderes als der Ertrag an gesellschaftlichen Folgen, der mit dem jeweiligen konstitutionellen Interesse verbunden ist. Und das genau ist dann der – nur allzu gut versteh- und begründbare − Kern jeder gesellschaftlichen Moral und Solidarität und unseres (auch: individuellen) Interesses am Allgemeinwohl. Darauf war im übrigen schon David Hume gekommen (vgl. dazu schon Abschnitt 4.5 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser Speziellen Grundlagen“).
Die „rationale“ Basis der Werte Das ist ja sehr interessant: Wenn das wertrationale Handeln nicht bloß irgendeine Form des „unbewußten“ Befolgens gewisser eingelebter Maximen, die Folge einer Persönlichkeitsfixierung oder der Einbettung in stabile Bezugsumgebungen ist, sondern die Folge einer „bewußten“ Begründung von „Überzeugungen“, dann muß diese Begründung offenbar doch irgendeine Grundlage „außerhalb“ des bloßen Tuns „an sich“ haben. Das aber kann dann wiederum nur ein „instrumentelles“ Ziel sein – das der Sicherung einer „kompletten“ Lebensweise beispielsweise oder die Rettung der Menschheit, vor dem Spätkapitalismus oder vor der Barbarei der Moderne. Und somit wäre die Wertrationalität nichts anderes als eine spezielle Form nicht einmal nur des FramingKonzeptes, sondern sogar schon der einfachen Theorie des (zweck-)rationalen Handelns: Die „Werte“ werden von den Akteuren – individuell oder kollektiv – als notwendige Bedingungen für gewisse übergreifende Zielsetzungen angesehen. Und sie sind damit durchaus auch an „Konsequenzen“ und an „Erfolgen“ orientiert: die Sicherung einer „guten“ Gesellschaft bzw. einer funktionierenden sozialen Ordnung, zum Beispiel. Der Unterschied zum einfachen zweckrationalen Handeln scheint also weniger darin zu liegen, daß es bei den Werten um nichts ginge, sondern wohl eher darin: Es sind keine punktuellen oder individuellen Ziele und Erfolge, sondern zeitübergreifende und kollektive Projektionen, die das Tun bestimmen und ihm gegen alle punktuellen und individuellen Schwankungen seine „unbedingte“ Widerständigkeit geben –
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wie das bei den konstitutionellen Interessen ja auch der Fall ist. Das aber nur weil viel auf dem Spiele steht und weil das jeweilige Tun als notwendige, durch keine Alternative substituierbare, Bedingung dafür angesehen wird, daß dieses Ziel auch erreicht wird. Die „guten Gründe“ für die Werte leiten sich nur daraus ab. Woraus denn auch sonst? „Gründe“, und speziell die „guten“ Gründe, haben ja bekanntlich immer mit der „Rationalität“ von Überlegungen über Möglichkeiten und Konsequenzen zu tun (vgl. dazu auch schon Abschnitt 6.4 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Sie sind mit dem Prinzip der „rationalen“ Wahl sozusagen bereits logisch verbunden. Die Wertrationalität hängt letztlich also, wie man sieht, an bestimmten „beliefs“ der Menschen, an ihrem (subjektiven) Wissen also. Daß dieses Wissen unzutreffend sein kann und daß die „guten Gründe“ oftmals in Wirklichkeit so gut gar nicht sind, ändert daran nichts: Menschen können sich auch in ihren konstitutionellen Interessen irren und den falschen Werten anhängen. Sie können auch fälschlicherweise von der „Notwendigkeit“ gewisser Bedingungen ausgehen, etwa weil sie in ihrem Alltag die entsprechenden Erfahrungen gemacht haben. Und weil es, wie wir ja wissen, Letztbegründungen – weder für Wissen noch für Werte – nicht geben kann, kann die Möglichkeit des Irrtums bei den Werten auch kein ernsthafter Einwand sein, sie in der subjektiven, und daher stets falliblen Vernunft der Menschen verankert zu sehen. Es gibt eben kein Verfahren, mit dem man letztgültig bestimmen kann, was für das Wahre, Gute, Schöne, für die Heraufkunft der „guten“ Gesellschaft oder für die Sicherung der sozialen Ordnung wirklich „notwendig“ ist und das alles befördert. Auch der argumentative Diskurs nicht. Ein solches „Wissen“ läßt sich allenfalls in sozialen Interaktionszusammenhängen als beständig verstärkte Fiktion stabilisieren, in einem Akt des dogmatischen Abbruchs stillstellen oder über nicht mehr durchschaubare Konstruktionen als sicheres Wissen präsentieren, etwa in religiösen oder politischen Legitimations„theorien“ oder über verschleierte logische Zirkel. Aus dem Münchhausentrilemma führt eben kein Weg heraus, und das wird sich gerade dann bald zeigen, wenn es um die geforderte „bewußte“ Begründung der Werte bei der Wertrationalität geht. Und daher bleibt es bei der Vermutung, die die Theorie des rationalen Handelns, wie deren Modifikation im Konzept des Framings, ohnehin immer schon nahegelegt haben: Alles ist letztlich eine Frage des – jederzeit revidierbaren – Wissens, der Anreize und der Verfügbarkeit von Alternativen. Diese Folgerung wäre dann auch der wohl ernsteste empirische Testfall für die Richtigkeit der WE-Theorie bzw. des FramingKonzeptes. Und der Wertewandel wäre dann nichts anderes als eine Folge der Änderung des Wissens darüber, wie sich Gesellschaften zufriedenstellend organisieren lassen. Nach den Nazis und nach dem Stalinismus wissen wir, zum Beispiel, viel mehr darüber, wohin der gesellschaftliche Kollektivismus und der politische Totalitarismus führen können. Und es ist wohl nicht zu viel gesagt, daß gerade durch diese historischen Erfahrungen Werte wie Demokratie, Liberalität und Fairneß nunmehr ganz besonders gute Gründe für sich beanspruchen können, was vorher nicht unbedingt der Fall gewesen ist. Und warum? Ganz einfach: Weil man erlebt hat, wohin der Faschismus und der Stalinismus geführt haben, und daß das Ergebnis jeden das Fürchten lehren müßte, der einigermaßen bei Verstand ist.
Daraus aber folgt etwas – für viele Soziologen – Unerhörtes: Werte müssen, folgt man Weber und blickt man hinter die Rhetorik von der vorgeblichen Nicht-Konsequentialität der guten Gründe für die Werte, stets irgendwie doch „rational“, und das heißt: über ein gewisses „Wissen“ über bestimmte „Fol-
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gen“, begründet werden. Und die Verbindung muß auch logisch korrekt sein. Denn das wert„rationale“ Handeln ist ja eben kein traditionales oder bloß affektuelles oder sonst wie nicht bedachtes Handeln, sondern eines, das aus der „bewußten“ Anwendung des betreffenden Wissens folgt.
Wertrationalität und Framing Damit wäre das eigentliche Problem in diesem Abschnitt gelöst: Die Wertrationalität ist ein Spezialfall des Framing-Konzeptes. Sie verkörpert den Fall, daß der Parameter m von den Akteuren „bewußt“ auf eins fixiert bleibt, weil sie dafür „gute Gründe“ bedacht haben. Diese guten Gründe bestehen aus einem – wie auch immer erworbenen – Wissen über bestimmte notwendige Bedingungen für gewisse gesellschaftliche Konsequenzen, die der Akteur hoch bewertet, positiv oder negativ, je nachdem. Man könnte, so gesehen, das wertrationale Handeln sogar als eine spezielle Variante des (einfachen) zweckrationalen Handelns ansehen und brauchte dazu die Komplikationen des Framing-Konzeptes noch nicht einmal. Kurz: Auch die Wertrationalität fügt sich ganz problemlos in den Rahmen der damit formulierten einheitlichen soziologischen Handlungstheorie. Ihr besonderer „Typ“ ergibt sich, wie bei den anderen Typen des Handelns auch, alleine aus einer speziellen Konstellation der Randbedingungen bei den handelnden Akteuren. Und eben keineswegs daraus, daß es jetzt plötzlich eine ganz andere Logik bei der „Logik der Selektion“ gäbe.
Die Erklärung der Werte Eigentlich könnte man es an dieser Stelle dabei bewenden lassen, daß auch die Wertrationalität nicht dazu zwingt eine andere Handlungslogik anzunehmen. Wir wollen aber einige Gedanken über die sozialen und psychologischen Grundlagen der in der Tat ja durchaus besonderen Randbedingungen anfügen, unter denen es zu den „guten Gründen“ und dem festen Glauben an die Werte kommt. Denn die Werte sind ja, wie wir wissen, nicht unwandelbar, und es gibt auch zwischen den Gesellschaften und Gruppen darin deutliche Unterschiede. Die Angelegenheit wird durch den Umstand etwas komplizierter, daß es sich bei den guten Gründen um feste Überzeugungen handeln muß. Das aber ginge nur mit „Wissen“ über gewisse unzweifelhaft wahre (Kausal-) Zusammenhänge. Ein solches Wissen, das erst die Basis für die nötigen Überzeugungen abgeben könnte, ist aber, so wissen wir aus der Wissenschaftstheo-
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rie, grundsätzlich nicht möglich. Viele Menschen lassen sich aber augenscheinlich doch unbeirrt und „irrational“ von „Werten“ beeinflussen, von denen sie subjektiv fest „überzeugt“ sind. Wie aber kommt es denn dazu? Die Antwort ist nicht sonderlich schwer. Feste subjektive Überzeugungen sind natürlich auch dann möglich, wenn es „objektiv“ solche festen Begründungen nicht gibt. Dazu können die Akteure auf ganz unterschiedliche Weise gekommen sein: Sie haben für sich, etwa, das Problem durch einen, letztlich: stets willkürlichen, dogmatischen Abbruch beendet. Beispielsweise, weil sie einer für sie unangezweifelten Autorität folgen. Oder weil sie schon bei dem Gedanken, daß es anders sein könnte, das kalte Grausen überfällt – wie bei einem jungen katholischen Kaplan, der nicht glauben kann, daß sein Glaube falsch sein könnte, weil er ansonsten zugeben müßte, daß er sein Leben insgesamt falsch angelegt hat. Oder sie leben in einer sozialen Umgebung, in der alles so eingerichtet ist, daß ein anderes „Framing“ der Welt gar nicht anders denkbar ist. Meist ist beides verknüpft. Und meist geht es um stark vernetzte Überzeugungssysteme, „belief systems“ eben, bei denen die Änderung einer isolierten Einzelheit alles andere tangieren würde – und deshalb eben nicht in Frage kommt. Das wäre ein Spezialfall des Problems der kognitiven Dissonanz, eventuell verschärft über soziale Dissonanzen, die in der Gruppe sofort auftreten würden, wenn der Akteur seine „Überzeugung“ auch nur leise anzweifeln würde (vgl. dazu schon Abschnitt 3.3 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Kurz: Überzeugungen werden dann fixiert, wenn sie als „richtig“ und ertragbringend erscheinen und/oder wenn ihre Änderung als zu teuer oder gar als unmöglich erscheint. Die Stabilisierung eines bestimmten „Wertes“ als gerade auch „kontrafaktisch“ fixierter Bezugspunkt der Orientierung geschieht dann insbesondere über jene Prozesse der Rationalisierung und Legitimation, die wir in Abschnitt 7.6 oben in diesem Band besprochen haben. Das sind nichts anderes wieder als Versuche, die absolute Geltung eines Wertes irgendwie dann doch „rational“ zu „begründen“, und sei es mit dem, eigentlich nicht begründbaren, Hinweis, daß dieser Wert jetzt keinerlei Begründung mehr bedürfe, denn ... . Und genau hier steckt das Problem. Immer könnte weiter gefragt werden. Und nie gibt es ein wirkliches Ende. Warum es zu bestimmten Überzeugungen, Rationalisierungen und Legitimationen von „Werten“ kommt, wie sie über die verschiedenen sozialen Kategorien verbreitet sind und mit bestimmten gesellschaftlichen Lagen zusammenhängen, ist die Frage, mit der sich eine wichtige und interessante Unterdisziplin der Soziologie beschäftigt, die sog. Wissenssoziologie. Ihr Gegenstand ist die Erklärung der Verbreitung gewisser „Ideologien“: das subjektive Wissen der Akteure, ihre Überzeugungen und die dafür von ihnen herangezogenen Begründungen und Rechtfertigungen bzw. „Rationalisierungen“ und Legitimationen. Von Karl Marx stammt dazu eine wichtige und immer noch gültige Hypothese: Das „Sein“ der jeweiligen gesell-
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schaftlichen Lage, die typischen Interessen und Möglichkeiten der Akteure also, bestimmen das „Bewußtsein“ ihrer Überzeugungen und „Ideologien“. Max Weber hat das im Grunde ganz ähnlich gesehen: Die „Ideen“ der Menschen hängen eng mit der typischen Situation der Akteure und ihrer dadurch erzeugten Interessen zusammen, wie sie sich vor allem über die jeweiligen institutionellen Regeln ergeben. Max Weber meinte nur, daß die Ideen auf die Genese der gesellschaftlichen Institutionen und der materiellen Bedingungen einen eigenständigen Beitrag zu leisten vermöchten (vgl. dazu etwa auch schon den Abschnitt 25.3 in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“, sowie den Exkurs über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und daran ist auch nicht zu zweifeln.
Kurz: Es gibt einen Zusammenhang von Interessen, Institutionen und Ideen. Und der ist nicht zufällig, sondern erklärbar. Die Ideen der Menschen und ihre subjektiven Überzeugungen – damit ihre Werte – hängen eben nicht in der Luft der Interessenlosigkeit. Immer geht es letztlich auch um die Bewertung gewisser Konsequenzen. Hans Albert hat das in Bezug auf die soziale Begründbarkeit von „Ordnungen“, einem anderen Ausdruck für den Begriff des „Wertes“, so ausgedrückt: „Die Legitimität solcher Ordnungen im faktischen Sinne – ihre Anerkennung durch die Betroffenen – beruht letzten Endes auf ihrer Attraktivität unter Gesichtspunkten, die dem natürlichen Streben der Menschen nach Verbesserung ihrer Lebenssituation und ihrer Lebenschancen entstammen.“20
Unsere – wissenssoziologische – Antwort auf die Frage, warum Menschen bestimmte „Überzeugungen“ entwickeln und warum sie sie oft auch für ganz unzweifelhaft halten, liegt ganz auf dieser Linie: Bestimmte „beliefs“ über die „Verfassung“ einer Gesellschaft sind für die Akteure in bestimmten gesellschaftlichen Lagen naheliegender, meinetwegen: „nützlicher“, als andere. Und je höher die Opportunitätskosten einer „Konversion“ sind, um so fragloser glauben die Akteure daran (vgl. dazu auch schon Abschnitt 7.6 oben in diesem Band). Und wenn sie diese beliefs haben, dann ist, in der Sprache des Framing-Modells, der Match m für sie immer gleich eins, ganz unabhängig von dem, was sonst geschieht. „Bis auf weiteres“ würde natürlich Alfred Schütz an dieser Stelle einwenden.
20
Hans Albert, Die Verfassung der Freiheit. Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung, in: Hans Albert, Lesebuch. Ausgewählte Texte, Tübingen 2001, S. 334; Hervorhebungen nicht im Original.
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Nutzen und Moral Moral und Werte einerseits und Nützlichkeitsdenken und die Orientierung an Konsequenzen andererseits widersprechen sich also keineswegs. Mehr noch: Die Basis der Moral ist ihre Nützlichkeit für die „Lebenssituation“ der Akteure bzw. der Glaube daran. Es kann vor diesem Hintergrund dann sogar so etwas wie „allgemeine“ Werte geben. Das wären solche Vorstellungen einer „idealen“ Ordnung, denen wohl die allermeisten Menschen zustimmen könnten – aus einem ganz naheliegenden Grund, nämlich daß dann ihre Nutzenproduktion und die Befriedigung ihrer grundlegenden Bedürfnisse gesichert wären. Und was wären das für Konzeptionen und Ziele einer universalen „Verfassung“, was für universale „Werte“ also, die es mit sich brächten, daß die Akteure sie – unter Umständen gerade auch „an sich“ und gegen allen Augenschein der realen Verhältnisse und Bedrohungen – nachhaltig unterstützen und an ihnen selbst dann festhalten, wenn sie dafür kräftig bezahlen oder viel riskieren müßten? Hans Albert noch einmal: „Die regulativen Ideen der Sicherung des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes ... scheinen mir in dieser Beziehung hinreichend interessant zu sein. Eine soziale Ordnung, die unter diesen Gesichtspunkten allen anderen vorzuziehen ist, wird vermutlich den meisten Menschen hinreichend attraktiv erscheinen, um ihr eine gewisse Legitimität zuzusprechen, eine Legitimität, die auf ihrer Leistung für die Mitglieder der Gesellschaft beruht.“ (Ebd., S. 334f.)
Das ist, wie man sieht, nicht weit weg von Habermas und der Idee eines „guten“ Lebens. Im Ergebnis. Aber nicht in der Begründung. Bei weitem nicht! Denn auch dafür kann es nur eine soziale, aber nicht eine „objektive“ Begründung geben. Und gerade die hatte Habermas mit seinem Vorschlag vom argumentativen Diskurs beabsichtigt. Wieder einmal: Vergeblich.
Gesinnung und Verantwortung Damit sind wir, das Problem der Wertrationalität hier abschließend, an einem weiteren wichtigen Punkt angelangt, den auch wieder Max Weber in die Debatte um die „Geltung“ von Werten eingebracht hat. In seinem in jeder Hinsicht bemerkenswerten Essay über die „Politik als Beruf“ unterscheidet er zwei Arten von „Ethik“: die Gesinnungs- und die Verantwortungsethik.21 Die Gesinnungsethik ist eine Orientierung, die auf keinerlei weitere Folgen achtet, also eine, die tatsächlich vollkommen nicht-konsequentialistisch ist. 21
Max Weber, Politik als Beruf, 4. Aufl., Berlin 1964, S. 57ff.
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Das Handeln „an sich“ zählt, wenn es diese Ethik einmal gibt, ganz allein: „der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim“, wie Weber diesen Fall illustriert (Weber 1972, S. 58). Es ist jener Fall, den wir oben relativ leicht so modellieren konnten, daß der Match m – warum auch immer – unter allen Umständen perfekt ist und bei dem das an den jeweiligen Frame fest gebundene Skript eines Handelns unter keinen Umständen verändert wird. Und weil das so ist, macht, so Weber weiter, auf einen von seiner Sache ganz und gar „überzeugten“ Gesinnungsethiker der Hinweis auf irgendwelche Folgen „gar keinen Eindruck“ (ebd.). Es wäre der Fall des – politischen oder religiösen – Fundamentalisten. Für den „gilt“ sein Wert absolut, „losgelöst“ also, und es kann kein „Argument“ geben, das ihn davon oder von dem damit verknüpften Tun abbringen könnte. Für diese Folgen lehnt er auch jede Verantwortung ab. Damit habe er nichts zu tun. Dann sei die Welt eben zu schlecht und die Menschen zu dumm dafür. Das ist bei der Verantwortungsethik, die Max Weber dem Politiker für dessen Umgang mit der Macht des Staates anempfiehlt, anders. Auch sie ist an gewisse, durchaus sogar: „unbedingte“, Werte gebunden. Aber sie achtet dann doch stets (auch) auf gewisse Folgen und sieht sich in „Verantwortung“ dafür, daß der Zweck eben nicht jedes Mittel heiligt. Es ist, wenn man so will, jener, auch schon oben skizzierte Fall, daß der Frame der Orientierung unbedingt gilt, nicht aber das Skript des Handelns. Für das Handeln im „Rahmen“ des jeweiligen Wertes wird also immer noch einmal eine Art von „rationaler“ Reflexion eingeschaltet, bei der dann auch auf gewisse (Neben-)Folgen geachtet wird.
Buback, der Göttinger Mescalero und Jürgen Trittin Am 25. April 1977 erschien in der Zeitung des Göttinger AstA jener berühmte Brief eines „Göttinger Mescalero“, der seine „klammheimliche Freude“ über den kurz davor von der RAF verübten Mord an dem Generalbundesanwalt Buback nicht verhehlen „konnte und wollte (und will)“. Nach einigen, etwas pubertären, rechtfertigenden Bemerkungen dazu, die wir hier nicht weiter kommentieren wollen, steht in dem Brief dann (unter anderem) aber auch das folgende: „Wenn Buback kein Opfer des Volkszornes wird ... , dann geht die Gewalt, die so ausgeübt wird, ebenso wenig vom Volk aus, wie Bubacks Gewalt vom Volke ausging. ... . Was wir auch tun: es wirft immer ein Licht auf das, was wir anstreben. Wir werden unsere Feinde nicht liquidieren. ... . Unser Zweck, eine Gesellschaft ohne Terror und Gewalt ..., eine Gesellschaft ohne Zwangsarbeit ..., eine Gesellschaft ohne Justiz, Knast und Anstalten (wenn auch
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nicht ohne Regeln und Vorschriften oder besser: Empfehlungen) dieser Zweck heiligt eben nicht jedes Mittel, sondern nur manches. Unser Weg zum Sozialismus ... kann nicht mit Leichen gepflastert werden.“22
Das ist ohne Zweifel ein, wenngleich vielen vielleicht als etwas merkwürdig erscheinendes, Beispiel für die Verantwortungsethik, von der Max Weber spricht: Das Ziel des Sozialismus gilt dem Göttinger Mescalero ganz unbedingt und wird wohl auch von einer „bewußten Herausarbeitung der letzten Richtpunkte des Handelns“ untermauert gewesen sein, etwa über die Schriften von Karl Marx oder denen der Frankfurter Schule. Aber es heiligt auf dem Weg dahin eben nicht jedes Mittel jenen hehren Zweck; die Benutzung bestimmter Mittel ist über die inhaltliche Definition des betreffenden Wertes ausgeschlossen. Das ist bei einem Gesinnungsethiker anders, der alle Mittel für anwendbar hält, und die RAF bestand schließlich nur noch aus solchen (unverantwortlichen) Gesinnungstätern – ebenso wie mancher auf der anderen Seite der Barrikade. Von dem Umweltminister der rot-grünen Koalition unter Schröder, Jürgen Trittin, gab es aus diesen Tagen ein Statement, das ein hohes Verständnis für den „Mescalero“ bewies. Als er ca. 25 Jahre nach diesen heißen Tagen vom Sohn Bubacks im ICE zwischen Göttingen und Berlin darauf angesprochen wurde, hat er den – verständlicherweise – erregten Buback junior, etwas barsch wohl, gerade noch auf den Schluß des Briefes hinweisen können. Das hat der aber, wie mancher andere damals schon, wohl nicht mehr gehört oder hören wollen. Und der Schluß des Briefes ist für diesen Teil der 68erGeneration, zu der ja auch unter anderem Joschka Fischer gehörte, in der Tat erheblich signifikanter gewesen, wie ihr weiterer Lebensweg dann gezeigt hat. Die haben sich, besonders durch die Schleyer-Entführung im Herbst 1977, durchaus auch von gewissen Folgen darin beeindrucken lassen, wie weit sie es mit ihrem Tun noch kommen lassen wollten, und nur die Gesinnungsethiker der RAF haben weiter die Bomben geworfen. Manche haben angesichts dieser Folgen dann sogar auch noch einmal über die Werte nachgedacht, in deren Namen das alles geschah.
Und noch einmal: Die Unmöglichkeit „letzter“ Werte Max Weber läßt keinen Zweifel daran, daß er die (strikte) Gesinnungsethik auch außerhalb der Politik für fragwürdig hält. Das hat bei ihm auch damit zu 22
„Die klammheimliche Freude“ des Mescalero. Das Pamphlet vom 25. April 1977, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 18, 2001, S. 5.
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tun, daß er ja als Wissenschaftstheoretiker weiß, daß sich kein Wert letztlich „objektiv“ begründen läßt. Und wenn das so ist, dann kann es natürlich immer die Möglichkeit von (Neben-)Folgen geben, die die ganze subjektive Begründung und die für so unzweifelhaft angesehenen „guten Gründe“ wieder in Frage stellen könnten. Und dann skizziert er auch noch einmal jenes grundsätzliche Problem, vor dem jeder Versuch steht, gewisse „Werte“ ein für allemal objektiv zu fixieren: „Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, daß die Erreichung ´guter´ Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, daß man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt, und keine Ethik der Welt kann ergeben: wann und in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch gefährlichen Mittel und Nebenerfolge ‚heiligt‘.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
So ist es. Und wenn man dann schon einmal so weit ist, dann ist auch die Frage nicht mehr fern, für welches „Gut“ denn die Erreichung der „guten“ Zwecke eigentlich gut sein soll. Das aber ist nichts anderes als die Frage nach den „Konsequenzen“ auch der guten Zwecke. Was das wieder für die Einordnung der Wertrationalität in das Framing-Modell bzw. in die WE-Theorie und damit für die beabsichtigte Einheit der soziologischen Handlungstheorie bedeutet, müßten Sie sich jetzt eigentlich selbst leicht ausmalen können.
7.9 Towards A General Theory of Action? Es scheint also, als ob sich die verschiedenen Gesichtspunkte und „Typen“ der diversen Theorien des Handelns und Verhaltens über das FramingKonzept in eine Logik der Selektion integrieren lassen. Das sieht, wie man feststellen kann, selbst für den auf den ersten Blick etwas sperrigen Fall der Wertrationalität ganz so aus. Damit scheint ein altes Problem der soziologischen Handlungs-theorie endlich gelöst: Man kann bestimmte Typen des Handelns unterscheiden – und hat dennoch eine einheitliche und damit allgemeine Theorie des Handelns. Mit der einfachen Theorie des rationalen Handelns, etwa in Gestalt der üblichen WE-Theorie, war das nicht möglich. Sie ist in der Tat eine Theorie, die nur auf ein „Paradigma“ paßt. Das FramingKonzept ist dagegen eines für alle: Eine Handlungstheorie für alle Paradigmen und Handlungstypen. Das Konzept hat vor diesem Hintergrund noch eine Reihe weiterer Vorteile. Es ist sehr einfach: Als Variablen gibt es nur Erwartungen und Bewertungen. Und die Logik der Selektion ist bekannt und bewährt. Es sind die Regeln der WE-Theorie. Vor allem aber trägt das Konzept der begrenzten Rationalität des Menschen systematisch Rechnung, ohne seine Fähigkeit
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zu Raffinesse und auch hohen Graden der (Zweck-)Rationalität zu übergehen. Die entscheidende Selektion ist sehr einfach: Das Matching ist nichts als eine Art der „Mustererkennung“. Und das ist keine Frage irgendeiner anstrengenden „Wahl“ oder „Entscheidung“, sondern ein unaufwendiger spontaner Vorgang, an den sich freilich, wie wir gesehen haben, unter angebbaren Umständen Prozesse der Reflexion und der „rationalen“ Entscheidung anschließen können (vgl. dazu auch noch den gleich anschließend folgenden Exkurs über die „Rationalität“ bei der „Definition der Situation“).
Kurz: Das Framing-Konzept ist bereits eine „general theory of action“! Es ist nicht bloß ein Schritt „towards“ einer solchen. Dabei sind alle drei Worte wichtig: „general“, „theory“ und „action“. Das Konzept ist allgemein, weil es auf alle Exemplare des homo sapiens zutrifft, auf alle denkbaren Situationen anwendbar ist und alle „Typen“ des Handelns umschließt. Es ist eine Theorie, weil es eine Prämisse als Ursache, die Erwartungen und Bewertungen der Frames und der Skripte, eine Konklusion als Folge, die Modelle und die Modi, sowie eine eindeutige funktionale Regel für die Selektion, die Regel der Maximierung nach der WE-Theorie, gibt. Und es ist eine Theorie der Selektion des Handelns in einer momentanen Situation. Es ist dagegen noch keine Erklärung der weiteren Folgen dieses Handelns oder der Entstehung der Randbedingungen dieser momentanen Selektion. Dazu werden andere Dinge benötigt, wie wir aus der Logik der (soziologischen) Erklärung wissen. Aber sie ist die unentbehrliche Grundlage aller dieser Erweiterungen, insbesondere derjenigen, bei der es um die „soziale Konstitution“ der Frames und der Skripte geht, wie die nächsten drei Kapitel noch zeigen werden. (vgl. dazu aber schon die Skizze des Vorgangs in Abschnitt 7.6 oben in diesem Band)
Soweit also. Abschließend dann noch eine letzte, sozusagen fachpolitische, Anmerkung: Die Ökonomie, die (Sozial-)Psychologie und die Soziologie haben, wie wir wissen, jeweils ihre eigenen, oft sorgfältig gepflegten blinden Flecke: Die Ökonomie kennt nur die Knappheiten, die Anreize und die maximierende Rationalität, die (Sozial-)Psychologie nur die Kognitionen und die „Einstellungen“ und die Soziologie nur die Normen, den Sinn, die Symbole, die Kultur und die im Prinzip nicht-rationale Orientierung daran. Mit dem Framing-Konzept werden diese Einseitigkeiten zugunsten auch einer allgemeinen Theorie des Handelns für alle Gesellschaftswissenschaften aufgelöst: Das Handeln folgt immer den Knappheiten und Anreizen, der Wahrnehmung von Objekten und der Orientierung an Gedächtnisstrukturen, und – darüber dann – den kulturellen Modellen der Definition der Situation. Manchmal geht das in einem „rationalen“ Modus und manchmal nicht. Aber wann das jeweils der Fall ist, kann gut erklärt und verstanden werden – mit Hilfe der Regeln der WE-Theorie, angewandt auf die Selektion des Bezugsrahmens.
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Exkurs über die „Rationalität“ bei der „Definition der Situation“ Daß dem Handeln eine besondere „Definition“ der Situation vorausgehe, ist bis auf den heutigen Tag eine der tiefsten Grundüberzeugungen der Soziologie. Selbst die soziologische Systemtheorie nach Luhmann, die doch ansonsten kaum einen der Grundbegriffe der Soziologie nicht auf den Kopf gestellt hätte, hält daran fest, wenngleich, wie üblich, unter eigenartigen Bezeichnungen wie dem Begriff der „Erwartungserwartung“, des „Selektionszusammenhangs“ oder des „Selektionsbereichs“. Das sind, wieder in der Sprache der soziologischen Systemtheorie, „Reduktionsperspektiven für ein Verhältnis von System und Umwelt“ oder „Systemreferenzen“, unter denen – man höre aber! – „gewählt“ werden kann.23 Es stimme nämlich, so wieder Luhmann, daß „ ... auch Selektionszusammenhänge seligiert werden können. Die Selektion wird doppeltselektiv: sie wählt unter den zur Wahl stehenden Möglichkeiten diese (und nicht andere); und sie wählt einen Möglichkeitsbereich, ein ‚Woraus‘ der Selektion, in dem erst sich eine bestimmbare Zahl von Alternativen mit deutlichen Tendenzen für bestimmte Optionen abzeichnen.“ (Ebd., S. 188; Hervorhebungen so nicht im Original)
Das ist exakt das, was wir oben als die Selektion von Frames (und Skripten) bezeichnet und modelliert haben. Und, wie üblich, ist kaum jemand zufrieden. Die Vorstellung von den Frames als „Reduktionsperspektiven“ stößt bei vielen Ökonomen, die allein die Nutzentheorie und die rationale „Wahl“ gelten lassen wollen, auf viel Unverständnis. Und umgekehrt können sich die meisten Soziologen das rationale Handeln kaum vorstellen, allenfalls wiederum nur als Sonderfall der normativen Orientierung, der Norm zur Zweckrationalität nämlich. Das rationale Handeln des homo oeconomicus ist für sie nur einer der vielen anderen „Typen“ des Handelns und daher von nur eingeschränkter Gültigkeit, womöglich nur in Gesellschaften vorkommend, in denen die Gesetze des Marktes, des Kapitals und des Ellenbogens herrschen. Und daß sich die Frames auch noch „wählen“ lassen sollten, ist ihnen, anders jedoch als Luhmann, wie wir gesehen haben, ebenfalls unvorstellbar. Mit dem Framing-Modell sind diese Gegensätzlichkeiten leicht auszuräumen: Das rationale Handeln ist – in der Tat – zunächst ein Spezialfall des Framing. Rationales Handeln gibt es danach in zwei Varianten. Erstens ist die Rationalität, wie üblicherweise angenommen, jener besondere Modus der systematischen Informationsverarbeitung bei der Frame- und Skript-Selektion. Es ist eine besondere Heuristik der Entscheidung und der wichtigste Fall des reflexiven Handelns. Nach dem, was wir in Abschnitt 7.7 über die Wertrationa23
Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, S. 188f.
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lität gesagt haben, gehört auch die Ausbildung von „bewußten“ Überzeugungen, die die Grundlage für die Werte im Sinne Webers bilden, dazu. Zweitens kann die Rationalität aber auch den inhaltlichen Code des Modells einer Situation oder eines Handelns abgeben und, sozusagen, vorschreiben, daß jetzt nachgedacht und „berechnet“ werden soll. Sie ist dann eine Norm für die Art der Entscheidung in bestimmten Situationen. Das gilt beispielsweise für die Sphäre der Wirtschaft, in der ja normativ erwartet wird, daß sich die Akteure eben nicht altruistisch, affektiv oder traditional verhalten, sondern egoistisch, kühl und zweckrational. Wer dort auf Gefühle und Nachsicht setzt, wird nicht verstanden, oft verlacht, wenn nicht ohnehin sofort vom Markt gefegt – ganz anders als, etwa, im Milieu der Sozialarbeiter und der Kirchentage, wo Nachsicht, Gefühle und lila Halstücher mit einem ganz analogen Nachdruck erwartet werden. Und dann kann es sogar sein, daß sich das Modell der Rationalität normativ so stark auferlegt, daß über das rationale Handeln nicht mehr nachgedacht, sondern – sozusagen – automatisch reflektiert und rational gehandelt wird.
Das Konzept des Framings integriert also ersichtlich die ökonomische und die soziologische Sichtweise, für die J.S. Duesenberry einmal gesagt hatte, daß die Ökonomie die Wissenschaft von der Wahl zwischen Alternativen sei, und die Soziologie die Lehre davon, daß die Menschen keine Wahl haben. Diese beiden Sichtweisen sind jede für sich ja auch nicht einfach falsch oder richtig: Die Definition der Situation durch das Framing legt – mehr oder weniger: „auferlegt“ – fest, was zu geschehen hat, aber die Frames und die Skripte sind ihrerseits Alternativen, zwischen denen sich der Akteur „entscheiden“ kann. Es scheint also noch eine dritte Ebene zu geben, auf der das Prinzip der Rationalität gültig ist: die Selektionen beim Framing selbst. Sie werden ja nach den Regeln der WE-Theorie und damit als maximierende „Wahl“ zwischen Alternativen modelliert. Es sieht also so aus, als würde „rational“ entschieden, ob man sich rational entscheidet oder nicht. Das aber ist eine, wenigstens zunächst, paradox scheinende Angelegenheit (vgl. dazu auch schon den Exkurs über die Frage, wie es denn möglich wäre, sich zu entscheiden, nicht zu entscheiden oben in diesem Kapitel): Die Theorie des rationalen Handelns steuert offenbar ihre eigene Anwendbarkeit. Sie wäre damit eine Art von MetaTheorie über sich selbst. Und geht denn das? Kann man sich denn – zum Beispiel – rational entscheiden, nicht rational zu handeln? Kann man beschließen, nichts zu beschließen? Kann man wollen, etwas nicht zu wollen? Und so weiter. Und führt die einmal begonnene Meta-Entscheidung nicht obendrein in einen unendlichen Regreß immer höher geschraubter Meta-Entscheidungen, etwa rational zu entscheiden, nicht rational zu entscheiden, rational zu entscheiden (und so fort)? Ist das Konzept der Frame-Selektion damit nicht in sich widersprüchlich oder mindestens unanwendbar?
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Die Antwort lautet eindeutig: nein. Die Begründung ist – zumal nach den Erläuterungen in den Abschnitten 7.1 und 7.3 bzw. den daran schließenden Exkurs über die Frage, wie es denn möglich wäre, sich zu entscheiden, nicht zu entscheiden, sowie den in den Kapitel 5 und 6 darstellten Einzelheiten zu den damit verbundenen neurophysiologischen kognitiven und emotionalen Vorgängen – nicht schwer: Zwar wird die WE-Theorie formal auf die Modellund Modus-Selektionen angewandt. Aber der alles bestimmende inhaltliche Vorgang ist eben keine innere „Entscheidung“, sondern die Bildung der Geltungs-erwartungen m bzw. 1-m für ein Modell über das Matching der Objekte der Situation mit den Gedächtnisstrukturen. Das aber ist immer eine automatische, vom Willen und vom Bewußtsein des Akteurs unabhängige Angelegenheit. Denn das hatten wir schon in Kapitel 5 oben in diesem Band erfahren: Das Gehirn konstruiert seine subjektive Welt automatisch nach seinen eigenen Gesetzen und steigert die Aufmerksamkeit unter bestimmten Bedingungen spontan – stets auf der Grundlage der „objektiven“ Sinneseindrücke. Das „Bewußtsein“ ist nur ein Korrelat der Suche nach wieder ordnenden Strukturen, wenn eine Sache als wichtig und neu erlebt wird. Die Entstehung des Bewußtseins kann also nicht bewußt gesteuert werden. Der Parameter m bzw. (1-m) wird ausschließlich von der vorher bestehenden Zugänglichkeit einer bestimmten „Einstellung“ und von der „objektiven“ Existenz gewisser Objekte, Reize, cues oder Symbole in der aktuellen Situation, sowie der „objektiven“ Abwesenheit von „störenden“ Elementen in dieser Situation bestimmt. Und das sind allesamt Sachverhalte, die nicht „entschieden“ oder „gewählt“ werden können.
Ob und in welchem Grade ein bestimmtes gedankliches Modell aktiviert wird oder nicht und welcher Modus der Informationsverarbeitung dann dabei „eingeschaltet“ wird, hat der Akteur also eben nicht in der Hand. Es geschieht einfach mit dem Matching. Bei der WE-Modellierung der Framingvorgänge wird auch nicht viel an „substantieller“ Rationalität vorausgesetzt. Der Akteur muß keineswegs „perfekt“ informiert sein. Er muß lediglich – latent – mit „Modellen“ für die wichtigsten typischen Situationen seines Alltags ausgestattet sein und mit einer groben Schätzung im Horizont der offenen Möglichkeiten, wie kostenträchtig und erfolgversprechend die Suche nach neuen Informationen wäre. Das ist nicht zuviel verlangt. Und er muß auch nichts „kalkulieren“. Alles wird über den Match m gesteuert. Bei einem perfekten Match (mit m=1 für einen Frame i) muß der Akteur nur wissen, daß der Nutzen für das aktivierte Modell i Ui größer als null ist. Und bei einem Mismatch (mit mC/pas gilt, wird deutlich, wann es nicht zu irgendeiner antizipatorischen Sozialisation kommt: Wenn die Aussichten, in die Gruppe aufzusteigen oder überzuwechseln, gegen null gehen, dann unterbleibt die antizipatorische Sozialisation oder Investition, auch dann, wenn die Aspirationsgruppe(n) noch so attraktiv sind. Sie unterbleibt natürlich auch dann, wenn der Status quo vergleichsweise attraktiv und/oder die Sozialisationskosten hoch sind. Den Haupteffekt haben aber auch hier wieder die Erwartungen auf den Erfolg nach Maßgabe des reality principle: Sie müssen eine gewisse Mindestgröße haben, damit das pleasure principle überhaupt zum Zuge kommen kann. Wenn die antizipatorische Sozialisation aus den geschilderten Gründen unterbleibt, dann kann das – simultan oder hinterher – natürlich wieder zu einem „gewollten“ Verzicht auf eine bestimmte Aspiration zur Aufnahme in eine bestimmte Gruppe führen: Die Erwartung pai hat dann, weil pa
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mit dem Verzicht auf die antizipatorische Sozialisation gleich null ist, nur noch den Wert pi. Und der alleine ist oft genug nicht hinreichend hoch, um zur Aspiration auf die Mitgliedschaft in der betreffenden Gruppe zu führen.
Die Wahl einer Aspirationsgruppe bzw. die Aufnahme einer antizipatorischen Sozialisation ist eng mit dem oben beschriebenen Vorgang des sozialen Vergleichs verbunden: Über den Vergleich nach Ähnlichkeit werden die Erwartungen für die Bestimmung der Aspirationsgruppe bzw. für die antizipatorische Sozialisation gebildet. Wenn jemand, der mir in „relevanten“ Eigenschaften ähnlich ist, tatsächlich aufgestiegen ist, eventuell nach einer entsprechenden antizipatorischen Sozialisation, dann treibt das die Erwartungen nach oben, daß mir das auch gelingen kann. Wenn dagegen niemand mit vergleichbaren relevanten Eigenschaften zur anderen Gruppe gewechselt ist oder wenn gar alle Investitionen in eine antizipatorische Sozialisation sich schließlich als Fehlinvestitionen erwiesen haben, dann gehen die Erwartungen auf einen Wechsel der Mitgliedschaft gegen null. Auf diese Weise läßt sich leicht erklären, warum es in Gesellschaften gerade mit sehr ausgeprägter sozialer Ungleichheit, mit deutlichen Klassen- oder gar Kastengrenzen meist sehr geordnet zugeht und warum die Menschen in den unteren Klassen oder Kasten hier scheinbar teilnahmslos ihr Los hinnehmen: Die Erwartung, den Aufstieg in eine höhere Klasse oder Kaste tatsächlich zu schaffen, ist so klein, daß alle Bemühungen dazu von vorne herein unterlassen werden. Und das hat schließlich die Folge, daß ein solcher Wechsel geradezu für undenkbar gehalten wird. Die – religiöse oder sonstige – Legitimation solcher extremen Systeme der sozialen Ungleichheit sind dann nur noch der Überbau dieser „realistischen“ Verhältnisse und der damit verbundenen Entscheidungen der Akteure bei der Wahl ihrer Aspirationsgruppen (vgl. dazu auch schon Kapitel 4 in Band 2 „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). *** Es ist nicht mehr so rasend neu und es ist auch nicht mehr besonders wichtig, aber es soll gleichwohl auch an dieser Stelle, wie an vielen anderen vorher schon, noch einmal erwähnt werden: Die verschiedenen Vorgänge auch bei der „Wahl“ von Bezugsgruppen lassen sich, wie wir gesehen haben, leicht und ohne größere Verrenkungen mit den Mitteln der WE-Theorie rekonstruieren: Immer sind Werte und Wissen, Nutzen und Wahrscheinlichkeiten, Anreize und Erwartungen, „pleasure“ und „reality“ beteiligt – seien es Relevanz und Ähnlichkeit beim sozialen Vergleich, seien es Glaubwürdigkeit und Wichtigkeit bei der Beeinflussung, sei es das Framing bei der Identifikation
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mit einer Gruppe als Spezialfall der WE-Theorie oder seien es die Attraktivität und die Erwartungen bei der Bestimmung der Aspirationsgruppe bzw. bei der antizipatorischen Sozialisation. Und wieder sieht man die besondere Leistungsfähigkeit der WE-Theorie: Sie integriert nicht nur die vier verschiedenen Prozesse der Bezugsgruppenwahl in ein einheitliches theoretisches Modell, sondern sie erlaubt durch die spezifische Art der Verknüpfung von Wissen und Werten Einsichten, die ansonsten kaum zu gewinnen wären – wie etwa eine einfache Erklärung dafür, warum es in New Delhi die Elendsquartiere schon kaum eine viertel Meile von den Luxushotels entfernt gibt – und niemand hier und da überhaupt Notiz voneinander nimmt.
11.3.4 Strukturelle Folgen: Horizontale und vertikale Segregation Soziale Gruppen sind, insbesondere als Primärgruppen und Lebenswelten, ein Ort der besonders effizienten Produktion von Nutzen, vor allem von sozialer Wertschätzung. Das eigene kulturelle Kapital, wie Sprache, Hintergrundwissen und Sinnbezüge, ist außerhalb bestimmter Gruppen kaum noch etwas wert (vgl. dazu auch schon Kapitel 4 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, sowie Abschnitt 8.3 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und als Aufsteiger von der zweiten in die erste Liga müssen sich die meisten ganz kräftig abstrampeln, um zu Rande zu kommen. Gleichgültig, ob es um kulturelle Unterschiede in Wissen, Werten und Fertigkeiten oder um Unterschiede im Status bzw. Prestige geht: Die Möglichkeit der Wahl einer Bezugsgruppe, die nicht die Mitgliedschaftsgruppe ist, und der tatsächliche Wechsel dorthin, haben auch wichtige strukturelle Folgen. Die sog. Segregation ist wohl die wichtigste derartiger struktureller Folgen. Als Segregation wird allgemein die systematische Sortierung von Akteuren in einem Raum bzw. nach ihren Beziehungen bezeichnet. Eines der geläufigsten Kriterien für derartige Sortierungen ist die Ähnlichkeit in gewissen als „relevant“ empfundenen Merkmalen, wie das etwa bei Freunden oder Ehepaaren der Fall ist und dann zum Phänomen der sog. Homophilie führt. Auch die Orientierung an gewissen Bezugsgruppen kann dann natürlich zu solchen Sortierungen führen. Und Städte sind zum Beispiel nicht zuletzt ein Ergebnis von Prozessen der (Selbst-)Segregation von Bewohnern in bestimmten Stadtteilen oder Vierteln, in die sie auch deshalb hineinziehen, weil sie unter Ihresgleichen leben möchten, oder aus denen sie ausziehen, weil sie sich fremd darin fühlen.
Beruht eine solche Sortierung ausschließlich auf nicht weiter bewerteten kulturellen Eigenschaften, so sei von horizontaler Segregation, beruht sie auf Unterschieden auch in Macht, Status bzw. Prestige, von vertikaler Segregation gesprochen. Die Segregation ist damit eine Form der Manifestation der sozialen Ungleichheit unter den Menschen und auch der Milieubildung, und die
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Sinn und Kultur
Erklärung der Prozesse der Sortierung sind damit ein Teil der Erklärungen, wie es zu sozialen Ungleichheiten überhaupt kommt (vgl. dazu auch ausführlich schon Kapitel 4 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Horizontale Segregation Die Erklärung der Entstehung von horizontalen Segregationen aufgrund von Orientierungen an Bezugsgruppen kennen wir schon, obwohl dort der Begriff der Bezugsgruppe nicht verwandt wurde. Es ist das Beispiel 2 in Kapitel 9 über die stumme Macht der Möglichkeiten von Band 4, Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“: die Entstehung von segregierten Nachbarschaften, so wie sie vor allem Thomas C. Schelling als Prozeß der Sortierung modelliert hat.27 Nur zur Erinnerung: Alles beginnt mit der zufälligen Verteilung von Akteuren über ein Areal. Jeder kann sich im Prinzip „seine“ Nachbarn selbst aussuchen und dann dahin ziehen – falls es einen freien Platz gibt. Nun wird angenommen, daß alle Akteure eine leichte Präferenz für eine Nachbarschaft mit Ihresgleichen haben: Es sollen, beispielsweise, mindestens ein Drittel der Nachbarn die gleichen Eigenschaften haben wie sie selbst. Der Hintergrund dieser Präferenz liegt auf der Hand: Soziale Wertschätzung und die Nutzung von kulturellem Kapital läßt sich – vieles: ceteris paribus – leichter und besser in kulturell homogenen Gruppen bewerkstelligen.
Und die Folge: Schon nach wenigen Zügen ist das zunächst unstrukturierte Feld auf einer horizontalen Dimension bloßer, nicht weiter bewerteter Andersartigkeiten in deutlich segregierte Gebiete kulturell homogener Nachbarschaften eingeteilt. Und das Ganze geht umso schneller und nachhaltiger, je stärker die Präferenzen für die Homogenität der sozialen Umgebung jeweils sind und wie es Möglichkeiten der freien (horizontalen) Mobilität für die Akteure gibt.
Vertikale Segregation Für die Entstehung einer vertikalen Segregation auf der Grundlage von Bezugsgruppenprozessen hat der amerikanische Ökonom Robert S. Frank ein interessantes Modell entwickelt, das im Grunde einer ähnlichen Philosophie 27
Vgl. Thomas C. Schelling, Micromotives and Macrobehavior, New York und London 1978, Kapitel 4: Sorting and Mixing: Race and Sex, S. 147ff.; Thomas C. Schelling, Dynamic Models of Segregation, in: Journal of Mathematical Sociology, 1, 1971, S. 149ff., 154ff.
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folgt, wie das von Thomas C. Schelling für die Erklärung der horizontalen Segregation.28 Nur wird jetzt die Vergleichsgrundlage etwas verändert: Menschen sind stark an sozialer Anerkennung, oftmals mehr als an bloßem Einkommen, interessiert. Die Gewinnung von sozialer Wertschätzung ist aber keine Frage des absoluten Status in einem Kollektiv allein, sondern vor allem anderen eine des relativen Status in der alltäglichen Nahumgebung. Wer nun in einem Kollektiv auf irgendeiner Dimension – Einkommen, Noten, Prestige, Intelligenz, Bundesligapunkte – unter dem Durchschnitt liegt, fühlt sich relativ benachteiligt, obwohl vielleicht „objektiv“ seine Situation gar nicht so schlecht ist. Und deshalb sucht er sich eine soziale Umgebung, in der der Durchschnitt der Gruppe insgesamt kleiner, er selbst aber über diesem Durchschnitt liegt und somit nun eine relativ bessere Position innehat. Und die Folge der so entstehenden Suche der Akteure in dem zunächst einheitlichen Kollektiv nach dem relativ besseren Status: Es entstehen aus dem großen Kollektiv von Akteuren, die sich in bestimmten Eigenschaften, etwa dem Einkommen, nur kontinuierlich unterscheiden, mehrere neue „local hierarchies“ mit deutlich abgegrenzten Ebenen der jeweiligen Leistungen und Belohnungen. Es ist, wenn man so sagen will, die Emergenz verschiedener „Ligen“ aus einem Kollektiv von Akteuren oder Mannschaften, die zuvor alle gegeneinander angetreten waren, jetzt aber nur noch in den jeweiligen Ligen ihre Kräfte messen, sich nur noch daran in ihren Zufriedenheiten orientieren und von den Akteuren in den anderen Ligen keine Notiz (mehr) nehmen. Es ist, wie man auch sagen könnte, die Entstehung von abgegrenzten sozialen Klassen (oder gar Ständen) aus einem System der sozialen Schichtung ohne merkliche Abstufungen und Sprünge der vertikalen sozialen Ungleichheit. Das Modell von Frank geht so: Es gebe in einem Betrieb, der etwa Ziegel oder Apfeltaschen herstellt, sechs Arbeiter: Schröder und Lafontaine, Kohl und Geißler, Fischer und Trittin. Die sechs sind unterschiedlich produktiv in dem, was sie tun: Schröder kann Ziegel oder Apfeltaschen im (Netto-)Wert von vier DM pro Stunde herstellen, Lafontaine und Kohl jeweils im Wert von drei DM, Geißler und Fischer im Wert von zwei und Trittin nur im Wert von einer DM pro Stunde. Das ist dann auch der Lohn, den der Unternehmer den Arbeitern bezahlen würde: Sie erhalten den Gegenwert für ihre Produktivität (vgl. zur Begründung für die Entsprechung von Lohn und Produktivität schon Abschnitt 2.3 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Geld ist aber nicht alles im Leben, auch der Status und die soziale Wertschätzung zählen. Soziale Wertschätzung werde in der kleinen Lebenswelt der Firma, wie auch im richtigen Leben, aber nach dem Einkommen verteilt: Wer mehr als den Durchschnittslohn in der Gruppe verdient, erhält positive, wer weniger verdient, eine negative Wertschätzung. Die beiden Größen – Einkommen in DM und die Wertschätzung – werden also als in gewisser Weise als substituierbar angesehen (vgl. dazu 28
Vgl. Robert H. Frank, Choosing the Right Pond. Human Behavior and the Quest for Status, New York und Oxford 1985, Kapitel 3: Choosing the Right Pond, insbesondere S. 41-57.
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auch den Exkurs am Ende von Kapitel 8 in Band 4, Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die Substituierbarkeit von Geld und Ehre): Jeder würde – in bestimmten Grenzen freilich – etwas von seinem Einkommen hergeben, wenn er dafür über den Durchschnitt der jeweiligen Gruppe im Einkommen kommen könnte. Ein jeder würde aber auch – wiederum in einem gewissen Rahmen natürlich nur – eine unterdurchschnittliche Position hinnehmen, wenn es dafür eine Entschädigung in Geld gäbe. In der jeweiligen Bereitschaft, das eine für das andere herzugeben, unterscheiden sich die Akteure jedoch typischerweise: Schröder, Lafontaine und Fischer würden 10% ihres Einkommens, Kohl, Geißler und Trittin dagegen 20% ihres Einkommens entweder abtreten, um eine relativ bessere Position zu erhalten, oder als Entschädigung zusätzlich verlangen, um eine relativ schlechtere Position hinzunehmen.
In Tabelle 11.4 sind alle diese Annahmen zusammengefaßt (vgl. Frank 1985, S. 44): Tabelle 11.4: Produktivität, Einkommen und Bewertungen des relativen Status bei sechs Akteuren
Produktivität/ Einkommen (in DM pro Std.) Schröder Lafontaine Kohl Geißler Fischer Trittin
4 3 3 2 2 1
max. Zahlung für einen höheren Status
max. Entschädigung für einen niedrigeren Status
0.40 0.30 0.60 0.40 0.20 0.20
0.40 0.30 0.60 0.40 0.20 0.20
Die sechs Akteure hätten jetzt die Möglichkeit, entweder jeder für sich weiter unter dem Dach der Firma weiterzuarbeiten – oder aber sich eine andere Firma zu suchen, die ihren Interessen nach Einkommen und Wertschätzung besser entspricht. Sie könnten zum Beispiel bilateral miteinander in Verhandlungen eintreten, jeweils einen eigenen kleinen Betrieb zu zweit aufzumachen, etwa die Firmen Kohl&Trittin, Schröder&Geißler und Lafontaine&Fischer, jeweils als GmbH&CoKG womöglich. Und warum sollten sie das tun? Ganz einfach: Vielleicht gäbe es ja Kombinationen, in denen der Gesamtertrag aus Einkommen und Wertschätzung – angesichts der angenommenen Verhältnisse natürlich nur – für jeden in der jeweiligen Firma höher ist und niemand mehr
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Soziale Gruppen
einen Anreiz hätte, sich eine andere Kombination zu suchen. Kurz: Jeder „Frosch“ könnte sich im Verein mit den anderen Fröschen den „richtigen Teich“ aussuchen, in dem er sich rundum, nach Einkommen und nach sozialer Wertschätzung, wohlfühlt. Eine solche – gleichgewichtige und paretooptimale – Verteilung der sechs Akteure auf drei mögliche Firmen gäbe es etwa bei der folgenden Firmenstruktur (vgl. Tabelle 11.5):29 Tabelle 11.5: Firmenstruktur mit optimalem Ausgleich von relativem Status und Einkommen
Firma/ Durchschnittseinkommen
Topdog und sein Einkommen
Underdog und sein Einkommen
Schröder & Lafontaine: 3.50 Kohl & Fischer: 2.50 Geißler & Trittin: 1.50
Schröder: Kohl: Geißler:
Lafontaine: Fischer: Trittin:
3.65 2.65 1.65
3.35 2.35 1.35
In Abbildung 11.3 sind nun die alte und die in Tabelle 11.5 beschriebene neu entstandene Firmenstruktur graphisch abgebildet (siehe auch Frank 1985, S. 47). Auf der waagerechten Achse ist jeweils die Produktivität der Akteure abgetragen, auf der senkrechten das, was sie in der neuen Firmenstruktur an Einkommen herausbekommen, so wie es in Tabelle 11.5 steht. Die 45o-Achse gibt jeweils die Linie der Gleichheit von Einkommen und Produktivität an: Wer darüber liegt, erhält mehr, wer darunter liegt, weniger als er bloß nach seiner Leistung „verdient“.
29
Wie es zu dieser Verteilung kommen kann, erläutert Robert H. Frank über eine Art einer Auktion, bei der die sechs Arbeiter jeweils bestimmte Beträge für eine Top-half-Position anbieten und aus der Auktion schließlich herausfallen, wenn ihnen der Preis dafür zu hoch wird; vgl. Frank 1985, S. 45.f. Zu den Einzelheiten einer formalen Ableitung der Verteilung vgl. näher: Robert H. Frank, Interdependent Preferences and the Competitive Wage Structure, in: Rand Journal of Economics, 15, 1984, S. 510-520.
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der Zufriedenheit: dem jeweiligen gruppenspezifischen Mittelwert. Ganz ähnlich wie bei der horizontalen Segregation aus einer Zufallsverteilung hat sich nun also eine deutlich gegliederte vertikale Segregation und Sozialstruktur herausgebildet, wo vorher nur individuelle Unterschiede bestanden. *** Die Orientierung an Bezugsgruppen, in diesem Fall an kultureller Homogenität und an dem relativen Status also, erzeugt also über Unzufriedenheiten, Migration und Mobilität neue Mitgliedschaftsgruppen und eine neue soziale Strukturierung: Die sozialen Ungleichheiten zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und Kategorien, horizontaler wie vertikaler Art, werden größer, und die Unterschiede innerhalb der Gruppen und Kategorien kleiner. Weil es eben für die vielen Normalmenschen, die nicht ganz top, aber auch nicht ganz flop sind, angenehmer und leichter ist, der Erste in der Provinz als der Zweite in Rom zu sein, sind alle mit ihrer Situation nun zufriedener als vorher. Und einstweilen hat niemand mehr einen Anlaß, nach einer anderen Bezugsgruppe zu sehen oder gar seine soziale Umgebung zu wechseln. Und so entsteht das von vielen durchaus als Ärgernis empfundene Phänomen der sozialen Ungleichheit – aber niemand hat einen Grund sich zu beschweren. Wieder einmal ein interessanter „paradoxer“ Effekt, und wir wären kaum auf ihn gestoßen ohne die Instrumente der soziologischen Erklärung.
11.4 Gruppenbildung und Gruppendruck Bei der Erklärung der Wahl des Bezugsrahmens über den Bezug auf eine Gruppe wird oft so getan, als bestünden die Gruppen irgendwie „unabhängig“ von den jeweils „autonom“ wählenden Akteuren und als seien deren Motive und Erwartungen irgendwie stabile „individuelle“ Eigenschaften. Außerdem erscheint die ganze Sache irgendwie sehr statisch und vor allem ganz und gar ohne jede weitere Berücksichtigung der sozialen Genese der Bedingungen, unter denen die Bezugsgruppen-„Wahl“ stattfindet (vgl. dazu auch schon den Exkurs über den Begriff der Figuration im Anschluß an Abschnitt 9.6 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das Problem ist schon an mehreren Stellen angesprochen worden, zuletzt in Kapitel 10 über das System der Lebenswelt und das Problem ihrer „Konstitution“: Die „Wahl“ von Bezugsgruppen ist immer nur ein Teil eines übergreifenden Prozesses, bei dem eine Vielzahl von Akteuren simultan sowohl die betreffenden Gruppenstrukturen wie die jeweiligen individuellen Eigenschaften in einem wechselseitigen und dynamischen Prozeß der interaktiven und kommunikativen Ermögli-
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chung, Begrenzung und Bestärkung erzeugt. Es ist der Vorgang der sozialen Konstitution (vgl. dazu auch noch das gleich folgende Kapitel 12 in diesem Band) eines sozialen Systems. Soziale Konstitution ist dabei, so sei erinnert, jener, wie es Jürgen Habermas nennt, „Kreisprozeß“ der interaktiven und kommunikativen Entstehung von prozessualen Gleichgewichten der wechselseitigen Stabilisierung von Orientierungen und sozialem Handeln in typischen Situationen, oftmals verfestigt über mentale Modelle der Rahmung, Symbole, Rituale und – mehr oder weniger ausgebaute – gesellschaftliche Institutionen.
Und die Frage ist dann wieder: Wie kann man diesen „Kreisprozeß“ erklären? Und wie kann man vor allem erklären, daß sich gewisse kollektive Definitionen der Situation auch sozusagen aus dem Nichts heraus entwickeln und gleichwohl eine schließlich alles bestimmende Kraft erhalten? Wir wollen diesen Vorgang der sozialen Konstitution an vier Beispielen näher beschreiben, bevor er in Kapitel 12 unten in diesem Band in einem erklärenden Modell zusammengefaßt wird: die Ferienlagerexperimente von Muzafer und Carolyn Sherif, das „Minimal Group Design“ von Henri Tajfel, der autokinetische Effekt von Muzafer Sherif und die Konformitätsexperimente von Solomon Asch. Die Beispiele sind bewußt so ausgewählt worden, daß sichtbar wird, wie der Prozeß der sozialen Konstitution von Gruppen und die Ausbildung gewisser kollektiver Erwartungen, Identifikationen, Identitäten, Normen, Konflikte und Gruppenstrukturen auch sozusagen
grundlos und ohne jede besondere „Vorgeschichte“, ja sogar gegen den offensichtlichen Augenschein einer „objektiven“ Wirklichkeit erklärbar wird (vgl. dazu auch schon Kapitel 5 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Es handelt sich bei den Studien um einige, inzwischen klassische, sozialpsychologische Experimente. An ihnen kommt, obwohl sie alle schon etwas älter sind, keine Soziologie der sozialen Konstitution von Lebenswelten und Bezugsrahmen und keine Erklärung der sozialen Genese von Sinn und Kultur vorbei, die mehr sein will als eine Wiederholung der Beschreibung des Geschehens, daß halt eben die sozialen Systeme die Folge einer sozialen Konstitution seien.
Gruppenbildung und „reale“ Konflikte: Die Ferienlager-Experimente von Muzafer und Carolyn Sherif Das wichtigste Ergebnis der Ferienlagerexperimente von Muzafer und Carolyn Sherif, die diese in den frühen 50er Jahren durchführten, ist, nach allem, was wir inzwischen über die Evolution der Kooperation und das Verhältnis von Interesse und Moral wissen (vgl. dazu insbesondere Kapitel 5 und 7 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“), nicht sehr überraschend: Sobald sich Akteure unter dem Dach gemeinsamer Interessen
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und in gewisser Isolation und Abhängigkeit voneinander und untereinander in persönlicher Kommunikation und sozialer Kontrolle zusammenfinden, entwickeln sie alsbald eine auf das Kollektiv der Gruppe bezogene Identität und Solidarität, in der Egoismus und Opportunismus, jedenfalls: prima facie, nicht mehr vorkommen, sondern eine auf die Gruppe als ganzer Einheit bezogene Identifikation (vgl. dazu auch schon Abschnitt 11.3 oben zum „Bezug“ auf eine Gruppe als „Identifikation“ mit ihr). Von den verschiedenen Experimenten ähnlicher Art wollen wir uns vor allem das erste von Sherif und Sherif durchgeführte genauer ansehen.30 Es war als Freizeitlager für 24 Jungen organisiert, die natürlich nicht wußten, was wirklich geschah. Die 24 Jungen wurden, so weit wie möglich, nach Ähnlichkeit ausgesucht, um alle anderen Faktoren der Gruppenbildung möglichst zu kontrollieren: Alle waren etwa 12 Jahre alt, protestantisch, aus der unteren Mittelschicht, mit ähnlichem Bildungsstand, ähnlicher Intelligenz, ähnlicher regionaler Herkunft, ähnlichen körperlichen Fähigkeiten und ähnlichen, unauffälligen, psychischen Eigenschaften. Das Ferienlager dauerte 18 Tage, die nächste Ortschaft war acht Meilen entfernt, und Besuche gab es in dieser Zeit nicht, so daß das Ganze in der Tat in einiger Isolation ablief.
Das Experiment war in drei bzw. vier Stadien aufgebaut: Das Stadium I, die ersten drei Tage, war als Periode des informellen Zusammenfindens auf der Grundlage individueller persönlicher Vorlieben und Interessen gedacht. Die verschiedenen Aktivitäten konnten frei gewählt, und vor allem Freundschaften nach Belieben geschlossen werden. Das Stadium II, die nächsten fünf Tage, diente der Bildung von zwei verschiedenen Gruppen: Nach dem Frühstück am vierten Tag wurde den 24 Jungen gesagt, daß sie jetzt zur Erleichterung der Organisation des Lagers in zwei Gruppen eingeteilt würden, die als „rote“ und als „blaue“ Gruppe bezeichnet wurden. Jeder der beiden Gruppen wurde ein eigenes Lagerhaus zugewiesen. Bei der Einteilung der Gruppen wurde vor allem darauf geachtet, daß möglichst keine der neu entstandenen Freundschaften in die jeweilige Gruppe hinübergerettet wurden. Um den Prozeß der Unterteilung zu verstärken und zu beschleunigen, wurden die Aktivitäten der beiden Gruppen sofort getrennt: Sie aßen getrennt, machten ihre Ausflüge getrennt und es wurde auch an getrennten Plätzen geschwommen und anderer Sport getrieben. Die Aktivitäten und Spiele während dieses Stadiums erforderten die kollektive Kooperation der jeweiligen Gruppenmitglieder, wobei freilich jedes einzelne Mitglied auch zeigen konnte, wie gut oder schlecht es dabei in seinen Leistungen für die jeweilige Gruppe war. In Stadium III, den nächsten fünf Tagen, wurden die beiden Gruppen wieder in Verbindung zueinander gebracht: Es gab Wettkämpfe, bei denen sie als Gruppe ihre Kräfte messen konnten, wie etwa Fußball oder ein Turnier im Tauziehen, und es gab einige von den Experimentern so manipulierte Situationen, daß sich die eine Gruppe über die andere ärgern mußte. Beispielsweise wurde nach dem Turnier im Tauziehen, das die Serie der Wettkämpfe mit einem großen Sieg der einen Gruppe beendete, eine angebliche „bygones-be-bygones“-Party organisiert. Eis und Kuchen waren auf dem Tisch aufgebaut, aber so, daß die eine Hälfte zerdrückt,
30
Vgl. Sherif und Sherif 1953, Kapitel 9-11; Sherif und Sherif 1956, S. 191-202, 293-300. Vgl. auch die kurze Zusammenfassung bei: Peter R. Hofstätter, Gruppendynamik. Eine Kritik der Massenpsychologie, Hamburg 1957, S. 96-98; Amélie Mummendey, Das Verhalten zwischen sozialen Gruppen: Die Theorie der sozialen Identität, in: Dieter Frey und Martin Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsychologie, Band II: Gruppen- und Lerntheorien, Bern u.a. 1985, S. 185-189.
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angegammelt und unansehnlich war, die andere Hälfte frisch und appetitlich. Es wurde dafür gesorgt, daß die unterlegene und dadurch etwas geknickte Gruppe zuerst das Gebäude betrat. Und natürlich nahmen sich die Jungen dieser Gruppe sofort die bessere Hälfte von Eis und Kuchen – sehr zum Ärger der anderen Gruppe, die sich kurz zuvor noch als überlegener Sieger gewähnt hatte. Damit war der „experimentelle“ Teil des Ferienlagers zu Ende. Es folgte noch eine weitere Phase. Wir wollen sie, anders als Sherif und Sherif in ihren Berichten, das Stadium IV nennen: Ein Wettkampf in Softball gegen eine Mannschaft aus einem Nachbarcamp, für den die besten Akteure aus beiden Gruppen, der „roten“ und der „blauen“, für dieses Spiel ausgewählt wurden.
Was waren nun aber die Ergebnisse des Experimentes? In Stadium I wurden alsbald eine Reihe von Freundschaften geschlossen, und es taten sich auch schon einige Führungsfiguren hervor, aber nur für vereinzelte Aktivitäten und ohne jeden Bezug auf irgendeine besondere Gruppenstruktur. Das Hauptergebnis von Stadium II war die rasche Entstehung einer klaren Binnengruppenstruktur: Es gab plötzlich eine deutliche Hierarchie von Positionen und Rollen, und es entwickelte sich sofort eine neue, auf die jeweilige Gruppe bezogene Freundschaftsstruktur. Die beiden Gruppen gaben sich alsbald typische Namen – Red Devils die Mitglieder der „roten“ und Bull Dogs die der „blauen“ Gruppe. Und eng damit verbunden entstand ein dichtes Netz von Normen, Bezeichnungen, Symbolen und Ritualen, die sich alle um die Intensivierung der Beziehungen nach innen drehten, in diesem Stadium aber noch ohne eine besondere Wendung oder gar Abwertung nach außen auf die andere Gruppe. Kurz: Es entstand alleine durch die Gruppeneinteilung und die Trennung der Aktivitäten schon eine deutliche Gruppenidentifikation, die vor allem die zuerst entstandenen Freundschaften nahezu komplett überlagerte und außer Kraft setzte. In Tabelle 11.6 sind die Freundschaftswahlen nach dem Stadium I und nach dem Stadium II für die Red Devils und für die Bull Dogs zusammengefaßt, wobei sich die Freundschaftswahlen für das Stadium I natürlich auf die erst später einsetzende Gruppeneinteilung in Red Devils und Bull Dogs beziehen (vgl. Sherif und Sherif 1953, S. 268):
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Tabelle 11.6: Freundschaftswahlen für die beiden Gruppen vor und nach der Gruppeneinteilung (in Prozent der Gesamtwahlen)
Erhaltene Wahlen von/ Abgegebene Wahlen durch Stadium I (spätere) Red Devils (spätere) Bull Dogs
(spätere) Red Devils
(spätere) Bull Dogs
35.1 65.0
64.9 35.0
100 100
95.0 12.3
5.0 87.7
100 100
Stadium II Red Devils Bull Dogs
Deutlich ist der dramatische Wechsel in den Freundschaftswahlen zu erkennen: Waren in Stadium I die (späteren) Binnengruppenfreundschaften mit jeweils 35% noch deutlich die Minderzahl, so gibt es am Ende von Stadium II mit 5% bzw. 12.3% kaum noch Zwischengruppenfreundschaften. In diesem Stadium gingen die einzelnen Mitglieder der beiden Gruppen in ihren auch stattfindenden Zwischengruppenkontakten jedoch noch verhältnismäßig „individuell“, fair und sogar freundlich miteinander um. Das änderte sich mit dem Stadium III nachhaltig. Zu Beginn der Wettkämpfe ging es zwar auch noch recht gesittet zu: Man begrüßte sich – allerdings: immer schon von Gruppe zu Gruppe, nicht mehr individuell – mit Anfeuerungen und Zurufen und achtete auch darauf, mit dem Gegner doch fair umzugehen. Damit war es aber bald vorbei. Zuerst noch verstärkten sich die Binnengruppenstrukturen und -loyalitäten, und dann gab es die ersten Anzeichen der Abwertung und der Abgrenzung. Siege wurden mit der überlegenen Organisation der eigenen Gruppe, Niederlagen mit der Unfairnes der anderen Gruppe „erklärt“. Aus dem freundlichen Begrüßungsruf „2-4-6-8, who do we appreci-ate“ zu Beginn der Wettkämpfe wurde bald die Schmähung „2-4-6-8, who do we apprecihate“ (jeweils gefolgt vom Namen der anderen Gruppe – Red Devils oder Bull Dogs). Und aus den zunächst noch recht differenzierten Urteilen über die Fähigkeiten und Leistungen der anderen wurden mehr und mehr stereotype und abwertende Qualifikationen, garniert mit allerlei drastischen unfreundlichen Bezeichnungen aus dem Repertoire der amerikanischen Boyscout-Kultur – wie „dirty pigs“, „Jackasses and Bums“ oder auch „Girls, poor girls“. Und
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schließlich „stand“ eine klare in-group-outgroup-Abgrenzung, die das ganze Denken, Fühlen und Handeln durchzog: „As noted above, one of the products of group formation is a delineation of ‚we‘ and ‚they‘ – the ‚we‘ including members of the in-group .... . The ‚we‘ thus delineated comes to embody a host of qualities and values to be upheld, defended, and cherished. Offenses from without or deviations from within are reacted to with appropriate corrective, defensive, and, at times, offensive measures. A set of values, ‚traits‘, or stereotypes are attributed to all those groups and individuals who comprise the ‚they‘ groups from the point of view of the ‚we‘-group.“ (Sherif und Sherif 1953, S. 233)
Diese Abgrenzungen waren jedoch nicht an sich und unabhängig von gewissen „Leistungen“ stabil, sondern von den Erfolgen oder Mißerfolgen der Gruppen im Vergleich zueinander abhängig (vgl. dazu auch schon Abschnitt 11.4 oben in diesem Band zur Identifikation mit einer Bezugsgruppe): Die Siege erhöhten den Stolz der Bull Dogs und banden sie nur noch stärker zusammen, während die unterlegenen Red Devils sich nicht gut fühlten und schließlich auch einige deutliche Anzeichen der Desintegration und der Disorganisation als Gruppe zeigten, wobei die Statushöheren bei den Red Devils auch damit begannen, mit der „Elite“ der Gegenseite Kontakt aufzunehmen, während die Statusniedrigeren eher noch feindseliger und aggressiver wurden. Ganz vorbei war es schließlich nach der „Versöhnungs“-Party mit dem vergammelten Kuchen und den zerdrückten Eisbechern. Nun gab es kein Halten mehr, und die Lagerleitung bzw. die Experimentatoren hatten alle Hände voll zu tun, die Kontrolle über das Ferienlager zu behalten, den Streit zu beenden und die Gruppen wieder zu mischen. Und noch lange nach der Beendigung von Stadium III erhielten sich die Sitzordnungen in Red Devils und Bull Dogs bei Tisch, und auch die Freundschaften, so wie die Gruppengrenzen sie zuvor gezogen hatten, hatten Bestand. Das wichtigste Ereignis für das Wiederaufbrechen der Gruppengrenzen und für die Reintegration des Lagers als „Gruppe“ war jedoch das SoftballSpiel in Stadium IV gegen eine externe Mannschaft. Nun sahen sich die beiden verfeindeten Gruppen einem gemeinsamen Gegner gegenüber – und fühlten sich plötzlich nicht mehr als Red Devils oder Bull Dogs, sondern als „Campers“. Das Team der Campers gewann das Spiel überlegen, und man war zusammen mächtig stolz auf diesen gemeinsamen Erfolg. In einem anderen, ansonsten ganz ähnlich angelegten, Experiment wurde dieser Vorgang der Gruppen-Reintegration durch gemeinsame Aufgaben nachdrücklich bestätigt (vgl. Sherif und Sherif 1956, S. 318ff.). Die Mitglieder der beiden zuvor fast schon verfeindeten Gruppen wurden gemeinsam in gewisse Notsituationen gebracht, die sie gemeinsam zu bewältigen hatten – und auch erfolgreich
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bestanden. Bei allen Unterschieden im Detail hatten diese Situationen die folgenden Eigenschaften: „The situations were varied in nature and required varied kinds of consideration, planning, and execution on the part of the subjects. But no matter how varied they were, all had an essential feature in common: they all involved goals that became focal for both groups under the given circumstances. These goals were urgent to the subjects; they had to be attended to. Psychological selectivity favored them. Yet their attainment clearly depended on communication, planning, and joint action by both groups. Thus the problem situations created a state of interdependence. The goal was highly desired by both groups, yet it could not be attained by the efforts and energies of one group alone.“ (Sherif und Sherif 1956, S. 319; Hervorhebungen nicht im Original)
Hinzuzufügen ist noch, daß die Bewältigung der jeweiligen Aufgaben eine ganze Serie von Unternehmungen und Problemsituationen mit sich brachte – und daß das die Jungen vorher auch wußten. Und das Ergebnis: „Thus, these two groups, which formed separately, met for the first time as rivals, engaged in sharp conflict which culminated in mutual antagonism and social distance, now appeared as friendly copartners.“ (Sherif und Sherif 1956, S. 324)
Wiederholte Kontakte in sozialen Situationen mit einer wichtigen und schwierig zu bewältigenden Aufgabe, einem gemeinsamen Ziel, starker Interdependenz und einer gut funktionierenden Kommunikation und gegenseitigen Kontrolle, schweißen, wenn das Problem durch Kooperation gelöst wird, zuvor antagonisierte Gruppen also offenbar wieder zusammen. Konflikt oder Solidarität ist, so scheint es, vor allem eine Frage der Gemeinsamkeiten in den Interessen, so wie das auch das Theorem von der Evolution der Kooperation sagt, allerdings jeweils unterstützt und getragen auch von symbolischen und interaktiven Prozessen.
Gruppenbildung und soziale Kategorisierung: Das „Minimal Group Design“ von Henri Tajfel Muzafer und Carolyn Sherif haben die Beziehungen zwischen Gruppen primär über die Funktionen zu erklären versucht, die diese Beziehungen für das Erreichen von Gruppenzielen haben: Objektive bzw. realistische Interessenkonflikte verursachen die Konflikte in den Beziehungen zwischen den Gruppen, gemeinsame Ziele ziehen Harmonie und Freundschaft nach sich. Das ist der strukturelle Hintergrund der sozialen Konstitution von Gruppen und der dazu gehörenden Einstellungen und Identifikationen der Gruppenmitglieder. Unterstützt und auch getragen wird die soziale Konstitution durch alle möglichen Formen der Interaktion, insbesondere der Koorientierung und der sprachlichen Kommunikation, der dadurch möglichen unmittelbaren sozialen
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Kontrolle, sowie der Symbolisierung und der Ritualisierung der entstehenden Einstellungen und Abgrenzungen. Weil diese Erklärung der Entstehung von Gruppengrenzen und kollektiven Identitäten auf der Annahme „wirklicher“ Interessenunterschiede zwischen den Gruppen aufbaut, wird sie auch als Realistic Group Conflict Theory bezeichnet.31 Ihre Triftigkeit erleben wir fast täglich, wenn man sich die diversen ethnischen und religiösen Konflikte in der Welt ansieht. Gegen die Realistic Group Conflict Theory sind letztlich keine ernsthaften Einwände erhoben worden – außer dem, daß es für die Entstehung von sozialen Abgrenzungen nicht einmal „objektiver“ Interessenkonflikte bedürfe, sondern daß alleine schon die soziale Kategorisierung ausreiche, um solche Grenzen der Solidarität zu errichten. Das ist die Ausgangshypothese des sog. Minimal Group Design: Interessenkonflikte und Kommunikationen sind hinreichend, aber nicht notwendig für Gruppenidentifikationen. Die bloße Kategorisierung ist dafür schon genug. Das dazu maßgebliche Experiment hat Henri Tajfel mit einigen Mitarbeitern so aufgebaut, daß möglichst alle „instrumentellen“ und „kommunikativen“ Umstände aus der sozialen Situation beseitigt wurden, die sonst noch zu einer Grenzziehung beitragen könnten – außer eben die bloße Aufteilung in gewisse Gruppen nach möglichst zufälligen Gesichtspunkten.32 Sechs Kriterien sollten dafür erfüllt sein (Tajfel u.a. 1971, S. 154f.): 1. Keine unmittelbare persönliche Interaktion. 2. Vollständige Anonymität. 3. Keinerlei instrumentelle Verbindung zwischen der Gruppeneinteilung und dem verlangten Verhalten. 4. Die Reaktionen sollten ohne jeden Nutzen für die Individuen selbst sein.
31
Vgl. für eine Zusammenfassung: Donald T. Campbell, Ethnocentric and Other Altruistic Motives, in: David Levine (Hrsg.), Nebrasca Symposium on Motivation, Lincoln 1965, S. 283-311; Stephan Ganter, Determinanten ethnischer Grenzziehung. Mikroanalytische Grundlagen und Erklärungsansätze, Arbeitspapier III/21 des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung, Mannheim 1997, S. 40ff.; siehe auch Mummendey 1985, S. 188f.
32
Henri Tajfel, M.G. Billig, R.P. Bundy und Claude Flament, Social Categorization and Intergroup Behavior, in: European Journal of Social Psychology, 1, 1971, S. 149-178. Vgl. auch: Tajfel und Turner 1986, S. 13ff.; Mummendey 1985, S. 190f.; Ganter 1997, S. 47ff.
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5. Die wählbaren Reaktionen sollten sich an der Differenzierung zwischen Eigen- und Fremdgruppe orientieren – im Vergleich zu rein „utilitaristischen“ Reaktionen, bei denen es nur um die Höhe eines Betrages geht, der für alle zusammen herauskommt. 6. Und schließlich sollte es sich um möglichst realistische und möglichst bedeutsame Reaktionen mit konkreten Belohnungen und Bestrafungen handeln, beispielsweise in Form von wirklichen Geldzahlungen.
Die Unterteilung in Gruppen erfolgte einmal willkürlich nach einem fiktiven Test zur Beurteilung der Anzahl von Punkten auf einem Bildschirm und ein andermal, ebenso willkürlich, nach einer angeblich in einem Test festgestellten Vorliebe der Versuchspersonen für Bilder von Klee oder Kandinsky. Zur Wahl standen den so eingeteilten „Gruppen“ dann verschiedene Strategien: (a) die Maximierung des gemeinsamen Gewinns aller, (b) die Maximierung des Gewinns der Eigengruppe, (c) die Maximierung der Differenz in den Auszahlungen zwischen Eigen- und Fremdgruppe, auch auf Kosten eines geringeren Gewinns für die Eigengruppe, und (d) die Strategie einer „fairen“ Auszahlung für beide Gruppen, wobei sich die Fairneß in der Gleichheit der Aufteilung der Auszahlung zwischen den Gruppen, sei es Gewinn, sei es Verlust, zeigen sollte.
Das zentrale Ergebnis dieses Experimentes (und weiterer, ähnlich angelegter Versuche) ist rasch in den Worten von Henri Tajfel und seinen Mitarbeitern zusammengefaßt: „The main finding, confirmed in all three experiments, is clear; in a situation devoid of the usual trappings of ingroup membership and of all the vagaries of interacting with an outgroup, the Ss (die Versuchspersonen; HE) still act in terms of their ingroup membership and of an intergroup categorization. Their actions are unambiguously directed at favouring the members of their ingroup as against the members of the outgroup. This happens despite the fact that an alternative strategy – acting in terms of the greatest common good – is clearly open to them at a relatively small cost of advantages that would accure to members of the ingroup.“ (Tajfel u.a. 1971, S. 172; Hervorhebung nicht im Original)
Ganz offensichtlich scheint den Versuchspersonen also der relative Status, die Begünstigung ihrer Gruppe der anderen Gruppe gegenüber, wichtiger zu sein als der bloße „absolute“ Gewinn. Und das alleine schon aufgrund der Kategorisierung nach ganz und gar zufälligen Kriterien – ohne jedes erkennbare Kooperationsinteresse nach innen und ohne jeden erkennbaren Konflikt nach außen. Offenbar gilt: „ ... mere perception of belonging to two distinct groups – that is, social categorization per se – is sufficient to trigger intergroup discrimination favoring the in-group. In other words, the mere awareness of the presence of an out-group is sufficient to provoke intergroup competitive or discriminatory responses on the part of the in-group.“ (Tajfel und Turner 1986, S. 13; Hervorhebungen nicht im Original)
Als Erklärung dafür haben Tajfel und seine Mitarbeiter die folgende allgemeine Vermutung:
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Sinn und Kultur
„An undifferentiated social environment makes very little sense and provides no guidelines for action. Whenever alternative guidelines for action are lacking, unclear or confusing, and some form of intergroup categorization can be used, it will give order and coherence to the social situation while at the same time enabling the individual to act in a way which has been sanctioned as ‚appropriate‘ in many other situations.“ (Tajfel u.a. 1971, S. 153)
Die „diskriminierenden“ Wirkungen der sozialen Kategorisierung scheinen also eine Folge von Unsicherheiten in einer ansonsten undefinierten Situation zu sein. Und um diese Unsicherheiten zu reduzieren, greifen die Akteure offenbar nach jedem Anker, von dem aus die Gruppenbildung bzw. die Konstitution eines sozialen Systems seinen Ausgang nehmen kann (vgl. dazu auch schon Abschnitt 10.4 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie den Exkurs über die Behauptung, bei der Entstehung von Ordnungen sei aller Anfang leicht, im Anschluß daran). Einer der wichtigsten, vielleicht sogar anthropologisch fundierten, Anker ist dabei wohl die Differenzierung nach Gruppen und die Tendenz zur Bevorzugung der Eigen- gegenüber der Fremdgruppe. Die soziale Kategorisierung wirkt offenkundig auch dann, wenn es keinerlei „realen“ Grundlagen, und noch nicht einmal: vorher etablierte und „zugängliche“ kognitive Modelle der Gruppendifferenzierung, gibt. Nicht zu vergessen sei aber schließlich auch noch jenes Ergebnis aus den Experimenten zum Minimal Group Design, wonach die Begünstigung der Eigengruppe stets in Konkurrenz zu einer anderen Norm steht – der Norm der Fairneß den Mitgliedern auch der anderen Gruppe gegenüber (vgl. Tajfel u.a. 1971, S. 173f.). Es ist wohl auch so: Letztlich gehören die Menschen alle nur einer Eigengruppe, der Gattung des homo sapiens auf dem Raumschiff Erde nämlich, an – und sie wissen das auch. Und wenn es keine besonderen Gründe für sonstige Grenzziehungen gibt, dann meldet sich die damit verbundene Norm der Fairneß durchaus. Aber offensichtlich auch: nur dann. Ansonsten wirkt der Egoismus zugunsten der Eigengruppe.
Der autokinetische Effekt und die „Gruppenleistung vom Typ des Bestimmens“: Ein weiteres berühmtes Experiment von Muzafer Sherif Soziale Kategorisierungen und gemeinsame Interessen konstituieren also ohne Zweifel so etwas wie eine kollektive Identität. Aber das wäre ja noch keine „soziale“ Konstitution: Die Einsicht in die Konvergenz von Interessen und das Wissen um kategoriale Ähnlichkeiten sind immer noch sehr „egologische“ Angelegenheiten. „Soziale“ Konstitution ist etwas anderes. Nämlich: die „Definition der Situation“ als Folge einer wechselseitigen Beeinflussung der Mitglieder eines Kollektivs über irgendeine Art der Interaktion, so wie das etwa
Soziale Gruppen
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in den Ferienlagerexperimenten ja auch ganz maßgeblich der Fall war. Von dem uns von dort schon wohlbekannten Muzafer Sherif stammt hierzu ein besonders eindrucksvolles Experiment (vgl. Sherif und Sherif 1956, S. 249262). Es zeigt, daß sozial geteilte Urteile, soziale Normen und kollektive Überzeugungen, auch dann entstehen, wenn es „objektiv“ keinerlei feste Grundlage dafür gibt, wohl aber bestimmte Formen der sozialen Beeinflussung. Die Ausgangsidee des Experimentes knüpft an einen schon lange bekannten psychologischen Effekt an – den sog. autokinetischen Effekt (Sherif und Sherif 1956, S. 250): Ein kleinerer intensitätsschwacher Lichtpunkt in einem abgedunkelten Raum scheint sich in verschiedene Richtungen und in unterschiedlichem Ausmaß zu bewegen. Tatsächlich tut er das jedoch nicht. Das Phänomen beruht auf einer optischen Täuschung, die aus der unwillkürlichen Eigenbewegung der Augenachsen entsteht. Die Beurteilung der Richtung und des Ausmaßes der Bewegung fällt einer Person sehr schwer. Und es gibt, weil die Bewegungen erratisch sind, auch kein objektiv „richtiges“ Urteil. Gleichwohl finden Personen nach einigen Wiederholungen einen individuellen „Standard“ für ihre Urteile. Sie vereinheitlichen ihre Schätzungen und „definieren“ so die an sich immer zufällig schwankende Situation. Weil die subjektiven Bewegungen des Lichtpunktes so zufällig sind, kommen verschiedene Personen natürlich auch zu unterschiedlichen Urteilen.
Zwei Fragen stellte sich Sherif: Was geschieht, wenn die Personen, die ihre Urteile zuerst alleine abgegeben haben, die Schätzungen anschließend noch einmal in einer Gruppe vornehmen? Und zu welcher „Definition“ der Bewegungen des Lichtpunktes kommen die Personen, wenn sie ihre Urteile zuerst in der Gruppe und dann alleine abgeben müssen? Es gab also zwei verschiedene Arten von Experimenten mit jeweils zwei unterschiedlichen Phasen. In der ersten Experimentserie gaben zuerst 20 Versuchspersonen jeweils 100 Schätzungen individuell ab. Danach wurden die Schätzungen in Gruppen von zwei bzw. drei Personen mehrmals erneut vorgenommen, wobei die einzelnen Schätzungen laut ausgerufen wurden. In der zweiten Experimentserie gab es zuerst die Gruppenschätzungen und dann die individuelle Schätzung. Zwischen der Gruppenschätzung und der individuellen Schätzung ließ Sherif einige Tage verstreichen, um zu überprüfen, ob ein evtl. „Gruppeneffekt“ auch über eine gewisse Zeit Bestand hätte.
Die Ergebnisse waren eindeutig: Bildeten die Personen ihre Urteile zunächst alleine, dann führte die Gruppensituation dazu, daß sich die Urteile schon nach einigen wenigen Sequenzen annäherten. Fanden die Beurteilungen zuerst in der Gruppe statt, gab es praktisch sofort eine eindeutige Übereinstimmung, und von diesem „Standard“ wurde in der anschließenden individuellen Situation auch nach mehreren Tagen nicht mehr abgewichen. In Abbildung 11.4 sind einige charakteristische Resultate für die beiden Situationen – zuerst indivdiuelle Urteile, dann Gruppenurteile (11.4a), erst Gruppenurteile, dann das individuelle Urteil (11.4b) – dargestellt.
Soziale Gruppen
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dieser „Speziellen Grundlagen“, und die Kapitel 2 und 4 oben in diesem Band): das Finden einer Handlungslinie über das wechselseitige „Anzeigen“ und „Interpretieren“ von Anzeichen, insbesondere von sprachlichen Äußerungen, und die so vorgenommene kollektive Konstruktion einer für die Mitglieder der Gruppe dann selbstverständlichen und sinnhaften gesellschaftlichen Wirklichkeit, durchzogen sicher auch von starken Versuchen der KoOrientierung, der empathischen Hineinversetzung in den anderen, der ja offensichtlich so sicher in seinem Urteil ist und dafür wohl seine guten Gründe hat (vgl. dazu auch schon Abschnitt 5.1 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die soziale Konstitution der Urteile wirkt, wie man der Abbildung 11.4b entnehmen kann, auch dann noch, wenn die Gruppe nicht mehr unmittelbar vorhanden ist. Sozial konstituierte Wirklichkeiten haben also – wenigstens eine gewisse Zeit lang – wiederum eine bestimmte egologische Wirkung: Die Akteure sehen auch „individuell“ die Welt so, wie sie sie in der Gruppe gelernt haben zu sehen: „The norm formed in interaction with others becomes the individual‘s own norm.“ (Sherif und Sherif 1956, S. 260)
So isses. Es ist die Internalisierung eines sozial konstituierten Ankers und Bezugsrahmens beim individuellen Akteur, der als Orientierung auch noch in nicht-sozialen Situationen weiterwirkt.
Der Druck der Gruppe und die soziale Konstruktion der „Wirklichkeit“: Das Experiment von Solomon Asch Die Konvergenz der Urteile beim autokinetischen Effekt läßt sich noch recht leicht nachvollziehen: Weil es in „Wirklichkeit“ keinen „objektiven“ Bezugspunkt der Wahrnehmung gibt, besteht die Einigung „nur“ darin, eine gemeinsame Konvention herauszubilden, die nur der gemeinsamen Orientierung dient und mit Widerspruch nicht rechnen muß. Es gibt also praktisch keine Kosten der Abweichung von irgendeinem ausgezeichneten Standard. Solomon Asch hat nun, auch schon vor einiger Zeit, mit einer Reihe von Experimenten gezeigt, daß es auch Konformität mit einer Gruppe geben kann, wenn die Gruppenurteile ganz offensichtlich falsch sind und gegen individuelle Überzeugungen deutlich verstoßen.33 Es ist die soziale Konstitution einer ausschließ33
Solomon E. Asch, Social Psychology, Englewood Cliffs, N.J., 1952, Kapitel 16: Group Forces in the Modification and Distortion of Judgments, S. 450-483; Solomon E. Asch, Opinions and Social Pressure, in: Scientific American, 193, 1955, S. 31-35.
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lich sozial konstruierten Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die von der wirklichen Wirklichkeit tatsächlich und überprüfbar abweicht.
a. Standardlinie
b. Vergleichslinien
1
2
3
Abb. 11.5: Standardlinie und Vergleichslinien in dem Experiment von Solomon Asch (nach Asch 1952, S. 452)
Auch dieses Experiment war ganz einfach aufgebaut. Einer Gruppe von 7 bis 9 Versuchspersonen wurden weiße Karten mit senkrechten schwarzen Linien vorgelegt. Dabei wurde immer links eine Karte mit einer sog. Standardlinie und rechts eine Karte mit drei sog. Vergleichslinien unterschiedlicher Länge präsentiert. Eine der drei Vergleichslinien auf der rechten Karte hatte jeweils exakt die gleiche Länge wie die Standardlinie (vgl. Abbildung 11.5). Die Versuchspersonen sollten nun der Reihe nach jeweils sagen, welche der drei Linien der Standardlinie entspräche, und zwar für jeweils 12 Präsentationen solcher Karten mit unterschiedlichen Längen. Zwar differierten die Linien unterschiedlich stark, aber es war im Prinzip nicht schwer, jeweils die „richtige“ Linie zu finden. Die Besonderheit war jetzt, daß es in der „Gruppe“ immer nur eine wirkliche Versuchsperson gab. Die anderen Mitglieder der Gruppe waren Hilfssheriffs des Experimentleiters. Sie hatten die Aufgabe, nach der zweiten Runde der Präsentationen gelegentlich eine andere Linie als die „richtige“ zu nennen. Die (naive) Versuchsperson wurde dabei – unauffällig – so plaziert, daß sie als Vorletzte dran war, so daß sie mit einer Reihe von offensichtlich von der „Wirklichkeit“ abweichenden Urteilen konfrontiert
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Soziale Gruppen
war, ehe sie selbst ihre Schätzung abgab. Und danach kam immer noch jemand, der auch noch die Gruppenmeinung vertrat. Tabelle 11.7: Beispiel für die Anordnung der Linien und der Gruppenentscheidung im Asch-Experiment (Längen in inches)
GruppenRunde
Länge Standardlinie
Länge Vergleichslinie 1
1* 2* 3 4 5* 6 7 8* 9 10 11* 12
7.50 5.00 8.00 3.50 9.00 6.50 5.50 1.75 2.50 8.50 1.00 4.50
2
„Irrtum“
3
5.00 5.75 7.50 6.50 7.00 5.00 8.00 7.00 6.00 3.75 5.00 6.00 7.00 9.00 11.00 6.50 5.25 7.50 4.50 5.50 4.00 2.75 3.25 1.75 4.00 2.50 3.25 8.50 10.25 11.00 3.00 1.00 2.25 4.50 3.50 5.50
0 0 1.00 0.25 0 1.00 1.00 0 0.75 1.75 0 1.00
In Tabelle 11.7 ist die Anordnung der Linien und die „Gruppenentscheidung“ für einen dieser Versuche zusammengefaßt. Die mit einem * gekennzeichneten Runden geben an, wann die Gruppe keinen „Fehler“ machte, und die fett gedruckten Vergleichslinien sind diejenigen, die die Gruppe fälschlicherweise nannte. Die Ergebnisse waren beeindruckend. Obwohl, wie die Tabelle 11.7 zeigt, die Unterschiede der Linien meist sehr deutlich waren, folgten die Versuchspersonen in 33.7 Prozent bei den Fehlurteilen der Mehrheit der Gruppe und gaben – gegen ihren deutlich erlebten Augenschein – Fehleinschätzungen ab. In einer Kontrollgruppe ohne den Gruppendruck waren es nur 7.4 Prozent (vgl. Asch 1952, S. 457). Der Unterschied wird noch deutlicher, wenn man sich die Verteilung der Fehlurteile ansieht: In der Kontrollgruppe ohne Gruppendruck leisteten sich diejenigen, die überhaupt einen Fehler machten, ganz überwiegend nur eine Fehleinschätzung, in der Experimentalgruppe mit dem Gruppendruck verteilten sich die Fehlerhäufigkeiten dagegen viel gleichmäßiger (vgl. Abbildung 11.6).
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Anzahl der Personen (in %)
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60 50
Experimentalgruppe Kontrollgruppe
40 30 20 10 0
1
2
3
4
5
6
7
Abb. 11.6: Verteilung der Fehlerhäufigkeiten bei der Experimentalgruppe und einer Kontrollgruppe im Asch-Experiment (vgl. Asch 1952, S. 458)
Offensichtlich führt der Gruppendruck dazu, die Fehleinschätzung nicht als Ausnahme oder als einmalige „Panne“ zu sehen, sondern als eine zwar zunächst erstaunliche, aber sozial geteilte und daher „normale“ oder gar „objektive“ Sicht der Dinge dieser Welt, als soziologischen Tatbestand, sozusagen. Und dieser Gruppendruck hat eine durchaus „aktive“ und „intentionale“ Komponente: Die Versuchspersonen versuchten immer zu „verstehen“, warum sie sich so sehr irren sollten, und nahmen dabei so gut wie immer an, daß die anderen ihre Gründe schon hätten und die Welt „wirklich“ so wäre. Gruppendruck ist auch eine Folge von Versuchen der Ko-Orientierung, wie wir das in den Experimenten zum autokinetischen Effekt gerade vorhin ja auch schon feststellen konnten. Bemerkenswert sind die Reaktionen der Versuchspersonen hinterher gewesen (vgl. Asch 1952, S. 459ff.). Zunächst, so berichten sie, als sie sich noch mit der Gruppe in Übereinstimmung finden, sind sie ihrer Sache ganz sicher gewesen. Sie sahen die „richtige“ Linie in unbefragter Selbstverständlichkeit. In dem Moment aber, in dem die Gruppe etwas anderes nahelegte, als die Versuchsperson sieht, änderte sich die Situation schlagartig. Zwei Kräfte geraten dabei also in Konflikt: das Motiv, die „Wirklichkeit“ auch „richtig“ zu beurteilen und weiterhin den eigenen Sinnen
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zu trauen, und der Wunsch, mit der Gruppe übereinzustimmen. Denn – nicht zuletzt – könnte man sich ja eher irren als die Mehrheit, die ihre Urteile, wie insgeheim abgesprochen, mit dem Brustton der Überzeugung abgibt. Und die Folge: Verunsicherung, Schock und eine – mehr oder weniger – verzweifelte Suche nach einer „Erklärung“. Mancher schreibt sich selbst die Unfähigkeit zu einem richtigen Urteil zu und tut alles, um sich nicht irgendwelchem Gespött auszusetzen. Und insgesamt ist es vorbei mit der Geruhsamkeit des sicheren Urteils im Einklang zwischen der sozialen „Lebenswelt“ der Gruppenreaktionen und dem eigenen Verstand. Nun wird genauer hingesehen, und es wird im Rahmen der Möglichkeiten auch versucht, die „richtige“ Länge „objektiv“ zu überprüfen. Selbstzweifel und das Verlangen nach Objektivität gleichzeitig sind die Folgen dieses Konfliktes zwischen „realer“ und sozial konstruierter Wirklichkeit (vgl. dazu auch schon die Krisenexperimente von Garfinkel, über die wir etwa in Abschnitt 8.2 von Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und in Kapitel 4 dieses Bandes berichtet haben)
Die Experimente wurden anschließend mehrfach und unter veränderten Bedingungen wiederholt (vgl. Asch 1952, S. 473ff.; Asch 1955, S. 33f.). Insbesondere wurden die Deutlichkeit der Abweichungen, die Gruppengröße und die „Einstimmigkeit“ variiert, mit der die Gruppe ihre Urteile abgab. Interessanterweise änderte die Vergrößerung der Unterschiede bei den Fehlurteilen kaum etwas an den Effekten des Gruppendrucks. Die Deutlichkeit der „Wirklichkeit“ ist also offenbar kein ausreichendes Motiv, sich gegen einen Gruppendruck zu stellen: Der Kaiser hatte ja wirklich nichts an, und trotzdem „sahen“ alle die prachtvollen Gewänder. Und nur das Kind, das nichts zu verlieren hatte, konnte es sich leisten, die gesellschaftliche Konstruktion der neuen Kleider als bloße Konstruktion und Fiktion zu entlarven. Viel bedeutsamer war dagegen die Verkleinerung der Mehrheit. Mit nur einem einzigen Opponenten, dann in einer Gruppe von nur zwei Akteuren also, gab es nur 3.6 Prozent Fehlurteile aufgrund des Gruppendrucks. Bei zwei Opponenten stieg die Fehlerrate auf 13.6, bei dreien auf 31.8, bei vieren auf 35.1 Prozent. Sie wuchs bei bis zu sieben Opponenten dann nur noch wenig (auf 37.1 Prozent), und ging bei noch größeren Gruppen schließlich wieder leicht zurück (auf etwa 31 Prozent). Offensichtlich verliert sich der Gruppendruck also etwas, wenn die Gruppengröße steigt: Eine größer werdende Gruppe verliert an „Relevanz“, weil die Akteure einander fremder und die Interaktionen weniger salient werden. Den deutlichsten Effekt hatte jedoch das Aufbrechen der Einstimmigkeit der Gruppe und das Auftreten eines Partners, der, gegen den Rest der Gruppe, „richtige“ Urteile abgab. Das war natürlich eine ebenfalls zuvor instruierte Person. Nun folgten die Versuchspersonen der Mehrheit in deren (Fehl-) Urteilen deutlich weniger. Vor allem blieben die Fehler, wenn sie denn überhaupt (mit)gemacht wurden, jetzt, wie bei der Kontrollgruppe ohne Gruppendruck, die Ausnahme. Der eine Partner half also schon, den falschen Schein der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit zu durchbrechen. Und darüber waren die Versuchspersonen ausgesprochen erleichtert und dankbar:
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„Generally the feeling toward him was one of warmth and closeness; he was credited with inspiring confidence.“ (Asch 1955, S. 34)
Mit schon einem Partner im Gleichklang von Herz und Verstand kommt man also bereits gut in einer Welt zurecht, die man nicht mehr versteht. Alleine hingegen ist man ganz verloren und anfällig gegen die Urteile der anderen, mögen die noch so absurd und weltfremd sein. *** Wie sich die Lebenswelten und die (Primär-)Gruppen bilden und wie sie wirken, von denen, glaubt man Jürgen Habermas, die anonymen Systeme des Marktes und der Organisation, so wie die gesamte Gesellschaft, ihre moralische Grundlage beziehen, läßt sich nun schon besser verstehen. Es ist der „Druck“, den die Mitglieder relativ kleiner Gruppen aufeinander ausüben. Und dieser Druck und die darauf aufbauende kollektive Orientierung sind umso stärker, je weniger Alternativen die Akteure haben, je mehr sie aufeinander angewiesen sind und je länger sie ausschließlich miteinander zu tun haben. Die Moral der Lebenswelt ist auch die Moral der Steinzeit, des Eifeldorfes und des Schützengrabens.
Exkurs über die Fremden Die persönlichen Beziehungen, die Lebenswelten des Alltags also und die sozialen „Gruppen“, sind der Ort, an dem die Menschen ihre Prägungen erhalten und behalten. Lebenswelten und soziale Gruppen sind spezielle Formen von sozialen Systemen: Sie reproduzieren sich durch das Handeln und die damit verbundenen Kommunikationen von Akteuren. Aber das müssen beileibe nicht immer die gleichen Akteure sein. Und es muß auch nicht so sein, daß jeder Akteur auch wirklich einer Lebenswelt oder Gruppe zugehört, die ihn stützt. Manche können auch mehreren, in ihrer „Identität“ sehr widersprüchlichen, Gruppen angehören oder sogar ganz ausgeschlossen sein. Das ist das Thema der sozialen Integration bzw. das von Inklusion und Exklusion (vgl. dazu bereits die Kapitel 5 und 6 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Es ist die Frage nach den Besonderheiten des Fremden. Die Soziologie hat eine ganz besondere Beziehung zu diesem Thema, und zwar, wie man annehmen kann, aus der geradezu auf der Hand liegenden Wahlverwandtschaft der Besonderheiten des Fremden und der speziellen Einstellung, mit der die Soziologie die Gesellschaft betrachtet. Das schwierigste
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sachliche Problem des Soziologen ist ja wohl jene Doppelnatur seiner Beziehungen zu seinem Gegenstand, der Gesellschaft und den sie tragenden Menschen, die auch als doppelte Hermeneutik bezeichnet wird (vgl. dazu auch schon Abschnitt 6.5 in Band 1 „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Einerseits muß er von den „wirklich“ existierenden subjektiven Sichtweisen und „natürlichen“ Einstellungen der Akteure in deren Lebenswelten ausgehen, die ein Außenstehender so ohne weiteres gar nicht kennen oder verstehen kann. Andererseits aber muß er für die Entwicklung seiner Modelle und Theorien wieder eine gehörige Distanz und Objektivität entwickeln, beispielsweise die, die es ihm erlaubt, in dem augenscheinlich Einmaligen doch immer wieder etwas zu sehen, was sich einer allgemeineren Klassifikation fügt oder unter ein „allgemeines“ Gesetz fällt – wie etwa: den kollektiven Altruismus in einer Gruppe als ein Phänomen zu erkennen, daß letztlich auch wieder nur über die Interessen und Opportunitäten der Einzelakteure verständlich wird. Der Insider kennt zwar die „Konstruktionen erster Ordnung“ der jeweiligen Lebenswelt; er muß nur in sich selbst hineinhorchen. Aber es dürfte ihm schwer fallen, diese interne Sicht zu transzendieren und die auch emotional erlebte „Einmaligkeit“ der Vorgänge als nichts weiter als ein tatsächlich schon tausendmal da gewesenes Ereignis zu betrachten, wenn er sich daran macht, die soziologischen „Konstruktionen zweiter Ordnung“ zu erstellen. Das könnte nur der externe Beobachter. Dem aber fehlt jede „wirkliche“ Kenntnis des „authentischen“ Geschehens. Was nun? Genau: Den typisch soziologischen Blick, der die Konstruktionen erster und zweiter Ordnung zusammenbringen muß, kann nur jemand entwickeln, der weder ganz drinnen, noch ganz draußen ist. Und das ist der Fremde. Georg Simmel hat diesen Zusammenhang in seinem berühmten „Exkurs über den Fremden“ als „Einheit von Nähe und Entferntheit“ beschrieben.34 Für den Fremden ist „der Nahe fern“ und „der Ferne nah“. Genau das braucht aber ein Soziologe, der viel über die „wirklichen“ Verhältnisse wissen muß, der aber auch in der Lage sein muß, diese Verhältnisse wieder ganz kühl und distanziert in einen allgemeineren und gerade nicht „lebensweltlichen“ Zusammenhang zu stellen, etwa den einer soziologischen Erklärung mit ihren oft recht abstrakten Modellen. Die typische Kombination von Nähe und Ferne des Fremden, die ihm jenen besonderen Blick der (an)teilnehmenden Objektivität erlaubt, ist natürlich eine Folge seiner besonderen sozialen Situation. Die hat Alfred Schütz in einem 34
Georg Simmel, Exkurs über den Fremden, in: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin 1968c (zuerst: 1908), S. 509; Hervorhebung nicht im Original.
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nicht weniger bedeutsamen Essay auch zur Illustration seiner Theorie der Lebenswelt besonders treffend beschrieben.35 Das „naive“ Mitglied einer Gruppe lebt in nichts als den ihm vertrauten und kaum mehr bewußten „Strukturen der Lebenswelt“. Sie erscheinen ihm „natürlich“, oftmals sogar im ganz wörtlichen Sinne. Dem Fremden ist diese Einstellung nicht möglich. Er kommt aus einer anderen Lebenswelt in eine neue – und will bleiben. Deshalb muß er sich mit den neuen Verhältnissen beschäftigen, anders als der Tourist oder der fliegende Händler, die ja gerade nicht bleiben wollen. Aber was immer jetzt geschieht: Der Fremde wird niemals jene ungebrochene Einstellung einer „relativ natürlichen Weltanschauung“ entwickeln können, die dem naiven Mitglied der Gruppe eigen ist. Das hat schon mit den Umständen seines Eintritts in die neue (Lebens-)Welt zu tun: Die bisher für ihn ebenso „natürlich“ erscheinenden Muster der Relevanz und des Wissens brechen plötzlich zusammen. Dabei sind nicht die Lücken in der gedanklichen Ordnung das eigentliche Problem, sondern die fast vollständige Ungewißheit über die Anordnung der „Relevanz“ der verschiedenen Dinge. Dem Fremden ist am Anfang alles wichtig, und daher achtet er auf alles. In dieser „Krisis“ seiner gedanklichen Ordnung der Welt sieht er viele Dinge, die andere für völlig unerheblich halten oder ihnen nie aufgefallen sind. Bei der Krise bleibt es freilich nicht. Der Fremde baut – nach und nach – wieder ein neues System der Orientierung auf, und er bricht den – aufwendigen und belastenden – Prozeß der dabei nötigen Durchdringung so bald ab, wie es denn wieder geht. Aber die Grundlage seiner Orientierungen ist jetzt eine andere. Er hat die neue Situation, und das weiß der Fremde ganz genau, selbst „definiert“ und selbst „konstruiert“. Es ist der Unterschied zwischen Enkulturation und Akkulturation: Die letztere baut auf der ersteren auf und ist allein deshalb nicht mehr so „ursprünglich“. Und genau darum zieht sich durch alle jene neuen Verhältnisse, bis hinein in die intimsten Beziehungen, jener Zug eines Bruches, der wohl für jeden distanzierenden und objektivierenden Blick gerade auch auf die heikelsten sozialen Phänomene und Vorgänge unerläßlich ist. Diese Brüche verhindern jedes Aufkommen eines polternden und seiner selbst sicheren Stammtischgeistes, der immer schon weiß, wie die Dinge sind. Der Zweifel ist der Grundzug des Fremden – und die Grundeinstellung des Wissenschaftlers, des Sozialwissenschaftlers zumal. Das Erlebnis der Fremdheit verhindert aber gerade darüber auch die Entwicklung von wirklich unbefragten Identifikationen. Der Fremde hat immer eine, wie Alfred Schütz das so treffend ausgedrückt hat, etwas „zweifelhafte Loyalität“ zu seiner neuen 35
Alfred Schütz, Der Fremde, in: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 2: Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag 1972, S. 53ff.
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Umgebung (ebd., S. 68f.). Und die angestammten Mitglieder wissen und merken das. Es kann für ihn keine Selbstverständlichkeit, keine Überzeugung, keinen Wert geben, den er nicht doch wieder in Zweifel ziehen könnte. Georg Simmel hat das an vielen anderen Stellen ähnlich, und wie bei ihm üblich, auch etwas umständlich beschrieben, wie etwa an dieser: „Der moralischen Persönlichkeit erwachsen ganz neue Bestimmtheiten, aber auch ganz neue Aufgaben, wenn sie aus dem festen Eingewachsensein in einen Kreis in den Schnittpunkt vieler Kreise tritt. Die frühere Unzweideutigkeit und Sicherheit weicht ... einer Schwankung der Lebenstendenzen; in diesem Sinne sagt ein altes englisches Sprichwort: Wer zwei Sprachen spricht, ist ein Schurke.“ (Simmel 1968b, S. 313; Hervorhebung nicht im Original)
Friedrich Merz kommt aus dem Sauerland, Lorenz Meyer vom Niederrhein und Edmund Stoiber aus Bayern. Fremde waren sie nie, polyglott sind sie alle nicht und Zweifel sind ihnen offenkundig unbekannt. Deshalb können sie so leicht von den vorgeblich fraglosen Werten des Abendlandes, des Christentums und der deutschen Leitkultur, zum Beispiel, tönen. Das kann der „unmoralische“ Fremde nicht. Er weiß eben, daß alles ganz anders sein kann. Und nichts läge ihm daher ferner als das Ansinnen, sich mit einer bestimmten Selbstverständlichkeit, einer bestimmten Überzeugung, einem bestimmten Wert rückhaltlos zu identifizieren oder ihn gar für irgendwie „objektiv“ und für immer feststehend, für „begründet“ zu halten. Der Fremde ist immer in einer gewissen Weise „wertfrei“ – weil er erlebt hat, daß jeder Wert nur eine relative Geltung hat. Und das macht ihn dann immer auch wieder in gewisser Weise zu einem Außenseiter, zu einem undankbaren Nestbeschmutzer, zu einem, dem nichts heilig ist und dem es niemand ganz recht machen kann. Er ist in gewisser Weise vogelfrei. Das aber gerade sorgt wiederum für die Vogelperspektive in seinem Blick, der gerade nicht durch „Gewöhnung, Pietät, Antezedentien“ (Simmel 1968c, S. 511) gebunden ist. Weil er aber gleichwohl dazu gehört und dazu gehören will, entsteht in ihm jenes besondere „Gebilde aus Ferne und Nähe, Gleichgültigkeit und Engagiertheit“ (ebd., S. 510). Ein Eremit oder ein kompletter Außenseiter ist er dagegen nicht. Die gehören nirgendwo dazu. Und denen ist daher, ganz anders als dem Fremden, alles egal. Als das „klassische Beispiel“ für den so skizzierten Fremden nennt Georg Simmel den „europäischen Juden“ (ebd.). Der ist, aufgrund der Besonderheiten seiner gesellschaftlichen Situation, „eben seiner Natur nach kein Bodenbesitzer“ gewesen. Er war vielmehr insbesondere auf den „Zwischenhandel“ und auf das „reine Geldgeschäft“ verwiesen, Umstände, die ihn im Alltag „den Charakter der Beweglichkeit“ sozusagen auferlegten. Er lebte „jene Synthese von Nähe und Ferne“. Als der „schlechthin Bewegliche“ komme er
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„ ... gelegentlich mit jedem einzelnen Element in Berührung, ist aber mit keinem einzelnen durch die verwandtschaftlichen, lokalen, beruflichen Fixiertheiten organisch verbunden.“ (Simmel 1968c, S. 510; Hervorhebungen im Original)
Kurz: Er kennt alles, aber steht gleichzeitig auch über allem. Es ist vor diesem Hintergrund dann auch keine besondere Überraschung, wenn unter den bedeutenden Soziologen der Anteil der Juden immer ganz besonders hoch gewesen ist, deutlich höher jedenfalls noch als im sonstigen Bereich der Sphären von Kultur und Wissenschaft. Karl Marx, Emile Durkheim, Robert K. Merton, Norbert Elias und Alphons Silbermann waren (bzw. sind) Juden, und auch Georg Simmel und Alfred Schütz gehörten dazu. René König berichtet in seinem immer noch sehr lesenswerten Beitrag über „Die Juden und die Soziologie“ von einer scherzhaft gemeinten Anekdote über dieses augenfällige Verhältnis von Judentum und Soziologie. Nach einem Soziologenkongreß, wahrscheinlich dem von 1924 in Heidelberg, soll der berühmte (jüdische) Germanist Friedrich Gundolf geseufzt haben: „Jetzt weiß ich wenigstens, was Soziologie ist! Soziologie ist eine jüdische Sekte.“36 Und man sieht, daß das sicher kein Zufall ist. Diese Wahlverwandtschaft des Fremden zur Soziologie ist sicher nicht auf die besondere Situation der europäischen Juden beschränkt. René König nennt, verallgemeinernd, eine ganze Fülle von äquivalenten Fällen und Beispielen, Großstädter, die Hugenotten und die Puritaner, etwa. Stets ist aber die gleiche Grundsituation gemeint: Der Soziologe muß sich, anders als jeder Naturwissenschaftler, mit seinem Gegenstand identifizieren und sich gleichzeitig von ihm distanzieren. Diese Affinität der Situation des Fremden besteht in ganz besonderem Maße, wie wir oben schon angedeutet haben, auch zu den Anforderungen an das Modell der soziologischen Erklärung, das ja nichts ist als eine Weiterentwicklung der „klassischen“ soziologischen Situationslogik in ihrer typischen Verbindung von lebensweltlichem „Verstehen“ und kausaler „Erklärung“. Beides wird gleichzeitig verlangt. Eine gute soziologische Erklärung nur über das leidenschaftliche Engagement und nur über die komplette und „authentische“ Teilhabe an einer Lebenswelt wäre nicht möglich, ebensowenig freilich wie über die nur formale Virtuosität von theoretischem Modellbau und statistischer Analyse alleine. Beides muß gegeben sein, und über die jeweilige Mischung kann es keine letzte Empfehlung geben. Eine nur vom Engagement lebende Betroffenheitssoziologie wäre ebenso fruchtlos wie jene blutleere Variablensoziologie, die – immer noch – weite Teile der empirisch betriebenen Sozialforschung und „Kausalstrukturanalyse“ beherrscht. Jedes „Erklären“ in 36
René König, Die Juden und die Soziologie, in: René König, Soziologie in Deutschland. Begründer, Verfechter, Verächter, München und Wien 1987, S. 329.
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der Soziologie setzt ein „Verstehen“ voraus. „Verstehen“ aber kann nur der, der genug von der jeweiligen Lebenswelt weiß, auch emotional. Mit dem Verstehen der Lebenswelten alleine ist aber ein soziologisches Erklären noch nicht möglich. Dazu müssen die formalen Instrumente, etwa die der Formulierung von Brückenhypothesen und von Transformationsregeln, beherrscht und klug eingesetzt werden. Und dazu muß eine Theorie des Handelns angewandt werden, deren Geltung eben nicht auf bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse beschränkt ist. Das alles aber führt wieder zur Distanz zu den Besonderheiten der jeweiligen Lebenswelten und zu einer ganz kühlen und wertfreien Beurteilung dessen, was man vorfindet. Kurz: Gerade das Modell der soziologischen Erklärung legt jene besondere Einstellung der Verbindung von Nähe und Ferne, von Engagement und Distanz, von Leidenschaft und Rationalität nahe, die so typisch ist für die besondere Erfahrung und Einstellung des Fremden. Und wenn es eine Affinität des Fremden zur Soziologie und zum Konzept der soziologischen Erklärung gibt, dann gilt wohl auch die Umkehrung: Gute Soziologie und gute soziologische Erklärungen sind ohne eine gewisse Entfremdung von der Gesellschaft und ihren Lebenswelten und ohne die Orientierung an dem Wert der Wertfreiheit nicht zu betreiben: Wer über Gänse forschen will, so sagte Rudolf Wildenmann einmal ganz richtig, muß nicht selbst ein Ganter sein. Und er muß, so könnte man fortfahren, auch keine Utopie der „guten“ (Gänse-)Gesellschaft verfolgen. Ganz im Gegenteil. Aber Entfremdung und Distanz von der (Lebens-)Welt und Wertfreiheit sind auch etwas anderes als Weltfremdheit. Etwas ganz anderes. Man muß auch die Wirklichkeit und die Werte der Stammtische kennen, wenn es darauf ankommt. Die im Sauerland, am Niederrhein und in Bayern, zum Beispiel. Aber man muß, um sie zu verstehen und soziologisch zu erklären, auch nicht unbedingt selbst immer mit dran sitzen. Das würde das Gehirn bald allzusehr vernebeln.
Kapitel 12
Soziale Konstitution
Die Konstitution eines Bezugsrahmens ist, wie auch einige der Beispiele in Kapitel 11 gerade oben in diesem Band gezeigt haben, durchaus schon über egologische Vorgänge erklärbar: Soziale Kategorisierungen, gemeinsame Interessen und die Bildung eines Ankerpunktes alleine durch eine „externe“ und einseitige soziale Beeinflussung, durch ein überzeugendes „Modell“ oder durch einfache Wiederholung einer bestimmten Praxis reichen offenbar aus, daß ein „Rahmen“ entsteht, der die Situation fest definiert und an dem sich die Akteure dann fraglos orientieren. Und wenn alles – Kategorien, Interessen, Einfluß, Modell, Praxis – zusammenkommt, dann gibt es eine hohe Unbedingtheit dieses Bezugsrahmens, auch ohne daß es noch besondere persönliche Kontakte, Gespräche oder sonstige Interaktionen oder Kommunikationen zwischen den Akteuren geben müßte. Die moderne Welt der Erzeugung von allen möglichen kollektiven Hysterien – wie etwa das Ozon-Loch, Lady Di, Bill Clinton und Monica Lewinsky, Frau Wallert, BSE oder die Benzinpreise – durch die Massenmedien, bei denen jeder alleine für sich zu Hause als couch potato bestimmte Nachrichten ohne besondere lebensweltliche Kommunikation aufnimmt und durch den Besuch des Friseurs oder des Hausarztes, den Kauf des Goldenen Blattes oder das Eintauchen ins Internet mitträgt, besteht zu einem großen Teil bloß aus derartigen egologischen Konstitutionen. Dazu kommen die zahllosen externen Effekte der weltweiten Ökonomisierung und Umweltbeeinflussung, die jeden Einzelnen individuell treffen und ein gemeinsames Schicksal für Gruppen von Millionen, gar Milliarden schaffen, ohne daß sie irgendeinen sonstigen Kontakt miteinander hätten. Es ist die „Individualisierung“ der Konstitution des Bezugsrahmens durch die anonymen „Systeme“ der modernen Gesellschaft, etwa des Marktes oder der korporativen Akteure.
Wir haben diese Form der egologischen und über anonyme Mechanismen verlaufenden Konstitution des Bezugsrahmens von Situationen in Kapitel 10 oben in diesem Band (und zuvor schon in Abschnitt 9.1 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“) als systemische Konstitution bezeichnet: die materielle, institutionelle und kulturelle Strukturierung der Situation als indirekte und (so) meist unintendierte Folge des Handelns und Interagierens der Akteure. Gleichwohl stellt sich auch nun wieder die Frage: Woraus bezieht die systemische Konstitution letztlich ihre „vi-
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tale“ Verankerung in den Identitäten und Identifikationen und den subjektiven Befindlichkeiten der Akteure, die es ja weiterhin gibt und die einer irgendwie gearteten „sozialen“ Stabilisierung bedürfen? Darüber haben wir inzwischen viel erfahren, insbesondere aber in diesem Band 6 über „Sinn und Kultur“: Letztlich konstituieren sich das Wissen und die Bewertungen, die sozialen Kategorien und Interessen, die kulturellen Modelle und die Anreize in lebensweltlich gestützten Interaktionen mit persönlich identifizierbaren, „signifikanten“ anderen Akteuren. Ohne derartige Nahumwelten verfällt, so kann man annehmen, die Wirksamkeit der egologischen systemischen Konstitution bald. Die Massenmedien, beispielsweise, bewirken nichts, wenn über ihre Botschaften nicht zu Hause, am Arbeitsplatz oder in der Teerunde mit „signifikanten“ Anderen gesprochen und gestritten wird. Kurz: Erst die soziale Konstitution in einer Lebenswelt der „vividness“ bildet die vitale und „signifikante“ Grundlage des Wissens und der Werte, der sozialen Kategorien und der Interessen der Menschen, ihrer Identitäten und Identifikationen.
Wie aber kommt eine solche soziale Konstitution zustande? Und wie kann man sich ihre Emergenz wiederum als eigenständige soziale Tatsache erklären?
12.1 Drei Ansätze: Interpenetration, symbolische Interaktion und Autopoiesis Über den Vorgang der sozialen Konstitution gibt es in der Soziologie eine verhältnismäßig einheitliche Vorstellung. Sie geht letztlich auf Talcott Parsons und seine Unterscheidung von sozialen, kulturellen und personalen Systemen zurück (vgl. dazu auch schon Abschnitt 2.1 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie Kapitel 1 oben in diesem Band). Die sozialen Systeme sind dabei prozessuale Gleichgewichte von Handlungen und (auch dadurch gesteuerten) Kommunikationen mit einem bestimmten Oberziel oder Code. Die kulturellen Systeme sind die von den Akteuren (dabei) sozial geteilten und sozial gültigen Werte und Modelle der Orientierung und des Handelns, mitsamt den dazugehörigen Symbolen. Und die personalen Systeme sind das organisierte Wissen und die internalisierten Werte der Akteure bzw. die Gesamtheit ihrer sozialen Identität. Alle drei Systeme sind, so die Vorstellung, wechselseitig aufeinander bezogen und ermöglichen, erzeugen und begrenzen sich gegenseitig.
Alle in der Soziologie dazu geläufigen Ansätze ähneln sich darin, daß an der sozialen Konstitution – irgendwie – sozialisierte oder sonstwie kulturell geprägte menschliche Akteure, kulturelle Modelle der Orientierung und des Handelns und daraus entstehende und die Akteure wie die kulturellen Modelle wiederum beeinflussende Handlungen, Interaktionen und Transaktionen beteiligt sind. Und ihnen ist auch, wenngleich in teilweise sehr verschiedener Terminologie verpackt, gemeinsam, daß sich die drei Systeme – „irgendwie“ –
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wechselseitig „durchdringen“ müßten. In der Konzeptionalisierung und der Art der „Erklärung“ des Vorgangs hat es jedoch eine charakteristische Entwicklung gegeben – vom normativen Paradigma mit dem Konzept der Interpenetration über das interpretative Paradigma mit der Vorstellung von der symbolischen Interaktion hin zur sog. soziologischen Systemtheorie mit der Idee der sozialen Konstitution als Autopoiesis.
Interpenetration Bei Talcott Parsons bzw. im normativen Paradigma ist die soziale Konstitution noch als eine recht egologische, statische und „strukturelle“ Angelegenheit konzipiert, bei der die strategische Intentionalität der Akteure und die Vorgänge der symbolisch gesteuerten Interpretation und der Beeinflussung durch Kommunikation kaum eine systematische Rolle spielen. Drei Systeme unterscheidet Parsons: die kulturellen Systeme der übergreifenden Werte, die sozialen Systeme der konkreten Interaktionen und die personalen Systeme der sozialisierten Akteure (vgl. dazu bereits Kapitel 1 oben in diesem Band, sowie auch das Kapitel 23 in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Die soziale Konstitution geschieht dann über die Internalisierung der kulturellen Systeme in die personalen Systeme im Prozeß der Sozialisation und über die Institutionalisierung, verstanden vor allem als Einrichtung von Mechanismen der sozialen Kontrolle, mit der die wechselseitige Durchdringung der kulturellen und der sozialen Systeme gewährleistet sei. Der zusammenfassende Begriff für die Internalisierung und die Institutionalisierung ist dann der der Interpenetration. Die soziale Konstitution ist somit die Folge der Interpenetration der drei Systeme. Die drei Systeme müssen, „damit“ Gesellschaft möglich werde, gegenseitig zur Deckung kommen. Das war nicht nur seinerzeit eine in der Tat sehr statische Sichtweise (vgl. dazu auch schon Abschnitt 2.3 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Drei Mengen schieben sich – sozusagen – irgendwie übereinander und bilden eine möglichst große Schnittmenge, die „Gesellschaft“. Wer aber schiebt? Und was verhindert die Überlappung eventuell? Auch aus diesen Schwierigkeiten heraus hat Parsons später die soziale Konstitution als eine Art von Prozeß konzipiert. Zunächst wird ein viertes System hinzugefügt, das die Quelle der motivationalen Dynamik des Geschehens sein soll: die organismischen Systeme der psychobiologischen Bedürfnisdispositionen der Menschen. Die soziale Konstitution geschieht dann als „allgemeines Handlungssystem“ in der Form einer „kybernetischen“ Wechselbeziehung zwischen diesen vier Systemen: Das kulturelle System steuert die sozialen und personalen bzw. organismischen Systeme durch den Transfer von Information von oben nach unten; und die organismischen Systeme treiben das Prozessieren der personalen, der sozialen und der kulturellen Systeme über den Transfer von Energie von unten nach oben an (vgl. dazu auch Abschnitt 1.5 oben in diesem Band, sowie Kapitel 23 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“).
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Das war ohne Zweifel schon ein wichtiger Schritt hin zu einem prozessualen Verständnis der sozialen Konstitution. Gleichwohl bleibt es bei der doch sehr statischen Vorgabe des normativen Paradigmas: Alles hängt letztlich an der steuernden Wirkung des kulturellen Systems der orientierenden Werte, das von den Akteuren zwar mit „Energie“ versorgt wird, aber als „letzte Realität“ alles andere fest im Griff eines funktionalen Gleichgewichtes hat, das eigentlich nur von außen geändert werden kann.
Symbolische Interaktion Im Zusammenhang mit der Kritik am normativen Paradigma wurde die soziale Konstitution dann im sog. interpretativen Paradigma ganz konsequent als Prozeß verstanden, bei dem eben kein kulturelles oder sonstiges „System“ die Akteure und das soziale Geschehen steuern. Es sind vielmehr die Akteure, die durch ihr Handeln die kulturellen und sozialen Systeme erst schaffen, aber natürlich dadurch auch wieder beeinflußt werden. Der Prozeß der sozialen Konstitution von Identitäten, Handlungs- und Deutungsmustern wird in dieser Sichtweise von den über Symbole gesteuerten wechselseitigen Interpretationen der Situation durch die Akteure – „was geht hier vor?“ – und den daran anschließenden und neue Interpretationen anregenden Interaktionen, insbesondere aber vom Prozeß der Koorientierung, der wechselseitigen gedanklichen Verschränkung der Perspektiven, getragen. Er treibt – gegebenenfalls, keineswegs notwendigerweise – zu Konsensus und Koordination in einem Kollektiv, oft genug auch gegen die Absichten der Akteure (vgl. dazu schon Kapitel 2 oben in diesem Band, sowie auch bereits Kapitel 25 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Im interpretativen Verständnis der sozialen Konstitution wird vor allem der intentionale und „interpretierende“ Beitrag der individuellen Akteure und ihre reflexive Verbundenheit in der – stets prekären und vorläufigen – gedanklichen Koorientierung und symbolischen Abstimmung betont, bei dem die Regeln und Modelle der Orientierung nicht irgendwie „vor“ den Akteuren bestehen, sondern immer nur im Vollzug des Handelns selbst neu geschaffen werden, ja sogar erst nach dem Handeln als eine Art von „Rationalisierung“. Die Aggregation und Verfestigung des Geschehens der sozialen Konstitution zu festen Mustern der Reproduktion oder zu eigendynamischen, über die Absichten und Reflexionen der Akteure hinausgehenden Prozessen, bleibt jedoch ohne Zweifel etwas unterbelichtet, obwohl es dort – wie wir aus Abschnitt 2.5 oben in diesem Band wissen – auch so etwas wie wiederkehrende Situationen mit einer gewissen „systemischen“ Eigenständigkeit gibt.
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Autopoiesis Von Niklas Luhmann stammt schließlich der Versuch, die strikt systemtheoretische Vorstellung des normativen Paradigmas mit dem prozessualhandlungstheoretischen Ansatz des interpretativen Paradigmas zu einer Art dynamisierter Systemtheorie der sozialen Konstitution zu verbinden (vgl. auch dazu bereits das Kapitel 27 in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Luhman unterscheidet – jedenfalls: wie es zunächst scheint – nur zwei Systeme: soziale und psychische Systeme. Soziale Systeme sind in dieser Sicht ununterbrochene Ketten fortlaufender und aneinander anschließender Kommunikationen – nicht aber, wie er vielfach ganz vehement betont, von Handlungen! Die Kommunikationen der sozialen Systeme folgen dabei einer gewissen, für das jeweilige System typischen Eigenlogik und einem dafür charakteristischen Eigen-„Sinn“, ihrer Codierung, werden aber auch, im Rahmen dieser Eigenlogik immer nur, durch externe Vorgänge „irritiert“ oder „angeregt“. Ihren Eigensinn gewinnen die sozialen Systeme aus, wie Luhmann sagt, gewissen „Selbstbeschreibungen“, die die sozialen Systeme, wie es heißt, „von sich selbst anfertigen“. Diese Selbstbeschreibungen dienen als eine Art von idealisiertem Modell, an dem die sozialen Systeme bzw. „die Kommunikation“ höchstselbst über „Selbstbeobachtung“ kontrollieren können, ob auch alles schön nach der Codierung dieser Selbstbeschreibungen verläuft. Das Geschehen wird damit zu einem „selbstreferentiellen“ Prozeß, der immer wieder auf sich selbst verweist und gerade daraus seine Autonomie und emergente Eigengesetzlichkeit gewinnt. Die psychischen Systeme sind in ähnlicher Weise ununterbrochene Ketten eigensinniger, selbstreferentieller gedanklicher Selektionen, des Prozessierens von, wie Luhmann das bezeichnet, Bewußtsein. Die psychischen Systeme irritieren und regen nun das Prozessieren der sozialen Systeme an, und die sozialen Systeme werden ihrerseits durch diese Anregungen in ihren Kommunikationen, wenngleich natürlich immer nur im Rahmen der jeweiligen Eigenlogik, konstituiert. Das Bewußtsein wiederum folgt, erneut in den Grenzen seiner jeweiligen Eigenlogik nur, den „kommunikativen“ Anregungen aus dem sozialen System und wird damit seinerseits dadurch konstituiert.
Soziale und psychische Systeme sind also jeweils relativ autonome, nach ihrer jeweiligen Eigenlogik prozessierende Systeme. Sie sind gleichzeitig füreinander relevante, aufeinander angewiesene und einander anregende „Umwelten“: Alle denkbaren Akte und Vorgänge aus den Kommunikationen der sozialen Systeme haben eine Wirkung jeweils immer auch als deutungsbedürftige „Information“ für die psychischen Systeme. Und die psychischen Systeme erzeugen und tragen in ihren Selektionen die Kommunikationen, aus denen sich die sozialen Systeme konstituieren (vgl. dazu auch schon Abschnitt 8.3 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). In dieser Weise ermöglichen und begrenzen sich die psychischen und die sozialen Systeme wechselseitig und tragen darüber den Prozeß der sozialen Konstitution. Dieser Vorgang der wechselseitigen Hervorbringung der psychischen und der sozialen Systeme ist von Luhmann – in Übernahme eines ganz anders gemeinten Begriffs aus einer speziellen Variante der Mikrobiologie – als Autopoiesis bezeichnet worden (vgl. dazu auch schon die Hinweise in Kapitel 1
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von Band 2, „Die Konstitution der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie Kapitel 27 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Es ist, sozusagen, die dynamisierte Fassung des Gedankens von der Interpenetration der Systeme bei Parsons und die systemtheoretische Eingrenzung der Idee von der stets neu vollzogenen sozialen Konstitution durch Interpretation und symbolische Interaktion. Auf den ersten Blick scheint es bei Luhmann jedoch keinen Platz für die kulturellen Systeme zu geben, die Parsons ja, im Anschluß an das Konzept des unit act und der normativen Orientierung, noch so sehr betont hat, und die im interpretativen Paradigma, etwa bei George H. Mead, bei Herbert Blumer, bei Alfred Schütz oder bei Harold Garfinkel, unter Bezeichnungen wie „bedeutungsvolle Idee“, „typisiertes Wissen“, „Rahmen und Rezepte“ oder „Basiswissen“ so zentral waren. Jedenfalls findet sich bei Luhmann keine eigene Bezeichnung als „System“ dafür. Der Augenschein der Texte und die Luhmannsche Begrifflichkeit täuschen jedoch. Es gibt die kulturellen Systeme in seiner Theorie der sozialen Konstitution als Autopoiesis der sozialen und der psychischen Systeme durchaus: Die gegenseitige Konstitution der sozialen Systeme und der psychischen Systeme über Kommunikation und Bewußtsein geschieht über, wie er sie auch nennt, „Handlungen“ (vgl. dazu bereits Abschnitt 6.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie ausführlich auch Abschnitt 27.3 in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). „Handlungen“ sind dabei keine sichtbaren Akte, sondern typisierte, vorgestellte und „markierte“ Modelle sozialer Abläufe. Es sind die oben erwähnten „Selbstbeschreibungen“ der sozialen Systeme, mit denen das Prozessieren der sozialen Systeme „ausgeflaggt“ werde und die für die nötige „Selbstbeobachtung“ unerläßlich seien. Für die kulturellen Systeme als „Modelle“ von Wissen und Werten hat Luhmann an verstreuten Stellen sehr viele verschiedene andere Bezeichnungen gefunden, wie etwa die der „Erwartungserwartung“, des „Selektionszusammenhangs“ oder des „Selektionsbereichs“. Das sind, wie es dann auch heißt, „Reduktionsperspektiven für ein Verhältnis von System und Umwelt“ oder „Systemreferenzen“, für die es stets Alternativen gebe und aus denen dann – man höre! – zur Autopoiesis der sozialen Systeme „seligiert“ werden müsse (vgl. dazu auch schon Abschnitt 7.5 oben in diesem Band). Nur: Wer tut das? Und wie geht das?
Erst damit werden, so Luhmann weiter, die Anschlußmöglichkeiten der stets riskanten Kommunikationen soweit vereinfacht und strukturiert, daß die Autopoiesis des Geschehens jenseits aller unfaßbaren Unwahrscheinlichkeiten gelingen kann. Das Bewußtsein der psychischen Systeme und das kommunikative Geschehen der sozialen Systeme werden so, über die Markierung durch „Handlungen“, ihrerseits immer wieder neu konstituiert und bestärkt. Insofern enthält auch das Konzept der sozialen Konstitution durch autopoietische Selbstbeobachtung die kognitiven oder kulturellen Modelle der Orientierung und des Handelns. Es sind, Sie ahnen es wohl schon längst, die sozial verbrei-
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teten und gültigen Frames und Skripte, ganz in dem Sinne wie diese Begriffe in Kapitel 7 oben in diesem Band eingeführt wurden. Sie sind sogar ein zentrales Stück seiner Theorie, denn nur über diese sozial geteilten, von den psychischen Systemen sozusagen: erwarteten, Modelle kann es ja jene Selbstbeschreibungen und Selbstbeobachtungen der sozialen Systeme geben, an denen deren Codierung, ihr Eigensinn und die Anschlußfähigkeit ihrer Kommunikation hängt. Offen bleibt bei Luhmann jedoch eine naheliegende Folgerung: In der Autopoiesis der sozialen und der psychischen Systeme reproduzieren und verstärken sich natürlich auch die „Handlungen“, die Selbstbeschreibungen als Modelle der Orientierung und der sozial sinnvollen kommunikativen Akte, kurz: der kulturellen Systeme. Die Idee der Konstitution auch der kulturellen Systeme im Prozeß der Autopoiesis wäre, so gesehen, nur eine naheliegende, in den Grundüberlegungen der Luhmannschen Konstitutionstheorie ohne Zweifel zentral verankerte, Ergänzung, die wir hier – ergebenst – explizit machen und vornehmen wollen.
Und wieder das alte Problem: How to explain? Im Grunde sind die drei soziologischen Konzepte der sozialen Konstitution, das der Interpenetration des normativen, das der symbolischen Interaktion des interpretativen und das der Autopoiesis des systemtheoretischen Paradigmas, also leicht miteinander vergleichbar. Der wichtigste Aspekt in der Entwicklung der Konzepte ist, am deutlichsten ohne Zweifel bei Luhmann, daß der Vorgang der sozialen Konstitution nun explizit als immer nur momentan reproduzierter sozialer Prozeß konzipiert wurde, den menschliche Akteure mit ihren Interpretationen und Interaktionen, insbesondere in ihren reflexiven gedanklichen Koorientierungen tragen, sich dabei von vorgängig entstandenen, unterschiedlich sozial verbreiteten und gültigen, gedanklichen Modellen der Orientierung und des Handelns leiten lassen, durch ihr so erzeugtes Handeln neue Situationen schaffen, die symbolischen Akte tragen, und darüber zu erneuten Interpretationen Anlaß geben, was dann wieder zur Veränderung oder auch zur Verstärkung der gedanklichen Modelle führt. Diese Rückbezüglichkeit des Prozesses ist das, was Luhmann – etwas geheimnisvoll – als „reflexive“ Selbstbeschreibung und Selbstbeobachtung der sozialen Systeme darstellt. Es ist nichts anderes als der simple Sachverhalt, daß soziale Prozesse wiederum auch – materielle wie symbolische – Rückwirkungen haben, die sich auf die sozialen Situationen, die Akteure, deren Vorstellungen und die daran anschließenden Handlungen erneut auswirken. Es ist jener „Kreisprozeß“, von
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dem Jürgen Habermas bei seiner Beschreibung der Konstitution der Lebenswelt sprach (vgl. Kapitel 10 oben in diesem Band), bei dem sich alle drei Systeme – die sozialen, die psychischen und die kulturellen Systeme – als jeweils durchaus eigenständige Umwelten einander reziprok beeinflussen, ermöglichen und begrenzen und dadurch in ihrem „Bestand“ erhalten. Die Frage ist nur: Wie kann man diesen Vorgang der wechselseitigen Konstitution von sozialen, personalen bzw. psychischen und kulturellen Systemen bzw. „Handlungen“ aber auch richtig erklären? Welche (allgemeinen) Gesetze liegen dem Geschehen zugrunde? Und wie sieht die Logik der Konstitution von Gleichgewichten aus, die man dann als „Systeme“ bezeichnen könnte? Alles das ist in den drei Konzepten – Interpenetration, symbolische Interaktion, Autopoiesis – offen geblieben. Denn der bloße Hinweis auf die soziale Konstitution als Interpenetration, als symbolische Interaktion oder als Autopoiesis ist eine solche Erklärung natürlich noch nicht. Es sind immer etwas mysteriöse Metaphern für etwas geblieben, was es erst noch nach den Regeln der wissenschaftlichen Kunst zu erklären gilt.
12.2 Soziale Konstitution als soziales Framing Wie hat man sich dann aber eine solche angemessene Erklärung des Prozesses der wechselseitigen Konstitution von sozialen, psychischen und kulturellen Systemen vorzustellen? Der Grundvorgang wurde an vielen Stellen dieser „Grundlagen“ schon angesprochen und in seiner abstrakten Form zum Schluß des Kapitels 5 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ skizziert: Es ist eine „kollektive Definition der Situation“, konzipiert als prozessuale Sequenz einer soziologischen Erklärung. Der Unterschied zu dem Modell der kollektiven Definition der Situation aus Kapitel 5 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ist lediglich der, daß es – nach den vielen Kapiteln über die Erklärung von Selektionen aller Art, insbesondere aber nach Kapitel 7 oben in diesem Band – eine explizite Theorie für den erklärenden Kern des Geschehens gibt: die Selektion der mentalen Modelle für die Orientierungen und das Handeln der Menschen als das „Framing“ der Situation. Kurz: Das Framing ist der Kern der Erklärung der Prozesse der sozialen Konstitution sozialer Systeme.
Der Vorgang der sozialen Konstitution besteht dann aus im Prinzip beliebig vielen einzelnen Sequenzen des Grundmodells einer soziologischen Erklärung (vgl. dazu bereits die Einleitung zu Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ sowie das Kapitel 6 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Jede dieser Sequenzen besteht aus einigen grundlegen-
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den Elementen und Schritten, die wir aus dem Modell der soziologischen Erklärung inzwischen hinreichend kennen.
Soziale Situationen und Identitäten Die erste dieser beliebig vielen Sequenzen beginnt folglich mit einer bestimmten sozialen Situation, in der die Akteure eine jeweils individuelle Definition der Situation vornehmen. Die soziale Situation besteht, wie wir aus den Kapiteln 1 und 5 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ wissen, aus den materiellen Opportunitäten und den institutionellen Regeln, insbesondere aber auch aus dem kulturellen System der kulturellen Bezugsrahmen der Orientierungen, die im Kollektiv, um das es geht, sozial geteilt und symbolisiert sind und soziale Geltung haben. Eine bestimmte (soziale) Situation ist dann das erste Element in diesem ersten Schritt. Die Akteure sind das zweite Element. Sie sind als Individuen vorab aufgrund ihrer Vorgeschichte der Sozialisation mit einer gewissen Identität ausgestattet, die sowohl soziale wie personale Elemente enthält: das der Person zugängliche Wissen und die ihr wichtigen Werte, insbesondere aber die in ihrem Gedächtnis verankerten und mehr oder weniger „zugänglichen“ mentalen Modelle, die Frames der kulturellen Orientierungen und die Skripte von Handlungssequenzen für typische Situationen.
Der erste Schritt: Das individuelle Framing Die „individuelle“ Definition der Situation, das „individuelle“ Framing also, ist somit der erste Schritt der sozialen Konstitution. Dabei werden die „objektive“ Situation mit der „subjektiven“ Befindlichkeit der Akteure verbunden. Sie folgt der jeweils gegebenen Logik der Situation: Es ist die FrameSelektion vor dem Hintergrund der vorhandenen inneren und äußeren Bedingungen, nach den Vorgaben und Regeln aus Kapitel 7 oben in diesem Band für diesen Vorgang. Der Prozeß beginnt mit der Beobachtung der Objekte in der Situation und verläuft über den kognitiv gesteuerten Match von Objekten und gespeicherten Modellen, insbesondere an Hand der symbolischen Hinweise auf gewisse Bedeutungen der Objekte. Das Ergebnis ist die – mehr oder weniger – „automatische“ Aktivierung einer bestimmten Einstellung zur Situation, gelegentlich aber auch begleitet, überlagert oder gar abgelöst von „reflexiven“ oder „rationalen“ Erwägungen über bestimmte Folgen des Handelns. Bei diesen „interpretativen“ und „reflexiven“ Erwägungen spielen ins-
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besondere die gedanklichen Koorientierungen eine wichtige Rolle: die empathische Einfühlung in mögliche Überlegungen und Reaktionen der anderen Akteure, bzw. die Vornahme gewisser Reflexionen über bestimmte Konsequenzen des möglichen Tuns.
Der zweite Schritt: Handeln Das dritte Element ist das für andere Akteure sichtbare Handeln. Die Selektion eines sozial wirksamen Handelns – im Anschluß an die „Definition der Situation“ – ist dann auch der zweite Schritt in dem Prozeß der sozialen Konstitution. Es ist die Folge des individuellen Framings, insbesondere auch der Aktivierung von gewissen Skripten bei der individuellen Definition der Situation. Die dabei bedeutsame Logik der Selektion folgt den Regeln der WETheorie, sei es schon vorher beim individuellen Framing oder sei es erst bei der „rationalen“ Abwägung von Konsequenzen.
Der dritte Schritt: Die neue soziale Situation Das sichtbare Handeln hat Folgen, auch solche, die die individuellen Akteure nicht vorhergesehen, bedacht oder gar beabsichtigt haben. Dies führt zum vierten Element der ersten Sequenz: die durch die individuellen Akte geschaffene neue soziale Situation. Das ist der dritte Schritt der ersten Sequenz einer sozialen Konstitution: Die Erzeugung gewisser kollektiver Folgen nach Maßgabe der jeweiligen Logik der Aggregation. Mit der „Emergenz“ einer neuen sozialen Situation ist die erste Sequenz beendet. Und bliebe es dabei, dann könnte man nur schwerlich von „sozialer“ Konstitution sprechen.
Die Fortsetzung Aber die Geschichte hat natürlich kein natürliches Ende. Das Ergebnis der individuellen Akte verändert – unter Umständen, natürlich nicht immer – die objektive Situation: Es gibt – unter Umständen – andere materielle Möglichkeiten, andere institutionelle Regeln oder eine andere Verbreitung oder Geltung der kulturellen Bezugsrahmen und Symbole. Die „Wirkung“ der neuen Situation auf die Akteure hat einen einfachen Grund: Sie erleben diese Veränderungen unmittelbar und handgreiflich als „Belohnungen“ oder „Bestrafungen“ und nehmen danach eventuell andere Bewertungen vor. Sie nehmen die
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neue Situation auch kognitiv wahr und entwickeln so ein neues Wissen. Insbesondere aber haben die erkennbaren Handlungen und die aggregierten Folgen gewisse symbolische Funktionen: Das Handeln und die Reaktionen der anderen Akteure ist, auch für den handelnden Akteur selbst, mit „Bedeutung“ und Hinweisen darüber belegt, was jetzt in der Situation wohl der Fall sein könnte, ob alles so ist wie üblich oder erwartet, oder ob es vielleicht ganz neue Gesichtspunkte gibt.
Das soziale Framing Nun beginnt die nächste Sequenz: Es erfolgt in der neu entstandenen Situation ein neues individuelles Framing, eines, das nun von dem Ergebnis der ersten Sequenz gesteuert ist. Und so weiter. Und so weiter. Die ununterbrochene Sequenz von sozialer Situation, darin erfolgendem individuellem Framing, dadurch gesteuertem individuellem Handeln, der dadurch aggregativ erzeugten Veränderung der sozialen Situation und dem daran anschließenden erneuten individuellen Framing mit den entsprechenden kollektiven Folgen – und so weiter – sei als soziales Framing bezeichnet. Die soziale Konstitution von sozialen, psychischen und kulturellen Systemen ist die Folge davon. Das individuelle Framing ist damit die motivationale und selektive Grundlage des Prozesses des sozialen Framings bzw. der sozialen Konstitution, stets natürlich wieder beeinflußt durch die erzeugten kollektiven Folgen. Und der Prozeß der sozialen Konstitution ist, wie man jetzt leicht sehen kann, nichts anderes als ein Spezialfall der dynamisierten Fassung des Modells der soziologischen Erklärung.
Noch einmal: Soziale, psychische und kulturelle Systeme Das Modell des sozialen Framing erfindet den Vorgang der sozialen Konstitution keineswegs neu, sondern präzisiert die Vorgänge nur und rekonstruiert sie als nomologisch erklärbaren Prozeß. Leicht lassen sich die drei Systeme darin verorten, die in den soziologischen Ansätzen der sozialen Konstitution unterschieden worden waren (vgl. dazu auch schon Abschnitt 2.1 in Band 2, „Die Konstitution der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Ein soziales System ist danach nichts anderes als der – mehr oder weniger: beobachtbare – Ablauf der Reproduktion oder Veränderung typischer sozialer Situationen.
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Es ist die fortlaufende Sequenz der immer wieder neu erzeugten sozialen Situationen. Das ist, wie jetzt deutlich wird, keineswegs ein Vorgang, der auf der Ebene des sozialen Systems irgendeine Eigenständigkeit hätte, sondern der indirekte und (meist so jedenfalls) nicht intendierte Effekt des individuellen Framings, der Selektion des Handeln und dessen aggregierter Wirkungen auf die jeweils neue Situation. Die Eigenständigkeit und die Eigenlogik der so rekonstruierten sozialen Systeme ergeben sich aus zwei Sachverhalten: Erstens aus der jeweiligen endogenen Logik der Abläufe, etwa so wie wir sie bei den Schwellenwertmodellen der Dynamik sozialer Bewegungen oder Segregationen, etwa in Kapitel 9 von Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ kennengelernt haben. Und zweitens aus den Codierungen der jeweiligen sozialen Gebilde, die sich aus den jeweils herrschenden sozialen Produktionsfunktionen ergeben und sich darüber in den mentalen Modellen kultureller Orientierungen niederschlagen, die die Akteure für das jeweilige Geschehen übernommen, als sozial geteilte und sozial gültige „Selbstbeschreibungen“ der kollektiven Abläufe in ihren Identitäten verankert haben und von denen sie sich bei ihrem individuellen Framing leiten lassen – wie das etwa die Red Devils und die Bull Dogs aus Abschnitt 11.4 oben in diesem Band mit den „Selbstbeschreibungen“ ihrer jeweiligen Gruppe getan haben, nachdem sich die entsprechende kollektive Identität aufgebaut hatte. Und die „Selbstbeobachtung“ der sozialen Systeme ist dann nichts anderes als die gegenseitige und auch die innere Kontrolle der Akteure, sich in ihren Handlungen, Orientierungen und Gefühlen eben von diesen Codierungen, mentalen Modellen oder kollektiven Identitäten leiten zu lassen. Das sind aber keine „Selbstbeobachtungen“, die irgendeine „Kommunikation“ oder ein „soziales System“ vornähme. Es ist vielmehr das Ergebnis eines zwar verwickelten, aber im Prinzip leicht erklärbaren Prozesses der Entstehung von mentalen Modellen bei den individuellen Akteuren und der sozialen Verbreitung und kollektiven Geltung dieser mentalen Modelle, der Frames und der Skripte einer intensiven Gruppensolidarität zum Beispiel.
Die psychischen Systeme „bestehen“ dann entsprechend in der Reproduktion (oder Veränderung) der Identitäten der Akteure. Die psychischen Systeme beziehen sich in ihrem Prozessieren auf das, was in der sozialen Situation „objektiv“ an Möglichkeiten, Regeln und Bezugsrahmen vorhanden ist, aber auch auf sich selbst und ihre Vergangenheit als innere Umgebung, sowie – insbesondere – auf die vom Akteur angenommene Sicht ihres Handelns aus der Perspektive der anderen: Die Akteure versetzen sich, gelegentlich, wenngleich nicht immer, gegenseitig in ihre jeweilige Lage und orientieren ihr Handeln an diesen, ineinander verschränkten Perspektiven. Der Vorgang der sozialen Konstitution des psychischen Systems umfaßt also nicht nur Prozesse der symbolischen Interaktion und der Kommunikation als Sequenz des Wahrnehmens und des Lernens, des Framings und Reframings, sondern auch solche der reflexiven Abwägung von Folgen und der simultanen gedanklichen Koorientierung, der empathischen Einfühlung also, was der jeweils andere jetzt denken, fühlen oder tun wird, und der Orientierung des eigenen Handelns daran.1
Die kulturellen Systeme sind schließlich die sozial verbreiteten, symbolisierten und sozial mit Geltung versehenen mentalen Modelle der sozial geteilten und symbolisch gekennzeichneten Bezugsrahmen als Teil der sozialen Situation. 1
Vgl. dazu die Rekonstruktion der Experimente von Muzafer Sherif und Solomon E. Asch als Prozesse der Koorientierung bei Johannes Siegrist, Das Consensus-Modell. Studien zur Interaktionstheorie und zur kognitiven Sozialisation, Stuttgart 1970, Kapitel 3: „Einstimmungs“prozesse in experimentellen Kleingruppen, S. 73-110.
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Es sind die über viele Bestätigungen und Bestärkungen sozial verankerten Frames und die über Habitualisierung erworbenen und über gemeinsame Praxis eingespielten Skripte also. Die kulturellen Systeme der Frames und der Skripte sind dabei, wie gesagt, einerseits Teil der sozialen Situation und der äußeren Bedingungen des Handelns, entstanden aus einer mehr oder weniger langen Vorgeschichte der Genese der sozialen Situation. Sie sind aber gleichzeitig – als Folge einer mehr oder weniger längeren Vorgeschichte des Lernens und der Sozialisation – auch ein Bestandteil der inneren Bedingungen bzw. der Identitäten der Akteure. Wegen dieser Doppelverankerung der kulturellen Systeme in den sozialen Situationen und den individuellen Akteuren wird ja auch die symbolische Verbindung zwischen Objekt und Gedächtnis, der Match zwischen beiden also, so wichtig, der letztlich das individuelle, wie das soziale Framing steuert: Erst in der „Interpenetration“ von kulturellem und personalem System werden Orientierung, sinnhaftes und abgestimmtes soziales Handeln und das Prozessieren der sozialen Systeme möglich.
Alle drei Systeme bedingen und erzeugen sich in diesem Prozeß wechselseitig – in einem sequentiellen Ablauf, der immer wieder auf die soziale Situation, die mentalen Modelle und Identitäten und auf das sichtbare Handeln zurückweist.
Ko-Konstitution und Ko-Evolution Leicht sieht man, daß alle drei Systeme nicht ohne einander möglich sind und daß das soziale Geschehen eine Art von wechselseitiger Koproduktion aller drei Systeme ist (vgl. auch dazu schon Abschnitt 2.1 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Es ist ein Vorgang der Ko-Konstitution der drei Systeme, der allerdings auch ins Leere laufen oder schließlich, nach hoffnungsfrohem Beginn, wieder verfallen kann – wie jeder weiß, der einmal in einem Gespräch, in einer Beziehung oder einer Karriere nicht mehr weiter wußte oder zusehen mußte, wie eine einst funktionsfähige Kollegenschaft in sich verfiel. Der Prozeß der sozialen Konstitution durch soziales Framing ist nämlich nach vorne grundsätzlich offen. Er kann im Grunde alle möglichen Verläufe annehmen: Die offene evolutionäre Sequenz mit ungewissem Ausgang, irgendein prozessuales Gleichgewicht, den Wandel oder den Verfall eines einmal etablierten Gleichgewichtes. Daher kann man die soziale Konstitution durch soziales Framing auch als eine – nach vorne offene und gelegentlich in reproduktiven Gleichgewichten konvergierende – Ko-Evolution von sozialen, psychischen und kulturellen Systemen verstehen. Und die Gesetze, die diesen Vorgang treiben, sind keine vorab festliegenden, übergreifenden, makrosoziologischen, funktionalen oder strukturellen „Notwendigkeiten“ oder autopoietischen Eigengesetzlichkeiten, sondern die Gesetze, die schon jeder einfachen soziologischen Erklärung zugrundeliegen: die Gesetze der Definition der Situation, der Selektion des Handelns und die Regeln der Aggregation in eine neue Situation hinein.
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Der gesamte Prozeß der Ko-Konstitution und Ko-Evolution der drei Systeme hat dann zwei verschiedene Komponenten, von denen der empirische Verlauf abhängt: Erstens die in der jeweiligen Situationslogik angelegte endogene Verkettung der Situationsabfolge, wie das etwa bei den Diffusions- oder Spielmodellen einer übergreifenden Pfadabhängigkeit dargestellt wird. Und zweitens die Abhängigkeit des Verlaufes auch von nicht weiter erklärten exogenen Ereignissen aus einer nicht weiter spezifizierten Umwelt, die dafür sorgen können, daß der endogen angelegte Pfad des evolutionären Geschehens einen ganz anderen Weg nehmen kann – wie das etwa Muzafer und Carolyn Sherif in ihren Ferienlagerexperimenten bewußt so angelegt haben. Oder wie das etwas ungeplant der geruhsamen „Autopoiesis“ der alten Bundesrepublik mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 geschehen ist. Und weil niemand weiß, wann es solche externen Einflüsse gibt, kann auch niemand wirklich vorhersagen, welchen genauen empirischen Verlauf die „Geschichte“ der Konstitution eines sozialen Geschehens wirklich nehmen wird (vgl. dazu insgesamt auch schon Kapitel 7 und 8 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Ein Beispiel: Die soziale Konstitution ethnischer Konflikte Das alles ist ohne Zweifel, trotz der Einfachheit der Grundüberlegungen, alles etwas sehr abstrakt, und das kann es in dieser Form eines allgemeinen Erklärungsmodells für im Prinzip ja sogar alle denkbaren Fälle der Vergesellschaftung auch kaum anders sein. In den in Kapitel 11 oben in diesem Band berichteten Beispielen zur Dynamik von Gruppen, etwa, wurde der Vorgang der sozialen Konstitution als wechselseitige Reproduktion von sozialen Abläufen, Ausbildung von Identitäten und der Etablierung kultureller Modelle der Orientierung und des Handelns jedoch schon recht deutlich. Die Erklärung der sozialen Konstitution als soziales Framing sei daher an einem Beispiel demonstriert, das an die dort geschilderte Dynamik von Gruppenprozessen anknüpft: die Entstehung von interethnischen Konflikten. Ein Hintergrund der folgenden Rekonstruktion des Prozesses der sozialen Konstitution ethnischer Grenzziehungen und Konflikte über das soziale Framing sind insbesondere die in Abschnitt 11.4 oben in diesem Band berichteten Ergebnisse aus den sozialpsychologischen Experimenten von Muzafer und Carolyn Sherif, von Henri Tajfel und von Solomon E. Asch, sowie einige Einzelheiten aus der Soziologie interethnischer Konflikte, wie sie etwa in Afrika oder in Westeuropa, besonders nachhaltig im ehemaligen Jugoslawien oder auch in Rußland beobachtet wurden und werden (vgl. dazu auch schon Kapitel 7 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Modellierung folgt in ihren Einzelheiten des zentralen Vorgangs dem individuellen Framing, den Regeln zur Selektion des Bezugsrahmens, wie sie in Kapitel 7 oben in diesem Band ausführlich dargestellt worden sind.
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Ethnische Grenzziehungen und Konflikte sind ein besonders eingängiger Fall der sozialen Konstitution:2 Biologische Grundlagen ethnischer Grenzziehungen gibt es nicht. Ethnische Kategorien der Zusammengehörigkeit oder der sozialen Distanzierung sind immer bloße Fiktionen, die dann, wenn es sie gibt, durchaus eine nachhaltige „Objektivität“ aufweisen, konstruiert freilich auf der Grundlage meist eines sehr eingängig erlebten gemeinsamen Schicksals und nachhaltiger historischer Erfahrungen. Ohne eine solche, wenngleich nachher oft sehr stilisierte Geschichte auch manifester Auseinandersetzungen, haben solche Fiktionen nur wenig Rückhalt und Bestand. Sie sind aber auch dann immer nur festgemacht an relativ beliebigen Merkmalen: Hautfarbe, Haartracht, regionale Herkunft oder Kleidungskonventionen. Manchmal gelingt es, solche ethnischen Grenzziehungen durch bewußte Kampagnen zu inszenieren. Oft genug bleiben diese Versuche aber auch erfolglos, weil die „materielle“ Grundlage fehlt. Und gelegentlich brechen alte Distanzierungen und Konflikte plötzlich wieder auf, wo es jahrzehntelang ein friedliches Miteinander gab.
Das Erklärungsproblem: Die Entstehung einer kollektiven Orientierung Wie könnte man sich nun aber diese Emergenz und die soziale Konstitution ethnischer Grenzziehungen und Konflikte vorstellen? Um die Sache möglichst deutlich werden zu lassen, beginnen wir mit einer Situation, in der es noch kaum soziale Kategorisierungen oder divergierende Gruppeninteressen gibt und in der sich die Akteure (daher) allesamt unter dem Frame der „Individualität“ sehen. Sie fühlen sich als „Individuen“ und begegnen sich auch in den Interaktionen und Transaktionen so. Die beiden Frames, um die es geht, sind der Rahmen der „Individualität“ (indv) und der einer bestimmten Gruppen„Kollektivität“ (coll). Der Parameter mcoll kennzeichnet den Match des
2
Vgl. allgemein zu den Bedingungen der Entstehung ethnischer Grenzziehungen und Konflikte: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), Kapitel IV: Ethnische Gemeinschaftsbeziehungen, S. 234-244; Pierre L. van den Berghe, The Ethnic Phenomenon, New York und Oxford 1979; Donald L. Horowitz, Ethnic Groups in Conflict, Berkeley u.a. 1985; Russell Hardin, One For All. The Logic of Group Conflict, Princeton, N.J., 1995; James D. Fearon und David D. Laitin, Explaining Interethnic Cooperation, in: American Political Science Review, 90, 1996, S. 715-735; Hartmut Esser, Die Situationslogik ethnischer Konflikte. Auch eine Anmerkung zum Beitrag „Ethnische Mobilisierung und die Logik von Identitätskämpfen“ von Klaus Eder und Oliver Schmidtke (ZfS 6/98), in: Zeitschrift für Soziologie, 28, 1999b, S. 245-262.
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lungsverhältnis sorgt für eine hohe Salienz dieses Frames: Jeder hat sein „individuelles“ Auskommen, und von einer Orientierung an einem Kollektiv verspricht sich niemand etwas Besonderes.
Die Änderung der Situation: soziale Kategorisierung Nun aber ändere sich die Situation: Die Akteure werden, so wollen wir annehmen, daran erinnert, daß sie gewissen Kategorien zugehören oder in Gruppen eingeteilt sind – in Rote oder Blaue, Red Devils oder Bull Dogs, Kandinsky- oder Klee-Liebhaber, Schwarze oder Weiße, Männer oder Frauen, Moslems oder Christen, Ossis oder Wessis, Türken oder Deutsche, KosovoAlbaner oder Serben, zum Beispiel und wodurch auch immer. Die Anreize, der einen oder der anderen Gruppe zugeteilt zu sein, blieben jedoch – einstweilen – unverändert. Diese Kategorisierung verschiebt den Match mcoll für alle Akteure nach links, etwa auf die Position von Ziffer 2. Die Verschiebung wäre umso stärker, je eher die Kategorisierung an historisch eingelebte, aber inzwischen verschüttete Mythen und Stereotype anknüpfen könnte – und je „glaubwürdiger“ (oder bedrohlicher), je „signifikanter“ also das Signal ist, das die Kategorisierung auslöst. Staatspräsidenten haben beispielsweise, so kann man wohl annehmen, dabei mehr Einfluß als der Vorsitzende einer Splitterpartei. Manchmal gelingt die Verstärkung dieser Verschiebung auch gewissen politischen Unternehmern durch das geschickte Wecken alter oder neuer Ressentiments mit dem Ziel, damit einer „kollektiven“ Bewegung, die nicht so recht will, doch noch auf die Sprünge zu helfen. Der Begriff des sozialen Framings wird im soziologischen Diskurs bisher meist so, nämlich im Zusammenhang der Erklärung der Mobilisierung sozialer Bewegungen verstanden: Die Situation wird von den Initiatoren der Bewegung als eine solche dargestellt und zu „rahmen“ versucht, wonach die Ziele der soziologischen Bewegung und die Teilnahme daran überindividuellen Interessen und allgemeinen moralischen Zielen unterlägen, um so die Akzeptanz auch bei breiteren Schichten zu ermöglichen und – insbesondere – das für soziale Bewegungen besonders gravierende free-rider-Problem zu überwinden.3 Die Frage ist nur: Warum folgen die Menschen manchmal solchen Framing-Versuchen und manchmal eben nicht? Das hier angewandte Modell des (sozialen) Framings gibt diese Bedingungen an: Die Kategorien 3
Vgl. etwa: David A. Snow, E. Burke Rochford, Jr., Steven K. Worden und Robert D. Benford, Frame Alignment Processes, Micromobilization, and Movement Participation, in: American Sociological Review, 51, 1986, S. 464-481; David A. Snow und Robert D. Benford, Master Frames and Cycles of Protest, in: Aldon D. Morris und Carol McClurg Mueller (Hrsg.), Frontiers in Social Movement Theory, New Haven and London 1992, S. 133-155. Vgl. auch: Bernd Simon, Michael Loewy, Stefan Stürmer u.a., Collective Identification and Social Movement Participation, in: Journal of Personality and Social Psychology, 74, 1998, S. 646-658.
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müssen „zugänglich“ und die Anreize hoch genug sein, und es darf keine leichten Alternativen für eine individuelle oder eine andere kollektive Identifikation geben.
Im Modell ist das leicht darstellbar. Bisher war, trotz der Verschiebung von mcoll das Framing im Rahmen der Individualität geblieben. Aber die Salienz (und damit notwendigerweise auch die Imposition) des Framings hat sich schon deutlich abgeschwächt. Jetzt genügt, wie man sieht, nur ein relativ kleiner weiterer Schritt des Mis-Matchs der Individualität, damit es zu einem Reframing in die Kollektivität hinein kommt.
Die zweite Änderung der Situation: Die Verschiebung der Anreize Das könnte jetzt aber auch schon durch die leichten Anreizänderungen geschehen, von denen etwa das Minimal-Group-Design (auch) ausgeht. Die Folge: Der Wert des Quotienten Uindv/Ucoll sinkt, und zwar, wie wir jetzt annehmen wollen, knapp unter die Reframing-Schwelle (Ziffer 3 in Abbildung 12.1a). Die Salienz dafür ist zwar noch schwach. Aber die Sicht der Dinge hat sich deutlich geändert: Statt des individuellen „gilt“ nun der kollektive Rahmen, wennzwar noch nicht sehr nachhaltig und fraglos. Diese Verschiebung des Quotienten Uindv/Ucoll ist natürlich um so stärker, je mehr es – latent – auch um handfeste „kollektive“ Interessen geht, die zuvor, unter dem Rahmen der Individualität als Orientierung, nicht zum Tragen kamen. Beispielsweise, wenn es jetzt um einen Wettkampf der arbiträr eingeteilten Gruppen oder um Bodenschätze in einem bestimmten Territorium oder um die Weiterzahlung des Solidarzuschlags geht.
Der dritte Schritt: Die Folgen des Handelns Das Re-Framing hat natürlich auch Auswirkungen auf das Handeln der Akteure. Nun handeln sie nicht mehr nur als individuelle Personen, sondern schon eher als Vertreter ihrer jeweiligen Gruppe. Und die intern eventuell ablaufenden Interaktionen und Kommunikationen beschleunigen und verschärfen diesen Vorgang immer noch weiter. Dabei muß es noch keine Feindseligkeiten geben, auf jeden Fall aber ein Denken, Fühlen und Handeln, das schon deutlicher nach „Wir“ und „Ihr“ unterscheidet. Dieses an der einmal entstandenen Kategorisierung anknüpfende „diskriminierende“ Handeln bleibt nicht ohne Folgen: Die soziale Kategorisierung und der entsprechende Match werden durch die jeweiligen Akte materiell und vor allem symbolisch weiter verstärkt: Einerseits erhöhen sich die Anreize für
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ein „kollektives“ Handeln und die mit dem Gruppenhandeln einhergehende Sicherheit, daß alle anderen Akteure auch „kollektiv“ denken und handeln. Andererseits bilden die ausgrenzenden oder auch mehr und mehr feindseligen Akte der anderen Seite ein untrügliches Symbol, daß auch dort die Situation mehr und mehr kollektiv gesehen wird (Punkt 4 in Abbildung 12.1a). Und weil das individuelle Schicksal gerade über diesen Prozeß immer mehr vom Schicksal der Gruppe abhängig wird, verstärken sich auch die Anreize für eine noch unbedingtere Orientierung an der Eigengruppe.
Die Unbedingtheit der kollektiven Orientierung Schließlich ist – nach mehr oder weniger langen Sequenzen – eine Konstellation mit einer extremen Salienz der Orientierung auf die eigene und der Abgrenzung von der anderen Gruppe erreicht, bei der die Akteure alles nur noch unter der Perspektive einer kollektiven Identität, der extremen Hochwertung der eigenen und der ebenso extremen Abwertung der anderen Gruppe sehen (Punkt 5 und schließlich, so wollen wir annehmen, sogar Punkt 6 in Abbildung 12.1a). Diese Unbedingtheit des Framings wird parallel zur Verschärfung der Salienz der kollektiven Orientierung allein schon aufgrund der logischen Struktur des Modells der Frame-Selektion durch eine zusätzliche Vergrößerung der Imposition verstärkt (vgl. Abbildung 12.1b; siehe dazu auch schon die Abschnitte 7.3 und 7.4 oben in diesem Band). Es geht jetzt um die innere „Entscheidung“ bei den Akteuren, den Übergang in die kollektive Identifikation noch einmal zu überdenken. Also: Bleibt es bei der fraglosen kollektiven Orientierung im Modus ascoll oder kommt es zu einer Reflexion darüber im Modus rccoll? Das Reflexions-Motiv ist gleich (1-mcoll)Uindv-mcollUcoll. Die Reflexions-Schwelle beträgt C/p, wobei C die Kosten für Informationen darüber sind, ob nicht doch „eigentlich“ der Frame der Individualität gilt, und p ist die eingeschätzte Wahrscheinlichkeit, durch eine „Reflexion“ der kollektiven Identifikation und der Folgen des entsprechenden Tuns doch noch zu einer anderen Orientierung zu gelangen. Wegen der Begrenzungen der graphischen Darstellung des ganzen Prozesses und aller denkbaren Möglichkeiten auch für die Variation von C und p, haben wir nur einige wenige typische Konstellationen skizziert: zwei Stufen der betreffenden Kosten: C1 und C2; zwei unterschiedliche Höhen des Reflexionsmotivs: die Situationen 1 und 2; und zwei verschiedene Größen der Reflexions-Opportunitäten p1 und p2. Daraus ergeben sich vier Konstellationen der Framing-Situation unter den beiden Varianten der unterschiedlich hohen Informationskosten. Sie entsprechen den Punkten 3 und 5 in Abbildung 12.1a, jeweils für die beiden unterschiedlichen Größen von p bzw. von C.
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Zweifel beseitigen, daß es einen „individuellen“ exit aus alledem nicht mehr gibt und daß eine Abweichung von der „Gruppenlinie“ so gut wie ausgeschlossen ist – und daß man sicher davon ausgehen muß, daß die jeweils andere Seite auch schon festgelegt ist.
Wir sehen an der Modellierung aber auch, daß es selbst bei deutlicher Absenkung des Reflexions-Motivs (und einer entsprechenden Zunahme der Salienz des Framings) nicht unbedingt zu einer „automatischen“ und vollkommen unbedachten Reaktion kommen muß: In der Konstellation relativ geringer Reflexions-Kosten C1 und relativ günstiger Reflexions-Opportunitäten p1 (Punkte 3a bzw. 5a) bleibt es immer noch beim rc-Modus, auch dann noch, wenn sich das Framing der kollektiven Orientierung deutlich in seiner Salienz verschärft hat (von Punkt 3a nach Punkt 5a).
12.3 Die Eigendynamik des sozialen Framings Und die Folge: Es entsteht eine („autopoietische“) Eigendynamik des wechselseitigen Framings von Gruppenidentifikationen und der dazu gehörigen antagonistischen Handlungen, aus denen es endogen jedenfalls keinen Ausweg mehr zu geben scheint. Die Sache ist umso hoffnungsloser, je weniger die Akteure durch die Fortsetzung des Konfliktes zu verlieren haben, je mehr sie bei einer Beendigung zu befürchten haben und über je mehr parallel verlaufende Kategorisierungen sich der Match des mentalen Modells einer bestimmten kollektiven Orientierung verstärkt. Es herrscht – im Extremfall – ein fundamentalistischer Fanatismus bis hin zum „heiligen“ Krieg, und der terroristische Mord und auch Selbstmord sind Vorgänge, die aus dieser Sicht der Dinge nicht mehr verwundern, weil die „Anreize“ angesichts der extremen Salienz und Imposition des kollektiven Bezugsrahmens keinerlei Bedeutung mehr haben. Nordirland, der Nahe Osten und – von früher noch her – Südtirol oder Hitlers Krieg im Osten wären Beispiele dafür.
Das Re-Framing einer kollektiven Definition der Situation als Kollektivgut Verschärft wird diese prozessual immer wieder bestärkte Verstrickung in einen kollektiven Konflikt, aus dem die Akteure allein nicht mehr herausfinden können, natürlich noch dadurch, daß die Beendigung des Konfliktes und das Re-Framing der Situation als eine des Friedens und der individuellen Verständigung ein kollektives Gut und die betreffende strategische Situation die eines Gefangenendilemmas wäre. An die Bereitstellung dieses kollektiven Gutes ist aber in der geschilderten Situation schon deshalb nicht zu denken, weil jeder
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aufgrund des jedem erkennbaren sozialen Framings der Situation, der entstandenen Stereotypisierungen, Symbolisierungen und Ritualisierungen sicher sein muß, daß der jeweils andere jede Nachgiebigkeit und Kompromißbereitschaft sofort ausnutzen würde.
Die „Auflösung“ der sozialen Konstitution Soziale Konstitutionen können, müssen aber keineswegs in derartige sich immer weiter verstärkende Gleichgewichte einmünden. Der Prozeß kann, etwa aufgrund externer Ereignisse, jederzeit stoppen, einen anderen Verlauf nehmen und sogar zur Umkehr gebracht werden. Wie soll man sich nun aber etwa einen Ausweg aus der dargestellten endogenen Entwicklung der sozialen Konstitution eines ethnischen Konfliktes nahezu aus dem Nichts heraus wieder in eine Art von protosoziologischer Situation vorstellen und erklären, in der sich die Menschen wieder als „Individuen“ und nicht länger als Angehörige bestimmter Kollektive gegenüberstehen? Und dies auch ohne Rückgriff auf das Auftreten eines exogenen deus ex machina, eines mächtigen und interessierten Leviathan, etwa in Form einer Eingreiftruppe, die dem Spuk, mit zweifelhaftem Erfolg wohl, ein willkürliches Ende setzt? Auch hier kann das Modell des sozialen Framing die entsprechenden Bedingungen und Vorgänge leicht benennen. Alles kommt dabei darauf an, die Unbedingtheit des ethnischen Framings auf beiden Seiten zu verringern und einen endogenen Prozeß einzuleiten, der diese andere soziale Konstitution trägt. Das aber geht nur über die Veränderung der vier relevanten Größen des Modells der Frame-Selektion: Match bzw. Modell-Geltung, Anreize bzw. Modell-Nutzen, Reflexions-Opportunitäten und Reflexions-Kosten. Damit es zu einer Abschwächung des Matches für das ethnische Framing kommt, müßten andere soziale Kategorisierungen nahegelegt werden, etwa über die Kreuzung der ethnischen Zugehörigkeiten mit anderen Mitgliedschaften. Die Zunahme der Attraktivität der jeweils anderen Gruppe, einer anderen kollektiven Zugehörigkeit oder einer „individuellen“ Identität einerseits und die Abnahme der Attraktivität der betreffenden kollektiven Identifikation andererseits wären die erforderlichen Änderungen im Modell-Nutzen des Framings. Dazu gehören etwa der erkennbare Erfolg des Gegners oder anderer Kollektive, der Mißerfolg der eigenen Gruppe, oder der sichtbare Ertrag einer „individuellen“, auf jede kollektive Orientierung verzichtenden Bemühung. Ferner würde die Zunahme der Konfliktkosten, wie sie mit einer endlosen Weiterführung der destruktiven Auseinandersetzung unvermeidlich wäre, den Modell-Nutzen für die ethnische Orientierung absenken. Dadurch wandelt sich – unter Umständen – das Gefangenen-Dilemma einer einseitigen Beendigung eines nicht mehr weiter lohnend erscheinenden Konfliktes in ein Chicken-Game mit dem jetzt vorangigen Ziel, den gemeinsamen Untergang zu verhindern, auch um den Preis der eigenen Niederlage (vgl. dazu auch Abschnitt 3.2 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das Auftreten gemeinsamer Interessen, wie etwa ein gemeinsamer Gegner oder lohnende Projekte, die nur in Gemeinsamkeit erfolgreich zu bewältigen sind, würden das Framing
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des Konfliktes zwischen den Gruppen ebenfalls verringern – und eine Orientierung an einer übergreifenden sozialen Kategorisierung motivieren – so wie das in den Experimenten von Muzafer und Carolyn Sherif ja auch geschehen ist. Dann besteht sogar die Möglichkeit der Entstehung von Interessenkonvergenzen und die Änderung der strategischen Situation in ein Assurance Game, von dem her es ja bekanntlich nur ein kurzer Schritt zur Kooperation und zur Gemeinschaftlichkeit ist. Die Zunahme von exit-Chancen aus der jeweiligen Kollektivität und die Vermehrung von Möglichkeiten einer individuellen Lösung des Problems berührt die Reflexions-Opportunitäten. Nun kann es, wenn die Anreize den Konflikt nicht mehr eindeutig begünstigen, zu einem Überdenken einer ansonsten ganz und gar unbedachten Affektualität kommen. Nur wer mit dem Rücken zur Wand steht, muß sich mit allem, was er hat, wehren. Und wenn dann noch die Reflexions-Kosten für einen Ausweg aus dem Konflikt gesenkt werden, etwa durch die bessere Zugänglichkeit zu Informationen über alternative Lösungen, durch eine Verringerung der sozialen Kontrolle in der eigenen Gruppe und die Senkung der Furcht vor Repressalien durch die andere Gruppe, dann sind die Chancen nicht schlecht, daß es zunächst zu einer reflexiven Unterbrechung des kollektiven Fundamentalismus kommt – und dann auch zu Bemühungen, dem Konflikt wirklich ein Ende zu bereiten.
Jedenfalls: Ohne derartige Vorgänge, insbesondere ohne eine Änderung der Anreizstrukturen, ohne die Vermehrung von exit-Möglichkeiten und bei weiterhin hohen Kosten für die Suche nach Auswegen, bleibt es beim sozialen Framing der ethnischen Grenzziehungen in seiner ganzen unerbittlichen Unbedingtheit. Und alle Appelle an die „Vernunft“, an eine „diskursive Verständigung“ oder an übergreifende soziale Kategorisierungen, wie die einer „multikulturellen“ oder einer humanistischen Gemeinsamkeit, helfen dann nur wenig, wenn überhaupt.
Die „Irrationalität“ des Gruppenhandelns Ethnische Konflikte sind ein besonders interessanter Fall der eigendynamischen sozialen Konstitution, der scheinbar verselbständigten wechselseitigen Ermöglichung und Begrenzung der sozialen, psychischen und kulturellen Systeme, aus denen das soziale Geschehen „besteht“. Der Prozeß beginnt oft nur mit einer ersten nicht sehr starken und eher beiläufig entstandenen kollektiven Orientierung, unterstützt durch ein mehr oder weniger gravierendes gemeinsames Schicksal. Lebensweltliche Kommunikation und die soziale Kontrolle durch persönliche Bekanntschaften beschleunigen und verstärken diesen Prozeß. Die so entstehenden Symbolisierungen, Mythologisierungen, Ritualisierungen und Stilisierungen der ethnischen Grenzen können schließlich aber eine derartige Kraft gewinnen, auch unabhängig von den bloßen Anreizen der Grenzziehung, daß sich nicht nur der Außenstehende manchmal fragt, ob die Menschen nicht vielleicht doch den Verstand verloren haben, weil sie sich – zum Beispiel – wegen eines Kopftuchs den Schädel einschlagen. Die Rekonstruktion der sozialen Konstitution als Prozeß des sozialen Framings zeigt,
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wie wir gerade eben gesehen haben, wann was warum geschieht und in welcher Weise und nach welchen Gesetzen in der sozialen Konstitution eines ethnischen Konfliktes die drei Systeme, die psychischen, die kulturellen und die sozialen Systeme, ineinandergreifen und sich wechselseitig ermöglichen und begrenzen – manchmal auch ganz ohne oder sogar gegen die Absichten der beteiligten Akteure. Es ist ein besonders signifikanter Fall der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ – auch ohne, daß die so entstandene Wirklichkeit von irgendjemandem beabsichtigt worden wäre. Es ist ein Fall des Auseinanderklaffens von individueller und kollektiver Rationalität. Die Akteure handeln aber, wenn man das Modell des sozialen Framings verstanden hat, auch in ihrer Orientierung an Frames und Skripten im Moment der einzelnen Situation nachvollziehbar, „verständlich“ und subjektiv rational – „rational“ freilich nur im „Rahmen“ der Codierung der jeweiligen Situation. Die ethno-religiösen Konflikte in Nordirland, im Baskenland, in Palästina, im Kosovo, aber auch in Mecklenburg-Vorpommern oder die zwischen Schalkern und Dortmundern, Türken und Deutschen, Ossis und Wessis, Systemtheoretikern und Handlungstheoretikern, Soziologen und Ökonomen, erklärender und schwafelnder Soziologie sind vor diesem Hintergrund nicht länger als bloße Ausbrüche einer weiter nicht erklärbaren Irrationalität zu begreifen. Es sind von Interessen geleitete und durch gewisse Kategorisierungen und Kommunikationen in ihrer Prägnanz verstärkte Abgrenzungen, die über interne Vergewisserungen und Kontrollen und über die externen Reaktionen und – insgesamt – über zahllose Prozesse der sozialen Konstitution – eine immer stärkere Unbedingtheit erhalten, aus der es dann in der Tat freilich, wie es scheint, kaum einen „vernünftigen“ Ausweg mehr gibt.
Die Irrationalität des Geschehens liegt an etwas anderem: Letztlich sind es zwar nur die lebendigen Menschen mit ihren Bedürfnissen nach Wertschätzung und Wohlbefinden, die als „Subjekte“ mit ihrem Handeln diesen Prozeß weitertreiben und dabei jeweils in der Situation nachvollziehbar und verständlich handeln. Aber sie verwickeln sich dabei – nach Gesetzmäßigkeiten und Mechanismen, die die erklärende Soziologie ohne Rückgriff auf mysteriöse Begriffe wie Interpenetration oder Autopoiesis leicht benennen kann – in ein Geschehen, dessen „Objekte“ sie schließlich mehr und mehr werden, dessen Ergebnisse sie immer weniger wünschenswert finden, aber aus dem sie alleine auch nicht mehr herausfinden.
Soziale Konstitution als „strategisches Handeln“ Das oben entwickelte Modell des sozialen Framing beschreibt den Prozeß der sozialen Konstitution als eine Art von Naturereignis: Das irgendwie angestoßene Handeln verändert sukzessiv die Orientierungen, das Framing und das Tun der Akteure in einem Vorgang der wechselseitigen Steigerung, und die
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Akteure können, wie es scheint, dagegen nichts weiter tun. Das kommt sicher oft genug vor. Aber nie sind die Akteure einem solchen Geschehen nur passiv ausgeliefert. Sie könnten sich schon dagegen stemmen, tun es aber meistens vor dem Hintergrund der „Situationslogik“ des Geschehens nicht. Nicht immer freilich konvergieren die Prozesse sofort oder so unilinear von einer unbedingten Definition der Situation in eine andere. Und es gibt auch Möglichkeiten, das Geschehen intentional und strategisch zu steuern, oder es wenigstens zu versuchen.4 Die Menschen sind eben weder Deppen, noch Marionetten. Zwei dieser Vorgänge sind dabei insbesondere zu nennen: das AgendaSetting und das „Aushandeln“ der jeweils dann als „gültig“ angenommenen Definition der Situation. Der Ausgangspunkt ist jeweils der gleiche: eine nicht weiter definierte Situation, eine „proto“-soziale Situation also, etwa beim Beginn einer Podiumsdiskussion über ein kontroverses Thema vor einem noch unentschlossenen Publikum oder in einer Gerichtsverhandlung, in der Staatsanwalt und Verteidiger darum kämpfen, welche Art von Zuschreibung durchgesetzt werden soll, vor deren Hintergrund der Richter und die Geschworenen ihr Urteil dann fällen sollen (und das genau von der jeweiligen „Definition der Situation“ abhängig ist, zum Beispiel nämlich, ob der Angeklagte mit Vorsatz handelte oder nicht).
Agenda-Setting Das Agenda-Setting ist der Versuch einer „Partei“, durch eine Art von präventivem Akt eine ihr passende Definition der Situation an den Anfang der weiteren Interaktionen zu stellen. Schlaue Vorsitzende schaffen das manchmal schon durch ein geschicktes Arrangement der Tagesordnung einer Sitzung. Daher die Bezeichnung Agenda-„Setting“. Auch das „Framing“ im Gefolge von sozialen Bewegungen kann als ein derartiges Agenda-Setting verstanden werden: Es wird versucht, die Ziele der sozialen Bewegung so darzustellen, daß möglichst viele sich darin wiederfinden können. Natürlich kann das auch schief gehen und tut es oft auch, etwa weil die „Definition“ der Situation nicht deutlich genug war oder weil es nicht genug „Anschlußmöglichkeiten“ dergestalt gab, daß man dem Vorsitzenden oder dem Framing-Unternehmer auch wirklich folgen mochte. Milosevic versuchte zum Beispiel Mitte der 80er Jahre schon einmal ein ethnisches Framing in Serbien. Damals mochte ihm kei4
Vgl. dazu auch: Eric H. Rambo, Interests and Meaningful Purposes: Conceiving Rational Choice as Cultural Theory, in: Rationality and Society, 11, 1999, S. 317-342.
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ner folgen. Er hatte erst Erfolg damit, als auch die „Anreize“ dafür hoch genug waren, als sich nämlich die Separation von Kroatien und Slowenien abzuzeichnen begann. Besonders interessant ist der Fall, wenn zwei „Parteien“ um die Definition der Situation konkurrieren, wie in dem Fall einer Gerichtsverhandlung oder bei Begutachtungen von Sonderforschungsbereichen mit Projekten aus ganz verschiedenen Paradigmen. Dann ist die „Definition“ der Situation ein Positionsgut und das Agenda-Setting der klassische Fall eines Nullsummenspiels bzw. eines „reinen“ Konfliktes: Wer zuerst das Wort ergreift, hat das Zepter in der Hand und gewinnt alles. Auch das gibt es durchaus. Aber auch das muß nicht immer klappen. Oft beginnt der „mikropolitische“ Kampf um die Lufthoheit der Meinungen dann erst richtig – mit offenem Ausgang.
Aushandeln Nicht immer ist eine solche Situation der Auseinandersetzung um ein bestimmtes „Framing“ der Situation aber ein Nullsummen-Spiel. Manchmal gibt es auch die Möglichkeit eines Kompromisses: eine „dritte“ Definition der Situation, von der beide Parteien profitieren. Das ist die „Definition“ einer Situation über das Aushandeln. Etwa: Der Angeklagte wird zwar als schuldig definiert, aber er bekommt mildernde Umstände. Oder: Zwar ist das Projekt eines Antragstellers methodologisch schon unter aller Sau, aber er ist in seinem Paradigma als Koryphäe anerkannt. Und das eine wiegt das andere auf, weil sich zwei anerkannte Arten des Framings einer wissenschaftlichen Leistung treffen. So werden zwei, an sich konträre Sichtweisen kombiniert bzw. verrechnet: Schuld und Unschuld bzw. methodologische (Un-)Angemes-senheit und (Miß-)Achtung in einer scientific community. Der Hintergrund solcher Kompromisse in der Definition der Situation sind die Interessen der Akteure und der Sachverhalt, daß die eben doch etwas gewinnen können, wenn sie nicht auf ihrem „Framing“ einseitig beharren. Und wenn das dann oft genug geschieht, dann können sich sogar ganz neue kulturelle „Modelle“ herausbilden, auf die man sich künftig auch ohne längere Verhandlungen und durchaus spontan und automatisch einigen kann. Kultur wandelt sich, gerade in den Fällen von Kulturkontakten, oft gerade über solche Kompromisse und anschließender Verankerung in den Satz der sozial geteilten mentalen Vorstellungen.
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Der Kampf um die „Definition der Situation“ Wenn das soziale Framing „strategische“ Züge annimmt, lassen sich, wie man leicht sieht, ohne Umschweife alle Instrumente der üblichen Theorien des strategischen Handelns anwenden, einschließlich natürlich auch der (formalen) Modelle von Verhandlungen oder der Herausbildung von Tauschgleichgewichten (vgl. dazu bereits Band 3, „Soziales Handeln“, sowie Kapitel 4 und 5 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Der Gegenstand des Prozesses sind dann keine simplen „Güter“, sondern eben die Frames, von denen die Situationsdefinition abhängt. Und weil die Durchsetzung der Frames nichts anderes ist als die Durchsetzung einer bestimmten sozialen Produktionsfunktion und des Wertes bestimmter primärer Zwischengüter, geht es auch immer um sehr handfeste „Auszahlungen“. Der Kampf um die Geltung eines kulturellen Deutungsmodells ist alles andere als eine unschuldige Angelegenheit der bloßen „Weltanschauung“. Zwei Varianten dieser strategischen Versuche des sozialen Framings mit dem Ziel der Durchsetzung einer bestimmten Deutung oder Sichtweite, sei es als AgendaSetting, sei es als Aushandeln, lassen sich unterscheiden: die „Mikropolitik“ der Durchsetzung einer möglichst günstigen Situationsdefinition in den alltäglichen Kleinbeziehungen und die Versuche ganzer Kollektive, bestimmte kulturelle Deutungsmuster in öffentlichen Arenen durchzusetzen.
Mikropolitik Der Meister der soziologischen Analyse von Vorgängen der Mikropolitik war Erving Goffman.5 Er verfaßte faszinierende Beschreibungen genau der Konflikte und Dilemma-Situationen, von denen die Modelle des strategischen Handelns der erklärenden Soziologie nur das formale und abstrahierende Abbild sind. Sie können die wohl interessantesten Beispiele in Band 4, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ nachlesen, vor allem dort, wo es um die sog. Rollendistanz, um die aktive und intentionale Gestaltung der sozialen Drebücher zugunsten einer möglichst zuträglichen Präsentation des Selbst und um die oft verwickelten strategischen Beziehungen in Organisationen und vor
5
Vgl. insbesondere Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, 2. Aufl., München 1973a; Erving Goffman, Interaktion: Spaß am Spiel. Rollendistanz, München 1973b; Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt/M. 1974.
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allem um das Verhältnis von Normen und Macht geht, in dessen Kraftfeld sich die strategischen Bemühungen um die Definition der Situation immer bewegen.
Kultur als Kompromiß Ganz analog läßt sich auch die Dynamik der Veränderung und Verfestigung ganzer „Kulturen“ als Ergebnis eines Kompromisses zwischen Kollektiven von Akteuren verstehen. Lange wurde die Kultur als eine feststehende, sozusagen „über“ den Akteuren schwebende und ihr Handeln fest steuernde Größe angesehen, wie etwa bei Parsons (vgl. dazu Kapitel 1 oben in diesem Band) oder auch in den diversen postmodernen Spekulationen über die Eigenständigkeit der kulturellen „Diskurse“, etwa bei Foucault oder auch bei Luhmann. In der neueren Ethnologie beginnt sich eine ganz andere Sicht durchzusetzen: „Kultur“ ist danach keine bloß durch Sozialisation oder das Alltagsgeschehen „auferlegte“ Vorgabe, sondern (auch) das Ergebnis des Aushandelns der betreffenden Deutungsmuster in einer von Interessen, Opportunitätsstrukturen und Machtverhältnissen geprägten Arena, in der die Akteure stets versuchen, genau das Deutungsmuster durchzusetzen, das ihnen aus ihrer Sicht am ehesten weiterhilft. Und weil, wie meist im Leben, jeder seine Idealforderung nicht durchsetzen kann, entstehen gewisse Kompromisse, deren Ergebnis dann die – für eine gewisse Zeit jedenfalls – geltende Kultur der Gruppen bildet, auf deren Grundlage sie ihre Identität nach innen und ihre Abgrenzung nach außen vollziehen. Andreas Wimmer hat diese Sicht in einem wirklich richtungsweisenden und klärenden Artikel so zusammengefaßt: „Wollen wir das bisher Gesagte auf eine Kurzformel bringen, so wäre Kultur als ein offener und instabiler Prozeß des Aushandelns von Bedeutungen zu definieren, der kognitiv kompetente Akteure in unterschiedlichen Interessenlagen zueinander in Beziehung setzt und bei einer Kompromißbildung zur sozialen Abschließung und entsprechenden Grenzmarkierungen führt.“6
Wimmer veranschaulicht diesen Vorgang u.a. an dem Beispiel der „nationalistischen Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften“ mit ihrer Vorstellung von der (National-)Gesellschaft als ethnischer Schicksals- und Solidargemeinschaft. Der „außerordentliche Erfolg“ dieser Idee verdanke sich „ ... einem Interessenkompromiß zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, nämlich einem Tausch von politischer Loyalität gegen soziale Sicherheit und politische Teilhabe. 6
Andreas Wimmer, Kultur. Zur Reformulierung eines sozialanthroplogischen Grundbegriffs, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48, 1996, S. 413.
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Denn die bürokratische Elite kann im Namen der Nation und der Sorge für das Wohl der Bürger ihren Machtbereich immer weiter ausdehnen. Die Bevölkerung andererseits appelliert an die Vorstellung der nationalen Solidargemeinschaft, um Rechte auf politische Mitbestimmung, freie Schulbildung sowie schließlich auch wohlfahrtsstaatliche Leistungen einzufordern. In der nationalistischen Sprache lassen sich beider Interessen formulieren.“ (Ebd., S. 412; Hervorhebungen nicht im Original)
Die Kultur ist – so gesehen – also (auch) eine Ressource, ein Faustpfand, ein „‚tool kit‘ for constructing ‚strategies of action‘“, wie Anne Swidler sagt7, den die Akteure in den Auseinandersetzungen um die „materiellen“ Ressourcen einsetzen können. Weil die in die kulturellen Modelle eingelagerten Ideologien und belief systems stets auch gewisse Legitimationen der jeweiligen Interessen enthalten, wäre ihre wirkliche Durchsetzung natürlich von ganz unschätzbarem Wert: Jetzt wäre alles möglich, sogar bei denen, deren Interessen eigentlich ganz andere sind. Und so versucht jeder sein Bestes. Und nach welchen Regeln geschieht das? Noch einmal Andreas Wimmer mit einem Beispiel, dem des ethnischen Gegennationalismus in Mexiko: „Der mexikanische Nationalismus wurde von der neuen Staatsklasse formuliert, welche das Land nach den Wirren der Revolution der zwanziger Jahre zu integrieren und zu beherschen versuchte. Im Zuge dieser Integrations- und Assimilationsbemühungen entstand eine indianische Bildungselite, die sich alsbald in ihren Ansprüchen auf sozialen Aufstieg enttäuscht sah. Indianische Lehrer und Entwicklungspromotoren formierten daraufhin eine Protestbewegung und begannen, gegen die Hegemonialansprüche des Nationalstaates einen Nationalismus der indianischen Minderheiten ins Feld zu führen.“ (Wimmer 1996, S. 415)
Und was taten die indianischen Minderheiten dann? „ Sie griffen aus dem geltenden ‚symbolischen Gesellschaftsvertrag‘ die nationalistischen Elemente heraus, weil sich diese für eine uminterpretierende Aneignung am ehesten eigneten und aus ihrer Interessenposition am meisten Sinn machten.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Also: Es wurde die Deutung in das „Feld“ eingebracht, die sich am „ehesten“ eignete und die in diesem Rahmen der „Interessenposition“ am nächsten kam und so am „meisten“ Sinn machte. Wieder also: Auch die Selektion eines Framingvorschlags folgt offenbar dem bekannten Prinzip der Maximierung des Produkts von p und U, diesmal mit verschiedenen denkbaren Alternativen kultureller Rahmungen. Andreas Wimmer beeilt sich hinzuzufügen, daß beileibe nicht nur die Akteure in den „modernen“ Gesellschaften die Kultur derart intentional, strategisch und „konstruktiv“ einsetzen und benutzen (können): Auch die Akteure 7
Ann Swidler, Culture in Action: Symbols and Strategies, in: American Sociological Review, 51, 1986, S. 277.
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in vorindustriellen Gesellschaften sind keine „cultural dopes“ und keine „Gefangene im Gehäuse ihrer eigenen kulturellen Tradition oder einer diskursiven Zwangsjacke.“ (Ebd., S. 410), sondern wissen ganz genau, was sie wollen und welche kulturelle Konstruktion ihnen am zuträglichsten wäre. So isses. Und wir wollen noch hinzufügen, daß es mit den Absichten und der geschickten Auswahl eines möglichst geeigneten Frames alleine natürlich nicht getan ist. Ob sich eine Deutung durchsetzt und welcher kulturelle Kompromiß sich schließlich bildet, ist, wie wir ja inzwischen gut wissen, oft ein ganz besonders vertracktes Aggregationsproblem. Immerhin ist man mit den Mitteln des Modells der soziologischen Erklärung, den Schwellenwertmodellen etwa oder den diversen Verhandlungstheorien, wie wir sie in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen kennen gelernt haben, ganz gut gerüstet, auch diese Probleme anzugehen.
Exkurs über den Kommunitarismus Die Konstruktion der „großen“ Gesellschaften folgt einem gigantischen Prozeß der (Ko-)Konstitution – dem der sie tragenden und von ihr getragenen sozialen, kulturellen und psychischen Systeme. Dabei definieren die Verfassung der Gesellschaft und die Codes der anonymen „Systeme“ – die Märkte, der Staat, die großen Organisationen, Verbände, Parteien und die zahllosen korporativen Akteure vor allem – die Situation für die Akteure objektiv und letztlich unhintergehbar, auch ohne daß sie das immer wissen oder (zunächst) ernst nehmen müßten. Es ist die systemische Konstitution der Gesellschaft – ganz recht: „hinter dem Rücken“ der Akteure. Die funktionale Reproduktion und der evolutionär-historische Wandel der Gesellschaft werden aber auch in der systemischen Konstitution letztlich nur von den Bedürfnissen und Aktivitäten der Menschen getragen, die nichts anderes wollen, als einen zufriedenstellenden Alltag zu erleben und zu sichern. Ihre „vitale“ Grundlage hat die Produktion und die Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens daher vor allem in den Lebenswelten: Erst die soziale und von den Menschen unmittelbar erlebte wechselseitige Konstitution von Identität, Bezugsrahmen und Lebenswelt schafft die für ein entlastetes Handeln notwendige beständige Strukturierung der subjektiven Welt, sorgt für die nötige direkte Erzeugung von sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefinden und sichert so die Identifikation der Akteure mit ihrer sozialen Umgebung und mit ihrem Tun, besonders aber auch mit ihren Pflichten und Aufgaben, auch bei dem Handeln in den anonymen „Systemen“ der Gesellschaft. Und so könnte man auf den Gedanken kommen, daß die Konstruktion der Gesellschaft allgemein daran hängt, daß sich die Menschen
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sellschaft allgemein daran hängt, daß sich die Menschen auch mit der „Gesellschaft“ als „Ganzer“ selbst identifizieren müßten, damit deren Konstitution erhalten bleibt. Das ist, wie wir in Kapitel 10 oben in diesem Band gesehen haben, die Auffassung von Jürgen Habermas, mit der er – letztlich – jene alte und von Emile Durkheim als Grunddoktrin für die Soziologie noch einmal nachhaltig bekräftigte Überzeugung fortführt, wonach der Zusammenhalt und das Funktionieren von Gesellschaften davon abhängen, daß die Menschen ein übergreifendes Wertsystem teilen und zueinander und zur Gesellschaft als Ganzem irgendeine Art der, auch emotional getönten, Solidarität entwickeln müßten. Es ist die, wie Niklas Luhmann das so treffend und etwas höhnisch ausgedrückt hat, „alteuropäische“, also mit dem Mittelalter überholte Vorstellung, daß Gesellschaften auf die Zustimmung der sie konstituierenden Teile angewiesen seien und irgendeine „Verständigung“ ihre Existenzbedingung wäre (vgl. dazu auch Abschnitt 5.5 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die neueste Variante dieser Sicht ist der sog. Kommunitarismus, wie er etwa von dem Soziologen Amitai Etzioni, dem Politologen Robert D. Putnam oder dem Philosophen Charles Taylor vertreten wird:8 Der „Verfall“ der westlichen Demokratien und das Nicht-Funktionieren der großen Gesellschaftsverbände der Gegenwart insgesamt habe mit dem Rückgang des Bürgersinns und der Auszehrung des „sozialen Kapitals“ eines übergreifenden Vertrauens zu tun, das alleine die verderblichen egoistischen Motive der Menschen zu überlagern vermöge. Und erst die Wiederbelebung solcher „gemeinschaftlicher“, kommunitärer Orientierungen könne die westlichen Demokratien vor ihrem Untergang bewahren. Der Kommunitarismus ist also so etwas wie die soziologische Variante der Klage, daß früher, in der guten alten Zeit, alles besser war: Die Menschen verstanden einander noch, da gab es keine Drogen, keine Jugendkriminalität und keine Scheidungen, keine Pornographie und kein Fernsehen. Jeder war für den anderen da und dachte nur zuletzt auch an sich selbst. Und heute: die Ellbogengesellschaft, der Egoismus, die Promiskuität, das Privatfernsehen mit seinem Schmuddel und, selbstredend, der Verfall der Werte und der Untergang des Abendlandes. Und wer oder was sind schuld? Mehrere Sündenböcke hat man ausgemacht: Das Fernsehen ist es nach Robert D. Put-
8
Amitai Etzioni, The Spirit of Community: Rights, Responsibilities, and the Communitarian Agenda, New York 1993; Robert D. Putnam, Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princenton, N.J., 1993; Robert D. Putnam, Bowling Alone: America’s Declining Social Capital, in: Journal of Democracy, 6, 1995, S. 65-78; Charles Taylor, Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge, Mass., 1989. Siehe dazu auch noch den Epilog ganz zum Schluß dieses Bandes 6 der „Speziellen Grundlagen“.
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nam, der gesellschaftliche und sogar der Methodologische Individualismus nach Amitai Etzioni und, man höre, die Rational-Choice-Theorie nach einem gewissen Max Miller. Es gibt den Kommunitarismus von rechts wie von links (außen). Von rechts in der eigentlich erledigten Vorstellung von der Gesellschaft als einer Volks-„Gemeinschaft“, von links in der vom Aufgehobensein des Einzelnen im Kollektiv. Manche unserer ergrauten Altlinken, auch unter den Soziologen, scheinen nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus bei ihren träumerischen Illusionen, bildungsbürgerlichen Belehrungen und kulturkritischen Klagen über die moderne Welt nur das Wort ausgetauscht zu haben, das ja so vertrackt ähnlich klingt wie „Kommunismus“. Und nicht nur Edmund Stoiber bejammert, inzwischen keineswegs mehr nur klammheimlich, daß man in Deutschland noch immer nicht unbefangen über die deutsche nationale kollektive Identität sprechen könne, daß das aber nötig sei für eine „gesunde“ Gesellschaft mit gewissen übergreifenden Werten als „Leitkultur“ für alle. Nicht zuletzt aber auch das Konzept von der „multikulturellen Gesellschaft“ der vielen guten lila Menschen knüpft an die vorgeblichen Segnungen der (ethnischen) Gemeinschaften an: Lebensweltliche Inseln der Solidarität, der Ursprünglichkeit und der Menschlichkeit, so meint man wohl, seien das, inmitten der kalten Welt der Moderne. An die Elendsviertel, die Brutstätten des Fundamentalismus und des Terrorismus darin denkt dabei kaum einer. Es gibt freilich auch seriösere und soziologisch informiertere Anhänger des Kommunitarismus, sogar solche unter den Rational-Choice-Theoretikern. James S. Coleman, beispielsweise, beklagte den Verfall der Familien und war voll der Bewunderung über die katholischen Schulen in den USA, die durch die ihnen eigene Art der sozialen Kontrolle ein ganz besonderes Milieu als „soziales Kapital“ zu schaffen in der Lage waren, das offenkundig besonders den in ihren Bildungsanstrengungen benachteiligten Kindern sehr half. Bei Jürgen Habermas gibt es schließlich, wie wir in diesem Band auch schon gesehen haben, eine etwas sehr verträumte Variante des Kommunitarismus: Alles wird gut, wenn wir uns nur alle – die gesamte Menschheit nämlich – verstehen wollten. Aufrichtig! Und man kann sie eigentlich (fast) alle gut verstehen. Es ist der Traum von der Versöhnung der guten Eigenarten der Stammesgesellschaft mit den Vorteilen der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft. Solidarität und Tiefkühltruhe, Freiheit und Bindung, Vernunft und Gefühl, „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, alles gleichzeitig und alles auf der Stelle, sozusagen. Wer würde das nicht auch wollen? Wenn es denn nur ginge! Aber – leider – ist der Kommunitarismus nur ein Traum. Warum das so ist, sollten Sie nach der Lektüre dieser „Grundlagen“ schon selbst herausfinden
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können: Solidarität und materielle Versorgung beruhen auf sehr unterschiedlichen und nur schlecht verträglichen (sozialen) Produktionsfunktionen und gesellschaftlichen Bedingungen. Die einfachste Bedingung ist eine, an die viele Soziologen nicht einmal denken: die schiere Bevölkerungsgröße. „Wirkliche“ Solidarität in Form der „persönlichen“ Anteilnahme läßt sich zum Beispiel rein technisch nur für sehr kleine Anzahlen von Akteuren herstellen. Für große Gesellschaften kann es daher immer nur Surrogate dafür geben – etwa die „Identifikation“ mit einer abstrakten Größe, wie das „Volk“, die „ethnische Gruppe“, die „Arbeiterklasse“ oder – gänzlich inhaltsleer und folgenlos – die „Menschheit“ als „Gattung“, in schlimmeren Fällen mit einer politischen oder religiösen Doktrin oder gar mit einem charismatischen „Führer“. Und die materielle Versorgung der „Massen“ hängt nun einmal an einer ausgeprägten Arbeitsteilung und Organisation von Produktion und Verteilung – und damit auch an großen Bevölkerungen. Das ist das Eine. Dazu kommt das: Nach dem Theorem von der Evolution der Kooperation kann „spontane“ Kooperation – als die „materielle“ Grundlage jeder kommunitären Moral – nur bei einem hohen Schatten der Zukunft entstehen. Den aber gibt es nur dann, wenn man sich wirklich wiedersehen kann – in kleinen Gesellschaften eben und bei einer hohen Kontaktdichte. Und außerdem gehört dazu: das Fehlen individueller exit-Chancen, eine hohe Abhängigkeit von der „Gruppe“ also, und eine starke soziale Kontrolle. Das aber sind alles gesellschaftliche Umstände, die mit der Moderne und ihrer Produktivität nur schwer vereinbar sind. Die bietet und verlangt etwas anderes: individuelle Freiräume und Möglichkeiten und eine ausgeprägte Mobilität, etwa. „Gott sei Dank!“ wird mancher wohl seufzen. Kurz: Die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen der Kommunitarismus (wieder) blühen könnte, sind ein (Alb-)Traum. Die Annahme, daß der Fortbestand und das Funktionieren einer Gesellschaft daran hänge, daß sich die Menschen mit ihr auch lebensweltlich und sogar persönlich „identifizieren“, ist jedoch, nach allem, was wir über die Konstruktion und Konstitution der (modernen) Gesellschaft wissen, auch nicht zwingend. Thank God! Und die Sorge, daß mit dem Aufkommen des „Individualismus“ die moderne Gesellschaft gefährdet sei, ist unbegründet, ja alarmierend falsch: Die Menschen sind keineswegs „individualisierter“ als früher in dem Sinne, daß sie keine Kontakte mehr hätten. Ihre Beziehungen folgen – gottlob, könnte man sagen – lediglich immer weniger „kollektiven“ Vorgaben und sind auch deshalb immer weniger „standardisiert“. Das heißt aber auch, daß Diskriminierungen seltener werden, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie einem selbst schaden, wie dem Unternehmer, der einen Computerexperten braucht, aber keinen Inder anstellen will. Und es stimmt auch wohl nicht, daß der „Bürgersinn“ verfalle. Es gab kaum jemals mehr „Bürgerinitia-
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tiven“ als heute, und die von früher waren nicht weniger interessegeleitet. Und die „Gemeinschaft“ alleine ist ja auch noch nicht per se etwas Gutes. Auch der Ku-Klux-Klan ist eine Gemeinschaft, ebenso wie, natürlich, ein Schützenverein, die Freiwillige Feuerwehr, der Saunaklub in Oggersheim oder die Roten Funken in Köln. Und ist der Verfall der gesellschaftsweiten Loyalitäten denn wirklich so tragisch? Sind das Fehlen von „Gemeinsinn“ und „Vertrauen“ wirklich die Probleme der modernen Gesellschaft? Sind Arbeitslosigkeit, Drogenprobleme und Einsamkeit nicht eher die Folge dessen, daß es weiterhin massive, gänzlich unmoderne Diskriminierungen und Rollenzuschreibungen gibt, etwa bei den Farbigen in den USA oder bei den Frauen in immer noch vielen Gesellschaften dieser Welt, daß es bei der Vergabe von Positionen immer noch (und wieder mehr) auf das „kulturelle Kapital“ ankommt, das nur in den (besseren) Familien vermittelt wird und so für massive Statusvererbungen sorgt, daß die diversen Märkte und die staatlichen Kontrollen eben nicht richtig funktionieren, wie im Rußland der Gegenwart, und daß die Transaktionskosten, zum Beispiel für die Vermittlung von Arbeitsplätzen, von Wohnungen, von sozialen Kontakten und sogar von Lebenspartnern, wenn man einen denn braucht, immer noch viel zu hoch sind, gerade eben weil es die Old-Boys-Netzwerke, die Verteilungskoalitionen der Rotarier und die scheel blickenden Nachbarn gibt? Ist der Bürgersinn nicht eher die Folge einer erfreulichen gesellschaftlichen Lage? Und was ist so schlimm daran, wenn die Menschen allein und entspannt vor der Glotze sitzen, wenn sie das für cool halten, wenn sie alleine zum Kegeln in die volle Bowlinghalle gehen, wenn ihnen danach ist, und sie wieder, vielleicht in Begleitung, verlassen, wenn sie genug haben, oder wenn sie sich scheiden lassen, wenn es mit der Ehe nicht mehr geht? Und warum sollen die Scheidungen nur etwas Übles sein? Sind das nicht – wenigstens: auch – Re-Allokationen von bankrott gegangenen Beziehungen, bei denen eine, die nicht geklappt hat, durch eine ersetzt wird, in der es, wenigstens zunächst, besser geht? Konkurse, sind, das sagt uns jedenfalls die Ökonomie, volkswirtschaftlich gesehen keineswegs Katastrophen, sondern Korrekturen von Fehlallokationen. Und wie war es denn früher mit den Ehen? Da blieb man auf Gedeih und Verderb zusammen, und keiner weiß heute mehr, unter wie viel lebenslänglichem Unglück das geschah. Und was ist schließlich so befremdlich an der Feststellung, daß in den modernen Gesellschaften jeder etwas dafür tun muß, um soziale Kontakte zu haben, und sich eben nicht darauf verlassen kann, daß die anderen sozusagen als Grundausstattung und kostenlos immer schon da sind? Unseren kommunitaristischen Oberlehrern (von FAZ bis TAZ) stehen jetzt wahrscheinlich schon wieder die Haare zu Berge. Aber sie sollten nicht ver-
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gessen: Viel an Not und Einsamkeit und Drogenproblemen wären, so kann man jedenfalls auch vermuten, behoben, wenn die Menschen mehr Möglichkeiten hätten für ein auch materiell gutes Leben, das ihnen darüber dann auch ein befriedigendes soziales Leben ermöglicht. Babs und Boris werden sich schon recht friedlich auch in der Trennung einigen und, so viel ist wohl gewiß, nicht in einem Leben voller Unglück und Einsamkeit enden – das aber gerade nicht wegen der „Werte“, sondern weil es wirklich was zu verteilen gibt. Es müssen ja nicht immer 250 Millionen sein. Aus den Notgemeinschaften des Urkommunismus sind die Menschen nicht ohne Grund stets sofort geflohen, wenn sich ihnen die Möglichkeit dazu bot. Werte und Solidarität (alleine) machen bekanntlich nicht satt, wohl aber aggressiv und gegen Außenstehende rücksichtslos, wenn der Magen leer ist und die Zukunft grau. Und daher sollte auch das nicht vergessen werden: Auch die Mafia, die ETA und die SS waren bzw. sind solidarische Gemeinschaften, und es hat die schlimmsten Kriege und das größte Elend gerade im Namen von moralischen Werten und (Volks-) Gemeinschaften gegeben. Der Kommunitarismus beruht also, nach allem, was man in den modernen Sozialwissenschaften weiß, auf einer recht seltsamen – und sozialwissenschaftlich naiven – Vorstellung der Art, wie sich die modernen Gesellschaften integrieren. Deren Zusammenhalt geschieht über die diversen Märkte bzw. über, wie das wieder Niklas Luhmann beschrieben hat, das autonome und von den symbolisch generalisierten Medien gesteuerte Prozessieren ihrer Funktionssysteme, die sich gerade darin als „ganzes“ Interdependenzsystem wechselseitig ermöglichen und auch wieder gegenseitig begrenzen. Keine funktionale Sphäre, kein Code, kein Oberziel, kein „Wert“ also, kann mehr die Dominanz über die anderen haben. Und daher gibt es die (System-)Integration, gerade auch ohne daß die Akteure das – „sozialintegrativ“ – irgendwie auch „wollen“ oder unterstützen müßten (vgl. dazu auch schon Kapitel 6 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die modernen Gesellschaften gewinnen ihre Stabilität und ihren Zusammenhalt vielmehr durch die Verkettung in weitläufige Interdependenzen, durch die Kreuzung der sozialen Kreise und der Konfliktfronten, durch die wirksame, durchaus dann auch lebensweltlich erlebte, Vermittlung der Interessen über intermediäre Instanzen und – last not least – durch ihren produktiven und reproduktiven Erfolg in der Kontrolle interessanter Ressourcen. Dazu kommt: Wenn die anthropologisch gut belegte und theoretisch auch überzeugend begründbare These zutrifft, daß sich die Menschen im Grunde nur mit partikularen Nahumwelten identifizieren können, dann wären die Forderungen der Kommunitaristen nach einer Identifikation mit der weiteren Gesellschaft – als moralischer Appell an die Bewohner der großen, funktional
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differenzierten Gesellschaften wenigstens – ohnehin illusionär.9 Eine Übertragung der lebensweltlichen Identifikation auf die Ebene der Gesellschaft kann für moderne Großgesellschaften allein deshalb nicht erwartet werden, weil die ihre (systemische) Konstitution eher behindern, ja mit ihr kollidieren und sogar dazu in Widerspruch stehen würde, wie alle historischen Versuche dazu, der Faschismus beispielsweise, oder der kommunistische Sozialismus, nachhaltig gezeigt haben. Kurz: Der Kommunitarismus fordert etwas, was illusionär und unnötig und was, wenn man es bei Licht betrachtet, eigentlich ein Albtraum ist. Sicher könnte ein gewisser „Gemeinsinn“, die auch „konkrete“ Identifikation mit dem Abstraktum einer modernen Gesellschaft oder der dahinter stehenden Konstruktionsprinzipien des Individualismus und der Demokratie, nicht schaden. Aber gerade das könnte wieder kein gesinnungsethischer Fundamentalismus sein, etwa derart, daß es jetzt darum ginge, die Neo-Nazis oder einen „Schurkenstaat“ im Namen der „wehrhaften Demokratie“ und der „Leitkultur“ von Individualismus und Freiheit „auszumerzen“. Es käme allenfalls darauf an, die Konstruktion der Gesellschaft so zu gestalten, daß die Identifikationen der Lebenswelten mit den Funktionserfordernissen der Systeme stärker verbunden werden. Das kann, wenn es denn überhaupt möglich ist, nur über bestimmte Arrangements geschehen, die das „Abstrakte“ der „Systeme“ der Gesellschaft mit dem „Konkreten“ der lebensweltlichen Erfahrungen institutionell verbinden, insbesondere oder wahrscheinlich sogar nur: durch geschickte, meist ungeplant entstandene Arrangements der multiplen Verflechtung von lokalen Organisationen, freiwilligen Vereinigungen und korporativen Akteuren mit widerstreitenden Interessen als „intermediäre“ Instanz, die zwischen den „Lebenswelten“ des Alltags und dem „System“ der Gesellschaft vermittelt. Alle anderen Formen der Konkretisierung des Abstrakten, wie etwa eine religiös-fundamentalistische, nationalistische, ethnische oder sonstige wertrationale Identifikation widersprächen einem der Grundprinzipien der Konstruktion der modernen funktional differenzierten Gesellschaften: Daß die Befolgung der Imperative der „Systeme“ und damit das Funktionieren des gesellschaftlichen Austauschs von den „Motiven“ der Akteure und den Partikularismen der Lebenswelten abgekoppelt werden müssen. Die Werte müßten außerdem, damit die vielen, auch widersprüchlichen Imperative der „Systeme“ überhaupt zu einem einheitlichen Bezugsrahmen integriert werden könnten, selbst wieder relativ unbestimmt und abstrakt werden – mit der zwingenden Folge, daß sie ihre „definierende“ Kraft und Unbedingtheit verlieren. 9
Vgl. Dieter Claessens, Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, Frankfurt/M. 1980; Kapitel 3 und 4 insbesondere.
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Die großen, funktional differenzierten Gesellschaften besitzen daher auch praktisch keine solchen übergreifenden Festlegungen und Werte mehr – bis auf die abstrakten Reste einer nahezu leerformelhaften und von jeder Partei gleichermaßen in Anspruch angenommenen Berufung etwa auf die „freiheitlich demokratische Grundordnung“, auf die Norm der Fairneß aus dem Schleier der Ungewißheit aller komplexen Gesellschaften oder auf den Kategorischen Imperativ. Alles, was man vielleicht noch annehmen könnte, wäre eine Verpflichtung auf das, was Max Weber als Verantwortungsethik bezeichnet hat (vgl. dazu schon Abschnitt 7.8 oben in diesem Band): Gerade weil man – inzwischen – weiß, daß es eine Unabhängigkeit von Absichten und Folgen gibt, daß gute Absichten also durchaus üble Folgen nach sich ziehen können, kann ein gesinnungsethischer Fundamentalismus von Werten nicht mehr ernsthaft gefordert werden. Stets müssen gewisse Folgen bedacht werden, und zu diesen Folgen gehören insbesondere die Folgen für die anderen Akteure. Das erzeugt ein, man kann es durchaus so sagen, geradezu egoistisches Interesse daran, daß man sich um die anderen kümmert. Und das besonders in den modernen Gesellschaften, in denen ja niemand wirklich sicher sein kann, wo er einmal landet. Aus diesem Schleier der Ungewißheit heraus alleine entsteht schon die Einsicht, daß eine Orientierung an einem Wert der Fairneß oder der Achtung und Schonung der anderen im eigenen Interesse ist. Es ist, wenn man so will, ein „individualistischer“ Kommunitarismus, der nichts mit den – vergeblichen und unnötigen – Versuchen zu tun hat, irgendeine Art von „kollektiver“ Identifikation zu fordern oder zu installieren.10 Man könnte fast sagen: Es ist jener „moralische“ Individualismus, den Adam Smith vertreten hat. Es liegt, wenn es nur etwas „gemeinsam“ zu gewinnen gibt, in unserem eigenen Interesse, mit den anderen mitzufühlen. Daß dieses Interesse an den anderen nachläßt, wenn es augenscheinlich nichts zu gewinnen gibt, ist dann freilich nur allzu verständlich. Und daran liegt für viele Menschen in unserer Gesellschaft der Hase im Pfeffer, nicht aber im Fehlen von „Gemeinsinn“, für den es für sie ganz offensichtlich gar keine Grundlage gibt. Die komplexen Gesellschaften gewinnen, so wollen wir ein letztes Mal festhalten, ihre Integration also gerade nicht durch irgendwelche inhaltlich definierten „kollektiven“ Werte oder über gewisse übergreifende kollektive Solidaritäten, sondern durch ihre Dynamik und ihre Produktivität, durch das 10
Vgl. dazu Wolfgang Schluchter, Über Individualismus, in: Wolfgang Schluchter, Individualismus, Verantwortungsethik und Vielfalt, Weilerswist 2000b, S. 12ff. Vgl. zu einer nachhaltigen Kritik an den Thesen und Annahmen des Kommunitarismus ferner: Hardin 1995, Kapitel 7: Einstein’s Dictum and Communitarianism, S. 183-214; Alejandro Portes und Patricia Landolt, The Downside of Social Capital, in: The American Prospect, 26, 1996, S. 18-21.
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staatliche Gewaltmonopol und eben gerade dadurch, daß es nur noch um das „Funktionieren“ der „Systeme“ in ihrer jeweiligen Eigenlogik geht – und daß die Akteure ihre „individuellen“ Interessen verfolgen und dabei im Funktionieren der anonymen Systeme ihr Auskommen auch wirklich erleben. Erst so wird ja auch eine verhältnismäßig sichere Erwartung auf Kooperationsgewinne möglich, die die Akteure nur selten und wenn, dann nur in ideosynkratischer Weise auf wertrationale oder fundamentalistische Gedanken kommen lassen. Berti Vogts, Egidius Braun und der komplette DFB sind daran gescheitert, daß sie der Moral des „Elf Freunde müßt Ihr sein!“ mehr Gewicht als der systemspezifischen Leistung zumaßen. Und die Finanz- und Wirtschaftskrise in Rußland von 1998/9 hatte, ähnlich wie das Versagen der Reformen in Süditalien, von denen das Buch von Robert D. Putnam handelt, nicht so sehr mit dem Versagen des Marktes als „System“ und schon gar nichts mit der „Individualisierung“ der russischen oder der süditalienischen Gesellschaft zu tun, sondern damit, daß die für eine Marktwirtschaft erforderlichen staatlichen „Systeme“, etwa die Einrichtungen der Steuererhebung und der staatlichen Kontrolle der Korruption, nicht effizient oder korrekt genug gearbeitet haben, daß es keine wirksamen intermediären Instanzen der Interessenvermittlung gab und daß sich die Transaktionen auch deshalb nur noch an partikularen Gemeinschaften und eben nicht am Universalismus des Geldsystems orientierten – aus jeweils gut nachvollziehbaren Gründen des Vorrangs der Gemeinschaften vor der „anonymen“ Gesellschaft unter den gegebenen Verhältnissen. Die Konstitution der Gesellschaft ist zwar, so können wir jetzt festhalten, alleine über die Mechanismen der systemischen Konstitution und ohne die soziale Konstitution von Identität, Bezugsrahmen und konkret erlebten Lebenswelten nicht denkbar. Lebenswelten und Solidaritäten gibt es aber gerade auch in den modernen, „individualisierten“ Gesellschaften. Dort findet, beispielsweise, praktisch jeder, der es auch nur will, für das auch noch so privateste Problem Hilfe und auch persönliche Zuwendung – entweder als professionelles oder als staatliches bzw. organisatorisches Angebot, etwa der Kirchen oder der Wohlfahrtsorganisationen, insbesondere aber auch als „Selbsthilfegruppe“, die es so wirklich nur in den modernen, individualisierten Großgesellschaften geben kann. In den kleinen Stammesgesellschaften der Dörfer und der Kleinstädte ist dagegen – auch heute noch – jeder mit sich sehr allein, wenn er ein Problem oder eine Vorliebe hat, die auch nur etwas aus dem Rahmen fallen. Und die Klagen über das schwindende gesamtgesellschaftliche Vertrauen und Engagement? Und die Appelle an den Bürgersinn? Und was ist mit dem Fernsehen und den fetten couch potatoes davor, die sich, igitt, Arabella Kies-
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bauer und Jürgen Fliege am hellichten Nachmittag ansehen? Also: weg mit dem Fernsehen und hinein in die Stadtteilversammlung zur diskursiven Verständigung? Die empirisch vorfindbaren Menschen würden, wenn sie es denn überhaupt mitbekommen würden, nur den Kopf verständnislos schütteln: Einer Allensbach-Umfrage von 1997 zufolge gehört für die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland zu einer „idealen Welt“ die Religiösität zwar zu nicht unbeachtlichen 45%. Aber – sage und schreibe – 72% der Befragten nannten das Fernsehen, sowie – mit der gleichen Entschiedenheit – „gut ausgebaute Straßen“. Zu Recht. Denn sie haben, weil sie über Tag, eingebunden in das Stahlgehäuse der funktionalen Differenzierung und ihrer Interessen an Konto, Kabrio und Karriere, auch ohne jede besondere Identifikation mit dem jeweiligen „System“ sehr effizient ihre Pflicht zu tun. Und daher wohl auch keinen besonderen Sinn mehr für Bürgerversammlungen mit stets besserwissenden Gutmenschen. Sie wollen, verständlicherweise, nur das Eine: sich endlich entspannen – bei Fußball, Fernsehen und Flaschenbier. Und das für den nächsten Tag in irgendeinem „System“, in dem sie sich meist ganz wohl fühlen, auch weil es unterdessen auch schon zu einem Stück Lebenswelt geworden ist, und dessen Erhalt ihnen wegen des guten Jobs schon sehr wichtig ist.
Exkurs über einen ganz besonderen Fall der Bestimmungsleistung der Gruppe David Hume, und mit ihm später Myriaden von Soziologinnen und Soziologen, hatte gemeint, daß die bloße Einsicht in die Vorteilhaftigkeit der Kooperation nicht ausreiche und daß eine gewisse moralische Bindung hinzutreten müsse, damit die institutionellen Regeln einer Gruppe und die Zusammenarbeit der Akteure Bestand haben könnten (vgl. dazu Abschnitt 5.4 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Leider, so fügt er etwas pessimistisch hinzu, ist aber die Moralität nichts, was in der „Natur“ des Menschen verankert wäre. Hume hätte nicht so pessimistisch sein müssen: Es gibt, wie wir in den Abschnitten 11.3 und 11.4 oben in diesem Band gesehen haben, einige starke Hinweise darauf, daß es doch so etwas wie eine „natürliche“ Moral und soziale Bindung des Menschen gibt – zwar nicht unbedingt eine, die sich auf die Gattung der Menschheit insgesamt bezieht, jedoch immerhin jene, die sich an der Gruppe orientiert, der er gerade angehört. Und die geschilderten Experimente, besonders das Minimal Group Design von Henri Tajfel und das Experiment mit dem autokinetischen Effekt von Muzafer Sherif u.a. zeigen, daß es eine soziale „Definition der Situation“ offenbar auch dann gibt, wenn es ei-
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gentlich keinerlei besonderen vorgängigen Anhaltspunkte, Interessen, Konflikte oder Gruppendruck gibt. Offensichtlich ist, vor allem wohl wegen der bounded rationality des Menschen, der Bedarf nach irgendeiner „Bestimmungsleistung“ in nicht weiter definierten Situationen so groß, daß auch kleinste Ankerpunkte als Orientierungshilfe genommen werden – und sich daraufhin eine Art von kollektiver Pfadabhängigkeit hinein in die Gruppenkonformität entwickelt, auch dann, wenn die betreffende kollektive Definition der Situation mit der objektiven „Wirklichkeit“ nichts zu tun hat. Und wenn dann noch stärkere vorgängige Interessen, vorher schon bestehende Überzeugungen und Normen, Kommunikation und Gruppendruck hinzukommen, hat der Einzelne kaum noch eine Wahl. Das Beispiel der Sekte, die den Weltuntergang prophezeite und an ihren Überzeugungen erst recht festhielt, als die Welt leider nicht unterging, von dem wir in Abschnitt 3.3 in Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ berichtet haben, oder die Emergenz der ethnischen Konflikte, von der gerade eben in Kapitel 12 die Rede war, sind nur zwei Beispiele jener auch erschreckenden und seltsamen Kraft der, wie Peter R. Hofstätter das genannt hat, Bestimmungsleistung von Gruppen. Die Rekonstruktion der Gruppenexperimente und des allgemeinen Prozesses der sozialen Konstitution zeigt nun aber auch, daß die Erklärung der Vorgänge mit den Mitteln des Modells der soziologischen Erklärung, insbesondere als soziales Framing als einem Spezialfall der WE-Theorie und der daran anschließenden Erklärungen der Wahrnehmung, der Orientierung und des Lernens, sowie der damit verbundenen Interaktionen bzw. Kommunikationen, ohne weiteres möglich ist. Erstaunlicherweise hält sich in Teilen der Soziologie demgegenüber jedoch hartnäckig und mit allen Anzeichen der reflexionslosen Unbedingtheit die kollektiv geteilte Auffassung, das Modell der soziologischen Erklärung könne nur das „isolierte“ und „punktuelle“ Handeln einzelner Menschen erklären und die soziale Konstitution sei ein Vorgang, der sich dem Modell der soziologischen Erklärung, zumal dann, wenn es die WETheorie benutze, grundsätzlich verschließe. So lesen wir beispielsweise: „Weder bekommen sie (die Vertreter des Modells der soziologischen Erklärung; HE) dann die interaktiven und kommunikativen sozialen Prozesse in den Blick, aus welchen die soziale Ordnung hervorgeht, noch sind für sie die darin angelegten Institutionalisierungsmechanismen ein Thema. ... . Durch die prinzipielle Gleichsetzung der RC-Selektionslogik (gemeint ist der Bezug auf die WE-Theorie in der Logik der Selektion; HE) mit der Dynamik dieser Prozesse wird ihr wirkliches Funktionieren großenteils ausgeblendet. Der Zugang zu adäquaten ‚Randbedingungen‘ bleibt versperrt.“11
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Ilja Srubar, Grenzen des „Rational-Choice“-Ansatzes, in: Zeitschrift für Soziologie, 21, 1992, S. 164. Ganz ähnlich ferner: Ilja Srubar, Die (neo-)utilitaristische Konstruktion der Wirklichkeit, in: Soziologische Revue, 17, 1994, S. 115-121.
Soziale Konstitution
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Wenn man das glaubt, fällt natürlich auch die Behauptung nicht schwer, daß das Modell der soziologischen Erklärung „ ... uns nichts über den Charakter, den Ursprung und die Konsequenzen von RoutineHandlungen (sagt), weil es genau deren Eigenheiten verfehlt, indem es sie in die RCPerspektive (gemeint ist wieder die WE-Theorie; HE) zwingt.“12
Und weil das Modell der soziologischen Erklärung nur etwas über die individuelle Handlungsselektion, nichts aber über die soziale Konstitution von Sinnmustern zu sagen habe, sei es letztlich ganz und gar wertlos. Es mache „ ... soziale Selektionsprozesse der Handlungswahrnehmung und -evaluation zum wesentlichen Bestandteil seines Konzeptes und beschreibt die Herkunft von Routinen und Frames aus sozialem Sinn, Normen, Symbolen oder Wissensmustern. Gleichwohl wird deren soziale Konstitution ... aber nicht konzeptionell berücksichtigt, ja zugunsten des Beharrens auf der Rationalität des Handelns negiert ... . Mit dem Argument, die letzte Stufe der Wahlhandlung sei eben doch rationale Wahl, wird Rationalität verteidigt, obwohl bei den vorgelagerten Stufen sozial begründete Habits und Frames weitgehend bestimmend waren. Der Nutzenbegriff wird auf diese Weise metaphorisch.“13
Wir haben nicht nur in diesem Band 6 der „Speziellen Grundlagen“ gesehen, daß das ganz und gar unbegründete und unhaltbare Ansichten sind: Die soziale Konstitution der gesellschaftlichen Wirklichkeit und das Phänomen der „Bestimmungsleistung der Gruppe“ können mit dem Modell der soziologischen Erklärung und vor allem unter Einbeziehung der WE-Theorie ohne weiteres und mit teilweise überraschenden Nebenergebnissen und anderen Einsichten erklärt werden, wie etwa die, daß die Menschen ihren Verstand eben nicht verlieren und auch auf die Glaubwürdigkeit von „Ankern“ achten, wenn sie den Konstruktionen der Wirklichkeit in der Gruppe folgen. Anders als jene soziologischen Ansätze, die immer nur behaupten, sie – und nur sie! – wären in der Lage, den Vorgang der sozialen Konstitution „adäquat“ zu behandeln, 12
Günter Burkart, Die Entscheidung zur Elternschaft. Eine empirische Kritik von Individualisierungs- und Rational-Choice-Theorien, Stuttgart 1994, S. 52.
13
Ursula Dallinger, Der Konflikt zwischen familiärer Pflege und Beruf als handlungstheoretisches Problem, in: Zeitschrift für Soziologie, 27, 1998, S. 101. Vgl. ganz ähnlich u.a. auch noch Tamás Meleghy, Verhaltenstheorie und Handlungstheorie: Versuch einer Abgrenzung, in: Andreas Balog und Manfred Gabriel (Hrsg.), Soziologische Handlungstheorie. Einheit oder Vielfalt, Sonderband 4 der Österreichischen Zeitschrift für Soziologie, Opladen 1998, S. 227-262; Klaus Eder und Oliver Schmidtke, Ethnische Mobilisierung und die Logik von Identitätskämpfen, in: Zeitschrift für Soziologie, 27, 1998, S. 418-437; oder Gerald Mozetič, Wieviel muß die Soziologie über Handlungen wissen? Eine Auseinandersetzung mit der Rational-Choice-Theorie, in: Balog und Gabriel (Hrsg) 1998, S. 199-226. Siehe zu einer auch in anderer Hinsicht nahezu unfaßbar falschen und uninformierten „Kritik“ an der Methodologie soziologischer Erklärungen: Max Haller, Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich, Opladen 1999, S. 401ff.
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liefert das Modell der soziologischen Erklärung jedoch tatsächlich eine solche Erklärung, einschließlich einer Erklärung der Genese der Randbedingungen der Konstitution und des Handelns. Auf eine ähnlich leistungsfähige Erklärung der sozialen Konstitution durch diese Ansätze warten wir immer noch. Denn: Es ist ja nicht damit getan, immer und immer wieder nur zu wiederholen, was jeder inzwischen weiß: Daß alles irgendwie die Folge von Interaktion bzw. Kommunikation und der wechselseitigen Verschränkung der Perspektiven sei – ohne (auch) mit Gesetzen zu erklären, wann warum welche Art der sozialen Konstitution entsteht, beispielsweise Abgrenzung, Feindseligkeit und Konflikt oder Gemeinschaftlichkeit, Wir-Gefühl und Solidarität. Man müßte schon etwas konkreter werden und sich über die bloße Beschreibung von Konstitutionsprozessen und das Zitieren von einigen illustrierenden Passagen aus den Transskriptionen narrativer Interviews auf das anspruchsvollere Feld der soziologischen Theorie- und Modellbildung hinauswagen. Warum sich diese (und andere) falschen Urteile über die erklärende Soziologie bei bestimmten Soziologinnen und Soziologen so hartnäckig halten, läßt sich wiederum mit den Mitteln der erklärenden Soziologie als Spezialfall des Vorgangs der sozialen Konstitution bzw. der „Bestimmungsleistung der Gruppe“ ganz gut erklären: Man müßte sich in den entsprechenden Milieus soziologischer Schulenbildung eine ganz andere gedankliche Ordnung und ingroup-out-group-Differenzierung für die erklärende Soziologie und für einige andere Gesellschaftswissenschaften, die Ökonomie, die Psychologie, die Sozialpsychologie zum Beispiel, zulegen – und schließlich wohl auch andere Dinge lernen und tun als in der Lebenswelt des jeweiligen Paradigmas eingespielt und auch mit hohen Prämien versehen ist. Das aber ist wohl undenkbar. Und so redet man sich gegenseitig immer wieder die alten Grenzziehungen und Vorhaltungen ein und konstituiert sich, oft genug unter unüberprüfter Übernahme immer wieder der gleichen Formeln und Zitate, den Bezugsrahmen immer wieder neu, unter dem alles so bleiben kann, wie es immer schon gewesen ist. Für eine religiöse Sekte, die ansehen muß, daß der prophezeite Weltuntergang doch nicht stattgefunden hat, wäre das durchaus verständlich. Hier ist die Codierung der sozialen Produktionsfunktionen ja nicht die wissenschaftliche Wahrheit und das richtige Argument. Für eine Kritik in der Sphäre der Wissenschaften dagegen ist es eigentlich kaum zu glauben. Es passiert aber. Und das keineswegs selten.
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Das sind sie nun, die „Grundlagen“ der Soziologie, die „Allgemeinen“ wie die „Speziellen“. Das Ziel war die Zusammenführung der wichtigsten Konzepte der erklärenden Gesellschaftswissenschaften, insbesondere aus der Soziologie, der (Sozial-)Psychologie und der Ökonomie, zu einem theoretischen Grundgerüst – dem Modell der soziologischen Erklärung. Und das als – möglichst verständliches – Lehrbuch für das Studium der Gesellschaftswissenschaften und für die erklärende Analyse sozialer Strukturen und sozialer Systeme in der Forschung, und zwar für alle vier grundlegenden sozialen Prozesse: soziale Ordnung, soziale Differenzierung, soziale Ungleichheit und sozialer Wandel. Anders als in vielen anderen Anläufen dazu sollte es hierbei nicht um eine zusammenhangslose Reihung der verschiedenen Konzepte gehen, auch nicht um das – letztlich verständnislose – eklektizistische Referieren von Namen und dazu gehörenden „Ansätzen“. Das dargestellte Konzept des Modells der soziologischen Erklärung bzw. einer erklärenden Soziologie bemüht sich vielmehr um die „Einheit der Gesellschaftswissenschaften“ unter Einbezug aller wichtig erscheinenden Beiträge der verschiedenen Ansätze. Es versteht sich daher auch nicht als ein weiteres „Paradigma“ neben den schon etablierten anderen „Soziologien“, die eher recht sorgfältig ihre Nische pflegen und meist nach „Grenzen“ statt nach Integration suchen. Daher handelt es sich aber eben erst recht auch nicht um eine Art von Imperialismus gegen die jeweils anderen Ansätze und Disziplinen. Das sieht man allein daran, daß materielle Opportunitäten, institutionelle Regeln und kulturelle Bezugsrahmen und Symbole jeweils zusammen betrachtet werden – und nicht, wie etwa bei der traditionellen Ökonomie und Soziologie oder bei den etablierten Paradigmen der Soziologie, jeweils nur Teile davon. Und man erkennt es daran, daß die handlungstheoretische Grundlage des Konzepts alle „Typen“ des Handelns ernst nimmt, wenngleich auch ein Versuch unternommen wird, sie ihrerseits über eine „allgemeine“ Logik der Selektion zu erklären. Daß sich im Zuge der Darlegungen dann das Modell der soziologischen Erklärung in der Tat als ein Konzept mit einer sehr großen Reichweite erwiesen hat, auch für Felder, bei denen das prima facie kaum zu vermuten gewesen wäre, wie etwa bei der explanativen Rekonstruktion sogar der soziologischen Systemtheorie oder bei
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so – auf den ersten Blick – schwer einordbaren Autoren wie Erving Goffman oder Harold Garfinkel, sollte nicht zu seinem Nachteil ausgelegt werden, etwa in der geläufigen Art, daß dies wohl ein Anzeichen für Inhaltsleere sein müsse. Das ist es gerade nicht. Ganz im Gegenteil: Die Allgemeinheit einer Theorie bedeutet alles andere als Beliebigkeit. Das lernt jeder Student in der Wissenschaftstheorie spätestens in der dritten Sitzung: Über je mehr Dinge eine Theorie etwas Präzises aussagt, um so eher kann sie widerlegt werden und umso höher ist dann ihr, wie es heißt, Informationsgehalt. Und er lernt in diesem Zusammenhang auch: Das wichtigste (und anspruchvollste und schwierigste) Ziel aller wissenschaftlicher Bemühungen ist die Zusammenführung und die Integration disparat scheinender Ansätze und Erklärungen zu möglichst einer Theorie, und zwar einer solchen, die ihre eigenen Anomalien und Varianten gleich miterklärt. Daß dieses Konzept gleichwohl seine Grenzen hat, wird man vernünftigerweise nicht bestreiten können. Vieles konnte, trotz der insgesamt sieben Bände, auch nicht in allen Details dargestellt werden. Manches Interessante mußte zudem, angesichts des Charakters der Arbeit als „Lehrbuch“, ausgelassen oder konnte nicht so tief behandelt werden, wie es an sich nötig gewesen wäre – wie etwa die wichtigen aktuellen Entwicklungen bei der sog. evolutionären Spieltheorie, die neueren Möglichkeiten zur Simulation gesellschaftlicher Prozesse im Computer oder die vielen Aspekte des Phänomens der Organisation. Zu diesen Grenzen gehören aber, das sei noch einmal ausdrücklich gesagt, nicht jene, wie sie bislang in einer Art von soziologischem Volkssport unter dem Rubrum „Grenzen von Rational-Choice“ so gerne beschworen wurden – oft mit ganz unverständlichen, ganz offenkundig unhaltbaren und längst widerlegten Vorhaltungen, wie etwa dem, daß der Ansatz eine Variante des Psychologismus wäre, in dem die sozialen Strukturen nicht vorkämen und alles auf das autonome Handeln von egoistischen Monaden „reduziert“ werde. Und daß man statt dessen ein ganz anderes Konzept, das der soziologischen Situationslogik beispielsweise, benötige, so als ob es das gerade mit dem Modell der soziologischen Erklärung nicht schon gäbe. Die in diesen alten und auch manchen neueren Debatten vorgebrachten Einwände sind, so weit man das sehen kann, allesamt entweder schon längst im „einfachen“ RC-Ansatz oder aber in den diversen Erweiterungen und Vertiefungen des Modells der soziologischen Erklärung berücksichtigt. Nicht zuletzt deshalb wurden an verschiedenen, besonders sensitiven Stellen gewisse Exkurse eingefügt. Wir hoffen sehr, daß wenigstens das jetzt verstanden wird. Die Grenzen der „Grundlagen“ liegen anderswo: Der Gegenstand der Soziologie kann als Lehrbuch auf sehr verschiedene Weise aufbereitet werden, und die Darlegung der theoretischen Grundlagen, der Konzepte und Modelle also zur Analyse soziologischer Fragestellungen, ist nur eine mögliche Art
Epilog
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davon. Mindestens drei weitere Arten von Übersichten sind denkbar und wären für eine vollständige Darstellung des Faches auch nötig. Dazu gehören erstens die verschiedenen Bereiche der sog. Speziellen Soziologie(n), wie etwa die der Soziologie der Familie, der Religion, der sozialen Ungleichheit, der Stadt, der Eliten, der Parteien und des Wahlverhaltens, der Migration, der Freizeit oder der Umweltprobleme. Viele Lehrbücher der Soziologie sind auch so aufgebaut, wie etwa das große Buch von Anthony Giddens. Und das „Handbuch der empirischen Sozialforschung“, das René König herausgebracht hat, war eine Sammlung des damaligen Standes der wichtigsten sog. „Bindestrich-Soziologien“. Dann natürlich zweitens das, was man vergleichende Gesellschaftsanalyse nennen könnte. Die eingängigsten Beispiele dafür wären die Arbeiten von Shmuel S. Eisenstadt, etwa über die verschiedenen Varianten und Entwicklungen der „Moderne“, von Stein Rokkan über die Entwicklung des Systems der europäischen Gesellschaften, von Thomas H. Marshall über die Entwicklung der Bürgerrechte und des Wohlfahrtsstaates oder, natürlich, auch die älteren Arbeiten von Max Weber über die Besonderheiten des „Okzidents“. Dazu zählen würde man auch die neueren, vor allem empirisch-statistisch gestützten Studien der (vergleichenden) Sozialstrukturanalyse, wie etwa die Arbeiten von John Goldthorpe und Robert Erikson bzw. von Gösta Esping-Andersen über die Muster, Varianten und Entwicklungen der sozialen Ungleichheit in den modernen Industriegesellschaften. Eigentlich müßte man diese beiden Varianten der Soziologie, soweit nötig, auch in der Logik des Modells der soziologischen Erklärung rekonstruieren. Das sollen dann aber andere tun. Dann gibt es drittens noch jene Variante an „Soziologie“, die wir als „Gesellschaftsanalyse“ bezeichnen wollen. Es sind die immer wiederkehrenden und in der Öffentlichkeit besonders gern aufgenommenen Versuche einer „Selbstbeschreibung“ von Gesellschaften über die Beantwortung der Frage: „In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?“ (siehe dazu auch noch unten). Autoren wie Ulrich Beck, Claus Offe, Gerhard Schulze, Ulrich Wickert, Daniel Bell, Olaf Henkel, Richard Sennett, Amitai Etzioni oder Jürgen Habermas gehören dazu, die das versuchen. Diesen Versuchen steht die erklärende Soziologie skeptisch gegenüber. Denn letztlich handelt es sich bei der Frage nach dem „Wesen“ der Gesellschaft um eine unbeantwortbare – und auch eigentlich unwissenschaftliche – Frage. Der Wissenschaft geht es, wie wir wissen, nicht um „was ist denn das Wesen von?“-Fragen. Denn für die gibt es, wenn es nicht bloß um eine typisierende Beschreibung gehen soll, keine wissenschaftliche Antwort. Sondern es geht um die Klärung von Explananda, um „warum“-Fragen also. Gleichwohl besteht in der Öffentlichkeit immer ein Bedarf nach solchen Deutungs- und Selbstvergewisserungsversuchen, und es gibt daher auch einen nicht gerade kleinen Markt für diese, wie soll man sagen?, Art von Gesellschaftsphilosophie. Wir betrachten sie alle,
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wenn sie denn schon sein müssen, mit milder Distanz, die nur dann größer wird, wenn der Faselanteil darin, wie nicht selten, allzu deutlich ansteigt und wenn erkennbar wird, daß die Behauptungen der Autoren mit den Grundlagen und den Ergebnissen der seriösen theoretischen und empirischen Soziologie nun wirklich nicht mehr viel zu tun haben. In den sieben Bänden der „Soziologie“ ging es, wir wiederholen es vorsichtshalber, um die theoretischen Grundlagen einer erklärenden Soziologie, die die verschiedenen Ansätze und Paradigmen der Gesellschaftswissenschaften in ihren zentralen Bestandteilen aufnimmt und sie zu einer Soziologie für – im Prinzip – alle Spezialfragen und Perspektiven macht. Es ist auch ein Ansatz für alle Typen von Gesellschaften und für alle historischen Epochen. Die Unterschiede zwischen Gesellschaften und historischen Umständen werden, technisch gesprochen, eben in den Randbedingungen modelliert, nicht aber in dem erklärenden Grundgerüst und in der Annahme, daß sich letztlich alle gesellschaftlichen Prozesse um die Reproduktion des Menschen und um sein Bemühen zur Nutzenproduktion dreht. Zu den Grundannahmen gehört daher auch, daß es eine allgemeine bio-psychische „Natur“ des Menschen als Gattungswesen gibt, zu der der Grundzug der antagonistischen Kooperation, seine Kulturfähigkeit, wie auch die Regeln der Selektion seines Tuns zählen, wie sie sich in einem langen Prozeß der bio-sozialen Evolution und nicht zuletzt im Umgang mit den grundlegenden Knappheiten dieser Welt herausgebildet haben. Eine ganze Reihe von – mehr oder weniger alten – Kontroversen dürfte es mit diesem Konzept nicht mehr geben, wie u.a. die zwischen Mikro- und Makrosoziologie, Verstehen und Erklären, Allgemeinheit und Einmaligkeit, Soziologie und Geschichte, Struktur und Handeln, Anreize und Kultur, Interesse und Moral. Allerdings ist das Konzept auch nicht so weit, daß es, sozusagen, für allen Unfug einen verständnisvollen Platz vorhält. Es sind insbesondere drei Perspektiven, mit denen das Modell der soziologischen Erklärung unvereinbar ist. Sie fangen alle mit „K“ an: Kollektivismus, Kommunitarismus und Konstruktivismus. Und daher jetzt noch, die „Grundlagen“ wirklich abschließend, etwas zu diesen drei „K“, von denen sich das Modell der soziologischen Erklärung aus unterschiedlichen Gründen absetzt. Manches davon ist schon an verschiedenen Stellen der sieben Bände zur Sprache gekommen. Recht einfach ist – inzwischen – die Sache mit dem Kollektivismus in der Soziologie. Das war die Auffassung, daß es schon auf der Makroebene der Gesellschaften gewisse übergreifende Gesetze geben könne, soziologische Gesetze „sui generis“ eben, wie es bei Emile Durkheim hieß. Der Kollektivismus war lange Zeit, insbesondere in Gestalt des Strukturfunktionalismus nach Talcott Parsons, die unumstrittene Grunddoktrin der Soziologie. Parsons aber ist schon lange tot, und seine Nachfolgetheorie, der sog. Neo-
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Funktionalismus, hat von den Grundsätzen der „klassischen“ makrosoziologischen Perspektive inzwischen (fast) alles aufgegeben und ist auch zu einer Variante der akteursorientierten Makro-Mikro-Perspektive geworden. Der Neo-Marxismus der Frankfurter Schule Ende der 60er Jahre war ein letzter und nachhaltiger, inzwischen aber ebenfalls fast völlig verblichener Versuch zur Wiederbelebung des Kollektivismus, nachdem der „bürgerliche“ Kollektivismus in der Nachfolge von Emile Durkheim ins Gerede gekommen war. Inzwischen gibt es, bis auf eine, allerdings signifikante, Ausnahme (siehe dazu gleich unten), praktisch keinen nennenswerten strikt kollektivistischen Versuch in der Soziologie mehr. Alle neueren theoretischen Ansätze versuchen vielmehr, wie das Modell der soziologischen Erklärung, auf irgendeine Weise die Überbrückung des Gegensatzes zwischen „Individuum“ und „Gesellschaft“ und die Verbindung von Mikro- und Makroebene bzw. von „Handeln“ und „Struktur“: Anthony Giddens, Pierre Bourdieu, Norbert Elias, Jeffrey C. Alexander, Richard Münch, Michael Schmid und Randall Collins, zum Beispiel, aber auch etwa Jürgen Habermas mit seiner Idee, man müsse das Handeln in den Lebenswelten von den übergreifenden gesellschaftlichen Systemen unterscheiden und benötige deshalb die Zusammenführung einer Handlungstheorie einerseits und einer Systemtheorie andererseits. Die eine Ausnahme ist, wie könnte es anders sein, die soziologische Systemtheorie nach Niklas Luhmann. Die versteht sich, auf den ersten Blick wenigstens, als eine strikt makrosoziologische Angelegenheit. Luhmann hat zum Beispiel stets nachdrücklich darauf bestanden, daß er, vor die Wahl gestellt, die sozialen Prozesse über eine „Konstitution von oben“ gegenüber der Idee von der „Emergenz von unten“ zu erfassen, ersterer Option fraglos den Vorzug gebe. Folgerichtig sind die menschlichen Akteure für Luhmann auch nur eine, eigentlich: unbeachtliche, „Umwelt“ des eigensinnigen Prozessierens der sozialen Systeme. Aber ganz so strikt kollektivistisch ist Luhmann keineswegs. Er lehnt zum Beispiel den „alten“ Holismus ebenfalls unmißverständlich ab, und mit dem Begriff der Autopoiese als der wechselseitigen Ermöglichung und Begrenzung der Konstitution der sozialen und der psychischen Systeme ist die Idee des Makro-Mikro-Makro-Übergangs durchaus nicht fern. Und an vielen Stellen seiner Arbeiten beschreibt er ausführlich und mit der Geste der Neuerfindung Vorgänge gerade der „Emergenz von unten“. Beispielsweise in der Erklärung der Entstehung der sozialen Ordnung aus einer Situation der, wie Luhmann sagt, doppelten Kontingenz: Zwei psychische Systeme in einer bis dahin nicht normierten Situation wissen nicht, was sie tun sollen, beobachten sich gegenseitig und finden nach einem eher zufälligen Beginn dann rasch eine Linie für eine gemeinsame Situationsdefinition. Das ist, wie man leicht sieht, nichts als die Lösung eines Koordinationsproblems, wie es auch in der Spieltheorie behandelt wird. Und noch ganz zum Schluß
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seiner Arbeiten stößt er auf das ihn offenbar sehr irritierende Phänomen der „Exklusion“: Es gibt doch, so lesen wir seinen Bericht über die Favelas in Brasilien, tatsächlich leibhaftige Menschen ganz außerhalb jeder „Gesellschaft“. Und was tun die? Unglaublich: Sie schaffen sich alsbald ihre eigene Form der Vergesellschaftung, und seien es nur die besonderen „gesellschaftlichen“ Verhältnisse der Elendsviertel am Rande der Großstädte am Rande dieser Welt. Kurz: Der soziologische Kollektivismus fristet selbst in der soziologischen Systemtheorie nur noch eine deklamatorische Existenz. Faktisch ist er also überall gestorben. Auch bei Luhmann. Nun der Kommunitarismus. Das ist, wie wir im Exkurs über den Kommunitarismus oben in diesem Band gesehen haben, eine Variante der gerade hierzulande immer schon recht beliebten Kulturkritik an der modernen Gesellschaft, an der Großstadt und an der angeblich so schädlichen Individualität der Menschen. Dagegen hat das Modell der soziologischen Erklärung zunächst eigentlich nichts. Wie sollte es auch? Denn es ist ja eine Methodologie, wie man Soziologie zu betreiben hätte, aber eben keine „Gesellschaftstheorie“. Gleichwohl haben wir gerade aus den inhaltlichen Ergebnissen, etwa der Erklärung der Mechanismen der sozialen Ordnung, eine Reihe von Hinweisen gefunden, daß der Kommunitarismus auf einer Reihe von fragwürdigen theoretischen (und auch einigen sehr zu bezweifelnden empirischen) Annahmen beruht. Und alleine daraus speiste sich die Kritik daran. Die Kritik am Kommunitarismus ergibt sich also nicht aus den Prämissen des Modells der soziologischen Erklärung bzw. des Prinzips des Methodologischen Individualismus, sondern als Ergebnis gut begründbarer theoretischer Argumente und empirischer Beziehungen. Und es ist nicht die einzige Stelle, an dem sich das Modell der soziologischen Erklärung zur soziologischen Aufklärung gerade dadurch bewährt, daß es vor allzu naiven und gefährlichen utopischen Träumereien bewahrt. Das Modell der soziologischen Erklärung benutzt nun zumindest in bestimmten Teilen, die Theorie der rationalen Wahl, wenngleich es sich darin, wie wir gesehen haben, nicht erschöpft und es die Einseitigkeiten der „einfachen“ RC-Theorie nicht teilt. Manche haben aus dieser Parallelität von theoretischer Grundlage und Skepsis gegen die gesellschaftliche Bedeutung von „kollektiven“ Werten und „kollektiver“ Moral in modernen Gesellschaften einen auf den ersten Blick naheliegenden Schluß gezogen: Es ist vielleicht sogar diese Theorie des „rationalen Egoismus“, die uns das alles eingebrockt hat mit dem Verfall der Werte und des Gemeinsinns. Und deshalb sollte man, so wird inauguriert, wenn man den guten Menschen und die gute Gesellschaft will, dringend die Finger von ihr lassen. Zumal sie, wie man doch sehe, gar keine „allgemeine“ Theorie, sondern ein höchst besondere sei, nämlich eine, die nur unter den gesellschaftlichen Verhältnissen von Werteverfall und Kapi-
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talismus funktioniere. Und deshalb sei es die pure Ideologie: Der theoretische Überbau der kapitalistischen Ellbogengesellschaft, der sich dazu noch als universal anwendbares Konzept verkaufen wolle. Pfui Deibel! Aber auch das ist ein, man muß es schon so deutlich sagen, ausgesprochen grober Unfug: Das Modell der soziologischen Erklärung ist in seiner Anwendbarkeit keineswegs auf die „rationalen“ Gesellschaften der Moderne beschränkt. Mit ihm lassen sich, wie an vielen Beispielen in den sieben Bänden der „Grundlagen“ ausführlich belegt wurde, die sozialen Prozesse in allen Typen von Gesellschaft erklären – und damit auch etwa das, was geschieht, wenn Menschen in größeren Gruppen aus vormodernen Verhältnissen in moderne Industriegesellschaften kommen, wie bei den Migranten aus den recht vormodernen Ländern des Süden und Ostens in die Industriegesellschaften des Westens. Man braucht keine eigene soziologische Theorie für die Steinzeitgesellschaften, für das feudale Mittelalter oder für die (Post-)Moderne des 21. Jahrhunderts. Und als soziologische Theorie ist das Modell der soziologischen Erklärung auch nicht verantwortlich für das, was mit den real existierenden Menschen ist und was mit der Gesellschaft geschieht. Kurz: Theorien predigen nicht, sie machen keine Vorschriften und sie wirken auch, von seltenen Ausnahmen abgesehen, nicht auf die Welt zurück, über die sie ihre Aussagen machen. Damit aber sind wir beim dritten „K“ – beim Konstruktivismus. Den gibt es in verschiedenen Varianten, und nicht alle davon sind verwerflich oder mit dem Modell der soziologischen Erklärung unvereinbar. Eine höchst akzeptable, ja gar nicht anders denkbare Variante ist der, so wollen wir sie nennen, soziologische Konstruktivismus, wie ihn Peter L. Berger und Thomas Luckmann in der Idee von der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ formuliert haben: Alle gesellschaftlichen Vorgänge sind das Produkt des Handelns von Akteuren, denen dann dieses Produkt wiederum als „objektive“, wenngleich von ihnen „konstruierte“ Tatsache gegenübersteht, die sie als Akteure dann wiederum prägt. Das Modell der soziologischen Erklärung ist nichts anderes als die Ausformulierung dieses „konstruktivistischen“ Gedankens (vgl. dazu auch schon die Einleitung von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Das ist etwas ganz anderes als der erkenntnistheoretische Konstruktivismus. Das ist die Vorstellung, daß es die „Wirklichkeit“ eigentlich gar nicht zu geben brauche, sondern daß alles, was wir wissen (können), nichts weiter ist als die Folge gewisser kognitiver „Konstruktionen“ des Gehirns. Unser Organismus ist, so wird gesagt, auf einer Art von Blindflug, und ob es eine „wirkliche“ Wirklichkeit gibt, spielt keine wirkliche Rolle, solange nichts schief geht. Dieser erkenntnistheoretische Konstruktivismus ist, wie seine Gegenposition, der sog. Realismus, weder zu beweisen, noch zu widerlegen. Aber wir haben im Exkurs über den (Radikalen) Konstruktivismus oben in diesem
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Band gesehen, daß er sich selbst, besonders in der Variante des „Radikalen“ Konstruktivismus, in einige schwerwiegende Widersprüche verwickelt. Und daß es insbesondere auf seiner Grundlage kaum Sinn macht, Wissenschaft zu betreiben. Deshalb müssen wir uns mit dieser Spielart philosophischer Spekulation auch nicht weiter beschäftigen. Wer daran glaubt, das es die Welt mit ihren Rätseln und Problemen nicht wirklich gibt, sollte besser nicht Soziologie studieren, sondern gleich Karten legen. Nun zur dritten Variante, die wir als systemtheoretischen Konstruktivismus bezeichnen wollen. Die geht, wie könnte es anders sein, auf Niklas Luhmann zurück. Er hat sie in seinen späteren Arbeiten immer wieder und dann noch einmal zusammenfassend – und für seine Verhältnisse: in transparenter Weise – in seinem Abschlußwerk über die „Gesellschaft der Gesellschaft“ umschrieben.1 Damit ist gemeint, daß sich die Gesellschaft, wie alle sozialen Systeme, für ihr kommunikatives „Operieren“ sog. Selbstbeschreibungen anfertigt. Diese liefern, wie Luhmann sich das vorstellt, für die Kommunikationen, die die sozialen Systeme tragen, die nötigen „Abstützpunkte“. Aus dem Inhalt dieser Selbstbeschreibungen bestehen die, wie wir das in Kapitel 2 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“ und in Kapitel 12 oben in diesem Band rekonstruiert und zusammengefaßt haben, kulturellen Systeme, an denen sich die psychischen Systeme bei der kommunikativen „Konstruktion“ der sozialen Systeme orientieren: Geschichten, Mythen, Philosophien und dann auch soziologische Theorien und Konzepte, zum Beispiel. Das macht natürlich auch die Gesellschaft für sich selbst als soziales System. Wer aber fertigt diese Selbstbeschreibungen für die Selbstbeobachtung der Gesellschaft an? Das sind „Beobachter“, und in unserem Fall wäre die Soziologie als spezielles soziales System dieser Beobachter. Die Selbstbeschreibungen sind natürlich nicht folgenlos: Die von der Soziologie, etwa, formulierte Konzeption der Gesellschaft wirkt als stilisierte Beschreibung, als Modell der Gesellschaft, als Utopie, als „Idealtyp“, gar als politische Richtschnur wieder auf das Prozessieren der Gesellschaft zurück. Als Modell der „Gesellschaft“ der Gesellschaft eben. Unter anderem hat Luhmann beispielsweise gemeint, daß auch der Begriff der „sozialen Klasse“ nichts weiter als eine solche bloße selbstbeschreibende Konstruktion der Gesellschaft (gewesen) sei, die sich die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als eine Art von Ersatz der Beschreibungen über die untergegangene feudale geburtsständische Ordnung zu ihrem weiteren Operieren verpaßt habe (vgl. Luhmann 1997, S. 1056ff.). Soziologische Konzepte sind damit in erster Linie praktisch motivierte und symbolisch wirkende „labels“, die dem Fortgang der gesellschaftlichen Kommunikation dienen. Einen „rea1
Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, Kapitel 5: Selbstbeschreibungen.
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len“ Hintergrund haben sie danach eigentlich nicht – oder der wäre unbeachtlich. An dieser Stelle treffen sich, wie man sieht, der systemtheoretische und der erkenntnistheoretische Konstruktivismus. Die Frage, ob nicht doch „wirklich“ etwas dran war (und ist) an dem Begriff der „sozialen Klasse“ zur Beschreibung systematischer sozialer Ungleichheiten und zur Erklärung gewisser Folgen dieser Art der gesellschaftlichen Spaltung, wie die Emergenz der „sozialen Frage“ und des Wohlfahrtsstaates im 19. Jahrhundert, stellt sich dabei erst gar nicht mehr: Relevant für das Prozessieren des sozialen Systems „Gesellschaft“ sind ja eben nicht die „wirklichen“ strukturellen Verhältnisse, sondern nur die symbolischen „Kommunikationen“ – und damit in der Tat auch nur die (Selbst-)Be-schreibungen und die Worte. Es ist eine Variante des (Hegelschen) Begriffsrealismus. Man sollte es nicht für möglich halten. Damit aber gehen die Probleme erst los. Die Gesellschaft muß dann ja sehen wie sie mit ihrer Selbstbeobachtung und ihrer Selbstbeschreibung fertig wird. Folglich müßte es bei der Formulierung einer Theorie der Gesellschaft natürlich wieder eine eigene Perspektive der Beobachtung der Beobachtung der Gesellschaft geben, die diesem Umstand der Selbstbeschreibung der Gesellschaft als Gesellschaft gerecht wird ... und so weiter, bis nur noch ER übrig ist, der keinen Beobachter mehr über sich hat und daher alleine nur noch die Übersicht behält. Und das führt, wie man sich leicht vorstellen kann, rasch in eine Unübersichtlichkeit der soziologischen „Theorie“ der Gesellschaft, angesichts derer die wirkliche Komplexität der Gesellschaft eine leicht überschaubare Angelegenheit ist. Es gibt Hinweise, daß Luhmann schließlich alleine nur noch sich höchstselbst dazu in der Lage sah, hier den Durchblick zu bewahren. Gänzlich abwegig ist die Idee von den gesellschaftlichen Wirkungen der Modelle der „Gesellschaft“ natürlich nicht. Literatur wirkt manchmal durchaus in die Gesellschaft hinein, und auch für die Ergebnisse und Konzepte der Soziologie mag es das geben: Wenn alle Welt an die Rollentheorie oder an die Theorie der rationalen Wahl glaubt, dann verhalten sich die Menschen (vielleicht) auch eher danach. Die erklärende Soziologie ignoriert daher den Sachverhalt der Rückwirkung der Soziologie auf ihren Gegenstand und den Umstand keineswegs, daß, wie es einst so schön tremolierend bei Habermas hieß, „ ... der von Subjekten veranstaltete Forschungsprozeß dem objektiven Zusammenhang, der erkannt werden soll, durch die Akte des Erkennens hindurch selber zugehört.“2
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Jürgen Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik. Ein Nachtrag zur Kontroverse zwischen Popper und Adorno, in: Theodor W. Adorno u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt und Neuwied 1969, S. 156.
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Sinn und Kultur
Damit war, soweit man das sehen kann, zweierlei gemeint: Das Problem der doppelten Hermeneutik, wonach jede soziologische Erklärung sich – unter anderem – auf die Subjektivitäten der Wissensbestände der untersuchten Akteure stützen muß und, damit, daß zu diesem Wissen – unter Umständen – auch ein soziologisches Wissen dazu gehören kann. Und dann natürlich die eventuelle Rückwirkung des soziologischen Wissens auf die untersuchten gesellschaftlichen Prozesse selbst wieder. Habermas dachte hierbei insbesondere an die verderblichen Wirkungen einer „positivistischen“ Soziologie für die Emanzipation des Menschen aus den Fesseln der kapitalistischen Moderne. Die Feststellung von möglichen „reflexiven“ Rückwirkungen der Selbstbeobachtung und der Selbstbeschreibungen der Gesellschaft sind der Anlaß für manche Geheimnistuerei über die Besonderheiten der Gesellschaftswissenschaften gewesen: daß man nur „verstehen“ und nicht erklären könne, daß die Soziologie deshalb eine normative Komponente haben müsse oder daß gesellschaftliche Prognosen unmöglich wären, zum Beispiel. Dabei ist die doppelte Hermeneutik eine ganz harmlose Sache, wie wir aus Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ schon wissen: Das subjektive Wissen der Akteure kann natürlich „objektiv“ erfaßt und in die Modellierung ihrer „Logik der Situation“ eingebaut werden. Schwieriger ist es dagegen mit den Rückwirkungen der soziologischen Gesellschaftsbeschreibungen auf die Gesellschaft. Hier kann es durchaus zu, letztlich: unlösbaren, logischen Problemen kommen. Es droht zum Beispiel für die Analyse von self-fulfilling oder self-destroying prophecies ein unendlicher Regreß der Beobachtung der Beobachtungen und deren Wirkungen, die dann wieder beobachtet werden könnten. Denn niemand kann sagen, an welcher Stelle der unendliche Regreß abgebrochen wird, wenn niemand mehr als weiterer (relevanter) Beobachter des Geschehens auftritt (vgl. dazu auch schon die Einleitung zu Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Unbestritten. Aber die erklärende Soziologie stellt diese, sagen wir einmal, mögliche Komplikation der Beschreibung und Erklärung der Konstruktion der Gesellschaft nicht in den Mittelpunkt ihrer Analysen, und sie verzichtet daher darauf, die selbstbeobachtende „Konstruktion“ der Gesellschaft durch die Soziologie als immer und überall zu beachtenden Gesichtspunkt zu bedenken. Sie fängt, kurz gesagt, einfach mit der Arbeit der Beobachtung (und der Beschreibung und Erklärung) der Gesellschaft an. Und wartet dann erst mal ab, ob sich das dann irgendwie auf die sozialen Prozesse wieder auswirkt. Außerdem gibt es zur Analyse der Entstehung und der Wirkung solcher Selbstbeschreibungen eine eigene Variante der Soziologie, die sog. Wissenssoziologie, und das sogar in einer ganz speziellen Form – als „Soziologie der Soziologie“ nämlich. Aus diesen – relativ fruchtlosen – Selbstbeschäftigungen hat sich aber immer wieder eigentlich nur ergeben, daß systematische Rückwirkungen der Soziologie
Epilog
541
auf die Gesellschaft – leider? – seltener sind als man denkt. Und das oft genug auch zum Leidwesen übrigens der Autoren der Artikel und (Lehr-)Bücher der Soziologie, die gerne etwas mehr öffentliche Wirksamkeit ihrer Ideen sähe. Es gibt sicher auch Ausnahmen. Karl Marx, etwa, hat mit seinen, wennzwar, wie sich gezeigt hat, wohl falschen, aber theoretisch höchst scharfsinnigen soziologischen Analysen eine ganze Zeit lang nachhaltig gewirkt und die Menschheitsgeschichte für über hundert Jahre damit in Atem gehalten – wenngleich keineswegs im Sinne seiner Theorie des notwendigen Verfalls der Klassengegensätze und des Heraufkommens der Erlösung in der kommunistischen Gesellschaft. Aber das war die eine große Ausnahme. Und Karl Marx selbst hat sich alsbald darüber beklagen müssen, daß aus seinen Lehren etwas anderes herausgelesen und umgesetzt wurde, als er sich das in seinen soziologisch-wissenschaftlichen Theorien gedacht hatte. Für den Rest der Soziologie sieht das im Großen und Ganzen ganz anders aus. Denn was hat selbst der große Max Weber mit seinem Werk gesellschaftlich bewegt? Oder Georg Simmel? Leopold von Wiese? Talcott Parsons? Und René König oder selbst Ralf Dahrendorf noch, der es ja auch mit der F.D.P. versucht hat? Von verarmenden Autoren wie Warnfried Dettling, Ulrich Wickert oder Helmut Willke, zum Beispiel, ganz zu schweigen. Robert K. Merton, der zu recht Berühmte, hält sich selbst für so unbekannt und unbedeutend, daß er neuerdings Briefe mit dem Zusatz „The father of the Nobel-price winner“ zu unterzeichnen pflegt. Manchmal gelingt es zwar einigen Soziologen schon, mit griffigen Formulierungen und kompliziert klingenden Metaphern, oft auf sehr tönernen empirischen und theoretischen Füßen freilich, das Zeitgefühl einer breiteren Öffentlichkeit zu treffen, so daß die nun erst recht meint, die Dinge lägen wirklich so: Die Formeln von der „skeptischen Generation“ oder von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ von Helmut Schelsky, die der „Risikogesellschaft“ von Ulrich Beck oder die der „Constitution of Society“ und die der „reflexiven Moderne“ von Anthony Giddens haben so durchaus auch wieder in ihre jeweilige Gesellschaft hineingewirkt – das aber nur, weil, wie bei Karl Marx, offenbar die Zeit reif dafür war.
Die meiste Arbeit tut die Soziologie inzwischen, Gott sei Dank, im Verborgenen. Und sie beeinflußt den Gang der Dinge weniger durch ihre Spekulationen und „Gesellschaftstheorien“, sondern, wenn überhaupt, mit ihren vielen Informationen über das auch ohne sie so ablaufende soziale Geschehen. Das mag die Feuilletonschreiber von FAZ und TAZ und FR und SZ und ZEIT, etwa, nicht zufrieden stimmen, die der guten alten Zeit der Soziologie nachtrauern, als die noch ebenso leicht verständliche wie tief und geheimnisvoll klingende philosophische Formeln von sich gab, die aber nicht viel an Erklärung und deshalb auch nicht viel an wirklicher Aufklärung enthielten, sondern oft genug nichts als nur mühselig verborgene Ideologie. Dazu kommt ein Umstand, den gerade die Soziologie kennen und ernstnehmen müßte: Soziologisch beachtlich und theoretisch interessant sind vor allem diejenigen Vorgänge, die von ihrer ihr eigenen strukturellen Situationslogik so gefangen sind, daß kein „Begriff“ der Gesellschaft, keine „soziologische Aufklärung“, keine „Kommunikation“ etwas daran zu ändern vermöchte. Soziologische Konzepte der Selbstbeschreibung der Gesellschaft sind, so ist zu vermuten, als „Ideen“ eher der Überbau als die Basis der gesellschaftlichen Prozesse, und sie „wirken“ nur, wenn die grundlegenden Tendenzen der Gesellschaft dazu passen. Die Konzepte folgen den Strukturen – und eben nicht umgekehrt. Über ihre wissenschaftliche Triftigkeit entscheidet die öffentliche Wirkung der soziologischen Konzepte ohnehin nicht. Gott sei Dank, sollte man fast sagen. Wir wissen inzwischen beispielsweise nur allzu gut, wann und warum ethnische Konflikte entstehen (vgl. u.a. Kapitel 12 oben in diesem Band
542
Sinn und Kultur
warum ethnische Konflikte entstehen (vgl. u.a. Kapitel 12 oben in diesem Band dazu). Aber sie werden, auch weil dahinter ganz und gar reale Strukturen und Pfadabhängigkeiten zu stehen pflegen, durch keine Selbstbeschreibung und durch kein „Framing“ interessierter Eliten in ihrer Konstitution und Dynamik in Gang gesetzt oder aufgehalten, je nachdem, wenn die materiellen und institutionellen Bedingungen entsprechend sind. Und das Konzept der sozialen Klasse von Karl Marx konnte wohl seine politische Wirkung nur deshalb haben, weil dahinter ganz „reale“ gesellschaftliche Strukturen standen, die es auch ohne Karl Marx und seine spezielle Klassentheorie, ja sicher auch ohne jede „Soziologie“ als Beobachter gegeben hätte.
Kurz: Die Gesellschaft mit ihren Strukturen ist keineswegs eine bloße Konstruktion ihrer Beobachter, und keineswegs immer sind die Soziologie und ihre Produkte für die Selbstbeschreibung, die Selbstbeobachtung und für die „Konstruktion“ der Gesellschaft bedeutsam. Die ohne Zweifel im Prinzip richtige Beobachtung, daß die soziologische Beobachtung der Gesellschaft ein Teil der Konstitution und der Konstruktion der Gesellschaft sein kann, liefert keinerlei Grund, die Möglichkeiten einer erklärenden soziologischen Theorie der Gesellschaft und der damit zusammenhängenden Vorgänge nicht zu nutzen. Und es ist daher schon gar kein Grund, stattdessen die Zuflucht bei begrifflichen Monströsitäten, terminologischen Akrobatenstücken und wohlfeilen modischen Formeln zu suchen, die mehr verschleiern und offen lassen als sie je an soziologischer Aufklärung zu leisten vermöchten. Die aufklärende informierte Selbstbeobachtung der Gesellschaft ist, wir glauben: nur, über eine angemessene Erklärung, über eine soziologische Erklärung möglich. Und zwar nach den dargestellten Regeln dieser Kunst. Die Soziologie hat, so möchten wir schließen, überhaupt keinen Grund, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen. Sie lebt eben nicht notwendigerweise in einer Art von Schattenreich zwischen „richtiger“ Wissenschaft und Literatur, etwa weil man glaubt, daß es wegen des „Sinns“ des Handelns, wegen der „Konstruktion“ der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die Menschen und wegen der möglichen „Refexivitität“ der soziologischen Ergebnisse dort keine richtigen Erklärungen geben könne. Da waren Karl Marx, Emile Durkheim und Max Weber, sowie Robert Merton, um nur einige der Riesen unseres Fachs zu nennen, ganz anderer Meinung. Für sie war die Soziologie ganz ohne Frage eine „richtige“ Wissenschaft. Die „Grundlagen“ sollen auch dabei helfen, daß sich das wieder etwas mehr herumspricht in diesen Zeiten des postmoderenen Geschwafels – nicht nur in der Soziologie.
Register
Agenda Setting 513f. AGIL-Schema 59ff., 62ff., 70f. Akkulturation 372 Alltagshandeln 140ff. Andere signifikante 355f. generalisierte 355f. Anspruch 437 Anzeigen 92f. Aufmerksamkeit 109, 126, 219ff. Aushandeln 514f. Autopoiesis 490, 493ff. Bedeutung 79ff., 86ff. Beeinflussung, soziale 449ff. Bewußtsein 106ff., 109f., 219ff. moralisches 366f., 388ff. Bezugsgruppe 432ff. Konzept der 438ff. und Mitgliedschaftsgruppe 438f. als Vergleichsgruppe 441, 445ff. als Beeinflussungsgruppe 441f., 449ff. als Identifikationsgruppe 442f. als Aspirationsgruppe 442f., 455ff. Wahl der 444f. Bezugskategorien 443f. Bezugsperson(en) 373f., 443f. Bezugsrahmen 1, 28ff., 30f., 137ff., 165f., 273ff. Coming out 353f. Crosspressure 450f. Crowding out 304f. Definition der Situation 3ff., 61f., 150ff., 331ff. kollektive 8f. Deprivation, relative 12ff., 433f., 436f. Dilemma des Utilitarismus 36ff., 38f. Diskurs 318f.
Dissonanz, kognitive 324 Drehbuch, soziales 28ff. Effekt, autokinetischer 474ff. Einstellung Konzept der 239ff. Konsistenzmodell der 242, 250f., 257 und Verhalten 243f. und die Theorie des überlegten Handelns 245ff., 250f., 257 und die Theorie des geplanten Verhaltens 248 MODE-Modell der 251ff. Empathie 105f. Enkulturation 372 Entwicklung 384ff., 388ff. Erkenntnistheorie, evolutionäre 229ff. Ethik Gesinnungs- 326f. Verantwortungs- 326f. Ethnomethodologie 119, 171f., 173ff. Exhaustion 300f. Fragilität 189 Frame(s) 262f., 267f. Framing 17ff., 153f., 259ff. soziales 303ff., 496ff., 499, 509f. Re- 274f. Selbst- 306f. und Handeln 291ff. Fremder 482ff. Frustration, relative 433f. Geist 106ff. Gemeinschaft und Gesellschaft 60f. Gesellschaft 428 Geste(n) 79, 96ff., 101 -vokale 101 Gewohnheit(en) 249 Gründe 316f.
560 Gruppe(n) 145f. -bildung 465ff. -druck 465ff., 480ff. Bezugs- 14ff. soziale 415ff. als Ingroup 417 als Outgroup 417 als Peergroup 417f. formelle 419f. informelle 419f. Klein- 420 als Dyade 421 als Triade 421 latente 421f. privilegierte 421f. intermediäre 421f. Primär- 412ff., 422f., 431f. Sekundär- 422f. als soziales System 423ff. Gruppenleistung vom Typ des Bestimmens 474ff., 527ff. Haltung 102f. Handeln, soziales 162ff. Handlungsentwurf 120f. Handlungslinie 91f. Handlungssystem, allgemeines 65ff., 70f. Heuristik 254, 266 Horizont der Welt 117ff. Human Condition 71ff. Idealisierung(en) 142, 192f. Identifikation 342, 352, 363f., 374f., 406f., 452ff. Identität 24f., 29, 110f., 335ff. und Institution 345ff. und Interaktion 355ff. Dimensionen der 336ff. nach Mead 336ff. soziale 341f., 345 kategoriale 342, 345 -spolitik 354f. kollektive 342, 345 personale 342f., 345 Personen- 342, 345 individuelle 343ff. und Biographie 356f. Ich- 343f., 345, 365f. persönliche 342f., 345 Theorie der sozialen 452f.
Register
Impulshemmung 108 Indexikalität 94f., 175f., 178f. Information 160ff. -sverarbeitung 266 Ingroup 417 Institution 149f. Institutionalisierung 58, 68f. Interaktion 88 Basisregeln der 191f. symbolische 85ff., 490ff. Interesse, konstitutionelles 320f. Internalisierung 58, 68f., 363f., 374f. Interpenetration 58, 490ff. Interpretation 79ff., 88f., 90ff. dokumentarische 93ff., 182ff. Intersubjektivität 167f. Karriere, kriminelle 195ff. Kategorien des Verstandes 224ff. Kategorisierung, soziale 471ff., 505f. Kognition 205ff. Kohärenz 185f. Kollektivismus 534ff. Kommunikation 21ff., 406f. Kommunitarismus 518ff., 536f. Konstitution soziale 8ff., 168f., 177, 305f., 397ff., 409f., 489ff., 496ff. systemische 409f. Konstruktion der Wirklichkeit 89f., 181f., 187f. Konstruktivismus 537ff. soziologischer 537 erkenntnistheoretischer 537f. systemtheoretischer 538ff. Radikaler 231ff., 537f. Konvergenzthese 49f. Konversion 300ff. Krisenexperiment 22f., 172f. Kultur 1, 145f. Labeling approach 194ff. Lebenswelt 140f., 395ff. Konzept der 402ff. Legitimation 298ff., 324 Lernen 69f., 372f. Looking Glas Self 348ff. Markt 425 Mikropolitik 515f. Minimal Group Design 471ff. Modell 268ff., 281ff.
Register
Modell der soziologischen Erklärung 6 Modus 268ff., 281ff. Möglichkeit offene 126f. problematische 129ff. Norm(en) 35f. Organisation 427f. Orientierung 51ff., 205ff., 219 normative 35ff. des Handelns 52 motivationale 53f. Wert- 54f. kollektive 503f. Outgroup 417 Paradigma normatives 80ff. interpretatives 80ff., 85ff Pattern variables 59ff., 64f. Peergroup 417f. Permeabilität 189 Perspektiven, Verschränkung der 97f., 104f. Phänomenologie 119 Rationalisierung 300f., 324 Rationalismus 226f. Rationalität 109f., 331ff. Reflexion 95f., 275f., 293f. Reflexivität 182ff. Relevanzstruktur 157ff. Religion 299f. Routine(n) 150, 295ff. Satisficing 254 Scheidung 284ff. Segregation, horizontale 459f. vertikale 460ff. Selbst 336ff., 340f., 345, 350ff. Verfassung des 358ff. multiples 358f. -bewußtsein 377 -bindung 364f. Organisation des 362f. Selbstmord 15ff. Sensualismus 225f. Sinn 1ff., 103f., 179ff. -zusammenhang 147 Situation(en) komplexe 84f. wiederkehrende 111ff.
561 Skript(e) 262f., 267f., 291f. Sozialbehaviorismus 107f. Sozialisation 69, 371ff. antizipatorische 456ff. Selbst- 391f. primäre 373 sekundäre 373, 378f. kognitive 371, 375f. und Interaktion 391 moralische 371 Symbol(e) 1ff., 79ff., 96ff., 352f. Sympathie 105f. System -theorie 36 signifikante 103 personales 56, 65ff., 69 soziales 56f., 65ff., 69, 499f. kulturelles 57f., 65ff., 69, 499f. organismisches 69 psychisches 499f. des Handelns 43ff. Theorie des Handelns 36ff. voluntaristische ~ 40ff., 45ff., 76ff. Tiefengrammatik 192 Typen des Handelns 307ff. Typisierung 143f. Übergangsriten 381f. Um-zu-Motiv 124, 163f. Unbedingtheit 283f., 315f. Unit act 40ff., 45 Vergleich, sozialer 445ff. Verstehen 162ff. Wahrnehmung 206ff. Hypothesentheorie der 214ff. Determinanten der 215ff. Geschlechts- 217ff. Weil-Motiv 125f., 163f. Wert(e) 27 Wertrationalität 311ff. Wiedererkennung 213 Willensschwäche 359ff. Wissenssoziologie 324f. Wollen 133ff. Zeit 10ff. Zusammenkunft 425f. Zweifel 127f., 152f.
Gesamtinhaltsverzeichnis
Band 1: Situationslogik und Handeln Vorwort
IX
Einleitung: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und das Modell der soziologischen Erklärung 1. 2.
Situation und Situationsanalyse Das Thomas-Theorem
1 29 59
Der Reiter und der Bodensee
71
3.
75
Die Objektivität der Situation 3.1 3.2 3.3 3.4
Soziale Rollen und die Identifikation mit der Situation Handeln und Nutzenproduktion Soziale Produktionsfunktionen Kulturelle Ziele und institutionalisierte Mittel
77 84 91 110
Exkurs über die Ehre
115
4.
Interesse und Kontrolle
125
4.1 Interesse 4.2 Kontrolle 4.3 Kooperation und Konflikt
126 140 145
Die „Definition“ der Situation
161
5.
Exkurs über die sechs Lesarten des Thomas-Theorems
170
564 6.
Anhang
Handeln
177
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9
177 190 194 201 211 215 224 230 241
Verhalten und Handeln Handeln und „Handlung“ Subjektiver Sinn Die Logik des Handelns Doppelte Hermeneutik Objektive Rationalität? Typen des Handelns Optimierung und Orientierung Die „Logik der Selektion“
Exkurs über die unbegründete Furcht vor Vernunft und Eigennutz
244
7.
Die Wert-Erwartungstheorie
247
7.1 Das Grundmodell der WE-Theorie 7.2 Drei Beispiele 7.3 Spezielle Situationen
251 259 275
Die Logik der subjektiven Vernunft
295
8.1 8.2 8.3 8.4
296 301 313 340
8.
9.
Rationales Handeln Anomalien und Paradoxien Homo oeconomicus? Homo oeconomicus! Subjektive Vernunft und begrenzte Rationalität
Lernen
359
9.1 9.2 9.3 9.4
359 362 370 376
Grundkonzepte der Lerntheorie Zwei Mechanismen Einzelheiten und Regelmäßigkeiten Lernen und Handeln
10. Die „Logik“ der Situation 10.1 Das Konzept der Situationslogik 10.2 Was ist „logisch“ an einer Situation? 10.3 Soziologische Gesetze und die „Wirkung“ von Variablen
387 387 391 399
Anhang
565
Exkurs über das Verhältnis von Brückenhypothesen und Handlungstheorien
403
10.4 Die – oft verzwickte – Logik der unintendierten Folgen
405
11. Der Kontext des Handelns 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6
Bringing Society Back In! Kontextanalyse Mehrebenenanalyse Merkmale sozialer Umgebungen Die Erklärung der Kontexteffekte Die Bedeutung der Nahumwelt
12. Soziale Klassen 12.1 Klasse und Klassenlage Exkurs über Typenbildung 12.2 Klassenbewußtsein und Klassenhandeln 12.3 Klassenkonflikt, Klassenkampf und die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse Literatur Register
415 415 426 435 442 446 457 463 465 475 483 490 495 507
566
Anhang
Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft Vorwort 1. 2.
3.
4.
VII
Emergenz und Transformation Akteure und soziale Systeme
1 31
2.1 Soziale Systeme 2.2 Kollektive und Akteurskonstellationen 2.3 Das System der Gesellschaft
31 47 51
Soziale Differenzierung
63
3.1 Funktionale Differenzierung 3.2 Kulturelle Differenzierung 3.3 Normative Differenzierung
64 79 97
Soziale Ungleichheit
113
4.1 Gesellschaftliche Lagen 4.2 Klasse und Stand 4.3 Soziale Schichtung
118 132 143
Exkurs über die Frage, ob die sogenannte Individualisierung überhaupt eine ist
163
4.4 Die neue soziale Ungleichheit 4.5 Statuszuweisung und Mobilität 4.6 Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen
166 175 214
Inklusion und Exklusion
233
5.
Exkurs über die unvermutete Entdeckung der leibhaftigen Menschen und des Elends in der Welt durch die soziologische Systemtheorie
254
6.
261
Integration
Exkurs über Integration, Assimilation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft
285
Anhang
7.
Sozialer Wandel
307
7.1 7.2 7.3 7.4
309 329 339 349
Strukturen als Prozesse „Gesetze“ des sozialen Wandels? Die Logik des sozialen Wandels Reproduktion und Evolution
Exkurs über die Ko-Evolution von Basis und Überbau am Beispiel der protestantischen Ethik und des Geistes des Kapitalismus und über die Lehren, die man daraus für die Erklärung des sozialen Wandels ziehen kann
8. 9.
567
371
7.5 Die Soziologie des sozialen Wandels
376
Soziologie und Geschichte Die Gesellschaft der Menschen
399 425
9.1 Die Strukturierung der Gesellschaft 9.2 Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft
426 435
Exkurs über die Frage, wie sinnvoll es ist, „Typen“ der Gesellschaft zu unterscheiden 9.3 Gemeinschaft und Gesellschaft
459 471
Exkurs über Entfremdung
477
Literatur Register
483 497
568
Anhang
Band 3: Soziales Handeln Vorwort 1. 2.
VII
Soziale Situationen Strategien und Spiele
1 25
Exkurs über das Spiel
51
3.
Strategische Situationen
55
3.1 Koordination 3.2 Soziale Dilemma-Situationen 3.3 Konflikte
59 72 90
4. 5.
6.
7.
Ordnungsbedarf Soziale Ordnung
109 117
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
118 127 134 148 160
Arbeitsteilung: die Ordnung der Interessen Der Krieg aller gegen alle Die Evolution der Kooperation Interesse und Moral Die Ordnung komplexer Gesellschaften
Kooperation und Produktion
165
6.1 Eigenschaften von Ressourcen 6.2 Güterarten 6.3 Gesellschaftliche Produktion
166 168 194
Kollektives Handeln
199
Mehr als Archimedes
224
8.
Interaktion
227
8.1 Koorientierung
229
Exkurs über Thomas C. Schelling und die Klugheit der Frauen 8.2 Symbolische Interaktion
239 243
Anhang
8.3 Kommunikation
569 247
Exkurs über die Frage, ob sich Kommunikationen als Kette von Handlungen rekonstruieren und erklären lassen
295
9. Soziale Beziehungen 10. Transaktion
299 305
10.1 10.2 10.3 10.4
Die Transaktion des Tausches Konvertibilität Die Transaktion von Rechten: Autorität und Einfluß Medien der Transaktion
308 330 334 338
Exkurs über ein immer noch ungelöstes Rätsel: Der Kula-Ring
346
11. Die Organisation desTausches
353
11.1 Der generalisierte Tausch 11.2 Reziprozität
353 364
Exkurs über das Verhältnis von Pflicht und Vernunft 11.3 Transaktionssysteme
372 376
12. Macht
385
Exkurs über die Frage, ob die Macht ein Medium ist
411
Literatur Register
415 423
570
Anhang
Band 4: Opportunitäten und Restriktionen Vorwort 1.
VII
Der Raum der Möglichkeiten
1
Die Weissagung der Deutschen Bank
20
2.
Angebot und Nachfrage
23
2.1 Die Nachfrage 2.2 Einkommen und Preise 2.3 Das Angebot
25 31 34
Die Produktion des Nutzens
59
3.1 Konsum als Produktion 3.2 Nutzenmaximierung 3.3 Präferenzen
59 71 84
3.
4. 5. 6. 7.
8.
Verhandlungen Tauschgleichgewicht Das System des Marktes Netzwerke und Beziehungsstrukturen
95 131 141 171
7.1 Soziale Einheiten und Beziehungen 7.2 Die Einbettung der Akteure und die Struktur der Beziehungen 7.3 Prestige, Macht und strukturelle Autonomie 7.4 Cliquen und strukturelle Äquivalenz 7.5 Die Entstehung und die Wirkung von Netzwerken
174 184 196 199 205
Das Kapital der Akteure
209
8.1 8.2 8.3 8.4
213 214 225 232
Ökonomisches Kapital Humankapital Kulturelles Kapital Institutionelles Kapital
Anhang
8.5 Politisches Kapital 8.6 Soziales Kapital
571 234 235
Exkurs über soziale Räume und über die Frage, ob nicht letztlich doch das Geld die Welt regiert
265
9.
Die stumme Macht der Möglichkeiten
269
Beispiel 1: Heterogenität, Homogenität und die Beziehungen zwischen Gruppen Beispiel 2: Segregation Beispiel 3: Kritische Massen und Mobilisierung Beispiel 4: Schwellenwerte und die Eigendynamik von Kollektiven Beispiel 5: Netzwerkstrukturen und die Ausbreitung von Neuerungen Beispiel 6: Toleranz und Koexistenz Beispiel 7: Die Dynamik ehelicher Beziehungen Beispiel 8: Der selbsterzeugte Untergang
270 278 282 290 299 309 318 327
Exkurs über die Methode der abnehmenden Abstraktion und über das Verhältnis von Soziologie, Psychologie und Ökonomie
337
Literatur Register
353 361
572
Anhang
Band 5: Institutionen Vorwort 1.
IX
Der Begriff der Institution
1
1.1 Was ist eine Institution?
1
Exkurs über die sog. totale Institution
2. 3.
4.
12
1.2 Warum gibt es Institutionen? 1.3 Wie entstehen Institutionen?
14 38
Institutionelle Analyse Soziale Normen
45 51
3.1 3.2 3.3 3.4
51 57 69 92
Eigenschaften von Normen Normen als soziale Regeln Erwartungen und Ansprüche Die Logik der Angemessenheit
Geltung, Legitimität und Herrschaft
97
Der Rat der Ratten
109
5.
Sanktion und Sanktionierung
111
5.1 Arten von Sanktionen 5.2 Die Wirkung von Sanktionen 5.3 Sanktionierung
111 115 119
Eine kurze Zusammenfassung: Normstrukturen und die Mechanismen der Normgeltung
128
6. 7.
Abweichendes Verhalten Soziale Rollen
133 141
7.1 7.2 7.3 7.4
143 159 166 175
Position und Rolle Homo Sociologicus Rollenkonflikte Rollendistanz
Anhang
7.5 Rollenambiguität 7.6 Rollenhandeln
573 184 186
Exkurs über die Frage, ob es eine Beziehung zwischen dem Typ des Rollenhandelns und den Strukturen der gesellschaftlichen Verhältnisse gibt
193
8.
Soziale Drehbücher
199
8.1 Skript und Schema 8.2 Wenn die sozialen Drehbücher versagen ...
199 212
Exkurs über die Liebe – oder: Was geschieht bei Lücken im sozialen Drehbuch? 8.3 Die Änderung der sozialen Drehbücher 8.4 Wir alle spielen Theater?
219 221 223
Formel 1 am Herd
233
9.
Organisation
237
9.1 Was ist eine Organisation? 9.2 Warum gibt es Organisationen und wie entstehen sie? 9.3 Die beiden Grundprobleme der Organisation: Kollektive Entscheidungen und die Verteilung des Ertrags 9.4 Organisationskultur 9.5 Das Überleben und der Wandel von Organisationen 9.6 Die Organisation als Handlungsfeld
238 249 256
Exkurs über den Begriff der Figuration 9.7 Organisationen als „rationale“ soziale Systeme
262 264 269 281 289
Exkurs über die Bindestrich-Soziologien am Beispiel von Organisations-Soziologie und Verwaltungswissenschaft
299
10. Die Entstehung von Institutionen
303
10.1 10.2 10.3 10.4
Drei Beispiele – und eine Feststellung Normbedarf Die „effektive“ Einrichtung von Normen Die Objektivation von Institutionen
304 312 317 320
574
Anhang
10.5 Fundierung und Durchsetzung
326
Exkurs über die Behauptung, bei der Entstehung von Ordnungen sei aller Anfang leicht
329
11. Legitimation
337
11.1 11.2 11.3 11.4
Nomisierung Verständigung Der Schleier des Nichtwissens Legitimation durch Verfahren
12. Institutioneller Wandel 12.1 Arten des institutionellen Wandels 12.2 Evolutionärer Wandel 12.3 Die Revolution der institutionellen Ordnung Literatur Register
338 346 354 359 367 368 371 380 401 413
Anhang
575
Band 6: Sinn und Kultur Vorwort
IX
Einführung: Was ist Kultur? Oder: Vom Sinn der Grenzen und von den Grenzen des Sinns
1
Teil A: Orientierung und Interpretation 1.
Das System der normativen Orientierung
35
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
36 40 51 59 65
Das Dilemma des Utilitarismus Die voluntaristische Theorie des Handelns Orientierung und Systeme Die Pattern Variables und das AGIL-Schema Das allgemeine Handlungssystem
Exkurs über Talcott Parsons und andere, die nicht wußten oder immer noch nicht wissen, was eigentlich eine Handlungs-„Theorie“ oder eine „Theorie“ überhaupt ist und was sie erfordert
75
2.
79
Symbole, Bedeutung und Interpretation 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Das normative und das interpretative Paradigma Der Prozeß der Interpretation Gesten und Symbole Geist und Bewußtsein Wiederkehrende Situationen
80 90 96 106 111
Exkurs über das Verhältnis von Nutzen, Normen und Bedeutung
114
3.
Der Horizont der Welt
117
3.1 3.2 3.3 3.4
120 140 150 162
4.
Das Wählen zwischen Handlungsentwürfen Alltagshandeln Rahmen und Rezepte Soziales Handeln und Verstehen
Die Zerbrechlichkeit des Sinns
171
576
Anhang
Exkurs über den Labelling Approach
194
Teil B: Die Konstitution des Sinns Eine kurze Zwischenbemerkung
203
5.
205
Kognition und Orientierung
Exkurs über die Kategorien des Verstandes Exkurs über den (Radikalen) Konstruktivismus
224 231
6.
Die „Einstellung“ auf die Situation
239
7.
Framing: Die Selektion des Bezugsrahmens
259
7.1 Framing: Die grundlegenden Vorgänge 7.2 Die Selektion von Modell und Modus 7.3 Der Wechsel des Bezugsrahmens
261 268 273
Exkurs über die Frage, wie es denn möglich wäre, sich zu entscheiden, nicht zu entscheiden 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8 7.9
Die Interaktion von Modell- und Modus-Selektion Framing und Handeln Einige spezielle Vorgänge Die Typen des Handelns: Noch einmal Wertrationalität Towards a General Theory of Action?
278 281 291 297 307 311 329
Exkurs über die „Rationalität“ bei der „Definition der Situation“
331
8.
Identität
335
8.1 Dimensionen der Identität 8.2 Identität, Institution und Interaktion 8.3 Die „Verfassung“ des Selbst
336 345 358
Exkurs über Harald Schmitt, die Titanic und die Suche nach Moral und Identität in der Moderne
368
Anhang
9.
Sozialisation
577 371
10. Das System der Lebenswelt
395
Exkurs über einen in diesem Zusammenhang vielleicht etwas überraschenden Fall: Die Lebenswelt des Schützengrabens
412
11. Soziale Gruppen
415
11.1 11.2 11.3 11.4
Das Konzept der sozialen Gruppe Die Gruppe als soziales System Bezugsgruppen Gruppenbildung und Gruppendruck
416 423 432 465
Exkurs über die Fremden
482
12. Soziale Konstitution
489
12.1 Drei Ansätze: Interpenetration, symbolische Interaktion und Autopoiesis 12.2 Soziale Konstitution als soziales Framing 12.3 Die Eigendynamik des sozialen Framings
490 496 509
Exkurs über den Kommunitarismus Exkurs über einen besonderen Fall der Bestimmungsleistung der Gruppe
518 527
Epilog
531
Literatur Register Anhang
543 559 563
Gesamtregister
Abstraktion, abnehmende I 21f.; IV 337ff. Abweichung, abweichendes Verhalten II 92f., 101ff.; IV 133ff. Adjustierung I 448ff. Affekte I 318f. Agenda Setting VI 513f. Agent(en) V 242f. Aggregate II 48ff. Aggregation Logik der I 16ff., 401f., 405ff., 419; II 1ff. Aggregatpsychologie I 419ff.; II 2 AGIL-Schema II 72, 384ff.; VI 59ff., 62ff., 70f. Akkulturation VI 372 Akrasia I 307f., 312 Akteur(e) I 37ff. kollektive II 48f. korporative II 48f. Akteurskonstellation II 47ff. Aktivitätssysteme, situierte II 44; V 264ff. Allgemeinwohl III 152 Alltagshandeln VI 140ff. Alltagstheorie(n) I 205f. Alternative(n) I 44, 251f. Altruismus, negativer III 102 Analyse, institutionelle I 25f. Anarchie III 103f. Andere(r) signifikante(r) VI 355f. generalisierte(r) I 47f.; VI 355f. Angebot IV 23ff., 34ff. Gesetz des IV 34f., 40f. Grenze des IV 38f. -sfunktion IV 41f., 43f. Marginal- IV 39f.
Anomia I 172 Anomie I 172; II 100f. Anomie-Schema I 489; II 98ff. Anreize, selektive III 214ff. Anspruch, Ansprüche I 144; V 69, 74ff., 77ff., 84ff., 87ff.; VI 437 Anspruchsniveau III 367 Anzeigen VI 92f. Arbeitsteilung II 64f.; III 118ff., 161; V 143f., 251ff. Aspirationen II 205ff. Aspirationsniveau, Anspruchsniveau V 84ff. Assimilation II 285ff., 287ff., 338, 294f., 304ff. Assoziation II 40 Assurance-Game III 81ff., 85ff., 89 Auferlegtheit I 282f. Aufmerksamkeit I 326f., 332f.; VI 109, 126, 219ff. Ausbeutung der Großen durch die Kleinen III 210f. Ausgaben IV 5ff. Ausgleichszahlung(en) IV 112ff. Aushandeln VI 514f. Auszahlung III 36 Auszahlungsfunktion III 36f. Auszahlungsraum III 39f. Autonomie III 8ff., 327f. Autopoiesis VI 490, 493ff. Autorität III 334ff. disjunkte III 336f. konjunkte III 336f. Axiom der Transitivität I 298f. der Unabhängigkeit I 299 der Vergleichbarkeit I 298f. Backwards Induction III 138ff.
580 Bastardtheorie(n) I 455f.; IV 343ff. Battle of the Sexes III 97f. Baumfalke, der I 473ff. Bedeutung VI 79ff., 86ff. Bedingungen I 49f. äußere I 36, 51ff., 67, 166 innere I 54ff., 162f., 166 Bedürfnis(se) I 92ff.,126f., 134; II 89ff., 479 Hierarchie der I 128f. Beeinflussung, soziale I 454; VI 449ff. Behaviorismus I 182f. Neo- I 183 Belohnung I 361 Bestrafung I 361 Bewegung II 48 alte soziale II 106 neue soziale II 106f. Protest- II 46 soziale II 46, 104ff. Bewertungen I 44ff., 253f. Bewußtsein VI 106ff., 109f., 219ff. moralisches I 55; VI 366f., 388ff. Beziehung(en) IV 171ff. formale Eigenschaften von IV 177f. gerichtete IV 178f. inhaltliche Dimensionen von IV 180 multiplexe IV 179 reziproke IV 178, 188 ungerichtete IV 179 uniplexe IV 179 -skapital IV 241ff., 254f. -sstrukturen IV 171ff. Zwischengruppen- IV 270ff., 309ff. Beziehung(en), soziale II 14, 32; III 16, 18f., 22, 299ff.; V 54 Bezugsgruppe(n) I 410f., 457ff.; II 206f., 427; VI 432ff. Konzept der VI 438ff. und Mitgliedschaftsgruppe VI 438f. als Vergleichsgruppe VI 441, 445ff. als Beeinflussungsgruppe VI 441f., 449ff. als Identifikationsgruppe VI 442f. als Aspirationsgruppe VI 442f., 455ff. Wahl der VI 444f. Bezugskategorien VI 443f. Bezugsperson(en) VI 373f., 443f.
Anhang
Bezugsrahmen I 53f., 103f., 165f., 355; II 427; VI 1, 28ff., 30f., 137ff., 165f., 273ff. Bias Repräsentativitäts- I 312 Verfügbarkeits- I 312 Bildung IV 214ff. Bindestrich-Soziologie(n) V 301ff. Biographie I 162; II 127 Brauch V 59f. Brückenhypothesen I 15f., 76f., 261f., 268f., 399f., 403ff., 481f. Budget I 89; IV 9f., 25 -gerade IV 10f. -menge IV 9f. -restriktionen IV 9f. -ungleichung IV 9f. Chaos, deterministisches II 349 Chicago-Schule I 34 Chicken-Game III 81ff., 89 Cleavages I 113ff., 146 Club III 187ff. Coase-Theorem V 22ff., 25 Cobb-Douglas-Funktion IV 49, 76 Cobweb-Theorem IV 145ff. Code I 69, 103, 161, 165f., 228; III 258f., 282f. Coming out VI 353f. Commitment III 360ff. Commodities IV 60ff. Comparison Level III 403ff. conditio humana I 93f. Corporate Identity V 264f. Cournot-Effekte II 413 Crosspressure IV 277f.; VI 450f. Crowding out VI 304f. Dämpfung II 350 Defektion, unbedingte III 33, 141ff. Definition der Situation VI 3ff., 61f., 150ff., 331ff. kollektive VI 8f. objektive II 427, 434 subjektive II 427, 434 Definition, partielle II 20f. Dekret II 72; III 69f.; V 38 Denken, prälogisches I 218ff. Denkfehler I 210 Dependenz III 8ff., 322ff.
Anhang
Deprivation, relative III 103; VI 12ff., 433f., 436f. Desintegration II 280f. deviante Alternativen II 47 Devianz II 100f. Devianz-Bereich(e) II 46, 97f., 101ff. Differenzierung II ethnische II 290ff. funktionale I 12; II 64ff., 71ff., 242f., 246f., 385f. kulturelle II 79ff. normative II 97ff. soziale II 51ff., 63ff., 109, 244ff. und Integration II 78 Diffusion IV 299ff. Dilemma des Utilitarismus VI 36ff., 38f. Dilemma-Situation I 157; III 14, 22, 56ff., 72ff., 110f., 113 Diskriminierung II 299 Diskurs VI 318f. Dissens III 230 Dissonanz, kognitive V 81f.; VI 324 Distanzierung, soziale II 298f. Distinktion I 123; II 82ff. Drehbuch, soziales V 10f., 63, 199ff.; VI 28ff. Änderung des V 221ff. Eigenschaften von V 204ff. Entstehung von V 212 und kognitive Repräsentation V 207f. und Verhalten V 207 Versagen von V 212ff. Wahl eines V 210f. Drohpunkt III 403ff.; IV 99f. Drohungen I 330f. Dyopol IV 131 Edgeworth-Box IV 95ff. Effekt, autokinetischer VI 474ff. Effekte Besitztums- I 301f., 311 Certainty- I 311f. externe III 11ff., 168 Framing- I 312, 305ff., 333ff., 349ff. individuelle II 1ff., 16ff. Opportunitätskosten- I 312 Referenzpunkt- I 312 Sunk-Cost- I 311 unintendierte I 25, 390f.
581 Effektgesetz I 370ff. Effizienz I 39ff., 88, 90f., 99f. Egoismus, rationaler III 27ff. Ehre I 115ff.; II 140f. Eigendynamik II 361ff., 431; IV 290ff., 327ff. Eigennutz I 244f. Eigenschaften askriptive I 140f. erworbene I 140f. Einbettung, soziale I 19f.; IV 184ff. Eindruckskontrolle V 180ff., 224ff. Einfluß III 334ff., 407f. Einkommen IV 4ff., 12ff., 25, 31ff. soziales IV 243ff. -sänderungen IV 16ff., 30f. -seffekte IV 16f. -sexpansionspfad IV 82f. Schatten- IV 65f. Einstellung(en) I 36, 48, 67f. Konzept der VI 239ff. Konsistenzmodell der VI 242, 250f., 257 und Verhalten I 59ff.; VI 243f. und die Theorie des überlegten Handelns VI 245ff., 250f., 257 und die Theorie des geplanten Verhaltens VI 248 MODE-Modell der VI 251ff. Emergenz I 413f.; II 2ff., 18 deskriptive II 4ff explanatorische II 4ff. von unten II 7ff. Emotionen I 354f. Empathie III 234f., 295; VI 105f. Engel-Kurve IV 82f. Enkulturation VI 372 Ensembles II 44; V 225ff. Entfremdung II 477ff.; V 37f. Enttäuschung(en) V 71f. Entwicklung VI 384ff., 388ff. Entwicklungsgesetze II 308 Erkenntnistheorie, evolutionäre VI 229ff. Erklärung genetische II 408f. H-O- II 19, 406ff. historische I 208f.; II 405ff. historisch-genetische II 410ff.
582 Modell der soziologischen I 1, 14ff., 494 rationale I 203f., 207ff. strukturtheoretische I 23 Tiefen- I 9, 22; II 9ff., 19 verstehende I 198f. Erleben I 163f., 193 Erlebnisse II 86f. Erlös IV 37f. Erreichen III 253f. Ertragsgebirge IV 45ff. Erwartung(en) I 44ff., 254ff.; V 69ff., 78ff. bei Ambiguität I 255, 291f. bei Risiko I 255, 264f., 289f. bei Sicherheit I 254, 264f., 289f. bei Unsicherheit I 255, 286ff., 290f. desiderative V 74f. -serwartungen V 72f. Erwerbsbeteiligung IV 68ff. Erzwingungsstab V 101 Ethik V 75ff. Gesinnungs- VI 326f. Verantwortungs- VI 326f. Ethnomethodologie I 70; III 227; V 215ff.; VI 119, 171f., 173ff. Etikettierung V 200f. EU -Gewichte I 256ff. -Theorie I 342ff. EV -Gewichte I 256 -Theorie I 342ff. Evaluation I 256 Evidenz I 197f. Evolution I 18; II 73ff., 307, 349ff., 356ff., 458f.; V 38f. biogenetische II 356f. der Kooperation III 134ff., 221f.; V 75f., 372ff., 380f. Ko- II 36, 359f., 371ff., 425 multilineare II 393f. soziokulturelle II 357f. unilineare II 393 evolutionäre Universalien II 388f. Exhaustion VI 300f. Exklusion II 52f., 233ff. Total- II 249f. -sverstärkung II 250ff.
Anhang
Expression II 85 Externalisierung V 324ff. Extinktion I 374 Fairneß V 107f., 358f. feasible set I 44; IV 3 Feedback IV 147ff., 151f., 327ff. negatives II 351 positives II 351 Fehlschluß individualistischer I 421f.; II 1 Mehrebenen- I 436 ökologischer I 416, 441 Populations- I 416, 440 Fertilität IV 68ff., 106ff. Figuration II 44; V 283ff. Figurationssoziologie V 283ff. Firma, Firmen V 29, 243 FJH-Hypothese II 200f. Föderation III 217 Fokalpunkt III 63ff., 67f., 109f., 113 Folgen, unintendierte I 25, 390f. Fragilität VI 189 Frame(s) I 305ff., 333ff.; VI 262f., 267f. Framing I 165, 173, 305ff., 333ff.;VI 17ff., 153f., 259ff. soziales VI 303ff., 496ff., 499, 509f. Re- VI 274f. Selbst- VI 306f. und Handeln VI 291ff. Fremder VI 482ff. Frustration, relative VI 433f. Frustrations-Aggressions-Hypothese I 188f. funktionale Imperative II 47, 67f. funktionale Sphäre(n) II 45, 68f. Funktionalismus, Strukturfunktionalismus I 7; II 355f. funktionalistische Schichtungstheorie II 221ff. Funktionsverlust II 66f. Gabe, Geschenk III 364ff., 370 Game III 53f. Ganzheit II 6f. Garantie(n) äußere V 99f. innere V 99f. Gebilde, soziale II 36f. Gefangenendilemma III 55ff., 72ff. Gegenkultur(en) II 46, 103f.
Anhang
Geist VI 106ff. Geld I 121; II 481f.; III 340ff. Geltung V 6ff., 97ff. Gemeinschaft und Gesellschaft II 471ff.; VI 60f. Gerechtigkeit II 230; III 368ff.; V 357f. Geschichte (und Soziologie) II 399ff. Gesellschaft II 1, 51, 425ff.; VI 428 Entwicklung der menschlichen II 435ff. Entwicklungsgesetze der II 308 funktional differenzierte II 283ff., 451ff. multiethnische II 291ff. multikulturelle II 285ff. segmentär differenzierte II 436ff. stratifikatorisch differenzierte II 440ff. Sub- II 281 Gesetze, soziologische I 399ff., 402 Gestalt I 365 Geste(n) III 244f., 295; VI 79, 96ff., 101 vokale III 247; VI 101 Gestenkonversation III 244f. Gewinnmaximierung IV 39f., 54f. Gewohnheit(en) VI 249 Gini-Index II 117f. Gleichgewicht II 353ff. funktionales II 355f. situationslogisches II 465ff. Globalisierung II 391 Grenzen des Wollens I 308, 312 Grenzertrag, abnehmender IV 35f., 48 Gründe I 209f. Gründe VI 316f. Gruppe(n) II 40ff., 427; VI 145f. Bezugs- II 206f., 427; VI 14ff. -druck VI 465ff., 480ff. formelle VI 419f. -größe III 211f. –bildung VI 465ff. informelle VI 419f. intermediäre III 213f.; VI 421f. Klein- III 207f., 217ff., 222ff.; VI 420 latente III 212; VI 421f. mobilisierte latente III 215 Primär- II 427; VI 412ff., 422f., 431f.
583 privilegierte III 212; VI 421f. Sekundär- VI 422f. soziale VI 415ff. -verhalten III 211 als Dyade VI 421 als Ingroup VI 417 als Outgroup VI 417 als Peergroup VI 417f. als soziales System VI 423ff. als Triade VI 421 Gruppenleistung vom Typ des Bestimmens VI 474ff., 527ff. Gut, Güter I 299 Assurance- III 186, 195ff. Chicken- III 186, 195ff. Club- III 186ff., 195ff. Kollektiv- III 114f., 174ff., 195ff. Kommunal- III 170ff., 195ff. Kooperations- III 182ff., 195ff. öffentliches III 176ff., 195ff., 200f. Positions- I 146; III 166f., 191ff. Privat- III 166, 169f., 195ff. soziales III 166f., 195ff. Habit(s) V 63 Habitualisierung V 323f. Habitus I 470ff.; II 82ff. Haltung VI 102f. Handeln I 40, 84ff., 177ff., 181, 190ff., 377ff. affektuelles I 224ff. covertes I 68, 164f., 178 dramaturgisches I 239f. kollektives III 17, 181, 199ff., 204ff. kollektives ~ zweiter Ordnung III 216 kommunikatives I 239ff.; III 110, 264f.; V 350ff. kreatives I 237f. nicht-soziales II 32 normatives I 235f., 239f. overtes I 165f., 178 rationales I 296ff. richtigkeitsrationales I 215 Routine- I 327ff. situationsgerechtes I 389f. soziale Bedingungen des kollektiven III 219ff. soziales I 167; II 32; III 3ff., 7, 15; VI 162ff.
584 strategisches I 239f.; II 32; III 16f., 22 subjektiv zweckrational rationales I 215 teleologisches I 239f. traditionales I 224ff., 327 Typen des I 224ff. wertrationales I 224ff. zweckirrationales I 215 zweckrationales I 215, 224ff. Handlung I 190ff. -slogik I 201ff. -sstrom I 190f. Handlungsentwurf VI 120f. Handlungsfelder II 44 Handlungslinie VI 91f. Handlungssystem, allgemeines VI 65ff., 70f. Handlungstheorie(n) I 16, 403ff. Hempel-Oppenheim-Schema I 204ff. Hermeneutik I 213 doppelte I 211ff.; V 68f. der natürlichen Lebenswelt I 212f. objektive I 203, 474 Hermeneutischer Zirkel I 482 Herrschaft I 141ff.; II 39, 219f.; III 69, 105ff., 113, 407f.; V 97ff., 104ff., 243 charismatische V 107 legitime V 106f. rationale V 107 traditionale V 106f. Heterogenität IV 271ff., 276f. Heuristik I 227; VI 254, 266 Hexerei I 221f. Hierarchie(n) III 217; V 30ff. Historismus II 406f. Historizismus II 409 Homans-Hypothesen I 183ff. Homo ludens III 52ff. homo oeconomicus I 313ff. homo sociologicus I 82ff.; V 159ff. Homöostase II 354 Horizont der Welt VI 117ff. Human Condition VI 71ff. Idealisierung(en) VI 142, 192f. Idealtypus I 478ff.; II 460ff. Identifikation(en) I 77ff., 82f., 452; II 274f., 427; VI 342, 352f., 363f., 374f., 406f., 452ff.
Anhang
Identität I 54ff., 162f.; II 427; V 162ff.; VI 24f., 29, 110f., 335ff. Dimensionen der VI 336ff. Ich- I 55, 138; VI 343f., 345, 365f. individuelle VI 343ff. nach Mead VI 336ff. kategoriale VI 342, 345 kollektive VI 342, 345 personale VI 342f., 345 Personen- VI 342, 345 persönliche VI 342f., 345 soziale I 55, 68; VI 341f., 345 -spolitik V 179ff.; VI 354f. Theorie der sozialen VI 452f. und Biographie VI 356f. und Institution VI 345ff. und Interaktion VI 355ff. Ignoranz I 321ff. Imitation I 382ff. Impulshemmung VI 108 Indexikalität VI 94f., 175f., 178f. Individualisierung I 12; II 163ff., 166ff. Individualismus I Methodologischer I 27f.; II 3f., 8, 13 Strukturtheoretischer I 27f. Industrialisierung II 209f. Information III 253f., 260; VI 160ff. Differenz von ~ und Mitteilung III 261 imperfekte III 31, 34 perfekte III 30f. unvollständige III 31 vollständige III 30f. Informationsasymmetrie V 28 ökonomie I 326f., 352f. suche I 293 verarbeitung I 229, 352f.; VI 266 Ingroup VI 417 Initiative II 46, 105 Inklusion II 52f., 233ff., 257f. Konstitutions- II 235ff. Markt- II 235ff. multiple Partial- II 248 Plazierungs- II 235ff. Regel- II 235ff. Voll- II 247 Innovation I 90f., 485ff.
Anhang
Institution(en) I 103f., 356; V 1ff.; VI 149f. abgeleitete V 38f. als Modell(e) des Handelns V 11f. als Restriktion V 37f. Begriff der V 1ff., 7f. Entstehung von V 38f., 305ff. externe V 41f. fundamentale V 38f. Funktionen von V 14ff. interne V 41f. Objektivation von V 322ff. Ordnungsfunktion der V 20ff. Orientierungsfunktion der V 15ff. Sinnstiftungsfunktion der V 33ff. totale V 12ff. Institutionalisierung V 38f., 305ff.; VI 58, 68f. Institutionalistische Soziologie V 46ff. Institutionelle Analyse V 45ff. Institutioneller Wandel V 42f., 305, 369ff. endogener V 370f. evolutionärer V 372f., 373ff., 380f. exogener V 370f. geplanter V 371f. revolutionärer V 372f., 382ff. und Pfadabhängigkeit V 377ff. ungeplanter V 371f. Integration I 137, 146, 156ff.; II 78f., 257, 261ff., 285ff. als funktionales Erfordernis II 263f. antagonistische III 106f. Begriff der II 261ff. Binnen- II 301f. Deferenz- II 276f. Des- II 280f. horizontale II 267f. kommunikative III 285f. Mehrfach- II 287 Re- II 282 Sozial- II 257f., 268, 271ff., 286f. soziale IV 184f. System- II 78f., 268, 270ff., 290ff. systemische IV 185 und Netzwerkstrukturen II 268ff. Verkettungs- II 276f. vertikale II 267f. Wert- II 275f.
585 Intention(en) I 181 Interaktion I 167, 194; II 32, 273f., 427; III 16ff., 22, 227ff.; VI 88 Basisregeln der VI 191f. symbolische III 18, 22, 243ff., 295; VI 85ff., 490ff. Interaktionssystem II 344ff. Interdependenz(en) I 145f.; II 37, 121, 264f.; III 8ff., 327f.; V 282f., 288 Interesse(n) I 37ff., 126ff., 130ff., 470ff. konstitutionelles I 147f., 151, 466f.; III 150; VI 320f. Kontroll- I 147f. -konvergenz III 62f., 110, 113 operationales III 150 intermediäre Instanzen II 61f. Internalisierung I 132ff., 366f.; II 480; III 111; V 113f.; VI 58, 68f., 363f., 374f. Interpenetration I 108ff.; II 270f.; VI 58, 490ff. Interpretation I 165, 206f.; V 65f.; VI 79ff., 88f., 90ff. dokumentarische VI 93ff., 182ff. Intersubjektivität VI 167f. Irreduzibilität II 5ff. Isokostengerade IV 50f. Kalai-Smorodinsky-Lösung IV 102ff. Kaldor -Bereich IV 111f. -Kriterium IV 109ff. Kapital I 44; IV 209ff. Beziehungs- IV 241ff., 254f. Eigenschaften des IV 210ff. generalisiertes I 151f. Human- IV 209, 214ff. institutionelles IV 209, 232ff. kulturelles I 123; II 327; IV 209, 225ff. ökonomisches IV 209, 213f. politisches IV 209, 234f. Positions- IV 247ff. spezifisches I 151f. soziales IV 209, 235ff., 260ff.; V 127f. System- IV 241, 256ff. -transformation IV 265ff. Verpflichtungs- IV 250ff. Vertrauens- IV 250ff.
586 Karriere, kriminelle I 34; V 136; VI 195ff. Kaste(n) II 131, 136ff. in Indien II 137f. Quasi- II 138f. Katastrophe II 349 Kategorie(n) II 47ff. soziale I 399, 462f. des Verstandes VI 224ff. Kategorisierung, soziale VI 471ff., 505f. Klasse(n) II 131ff., 317ff. an sich I 492 -analyse I 464f., 483ff., 494 -bewußtsein I 484, 490ff. für sich selbst I 492 -handeln I 483ff. -kampf I 490ff. -konflikt I 490ff. -lage I 465f. soziale I 159, 398f., 462ff., 468ff. Klassenschema(ta) II 153ff. nach Goldthorpe II 158ff., 164 nach Müller II 164f. nach Wright II 153ff. Klassifikation I empirische I 475ff. gedankliche I 476ff. natürliche I 475ff. Klassisches Konditionieren I 362ff., 365f. Klubs II 48 Knappheit(en) I 106f., 234 Koalitionen II 48 Kognition(en) I 161, 163f.; V 78ff.; VI 205ff. Kohärenz VI 185f. Kollektivbegriff(e) II 5 Kollektivbewußtsein II 7 Kollektive II 47ff. Kollektivismus I 26f.; VI 534ff. Kollektivismus, Methodologischer II 3f. Kommunikation I 167; II 32f., 427; III 18, 22, 247ff., 295; VI 21ff., 406f. als Kette von Handlungen III 295ff. als selektiver Prozeß III 252ff. als soziales System III 287ff. die Einheit der III 255f. elementare Einheit der III 253f. klassisches Konzept der III 248f.
Anhang
Kommunikative Akte III 254, 259 Kommunitarismus VI 518ff., 536f. Komplexität III 5f. Kompromisse IV 112 Konditionierung I 134 Konflikt(e) I 143, 145ff., 186; II 39, 121; III 14, 22, 57ff., 90ff., 111ff., 113, 192f.; IV 271ff., 277f.; V 231f. Appetenz-Appetenz- I 278, 376 Appetenz-Aversions- I 276f., 376 Aversions-Aversions- I 277, 376 ethnische II 291, 303f., 418ff. innere(r) I 276ff., 375f. Interessen- I 143, 148ff., 158f.; III 99f. Klassen- II 291 Konstantsummen- I 147 Kontroll- I 152ff., 158f. Nullsummen- I 147 partieller III 71, 97ff. regionale II 291 reiner III 95ff. religiöse II 291 strukturelle(r) I 113ff. und Koordination III 66f. und soziale Produktionsfunktion III 99f. Verfassungs- III 99f. Konfliktkosten III 144f., 220f. Konformität I 485f. Konsens III 230 monolitischer III 230 Schein- III 230 Konstitution III 292f. Ko- II 36, 425, 430 soziale I 167ff., 173; II 428; VI 8ff., 168f., 177, 305f., 397ff., 409f., 489ff., 496ff. systemische II 427; VI 409f. von oben II 7ff. Konstruktion, erster Ordnung I 211ff. (gesellschaftliche) ~ der Wirklichkeit I 1f., 13, 167, 274f.; VI 89f., 181f., 187f. zweiter Ordnung I 211ff. Konstruktivismus VI 537ff. soziologischer VI 537 erkenntnistheoretischer VI 537f.
Anhang
systemtheoretischer VI 538ff. Radikaler VI 231ff., 537f. Konsum IV 59f. Neue Theorie des ~s IV 59ff. Konsumentenoptimum IV 74f. Kontext(e) -analyse I 426ff. -effekte I 429ff., 446ff., 455f. Entstehung von ~n I 456f. soziale(r) I 415ff. Kontingenz doppelte III 5ff., 7 einfache III 6f. Kontrolle I 37ff., 113, 140ff. soziale V 102, 122ff., 127f., 262f. Konvention III 69f.; V 100f. Konvergenzthese VI 49f. Konversion IV 93; VI 300ff. Kooperation I 145ff., 157f.; II 32, 121 antagonistische I 145, 147; II 38; III 14f. bedingte III 33, 141ff. gesellschaftliche III 165ff. unbedingte III 33, 141ff. -sabhängigkeit III 145f., 220f. -sgewinn III 318ff. -sinteresse III 145f., 148f., 220f. -skosten III 144f., 219ff. Koordination III 14, 22, 56f., 59ff., 109f., 113, 231f. Koorientierung I 167; II 14ff.; III 18, 22, 229ff., 295 Koppelgeschäfte IV 114ff. Korporative Akteure V 243f., 255f. Kosten I 107, 186; IV 36ff., 42f. Opportunitäts- I 186, 278 soziale V 21f., 24f. Such- I 330f. Transaktions- V 20ff., 25ff. Transformations- V 20 Kovarianztheorem I 436ff. Krieg III 91f. aller gegen alle III 127ff. Kriminalität I 483ff.; V 136f. Krisenexperiment(e) V 213ff.; VI 22f., 172f. Kritische Masse(n) III 208f.; IV 282ff. Kula-Ring III 346ff. Kultur III 237f.; VI 1ff., 145f.
587 Kulturation II 272 kulturelle Fokalobjekte II 47, 81 kulturelle Milieu(s) II 45, 80ff. Kumulation II 347f., 350 Labeling approach VI 194ff. Lage, soziale/gesellschaftliche I 398ff., 462f.; II 47ff., 118ff., 169f. Lebensstil, Lebensführung I 472; II 80ff., 86ff., 171ff. Lebensstilgruppen II 80, 172 Lebensweise II 79ff. Lebenswelt II 427, 482; VI 140f., 395ff. Grammatik der V 66f. Konzept der VI 402ff. Legalität V 103f., 361f. Legitimation V 305, 339ff.; VI 298ff., 324 durch Verfahren V 361ff. -sexperten V 344 -stheorien V 343f. Legitimität V 8f., 97ff., 103f., 339ff. affektuelle V 102 legale V 102 Prestige der V 97f. primäre V 340f. sekundäre V 340f. traditionale V 102 und Verbindlichkeit V 98 und Vorbildlichkeit V 98 wertrationale V 102 Wirkung der V 107ff. Zuschreibung von V 102 Leidenschaft(en) I 131f. Leistungsrollen II 243 Leitideen, institutionelle V 47f. Lernen I 180f., 359ff., 377ff.; VI 69f., 372f. am Modell I 384f. instrumentelles I 367ff. latentes I 379f. Lerngeschichte, Lernbiographie I 185, 189, 366 Lerntheorie I 189, 359ff., 376 Leviathan III 132f. Liebe (als Code) V 219ff. Logik des sozialen Wandels II 339ff. nach Boudon II 344ff. nach Hernes II 340ff.
588 Logik der Aggregation I 16ff., 401f., 405ff., 419; II 13ff., 19ff., 428f. der Angemessenheit V 92ff. der Kalkulation V 93ff. der Selektion I 16ff., 241ff.; II 428 der Situation I 4f., 16ff., 76f., 387ff., 399, 465ff.; II 426f. Logistische Regression II 314 Log-lineare Analyse II 195 Looking Glas Self VI 348ff. Lorenzkurve II 115f. Lösung eines Spiels III 37f., 47ff. Loyalität V 126f. Macht I 142f., 471f.; II 44, 130; III 9, 319, 329f., 385ff.; V 246f., 279ff. als „umgekehrte“ Dependenz III 391f. als kontrolliertes Gesamtinteresse III 392 als Medium III 411ff. -balance II 44; V 285f. bilaterale III 393 -bildung V 309ff. Definitions- I 155f. Grenzen der III 389, 405ff. im System III 393 und Alternativen III 397ff. und Dependenz III 389ff., 402f. und dritte III 397ff. und Herrschaft III 407f. und Konkurrenz III 397ff. und soziales Kapital III 408ff. und Ungleichheit III 393f. Makrosoziologie I 5ff. Marginalanbieter IV 57f. Marginalisierung II 251 Marginalität II 277f., 287 Marginalprinzip I 299ff., 317f., 326 Markt II 39, 140f., 224f., 265f., 270f.; III 161; IV 131, 141ff.; V 30ff.; VI 425 Explosion des IV 152f. -anpassung IV 145ff., 155f. -gleichgewicht IV 141ff., 159ff. Maxi-Max-Regel I 289 Maximierung I 258 Maxi-Min-Regel I 288 maximizing I 309f., 326f.
Anhang
Me I 47f., 55, 681, 38 Medien, III 248ff., 277ff., 295 symbolisch generalisierte II 270f.; III 259, 281ff. -theorie III 283f. Mehrebenen -Analyse I 435ff. -Inklusion II 60 -Organisation II 60f. -System II 59 Mentalismus I 182f. Merkmale/Eigenschaften absolute I 444 analytische I 443f. globale I 444 individuelle I 443f. von Individuen I 444f. von Kollektiven I 443f. komparative I 445 kontextuelle I 445 relationale I 445 strukturelle I 444 Merkmalsraum I 477ff. Meso-Ebene II 60ff. Methode Regeln der soziologischen I 10ff. soziologische I 5f. Verfall der soziologischen I 12ff. Migration, selektive I 448ff. Mikropolitik VI 515f. Mikrosoziologie I 5, 9f. Milieu(s), soziale I 452; II 171ff. Minderheiten, ethnische II 286ff. Minimal Group Design VI 471ff. Minimalkostenkombination IV 53f. Minimierung des maximalen Verlustes III 93f. Mitteilung III 253f., 260f. Mittel I 39ff., 49f. institutionalisierte I 110ff., 484f. legitime I 112, 487f. nicht-legitime/illegitime I 112, 487f. Mobilisierung IV 282ff., 288f. Mobilität IV 271ff., 276f. Abstrom- II 178f. horizontale II 182 individuelle II 181f. intergenerationale II 183 intragenerationale II 183
Anhang
kollektive II 183f. soziale II 175ff., 311ff. strukturelle II 181f. vertikale II 182 Zirkulations- II 181 Zustrom- II 178f. Mobilitätsfalle II 229f., 301f. Mobilitätsregime(s) II 188ff. Modell(e) VI 268ff., 281ff. der Situation I 228f., 356f. der soziologischen Erklärung VI 6 des Handelns I 228f., 356f. formale II 23f. mentale(s) I 102f., 161, 166 Prozeß- II 23f. Situations- II 23f. Struktur- II 27ff., 315 Modernisierung II 209f., 388ff., 392f. Modulation, Module V 218 Modus I 228f., 284ff., 356f.; VI 268ff., 281ff. Möglichkeit(en) IV 1ff. offene VI 126f. problematische VI 129ff. Raum der IV 1ff., 7f. die stumme Macht der IV 269ff. Moral I 135; III 148ff., 217ff. Motive, Um-zu- I 209, 381 Weil- I 381 Mutualismus III 110, 113, 162f. Myopia I 307f., 312 Nachfrage IV 23ff. Änderung der ~menge IV 27ff. Gesetz der IV 25ff. -funktion IV 26f., 30f. Nahumwelt I 457ff.; II 427 Narration II 406 Nash -Gleichgewicht III 47ff., 61, 82 -Lösung IV 100ff. -Produkt IV 101f. Naturzustand III 130f. Neid III 103 Netzwerk(e) II 40ff.; IV 171ff., 174ff., 299ff.; V 288 egozentrierte(s) I 460f.; IV 180f. Entstehung von IV 205f. komplette IV 180f.
589 Policy- II 61f. und Berührungsmatrix IV 176f. und Betweenness IV 192f. und Blockmodellanalyse IV 204 und Cliquen IV 199ff. und Dichte IV 189ff. und Erreichbarkeit IV 186ff. und Hierarchisierung IV 195f. und Macht IV 196f. und Prestige IV 195f. und Soziogramm IV 174f. und Soziomatrix IV 174f. und strukturelle Äquivalenz IV 199ff., 202f. und strukturelle Autonomie IV 196f. und strukturelle Löcher IV 198ff. und Verbundenheit IV 185f., 196ff. und Zentralisierung IV 190ff., 194f. und Zentralität IV 190ff. Vermittlungs- II 61f. Wirkung von IV 205f. Netzwerkanalyse IV 173ff., 182f. Neue Institutionenökonomie V 32f. Nomisierung V 340ff. Norm(en) VI 35f. essentielle III 89f., 110f., 113 konventionelle III 71, 109f., 113 repressive III 104f., 111ff., 113 Wirkung von III 79f. -bedarf III 114f., 197; V 314ff. -entstehung III 114f. Norm(en), soziale V 10f., 51ff. -adressat V 53 als soziale Regeln V 57ff. -benefiziar V 53 -bündelung V 54 disjunkte V 55f. effektive Einrichtung von V 319ff. Eigenschaften von V 51ff. essentielle V 56, 129f. Geltung der V 134f. Gruppen- V 55 -hüter V 53 konjunkte V 55f. konventionelle V 56, 129f. Mechanismen der ~geltung V 128f. partikulare V 55 -positionalisierung V 54 repressive V 56, 129f.
590 -sender V 53 -setzer V 53 -strukturen V 128f. und Fokalhandlungen V 52 universale V 55 -verklammerung V 54 Normbedarf III 114f., 197; V 314ff. als Problem des kollektiven Handelns V 314f. als Second-Order-Public-GoodProblem V 123ff., 316ff. Nutzen I 86, 92, 96f. -funktion I 298f.; IV 75ff. -maximierung IV 71ff., 77ff. -prinzip I 295f. -produktion I 84ff.; IV 59ff., 86ff., 89ff. -raum IV 98f. -theorie I 295ff.; IV 72f. Oligopol IV 131 operative Geschlossenheit II 8 opinion leader I 411 Opportunismus V 27 Opportunität(en), Opportunitätsstrukturen I 44, 51ff, 107, 452f.; II 427; IV 1ff. opportunity set IV 3 Optimierung I 230, 235 der Orientierung I 241 Optimismus I 288f. Ordnung, soziale II 37ff., 285; III 109ff., 113f., 117ff., 160ff.; IV 171f.; V 306ff. Durchsetzung der V 329f. Fundierung der V 328f. spontane V 331f. Organisation(en) II 40ff., 265f., 270f.; III 162; V 5f., 29, 233f., 239ff.; VI 427f. als „Gesellschaft“ V 247f. als Handlungsfeld V 271ff., 276ff. als situiertes Aktivitätssystem V 271ff. als soziales System V 299f. als vertikale Integration V 253f. Arten von V 245f. äußere Umwelt der V 244 Definition der V 240 der Gesellschaft V 250 Einrichtung einer V 251ff., 257f.
Anhang
innere Umwelt der V 244 -skultur V 264ff. -sstil V 265 Überleben von V 266ff., 269f. und Akteure V 240f. und Arbeitsbeziehung(en) V 260f. und Arbeitsvertrag V 260f. und das Problem der Verteilung des Ertrags V 259f. und das Zweck-Mittel-Schema V 292f. und informelle Gruppen V 244f., 266 und Interessen V 246f. und kollektive Entscheidungen V 258f. und Lebenswelt V 248f. und Macht V 246f., 279ff. und Pooling von Ressourcen V 257f. und rationale Bürokratie V 291f., 294f. und Rationalität V 298f. und Rollendistanz V 273ff. Wandel von V 266ff. Organisationsgesellschaft V 249 Organisationssoziologie V 301ff. Orientierung(en) I 46, 162, 164f., 171f., 230, 235, 452; II 265f., 426; VI 51ff., 205ff., 219 normative I 49f., 192, 232ff.; VI 35ff. des Handelns VI 52 motivationale VI 53f. Wert- VI 54f. kollektive VI 503f. Oszillation II 350 Outgroup VI 417 Paradigma interpretatives I 9; V 189, 193ff.; VI 80ff., 85ff normatives V 188, 193ff.; VI 80ff. verhaltenstheoretisches I 9 Paradox Allais- I 302f. Ellsberg- 303f. St. Petersburg- I 341f. Tocqueville- I 406 Pareto -Bereich IV 110f.
Anhang
-Kriterium IV 109ff. -optimalität IV 100f. Pareto-Optimum III 50f. Pattern variables VI 59ff., 64f. Peergroup VI 417f. Permeabilität VI 189 Perspektiven, Verschränkung der VI 97f., 104f. Pessimismus I 288f. Pfadabhängigkeit I 396; II 361ff., 431; V 377ff. Pfadanalyse II 203f. Pflicht III 372ff. Phänomenologie VI 119 Play III 53f. Plazierung II 272f. nach Askription V 145f. nach Leistung V 145f. Pluralistische Ignoranz III 230 Politische Unternehmer III 216f. Population-Ecology-Ansatz V 269f. Position(en) V 145ff. -ssatz V 146f. und Personensatz V 146f. Positionsgut II 328 Postmaterialismus I 129f. Potlatsch III 350 Präferenz(en) I 44, 366; IV 84ff. -ordnung I 297ff., 315ff. Praxis III 156ff. Preis(e) I 89, 106f.; IV 4ff., 12ff., 31ff. der Zeit IV 61ff. Faktor- IV 43f. Schatten- IV 65f., 67f. -änderungen IV 13ff., 27ff. -expansionspfad IV 81ff. Preistheorie IV 3ff. Prestige I 104, 123f.; II 83ff., 129f.; III 408 Primat Analytischer I 14f. Theoretischer I 14f. Prinzip des geringsten Interesses III 396f. Prinzipal-Agent-Problem V 224, 243f., 261ff. Privateigentum V 308f. Privilegien I 470ff.; II 129f.
591 Produktion IV 35f. gesellschaftliche III 165ff., 194ff. Technologie der IV 43f. -sfunktion IV 36f., 46f., 283ff. -skosten IV 36f. -stheorie IV 35ff., 72f. Produktionsfunktion(en) I 87ff. soziale I 85ff., 91ff., 261f., 392ff., 400, 462, 465ff. Produktionsverhältnisse I 468f. Programm I 103, 161, 165f., 193; III 258f., 282f. genetisches I 179f. Prospect Theory I 345ff. Protest II 105 Prozesse, soziale I 17ff. Psychologie und Soziologie IV 347f. Psychologismus I 24ff.; II 13 Publikum V 228f. Publikumsrollen II 243 QWERTY V 375ff. Race Relation Cycle II 330ff. Rahmenanalyse V 218 Rahmung I 46, 61ff.; III 258f. (s. auch Frame, Framing) Randoptimum IV 91f. Rate der Substitution IV 11f. Rationalisierung V 347f.; VI 300f., 324 Rationalismus VI 226f. Rationalität VI 109f., 331ff. begrenzte I 69f., 230ff., 309ff., 322ff., 340ff., 350, 352ff.; V 16ff., 27, 298f. objektive I 215ff. Zweck- I 197ff., 244ff. Räuber-Beute-Modell IV 327ff. Räume, soziale IV 265ff. Reaktions -differenzierung I 373f. -generalisierung I 373f. Realtypus II 462f. Reasoning Criminal V 139 Recht(e) I 104, 113, 119, 141, 471; II 241; V 100f., 105f. institutionalisierte I 144f. Übertragung eines V 105f. zugestandene I 144f. Reduktion II 5ff., 9ff., 13 Reduktion von Komplexität I 292f.
592 Reduktionismus II 9ff., 12ff. Reflexion III 232f., 235f.; VI 95f., 275f., 293f. Reflexivität VI 182ff. Regel(n) II 241f., 427; III 19f., 266f.; V 6ff. Bindung durch V 35f. essentielle V 129 institutionelle I 51ff. -kompetenz V 65 konventionelle V 129 primäre V 216f. repressive V 129 sekundäre V 216f. soziale V 57ff., 129 soziale I 101f. und Interesse V 36f., 246f. und Macht V 246f. und Regelmäßigkeiten V 59 Regelmäßigkeit(en) V 5f., 129 Reintegration II 282 Reiz und Reaktion I 360f. Relevanzstruktur VI 157ff. Religion V 341f., 345f.; VI 299f. Repräsentation(en), kollektive I 102f.; II 7; III 237f. Reproduktion II 347ff. biologische I 93ff. einfache II 343f. erweiterte II 343f. funktionale I 18, II 349f., 352ff. gleichgewichtige II 429 repetitive II 353f. Reputation I 115ff. Requisiten, funktionale II 7 Ressource(n) I 37ff. Eigenschaft der Ausschließbarkeit von III 166ff. Eigenschaft der Rivalität von III 166ff. Eigenschaft der Teilbarkeit von III 166ff. Konvertibilität von III 330ff. Restriktionen IV 2ff., 27f., 80f. Revolte II 46, 106 Revolution I 490ff.; II 46, 105, 361; III 101; V 382ff. als Kollektivgut V 382f. und das Kalkül des Revolutionärs V
Anhang
387ff., 396f. und das Mobilisierungsproblem V 386f., 397ff. und das Tocqueville-Paradox V 384ff. und Gruppeninteressen V 389f. und relative Deprivation V 384ff. und revolutionäre Situationen V 390f. und Verelendung V 391f. Rezeption III 254, 271ff. Reziprozität III 364ff. als „totales soziales Phänomen“ III 371f. Norm der III 365f. Risiko -freudigkeit I 289 -scheu I 274, 289 Ritual(e) III 289ff.; V 77, 345f. Ritualismus I 133, 485, 488f. Rolle(n), soziale I 77ff., 84; V 10f., 142ff., 242 -ambiguität V 184ff. -beziehungen V 152ff. -distanz V 175ff., 180ff., 183f., 273ff. -elemente V 149f. -erwartungen V 147f. -handel V 172, 174f. -handeln V 186ff. -konflikte V 166ff. Leistungs- V 157f. -manipulation V 172ff. Publikums- V 157f. -satz V 149 -streß V 168f. -übernahme V 190ff. und Bezugsumgebung V 153f. und das Theater des Alltags V 223ff. und Identität V 153f., 161f., 176ff., 183f. und Macht V 279ff. und Position(en) V 143ff. und Role-Making V 191ff. und Role-Playing V 187f. und Role-Taking V 190ff. und soziale Kategorien V 160f. und soziale Mechanismen der Bewältigung des Rollenstresses V
Anhang
169ff. und sozialer Sinn V 159 und Status V 147f. Rollentheorie I 83 Routine(n) VI 150, 295ff. Sanktion(en) III 70f., 111ff.; V 8f., 111ff. externe V 112f., 116f. formelle V 112 informelle V 112 interne V 112f., 117 negative V 111 positive V 111 und Anreize V 118f. Wirkung von V 115f. Sanktionierung V 111ff., 119ff., 316ff. heroische V 320 inkrementale V 319f. Satisficing I 309ff., 312, 326f.; VI 254 Schatten der Zukunft III 135ff., 146, 219f. Scheidung IV 318ff.; VI 284ff. Schellingpunkt III 63ff., 231f. Schema(ta) V 199ff. -aktivierung V 203 Bindung an ein V 203f. Schichtindex II 152f. Schichtung ethnische II 138f., 293ff., 303f. soziale II 131, 143ff. Schichtungsmodell II nach Bolte II 148f. nach Dahrendorf II 149f. nach Geiger II 145f. nach Geißler II 149ff. Schicksalskontrolle III 394ff. Schleier des Nichtwissens V 356ff., 359f. Schließung II 84f. Schweinezyklus IV 157ff. Schwellenwert(e) I 406ff.; IV 290ff. Schwellenwertmodell I 406ff. Second-Order-Probabilities I 290ff. Segmentation II 281f., 287, 299ff. Segregation horizontale VI 459f. vertikale VI 460ff. Selbst I 48, 137f.; VI 336ff., 340f., 345, 350ff.
593 -bewußtsein VI 377 -bild I 94ff., 118 -bindung VI 364f. multiples VI 358f. Organisation des VI 362f. Verfassung des VI 358ff. -verwirklichung I 129f. Selbstmord VI 15ff. Selbstorganisation II 95 Selbstregulation II 349, 351, 353ff. Selektion I 68f. des Handelns I 258f., 262f., 389f. Logik der I 16ff., 241ff. strukturelle II 394ff., 432 Self-fulfilling Prophecy I 2ff. Semiotik III 262 Sensualismus VI 225f. SEU-Theorie I 344f. Shapley-Wert IV 131 Sharing-Groups II 472ff.; III 191 Sinn I 194f.; V 34f.; VI 1ff., 103f., 179ff. autopoietischer I 195 funktionaler I 195 -leere V 37f. nomischer I 195 objektiver I 195 semantischer I 194 sozialer I 53, 101f., 171, 194; III 301ff.; V 34f. subjektiver I 65f., 178, 194ff., 199, 248 -welt(en) V 344f. -zusammenhang I 195ff.; VI 147 Sinnlosigkeit, Problem der I 8f. Sitte V 59f. Situation(en) I 29ff., 49f. Definition der I 3ff., 35ff., 46, 55f., 61ff, 66ff., 161ff., 388 gesellschaftliche Definition der I 110ff. kollektive Definition der I 167ff. objektive Definition der I 75ff., 81f., 399, 465ff. subjektive Definition der I 61ff., 66ff., 166 „richtige“ subjektive Definition der I 101f. elementares System der I 37ff.
594 Grundmodell der I 50ff. komplexe VI 84f. Logik der I 4f., 16ff., 76f., 387ff., 399, 465ff. parametrische II 32; III 1ff., 7, 22 soziale II 32; III 1ff., 7, 22 strategische III 16f., 55ff., 113; V 288f. Vorgeschichte der I 162f. wiederkehrende VI 111ff. Situationsanalyse I 29ff., 32ff., 396f., 404, 483ff.; IV 2 Situationslogik I 24ff., 387ff., 464f., 494; II 1, 418ff.; V 45f., 288 Situationsmethode I 32ff. Situs II 182 Skript(e) V 63, 199ff.; VI 262f., 267f., 291f. small-world-Phänomen IV 188f. Solidarität III 120ff. S-O-R-Theorie I 183, 377f. Sozialbehaviorismus VI 107f. Sozialisation I 134; II 272, 428; IV 87f.; V 102, 119ff., 122, 127f.; VI 69, 371ff. antizipatorische VI 456ff. Selbst- VI 391f. primäre VI 373 sekundäre VI 373, 378f. kognitive VI 371, 375f. und Interaktion VI 391 moralische VI 371 Sozialökologie I 34 Sozialphilosophie I 210 Soziogramm IV 174f. Soziologie Autonomie der I 25f. verhaltenstheoretische I 189f. Soziologischer Tatbestand V 3f. Soziomatrix IV 174f. Spannungen, strukturelle I 113ff. Spezialisierungsdilemma III 122f., 125 Spiel als Game of Anti-Difference III 103 als Game of Difference III 103 als Game of Equality III 103 Arten von III 41f. Elemente des III 41 extensive Form eines III 32f.
Anhang
gegen die Natur III 6f., 43ff., 113 interiertes III 42 Konstantsummen- III 42, 91 kooperatives III 42 Lösung eines III 37f., 47ff. Mixed-Motive- III 42 Negativsummen- III 91f. nicht-kooperatives III 42 N-Personen- III 42 Nullsummen- III 42, 91 One-Shot- III 42 reduzierte Form eines III 34f. soziologisches Konzept des III 51ff. strategisches III 16f., 25ff. Super- III 42, 140f. Variable-Sum- III 42 Zwei-Personen- III 42 Spielbaum III 29f. Spieltheorie III 16f., 26ff. Sprachbarrieren III 269f. Sprache III 246f.; V 63f., 200f., 342f. mündliche III 277f. Organonmodell der III 263 schriftliche III 278ff. Sprechakt III 262f. Sprechakttheorie III 264f. S-R-Theorie I 182, 377f. Staat I 142; II 162f.; III 158ff. Stand, Stände I 120, 462f.; II 131ff., 135f. Status II 182; III 378f. sozio-ökonomischer II 151ff. Statussymbol(e) II 84f. Statusvererbung II 177, 185ff., 327ff. Statuszuweisung II 175ff., 201ff. Modelle der II 203ff. Stigma I 117 Stimulus -differenzierung I 372f. -generalisierung I 372f. Strategie III 19f., 25ff., 31ff. bedingte III 141 dominante III 47ff. Maximin- III 94f. Minimax- III 94f. Superspiel- III 140f. Tit-for-Tat- III 33, 141ff. unbedingte III 142f.
Anhang
Struktur(en) II 425ff. Bewertungs- II 429 Beziehungs- II 430 Differenzierungs- II 429 Infra- II 426, 429 institutionelle II 429 Interdependenz- II 429 korporative II 430 Sinn- II 429 soziale I 22ff.; II 309ff., 426, 429 Super- II 426, 429 Tiefen- I 103f., 114 Ungleichheits- II 429 strukturelle Effekte I 425f. Strukturelle Kopplung III 257ff., 275f. strukturelle Scheineffekte I 446ff. Strukturierung I 22ff., 483ff.; II 426ff. Strukturmodelle II 27ff., 315, 414 Struktursoziologie IV 343 Strukturtheorien II 417ff. Stückwerktechnologie V 381 Subkultur(en) II 46, 102f. Survey-Forschung I 422f., 424f. Syllogismus, praktischer I 209 Symbol(e) I 165, 355, 365f.; III 113, 295; V 65f., 200f.; VI 1ff., 79ff., 96ff., 352f. signifikante I 47f., 51ff., 292; III 245ff. Status- I 117f. Symbolisation V 326ff. Sympathie III 152f., 234f.; VI 105f. System -Abgrenzung II 53f. -Aggregation II 58f. -beziehungen II 53ff. -Durchdringung II 57f. -Inklusion II 54f. kulturelles II 34f.; VI 57f., 65ff., 69, 499f. psychisches II 34f.; VI 499f. -Relationen II 57 soziales II 14ff., 31ff., 34f., 234f.; VI 56f., 65ff., 69, 499f. -theorie VI 36 signifikante VI 103 personales VI 56, 65ff., 69 organismisches VI 69 des Handelns VI 43ff.
595 Systemtheorie, soziologische II 6ff., 254ff. Szene(n) II 45, 79f., 86ff. Tausch III 20f., 305ff. als Dilemma-Situation III 315ff. einfacher III 354f. elementarer Vorgang des III 309ff. generalisierter III 333, 355ff. indirekter III 359f. und Macht III 386ff. -risiko III 318ff., 320f. -gleichgewicht III 328f. Tauschgleichgewicht IV 131ff. Tauschtheorie III 305, 363f. Technik I 141 Technischer Fortschritt IV 44f., 55f. Technologie I 90f. Teleologie, materiale I 209 Territorien des Selbst V 216 Theorie des Handelns VI 36ff. voluntaristische ~ VI 40ff., 45ff., 76ff. Theoriegesteuerte Analyse IV 338f. Theorien mittlerer Reichweite II 29, 417ff. Thomas-Theorem I 59ff., 63ff., 170ff., 174f. Tiefengrammatik VI 192 Tradition III 69 Tragedy of the Commons III 184f. Transaktion II 32; III 20f., 22, 305ff.; IV 24f. als „soziale Beziehung“ III 379f. gruppenbezogene III 358f. Medien der III 338ff. von Rechten III 334ff. -sinteresse III 13, 318ff. -skosten III 312f. -ssystem III 376ff. Transformation II 343f., 347f., 356ff. Transformationsbedingung II 16ff., 24f. Transformationsregeln I 16; II 2ff., 13ff., 16ff., 20ff., 24f., 336f. als institutionelle Regeln II 21f. als formale Modelle II 23f. als partielle Definitionen II 20f. als statistische Aggregationen II 21 einfache II 20f.
596 Kombination der II 26f. komplexe II 21ff. Transition II 343f. Transzendenz V 341f. Tun, inneres I 68f. Typen des Handelns VI 307ff. Typen, Typologie I 477f. Typenbildung Logik der I 475ff. qualitative I 480ff. Typisierung VI 143f. Übergangsriten VI 381f. Um-zu-Motiv VI 124, 163f. Unbedingtheit I 282f.; V 83f., 87ff., 90f.; VI 283f., 315f. Ungleichheit II Bildungs- II 317ff. biographische II 127f. Chancen- II 317ff. demographische II 122 Erklärung nach Lenski II 217f. funktionale II 123f., 429ff. Funktionen der II 221ff. horizontale II 128f., 431 kulturelle II 123ff., 429ff. neue soziale II 132, 166ff. normative II 123ff., 429ff. Reproduktion der sozialen II 228ff., 318ff. soziale I 265ff., 274f., 462f.; II 51ff., 113ff., 244ff.; IV 271ff. -sstruktur II 130f. theoretische Konzepte der sozialen II 131ff. Ursachen der II 214ff. vertikale II 128f., 431 unit act I 49f., 232f.; VI 40ff., 45 Unterbrechung I 355f. Unterschiede, feine I 122f. Unvollständigkeit von Verträgen V 28 Unvollständigkeit, Problem der I 8f. Utilitarian Dilemma III 133 Utilitarismus I 295f., 313f.; III 162; V 358 Utopie II 475f. Variablen I 399ff. Variablen-Soziologie I 402f., 422f.; II 2 Verbände II 48f.
Anhang
Verbundenheit kulturelle III 15, 22 materielle III 15, 22 negative III 409f. normative III 15, 22 positive III 410 strukturelle III 8ff., 22 Verfahren V 103, 361ff., 366f. Verfassung I 103f., 114, 144f., 147; II 72; IV 88f. Vergleich, sozialer VI 445ff. Verhalten I 178ff. Verhalten, abweichendes V 133ff. Theorien des V 137f. und Anomietheorie V 137f. und ätiologischer Ansatz V 137f. und Labelling Approach V 138 und Subkulturtheorie V 138 und Theorie der differentiellen Gelegenheiten V 137f. und Theorie der differentiellen Kontakte V 137f. und Theorie des differentiellen Lernens V 137f. Verhaltenskontrolle III 394ff. Verhandlung(en) II 43f.; IV 95ff. als Chicken-Game IV 125 Kosten der IV 121f. und glaubwürdige Bindung IV 122ff. und perfektes Gleichgewicht IV 127f. und unglaubwürdige Drohung IV 126f. -sraum IV 98f. Vernunft, subjektive 295ff., 340ff. Versprechungen I 330f.; III 125f. Verständigung, kommunikative V 348ff. Verstärkung I 368f., 371f. Löschungsresistenz bei intermittierender I 375 sekundäre I 364f. Verstehen I 195ff., 263f.; III 254, 267ff.; V 35f.; VI 162ff. Vertrag II 73; III 337; V 38 Vertrauen III 44ff., 87f., 357; IV 171f., 206f.; V 73f., 262f -skapital IV 250ff. virtual set IV 3 Vorurteile II 298
Anhang
Wahrnehmung VI 206ff. Hypothesentheorie der VI 214ff. Determinanten der VI 215ff. Geschlechts- VI 217ff. Wahrscheinlichkeit(en) I 43 Wandel als multilineare Evolution 392ff. endogener II 351f., 431 exogener II 351f., 431 funktionalistischer Ansatz des II 382ff. Gesetze des sozialen II 329f. konflikttheoretischer Ansatz des sozialen II 377ff. Logik des sozialen II 339ff. sozialer I 18; II 307ff. Soziologie des sozialen II 376ff. Theorien des sozialen II 308 „wirklicher“ sozialer II 368ff. Weil-Motiv VI 125f., 163f. Wert(e) I 36f., 44ff., 135f., 369; VI 27 -wandel I 129f., 138ff. Werterwartungs-Theorie, WE-Theorie I 185, 247ff., 257f., 357f., 376, 386, 403ff. Grundmodell der I 251ff. Wertrationalität VI 311ff. Wertschätzung, soziale I 92ff., 117f. Werturteile II 469ff. Wiedererkennung I 355f.; VI 213 Willensschwäche VI 359ff. Wirkung von Kommunikation III 274f. Wissen I 44ff., 369 mythisches I 221f. Wissenssoziologie VI 324f. Wohlbefinden, physisches I 92ff. Wollen VI 133ff. X-Efficiency I 310f. Zeit VI 10ff. Preis der IV 61ff. Zeitgeist I 414 Zeuthen-Harsanyi-Modell IV 116ff. Ziel(e) I 39ff., 49f. kulturelle I 110ff., 485ff. Ober- I 69 Zusammenkunft II 40ff.; VI 425f. Zuschreibung(en) I 192f. Zwang der guten Gelegenheit I 280f.
597 repressiver I 279f. der zwanglose ~ des besseren Argumentes I 281 Zweifel VI 127f., 152f. Zwischengüter indirekte I 105ff.; II 89 personale II 89f. primäre I 97ff., 108, 111, 391f.; II 89f.