Ines Sausele-Bayer Personalentwicklung als pädagogische Praxis
Organisation und Pädagogik Band 10 Herausgegeben von M...
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Ines Sausele-Bayer Personalentwicklung als pädagogische Praxis
Organisation und Pädagogik Band 10 Herausgegeben von Michael Göhlich
Ines Sausele-Bayer
Personalentwicklung als pädagogische Praxis
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17776-2
Das Leben geht weiter, während eine Dissertation entsteht. Ich bedanke mich -!
bei Gerd und Felice für das Unzählbare und das Unbeschreibliche
bei meinen Eltern Marlies und Günther für ihr Vertrauen und ihre uneingeschränkte Loyalität in allen Phasen der Entstehung dieser Arbeit bei Mane und Judith, Hanne und Klaus für ihre rege Anteilnahme und die Entlastung durch ihre wunderbare Kinderbetreuung bei Katharina für ihre Freundschaft und ihr unermüdliches Interesse bei Friedemann für dringend notwendige Impulse bei Nicolas für entscheidende inhaltliche Hinweise bei Leo und Andreas für den heiteren Austausch und ihre Zuversicht bei den Kommilitoninnen und Kommilitonen im Doktorandenkolloquium für ihre Anregungen und ihr Mitdenken bei der Buchhandlung Ex Libris für die schönste Nebenbeschäftigung der Welt bei allen, die mir in den letzten Jahren innerhalb und außerhalb des Unigeschehens vertraut und verbunden geworden und geblieben sind
bei Prof. Dr. Michael Göhlich für die Selbstverständlichkeit seiner Unterstützung, seine Geduld, seinen Antrieb und die gewährten Freiräume im Rahmen der Betreuung dieser Arbeit
Ines Sausele-Bayer
Erlangen, im Juni 2011
Inhalt 1
Einleitung .......................................................................................... 11 1.1 Die Entgrenzung des Pädagogischen ................................................. 11 1.2 Pädagogische Organisationsforschung .............................................. 16 1.3 Ziel und Aufbau der Arbeit ............................................................... 18
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Pädagogische Praxis und Personalentwicklung ................................. 21 2.1 Zum Wesen des Pädagogischen ........................................................ 21 2.1.1 Das Lehr-Lern-Verhältnis als neue pädagogische Grundfigur ................................................................................ 22 2.1.2 Relationsbewusstsein und Kontextwissen als Voraussetzung organisierten Lernens Erwachsener .......................................... 24 2.1.3 Umgang mit Wissen als neue pädagogische Relation .............. 25 2.1.4 Gemeinsame Erkenntnissuche durch Lernen ............................ 27 2.1.5 Lernen unterstützen .................................................................. 29 2.1.6 Zusammenfassung der Sichtung des Diskurses um das Pädagogische im organisationalen Kontext .............................. 32 2.1.7 Verhältnisbestimmung pädagogischer Praxis zur menschlichen Gesamtpraxis ..................................................... 34 2.2 Personalentwicklung als Unterstützung individueller und organisationaler Lernprozesse ........................................................... 35 2.2.1 Personalentwicklung in der pädagogischen Diskussion ........... 35 2.2.2 Allgemeine Perspektiven und Zugänge .................................... 37 2.2.3 Aktuelle Tendenzen und Entwicklungen .................................. 43 2.3 Personal- und Organisationsentwicklung – Zur Integration individueller und organisationaler Lernprozesse ............................... 45 2.3.1 „Klassische“ Modelle des Wandels in und von Organisationen .......................................................................... 45 2.3.2 Integrative Ansätze ................................................................... 52 2.3.3 Konsequenzen für den theoretischen Ordnungsrahmen der Untersuchung ............................................................................ 59
3
Ergebnisse des Theorieteils ............................................................... 63
4
Organisationskulturanalyse durch die dokumentarische Methode .... 69 4.1 Die Gesprächsaufnahme als praxisnaher Weg der Datenerhebung ... 70 4.2 Forschungsdesign und Methode ........................................................ 72 4.2.1 Forschungsdesign ..................................................................... 72 4.2.2 Die dokumentarische Methode ................................................. 73 4.2.3 Konkrete Vorgehensweise ........................................................ 75
5
Die Unternehmen – Dokumentenanalyse und erste Schritte im Feld 77 5.1 Sozialunternehmen ............................................................................ 77 5.1.1 Personalentwicklung und Weiterbildung .................................. 77 5.1.2 Mitarbeitergespräch .................................................................. 78 5.2 Wirtschaftsunternehmen .................................................................... 79 5.2.1 Personalentwicklung und Weiterbildung .................................. 80 5.2.2 Mitarbeitergespräch .................................................................. 81 5.3 Teilnahme an Gesprächen ................................................................. 83 5.4 Erster Vergleich und Konsequenzen für die Auswertung der Mitarbeitergespräche ......................................................................... 84
6
Einführung in die Auswertung der Mitarbeitergespräche.................. 87
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Führung und Macht ........................................................................... 91 7.1 Sozialunternehmen ............................................................................ 95 7.1.1 Führen: Unterstützung oder Kontrolle ...................................... 95 7.1.2 Führen: autoritär oder kooperativ ............................................. 98 7.1.3 Rollenfindung als Führungskraft ............................................ 104 7.1.4 Machtvolle Muster .................................................................. 115 7.1.5 Zusammenfassung .................................................................. 120 7.2 Wirtschaftsunternehmen .................................................................. 122 7.2.1 Verständnis von Führung in der Praxis der Organisation ....... 124 7.2.2 Der Teamgedanke als Führungsinstrument ............................ 128 7.2.3 Machtvolle Muster .................................................................. 137 7.2.4 Zusammenfassung .................................................................. 139 7.3 Vergleich ......................................................................................... 142 7.3.1 Muster organisationaler Praxis und Verankerung im theoretischen Diskurs ............................................................. 142 7.3.2 Auswirkung der Praxismuster auf Lernprozesse – Personalentwicklung als pädagogische Praxis?! ..................... 145
8
Weiterbildung .................................................................................. 147 8.1 Sozialunternehmen .......................................................................... 150 8.1.1 Motivation und Legitimation .................................................. 150 8.1.2 Fachlichkeit und persönliches Interesse ................................. 159 8.1.3 Zusammenfassung .................................................................. 168 8.2 Wirtschaftsunternehmen .................................................................. 171 8.2.1 Budget und Bedarfsermittlung ................................................ 172 8.2.2 Seminare und Alternativen on-the-job .................................... 178 8.2.3 Karriereplanung und Beratung ............................................... 190 8.2.4 Zusammenfassung .................................................................. 198 8.3 Vergleich ......................................................................................... 201 8.3.1 Muster organisationaler Praxis ............................................... 201 8.3.2 Auswirkung der Praxismuster auf Lernprozesse .................... 205 8.3.3 Verankerung im theoretischen Diskurs................................... 206 8.3.4 Personalentwicklung als pädagogische Praxis?! ..................... 210
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Wissen und der Umgang mit Veränderungen .................................. 213 9.1 Sozialunternehmen .......................................................................... 217 9.1.1 Bedeutung und Vermittlung von Wissen ................................ 218 9.1.2 Verunsicherung durch Veränderung ....................................... 226 9.1.3 Veränderung und Stabilität ..................................................... 229 9.1.4 Veränderung, Partizipation und Macht ................................... 236 9.1.5 Zusammenfassung .................................................................. 244 9.2 Wirtschaftsunternehmen .................................................................. 246 9.2.1 Wissen .................................................................................... 247 9.2.2 Veränderungsbereitschaft ....................................................... 251 9.2.3 Unterstützung von Veränderungsprozessen ............................ 257 9.2.4 Zusammenfassung .................................................................. 261 9.3 Vergleich ......................................................................................... 264 9.3.1 Muster organisationaler Praxis ............................................... 264 9.3.2 Auswirkung der Praxismuster auf Lernprozesse und Verankerung im theoretischen Diskurs................................... 268 9.3.3 Personalentwicklung als pädagogische Praxis?! ..................... 271
10 Verknüpfung individueller und organisationaler Lernprozesse ....... 275 10.1 Sozialunternehmen ................................................................. 276 10.1.1 Mimesis .................................................................................. 276 10.1.2 Nutzung vorhandener Ressourcen .......................................... 280 10.1.3 Institutionalisierung ................................................................ 294 10.1.4 Zusammenfassung .................................................................. 298 10.2 Wirtschaftsunternehmen ......................................................... 299 10.2.1 Pädagogische Führungskräfte ................................................. 300 10.2.2 Organisationales Lernen ......................................................... 306 10.2.3 Zusammenfassung .................................................................. 312 10.3 Vergleich ................................................................................ 314 11 Personalentwicklung als Praxis der Lernunterstützung ................... 317 11.1 Sozialunternehmen ................................................................. 317 11.1.1 Muster organisationaler Praxis im Überblick ......................... 317 11.1.2 Unterstützung von Lernprozessen – Personalentwicklung als pädagogische Praxis im Sozialunternehmen ..................... 320 11.2 Wirtschaftsunternehmen ......................................................... 321 11.2.1 Muster organisationaler Praxis im Überblick ......................... 321 11.2.2 Unterstützung von Lernprozessen – Personalentwicklung als pädagogische Praxis im Wirtschaftsunternehmen ............. 323 12
Im Spiegel aktueller Konzepte und Entwicklungen ........................ 325
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Literatur ........................................................................................... 329
1 Einleitung
Eine empirische Arbeit im Kontext pädagogischer Organisationsforschung lebt von der Bereitschaft von Verantwortlichen und Mitarbeitern in Organisationen, sich für diese Forschung zu öffnen und einen Zugang zu empirischem Material möglich zu machen. In dieser Arbeit wird die Personalentwicklungspraxis zweier Organisationen – eines Sozial- und eines Wirtschaftsunternehmens – anhand der Analyse von Mitarbeitergesprächen untersucht. Durch die Teilnahme an den Mitarbeitergesprächen war es möglich, neben den in Leitbild und schriftlichen Regelungen erkennbaren Selbstbildern der Organisation konkrete Praktiken unmittelbar zu beobachten und über narrative Passagen in den Gesprächen weitergehende Einblicke zu erhalten. Ausdrücklich hingewiesen werden soll darauf, dass der Untersuchung pro Organisation mit mehreren tausend Mitarbeitern lediglich ein kleines Sample von jeweils 10 Mitarbeitergesprächen zugrunde liegt. Dies und die Teilnahme an einer so sensiblen Stelle wie dem Mitarbeitergespräch, die eine sehr große Offenheit auf Seiten der Betroffenen voraussetzt, führen zu einer frühzeitigen Selektion des Materials. Daher wird mit den Ergebnissen aus der Analyse der Mitarbeitergespräche nur ein Teil der Wirklichkeit der Organisationen abgebildet. Es soll hier betont werden, dass es in Organisationen mehrere Wirklichkeiten gibt und die hier herausgearbeitete nur eine dieser verschiedenen Wirklichkeiten darstellt. Umso mehr gebührt der Dank der Autorin den Verantwortlichen ebenso wie den beteiligten Führungskräften und Mitarbeitern für ihre Offenheit und ihr Vertrauen, mir den Zugang zu diesen persönlichen Gesprächen und damit neue organisationspädagogische Erkenntnisse ermöglicht zu haben.
1.1 Die Entgrenzung des Pädagogischen Betriebswirtschaftliche Lehrbücher weisen auf den interdisziplinären Zugang zum Erkenntnisgebiet Personalentwicklung hin: Becker (2002, 17) nennt als
I. Sausele-Bayer, Personalentwicklung als pädagogische Praxis, DOI 10.1007/978-3-531-94021-2_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Einleitung
besonders relevante Grundwissenschaften die Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, die Pädagogik und die Psychologie. Während sich die Psychologie, ähnlich wie im Bereich der Organisationsentwicklung (vgl. Göhlich 2005, 10), längst in diesem Feld etabliert hat, ist im pädagogischen Diskurs von Personalentwicklung bisher seltener die Rede, obwohl einer ihrer Teilbereiche, die betriebliche Ausund Weiterbildung, zumindest was die fachliche Zuordnung betrifft, seit jeher ein unumstritten pädagogisches Feld darstellt. Erst neuere Veröffentlichungen (Münch 1995; Arnold/ Bloh 2001; Harteis 2002; König/ Volmer 2002) greifen den Begriff der Personalentwicklung als Gegenstand pädagogischer Theorie und Praxis auf. Es bleibt zu klären, welchen konkreten Beitrag die Pädagogik zur Erforschung des Gegenstandes Personalentwicklung leisten kann – eines Gegenstandes, dem eine Orientierung an den Zielen und Interessen der Organisation und aus dieser Logik heraus, zumindest sofern es sich um ein Unternehmen handelt, an ökonomischen Prinzipien unterstellt wird. Der Vorwurf „Der Mensch ist Mittel. Punkt.“ (Neuberger 1994, 9), also der Personalmachung der Individuen, steht im Gegensatz zu der personenzentrierten Sichtweise eines klassischen Bildungsverständnisses. Wie kommt also die Pädagogik überhaupt dazu, sich mit dem Phänomen Personalentwicklung zu beschäftigen? Zur Klärung dieser Fragen betrachten wir zunächst den Diskurs um die „Entgrenzung des Pädagogischen“. Mit dem Begriff der „Entgrenzung des Pädagogischen“, der besonders von Jochen Kade, Christian Lüders und Walter Hornstein (1993) in die pädagogische Debatte eingebracht wurde, lassen sich unterschiedliche Entwicklungen innerhalb und außerhalb des traditionellen pädagogischen Feldes beschreiben. Zum einen ist hier ein Anstieg pädagogischer Fachkräfte in neuen Arbeitsfeldern zu nennen, zum anderen die Ausdehnung der pädagogischen Berufsarbeit auf den gesamten Lebenslauf eines Menschen. Auch ganze soziale Gebilde wie Organisationen bzw. Institutionen1 rücken als lernfähiges Kollektivsubjekt in den Blick pädagogischen Denkens und Handelns. Daneben ist eine Pädagogisierung der Gesellschaft zu beobachten: In allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, ob dies nun in der Freizeit, in den Medien oder am Arbeitsplatz ist, sind pädagogisches Handeln, Wissen und Reflexion zu einem festen Bestandteil unserer Kultur geworden. Neben die exklusiven Räume der Vermittlung bzw. des Lernens treten allerorten Lern- und Vermitt1
Im Folgenden wird bei eigenen Darstellungen der Begriff der Organisation in einem institutionellen Verständnis verwendet. Dies impliziert die Betrachtung von Organisationen als ganze soziale Gebilde im Gegensatz zum instrumentellen Organisationsbegriff, der den Prozess des Organisierens bzw. das Ergebnis eines planmäßigen Gestaltungsprozesses beschreibt (vgl. Schreyögg 1999, 10).
1.1 Die Entgrenzung des Pädagogischen
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lungsangebote zu allen erdenklichen Themen. Ausgeklügelte didaktische Arrangements versprechen die Überwindung eigener Defizite und die Vermittlung neuen Wissens (vgl. Lüders et al. 2002, 210). Die „Pädagogisierung“ besteht dabei nicht nur in einer von Pädagogen getragenen Ausweitung und Übertragung des Pädagogischen auf nicht-pädagogische Bereiche; sie findet auch ohne die Beteiligung von Pädagogen statt. Dies ist nach Lüders et al. nicht nur darauf zurückzuführen, dass sich Menschen in modernen Gesellschaften durch technischen Fortschritt ständig auf Neues einstellen müssen; pädagogisches Denken und Handeln verändert sich unter diesen Bedingungen ihrer Entgrenzung auch selbst (vgl. ebd., 211). Mit Fallbeispielen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zeigen sie, dass das Pädagogische seine klaren Konturen verliert und sogar dass „im Selbstverständnis der Institutionen das ‚Pädagogische‘ als Pädagogisches meist kaum mehr vorkommt“ (Kade et al. 1993, 58). An seine Stelle treten neue Mischungsverhältnisse bspw. von pädagogischen, kulturellen und ökonomischen Momenten, wobei besonders das Aufeinandertreffen von pädagogischen und ökonomischen Prinzipien in pädagogischen Institutionen auf Skepsis, wenn nicht sogar auf Unmut und Widerstand stößt und die These der Entpädagogisierung pädagogischer Institutionen laut werden lässt (vgl. Lüders et al. 2002, 211f.). Seit Mitte der 1990er Jahre entstehen vor diesem Hintergrund immer wieder Studien mit dem Ziel, sich den verschiedenen Aspekten der Entgrenzungsthese empirisch anzunähern. Cathleen Grunert und Heinz-Hermann Krüger haben von 2000 bis 2003 in einer bundesweiten Studie über 3.200 Diplom-Pädagogen und ca. 600 Magister-Pädagogen nach ihrer beruflichen Situation und ihrem beruflichen Selbstverständnis befragt. Nicht alle der unter die Entgrenzungsthese gefassten Entwicklungen werden hier bestätigt gefunden: So ist bspw. die Rate der Diplom-Pädagogen, die aus der Pädagogik in Arbeitsbereiche in der Wirtschaft abwandern, mit 4,2 der insgesamt 11,4 Prozent der in sogenannten nichtpädagogischen Arbeitsfeldern tätigen Pädagogen sicherlich deutlich geringer als erwartet (vgl. Grunert/ Krüger 2004, 311). Mit einer früheren qualitativen Untersuchung versuchen Harney und Nittel, durch die „Rekonstruktion der pädagogischen Wissensdiversifikation“ (Harney/ Nittel 1995, 334) in Biographien von in der Privatwirtschaft tätigen Pädagogen die Handlungslogiken und biographischen Verlaufsmuster zu erschließen, die zu einer Tätigkeit in diesem pädagogikfernen Berufsfeld und zur Pädagogisierung wirtschaftlichen Handelns führen. Interessanterweise wird hier in einem Fallbeispiel die Schlechterbewertung der pädagogischen Fachkultur im Vergleich zu der anderer Fachbereiche bei gleichzeitiger Affinität zur pädagogischen Berufstätig-
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1 Einleitung
keit als ein Faktor für den Eintritt in ein wirtschaftsnahes Berufsfeld angeführt. Gleichzeitig führt jedoch die dort vorgefundene Profitorientierung zu inneren Konflikten und beruflicher Neuorientierung. Anziehend wirken schließlich die aus dem (pädagogisch-)akademischen Feld vertrauten gemeinsamen Suchbewegungen im Bereich der Unternehmensberatung. Die pädagogische Tätigkeit „im genuinen und emphatischen Sinne“ (ebd., 349), so die Konsistenz herstellende Wahrnehmung, kann eher in einem pädagogikfernen Handlungsfeld umgesetzt werden als in einer traditionell pädagogischen Institution. Harney und Nittel verknüpfen diesen Verlauf mit zwei im Fallbeispiel gefundenen biographischen Figuren: der „Figur des heroischen Handelns und charismatische[n] Dispositionen“ (ebd., 355), weisen aber darauf hin, dass sich durch die Pädagogisierung gesellschaftlicher Bereiche „die Koordinaten und die entsprechenden Plausibilitätsstrukturen von erwachsenenpädagogischer Arbeit als solcher verschieben und verändern können“ (ebd., 354). In der allgemeinpädagogischen Debatte sind auf einer grundlagentheoretischen Ebene unterschiedliche Formen des Umgangs mit diesen Entwicklungen zu beobachten. Auf der einen Seite wird in Frage gestellt, ob die traditionellen pädagogischen Grundbegriffe und Konzepte wie Erziehung, Bildung und Unterricht ausreichen, um pädagogisches Handeln vor dem Hintergrund dieser Expansion des Pädagogischen zu beschreiben (vgl. Grunert/ Krüger 2004, 310). Arnold fragt, ob „bisherige Begrifflichkeiten ‚überwunden‘ werden müssen“ (Arnold, zitiert nach Arnold/ Steinbach 1998, 24), damit die Veränderungen des Arbeitsmarkts und der Gesellschaft theoretisch adäquat abgebildet werden können. Er fordert erweiterte Perspektiven und geweitete Begriffe bei den zuständigen Wissenschaften. Auf der anderen Seite führt diese Diskussion zu einem Wunsch nach Neubestimmung des spezifisch Pädagogischen, zur Frage nach dem „integrierenden Band“ (Combe/ Helsper 1996, 26) bspw. im Zusammenhang mit pädagogischer Professionalität oder der Beschäftigung mit Spezifika pädagogischen Handelns im Kontext pädagogischer Institutionen (vgl. Merkens 2006; Göhlich 2001; Kade/ Seitter 2001). Insbesondere auf institutioneller Ebene wächst die Pädagogik in neue, ihr traditionell nicht zugeordnete gesellschaftliche Bereiche hinein. So richtet sich seit den 1980er Jahren die pädagogische Aufmerksamkeit nicht mehr nur indirekt über den Beruf auf den Betrieb (vgl. Harney 2002, 190), sondern nimmt diesen direkt als pädagogisches Handlungsfeld wahr. Kuper beobachtet in diesem Zusammenhang kritisch eine Auflösung der „Betriebsskepsis der Pädagogik“ (Kuper 2000, 10), die durch die Entwicklung, Qualifizierungsprozesse in den Arbeitsprozess zu integrieren, durch das immer stärker werdende Interesse
1.1 Die Entgrenzung des Pädagogischen
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der Unternehmen, das Personal über die persönliche Identifikation mit der Unternehmenskultur an sich zu binden, sowie durch das „Reflexivwerden von Rationalisierungs- und Organisationskonzepten“ (ebd.) entsteht. Diese Entwicklungen gehen so weit, dass in neueren Veröffentlichungen im Hinblick auf Weiterbildung und Personalentwicklung nicht nur nach der Vereinbarkeit pädagogischer und ökonomischer Prinzipien, sondern nach beide verbindende Konvergenzen gesucht wird (Arnold/ Bloh 2003; Harteis 2000, 2002; Heid 1999, 2003 ). Kuper spricht hier von einer „Überbetonung der Individualisierungsvorgänge“ (Kuper 2000, 81), die sich so jedoch häufig in der betrieblichen Realität nicht wiederfinden. Wegen der „Affinitäten der verwendeten Metaphern“ (ebd., 90) wird hier, so Kuper, zu leicht von einer Konvergenz betrieblicher bzw. ökonomischer und pädagogischer Prinzipien gesprochen. Vorsichtig sind hier auch Göhlich und Zirfas, die im Hinblick auf betriebliche Weiterbildung darauf hinweisen, dass die betriebliche Handlungslogik grundsätzlich nicht in erster Linie persönlichen Kompetenzzugewinn, sondern ökonomischen Gewinn und wirtschaftliches Überleben anstrebt. Auch wenn der Betrieb heute als Lernort verstanden wird, erfolgt die Unterstützung individueller Lernprozesse in ihm und durch ihn grundsätzlich doch stets vor diesem Hintergrund (vgl. Göhlich/ Zirfas 2007, 156). Die durch technologische und strukturelle Veränderungen gegebene andauernde Notwendigkeit individuellen Lernens stärkt nach der Meinung von Göhlich und Zirfas nicht nur die Position der Pädagogik in der Wirtschaft, sondern auch die der in den Betrieben tätigen Pädagoginnen und Pädagogen (vgl. ebd., 157). Immer häufiger sorgt aber gerade in pädagogischen bzw. sozialen Einrichtungen das Aufeinandertreffen pädagogischer und ökonomischer Rationalität für Spannungen. In seiner Arbeit zu Organisationsentwicklungsprozessen in Einrichtungen der Evangelischen Erwachsenenbildung kann Schröer zeigen, dass diese unterschiedlichen Rationalitäten auch durch organisationalen Wandel nicht einfach ineinander übersetzt werden können; „es scheint jedoch möglich zu sein, sie pragmatisch miteinander zu vereinbaren. In organisationalen Entwicklungsprozessen wird sich daher immer wieder die Frage nach einer möglichen Balance […] stellen“ (Schröer 2004, 59). Dies bedeutet wiederum, die bei aller „Entgrenzung“ nach wie vor existierende Abwehrhaltung gegen alles Ökonomische in pädagogischen Kontexten abzubauen. So prangert beispielsweise Kell die Ignoranz und Verdrängung der Einflüsse des Marktes auf die pädagogische Arbeit an. Stattdessen fordert er einen kritischen und zugleich konstruktiven Umgang mit ökonomischen Anforderungen: Pädagogische Arbeit muss von den Pädagogen selbst auf ihre Effizi-
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1 Einleitung
enz hin überprüft werden, um zu verhindern, dass Experten anderer fachlicher Provenienz, bspw. Wirtschaftswissenschaftler, dabei ausschließlich ökonomische Kriterien anlegen. Pädagogen können von den Ökonomen lernen, dass „der Nachweis von Produktivität ökonomischen Handelns Ressourcen erschließt. Sie müssen aber zugleich begründet darauf hinweisen können, daß pädagogische Effizienz sich unterscheidet von ökonomischer Produktivität“ (Kell 1996, 46). Parallel zu dieser Auseinandersetzung mit Ökonomie muss eine Stärkung des Pädagogischen und auch pädagogischer Begrifflichkeiten stattfinden, wie Schäffter im Hinblick auf die Tendenz zur Ökonomisierung (erwachsenen-) pädagogischer Selbstbeschreibungen anmahnt, die er auf ein Theoriedefizit innerhalb der Pädagogik zurückführt (vgl. Schäffter 1997, 3ff). Die ökonomische Definitionsmacht, die sich auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zeige, trifft „auf ein weitgehend ungefestigtes fachliches Selbstverständnis und auf Unsicherheiten in Bezug auf das Spezifische pädagogischen Handelns“ (ebd., 6). In der unreflektierten Übernahme von Deutungsmustern aus dem gesellschaftlich dominanten ökonomischen Bezugssystem sieht er eine Gefahr für die bisher erreichten fachlichen pädagogischen Standards.
1.2 Pädagogische Organisationsforschung Organisationen, seien es pädagogische oder nicht-pädagogische, sind aus pädagogischer Sicht nicht nur als Ort der Unterstützung individueller Lernprozesse relevant, sondern auch als Kollektivsubjekt organisationalen Lernens; und sie sind als solche Gegenstand pädagogischer Organisationsforschung. Spätestens seit den Studien von Rutter et al. (1980) an Londoner Sekundarschulen ist klar, dass sich Organisationen, und ähneln sie sich auch noch so stark in ihrer formalen Struktur, durch ihre Kultur sowie durch in ihr begründete informelle Prozesse und Strukturen, welche die am offiziellen Zweck orientierte Formalstruktur überformen können, unterscheiden. Die Akteure in Organisationen besitzen eine je eigene Handlungsrationalität. Daraus kann sich eine Dynamik entwickeln, die das Konzept der Organisation als das eines einheitlichen Zweckverbands sprengt bzw. in Frage stellt (vgl. Kühl/ Strodtholz 2002, 15). Zu ähnlichen Ergebnissen kommen in der frühen Organisationskulturforschung der 1980er Jahre Peters und Waterman bei einem Vergleich von US-Unternehmen: Die Autoren gehen davon aus, dass die sogenannten „weichen Faktoren wie soziale Qualifikation der Manager, Art der Stellenbesetzungen, Führungsstil oder Betriebsklima für den Erfolg wichtiger sind als die harten wie die Strategie, die
1.2 Pädagogische Organisationsforschung
17
Organisationsstruktur oder die Steuerungs- und Kontrollsysteme“ (Rosenstiel 2004, 227). Trotzdem macht Schein noch in seinem Aufsatz von 1996 auf die Kultur als „The Missing Concept in Organization Studies“ aufmerksam. Dabei bezieht er sich vor allem auf die bis dahin existierende Organisationsforschung seitens Psychologie, Soziologie und Anthropologie, die den Einfluss von Kultur auf das Verhalten von und in Organisationen nicht zu erklären vermag. Schein führt dies unter anderem auf die bisher verwendeten Untersuchungsmethoden zurück, „which put a greater premium on abstractions that can be measured than on careful ethnographic or clinical observation of organizational phenomena“ (Schein 1996, 229). Ziel einer neueren Organisationsforschung ist deshalb weniger „der breit angelegte Vergleich organisationaler Wirkungsmechanismen als vielmehr das Eindringen in die Tiefe des Einzelfalls“ (Kühl/ Strodtholz 2002, 16). Sie arbeitet mit qualitativen Methoden: Nicht formale Strukturen, sondern Kommunikationsoder Handlungssequenzen, also Prozesse, die der Wahrnehmung und Interpretation sozialer Wirklichkeit zu Grunde liegen, werden im alltäglichen Kontext untersucht. Es sollen nicht einzelne Kausalitäten isoliert, sondern subjektiv gemeinter Sinn rekonstruiert und komplexe Zusammenhänge verstanden werden (vgl. ebd.). Der pädagogische Beitrag zur Organisationsforschung liegt in ihrem besonderen Interesse an Lernprozessen in und von Organisationen und deren Unterstützung. Im Gegensatz zur Soziologie fragt die Pädagogik nicht, wie eine Organisation beschaffen ist, sondern wie sie Lernprozesse unterstützt und wie die auf sie bezogenen Lernprozesse der Organisation unterstützt werden können (vgl. Göhlich 2005b). Sie fragt nicht wie die Betriebswirtschaft nach ökonomischem Mehrwert, sondern nach Zugewinnen, die die menschliche Praxis insgesamt umgreifen. Und im Unterschied zur Psychologie betrachtet die Pädagogik Lernen nicht als Verhaltensänderung, sondern verwendet einen Lern- und Lernunterstützungsbegriff, der sich mitunter auf die Denktraditionen zu Bildung und Erziehung stützt (vgl. ebd.). Im Gegensatz zu Lutz von Rosenstiel, der das primär interessierende Handeln von Menschen in Organisationen in deren Arbeit sieht (Rosenstiel 2004, 225), konzentriert sich die pädagogische Organisationsforschung also auf deren Lernen. Ihr Ziel ist, Lernhindernisse bzw. Hindernisse organisationalen Wandels zu beseitigen sowie Ressourcen zu entdecken und zu nutzen, also letztlich Lernprozesse zu ermöglichen, zu kultivieren und zu optimieren. Sie fragt danach, wer lernt, wenn von organisationalem Lernen gesprochen wird – ob es Individuen in
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1 Einleitung
der Organisation, Kollektive oder die Organisation als Ganzes sind. Sie fragt nach den organisationalen Rahmenbedingungen, die diese individuellen und organisationalen Lernprozesse fördern und behindern. Der pädagogische Blick muss sich dabei über das Lernen und die Lernbedürfnisse des Individuums hinaus auch auf Teamprozesse und organisationale Prozesse richten. Pädagogische Organisationsforschung muss sowohl subjektiven Sinn auf der Ebene der Interaktion als auch übergeordnete organisationale Sinnstrukturen erfassen, also die Handlungsebene ebenso wie die Systemebene (vgl. Göhlich 2001). Nur so kann sie auch Anschlussstellen individuellen und organisationalen Lernens sichtbar und damit nutzbar machen. Damit dies gelingt, müssen die Methoden der pädagogischen Organisationsforschung prozessorientiert und stark auf alltägliche Abläufe ausgerichtet sein. Die Verfahren sollen nicht nur auf der Ebene des Bewussten, Intentionalen und Reflexiven, sondern auch auf der Ebene des Performativen sowie mimetischer Prozesse ansetzen (vgl. Göhlich 2005a, 18). Sie müssen geeignet sein, Wandelprozesse, implizite Regeln, Muster und Haltungen zu erfassen, und dadurch Ansatzpunkte für pädagogische Intervention schaffen.
1.3 Ziel und Aufbau der Arbeit Die Entgrenzung des Pädagogischen mit all ihren positiven und negativen Konsequenzen für das pädagogische Selbstverständnis ist nicht wegzudiskutieren. Zu fragen bleibt, wie sich die Pädagogik in pädagogisierten Organisationen unter pädagogischen Laien und in entpädagogisiert-zu-werden-drohenden pädagogischen Organisationen zu positionieren gedenkt; ob sie die Entgrenzung als Chance für die Konstitution eines neuen oder lediglich als Bedrohung eines alten Selbstverständnisses begreift und dabei Gefahr läuft, ihre eigenen Werte und Ziele einer die gesellschaftliche Gesamtpraxis dominierenden ökonomischen Rationalität zu unterwerfen. Eine den pädagogischen Fragen verpflichtete, ressourcenorientierte Organisationsforschung stellt eine Möglichkeit dar, pädagogische Kompetenz in alten und neuen pädagogischen Feldern auszumachen und zu stärken sowie neues pädagogisches Wissen über Organisationen zu generieren. Dabei kann es nicht darauf ankommen, über die Konvergenzthese einer Legitimation pädagogischen Denkens und Handelns in einer modernen institutionalisierten Gesellschaft zu suchen; vielmehr sollte das Ziel eine Stärkung des Pädagogischen neben dem Ökonomischen sein.
1.3 Ziel und Aufbau der Arbeit
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Die empirische Untersuchung zweier Organisationen, einer pädagogischsozialen Einrichtung und eines Wirtschaftsunternehmens, soll zeigen, welche Rolle pädagogische Prinzipien jeweils bei der Planung und Durchführung von Personalentwicklungsmaßnahmen spielen. Es sollen Elemente pädagogischen Denkens und Handelns in den Strukturen und Abläufen der Organisationen sowie im Denken und Handeln ihrer Mitglieder identifiziert sowie Ressourcen und Hindernisse individueller und organisationaler Lern- und Entwicklungsprozesse ausfindig und zugänglich gemacht werden. Personalentwicklung als der Teil betrieblicher Abläufe und Strategien, der auf die Verbesserung der Kompetenzen der Mitarbeiterschaft durch Lernen ausgerichtet ist (vgl. Arnold/ Bloh 2003, 6; Becker 2002, 1), bietet sich deshalb als Gegenstand an, weil in ihr der Blick auf individuelle und organisationale Lernprozesse bereits angelegt ist. Sie verfolgt eine duale Zielsetzung: einerseits die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und andererseits die der Beschäftigungsfähigkeit der arbeitenden Menschen (vgl. Becker 2002, 4). Idealerweise schafft sie Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für „selbstorganisiertes, strategieumsetzendes und organisationales Lernen“ (Arnold/ Bloh 2003, 7). Entsprechend verspricht die Beschäftigung mit Prozessen der Personalentwicklung einen Zugewinn pädagogischen Wissens über Lern- und Lernunterstützungsprozesse in und von Organisationen. Nach einer Annäherung an das Wesen des Pädagogischen auf der Basis aktueller pädagogischer Arbeiten mit organisationalem Bezug und einer Sichtung des interdisziplinären Diskurses zur Personalentwicklung (Kapitel 2) werden die Fragestellung und der Gegenstand der Untersuchung konkretisiert (Kapitel 3) und davon ausgehend die methodische Vorgehensweise begründet (Kapitel 4). Kapitel 5 gibt unter Bezugnahme auf schriftliche Dokumente einen Überblick über die beiden untersuchten Organisationen. In Kapitel 6 wird in die qualitative Analyse des erhobenen Datenmaterials eingeführt. Die Kapitel 7 bis 10 stellen die ausführliche themenbezogene Analyse der qualitativen Daten vor. Kapitel 11 fasst die herausgearbeiteten Praxismuster der beiden Organisationen zusammen und entwirft ein Gesamtbild der jeweiligen Organisationskultur und deren Auswirkungen auf individuelle und organisationale Lernprozesse. Abschließend fragt Kapitel 12 nach der Personalentwicklungspraxis der beiden Organisationen im Spiegel der zuvor herausgearbeiteten aktuellen Konzepte und Entwicklungen.
2 Pädagogische Praxis und Personalentwicklung
2.1 Zum Wesen des Pädagogischen Handeln in Organisationen wird immer durch das soziale System, in dem es stattfindet, zugleich bestimmt, begrenzt und ermöglicht. So findet auch das Handeln der an Personalentwicklung beteiligten Akteure (ob nun bewusst oder unbewusst) nie losgelöst von den organisationalen Grenzen und Strukturen und den damit verbundenen Regeln und Leitideen statt, ohne deshalb zwangsläufig mit ihnen deckungsgleich zu sein. Inwieweit sowohl auf der Ebene des Systems als auch auf der Handlungsebene in Organisationen pädagogische Prinzipien zum Tragen kommen, soll in dieser Arbeit gezeigt werden. Was aber sind diese pädagogischen Prinzipien und wie und wodurch unterscheiden sie sich von anderen Aspekten der Praxis einer Organisation? Die Bestimmung des spezifisch Pädagogischen soll insbesondere über aktuelle Arbeiten erfolgen, die das Pädagogische im pädagogischen, aber auch im nicht-pädagogischen organisationalen Kontext zu bestimmen suchen. Dies scheint aus zwei Gründen sinnvoll: Zum einen soll der Blick von vornherein nicht auf pädagogisches Handeln im Sinne eines linearen, einem konkreten Akteur zugeschriebenen, bewussten Vorganges beschränkt werden, sondern auch systemische Prozesse erfassen, die die Praxis einer Organisation mit bestimmen. Zum anderen ist die Betrachtung institutionalisierter pädagogischer Praxis nicht möglich, ohne dabei das bereits angedeutete Spannungsverhältnis von Individuum und Organisation zu thematisieren, das auch ein zentrales Moment in der Auseinandersetzung mit Personalentwicklung darstellt – insbesondere dann, wenn diese als pädagogische Praxis beschrieben werden soll. Bei den ausgewählten Beispielen (Kapitel 2.1.1 – 2.1.6) handelt es sich um neuere (ab 2000 erschienene) Veröffentlichungen, die sich auf unterschiedliche pädagogische Praxisfelder und Institutionen beziehen und dabei das Pädagogische in ihnen gezielt oder als Nebenprodukt ihrer Arbeit thematisieren. Dabei beziehen sich die Autoren immer wieder auf sog. „einheimische Begriffe“ (Herbart) bzw. grenzen sich von diesen ab.
I. Sausele-Bayer, Personalentwicklung als pädagogische Praxis, DOI 10.1007/978-3-531-94021-2_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Pädagogische Praxis und Personalentwicklung
Abschließend (Kapitel 2.1.7) soll mit dem allgemeinpädagogischen Ansatz von Benner (2001) eine Verhältnisbestimmung des Pädagogischen zu anderen Teilaspekten der menschlichen Gesamtpraxis vorgenommen werden.
2.1.1 Das Lehr-Lern-Verhältnis als neue pädagogische Grundfigur Merkens beschreibt die Schwierigkeit, das spezifisch Pädagogische in pädagogischen Institutionen aufgrund des breiten Spektrums pädagogischer Institutionen und der Vielfalt an Aufgaben, die in ihnen erfüllt werden, zu bestimmen (vgl. Merkens 2006, 50f.). Zu diesen Aufgaben gehören seiner Ansicht nach die Organisation des pädagogischen Verhältnisses, Beurteilen und Bewerten, Verwalten sowie Beraten und Helfen. Eine eindeutige Trennung pädagogischer Institutionen von anderen Institutionen ist seiner Ansicht nach „allein schon deshalb nicht möglich […], weil es Institutionen gibt, die nicht nur pädagogische Aufgaben wahrzunehmen haben, sondern denen daneben auch andere Aufgaben übertragen sind“ (ebd., 32). So kommt er zu der durchaus fragwürdigen Zuordnung des Sportvereins zu pädagogischen Institutionen, weil er das „notwendige“ Kriterium des professionellen pädagogischen Handelns in ihm erfüllt sieht (vgl. ebd.). Zur näheren Bestimmung dieses Pädagogischen betrachtet Merkens Merkmale des Pädagogischen, „die nicht institutionenspezifisch sind“ (ebd., 53), als da wären: Erziehung, Unterricht, Sozialisation, Beratung und Hilfe. Beratung und Hilfe müssen sich dabei allerdings „entweder auf Erziehung, Bildung, Sozialisation oder Unterricht von Individuen oder auf Institutionen in Praxisfeldern bzw. auf Aktivitäten beziehen, in denen diese Aktivitäten organisiert werden, wenn es sich dabei um pädagogische Tätigkeiten handelt“ (ebd., 58). Was alle pädagogischen Prozesse gemein haben, ist nach Merkens, dass sie auf der Ebene einer Zweierbeziehung stattfinden – in pädagogischen Verhältnissen, für die innerhalb pädagogischer Institutionen die organisatorischen Voraussetzungen geschaffen werden müssen (vgl. ebd., 38) und die gleichzeitig in einem Spannungsverhältnis zur „Institution mit ihren Regeln des Handelns“ (ebd., 37) stehen.2 Da nun nicht übergreifend für alle pädagogischen Institutionen von einem Erziehungsverhältnis gesprochen werden kann – bspw. in der Erwachsenenbil2
Merkens Ausführungen liegt hier das nach wie vor im pädagogischen Diskurs verbreitete instrumentelle Organisationsverständnis (vgl. Schreyögg 1999, 5) zugrunde, das Organisation im Gegensatz zum institutionellen Organisationsbegriff als den Prozess des Organisierens bzw. das Ergebnis eines planmäßigen Gestaltungsprozesses versteht.
2.1 Zum Wesen des Pädagogischen
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dung – ist nach Merkens eine Reformulierung des pädagogischen Verhältnisses nötig. Er spricht schließlich vom pädagogischen Verhältnis als einem „LehrLern-Verhältnis“ (ebd.), weil dieses der Unterscheidung von Erziehung und Unterricht gegenüber neutral ist. Merkens unterscheidet zwei Varianten von Lehr-Lern-Verhältnissen: „Einerseits kann es sich darum handeln, dass Lernende von Lehrenden trainiert werden können, in diesem Fall ist das Lernen in Bezug auf das Lehren ein eher rezeptiver Vorgang. Andererseits kann davon ausgegangen werden, dass die Lernenden in diesem Prozess eine aktive Rolle übernehmen, indem sie selbst ihren Lernprozess weitgehend mit gestalten. In diesem Fall bestünde Lehren vor allem im Herstellen optimaler Lernarrangements“ (ebd., 62). Darunter fallen nach Merkens auch neuere Lernarrangements wie Coaching und Beratung. Das Lehr-Lern-Verhältnis umfasst also mehr „als nur die Figur des traditionellen pädagogischen Verhältnisses“ (ebd.) und legitimiert sich dadurch als neue Grundfigur für das pädagogische Handeln. Besondere Bedeutung erfährt dabei der Eigenanteil der Lernenden bzw. das Selbstlernen. Pädagogisch handeln diejenigen Personen in pädagogischen Institutionen, „welche gegen Entgelt in ihnen tätig sind mit dem Auftrag, Lernumwelten für Dritte zu gestalten bzw. eine Lernumwelt für diese so zu arrangieren, dass sie zur Eigentätigkeit angeregt werden“ (ebd. 67). Das gilt aus seiner Sicht für Erzieher wie für Manager (vgl. ebd. 64). Wo Merkens nun tatsächlich die Grenze zwischen pädagogischen und nichtpädagogischen Institutionen zieht, bleibt unklar. So zählt er auch Institutionen, in denen keine Dominanz des Pädagogischen vorzufinden ist, zu den Pädagogischen. Dies ist beispielsweise in einem Handwerksbetrieb der Fall, in dem zwar „auch pädagogisch gehandelt wird, im Wesentlichen aber das Unternehmerische dominiert“ (ebd., 108), oder, mit Rekurs auf Tillmann, bei Militär und Kirche, für die es eine Militär- bzw. Religionspädagogik gibt und die, so sein Schluss, „also als pädagogische Institutionen behandelt werden, in denen auch pädagogisch gehandelt wird“ (ebd., 74). Dagegen, dass das Pädagogische einer Institution sein kann, dass sie „als Institution eine Wirkung hat, die man mit pädagogisch beschreiben kann“ (ebd., 61), ist nichts zu sagen; ob dies aber per se eine pädagogische Organisation aus ihr macht, bleibt doch fragwürdig (s. dazu Göhlich 2001, 236). Insgesamt stellt Merkens Arbeit keine in sich geschlossene Theorie pädagogischer Institutionen dar, sondern ist vielmehr eine Zusammenstellung möglicherweise passender, jedoch noch unverbundener Zugänge.
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2 Pädagogische Praxis und Personalentwicklung
2.1.2 Relationsbewusstsein und Kontextwissen als Voraussetzung organisierten Lernens Erwachsener Schäffter beschreibt eine „organisationsbezogene Wende“ (Schäffter 2003, 59) innerhalb der Erwachsenenbildung, die seiner Meinung nach aufgrund der zunehmenden Größe von Weiterbildungseinrichtungen, der unter anderem damit verbundenen Ausdifferenzierung der Arbeitsbereiche, der Veränderungen in der Rechtsform, den veränderten Ansprüchen der „Kunden“ etc. gerechtfertigt ist (vgl. ebd., 59f.). Schäffter spricht weder von der Organisation, noch vom Vorgang des Organisierens. Er verwendet den Begriff Organisation immer ohne Artikel. Ob Schäffter mit einem institutionellen oder einem instrumentellen Verständnis von Organisation arbeitet, wird wie auch schon in vorangegangenen Veröffentlichungen (vgl. Schäffter 1997, 8ff) nicht deutlich. Er definiert Organisation aus systemischer Perspektive als „Zusammenspiel verschiedener Fachkompetenzen zu einer komplexen Verknüpfungsstruktur“ (Schäffter 2003, 63). Die Weiterbildungsorganisation „koordiniert und verknüpft unterschiedliche Einzeltätigkeiten, um Lernanlässe zu ermitteln, diese in Form von Bildungsangeboten aufzugreifen und zusammen mit den Teilnehmer/innen in Lernprozesse umzusetzen, die es schließlich in fördernden Kontexten zu begleiten gilt“ (ebd.). Entsprechend beschreibt er auch das spezifisch Pädagogische von Weiterbildungsorganisationen nicht durch „einzelne, herausgehobene Berufspositionen und deren Tätigkeitsmerkmale“, sondern durch „die Gesamtheit einer Weiterbildungsorganisation in ihrem vernetzten Zusammenspiel“ (ebd.). Das spezifisch Pädagogische liegt also in ihrer Leistung: dem „nicht zufällige[n], sondern intentional organisierte[n] Lernen in Gruppen erwachsener Teilnehmer/innen“ (ebd., 63f.). Anders als andere Autoren, die sich aus einem instrumentellen Organisationsverständnis heraus eher kritisch mit Organisation beschäftigen, weil diese der Verwirklichung pädagogischer Prozesse und Ziele im Wege steht (vgl. Terhart 1986), stellt für Schäffter Organisation das Pädagogische erst her (vgl. Schäffter 2003, 64). Damit misst er auch jedem Teilbereich der Weiterbildungsorganisation ebenso wie der Lehrtätigkeit eine „pädagogische Bedeutung“ (ebd.) zu. Voraussetzung für das Gelingen pädagogischer Organisation ist auf der einen Seite „Kontextwissen“, also „das Wissen um den eigenen Wirkungshorizont“ (ebd.) und auf der anderen Seite „Relationsbewusstsein“, also „das Bewusstsein von der Verschränkung der eigenen Tätigkeit mit den Leistungsteilen der anderen“ (ebd.). Diese beiden Elemente stellen gleichzeitig den Ausgangspunkt der Weiterentwicklung pädagogischer Organisation dar. „Die Klärung von Kontextwissen
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kann in diesem Zusammenhang als eine basale Form von Organisationslernen betrachtet werden“ (ebd., 66), so Schäffter. Das Zusammenspiel von beiden muss „durch institutionsbezogene Mitarbeiter/innenfortbildung und pädagogische Organisationsberatung unterstützt werden“ (ebd., 67). Hierzu hat Schäffter unter einer deutlich institutionellen Perspektive das „Funktionssystem Weiterbildung“ (ebd., 68) entwickelt, in dem die unterschiedlichen Funktionsbereiche deutlich werden: der ordnungspolitische Entscheidungsrahmen, die Weiterbildungseinrichtung und die Aneignungsstrukturen und Lernmilieus. Organisationsentwicklung ist vor diesem Hintergrund nur sinnvoll, wenn sie systemisch ausgerichtet ist und die „Relationen quer zu den drei Funktionsbereichen“ (Küchler/ Schäffter 1997, 70) sichert.
2.1.3 Umgang mit Wissen als neue pädagogische Relation Unter der Annahme, dass sich in gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen auch das Pädagogische ändert, versuchen Kade und Seitter, sich mit dem Konzept „Umgang mit Wissen“ pädagogiknahen Feldern anzunähern bzw. diese „nicht vorschnell pädagogisch enggeführt“ (Kade/ Seitter 2001, 10) zu betrachten. Das Konzept wird zu Forschungszwecken eingeführt und gleichzeitig an einem Projekt entfaltet, das den „Umgang mit Wissen von Führungskräften und Obdachlosen im Rahmen ihrer institutionell (nicht organisatorisch) geprägten sozialen Welten“ (ebd., 11) untersucht. Ihre These dabei ist, dass in solchen „extremen Institutionalisierungskontexten gesellschaftlich neue pädagogische Formen entwickelt und ,getestet‘ werden“ (ebd.) und dadurch sichtbar gemacht werden können. „Umgang mit Wissen“ fungiert dabei als heuristisches Konzept. Auch hier wird also ein institutioneller Kontext herangezogen, um das Pädagogische zu bestimmen. Kade und Seitter betonen dabei in Abgrenzung zum organisatorischen den institutionellen Bezugsrahmen. Im Gegensatz zu Merkens gehen sie explizit über einen reinen Handlungsbezug hinaus (vgl. ebd., 10). Entsprechend finden sich in der Untersuchung drei Analyseebenen: Institution, Individuum und Interaktion (vgl. ebd., 11). Zunächst verwenden Kade und Seitter ähnlich wie Merkens die „prozedural-sozialen“ (ebd., 6) Elemente Vermitteln und Aneignen zur Annäherung an das allgemein Pädagogische und fügen dem noch das „sachliche“ Element des Inhalts hinzu (vgl. ebd.). Eine den Ideen der Aufklärung verpflichtete Pädagogik folgt hier der „historisch bewährte[n], theoretisch und praktisch immer noch anregungsreiche[n] Orientierungsmarke“ (ebd.) Bildung. Allerdings, so Kade
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2 Pädagogische Praxis und Personalentwicklung
und Seitter, haben sich die gesellschaftlichen, institutionellen und kulturellnormativen Rahmenbedingungen verändert, so dass die an ein Verständnis von Bildung als Mündigkeit und Autonomie geknüpfte „synthetisch-harmonisierende Denkform der modernen Pädagogik […] ihre empirische Deckung“ (ebd., 8) einbüßt. Kade und Seitter beziehen sich hier auf innerhalb und außerhalb der (wissenschaftlichen) Pädagogik liegende Entwicklungen. So verändern sich beispielsweise durch den Einfluss neuer Medien nicht nur die Vermittlungs- und Aneignungsformen, sondern es werden auch „die Fundamente von Bildung durch den Informations- und Unterhaltungstrend moderner Gesellschaften im Kontext der neuen Kommunikations- und Informationstechnologien erodiert“ (ebd.). Innerhalb des pädagogischen Verhältnisses findet eine „Verschiebung des Aktivitäts- und Gravitationszentrums (von Bildung) von den Pädagogen zu ihren Adressaten hin statt“ (ebd., 7), und das pädagogische Verhältnis selbst wandelt sich durch die Ökonomisierung der Pädagogik von einem normativ integrierten Verhältnis zu einer Dienstleistungs- bzw. Kundenbeziehung, die von den Bedürfnissen der Adressaten bestimmt wird (vgl. ebd., 8). Vor diesem Hintergrund wird das Konzept „Bildung“ durch das offenere Konzept „Umgang mit Wissen“ ersetzt. Im Gegensatz zu Bildung betont Umgang mit Wissen „die Vielzahl der Kontexte, in denen Vermitteln, Aneignen und Wissen steht [und gleichzeitig] die Verselbständigung dieser Elemente gegeneinander und die auf dieser Grundlage entstehende Vielzahl von sie verbindenden Relationen“ (ebd., 9). Im Konzept „Umgang mit Wissen“ wird die mit dem Konzept der Bildung einhergehende Einheitsvorstellung aufgelöst und in die Relation von ,Umgang‘ und ,Wissen‘ zerlegt. „Inhalts- und Umgangsfragen treten damit auseinander, sind aber aufeinander bezogen; wobei sich allerdings der Schwerpunkt von der Frage nach dem Was auf die nach dem Wie verschiebt, also auf die Fragen des Umgangs“ (ebd.). Vor dem Hintergrund ihres systemischen Theorieunterbaus ergeben die empirischen Untersuchungen, dass das Pädagogische „weniger in Reinform als pädagogische Kommunikation, denn als Übergang zwischen Informationsmitteilung, Wissensvermittlung und pädagogischer Kommunikation“ (Kade/ Seitter 2007, 15) existiert. Während Kade und Seitter in ihrer Kritik am Bildungsbegriff hauptsächlich auf die Konstituierung einer Denkform unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eingehen, soll hier darüber hinaus betont werden, dass das traditionelle Konzept der Bildung, wie Kade und Seitter es beschreiben, als etwas, das „durch die Aneignung von (wissenschaftlichem) Wissen, vorzugsweise durch die intensive Auseinandersetzung mit in schriftlicher Form als Buch exis-
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tierendem Wissen“ (ebd., 7), entsteht, nicht ausreicht, um pädagogische Prozesse in Gänze zu erfassen und zu beschreiben. Dieses Verständnis würde alle Prozesse auf der Ebene des Performativen (vgl. Wulf et al. 2001) und der Mimesis (vgl. Gebauer/ Wulf 1998) ausklammern.
2.1.4 Gemeinsame Erkenntnissuche durch Lernen Geißlers Ausführungen zur Organisationspädagogik beziehen sich nicht ausschließlich auf pädagogische Institutionen, sondern vor allem auf die Aufgabe einer neu zu konstituierenden Organisationspädagogik innerhalb des interdisziplinären Diskurses zum Thema Organisation. Um Organisation begrifflich zu fassen, betrachtet Geißler (2000) acht Gemeinschaftstypen, wie z.B. Arbeitsgemeinschaft, Ordnungsgemeinschaft oder Erkundungsgemeinschaft, aus denen er acht konstitutive Komponenten ableitet. In Anlehnung an Luhmanns „symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien“ (ebd., 19) sollen diese Komponenten helfen, Gemeinschaften zu erfassen und zu definieren. Die acht Komponenten, die Geißler anbietet, sind: Leistung bzw. Arbeit und Expertentum; Spiel, Spaß und Ästhetik; Ordnung; Kritik; Tausch; Sympathie und Fürsorglichkeit; Auseinandersetzung und Kampf; Werte und Normen. In jeder Gemeinschaft sind diese acht Komponenten untrennbar miteinander verbunden; sollte eine von ihnen besonders stark vorherrschen, klingen die anderen trotzdem mit. Eine Organisation steht in Geißlers Modell für eine ganz spezielle Form von Gemeinschaft: „Sie zeichnet sich dadurch aus, daß ihre Innenbeziehungen in besonderer Weise durch eine von ihnen, nämlich durch die Komponente der Arbeit geprägt ist. In diesem Sinne kann man sagen: Organisationen sind Arbeitsgemeinschaften“ (ebd., 24). Wieder lassen sich in Anlehnung an die oben genannten Komponenten acht Organisationstypen unterscheiden, die sich aus dem Charakter der Außenbeziehungen ableiten: die kompetenzvermittelnde, die erwerbswirtschaftliche, die staatlich-hoheitlich ordnungssichernde, die sozial-fürsorgliche, die idealistisch-weltanschauliche, die kämpferische, die erlebnisorientierte und die forschungsverpflichtete Organisation. Im Falle einer pädagogischen Organisation handelt es sich demnach also in erster Linie um eine kompetenzvermittelnde Organisation und im weiteren Sinne auch um eine sozial-fürsorgliche Organisation. Die Notwendigkeit, neben die Beschäftigung mit Organisation von Seiten der Psychologie, der Soziologie und der Betriebswirtschaft einen eigenen pädagogischen Zugang zu stellen, sieht Geißler im gestiegenen Interesse an organisa-
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tionalem Lernen. Globalisierung der Märkte, Leben in der „Risikogesellschaft“ (Beck 1986), die zunehmende Komplexität und Pluralisierung in allen Lebensbereichen, kurzum: das sich immer schneller und tiefgreifender verändernde Umfeld von Organisationen zwingt diese, zu lernen, wie sie sich möglichst schnell diesen neuen Bedingungen anpassen können. Dabei zeichnet sich die Pädagogik aus der Sicht Geißlers beispielsweise im Vergleich zur pädagogischen Psychologie dadurch aus, dass sie nicht nur die Art und Weise, wie gelernt und gelehrt werden sollte, sondern „was sinnvoll gelernt werden sollte bzw. warum etwas gelernt und gelehrt werden sollte“ (Geißler 2000, V), zum Gegenstand hat.3 Geißler betrachtet Organisationen unter drei pädagogischen Gesichtspunkten, die er zur Begründung einer Organisationspädagogik heranzieht: der gemeinsamen Erkenntnissuche durch Lernen, deutero learning als Bildungsprozess und Organisationsdidaktik. Pädagogik interessiert sich hierbei vor allem für die gemeinsame Erkenntnissuche durch Lernen (vgl. Geißler 2000, 45). Das Lernen in der Organisation ist gleichzeitig ein Lernen für die Organisation. Dies bedeutet, gemeinsam herauszufinden, „wodurch sich die vorliegende Organisation auszeichnet und wie sie wünschenswerter Weise sein sollte. Hierbei Aufklärungsunterstützungen zu geben ist die Aufgabe der Organisationspädagogik“ (ebd., 46). Was eine Organisation nun aber sein soll, „kann – unter einem pädagogischen Gesichtspunkt betrachtet – nicht von der Pädagogik vorgegeben werden, sondern muß von der Organisation auf dem Wege einer gemeinsamen Erkenntnissuche, d.h. durch gemeinsames Lernen selbst erarbeitet werden“ (ebd., 47). Die Organisationspädagogik stellt keine inhaltlichen Vorgaben bereit, sondern beschränkt sich auf den methodischen Aspekt, nämlich wie sich lernende Organisationen „begründen und entwickeln sollten, um in der eigenen Praxis zu lernen“ (ebd.). Die pädagogische Leitkategorie, die er hier zugrunde legt, und damit ein weiterer pädagogischer Gesichtspunkt, den Geißler anführt, ist der Bildungsbegriff mit dem ihm innewohnenden Ziel, „die Freiheit und Eigenständigkeit des einzelnen und der Gemeinschaft zu fördern“ (ebd., 50). Geißler übersetzt den traditionellen Bildungsbegriff im Hinblick auf organisationale Lernprozesse
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Berufs-, Betriebs- und Arbeitspädagogik können in ihrer bisherigen Definition diesen Bereich nur bedingt abdecken, so Geißler; zumal das Duale Ausbildungssystem, worauf sie sich beziehen, seit dem Gutachten von Baethge und Schiersmann von 1998 immer stärker in Frage gestellt wird. Die Betriebspädagogik, die am ehesten geeignet erscheint, hat „nicht die betrieblichen Organisationsund Funktionszusammenhänge als solche zum Gegenstand, sondern das Individuum […] als das in seinen Möglichkeiten zu entwickelnde und zu bildende Subjekt“ (Arnold, zitiert nach Geißler 2000, 48).
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allerdings in den „neueren organisationspsychologischen Begriff des ,deutero learning‘“ (ebd., 51) nach Argyris und Schön. Organisationales Lernen ist nach Geißler „ein individuelles Lernen, das die einzelnen Organisationsmitglieder untereinander so abstimmen, dass es möglich wird, gemeinsam die sozialen Regeln und Interaktionsstrukturen, die ihrem Arbeiten und Kooperieren zugrunde liegen, zu verbessern […]. Auf diese Weise wird das individuelle Lernen der einzelnen zum Gemeinschaftslernen der Organisation“ (ebd., 50). Organisationale Lernprozesse setzt Geißler hier mit organisationalen Bildungsprozessen gleich (vgl. ebd., 51). Mit Blick auf die Ermöglichung dieser Lernprozesse beschreibt er mit der Aufgabe der Organisationspädagogik, eine „Organisationsdidaktik“ (ebd., 57) zu entwickeln, den dritten pädagogischen Gesichtspunkt, unter dem Organisationen seiner Ansicht nach zu betrachten sind.
2.1.5 Lernen unterstützen Für Göhlich zeichnet sich die Besonderheit der Praxis pädagogischer Institution dadurch aus, „daß sie, wenn nicht alle, so doch den größten Teil der an sie angeschlossenen Individuen vorrangig als lernende bzw. lernunterstützende Systeme bzw. Akteure anschließt“ (Göhlich 2001, 243). Seine „Theorie der Praxis pädagogischer Institutionen“ widerspricht der Zuordnung eines Handwerksbetriebes oder Fußballvereines zu den pädagogischen Institutionen, wie sie bspw. bei Merkens zu finden ist. Dass jede Institution lernt, ist für ihn nicht gleichbedeutend damit, dass jede Institution eine pädagogische ist. Dazu wird sie erst, „wenn sie das Lernen sowie die Lernunterstützung der an ihr beteiligten sozialen Systeme und individuellen und kollektiven Akteure ins Zentrum ihrer Praxis stellt“ (ebd., 248). Die Lernunterstützung muss der vorherrschende Aspekt der Praxis einer Institution sein, damit diese als pädagogische Institution bezeichnet werden kann (vgl. ebd., 236). Für die Theorie der Praxis pädagogischer Institutionen, die Göhlich entwirft, führt er zunächst system- und handlungstheoretische Zugänge zu einer Theorie institutioneller Praxis zusammen. Erst durch das Zusammendenken beider Ansätze wird seiner Ansicht nach ein komplexes und präzises Verständnis der Praxis konkreter Einrichtungen möglich; und nur durch ihre Zusammenführung kann geschehen, was bestehende Organisationstheorien bisher nicht leisten, nämlich zu erklären, weshalb zwischen zwei Einrichtungen trotz übereinstimmender organisatorischer Merkmale enorme Unterschiede bestehen können.
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Natürlich fallen bei der Abgrenzung der beiden Ansätze Differenzen auf, die Göhlich jedoch als produktive Spannungen betrachtet (vgl. ebd., 194). Gleichzeitig findet er Übereinstimmungen und Verwandtschaften von system- und handlungstheoretischem Verständnis institutioneller Praxis wie z.B. das Verhältnis von Muster und Habitus: „Wer immer […] sich an dem betreffenden Prozessieren handelnd beteiligt, kann dies nur mittels einer (zumindest graduellen, mimetischen) Angleichung an die sozialsystemischen Muster. Bei andauernder Beteiligung verfestigt sich dieses mustermimetische Handeln […] zum Habitus eines (individuellen) Akteurs“ (ebd., 216 f.). Das Verhältnis von Handeln und System ist also nach Göhlich ein transformatives. Göhlich belässt es nicht bei einer Theorie institutioneller Praxis, er fragt weiter nach dem spezifisch Pädagogischen der Praxis pädagogischer Institutionen, denn erst durch die tatsächliche Praxis einer Institution zeigt sich die Leitidee einer Einrichtung auf die sich das jeweilige Handeln beziehen kann. Mit Rückgriff auf Herbart sucht er unter den „einheimischen Begriffen“ (ebd., 220) nach der Substanz einer Theorie der Praxis pädagogischer Institutionen. Der Erziehungs- wie der Bildungsbegriff erscheinen ihm einerseits durch ihren Bedeutungsverlust im wissenschaftlichen Diskurs und andererseits durch ihr Verhaftetsein auf der dyadischen Ebene ungeeignet, die auch jenseits dieser Dyade liegende Praxis pädagogischer Institutionen zu beschreiben und zu erklären. Jene Aspekte sowohl am Erziehungs- als auch am Bildungsbegriff, die relevant erscheinen, fasst Göhlich unter einem vielschichtigen Begriff von Lernen zusammen (vgl. ebd., 224ff), der aus seiner Sicht bis heute aktuell und Fundament pädagogischer Anthropologie ist. In ihm ist nicht nur das Lernen als individuelle Praxis angelegt, sondern auch als Praxis bestimmter Institutionen. Schließlich unterscheidet Göhlich vier verschiedene Aspekte von Lernen: Wissen-Lernen, Können-Lernen, Leben-Lernen und Lernen-Lernen. Beim Wissen-Lernen handelt es sich um einen rein sachlichen Prozess: „Auch Körperliches, Soziales, Emotionales, Sprachliches wird als Wissen sachlich lernbar gedacht“ (ebd., 232). Können-Lernen steht für den Erwerb praktischen Wissens. Es geht „um eine über Routine bis zum Automatismus unter das Bewußtsein verlagerbare Prozeßgewißheit“ (ebd., 233). Dabei unterscheidet sich das Können vom Wissen durch seine „enge Anbindung an Handeln und Handelnde, an individuelle und kollektive Akteure“ (ebd.). Leben-Lernen bezeichnet den Umgang mit der Lebenspraxis, insbesondere das „Erlernen der biographischen Integration des lebenspraktischen Auseinanderfallenden“ (ebd., 234). Und schließlich liegt
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quer zu diesen Aspekten auf einer Meta-Ebene der Aspekt des Lernen-Lernens, der bei jedem Lernen mitläuft.4 Göhlich und Zirfas grenzen den pädagogischen vom psychologischen Lernbegriff ab. Demnach kann Lernen grundsätzlich als „erfahrungsreflexive, auf den Lernenden sich auswirkende Gewinnung von spezifischem Wissen und Können“ (Göhlich/ Zirfas 2007, 17) definiert werden. Es geht also nicht alleine um eine Veränderung, sondern um eine unbewusste oder bewusste Erfahrung. Dieses Lernen ist, und das ist auch für Göhlichs Verständnis von organisationalem Lernen von Bedeutung, nicht nur ein kognitiver, sondern auch ein mehrdimensionaler körperlicher Prozess (vgl. Göhlich 2008, 17). Dabei werden nicht nur mentale Modelle reflektiert und verändert; Lernen ist vor allem als „mustermimetischer Prozess“ (Göhlich 2007, 225) zu betrachten. Aber nicht nur aus Lernen besteht die Praxis pädagogischer Institutionen, sondern auch aus dem fast bedeutsameren Lernenunterstützen. Als zu unterscheidende Aspekte der Lernunterstützung nennt Göhlich Stabilisierung, also Anerkennen bzw. Zulassen vorhandenen Wissens und Könnens, Aufklärung im Sinne eines Infragestellens von bereits Gelerntem „und dessen In-BeziehungSetzung zu anderem Wissen, Können etc.“ (Göhlich 2001, 238) und Anregung bzw. das Wecken von Neugierde auf Bekanntes und Unbekanntes, „das Offerieren unbekannter oder bekannter, aber noch nie intensiv wahrgenommener und experimentierter Phänomene“ (ebd., 239). Zu guter Letzt kann die Theorie der Praxis pädagogischer Institutionen aus dem Zusammendenken der Begriffe System und Handeln, Lernen und Lernenunterstützen entstehen. Dadurch entstehen vier neue Begriffe, in denen die Theorie fassbar wird: Lernendes System, Lernunterstützungssystem, Lernhandeln und Lernunterstützungshandeln (vgl. ebd., 242). So umfassend die Systematik Göhlichs im Hinblick auf das Pädagogische pädagogischer Institutionen sein mag, insgesamt betrachtet sie doch nur einen Teilaspekt ihrer Gesamtpraxis. Nach der Argumentation Göhlichs kann man davon ausgehen, dass die Lernunterstützung einen zentralen Aspekt einer pädagogischen Institution darstellt, aber auch dort konkurrieren pädagogische Interes4
Im Hinblick auf organisationales Lernen ist diese Ausdifferenzierung an bestehende organisationstheoretische Konzepte anschlussfähig. So verweist Göhlich (vgl. Göhlich 2007, 225f.) beim Wissen-Lernen auf das Konzept des Wissensmanagements von Nonaka und Takeuchi (1997; s. a. ausführlich in Kapitel 2.3 dieser Arbeit), beim Können-Lernen von den Begriff des impliziten Wissens bei Nonaka und Takeuchi, beim Leben-Lernen auf das Konzept der Organisationskultur von Schein (2004; s. a. ausführlich in Kapitel 2.3 dieser Arbeit) und beim Aspekt des LernenLernens auf das Modell des deutero-learning nach Bateson (1985) bzw. Argyris und Schön (1999, s. a. ausführlich in Kapitel 2.3 dieser Arbeit).
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sen immer mehr mit ökonomischen Prinzipien. Für ein Wirtschaftsunternehmen kann dagegen von einer klaren Dominanz ökonomischer Ziele ausgegangen werden. Insgesamt kann mit Göhlichs Modell demnach immer nur ein Teilaspekt von Institutionen betrachtet werden (vgl. Schröer 2004, 174), wobei es sich bei diesem um den spezifischen Fokus der vorliegenden Arbeit handelt.
2.1.6 Zusammenfassung der Sichtung des Diskurses um das Pädagogische im organisationalen Kontext Merkens‘ Ausgangspunkt für die Bestimmung des spezifisch Pädagogischen ist das pädagogische Verhältnis, genauer das Erziehungsverhältnis. Den Erziehungsbegriff verwirft er allerdings als gemeinsame Basis für alle pädagogischen Interaktionen und spricht schließlich vom pädagogischen Verhältnis als einem Lehr-Lern-Verhältnis. Obwohl Merkens erwähnt, dass sich bspw. Beratung oder Hilfe auch auf Institutionen in (pädagogischen) Praxisfeldern beziehen können, geht er hier von einer dyadischen Grundfigur für pädagogische Prozesse aus. Und auch wenn er schließlich den Lernbegriff ins Zentrum des gemeinsam Pädagogischen stellt und Ansätze zur Organisationstheorie bzw. Organisationskultur erörtert, geht es doch letztlich um einen Lernenden und um einen Lehrenden. So ist es Merkens zwar möglich, eine Typik des Handelns in pädagogischen Institutionen zu entwickeln und zu zeigen, wo organisatorische Strukturen und formale Ordnungen pädagogisches Handeln behindern; jedoch klammert diese Herangehensweise die Organisation unter einem institutionellen Blickwinkel und damit auch den Zugang zur Organisation als sozialem Gesamtgebilde, zu den ungeplanten und informellen Prozessen und den Mustern organisationaler Praxis, aus denen sich das Handeln der Akteure speist, aus. Kade und Seitter dagegen stützen sich zunächst auf den Bildungsbegriff als nach wie vor anregungsreiche Orientierungsmarke und auf die darauf bezogenen Elemente Vermitteln und Aneignen. Vor dem Hintergrund der Veränderung pädagogischer Kontexte ersetzen sie jedoch das Konzept der Bildung durch ihr Konzept des Umgangs mit Wissen. Damit verschiebt sich der Fokus vom ‚Was?‘ auf das ‚Wie?‘, also auf Vermittlungs- und Aneignungsprozesse in unterschiedlichen Kontexten. Durch die systemische Herangehensweise der Autoren erweist sich der Ansatz zwar als geeignet für die Erfassung von Prozessen bzw. Kommunikationen auf der Ebene der Gesamtorganisation; mit dem systemischen Zugang und der Zugrundelegung eines kognitiv verankerten Konzepts von Wissen bzw. Wissensvermittlung sind jedoch Prozesse auf der Ebene des Performa-
2.1 Zum Wesen des Pädagogischen
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tiven und der Mimesis nicht explizit zu erfassen. Interessant für die vorliegende Arbeit ist vor allem die Sichtweise der pädagogischen Praxis als Dienstleistung und des Adressaten als Kunden und die Wahrnehmung der Aktivitätsverschiebung hin zum Adressaten. Auch Geißler wählt als pädagogische Leitkategorie den Bildungsbegriff. Den pädagogischen Auftrag sieht er in der Entwicklung einer Organisationsdidaktik, die, an einem didaktischen Subsidiaritätsprinzip orientiert, letztlich einen aufklärenden und methodischen Charakter hat und die Eigenständigkeit des lernenden Subjekts angemessen berücksichtigt und fördert. Geißlers Verständnis organisationalen Lernens als gemeinsame Erkenntnissuche individueller Akteure für die Organisation bietet Anschlussmöglichkeiten sowohl für system- als auch für handlungstheoretische Zugänge. Durch die starke Bezugnahme auf den Bildungsbegriff und die damit verbundenen normativen Implikationen sowie die zentrale Stellung von Wertrationalität und Selbstreflexivität in seinem Lernbzw. Organisationsmodell bietet sich Geißlers Arbeit jedoch für das Anliegen dieser Arbeit, pädagogische Praxis auf einer möglichst breiten Basis in den untersuchten Organisationen zu identifizieren, nicht als Rahmenkonzept an. Den Ansatz von Kade und Seitter ausgenommen, taucht der Lernbegriff in jedem der vorgestellten Arbeiten auf. Der Einzige, der diesen jedoch konsequent als Einheit stiftendes pädagogisches Prinzip begreift, ist Göhlich, der basierend auf den beiden Kategorien Lernen und Lernunterstützung ein Schema entwickelt, mit dem nicht nur pädagogische Interaktion erfasst wird, sondern auch auf Prozesse auf der Ebene der Organisation, ihrem Lernen und ihrer Lernunterstützung zugegriffen werden kann – und zwar sowohl der Lernunterstützung, die die Organisation erfährt, als auch der Lernunterstützung, die sie durch das Vorhandensein der ihr eigenen Muster, Prozesse und Struktur gewährt. Die Ausdifferenzierung des Lernens bei Göhlich erweist sich auf organisationaler Ebene anschlussfähig an bestehende Konzepte organisationalen Lernens (s. Kap. 2.3.1), so dass der Ansatz durch die Systematik, die seinem Lernbegriff zugrunde liegt, die Möglichkeit bietet, die damit verbundenen mimetischen und performativen Prozesse zu erfassen, die die Grundlage für Sozialisationsprozesse und Transformation von Wissen und Kultur in Organisationen bilden.
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2 Pädagogische Praxis und Personalentwicklung
2.1.7 Verhältnisbestimmung pädagogischer Praxis zur menschlichen Gesamtpraxis Die Praxis einer Organisation besteht ebenso wie die menschliche Gesamtpraxis aus verschiedenen Teilpraxen. Einer der Funktionsbereiche der menschlichen Gesamtpraxis ist nach Benner (2001) neben der Ökonomie, der Religion, der Politik, der Kunst und der Ethik auch die Pädagogik. Die vier Prinzipien pädagogischen Denkens und Handelns sieht Benner in der „Bildsamkeit, der Aufforderung zur Selbsttätigkeit, der Überführung gesellschaftlicher in pädagogische Determination und der Ausrichtung der menschlichen Gesamtpraxis an der Idee einer nicht-hierarchischen und nicht teleologischen Verhältnisbestimmung der Einzelpraxen ausdifferenzierter Humanität“ (ebd., 59, i. O. hervorg.). Benner sieht eine generelle Gefährdung der menschlichen Gesamtpraxis durch den Primat einer ihrer Teilpraxen, weil sie dadurch inhuman wird. Entsprechend vehement ist seine Forderung nach einer Balance der gesellschaftlichen Teilpraxen in Verbindung mit pädagogischer Gesellschaftskritik. Nur durch das Regulativ einer nicht-hierarchischen Ordnung der menschlichen Gesamtpraxis und durch die gegenseitige Anerkennung der Teilpraxen untereinander kann eine humane, der Natur des Menschen und der menschlichen Koexistenz entsprechende Gesamtpraxis entstehen. Auch pädagogische Praxis ist seiner Ansicht nach niemals gesellschaftsfrei. Sie soll jedoch nicht zu einem „Erfüllungsgehilfen gesellschaftlicher Erwartungen“ (ebd., 127) werden, sondern kritisch prüfen, ob die Erwartungen den Prinzipien der Bildsamkeit und der Aufforderung zur Selbsttätigkeit nicht entgegenstehen. Gesellschaftliche Anforderungen sollen einer pädagogischen Gesellschaftskritik unterzogen werden, denn der Ausgangspunkt pädagogischer Verantwortung liegt nach Benner in der Unbestimmtheit der menschlichen Anlagen und der Einwirkung auf die Erziehungsbedürftigen, die ihre Bestimmtheit selbst hervorbringen können und müssen (vgl. ebd.). Entsprechend könnte die besondere Verantwortung der Pädagogik nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch in Organisationen darin liegen, als Regulativ zu fungieren. Das Ziel wäre hier pädagogische Praxis so mit den anderen Praxisformen zu verbinden, dass unter der Zielrichtung einer nicht-hierarchischen Ordnung der Teilpraxen die Gesamtpraxis der Organisation human bleibt und bspw. neben der Verfolgung ökonomischer Interessen auch die Individuen in ihr stärkt. Pädagogische Praxis sollte also gerade in Schnittstellenbereichen wie der Personalentwicklung zu finden sein, wo individuelle und organisationale Ziele und Interessen aufeinandertreffen und konkurrieren. Inwieweit Personalentwicklungskonzepte dies vorsehen, betrachtet Kapitel 2.2 genauer.
2.2 Personalentwicklung als Unterstützung von Lernprozessen
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2.2 Personalentwicklung als Unterstützung individueller und organisationaler Lernprozesse 2.2.1 Personalentwicklung in der pädagogischen Diskussion Personalentwicklung gehört zu den ursprünglich in der Ökonomie einheimischen Begriffen, die nach wie vor nur sehr langsam Eingang in die pädagogische Diskussion finden. Es verhält sich hier ähnlich wie mit dem Begriff der Organisation: Er spielt zwar eine Rolle in der Beschäftigung mit pädagogischen Einrichtungen bzw. der Weiterbildung pädagogischen Personals in ihnen, so bspw. im Rahmen von Schulentwicklungsmodellen (Dalin et al. 1996; Klippert 2000); es gab aber bis vor einigen Jahren kaum pädagogische Arbeiten, die sich eigenständig mit dem Phänomen Personalentwicklung, womöglich als pädagogische Praxis, beschäftigten. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass der Betrieb von Pädagogen „als Hort der Ausbeutung, Versklavung, Instrumentalisierung und Herrschaftssicherung beargwöhnt [wurde], ehe er dank technologischen Wandels in den 1980er Jahren über Nacht als Bildungsstätte auftauchte und Glanz entfaltete“ (Arnold/ Gonon 2006, 89). Entsprechend war auch der „pädagogische“ Teilbereich der Personalentwicklung, die betriebliche Weiterbildung, lange Zeit „eher ein peripheres Thema“ (Faulstich 1997, 7) innerhalb der Pädagogik, und betriebliche Bildungsarbeit erfuhr als pädagogischer Handlungsbereich bis in die 1980er Jahre „eine eher geringe Beachtung“ (Arnold 1983, 9). Ende der 1990er Jahren kann man auch bei Autoren pädagogischer Provenienz insbesondere im Zusammenhang mit betrieblicher Bildungsarbeit von Personalentwicklung lesen (Münch 1995). Dies ist möglicherweise auch der systemischen Neuorientierung in der Betriebswirtschaftslehre zuzuschreiben, wodurch die betriebliche Weiterbildung durch das Aufkommen von Konzepten zum selbstorganisierten und eigenverantwortlichen Lernen insbesondere für die Erwachsenenpädagogik wieder anschlussfähig wird (vgl. Felsch 1999, 45). In Anschluss an Kuper können die sich wandelnden Formen der Arbeitsorganisation als Anknüpfungspunkt für eine pädagogische Betrachtung von Unternehmen gesehen werden, nicht nur weil man es hier mit einer Veränderung der Qualifikationsstrukturen zu tun hat und der Umgang damit eine pädagogische Herausforderung darstellt, sondern auch weil hier eine „kritische Stellvertreterschaft für die Individuen gegenüber den Ansprüchen der Organisation“ (Kuper 2000, 23) entsteht. Die pädagogische Verantwortung, als Regulativ oder Vermittlerin zu fungieren, wird hier abermals deutlich.
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2 Pädagogische Praxis und Personalentwicklung
Während Faulstich (1998) betriebliche Weiterbildung und Personalentwicklung nahezu synonym verwendet (ebd., 2f. u. 173), fasst Arnold (1997) das Verhältnis von betrieblicher Bildung und Personalentwicklung wie folgt: Die betriebliche Bildungsarbeit umfasst „die Gesamtheit der formellen (Aus- und Weiterbildung) und informellen Lernprozesse im Betrieb. Sie stellt eine wesentliche Strategie der Personalentwicklung dar, ist in ihren Begründungen und Zielen jedoch auch auf die Bedürfnisse sowie die Bildungs- und Qualifikationsansprüche der Mitarbeiter bezogen“ (ebd., 64). Betriebliche Bildungsarbeit ist demnach zwar ein wesentlicher Bestandteil der Personalentwicklungsarbeit, aber nicht mit ihr deckungsgleich. Ergänzend dazu kann Münch (1995) zitiert werden, der schreibt: „Der Begriff der Personalentwicklung ist […] der umfassendere, weil er besser als „betriebliche Bildungsarbeit“ die Interdependenz betrieblicher Qualifizierungs- und Lernprozesse einerseits und der betrieblichen Organisationsgestaltung und -entwicklung andererseits erfaßt“ (ebd., 16). Spätere Beiträge von König (2005), König und Volmer (2002) und Frey (2005 u. 2007) stellen Personal- und Organisationsentwicklung als Aufgaben von Pädagogen in Unternehmen dar. Sie beschreiben pädagogische Kompetenzen als wesentliche Voraussetzungen für eine Tätigkeit in diesem Praxisfeld, fordern aber auch Konsequenzen für die Ausbildung von Pädagogen in Form eines Ausbaus bestimmter Themenbereiche, wie Kommunikation, Beratung, Forschungsmethoden und Organisationstheorie (vgl. König 2005, 204f.; König/ Volmer 2002, 67). Arnold und Bloh (2001) greifen Personalentwicklung im lernenden Unternehmen aus pädagogischer Perspektive auf; sie weisen auf den vorhandenen Professionalisierungsdruck in diesem Bereich hin und sprechen mit dem Hinweis auf ihre „doppelte Zweckstruktur“ (Arnold/ Bloh 2003, 10) explizit von einer Konvergenz pädagogischer und ökonomischer Prinzipien in der Personal- und Organisationsentwicklung. Einer ähnlichen Argumentation folgt auch Harteis (2002) mit einer empirischen Arbeit zu kompetenzfördernden Arbeitsbedingungen vor dem Hintergrund der Konvergenzdebatte. In den Abgrenzungen von betrieblicher Bildungsarbeit und Personalentwicklung wird die enge Verbindung von Personal- und Organisationsentwicklung bzw. das Ineinandergreifen von individuellen und organisationalen Lernprozessen deutlich. Pädagogische Ansätze (Arnold/ Bloh 2003; Münch 1995) konzentrieren sich hier nicht mehr ausschließlich auf die dyadische Ebene, sondern richten ihren Blick explizit über das Individuum hinaus auf organisationale (Lern-)Prozesse. Damit folgen die pädagogischen Arbeiten einem allgemeinen Trend im Rahmen der Diskussion über Personalentwicklung, der im Folgenden dargestellt wird.
2.2 Personalentwicklung als Unterstützung von Lernprozessen
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2.2.2 Allgemeine Perspektiven und Zugänge Es existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen von Personalentwicklung, die unterschiedliche Akzente im Hinblick auf Ziele, Inhalte, Adressaten, Methoden, Maßnahmen und Zuordnung zu anderen Unternehmensbereichen setzen. Die einschlägigen und vielzitierten Lehrbucheinträge und Monographien bedienen sich dieser Definitionen gegenseitig und fächerübergreifend (vgl. exemplarisch Neuberger 1994, 1 ff; Becker 2002, 2 ff; Berthel/ Becker 2003, 261). Eine allgemeine wissenschaftliche Theorie der Personalentwicklung existiert indessen nicht (vgl. Becker 2002, 43). Dies wird vor allem von Autoren konstatiert, die sich auf grundlegender Basis mit dem Zusammenhang von Personalentwicklung und organisationalem Lernen beschäftigen (vgl. Hanft 1998, 45; Felsch 1999, 2; Zaugg 2006, 23). Zwar ist ansatzweise eine parallele Entwicklung von zugrunde gelegtem Menschenbild und Fokus von Personalentwicklungsmodellen zur Organisationstheorie bzw. eine implizite Bezugnahme auf organisationstheoretische Konzepte feststellbar, diese wird aber in den meisten Fällen nicht offen gelegt (vgl. Felsch 1999, 3) und ist letztlich darauf zurückzuführen, dass Personalentwicklung ein „junges Wissenschaftsgebiet [ist], das noch in hohem Maße der Anleihen aus benachbarten Wissenschaften bedarf“ (Becker 2002, 43). Als Basiswissenschaften nennt Becker die Volks- und Betriebswirtschaftslehre, die Pädagogik und die Psychologie. Bis in die 1990er Jahre ist eine starke Ausrichtung der Rahmenmodelle für Personalentwicklung auf individuelle, stellenbezogene Qualifikationsprozesse zu beobachten. So versteht Conradi (1983) unter Personalentwicklung die Summe von Maßnahmen, „die systematisch, positions- und laufbahnorientiert eine Verbesserung der Qualifikationen der Mitarbeiter zum Gegenstand haben mit der Zwecksetzung, die Zielverwirklichung der Mitarbeiter und des Unternehmens zu fördern“ (ebd., 3). Er kategorisiert die Maßnahmen in Abhängigkeit von der aktuellen Situation und Position des Mitarbeiters in Personalentwicklung-intothe-job, -on-the-job, -near-the-job, -off-the-job, -out-of-the-job und laufbahnbezogene Personalentwicklung (vgl. ebd., 25) – eine Kategorisierung, die sich auch in der Literatur zum Thema Weiterbildung findet (vgl. Weisser 2002, 140f.). Conradi betont zwar die Notwendigkeit der Integration in ein „umfassendes Konzept der Organisationsentwicklung“ (Conradi 1983, 1) bzw. das „notwendige Zusammenspiel von OE-Maßnahmen und PE-Maßnahmen“ (ebd. 35) und nimmt Bezug auf Modelle der betrieblichen oder organisatorischen Sozialisation nach Schein, belässt es aber bei schematischen Darstellungen, ohne die genannten Faktoren und Wechselwirkungen genauer zu beschreiben (ebd., 27ff). Perso-
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2 Pädagogische Praxis und Personalentwicklung
nalentwicklung wird also doch eher für sich alleine gedacht. Es werden Maßnahmen darunter gefasst, die zur Anpassung der Qualifikation des Mitarbeiters an seine konkret definierten Arbeitsaufgaben führen. Personalentwicklungsmaßnahmen nach Thom (1987) sind informations-, bildungs- und stellenbezogen und dienen der „Qualifizierung der Mitarbeiter aller Hierarchiestufen“ (Zaugg 2006, 23 mit Bezug auf Thom 1987). Die „[u]nternehmerische[n] Entscheidungen bei der Planung, Organisation, Durchführung und Kontrolle von Qualifizierungsprozessen“ (Thom 1987, 357) sind dabei kontingent. Sie stehen unter dem Einfluss situativer außerbetrieblicher, betrieblicher und personeller Bedingungsgrößen. Informationsbezogene Maßnahmen bzw. Instrumente dienen der Erfassung dieser Bedingungsgrößen (Personalbeurteilung, betriebliches Vorschlagswesen). Daraus leiten sich die stellenund bildungsbezogenen Maßnahmen ab. Zaugg (2006) erweitert diesen Ansatz um aktuelle Instrumente und betrachtet ihn insbesondere unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit. Mitarbeitergespräch und Personalbefragungen führt er bspw. als informationsbezogene Instrumente auf, Coaching- und Mentoringprozesse und elearning als stellen- bzw. bildungsbezogene Maßnahmen (vgl. Zaugg 2006, 24). Zwar betont Zaugg die Notwendigkeit der Verknüpfung mit Organisationsentwicklung und organisationalem Lernen (vgl. ebd., 23), jedoch bleiben auch seine Ausführungen auf der Ebene individueller, zielgerichteter und planbarer Qualifizierungsprozesse und ihrer Bedingungen verhaftet. In Ansätzen zur strategischen Unternehmensführung und diesen entlehnten Konzepten zur strategischen Personalentwicklung erhält die Unternehmenskultur als Bedingungsgröße und Bezugsrahmen von Personalentwicklung höhere Relevanz. Riekhof (1989) geht davon aus, dass durch eine neue Managementlehre auch qualitative Aspekte im Zusammenhang mit Personalentwicklung an Bedeutung gewinnen (vgl. ebd., 50). Aber obwohl Riekhof immer wieder vom Lernen von Organisationen und von spezifischen Erfahrungen der Organisation spricht (ebd., 54) und davon, dass Personalentwicklung die Aufgabe hat, die Fähigkeiten einer Organisation aufzubauen (vgl. ebd., 56), reduziert er sich hierbei letztlich doch auf „die Frage nach individuellen Qualifikationen, Lernprozessen und Erfahrungen“ (ebd., 56). Die Erstellung von differenzierten Anforderungsprofilen, in denen sich die jeweilige Unternehmensstrategie wiederfindet, gehört für ihn zum zentralen „Handwerkszeug“ (ebd., 60) eines Personalentwicklers. Das Verständnis von Unternehmenskultur und Organisationsentwicklung, das Riekhof einführt, bleibt eher vage (vgl. ebd., 70f.). Er beschreibt kurz die Wechselwirkung zwischen diesen Konzepten und Personalentwicklung: Hinsichtlich der Funktion der Personalentwicklung, „bestimmte soziale Normen zu etablieren und
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zu verändern“ (ebd., 71), stellt er zwar fest, dass dies über die „Vermittlung rein fachlicher Qualifikationen“ (ebd.) weit hinaus geht, problematisiert diesbezüglich aber schließlich vor allem den Transfer zwischen Seminarsituation und organisationalem Alltag (vgl. ebd.). Im Wesentlichen bleibt auch Riekhof in einem Modell rationalen Problemlösens verhaftet, in dem die Personalentwicklung für das Füllen personaler Lücken verantwortlich ist (vgl. kritisch dazu Neuberger 1994, 58). Sattelberger (1989a u. 1989b) beschreibt die Wechselwirkung von Kultur und Personalentwicklung. Auch bei ihm heißt Personalentwicklung aber vor allem Qualifizierung und Weiterentwicklung von Individuen in der Organisation. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Führungskräftenachwuchs und dem Spitzennachwuchs (vgl. Sattelberger 1989a, 25). Personalentwicklung soll sowohl für das Unternehmen als auch für die Mitarbeiter „Sinn stiften“ (ebd., 24). Entsprechend sollen Qualifizierungsprogramme und Seminare nicht „in standardisierter Form“ (ebd., 25) angeboten werden, sondern durch „maßgeschneidertes Vorgehen“ (ebd.) nicht nur den spezifischen Bedarf des Unternehmens decken, sondern auch die Mitarbeiter motivieren (vgl. ebd.). Personalentwicklungsmaßnahmen müssen als etwas „Besonderes“ und „Nützliches“ (ebd., 27) erkennbar sein. Dabei muss Personalentwicklung auf „andere Lernmechanismen als reine Weiterbildung“ (ebd., 31) wie Coaching und selbstorganisiertes Lernen setzen und muss in ein Spektrum „fortschrittlicher Personalarbeit“ (ebd., 33) eingebettet sein, zu dem Beurteilungsverfahren, Zielvereinbarungen und das Anreiz- und Vergütungssystem gehören. Die beschriebenen Ansätze sind nach wie vor Gegenstand der aktuellen Auseinandersetzung mit Personalentwicklung. An einigen ist kritisiert worden, dass sie ihren Fokus auf individuelle Qualifikationsprozesse durch explizite Qualifizierungsmaßnahmen legen. Personalentwicklung erscheint als „reaktive Qualifikationsanpassung“ (Felsch 1999, 5), als „Lückenkonzept“ (ebd., 29) oder „Lücken-Management“ (Neuberger 1994, 40), das insbesondere Instrumente zur Ermittlung des Entwicklungsbedarfs und zum Ausgleich der Qualifikationsdefizite zur Verfügung stellt (vgl. Hanft 1998, 45). Bedarfsorientierte Ansätze gelten als zu statisch, um der, insbesondere in praxisbezogenen Ansätzen proklamierten, wachsenden Umweltdynamik gerecht werden zu können. Hanft kritisiert die Dominanz der inhaltlichen Schwerpunkte in den Bereichen Diagnostik, Intervention und Evaluation und bemerkt die zunehmende Differenzierung in der Darstellung des Instrumentariums, der Methoden und Maßnahmen (vgl. ebd.), die nicht zuletzt als Reaktion auf den Wunsch der Unternehmen verstanden werden kann, auf rationale Problemlösemodelle und einfach und effizient handhabbare Instru-
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mente zugreifen zu können. Ein Aspekt, der insbesondere in den frühen Ansätzen marginal bleibt, ist die Weitergabe und Vermittlung von Organisationskultur als ein wesentlicher Bestandteil der Personalentwicklung (vgl. Marré 1997). Mit der Reduktion auf den Qualifizierungsaspekt gerät hier eine wichtige Ressource zur Integration der Mitarbeiter in die Organisation aus dem Blickfeld und bleibt damit möglicherweise auch in der Praxis ungenutzt. Weitergehende Konzeptionen von Personalentwicklung, die eine Integration der Personalpolitik in die Unternehmensstrategie anstrebten, haben, so Hanft, „vielfach lediglich proklamatorischen Charakter“ (Hanft 1998, 45). Hier wird zwar explizit auf Organisationskultur und andere organisationale Rahmenbedingungen Bezug genommen, aber auch hier ruht der Fokus von Personalentwicklung auf den individuellen Qualifizierungsprozessen. Sie soll in erster Linie „individuelle Fähigkeiten [aufbauen], die gleichzeitig der Stärkung der strategischen Erfolgspositionen dienen“ (Riekhof 1989, 57). Auch wenn hier eine bloß reaktive Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen der Antizipation von Qualifikationsbedarf durch frühzeitige Analyse und Initiierung von Maßnahmen weicht, wird Personalentwicklung hier weiter als „planbare abhängige Variable betrachtet“ (Staudt 1995, 187). Eine theoretische Verzahnung von Organisationskultur und Personalentwicklung wird nur ansatzweise geleistet (vgl. bei Sattelberger 1989b). Darüber hinaus wird über die Bedarfsorientierung und die damit verbundene Konzentration auf individuelle Qualifikationsprozesse die Möglichkeit außer Acht gelassen, nach Alternativen für eben diese zu suchen, wie z. B. die Qualifikationsanforderungen zu verändern oder durch die Erweiterung der Kompetenzen der Mitarbeiter organisationalen Wandel zu gestalten (vgl. Hanft 1998, 45). Ansätze auf der Basis kontingenztheoretischer Annahmen wie der von Thom (1987) lassen Personalentwicklung als zwar abhängigen aber rational planbaren Prozess erscheinen. Dieser Zugang verstellt den Blick auf die Wechselwirkungen von Personalentwicklung mit anderen Prozessen innerhalb der Organisation. Denn weder findet Personalentwicklung losgelöst von den Rahmenbedingungen der Organisation statt, sondern ist selbst Ausdruck und Spiegel unternehmensspezifischer Grundhaltungen, Werte und Normen (vgl. Marré 1997, 83); noch bleibt die Organisation unberührt von der Personalentwicklung. Gemeint sind hier also nicht nur formale Regeln und Strukturen, sondern insbesondere informelle Prozesse und Muster organisationaler Praxis, die vor dem Hintergrund der Organisationskultur und der Machtbestrebungen der Akteure in der Organisation und in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt entstehen.
2.2 Personalentwicklung als Unterstützung von Lernprozessen
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Lernen in Organisationen muss entsprechend weiter gefasst und „als Gestaltungs- und Umgestaltungsprozeß in Wechselwirkung mit sich verändernden Umwelten verstanden werden“ (Hanft 1998, 46). Nicht nur individuelles Lernen ist hier von Bedeutung, sondern auch Lernprozesse, die auf der Ebene des Teams und der Organisation intendiert oder auch nicht intendiert, bewusst oder unbewusst bspw. im Rahmen des heimlichen Lehrplans des Betriebes (vgl. Heid/ Lempert 1986) stattfinden. Verschiedene Personalentwicklungslehrbücher zeigen ein neues Verständnis von Personalentwicklung unter einer weiteren Perspektive. Neuberger (1994) liefert eine sehr breit angelegte Zusammenschau von Zugängen zur Personalentwicklung. Bemerkenswert ist dabei, dass er von drei Perspektiven der Personalentwicklung ausgeht (vgl. ebd., 12): der personalen, der interpersonalen und der apersonalen, womit bspw. individuelle Qualifikationsprozesse, Teamprozesse sowie strukturelle und organisationale Aspekte wie Hierarchie, Kultur und Macht gemeint sind. Entsprechend ist Personalentwicklung aus seiner Sicht die „Vereinigungsmenge von Person-, Team- und Organisationsentwicklung“ (ebd., 13). Neubergers Verständnis von Personalentwicklung bezieht sowohl berufliche als auch betriebliche Sozialisation mit ein und beschreibt damit einen gerade auch unter pädagogischen Gesichtspunkten interessanten Prozess der Auseinandersetzung der Person mit der Umwelt Betrieb und das Aufnehmen organisationaler Strukturen, Regeln und Muster in den Habitus der Person. Diese Herangehensweise macht eine Betrachtung performativer, mimetischer, wenig kontrollierbarer aber nichtsdestoweniger wirkungsvoller Prozesse möglich, die durch Personalentwicklungsmaßnahmen ausgelöst werden, diese behindern oder ihnen zugrunde liegen. Beckers inhaltliche Dreiteilung von Personalentwicklung beinhaltet die Aspekte Bildung, Förderung und Organisationsentwicklung (2002, 4). Unter Bildung fallen Berufsausbildung, Weiterbildung und „Führungsbildung“ (ebd., 190ff); Förderung bezieht sich auf den Verlauf der Betriebszugehörigkeit eines Mitarbeiters. Anders als Neuberger, der sich diesbezüglich auch intensiv mit psychologischen und soziologischen Basistheorien und empirischen Studien zur Sozialisation beschäftigt, legt Becker den Schwerpunkt auf das Instrumentarium und stellt Beschaffungs- und Auswahlverfahren, Einführung neuer Mitarbeiter, positions- und aufstiegsorientierte Fördermethoden, wie Beurteilungen und Mitarbeitergespräch, Methoden der Karriere- und Nachfolgeplanung bis hin zur Freistellung von Mitarbeitern vor. Teamentwicklung fasst er als einen Aspekt von Organisationsentwicklung. Becker folgt bei dieser Einteilung keiner expliziten Systematik, wie dies Neuberger tut. Insgesamt steht weniger eine theoreti-
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sche Einbettung der Themen, als vielmehr die Entfaltung eines umfassenden Überblicks hinsichtlich ihrer Instrumente, Methoden und Verfahren im Vordergrund. Systematisch und deshalb interessant ist dagegen seine Betrachtung der wissenschaftlichen Grundlagen der Personalentwicklung im Allgemeinen, die sowohl unterschiedliche Forschungsperspektiven wie auch den interdisziplinären Zugang und die Beiträge der einzelnen Fachwissenschaften zum Thema Personalentwicklung enthalten. In einem Kapitel zu den normativen Voraussetzungen systematischer Personalentwicklung geht Becker auch auf Konzepte der Unternehmenskultur und auf den Zusammenhang von Personalentwicklung und Macht ein. Ein einheitliches Konzept oder Bild von Personalentwicklung entsteht insgesamt aber nicht, da die einzelnen Aspekte von Personalentwicklung weitestgehend losgelöst voneinander und eher lexikonartig dargestellt werden, als dass sie unter einer Leitidee zusammengeführt würden. Dieser Überblick über verschiedene Zugänge zur Personalentwicklung zeigt, dass Personalentwicklung im engeren Sinne die qualifikatorische und personale Entwicklung und Förderung von Mitarbeitern und somit individuelle Lernprozesse in den Blick nimmt, während Personalentwicklung in einem weiteren Verständnis auch Team- und Organisationsentwicklung und damit auch kollektive bzw. organisationale Lernprozesse umfassen kann. Eine Neuorientierung von Ansätzen mit Wurzeln in der Organisationstheorie wird deutlich. Ob nun, wie Neuberger meint, „in Personalentwicklung immer schon ,Organisations(!)‘Entwicklung enthalten ist“ (Neuberger 1994, 33), oder ob Personalentwicklung als Teilbereich von Organisationsentwicklung zu sehen ist, weil sie sich, realistisch betrachtet, doch in erster Linie an einer übergeordneten organisationalen Zielsetzung orientiert und Organisationsentwicklung als „übergreifendes, ganzheitliches Konzept“ betrachtet wird (Becker 2002, 418), soll hier nicht weiter diskutiert werden. Entscheidend ist, dass das eine mit dem anderen immer mitzudenken ist, weshalb sich der Blick in vorliegender Arbeit zwar auf Personalentwicklung konzentriert, diese aber über Aus- und Weiterbildung hinaus denkt, und der Blick stets den Konnex zu organisationalen (Lern-)Prozessen einschließt. So lehnt sich das Verständnis von Personalentwicklung dieser Arbeit an Arnold und Bloh (2003), zwei Autoren pädagogischer Provenienz, an und fasst Personalentwicklung als den Teil betrieblicher Abläufe und Strategien, der auf die Verbesserung der Kompetenzen der Mitarbeiterschaft durch Lernen ausgerichtet ist. Indem sie die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für „selbstorganisiertes, strategieumsetzendes und organisationales Lernen“ (vgl. ebd., 7)
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schafft, stellt Personalentwicklung eine Schnittstelle für individuelle und organisationale Lern- und Lernunterstützungsprozesse dar. Eine starke Wechselwirkung zwischen Personal- und Organisationsentwicklung ist also unabdingbar.
2.2.3 Aktuelle Tendenzen und Entwicklungen Personalentwicklung im heutigen Verständnis entsteht in den 1970er Jahren im Zuge einer Phase der „Humanisierung“ des Personalmanagements. Neue arbeitsrechtliche Regelungen führen zu einem Ausbau „qualitativer Funktionen wie Aus- und Weiterbildung (off-the-job), kooperative Mitarbeiterführung“ (Oechsler 1999, 3) und in der Folge zu einer Institutionalisierung von Personalund Organisationsentwicklung. In den folgenden Jahrzehnten kann eine Dezentralisierung der Personalentwicklung beobachtet werden, die von „Personalreferenten- oder -moderatorensystemen“ (ebd., 5) als Vermittler zwischen Personalabteilung und Führungskräften bis hin zur Verschiebung der Personalentwicklungsaufgaben zu den direkten Vorgesetzten reicht. Im Jahr 2000 prognostizieren Wunderer und Dick eine zunehmende unternehmerische Orientierung in der Personalentwicklung. Weitere Entwicklungen lassen sich grob unter drei Oberbegriffen zusammenfassen, ohne dabei Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben;5 die Einteilung folgt vielmehr der inneren Logik der Fragestellung dieser Arbeit: 1. Das Verhältnis von Lernen und Arbeiten wird neu gedacht: Im Zuge der „kompetenzorientierten Wende in der Personalentwicklung“ (Arnold/ Bloh 2003, 16; vgl. Arnold/ Schüßler 2002, 129ff) findet eine Veränderung der Lernorte und Lernformen statt. Dahinter steht eine ganzheitliche Orientierung an den Fähigkeiten des Subjekts, die Annahme der Selbstorganisationsfähigkeit und Eigenverantwortung des einzelnen Lernenden und die Vermittlung von Werten und einer kooperativen und reflexiven Grundhaltung. Dies ist verbunden mit der Abwendung vom Qualifikationsmodell, das sich auf die Erfüllung konkreter Anforderungen, auf konkrete tätigkeitsbezogene und zertifizierbare Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten beschränkt und bei dem sich die Vermittlung von Qualifikationen in fremdorganisierten Lernsettings off-the-job vollzieht. Dem 5
Eine andere Möglichkeit der Unterteilung nach den neuen Leitkonzepten der Personalentwicklung findet sich bspw. bei Arnold/ Bloh (2003, 8ff): 1. Ganzheitlichkeit & Gestaltungsorientierung, 2. Potenzialorientierte & antizipierende Ausrichtung, 3. Kompetenzentwicklung & Management, 4. Organisationslernen, 5. Dezentralisierung & Systemorientierung.
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Kompetenzbegriff wohnt eine starke Handlungsorientierung inne, wobei die individuelle Handlungskompetenz ein Zusammenspiel von Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft darstellt: „Im Vordergrund steht nicht mehr die Anpassung an den Wandel, sondern die Vorbereitung auf die Selbstanpassung an den Wandel“ (Arnold/ Bloh 2003, 16). Diese Entwicklung schlägt sich parallel in Ansätzen des organisationalen Lernens in Abgrenzung zur klassischen Organisationsentwicklung nieder (vgl. Schreyögg 2008, 432ff). Arbeitsplatznahe Konzepte der Weiterbildung wie learning-on-the-job, learning-near-the-job, Job-Rotation und (computergestützte) Selbstlernprogramme lösen die klassische Weiterbildung im Rahmen von Schulungen, Training oder Seminaren ab. Lernen wird direkt auf die Aufgabenstellung am Arbeitsplatz abgestimmt. Der Kompetenzerwerb findet im Modus des Arbeitsprozesses statt. So sollen Transferprobleme vermieden und die direkte Integration des neu Gelernten in den Arbeitsprozess und eine Steigerung der Motivation bewirkt werden: „Die Zielsetzung besteht in der Erweiterung von kommunikativer Handlungsfähigkeit, von Gestaltungsmöglichkeiten sowie von Entscheidungsbefugnissen und Verantwortlichkeiten [...], um Qualitäts- und Leistungsstandards zu verbessern“ (Dehnbostel 1995, 482). Gleichzeitig ist eine Aufwertung informellen Lernens festzustellen: „Informelles Lernen kann als ein Lernen in und über Erfahrungen verstanden werden, wobei die Erfahrungen in Reflexionen und bewusste Lernfortschritte einmünden oder auch als sinnliche Wahrnehmungen implizit und unbewusst zu Lernprozessen führen“ (Dehnbostel 2002, 3). Lernen, so die Annahme, findet im Prozess der Arbeit statt, ohne dass ein bestimmtes Lernergebnis gezielt angestrebt wird. Gleichwohl findet eine Integration von organisiertem Lernen und von Erfahrungslernen statt. Theoretisches Wissen und Erfahrungswissen verbinden sich zu neuem Handlungswissen oder praktischem Wissen des Mitarbeiters (vgl. ebd., 7). 2. Es findet eine Dezentralisierung statt: Eine Voraussetzung für das Gelingen dieser Lernprozesse liegt in der lernförderlichen Gestaltung der Arbeitsplätze. Wo Lernen immer näher an den Arbeitsplatz heranrückt, sind Führungskräfte als Personalentwickler gefragt (vgl. Sattelberger 1989a, 35; Staudt 1995, 193; Arnold 2000; Kellner 2006, 12). Sie sind maßgeblich dafür verantwortlich, ein Umfeld zu schaffen, das sowohl den Transfer von in organisierten Settings erworbenem Wissen ermöglicht als auch ausreichend Anregungen für informelle und selbstgesteuerte Lernprozesse am Arbeitsplatz bietet. Sie können selbst als Vermittler praktischen Wissens fungieren und ihre Erfahrungen weitergeben
2.3 Personal- und Organisationsentwicklung – Integration
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(Zaugg 2006, 28) oder den Erfahrungsaustausch der Mitarbeiter untereinander durch geeignete Arbeitsorganisation fördern. Dadurch erhalten Führungskräfte pädagogische Aufgaben; sie werden zu Lernunterstützern und Beratern. Es ist an dem direkten Vorgesetzen, das Potential der Mitarbeiter für die Abteilung oder die Organisation zu erschließen sowie den Mitarbeiter in seinem eigenen Interesse und im Interesse des Unternehmens zu fördern. Dies kann bspw. durch Mitarbeitergespräche erfolgen, in denen auch „die persönlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Mitarbeiter über die Formulierung individueller Neigungen, Interessen, Lebens- und darin Karrierepläne“ (Staudt 1995, 191; i. O. hervorg.) erfasst werden oder durch die Einrichtung partizipativer Arbeitsformen wie bspw. teilautonomer Arbeitsgruppen (vgl. ebd.). Entsprechend hat sich auch das Coaching durch die Führungskraft als ein wichtiges Instrument der Personalentwicklung etabliert (vgl. Böning 2000, 17ff; Rauen 2000, 45). 3. Die Perspektive erweitert sich und schließt auch organisationale Lernund Entwicklungsprozesse mit ein: Die vorgestellten Modelle und Entwicklungen weisen wiederholt (s.a. Kapitel 2.2.2) darauf hin, dass sich Personalentwicklung nicht auf die Unterstützung individueller Lernprozesse beschränken kann. Ehemals in der Organisationstheorie bzw. -entwicklung beheimatete Denkmodelle und Instrument werden seit Mitte der 1990er Jahre verstärkt von der Personalentwicklung aufgegriffen. Damit ist die Forderung verbunden, Organisationsund Personalentwicklung nicht als voneinander getrennt oder aufeinander aufbauende, sondern als interdependente, teilweise verschmelzende Prozesse zu betrachten. Wie dies theoretisch eingebunden werden kann, wird in Kapitel 2.3 näher erläutert.
2.3 Personal- und Organisationsentwicklung – Zur Integration individueller und organisationaler Lernprozesse 2.3.1 „Klassische“ Modelle des Wandels in und von Organisationen Ansätze organisationalen Lernens lassen sich von zwei anderen Grundmodellen des Wandels in und von Organisationen abgrenzen, nämlich von der Organisationsgestaltung sowie von der Organisationsentwicklung. Ansätze der Organisationsgestaltung oder auch des Change Managements postulieren die Notwendigkeit „einer stärkeren Prozess-, Kunden- und Kompetenzorientierung und verfolgen die kontinuierliche Weiterentwicklung oder die radikale Neugestaltung der
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bestehenden Strukturen und Prozesse“ (Vahs 2005, 251), wobei die Verschiebung des Fokus chronologisch seit 1990 in etwa in der genannten Reihenfolge beobachtet werden kann. Entsprechend kann man den Richtungen konkrete Ansätze innerhalb von Lean-, Reengineering-, QM- und strategischen Ansätzen zuordnen (vgl. ebd.). Wesentliche Elemente dieser Ansätze sind der Abbau von Hierarchieebenen, der Ausbau von Teamarbeit sowie die Verbesserung der Informations- und Kommunikationsstrukturen. Wird hier von einer ganzheitlichen Perspektive gesprochen, bezieht sich dies auf „die Strategie, die Organisation, die Kultur und die Technologie des Unternehmens“ (Vahs 2005, 260). Mit Organisation sind dabei vor allem Strukturen und Prozesse mit Kultur insbesondere Führung und Kommunikation gemeint (vgl. ebd. 295). Gleichwohl ist an den Ansätzen der Organisationsgestaltung auch massive Kritik geübt worden: Hauptsächlich aus ingenieurs- und wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive entwickelt, beziehen sie nur marginal verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse mit ein. Kosteneinsparungen oder Beschleunigung von Geschäftsprozessen sind die dominierenden Ziele; an den Mitarbeitern orientierte Ziele wie Persönlichkeitsentwicklung, Gesundheit oder Arbeitszufriedenheit spielen in den Ansätzen der Organisationsgestaltung eine vergleichbar geringe Rolle. Die Mitarbeiter werden eher als Kostenfaktor denn als Chance für die Unternehmen gesehen (vgl. Rosenstiel 2000, 419). Wandel im Rahmen dieser Modelle findet auf Anordnung top-down im Unternehmen statt, ohne dass die Beteiligten intensiv auf die Veränderungen vorbereitet, geschweige denn an deren Planung mitwirken werden. Gerade im Hinblick auf die teilweise über Jahrzehnte tradierte Unternehmenskultur erscheinen Konzepte radikalen Wandels, wie sie besonders beim BusinessReengineering vorzufinden sind, als ungeeignet (vgl. Schröer 2004, 84). Rosenstiel weist auf Untersuchungen hin, die zeigen, dass Umorganisationen eher dann „Akzeptanz fanden und erfolgreich implementiert wurden, wenn die Beteiligten rechtzeitig über die geplanten Maßnahmen informiert wurden und mit dem nötigen zeitlichen Vorlauf in ausreichendem Maße fachlich so geschult wurden, daß sie sich den neuen Herausforderungen gewachsen fühlen konnten“ (Rosenstiel 2000, 420). Der Begriff der Organisationsentwicklung wird häufig als Überbegriff über alle Ansätze zum organisationalen Wandel verwendet. Im engeren Sinne geht es hier um ein ganz bestimmtes Verständnis: „Organisationsentwicklung ist ein zusammenfassender Begriff für die Bemühungen, zur Humanisierung der Arbeitsbedingungen sowie zur Steigerung der Flexibilität und Veränderungsbereitschaft einer Organisation beizutragen“ (Gebert, zitiert nach Rosenstiel 2000, 409). Ansätze der Organisationsentwicklung sind älter als die der Organisations-
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gestaltung. Sie sind aus der Human-Resources-Bewegung heraus entstanden und gehen zurück auf verhaltenswissenschaftliche Theorien. Sie enthalten eine stärkere Orientierung an den Einstellungen, Verhaltensweisen und Bedürfnissen der vom Wandel betroffenen Mitarbeiter und setzen auf die „nachhaltige Akzeptanz der evolutionär und partizipativ erarbeiteten Änderungsvorschläge“ (Schröer 2004, 107; s. a. Kap. 9). Schreyögg unterscheidet fünf Merkmale der Organisationsentwicklung: Wandel findet geplant statt; dabei wird ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt, durch den das gesamte System einem Wandel unterzogen werden soll; es werden Wirkungsvermutungen aufgrund der Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien angenommen; man zielt sowohl auf Veränderungen des Verhaltens als auch auf Veränderungen der Organisationsstruktur; die Intervention erfolgt durch Spezialisten (vgl. Schreyögg 1999, 499). Insbesondere die normativen Grundannahmen – nämlich „daß im Regelfall die Betroffenen die besten Kenner der eigenen Situation sind sowie fähig und auch bereit sind, diese Situation optimal zu gestalten“ (Rosenstiel 2000, 411), dass sie dazu fähig sind und danach streben, sich weiterzuentwickeln, und dass die Ziele von Organisation und Individuum kompatibel sind (vgl. Becker 2002, 420) sowie das Zugrundelegen eines Menschenbildes vom „mündigen, aufgeklärten Mitarbeiter“ (Schröer 2004, 92) – bringen der Organisationsentwicklung auch Kritik ein: Diese liegt bspw. in der Unterschätzung der Wertkonflikte, die die beiden Zieldimensionen Leistungssteigerung und Humanisierung bzw. Selbstverwirklichung der Mitarbeiter mit sich bringen (vgl. ebd., 88; Neuberger 1994, 256ff) sowie in der Vernachlässigung des Machtstrebens der Akteure (vgl. Rosenstiel 2000, 411) bzw. der generellen Naivität gegenüber Machtstrukturen (vgl. Schreyögg 1999, 521). Weitere vier strukturbezogene Kritikpunkte verdeutlicht Schreyögg (1999): Organisationaler Wandel ist zur Spezialistensache (1.) erklärt worden, was allenfalls dann akzeptabel wäre, wenn Organisationen nur selten mit Wandelprozessen umzugehen hätten (vgl. ebd., 522); eben dies verneint er jedoch entschieden. Ebenso wenig findet organisationaler Wandel in einem Schonraum als stabiler, planbarer Prozess (2.) statt. Der Einbezug diskontinuierlicher Entwicklungen würde jedoch das ganze Rahmenkonzept sprengen, ist also nicht ohne weiteres möglich (vgl. ebd., 523). Organisatorische Veränderungsprozesse haben weder einen klar definierten Anfang noch ein Ende, existieren also nicht als fest umschriebenes Problem (3.) (vgl. ebd., 526). Entsprechend wird Wandel als Ausnahme (4.) betrachtet und in die Hände von Spezialisten gelegt (1.). Ansätze organisationalen Lernens können vor dem Hintergrund dieser Argumentation als Weiterentwicklung des Konzepts der Organisationsentwicklung
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2 Pädagogische Praxis und Personalentwicklung
verstanden werden, in denen Veränderung nicht als abgeschlossener und planbarer, sondern als permanent andauernder Prozess verstanden wird und damit keinen Sonderfall, sondern den Regelfall organisationaler Praxis darstellt (vgl. Schreyögg 1999, 548). Organisationen werden hier in aller Regel als Systeme dargestellt, die als Ganze lernfähig sind und sich dadurch flexibel und schnell an veränderte Anforderungen anpassen können. Die existierenden Theorien zum organisationalen Lernen sind sehr heterogen. Schröer unterscheidet aufgrund des inhaltlichen Bezugs Ansätze, „die auf die Veränderung des geteilten Wissens in der Organisation zielen (Duncan/ Weiss 1979, Nonaka/ Takeuchi 1997), oder solchen, die eine Veränderung von Routinen (March/ Olsen 1976) oder organisationalen Handlungstheorien (Argyris/ Schön 1978) anstreben“ (Schröer 2004, 98). Ähnlich unterscheidet Hennemann kognitive und verhaltensbezogene Lerninhalte (vgl. Hennemann 1997, 33). Die Autoren der hier unterschiedenen Ansätze sind zugleich diejenigen, auf die im Zusammenhang mit organisationalem Lernen am häufigsten Bezug genommen wird (vgl. Göhlich 2001; Geißler 1994; Felsch 1999). March und Olsen (1976) entwickeln ein behavioristisches Lernkreislaufmodell (vgl. Schreyögg 2008, 437), in dem organisationales Lernen dem organisationalen Erfahrungslernen der Organisationsmitglieder entspricht. Erfahrungslernen wird hier durch die Praxis der Organisation bestimmt und dadurch zum Gegenstand des Erfahrungslernens (vgl. Geißler 1994, 42). Dadurch entsteht eine „überindividuelle Organisationsebene […], die ihrerseits Umweltveränderungen bewirkt, die dann den Organisationsmitgliedern als Reize für neues Handeln bzw. Lernen dienen“ (Göhlich 2001, 245). Durch das Feedback der Umwelt wird das Handeln „ständig auf seine Angemessenheit überprüft und ggf. erweitert und korrigiert“ (Geißler 1994, 43). Eine starke Ähnlichkeit des Ansatzes von March und Olsen mit dem Ansatz von Argyris und Schön liegt in der Annahme, dass der gemeinsame Lernprozess darin besteht, dass eine soziale Welt durch kollektive Glaubensgewissheiten aufgebaut wird (vgl. ebd., 55). March und Olsen bleiben jedoch viel stärker als die parallel aufkommenden kognitiven und konstruktivistischen Lerntheorien auf der Handlungsebene verhaftet. Beginnend mit Duncan und Weiss (1979) wird organisationales Lernen insbesondere als Weiterentwicklung des Wissens der Organisationsmitglieder über organisationsinterne Wirkungszusammenhänge, im Original „action-outcome relationships“ (Duncan/ Weiss, zitiert nach Geißler 1994, 29), und als Veränderung der organisationalen Wissensbasis verstanden. Hierbei handelt es sich um öffentliches Wissen über die Organisation und ihre Umwelt, das Entscheidungsträgern zugänglich ist, als relevant und nützlich akzeptiert wird sowie wirkungs-
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voll und kommunizierbar ist (vgl. Duncan/ Weiss, zitiert nach Geißler 1994, 25f.). Es setzt sich damit kategorial von nichtkommunizierbarem individuellem, praktischem oder implizitem Wissen ab. Dem Ansatz von Nonaka und Takeuchi (1997) liegt ein weiteres Verständnis von Wissen zugrunde. Anknüpfend an Bateson und Polanyi unterscheiden sie implizites und explizites Wissen und beziehen dadurch auch kulturelle und ritualisierte Aspekte von organisationaler Praxis und organisationalem Wissen ein (vgl. ebd., 72f.). Explizites Wissen lässt sich demnach „in Worten und Zahlen ausdrücken und problemlos mit Hilfe von Daten, wissenschaftlichen Formeln, festgelegten Verfahrensweisen oder universellen Prinzipien mitteilen. […] Implizites Wissen ist sehr persönlich und entzieht sich dem formalen Ausdruck, es läßt sich nur schwer mitteilen“ (Nonaka/ Takeuchi 1997, 18). Es ist „tief verankert in der Tätigkeit und der Erfahrung des einzelnen sowie in seinen Idealen, Werten und Gefühlen“ (ebd., 19). Nonaka und Takeuchi stellen vier Formen bzw. Stufen einer systemischen „Wissensumwandlung“ (ebd., 73) vor, aus denen neues Wissen entstehen bzw. innerhalb derer organisationales Lernen stattfinden soll: Durch Sozialisierung wird implizites Wissen weitergegeben und vermittelt, ohne dass dabei die Ebene des impliziten Wissens verlassen wird. So wird bspw. in der Handwerkslehre das relevante Wissen typischerweise nicht in expliziter Form, sondern eher durch Beobachtung, Imitation und gemeinsame Übung weitergegeben (vgl. Schreyögg/ Noss 1997, 72). Wenn implizites Wissen expliziert und dadurch einer Reflexion zugänglich gemacht wird, findet eine Externalisierung des Wissens statt. Aus der sog. Kombination von explizitem mit anderem expliziten Wissen kann neues Wissen entstehen, wenn es bspw. gelingt, spezifisches Know-how in einem neuen Zusammenhang anzuwenden (vgl. ebd., 73). Internalisierung von explizitem zu implizitem Wissen vollzieht sich immer dann, „wenn geschriebenes oder dokumentiertes Wissen (z.B. Unternehmens- und Führungsgrundsätze) mehr und mehr in die täglichen Handlungen des Systems übernommen bzw. in ihnen ,gelebt‘ werden. Der Aspekt des Neuen entsteht in diesem Konversionsprozeß potentiell durch die Interpretation und oftmals modifizierende Umsetzung des kodifizierten Wissens (es handelt sich ja meist um eine nicht-bildgetreue Übernahme) und den dann folgenden Verknüpfungen mit dem vorhandenen impliziten Wissensbestand einer Organisation“ (ebd., 73). Nonaka und Takeuchi gehen von einem spiralförmigen Prozess aus, bei dem das Wissen von Stufe zu Stufe auch zunehmend kollektiv wird. Implizites Wissen soll explizit werden, implizites und explizites Wissen sollen sich verbin-
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den und einer immer größeren Menge von Organisationsmitgliedern zugänglich gemacht werden (vgl. Nonaka/ Takeuchi 1997, 84f.). Schreyögg und Noss kritisieren die willkürliche Annahme, „der Wissenserzeugungsprozess beginne beim Individuum“ (1997, 75), die dem wissensbasierten Konzept organisationalen Lernens widerspricht, „wonach Wissen an Wissen anschließt und die organisatorische Wissensbasis den denknotwendigen Ausgangspunkt bildet“ (ebd.), wobei dies dadurch entkräftet werden könnte, dass auch das implizite Wissen eines Individuums organisationales Wissen und somit Bestandteile der organisationalen Wissensbasis enthält. Anstelle des Ineinandergreifens der vier Prozesse schlagen sie vor, diese „als prinzipiell separate und im Einzelfall kombinierbare Impulsprozesse darzustellen“ (ebd.). Teil des Speichers von Wissen über die Organisation sind die Handlungstheorien der Akteure in ihr. Dies machen Argyris und Schön in ihrem Ansatz von 1978 deutlich, dem wohl am häufigsten replizierten Ansatz organisationalen Lernens (Hanft 1998; Felsch 1999; Geißler 2000; Becker 2002; Arnold/ Bloh 2003; Schröer 2004). Argyris und Schön unterscheiden zwischen der „espoused theory“, also den offiziellen und expliziten Begründungen, die vorgebracht werden, um Handeln zu erklären oder zu rechtfertigen, und der „theory-in-use“, die dem Handeln implizit, stillschweigend und oftmals unreflektiert zugrunde liegt, die dieses aber wesentlich bestimmt (vgl. Argyris/ Schön 1999, 29) und die häufig nicht mit der dokumentierten „espoused theory“ vereinbar ist. In einer organisationalen „theory-in-use“ finden sich die von den Organisationsmitgliedern geteilten inoffiziellen aber handlungsleitenden Annahmen über die Organisation, die im Gegensatz zur Annahme von Duncan und Weiss wesentlicher Bezugspunkt organisationalen Lernens sind. Organisationales Lernen findet demnach auf unterschiedlichen Ebenen statt – je nachdem wie auf die organisationalen Handlungstheorien Bezug genommen wird: Beim single-loop-learning werden „Handlungsstrategien oder Annahmen, die Strategien zugrunde liegen, so verändert, daß die Wertvorstellungen einer Handlungstheorie unverändert bleiben“ (ebd., 35f.). So können bspw. Qualitätskontrolleure die Informationen über ein fehlerhaftes Produkt an die Fertigungsingenieure weitergeben, die wiederum die Produktionsmethoden ändern können, um den Mangel zu beheben (vgl. ebd., 36). Unter double-loop-learning verstehen Argyris und Schön „ein Lernen, das zu einem Wertewechsel sowohl der handlungsleitenden Theorien als auch der Strategien und Annahmen führt“ (ebd.). Es findet eine kritische Auseinandersetzung mit den Zielen, Normen und Standards der Organisation statt. Von Lernen wird tatsächlich erst dann gesprochen, wenn es zu „einer breit akzeptierten Re-
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strukturierung der organisatorischen Handlungstheorie“ (Schreyögg 1999, 539), der „theory-in-use“, gekommen ist. Die Erfahrungen aus diesen beiden Lernebenen werden in einer „MetaEbene des Lernens“ (ebd., 538), dem deutero-learning nach Bateson bzw. einem „Lernen Lernen“ (Göhlich 2001, 247) zusammengeführt, „durch das die Mitglieder einer Organisation das Lernsystem entdecken und abändern können, das die vorherrschenden Muster der organisationalen Untersuchung festlegt“ (Argyris/ Schön 1999, 44). Zusammenfassend wird nochmals darauf verwiesen, was Argyris und Schön einleitend als organisationales Lernen definieren und in welchem Verhältnis dieses zu individuellem Lernen steht: „Organisationales Lernen findet dann statt, wenn einzelne in einer Organisation eine problematische Situation erleben und sie im Namen der Organisation untersuchen. Sie erleben eine überraschende Nichtübereinstimmung zwischen erwarteten und tatsächlichen Aktionsergebnissen und reagieren darauf mit einem Prozeß von Gedanken und weiteren Handlungen; dieser bringt sie dazu, ihre Vorstellungen von der Organisation oder ihr Verständnis organisationaler Phänomene abzuändern und ihre Aktivitäten neu zu ordnen, damit Ergebnisse und Erwartungen übereinstimmen, womit sie die handlungsleitende Theorie von Organisationen ändern. Um organisational zu werden, muß das Lernen, das sich aus Untersuchungen der Organisation ergibt, in den Bildern der Organisation verankert werden, die in den Köpfen ihrer Mitglieder und/oder den erkenntnistheoretischen Artefakten existieren (den Diagrammen, Speichern und Programmen), die im organisationalen Umfeld angesiedelt sind“ (ebd., 31f.).
Während individuelles Lernen im Organisationsgestaltungsansatz vor allem Anpassungslernen an neue Strukturen und Aufgaben bedeutet und bei Ansätzen der Organisationsentwicklung zwar einen wesentlichen, aber für sich abgegrenzten Aspekt des Veränderungsprozesses darstellt, ist das Verhältnis von individuellem und organisationalem Lernen in Ansätzen organisationalen Lernens meist komplexer angelegt. Hennemann (1997) unterscheidet drei Konzepte zum Zusammenhang individuellen und organisationalen Lernens: 1. den methodischen Individualismus, wonach organisationales Lernen „vollkommen auf Prozesse individuellen Lernens reduzierbar“ (Hennemann 1997, 22) ist; 2. das AnalogieKonzept, nach dem Organisationen ähnlich lernen wie Individuen; und 3. das Multi-/Mehrebenen-Lernmodell, das bei Argyris und Schön zu erkennen ist und das davon ausgeht, dass individuelles Lernen zwar eine notwendige aber nicht hinreichende Bedingung für organisationales Lernen ist, denn auf organisationaler Ebene kommen „spezifische Besonderheiten hinzu, die eine differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen Ebenen erforderlich machen“ (ebd.). Dabei wirft insbesondere der Prozess der Kollektivierung und Institutionalisierung individuellen Wissens oder Lernens Fragen auf.
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2 Pädagogische Praxis und Personalentwicklung
2.3.2 Integrative Ansätze Nach der Darstellung der „klassischen“ Ansätze zum organisationalen Lernen sollen im Folgenden eine Reihe weniger bekannter Ansätze zur Personalentwicklung vorgestellt werden, die teilweise auf erstere zurückgreifen, darüber hinaus aber versuchen, theoretische Lücken durch die Kopplung von Ansätzen individuellen und organisationalen Lernens zu schließen.
2.3.2.1
Felsch: Mikropolitik und Identitätstheorie
Ausgangspunkt der Arbeit von Felsch (1999) ist unter anderem ihr Vorwurf an die Personalentwicklungsforschung, „daß der theoretischen Reflexion über Prozesse des Lernens kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde“ (ebd., 2). Dazu sind ihrer Meinung nach lerntheoretische, kognitionswissenschaftliche und sozialisationstheoretische Zugänge heranzuziehen (vgl. ebd.). Gleichzeitig problematisiert sie die „wenig anschlussfähigen herkömmlichen organisationstheoretischen Rahmenmodelle“ (ebd.), die, wenn überhaupt, nach wie vor den theoretischen Bezugsrahmen von Personalentwicklung darstellen. An den Konzepten organisationalen Lernens kritisiert sie die fehlende Akteursperspektive (vgl. ebd., 8). Ihrem Theoriemodell von Personalentwicklung und organisationalem Lernen legt sie eine mikropolitische Perspektive nach Crozier und Friedberg sowie die Identitätstheorie des sozialisationstheoretischen Modells nach Mead bzw. Blumer zugrunde. Den Kurswechsel vom „Lernenden als Objekt des Qualifizierungsgeschehens“ (Felsch 1999, 84) zum lernenden Subjekt (und damit zur Postulierung der doppelten Zielsetzung von Personalentwicklung) sieht sie in Holzkamps Verständnis von Lernen als einem „an (subjektiv) überzeugenden Gründen orientierte[m] Handeln“ (ebd.) bestätigt, wodurch „jede dem Subjekt äußerliche Festsetzung von Lerngegenständen oder -zielen problematisch“ (ebd.) wäre. Gleichzeitig gibt der machttheoretische Bezugsrahmen die Möglichkeit, individuelle und organisationale Ziele zum Gegenstand der theoretischen Reflexion zu machen (vgl. ebd., 85). In den oben vorgestellten „klassischen“ Konzepten organisationalen Lernens wird nach Ansicht Felschs „der im sozialen, organisationsbezogenen Handeln eigene Interessen verfolgende und lernende Akteur nicht konsequent in Rechnung gestellt“ (ebd., 119). Darüber hinaus werde nicht deutlich, dass und
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wie sich individuelle Kompetenzen und organisationale Strukturen gegenseitig bedingen (vgl. ebd.). Felschs Verständnis von organisationalem Lernen, von dem ihrer Ansicht nach erst dann gesprochen werden kann, wenn „Lernleistungen einzelner in das ,Gedächtnis der Organisation‘ einfließen“ (ebd., 121) deckt sich mit der Annahme von Argyris und Schön, dass individuelles Lernen, um organisational zu werden, „in den Bildern der Organisation verankert werden [muss], die in den Köpfen ihrer Mitglieder und/oder den erkenntnistheoretischen Artefakten existieren“ (Argyris/ Schön 1999, 31f.). In ihren Augen sind Organisationen jedoch nur dann lernfähig, wenn „Differenzen zwischen für gültig erklärten Regeln und akzeptierten Regeln handelnd zum Gegenstand von sozialer Auseinandersetzung gemacht werden“ (Felsch 1999, 122). Entsprechend ist aus ihrer Sicht von organisationalem Lernen nur „in Annäherung an double-loop learning zu sprechen“ (ebd.), wenn Veränderungen der Verhaltensstruktur (bzw. „theory-in-use“) zu Veränderungen der Formalstruktur (bzw. „espoused theory“) geführt haben oder umgekehrt (vgl. ebd.). Bleibt die Veränderung innerhalb einer Ebene, würde Felsch von single-loop learning sprechen (vgl. ebd.). Diese Adaption bzw. Modifikation des Ansatzes von Argyris und Schön auf eine mikropolitische Perspektive scheint allerdings nur eine Umetikettierung zu sein. Sie führt den Aspekt von Macht als Bestandteil von Lernprozessen von und in Organisationen ein, bringt aber kein besseres Verständnis des Zusammenhangs von individuellen und organisationalen Aspekten des Lernens. Sind bei Argyris und Schön die Organisationsmitglieder als Forscher im Namen der Organisation unterwegs (vgl. Argyris/ Schön 1999, 31), findet organisationales Lernen bei Felsch „im Rahmen von Verhandlungsprozessen interessenverfolgender Organisationsmitglieder statt“ (Felsch 1999, 122). Auch die Integration des Identitätsbegriffs, der nach Felschs Ansicht im Ansatz von Crozier und Friedberg zu wenig entfaltet wird, stellt nur bedingt eine tatsächliche Erweiterung dar. Sie sieht eine „identitätsförderliche Kehrseite der Teilnahme an Machtbeziehungen“ bzw. „die sich in ihnen bergende Chance der Behauptung von Identität“ (ebd., 161). Die Anerkennung der Identität anderer ist nach Felsch immer vom Interesse an den Ressourcen geleitet, die der nach Anerkennung Suchende kontrolliert. Sie geht von einem dialektischen Verhältnis von Macht und Identität aus (vgl. ebd., 164). Machthabe und -ausübung bilden sowohl das Potential zu Persönlichkeitsentwicklung als auch das zu Zerstörung oder Unterdrückung (vgl. ebd., 165). Felsch sieht Personalentwicklung als sozialen Prozess, dessen gemeinsamer Deutungsrahmen der Akteure durch einen „machtgestützten Prozeß der Identi-
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tätsdarstellung und -anerkennung reproduziert bzw. modifiziert wird“ (ebd., 167). Vor diesem Hintergrund empfiehlt sie, auf den Einsatz von geplanten Lernprozessen zu Gunsten von ungeplanten zu verzichten. Die Entwicklung, Entfaltung und operative Anwendung von Qualifikationen erfolge im interaktiven Wechselspiel mit den Qualifikationen anderer. Entsprechend sei der Fokus auf das soziale Arrangement von Qualifikationen und die Beachtung von Machtverhältnissen im Arbeitsumfeld der Akteure zu legen (vgl. ebd., 171). Ausgangspunkt des Lernens in und von Organisationen ist der einzelne Akteur, der auch eigene Interessen verfolgt. Mit Rekurs auf Holzkamp propagiert Felsch „expansives (expansiv begründetes) Lernen“ (ebd.) gegenüber defensivem Lernen. Denn während ersteres eine subjektiv begründete Lernqualität bezeichnet, bei der durch den Lernprozess eine Erhöhung der Lebensqualität erreicht werden soll, handelt es sich bei defensiv begründetem Lernen um eine „durch Lernen erreichbare Abwehr von Beeinträchtigung und Bedrohung verfügbarer Handlungsmöglichkeiten und zukünftiger Interessenrealisierung“ (ebd.). Die Übereinkunft über einen gemeinsamen Lerngegenstand und die Einigung darüber, dass alle Beteiligten einen Vorteil aus der Erweiterung der Lebensqualität des einzelnen haben, fördert expansives Lernen, während durch ein permanentes Misstrauen die persönlichen Interessen bedroht werden und damit auch das Lernen anderer zur Bedrohung der eigenen Handlungsfähigkeit wird. Entsprechend entwickeln die Beteiligten Machtstrategien, die expansives Lernen und damit auch individuelle und organisationale Entwicklung verhindern (vgl. ebd., 172).
2.3.2.2
Hanft: strukturationstheoretische und machtpolitische Analyse
Hanft legt ihrer empirischen Studie über die Implementierung von Personalentwicklungsbereichen dreier Unternehmen den strukturationstheoretischen Ansatz von Giddens zu Grunde. Sie untersucht die Unternehmen einerseits im Hinblick auf Strukturelemente, die „als fortwährend reproduzierte Aspekte sozialer Systeme“ (Giddens, zitiert nach Hanft 1998, 12) verstanden werden, und andererseits im Hinblick darauf, wie sich das Verhalten der Akteure auf diese Strukturelemente bezieht (vgl. ebd.). Dabei kommt wie bei Felsch auch immer wieder der mikropolitische Ansatz nach Crozier und Friedberg zur Anwendung. Der Prozess der Einführung von Personalentwicklungsbereichen berührt das Thema „organisationales Lernen“ in zweifacher Hinsicht: Es geht zum einen um die Konzepte organisationalen Lernens, die die Verantwortlichen über Personalent-
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wicklung in den Unternehmen zu institutionalisieren suchen, und zum anderen stellt die Implementierung des neuen Bereichs an sich einen organisationalen Lernprozess dar. Im Rückgriff auf Giddens meint Hanft: „Um die Strukturen einer Organisation erschließen und verändern zu können, müssen sie im Zusammenhang mit Interaktionsprozessen gesehen werden“ (ebd., 21). Strukturen sind sowohl Bedingungen als auch Folgen der Produktion von Interaktion. Entsprechend bilden Macht, Kommunikation und Sanktion, Deutungsschemata, Werte und Normen den Analyserahmen ihrer Untersuchung. Gleichzeitig stellt dies die konzeptionelle Grundlage für die Zusammenführung von individuellem und organisationalem Lernen in ihrer Vorstellung von Personalentwicklung dar. Bei ihren Vorüberlegungen zum organisationalen Lernen bezieht sich Hanft auf Levitt und March (1988). Diese sprechen dann von organisationalem Lernen, wenn „die Transmission von individuellem Wissen auf andere Organisationsmitglieder gelingt und so von Organisationsmitgliedern gemeinsam getragenes Wissen entsteht und wenn zweitens dieses Wissen strukturale Folgen hat“ (Hanft 1998, 48). Dabei spielen sowohl die Erfahrungen der Organisationsmitglieder als auch die von Außenstehenden eine Rolle. Von den bereits bestehenden strukturalen Rahmenbedingungen ist abhängig, welches Wissen tatsächlich struktural verankert wird; es ist also abhängig davon, welches Wissen von den Organisationsmitgliedern bereits geteilt und gemeinsam gelebt wird. Vor dem Hintergrund des Symbolischen Interaktionismus und der dort konzeptionell verankerten Fähigkeit des Menschen zur Perspektivenübernahme beschreibt Hanft Rollendistanz, Empathie und Ambiguitätstoleranz als wesentliche Voraussetzungen des Lernens von Individuen im Kontext von Organisationen: „Erst die Distanzierung von normativen Mustern schafft Offenheit für abweichende Interpretationen von Wirklichkeit. Sie zu analysieren und zu interpretieren ist Ausdruck von Lernprozessen und ermöglicht alternative Handlungsentwürfe, die über Deutungsmuster der eigenen Kultur hinausgehen“ (ebd., 50f.). Versucht man, dies in die Systematik der organisationalen Lernebenen bei Argyris und Schön einzuordnen, könnte man hier von einer Voraussetzung für double-loop-learning sprechen, bei dem die organisationsspezifischen Grundannahmen verändert werden. Eine weitere Voraussetzung für organisationales Lernen ist nach Hanft die Bereitschaft der Individuen, ihr Wissen in gemeinsame Lernprozesse einzubringen sowie offen zu sein für das Wissen und die Erfahrungen anderer. Organisationales Lernen beschreibt sie entsprechend in Anlehnung an Crozier und Friedberg (Wissen als Machtressource) und Duncan und Weiss (organisationales Wissen als öffentliches Wissen der Organisation über sich selbst) als Prozess, „in
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dem individuelles Wissen von anderen aufgenommen, bewertet, akzeptiert und in eigene Deutungsschemata integriert wird“ (ebd., 51). Erst dann geht dieses Wissen in Veränderungen ein, die die Grundlage für organisationales Lernen bilden. Was das Organisational-Werden betrifft, ist hier, ebenso wie bei Felsch, eine Übereinstimmung mit Argyris und Schön festzustellen, wenngleich Hanft an dieser Stelle von einer bewusste(re)n Reflexion und Akzeptanz, also einer bewusste(re)n Auseinandersetzung und Entscheidung auszugehen scheint. Wenn sich organisationales Lernen in der Interaktion zwischen Individuen vollzieht, dürfen die Kommunikationsmöglichkeiten der Akteure nicht eingeschränkt sein. Hanft hebt hier vor allem „funktionierende Kommunikationsbeziehungen“ (ebd., 52) hervor. Sie zieht das Dialog-Modell von Schein zur Herstellung gemeinsamer Deutungsmuster heran. Lernen resultiert aus der Feststellung von Widersprüchen zwischen der Formalstruktur und der Verhaltensstruktur. Da die Bereitschaft, sich auf Lern- und Veränderungsprozesse einzulassen, in Krisenzeiten größer ist, diese aber nicht die nötige Stabilität für Qualifizierungsprozessen förderlichen Lernbedingungen aufweisen, sollte auch außerhalb individueller und organisationaler Problemphasen die Sensibilität gegenüber Widersprüchen in Handlungsmustern erhöht und durch Dialog gefördert werden (vgl. ebd., 56). Die lange Zugehörigkeit zu einer Organisation und die damit verbundene Routinisierung von Handlungsmustern und die Angleichung individueller und organisationaler Deutungsmuster können zu einer Desensibilisierung gegenüber Umweltveränderungen und damit zu Stagnation führen. Lernprozesse, die durch die Feststellung von Widersprüchen entstehen, werden verhindert. In Anlehnung an March propagiert Hanft hier die „langsame Sozialisation“ neuer Organisationsmitglieder, weil dadurch „von habitualisiertem Verhalten abweichende Deutungsmuster [erhalten werden], die innerhalb der Organisation für die Reflexion von Verhaltensstrukturen genutzt werden können“ (ebd., 59). Die Konsequenzen Hanfts aus diesen Überlegungen für eine Konzeption von Personalentwicklung sind folgende: Personalentwicklung hat sich nicht am betrieblichen Bedarf zu orientieren und vor diesem Hintergrund Qualifizierungsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen, vielmehr „muß ihre Funktion darin bestehen, die institutionellen Bedingungen für die Transmission von Wissen und Erfahrung und für die Veränderung von Handlungsabläufen zu schaffen“ (ebd., 63). Dies bedeutet einerseits, im Sinne eines Wissensmanagements, die Akteure in die Lage zu versetzen, sich eigeninitiativ die benötigten Erfahrungen und das benötigte Wissen zu verschaffen. Als zentral werden hier elektronische Informationssysteme und interaktive Lernsysteme genannt. Andererseits sollen die Ak-
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teure durch Reflexion die vorherrschenden und überlebten Deutungsschemata überwinden. Es geht also um den Zugang zu Deutungsmustern, die außerhalb der bekannten und zugänglichen Wissens- und Erfahrungsbasis liegen. Ein Weg dorthin sind „[k]onfliktäre Lernelemente“ (ebd., 64), die Institutionalisierung von Reflexionszirkeln und das Hinzuziehen von externen Experten (vgl. ebd. 65f.). Die „Belohnung kreativer Handlungsinitiativen“ setzt ebenso an der Förderung des Verlassens routinisierter Handlungsmuster an, wie die in der Organisationskultur zu verankernde Haltung, dass Fehler von verantwortungsvoll handelnden Mitarbeitern nicht sanktioniert werden, sondern als natürlicher Bestanteil von Lernprozessen betrachtet werden (vgl. ebd., 66). Verhaltensstrukturen sind dann lernförderlich, wenn sie „Dialoge, offene Diskussionen, Minderheitenmeinungen und Experimentierbereitschaft“ (ebd., 67) zulassen, ansonsten „steigt die Wahrscheinlichkeit der übermäßigen Routinisierung von Handlungsabläufen und die Chancen für organisationales Lernen sinken“ (ebd.). Diese Prozesse zu analysieren ist, so Hanfts Standpunkt, ohne die Einbeziehung von Fragen von Macht nach Hierarchie nicht möglich.
2.3.2.3
Zusammenfassende Diskussion der integrativen Ansätze
Die Ansätze von Felsch und Hanft lehnen sich stark an die Unterscheidung von Lernebenen nach Argyris und Schön an. Es gelingt ihnen zwar, die Übergänge von individuellem zu organisationalem Lernen deutlich zu machen und auch die dabei ablaufenden interpersonalen und apersonalen Prozesse theoretisch zu unterlegen, ebenso wie Argyris und Schön bleiben sie jedoch auf einer kognitiven Ebene individueller und organisationaler Lernprozesse verhaftet (vgl. Göhlich 2007, 225). Felsch spricht von einem „Gedächtnis der Organisation“ (Felsch 1999, 121), in das die Lernleistungen der einzelnen einfließen müssen, Hanft von der Transmission individuellen Wissens und der Verankerung in den Strukturen der Organisation, der eine Bewertung und Prüfung auf Relevanz vorausgeht (vgl. Hanft 1998, 48). Im Rahmen ihrer Vorschläge zur Ermöglichung organisationalen Lernens, die sich aus den zugrunde gelegten mikropolitischen Ansätzen speisen, sprechen beide Autorinnen Aspekte der Organisationskultur an: Felsch spricht von der Notwendigkeit von Vertrauen, damit das Lernen anderer nicht zur Bedrohung der eigenen Handlungsfähigkeit wird; Hanft weist darauf hin, dass Fehler als natürlicher Bestandteil von Lernprozessen akzeptiert werden müssen und nicht
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2 Pädagogische Praxis und Personalentwicklung
sanktioniert werden dürfen. Dies wird bei beiden aber nicht theoretisch rückgebunden, bspw. an Scheins Konzept der Organisationskultur, die gleichzeitig Produkt und Bezugsrahmen organisationalen Lernens darstellt. Nach Geißler (2000 u. 2005) orientieren sich Argyris und Schön und die auf sie Bezug nehmenden Ansätze am Paradigma der Zweckrationalität. Damit blieben bspw. die „basic assumptions“ nach Schein, also „die Gesamtheit aller unproblematisierten und deshalb in der Regel nicht diskutierten Vorannahmen“ (Geißler 2005, 38), die die Organisationskultur ausmachen, unberücksichtigt. Im Fokus steht explizites Organisationslernen (vgl. ebd., 25). Im Gegensatz dazu beschreibt Geißler Scheins Ansatz als „eine Theorie informellen Organisationslernens“ (ebd., 39). Über kognitives, auf die Realität bezogenes Wissen hinaus gehe es hier nicht nur um Wirkungszusammenhänge, sondern auch um Intentionalität und Normativität (vgl. ebd.). Schein selbst stellt Parallelen zu Argyris und Schön im Hinblick auf deren Konzept der „espoused theory“ und der „theory-inuse“ her (vgl. Schein 2004, 31). Die Lernprozesse, so Geißlers weitere Argumentation, die bei der Weitergabe von Werten, Normen und diesen entspringenden Handlungsmotiven entstehen, könnten besser durch Ansätze erklärt werden, die Prozesse der Sozialisation beschreiben. Sozialisation als organisationaler Prozess ist hier ähnlich vorstellbar wie das Konzept Scheins von der Entstehung von Kultur, während eine Gruppe lernt, „to cope with its problems of external adaption and internal integration“ (Schein, zitiert nach Geißler 2005, 38). Hanft greift Überlegungen Marchs zu einer langsamen Sozialisation auf und spricht Prozesse der Habitualisierung an, um sie für die Reflexion von Verhaltensstrukturen zu nutzen; aber auch hier wird dies nicht systematisch als Form des Lernens innerhalb der Organisation verfolgt, sondern lediglich als Lernanlass angeführt. Bemerkenswert ist allerdings, dass es sich hierbei um einen Lernanlass für die Organisation handelt, während Sozialisation im organisationalen Kontext sonst hauptsächlich als Anpassung oder Auseinandersetzung des Individuums an organisationale Gegebenheiten betrachtet wird (vgl. Marré 1997, 72; Heid/ Lempert 1982; s. bspw. Dick 1992). Die integrativen Ansätzen von Hanft und Felsch leisten zwar den Einbezug von Fragen der Macht und interessengeleiteten strategischen Handelns in ihre Modelle von Personalentwicklung und damit aus ihrer Sicht des Lernens in und von Organisationen; sie lassen aber außer Acht, dass es neben diesen kognitiven Prozessen eine performative Ebene gibt, auf der praktisches oder auch performatives Wissen über die Organisation und deren Machtstrukturen aufgeführt wird, das auf unbewussten Erfahrungen gründet. Dieses Wissen ist
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„körperlich, ludisch, rituell und zugleich historisch, kulturell; performatives Wissen bildet sich in face-to-face Situationen und ist semantisch nicht eindeutig; es ist ästhetisch und entsteht in mimetischen Prozessen; performatives Wissen hat imaginäre Komponenten, enthält einen Bedeutungsüberschuss und lässt sich nicht auf Intentionalität reduzieren; es artikuliert sich in Inszenierungen und Aufführungen des alltäglichen Lebens, der Literatur und der Kunst“ (Wulf et al. 2001, 13).
Im Hinblick auf die in diesem Zusammenhang stattfindenden Lernprozesse ist es insbesondere die Betrachtung mimetischer Lernprozesse (vgl. Wulf 2007, 99; Göhlich 2007, 225), die hier relevant wird.
2.3.3 Konsequenzen für den theoretischen Ordnungsrahmen der Untersuchung Pädagogische Organisationsforschung interessiert sich für Lernprozesse in und von Organisationen und deren Unterstützung. Die vorliegende Arbeit fragt noch konkreter nach pädagogischen Prinzipien, also Prinzipien der Lernunterstützung, im Rahmen der Planung und Durchführung von Personalentwicklungsmaßnahmen. Sie versteht Personalentwicklung als Schnittstelle individueller und organisationaler Lernprozesse und richtet ihr Augenmerk auf eben diese Übergänge zwischen individuellem und organisationalem Lernen. Sowohl auf individuelles als auch auf organisationales Lernen bezogen, liegt den oben vorgestellten Ansätzen ein Lernbegriff zugrunde, der insbesondere kognitive Lernprozesse fokussiert. Lernen wird als Veränderung der individuellen oder organisationalen Wissensbasis verstanden. Wie bereits in Kapitel 2.1 angedeutet, geht ein pädagogisches Verständnis von Lernen über diese kognitive Ebene hinaus und versteht Lernen auch als körperliches Phänomen, das mimetische Lernprozesse einschließt (vgl. Göhlich 2008; Wulf 2007). Entsprechend kann und soll auch das Lernen von Organisationen als Mimesis von (verkörperlichten) Mustern organisationaler Praxis betrachtet werden; ansatzweise ist dies bei Nonaka und Takeuchi (1997) beim Prozess der Sozialisierung oder auch der Internalisierung zu finden. Außerdem enthält jede organisationale Praxis sowohl Lernmuster als auch lernförderliche und lernhinderliche Muster, die das Lernen der Individuen in ihr und ihr Lernen als Organisation bestimmen und die es folglich im Zusammenhang mit Personalentwicklung und organisationalem Lernen zu betrachten gilt. Felsch (1999) und Hanft (1998) machen deutlich, dass auch Fragen von Macht und Identität eine entscheidende Rolle für das Lernen in und von Organisationen spielen. Aber wo in der Organisation lässt sich Lernen bzw. Lernunterstützung beobachten? Wo in der Organisation finden sich diese Infor-
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2 Pädagogische Praxis und Personalentwicklung
mationen; wo in der Organisation ist dieses Wissen über die Organisation verankert? Nach Argyris und Schön (2002) kann das Wissen der Organisation und damit auch das Wissen der Organisation über die Organisation „im Kopf der einzelnen Mitglieder gespeichert sein“ (ebd., 27), es kann „in den Akten der Organisation angesammelt sein […] ebenso wie in den offiziellen wie inoffiziellen Plänen“ (ebd.) und in den „materiellen Objekten“ (ebd., 28), also den Artefakten, in denen sich Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen materialisieren. Schließlich stellen Organisationen Wissen direkt dar (vgl. ebd.): „Organisationales Wissen verbirgt sich in den Abläufen und Verfahren, die selbst dann geprüft und entschlüsselt werden können, wenn die Personen, die sie ausführen, sie nicht in Worte fassen können“ (ebd.). Argyris und Schön untersuchen dieses Wissen als „Aktionstheorie“, die in zwei Formen auftreten kann: als „espoused theory“, „die vorgebracht wird, um ein bestimmtes Aktivitätsmuster zu erklären oder zu rechtfertigen“, oder als „theory-in-use“, „die in der Durchführung dieses Aktivitätsmusters stillschweigend enthalten ist“ (ebd., 29). Mit Argyris und Schön wäre also zu fragen, inwieweit pädagogische Prinzipien bei der Planung und Durchführung von Personalentwicklungsmaßnahmen handlungsleitend sind. Ergänzend wird als theoretisches Rahmenmodell das Verständnis von Organisation als kulturelle Praxis zugrunde gelegt. Schein beschreibt das Konzept der Organisationskultur als „explanatory concept“: „What happens in organizations is fairly easy to observe; for example, leadership failures, marketing myopia, arrogance based on past success, and so on; but in the effort to understand why such things happen, culture as a concept comes into its own“ (Schein 2004, xi). Schein schließt teilweise an die Annahmen von Argyris und Schön an (vgl. Schein 2004, 30). Er definiert Organisationskultur „as such taken-for-granted, shared, tacit ways of perceiving, thinking, and reacting“ (Schein 1996a, 231), „as a pattern of shared basic assumptions that was learned by a group as it solved its problems of external adaptation and internal integration, that has worked well enough to be considered valid and, therefore, to be taught to new members as the correct way to perceive, think, and feel in relation to those problems“ (Schein 2004, 17).
Um die Kultur einer Organisation verstehen und Vorhersagen über zukünftige Entscheidungen und Verhaltensweisen treffen zu können, ist nach Schein eine Analyse auf drei Ebenen der Kultur nötig, die er nach dem Grad ihrer Sichtbarkeit unterscheidet: „artifacts“, „espoused beliefs and values“ und „basic assumptions“ (vgl. ebd., 25 f.).
2.3 Personal- und Organisationsentwicklung – Integration
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Zu „artifacts“ gehören nicht nur die formal geregelten Strukturen und Prozesse einer Organisation oder das öffentliche Leitbild, sondern alles, was man sehen, hören und fühlen kann, wenn man von außen in eine Organisation kommt, also bspw. auch der Kleidungsstil ihrer Mitglieder, die Geschichten, die über die Organisation erzählt werden, die Sprache der Mitglieder und die Rituale, die beobachtet werden können (vgl. ebd., 26). Diese Ebene der Organisationskultur ist, so betont Schein, zwar leicht zu beobachten und zu beschreiben, die Bedeutung der „artifacts“ innerhalb des jeweiligen Kontexts ist aber sehr schwer einzuschätzen und zu entschlüsseln. Mit „espoused believes and values“ meint Schein Strategien und Werte, für die offiziell eingetreten wird und an denen sich die Organisationsmitglieder in der Regel bewusst orientieren: „[Espoused believes] remain conscious and are explicitly articulated because they serve the normative or moral function of guiding members of the group in how to deal with certain key situations, and in training new members how to behave“ (ebd., 29). Bei der Analyse der Organisationskultur auf der Ebene der „espoused believes“ ist allerdings auch hier Vorsicht geboten, denn möglicherweise sind die vorgetragenen Werte entsprechend des Verständnisses von „espoused theory“ bei Argyris und Schön nur rationale Begründungen und Rechtfertigungen oder ambitionierte Ziele, die mit der tatsächlichen Praxis aber wenig gemein haben. Im Zentrum von Scheins Kulturanalyse stehen, wie seine Definition von Kultur bereits gezeigt hat, die „basic assumptions“, die meist unsichtbar und unbewusst vorliegen: „[They] actually guide behavior, […] tell group members how to perceive, think about, and feel about things […]. [They] tend to be nonconfrontable and nondebatable, and hence are extremely difficult to change“ (ebd., 31). Die „basic assumptions“ sind es, die die eigentliche Kultur der Organisation ausmachen. Sie sind beständig, verlässlich und sorgen für Stabilität. Werden die „basic assumptions“ durch Veränderungen bedroht, entstehen Ängste und Abwehr gegen diese Neuerungen (vgl. ebd., 32). Für die Analyse der Organisationskultur ist für Schein entscheidend, den Lernprozess zu verstehen, der zu diesen „basic assumptions“ geführt hat. Sowohl Scheins Verständnis der „basic assumptions“ als auch Argyris und Schöns Konzept der „theory-in-use“ hat eine stark kognitive Ausrichtung. Auch wenn die von ihnen beschriebenen mentalen Modelle Anschlussmöglichkeiten auf organisationaler Ebene bieten (vgl. Dutke/ Wick 2003, 118f.), ermöglicht ein an Bateson angelehnte Verständnis des Musterbegriffs eine umfassendere Einsicht in die Praxis einer Organisation: Er schlägt eine Brücke zwischen der Organisation und dem handelnden Akteur, der die für sein Handeln grundlegenden
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2 Pädagogische Praxis und Personalentwicklung
Annahmen durch Mimesis der organisationalen Muster habitualisiert und inkorporiert hat und ihnen auf performativer Ebene Ausdruck verleiht (vgl. Göhlich 2001, 208ff). Mit Bezug auf Bateson beschreibt Engel Muster als „der Generierung kultureller Praxis (mittels systemischen Prozessieren) entsprungen, sich wiederholende, sichtbare Elemente, die entlang verschiedener sozialer Bezüge performativ vollzogen und dabei mimetisch habitualisiert werden“ (Engel 2006, 30).
Diese Muster finden sich also auch in performativen Prozessen und transportieren auch praktisches und körperliches Wissen, gehen also über die kognitive Ebene der „theory-in-use“ oder der „basic assumptions“ hinaus, wenngleich sie diese beinhalten. Auf dieser Ebene werden sie durch mimetische Lernprozesse weitergegeben und haben eine soziale, einheitsstiftende Kraft (vgl. Engel 2008, 58). Wird im Folgenden von Organisationskultur gesprochen, ist grundsätzlich eine Erweiterung des Kulturbegriffs von Schein um den Aspekt des Performativen mitgedacht. Ist von daran anschließenden Mustern organisationaler Praxis die Rede, werden diesen entsprechend nicht nur auf kognitiver Ebene verankerte „basic assumptions“ zu Grunde gelegt, sondern auch performatives Wissen der Akteure über die Organisation, in dem die Organisationskultur zum Ausdruck kommt.
3 Ergebnisse des Theorieteils
Ziel dieses Kapitels ist, auf der Basis der Ausführungen in Kapitel 2 einen theoretischen Referenzrahmen zu schaffen und die konkrete Fragestellung für die empirische Untersuchung zweier Unternehmen im Hinblick auf ihre Personalentwicklung abzuleiten. Aus Benners regulativer Idee eines nicht-hierarchischen Ordnungszusammenhangs der menschlichen Gesamtpraxis für die Verhältnisbestimmung der Einzelpraxen untereinander ergibt sich für diese Arbeit folgendes: In der betrieblichen Realität, so die Annahme, dominiert der ökonomische Grundgedanke. Alle anderen Bereiche der menschlichen Gesamtpraxis spielen eine untergeordnete Rolle. Dies begründet sich durch gesellschaftliche Arbeitsteilung. Nach einer Konvergenz pädagogischer und ökonomischer Prinzipien in der Personalentwicklung zu fragen, erscheint vor diesem Hintergrund unsinnig. Die Bedeutung pädagogischer Praxis in Organisationen herauszuarbeiten und damit zur Stärkung der pädagogischen Profession und ihrer Prinzipien auch außerhalb traditioneller pädagogischer Handlungsfelder sowie zur Stärkung ihrer Stimme in einem interdisziplinären Diskurs zum Thema Organisation beizutragen, kann nicht in der Suche nach Konvergenzen liegen, an der die ökonomische Praxis zudem wenig interessiert ist, sondern lediglich in der Bestimmung des Pädagogischen selbst und in der Stärkung der pädagogischen Kompetenz(en) an den Stellen, an denen die (möglicherweise ökonomisch dominierte) organisationale Praxis auf sie angewiesen ist. Die Aufgabe der Pädagogik liegt dabei nicht in einer unkritischen Zuarbeit, sondern in einem regulierenden Einwirken auf die Praxis der Organisation durch die Unterstützung von individuellen und organisationalen Lernprozessen. Insbesondere innerhalb der Personalentwicklung und der betrieblichen Weiterbildung eines Unternehmens stoßen pädagogische und ökonomische Rationalität aufeinander. Individuelle Lern- und Entwicklungsbestrebungen treffen hier auf die Ziele der Organisation, die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen gewinnbringend einzusetzen. Lernprozesse, die zu Selbsttätigkeit und Autonomie befähigen sollen, stehen der zweckorientierten Verwertung von Wissen gegenüber. Ein Ziel organisationaler Veränderungsprozesse kann es sein, diese
I. Sausele-Bayer, Personalentwicklung als pädagogische Praxis, DOI 10.1007/978-3-531-94021-2_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Ergebnisse des Theorieteils
Rationalitäten in eine Balance zu bringen (vgl. Schröer 2004, 59).6 Nicht zuletzt kann mit Benner argumentiert werden, dass das Primat einer Praxis für diese selbst schädigend wirkt, weil sie dadurch inhuman wird. Gerade die Praxis in einem sonst an ökonomischen Interessen ausgerichteten Unternehmen kann also möglicherweise von der Stärkung des Pädagogischen und einer dadurch zu erlangenden Balance profitieren, auch oder gerade weil dadurch die Individuen in ihr gestärkt werden (vgl. Kuper 2000, 23). → Ziel dieser Arbeit ist weder der Versuch einer „Pädagogisierung“ der Ökonomie, noch einer Verschmelzung ökonomischer und pädagogischer Rationalität. Es geht darum, aufzuzeigen, wo pädagogische und ökonomische Praxis zusammen wirken und zusammen wirken müssen, damit eine Organisation lernfähig ist und in humaner Weise erfolgreich ihre Aufgaben erfüllen kann. Dazu muss zunächst das Pädagogische in der Praxis von Organisationen identifiziert werden. Kapitel 2.1 (Zum Wesen des Pädagogischen) hat gezeigt, dass sich die vorgestellten Autoren bei diesem Versuch auf unterschiedliche pädagogische Begriffe und Konzepte beziehen. Für Benner spielt die Verantwortung der Pädagogik für die „Bestimmtheit“ (Benner 2001, 73) der Menschen, also das Moment der „Bildsamkeit“ des Menschen und die „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“ (ebd., 59) durch den Pädagogen eine zentrale Rolle. Auch Geißler setzt am Bildungsbegriff an und sieht die Pädagogik in Organisationen in einer aufklärenden Rolle. Ihre Aufgabe besteht demnach insbesondere darin, durch die Begründung einer Organisationsdidaktik die Voraussetzungen für die gemeinsame Erkenntnissuche der Organisationsmitglieder zu schaffen. Auch für Merkens ist, wenn auch ohne direkte Bezugnahme auf den Bildungsbegriff, sondern stärker Erziehung in den Blick nehmend, das Herstellen optimaler Lernarrangements und die Anregung zur Eigentätigkeit zentral. Kade und Seitter finden das Pädagogische in Kommunikationen zum Umgang mit Wissen, aber auch auf der Ebene von Vermittlung und Aneignung. Göhlich sieht Pädagogik als Lernunterstützung, wobei er einen pädagogischen Begriff von Lernen zugrunde legt. Lernunterstützung hat bei ihm einen stabilisierenden, aufklärenden und anregenden Aspekt. Unabhängig von ihrer Bezugstheorie steht bei allen Autoren die Befähigung der Lernenden zur Selbsttätigkeit im Vordergrund. Vor dem Hintergrund der in 6
Schröer beschreibt dies speziell für Einrichtungen der Evangelischen Erwachsenenbildung, also für im weiteren Sinne pädagogische Institutionen; aber auch für ein Unternehmen mag die Stärkung der pädagogischen Praxis gewinnbringend sein. So beschreiben bspw. Boreham und Morgan (2004) die Implementierung organisationalen Lernens in einer britischen Ölraffinerie „as constitutive of an autonomous self“ (ebd., 317).
3 Ergebnisse des Theorieteils
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Kapitel 2.3 entfalteten Ansätze organisationalen Lernens kann sich dies sowohl auf den individuellen als auch auf den organisationalen Lerner beziehen. In jedem Fall geht es darum, Organisationen und die Abläufe und Strukturen in ihnen so zu gestalten, dass die an sie angeschlossenen Individuen und sie selbst lernen und sich weiter entwickeln können, ohne permanenten Interventionen von außen ausgesetzt zu sein. Bei der folgenden Analyse bleiben pädagogische Konzepte wie Bildung oder Erziehung nicht außen vor. Auf der Suche nach pädagogischen Prinzipien begegnet man ihnen in unterschiedlichen Kontexten, und es ist zu fragen, wann und unter welchen Bedingungen dies geschieht. Sie werden aber nicht, wie es Kade und Seitter formulieren, als „Orientierungsmarke“ verwendet. Statt dessen stehen die Begriffe des Lernens und der Lernunterstützung im Zentrum, die im Sinne Göhlichs am besten geeignet sind, um auch Entwicklungsprozesse auf der Ebene der Organisation zu erfassen. Die Aufgabe der Pädagogik liegt auch und besonders in ökonomisch ausgerichteten Organisationen in der ressourcenfördernden Unterstützung von Lernprozessen sowohl im Hinblick auf individuelle Lernprozesse als auch auf organisationale Lernprozesse sowie der Verschränkung von beiden. Bedeutsam für die folgende empirische Betrachtung zweier Organisationen sind die Zugänge Schäffters und Göhlichs, die beim Blick auf (pädagogische) Institutionen unterschiedliche Teilsysteme ausmachen, die mehr oder weniger stark pädagogisch im Sinne der oben angeführten Kriterien ausgerichtet sind. Auch wenn Lernen nicht das zentrale Moment eines Unternehmens darstellt, wie dies in einer pädagogischen Einrichtung idealer Weise der Fall ist – Lernhandeln und Lernunterstützungshandeln, ein lernendes System und ein Lernunterstützungssystem sind Teil der Praxis einer jeden Organisation. Zudem benötigen auch pädagogische Institutionen, wie Schäffter (1997 u. 2003) schematisch zeigt, einen sogenannten ordnungspolitischen Rahmen, der die Unterstützung von Lernprozessen in ihr erst möglich macht. Für das Zusammenspiel der in diesem Sinne pädagogischen und nichtpädagogischen Teilbereiche spielen Schäffters Aspekte des Kontextwissens und des Relationsbewusstseins also nicht nur für die pädagogische Praxis in pädagogischen Institutionen eine Rolle, sondern auch für pädagogische Praxis bspw. in einem Wirtschaftsunternehmen. Das „Wissen um die Begrenztheit der eigenen Sichtweise und die Klarheit über die eigenen Ziele und das eigene Selbstverständnis“ (Schröer 2004, 167) sowie die Fähigkeit, „die eigenen Leistungen pädagogisch und organisational in Relation zu den Leistungen anderer zu stel-
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3 Ergebnisse des Theorieteils
len“ (ebd.), sind zugleich Voraussetzung und Ziel pädagogischer Praxis in Organisationen. Fasst man Personalentwicklung als den Teil betrieblicher Abläufe und Strategien, der auf die Verbesserung der Kompetenzen der Mitarbeiterschaft durch Lernen ausgerichtet ist (vgl. Arnold/ Bloh 2003, 6; Becker 2002, 1), kann davon ausgegangen werden, dass hier auch pädagogische Praxis anzutreffen ist bzw. pädagogische Prinzipien bewusst oder unbewusst eine Rolle spielen. Unter dem gegebenen Wandel des Verhältnisses von Lernen und Arbeiten und der im Zuge dessen stattfindenden Dezentralisierung und Verlagerung der Personalentwicklung an den Arbeitsplatz sind es vor allem die Führungskräfte, die in diesem Sinne pädagogisch kompetent sein müssen. Ihre Aufgabe ist es in Zukunft, das Potential des Mitarbeiters zu erkennen, adäquat zu fördern und zum Einsatz zu bringen sowie die dafür notwendigen oder sich daraus ergebenden organisationalen Lern- und Entwicklungsprozesse zu unterstützen und zu gestalten. → Die Arbeit konzentriert sich auf den pädagogischen Teilaspekt der Praxis von Organisationen. Dieser wird vor allem in den Prozessen der Personal- und Organisationsentwicklung vermutet. Das Pädagogische wird in dieser Arbeit zunächst wertneutral mit den Begriffen des Lernens und der Lernunterstützung gefasst. Mit Rückgriff auf die pädagogischen Konzepte von Erziehung und Bildung wird Lernunterunterstützung insbesondere als stabilisierendes, aufklärendes und zur Selbsttätigkeit anregendes Moment verstanden, für das Kontextwissen und Relationsbewusstsein eine wichtige Grundlage bilden. → Am Beispiel von jährlich stattfindenden Mitarbeitergesprächen sollen Lern- und Lernunterstützungsprozesse in pädagogischen Einrichtungen eines Sozialunternehmens und in einem Wirtschaftsunternehmen untersucht werden. Im Zentrum steht die Frage nach individuellen und organisationalen Lernprozessen und deren Unterstützung und ihrer spezifischen Ausprägung in der jeweiligen Organisation: Finden in den Gesprächen Lernprozesse statt bzw. werden durch die Gespräche Lernprozesse unterstützt? Was kann durch die Gespräche über Lernprozesse des Mitarbeiters, seiner Kollegen oder Klienten, der Führungskraft oder der Organisation erfahren werden? Welche lernförderlichen und lernhinderlichen Muster kultureller Praxis existieren? Wo finden sich Schnittstellen individuellen und organisationalen Lernens in den Organisationen? Die Gegenüberstellung einer pädagogischen und einer nicht-pädagogischen Institution ermöglicht es dabei, der Frage nachzugehen, ob pädagogisches Handeln in einer pädagogischen Institution, der grundsätzlich eine Orientierung an pädagogischen Prinzi-
3 Ergebnisse des Theorieteils
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pien unterstellt werden kann, auch in der Personalentwicklung mit größerer Selbstverständlichkeit zum Tragen kommt als in einer nicht-pädagogischen.
4 Organisationskulturanalyse durch die dokumentarische Methode
In Handbüchern, Leitfäden und Unternehmensleitlinien, die nicht nur unternehmensintern, sondern auch öffentlich über Homepages zugänglich sind, werden zum Zwecke der „Handlungsanleitung“ der Individuen in der Organisation (aber natürlich auch, um eine bestimmte Außenwirkung zu erzielen) gemeinsame Werte und Normen, Regeln und Verfahrensweisen dargelegt. Geht es darum zu erfassen, was die Unternehmensleitung wünscht bzw. vorgibt, bietet sich eine Dokumentenanalyse an. Aber Handeln erfolgt nicht generell bewusst und explizit; deshalb kann auch eine Dokumentenanalyse nichts darüber aussagen, was für die Akteure nun wirklich handlungsleitend ist bzw. ob diese offiziellen Leitlinien den Praxismustern der Organisation entsprechen oder möglicherweise von informellen Regeln überformt werden. Und sie sagt nichts darüber aus, ob diese informellen Regeln für alle gelten, oder ob jeder einzelne Akteur nach eigenen Strategien verfährt. Ein Experteninterview könnte die Möglichkeit bieten, mehr darüber zu erfahren, welche Prinzipien die Führungskraft im Hinblick auf die Personalentwicklung ihrer Mitarbeiter leiten. Aber auch dann ist fraglich, inwieweit der Interviewte tatsächlich über ein explizites Wissen seiner Beweggründe verfügt. Vielmehr läuft man auch hier Gefahr, nur Auskunft über die „espoused theory“ bzw. die „espoused believes“ zu bekommen, denen sich der Interviewte verpflichtet fühlt und die wohlreflektiert vermutlich relativ nah am Inhalt der internen Schriftstücke liegen. Implizite Regeln, Muster und Haltungen, die der alltäglichen Interaktion und Kommunikation zu Grunde liegen, kommen hier nicht zum Vorschein, egal als wie offen und kooperativ sich der Gesprächspartner auch erweisen mag (vgl. Flick 2002, 140). Bezug nehmend auf das Muster als Analysekategorie (s. Kap. 2.3.3) liegt folglich die Entscheidung für ein Verfahren nahe, das mit der Datenerhebung möglichst nahe an der tatsächlichen Personalentwicklungspraxis der Organisation bleibt und so einen Zugang zu den „basic assumptions“ und den Praxismus-
I. Sausele-Bayer, Personalentwicklung als pädagogische Praxis, DOI 10.1007/978-3-531-94021-2_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Organisationskulturanalyse durch die dokumentarische Methode
tern ihrer Mitglieder und deren Einfluss auf Lernprozesse von und in der Organisation schafft. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird aus dem Spektrum der Personalentwicklungsmaßnahmen die Aufnahme von Mitarbeitergesprächen als Weg der Datengewinnung für die qualitative Analyse der Personalentwicklungspraxis ausgewählt. Die Teilnahme an einem institutionalisierten Gespräch bietet nicht nur die Möglichkeit, direkten Einblick in konkrete Prozesse der Personalentwicklung der Organisation zu erhalten, sondern bspw. über narrative Passagen in den Gesprächen etwas über die Lern- und Lernunterstützungspraxis der jeweiligen Organisation zu erfahren.
4.1 Die Gesprächsaufnahme als praxisnaher Weg der Datenerhebung Mitarbeitergespräche sind inzwischen in vielen Unternehmen und sozialen Einrichtungen als Personalentwicklungsinstrument etablierte, jährlich stattfindende Gespräche zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern, in denen je nach unternehmensspezifischer Ausrichtung der Gespräche Bilanz über die Arbeit im vergangenen Jahr gezogen wird, Zielvereinbarungen für das kommende Jahr getroffen und Maßnahmen zur Unterstützung und Förderung des Mitarbeiters festgelegt werden (vgl. Becker 2002). Diese Gespräche bilden nur einen Ausschnitt der Personalentwicklung eines Unternehmens, stellen aber bereits für sich eine Anschlussstelle individuellen und organisationalen Lernens dar, da man grundsätzlich davon ausgehen kann, dass sie mit dem Ziel geführt werden, individuelle und betriebliche Interessen, neue Anforderungen, Entwicklungen und Lernprozesse aufeinander abzustimmen (vgl. Baldin 1997, 40). Zudem verbinden sich in diesem Instrument die aufgezeigten Tendenzen der Dezentralisierung und der erweiterten Perspektive in Richtung organisationaler Lernprozesse innerhalb der Personalentwicklung. Wird die Führungskraft als Personalentwickler betrachtet (vgl. Kellner 2006, 12), stellt das Mitarbeitergespräch in diesem Zusammenhang ein zentrales Instrument dar. Das Mitarbeitergespräch entstammt einerseits der Tradition der Leistungsbeurteilung (vgl. Breisig 2001, 85), andererseits einem mitarbeiterorientierten Coaching bzw. Beratungsgespräch durch den direkten Vorgesetzten (vgl. Neuberger 2001, I). Beide Zugänge haben ihren Fokus nicht primär auf der Lernunterstützung und der Weiterentwicklung des Mitarbeiters, sondern sind vor allem am Interesse der Unternehmen orientiert, kompetente und zufriedene Mitarbeiter
4.1 Die Gesprächsaufnahme als praxisnaher Weg der Datenerhebung
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im Sinne der Unternehmensziele bestmöglich einzusetzen. Gleichwohl sind nach wie vor beide Traditionen in Konzepten von Mitarbeitergesprächen wirksam. Aus der Sicht Breisigs (2001) liegt der wesentliche Unterschied zwischen konventioneller Beurteilung und Mitarbeitergespräch in einer Fokusverschiebung von der Bewertung von Kriterien anhand einer vorgegebenen Skala hin zu einem die Beurteilungsergebnisse rahmenden Gespräch (vgl. ebd., 85). Anhand von Unterlagen zu Mitarbeitergesprächen aus verschiedenen Unternehmen zeigt er eine Ausrichtung des Mitarbeitergesprächs hin zu einem partnerschaftlichen Dialog, eine Abkehr von einer objektiven Bewertung von Verhaltensbeobachtungen und einer vergleichenden Beurteilung hin zu einer Beobachtung des Einzelfalls, zu einer individuellen Bedingungsanalyse und zur Vereinbarung individueller Ziele (vgl. ebd., 87). Alberternst (2003) beklagt einen Mangel an empirischen Studien zum Mitarbeitergespräch, das aus ihrer Sicht als Führungs- und Personalentwicklungsinstrument immer bedeutsamer wird. Sie weist auf Arbeiten zur Vermittlung von Gesprächs- und Zielvereinbarungstechniken sowie zu den zugrunde liegenden psychologischen Theorien hin. Über den tatsächlichen Verlauf der Gespräche in der Praxis und deren Wirkung in den organisationalen Alltag wisse man jedoch kaum etwas (vgl. ebd., 1f.).7 Eine Evaluation von Mitarbeitergesprächen ist auch nicht Ziel dieser Arbeit; vielmehr bietet die Teilnahme an den Gesprächen die Möglichkeit, die Akteure in ihrem organisationalen Alltag zu beobachten und dabei etwas über die Rahmenbedingungen der Interaktion und Kommunikation von Mitarbeitern und Führungskräften zu erfahren. Zudem ist es durch die Teilnahme an ohnehin ablaufenden Prozessen möglich, den zusätzlichen Zeitaufwand für die Beteiligten möglichst gering zu halten. Trotz der Anwesenheit eines Dritten in einem Zweiergespräch verspricht die Teilnahme an einer Realsituation und die anschließende Analyse der aufgenommenen Gespräche einen unverfälschteren Blick auf die Gebrauchstheorien der Führungskräfte und Mitarbeitenden (vgl. Audehm/ Zirfas 2001, 45) und die dem Verhalten der Akteure zugrunde liegenden „basic assumptions“. Ziel ist schließlich, über die Interaktion der einzelnen Führungskräfte und Mitarbeiter, primär aber deren Erzählungen organisationale Muster aufzudecken und diese auf ihre Auswirkungen auf individuelle und organisationale Lernprozesse zu untersuchen. Da der formale Rahmen für Mitarbeitergespräche in unterschiedlichen Organisationen – je nach dem aus welcher der beiden oben erwähnten Traditionen 7
Sie selbst evaluiert in ihrer quantitativen Untersuchung die Implementierung und Wirkung von Mitarbeitergesprächen im Hinblick auf Vertrauen und organisationales commitment.
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4 Organisationskulturanalyse durch die dokumentarische Methode
es sich speist – stark voneinander abweichen kann, ist beim Vergleich von Gesprächsauszügen aus verschiedenen Organisationen darauf zu achten, dass hier unterschiedliche Textsorten vorliegen können und dass die Bedeutung von Aussagen vor dem Hintergrund ihres Entstehungskontextes, in diesem Fall der formalen Vorgaben für das Mitarbeitergespräch, zu sehen ist.
4.2 Forschungsdesign und Methode 4.2.1 Forschungsdesign Bei der Auswahl der Methoden wird vor allem auf die Offenheit der Datenerhebung Wert gelegt (vgl. Flick 2002, 26ff), da zu diesem Teil betrieblicher Abläufe bisher kaum pädagogisches Wissen vorliegt und eine zu frühe Reduktion der Vielfalt des vorliegenden Materials so vermieden werden soll (vgl. ebd., 76ff). Die Untersuchung der Praxismuster der beiden Organisationen beginnt bei der Untersuchung der „artifacts“ im Sinne Scheins und zwar genauer mit der Auswertung relevanter interner Schriftstücke. Das Personalentwicklungshandbuch, das neben anderen Prozessen zu Personalentwicklungsmaßnahmen auch einen Leitfaden für die Vorgehensweise bei den Mitarbeitergesprächen enthält, sowie Weiterbildungsprogramme werden einer Dokumentenanalyse unterzogen, die sich, im Sinne Goffmans, der in den Dokumenten enthaltenen „institutionelle[n] Zurschaustellungen“ (Wolff 2004, 505) wohl bewusst ist und die vor allem dazu dient, einen Überblick über die beiden untersuchten Organisationen zu geben. Ob und inwieweit sich die dort verfassten Richtlinien auch im Handeln der einzelnen Personen niederschlagen oder ob in der Praxis möglicherweise ganz andere Muster dominieren, soll die Teilnahme an Mitarbeitergesprächen zeigen, die aufgezeichnet, transkribiert und nach der Idee der dokumentarischen Methode nach Bohnsack (vgl. Bohnsack 2001) analysiert werden. Als Ordnungsrahmen für den Vergleich der Gespräche dienen die verschiedenen Phasen der betrieblichen Sozialisation als wechselseitigem Interaktionsprozess zwischen Organisation und Individuum, bei dem das Individuum die organisationalen Muster habitualisiert und die Werte, Normen und entsprechenden Verhaltensweisen erlernt, die es für seine Position in der Organisation benötigt. Die Integration des Individuums in den Betrieb ist nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der Personalentwicklung (vgl. Neuberger 2004, 122ff), sondern kann, ebenso wie der gesamtgesellschaftliche Sozialisationsprozess als eine genuin pädagogische Aufgabe betrachtet werden (vgl. Kade/ Beumer 2005, 241).
4.2 Forschungsdesign und Methode
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Angelehnt an Neubergers Darstellung betrieblicher Sozialisation als Gegenstand der Personalentwicklung werden drei Phasen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Organisation als Vergleichsraster bei der Auswahl und Analyse der Gespräche herangezogen: die Eintrittsphase in den Betrieb, die Phase der Vollmitgliedschaft und der Übergang in eine Führungsposition.8 Der an diesen Ebenen ansetzende Hauptteil der Untersuchung besteht aus der Teilnahme an und der Aufnahme und Analyse von Mitarbeitergesprächen zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter. Pro Organisation sind dies (analog zu den drei Phasen) je fünf Probezeitgespräche neuer Mitarbeiter, je fünf Mitarbeitergespräche mit langjährigen Mitarbeitern und je fünf Mitarbeitergespräche mit neuen Führungskräften (jeweils dem ersten in der neuen Leitungsposition) – insgesamt also 30 Gespräche. Die Gespräche werden akustisch aufgezeichnet, transkribiert, dabei anonymisiert und dann in Anlehnung an die dokumentarische Methode nach Bohnsack (2001) ausgewertet. Wie zu sehen sein wird, stellen sich diesem Vorhaben im Laufe des Forschungsprozesses einige Schwierigkeiten in den Weg, so dass das ursprüngliche Forschungsdesign etwas modifiziert werden muss (s. Kap. 5.3 u. 5.4).
4.2.2 Die dokumentarische Methode Für das Ziel der empirischen Untersuchung, organisationsspezifische Muster und ihren Einfluss auf Lern- und Lernunterstützungsprozesse sowohl durch den innerorganisatorischen fallübergreifenden Vergleich als auch durch die Abgrenzung zu einer Vergleichsorganisation herauszuarbeiten, bietet sich die dokumentarische Methode nach Bohnsack (vgl. Bohnsack et al. 2001, 9) an, die eine Typenbildung durch den Einsatz der komparativen Analyse vor unterschiedlichen Vergleichshorizonten anstrebt.
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Die Eintrittsphase ist geprägt von destabilisierenden Erfahrungen, Angst, Unsicherheit und Erschütterung von gewohnten Selbstverständlichkeiten (vgl. Neuberger 1994, 124). Unter Zuhilfenahme von Ritualen wird der neue Mitarbeiter in gültige Werte, Normen und Praktiken eingeführt (vgl. Goffman 1973). Der Sozialisationsprozess soll zu einem „sensiblen, situations- und zielgerechten Umgang mit Regeln“ (Neuberger 1994, 133) führen. Mit der Vollmitgliedschaft kennt der Mitarbeiter Spielregeln, Sprache, Machtverhältnisse, Aufgaben und Normen so gut, dass er „ohne aufzufallen mitmachen kann. Die Person hat sich neu ‚geeicht‘: sie ist nun in der Lage, mit den allfälligen kognitiven, affektiven, moralischen und sozialen Dissonanzen auf eine entlastende Art umzugehen“ (ebd., 124). Zur Führungskraft wird das Vollmitglied, wenn es sich als überdurchschnittlich engagiert, motiviert und innovativ erweist und sich sowohl auf fachlicher als auch auf sozialer Ebene sehr gut bewährt hat, so dass es Führungsaufgaben übertragen bekommt.
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4 Organisationskulturanalyse durch die dokumentarische Methode
Bohnsacks wissenssoziologisch verankerte Methode ist an Scheins Modell von Organisationskultur anschlussfähig, da die Wissenssoziologie in der Tradition von Mannheim, auf den Bohnsack sich bezieht, mit einem Wissensbegriff arbeitet, der aus zwei Teilen besteht: „einem reflexiven oder theoretischen Wissen der Akteure einerseits und dem handlungspraktischen, handlungsleitenden oder inkorporierten Wissen andererseits“ (ebd., 11). Analog zur Organisationskultur, die von den Organisationsmitgliedern habitualisiert und in Form der „basic assumptions“ inkorporiert wird, spricht Bohnsack also von einem im Akteur liegenden Wissen, das eine Struktur repräsentiert, die wiederum „relativ unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn“ (ebd.) handlungsleitend ist. Es geht demnach um ein Wissen, das, ähnlich wie die „basic assumptions“, beobachtbar, aber „reflexiv nicht so ohne weiteres zugänglich ist“ (ebd.). Entsprechend ist Bohnsacks wissenssoziologischer Zugang durch den Gedanken der Inkorporierung anschlussfähig an den Habitus „als ein System verinnerlichter Muster […], die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen“ (Bourdieu 1974, 143). Der Habitus eines Akteurs ist „nicht nur strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur“ (Bourdieu 1999, 279). Das Zusammenspiel der Akteure, das in den Gesprächen beobachtet und durch diese erschlossen werden kann, lässt die den Habitus erzeugende soziale Struktur bzw. die Organisationskultur erkennen (vgl. Meuser 2001, 218). Konzeptuell bleibt die dokumentarische Methode damit auf der kognitiven Ebene verhaftet. Der dort verwendete Musterbegriff deckt sich nicht mit dem eingangs zugrunde gelegten Verständnis von Mustern als sich wiederholende, sichtbare, performative Elemente organisationaler Praxis (vgl. Engel 2006, 30). Bohnsacks Vorgehensweise der Typenbildung lässt sich hier aber adaptieren, da es sowohl bei der Typenbildung als auch bei der Identifikation von Mustern darum geht, das Typische, also das Wiederkehrende und Spezielle, herauszuarbeiten. Für die Analyse empirischen Materials folgt daraus, „das, was (wörtlich) gesagt wird, also das, was thematisch wird, von dem zu unterscheiden, wie ein Thema, d.h. in welchem Rahmen es behandelt wird“ (Bohnsack et al. 2001, 15). Entsprechend wird in zwei Schritten der Textinterpretation vorgegangen: Die formulierende Interpretation beschreibt zusammenfassend, was von den Akteuren bereits selbst expliziert wurde; die reflektierende Interpretation versucht, die „implizierten Selbstverständlichkeiten“ (ebd.) bzw. die darin und im Zusammenspiel der Akteure zu Tage tretenden Muster herauszuarbeiten. Entscheidend für die Rekonstruktion bzw. für die Identifikation von Mustern ist die komparative
4.2 Forschungsdesign und Methode
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Analyse am – je nach Analyseebene wechselnden – „tertium comparationis“ (Bohnsack 2001, 235).
4.2.3 Konkrete Vorgehensweise Den Mitarbeitergesprächen in beiden Organisationen liegt ein Gesprächsleitfaden zugrunde, der in Kapitel 5.1.3 bzw. 5.2.3 einer genaueren Betrachtung unterzogen wird. Entsprechend orientiert sich die Auswahl der ausführlich interpretierten Gesprächsausschnitte nicht wie üblich ausschließlich an Fokussierungsmetaphern (vgl. Bohnsack 2001, 233), sondern greift insbesondere die Sequenzen auf, in denen die Gesprächsteilnehmer Themen ansprechen, die über die Vorgaben in den Leitfäden hinaus gehen, bzw. Themen, die im Leitfaden enthalten sein können, die aber besonders ausführlich besprochen werden, sowie Beschreibungen und Erzählungen der Alltagspraxis. Dahinter steht die Annahme, dass Themen, die über die formalen Vorgaben hinweg angesprochen werden, ein besonderes Gewicht haben, dass sie für die Akteure und die Praxis der Organisation entscheidend sind. Sie machen neben der „espoused theory“ in Form der formalen Vorgaben die „theory-in-use“ bzw. die „basic assumptions“ der Akteure, die die Praxis bestimmen, zugänglich und lassen die eigentlich wirkmächtigen Muster organisationaler Praxis zu Tage treten. Die jeweilige Organisation bzw. die Organisationskultur stellt den konjunktiven Erfahrungsraum dar, innerhalb dessen sich die gemeinsame Praxis vollzieht. Im Rahmen der sinngenetischen Typenbildung nach Bohnsack (vgl. ebd., 233ff) findet im ersten Schritt für jede Organisation eine fall- bzw. hier gesprächsübergreifende komparative Analyse orientiert an Themen bzw. Themenbündeln statt. Bohnsack sucht in Bezug auf diese Themen nach analogen oder homologen „Mustern“ (vgl. ebd., 234), die er als „Orientierungsrahmen“ (ebd., 235) bezeichnet. Statt wie Bohnsack nach kognitiven Orientierungsmustern zu suchen, soll hier Bohnsacks Vorgehensweise mit dem Ziel adaptiert werden, Praxismuster im o.g. Verständnis zu identifizieren. Durch das zugrunde gelegte Drei-Phasen-Modell der Zugehörigkeit zur Organisation wird eine Abstraktion und Spezifizierung dieser Muster bzw. dieses Orientierungsrahmens möglich. Der darauf folgende, innerhalb der Themenbündel vollzogene typus- bzw. musterbezogene Vergleich der beiden Organisationen kommt der Forderung Bohnsacks nach einer „komparative[n] Interpretation der nicht zur Typik gehörigen Fälle als Vergleichshorizonte“ (ebd., 236) nach.
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4 Organisationskulturanalyse durch die dokumentarische Methode
Abschließend erfolgt durch einen themen- und organisationenübergreifenden Vergleich die mehrdimensionale Typenbildung als Annäherung an eine „Erklärung“ der Genese des jeweiligen Orientierungsrahmens bzw. hier der identifizierten Muster organisationaler Praxis (vgl. ebd., 232). Dabei werden die Muster aus der Perspektive der Personalentwicklung auf ihre Auswirkungen auf die Lern- bzw. Lernunterstützungspraxis der Organisation als pädagogische Praxis untersucht.
5 Die Unternehmen – Dokumentenanalyse und erste Schritte im Feld
Im Folgenden sollen die beiden untersuchten Organisationen vorgestellt werden. Die Ausführungen stützen sich dabei hauptsächlich auf die Auswertung der Dokumente, die zu den beiden Unternehmen vorliegen. Dazu gehören die eigenen Darstellungen der Unternehmen auf ihren Homepages, in Jahresberichten, Flyern und Leitbildern, die Darstellung von Prozessen in den Qualitätsmanagementhandbüchern der beiden Organisationen sowie ihre Weiterbildungsprogramme.
5.1 Sozialunternehmen Das Sozialunternehmen beschäftigt mehrere tausend Mitarbeiter und betreibt Sozialstationen, Krankenhäuser, Einrichtungen in der Alten- und Behindertenhilfe sowie Kindertagesstätten. Die Unternehmensleitung setzt sich aus dem Geschäftsführer und den verschiedenen Bereichsleitungen zusammen. Die Teilnahme an den Mitarbeitergesprächen fand vor allem in den pädagogischen Bereichen der Organisation, in Einrichtungen der Behinderten-, Kinder- und Jugendhilfe statt.
5.1.1 Personalentwicklung und Weiterbildung Ein Blick auf die Aus- und Weiterbildung zeigt, dass im Sozialunternehmen neben fachbezogenen Weiterbildungsangeboten auch Allgemeinbildung einen hohen Stellenwert hat. Das Bildungsverständnis ist ein Ganzheitliches. Das Fortund Weiterbildungsprogramm der Organisation umfasst nicht nur Seminare zu fachlichen, sondern auch zu persönlichkeitsbildenden Themen. Neben klassischen Seminaren gehören aber auch die Begleitung von Veränderungsprozessen, Projektcoaching und Supervision, für die hauseigene Supervisoren zur Verfügung stehen, zum Angebot für Führungskräfte, Mitarbeiter und Teams.
I. Sausele-Bayer, Personalentwicklung als pädagogische Praxis, DOI 10.1007/978-3-531-94021-2_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Die Unternehmen – Dokumentenanalyse und erste Schritte im Feld
Jeder Mitarbeiter verfügt über ein festes Fortbildungskontingent hinsichtlich Arbeitstagen und Budget, das ihm die Teilnahme an Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen zusichert, sofern die Arbeitsabläufe in den Einrichtungen dadurch nicht zu stark beeinträchtigt werden. Interne Veranstaltungen werden dabei voll auf das Fortbildungsbudget des Mitarbeiters angerechnet. Die Kosten für externe Fortbildungen können teilweise über das Kontingent abgerechnet werden.
5.1.2 Mitarbeitergespräch Seit Ende 2002 ist das Mitarbeitergespräch im Sozialunternehmen implementiert. Die Führungskräfte nehmen an einem zweitägigen Seminar zur Führung eines Mitarbeitergesprächs teil und erhalten einen ausführlichen Leitfaden, der ihnen mögliche Themen, Fragen und Formulierungshilfen sowie Orientierungshilfen für die Zielvereinbarungen an die Hand gibt sowie in den Charakter des Mitarbeitergesprächs einführt. Auch die Mitarbeiter haben die Möglichkeit, an einem eintägigen Seminar teilzunehmen, und lernen dort Wege kennen, sich als Mitarbeiter in das Gespräch einzubringen. Auch ihnen wird hierzu ein Leitfaden zur Verfügung gestellt. Als Ziele des Mitarbeitergesprächs werden die Reflexion und kontinuierliche Verbesserung der gemeinsamen Arbeit, die Entwicklung gemeinsamer Zielvorstellungen und Zielvereinbarungen, die Unterstützung, Förderung und Motivation von Mitarbeitenden, die intensive Kommunikation über dienstliche Belange sowie die Planung von Fort- und Weiterbildung angeführt. Das Gespräch soll in einem geschützten und wertschätzenden Rahmen stattfinden. Als Themen des Gesprächs werden entsprechend Reflexion der Arbeitssituation, Würdigung der Arbeitsleistung und Überprüfung der Zielerreichung, Zusammenarbeit, Persönliche Weiterentwicklung und Fortbildungsplanung sowie Zielvereinbarungen vorgeschlagen. Im Ergebnisprotokoll werden die Zielvereinbarungen und dazugehörige unterstützende Maßnahmen festgehalten. Gesondert werden außerdem Fort- und Weiterbildung bzw. Supervision und weitere Ergebnisse notiert. Das Protokoll wird vertraulich behandelt und für Dritte unzugänglich aufbewahrt. Während des Erhebungszeitraumes arbeitet eine Projektgruppe an der Überarbeitung der Leitfäden für Führungskräfte und Mitarbeiter sowie an der Veränderung des Formulars für die abschließend festzuhaltenden Zielvereinbarungen. Das Ziel der Projektgruppe ist vor allem, eine kürzere und klarere Fassung zu
5.2 Wirtschaftsunternehmen
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erhalten. Im Wesentlichen bleiben hierbei die Vorgaben für das Mitarbeitergespräch unverändert. Auffällig ist lediglich, dass das Thema Weiterbildung in den alten Zielvereinbarungsbögen zentraler war; in der neuen Version wird das Thema Weiterbildung allgemein unter „Unterstützende Maßnahmen“ gefasst und nicht explizit als eigener Bereich ausgewiesen. In der neuen Version stehen allein die Zielvereinbarungen im Vordergrund, die sich in unterschiedliche Bereiche untergliedern, die aus der alten Version des Leitfadens übernommen sind: „Strategische Ziele (Umsetzung im eigenen Arbeitsfeld, Projekte), Fachliche Arbeitsziele (Arbeitslabläufe, Arbeitsorganisation usw.), Kooperationsziele (Zusammenarbeit mit Kollegen, Vorgesetzten, Kunden usw.), Persönliche Ziele (Weiterentwicklung von Kompetenzen, Fortbildung, Supervision), Führungsziele (bei Mitarbeitenden mit Leitungsaufgaben)“.
5.2 Wirtschaftsunternehmen Die Vergleichsorganisation ist ein weltweit operierendes Fertigungsunternehmen (im Folgenden A genannt) mit mehreren tausend Mitarbeitern am Stammsitz des Unternehmens (im Folgenden Standort A) in Deutschland. Das Unternehmen, seit jeher familiengeführt, fusionierte vor Beginn der Untersuchung mit weiteren Unternehmen (im Folgenden B, C und D genannt). Mitglieder der Gründerfamilie sind zum Zeitpunkt der Untersuchung nach wie vor in der Unternehmensleitung präsent; allerdings ist das Unternehmen nun managementgeführt. Den Beschreibungen des Unternehmens auf der Homepage, seiner Geschichte und seiner Geschäftsführung ist zu entnehmen, dass das Unternehmen auch heute noch auf den Gemeinschaftsgedanken des Familienunternehmens setzt, aus dem es entstanden ist; es bekennt sich explizit zu seiner historisch gewachsenen Unternehmenskultur. Als Vorbild wirkt insbesondere der Gründer des Unternehmens, auf den sich die Darstellung auf der Homepage immer wieder bezieht. Das Führungsleitbild findet sich in den internen Personalentwicklungsdokumenten des Unternehmens. Auch die Führung des Wirtschaftsunternehmens gibt ein kooperatives Führungsverständnis vor: Dies bedeutet, die Mitarbeiter „situationsbedingt in […] Entscheidungs- und Informationsprozesse einzubeziehen“. „[E]ntscheidend für den Grad der Einbeziehung“ sind „Komplexität, Führungssituation und der Reifegrad der Mitarbeiter“ (internes Dokument). Weitere Führungsleitsätze sind Klarheit, Eindeutigkeit und Verbindlichkeit, Vorbild sein, Verantwortungsbewusstsein, Ziele, Mitarbeiterentwicklung, Querdenken, Zu-
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5 Die Unternehmen – Dokumentenanalyse und erste Schritte im Feld
sammenarbeit, Arbeit soll auch Freude machen sowie das Prinzip der Letztentscheidung.
5.2.1 Personalentwicklung und Weiterbildung Nach der Fusion stehen die Personalabteilungen der verschiedenen Unternehmensteile unter einer gemeinsamen Leitung. Die klassische operative Personalarbeit findet weiterhin in den Werken vor Ort statt. Dort gibt es jeweils einen Personalleiter, dem wiederum den verschiedenen Produktionsbereichen zugeordnete Personalreferenten unterstellt sind. Daneben existieren übergeordnete Competence Center mit Stabsfunktionen. Einer dieser Competence Center ist der Bereich „Personalentwicklung“, der sich in weitere Kernprozesse gliedert: Die Themen SAP, Personal Development (Anforderungsprofile, Mitarbeitergespräche), Einarbeitung und Mitarbeiterqualifikation, Begleitung von Team- und Organisationsentwicklung, Führungskräfteentwicklung, Personalmarketing und Internationalisierung werden von verschiedenen Mitarbeitern betreut. Die Verantwortung für die konkrete Ermittlung des Weiterbildungsbedarfs, die Planung von und die Anmeldung für Weiterbildungsmaßnahmen liegen in den Händen der direkten Vorgesetzten. Sie entscheiden aufgrund eines Kompetenzkataloges, der dem Mitarbeitergespräch zugrunde liegt, an welchen Veranstaltungen oder Maßnahmen die Mitarbeiter teilnehmen. Die Kosten für Fortund Weiterbildung werden über den Abteilungsetat abgedeckt; es gibt kein festes Fortbildungsbudget für den einzelnen Mitarbeiter. Von der Personalabteilung werden interne Seminare organisiert. Die Grundlage für die „Durchführungsplanung“ bilden die erfolgten Anmeldungen. „Kann die entsprechende Qualifikation nicht durch ein internes Seminar vermittelt werden, wird auf externe Seminaranbieter zurückgegriffen“ (internes Dokument zur Personalentwicklung). Dafür ist eine gesonderte Genehmigung von der Personalabteilung einzuholen. Die Wirksamkeit der Qualifizierungsmaßnahmen soll über ein Feedbackgespräch durch den Vorgesetzten überprüft werden. Sowohl fachliche als auch soziale und methodische Kompetenzen sollen gefördert werden. Der Mitarbeiter wird als wichtige Ressource, die Investition in seine Qualifikationen als lohnenswert für das Unternehmen beschrieben. Gemeinsam mit den Führungsleitlinien und Führungsinstrumenten wie dem Mitarbeitergespräch (s. 5.2.2) bildet ein Kompetenzmodell die Basis für den integrierten Personalentwicklungsansatz und die Weiterbildungsplanung des Unternehmens. Dieses Kompetenzmodell enthält neun stellenübergreifende bzw.
5.2 Wirtschaftsunternehmen
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überfachliche Kompetenzen und ist eng mit der auf der Homepage dargestellten Unternehmenskultur verbunden. Die einzelnen Kompetenzen sind Veränderungsbereitschaft, Zielorientierung, Querdenken, Unternehmerisches Denken und Handeln, Kundenorientierung, Teamfähigkeit, Kommunikation, soziale und interkulturelle Sensibilität sowie Faszinationsfähigkeit. In den schriftlichen Unterlagen sind diesen Kompetenzen jeweils eine Definition und verschiedene Verhaltensbeispiele zugeordnet. Zusätzlich sind jeder Kompetenz Verhaltensbeispiele zugeordnet, die nur für Mitarbeiter in Führungspositionen relevant sind. Dieses Kompetenzmodell stellt einen wesentlichen Bestandteil eines jeden Mitarbeitergesprächs dar, über den die Mitarbeiter eine Rückmeldung über ihr Verhalten am Arbeitsplatz erhalten sollen.
5.2.2 Mitarbeitergespräch Ziel des Mitarbeitergesprächs ist die „Identifikation, Entwicklung und Dokumentation der Mitarbeiterkompetenzen“ (internes Papier zur Personalentwicklung). Sie erfüllt sowohl für das Gesamtunternehmen wie auch für einzelne Bereiche, Abteilungen und Mitarbeiter verschiedene Funktionen: Der Mitarbeiter erhält eine Rückmeldung über seine Kompetenzen sowohl auf fachlicher als auch auf überfachlicher Ebene. Es soll ein Abgleich zwischen Selbst- und Fremdbild stattfinden. Ausgehend von einem Soll-Ist-Abgleich werden Entwicklungsmaßnahmen für den Mitarbeiter vereinbart und geplant. Die Abteilung kann im Zuge des Gesprächs die Planstellenbeschreibung aktualisieren und Aufgaben, Zuständigkeiten, Verantwortungen und Anforderungen in der Abteilung jedes Jahr neu klären. Sowohl im Sinne des einzelnen Mitarbeiters als auch im Hinblick auf den Erfolg des Gesamtunternehmens wird kontinuierlich Nachfolge- bzw. Karriereplanung betrieben. Das jährliche Mitarbeitergespräch ist im Wirtschaftsunternehmen seit 2002 fest implementiert und bildet die Basis für die Bedarfsanalyse für Mitarbeiterqualifikation bzw. Weiterbildung: „Im [Mitarbeitergespräch] wird das SOLLProfil der Planstelle (Planstellenprofil) mit dem IST-Profil des Mitarbeiters (Mitarbeiterprofil) verglichen. Kommt es bei diesem Abgleich zu einem Defizit, hat der Vorgesetzte entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen zu definieren. […] Die Durchführung der Maßnahmen erfolgt anhand einer vorzunehmenden Priorisierung“ (internes Papier zur Weiterbildung). Der Vorgesetzte ist dabei sowohl für die Budgetierung als auch für die Anmeldung zu der Maßnahme verantwortlich (vgl. ebd.).
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5 Die Unternehmen – Dokumentenanalyse und erste Schritte im Feld
Das Mitarbeitergespräch wird anhand eines Bogens durchgeführt, der sich aus unterschiedlichen Teilbereichen zusammensetzt. Der erste Teil besteht aus einem Qualifikationsvergleich. Im Anforderungsprofil der Stelle werden einzelne Qualifikationen über eine sechsstufige Skala ausdefiniert (0 = keine Kenntnisse, 1 = Wissen um, 2 = Kennen, 3 = Können, 4 = Beherrschen, 5 = Experte) und mit dem Qualifikationsprofil des Mitarbeiters abgeglichen. Ein Defizit auf Seiten des Mitarbeiters führt je nach Dringlichkeit und Priorität zu einer Weiterbildungsmaßnahme. Der zweite Teil besteht aus den oben schon erwähnten [Firmenname]-Kompetenzen, über die das Verhalten des Mitarbeiters am Arbeitsplatz „beurteilt“ werden soll. Hier geht es weniger um die Ableitung von Maßnahmen als um ein „strukturiertes Feedback“ und einen Abgleich von Selbst- und Fremdbild. Dieser wird anhand einer fünfstufigen Skala vorgenommen: 1 = oft unter den Erwartungen, 2 = entspricht im allgemeinen den Erwartungen, 3 = entspricht voll und jeder Zeit den Erwartungen, 4 = übertrifft deutlich und regelmäßig die Erwartungen, 5 = übertrifft die Erwartungen in außerordentlichem Maße und zu jeder Zeit. Die Kompetenzen selbst und die dazugehörigen Verhaltensbeispiele sind im Gegensatz zum Anforderungsprofil beim Qualifikationsabgleich für jedes Gespräch identisch. Weitere zentrale Bestandteile des Gesprächs bilden die Potentialeinschätzung sowie die Mobilitätsabfrage durch den Vorgesetzten. Dabei wird zum einen geklärt, welche Maßnahmen erforderlich sind, um das eingeschätzte Potential einsetzen zu können; zum anderen geht es um die Bereitschaft des Mitarbeiters, im nationalen oder internationalen Raum seinen Arbeitsort zu wechseln. Schließlich wird das Gespräch mit den Nachfragen des Vorgesetzten nach vom Mitarbeiter eigenständig initiierten Maßnahmen und der Frage nach einem Kommentar des Mitarbeiters abgeschlossen. Der schriftlichen Vorlage für das Mitarbeitergespräch, wie es heute durchgeführt wird, ist deutlich anzumerken, dass es aus einem Beurteilungsgespräch entstanden ist. Leistung und Qualifikation des Mitarbeiters werden auf mehrstufigen Skalen quantifiziert. Davon verspricht man sich neben dem regelmäßigen Feedback für die Mitarbeiter und der Ermittlung des individuellen Entwicklungsbedarfs eine bessere Transparenz der Mitarbeiterqualifikationen sowie, als Folge daraus, eine Informationsbasis für Karriereplanung und interne Stellenbesetzungen. Die Zuordnung von Mitarbeitergesprächen zur Personalbeurteilung ist in psychologischen Handbüchern nicht unüblich. So fasst Rosenstiel das Mitarbeitergespräch explizit unter Personalbeurteilung und nicht unter Personalentwicklung (vgl. Rosenstiel 2000, 188ff). Kritisch anzumerken ist, dass Weiterbildung bei dieser Herangehensweise häufig als Konsequenz für ein negatives Aus-
5.3 Teilnahme an Gesprächen
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einanderfallen von Soll- und Ist-Wert erfolgt. Dem Selektionsprozess liegt eine starke Defizitorientierung zugrunde. Insbesondere der Katalog der [Firmenname]-Kompetenzen kann eine kulturbildende Funktion haben, und dies wird damit sicherlich auch angestrebt. Ein gegenteiliger Effekt kann dadurch aber dann entstehen, wenn Leistungs- und Verhaltenserwartungen absolut verbindlich vorgegeben werden (vgl. Becker 2002, 353).
5.3 Teilnahme an Gesprächen Während im Sozialunternehmen die Teilnahme an den Gesprächen wie geplant nach einem Jahr abgeschlossen werden konnte, geriet der Forschungsprozess im Wirtschaftsunternehmen schnell ins Stocken. Obwohl in beiden Unternehmen die Bereitschaft der Verantwortlichen, das Forschungsvorhaben zu unterstützen, sehr groß ist, ist der Verlauf doch ganz unterschiedlich: Im Sozialunternehmen wird der Kontakt zu den Gesprächspartnern weitestgehend direkt und eigenständig hergestellt, wodurch schon früh offene Fragen zur Verwendung und Anonymisierung der Gespräche geklärt werden können und ein Vertrauensverhältnis entsteht, während im Wirtschaftsunternehmen sämtliche „Gesprächstermine“ zunächst durch zwei Personalreferenten koordiniert werden, was auf ein starkes Bedürfnis nach Effizienz und Kontrolle seitens des Wirtschaftsunternehmens schließen lässt. Der erste Kontakt mit den Gesprächsteilnehmern findet im Wirtschaftsunternehmen also immer erst unmittelbar vor dem Gespräch statt. Der Zeitraum für die Mitarbeitergespräche im Wirtschaftsunternehmen endet schließlich, und obwohl zwischenzeitlich alle Bereiche des Unternehmens mit in das Projekt einbezogen waren, war nur an vier von fünfzehn geplanten Gesprächen eine Teilnahme möglich. Jeweils zwei davon führte dieselbe Führungskraft – eine Bilanz, die in einem Unternehmen mit mehreren tausend Mitarbeitern doch eher überraschend ist. Im zweiten Anlauf, bei dem alle Personalreferenten mit ihren Bereichen miteinbezogen werden, gelingt es, durch das erneute Insistieren der Personalleitung weitere Führungskräfte und Mitarbeiter zu finden, die mit der Aufzeichnung ihres Mitarbeitergesprächs einverstanden sind.
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5 Die Unternehmen – Dokumentenanalyse und erste Schritte im Feld
5.4 Erster Vergleich und Konsequenzen für die Auswertung der Mitarbeitergespräche Obwohl die beiden untersuchten Organisationen eine, was die Zahl der Mitarbeiter betrifft, vergleichbare Größe haben, ist die Struktur der Unternehmen doch gänzlich unterschiedlich. Im Wirtschaftsunternehmen bauen Prozesse und Abteilungen aufeinander auf; Abläufe und Verfahren sind eng miteinander vernetzt und aufeinander abgestimmt. Dagegen kann man das Sozialunternehmen eher als eine Organisation mit vielen kleineren Einrichtungen oder Gruppen beschreiben, die in ihren Abläufen und Strukturen weitgehend unabhängig voneinander existieren. Dies lässt sich mit Weicks Unterscheidung zwischen loose und tight coupling (Weick 1976), also der losen bzw. engen Verbundenheit bzw. Kopplung verschiedener formaler Zuständigkeitsbereiche bzw. „(teil-)autonomer Teilsysteme“ (Schreyögg 1999, 197) einer Organisation beschreiben. Für pädagogische Institutionen wurde das Prinzip der losen Kopplung im wissenschaftlichen Diskurs einerseits als generelle Betrachtungsmöglichkeit herangezogen (Terhart 1986, 211), andererseits als notwendiges Merkmal ihres Überlebens beschrieben (Bosche 2008, 8). Die Unternehmens- und Führungsleitbilder weisen trotz der unterschiedlichen Ausrichtung der Unternehmen Ähnlichkeiten auf. Dazu trägt vor allem das Selbstverständnis des Sozialunternehmens als Dienstleistungsunternehmen bei, das sich mit Schlagworten wie Unternehmen, Wachstum, Innovation und Kundenorientierung profiliert; auf der anderen Seite bestätigen Formulierungen im Leitbild des Wirtschaftsunternehmens, mit denen man sich zu Vertrauen, Verantwortung, Verlässlichkeit, Geschichte, Familie, Kraft und Tragfähigkeit bekennt, nicht die Erwartung, es mit einem knallhart kalkulierenden Wirtschaftsunternehmen zu tun zu haben. Während man sich zur Außendarstellung im Sozialunternehmen Begrifflichkeiten aus dem ökonomischen Kontext bedient, um damit klar zu machen, dass das Angebot den hohen Qualitätsstandards der Konkurrenz auf dem Markt sozialer Dienstleistungen genügt, werden im Wirtschaftsunternehmen durch teilweise religiös anmutendes Vokabular die ethischen Standards der Organisation betont. Beide Unternehmen legen großen Wert auf die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter. Allerdings zeigen sich bei der Ausgestaltung der Prozesse dann doch Unterschiede. Scheint man im Sozialunternehmen aus alter Tradition Weiterbildung als einen Wert für sich, als Selbstzweck, zu betrachten und Weiterbildungsveranstaltungen zudem als Möglichkeit der Reflexion zu sehen, ist Weiterbildung im Wirtschaftsunternehmen stärker funktional auf den konkreten Bedarf
5.4 Erster Vergleich
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ausgerichtet – darauf weisen das feste Fortbildungskontingent im Sozialunternehmen auf der einen Seite und die Abhängigkeit vom Abteilungsbudget und der Zusage des Vorgesetzten im Wirtschaftsunternehmen auf der anderen Seite hin. Spielt im Sozialunternehmen Persönlichkeitsentwicklung und Entfaltung des Mitarbeiters eine große Rolle, liegt im Wirtschaftsunternehmen der Fokus auf der fachlichen Weiterqualifizierung der Mitarbeiter. Der anschließende Blick auf das jeweilige Konzept des Mitarbeitergesprächs verstärkt diesen Eindruck: Gibt der Leitfaden im Sozialunternehmen lediglich Ideen für die Themen und die Gestaltung des Gesprächs an die Hand, die über konkrete Fragen zur Weiterentwicklung des Mitarbeiters hinaus auch das Verhältnis zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter oder die aktuelle Situation im Team umfassen, sind die Inhalte des Gesprächs im Wirtschaftsunternehmen Item für Item vorgegeben und auf das Stellenprofil des Mitarbeiters zugeschnitten. Im Hinblick auf die Interessen des einzelnen Mitarbeiters steht im Sozialunternehmen eher Persönlichkeitsentwicklung, im Wirtschaftsunternehmen eher Karriereplanung im Vordergrund. Für Zielvereinbarungen, die auf unterschiedlichen Ebenen – von der persönlichen bis hin zur strategischen – integraler Bestandteil des Mitarbeitergesprächs im Sozialunternehmen sind, ist im Wirtschaftsunternehmen ein eigenes Gespräch vorgesehen, das insbesondere auf Unternehmens- und Abteilungsziele rekurriert. Schließlich ist auch der Umgang mit den Gesprächsergebnissen ein sehr unterschiedlicher: Im Sozialunternehmen dient ein kurzes, tabellarisch aufgebautes Protokoll der verbindlichen Abstimmung und Verständigung im Hinblick auf persönliche und institutionelle Ziele zwischen den beiden Gesprächsteilnehmern. Dritte haben keinen Zugang zu den Gesprächsergebnissen. Das Gespräch hat als Möglichkeit des Austauschs zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter einen eigenen Wert. Im Wirtschaftsunternehmen erhofft man sich durch das Gespräch die Möglichkeit der Quantifizierung und der Transparenz der Qualifikation des einzelnen Mitarbeiters für das Gesamtunternehmen. Die Daten werden elektronisch gespeichert und der Personalabteilung zugänglich gemacht, wodurch mit einem ‚click‘ der passende Mitarbeiter für eine Stelle im In- und Ausland gefunden werden kann. Ob man aufgrund dieser unterschiedlichen Regelungen des Zugangs zu Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen und der Gestaltung des Mitarbeitergesprächs von einer stärkeren Zielorientierung in der Personalentwicklung im Wirtschaftsunternehmen sprechen kann, bleibt fraglich. Zwar ist es richtig, dass sich die Maßnahmen, die dort im Rahmen des Mitarbeitergesprächs ausgewählt werden, auf einen ganz konkreten Bedarf beziehen sollen, der durch einen Abgleich der Leistung des Mitarbeiters mit dem Anforderungsprofil seiner Stelle
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5 Die Unternehmen – Dokumentenanalyse und erste Schritte im Feld
ermittelt wird. Es scheint aber, dass hier ganz gezielt reagiert und das Weiterkommen des Mitarbeiters im Unternehmen vorbereitet werden kann. Unklar bleibt vor dem Hintergrund der Dokumentenanalyse jedoch, inwieweit ein zentral erstelltes Anforderungsprofil tatsächlich den konkreten Bedarf einer Abteilung abbilden kann und ob so das Potential der Mitarbeiter optimal ausgeschöpft wird. Möglicherweise ist die Zielorientierung im Sozialunternehmen ähnlich hoch und die beiden Organisationen unterscheiden sich lediglich in ihrer Zielsetzung bzw. in ihrem Bedarf. Aufgrund der Schwierigkeit, überhaupt an Gesprächen teilnehmen zu können, mussten an den für die Auswahl der Gespräche ursprünglich vorgesehenen Kriterien (Probezeitgespräch, Mitarbeitergespräch und Mitarbeitergespräch mit neuer Führungskraft) Abstriche gemacht werden. In beiden Organisationen gab es im Erhebungszeitraum kaum tatsächliche Neueinstellungen, also auch keine neuen Mitarbeiter, die von außen ins Unternehmen gekommen sind. Trotzdem soll bei der Auswertung, wann immer möglich und sinnvoll, unterschieden werden, ob Äußerungen von neuen oder alten Führungskräften, neuen oder langjährigen Mitarbeitern kommen, um über die Übereinstimmung und die Differenz von Mustern der Organisation und dem Habitus der einzelnen Organisationsmitglieder ein Bild der untersuchten Unternehmen herausarbeiten zu können. Tatsächlich gehen zehn Gespräche aus dem Sozialunternehmen und zehn Gespräche aus dem Wirtschaftsunternehmen in die Auswertung ein.
6 Einführung in die Auswertung der Mitarbeitergespräche
Die thematische Feingliederung der Mitarbeitergespräche aus dem Sozialunternehmen und dem Wirtschaftsunternehmen ergibt folgende Themen bzw. Kategorien: Coaching, Beratung, Beurteilung, Diagnose, Erwartungen an das Gespräch, Führung, Karriereplanung, Kunden, Macht, Ökonomie, PE-on-the-job, Persönlichkeitsentwicklung, Qualität, Team, Veränderungen, Weiterbildung, Wissen und Zusammenarbeit.9 Nicht jedes Thema wird in beiden Organisationen angesprochen, was nicht bedeutet, dass das Thema dort keine Bedeutung hat. Umgekehrt müssen die angesprochenen Themen für die Mitarbeiter oder die Praxis der Organisation nicht zwangsläufig von hoher Relevanz sein. Ausschlaggebend für die Auswahl der Gesprächssequenzen sind entsprechend nicht ausschließlich Fokussierungsmetaphern, sondern vor allem jene Sequenzen, in denen die Gesprächsteilnehmer Themen ansprechen, die über die Vorgaben im jeweiligen Leitfaden zur Führung des Mitarbeitergesprächs hinausgehen und in denen bestimmte Themen besonders ausführlich besprochen werden, sowie narrative Passagen, die Aufschluss über die Alltagspraxis der beiden Organisationen geben. Für die reflektierende Interpretation und die darauf aufbauende Herausarbeitung der Muster ist zu berücksichtigen, dass die in Kapitel 5.1.2 bzw. 5.2.2 beschriebenen formalen Vorgaben für die Mitarbeitergespräche einen entschei9
In die Auswertung werden die kursiv gedruckten Themen nicht mit einbezogen, da sie in den Gesprächen nur schwach ausgeprägt sind und für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs im Hinblick auf das Thema Personalentwicklung eine nachgeordnete Rolle spielen. Im Wirtschaftsunternehmen finden durch die Entstehung des Mitarbeitergesprächs aus einem Beurteilungsgespräch Diagnose und Beurteilung im Hinblick auf die Einschätzung der Kompetenzen des Mitarbeiters häufige Anwendung. Obwohl sowohl Diagnostizieren als auch Beurteilen als pädagogische Handlungsformen betrachtet werden können (vgl. Krüger/ Helsper 2002), taucht dieser Punkt in den Gesprächen des Sozialunternehmens höchst selten und wenn, dann meist im Zusammenhang mit der pädagogischen Arbeit mit den Klienten, auf. Das Thema Qualität wird in beiden Unternehmen nur sehr selten gestreift. Die Themen Kunden und Ökonomie sind im Wirtschaftsunternehmen selbstverständlicher Bestandteil und Orientierungspunkt in den Gesprächen. Im Sozialunternehmen wird das Thema Ökonomie vor allem als Belastung erlebt, das der pädagogischen Arbeit mit den Klienten entgegensteht.
I. Sausele-Bayer, Personalentwicklung als pädagogische Praxis, DOI 10.1007/978-3-531-94021-2_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Einführung in die Auswertung der Mitarbeitergespräche
denden Einfluss darauf haben, welche Themen angesprochen werden und wie viel Raum diesen in den Gesprächen zugesprochen wird. Im Sozialunternehmen entstehen durch die offenen Fragen an die Mitarbeiter deutlich mehr narrative Gesprächsteile. Die lockeren, als Vorschläge formulierten Vorgaben lassen viel Raum für die individuelle Schwerpunktsetzung der Gesprächsteilnehmer. Im Wirtschaftsunternehmen können dagegen nur in einem kleinen Rahmen eigene Schwerpunkte gesetzt werden. Durch den starken Beurteilungscharakter dominieren eher sachlich-argumentative Passagen; der stets spürbare Zeitdruck trägt dazu bei, dass über den Rahmen, den der Gesprächsbogen vorgibt, kaum andere Themen angesprochen werden. Viele der im Sozialunternehmen angesprochenen Themen tauchen im Wirtschaftsunternehmen zwar im Rahmen des Kompetenzkataloges auf; durch die formale Vorgabe ist es aber schwer zu beurteilen, welchen Stellenwert die einzelnen Personen den verschiedenen Punkten tatsächlich beimessen. Insofern sind im Wirtschaftsunternehmen vom standardisierten Gesprächsbogen abweichende Themen umso bemerkenswerter bzw. aussagekräftiger, was ihre Bedeutung für die organisationale Praxis betrifft. Bezugnehmend auf die Vorüberlegungen in Kapitel 2.3.3 kann man tendenziell davon ausgehen, aus den Gesprächen des Sozialunternehmens mehr über die „theory-in-use“ bzw. die „basic assumptions“ zu erfahren, während im Wirtschaftsunternehmen durch die Beurteilungssituation eher die „espoused theory“ dominiert – dass dort also Antworten gegeben werden, die von Seiten der Organisation, für die die Führungskräfte in dieser Situation stehen, von den Mitarbeitern erwartet werden. Aus den oben genannten Themen werden diejenigen ausgewählt, die zum einen für das Thema Personalentwicklung von Bedeutung sind und zum anderen in den Gesprächen sowohl in ihrer Häufigkeit als auch in ihrer Intensität stark ausgeprägt vorzufinden sind. Ebenfalls werden ‚schwächere‘ Themen aufgenommen, wenn sie im Zusammenhang mit ‚starken‘ Themen auftreten. Jedes einzelne Thema setzt sich aus unterschiedlichen Facetten zusammen und ist abhängig vom spezifischen Kontext des Gesprächs. Letztlich sind alle Themen auch miteinander verbunden und reichen ineinander hinein, so dass es sinnvoll ist, besonders eng verwobene Themen innerhalb der folgenden größeren Themencluster darzustellen und auszuwerten: Führung, Macht, Zusammenarbeit, Team (Kap. 7) Weiterbildung, Karriereplanung, Persönlichkeitsentwicklung, PE-on-thejob, Coaching, Beratung (Kap. 8) Wissen, Veränderung (Kap. 9)
6 Einführung in die Auswertung der Mitarbeitergespräche
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Diese Cluster werden im Folgenden unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontexts anhand ausgewählter Passagen dargestellt und analysiert. Dabei sollen Muster innerhalb der Praxis der beiden Organisationen herausgearbeitet, gegenübergestellt und schließlich unter der Frage betrachtet werden, inwieweit diese Muster zur Unterstützung und Verknüpfung von individuellen und organisationalen Lernprozessen beitragen bzw. diese behindern und inwieweit hier von Personalentwicklung als pädagogischer Praxis gesprochen werden kann. Wurden die Themen der Kapitel 7 bis 9 bottom-up ermittelt, schließt sich mit Kapitel 10 ein Kapitel an, in dem gezielt nach dem Thema Lernunterstützung und der Verschränkung individueller und organisationaler Lernprozesse in den Gesprächen gesucht wird. Zu Beginn der Themenkomplexe findet sich jeweils ein kurzer Überblick zum theoretischen Hintergrund bzw. dem aktuellen Diskurs zu den Themen, soweit dieser nicht bereits in Kapitel 2 dargestellt wurde. Der Fokus liegt dabei auf jenen Konzepten, die einer analytischen Unterscheidung des untersuchten Gegenstands dienlich sind und die den für die Arbeit relevanten Kontext erfassen. Die Analyse erfolgt durch die Interpretation konkreter Gesprächsausschnitte. Dabei wurden alle in den Gesprächsausschnitten enthaltenen Personen- und Einrichtungsnamen anonymisiert. Nach der Herausarbeitung der unternehmensspezifischen Muster folgen ein Vergleich dieser Muster und ihren Auswirkung auf individuelle und organisationale Lernprozesse in den beiden Organisationen sowie die Verankerung der Analyseergebnisse im theoretischen Diskurs. In den Transkripten steht F für Führungskraft, M für Mitarbeiter, m für männlich, w für weiblich. [3] steht für eine Redepause von drei Sekunden, @wird lachend gesprochen@, Unterstrichenes wird stark betont. Alle Personenund Einrichtungsnamen sind anonymisiert. Alle mit SU gekennzeichneten Gespräche stammen aus dem Sozialunternehmen, alle mit WU gekennzeichneten aus dem Wirtschaftsunternehmen. MA steht für ein Gespräch mit einem Mitarbeiter ohne Personalverantwortung, FK für Führungskraft bzw. Mitarbeiter mit Personalverantwortung, PZ für Probezeitgespräch.
7 Führung und Macht
Dieses Kapitel hat für die Fragestellung der Arbeit nach Personalentwicklung als pädagogischer Praxis in erster Linie eine rahmende Funktion. Es wirft einen Blick auf die mikropolitische Ebene der beiden Organisationen und greift dabei zwei Schwerpunkte heraus, die sich aus der Auswertung der Mitarbeitergespräche durch die dokumentarische Methode ergeben haben: Führung und Macht. Nach der Einzelanalyse der Gesprächsausschnitte gilt es, die Frage zu beantworten, wie sich die organisationsspezifische Ausprägung dieser auf der Beziehungsebene zwischen den Organisationsmitgliedern angesiedelten Themen auf Lern- und Entwicklungsprozesse in den Organisationen auswirkt. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie in den beiden Organisationen Lernprozesse im Hinblick auf Führung ablaufen und Führung als Element von Personalentwicklung als pädagogischer Praxis beobachtet werden kann. Der Führungsbegriff verschwindet nach der Zeit des Nationalsozialismus für mehrere Jahrzehnte aus dem pädagogischen Diskurs, zu dem es der griechischen Wortherkunft nach jedoch von Beginn an gehört (gr. paidagôgós, Zs. von gr. pais = Kind und ágein = führen). Eine besondere Rolle spielt er Anfang des 20. Jahrhunderts im reformpädagogischen Kontext der Jugendbewegung. Hier sind insbesondere Pädagogen wie Gustav Wyneken, Eduard Spranger, Peter Petersen und nicht zuletzt Theodor Litt zu nennen, die sich teilweise selbst als pädagogische Führer wahrnehmen und die Notwendigkeit von Führung konstatieren, sich aber auch, wie vor allem Theodor Litt, deutlich von einem fixierten Menschenbild abgrenzen (vgl. Fichtner 1996). Litts Auseinandersetzung mit der Antinomie „Führen oder Wachsen lassen“ kommt zu dem Ergebnis, dass weder im Führen im Sinne eines Vorschreibens noch im Wachsen-Lassen im Sinne eines Sich-selbst-Überlassens, sondern in der Vermittlerfunktion zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und individuellen Bedürfnissen der pädagogische Auftrag liegt (vgl. Litt 1964, 65ff). Die zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema Führung in Organisationen kommen aus der Psychologie (Rosenstiel et al. 2003), der Betriebswirtschaft (Kieser et al. 1995) und seit einigen Jahren auch vermehrt aus der Pädagogik (Meyer 2000; Lehner 2001; Götz 2000). Ob es nun wissenschaftliche Veröffent-
I. Sausele-Bayer, Personalentwicklung als pädagogische Praxis, DOI 10.1007/978-3-531-94021-2_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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lichungen oder populärwissenschaftliche Handbücher im Stile von „Richtig Führen leicht gemacht“ (Adair 1986) zum Erreichen besserer Führungskompetenz durch bestimmte Techniken (Saul 1999) für Führungskräfte und solche, die es werden wollen, sind – der Fokus der letzten Jahrzehnte richtet sich auf den Zusammenhang zwischen Führung bzw. einem bestimmten Führungsstil und der Leistung der Mitarbeiter. Führungserfolg wird an Effizienzdimensionen oder an Humanfaktoren wie Arbeitszufriedenheit gemessen (vgl. Rosenstiel et al. 2003, 6). Untersuchungen von Lewin in den 1930er Jahren konnten drei verschiedene Führungsstile ausmachen: den autoritären, den demokratischen und den laissezfaire-Stil. Das bahnbrechende Ergebnis der damaligen Untersuchungen war, dass sich ein demokratischer Führungsstil positiver auf die Gruppenleistung auswirkt als ein autoritärer. Bei den Bemühungen, Führungsverhalten noch besser differenzieren zu können, entdeckten Fleishman und Harris (1960er Jahre) zwei grundlegende Dimensionen: aufgabenorientiertes Führungsverhalten und personbzw. mitarbeiterorientiertes Führungsverhalten. Likert konnte zeigen, dass Gruppen ein Bedürfnis nach beiden Führungsstilen haben (vgl. Überblick bei Neubauer 1996, 76ff). Stogdill entwickelte 1948 die „Eigenschaftstheorie der Führung“. Ausgehend davon setzte eine Beschäftigung mit spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen ein, die einen erfolgreichen Führer ausmachen. Stogdill kam jedoch selbst zu dem Schluss, dass die Eigenschaftstheorie der Führung „zwar interessante Daten vermittelt, daß aber situative Faktoren einen großen Einfluß darauf ausüben, wer Führer werden wird“ (Wilke/ Knippenberg 1996, 490). Erst neuere Arbeiten untersuchen im Zuge der zunehmenden Beschäftigung der unterschiedlichen Disziplinen mit organisationalem Lernen den Zusammenhang zwischen Führung und Lernprozessen (vgl. Meyer 2000; Lehner 2001; Götz 2000). Zu fragen ist also, wie der Führungsstil die Lernprozesse in einer Organisation beeinflusst (vgl. Sausele-Bayer 2011). Im Hinblick auf eine „Pädagogik der Mitarbeiterführung“ legt so bspw. Lehner (2001) den Bildungsbegriff, in dem die „Wahrung des humanen Eigenwerts einer Person“ (ebd., 131) steckt, als führungsethische Grundlage fest. Der Vorgesetzte wird hier zum „internen Weiterbildungsberater“ (ebd., 23) und zum „Ermöglicher“ (ebd., 261) von Lernprozessen, der sich durch Selbstreflexivität, personale und soziale Kompetenzen sowie konzeptionelle und Führungskompetenzen auszeichnet und darüber hinaus auch bildungstechnologische Kompetenzen zu bieten hat (vgl. Arnold, zitiert nach Lehner 2001, 261). In Führungsprinzipien wie der Delegation, der Vereinbarung realistischer Zielvereinbarungen, der gemeinsamen Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten und der Förderung von Mitarbeitern, liegt nach Lehner ein
7 Führung und Macht
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bildendes Potential (vgl. ebd., 145). Nicht zuletzt vermag das Prinzip der Bildung die Selbstanpassung an den gesellschaftlichen und organisationalen Wandel zu unterstützen (vgl. ebd., 263). Traditionelle Ansätze zur Mitarbeiterführung betrachten Führung als dyadisches Verhältnis; neuere Ansätze gehen hingegen von einem triadischen Verhältnis zwischen der Führungskraft als direktem Vorgesetzten, dem geführten Mitarbeiter und dem nächsthöheren Vorgesetzten aus (vgl. Weibler 2003, 318). Im klassischen Führungsverständnis, so Weibler, existiert nur eine personale Beeinflussungsgröße, die auf das Erleben und Verhalten eines Mitarbeiters einwirkt (vgl. ebd.). Mit Wunderer unterscheidet Weibler jedoch zwei Dimensionen von Führung, die interaktionelle und die strukturelle: Dem direkten Vorgesetzte liegt der interaktionelle Weg näher, also „die situative, dezentrale, individuelle und informelle“ (ebd., 319) Gestaltung von Führung. Die Vereinbarung individueller Ziele mit dem Mitarbeiter, das Aufzeigen von Wegen und Anreizen zur Erreichung dieser Ziele und die Diskussion von Ergebnissen bisheriger Arbeit sind Teil dieser Dimension von Führung. Es geht darum, Kommunikation zu ermöglichen, die Sorgen und Nöte der Mitarbeiter ernst zu nehmen und sie an Entscheidungsprozessen zu beteiligen (vgl. ebd.). All diese Elemente finden sich in der Zielsetzung von formalen Mitarbeitergesprächen (s. Kap. 4.1), die in der Regel ebenfalls vom direkten Vorgesetzten geführt werden. Der nächsthöhere Vorgesetzte hat zudem die Möglichkeit, strukturelle Führungselemente zu nutzen und über Kultur, Strategie und Organisation auf das Verhalten der Mitarbeiter einzuwirken. Weibler führt als Beispiele die „Einflussnahme durch Systemgestaltung, über allgemeine Richtlinien und Regelungen, Grundsätze, Programme oder über die Arbeitsorganisation“ (ebd.) an. Der Blick auf das Verhältnis zwischen Führungskraft, Mitarbeiter und nächsthöherem Vorgesetzten soll bei der Betrachtung der Gesprächsausschnitte einbezogen werden, denn über sie können wichtige Erkenntnisse über die hierarchische Struktur und die Machtverhältnisse in den beiden Organisationen gewonnen werden. Webers Bürokratiemodell bietet sich an, um den Charakter von Führung in den beiden Organisationen systematisch zu untersuchen. Weber unterscheidet drei Modelle der Legitimation von Herrschaft: rationale Herrschaft, traditionale Herrschaft und charismatische Herrschaft. Rationale Herrschaft, also die Herrschaft „[i]m Namen nicht einer persönlichen Autorität, sondern im Namen der unpersönlichen Norm“ (Weber, zitiert nach Fischer 2004, 28f.), nimmt typischerweise die Form bürokratischer Organisation an. Diese ist dabei ein Machtinstrument, über das der Herrscher, der selbst der gesatzten Ordnung unterliegt, verfügen kann. Auch wenn sich Webers Theoriemodell heute hauptsächlich als
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7 Führung und Macht
„Kontrastfolie zu aktuellen Anforderungen an Organisationen“ (Schröer 2004, 70) lesen lässt, können die typischen Strukturmerkmale der Bürokratie zur Analyse von Organisationen wichtige Anhaltspunkte liefern. Dies sind in einem kurzen Überblick folgende Merkmale (vgl. Weber 1964, 161f.):
Kompetenz im Sinne von Zuständigkeit für einen formal festgelegten Bereich sowie ggfs. Befehlsgewalt und Sanktionen Amtshierarchie zur Festlegung von Weisungsbefugnissen, Anordnungen und Entscheidungsprozessen Regelgebundenheit von Verfahren Fachlichkeit als Grundlage für die Beteiligung an Entscheidungsprozessen Arbeitsteilung Trennung von Person und formaler Position zur Sicherung der normgebundenen Erfüllung der Aufgaben Aktenmäßigkeit der Verwaltung, also schriftliche Fixierung von Entscheidungen und Anordnungen
Die formalen Strukturen der Organisation determinieren das Handeln der Akteure aber nicht vollkommen. Deshalb ist es sinnvoll, mit dem Machtkonzept von Crozier und Friedberg einen Blick auf das Verhältnis und das Zusammenspiel von Organisation und Akteur zu werfen (s. auch Kap. 2.3). Nach Crozier und Friedberg bedingen zwar „[d]ie Beschaffenheit und die Regeln der Spiele […] jederzeit die Strategien der Akteure, sind aber wiederum auch durch diese bedingt“ (Crozier/ Friedberg 1993, 144). Jeder Akteur in einer Organisation verfügt über einen Handlungsspielraum, durch den er Macht über andere Akteure ausüben kann. Crozier und Friedberg bezeichnen diesen Entscheidungsspielraum auch als Kontrolle über eine Unsicherheitsquelle (vgl. ebd., 56). Die Macht eines Akteurs „ist umso größer, je relevanter die von ihm kontrollierte Unsicherheitsquelle“ (ebd.) für die anderen ist. Eine der vier Hauptquellen von Macht in Organisationen sehen sie (1.) in der Expertise, also im „Besitz einer nur schwer ersetzbaren funktionalen Fähigkeit oder Spezialisierung“ (ebd., 51). Weitere Machtquellen sind (2.) die Kontrolle über die Beziehungen zwischen einer Organisation und ihrer Umwelt und (3.) die Kontrolle von Informationen und Kommunikationskanälen (vgl. ebd., 52). Wie groß aber die Macht der einzelnen Akteure ist, hängt zum einen von den organisatorischen Regeln und Verfahren ab, die Crozier und Friedberg als letzte (4.) Hauptquelle von Macht beschreiben (vgl. ebd., 53), und zum anderen davon, wie gut oder geschickt die Akteure die durch diese Regeln neu entstehenden Ungewissheitszonen für sich zu nutzen wissen (vgl. ebd., 54). Im Hinblick auf eine Gruppe bzw. auf Führung kann mit
7.1 Sozialunternehmen
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Friedberg ergänzt werden: „Macht kann man […] definieren als die gleichzeitige Fähigkeit, (a) für die anderen relevante Probleme an ihrer Stelle zu lösen, d.h. für sie relevante Ungewißheiten an ihrer Stelle zu kontrollieren, und (b) die Bereitschaft zu eben dieser Problemlösung zu verweigern“ (Friedberg 1988, 42f.). An dieses Verständnis von Macht anknüpfend ist hier nach den Konsequenzen der spezifischen Machtverhältnisse in den beiden untersuchten Organisationen für individuelle und kollektive Lern- und Entwicklungsprozesse zu fragen.
7.1 Sozialunternehmen Führung wird im Sozialunternehmen sowohl in Gesprächen mit neuen Führungskräften als auch in Gesprächen mit langjährigen Mitarbeitern thematisiert – in letzteren vor allem dann, wenn die Führungskraft, die das Gespräch führt, relativ neu in ihrer Position ist, oder wenn der Mitarbeiter Führungsverantwortung hat. In den Gesprächen wird hauptsächlich zwischen einem autoritären und einem kooperativen Führungsstil unterschieden. Der Fokus in den Gesprächen des Sozialunternehmens liegt aber weder auf den Auswirkungen des Führungsstils auf die Leistung der Mitarbeiter noch auf deren Lernprozesse. Im Zentrum stehen hier vor allem die Rollenfindung der Führungskraft und die Entscheidung für einen bestimmten Führungsstil.
7.1.1 Führen: Unterstützung oder Kontrolle 7.1.1.1
„sehen Sie sich da unterstützt, fehlt was, brauchen Sie mehr?“
Eine Frage, die in nahezu allen Gesprächen im Sozialunternehmen gestellt wird, ist die Frage der Führungskräfte an ihre Mitarbeiter, ob sie sich unterstützt fühlen bzw. wie sie (weiter) unterstützt werden können (SU MA II), ob und wo sie sich mehr Unterstützung wünschen würden (SU MA I), oder an welchen Stellen sie glauben, dass der Vorgesetzte noch mehr Einfluss nehmen könnte (SU MA II). Dies geschieht sowohl, wenn es um die täglichen Aufgaben geht, als auch, wenn es um persönliche Ziele geht, zum Beispiel darum, einen bestimmten „Schwerpunkt auch zu leben“ (SU MA I), oder bei Problemen: „Was würde Ihnen denn helfen, wenn Sie sagen, es ist schwer, das zu tun? Haben Sie da eine Idee?“ (SU MA IV).
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Mit Unterstützung ist hier vor allem das Bereitstellen von Strukturen und Ressourcen gemeint: Die Führungskraft kann aufgrund ihrer Position Abläufe und Zuständigkeiten verändern, finanzielle Mittel zur Beschaffung von Inventar oder räumliche Veränderungen beantragen, Weiterbildungsmaßnahmen genehmigen oder selbst mit ihrer Zeit und ihrer Fachkompetenz zur Verfügung stehen. Unterstützt werden kann aber nur etwas, was bereits als Idee oder Ziel, als Kompetenz oder Begabung angelegt ist. Unterstützung kann also als Hilfe zur Selbsthilfe bzw. Hilfe zum Selbst-tätig-sein verstanden werden. Ihr liegt das Menschenbild eines selbsttätigen, eigenverantwortlichen Subjekts zugrunde. Eine Orientierung der Führungskräfte im Umgang mit ihren Mitarbeitern an den pädagogisch-sozialen Grundgedanken der Organisation ist hier nicht zu übersehen, wobei aus pädagogischer Sicht der Begriff der Hilfe immer auch einen erzieherisch-fördernden Aspekt enthält, wie es Pestalozzi mit seiner Armenerziehung begründet (vgl. Gängler 2002, 134). Letztlich haben Hilfe bzw. Unterstützung wie alle pädagogischen Tätigkeiten das Ziel, sich selbst überflüssig zu machen.
7.1.1.2
„er sagt zwar, er will jetzt helfen, aber in Wirklichkeit will er kontrollieren“
Jedem pädagogischen Verhältnis wohnt auch ein Konflikt zwischen Hilfe und Kontrolle inne (vgl. Hörster/ Müller 1996, 615). Insbesondere der öffentlich organisierten bzw. professionellen Hilfe haftet der Vorwurf an, als Kontrollmechanismus zu dienen bzw. zur Entmündigung der Hilfebedürftigen beizutragen. Bezeichnenderweise muss sich ausgerechnet der neue Leiter (F(m)) einer Einrichtung innerhalb der Jugendhilfe diesem Vorwurf stellen. Wie sich im Gespräch mit einem seiner Mitarbeiter zeigt, ist er ob dieser Tatsache sichtlich irritiert: F(m): er sagt zwar, er will jetzt helfen, aber in Wirklichkeit will er kontrollieren. Das hab ich dann im Nachhinein gemerkt, dass Ihre Reaktion stark davon geprägt war, dass Sie sich unter Druck gesetzt gefühlt haben und M(m): Richtig und das merken dann die Kinder auch F: und dadurch, das Gegenteil war der Fall, ich wollte wirklich, sie waren ja allein, natürlich wollte ich auch, sagen wir mal, mehr kennen lernen, sehen, wie läuft das?, wie geht das?, aber nicht aus einem vordergründigen Kontrollinteresse heraus, sondern um mehr zu verstehen und dann auch mehr helfen zu können, pädagogisch helfen zu können. (SU MA VI)
7.1 Sozialunternehmen
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Der Vorgesetzte hat den Eindruck, dass sein Versuch, sich einen Überblick über die neue Einrichtung zu verschaffen, missverstanden und ihm als Versuch der Kontrolle ausgelegt wird. Einerseits wirken seine Beteuerungen („ich wollte wirklich“) authentisch und etwas hilflos, andererseits bestätigt er mit der Einschränkung „nicht aus einem vordergründigen Kontrollinteresse heraus“ aber auch, dass er durchaus in Erfahrung bringen will, was in den Gruppen geschieht. Die Geschichte der Einrichtung, die aus dem Mitarbeitergespräch des neuen Leiters mit seiner Vorgesetzten hervorgeht, gibt Hinweise darauf, weshalb das verständliche Anliegen des Vorgesetzten hier auf so viel Misstrauen stößt: F(w): ganz offensichtlich ist ja da einiges schief gelaufen mit der alten Leitung, und, und das hat immer so den Effekt, denke ich mir, so eine Situation, dass die Mitarbeiter erst einmal froh sind über den Wechsel und dann schon auch sagen, wir wollen mehr Struktur und mehr Klarheit und dieses und jenes, und wenn dann aber mehr Struktur und mehr Klarheit kommt, heißt das natürlich auch immer, ein Stück meiner, ehm, Eigenständigkeit, kann ich machen, wie ich’s mir gerade denke, geht dabei flöten und diese Realität dann wahrzunehmen ist für manche dann nicht so einfach (SU FK I)
Von der vorhergehenden Leitungskraft, die zudem nur ein gutes Jahr in der Einrichtung war, erhielten die Mitarbeiter wenig Unterstützung. Sie lösten die ungeklärte Leitungssituation und den Mangel an festen Regeln, an „Struktur“ und „Klarheit“, durch Strenge und Rituale im Umgang mit den Kindern in den Gruppen. Das Fehlen von Regeln hatte zu einem Machtvakuum geführt, das gefüllt werden musste, damit die Einrichtung weiter funktionieren konnte. Der neue Leiter nimmt wahr, dass sich die Gruppen dabei abkapseln und gleichzeitig unter den Mitarbeitern ein „fast übertriebenes Basisdemokratieverständnis“ (SU FK I) herrscht. Der Versuch, durch einen, wie er es nennt, „kooperativen Führungsstil im Sinne von sozialintegrativ“ (SU FK I)10 wieder „eine Linie“ in die Einrichtung zu bringen, scheitert zunächst daran, dass sich die Mitarbeiter in ihrer Freiheit beschnitten und kontrolliert fühlen. Interessant ist, dass die Muster, die in der täglichen pädagogischen Praxis der Gruppe zum Tragen kommen, also Strenge und Konsequenz und damit sicherlich auch Kontrolle, sowie das Spannungsverhältnis von Hilfe und Kontrolle, in dem sich die Mitarbeiter selbst gegenüber ihren Klienten befinden, der neuen Führungskraft als Intention unterstellt werden.
10
Die ideelle Herkunft der Führungskraft wird hier überdeutlich, gehen doch soziologische Analysen des Helfens davon aus, dass Hilfe als „sozialer Kitt“ (Gängler 2002, 132) (auch im Hinblick auf die soziale Norm der Reziprozität) bedeutsam für die soziale Integration ist.
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7 Führung und Macht
Betrachtet man die Einrichtung, die von einem anderen Träger übernommen worden war, innerhalb der Gesamtorganisation, fällt sowohl ihre Isoliertheit hinsichtlich der Entfernung vom Hauptort auf als auch die fehlende Verbindung zu anderen Einrichtungen oder Diensten des Sozialunternehmens im Tagesgeschäft. Es scheint, als würde diese Gruppe innerhalb der Jugendhilfe das Verhältnis der Einrichtung zur Gesamtorganisation abbilden. Die organisationalen Muster – hier konkret die Offenheit, die man im Sozialunternehmen allerorten antrifft – scheint in diese Einrichtung noch nicht hineinzureichen. Der neue Leiter, der ca. dreißig Jahre lang in anderen Bereichen des Sozialunternehmens tätig war, sagt: F(m): […] ansonsten war es mir eigentlich schon ein stärkeres Prinzip, so kannte ich es auch von den Gruppen früher, nur das kann man nicht direkt vergleichen, eh, da war mehr Öffentlichkeit üblich in den Gruppen, das hat die Kinder nicht so sehr aufgeregt, beziehungsweise sie waren es auch mehr gewohnt, und da konnte man auch einmal eher in so laufende Prozesse kurz mit rein gehen und sich wieder zurückziehen. (SU MA VI)
Tradition und alte Muster der Einrichtung bzw. der Gruppen prallen auf den Stil der neuen Führungspersönlichkeit, der die organisationalen Muster bzw. die Organisationskultur der Gesamtorganisation transportiert („Öffentlichkeit“, „in laufende Prozesse kurz mit rein gehen und sich wieder zurückziehen“). Möglicherweise war aber eben dies von Seiten der Bereichsleitung intendiert; die Erwartung war nämlich, „dass es gut ist für die Ruhe in der Einrichtung, wenn da jemand hinkommt, der lange Jahre in der Organisation ist“ (SU FK I), und dadurch die Möglichkeit gegeben ist, die organisationalen Muster des Sozialunternehmens gezielt zu tradieren. Auch das mag bei den Mitarbeitern den Eindruck verstärkt haben, von der neuen Leitung kontrolliert zu werden.
7.1.2 Führen: autoritär oder kooperativ 7.1.2.1
„vielleicht ein bisschen zu kumpelhaft oder kooperativ“
Führung will im Sozialunternehmen als Unterstützung und nicht als Kontrolle verstanden werden. Der Anspruch an die Führungskraft, einen kooperativen Führungsstil zu pflegen, kommt von verschiedenen Seiten: Er ist in den Führungsleitlinien verankert (s. internes Dokument zum Führungsleitbild), die Vorgesetzten erwarten es von ihren Mitarbeitern mit Führungsverantwortung, und die Führungskräfte betonen gegenüber ihren Mitarbeitern ebenso wie auch Mit-
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arbeiter mit Personalverantwortung gegenüber ihren Vorgesetzten, einen „kooperativen Führungsstil im Sinne von sozialintegrativ“ (SU FK I) pflegen zu wollen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb fällt es den neuen Führungskräften schwer, die nötige Balance zu finden. Sie versuchen es auf unterschiedlichen Wegen: M (m): […] so am Anfang vielleicht ein bisschen zu kumpelhaft oder kooperativ oder auf der Ebene der Mitarbeiter, das hat dann gar nicht funktioniert, dann eher vielleicht wieder auf eher etwas autoritäre Art und Weise, was aber dann auch nicht durchgekommen ist. (SU FK I)
Der hehre Anspruch an die Führungskräfte, kooperativ zu führen, kollidiert mit dem Alltag in der Einrichtung, wo die Interessen des Sozialunternehmens, der Führungskraft, der Mitarbeiter und der Klienten nicht immer übereinstimmen und wo sowohl auf fachlicher als auch auf der Ebene von Macht und Kompetenzen permanent Aushandlungsprozesse stattfinden. Der kooperative Führungsstil wird im Vergleich zum autoritären Führungsstil, der Macht eher „zentriert“, als der „schwierigere“ betrachtet, weil er mehr Angriffsfläche bietet und die Führungskraft eher zum „Zielpunkt von irgendwelchen politischen, eh, Verwerfungen“ (SU FK II) macht. Langfristig sieht man ihn aber als den gewinnbringenderen, Teamentwicklungsprozessen und der Arbeit mit den Klienten eher förderlichen Stil an: F (m): Sie müssen andererseits sich auch Raum schaffen können, wenn es darauf ankommt. Also diese, diese, sagen wir mal diese autoritären Methoden, die helfen eben dann, wenn man in Bedrängnis gerät, (lacht) sozusagen. M (w): Ja. F: (lachend) Huu, ne, aber ich denke, eh, also wenn, nicht dass Sie dann darunter einknicken, weil weil Ihr Stil ist schwieriger, also meiner Meinung nach ist Ihr Stil der schwierigere, aber ich glaube auch, er ist langfristig der gewinnbringendere. Für die Bewohner und für Ihr Team. Ne, also es ist eben die Frage, was Sie, eh, (2) sagen wir mal, wenn Sie, wenn Sie diese autoritäre Seite beherrschen, Sie werden die wahrscheinlich üben müssen, an der einen oder anderen Stelle so aufzutreten, dann die Kurve zu bekommen und zu sagen, gut, das war jetzt in dieser Situation, aber jetzt ist es wieder gut, jetzt gehe ich wieder auf meinen Stil, ne. (SU FK II)
Der Führungskraft wird also zunächst einmal der kooperative Stil zugeordnet. Wenn dies hier auch nicht explizit erwähnt wird, ist doch klar, dass „ihr“ Stil, also der Stil der Mitarbeiterin, dem autoritären Stil diametral entgegengesetzt ist. Ein autoritärer Stil gehört nicht in das Idealprofil einer pädagogischen Führungskraft (vgl. Fischer 2001, 20), sondern wird einer ganz bestimmten Situation zu-
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7 Führung und Macht
geordnet („wenn es darauf ankommt“, „wenn man in Bedrängnis gerät“). Bei seiner Erwähnung oder Empfehlung lacht der Vorgesetzte, was auf ein gewisses Unbehagen allein bei der Verwendung des Begriffs hinweist. Er muss aber zugeben, dass der autoritäre Stil eben doch in Situationen notwendig ist, in denen man sich als Führungskraft durchsetzen muss. Der Vorgesetzte legt der Mitarbeiterin nahe, den autoritären Stil zu üben, da er Bedenken hat, sie könnte diese autoritäre Linie nicht durchhalten, sondern „darunter einknicken“. Er eröffnet ihr damit aber die Möglichkeit, vom formal in den Führungsleitlinien vorgesehenen kooperativen Stil abzuweichen und situativ „an der einen oder anderen Stelle“ anders aufzutreten. Damit entbindet er die Mitarbeiterin gewissermaßen von einer Verpflichtung und eröffnet ihr Lern- und Veränderungsmöglichkeiten. Eine andere Führungskraft beschreibt in diesem Zusammenhang, wie sie versucht hat, zu Beginn ihrer Leitungstätigkeit einen partnerschaftlichen Stil zu pflegen, und damit erhebliche Schwierigkeiten hatte. Die Mitarbeiter wollten lieber gesagt bekommen, was sie machen sollen, als gefragt werden, wie sie es gerne machen würden: M (w): […] das kam so in den Nebenbemerkungen kam das immer mal raus, dass sie, ja, eigentlich Leute, die, die bisschen massiver sind, ehm, im Leitungsstil, einfach mehr schätzen, und dann habe ich mir gedacht, naja, gut, ehm […] M: und ich selber habe jetzt, habe mir dann gedacht, ich muss mich nicht unbedingt danach richten, ich muss eben manches so verpacken, dass es so wirkt, und das habe ich dann auch versucht und das hat, manchmal musste ich auch ein Machtwort sprechen, ja, das ist, macht jetzt nicht so viel Spaß, aber es ist eben notwendig. (SU FK III)
Auch hier wird deutlich, dass der Führungsstil keine eindeutige Sache ist, selbst wenn die Führungskraft eine klare Vorstellung davon hat, wie sie gerne führen würde. Abweichungen vom kooperativen Führungsstil sind dabei notwendig, und das „Machtwort“ wird von den Mitarbeitern auch eingefordert. Letztlich können Führungsleitlinien also wohl nur eine Zielrichtung vorgeben; in der jeweiligen Führungssituation muss die Führungskraft ihren eigenen Weg gehen und ihren individuellen Stil finden.
7.1.2.2
„und so erwarte ich das letztendlich auch von meinen Vorgesetzten und von den, von den Herren da oben“
Nach dem pädagogischen Führungsverständnis Litts (1964), hier auf Personalführung bezogen, sollte Führung nur dann stattfinden, wenn sich die Mitarbeiter,
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aus welchem Grunde auch immer, nicht aus eigener Kraft helfen können und dadurch Lern- und Entwicklungsprozesse und alltägliche Abläufe zu stagnieren drohen. Der Pädagoge als Führer ist Mittler zwischen zwei gleichberechtigten Gewalten (vgl. Litt 1964, 65f.): in diesem Falle den Ansprüchen der Organisation und den Interessen der Mitarbeiter. In diesem Sinne setzt die Führungskraft im folgenden Gesprächsausschnitt auf die Einsicht und Eigenverantwortung ihrer Mitarbeiter, auch wenn diese Verantwortung für sie manchmal unangenehm sein mag: M (m): […] eh, bei anderen Punkten, eh, ist es auch so, dass ich jetzt immer erst versuchen möchte, […], dass ich den Mitarbeitern immer erst ein- zweimal eine Chance gebe, sage, ihr könnt das selbst lösen innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen, eh, und ich traue euch das zu, ich mute euch das zu und das ist mir eigentlich auch lieber, schafft ihr es aber nicht, weil ihr es vielleicht nicht einsehen wollt oder nicht ernst nehmt, dann bleibt mir nichts anderes über, als zu sagen, da muss ich bezogen auf den Einzelfall eine klare Vorgabe machen. Wenn du es nicht selber schaffst, dann musst du dir gefallen lassen, dass ich es für dich ein Stück weit löse, eh, vorplane und dann auch kontrolliere (SU FK I)
In den Äußerungen „schafft ihr es aber nicht“, und „dann musst du dir gefallen lassen“ der Führungskraft steckt der Anspruch der Mitarbeiter, selbst entscheiden und agieren zu wollen. Diesem Anspruch wird durchaus Rechnung getragen, die Führungskraft will sich aber auch nicht auf der „Nase rumtanzen“ (SU FK I) lassen und übernimmt, wenn ihr nichts anderes übrig bleibt, im Interesse der Organisation das Ruder wieder selbst. Dies soll aber nicht die Regel sein, wie auch vorangegangene Beispiele zum Führungsstil gezeigt haben. Trotzdem schwingt hier in der Äußerung „weil ihr es vielleicht nicht einsehen wollt“ auch die Annahme mit, dass es sehr wohl einen richtigen Weg gibt, den die Führungskraft bereits kennt. Gehen die Mitarbeiter diesen Weg nicht freiwillig, bekommen sie von ihrem Vorgesetzten die entsprechende Anweisung. Vor diesem Hintergrund wäre die Übertragung von Verantwortung auf die Mitarbeiter lediglich ein schöner Schein. Letztlich ist es auch im Sozialunternehmen so, dass die Mitarbeiter eine gewisse Klarheit von Seiten ihres Vorgesetzten brauchen und einfordern. Aushandlungsprozesse kosten Zeit und Energie, und es ist auch manchmal angenehm, wenn man sich hinter einer Anweisung verstecken kann und nicht selbst die Verantwortung übernehmen muss. So berichtet eine neue Wohnbereichsleiterin, deren Vorgänger eher autoritär war: M (w): […] sie sind froh, dass ich diesen Stil habe und anders bin, und auf der anderen Seite konnte man sich aber hinter diesem Brett und hinter diesem Rücken auch gut verstecken. Oder
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7 Führung und Macht den vor- vorschieben. Also auch in der Arbeit mit den Leuten. Und das ist jetzt etwas, wo sie auf der einen Seite froh sind, dass sie das für sich nicht mehr haben, und auf der anderen Seite, ehm, (3) ehm, wie soll ich sagen, selber gerade stehen müssen, also nicht mehr den Herrn Lederer und die Bretter vorschieben dürfen so als Drohung den den Bewohnern gegenüber, ne. (SU FK II)
Die Führungskraft muss sich hier unterschiedlichen Erwartungen ihrer Mitarbeiter stellen. Diese genießen auf der einen Seite die Freiräume, die durch einen kooperativen Führungsstil entstehen, auf der anderen Seite soll die Führungskraft klar und durchsetzungsfähig sein, um diese Freiräume überhaupt erst möglich zu machen.11 Die Mitarbeiter „schleppen einen sehr hohen Anspruch irgendwo mit sich rum“ (SU FK I), äußert sich der neue Leiter einer anderen Einrichtung. Er meint damit den Anspruch an die Arbeitsbedingungen, für deren Qualität die Führungskraft nach Ansicht der Mitarbeiter zu sorgen hat, und damit auch für die Gestaltungsspielräume und das Mitspracherecht, die die Mitarbeiter im Rahmen ihrer Arbeit einfordern. Der Anspruch der Mitarbeiter an ihre Vorgesetzten bzw. ihre Zufriedenheit mit ihnen hat nicht nur etwas mit ihrem „Verhalten den Mitarbeitern gegenüber zu tun, sondern auch mit [ihrer] Möglichkeit, Mitarbeiterbedürfnisse befriedigen zu können“ (Weibler 2003, 320). Dies fordern die Mitarbeiter teilweise auch recht vehement ein: M (m): […] wenn es irgendwie machbar ist, dann wird das eben gemacht, und so erwarte ich das letztendlich auch von meinen Vorgesetzten und von den, von den Herren da oben, nicht nur immer zu sagen, räumlich und personell geht das nicht, die fragen nämlich gar nicht an der Basis nach, ist denn das überhaupt irgendwie möglich?, wenn sie das nämlich hin und wieder tun würden, dann kämen wahrscheinlich wirklich konstruktive und gute Ideen dabei heraus. (SU MA II)
Auf die Frage seiner Vorgesetzten nach den Zielen des Mitarbeiters für das nächste Jahr meint derselbe Mitarbeiter: M (m): Ja, ich werde das verfolgen, ob Sie letztendlich in der Richtung F (w): (lacht schallend) M (m): ja logisch, ob Sie in der Richtung tätig waren, ob das zustande gekommen ist?, und wenn es nicht zustande gekommen ist, weshalb es nicht zustande gekommen ist? (SU MA II)
11
„Brett“ bzw. „Bretter“ ist das geflügelte Wort in der Einrichtung für die Art und Weise des ehemaligen Leiters, den Bewohnern verbal klar und deutlich ihre Grenzen aufzuzeigen.
7.1 Sozialunternehmen
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In dieser etwas kuriosen Situation, in der der Mitarbeiter seiner Vorgesetzten ankündigt zu überprüfen, ob sie seine Vorstellungen umgesetzt hat, vertauschen sich die Rollen: Der Mitarbeiter ist derjenige, der der Führungskraft die Ziele vorgibt und beurteilt, ob diese erreicht wurden, nachdem er ihr zu Beginn des Gesprächs rückgemeldet hat, dass ihre „Wertigkeit“ (SU MA II) in der Organisation im Vergleich zu der anderer Personen noch nicht groß genug sei. Das Lachen der Vorgesetzten kann einerseits bedeuten, dass sie vom Ansinnen ihres Mitarbeiters nur amüsiert ist, kann aber auch darauf hindeuten, dass sie im Hinblick auf die an sie gestellten Erwartungen verunsichert ist. Letzteres liegt auch deshalb nahe, weil sie grundsätzlich sehr darum bemüht ist, die Erwartungen ihres Mitarbeiters zu erfüllen: F (w): Also, weil das wäre für mich dann der interessante Punkt, wo kann ich das, eh, so dass Sie auch das Gefühl haben, ich weiß jetzt nicht, ob ich das, eh, schaffe, ja, aber dass Sie auch des Gefühl haben, ja, eh, die, die tut zumindest das, was sie in ihrer Position tun kann. (SU MA II)
Durch möglichst viel Transparenz in ihrer Arbeit versucht sie ihren Mitarbeitern zu zeigen, dass sie im Interesse der Einrichtung sehr rege ist, was aber häufig so klingt, als lege sie gegenüber ihren Mitarbeitern Rechenschaft ab. Mit dem Eingeständnis ihrer begrenzten Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit innerhalb der Organisation schwächt sie selbst auch ihre Position gegenüber ihren Mitarbeitern, denn es wird deutlich, dass sie die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter eben nicht befriedigen kann (vgl. Weibler 2003, 319f.). Mit Crozier und Friedberg (1993) betrachtet, erfährt die Führungskraft durch ihr Verhalten eine doppelte Schwächung: Nicht nur dass ihre „Wertigkeit“, also ihre Handlungsspielräume, noch nicht sehr groß ist, durch ihr Eingeständnis und ihr Bemühen um Transparenz legt sie ihren Mitarbeitern gegenüber auch noch offen, wie klein diese sind. Von einer Kontrolle über „Ungewissheitszonen“ (ebd., 56) kann also ebenfalls in zweifacher Hinsicht nicht mehr die Rede sein: Zum einen ist die Vorgesetzte durch die Offenlegung ihrer Spielräume berechenbar; die „Ungewissheit über die Kontrolle einer Ungewissheitszone“ (Fischer 2004, 92), die eine zusätzliche Ungewissheit für die Mitarbeiter und dadurch Zugewinn an Macht für die Vorgesetzte darstellen würde, geht verloren. Zum anderen speist sich Macht nach Friedberg auch daraus, dass ein Akteur eine Ungewissheitszone bzw. ein relevantes Problem für die Gruppe zu lösen vermag bzw. daraus, dass der Akteur diese Lösung den Betroffenen auch verweigern kann (vgl. Friedberg 1988, 42f.). Auch diese Möglichkeit hat die Vorgesetzte durch ihre Position in der Einrichtung nur begrenzt.
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7 Führung und Macht
7.1.3 Rollenfindung als Führungskraft 7.1.3.1
„dass ich immer noch der Mitarbeiter bin“
Eng verknüpft mit der Frage des richtigen Führungsstils und den Erwartungen der verschiedenen Seiten an die Führungskraft ist die Frage der Rollenfindung. Der Wunsch der Führungskräfte, kooperativ und nicht autoritär zu führen und den Mitarbeitern auf Augenhöhe zu begegnen, macht eine klare Abgrenzung der Leitungsposition von den Mitarbeitern schwer. Die Teams sind durch den Führungswechsel in Unruhe; in Abhängigkeit zur jeweiligen Führungskraft formieren sie sich auch untereinander neu. Es werden Handlungsspielräume frei und durch Aushandlungsprozesse bzw. durch An- oder Zuweisung durch die Führungskraft neu vergeben (vgl. Crozier/ Friedberg 1993, 53f.). Dies wird im Sozialunternehmen durch verschiedene organisationsspezifische Faktoren erschwert: Zum einen besteht der Eindruck, dass es im Sozialunternehmen oftmals keine klaren Stellenbeschreibungen gibt, so dass hier zur persönlichen Auseinandersetzung der Führungskraft mit sich selbst und der neuen Rolle („man is dann einfach schon ein Stück außen vor“ (SU FK II)) auch noch die notwendigen Aushandlungsprozesse mit Mitarbeitern oder den Stellvertretern kommen. Dadurch entsteht sowohl auf der pädagogisch-fachlichen Ebene als auch in Bezug auf die Interpretation und das Ausfüllen der Führungsrolle eine starke Abhängigkeit von den einzelnen Personen, die die verschiedenen Positionen in einer Einrichtung ausfüllen. Dies zeigt sich auch bei der Frage der stellvertretenden Leitung: M (w): […] weil ich ja selbst eigentlich nicht genau weiß, eh, die Aufgabe einer Vertretung. (2) Hört sich jetzt ein bisschen doof an, ne, aber, eh (beide lachen) ehm, ich habe ja nur das, die, diese Rolle, also so was ich selbst beim Dirk gemacht habe. (1) Ne. F (m): war seine Interpretation von Vertretung. M: (3) Ja, ich weiß, wie ich mich erlebt habe, oder was ich machen durfte, oder wie wenig ich wusste, aber ich weiß zum Beispiel nicht, was ist denn wirklich?, also, wie sieht es denn wirklich, was für eine Aufgabe hat denn nun wirklich eine Vertretung?, gibt es das irgendwo? F: MM, es gibt keine Stellenbeschreibung für Vertretungen, denn unsere Gruppensituationen sind so unterschiedlich, und die Menschen sind so unterschiedlich, dass, und das ist auch ein Handlungsfeld, es ist auch, eh, Gestaltungsspielraum, den Sie als Leitung haben, zu sagen, eh, ich delegiere folgende Aufgaben in diesem Umfang an diesen Menschen. Und dann gibt es Phasen, da bin ich nicht da, und dann brauch ich eine Vertretung. Und diese Vertretung, und da da, da muss man eben Klarheit schaffen, wenn Sie selbst die Klarheit nicht haben, ist auch klar, dass die Frau Wunder sie nicht haben kann, weil Sie ihr ja sagen müssen, was Sie von ihr wollen in der Zeit. (SU FK II)
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Diese Führungskraft muss nun nicht nur ihre Rolle neu definieren, sondern auch ihrer Vertretung Aufgaben zuteilen und die beiden Positionen klar voneinander abgrenzen. Dazu kann sie weder auf eine Stellenbeschreibung noch auf das von ihr selbst erfahrene Modell zurückgreifen, weil ihr eigener Führungsstil zu stark von dem ihres autoritären Vorgängers abweicht, um seine „Interpretation von Vertretung“ übernehmen zu können. Die Frage der Mitarbeiterin „was für eine Aufgabe hat denn nun wirklich eine Vertretung“ zeugt von der Annahme oder zumindest dem Wunsch, dass es eine objektive Stellenbeschreibung geben müsste, auf die sie gerne zurückgreifen würde. In manchen Fällen macht auch die unklare „Sandwich-Position“ der Koordinatoren, die aber trotz ihrer irreführenden Betitelung Einrichtungsleiter sind, zusätzliche Schwierigkeiten: F(w): Also, weil das wäre für mich dann der interessante Punkt, wo kann ich das, eh, so dass Sie auch das Gefühl haben, ich weiß jetzt nicht, ob ich das, eh, schaffe, ja, aber dass Sie auch das Gefühl haben, ja, eh, die, die tut zumindest das, was sie in ihrer Position kann, ja, weil Koordino-, Koordinatoren sind ja auch so M(m): Ich denk F: von ihrer Rolle her einfach auch so zwischendrin, ja, ich habe nicht wirklich das Sagen und habe es eigentlich doch, und da muss man ein bisschen jonglieren. (SU MA II)
Die im Sozialunternehmen übliche Stellenbezeichnung der Koordinatorin erschwert die Rollenfindung, weil hier auch auf formaler Ebene die Rolle der Führungskraft nicht eindeutig geklärt ist. Auch ein anderer Mitarbeiter, der als „Koordinator“ eine Einrichtung in der Jugendhilfe leitet, beklagt sich über diesen Umstand. Der Koordinatorenbegriff sei verwirrend für Eltern, Mitarbeiter und Ämter, er sage nichts über die Kompetenz aus und schwäche die Führungskraft innerhalb der Einrichtung und nach außen: „Und dann fühlt man sich da als jemand, der zwar die Arbeit machen soll, der aber nicht die Verantwortung übernehmen darf“ (SU FK I). Hier schwingt der Zweifel des Mitarbeiters mit, ob jemandem, der nach außen hin nicht offiziell die Verantwortung trägt, auch das Vertrauen entgegen gebracht werden kann, das als Grundlage für die Zusammenarbeit mit Mitarbeitern, Ämtern, Klienten und deren Angehörigen notwendig ist. Gleichzeitig wird deutlich, dass Verantwortung zu haben als wichtiges Merkmal einer Führungsposition wahrgenommen wird. Die zweite Ebene, die vermutlich anders als in Organisationen, in denen die Klienten keine Mitglieder der Organisation sind, sondern bspw. nur als Kunden an die Organisation herantreten, in den Rollenfindungsprozess hineinwirkt, ist die Ebene der Beziehung der Führungskraft zu den Klienten, die sich sowohl auf
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7 Führung und Macht
der persönlichen als auch auf der fachlich-pädagogischen Ebene verändert, wenn die neue Führungskraft aus dem eigenen Team kommt. Die Dynamik, die in einer Einrichtung durch personellen Wechsel entsteht, potenziert sich durch die Unruhe der Klienten, die auf den Führungswechsel emotional und mit ihrem gesamten Verhalten reagieren, wie das Beispiel der aufgeregten Kinder in der Einrichtung in der Jugendhilfe gezeigt hat. Durch den Führungswechsel werden zudem wieder Spielräume frei, die von den Mitarbeitern wie von den Klienten ausgetestet werden (vgl. Crozier/ Friedberg 1993, 54): M(w): […] Also ich denke, das ist für uns, also das ist auch für mich manchmal schwierig. Also ich, ehm, ertappe mich schon auch manchmal, dass ich immer noch der Mitarbeiter bin F(m): Mhm. M: den Leuten gegenüber und dann denke ich mir, na ja, gut, das kannst du nicht, jetzt bin ich fast fünfundzwanzig Jahre in diesem Haus, ich kann nicht innerhalb von fünf Monaten plötzlich, eh, diese Rolle absolut ausfüllen, und und darstellen, das geht nicht, also also, da würd ich mich selbst irgendwo F: Also, Sie sind es ja, ne. Sie sind die WBL. M: Ja. F: Ne, und es verlangt ja niemand von Ihnen, dass Sie jetzt den Stil von Herrn Lederer kopieren. M: Möchte ich auch nicht, das bin ich auch gar nicht. (SU FK II)
Den Klienten („Leuten“) gegenüber fühlt sich die neue Führungskraft nach wie vor als „Mitarbeiter“. Die Tatsache, dass der Führungsstil der Nachfolgerin stark von dem ihres Vorgängers abweicht, wie es oben der Fall ist, erschwert die Situation der Führungskraft zusätzlich. Der Titel allein („Sie sind es ja, ne. Sie sind die WBL“) reicht nicht, um die Rolle der Leitung auszufüllen. Denn „[d]ie Machtbeziehungen in einer Organisation stimmen […] nie genau mit den in der Formalstruktur festgelegten Autoritätsmustern überein“ (Friedberg, zitiert nach Fischer 2004, 96). „Die Bedeutung der Formalstruktur liegt […] vor allem in den Strategien, die durch sie attraktiv werden und mit denen die Akteure versuchen, die kodifizierten Spielregeln für ihre Zwecke einzusetzen, umzufunktionieren, zu unterlaufen oder zu manipulieren“ (Fischer 2004, 96). Erst im konkreten Aushandlungsprozess werden also die neuen Spielregeln und damit die tatsächliche Position der neuen Leitung definiert. Die Handlungsspielräume, die sich im obigen Beispiel für die Akteure eröffnen, sind umso größer, als die Lücke, die der autoritäre Stil des Vorgängers lässt, offensichtlich nur schwer durch den kooperativen Stil der neuen Leitung zu füllen ist. Neben dem formalen Punkt der fehlenden Stellenbeschreibungen und der irreführenden Stellenbezeichnungen sowie dem Einfluss der Klienten auf den Rollenfindungsprozess spielen als dritter Punkt auch fachliche Aspekte eine
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Rolle, über die sich die Führungskräfte mit ihren Mitarbeitern auseinandersetzen müssen: F(m): Da war ich zudem der Meinung, das war ja vorher dann noch, da war ich der Meinung, sage ich Ihnen jetzt einmal als Rückmeldung, da ist jetzt schon genug verstanden worden, wie ich arbeiten will, dass Sie da jetzt schon ein Stück mehr Vertrauen haben und also nicht befürchten müssen, dass ich, dass ich, ihre ihre, ihre Konsequenz, die möcht ich, wollte ich ja unterstützen, aber gleichzeitig sagen, bitte aber schauen Sie auch auf die Haltung, auf die Achtung, auf die Art und Weise. Konsequent ja, aber immer mit Verständnis, mit Liebe, mit langem Atem und so weiter, eh, des war aber noch zu wenig. (SU MA VI)
Pädagogische Prozesse sind nur schwer in einen formalen Rahmen zu pressen. Das nicht zuletzt von Luhmann und Schorr (1988, 130) identifizierte „Technologiedefizit“ führt dazu, dass Pädagogen „in strukturell ungewissen Kontexten unter Handlungs- und Entscheidungsdruck [stehen], bei gleichzeitig bestehender Begründungs- und Legitimationsverpflichtung“ (Helsper 2002, 19). Alltägliche Abläufe und die Frage, „wie“ gearbeitet wird („wie ich arbeiten will“), sind diskutabel und müssen erst durch Aushandlungsprozesse zwischen den Beteiligten geklärt werden. Dies gilt auch für Kompetenzen, Zuständigkeit und Verantwortung, die nicht so stark geregelt sind und sich auch nicht so stark regeln lassen, und die sich erst durch den Nachweis der fachlichen Kompetenz legitimieren müssen. Insgesamt geht es also darum, für „Klarheit“ bzw. klare Verhältnisse zu sorgen – eine Klarheit, die durch die formalen Strukturen des Sozialunternehmens nicht automatisch gegeben ist.
7.1.3.2
„du musst dir nicht viel Hoffnungen machen, weil, da gibt es ja nicht viel zu erfahren“
Anknüpfend an das Beispiel der Definition der stellvertretenden Leitung soll im Folgenden anhand von zwei Ausschnitten aus einem Gespräch mit einer neuen Führungskraft auf den Zusammenhang von Führungsstil, Macht und der Ermöglichung von Lernprozessen eingegangen werden: F (m): Haben Sie denn zu irgendeinem Zeitpunkt mit der Frau Wunder einmal so ein Gespräch geführt über die Rolle der Vertretung und was dann dazu gehört, und wie Sie sich das wünschen, wie Sie sich das vorstellen? M (w): Eh, das hatten wir geführt, am Anfang, ganz am Anfang (2) wobei (hustet) ich gesagt habe, sie soll sich da nicht so viel erwarten, dass ich mir vorstelle, eh, wie ich als Vertretung, ich wusste eigentlich gar nichts, ich bin eigentlich immer ins kalte Wasser geworfen worden. Und ich denke, nachdem ich sowieso offener arbeite als der Dirk, weil ich immer denke, eh,
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7 Führung und Macht Mitarbeiter sind motivierter, wenn sie Schritte nachvollziehen können. Man muss nicht alles wissen, aber in vielen Sachen, denke ich mir, ist es einfacher zu arbeiten, wenn ich weiß, warum ich so arbeiten muss. Ja, also bin ich sowieso viel offener im Umgang mit den Mitarbeitern, als der Dirk jemals war. Also von daher kann ich, muss ich ja auch nicht viel weitergeben, weil ja sowieso ein offener, offenes Arbeiten ist. F: Hm, aber das, irgendwie steckt da ja ein Widerspruch drin, wenn Sie sagen, darfst da nicht so viel, Sie haben beim Herrn Lederer wenig erfahren, M: Hm. F: weil er das ja ein bisschen mehr so, Wissen ist Macht, sage ich jetzt einmal so. Sie arbeiten offener M: Mhm. F: und sagen dann zu Ihrer Vertretung, du musst dir nicht viel Hoffnungen machen, weil, da gibt es ja nicht viel zu erfahren. […] F (m): Ne, und es verlangt ja niemand von Ihnen, dass Sie jetzt den Stil von Herrn Lederer kopieren. M (w): Möchte ich auch nicht, das bin ich auch gar nicht. F: Nein Weil die die Reichweite von seinem Stil, die, ich meine, die hat ihre Vorteile, er kann sich relativ schnell Luft verschaffen, aber das hängt dann rein an ihm. Ne, das ist ja, eh, dann muss halt der Herr Lederer kommen und ein Brett verteilen, ne. Das ist ja immer das, also das zentriert zwar die Macht sozusagen, aber ist ja nicht unbedingt das was einen Teamentwicklungsprozess (3) fördert. M:Ja. (SU FK II)
Die Führungskraft beschreibt im Gespräch immer wieder die Schwierigkeit, in ihre Rolle als Wohnbereichsleiterin hineinzuwachsen. Dabei verwehrt sie sich an mehreren Stellen explizit dagegen, an den Stil ihres autoritären Vorgängers anzuknüpfen. Sie will einen offeneren, kooperativeren Stil pflegen als er; in der Zusammenarbeit mit ihrer Stellvertreterin verfällt sie aber in ganz ähnliche Muster: Die Stellvertreterin wird nicht als Partnerin wahrgenommen, die gezielt aufgebaut wird, indem man sie an Prozessen beteiligt. Da sie selbst als Stellvertreterin von ihrem Vorgesetzten nichts über die Führungsaufgaben oder ihre Aufgaben als Stellvertreterin erfahren hat, geht sie auch davon aus, dass das Wenige, was es zu erfahren gibt, durch ihr offeneres Arbeiten ausreichend deutlich wird. Tatsächlich bleibt so aber ungeklärt, wofür die Stellvertreterin eigentlich zuständig ist. Immer wieder kommt es zu Konflikten zwischen der neuen Leiterin und ihrer Vertretung, weil diese sich nicht gemäß den Erwartungen ihrer Chefin verhält. Sie wurde jedoch nie konkret über ihre Vertretungsaufgaben informiert. Es ist fraglich, wie viel ihrer Kompetenz die Leiterin tatsächlich an ihre Stellvertreterin abgeben möchte, da sie ihr doch von vornherein klar sagt, sie habe von der Vertretungsposition nicht viel zu erwarten. Möglicherweise findet hier eine unbewusste Orientierung daran statt, wie sie sich selbst in ihrer Rolle als Stellvertreterin ihres Vorgängers bzw. wie sie ihren Vorgänger als Führungs-
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person erlebt hat. Dies ist durch mimetische Lernprozesse zu erklären, in denen „vorgängige soziale Handlungen noch einmal gemacht werden“ (Wulf 2007, 97). Es findet eine „mimetische Bezugnahme“ (ebd.) auf das Verhalten des Vorgängers statt. Das persönlich Erlebte hat so eine gewisse Modellfunktion, dem etwas Eigenes hinzugefügt wird (vgl. ebd., 96), denn obwohl sie feststellt, „ich wusste eigentlich gar nichts“, und der Meinung ist, dass die Mitarbeiter motivierter sind, wenn sie bestimmte Schritte nachvollziehen können, lässt sie ihrer Vertreterin mit der Begründung, sie selbst würde ohnehin viel „offener“ arbeiten, keine aktive Unterstützung zukommen. Obwohl sich die Führungskraft bewusst gegen den Stil ihres Vorgängers entscheidet, hatte sie doch nach langen Jahren in der Einrichtung unter diesem Vorgesetzten kein anderes Vorbild als ihn und damit keine andere Möglichkeit, praktisches Wissen für ihre neuen Führungsaufgaben zu erwerben (vgl. Wulf 2007, 97). Dieses praktische Wissen liegt zunächst nicht reflektiert und bewusst vor. Reflektiert wird es notgedrungen erst jetzt durch den Konflikt, der zwischen der neuen Führungskraft und ihrer Stellvertreterin entstanden ist und durch den „die aus ihm [dem praktischen Wissen] entstehenden Handlungen einer Begründung bedürfen“ (ebd.), als der Vorgesetzte die Mitarbeiterin auf den Widerspruch in ihrer Argumentation aufmerksam macht („irgendwie steckt da ja ein Widerspruch drin“). Die Situation der neuen Leiterin wird dadurch zusätzlich erschwert, dass der Führungsstil des Vorgängers zwar durchaus kritisch betrachtet wurde, aber, wie an anderer Stelle im Gespräch deutlich wird, von den Mitarbeitern gerade durch sein autoritäres Auftreten als entlastender wahrgenommen wurde, weil man sich „hinter diesem Rücken auch gut verstecken“ (SU FK II) konnte. Sein Stil wird als geeignet beschrieben, wenn man sich einmal „relativ schnell Luft verschaffen“ muss, und eben dies geschieht, wie die Leiterin ihrem Vorgesetzten kleinlaut erzählt, bei einem Streit zwischen ihr und ihrer Stellvertreterin, bei dem sie selbst sehr laut wird und mit Türen knallt: „Ja, ich habe gebrüllt und mit Türen geschlagen. Das kann mir schon auch mal passieren. Also ich bin, in mir steckt auch manchmal ein kleiner Lederer, (lachend) so ein ganz kleiner“ (SU FK II). Sie verfällt damit also auch hier wieder ungewollt in die Verhaltensmuster ihres Vorgängers. Während der kooperative Führungsstil im Idealfall also die Gründe für Entscheidungen offen legt bzw. die Mitarbeiter so weit wie möglich an Entscheidungsprozessen beteiligt, „zentriert“ der autoritäre Stil die Macht, weil Wissen und Informationen nicht weitergegeben werden und damit die Kompetenz, Entscheidungen zu treffen, ausschließlich bei der Leitungsperson liegt. Auch dies stellt wiederum einen Beleg für die Annahmen Croziers und Friedbergs (1993,
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7 Führung und Macht
51ff) zu den vier Hauptquellen von Macht dar und hat gleichzeitig Auswirkungen auf Lernprozesse in der Organisation: So hat der autoritäre Stil des ehemaligen Leiters ganz offensichtlich verhindert, dass sich seine Mitarbeiterin als Stellvertreterin weiterentwickeln konnte.12 Dies zeigt sich auch darin, dass sie zu dem Zeitpunkt, als sie ihre Position als Leitung der Einrichtung antritt, keinerlei Computerkenntnisse hat und die ganzen „hoheitlichen Aufgaben“ (SU FK II) wie Budgetplanung und Dienstplangestaltung nicht selbst ausführen kann. Auch rechtliche Fragen sind für die neue Leiterin weitestgehend neu: M (w): das ist etwas, muss ich wirklich sagen, ehm, da habe ich noch keine Ahnung oder kaum Ahnung, ich lasse mir das manchmal erklären, oder dass ich überhaupt Bescheid weiß, um was es geht, aber ich bin nicht das ausführende Organ, ich mache es nicht, weil ich, eh, im Moment einfach noch so viele anderen alltäglichen Sachen habe, eh, wo ich mit Fragezeichen da stehe, wo jetzt einfach in den letzten Monaten immer wieder Sachen dazugekommen sind, [unverständlich] die ich einfach noch nie gemacht habe, Probewohnen, Abbruch, und das, und das, und das, ja, wo ich einfach immer wieder mit neuen Sachen konfrontiert werde und dann das einfach hinten ansteht. Und ich denke, dazu brauche ich auch wieder PC-Kenntnisse, die ich einfach noch nicht habe. (SU FK II)
Der vorhergehende Leiter hat also über Jahre hinweg all diese „hoheitlichen Aufgaben“ selbst ausgeführt und seine Stellvertreterin kaum in Führungsaufgaben eingebunden. Damit bleibt all das nötige Wissen über tägliche Routinen bei ihm. Den „Gestaltungsspielraum“ einer Führungskraft hat er genutzt, um Macht zu „zentrieren“ bzw. seine Machtposition auszubauen. Aber auch oder gerade ein kooperativer oder partizipativer Führungsstil kommt ohne Klarheit über Rollen, Kompetenzen und Zuständigkeiten nicht aus. Ohne diese Klarheit bleiben zu viele Handlungsspielräume den Machtspielen der Akteure überlassen (vgl. Crozier/ Friedberg 1993, 68). Spielräume, die durch den kooperativen Führungsstil vorhanden sind, können nicht genutzt werden, um einzelne Mitarbeiter oder die Einrichtung weiterzuentwickeln, sondern fallen Aushandlungsprozessen um Macht und Einfluss in der Einrichtung zum Opfer. Dadurch herrscht nicht genügend Stabilität als Basis für die Lern- und Entwicklungsprozesse der Mitarbeiter. Die Antwort auf die Frage der Führungskraft, ob sie „wirklich autoritärer auftreten müsste“ (SU FK II), sollte also lauten: nicht autoritärer, aber klarer und entschiedener. Diesen Anspruch mit dem Bild des
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Bei aller Transparenz, die ein kooperativer Führungsstil mit sich bringen mag, bliebt die Frage, ob dadurch gezielte Vermittlungsprozesse, ein aktives „[W]eitergeben“ von Informationen durch die Führungskraft, aber auch von den Mitarbeitern untereinander, ersetzt werden können (s. Kap. 10).
7.1 Sozialunternehmen
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kooperativen Führungsstils zusammenzubringen scheint vielen Führungskräften Schwierigkeiten zu bereiten.
7.1.3.3
„Ein Problem ist es eben, wenn Sie Sachen delegiert haben, weil Sie es nicht selbst können“
Die bereits erwähnten „hoheitlichen Aufgaben“ dienen als „klassisches [Führungs-]Instrument“ (SU FK II). Dienstplangestaltung und Budgetplanung sind sozusagen Insignien der Macht, weil mit ihnen Spielräume und Kompetenzen bestimmt und Abläufe geregelt werden können. Diese Insignien können delegiert werden, „um dem anderen zu zeigen, wie wichtig er ist“ (SU FK II). Entscheidend hierbei ist aber, dass die Führungskraft nicht nur formal im Besitz dieser Kompetenzen sein muss, um sie delegieren zu können, sondern sie muss die Aufgaben grundsätzlich auch „beherrschen und selbst machen können“: F (m): […] weil das hängt auch, also das ist ein wesentlicher Punkt, wo Sie als Wohnbereichsleitung wahrgenommen werden, ne, in welchem Umfang […] Sie diese Materie beherrschen und selbst machen können. Sie delegieren dann von einer andern Position aus. M(w): Das ist richtig, weil ich denke, das ist auch, eh, rausgekommen gestern, ehm, (2) dass der Dirk doch in manchen Sachen, sag ich mal, entlastender war. So, eh, also so haben die das irgendwie gestern formuliert. Wobei ich, eh, denke, dass das alles noch in Verbindung mit der Frau Wunder stand, (3) also ich hatte das Gefühl gestern, dass man mir sagt, dass ich irgendwie zu wenig tue, dass man zu viel von mir übernehmen muss, wobei ich jetzt nicht nachgefragt habe, was das ist, das war auch nicht irgendwo das Thema, oder ich weiß noch nicht, ob das einfach, eh, eh, ein Teil war, die Frau Wunder so zu unterstützen, oder (3) also ich hab gestern so das erste Mal so vernommen, wo ich dann einfach für mich so mal wirken lassen muss, was, was war das?, oder was ist das? F: Ein Problem ist es eben, wenn Sie Sachen delegiert haben, weil Sie es nicht selbst können. M: Gut, und das wissen die, ich meine, das mit den, mit der Kasse, das weiß die Frau Wunder, das ist ganz klar, und das mit dem Dienstplan, ich meine, das wissen die seit Jahren, das ist nichts neues. Ne, aber ich meine, F: Ja, aber wenn Sie die Aufgabe können, dann können Sie das auch selbst machen und delegieren es dann. M: Das ist was anderes, natürlich. F: Dann ist das anders, dann haben die Mitarbeiter das Gefühl, sie werden aufgewertet, so haben sie das Gefühl, sie machen Ihre Arbeit und unsere Arbeit haben wir ja auch noch. (SU FK II)
Die Führungskraft wird nur als solche wahrgenommen und akzeptiert, wenn sie auch über die entsprechenden Kompetenzen verfügt, wenn sie in der Lage ist, die ihr übertragenen „Machtinstrumente“ auch einzusetzen, und über mindestens ebenso viel Wissen verfügt wie ihre Mitarbeiter. Ansonsten kann sie sich in ihrer
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7 Führung und Macht
Position nicht legitimieren. Die Mitarbeiter erwarten bei aller Eigenverantwortung, die sie zu übernehmen bereit sind, dass die Führungskraft prinzipiell entlastend wirkt und bestimmte Entscheidungen und bestimmte Aufgaben übernimmt, die der Führungsposition zugeordnet werden. Nur dann kann das Delegieren von Aufgaben als Aufwertung und nicht als zusätzliche Belastung empfunden werden.13 Der Vorgesetzte der neuen Wohnbereichsleitung drängt seine Mitarbeiterin deshalb zu Recht, sich einen „Fahrplan“ (SU FK II) zu machen und so schnell wie möglich die nötigen Kompetenzen zu erwerben, um die „hoheitlichen Aufgaben“ selbst ausführen zu können und damit ihre Position in der Einrichtung zu stärken. Delegieren kann für die Mitarbeiter „bildende Momente entfalten“ (Lehner 2001, 147). Dies setzt aber eben nicht nur bestimmte Gegebenheiten und Kompetenzen beim Mitarbeiter voraus, sondern auch bei der delegierenden Führungskraft selbst. Umgekehrt kann es unter bestimmten Voraussetzungen von der Führungskraft selbst zunächst als Schwächung erlebt werden, Aufgaben abzugeben. Eine Führungskraft beschreibt im Gespräch mit seiner Vorgesetzten, wie es ihm ging: M (m): Also Schwerpunkt war mal diese Dreierkonstellation zu, so zu gliedern (lacht), dass es für mich, eh, eine gute Einteilung wird. Also diese Gliederung Menninghaus, Weigel, Seefeld. Dadurch dass ich eh, diese Aufgabenteilung bekommen habe, ist das natürlich erst mal ein Zugeständnis, das du machen musst. Du gibst einen Bereich ab, das wird niemandem Freude machen. Aber, wenn man dann natürlich das Ergebnis sieht, dass man trotzdem, eh, Vorgesetzter bleibt, obwohl man was abgibt, weil man die, die Ergebnisse dann von diesem Mitarbeiter einfach einfordert, dann ist das eigentlich eine gute Sache. Aber ich habe das am Anfang nicht so gesehen, ich habe das mehr so als, naja, du machst jetzt das, du machst das, du machst das, und ich bin dann schon nach Hause und habe gedacht, du bist ja jetzt eigentlich nicht mehr Küchenleiter, wenn du, wenn du gesagt bekommst, du hast das zu machen, aus, vorbei. Da kann zwar viel auf dem Papier stehen, als Küchenleiter, aber du bist es nicht mehr. Und das, daran habe ich halt gearbeitet. Und das war für mich schon ein Schwerpunkt, diese Position zu festigen, und ich glaube auch, das ist mir gelungen, und, eh, ja fachlich (SU FK IV)
Die Entscheidung, Bereiche abzugeben, kam hier nicht vom Küchenleiter selbst, sondern wurde von der hauswirtschaftlichen Leitung und dem Bereichsleiter 13
Dieser konkrete Fall wird dadurch erschwert, dass der Vorgänger vor seinem plötzlichen Weggang noch Verwaltungsaufgaben an andere Mitarbeiterinnen delegiert hat – nicht an seine Stellvertreterin, die jetzige Leitung. Diese Mitarbeiterinnen haben diese Aufgaben immer noch, sie haben sie aber nicht von ihrer neuen Chefin erhalten. Die Möglichkeit, durch die Delegation von Aufgaben den Mitarbeitern, als eine Form der Wertschätzung ihrer Arbeit, Verantwortung zu übertragen, kann von der neuen Leitung nun nicht mehr genutzt werden; im Gegenteil, die delegierten Aufgaben und die dadurch veränderten Positionen ihrer Mitarbeiterinnen innerhalb der Einrichtung erschweren der neuen Leitung den Rollenfindungsprozess bzw. schüren Rollenkonflikte.
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getroffen, weil der Küchenleiter offensichtlich überlastet und die Arbeitsergebnisse nicht mehr zufriedenstellend waren. Für den Küchenleiter war dies problematisch, weil er sich durch die Aufgabendelegation in seiner Position als Leiter in Frage gestellt sah. Er beschreibt es als mühseligen Lernprozess, Verantwortung und Kontrolle vorübergehend abzugeben und sich aus laufenden Prozessen herauszuhalten: M (m): Und, ja, das war, also Schwerpunkt für mich und war eigentlich dieses, diese Aufgabendelegation an die Mitarbeiter. Sich auch bewusst zu machen, wer was macht, auch, ich musste auch lernen, eh, nicht nachzufragen, hast du das schon gemacht?, oder ist das schon gemacht? Sondern für mich war dann eigentlich wichtig, zu wissen, an dem und dem Tag bekomme ich das, und wenn ich es dann nicht habe, dann nachzufragen, warum. Aber nicht immer wieder, wie man das so macht, hast du schon angefangen? Oder, oder immer wieder einmischen, das musste ich lernen. Aber mittlerweile weiß ich das, und ich habe eigentlich auch kein Problem mehr damit, wenn Sie mich fragen, eh, wie weit ist das und das?, sag ich, es tut mir leid, da muss ich die Frau Weigel fragen. Habe ich kein Problem mehr damit und sag mir, gut das ist so, ich muss nicht alles wissen. (SU FK IV)
So lange die Führungskraft noch unsicher in ihrer Rolle und mit ihren Aufgaben ist, kann das Abgeben von Aufgaben (zumal wenn es von oben verordnet wird) als Verunsicherung und Schwächung der eigenen Position erlebt werden. Eine sinnvolle Delegation von Aufgaben kann erst dann stattfinden, wenn Klarheit über die Kompetenzen und Rollen in einer Einrichtung besteht. Von einem Vorgesetzten wird bis dahin folgende Vorgehensweise vorgeschlagen: F(m): also sozusagen ist ja eine, wenn man irgendwo neu hingeht, eine Strategie ist ja, alles geht erst einmal über meinen Tisch, alles, es geht nichts raus, es werden keine Verabredungen getroffen, ohne dass ich nicht darüber Bescheid weiß, beziehungsweise ohne dass ich sie nicht genehmigt habe. Zentralistisch erst einmal. Dann bekommen Sie am schnellsten den Überblick, und wenn Sie den Überblick haben und wissen, was passiert und wer mit welchen Leuten Verabredungen trifft, (1) falsch, falsch gesagt, Sie entscheiden, wer mit wem Verabredungen trifft […] dann delegieren Sie, wenn Sie dann wissen, was los ist. (SU FK II)
Um in die neue Rolle hineinzuwachsen, kann also erst einmal eine „zentralistische“ Vorgehensweise nötig sein, damit die Führungskraft über alle Vorgänge in der Einrichtung „im Bilde“ (SU FK II) ist und dadurch gleichzeitig die „Handlungsspielräume“ (SU FK II) der Mitarbeiter eingrenzt. Dadurch werden die Machtverhältnisse in der Einrichtung zunächst einmal stark zentriert, bis die Führungskraft so sicher in ihrer Position ist, dass sie die Zügel wieder lockerer lassen und Verantwortung delegieren kann.
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Das Beispiel der Delegation zeigt, dass formale Strukturen im Sozialunternehmen einen eher geringen Stellenwert haben: Was schriftlich festgelegt ist, hat für die Einzelnen in der Organisation zunächst nur begrenzten Wert und begrenzte Gültigkeit („Da kann zwar viel auf dem Papier stehen, […], aber du bist es nicht mehr“). Entscheidend für das eigene Selbstverständnis, für die Autorität eines Vorgesetzten oder den Einfluss einer Führungsperson ist, ob das, was auf dem Papier steht, einen realen Gegenwert hat. Dies kann, wie die oben genannten Beispiele zeigen, die tatsächlich vorhandene Kompetenz bzw. das tatsächlich vorhandene Fachwissen sein oder die persönliche Erfahrung in der täglichen Interaktion mit den Mitarbeitern, etwa ob man inzwischen wirklich als Küchenoder Wohnbereichsleiter wahrgenommen wird. Auch diese Beobachtung erklärt der Ansatz von Crozier und Friedberg besser als andere Ansätze zur Macht in Organisationen: Während bei Weber Macht auch einfach auf der Androhung von Sanktionen bedingt durch die formale Position des Machthabers beruhen kann, zeigen Crozier und Friedberg, „dass der Machthaber ein Problem für den Machtunterworfenen lösen muss, um dann durch die Drohung mit einem Entzug der Problemlösung Macht zu generieren“ (Fischer 2004, 93). Im Zusammenhang mit dem oben genannten Beispiel könnte ergänzt werden, dass die Vorgesetzte das Problem zumindest lösen „können“ bzw. die Aufgaben, die sie delegiert hat, selbst ausführen können müsste, um ihre formale Machtposition nicht zu schwächen. Ein weiterer Aspekt der Delegation liegt in der ursprünglichen lateinischen Bedeutung des Verbs ‚delegare‘, die Stierlin (1988) aufzeigt, nämlich 1. aussenden und 2. mit einer Mission betrauen. „Letzteres besagt, daß der Delegierte zwar fortgeschickt wird, aber dem Sender verpflichtet bleibt. Das ist nur möglich auf der Grundlage einer starken, obwohl oft unsichtbaren und selektiven Loyalität“ (ebd., 24). Es geht hier also um eine Dimension des persönlichen Vertrauens und der persönlichen Verpflichtung, die jenseits klarer Rollenbeschreibungen auf einer eher persönlichen Ebene liegt (vgl. ebd., 27). Im ersten Fall der neuen Leiterin muss sich diese die Loyalität ihrer Mitarbeiterinnen erst noch erarbeiten. Obwohl sie als Führungskraft aus den eigenen Reihen der Einrichtung kommt, kann sie deshalb nicht zwangsläufig mit der uneingeschränkten Unterstützung ihrer ehemaligen Kolleginnen rechnen, denn sie wird im Moment eher als eine zusätzliche Belastung wahrgenommen: Zum einen ist sie gezwungen, Aufgaben an ihre Mitarbeiter abzugeben, weil sie sie selbst nicht beherrscht; zum anderen war ihr Vorgänger durch sein autoritäres Auftreten den Klienten gegenüber für die Mitarbeiter auch entlastender.
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Der Fall des Küchenleiters zeigt, dass dieses Vertrauen erst in einem beiderseitigen Lernprozess entstehen muss: Er musste zunächst lernen, bei seinen Mitarbeiterinnen „nicht nachzufragen, hast du das schon gemacht?“, und im Gegenzug auch seiner Vorgesetzten zu vertrauen, dass ihm keine negativen Konsequenzen drohen, wenn er über einen delegierten Vorgang nicht genau informiert ist („gut das ist so, ich muss nicht alles wissen“).
7.1.4 Machtvolle Muster 7.1.4.1
„Das muss nicht alles über mich laufen, sondern dass das einfach auch untereinander läuft.“
Grundsätzlich sind größere Handlungsspielräume in einer Organisation, in der mit bzw. am Menschen gearbeitet wird, unverzichtbar. Die Mitarbeiter agieren im pädagogischen Bereich an vielen Stellen eigenverantwortlich mit den Klienten. Gerade weil pädagogische Prozesse nicht standardisiert werden können, müssen die Mitarbeiter oft ad hoc aus spezifischen Situationen heraus Entscheidungen treffen, ohne auf allgemeine, vorgefertigte und schriftlich niedergelegte Prozesse zurückgreifen zu können. Eine pädagogische Führungskraft kann also gar nicht alles kontrollieren wollen, wenn sie möchte, dass ihr Bereich gut funktioniert. Verantwortung abgeben zu können, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass pädagogisches Arbeiten stattfinden kann. So gesehen ist ein partizipativer Führungsstil nur naheliegend: F (w): […] Und vieles läuft einfach auch schon unter- untereinander, wo man einfach sagt, da hole ich mir den dazu, und so wünsche ich es mir eigentlich auch. Das muss nicht alles über mich laufen, sondern dass das einfach auch untereinander läuft. Ich sehe meine Aufgabe erst einmal eher in der Zuordnung dann auch oder in der Aufnahme. Und dann einfach zu sagen, wer übernimmt welches Kind? auch, aber dann eigentlich auch, dass man sich Unterstützung gegenseitig dann auch holt, und ich denke, das ist nicht notwendig, dass das über mich läuft, sondern das soll eigentlich im Austausch im Team laufen, und ich habe den Eindruck, dass das läuft, manchmal besser, manchmal (2) könnte es noch mehr laufen, M (w): also ich habe jetzt noch nie, ich habe jetzt noch nie bemerkt, dass es nicht geklappt hat, ich denke, das ist halt auch eigenverantwortlich, wer das macht (SU MA I)
Der Mitarbeiterin ist es sehr wichtig, umgehend zu betonen, dass die eigenverantwortliche Gestaltung des Arbeitsbereiches gut funktioniert. Mehr Einwirkung durch die Vorgesetzte ist sowohl von Seiten der Leitung als auch von Seiten der Mitarbeiter nicht gewünscht. Nach der Aufnahme und fachlichen Zuordnung der
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Klienten zu den Schwerpunkten der verschiedenen Mitarbeiter durch die Leitung sollen sich die Teammitglieder untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen. Die Leiterin kontrolliert von da an die Prozesse nicht mehr und lässt ihre Mitarbeiter eigenverantwortlich arbeiten. Durch dieses Abgeben von Kontrolle durch die Leiterin bzw. das Übertragen von Verantwortung an das Team erhalten die Mitarbeiter Handlungsspielräume, die sie für die Abstimmung untereinander nutzen können. Sie ziehen sich gegenseitig zu Fällen hinzu, fragen einander um Rat und können so voneinander lernen und ihr spezifisches Fachwissen untereinander austauschen.
7.1.4.2
„ich werde hier immer neu bleiben, wenn ich zehn Jahre da bin, dann sind andere schon vierzig Jahre da“
Viele der oben genannten Beispiele geben Hinweise auf den Umgang mit formalen Regelungen und Strukturen innerhalb des Sozialunternehmens, sei es nun im Zusammenhang mit dem Führungsstil oder im Zusammenhang mit der Rollenfindung als neue Führungskraft. Vieles wirkt, als ob es keine formalen Regelungen dafür gäbe. Oft hat man den Eindruck, bestimmte Prozesse oder Stellenbeschreibungen müssten klarer gefasst sein, um Konflikte und langwierige Aushandlungsprozesse zu vermeiden. Tatsächlich ist es aber so, dass es für die meisten Stellen Stellenbeschreibungen gibt und man im Zuge der Einführung eines Qualitätssystems einige Jahren zuvor für viele Abläufe, so weit möglich, standardisierte Prozesse angelegt hat. Aber neben dem, was formal festgelegt und schriftlich fixiert ist, wirken auch andere Machtmechanismen; dies zeigt ein Gespräch zwischen der neuen Leiterin einer Förderstätte und ihrem Mitarbeiter: M (m): dass ich manchmal auch so den Eindruck habe, dass ich Sie vielleicht manchmal, ich weiß nicht, einfach zu, ja, dass die andern dann sagen, die Chefs mehr oder weniger, ja, machen wir schon, machen wir schon, und das dann irgendwo wieder unter den Tisch gekehrt ist, dass das dann nicht von Ihrer Seite her sondern von, Sie haben ja den Arbeitsauftrag weitergegeben, aber dass letztendlich dann an anderer Stelle die Wertigkeit, Ihre Wertigkeit einfach noch nicht so da ist, wie jetzt zum Beispiel die anderer Personen, F: Das ist völlig klar, das wird hier auch klar M: die jetzt zwanzig oder dreißig Jahre hier tätig sind, die das dann letztlich unter den Tisch kehren. F: Ja ja. M: Ich mein, das haben wir ja letztendlich, für mich war wieder so ein, so ein Beweisstück, mit dieser Rinne, die jetzt endlich, endlich behoben ist, wo Sie dann einfach nochmal Nachdruck gegeben haben und gesagt haben, also was ist jetzt da los?, das haben wir schon mehrmals angemahnt und so weiter, F: Mhm.
7.1 Sozialunternehmen
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M: das ist für mich wieder einfach typisch, der Ober sticht den Unter, das ist einfach so. F: Ja ja. Also, es, es freut mich, dass Sie, eh, das so sehen, und, ehm, ich bekomme ja auch selten Lob, ja, […] F: und ich weiß auch, dass ich das tue, und ich weiß auch, dass man als Neue, eh, ich werde hier immer neu bleiben, wenn ich zehn Jahre da bin, dann sind andere schon vierzig Jahre da, und die werden dann auch immer diese Wertigkeit oder immer diese Stellen noch eher finden, ja. Aber, zum Beispiel der, um den es da ging (lacht), der hat auch gesagt, Sie bekommen das jetzt nur deshalb wieder durch, weil Sie so hartnäckig sind. (SU MA II)
Hier wird einerseits die Bedeutung der vierten von Crozier und Friedberg (1993, 53f.) beschriebenen Machtquelle deutlich, nämlich die Kenntnis und das sich Zunutze machen organisatorischer Regeln und Verfahren („die werden dann auch […] immer diese Stellen noch eher finden“, „die das dann letztlich unter den Tisch kehren“) durch die langjährige Zugehörigkeit zur Organisation („die jetzt zwanzig oder dreißig Jahre hier tätig sind“). Was aber vor allem deutlich wird: Weder die Qualifikation eines Mitarbeiters oder einer Führungskraft noch die Position innerhalb der formalen Struktur der Organisation geben für sich alleine eine Garantie auf den Einfluss bzw. auf die Macht, die eine Person in der Organisation hat. Es spielen nicht nur individuelle Kompetenzen eine Rolle, sondern auch bestimmte, oft informelle, Muster, die in der Organisation vorherrschen und die formale Strukturen und Regelungen überformen können. Die Macht dieser alten Muster – dass sich derjenige in der Einrichtung durchsetzt, der schon am längsten da ist („die Chefs mehr oder weniger“, aber eben nicht nur; „ich werd hier immer neu bleiben, wenn ich zehn Jahre da bin, dann sind andere schon vierzig Jahre da“), oder derjenige, der „nochmal Nachdruck“ gibt – ist größer als die Macht des Einzelnen durch seine Qualifikation bzw. seine Position in der Hierarchie der Einrichtung. Aus der Perspektive der Typologie der Machtressourcen der Sozialpsychologen French und Raven betrachtet, wirkt hier „legitimate power“ (vgl. Neuberger 1995, 133), Macht also, die sich aus den internalisierten Werten der Organisation speist und darüber bestimmten Personen unabhängig von ihrer Position („reward“ oder „coercive power“) und ihrer Qualifikation („expert power“) ein legitimes Einflussrecht einräumt. Dies kann sich auch auf den Bereich der Organisation auswirken, dem die betroffene Person, in diesem Fall die oben beschriebene Leiterin der Förderstätte, vorsteht. Der Mitarbeiter fährt fort: M (m): Jetzt kommen wir vielleicht gleich zu dem Punkt (verlegen lachend) eh, einfach den Stellenwert der Förderstätte insgesamt, der ist meines Erachtens viel zu gering. (SU MA II)
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7 Führung und Macht
Vor allem das Verhältnis zum Wohnbereich innerhalb der Einrichtung ist sehr gespannt. Immer wieder entstehen Konflikte unter den Mitarbeitern. Man fühlt sich in der Förderstätte von den Wohngruppen nicht für voll genommen und bevormundet. „Jetzt diktieren die Wohngruppen uns, was wir tun sollen“ (SU MA II), bringt die Leiterin der Förderstätte die Wahrnehmung ihrer Mitarbeiter etwas provokativ auf den Punkt. Der Mitarbeiter möchte, durch einen Arbeitskreis, der „die Arbeit der Förderstätte herauskehrt“ (SU MA II), sowohl gegenüber den Eltern als auch gegenüber der Einrichtungsleitung und dem Wohnbereich deutlich machen, dass in der Förderstätte gute und wertvolle Arbeit geleistet wird. Dies kann als ein Versuch verstanden werden, durch das Darstellen von Kompetenz und Professionalität nach außen, die Macht und das Durchsetzungsvermögen seiner Vorgesetzten und dadurch den Einfluss des Bereichs Förderstätte innerhalb der Gesamteinrichtung zu erhöhen (bspw. um bauliche Maßnahmen durchsetzen zu können, die das Arbeiten in den Fördergruppen erleichtern würden). Die bisher unternommenen Versuche, das Ansehen der Förderstätte zu verbessern, werden von den Alteingesessenen, die den anderen Bereichen vorstehen, jedoch sozusagen mit Macht ignoriert. Unmissverständlich im Hinblick darauf, dass es klare Machtverhältnisse im Sozialunternehmen gibt, ist die Aussage des Mitarbeiters: „das ist für mich wieder einmal typisch, der Ober sticht den Unter, das ist einfach so“ (SU MA II). Diese Typisierung gibt Hinweise auf eine ausgeprägte Hierarchie in der Organisation oder spricht zumindest von einer deutlich empfundenen Trennung zwischen Oben und Unten und von der Überlegenheit und Entscheidungsgewalt von oben. Der Vergleich mit dem Kartenspiel weist auf unterschiedliche Wertigkeiten hin. Der Eindruck der Distanz zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern wird im Gespräch durch die unpersönlichen Formulierungen wie „die Chefs“ sowie an anderer Stelle „die Herren da oben“ (SU MA II) und die „Obrigkeit“ (SU MA II) unterstrichen. Die Führungspraxis, die hier zum Ausdruck kommt, steht nicht nur im Widerspruch zur existierenden Literatur zum Thema Führung in sozialen Institutionen, wo ein kooperativer Führungsstil und Teilhabe an der Führungsverantwortung großgeschrieben wird (vgl. Fischer 2001; Sausele 2004), sondern stellt insbesondere einen Bruch mit dem für jedermann auf der Homepage der Organisation einsehbaren Führungsleitbild der Organisation dar. Dies ist gerade vor dem Hintergrund des skizzierten Umgangs mit organisationalen Regelungen und schriftlich Fixiertem interessant. Unklar bleibt jedoch, wer oder was sich genau hinter der Unterscheidung von Ober und Unter verbirgt, ob es sich dabei bspw. um das Verhältnis der Unternehmensleitung zu den Mitarbeitern handelt. Ebenso
7.1 Sozialunternehmen
119
wäre es möglich, dass mit „Ober“ einfach alle diejenigen gemeint sind, die aufgrund der oben aufgezeigten Muster über Macht und Einfluss in der Organisation verfügen.
7.1.4.3
„Diese Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen, das ist, finde ich, finde ich ganz wichtig“
Ein anderes Prinzip, durch das immer wieder formale Regeln und Strukturen umgangen werden, ist das Infragestellen oder auch Reflektieren von Entscheidungen. Hier wirkt das dem professionellen Habitus von Pädagogen innewohnende Prinzip des permanenten Hinterfragens und Reflektierens von Prozessen und Strukturen, von Haltungen und Entscheidungen (vgl. Ziehe 1996). Dass dieses Prinzip durchaus anerkannt ist, macht folgende Aussage eines Vorgesetzten gegenüber seiner Mitarbeiterin, einer neuen Führungskraft, deutlich: F (m): Nein, aber das ist doch auch was (6) ehm, ich finde es schön, wenn Sie sich das möglichst lange erhalten. Diese Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen, das ist, finde ich, finde ich ganz wichtig, wenn Sie in einer Führungsaufgabe sind, die Impulse auch ernst zu nehmen. Das darf natürlich nicht zur Selbstzerfleischung werden. (SU FK II)
Es liegt nicht nur im Bestreben der Führungskräfte, dem kritischen Blick ihrer Mitarbeiter standhalten sowie ihren Wünschen und ihrer Kritik entsprechen zu können. Auch von den Vorgesetzten wird die kritische Haltung sich selbst gegenüber bei Mitarbeitern mit Personalverantwortung gelobt. Anregungen von Mitarbeitern, auch zum eigenen Führungsverhalten, sind erwünscht und sollen auch Eingang in die Praxis finden. Diese Aushandlungsprozesse haben den Vorteil, dass Mitarbeiter stärker in Entscheidungen einbezogen werden und vor allem auf fachlich-pädagogischer Ebene mehr Einfluss haben, häufig kostet es aber auch viel unnötige Energie, weil gefällte Entscheidungen immer wieder neu verhandelt werden müssten. Das Prinzip des Hinterfragens stellt sich hier als mächtiger Mechanismus heraus, der aufgrund seiner starken Habitualisierung in der Lage ist, die Gültigkeit von Regeln, Strukturen und Entscheidungen in Frage zu stellen.
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7 Führung und Macht
7.1.5 Zusammenfassung Es ist auffallend, wie offen in Gesprächen des Sozialunternehmens, an denen, ob als Vorgesetzte oder als Mitarbeiter, neue Führungskräfte beteiligt sind, über deren Unsicherheit im Hinblick auf den richtigen Führungsstil und die Übernahme der Führungsrolle in der jeweiligen Einrichtung gesprochen wird. Die Problematik wird nicht nur von den neuen Führungskräften gegenüber ihren Vorgesetzten angesprochen, sondern auch von neuen Führungskräften gegenüber ihren Mitarbeitern. Dieses Offene-zur-Sprache-Bringen stellt selbst ein Muster organisationaler Praxis dar, gleichzeitig ergibt sich dadurch die Möglichkeit, Einblick in Muster der Organisation zu erhalten, die jenseits der formalen Strukturen und Regelungen liegen. So zeigt sich, dass der individuelle Entwicklungsprozess der Führungskräfte, ihr Hineinwachsen in die Führungsrolle, durch bestimmte teils in der Natur der jeweiligen Sache liegende, teils den spezifischen formellen und informellen Mustern der Organisation geschuldeten Bedingungen behindert wird. In den Führungsleitlinien des Sozialunternehmens ist der kooperative Führungsstil verankert, der zudem elementarer Bestandteil eines über die hier betrachtete Organisation hinaus pädagogischen Führungsverständnisses ist (vgl. Sausele 2004, 100). Diese Orientierung findet sich im Konzept der Themenzentrierten Interaktion von Cohn (1997/1975), deren humanistischer Grundgedanke „jede Variante autoritärer Herrschaftsausübung“ (Fischer 2001, 20) ausschließt, ebenso wie im Führungsmodell von Tausch und Tausch, die die „Begegnung von Person zu Person“ (Tausch/ Tausch 1977) ins Zentrum stellen. Mit diesen hehren Vorsätzen treten auch die neuen Führungskräfte des Sozialunternehmens ihre Leitungsstellen an und werden alsbald mit der Realität konfrontiert, in der Mitarbeiter nicht nur Mitspracherecht, sondern auch Entscheidungen, nicht nur Partizipation, sondern auch Entlastung fordern. Die Führungskräfte sollen nach innen kooperativ, aber nach außen durchsetzungsfähig im Interesse der Einrichtung und ihrer Mitarbeiter sein. Sie sollen helfen, aber nicht kontrollieren. Diese Kluft zwischen Führungsanspruch und Führungswirklichkeit belastet die neuen Führungskräfte. Nach einer Phase der kritischen Reflexion, der Rechtfertigung gegenüber Mitarbeitern und Vorgesetzten, des sich selbst und den eigenen Stil in Frage Stellens folgt schließlich der heterodoxe Ausstieg aus dem Dilemma. Diese Phase behindert und verzögert das Einfinden in die neue Rolle. Je länger die neue Führungskraft braucht, sich zu positionieren, umso mehr Spielräume erhalten die Mitarbeiter in dieser Zeit, die sich die Führungskraft unter Umständen erst wie-
7.1 Sozialunternehmen
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der zurückholen muss (vgl. Crozier/ Friedberg 1993). Es gehen Zeit und Energie verloren, die gerade in der Einarbeitungsphase auch für fachlich-inhaltliche Lern- und Abstimmungsprozesse nötig wären. Erst im Nachgang wird den neuen Führungskräften zugestanden und bestätigt, dass die Situation den Führungsstil wesentlich mitbestimmt (vgl. Fischer 2001, 27), dass man „an der einen oder anderen Stelle“ auch autoritär auftreten muss. In den Weiterbildungsprogrammen der letzten Jahre zeigt sich, dass man diese Problematik inzwischen sieht und dass mittlerweile auch in Seminaren für neue Führungskräfte dazu übergegangen wird, einen situativen Führungsstil zu propagieren, der die Mitarbeiter von ihrer Verpflichtung zu einem ausschließlich kooperativen Führungsstil befreit. Man hat also inzwischen auch auf der formalen Ebene den Schritt vollzogen, der auf der informellen Ebene, nämlich in der alltäglichen Praxis der Führungskräfte, längst Eingang gefunden hat. So kann möglicherweise der Einarbeitungsprozess etwas erleichtert und etwas Druck von den Führungskräften genommen werden – von der Tatsache einmal abgesehen, dass trotzdem jeder Einzelne erst den richtigen Stil und die richtige Balance für sich und sein Team finden muss. Gleichzeitig zeigen die Gespräche vor allem im Zusammenhang mit Veränderungsprozessen (s. Kap. 9) eine deutliche Kluft zwischen Führungsleitbild und -praxis, zwischen Oben und Unten. Der Führungsstil, der den Mitarbeitern von Seiten der Unternehmensleitung vorgelebt wird, scheint gerade kein kooperativer, sondern ein teilweise eher autoritär geprägter zu sein. Das Verhältnis der Mitglieder der Sozialunternehmen zu formalen und schriftlichen Regelungen ist ambivalent. Auf der einen Seite stößt man immer wieder auf eine Diskrepanz zwischen formaler Regelung und informeller Handhabung: Macht und Befugnisse innerhalb des Sozialunternehmens scheinen aus jahrelanger Tradition heraus gewachsen zu sein und stark an einzelne Personen sowie an deren Verweildauer in der Organisation gebunden zu sein. Was schriftlich geregelt ist, gilt nicht per se, sondern wird in Frage gestellt und diskutiert, so dass häufig der Eindruck entsteht, Befugnisse und Kompetenzen seien formal überhaupt kaum festgelegt. Formale Kompetenz braucht zudem einen realen Gegenwert, um Akzeptanz zu finden, wobei der Gegenwert nicht nur in fachlicher Kompetenz, sondern auch in der Dauer der Zugehörigkeit zur Organisation zu finden ist. Auf der anderen Seite taucht gerade bei neuen Führungskräften die Frage nach Stellenbeschreibungen auf, die für Klarheit im Team und zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern sorgen. Ebenso führt die Stellenbezeichnung des Koordinators dazu, dass Führungskräfte sich in ihrer Position in der Einrichtung und nach außen geschwächt
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7 Führung und Macht
fühlen. Sie bleiben im Unklaren über ihre Rechte und Pflichten, und die Abgrenzung zu ihren Mitarbeitern wird erschwert. Einerseits leiten sie die Einrichtung, sind fachlich Vorgesetzte und führen Mitarbeitergespräche. Auch hier wird das Einfinden in die Führungsrolle erschwert. Bis ein Team oder eine Einrichtung nach einem Führungswechsel wieder so viel Stabilität gewonnen hat, dass die täglichen Abläufe ohne größere Reibungsverluste durch ständige Aushandlungsprozesse funktionieren, vergeht unnötig viel Zeit. Teilweise gewollt im Hinblick auf pädagogisch-fachliche Fragen, teilweise ungewollt, wenn man die Determinanten für Macht und Einfluss in der Organisation betrachtet, werden viele Prozesse im Sozialunternehmen informell geregelt. So verwundert es nicht, dass sowohl auf der Ebene der Individuen als auch auf der Ebene der Organisation insbesondere mustermimetische und informelle Lernprozesse wirken. Dies zeigt sich beim Beispiel der neuen Führungskraft, die, obwohl sie sich explizit davon abgrenzt, immer wieder in Verhaltensmuster ihres Vorgesetzten verfällt. Umgekehrt zeigt sich bei der neu hinzugekommenen Einrichtung, die aufgrund ihrer räumlichen Distanz zum Hauptort keine Möglichkeit hat, die für das Sozialunternehmen spezifischen Muster im Prozess kennen zu lernen, welche Konflikte der Versuch mit sich bringen kann, diese zu tradieren und sie direkt zu vermitteln. Es zeigt sich, wie schwierig es mitunter ist, auf der Ebene von Führung und Macht Haltungen zu verändern und nötige Veränderungen umzusetzen, weil nicht direkt auf diese informellen Prozesse zugegriffen werden kann, sofern diese überhaupt bewusst werden. Vor dem Hintergrund der Vermutung, dass von der obersten Führungsebene her eben kein kooperativer, sondern ein eher autoritärer Führungsstil gepflegt wird, ist anzunehmen, dass die Möglichkeit „einfacher“ Mimesis im Hinblick auf den Führungsstil begrenzt ist, da einerseits bewusst und unbewusst eine Ablehnung dieses Stils bei den Mitarbeitern herrscht, andererseits kein adäquates Vorbild für einen kooperativen Stil existiert bzw. ein Bruch durch die Hierarchieebenen des Sozialunternehmens geht.
7.2 Wirtschaftsunternehmen In den Kompetenzkatalogen, die den Gesprächen im Wirtschaftsunternehmen zugrunde liegen, taucht das Thema Führung als „A-Führungsinstrumente“ und „Führungstheorie“ explizit auf. Der Zusatz des Firmennamens (A), mit dem die Führungsinstrumente versehen sind, lässt sich dahingehend interpretieren, dass es darum geht, inwieweit hier firmeninterne Vorstellungen von Führung gelebt
7.2 Wirtschaftsunternehmen
123
und der Umgang mit firmeneigenen Führungsinstrumenten, wie dem Mitarbeitergespräch oder dem Zielvereinbarungsgespräch, beherrscht werden. Führung, so zeigt die formale Ebene, wird nicht als allgemeines oder auch individuelles Problem einer einzelnen Führungskraft thematisiert, mit dem ein entsprechendes Wissen verbunden ist, sondern als unternehmensspezifischer Auftrag mit unternehmensspezifischem Wissen. Vor dem Hintergrund eines kooperativen Führungsverständnisses existieren folgende Führungsleitsätze: Klarheit, Eindeutigkeit, Verbindlichkeit; Vorleben (Vorbild sein); Verantwortungsbewusstsein; Ziele; Mitarbeiter-Entwicklung; Querdenken; Zusammenarbeit; Arbeiten soll auch Freude machen; Letztentscheidung (vgl. internes Dokument zur Personalentwicklung). Kooperative Führung bedeutet hiernach, „unsere Mitarbeiter situationsbedingt in unsere Entscheidungs- und Informationsprozesse einzubeziehen“ (ebd.). Für den Grad des Einbeziehens spielen Komplexität, Führungssituation und der Reifegrad der Mitarbeiter eine Rolle. Es soll „nach klaren, eindeutigen und verbindlichen Maßstäben“ (ebd.) gehandelt werden.14 Durch den unternehmensspezifischen Zuschnitt in den Kompetenzkatalogen erhalten die Führungsleitlinien eine besondere Verbindlichkeit. Auch in der Rubrik der „Überfachlichen Kompetenzen“, die in allen Gesprächen vorkommen, können Bezüge zum Thema Führung hergestellt werden. Insbesondere sind hier die Beschreibungen der einzelnen Kompetenzen interessant, die „nur für Mitarbeiter mit Führungsverantwortung oder Projektleiter“ (Mitarbeitergespräch, 4) relevant sind. So ist bspw. unter Zielorientierung der Zusatz zu finden: „unterstützt seine Mitarbeiter aktiv bei ihrer Zielerreichung“ (WU FK VI); beim Querdenken steht zusätzlich: „strukturiert seinen Verantwortungsbereich effektiv und sieht darüber hinaus den Gesamtprozess“ (Mitarbeitergesprächsbogen); bei Teamfähigkeit: „erklärt Hintergründe und Zusammenhänge, trägt die Konsequenzen des Handelns von Personen, für die er verantwortlich ist, stellt dem Team Ressourcen und Kompetenzen zur Verfügung“ (ebd.); bei Kommunikation: „fördert die sachliche Auseinandersetzung, gibt einerseits zeitund ergebnisnahe Rückmeldungen, andererseits aber auch Feedback, welches sich auf das gesamte Jahr bezieht, damit jeder Mitarbeiter den persönlichen Leistungsstand erkennen und ggf. verbessern kann“ (ebd.); bei Sozialer Sensibilität: „erteilt Aufträge eindeutig und klar“ (ebd.); und bei Faszinationsfähigkeit: „bringt seine Mitarbeiter hinter sich“ (ebd.). 14
Die Führungsleitlinien sind mit den Unterschriften der Geschäftsführung versehen. Sie „sind für uns [die Führungskräfte] verbindlich und legen fest, wie wir bei [Firmenname] führen“ (internes Dokument zur Personalentwicklung).
124
7 Führung und Macht
Für die obigen Kompetenzbeschreibungen ebenso wie für die folgende Analyse der Gesprächsausschnitte muss nochmals betont werden, dass es sich hier häufig um Stellenbeschreibungen, also um formale Vorgaben, und nicht zwangsläufig um eine Beschreibung der tatsächlichen Unternehmenspraxis handelt.
7.2.1 Verständnis von Führung in der Praxis der Organisation 7.2.1.1
„wie siehst du das, die Führung oder die Unterstützung, die durch mich kam“
Dem Thema Führung wird in aller Regel nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet als jedem anderen Thema auch. Es wird kein bestimmter Führungsstil angesprochen; und nur ein Vorgesetzter fragt direkt bei einem Mitarbeiter nach, der neu in Führungsverantwortung gekommen ist, wie er mit seinen Führungsaufgaben zurechtkommt (WU PZ FK II). Lediglich ein Vorgesetzter bittet seinen Mitarbeiter selbst um ein kurzes Feedback im Hinblick auf seine Führung bzw. Unterstützung: F (m): Eh, ok, aber jetzt (2) vielleicht auch bevor wir das [den Gesprächsbogen] anfangen noch einmal ein Feedback für mich, wie siehst du das, die Führung oder die Unterstützung, die durch mich kam (1) in dem Bereich, und wie siehst du den gesamten Bereich (1) aber ganz kurz. (WU FK I)
Für die Einschätzung des Mitarbeiters von seinem Vorgesetzten und der gesamten Abteilung soll nicht viel Zeit verwendet werden („aber ganz kurz“). Im Mittelpunkt des Gesprächs steht der zu bearbeitende Gesprächsbogen, so dass der Eindruck entsteht, die Bitte um Rückmeldung sei eher aus Höflichkeit als aus tatsächlichem Interesse gestellt. Wenn sie überhaupt im Gespräch vorkommt, ist sie eher allgemein gehalten, wie hier im Beispiel einer neuen Führungskraft: F1 (m): Ja, was gibt es denn jetzt von Ihrer Seite aus noch, wo man sagen kann, da sind noch Potentiale, das kann man besser machen, oder da fehlt mir die nötige Unterstützung, gibt es irgendsowelche Themen? (WU PZ MA I)
Auch hier wirkt die Frage durch die lapidare Formulierung „irgendsowelche“ wie eine Verlegenheitsgeste ohne ein konkretes Interesse, was bei dem Mitarbeiter eine ähnlich wenig aussagekräftige Antwort hervorruft.
7.2 Wirtschaftsunternehmen
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Beide Führungskräfte fragen nach, wie sich ihre Mitarbeiter unterstützt fühlen. Im ersten Beispiel könnte man sogar sagen, dass der Vorgesetzte Führung mit Unterstützung gleich setzt. In einem anderen Gespräch mit einem Mitarbeiter mit Personalverantwortung liest der Vorgesetzte bei der überfachlichen Kompetenz „Zielorientierung“ den Punkt „unterstützt seine Mitarbeiter aktiv bei ihrer Zielerreichung“ explizit vor (vgl. WU FK VI), was darauf hin deutet, dass er diesen für wesentlich hält. Es ist auf der Grundlage der Gespräche allerdings nur bedingt möglich, etwas darüber zu sagen, wie die Beziehung zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter in der Realität aussieht, da die Gesprächssituation hauptsächlich zum Abarbeiten des Bogens genutzt wird und nicht für ein Gespräch auf der Beziehungsebene. Was der Bogen nicht vorgibt (und letzteres sieht er nicht vor), wird in den meisten Fällen auch nicht angesprochen.15 Man kann wohl für die gesamte Untersuchung davon ausgehen, dass es grundsätzlich eher diejenigen Führungskräfte sind, die einen kooperativen Führungsstil und einen offenen Umgang mit ihren Mitarbeitern pflegen, die eine Teilnahme an ihren Mitarbeitergesprächen möglich machen, so dass hier durch die Wahl der Forschungsmethode eine Selektion stattfindet. Das Thema Führung oder auch die emotionale Befindlichkeit des Mitarbeiters wird aber auch in diesen Gesprächen, wenn, dann eher von älteren Führungskräften auf höheren Führungsebenen insbesondere auch in den Probezeitgesprächen angesprochen. Es schwingt eine väterlich-fürsorgliche Note mit, die bei den jüngeren Führungskräften fehlt. (In diesem Zusammenhang erfährt man auch etwas über die Teams und Abteilungen, in denen die Mitarbeiter tätig sind – Themen, die ansonsten ebenfalls eher ausgeklammert werden.) Möglicherweise stehen aber gerade die jüngeren Führungskräfte auf der mittleren Führungsebene in einem permanenten Austausch und in enger Abstimmung miteinander, wie es ein Vorgesetzter vor dem Beginn des offiziellen Gesprächs betont (vgl. WU FK V). Dies wird zumindest durch den Eindruck, den die Gespräche hinterlassen, nicht widerlegt. Die jüngeren Führungskräfte sind wie ihre Mitarbeiter zwischen 30 und 45 Jahre alt und die Gespräche laufen in einem partnerschaftlichen Ton. Die Nähe hinsichtlich Alter und Berufserfahrung könnte auch problematisch für die Beziehung zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter sein, in den Gesprächen wird aber nichts dieser Art erwähnt. Man kann nur spekulieren, dass hier klare Stellenbeschreibungen für die nötige formale Distanz sorgen. Für dieses Praxismuster spricht
15
Eine Ausnahme stellen Instrumente dar, die der Mitarbeiter im Arbeitsalltag offensichtlich anwendet, die aber nicht im Katalog der „Tätigkeitsspezifischen Kompetenzen“ erscheinen und deswegen nachgetragen werden müssen.
126
7 Führung und Macht
auch der Bogen zum Mitarbeitergespräch mit den vorgegebenen fast ausschließlich sach- bzw. kompetenzbezogenen Punkten.
7.2.1.2
„Führungsinstrumente, das ist so eine Sache, wo ich immer nicht so genau weiß, was das genau heißen soll“
Die Führungskräfte selbst schätzen die Bedeutung der Führungstheorie, die im Stellenprofil enthalten ist, unterschiedlich ein: Ein Vorgesetzter meint lapidar, „das kennt man und mehr braucht man da auch nicht“ (WU FK I). Eine andere Führungskraft kritisiert im Gespräch mit ihrem personalverantwortlichen Mitarbeiter, Führungstheorie sei mit nur „Kennen“ im Soll-Profil zu niedrig eingestuft, sie sollte von Führungskräften unbedingt „beherrscht“ werden (vgl. WU FK II). Auch bei den Führungsinstrumenten, die allerdings mit dem Soll-Wert „Können“ versehen sind, tauchen Fragen auf: F (m): A-Führungsinstrumente, das ist so eine Sache, wo ich immer nicht so genau weiß, was das genau heißen soll, (beide lachen) aber was ich da, was ich da einfach, eh, eh, eh, dahinter sehe, ist, wie geht man mit dem [Mitarbeitergespräch] um, wie geht man mit der Zielvereinbarung um, wie läuft das überhaupt, wie läuft Mitarbeitergespräch und ähnliches. (WU FK I)
Hier wird deutlich, dass es im Verständnis der Führungskräfte hauptsächlich um die Handhabung von Instrumenten geht, deren Einsatz in einem ganz bestimmten Rahmen durch Prozesse vom Unternehmen vorgegeben ist. Der individuelle Führungsstil und die Frage, wie die Mitarbeiter in ihrer Führungsrolle klar kommen, werden weder von den Mitarbeitern noch von den Vorgesetzten thematisiert. Bei neuen Führungskräften verweisen die Vorgesetzten auf ein hauseigenes Seminar, das sich inhaltlich mit folgenden Themen beschäftigt: F (m): Nein, an der Stelle, rechtlich ist jetzt da weniger, da gibt es wieder dieses Arbeitsrechtseminar, wo wir später einmal sehen müssen, aber rein Richtung Personalentwicklung, es geht um das [Mitarbeitergespräch], es geht um, um Beurteilungen, […] es geht um Feedbackgespräche, Kritikgespräche, Einstellungsgespräche, Entlassungsgespräche und so weiter. Also wirklich von vorne bis hinten bekommt man die Leitfäden, so einen dicken Ordner noch dazu, wo dann letztendlich zum Nachschlagen auch die Sachen drin stehen, sind auch ein paar Gesetze dabei, die man wissen muss. (WU FK VII)
7.2 Wirtschaftsunternehmen
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Zum einen geht es also um nachschlagbares Wissen, um „Leitfäden“, die einen dicken Ordner füllen, das eigentlich Interessante am Seminar ist für die Führungskraft aber der Austausch mit Kollegen: F (m): […] Der Vorteil, bei diesem Seminar sind auch viele Führungskräfte aus anderen Bereichen mit dabei, die teilweise schon Führungserfahrung haben, teilweise überhaupt keine Erfahrung, und einfach das Wissen, das man von den anderen Leuten mitnimmt, weil im Prinzip werden da, ist es streng geheim, was man da macht, aber es wird auch über wirkliche harte Fälle gesprochen und wie die gelöst wurden, und da helfen einerseits, Referenten halten das Seminar, die unterstützen, die Vorgesetzten, die dabei sind, unterstützen oder geben ihr Wissen weiter und das Ding ist absolut super. Also da habe ich verdammt viel mitgenommen, da sieht man letztendlich auch, was es dann wirklich für Problemfälle in der Firma gibt. (WU FK VII)
Hier wird eine Ebene des Lernens angesprochen, die Wissen über Lehrbuchinformationen und Prozessbeschreibungen hinaus vermittelt, nämlich die Ebene der Erfahrung bzw. die des Erfahrungsaustauschs. Und dies ist die Ebene, die den Vorgesetzten neben den theoretischen Seminarinhalten eigentlich begeistert. Trotzdem wird das Mitarbeitergespräch selbst für einen Austausch, wie ihn der Vorgesetzte beschreibt, nicht genutzt. Erfahrungen auf der Beziehungsebene spielen in den Gesprächen kaum eine Rolle. Wesentlich scheint hier ausschließlich die Messbarkeit von Qualifikation zu sein. An anderer Stelle wird zwischen Praxis und Vermittlung unterschieden: F (m): […] Ja, also ich würde, ich, man muss ja nicht alles durch Seminare sich erarbeiten, eh, vermitteln lassen, es gibt ja auch Sachen, die man in der Praxis sich selbst erarbeiten kann, ich denke, die Leitlinie, die Führungsleitlinie ist Ihnen durchaus bekannt und aus meiner Sicht kennen Sie die Elemente, die zur Führung von Mitarbeitern notwendig sind, und ich würde schon sagen, dass Sie hier auch das Anforderungsprofil erfüllen, auch wenn noch nicht alle Seminare, eh, absolviert wurden. (WU PZ FK II)
Führungsrelevantes Wissen wird grundsätzlich als in Seminaren vermittelbar betrachtet. Dies impliziert, dass dieses Wissen nach Göhlichs Verständnis „einer Sache gleich übergeben“ und „unter Absehung von der Person nach standardisierbaren (rationalen und empirischen) Kriterien prüfbar erscheint“ (Göhlich 2001, 233). In der Formulierung des Vorgesetzten bleibt der Seminarteilnehmer dabei passiv („vermitteln lassen“). Wenn er hier die Möglichkeit anspricht, sich bestimmte Themen statt in Seminaren auch „in der Praxis“ anzueignen, scheint es dem Vorgesetzten aber weniger um die Bedeutung des Können-Lernens (ebd.) im Sinne eines Inkorporierens oder um ein Lernen durch Erfahrung (vgl. Göhlich 2007a, 193) zu gehen, sondern um die Möglichkeit, sich
128
7 Führung und Macht
den Aufwand des einen oder anderen Seminars zu sparen. Es genügt ihm die Tatsache, dass sein Mitarbeiter über ein theoretisches Wissen („bekannt“, „kennen“) über die Führungsleitlinien und -instrumente des Unternehmens verfügt. „[S]elbst erarbeiten“ bedeutet hier wiederum die theoretische Auseinandersetzung mit den Inhalten des Führungsleitbildes. Führung wird als standardisierbarer und technisierbarer Vorgang betrachtet.
7.2.2 Der Teamgedanke als Führungsinstrument 7.2.2.1
„du musst die ganz anders führen, freier führen“
Gemessen an den „Überfachlichen Kompetenzen“, die in den Gesprächen formal und auch in der Durchführung einen großen Stellenwert haben (s. Kap. 5.2.3 zum Mitarbeitergespräch), sind es nur kleine Nuancen, die im Angestelltenbereich den normalen Mitarbeiter vom Mitarbeiter mit Personalverantwortung trennen, denn offensichtlich sind nur wenige Ergänzungen bei den Beschreibungen der Kompetenzen für die Mitarbeiter mit Personalverantwortung nötig (s.o.). Möglichst viele Mitarbeiter sollen also auf einem möglichst hohen Kompetenzniveau arbeiten. Sie sollen weitestgehend eigenverantwortlich arbeiten und wann immer möglich in „Entscheidungs- und Informationsprozesse“ (internes Dokument zur Personalentwicklung, 4) einbezogen werden, wie es auch in den Führungsleitlinien formuliert ist. Dies wird auch in einem Gespräch mit einem Mitarbeiter deutlich, der bereits über Führungserfahrung in verschiedenen Bereichen verfügt: M (m): Mhm, das ist eigentlich der Punkt auch, wo ich sage, da habe ich klare Vorteile als Segmentleiter gegenüber einem normalen Produktlinienleiter, der einfach die Aufgabe nicht so häufig, nicht so oft ausüben wird. F (m): Ja, normalerweise, normalerweise ist es ja so, dass wir in dem Umfeld der Ingenieure von den Führungsaufgaben normalerweise ganz einfache Leute haben oder extrem schwierige (lacht) M: Ja, ja ja. F: Im Unterschied eben zu der Vielfältigkeit, die du im Arbeiterbereich dann hast. M: Du musst im, in dem Bereich Produktlinie, das habe ich eben auch da oben dazu gelernt, du musst ganz anders führen, als im Segment (2) F: Inwiefern anders? M: Eh, (2) ich sage einmal so, die Mitarbeiter sind sehr viel selbständiger in der Produktlinie, das heißt, das sind Anwendungsingenieure und Konstrukteure, das heißt, du musst die ganz anders führen, freier führen, die müssen viel mehr selbst entscheiden, [unverständlich], du musst denen nicht die Aufgaben vorgeben, sondern nur die Ziele vorgeben. F: Mhm.
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M: Und ihr Aufgabenspektrum müssen sie selbst zusammenstellen. Du musst eigentlich nur noch kontrollieren. (WU FK I)
In der Praxis gilt eigenverantwortliches Arbeiten und Entscheiden offensichtlich insbesondere für den Angestelltenbereich und dort wiederum vor allem für „Anwendungsingenieure und Konstrukteure“. Es wird als deren Aufgabe betrachtet, eigene Ideen zu entwickeln. Dies macht Führung aber nicht überflüssig. Führung setzt Ziele, lässt aber Freiräume, in denen sich die Mitarbeiter ihre Aufgaben selbst suchen müssen. Die Führungskraft hat zunächst eine eher unterstützende, rahmende Funktion; sie trägt aber letztendlich die Verantwortung, indem sie die Ergebnisse bzw. die Zielerreichung kontrolliert. Das Führungsverständnis, das hier zu Grunde liegt, ist sachorientiert und weniger personenorientiert (s. Ausführungen zu Fleishman und Harris in Kap. 7). Im Zentrum steht vor allem die Aufgabenerfüllung bzw. die Zielerreichung. Die Beziehungsebene, das Verhältnis zwischen der neuen Führungskraft und ihren Mitarbeitern, wird nur ganz am Rande angesprochen: F (m): Ja, und jetzt haben Sie ja Personalverantwortung in nicht ganz unerheblichem Maße, Sie haben ja auch eine relativ große Bandbreite von Facharbeitern bis hin zum Ingenieur zu führen, wie funktioniert denn das? M (m): Das funktioniert eigentlich besser als erwartet, ich meine, das eine oder andere läuft noch nicht so ganz rund, das ist klar, aber es ist doch besser als erwartet, ich meine, es ist nicht, eine gewisse Zeit, eh Zeitintensität nimmt das schon in Anspruch, eh, war klar eigentlich, eigentlich war es klar, ne, kommt aber doch immer noch ein bisschen anders als erwartet, ehm, schon ein bisschen mit einem gewissen Zeitaufwand verbunden, aber auch das, ehm, ist eher interessant auch aufgrund der großen Bandbreite lernt man dann um so mehr dazu, also wenn man jetzt viele Leute hat, die relativ homogen sind, dann ist es nicht ganz so interessant, wie wenn man so eine große Bandbreite mit unterschiedlichen Individuen, mit, sagen wir einmal, unterschiedlichen Charakteren da kennenlernt so Stück für Stück. Und jetzt sagen wir einmal, das erste Jahr haben sich die Leute ja noch nicht ganz so geöffnet, aber so langsam ist es, ist es, eh, kommt schon so der Teamgedanke durch, und die Leute sind jetzt eigentlich auch, also einige, also vor allen Dingen [Abteilungsname] ist schon recht offen insgesamt, F: Ja, also das mag auch daran liegen, dass also Sie selbst von ihrer Person her doch jemand sind, der auf die Leute zugeht, und da, so wie ich das Feedback bekommen habe, auch auf die Akzeptanz, sich die sehr schnell erarbeitet haben, und das ist eigentlich schon in der Kürze der Zeit und den Problemen, die wir haben. (WU PZ FK II)
Führung wird vor dem Hintergrund der Heterogenität der Mitarbeiter als eine Herausforderung und interessante Aufgabe betrachtet. Auch wenn es hier um die personale Ebene geht, ist auffällig, dass sowohl der Vorgesetzte als auch der Mitarbeiter technische Begrifflichkeiten verwenden: „wie funktioniert denn das?“, fragt der Vorgesetzte und der Mitarbeiter antwortet: „das läuft noch nicht
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7 Führung und Macht
so ganz rund“. Persönliche Erfahrungen, Begegnungen oder Probleme werden nicht besprochen. Dies schließt an die im selben Gespräch gefundene Standardisierbarkeit von Führungsprozessen an, auch wenn der Vorgesetzten seinem Mitarbeiter rückmeldet, sich schnell in seine neue Rolle eingefunden zu haben, und diesen Erfolg auf persönliche Eigenschaften des Mitarbeiters zurückführt. Dabei hebt er vor allem die Offenheit und Kommunikationsbereitschaft des Mitarbeiters hervor („der auf die Leute zugeht“). Gleichzeitig ist die „Akzeptanz“ der Mitarbeiter „erarbeitet“ und wird nicht direkt auf die Person der neuen Führungskraft zurückgeführt. Der Mitarbeiter selbst stellt die neuen personenbezogenen Führungsaufgaben als zeitintensive, interessante Herausforderung dar, mit der er „besser als erwartet“ klar kommt und bei der er viel Neues kennen lernt. Das wiederholte „eigentlich“, mit dem er betont, auf alles vorbereitet gewesen zu sein, macht aber eher den Eindruck, als hätte er, im Nachhinein betrachtet, wissen können, wie zeitintensiv Personalführung sein kann, und als ob er sich über diesen Aspekt seiner Führungstätigkeit, möglicherweise im Gegensatz zu den sachbezogenen Aufgaben, im Vorfeld einfach nur wenig Gedanken gemacht hat. Angestrebtes Führungsziel ist, die Mitarbeiter neuen Entwicklungen gegenüber zu öffnen und den Teamgedanken bei ihnen zu wecken. So taucht, wenn auch das Thema Führung in den Gesprächen nur selten so explizit wie im obigen Beispiel benannt wird, ein anderer Begriff aus dem Beziehungskontext immer wieder auf, nämlich die Teamfähigkeit.
7.2.2.2
„da haben wir die Claudia und den Heiner ein bisschen verloren gehabt […], aber momentan sind sie wieder relativ gut im Boot“
Das Thema Teamfähigkeit ist als eine der „Überfachlichen Kompetenzen“ im Mitarbeitergespräch verankert, und auch diese Definition enthält, wie eingangs beschrieben, Führungselemente. Dadurch dass Teamfähigkeit im Gesprächsbogen fest vorgegeben ist, taucht sie in jedem Gespräch auf. Die Art und Weise, wie das Thema in den Gesprächen aufgegriffen wird, macht seine Bedeutung im Unternehmen deutlich und lässt vermuten, dass der Teamgedanke ein Stück weit die Frage der Führung ersetzt oder das Verständnis der Führungskräfte von Führung Elemente des Teamgedankens enthält. Ein Vorgesetzter meldet seinem Mitarbeiter, der selbst Personalverantwortung hat, zurück, dass er ihn bei der Teamfähigkeit „auf jeden Fall über dem
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normalen Mitarbeiter“ sieht, was auf der Bewertungsskala mit einer Drei bewertet werden würde: F (m): Weil wenn ich sehe, wie Sie das Team formen, wie Sie Mitarbeiter entsprechend ihrer Fähigkeiten, Interessen, Potentiale einsetzen, zum Beispiel, Aufgaben delegieren, Verantwortungen teilweise delegieren, wenn ich an die Frau Vicky denke und so weiter. M (m): Mhm. F: Gibt Mitarbeitern zeitnah alle relevanten Informationen, die für die Aufgabe nötig sind, also Sie geben das Wissen auch weiter an der Stelle, dass die Leute auch wissen, warum manche Dinge so sind. Und bei der Teamfähigkeit da sehe ich bei Ihnen ein ganz großes Potential, darum auch die Vier an der Stelle. M: Mhm. (lachend) Da habe ich jetzt sogar eine Drei gehabt, und zwar, ich meine, mittlerweile ist es ja in Ordnung, muss ich sagen, aber da in der SAP-Zeit, da haben wir die Claudia und den Heiner ein bisschen verloren gehabt. F: (3) Mh. M: Ich sage einmal, zum einen waren sie nicht so, sie wollten es nicht so, sagen wir einmal so, aber F: In der Richtung sehe ich es eher. M: Ja, schon klar, ich meine, die hätten es einfach mitbekommen können, wenn Sie gewollt hätten, aber ich sage einmal, und, das habe ich mir eben aufgeschrieben, dass ich da zu der Zeit nicht genug reingetrichtert habe, sage ich jetzt einmal, in die beiden. Durch E-Mails, durch, dass ich es wirklich schriftlich gemacht habe, sondern mündlich, und da F: Gut, wir sitzen in einem Büro, die sitzen zwei Meter dahinter. M: Jaa, Ist schon klar, aber die hören eben nicht, was sie nicht hören wollen. F: Das ist richtig, M: Ne, und dann, damit sie es aber auch mitbekommen, sage ich jetzt einmal, habe ich es jetzt an dieser Stelle etwas geändert. F: Gut wenn man die Abteilungsbesprechungen jetzt auch macht, dass man die Sachen ändern, M: Genau, da habe ich bei uns im Ordner F: Mhm, habe ich gesehen. M: Abteilungsbesprechung, und, eh, ich mache es jetzt sogar so, ich kopiere mir das wöchentlich, habe ich mir eine Vorlage gemacht, kopiere es wöchentlich, Datum darunter, und dann wenn mir etwas einfällt, dann schreibe ich das gleich da rein. Und das, den Zettel nehme ich dann wieder in die Abteilungsbesprechung, weil dann habe ich es gleich dabei und muss eben nur noch kleine Änderungen nachtragen und nicht unter der Woche aufschreiben, auf einen Zettel und dann muss ich es auf einmal eintragen. F: Mhm. M: Weil ich glaube, das könnte funktionieren. F: Und da sehen wir jetzt dann einmal, wie sich das bewährt, M: Klar. F: Letztendlich haben wir ja reagiert auf die Aktion, dass die Mitarbeiter das nicht mitbekommen haben, warum auch immer M: Klar, aber momentan sind sie wieder relativ gut im Boot. Also F: Naja, gut, jetzt sitzen Sie ja noch näher daran. (WU FK VII)
Die Elemente von Teamfähigkeit, die der Vorgesetzte benennt – „Team formen“, „Mitarbeiter entsprechend ihrer Fähigkeiten, Interessen, Potentiale einsetzen“,
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„Aufgaben delegieren“, „Verantwortungen teilweise delegieren“ – können als Facetten eines klassischen Führungsverständnisses betrachtet werden (vgl. Rosenstiel 2003a, 4ff), was wieder die enge Verbundenheit des Verständnisses von Teamfähigkeit im Unternehmen mit Führung deutlich macht. Der Mitarbeiter selbst beschreibt, dass er es eine Zeit lang nicht geschafft hat, das Team zusammen zu halten, was aus seiner Sicht also ebenfalls eine seiner Führungsaufgaben ist. In seiner Wahrnehmung hat er zwei Mitarbeiter vorübergehend „verloren“ und erst durch relativ strikte Regelungen wieder ins „Boot“ geholt. Teamfähigkeit bedeutet für eine Führungskraft also, das Team funktionsfähig zu machen. Dabei kommen unter Umständen auch autoritäre Methoden („reingetrichtert“) sowie klare und verbindliche, weil schriftliche, Anweisungen durch den Vorgesetzten zur Anwendung. Um die Geschlossenheit im Team zu erhalten, ist die Aktivität des direkten Vorgesetzten notwendig: Er muss die Veränderungen bzw. Anforderungen, die sich bspw. durch die SAP-Umstellungen ergeben haben, aktiv vermitteln, eintrichtern und schriftlich weitergeben. Allein die räumliche Nähe in einem gemeinsamen Büro, in dem die Mitarbeiter aktuelle Themen „einfach mitbekommen können“, sowie die mündliche Information der Mitarbeiter schaffen offensichtlich keine ausreichenden Verbindlichkeiten; die Mitarbeiter „hören eben nicht, was sie nicht hören wollen“. So können sie anstehenden, möglicherweise unangenehmen Veränderungen aus dem Weg gehen. Offenheit und Transparenz in Verbindung mit einem kooperativen Führungsstil sind also nicht alleinige Garanten für positive Entwicklungsprozesse. Spielräume, die die Führungskraft lässt, werden nicht zwangsläufig produktiv genutzt, sondern können von den Mitarbeitern auch genutzt werden, um eigene Interessen durchzusetzen oder sich zurückzuziehen und neue Entwicklungen nicht mit zu tragen. Als vielversprechend schätzen Vorgesetzter und Mitarbeiter den Einsatz von Mails und systematisierten schriftlichen Vorlagen für Abteilungsbesprechungen ein, in denen der personalverantwortliche Mitarbeiter aktuelle Themen und Erfordernisse für seine Mitarbeiter festhält und so einen höheren Grad an Verbindlichkeit schafft. Es wird also auf ein Element des Weberschen Bürokratiemodells zurückgegriffen, nämlich das der Aktenmäßigkeit der Verwaltung (vgl. Weber 1964, 161), „also der schriftlichen Dokumentation von Vorgängen, die für das formal korrekte Zustandekommen von Anweisungen relevant sind“ (Fischer 2004, 36). Durch die Formalisierung von Abläufen werden so die Handlungsspielräume der einzelnen Akteure eingeschränkt. Dass der Teamgedanke auch einen pädagogischen Aspekt enthält, zeigt der folgende Gesprächsausschnitt:
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F (m): Und jetzt komme ich nämlich genau zu dem Punkt, ‚vertritt im Team eigene Standpunkte mit adäquaten Mitteln‘, (2) das ist auch ein Problem, das wir generell haben, ein generelles Problem, das auch ein Müller16 hat, das muss ich jetzt einmal ganz klar sagen, ein Müller bereitet vor, ein Müller listet auf, ganz klar, fachlich, sachlich strukturiert, was es eigentlich ist, die eigentlich für jeden einleuchtend sind, (1) ne M (m): Mhm. F: aber, ich vergesse dabei, dass die anderen intellektuell, das ist nicht negativ gemeint, dass ich jetzt sage, die sind blöd, sondern dass die anderen Leute intellektuell gar nicht in der Lage sind, mir zu dem Zeitpunkt, zu dem ich das präsentiere, zu folgen, (3) das ist der Punkt dahingehend zum Beherrschen, und (1) da sage ich, müssen wir alle, aber auch du noch, lernen, dass, dein Thema ist ja jetzt Vier, dass wir zu dieser Vier kommen, M: Mhm. F: die Leute genau, auch in der Teamfähigkeit, die Leute genau dort abholen, genau dort abholen, wo sie gerade stehen, und dementsprechend dann darauf aufsetzen, um meinen Standpunkt zu erklären. Und dann muss ich vielleicht auch in Teilbereichen manchmal zurückgehen auch, was für mich völlig klar ist, es ist auch ein Spagat manchmal, weil gerade im Projekt muss ich dann auch manchmal ganz strikt sagen, und so ist es jetzt, jetzt kann ich nicht mehr warten, sondern da muss ich auch einmal ganz klar die Vorgaben geben, aber das ist der Punkt dahingehend. M: Ok. (WU FK V)
Hier wird am Beispiel der Kompetenz Teamfähigkeit die indirekte oder „mittelbare“ (Weibler 2003, 319f.) Einflussnahme des nächsthöheren Vorgesetzten innerhalb des triadischen Führungsverhältnisses (vgl. ebd., 318) deutlich: Die Führungskraft versucht dem personalverantwortlichen Mitarbeiter die Bedeutung eines eigentlich pädagogischen Prinzips zu vermitteln: „die Leute genau dort ab[zu]holen, […] wo sie gerade stehen“ und an dieses bereits Vorhandene anzuknüpfen („aufsetzen“) (s. a. der Aspekt des Stabilisierens bei der Lernunterstützung bei Göhlich 2001, 237f.). Aus der Beschreibung der Kompetenz im Gesprächsbogen greift der Vorgesetzte; Herr Müller, diesen Aspekt der Teamfähigkeit heraus und stellt ihn als wesentlichen Bestandteil der Kompetenz einer Führungskraft dar: So weit es die Abläufe in der Organisation zulassen, sollen Standpunkte erklärt und die Mitarbeiter über die „fachlich[en]“ und „sachlich[en]“ Hintergründe einer Entscheidung oder Vorgehensweise informiert werden. Die Mitarbeiter sollen die Beweggründe ihrer Vorgesetzten verstehen („einleuchtend“, erklären“). In bestimmten Situationen („im Projekt“) hat dieses Anliegen allerdings seine Grenzen; dann werden auch ohne große Erklärungen „Vorgaben“ gemacht. Ziel der Erklärungen ist also nicht etwa die Beteiligung der Mitarbeiter an Entscheidungsprozessen, sondern ihre Funktionsfähigkeit im Arbeitsalltag.
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Name des Vorgesetzten
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Der Vorgesetzte bietet sich selbst als Vorbild für den Mitarbeiter an („ein generelles Problem, was auch ein Müller hat“, „und (1) da sage ich“): Er kommuniziert seine eigenen Erwartungen und tritt sehr bestimmt auf („muss ich jetzt einmal ganz klar sagen“, „da sage ich, müssen wir alle“, „strikt“), wenn er dem Mitarbeiter seinen Standpunkt im Hinblick auf die Teamfähigkeit vermittelt und ihm seinen diesbezüglichen Entwicklungsbedarf aufzeigt („aber auch du noch, lernen, dass, dein Thema ist ja jetzt Vier“). Den Führungsstil, den er dabei selbst an den Tag legt, nämlich eine Mischung aus Kooperation, Integration und einer etwas selbstgefälligen Entschiedenheit, versucht er, auch dem Mitarbeiter zu vermitteln. Der Mitarbeiter beschließt die Ausführungen seines Vorgesetzten mit einem zustimmenden „Ok“. Folgt er dem Beispiel seines Vorgesetzten, so wirkt dessen Führungsstil im Verhältnis des Mitarbeiters zu seinen Untergebenen weiter (vgl. Weibler 2003, 320). Man kann aber davon ausgehen, dass dies dann nicht nur aufgrund des aktiven Vermittlungsversuchs des Vorgesetzten geschieht, sondern auch Resultat mimetischer Lernprozesse (Wulf 2007) ist. Entsprechend wird auch das Verständnis von „Teamfähigkeit“ und die Wahl der „adäquaten Mittel“, um den eigenen Standpunkt zu vertreten, vom Vorgesetzten geprägt: Die eher allgemein formulierte schriftliche Vorgabe wird durch den Vermittlungsakt bzw. die Praxis des Vorgesetzten gefüllt. Adäquat ist, was vorgelebt wird. Der starke Teamgedanke im Unternehmen führt auch dazu, dass eigene Interessen der Abteilungsleiter und Führungskräfte zugunsten eines Mitarbeiters oder der Gesamtorganisation zurückgestellt werden. Einer Mitarbeiterin, deren Entwicklung der Vorgesetzte im Unternehmen fördern will, erklärt dieser: F (m): das heißt, wenn irgendwo in einem anderen Bereich etwas frei wird, dann ist das in Ordnung. Eh, um das deutlich zu machen, da wiederhole ich mich vielleicht, ne, eh, ich lasse damit eine meiner besten Leute weg, (4) ne, und das tue ich, auf der einen Seite will ich ja, dass ich, wiederum aus meiner Erfahrung, mein früherer Chef hat das gemacht, (1) ne, hat er gesagt, einerseits könnte er sich links und rechts eine runter hauen, dass er mich weg lässt, weil er ein riesen großes Loch reißt, ne, aber ich kann nicht egoistisch sein und sagen, meine, eh, eh, sagen wir einmal, mein Statement, oder sagen wir einmal, mein Standpunkt oder meine Stellung hier sind wichtig, ne, und dazu brauche ich den, und den lasse ich jetzt nicht hochkommen, nur damit ich gut da stehe, ich Erfolg habe, ich, du weißt schon, dieses Ich Ich, ne, sondern Team, ne M (w): Ja F: da muss man eben einmal in den sauren Apfel beißen, und sagen, eh, ok, gehen wir mal raus jetzt, das muss man eben dann sauber machen, ne, eine saubere Lösung finden. Sicherlich werde ich etwas dagegen haben, so von Knall auf Fall, ne, (WU MA II)
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Der Vorgesetzte beschreibt die Gratwanderung zwischen der Orientierung am eigenen Interesse bzw. dem Interesse seiner Abteilung und den Interessen seiner Mitarbeiterin bzw. der Gesamtorganisation („wenn irgendwo in einem anderen Bereich etwas frei wird, dann ist das in Ordnung“). Der Mitarbeiterin zu einer besseren Position zu verhelfen, sie dabei zu unterstützen, weiter zu kommen und an Einfluss im Unternehmen zu gewinnen, schadet unter Umständen seiner eigenen „Stellung“ im Unternehmen. Gleichzeitig erfährt das Unternehmen als Ganzes einen Zugewinn, weil eine Mitarbeiterin, die sich mit ihren spezifischen Fähigkeiten in der Organisation bereits bewährt hat, ihr Wissen nun auch in einer anderen Abteilung einsetzen kann. Handelte er „egoistisch“, ließe er seine Mitarbeiterin nicht „hochkommen“. Er gibt sich aber als „Team“-Player und stellt in dem Gesprächsausschnitt einerseits seine Großzügigkeit und sein Wohlwollen der Mitarbeiterin gegenüber zur Schau, indem er seinen beschriebenen Verzicht durch wiederholte Redepausen wirken lässt; andererseits demonstriert er seine, wie er meint, unter Entbehrungen geleistete Solidarität dem Unternehmen gegenüber („ich lasse damit eine meiner besten Leute weg“, „Team“, „in den sauren Apfel beißen“). Im Teamgedanken ist also eine gewisse Loyalität dem einzelnen Mitarbeiter und Kollegen gegenüber ebenso enthalten wie eine starke Orientierung an den Interessen des Gesamtunternehmens. Das Verhalten des früheren Vorgesetzten hat dabei Vorbildfunktion für die Führungskraft („mein früherer Chef hat das gemacht“). Was nun tatsächlich unter Teamfähigkeit als Führungskompetenz verstanden und in der Praxis gelebt wird, ist abhängig von der Haltung des jeweiligen Vorgesetzten: Für den einen ist es, die Mitarbeiter „im Boot“ zu behalten, für den anderen Erklärung und Information, für den dritten Loyalität dem Unternehmen gegenüber. Gelebt werden kann sie durch autoritäres „Reintrichtern“, schriftliche Informationen, mündliche Vorgaben oder Kollegialität. Allen gemeinsam ist die Orientierung an den Abteilungs- und Unternehmenszielen, wenn nicht sogar die Unterordnung unter diese. Von dieser Haltung zeugen auch die folgenden Gesprächsausschnitte, die die Bezogenheit des Teamgedankens auf die Gesamtorganisation noch deutlicher machen: F (m): Wie sieht die Mannschaft aus, fühlst du dich da wohl, dass, dass sagen wir einmal die Kapazitäten da sind, dass die Kenntnisse da sind?, du hast jetzt alle [Mitarbeitergespräche] mit den Mitarbeitern schon hinter dir […] F: Worauf wir jetzt bei dir noch achtgeben müssen, ist, dass wir, sagen wir einmal, gewisse Teamkoordinaten, Koordinatoren oder Gruppenleiter, wie es früher geheißen hat, nachziehen oder wirklich benennen, die dich dann in deinem Job unterstützen, dass du dich auf die Belange konzentrieren kannst, die die Geschäftsleitung von uns abfordert, wir haben ja da ein paar Punkte genannt projektbezogen, [Ortsname] wird hier ein Problempunkt sein, sehe ich auch so,
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7 Führung und Macht müssen wir unterstützen, weil das sind auch ein paar Mitarbeiter, die leben von unserer Arbeit und wenn die mit integriert werden, haben wir einen riesigen Vorteil dabei. (3) Was brauchen wir als Voraussetzungen oder hast du noch weitere Anmerkungspunkte? Da möchte ich jetzt nicht abwürgen. (WU FK II)
Zur Unterstützung des personalverantwortlichen Mitarbeiters innerhalb des Teams („Mannschaft“) sollen konkrete Personen benannt werden. Diese Benennung, die tatsächlich eine Benennung bzw. Betitelung („Koordinatoren oder Gruppenleiter“) ist, erfolgt durch Vorgesetzten und Mitarbeiter gemeinsam und erhält dadurch für die Mitarbeiter eine starke Verbindlichkeit. Es ist nicht nur ihr direkter Vorgesetzter, der sie auswählt und mit einem bestimmten Arbeitsauftrag versieht, sondern auch ihr nächsthöherer Vorgesetzter (vgl. Weibler 2003, 322f.). Das übergeordnete Ziel dabei ist, die Erwartungen der Geschäftsleitung an den gesamten Bereich („Belange […], die die Geschäftsleitung von uns abfordert“) zu befriedigen. Dass dadurch wiederum Mitarbeiter an einem anderen Standort unterstützt werden („die leben von unserer Arbeit“), ist dabei weniger bedeutsam als die Tatsache, dass durch deren Integration für die Abteilung und die Gesamtorganisation ein „riesigen Vorteil“ entsteht. Ähnliches gilt für die persönlichen Beziehungen innerhalb des Teams: F (m): Ich werde mit Argusaugen darauf schauen, wenn ich da irgendetwas bemerken sollte, so allgemein gesagt, ne, also nicht, betrifft ja dich nicht, wenn ich da irgendwas bemerken sollte, dass ich selbst spüre, ah, da können zwei nicht miteinander, werde ich einschreiten, aufgrund der eigenen Erfahrung, die ich gemacht habe, dass das das Schlimmste ist, ne, aber ich denke auch, bei Teamfähigkeit, jetzt muss ich ein bisschen, eh, super Sätze da hervorbringen, auch in Bezug auf die Ausrichtung, die die Firma [Firmenname] hat, auch die Ziele, aus meiner, also mein Denken ist es ganz klar, ne, und ich kann es von meiner, von meiner eigenen Erfahrung ableiten, wenn der einzelne Mitarbeiter, Kollege, wie man es auch immer betiteln will, mit einem unguten Gefühl zur Arbeit kommt, kann er nicht hundert, oder was heißt, hundert sind im Moment zu wenig, kann er nicht hundertzehn Prozent Leistung bringen, wenn er zwanzig Prozent seiner, seiner Kraft darauf verwendet, oh Gott oh Gott, jetzt muss ich aufpassen, und der, da darf ich jetzt keinen Fehler machen, und wenn ich da etwas Falsches sage, was Falsches anhabe, dann bekomme ich da eine drauf oder werde blöd angemacht oder angesprochen oder sonst irgendwas, ne, ehm, das ist nicht förderlich, erstens einmal für die, für die Firma [Firmenname], für den Ludwig, und Ziel soll natürlich sein, Umsatz steigern, Umsatz erst einmal sichern, Umsatz steigern, eh, Kundenzufriedenheit eh, eh, erhöhen, die ganzen Stichpunkte, die wir vorher schon angesprochen haben, […], weil das aus eigener Erfahrung, das im Prinzip kontraproduktiv ist, ne, dass man wirklich einen Teil von seiner Kraft, von seinem Potential darauf verwendet, dass man da irgendwie, irgendwelche Nebenkriegsschauplätze zu, zu meistern hat, deswegen Teamfähigkeit. (WU MA II)
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„[F]ür die Firma […], für den Ludwig17“ ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Vorgesetzten. Auf sie und nicht nur auf seine Mitarbeiter schaut er mit „Argusaugen“ und übernimmt als Führungskraft Verantwortung für deren Ziele. Der Vorgesetzte versteht sich als Sprachrohr für das Unternehmen, wenn er versucht, durch „super Sätze“ die „Ausrichtung“ der Firma deutlich zu machen. Die Verpflichtung gegenüber dem Teamgedanken resultiert nicht nur aus seiner „eigenen Erfahrung“, sondern ist vor allem eine Verpflichtung dem Unternehmen gegenüber. Dies zeigt sich auch darin, dass eine gute Stimmung im Team aus seiner Sicht nicht etwa Selbstzweck ist und die Abwesenheit von Mobbing am Arbeitsplatz eine angenehme Rahmenbedingung für den einzelnen Mitarbeiter sein könnte, sondern in erster Linie Gewinn bringend („erstens“, „Umsatz steigern“) für das Unternehmen ist, denn nur so können die Mitarbeiter die von ihnen erwarteten 110 Prozent Leistung für das Unternehmen bringen. Konflikte am Arbeitsplatz und ein schlechtes Beziehungsgefüge im Team sind also in erster Line Ressourcenverschwendung („Kraft“, „Potential“). Teamfähigkeit ist im Wirtschaftsunternehmen also stark leistungs- und outputorientiert. Das einzelne Team einer Abteilung oder einer Projektgruppe steht stellvertretend für die Orientierung an den Zielen der Gesamtorganisation. Über den Teamgedanken ist der einzelne Mitarbeiter unmittelbar mit dem Unternehmen verbunden. Entsprechend ist auch Führung stark teamorientiert. Sie beschreibt nicht das dyadische Verhältnis zwischen Vorgesetztem und einzelnen Mitarbeitern; Führung steht für die Formierung eines Teams, in dem jeder seine Aufgabe respektive seinen Auftrag für das Gesamtunternehmen zu erfüllen hat.
7.2.3 Machtvolle Muster 7.2.3.1
„dass die ganz einfach nahezu unfähig sind, eine neue Verantwortung, eine umdefinierte Verantwortung aufzunehmen“
Der Führungsnachwuchs wird im Wirtschaftsunternehmen weitestgehend aus den eigenen Reihen rekrutiert, was durch die gezielte Karriereplanung in den Mitarbeitergesprächen (s. Kap. 8) und die Einführung von Development Centern (vgl. WU FK IV) unterstützt wird. Die Führungskräfte wachsen im Unternehmen heran, kennen die Produktpalette, was durch die Items in den Gesprächsbögen immer wieder überprüft wird, sind mit der Unternehmenskultur vertraut und wandern über die Jahre auf der Karriere- bzw. Hierarchieleiter nach oben. Dies 17
Vorname des Geschäftsführers
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7 Führung und Macht
bildet sich auch am Alter der Führungskräfte und ihrer jeweiligen Position im Unternehmen ab: An den einflussreicheren Stellen sitzen tendenziell ältere Mitarbeiter, die schon über einen längeren Zeitraum im Unternehmen sind. Man begegnet selten sprunghaften Karrieren oder Einsteigern von außen in hohe Positionen. Eine Ausnahme stellt hier eine Schnittstellenfunktion dar, in der besondere Qualifikationen benötigt werden, weil sie „Teilaspekte von verschiedenen Bereichen“ (WU PZ MA I) betrachtet. So findet eines der Probezeitgespräche mit einem jungen Mitarbeiter statt, der direkt von der Hochschule auf eine neu geschaffene Stelle gesetzt wird, weil er sowohl ein betriebswirtschaftliches als auch ein technisches Studium abgeschlossen hat: F1 (m): Ja gut, ich meine, das ist sehr wichtig, das Thema ist einfach, diese Stelle die hat (2) betrachtet Teilaspekte von verschiedenen Bereichen, es kann Ihnen dann auch passieren, dass die eine oder andere Stelle, zu der wir Sie hinschicken zur Einarbeitung ein bisschen, wie will ich sagen, irritiert ist bis, das kann auch sein, dass Sie ein bisschen Widerstände da fühlen, weil, weil die Leute unter Umständen Angst haben, dass Sie ihnen, eh, die Arbeit wegnehmen. M (m): Ja. F2 (m): Das haben wir ja gestern auch erlebt, ne, M: Ja, ja. F2: beim Städtler da hinten waren, auch erst einmal, ich merke das ja dann immer, eh, so Aussagen, die dann kommen, so, ja, und wir sind hier zentral, da haben wir die, die Leute, die Erfahrung haben, und die muss auch zentral bleiben diese Aufgabe und die, diese, diese Stelle, die wir da für das Unternehmen ausüben, ne. Das, das kam sofort, also, beim zweiten, dritten Satz kam schon der Satz, ne. (WU PZ MA I)
Der neue junge Mitarbeiter auf der neu geschaffenen Stelle verunsichert die älteren langjährigen Mitarbeiter. Diese befürchten, dass man ihnen Kompetenzen entziehen könnte. Die älteren Mitarbeiter nehmen sich und ihre Bereiche mit ihrer Erfahrung als bedeutsam („zentral“) „für das Unternehmen“ wahr und wollen diese aus ihrer Sicht mit Macht und Einfluss verbundenen Aufgaben nicht abgeben. Das Recht des Älteren und Erfahreneren hat im Unternehmen eine gewisse Tradition, was sich wie oben beschrieben auch in der formalen Hierarchie bzw. Stellenstruktur abbildet. Im Zuge von Neuorientierungen im Unternehmen sollen dahingehend Veränderungen stattfinden. Jedoch: F1 (m): […] die Leute haben sich noch nicht daran gewöhnt, dass die Firma anders tickt, dass, dass, dass […] im Rahmen von der prozessorientierten Organisation die Verantwortungen verschoben werden, und das Schlimme ist, dass wenn Leute längere Zeit in gewissen Positionen oder Funktionen waren, dass die ganz einfach nahezu unfähig sind, eine neue Verantwortung, eine umdefinierte Verantwortung aufzunehmen, die meinen immer, wenn ich das nicht genauso mache, wie ich das in der Vergangenheit gemacht habe, ne, dann, dann habe ich keine Arbeit
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mehr, erkennen aber nicht, ne, dass sie eigentlich eine ganz andere, eine ganz neue Arbeit haben und nehmen die auch gar nicht wahr, ne, (WU PZ MA I)
Die Angst davor, mit dem eigenen Know-how und den eigenen Erfahrungen für das Unternehmen nicht mehr wichtig zu sein, und dadurch die eigene Position, also Macht und Einfluss, bzw. möglicherweise sogar die eigene Stelle zu verlieren, verhindert, dass neue Aufgaben gesehen und angegangen werden und für das Unternehmen wichtige Veränderungsprozesse voran kommen.
7.2.4 Zusammenfassung In den Gesprächen des Wirtschaftsunternehmens sind die Hierarchiestufen mindestens über drei Ebenen hinweg präsent. Meist werden der nächsthöhere Vorgesetzte eines Mitarbeiters erwähnt oder es wird auf die Mitarbeiter, die dem Mitarbeiter untergeordnet sind, Bezug genommen. Im Falle eines Probezeitgesprächs nehmen sogar der direkte Vorgesetzte und der nächsthöhere Vorgesetzte eines neuen Mitarbeiters am Gespräch teil (WU PZ MA I). Die Unternehmenshierarchie ist damit gewissermaßen allgegenwärtig und transparent, ohne dass sie als solche thematisiert oder gar problematisiert würde. Im Gegenteil, im konkreten Fall wird sie sogar geschätzt: M (m): So lange eine Chance besteht, dass die Hierarchien weiter so bleiben, (beide lachen) F (m): Ich hoffe es. M: dass Rosner, Sing, Zeilringer, dann ist mir das egal, sage ich jetzt einmal, in welcher Position, bloß F: Da müssen Sie mit dem Rosner reden. (WU FK VII)
Wie eingangs mit Weibler (2003) beschrieben kann hier von einer strukturellen Führung durch den bzw. die nächsthöheren Vorgesetzten ausgegangen werden, die über die Kultur, die Strategie und die Organisation bzw. die Struktur des Unternehmens wirkt (vgl. ebd., 319). Führung funktioniert über eine implizite Allgegenwart der Gesamtorganisation und ihrer Ziele und aus dieser heraus über eine formale Zuordnung zu einer Person in einer bestimmten Position, was bspw. durch die Existenz klarer schriftlicher Stellenbeschreibungen unterstützt wird. Vor diesem Hintergrund wirkt Führung in dem Sinne, dass eine Person stellvertretend für die Ziele der Gesamtorganisation steht, so selbstverständlich, dass offensichtlich auch ein bestimmter Führungsstil nicht diskutiert oder problematisiert werden muss. Führung wird, so der Eindruck, weitestgehend unabhängig
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von der führenden Person auf das Beherrschen eines technischen Instruments heruntergebrochen und kann entsprechend leicht und schnell in einem Seminar vermittelt werden. Dass Führung über ein erlernbares Instrument hinaus auch etwas mit der Erfahrung des Führenden zu tun hat, wird zwar in einigen Gesprächen angesprochen; das Gespräch selbst wird aber kaum zum diesbezüglichen Erfahrungsaustausch zwischen Vorgesetztem und personalverantwortlichem Mitarbeiter genutzt. Während Führung ganz selbstverständlich nicht oder wenig besprochen wird, erhält der Teamgedanke in den Gesprächen große Aufmerksamkeit. Er wird als Auftrag oder Mission im Namen der Gesamtorganisation begriffen. Im Teamgedanken spiegelt sich wiederum die starke Orientierung an den Zielen der Gesamtorganisation. Auch hier findet sich der hierarchiestufenübergreifende Bezug: Die Solidarität im Team, die auch das Verhältnis von Vorgesetztem und Mitarbeiter einschließt, fungiert als Übungsfeld für die Loyalität der Mitarbeiter dem Unternehmen gegenüber. Teil dieser Solidarität mit den Mitarbeitern und gleichzeitig Teil des Instruments zur Herstellung der Loyalität dem Unternehmen gegenüber ist ein umfassendes unternehmensspezifisches Wissen aller Mitarbeiter. Jeder soll im Sinne des Kompetenzprofils des Unternehmens kompetent sein („[Firmenname]Kompetenzen“). Dadurch hat jeder Mitarbeiter zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit, sich an den Prinzipien und Zielen der Gesamtorganisation zu orientieren und diese zur Grundlage seines Handelns zu machen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch der Vorrang, den die Führungskräfte und Mitarbeiter den Unternehmensinteressen vor den eigenen Machtansprüchen einräumen. Auf formaler Ebene wird die Orientierung an den Zielen der Organisation durch eine klare Trennung von Person und Position unterstützt. Schriftlich fixierte Regelungen und Strukturen erfahren eine hohe Akzeptanz bzw. haben einen hohen Stellenwert, was zu einer großen Klarheit der einzelnen Rollen in der Organisation führt. Formale Vorgaben, wie bspw. der Bogen für das Mitarbeitergespräch, werden strikt eingehalten. Die klaren Strukturen und die über Stellenprofile eindeutig festgeschriebenen, kommunizierten und überprüfbaren Rollenerwartungen schränken die Möglichkeit von Aushandlungsprozessen stark ein. Dadurch entstehen kaum Energie- und Reibungsverluste. Wer führt, setzt die Ziele, macht Vorgaben und trifft Entscheidungen. Die angestrebte Transparenz hinsichtlich der Gründe für diese Entscheidungen hat nicht Partizipation der Mitarbeiter zum Ziel, sondern stellt lediglich eine größtmögliche Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen sicher.
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Vor diesem Hintergrund wird die Macht deutlich, die das Muster der „definierten Verantwortung“ im Unternehmen hat oder zumindest bisher hatte. Diese sorgt in vielen Situationen bspw. in Form von Stellenbeschreibungen und Anforderungsprofilen für klare Zuständigkeiten und Machtverhältnisse. Offensichtlich erschwert es dieses Muster aber den Mitarbeitern, „eine umdefinierte Verantwortung aufzunehmen“ und sich für neue Aufgaben zuständig zu fühlen, diese also überhaupt erst einmal zu sehen. Was auf der einen Seite Sicherheit schafft und durch seine Eindeutigkeit Ruhe in die Beziehungen im Unternehmen bringt, wie die Beispiele zum Thema Führung und Hierarchie gezeigt haben, hemmt auf der anderen Seite Entwicklungsprozesse. Mitarbeiter, die es gewohnt sind, in klaren aber starren Strukturen zu arbeiten, welche nur durch Weisung von oben verändert werden können, haben nicht gelernt, in einem dynamischen Prozess flexibel zu reagieren und sich ihren Platz und ihre Aufgaben selbst zu suchen. Sie empfinden es möglicherweise als legitim, sich gegen Veränderungen ihrer Zuständigkeit erst einmal zu sperren. Das Unternehmensziel der „prozessorientierten Organisation“ wird es in einigen Bereichen des Unternehmens deswegen unter Umständen schwer haben, sich durchzusetzen. Die in Kapitel 5 erwähnte Veränderung in der Geschäftsführung (s. a. Kap. 9) des Wirtschaftsunternehmens vermag es, widersprüchlich erscheinende Beobachtungen im Zusammenhang mit dem Thema Führung in den Gesprächen zu erklären: Die Führungskräfte auf höheren Hierarchieebenen sind typischer Weise älter als ihre Kollegen auf einer mittleren Führungsebene. Gleichzeitig ist ihre Verweildauer im Unternehmen auch entsprechend länger als die ihrer jüngeren Kollegen. Sie, die Älteren, sind es, die sich bei ihren Mitarbeitern erkundigen, wie sich diese von ihnen unterstützt fühlen und die die Beziehung zwischen sich selbst als Vorgesetztem und ihrem Mitarbeiter überhaupt thematisieren. Sie sind zu einem Zeitpunkt ins Unternehmen eingetreten, zu dem das Unternehmen noch wesentlich stärker als heute von der Leitung des patriarchalen Firmenoberhaupts geprägt war. Persönliche Beziehungen und die Verbundenheit der Eigentümerfamilie gegenüber waren damals von noch größerer Bedeutung. Sie fühlen sich möglicherweise noch alten Mustern verpflichtet, die durch die Managementleitung und gravierende Umstrukturierungen im Unternehmen nach und nach durch neue ersetzt werden, die heute bereits den betrieblichen Alltag dominieren.
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7 Führung und Macht
7.3 Vergleich
7.3.1 Muster organisationaler Praxis und Verankerung im theoretischen Diskurs Die jeweilige Ausprägung des Themas Führung in den Gesprächen kann mit der unterschiedlichen Struktur der beiden Organisationen erklärt werden. Im Sozialunternehmen wird in den Vorgesprächen die Ausbildung flacherer Hierarchien betont; im Wirtschaftsunternehmen dagegen ist die ausgeprägte Hierarchie, auch ohne in den Gesprächen direkt thematisiert zu werden, vollkommen offensichtlich.18 Es ist klar, wer hier wem vorgesetzt ist, wer wen beurteilt und wer wen unterstützt und weiterentwickelt. Es gibt kein Abwägen zwischen kooperativem und autoritärem Führungsstil. Sämtliche Stellen im Unternehmen sind eindeutig durch ein Stellenprofil definiert und mit den notwendigen Kompetenzen hinterlegt, auch und im Besonderen die Positionen der Führungskräfte. Natürlich entbindet dies die Führungskräfte nicht davon, sich selbst als Persönlichkeiten Akzeptanz zu verschaffen; in ihrer Position im Unternehmen können sie aber auf klare Strukturen zurückgreifen, die für jeden transparent sind. Durch klare Hierarchien und klare Kompetenzen werden, sofern die Führungskräfte sich fachlich ausweisen können, Autoritätsprobleme vermieden. Damit gleicht das Wirtschaftsunternehmen in seiner Struktur stark dem Weberschen Bürokratiemodell. Die sogenannte legale Herrschaft, also die Herrschaft „im Namen nicht einer persönlichen Autorität, sondern im Namen der unpersönlichen Norm“ (Weber, zitiert nach Fischer 2004, 28f.), nimmt typischerweise die Form bürokratischer Organisation an. Diese ist wiederum ein Machtinstrument, über das der Herrscher, der selbst der gesatzten Ordnung unterliegt, verfügen kann (vgl. ebd. 160). Führung, Macht und Hierarchie müssen hier also nicht thematisiert, diskutiert oder problematisiert werden; sie liegen in der für sich mächtigen formalen Struktur der Organisation. Für die bürokratische Organisation sind einige Strukturmerkmale charakteristisch, die in den Mitarbeitergesprächen des Wirtschaftsunternehmens immer wieder durchscheinen, auch wenn sich die Organisation in den letzten zehn Jahren stark an neue Organisationsformen, wie der Matrix-Projektorganisation (vgl. Schreyögg 2008, 160) angepasst hat. Dazu gehören Arbeitsteilung und Befehlsgewalt, Amtshierarchie, Regelgebundenheit der Amtsführung und Aktenmäßig18
Explizit über Hierarchie gesprochen wird lediglich im Zusammenhang mit Karriereplanung (vgl. WU FK VII).
7.3 Vergleich
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keit der Verwaltung. So findet sich im Wirtschaftsunternehmen eine klare Trennung einer formalen Position oder Stelle von der Person, die sie besetzt. Die Grundlage für die Mitarbeitergespräche bilden Kompetenzkataloge, die zunächst einmal ungeachtet der Persönlichkeit des Mitarbeiters Ausgangspunkt für einen Soll-Ist-Vergleich der Kompetenzen des Mitarbeiters sind. Zwar werden in den überfachlichen Kompetenzen Bereiche angesprochen, die die Persönlichkeit der Mitarbeiter betreffen, aber auch hier geht es weniger um die Persönlichkeit des Mitarbeiters als um die Passung in das Idealprofil eines A-Mitarbeiters, denn die überfachlichen Kompetenzen sind in allen Gesprächen identisch (s. o.). Pflichten, Befugnisse, Kompetenzen, ja sogar eine bestimmte Form des organisationsspezifischen Wissens, sind personenunabhängig. Weiterbildung wird, wie Kapitel 8 noch deutlicher zeigt, einem Mitarbeiter nicht nach Interesse angeboten, wie es im Sozialunternehmen überwiegend der Fall ist, sondern werden ihm dann nahe gelegt, wenn sich sein Kompetenzprofil nicht mit dem Stellen- oder Anforderungsprofil deckt. Formale Vorgaben, wie der Bogen zum Mitarbeitergespräch, werden strikt eingehalten (Regelgebundenheit der Amtsführung), wodurch den Gesprächsinhalten verbunden mit dem überall herrschenden Zeitdruck relativ enge Grenzen gesetzt sind – sie gehen selten über die Vorgaben im Bogen hinaus. Nur an einer Stelle gibt es eine konsequente Abweichung vom Bogen, nämlich bei der Frage nach vom Mitarbeiter freiwillig initiierten Maßnahmen, wie Literaturstudium.19 Ebenso selten fragen die Vorgesetzten nach Feedback von ihren Mitarbeitern. Auch dies ist im Bogen nicht vorgesehen. Einer der wenigen, der trotzdem darum bittet, erwähnt in diesem Zusammenhang, dass es bald eine offizielle „Kann-Veranstaltung“ für Führungskräftefeedback geben wird. Dazu werden Fragebögen eingeführt, „damit sich da nicht jeder etwas ausdenken muss“ (WU MA II). Das Handeln der Einzelnen, und darunter fällt auch das Führungshandeln, wird also durch technische und normative Verfahrensregeln, hier Prozesse genannt, angeleitet. Die Vorgänge werden schriftlich dokumentiert und von höherer Ebene kontrolliert, so dass die personenunabhängige Kontinuität aller Maßnahmen gewährleistet ist. Im Gegenzug dazu die Führungspraxis des Sozialunternehmens als eine im Weberschen Sinne traditionale Herrschaft zu bezeichnen, geht zwar im Hinblick auf die offiziellen Strukturen zu weit; nichts desto trotz finden sich im Sozialun19
Dieser Punkt wird, obwohl im Bogen enthalten, nur von einer einzigen Führungskraft angesprochen und auch hier nur, um die empfundene Bedeutungslosigkeit zu betonen: „Irgendwelches (1) Literaturstudium, wo ich bei sage, ff, was interessiert mich, wenn du nebenbei ein Lit- ein Literaturstudium machst“ (WU MA II).
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7 Führung und Macht
ternehmen deutliche Züge von Gerontokratie und Patriarchalismus (vgl. Weber 1964, 170), besonders auf der informellen Ebene, auf der auch eher informelle historisch gewachsene Muster und Machtmechanismen wirksam sind, die trotz aller Umstrukturierungen und Neuerungen weiter Bestand haben. Die Entwicklung des Sozialunternehmens aus einer familienähnlichen Gemeinschaft, in der Einfluss und Kompetenzen nicht selten mit dem Lebensalter verbunden sind, zeigt sich bspw. im Falle der Einrichtungsleitung, die feststellt: „ich werde hier immer neu bleiben, wenn ich zehn Jahre da bin, dann sind andere schon vierzig Jahre da“ (SU FK II). Es sind also „die (ursprünglich im wörtlichen Sinn: an Jahren) Ältesten, als beste Kenner der heiligen Tradition“, die die Herrschaft ausüben; ein Phänomen, das sich nach Weber häufig in „nicht primär ökonomische[n] oder familiale[n] Verbände[n]“ (Weber 1964, 170) zeigt. Im Sozialunternehmen fungieren viele Einrichtungen, insbesondere in der Behindertenhilfe, für die Klienten oder „Bewohner“ als Familienersatz. Dies kommt auch in Gesprächen zum Ausdruck: „egal, was dann abläuft, ne, (lachend) also so was dann innerhalb der Familie sozusagen passiert“ (SU FK II). Hier wird die Einrichtung mit ihren Mitgliedern als Familie, als in sich geschlossene Gemeinschaft bezeichnet, deren Oberhaupt die Führungskraft ist. Die „Familienmitglieder“ sind auf einer Ebene angesiedelt und unterscheiden sich in ihren Rechten und Pflichten hauptsächlich durch ihr Alter. „Entscheidend ist dabei: daß die Gewalt der Gerontokraten sowohl wie des Patriarchen im reinen Typus an der Vorstellung der Beherrschten („Genossen“) orientiert ist, daß diese Herrschaft zwar traditionales Eigenrecht des Herren sei, aber material als präeminentes Genossenrecht, daher in ihrem, der Genossen, Interesse ausgeübt werden müsse, ihm also nicht frei appropriiert sei. Das, bei diesen Typen, völlige Fehlen eines rein persönlichen (,patrimonialen‘) Verwaltungsstabs des Herren ist dafür bestimmend. Der Herr ist daher von dem Gehorchenwollen der Genossen noch weitgehend abhängig, da er keinen ,Stab‘ hat“ (Weber 1964, 170).
Hier sei ebenso an die Mitarbeiter erinnert, die in den Augen der Führungskraft einen „sehr hohen Anspruch“ an ihre Arbeitssituation und ihren Vorgesetzten stellen und die genau „verfolgen“, ob ihre Interessen von den Vorgesetzten vertreten werden, wie an das Problem der Delegation, das, abhängig von der Loyalität der Mitarbeiter, eben diesem Gehorchenwollen, das Weber beschreibt, unterliegt.
7.3 Vergleich
145
7.3.2 Auswirkung der Praxismuster auf Lernprozesse – Personalentwicklung als pädagogische Praxis?! Die Beobachtungen im Rahmen der Gespräche, die zu der Vermutung geführt haben, dass viele Konflikte innerhalb des Sozialunternehmens dadurch entstehen und dass individuelle und organisationale Entwicklungsprozesse dadurch behindert werden, dass zu wenig formale Vorgaben wie zum Beispiel Stellenbeschreibungen existieren, finden hier eine andere Erklärung: Es existieren sehr wohl offizielle Regeln, aber neben den offiziellen Strukturen wirken in der Organisation nach wie vor traditionelle Muster, die neue Regelungen, wann immer ein kleiner Spielraum entsteht, in Frage stellen oder unterlaufen. Zu diesen über Jahrzehnte gewachsenen Mustern kommt der professionelle Habitus der in weiten Teilen in irgendeiner Form pädagogischen Mitarbeiter im Sozialunternehmen, der dazu beiträgt, dass auch bestehende Regeln, Absprachen und Strukturen immer wieder in Frage gestellt werden. Die Praxismuster von Führung und Macht rahmen Lern- und Lernunterstützungsprozesse bzw. Prozesse der Personalentwicklung. Wie Felsch (1999) mit ihrem mikropolitisch verankerten Ansatz nahe legt, finden individuelle und organisationale Lernprozesse, Personal- und Organisationsentwicklung sowie deren Verknüpfung nie ohne Aushandlungsprozesse auf mikropolitischer Ebene statt, so dass ein bestimmter Führungsstil und die Bereitschaft, Kompetenzen an Mitarbeiter abzugeben, einen wesentlichen Einfluss auf die Lernmöglichkeiten hat, die die Mitarbeiter an ihrem Arbeitsplatz vorfinden. Das lässt sich durch die vorgestellten Gesprächsausschnitte aus beiden Organisationen belegen. Führung und Teamorientierung können aber auch selbst als Bestandteil von Personalentwicklung betrachtet werden, wenn bspw. die pädagogischen Muster der Unterstützung und Hilfe als Teil der Führungspraxis durch die Bereitstellung von Ressourcen und Strukturen Entwicklungsprozesse der Mitarbeiter ermöglichen oder Lernunterstützung als Bestandteil des Teamgedankens expliziert wird, wie ein Beispiel des Wirtschaftsunternehmens zeigt. Der kooperative Führungsstil, der auch als Merkmal pädagogischen Führens (vgl. Fischer 2001) beschrieben wird, hat zwar nicht zwangsläufig eine lernunterstützende Funktion. Er kann aber dann als Aspekt von Personalentwicklung betrachtet werden, wenn er tatsächlich partizipative Elemente enthält, die Mitarbeiter also an konkreten Prozessen und Entscheidungen beteiligt und dadurch individuelle Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet werden. In beiden Organisationen weisen die Praxismuster im Rahmen der Personalentwicklung zumindest ein pädagogisches Potential auf: Es besteht ein Be-
146
7 Führung und Macht
wusstsein für die entwicklungs- und lernförderlichen Möglichkeiten eines kooperativen Führungsstils bzw. eines freieren Führens, wie es im Wirtschaftsunternehmen einmal bezeichnet wird. Die Eigenverantwortung und die Selbsttätigkeit der Mitarbeiter, die dadurch gefördert werden kann, wird im Sozialunternehmen auch immer wieder als Gewinn für den Mitarbeiter selbst hervorgehoben, im Wirtschaftsunternehmen als Gewinn für die Weiterentwicklung der Abteilung und der Organisation betrachtet. Im Sozialunternehmen wird insbesondere das stabilisierende Potential von Führung deutlich, wenn auch nicht immer umgesetzt. Im Wirtschaftsunternehmen tritt der stabilisierende und aufklärende Aspekt der Teamfähigkeit als Bestandteil der Vermittlung individuellen und organisationalen Wissens und Könnens zu Tage. Die Bereitschaft der Führungskräfte, zu unterstützen und die Mitarbeiter zu Eigenverantwortung und Selbsttätigkeit zu führen, zeigt sich in beiden Organisationen. In der Umsetzung wird diese jedoch durch organisationale Muster behindert, die im Sozialunternehmen sowohl auf der Ebene der Individuen als auch auf der Ebene der Organisation destabilisierend wirken (wie bspw. das Fehlen von Rollenvorbildern für den kooperativen Führungsstil und das In-Frage-stellen von formalen Strukturen und Entscheidungen) und die im Wirtschaftsunternehmen die Handlungsspielräume des Einzelnen einengen (wie bspw. der Vorrang der organisationalen Interessen vor individuellen Lern- und Entwicklungszielen). Grundsätzlich kann nicht zuletzt überall dort von Personalentwicklung als pädagogischer Praxis gesprochen werden, wo Führung den Charakter von Beratung annimmt, wo diese als kritische Aufklärung (vgl. Mollenhauer 1965) verstanden wird und zumindest der Versuch unternommen wird, Machtfragen außen vor zu lassen, dort wo Freiräume für die Mitarbeiter eingeräumt und dadurch Lern- und Veränderungsmöglichkeiten eröffnet werden. Im Sozialunternehmen gehören diese Freiräume zum Führungsverständnis der meisten Vorgesetzten. Im Wirtschaftsunternehmen werden sie stets mit Bezug auf die Ziele der Gesamtorganisation eröffnet wie auch begrenzt. In beiden Organisationen wirken auf der Ebene von Führung und Macht mustermimetische Lernprozesse. Auch wenn im Wirtschaftsunternehmen Führung als leicht und schnell in Seminaren vermittelbar betrachtet wird, zeigt sich in beiden Organisationen, dass die jeweilige Haltung, die dem Führungshandeln zugrunde liegt, über mimetische Lernprozesse inkorporiert wird. Orientierungspunkte bieten in beiden Organisationen sowohl die organisationalen Muster und Strukturen sowie das daraus gespeiste Verhalten der Vorgesetzten.
8 Weiterbildung
Laut Definition der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung ist Weiterbildung „die Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierten Lernens nach Abschluss einer ersten Bildungsphase und nach Aufnahme einer Berufstätigkeit“ (BLK, zitiert nach Arnold/ Schüßler 2002, 115; vgl. Weisser 2002, 19f.). Da es sich im Falle der untersuchten Mitarbeitergespräche um erwachsene Beschäftigte handelt und die Maßnahmen mehr oder minder im Kontext einer bestimmten Tätigkeit in einer Organisation stattfinden, geht es im Folgenden insbesondere um betriebliche Weiterbildung als eine „unternehmerische Form der Weiterbildung“ (Weisser 2002, 140; vgl. Kade/ Nittel 2002, 200). In beiden Organisationen ist die Festlegung von Weiterbildungsmaßnahmen Bestandteil des Mitarbeitergesprächs. Entsprechend ist hier nicht die Tatsache, dass, sondern die Frage, wie das Thema Weiterbildung in den beiden untersuchten Unternehmen gehandhabt wird, von Bedeutung. Weiterbildung steht seit den 60er-Jahren verstärkt im Fokus des betrieblichen Interesses (vgl. Faulstich 1998, 44). Galten Betriebe lange Zeit ausschließlich „als Stätte der Produktion und Dienstleistung“ (Gonon/ Stolz 2004, 9), dienen Weiterbildungsaktivitäten den Firmen unter dem damals gegebenen Mangel an Arbeitskräften in der Öffentlichkeit als Werbung für die Unternehmen. Insbesondere größere Unternehmen stellen hauptamtliches Personal im Weiterbildungsbereich ein (vgl. Büchter 2002, 349). In Zeiten zunehmender Globalisierung und schnellen technologischen und organisationalen Wandels gilt betriebliche Weiterbildung heute als wesentlicher Faktor zur Erhaltung bzw. Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und sichert gleichzeitig die Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiter (vgl. Weisser 2002, 139; Becker 2002, 1; Faulstich 1998, 48). Laut Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) tragen 1992/93 die Betriebe mit annähernd 50 Prozent auch den mit Abstand größten Anteil an den Kosten beruflicher Weiterbildung im Vergleich zur Bundesagentur und der öffentlichen Hand (vgl. Arnold/ Schüßler 2002, 123). Auf diese Zahlen bezieht sich auch der BMBF-Bericht zur Weiterbildungssituation in Deutschland von 2003 (BMBF 2003, 292).
I. Sausele-Bayer, Personalentwicklung als pädagogische Praxis, DOI 10.1007/978-3-531-94021-2_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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8 Weiterbildung
Nicht nur in der Praxis, auch im theoretischen Diskurs rückt Weiterbildung in den letzten Jahren immer näher an den Betrieb (vgl. Büchter 2002, 337) und im Zuge neuerer Konzepte zum arbeitsplatznahen Lernen sogar unmittelbar an den Einsatzort im Unternehmen heran (vgl. Severing 1994). Hat sich die Pädagogik noch bis in die 1980er-Jahre über den Beruf als spezifisches Kompetenzbündel auf den Betrieb bezogen (vgl. Harney 2002, 187), wird in den 90erJahren im pädagogischen Diskurs der Beruf als Bezugsgröße für weiterführende Lernprozesse durch den Betrieb als Ort der „Pädagogisierung des Lebenslaufs“ (ebd., 192) abgelöst. Ausgehend vom spezifischen Bedarf des Betriebs sollen die Mitarbeiter teamfähig, flexibel, schlüsselqualifiziert und sich selbst steuernd sein (vgl. ebd.). Gonon meint sogar, dem Betrieb eine erziehende Funktion für Subjekt und Gesellschaft sowie möglicherweise eine Vorbildfunktion für die Pädagogik selbst zuschreiben zu können (vgl. Gonon 2002). Sowohl aus betriebswirtschaftlicher als auch aus pädagogischer Perspektive wird betriebliche Weiterbildung – oder je nach Verständnis und Blickwinkel auch „berufliche Weiterbildung“ (Arnold/ Schüßler 2002, 116) oder „Berufsbildung“ (Becker 2002, 34) in Abgrenzung zu einer allgemeinen, nicht berufsbezogenen Erwachsenenbildung – als Bestandteil der Personalentwicklung wahrgenommen (vgl. Becker 2002, 6; Münch 1995, 16). Allein diese unterschiedlichen Bezeichnungen und Zuordnungen von Weiterbildung im Kontext einer aktuellen Berufstätigkeit weisen aber bereits auf teilweise parallel, teilweise kontrovers laufende Diskurse hin, die sich in den Fragen, die in den dazugehörigen Veröffentlichungen aufgeworfen werden, niederschlagen: Dort wird betriebliche Weiterbildung zwischen „Bildung und oder oder Qualifikation?“ (Arnold 1995) gestellt: Weiterbildung balanciert zwischen „beruflicher Qualifizierung und persönlicher Entwicklung“ (Schmidt-Peters 1999). Betriebliche Weiterbildung wird als „berufsbiographische Krisenbewältigung“ (Wittwer 1995) verstanden. Die Veröffentlichungen postulieren hier eine Konvergenz zwischen pädagogischen und ökonomischen Interessen im Hinblick auf betriebliche Bildungsprozesse (vgl. Harteis 2002), dort eine Differenz zwischen pädagogischen und betrieblichen Leitideen (vgl. Kuper 2000). Zwar häufen sich die Veröffentlichungen, die eine Annäherung dieser unterschiedlichen Konzepte nahe legen, trotzdem flackert immer wieder die Diskussion um das Verhältnis von Bildung und Qualifikation, von Identitätslernen und Qualifikationslernen auf. Sie geht zurück auf die „Nostalgie der zweckfreien Bildung“ (Apitsch, zitiert nach Arnold 1995, 1), abgeleitet aus der Bildungstheorie Humboldts, aus der eine „grundlegende Skepsis gegenüber allen Erwartungen“ (Arnold 1995, 1), die die Marktgesellschaft an den einzelnen stellt, sowie
8 Weiterbildung
149
„die Kritik der Eingrenzung von Selbständigkeit und Selbsttätigkeit in einem auf Arbeitsmarkt und Beruf gerichteten Lernen“ (ebd.) sprechen. Der Qualifikationsbegriff hingegen enthält eben diese von außen geleiteten Anforderungen an eine Person, die für bestimmte Tätigkeiten und Funktionen qualifiziert werden soll. Alles Lernen ist dabei dem „Maßstab betrieblicher Nützlichkeit“ (Meueler, zitiert nach Arnold 1995, 2) bzw. einer strengen „Zweck-Mittel-Rationalität“ (Kade, zitiert nach Arnold 1995, 1) unterworfen. Arnold selbst spricht bereits 1995 von einer „Verflüchtigung des Streitgegenstandes“ (1995, 5), die er auf drei im theoretischen wie praxisnahen Diskurs beobachtbare Tendenzen zurückführt: Der Bedeutungsverlust des Bildungskonzepts geht einher mit einem neuen „Modernitätsverständnis betrieblicher Rationalität“ (Harney, zitiert nach Arnold, 9) und weicht die Gegensätze zwischen Bildung und Qualifizierung auf. Mit der „Erosion des Zweckhaft-Fachlichen“ (Arnold 1995, 12) beschreibt er den Bedeutungsverlust tief greifender fachlicher Spezialisierung. An ihre Stelle treten allgemeinbildende Kenntnisse und ein ausreichendes berufliches Grundwissen. Beide Entwicklungen führen zu einer Bedeutungszunahme reflexiver Kompetenzen des Einzelnen, was Arnold zum Postulat einer „bildenden Qualifizierung“ führt, einer „Kräftebildung durch lebendiges und reflexives Lernen“ (ebd., 16). Vor diesem Hintergrund rücken Lernprozesse in den Mittelpunkt des Interesses, in denen ein Individuum die Voraussetzungen dafür erwirbt, sich selbsttätig, selbstorganisiert sowie mit kritischem Urteil und gestaltend mit den erforderlichen Handlungs- und Lernanforderungen auseinandersetzen zu können, wenn es sich mit diesen konfrontiert sieht (vgl. Staudt 1995). Lernen muss so arrangiert werden, „dass selbständige Suchbewegungen nicht verhindert, sondern ermöglicht werden“ (Arnold 1995, 16; Arnold/ Bloh 2003, 12), was zwangsläufig eine Veränderung des Methodenspektrums betrieblicher Weiterbildung nach sich zieht, wie bspw. die oben erwähnte Verlagerung des Lernens an den Arbeitsplatz (vgl. Severing 1994). An anderer Stelle ergänzt Arnold die oben genannten Tendenzen (Arnold/ Schüßler 2002, 129) um eine weitere, die sich ebenso im allgemeinen Diskurs über betriebliche Weiterbildung wiederfindet (vgl. Dehnbostel 2005, 118ff): die Kompetenzentwicklung bzw. die reflexive Modernisierung der Kompetenzentwicklung, die über die reine Fachkompetenz und institutionelle Fixierung hinausgeht und auch „außerfachliche Kompetenzen (Methoden-, Sozial- und Personalkompetenz)“ (ebd., 131, i. O. hervorg.) sowie „reflexive Qualifikationen“ (ebd.) einschließt, über die die „Kompetenzentwicklung schließlich auch ihre Bildungsanteile“ (ebd.) bezieht. Allesamt übernimmt er schließlich als „Leitkon-
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8 Weiterbildung
zepte“ einer sich im Wandel befindlichen Personalentwicklung (vgl. Arnold/ Bloh 2003, 8). Im Folgenden soll nun gezeigt werden, welchen Stellenwert Weiterbildung in den beiden Organisationen hat, in welchem Verhältnis diese zu den jeweiligen Zielen der Organisation stehen und in wie weit Weiterbildung als Bestandteil der Personalentwicklung die jeweilige Personalentwicklungspraxis als pädagogische Praxis erscheinen lässt.
8.1 Sozialunternehmen Weiterbildung hat im Sozialunternehmen von der Gründung der Einrichtung an einen hohen Stellenwert. In den Mitarbeitergesprächen sind die Themen Fortund Weiterbildung ebenso wie „Weiterentwicklung von Kompetenzen“ und „Supervision“ dem Bereich „Persönliche Ziele“ zugeordnet. Hier geht es darum, welche persönlichen Entwicklungsziele der Mitarbeiter in seiner täglichen Arbeit und seinem beruflichen Werdegang hat, wo er seine fachlichen und persönlichen Kompetenzen hat, welche Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen er sich aneignen oder weiterentwickeln sollte und welche Begleitungs- und Qualifizierungsmaßnahmen dazu eingeleitet werden müssen (vgl. Tipps zur Vorbereitung für die Vorgesetzten). Das Thema Weiterbildung ist aber nach den Vorgaben zum Mitarbeitergespräch, auf deren Basis die untersuchten Mitarbeitergespräche geführt wurden, nicht nur von formaler Seite her fester Bestandteil des Mitarbeitergesprächs; es wird auch als einziger Teilaspekt aus den zur Wahl gestellten Themen für Zielvereinbarungen ausnahmslos in jedem Mitarbeitergespräch angesprochen. In vielen Gesprächen wiederum geht die Initiative dafür von den Mitarbeitern aus, die, wie die Gesprächsausschnitte zeigen, allesamt sehr genaue Vorstellungen davon haben, welche Weiterbildungsmaßnahmen sie gerne besuchen würden.
8.1.1 Motivation und Legitimation 8.1.1.1
„dass man immer bei unserem Beruf nie ausgelernt hat“
Nicht nur aus Sicht der Organisation, auch für die Mitarbeiter des Sozialunternehmens ist Weiterbildung etwas im wahrsten Sinne des Wortes ganz Selbstverständliches, das mit zum Anspruch an die eigene Professionalität gehört:
8.1 Sozialunternehmen
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M (w): Ja, ich denke eben einfach, dass es immer in unserem Beruf nach einer gewissen Zeit, es treten immer Themen auf, wo man sich einfach selbst weiterbilden muss (1) sei es Anleitung oder verschiedene Kinderkrankheiten oder Hyperaktivität oder auch sehr zurückgezogene Kinder, wo man sich eben einfach immer wieder informieren muss. F (w): Ja, der pädagogische Bereich ist immer recht groß, das muss man schon so sagen. M: Genau, das meine ich jetzt damit, dass man immer bei unserem Beruf nie ausgelernt hat. F: Ist ja auch gut so, oder? (lacht), wir lernen vieles dazu, das hat schon seinen Grund. (SU PZ MA I)
Das pädagogische Tätigkeitsfeld wird von diesen beiden Erzieherinnen als vielfältig und wandelbar wahrgenommen. Mit neuen Kindern treten neue Fragestellungen auf. Die Notwendigkeit, sich weiterzubilden und beständig dazuzulernen, liegt für sie in der Tätigkeit selbst begründet und wird als etwas Positives erlebt. Dabei sind nicht nur genuin pädagogische Themen von Bedeutung (Wie geht man mit zurückgezogenen Kindern um?), sondern auch angrenzende Themen wie Fragen zur Gesundheit. Die Verantwortung für dieses Weiterbilden und Weiterlernen sehen die Mitarbeiter ganz selbstverständlich bei sich selbst. Die Mitarbeiter werden „selbst“ aktiv. Auch im folgenden Gesprächsausschnitt hebt der Vorgesetzte das Engagement und die Eigeninitiative der Mitarbeiterin hervor, die unaufgefordert aufgrund eines Bedarfs, den sie in ihrem Arbeitsalltag ausmacht, Fortbildungen besucht: F (m): Oder genauso jetzt mit diesen, ich habe mir jetzt noch einmal überlegt, was war denn jetzt an Fortbildungen, das mit dem Krisenmanagement hättest du auch nicht machen müssen unbedingt, aber du hast es gemacht. M (w): Nein, die war klasse, ja. F: Und ich denke, es war genau auch, ja, es war dran, es ist Aufgabe, es kommt immer mehr auf, auf uns zu, also, dass du dann so einen Bereich nicht ausklammerst und sagst, eh, das ist mir irgendwie zu heiß und, sondern dass du dich dann aktiv damit, ja, auseinandersetzt, gehst hin zu dieser Fortbildung und, und packst es an, das finde ich einfach gut. (SU MA V)
Obwohl durch diese Fortbildung und die damit erworbenen Kompetenzen zum Krisenmanagement auch unangenehme Aufgaben auf sie zukommen können, wird sie selbst aktiv und geht das Thema an. Der Vorgesetzte bestätigt den Bedarf bzw. die Aktualität des Themas für den Bereich („es war dran, es ist Aufgabe“), scheint aber trotzdem hervorheben und verstärken zu wollen, dass die Mitarbeiterin sozusagen freiwillig an der Veranstaltung teilgenommen hat („hättest du auch nicht machen müssen unbedingt“), wobei das nachgestellte „unbedingt“ darauf hinweisen könnte, dass er das Thema auf jeden Fall dem Aufgabenbereich der Mitarbeiterin zuordnet.
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8 Weiterbildung
In beiden Gesprächen wird sowohl von den Vorgesetzten als auch von den Mitarbeitern der mindestens kontinuierliche („immer in unserem Beruf“, „einfach immer wieder“, „immer […] nie ausgelernt“), wenn nicht sogar steigende („immer mehr“) Weiterbildungsbedarf hervorgehoben. Beide betonen die Selbstverständlichkeit, diesem Bedarf nachzukommen („aktiv“, „einfach selbst weiterbilden“, „Ist ja auch gut so, oder?“). Der Anlass für den Besuch von Weiterbildungsveranstaltungen ist häufig das fachliche und persönliche Interesse der Mitarbeiter an bestimmten Themen; im Grunde liegt der Lernanlass aber auch immer wieder in der Verantwortung gegenüber den Klienten: F (m): Was hat da jetzt auch diese, diese Weiterbildung mit gebracht? Die Sache von verschiedenen Seiten ansehen. Du hast jetzt auch methodische M (w): Die habe ich auch vor diesem Hintergrund einfach gemacht, weil ich mir gedacht habe, ok, du bist jetzt für so jemanden zuständig, und dann will ich auch ein bisschen was wissen. F: Mhm. (SU MA V)
Aus der Frage des Vorgesetzten wird deutlich, dass eine gute Weiterbildungsveranstaltung insbesondere zu einer besseren Reflexionsfähigkeit führt. Es geht nicht nur um Wissen in Form von harten Fakten, die dort erlernt werden, sondern um die Möglichkeit, Distanz zu gewinnen und einen Sachverhalt oder eine Situation „von verschiedenen Seiten“ anzusehen. Die Mitarbeiterin beantwortet die Frage des Vorgesetzten, was ihr die Weiterbildung gebracht habe, jedoch mit dem Anlass, der für sie für deren Besuch ausschlaggebend war: Im Arbeitsbereich der Mitarbeiterin gibt es einen neuen Klienten, mit dessen besonderen Bedürfnissen, die er aufgrund einer Behinderung hat, sie noch nicht vertraut ist. Die wiederum selbstverständliche Konsequenz („einfach“, „ok“, „dann“) für die Mitarbeiterin ist, ohne dass ihr dies jemand nahe legen würde, eine Weiterbildungsveranstaltung zu besuchen, weil sie etwas wissen „will“. Sie entschließt sich aus eigenem Antrieb. So wird die eigene berufliche Entwicklung offensichtlich als eine Entwicklung an Aufgaben bzw. Klienten wahrgenommen:
8.1 Sozialunternehmen
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M (w): Das ist ja auch von der eigenen Entwicklung auch, denke ich, eh, wenn ich so zurückdenke, wenn ich auch so die jüngeren Kinder oder die geistig behinderten Kinder hatte, ne, wo ich denke, da hatte ich noch einmal ganz andere Sachen dazugelernt, oder mir angeeignet, und ich denke, das läuft ja eigentlich nur so, man hat ein Kind und dann liest man was dazu, man kann ja nicht wirklich alles so studienmäßig jetzt dann rechtzeitig machen, das, aber ich denke, da werde ich schon für mich sorgen, das Gefühl habe ich schon, dass ich das kann hier im Team. (SU MA I)
Der spezielle Fall wird als Lernanlass aufgegriffen. Man kümmert sich dann um bestimmte Themen, wenn es die Betreuung des Klienten verlangt („man hat ein Kind und dann liest man was dazu“) und nicht „studienmäßig“ im Voraus. Man kann sich nicht auf alle Eventualitäten vorbereiten, da die Problemstellungen sehr vielfältig sind. Dieser Lernprozess findet eigenständig, eigenverantwortlich und selbstverständlich („das läuft ja eigentlich nur so“) statt. Neben der Eigeninitiative, die zum wiederholten Mal betont wird, zeigt sich, dass es hier auch um eine persönliche Angelegenheit geht („da werde ich schon für mich sorgen“) und dass auch auf der Teamebene die entsprechenden Rahmenbedingungen vorhanden sind, damit diese Vorgehensweise greifen kann.
8.1.1.2
„Und das ist jetzt etwas, was Sie nicht nur gemacht haben, weil man es machen muss, sondern, wie ich vermute, weil es Ihnen Spaß macht“
Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen werden nicht nur deshalb besucht, weil sie für die Bewältigung des pädagogischen Arbeitsalltags unbedingt notwendig sind. Der Rahmen für Weiterbildung, der durch das Fortbildungskontingent im Sozialunternehmen und durch das interne Fortbildungsprogramm vorgegeben ist, bietet den Mitarbeitern nicht nur die Möglichkeit, sich im engeren Sinne fachlich weiterzubilden, sondern enthält auch Angebote zur persönlichen und geistigmentalen Weiterentwicklung. Auch Themen, die einfach den persönlichen Interessen der Mitarbeiter entspringen, werden unterstützt: F (m): […] Mhm. Mir selbst gefällt das auch sehr gut, ehm, dass man diese erlebnispädagogischen Ansätze, das muss nicht immer gleich Abenteuerpädagogik sein, aber erlebnispädagogische Ansätze ist M (m): Pädagogik fängt vor der Haustüre an. F: fängt vor der Haustüre an, weil das merkt man ja auch, dass es unseren Kindern unheimlich gut tut, eh, und dass sie da voll zu begeistern sind. Und da ist ja doch auch ein gewisses Fachwissen und ein gewisses Handwerkszeug absolut sehr nützlich. Und das ist jetzt etwas, was Sie nicht nur gemacht haben, weil man es machen muss, sondern, wie ich vermute, weil es Ihnen Spaß macht.
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8 Weiterbildung M: Ja, das war eben auch eine Anregung von mir, von meiner Seite her, und ich wollte das machen, da gab es sogar einige Schwierigkeiten, weil es eine finanzielle Sache auch war von der Einrichtung, wurde aber dann genehmigt. F: Also Sie hatten schon auch eine spezielle, eh und, hatten und haben immer noch eine besondere Motivation dazu und ein besonderes Engagement. Ja das ist für unsere Einrichtung hier, denke ich, nur von Vorteil, weil Sie können ja auch die Kollegen da ein Stück weit mit inspirieren und anregen. (SU MA VI)
Trotz anfänglicher Schwierigkeiten mit der Finanzierung setzt der Mitarbeiter seine Idee durch, eine erlebnispädagogische Weiterbildungsmaßnahme besuchen zu wollen. Der Vorgesetzte würdigt das Engagement des Mitarbeiters und erkennt die Chance, die die erlebnispädagogische Ausbildung des Mitarbeiters für die Einrichtung hat, auch wenn man den Eindruck hat, dass eine leichte Skepsis zumindest der „Abenteuerpädagogik“ gegenüber mitschwingt und er mit dem Thema nicht sehr vertraut ist, da er beim Reden über Erlebnispädagogik nie konkret wird. Die „besondere Motivation“ des Mitarbeiters jedoch, die dadurch entsteht, dass ihm das Thema „Spaß macht“ und er sein persönliches Interesse durch „Fachwissen“ ausbauen will, ist in jedem Fall förderungs- bzw. lobenswert und kann, so die Hoffnung des Vorgesetzten, auch eine Dynamik im Team auslösen und andere Kollegen mitziehen („inspirieren und anregen“). Es gilt also, die Eigeninitiative des Mitarbeiters zu unterstützen.
8.1.1.3
„also will ich dir jetzt nicht sagen, dass du das unbedingt bräuchtest“
Die Mitarbeiter ergreifen die Initiative, und sie entscheiden auch weitestgehend über die Themen ihrer Weiterbildungsveranstaltungen. Dabei sind vor allem die Interessen der Mitarbeiter ausschlaggebend bzw. die Themen, die sie selbst für ihren Arbeitsalltag als relevant erachten. Entsprechend groß ist die Zurückhaltung der Vorgesetzten, wenn es um die Empfehlung einer Fortbildung geht: F (m): Was denkt sich da jetzt Bayern oder Baden-Württemberg dazu aus, (2) und, aber so das, also das wäre so mal dieser eine Teil rein, rein Rechtliches, oder, oder gibt es noch ehm, anderes, also sozial-administrativ, diese ganze Überschrift, wo du sagst, bin ich noch unsicher, da möchte ich noch etwas machen? (1) Also in, welche, welche Richtung suchst du da jetzt auch schon Fortbildung? Was, was müsste die Überschrift sein? (5) Also das, das geht los mit, also will ich dir jetzt nicht sagen, dass du das unbedingt bräuchtest, aber das könnte, könnte ja auch der Bereich sein, wo ich jetzt mal einfach annehme, ich kenne jetzt die Ausbildung Heilpädagoge nicht so genau, aber dieses ganze Sachenorganisationswesen, eh, Institutions- eh geschichten, Selbst- eh Selbstmanagement, Selbstorganisation. (SU MA V)
8.1 Sozialunternehmen
155
Der Vorgesetzte fragt auffallend umständlich mit vielen, teilweise langen Pausen, ob sich die Mitarbeiterin gerne im sozial-administrativen Bereich weiterbilden möchte. Er nimmt aufgrund ihrer Erstausbildung und ihrer aktuellen Tätigkeit an, dass das Thema für sie relevant sein könnte, scheut sich aber davor, ihr das Thema für eine Fortbildung nahe zu legen oder gar vorzugeben, zumal es sich nicht im engeren Sinne um ein pädagogisch-fachliches Thema handelt. Möglicherweise würde er damit gegen das sich abzeichnende Muster im Sozialunternehmen verstoßen, dass sich die Mitarbeiter eigenverantwortlich weiterbilden und ihren Weiterbildungsbedarf selbst diagnostizieren. Ähnlich verhält sich ein anderer Vorgesetzter, als er bei seinem Mitarbeiter nachfragt, ob dieser Interesse an einer Zusatzausbildung habe: F (m): […] Jetzt möchte ich mal noch zu ein paar letzten Punkten kommen, wir haben noch circa zehn Minuten Zeit, eh, auch aus aktuellem Anlass noch einmal, eh, ich hatte vor kurzem auch noch einmal Kontakt mit der Frau Zettl, eh, und die hat auch nochmal im Auftrag von Herrn Lessing, eh, geworben oder daran erinnert, angeboten, eh, dass es das, eh, [Zertifikat] gibt, also, eh, ich will da also nicht irgendjemand Druck machen, aber einfach mal kurz nachfragen, eh, wie Sie zum Beispiel zu so einem Angebot […] stehen? (2) Wissen Sie ungefähr was, was das, das ist diese […] Zurüstung, wo es immer einen Kurs gibt, an dem Mitarbeiter ein paar Jahre lang teilnehmen können, eh, wobei es mir absolut wichtig ist, dass das wirklich freiwillig ist. (SU MA VI)
Im Gespräch mit dem Mitarbeiter scheint der Vorgesetzte den Auftrag aus der Bereichsleitung abschwächen zu wollen. Er soll dafür werben („im Auftrag von Herrn Lessing“), will dann nur noch erinnern, macht ein Angebot und entscheidet sich schließlich für die unverfängliche Feststellung, „dass es das, eh, [Zertifikat] gibt“. Dabei umgeht er es zunächst, das Thema seines Anliegens zu nennen, beruft sich auf sämtliche über ihm liegende Hierarchieebenen und betont umgehend, keinen Druck machen zu wollen. Den Mitarbeiter, an den die Anfrage ja eigentlich gerichtet ist („wie Sie zum Beispiel zu so einem Angebot […] stehen?“), spricht er zunächst nicht direkt an, sondern verallgemeinernd „irgendjemand“. Er will „nur kurz nachfragen“ und scheint damit das Thema schnell wieder verlassen zu wollen. Da der Mitarbeiter aber nicht sofort auf seine Frage antwortet, worin unter anderem eine eher ablehnende Haltung zum Ausdruck kommt, ist der Vorgesetzte gezwungen, das Thema nochmals aufzugreifen. Er nutzt dies, um die Freiwilligkeit dieses Angebots abermals zu betonen. Von Seiten der Vorgesetzten wird also akzeptiert, was die Mitarbeiter selbst für sich in Anspruch nehmen, nämlich dass sie selbst die Verantwortung für ihre persönliche und berufliche Weiterentwicklung übernehmen und sich dabei stark an ihren persönlichen Interessen orientieren. Beide Gesprächsausschnitte stützen
156
8 Weiterbildung
die Annahme, dass es sich bei der eigenständigen Diagnostik des Weiterbildungsbedarfs durch die Mitarbeiter um ein in der Organisation anerkanntes Muster handelt.
8.1.1.4
„wo man ein schlechtes Gewissen oder Gefühl hat, weil man eben einfach irgendwo den Kollegen oder die Kollegin wieder alleine lassen muss“
Die Mitarbeiter des Sozialunternehmens können im Rahmen ihres Fortbildungskontingents dann an Maßnahmen teilnehmen, wenn es möglich ist, den Mitarbeiter freizustellen, ohne dass die Abläufe in den Einrichtungen zu sehr beeinträchtigt oder gefährdet werden – so schreiben es die formalen Richtlinien für Weiterbildung im Sozialunternehmen vor. So groß die Bedeutung von Weiterbildung im Sozialunternehmen auch ist, die alltäglichen Abläufe und insbesondere die Betreuung der Klienten sollen nicht beeinträchtigt werden. Dies gilt nicht nur auf formaler Ebene. Im Gegenteil: Die Mitarbeiter der Sozialunternehmen übernehmen nicht nur Verantwortung für ihre eigene Fort- und Weiterbildung, sie haben dabei auch die Interessen ihrer Kollegen und Klienten im Blick: M (m): Das Problem ist eben einfach, solche Fortbildungen, ehm, ja, denen beizuwohnen, oder sich anzumelden, oder was mich einfach ein Stück weit auch abhält oder vielleicht nicht abhält aber, wo man ein schlechtes Gewissen oder Gefühl hat, weil man eben einfach irgendwo den Kollegen oder die Kollegin wieder alleine lassen muss, weil den Leuten nicht abgesagt werden kann zum Teil, weil das eben einfach jetzt nicht mehr so einfach ist, und ich denke, das geht nicht nur mir so, sondern das geht den anderen Kolleginnen genau so. Und das ist einfach eine Situation, die, ja, die mir eigentlich, ich weiß gar nicht, wie ich das machen soll, wenn ich da jetzt unter der Woche mal fast eine Woche weg bin. F (w): Was denken Sie denn, wie ich Sie da unterstützen könnte, dass Sie das Gefühl haben, Sie können ungeachtet der Folgen, die das vielleicht haben kann, eh, trotzdem gehn? M: Ja, das ist schwierig, ne. Also, ich denke vielleicht, dass man sich dann zusammensetzt, also die Bine, wir drei F: Mhm. M: und überlegen, ob das überhaupt machbar ist, und wie, wie es dann letztendlich machbar ist, dass man eben dann wirklich bestimmten ehm, Bewohnern einfach absagt. F: Genau. M: Schweren Herzens dann, aber, ehm, weil unter dem Strich soll ja auch was wieder herauskommen, es soll ja auch wieder, eh, unsere Arbeit leben. (SU MA II)
Ein Problem, auf das der Mitarbeiter hinweist, ist der Personalschlüssel in der Einrichtung („weil das eben einfach jetzt nicht mehr so einfach ist“). Der Mitarbeiter wägt intensiv und etwas ratlos zwischen dem Nutzen ab, den die Teilnah-
8.1 Sozialunternehmen
157
me an der Fortbildung für ihn und die Einrichtung hat, und den Problemen, die sein Fehlen in der Einrichtung zur Folge hätten. Aber auch in diesem Fall bestärkt die Vorgesetzte ihren Mitarbeiter darin, zu Weiterbildungsveranstaltungen zu gehen, und fragt ihn danach, welche Form der Unterstützung sie ihm geben könnte. Sie versucht schließlich, ihm klar zu machen, dass nicht er, sondern sie als Vorgesetzte die Verantwortung für die Auswirkungen seines Fehlens trägt: F (w): Also vielleicht so als Anregung, Sie müssen ja nicht die volle Verantwortung dafür übernehmen, sondern die habe ja eigentlich ich. M (m): Ja ja, gut. F: Sie wissen schon, was ich meine, ne. M: Das ist richtig, aber die Auswirkungen hat dann die Arbeitsgruppe, das ist das entscheidende. F: Über die können wir ja sprechen, dass sich’s minimiert. Also die negativen Auswirkungen. M. Ja ja. Dass man eben im Vorfeld dann schon sagt, das hat mit dem und dem, ist es besser, wenn er in der Wohngruppe ist zu dem Zeitpunkt. F: Genau. M: Weil er da einfach nicht die Struktur vorfindet, die er normalerweise vorfindet. F: Genau. (SU MA II)
Auf dieses Angebot seiner Vorgesetzten, die Verantwortung für die Situation in der Einrichtung und seine Abwesenheit zu übernehmen, geht der Mitarbeiter nur unwillig ein. Sie nutzt hier ihre Position zugunsten ihres Mitarbeiters und will ihm die Teilnahme an der Fortbildung ermöglichen; er aber wiegelt ab („Ja ja, gut.“) und lässt sich die Verantwortung für seine Arbeitsgruppe nicht abnehmen. Das Verhalten der Vorgesetzten zeigt jedoch, dass die schriftliche Regelung des Weiterbildungsbesuchs eher großzügig und im Interesse des einzelnen Mitarbeiters ausgelegt wird, zumal beiden Seiten klar ist, dass die Teilnahme an einer Weiterbildungsveranstaltung auch positiv in die Arbeit mit den Klienten zurück wirkt und deshalb vorübergehende Schwierigkeiten in Kauf genommen werden können („weil unter dem Strich soll ja auch was wieder herauskommen, es soll ja auch wieder, eh, unsere Arbeit leben“).
8.1.1.5
„damit Sie vielleicht Ihre Fachlichkeit auch einfach stützen“
Worin der Gewinn für Mitarbeiter und Einrichtung genau liegt, zeigt folgendes Beispiel: F (w): Ja, also, ehm, ich kann Ihnen vielleicht diese Sorge nicht ganz nehmen, aber ich bin gerade in dieser schwierigen Personalsituation eigentlich der Meinung, dass Sie, dass Sie da, ge-
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8 Weiterbildung rade sich da auch noch in eigenen Angelegenheiten, ich sage jetzt einmal, erst recht fortbilden sollten, damit Sie vielleicht Ihre Fachlichkeit auch einfach stützen, weil so wenn Sie immer nur irgendein Loch stopfen und selbst das Gefühl haben, Sie können nichts für sich persönlich oder fachlich tun, dann wird es vielleicht noch schwieriger, aber so, denke ich, wenn das ausgeglichen ist, und das ist für mich kein Problem, das machen andere Gruppen auch so, und ich bin dafür, dass man sich auch, oder Sie sich in, auch in diesen schwierigen Zeiten weiter fortbilden, weil das ist vielleicht eines der Dinge, wo man ein bisschen so reflektieren kann auch, also da. (SU MA II)
Der Vorgesetzten geht es vor allem um die Zufriedenheit ihres Mitarbeiters in der schwierigen Personalsituation. Er soll nicht „immer nur irgendein Loch stopfen“, sondern etwas für sich und seine „Fachlichkeit“ tun. Die persönliche und die fachliche Weiterentwicklung sind auch in diesem Beispiel eng verbunden. Die Vorgesetzte signalisiert dem Mitarbeiter, dass sie weiß, dass in der Einrichtung im Moment nicht so gearbeitet werden kann, wie die Mitarbeiter sich dies gerne wünschten. Die Teilnahme an einer Weiterbildungsveranstaltung ist eine Möglichkeit, zum Ausgleich für die schwierigen Bedingungen auch etwas „für sich“ zu tun, sich „in eigenen Angelegenheiten“ fortzubilden, seine „Fachlichkeit“ zu stützen – also auch durch eine erweiterte Qualifikation seinen Arbeitsplatz zu erhalten und seinen Marktwert zu erhöhen. Durch den Abstand von der alltäglichen Situation bietet sich außerdem die Möglichkeit zu „reflektieren“ und sich Anregungen für die eigene Arbeit zu holen, etwas, das zum Anspruch an das eigene pädagogische Selbstverständnis gehört und wovon auch der ganze Arbeitsbereich des Mitarbeiters profitieren kann (s. o.: „Die Sache von verschiedenen Seiten ansehen“ (SU MA V)). Nicht nur die erweiterte Qualifikation des Mitarbeiters, sondern auch seine Zufriedenheit wirkt sich positiv auf die Einrichtung aus. Aus den Worten der Vorgesetzten ist auch herauszuhören, dass jeder gleichermaßen die Möglichkeit haben soll, sich fortzubilden. Sie unterstützt den Mitarbeiter unter der Bedingung, dass nicht ein anderer Kollege oder ein anderes Team in der Einrichtung unter den Fortbildungsambitionen eines Kollegen zu leiden haben, sondern ebenfalls zum Zuge kommen, wenn es um Weiterbildung geht („wenn das ausgeglichen ist“).
8.1 Sozialunternehmen
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8.1.2 Fachlichkeit und persönliches Interesse 8.1.2.1
„persönliche Planung, Berufsplanung, einfach auch, und auch Fortbildungsplanung“
Fortbildungsplanung wird in den offiziellen Materialien zu den Mitarbeitergesprächen den persönlichen Zielen zugeordnet. Dieses Verständnis findet sich auch in den Gesprächen selbst: F (w): Ehm, was noch ein Part ist, ist einfach so die, die ja persönliche Planung, Berufsplanung, einfach auch, und auch Fortbildungsplanung, wo sehen Sie da so Ihren Schwerpunkt für das kommende Jahr? (SU MA I)
Was die Führungskraft als einen Teil des Mitarbeitergesprächs („ein Part“) anspricht, scheint zunächst „einfach“ die „persönliche Planung“ zu sein. Hier wird, so könnte man auf den ersten Blick annehmen, den persönlichen Entwicklungszielen der Mitarbeiter Rechnung getragen, ohne jeweils nach dem konkreten Nutzen einer Weiterbildungsmaßnahme für die Einrichtung zu fragen. Das Stichwort „Berufsplanung“ im obigen Gesprächsausschnitt macht deutlich, dass hier auch eine Entwicklung über die aktuell eingenommene Stelle hinaus gemeint ist, nämlich die Weiterentwicklung der ursprünglich in der Ausbildung oder im Studium erworbenen Kompetenzen. Die Mitarbeiterin ist aufgefordert, die Richtung anzugeben, in die sie gehen will. Während die Vorgesetzte spricht, fächert sie das, was sie unter persönlicher Planung versteht, sukzessive weiter auf („Berufsplanung einfach auch, und auch Fortbildungsplanung“), konkretisiert oder ergänzt es. Am Ende ist nicht ganz klar, was sie nun eigentlich mit persönlicher Planung meint: In Anlehnung an das neue Formblatt, das der Protokollierung der Zielvereinbarungen dient und in dem „Fortbildung“ mit „Weiterentwicklung von Kompetenzen“ und „Supervision“ den „persönlichen Zielen“ (in Abgrenzung zu „Strategischen Zielen“, „Fachlichen Arbeitszielen“, „Kooperationszielen“ und gegebenenfalls „Führungszielen“) zugeordnet ist, ist von der Vorgesetzten „einfach“ eine Konkretisierung intendiert. Möglicherweise entfaltet sie hier aber zugleich unbewusst das Spannungsfeld zwischen individuellen und organisationalen Interessen, persönlicher Planung und für die Einrichtung wichtiger Weiterqualifizierung der Mitarbeiterin. Der von der Vorgesetzten eingebrachte Aspekt der „Berufsplanung“ kann aber auch als integrierendes Element verstanden werden, denn in neueren wissenschaftlichen Veröffentlichungen wird der Beruf wieder als das zentrale „or-
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8 Weiterbildung
ganisierende Prinzip“ stark gemacht, weil er sich offensichtlich doch „als eigenständige Konzeption gegenüber den spezialisierten, parzellierten und sich beständig wandelnden Qualifikationsanforderungen der Betriebe“ (Arnold/ Gonon 2006, 72) zu behaupten vermag. Er wird als „eine Art Zwischenkategorie zwischen die Qualifizierungswünsche, Talente und Vorlieben des einzelnen und die spezifischen Qualifizierungserwartungen der Betriebe“ (ebd.) gesetzt. Durch Standardisierung und Formalisierung erhält der erworbene Abschluss seinen „Marktwert“ (ebd.). Seine Verwendbarkeit ist für den Betrieb einschätzbar. „[G]leichzeitig garantiert ein solcher Abschluss dem einzelnen die prinzipielle Möglichkeit, in unterschiedlichen Betrieben und Branchen ,in seinem Beruf‘ zu arbeiten, erhöht so seine Autonomie und erweitert seine Mobilitätschancen“ (ebd., 72 f.). Das Stichwort „Berufsplanung“ würde demnach also individuelle und betriebliche Interessen vereinen. Die Orientierung am Beruf der Mitarbeiter im Sozialunternehmen wird auch an Stellen deutlich, an denen der Fortbildungswunsch offensichtlich unüblich weit über die Erstausbildung des Mitarbeiters hinaus geht: F (m): […] Ein letztes noch, eh, da wollte ich mal das kurz eh, gegenseitig uns bewusst machen, die, da ist das Stichwort persönliche Weiterbildung. Sie haben sich ja angemeldet für die Fortbildung Systemische Familientherapie, M (m): Grundlagen, ja, F: Eh, da kommt in den nächsten Tagen auch wieder dieser genehmigte Antrag zurück, eh, ist im Übrigen auch in der Bereichsleitung mal ganz kurz nachgefragt worden, ob das überhaupt richtig ist, eh, das nur noch nebenbei, habe ich auch von der Frau Zettl erfahren, eh, weil es eben nicht automatisch für einen Heilerziehungspfleger nahe liegend ist, diese Ausbildung zu machen, aber es war sofort sehr schnell zu klären, mit der Frau Zettl hatte ich mich ja vorher abgestimmt, eh, dass es sehr sehr wichtig ist, vielleicht sogar besonders wichtig ist, eh, wenn man jetzt nicht eh, eh, aus der Jugendhilfe originär kommt oder Sozialpädagoge ist, macht es erst recht Sinn. Und, ich denke Sie freuen sich auch auf die Fortbildung, M: Ich freue mich natürlich! F: und ich bin auch froh, dass Sie da hin können. (SU MA VI)
Auch hier geht die Initiative zur Teilnahme an einer bestimmten Fortbildung vom Mitarbeiter aus. Er hat sich angemeldet. Der Vorgesetzte freut sich mit seinem Mitarbeiter darüber, dass er, wiederum gemeinsam mit seiner Vorgesetzten, die Verwaltung davon überzeugen konnte, dass die Fortbildung gerade deshalb für den Mitarbeiter von Bedeutung ist, weil sie nicht direkt an bereits vorhandene Kompetenzen bzw. auch hier wieder das Berufsbild und Tätigkeitsfeld eines Heilerziehungspflegers anknüpft, sondern sein Kompetenzspektrum im Hinblick auf seine aktuelle Tätigkeit deutlich erweitert.
8.1 Sozialunternehmen
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Der Aspekt der Freude bei der Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen spielt für den Vorgesetzten eine entscheidende Rolle. Sowohl er als auch die nächsthöhere Vorgesetzte setzten sich für die Belange ihrer Mitarbeiter ein und unterstützen deren Wünsche. Weiterbildung, sich selbst weiterentwickeln, Neues dazu lernen und den eigenen Horizont erweitern wird als Bereicherung empfunden, insbesondere wenn es um fachliche Themen geht. Dies erläutert der Vorgesetzte sehr ausführlich, obwohl er betont, das Thema persönliche Weiterbildung nur „kurz“ ansprechen zu wollen. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen der betonten Selbstverständlichkeit („es war sofort sehr schnell zu klären“), dem Mitarbeiter die Fortbildung zu ermöglichen, auf die der Vorgesetzte aufmerksam machen will („gegenseitig uns bewusst machen“), den „ganz kurz[en]“ Rückfragen der Bereichsleitung, die er „nur noch nebenbei“ und „im Übrigen“ erwähnen will und seiner langen umständlichen Rede darüber. So mag die Selbstverständlichkeit von Weiterbildung nach den Interessen der Mitarbeiter sicherlich ein Ziel mit langer Tradition sein und von Vorgesetzten wie Mitarbeitern gewünscht sein. Das Beispiel zeigt aber sehr deutlich, dass diese Selbstverständlichkeit doch „eben nicht automatisch“ in der Praxis anzutreffen ist und dass es der Abstimmung und Rechtfertigung bedarf. Die sich auch hier erneut abzeichnende Orientierung am „Beruf“ führt zu Rückfragen. Nachdem die Bereichsleitung zunächst von der pädagogischen Erstausbildung des Mitarbeiters, also seiner beruflichen Herkunft, ausgegangen ist, muss von den Vorgesetzten erst der Bezug der Zusatzausbildung zur aktuellen Tätigkeit des Mitarbeiters erläutert werden.
8.1.2.2
„dass einen das sonst eigentlich von der eigentlichen Kompetenz, die man hat, verdummt“
Wie stark die Priorität der Mitarbeiter im Sozialunternehmen auf inhaltlichen Themen liegt, zeigt ein Gespräch mit einer neuen Führungskraft, die wie jede neue Führungskraft, egal ob sie nun von außen kommt oder schon jahrelang im Unternehmen beschäftigt ist, einen Seminarzyklus durchläuft. Dieser Seminarzyklus erstreckt sich über drei Jahre und wird auf das Fortbildungskontingent der Führungskräfte angerechnet. M (w): Ich habe eine Fortbildung gemacht, ehm, zu einem pädagogischen Thema, weil ich, ehm, nicht nur diese Fortbildungen hier in diesem Pflichtfortbildungsprogramm machen möchte, ich finde, dass einen das sonst eigentlich von der eigentlichen Kompetenz, die man hat, verdummt, das ist krass ausgedrückt, aber, ehm, ich weiß noch nicht, wie das praktisch dann funktionieren kann, das, also das Fortbildungs- eh, Kontingent ist ja vollständig ausgeschöpft mit
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8 Weiterbildung all den Pflichten, zu denen man da einberufen wird, in diesen Kurs für Leitende, ehm, bin ich mal gespannt, wie das dann läuft. (SU FK III)
Die Mitarbeiterin empfindet das Kursprogramm, das sie bei der Übernahme ihrer neuen Leitungsaufgaben begleiten soll, als Zwang bzw. als Einschränkung. Sie fühlt sich gegen ihren Willen „einberufen“. Ihre „eigentliche Kompetenz“ sieht sie in ihrer pädagogischen Fachkompetenz, die sie sich auch oder gerade in der Leitungsposition bewahren möchte. Der Kurs für Leitende wird von ihr als überdimensioniert wahrgenommen und behindert in ihren Augen ihre Weiterentwicklung auf fachlicher Ebene. Unklar ist, inwieweit sich diese Haltung nur auf das Pflichtfortbildungsprogramm beschränkt oder grundsätzlich auch die Aufgaben betrifft, die sie in ihrer Leitungsfunktion auszuüben hat, ob es hier also grundsätzlich um eine Priorisierung fachlich-inhaltlicher Tätigkeiten gegenüber Führungs- und Verwaltungsaufgaben und der Auseinandersetzung mit finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen geht. Nachdem ihr nicht die institutionellen Rahmenbedingungen geboten werden, ergreift sie jedenfalls selbst die Initiative und nimmt in ihrer Freizeit auf eigene Kosten an einer fachlichen Fortbildung teil. Die gewohnte Autonomie und Eigenverantwortung der Mitarbeiter im Hinblick auf Weiterbildungsveranstaltungen wird hier beschnitten. Ein informelles Muster (eigenverantwortliche Weiterbildung) wird von einer formalen Regelung (Pflichtfortbildung) überlagert. Dies stößt auf Kritik. Der Vorgesetzte räumt daraufhin ein: F (m): […] dann kann man durchaus sagen, aufgrund der Tatsache, dass die Fortbildung für neue Führungskräfte in den ersten drei Jahren Pflichtfortbildung ist, ehm, wird eben da das Fortbildungskontingent überschritten, muss man eben speziell beantragen, aber das ist dann schon auch möglich, also das wäre für mein Empfinden die schlechteste aller Lösungen, entweder auf fachliche Fortbildungen zu verzichten oder zu sagen, na, dann zahle ich es eben selbst, eh, weil das ist ja schon auch im Interesse der [Eigenname der Organisation], dass du fachliche Fortbildungen machst. M (w): @ Ja, sollte es wenigstens sein.@ (SU FK III)
Damit setzt der Vorgesetzte zur Rettung des offenbar bekannten und anerkannten Musters an, das die Mitarbeiterin mit ihrer ironischen Entgegnung in Frage stellt, nämlich des hohen Stellenwerts der fachlichen Fortbildung, der auch dem professionellen Selbstverständnis der Mitarbeiter zugrunde liegt. Dies tut er, indem er der Mitarbeiterin eine Möglichkeit aufzeigt, die formalen Regelungen zugunsten der angestrebten fachlichen Weiterqualifizierung zu umgehen. Ein traditioneller Wert der Organisation, der stark mit dem professionellen Selbstverständ-
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nis der Mitarbeiter korrespondiert, erweist sich hier als durchsetzungsfähiger als eine relativ neu eingeführte, schriftlich festgehaltene Verordnung in Form einer Pflichtfortbildung. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass der Umgang mit dem Kontingent vom Vorgesetzten großzügig gehandhabt wird. Dabei spricht er auch im Interesse der Gesamtorganisation. Selbst im Falle von Mehrkosten sollen auch fachliche Fortbildungen unbedingt möglich sein. Von der Mitarbeiterin, der neuen Führungskraft, wird diese Haltung des Sozialunternehmens mit ihrer Entgegnung „sollte es wenigstens sein“ als Selbstverständlichkeit betont, gleichzeitig aber auch in ihrer tatsächlichen Existenz in Frage gestellt. Mit seinem eigenen Beispiel zeigt der Vorgesetzte in einem anderen Beispiel jedoch, dass die großzügige Handhabung des Fortbildungskontingents durchaus Usus ist: F (m): […] Das ist jetzt alles so nett analysiert, aber was das mit Ihnen emotional macht, das ist dann ein, ein Punkt, Sie gehen aus dieser Gemeinschaft raus, aus dem Teamgefühl, ne, und stehen alleine da und müssen damit klar kommen. Und da haben Sie aber das Angebot. Sie haben Kollegen, Sie haben das Angebot, Sie können zu mir kommen, und Sie haben auch die Möglichkeit Supervision zu nehmen, für Sie selbst. M (w): Habe ich mal probiert, aber das geht nicht, weil die Frau Kollmar bei uns Teamsupervision macht und der Herr Foerster mit der Frau Wunder arbeitet und, eh, von daher beide sagen, das ist im Moment ganz schlecht, (1) weil sie zu sehr beeinflusst sind. F: Mhm. (1) Ok, das ist der Nachteil von der internen M: Ja, (lacht) ja. F: Dann haben Sie noch die Möglichkeit externe zu machen M: Und das kostet aber, da muss muss man selbst zahlen, und ich zahle ja im Moment meine, eh, Computerkurse schon selbst, weil ich kein Fortbildungskontingent mehr habe. F: Also, Sie können auch im Vorgriff auf das nächste Kontingent, das könnten wir auch so machen, nur haben Sie eben dann keines mehr, ne, also M: Mhm. F: Ich glaube, ich lebe im Moment auf mein übernächstes Kontingent. (lacht) (SU FK II)
Da ihr aktuelles Fortbildungskontingent bereits ausgeschöpft ist und sie die gewünschte Supervision selbst zahlen müsste, bietet der Vorgesetzte seiner Mitarbeiterin an, für andere Kurse auf das nächste Kontingent vorzugreifen. Gerade bei neuen Führungskräften ist also immer wieder zu beobachten, dass die obligatorische Fortbildungsreihe für neue Führungskräfte den erhöhten Bedarf an Fortbildungen und anderen Unterstützungsmaßnahmen wie Supervision nicht vollständig abdeckt. Die neuen Führungskräfte haben nicht nur Bedarf an fachlichen Themen und Inhalten, die ihre neuen Aufgaben als Einrichtungsleitung betreffen wie zum Beispiel Computerkurse, sie haben durch ihre neue Position, den Rollenfindungsprozess und die Auseinandersetzungen mit den neuen Mitarbeitern auch auf mentaler oder emotionaler Ebene Unterstützungsbedarf.
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8 Weiterbildung
8.1.2.3
„dass ich so das Gefühl habe, das sind auch so Interessensgebiete von dir“
Sowohl Vorgesetzte als auch Mitarbeiter im Sozialunternehmen legen Wert darauf, dass Aufgaben nach Interessen verteilt werden und insbesondere bereits bestehende Fähigkeiten zum Einsatz kommen. So bezieht sich ein Vorgesetzter bei der Zuteilung von Aufgaben immer wieder explizit auf die Interessen der Mitarbeiterin: F (m): […] Also das heißt, da sehe ich jetzt hier schon, gerade so in dem Punkt, eh, Ziele Aufgaben [Abteilung], bei dieser ganzen Projektarbeit hier, was, was im [Qualitätsmanagement] dann mit enthalten ist, und auch hier bei dieser Belegung von den, von den […] Gruppen, also wo ich, wo ich, also auch gleich als Rückmeldung, wo ich einfach so so feststelle, dass das, dass ich so das Gefühl habe, das sind auch so Interessensgebiete von dir. (SU MA V)
Der Vorgesetzte versucht die Ziele und Aufgaben, die von der Unternehmensleitung vorgegeben wurden, auf die Mitarbeiter in seinem Bereich zu verteilen. Wichtig ist ihm dabei, gerade bei arbeitsintensiven oder auch lästigen Themen, die ohnehin vorhandenen Schwerpunkte seiner Mitarbeiter optimal zu nutzen. Durch das direkte Ansprechen der Interessen der Mitarbeiterin signalisiert er ihr, dass er diese kennt und schätzt, und nimmt möglichen Widerstand gegen das neu eingeführte Qualitätsmanagementsystem vorweg, das durch die anstehenden Prozessbeschreibungen viel Arbeit für die Mitarbeiter bringen wird. Dabei entsteht der Eindruck, als ringe er darum, wie er ihr klar machen kann, was er gerne von ihr hätte („also wo ich, wo ich, also auch gleich als Rückmeldung“). Den Ausweg findet er über ihre Interessen: F (m): Aha. Gut, also das gleich noch, das würde ich gerne noch, nochmal so extra angucken. Und [Qualitätsmanagement] ist keine Frage, also, Projektarbeit, ich denke, da trifft sich jetzt die Notwendigkeit, dass wir da eben beschreiben müssen, mit dem starken Interesse bei dir. M (w): Ja, mache ich gern. F: Und da kommen jetzt mit Sicherheit, eh, ja, ein paar Themen stärker auf dich zu (SU MA V)
Durch die positive und prompte Reaktion der Mitarbeiterin wird deutlich, wie auch das folgende Beispiel zeigt, dass er die richtigen Themen ausgewählt hat: F (m): Also ich bin auf dich gekommen, weil ich meine, weiß, dass du im medizinischen Bereich eben auch gern M (w): Ja, da bin ich gerade auf ganz spannende Geschichten gestoßen, […] (SU MA V)
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Entscheidend ist also nicht, was der Vorgesetzte „meint“, sondern welche Interessen die Mitarbeiterin tatsächlich hat („weiß“). Die Mitarbeiterin reagiert mit Begeisterung und erzählt ihrem Vorgesetzten spontan und unaufgefordert, womit sie sich gerade beschäftigt, was die Echtheit ihrer Reaktion unterstreicht. Um die Entfaltung in der aktuellen Stelle und weniger um Karrieremöglichkeiten geht es in folgendem Gesprächsausschnitt: F (w): Eh, eine Frage, die ich noch habe an Sie, ist, ehm, fühlen Sie sich eigentlich genug gefordert? M (m): Oh ja! (lacht) F: Also, das ist jetzt nicht böse gemeint, weil ich immer wieder so spüre, Mensch, manchmal denke ich mir, vielleicht würde er gerne noch irgendwie mehr oder irgendwo sich mehr einbringen oder sonst etwas. M: Mhm, (1) das glaube ich nicht, also ich denke, ich hab jetzt, wie wir jetzt in diesem Gespräch vielleicht auch herausarbeiten, doch einige Sachen angesprochen, die, von denen ich glaube, dass man sie verändern könnte F: Ja. M: innerhalb von, aber nicht irgendwo alleine, sondern eh, miteinander, also und da muss ich auch nicht überall drin sitzen, um Gottes Willen, sondern F: Ist schon klar. M: das war ja auch eine tolle Sache, wie jetzt dann dieser Musikraum umgebaut wird, und, und letztendlich als [unverständlich] Raum hergerichtet wird, ehm, da bin ich auch nicht mit dabei, aber ich unterstütze das natürlich (1) vehement. (SU MA II)
Wenn die Vorgesetzte sehr allgemein, und ohne dem Mitarbeiter ein konkretes Angebot zu machen („irgendwie“ und „irgendwo“, „oder sonst etwas“), darüber spricht, ob der Mitarbeiter sich genug gefordert fühlt, bezieht sie sich lediglich auf seine aktuelle Tätigkeit. Sie bringt nicht die Möglichkeit eines Stellenwechsels oder einer Aufstiegsmöglichkeit ins Spiel. Dabei bezieht sie sich auf ein Gefühl („weil ich immer wieder so spüre“) und nicht auf einen konkreten Bedarf, den sie aus Sicht der Organisation ausmachen würde. Es geht ihr in erster Linie um die Befindlichkeit des Mitarbeiters und darum, in dessen Interesse bzw. um seinetwillen sein Potential zu fördern bzw. ihm die Möglichkeit zu geben, sich als Person und mit seinen Ideen noch stärker in den Einrichtungsalltag einzubringen. In seiner Reaktion auf diese Anfrage spricht auch der Mitarbeiter nur über die aktuelle Situation. Er betont sogar, dass es ihm vor allen Dingen um seinen jetzigen Aufgabenbereich geht, wo er zwar Veränderungspotential sieht und sich „vehement“ für die Unterstützung von laufenden Projekten und von Kollegen („miteinander“) einsetzen will, dass er aber darüber hinaus keine weiteren Ambitionen hat, sich zu engagieren („innerhalb von, aber nicht irgendwo alleine“). Bei der Absprache der Zielvereinbarungen am Ende des Gesprächs werden auch lediglich auf die Einrichtung bezogene Themen festgehalten.
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8 Weiterbildung
Ähnliches geschieht in einem Gespräch, in dem der Vorgesetzte den herausragenden Einsatz seiner Mitarbeiterin lobt: F (m): Also, wollte ich dir einfach auch so rückmelden, auch diese ganzen Sachen, also wo ich mich manchmal wundere, wie du das alles nebenher dann noch hinkriegst, weil du bist ja in den ganzen anderen Bereichen auch noch aktiv. […] […] F: Also, merke ich auch, dass du das natürlich auch gerne machst. M (w): Ich arbeite gerne. Das ist eben so. F: Ja, aber das sind ja alles, also wenn man es ganz streng nimmt, sind das natürlich auch, das sind ja viele zusätzliche Sachen, ne, die da zusätzlich noch zum Kerngeschäft noch dazu sind. (SU MA V)
Die Mitarbeiterin tut das Lob mit einem schlichten „Ich arbeite gerne. Das ist eben so.“ ab. Ebenso wie ihr Kollege im vorherigen Beispiel identifiziert auch sie sich stark mit ihrer Tätigkeit. Beide bringen viel persönlichen Einsatz und scheuen sich auch nicht, Aufgaben zu übernehmen, die über ihr „Kerngeschäft“ hinausgehen. Die Mitarbeiterin freut sich über die Rückmeldung, aber weder von ihr noch von ihrem Vorgesetzten wird die Möglichkeit einer Veränderung der Stelle angesprochen. Neben der Orientierung an den Interessen der Mitarbeiter spielt ihr fachlicher Schwerpunkt eine Rolle bei der Aufgabenverteilung: F (w): Genau, also das passt auch, denke ich, insgesamt auch gerade zu Ihrem Berufsfeld auch gut dazu. Und, ehm, da werde ich einfach auch darauf achten einfach bei der Verteilung oder bei der Aufnahme auch, dass dass diese Familien Ihnen auch mit zugeordnet werden, aber umgekehrt auch, wenn Sie, wenn auch Kinder vorgestellt werden, wo Sie einfach auch sagen können, das, denke ich, passt für mich, das würd ich gerne machen. Also, dass das wechselseitig einfach auch läuft, also, ich werde bei der Aufnahme darauf achten, aber dass Sie einfach auch, wenn Kinder im Team besprochen werden, dass Sie da auch noch einmal dann sagen, das könnte etwas für mich sein. (SU MA I)
Bereits zu Beginn des Gesprächs hat sich die Vorgesetzte bei ihrer Mitarbeiterin erkundigt, ob sie sich genügend dabei unterstützt fühle, ihren Schwerpunkt zu leben, und auch hier wird wieder die bewusste Orientierung an den Interessen der Mitarbeiterin deutlich und daran, was sie „gerne“ machen würde. Dabei wird das, was die Mitarbeiterin gerne macht, mit ihrem fachlichen Schwerpunkt („Berufsfeld“) gleichgesetzt oder zumindest eng in Verbindung gebracht. Die spezifische Fachkompetenz der Mitarbeiterin steht immer wieder im Mittelpunkt des Gesprächs. Die Fragerichtung der Vorgesetzten kommt zunächst nicht aus dem Bedarf der Einrichtung, sondern aus den Bedürfnissen der Mitarbeiterin heraus:
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F (w): Haben Sie so den Eindruck, Sie haben ja vorher in der Erziehungsberatung gearbeitet, haben Sie den Eindruck, Sie können Ihre Fähigkeiten miteinbringen oder wie können Sie Ihre Fähigkeiten, Ihre Kompetenzen auch miteinbringen? M (w): Also das merke ich eben, mh, also ich habe in der Erziehungsberatung schon auch nicht schwerpunktmäßig, aber auch mit den Kindern einzeln gearbeitet, wo ich dann sehr so kindertherapeutische Elemente angeboten habe. Ich finde das kommt mir zu gute. Und auch die Elterngespräche, also jetzt Trennung und Scheidung wäre ja so ein, kommt ja nicht nur bei der Nadine vor, sondern auch in anderen Fällen (lacht), also wo, ja, wo ich einfach, denke ich, nicht so leicht zu verunsichern bin. Das ist schon gut. Das merke ich auch an den Kollegen, die dann sagen, ach ja, mach du das oder so. Und das tut mir schon gut, weil ich merke, mh, dass ich nicht nur von den anderen etwas brauche, sondern dass es auch so wechselseitig ist. Also ich mache jetzt keine Elterngespräche für die anderen, aber wenn man so die Fälle aufteilt oder so, oder miteinander jetzt an einem Kind arbeitet und dann hat man Elterngespräch, dann mache ich eben dann die Moderation bei dem Elterngespräch, zum Beispiel. Da habe ich schon das Gefühl, dass mir das ja zu gute kommt (immer leiser). (SU MA I)
Auch hier ist das Ziel der Vorgesetzten, der Mitarbeiterin den Einsatz ihrer Kompetenzen nach ihrem persönlichen Schwerpunkt zu ermöglichen. Insbesondere in Bereichen, in denen die Mitarbeiterin bereits in anderen Einrichtungen praktische Erfahrungen sammeln konnte, fühlt sie sich sicher („nicht so leicht zu verunsichern“). Sie spürt die Wertschätzung ihrer Kollegen dadurch, dass diese sie bei den Themen, in denen sie sich zu Hause fühlt, um Rat fragen, mit ihr zusammen an Fällen arbeiten und ihr Aufgaben („Moderation“) oder die Betreuung von Kindern mit einer bestimmten Problemlage übertragen. Das Gefühl, gebraucht zu werden, tut der Mitarbeiterin gut. Zusammen mit der Wertschätzung der Kolleginnen und der Vorgesetzten fördert dies ihre Identifikation mit der Einrichtung und steigert ihr Engagement im Team sowie ihre Zufriedenheit. Somit ist das Aufgreifen der fachlichen Schwerpunkte der Mitarbeiter und ihre Wertschätzung natürlich auch eine Möglichkeit, die vorhandenen Ressourcen optimal zu nutzen und die tägliche Arbeit effizient zu gestalten. Schließlich bestätigt ein weiterer Gesprächsausschnitt, dass auch für die Mitarbeiter die Frage zentral ist, ob sie bestimmte Kompetenzen in den Arbeitsalltag einbringen können: F (m): Mhm, das ist toll. Ist diese Zusatzausbildung für Sie hier nützlich? M (m): Ja. Ja. Eh, ist natürlich, die Anfangsschwierigkeiten waren das, eben das umzusetzen, weil das waren ältere Kinder, das auf unsere Kinder umzusetzen. Und da waren zu Beginn einfach meine Maßstäbe zu hoch, was ich jetzt eigentlich auch runtergeschraubt habe, und das jetzt einfach in einem angemessenen Rahmen für die Kinder anbieten kann. Also wir haben jetzt zum Beispiel Höhlentouren gemacht, wo wir gesagt haben, wirklich, das ist eine ganz einfache Höhle, wo wir mit den Kinder auch, wo nichts passieren konnte, wo einfach ein bisschen die Angst auch schwindet bei den Kindern, wo sich an die, an das Element gewöhnt wird. Und die Sicherheit natürlich steht im Vordergrund. (SU MA VI)
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Die Frage dieses Vorgesetzten ist etwas anders akzentuiert, denn er fragt nach dem Nutzen, den die Zusatzausbildung hat, also ob sie in und für die Einrichtung gewinnbringend eingebracht werden kann. Der Mitarbeiter antwortet aber, ohne auf den Aspekt des Nutzens einzugehen, sondern im Sinne des obigen Beispiels dahingehend, ob er diese Zusatzqualifikation überhaupt in der Einrichtung zum Einsatz bringen kann und bestätigt damit die Annahme, dass die persönliche Verwirklichung durch das Einbringen der persönlichen Kompetenzen in die Arbeit im Sozialunternehmen für die Mitarbeiter eine zentrale Rolle spielt.
8.1.3 Zusammenfassung Im Hinblick auf das Thema Weiterbildung lassen sich für das Sozialunternehmen folgende Muster ausmachen: Zum kollektiven in den Gesprächen aufgeführten Selbstverständnis der Mitarbeiter gehört es, an Weiterbildungsveranstaltungen teilzunehmen. Sie nehmen einen permanent bestehenden Weiterbildungsbedarf aufgrund neuer, zusätzlicher oder veränderter Aufgaben wahr, häufig gebunden an bestimmte Fragestellungen in Verbindung mit Klienten. Die Mitarbeiter ergreifen selbst die Initiative, sie diagnostizieren ihren Weiterbildungsbedarf selbst und haben konkrete Vorstellungen davon, welche Veranstaltungen sie besuchen möchten. Dies kann sowohl anhand von Beispielen gezeigt werden, in denen Mitarbeiter ihre Wünsche klar äußern, als auch umgekehrt an der Zurückhaltung der Vorgesetzten, auch wenn diese eine Maßnahme für nötig hielten. Der hohe Stellenwert der fachlichen Weiterbildung für die Mitarbeiter des Sozialunternehmens ist auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen. Es zeichnet sich eine starke persönliche Verpflichtung gegenüber der eigenen Fachkompetenz bzw. Professionalität ab, wobei eine deutliche Bezugnahme auf den Beruf stattfindet, der einen „bestimmten persönlichen Besitz an Kompetenz und Wissen“ (Harney 1998, 254) impliziert. Es geht um den „Beruf“, das „Berufsfeld“ und um „Berufsplanung“. Bei der Planung von Weiterbildungsveranstaltungen wird sowohl von den Mitarbeitern als auch von Seiten der Vorgesetzten immer wieder auf den Ausbildungsberuf Bezug genommen. Diese „eigentliche Kompetenz“ bzw. die „Fachlichkeit“ wird gegenüber stellenbezogenen Tätigkeitsanforderungen höher bewertet. Die Selbstverständlichkeit der eigenverantwortlichen Weiterbildung wird immer wieder betont. Diese „Fachlichkeit“ ist eng mit der eigenen Person verbunden und wird immer wieder von Vorgesetzten wie Mitarbeitern im gleichen Atemzug genannt. Weiterbildung im hier verstandenen Sinne meint also, sich selbst als Person zu
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bilden und weiterzuentwickeln. Dies rührt auch daher, dass sich die Mitarbeiter stark als Person in ihre Tätigkeiten in den Einrichtungen einbringen. Fachliche Entwicklung ist also auch im Selbstverständnis der Mitarbeiter zwangsläufig sehr eng mit der persönlichen Weiterentwicklung verbunden. Neben dem persönlichen Interesse und der Verpflichtung sich selbst und dem eigenen professionellen Selbstverständnis gegenüber kann in Bezug auf die Fachkompetenz der Lernanlass häufig in einer Problemstellung in Bezug auf einen bestimmten Klienten und in der mit wechselnden Klienten verbundenen immer wieder veränderten Arbeitssituation gefunden werden. Es gilt als selbstverständlich, dass man sich eigenständig um Informationen bemüht und sich neues Wissen aneignet, wenn man die Verantwortung für einen neuen Klienten übertragen bekommen hat. Weiterbildung selbst wird als Reflexionsmöglichkeit wahrgenommen, als Möglichkeit, Kraft zu schöpfen und Abstand vom oftmals belastenden beruflichen Alltag zu bekommen und mit neuen Impulsen und Ideen in diesen zurückzukehren. Darüber legitimiert sie sich. Die Veranstaltungen, die die Mitarbeiter besuchen, stehen entsprechend nicht zwangsläufig in einem direkten Zusammenhang zu ihrer Tätigkeit. Sie werden nach persönlicher Interessenslage von den Mitarbeitern ausgewählt. Die Entscheidungen werden, zumindest von den direkten Vorgesetzten, nicht in Frage gestellt, die Möglichkeit zur Reflexion wird begrüßt. Der Wunsch, sich weiterzubilden, ist so stark, dass die Mitarbeiter, auch wenn das Fortbildungskontingent ausgeschöpft ist, auf eigene Kosten und in der Freizeit an Veranstaltungen teilnehmen. Gleichzeitig ist die Empörung groß, wenn die Verwendung dieses kostbaren Budgets vorgegeben wird. Dies unterstreicht nicht nur, dass Weiterbildung eine von den Mitarbeitern als selbstverständlich wahrgenommene Pflicht darstellt, sondern auch, dass die Ermöglichung der Teilnahme an Weiterbildung ebenso selbstverständlich von der Organisation und den Vorgesetzten erwartet wird. Gerade das finanzielle Kontingent ist zwar vergleichsweise klein, dafür aber unabhängig von anderen Faktoren wie bspw. der Budgetplanung der Einrichtung. In Ausnahmefällen ist das Kontingent erweiterbar; die Mitarbeiter haben dann die Möglichkeit, auf das nächste Kontingent vorzugreifen. Dies wird insbesondere während des Einarbeitungsprozesses in eine Führungsposition relevant. Personelle Engpässe erschweren die Teilnahme an Veranstaltungen, sollen aber aus Sicht der Vorgesetzten kein Hindernis darstellen. Über das Thema Weiterbildung im engeren Sinne hinaus sind die persönlichen Interessen, die Begabungen, Fähigkeiten und die sich daraus ergebenden
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fachlichen Schwerpunkte der Mitarbeiter für die Vorgesetzten auch der zentrale Ausgangspunkt für die Aufgabenverteilung. Immer wieder führt die Neigung oder das Interesse eines Mitarbeiters zum Besuch einer Weiterbildungsveranstaltung und die dadurch ausgebaute Kompetenz zu einer neuen Aufgabe bzw., wie das Beispiel der Erlebnispädagogik gezeigt hat, zu einer Veränderung der bisherigen Praxis der Einrichtung. Im Zentrum der Aktivitäten der Mitarbeiter steht, in ihrer aktuellen Position ihrem hohen Anspruch an ihre eigene Fachkompetenz gerecht zu werden. Zu diesem Anspruch und zur Zufriedenheit der Mitarbeiter gehört auch, die eigenen Interessen und Kompetenzen so weit wie möglich in die Tätigkeit einbringen zu können. Weder Vorgesetzte noch Mitarbeiter sprechen in den Gesprächen das Thema Karriere an. Da die Hierarchie im Sozialunternehmen relativ flach ist, bietet sich eine solche Betrachtungsweise möglicherweise auch gar nicht an, zumal viele Mitarbeiter die mit einem Aufstieg verbundenen Führungs- und Verwaltungsaufgaben für nicht besonders erstrebenswert halten. Ist von Weiterbildungsmaßnahmen die Rede, ist in aller Regel die klassische Seminarform bei internen Weiterbildungsveranstaltungen oder bei externen Anbietern gemeint. Alternative Angebote zu diesen traditionellen Formen, auf die von den Führungskräften hingewiesen wird bzw. die von ihnen angeboten werden, sind die Unterstützung durch Kollegen als Mentoren, durch die Vorgesetzten selbst, oder, wie oben bereits mehrfach erwähnt, durch Supervision. Wie bei allen anderen Angeboten geht es auch hier immer um Unterstützungsangebote zur besseren Ausgestaltung oder zum besseren Hineinwachsen in die aktuelle Stelle. Keine Maßnahme geschieht im Hinblick auf einen Stellenwechsel oder den hierarchischen Aufstieg. Eine breitere Ersetzung von Seminaren durch Maßnahmen on-the-job kann nicht beobachtet werden. Ein Grund dafür ist sicherlich wieder der hohe Stellenwert von Weiterbildung im Sinne eines Hinaustretens und Distanzgewinnens von alltäglichen Prozessen und der persönlichen Involviertheit in die Arbeit mit den Klienten. Weiterbildung als Raum für Reflexion, die wiederum neue Handlungsspielräume eröffnen kann, ist nur schwer in den pädagogischen Arbeitsalltag integriert vorstellbar. Wo dies dennoch geschieht, gibt es einen vom Alltag abgegrenzten Rahmen bspw. innerhalb einer Teamsitzung, der Supervision oder eines Mentoring; und nicht umsonst wird auch hier die Möglichkeit gesucht, bspw. in einer veränderten Umgebung weg vom Arbeitsalltag mit dem gesamten Team in „Klausur“ (vgl. SU MA II; SU FK II) zu gehen.
8.2 Wirtschaftsunternehmen
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8.2 Wirtschaftsunternehmen Im Wirtschaftsunternehmen findet sich das Phänomen, das Harney mit dem „neuen Betriebsmenschen“ (Harney 2002, 192) beschreibt: Die betriebliche Handlungslogik greift auch auf die Weiterbildung der Mitarbeiter über. Weiterbildung wird im Wirtschaftsunternehmen eingesetzt, um gezielt die Qualifikationslücken zu schließen, die aus dem Abgleich zwischen Ist und Soll abgeleitet werden, also zwischen der Einschätzung der Ausprägung der Kompetenzen beim Mitarbeiter und der Vorgabe im Kompetenzkatalog aus der Stellenbeschreibung, der dem Mitarbeitergespräch zugrunde liegt. Neben den konkreten stellenbezogenen Fachkenntnissen nehmen hier auch überfachliche Kompetenzen großen Raum ein (s. Kap. 5.2.1; vgl. Maag Merki 2004, 202). Diese so genannten AKompetenzen, die in allen Gesprächen identisch sind, stellen den wichtigsten Bestandteil des Kompetenzkatalogs dar. Dies wird in den Gesprächen immer wieder betont. Darüber hinaus soll das Anforderungs- bzw. Kompetenzprofil der Mitarbeiter im Formular so zugeschnitten sein, dass alle Kompetenzen, die der Mitarbeiter in seiner aktuellen Position benötigt, zielgenau erfasst bzw. erworben werden können. In den Gesprächen gibt es kaum Abweichungen von dieser Vorlage. Selten werden Kompetenzen ergänzt oder nicht mehr benötigte aus dem Katalog gestrichen. Ist dies doch der Fall, dann beziehen sich diese Kompetenzen meist auf technische Instrumente oder eine bestimmte Software, die nicht mehr oder erst neuerdings verwendet werden. Weiterbildungsmaßnahmen finden sich als fester Bestandteil am Ende des Formulars für das Mitarbeitergespräch. Angesprochen wird das Thema überwiegend von den Führungskräften, die, wie es der Prozess zur Weiterbildung festlegt (s. Kap. 5.2.1), für die Bedarfsermittlung, Planung, Auswahl und Anmeldung ihrer Mitarbeiter zu Weiterbildungsveranstaltungen verantwortlich sind. Die Gesprächsausschnitte zum Thema Weiterbildung sollen im Folgenden zeigen, wie die Auswahl von Weiterbildungsmaßnahmen von Vorgesetztem und Mitarbeiter vor dem Hintergrund organisationaler Rahmenbedingungen geregelt wird und welche Faktoren hierbei für die Beteiligten entscheidend sind.
172
8 Weiterbildung
8.2.1 Budget und Bedarfsermittlung 8.2.1.1
„Vom Budget her habe ich jetzt natürlich auch das Problem, dass wir irgendwo in dem, in den Regeln, innerhalb des Budgetwerts bleiben müssen“
Der für Weiterbildungsveranstaltungen zur Verfügung stehende Betrag, das „Budget“, ist dem Abteilungsbudget entnommen und wird im Vorfeld der Mitarbeitergespräche festgelegt. Es existiert also kein festes Fortbildungskontingent, das den Mitarbeitern zur Verfügung steht; die Entscheidungen werden von Jahr zu Jahr getroffen. Das jeweils festgelegte Budget bildet den Rahmen, innerhalb dessen sich Vorgesetzter und Mitarbeiter bei der Auswahl von Weiterbildungsveranstaltungen bewegen müssen: F (m): ist ein externes Seminar, beziehungsweise jetzt sind wir bei dem Punkt, den wir vorhin mit aufgenommen haben, das Arbeitsrecht. Vom Budget her habe ich jetzt natürlich auch das Problem, dass wir irgendwo in dem, in den Regeln, innerhalb des Budgetwerts bleiben müssen, letztendlich würde ich jetzt vorschlagen, wir überlegen mal gemeinsam, was wir von diesen beiden, was wichtiger ist. M (m): Hm. (WU FK VII)
Es gibt zwei Seminare, die aus der Sicht des Vorgesetzten vom Mitarbeiter besucht werden sollten und zwischen denen nun abgewogen werden muss. Das „Budget“ wird vom Vorgesetzten diesbezüglich als Beschränkung wahrgenommen; zumindest stellt er dem Mitarbeiter gegenüber das Budget als „Regeln“ dar, die eingehalten werden müssen. Er distanziert sich von der Verantwortung für diese Beschränkung, indem er sagt, dass er durch die Vorgaben ein „Problem“ hat („Vom Budget her habe ich jetzt natürlich auch das Problem“). Dieses soll nun gelöst werden, indem Vorgesetzter und Mitarbeiter gemeinsam überlegen, wie sie die Prioritäten setzen. Ansonsten wird das Thema Budget in Gesprächen angesprochen, in denen der Vorschlag für eine Weiterbildungsmaßnahme nicht vom Vorgesetzten, sondern, was insgesamt seltener ist, vom Mitarbeiter kommt: F (m): Dann haben wir noch off-the-job, vorgesehene fachliche und überfachliche Seminare, ich habe jetzt bei dir nur eins gemacht, ich habe hier externes Budget eingetragen und tausend Euro dort stehen, das ist das, was ich nächstes Jahr machen kann [unverständlich] du hast dir jetzt schon ein paar Sachen aufgeschrieben M (m): Ja, ich habe ja neulich schon einmal F: Genau
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M: eine Wunschliste genannt, ja, und das was da steht, das passt eben so zur Prior eins […] die kostet 1030 Euro plus Steuer. (WU FK IV)
Der Mitarbeiter hat im Vorfeld des Gesprächs bereits eine Liste mit Veranstaltungen erstellt. Der Vorgesetzte ist jedoch an das bereits festgelegte Budget gebunden und kann dies nicht überschreiten. Wie sein Kollege im vorangegangenen Beispiel lässt auch er durchblicken, dass er gerne mehr möglich machen würde, dass dies aber nicht in seiner Hand liegt („was ich nächstes Jahr machen kann“), obwohl er weiß, dass der Mitarbeiter eine längere Liste vorbereitet hat. Der Mitarbeiter kommentiert dies aber nicht weiter, sondern weist auf ein von ihm favorisiertes Seminar hin, das sich mit seinen aktuellen Aufgabenschwerpunkten („Prior eins“) deckt. Der Vorgesetzte greift das Thema nochmals auf und beschreibt die Möglichkeiten, die er selbst gegenüber seinem Vorgesetzten hat, ein umfangreicheres Budget für Weiterbildungsmaßnahmen bereit zu stellen: F (m): Was, was, genau, was mir wichtig ist, ist, wenn du was, was wir jetzt nächstes Jahr nicht schaffen, einfach aus Budgetgründen, sollten wir übernächstes Jahr machen, aber da müsste ich von dir vor der Budgetierungsphase nächstes Jahr noch einmal klar bekommen, das möchte ich nächstes Jahr machen, ich nehme das gerne auch als Extrabudget rein, normalerweise bekomme ich die Budgets zugeordnet, aber wenn ich sagen kann in der Budgetierungsphase und das mit dem Chef abstimmen kann, wir wollen aus den und den Gründen nächstes Jahr von mir aus 3000 Euro für eine Schulung für den Bauer ausgeben, dann budgetiere ich das, und das bekomme ich auch begründet, habe ich kein Problem damit, nur wenn ich es nicht mache, habe ich ein Problem, weil hinterher habe ich, muss ich das Problem von anderen, eh, Töpfen angreifen, das heißt, habe ich dir ja neulich erklärt, ich muss dann sehen […], ob von dem Gesamtbudget, was uns zur Verfügung steht, etwas übrig ist. (WU FK IV)
Obwohl der Vorgesetzte normalerweise die „Budgets zugeordnet“ bekommt, kann er in begründeten Fällen auch einen höheren Bedarf anmelden. Wünsche des Mitarbeiters („das möchte ich nächstes Jahr machen“) werden dabei vom Vorgesetzten berücksichtigt, müssen aber von diesem als Abteilungsbedarf dargestellt werden, um legitim zu sein, worauf die Formulierung „wir wollen aus den und den Gründen“ hinweist. Dann sind auch finanziell andere Größenordnungen, im obigen Beispiel das Dreifache der bereitgestellten Summe, möglich. Es gibt also eine Regelung, über die eine andere Regelung („normalerweise“), noch bevor diese greift („vor der Budgetierungsphase“), gezielt umgangen werden kann. Einmal Beschlossenes oder Zugeordnetes kann aber nicht rückgängig gemacht oder beliebig verändert werden. Jenseits dieser Regelungen hat der Vorgesetzte nur die Möglichkeit, Geld zu verwenden, das ursprünglich für einen
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8 Weiterbildung
anderen Verwendungszweck vorgesehen war und das „übrig“ ist, um auf die Wünsche seines Mitarbeiters einzugehen. Die Tatsache, dass ein bestimmtes Budget für Weiterbildungsmaßnahmen eingeplant ist, bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass dieses auch ausgeschöpft wird: F (m): In unserem Bereich sind die Seminarangebote begrenzt, das wissen wir beide, aber (1) es kann immer eines geben, also es geht hier nicht um ein Seminar, des Seminars Willen, und dass wir das Budget, um das Budget raustragen, ne M (m): @ nein, ist schon klar @ F: aber ich sage, wir haben einen festen Bestandteil drin, nächstes Jahr Seminar für dich, was du besuchen kannst, aber bitte die Auswahl dementsprechend selbst treffen und dann Rücksprache mit mir. M: Gut. (WU FK V)
Der Vorgesetzte macht deutlich, dass die Weiterbildung des Mitarbeiters fest eingeplant ist; gleichwohl ist es nicht beliebig, welches Seminar der Mitarbeiter besuchen wird. Der Vorgesetzte betont, dass ein Seminar, das nicht speziell für den Bedarf in diesem Bereich nutzbringend ist, ein Seminar nur um „des Seminars Willen“, als Verschwendung („Budget raustragen“) betrachtet wird. Der Mitarbeiter soll eine „Auswahl“ an Seminaren treffen; die endgültige Entscheidung für die Teilnahme erfolgt jedoch erst nach Rücksprache mit und Prüfung durch den Vorgesetzten. Während in den vorangegangenen Gesprächsausschnitten lediglich eine Orientierung am Abteilungsbedarf anklingt („was wichtiger ist“, „das passt eben so zur Prior eins“, „wir wollen“), werden hier ganz deutlich Kosten/Nutzen-Erwägungen aus der Sicht des Unternehmens gemacht. Das Budget, das zur Verfügung gestellt wird, soll auch für den „Bereich“ gewinnbringend sein, aus dem es kommt. Diese Annahme kann im Folgenden noch durch weitere Beispiele belegt werden.
8.2.1.2
„was ich jetzt machen würde“
Die folgenden Ausschnitte zeigen an konkreten Beispielen, wie sich Vorgesetzter und Mitarbeiter in den Gesprächen über den Weiterbildungsbedarf verständigen, wer also Vorschläge für Weiterbildungsmaßnahmen einbringt und was für die Einschätzung maßgeblich ist, dass die Notwendigkeit für eine Maßnahme gegeben ist. Zunächst wird der Weiterbildungsbedarf in der Regel durch einen Soll-IstAbgleich ermittelt:
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F (m): Das ist neu in die Liste hineingekommen, warum genau, ist mir jetzt noch unbekannt, aber war jetzt bei mir, bei meinem [Abkürzung Mitarbeitergespräch] mit meinem Chef auch neu dabei. (1) Dann (2) das Englisch. M (m): Ok. F: Da habe ich jetzt auf jeden Fall das Wissen um, da müsste man etwas machen, unterhalten wir uns aber später noch einmal, wie wir das Ganze angehen, aber da habe ich schon einmal mit vermerkt, werde ich auch ins [Abkürzung Mitarbeitergespräch] so mit eintragen, dass wir da den, den Kurs mit, also in irgendeiner Form einen Kurs besuchen. Was sie dann jetzt noch neu mit aufgenommen haben, das ist auf Ihrem Bogen nicht mit drauf. (WU FK VII)
Die Führungskraft geht mit dem Mitarbeiter die Liste der Kompetenzen durch, stellt im Falle der Englischkenntnisse fest, dass der Mitarbeiter das im Anforderungsprofil vorgegebene Niveau nicht erreicht und deshalb einen Kurs besuchen sollte. Der Mitarbeiter stimmt seinem Vorgesetzten ohne weitere Nachfrage zu. Diese Vorgehensweise zieht sich durch das gesamte Gespräch und steht auch exemplarisch für die Vorgehensweise in den anderen Gesprächen. Gegen Ende des Gesprächs werden die Maßnahmen nochmals gesammelt und explizit im Formular für die Personalabteilung festgehalten: F (m): Dann haben wir den Punkt, wo ich der Meinung bin, wo wir vielleicht noch ein wenig Zusatzwissen machen müssen, wir wissen zwar recht viel in dem Bereich, aber da geht es auch wieder mehr über den Tellerrand rausschauen, das Seminar für [Aufgabengebiet] M (m): Mmh. F: ist ein externes Seminar, beziehungsweise jetzt sind wir bei dem Punkt, den wir vorhin mit aufgenommen haben, das Arbeitsrecht. Vom Budget her habe ich jetzt natürlich auch das Problem, dass wir irgendwo in dem, in den Regeln, innerhalb des Budgetwerts bleiben müssen, letztendlich würde ich jetzt vorschlagen, wir überlegen einmal gemeinsam, was wir von diesen beiden, was wichtiger ist, M: Hm. F: was wir dann entsprechend jetzt aussuchen. […] […] F: […] Ich würd sagen, wir sehen uns die Seminarinhalte später an M: Mhm. F: und dann können wir da entscheiden, welches von den beiden das Sinnvollere ist, was uns mehr bringt. M: Ok. F: Und dann können wir das andere, für das nächste Jahr merke ich es dann schon einmal mit vor, nehme es in Klammer mit auf und schreibe dahinter, dass wir im nächsten Jahr dann über das andere dann einmal diskutieren. (WU FK VII)
Der Vorgesetzte bringt auch an dieser Stelle des Gesprächs zunächst einmal seine eigenen Ansichten vor. Er legt fest, an welchen Punkten noch „Zusatzwissen“ notwendig ist, wo er der Meinung ist, dass der Mitarbeiter seinen fachlichen Blick noch etwas erweitern sollte („über den Tellerrand rausschauen“). Er greift
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8 Weiterbildung
außerdem ein zweites Seminar auf, das im Laufe des Gesprächs angesprochen worden war, und stellt es zur Diskussion. Der Mitarbeiter reagiert sehr zurückhaltend und äußert auch im weiteren Verlauf des Gesprächs keine Präferenz für eines der beiden Themen. Nach einem genaueren Blick auf die jeweiligen Seminarinhalte soll schließlich „gemeinsam“ diskutiert und entschieden werden, welches Seminar „mehr bringt“. Die Veränderung des Satzendes, zu dem der Vorgesetzte umschwenkt – nämlich von „wir überlegen einmal gemeinsam, was wir von den beiden, [für wichtiger halten]“ zu „was wichtiger ist“ – impliziert, dass der Vorgesetzte davon ausgeht, dass in der Sache selbst eine eindeutige Priorität zu finden ist. Auffallend ist in beiden Gesprächsausschnitten, dass der Vorgesetzte immer wieder in der ersten Person Plural, also von „uns“ und „wir“ spricht, wenn es um die Weiterbildung des Mitarbeiters geht. Dies kann einfach nur eine Angewohnheit des Vorgesetzten sein oder auf die enge Verbundenheit zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter hindeuten; es könnte aber auch ein Hinweis darauf sein, dass es hier nicht primär um die Weiterentwicklung des Mitarbeiters geht, sondern um die der ganzen Abteilung (s. bei den Beispielen zum Budget „wir wollen“). Der Vorgesetzte orientiert sich am Wissensbestand der gesamten Abteilung („wir wissen“). Stellvertretend für die ganze Abteilung soll der Mitarbeiter durch Weiterbildung das Wissen der Abteilung erweitern. Ausschlaggebend für die Auswahl sind die konkreten Inhalte der Seminare. Das „sinnvollere“ Seminar ist das, „was uns [also der Abteilung] mehr bringt“. Der Bedarf wird zwar zunächst vom Kenntnisstand des Mitarbeiters her bestimmt, es geht aber nicht um den Mitarbeiter als Person, sondern um ihn als Wissensträger innerhalb der Abteilung. Der Mitarbeiter als Person wird dadurch austauschbar. Nicht nur das Budget für die Weiterbildungsmaßnahmen ist bereits vor dem Gespräch festgelegt, auch zu den möglichen Inhalten beziehen die Vorgesetzten einen klaren Standpunkt: F (m): Eh, als Seminare, ich habe jetzt einmal nur zwei herausgesucht, von den A-Seminaren hast du schon relativ viele belegt, das eine wäre für mich das Führungstraining M (m): Das ist das, was ich meinte, was ich machen müsste F: was ich jetzt machen würde eben auch im Hinblick auf die, die Leitungsfunktion, ich hatte noch BWL für Ingenieure, um Richtung, ja, gewisses Controlling, solche Sachen sind als Teamkoordinator auch wichtig, beide zusammen bekommen wir allerdings im Budget nicht unter. M: Nee, ich habe, also meine Vorstellung war, eh, Führungstraining zu machen, sehe ich als, als absolut relevant an, das würde ich auch ganz gerne machen, und die anderen, die da stehen, die habe ich nur aufgeschrieben, um die nicht zu vergessen, weil das ist so das, was, weiß ich nicht, vielleicht willst ja auch du etwas davon besuchen, eh, es gibt noch eines, das sollten wir vielleicht trotzdem machen, das ist [Name]-Schulung F: Mhm.
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M: ehm, da würd ich gerne hingehen, das ist ein halber Tag, kostet fünfzehn Euro, die ist vielleicht für unsere internen […-]prozesse relevant, vielleicht kann man sich davon was abgucken. F: Das nehmen wir noch mit dazu, das ist richtig. (WU FK VI)
Der Vorgesetzte hat die seiner Meinung nach anstehenden Seminare schon ausgewählt und auch schon entschieden, welches der beiden dringender ist. Den Einschub seines Mitarbeiters, der sich ebenfalls Gedanken gemacht und diese wohl auch schon geäußert hat („Das ist das, was ich meinte…“), ignoriert er und betont, was aus seiner Sicht zum aktuellen Zeitpunkt, der Übernahme einer Führungsposition durch den Mitarbeiter, wichtig wäre. Eine weitere, relativ günstige Schulung, die der Mitarbeiter noch anspricht, nimmt der Vorgesetzte mit in die Liste auf; aus Budgetgründen kann aber nur eines der kostenintensiveren Seminare besucht werden. Die Veranstaltung, die der Vorgesetzte ausgewählt hat, ist auch in den Augen des Mitarbeiters („meine Vorstellung“) das, was er „machen müsste“, was „absolut relevant“ ist und was etwas ist, was er „auch ganz gerne machen“ würde. Da die Übereinstimmung mit dem Vorgesetzten der besonderen Erwähnung verdient, ist dies wohl nicht zwangsläufig die Voraussetzung für die Teilnahme an einer Weiterbildungsmaßnahme. Entscheidend ist hier in erster Linie, dass der Inhalt als „relevant“, also als in der aktuellen Arbeitssituation als bedeutend wahrgenommen wird. Das persönliche Interesse an den Inhalten ist zweitrangig, wenn auch in diesem Fall vorhanden. Der Mitarbeiter hat darüber hinaus weitere Veranstaltungen notiert; was es mit diesen genauer auf sich hat, kann man nur vermuten („weil das ist so das, was, weiß ich nicht“). Möglicherweise sind es Veranstaltungen, die er gerne besuchen würde, für die er sich interessiert, die ihn persönlich weiter bringen würden, die aber eben die oben angesprochene Relevanz für seine aktuelle Tätigkeit nicht haben. Offensichtlich handelt es sich dabei aber auch um Veranstaltungen, die für den Vorgesetzten interessant sein könnten, und noch bevor der Mitarbeiter sein persönliches Interesse kund tut, beeilt er sich, dem Vorgesetzten zu versichern, dass er diesem bei der Planung seiner eigenen Weiterbildungsveranstaltungen nicht in die Quere kommen will. Das Anrecht auf Weiterbildungsveranstaltungen ist also deutlich hierarchieabhängig und positionsgebunden. Ein anderer Vorgesetzter schlägt seiner Mitarbeiterin verschiedene Veranstaltungen vor, bspw. einen Kurs zur Moderation von Gruppen oder einen Englischkurs. Nach längerer Rede fragt er schließlich die Mitarbeiterin:
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8 Weiterbildung F (m): Wenn du natürlich irgendeinen Kurs hast, wo du denkst, Mensch, ich will das unbedingt machen, können wir gern noch einmal darüber sprechen, hast du da irgendetwas, im, im Hinterkopf, wo du sagst, oh, Martin, das würde ich unbedingt gern machen? (WU MA II)
Eigentlich, so scheint es, ist das Thema Weiterbildung für den Vorgesetzten an dieser Stelle schon abgeschlossen, denn man müsste „noch einmal“ darüber sprechen, wenn die Mitarbeiterin einen Vorschlag hätte. Das verallgemeinernd relativierende „irgendeinen Kurs“ steht im Widerspruch zu der starken Aussage „ich will das unbedingt machen“. Dadurch ist die Nachfrage in sich nicht konsistent, sondern wirkt aufgesetzt. Damit wird auch hier wieder deutlich: Für die Auswahl einer Weiterbildungsveranstaltung sind weniger die Ideen und Interessen der Mitarbeiter, sondern die Vorschläge der Vorgesetzten maßgeblich.
8.2.2 Seminare und Alternativen on-the-job 8.2.2.1
„Ich war ja auf einem Seminar, das Seminar war nur nicht sehr befriedigend an der Stelle“
Grundsätzlich liegt es in der Verantwortung der Führungskräfte, die Qualität der von den Mitarbeitern besuchten Veranstaltungen zu überprüfen. Die Vorgehensweise ist insofern institutionalisiert, als es ein speziell für die Beurteilung von Weiterbildungsveranstaltungen entworfenes Formular gibt, das die Mitarbeiter benutzen können und das an die Personalabteilung weitergeleitet wird. Man scheint also auf die Rückmeldung Wert zu legen und versucht, den Rücklauf zu vereinfachen. Die Stellen in den Gesprächen, an denen sich Vorgesetzter und Mitarbeiter über Veranstaltungen austauschen, sind im Hinblick auf die Frage aufschlussreich, unter welchen Voraussetzungen eine Veranstaltung als gut befunden wird.20 So kommt es bspw. immer wieder vor, dass Führungskräfte Seminare weiterempfehlen, an denen sie schon selbst teilgenommen haben und die sich ihrer Ansicht nach bewährt haben: „Super Seminar. Ich war selbst dort, der Reinhardt war jetzt erst dort. Also, ist spitzenmäßig das Ding. […]“ (WU FK VII). 20
Harney (1998) beschreibt unter Rückgriff auf eine Studie von Pawlowsky und Bäumer von 1996, dass die meisten Unternehmen weiche Formen der Evaluation betrieblicher Weiterbildung bevorzugen und damit keine „substantielle Rationalität betrieblichen Handelns“ (ebd., 149) garantieren, da sie lediglich Teilnehmerinformationen und nicht die Transferinformationen einholt und damit sowohl zur „Bestandssicherung“ (ebd., 151) der Weiterbildung als auch zum Erhalt des Status quo innerhalb der Organisation beiträgt.
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Interessanterweise betonen die Vorgesetzten bei ihren Empfehlungen, wie wichtig diese Seminare für den Austausch innerhalb der Organisation sind: Ein Vorgesetzter erklärt, nicht nur die Inhalte seien wichtig, sondern auch, dass man Leute aus anderen Abteilungen kennen lerne (vgl. WU MA II). Ein anderer meint: F (m): […] Der Vorteil ist, bei diesem Seminar sind auch viele Führungskräfte aus anderen Bereichen mit dabei, die teilweise schon Führungserfahrung haben, teilweise überhaupt keine Erfahrung, und einfach dieses Wissen, das man von den anderen Leuten mitnimmt, weil im Prinzip werden da, ist es streng geheim, was man da macht, aber es wird auch über wirkliche, harte Fälle gesprochen und wie die gelöst wurden, und da helfen einerseits, Referenten halten das Seminar, die unterstützen, die Vorgesetzten, die teilnehmen, unterstützen oder sagen ihr Wissen weiter und das Ding ist absolut super. Also da habe ich verdammt viel mitgenommen, da sieht man letztendlich auch, was es dann wirklich für Problemfälle in der Firma gibt. (WU FK VII)
Weiterbildungsveranstaltungen werden also dann als erfolgreich beschrieben und weiterempfohlen, wenn dort ein Erfahrungsaustausch mit Kollegen innerhalb des Unternehmens möglich ist. Es geht nicht unbedingt um die Aneignung objektivierten Wissens, sondern um deren Einbettung in den organisationalen Kontext. Organisationsspezifisches Wissen wird „weitergesagt“ und als besonders bereichernd empfunden, weil man etwas über die Praxis in der eigenen Organisation und deren Muster erfährt („es wird auch über wirkliche, harte Fälle gesprochen und wie die gelöst wurden“). Man kann vermuten, dass dieses Wissen nicht nur in der aktuellen Stelle direkt anwendbar ist, sondern ein Mitarbeiter durch dieses organisationale Wissen und die Kontakte, die in den Seminaren geknüpft werden, auch interessant für andere Stellen in der Organisation wird und sich dadurch für ihn Karrieremöglichkeiten eröffnen. Auch negative Erfahrungen der Mitarbeiter mit im vergangenen Jahr besuchten Seminaren werden angesprochen: M: Ich war ja auf einem Seminar, das Seminar war nur nicht sehr befriedigend an der Stelle. F: Welches war das? M: Das, bei dem der Bogen zur Personalabteilung ging. F: Ah, ok. (beide lachen gequält) M: Naja, der hat eben nur eine Methode vorgestellt, und war da selbst auch nicht so sattelfest, hatte ich so die Vermutung. War nicht so gut. (WU FK VI)
Vorgesetzter und Mitarbeiter halten sich nicht sehr lange mit diesem Thema auf. Die Tatsache, dass das Seminar nicht gehalten hat, was man sich davon versprochen hatte, was hier insbesondere auf die mangelnde Kompetenz des Referenten
180
8 Weiterbildung
zurückgeführt wird, wurde aber bereits festgehalten und an die Personalabteilung weitergeleitet.
8.2.2.2
„ein Seminar bringt an der Stelle wenig“
Aufgrund der teilweise schlechten Erfahrung mit Seminaren werden auch verschiedene Alternativen oder auch „funktionale Äquivalente“ (Harney 1998, 150) wie z. B. Selbstlerneinheiten ausprobiert und überprüft: F (m): Wie sind deine Erfahrungen mit Selbstlerneinheiten? M (m): Manchmal, also ich, ich habe das festgestellt, wenn man die Sachen am Rechner, also erst mal ist es gut, wenn man das am Rechner macht, bringt oftmals mehr, als wenn man drei Stunden im Besprechungsraum sitzt, mit fünfzig Leuten sitzt, und der das auch noch vorliest, ja, also die Zeit kann ich schon für mich nutzen, ich habe den Vorteil, wenn das, wenn ich glaube, ich muss was wiederholen, am Rechner, dann kann ich diese Einheit wiederholen, das kann man auch im Nachhinein nochmal aufrufen. (WU FK II)
Dieser Mitarbeiter beschreibt, dass Seminare aufgrund schlechter Referenten und vermutlich auch schlechter Methoden („der das auch noch vorliest“) und ungünstigen Rahmenbedingungen („drei Stunden im Besprechungsraum“, „mit fünfzig Leuten“) häufig wenig bringen und von ihm als Zeitverschwendung („also die Zeit kann ich schon für mich nutzen“) empfunden werden. Unter diesen Umständen ist eine Beteiligung der einzelnen Teilnehmer im Seminar kaum zu erwarten, die Lernumgebung ist weit weg von der Situation im direkten Arbeitsumfeld; der Transfer in den Arbeitsalltag wird dadurch erschwert (vgl. Karg 2006, 92). Der Mitarbeiter stellt seine Erfahrungen mit Selbstlernprogrammen in den negativen Kontext seiner Erfahrungen mit herkömmlichen Seminaren. Wohl vor allem vor diesem Hintergrund lobt er die Selbstlernprogramme, mit denen er am eigenen Computer arbeiten kann. Insbesondere die Möglichkeit, Themen oder „Einheiten“ zu wiederholen, die sich nach einem Seminar oder nach dem ersten Durcharbeiten schnell wieder verflüchtigen, hebt er als gewinnbringend hervor. Im weiteren Verlauf des Gesprächs meint der Mitarbeiter, Selbstlerneinheiten seien Schulungen vorzuziehen. Durch Schulungen könnten zwar gut übergeordnete Strukturen vermittelt werden, die konkrete „Handhabung“ erlerne man jedoch besser durch Selbstlernprogramme. In einem anderen Gespräch wird das oben nur angedeutete Transferproblem bei Seminaren explizit angesprochen. Die Lösung, die hier stattdessen gefunden
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wird, ist allerdings nicht ein Selbstlernprogramm, sondern die Vermittlung durch den Vorgesetzten: F (m): Dann machen wir das Wissen, das Sie brauchen, das bauen wir dann so auf, wie Sie es wirklich brauchen, ich denke, ein Seminar bringt an der Stelle wenig. M (m): Also, ich muss da auch sagen, das ist auch wieder so schnell weg. Excel zum Beispiel braucht man ja ganz wenig bei uns, ne, da, das ist weg, wie man es praktisch aufgebaut hat. Früher da haben wir Listen gemacht, Diagramme dazu und so, wo wir eben Ergebnisdarstellungen gebraucht haben, F: Mhm. M: und jetzt haben wir das nicht mehr, das ist ruck zuck da, ich meine, klar kommt man wieder rein, aber da muss man wieder Unterlagen wälzen und Ding, weil sonst, darum auch eben, wie Sie sagen, Kurse jetzt da zu machen, das ist ein Strohfeuer für die nächsten vier Wochen und dann F: Erstens lernen Sie im Kurs so viel, was Sie eigentlich gar nicht brauchen, M: Mhm. F: und das, was Sie brauchen, das lernen Sie wieder nicht im schlimmsten Fall, und so können Sie sich direkt, wenn was ist, an mich wenden, und dann klären wir genau das Problem, das Sie haben, da lernt man mit Sicherheit am besten. Verhält sich aber auch so für die andere Software, wenn Sie da Probleme haben, kommen Sie genau so auf mich zu. M: Ja! Ja, ja. (WU FK VII)
Die Anforderungen an den Bereich haben sich verändert, bestimmte Kompetenzen liegen brach, weil sie selten gebraucht werden, und müssen dann oftmals erst wieder aufgefrischt werden („aber da muss man wieder Unterlagen wälzen und Ding“). Als entsprechend überflüssig wird es betrachtet, sich Kompetenzen neu anzueignen, die nicht unmittelbar am Arbeitsplatz eingesetzt werden können, weil sich dieses Wissen zu schnell wieder verflüchtigt („das ist auch wieder so schnell weg“, „Strohfeuer“). Lehr-Lern-Prozesse innerhalb eines Seminars können also gelingen, und trotzdem ist es möglich, dass „der Erfolg von der betrieblichen Kooperationspraxis nicht angenommen, sondern […] abgestoßen“ (Harney 1998, 148) wird, oder dass im Arbeitsalltag Erfolge entstehen, die zwar auf die Weiterbildung zurückgeführt werden können, „die man aber auf andere Weise kostengünstiger hätte haben können“ (ebd., 149). Vorgesetzter und Mitarbeiter sind sich darüber einig, dass es effektiver sein kann, auf ein Seminar zu verzichten und die Inhalte, die tatsächlich benötigt werden, direkt am Arbeitsplatz durch den Vorgesetzten zu vermitteln. Sie sprechen insbesondere die Problematik an, dass in den Seminaren nicht auf die konkrete komplexe Arbeitssituation eines jeden Teilnehmers eingegangen werden kann und die vermittelten Inhalte häufig nur schwer in den Arbeitsalltag transferiert werden können. Wissen ist offensichtlich nicht gleich Wissen. Es muss mit dem entsprechenden Anwendungsbezug für die spezifischen Bedingungen am Arbeitsplatz vermittelt werden
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8 Weiterbildung
(„das [Wissen] bauen wir dann so auf, wie Sie es wirklich brauchen“). Zudem wird in den Seminaren häufig mehr vermittelt, als mancher im Alltag tatsächlich benötigt – Überflüssiges in den Augen des Vorgesetzten. Dieser vertritt die Überzeugung, dass man am besten direkt am Arbeitsplatz bei der Auseinandersetzung mit dem Problem lernt. Er sieht sich selbst dafür in der Verantwortung, den Mitarbeiter in der Situation, in der ein konkretes Problem auftaucht, zu unterstützen und ihm das benötigte Wissen zu vermitteln. Damit liegt er genau im oben beschriebenen Trend der betrieblichen Weiterbildung bzw. der Personalentwicklung, Lernen zu dezentralisieren und in den Prozess der Arbeit zu verlegen (vgl. Dehnbostel 2007). Hier geht es aber nicht nur um Transferfragen bzw. um methodische Fragen oder die Frage des Lernortes.21 Es geht ganz konkret um die vermittelten Inhalte. Deutlicher wird dies an einer Stelle im selben Gespräch, in dem an einem anderen Seminar, einem Englischkurs, die Ferne vom Arbeitsplatz kritisiert wird: M (m): Also ich mache auf jeden Fall jetzt dann (2) im (2) Sommersemester jetzt VHS, das mache ich wieder, also das mache ich. F (m): Dann machen wir die auf jeden Fall M: Und das, so von der [Firmenname], den Kurs, den ich gemacht habe, der war mir jetzt, oder war, finde ich, nichts besonderes, (2) weil ich will Sachen im Englischen lernen, die die Arbeit betreffen, und nicht, wie man in der Küche die die Töpfe und die Messer und den Tisch bezeichnet, sage ich jetzt einmal. Von dem her war es ein wenig neben dran. […] M: Ist für mich kein Unterschied, und von dem her ist es, finde ich, nicht ganz richtig aufgebaut deren ganzes Seminar. Weil wenn ich schon vom, als Unternehmen Geld ausgebe für Seminare, dann sollten auch die Seminare Richtung Arbeit gehen und nicht Richtung Allgemeinbildung oder (1) nicht so extrem. Ich meine, da bei der VHS, wo ich angefangen habe, da war es ja auch so, klar war es da zum Beispiel einchecken, auschecken, Flugplatz und solche Sachen, ok, aber so was, nutzt, das macht ja schon wieder einen Sinn, weil ich das mehr auch in der Arbeitswelt brauche, oder auch Telefonieren oder solche Sachen, die waren, waren da mit dabei. Und und so was würde auch in dieses Seminar hineingehören, so, und nicht die gefüllte Birne […]. (WU FK VII)
Die Beispiele machen deutlich, dass die Teilnahme an einem Seminar dann als sinnvoll erachtet wird, wenn die Inhalte direkt auf die tägliche Arbeit anwendbar sind. Der Mitarbeiter vertritt dies sehr engagiert sowohl für sich als auch für das Unternehmen („Weil wenn ich schon vom, als Unternehmen Geld ausgebe für Seminare“). Dabei fällt er seinem Vorgesetzten immer wieder ins Wort. Trotzdem wird an dieser Stelle das Spannungsverhältnis zwischen zweckorientierter 21
Zur Lernortdebatte in der Aus- und Weiterbildung vgl. Dehnbostel (1996).
8.2 Wirtschaftsunternehmen
183
und nicht an den Unternehmenszielen orientierter Weiterbildung deutlich. Es klingt an, dass Allgemeinbildung schon in Ordnung wäre, aber eben „nicht so extrem“, also nicht für sich allein erstrebenswert ist. Eine Fortbildung lohnt sich für das Unternehmen nur dann, wenn darin möglichst stark, zumindest aber in irgendeiner Form, auf die „Arbeitswelt“ abgezielt wird. Ein persönliches Recht auf Weiterbildung, die das Unternehmen mitfinanziert, wird weder hier noch in anderen Gesprächen im Wirtschaftsunternehmen thematisiert. Der Mitarbeiter hat das Gefühl, dass er Geld des Unternehmens ausgibt („wenn ich schon vom“), Geld also, das ihm in seinen Augen nur dann zusteht, wenn es direkt der Verbesserung seiner Arbeit im Unternehmen dient.
8.2.2.3
„keine Trockenübungen“
Als Konsequenz aus der Unzufriedenheit mit Seminaren oder aus dem sich abzeichnenden Muster heraus, dass sich Weiterbildung stark an den tatsächlichen Aufgaben im Arbeitsalltag orientieren muss bzw. dass sich ihre Qualität daran bemisst, wie genau sie die konkreten Arbeitsanforderungen der Teilnehmer aufgreift, spielt „learning-on-the-job“ im Wirtschaftsunternehmen eine wichtige Rolle. Den Mitarbeitern wird immer wieder empfohlen, ihre Kenntnisse durch Ausprobieren, also durch eigene Erfahrungen, kontinuierlich zu erweitern, Präsentationen bspw. durch die Durchführung eigener Schulungen und Moderationen zu üben (WU FK IV) oder eine Technik vor Kunden zu präsentieren, um das Präsentieren beim „Tun“ zu lernen (WU FK I). Auch einem neuen Mitarbeiter wird nahe gelegt, zum Erlernen bestimmter Tools wie bspw. Controlling „keine Trockenübungen“ zu machen, sondern „in Prozesse hinein zu gehen“ (WU PZ MA I): F1 (m): Sie müssen diese Tätigkeiten, das was Sie hier mit der [Produkt] machen, als Projekt betrachten, so, und dann daran lernen, wie man es macht, ne, immer wieder auch abgleichen mit den Produktlinienleitern, ne, weil ich werde ja jetzt nicht mehr so ganz so oft da sein, das heißt, Sie haben mich wenig gesehen, jetzt werden Sie mich noch weniger sehen, ehm, aber dann mit dem Herrn Meyer, mit dem Herrn Schuch einfach auch abgleichen und dann werden Sie schon sehr schnell auch feststellen, wo so die Defizite sind, und daran werden Sie lernen, ne, kann jetzt sagen training-on-the-job, was jetzt da an der Stelle ein bisschen schwieriger ist, ne. (WU PZ MA I)
Dem Vorgesetzten erscheint dies als ideale Art und Weise zu lernen: an eine neue Tätigkeit wie an ein Projekt heranzugehen, sich mit älteren Kollegen auszutauschen, die eigenen Defizite zu erkennen und durch Ausprobieren, durch die
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8 Weiterbildung
eigene Erfahrung und die der Kollegen zu „lernen, wie man es macht“. Das Projekt wird als Lernmöglichkeit betrachtet; der Projektcharakter, den der Vorgesetzte der neuen Aufgabe zuschreibt, lässt auf einen in der Anfangsphase abgegrenzten und vielleicht auch noch geschützten Raum schließen, in dem der Mitarbeiter unter Hinzuziehung anderer Experten aus unterschiedlichen Fachbereichen und Abteilungen eine Aufgabenstellung angeht. Zentral sind die Handlungsorientierung, die Interdisziplinarität, die Selbstorganisation, die Teamarbeit und die zielgerichtete Planung, die auch als Elemente projektorientierten Lernens, dessen Wurzeln u.a. bei Dewey zu finden sind, betrachtet werden können (vgl. Bittner 2001, 208ff).
8.2.2.4
„aber bisher konnte ich das noch nicht leben“
Ein anderer Grund, weshalb neu erworbenes Wissen im Arbeitsalltag nicht angewandt werden kann, liegt nicht an der methodisch-didaktischen Konzeption der Weiterbildungsveranstaltung oder am Transferproblem, sondern schlicht an den Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz, die verhindern, dass Gelerntes umgesetzt wird. So meint ein Vorgesetzter: F (m): Du hast die Seminare dazu, du hast die Schulung, du hast den Überblick, aber es fehlen eigentlich die Projekte, in denen man das einmal zeigen kann. M (m): Genau, jetzt geht es eigentlich so richtig los. Jetzt wird es interessant, ne. (WU FK IV)
In einem anderen Gespräch bemerkt der Mitarbeiter: M (m): Ja, also, das betrifft uns jetzt hier nicht so stark, ist zwar in meiner Schulung mit vorgekommen, aber bisher konnte ich das noch nicht leben, aber ich könnte mich natürlich schon einmal um ein paar Verbesserungsvorschläge kümmern (schmunzelnd). F (m): Wobei die Verbesserungsvorschläge hier bei uns dein Tagesgeschäft sind. M: Ja, genau. (WU FK V)
In beiden Gesprächen haben die Mitarbeiter neue Kompetenzen erworben, können diese an ihrem Arbeitsplatz aber nicht einbringen. Weder die Vorgesetzten noch die Mitarbeiter gehen genauer auf die Ursachen dafür ein. In beiden Gesprächen klingt aber an, dass sich die „Schulungen“ auf Themen beziehen, die grundsätzlich schon im Rahmen des Tätigkeitsbereichs der Mitarbeiter bzw. der Abteilung liegen oder zukünftig liegen werden. Die Mitarbeiter warten offensichtlich nur darauf, dass Aufträge oder Projekte in die Abteilungen kommen, in
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denen sie ihr Wissen zum Einsatz bringen können. In den Gesprächen wird aber nicht konkretisiert, was von Seiten der Abteilung oder des Vorgesetzten dafür getan werden kann, damit dies tatsächlich auch möglich wird. Interne Kompetenzstreitigkeiten, z.B. dass ältere Mitarbeiter einen Tätigkeitsbereich nicht an junge Mitarbeiter, die auf dem aktuellen Wissensstand sind, abgeben wollen, scheinen jedenfalls nicht dafür verantwortlich zu sein (vgl. Crozier/ Friedberg 1993, 44; Schreyögg 2008, 418).
8.2.2.5
„es gibt keine generelle Schulung“
Die Skepsis gegenüber einer „Schulung“, die dann doch nicht den konkreten Bedarf des Bereichs treffen könnte, scheint in den Gesprächen immer wieder auf: F (m): sage ich aber (2) warum Wissen um nur wieder, weil kein Fall aufgetreten ist, dass eine Wirtschaftlichkeitsrechnung erforderlich war für dein Projekt, für deinen Teilbereich, ich sage aber auch, es gibt keine generelle Schulung für Wirtschaftlichkeitsrechnung, die ist nicht vorhanden, und unsere Wirtschaftlichkeitsrechnungen hier im Bereich [Abteilung] sehen anders aus und sind projektbezogen, als, sage ich, generell [Beispiel] und sonstiges, und darum sage ich, Wirtschaftlichkeitsrechnung dann, wenn es erforderlich ist, dann machen wir die ganze Thematik, und dann Unterstützung durch das Controlling oder meine Person. (WU FK V)
Auch hier wird die Möglichkeit einer Schulung aufgrund des fehlenden direkten Bezugs zum Arbeitsalltag verworfen. Unklar ist, worauf sich die Äußerung des Vorgesetzten bezieht, es gebe „keine generelle Schulung für Wirtschaftlichkeitsrechnung“, ob diese lediglich im Fortbildungsprogramm des Unternehmens nicht zu finden ist oder ob es auch keine externen Veranstaltungen gibt. Sicher ist jedoch: Selbst wenn es eine „generelle Schulung“ gäbe, sie wäre nicht für den Mitarbeiter geeignet, denn das benötigte Wissen für Wirtschaftlichkeitsrechnungen für den „Bereich“ ist zu speziell („anders“, „unser“), als dass es in einer allgemeinen Schulung vermittelt würde. Alternativ wird hier die zuständige Fachabteilung als Ansprechpartner und potentieller Wissensvermittler genannt oder auf die Unterstützung durch den Vorgesetzten selbst verwiesen.
8.2.2.6
„Coaching“
Die oben beschriebene Vermittlungsaktivität des Vorgesetzten wird von diesem selbst als „Coaching“ bezeichnet. Coaching hat aus seiner Sicht zum einen die
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Funktion, Wissen möglichst effizient und umsetzungsorientiert weiter zu geben; zum anderen hat es eine Multiplikatorfunktion, indem Mitarbeiter, die ein Expertenwissen besitzen, als Coaches eingesetzt werden, um ihr Wissen an andere Mitarbeiter weiterzugeben. Nicht immer enthält der Coachingbegriff, wie er in den Gesprächen zur Sprache kommt, den in der Fachliteratur gängigen Aspekt der Beratung (vgl. Rauen 2000); in jedem Fall aber enthält er einen inhaltlichsachlichen Aspekt: F (m): Coaching heißt ja, andere zu unterstützen, die Methode anzuwenden und das im Prinzip mitzubetreuen. (WU FK IV)
Dies ist nicht nur die persönliche Meinung des Vorgesetzten, denn er gibt eine aus seiner Sicht allgemein gültige („heißt ja“) Definition von „Coaching“ wieder. In diesem Verständnis ist Coaching keine Vermittlungsaktivität im engeren Sinne, sondern eine Unterstützungsleistung für den Transfer von Gelerntem in den betrieblichen Alltag („die Methode anzuwenden“). Dafür kommen Mitarbeiter in Frage, denen für bestimmte fachliche Kompetenzen Expertenwissen zugeschrieben wird: F (m): Also für mich bist du einer der wenigen in der Abteilung, der das Thema beherrscht in der Ausprägung, wie es unten steht, und ich denke, das ist auch gerechtfertigt, eh, irgendwann, das ist auch ein Punkt, wo ich sage, da erwarte ich auch für die nächste Zeit noch ein, noch mehr Weiterentwicklung, also noch ein bisschen mehr Erfahrungsaufbau, ehm, da schadet es auch nicht, wenn du irgendwann der Experte bist. M (m): Ja. F: Und das müsste man dann auch, habe ich mir hier dazugeschrieben, ehm, Übernahme von Seminaren und Coaching, das ist das, was du jetzt machst, also du bringst, vermittelst das Wissen weiter in Seminaren an andere und du berätst auch andere dazu M: Ja. F: So, und hier sollten wir jetzt halt noch einmal auch bei den Entwicklungsmaßnahmen hinten gucken, was wir machen können, um das noch ein bisschen zu stärken. (WU FK IV)
Diese Form der Beratung oder Unterstützung kann, wie man sieht, auch an eine Vermittlungstätigkeit gekoppelt sein. Der Mitarbeiter gibt sein Wissen in Seminaren, die er selbst anbietet, an „andere“ weiter und sorgt im nächsten Schritt dafür, dass dieses Wissen auch im Arbeitsalltag umgesetzt werden kann. Es findet also ein Prozess statt, durch den das Wissen eines Einzelnen in die Abläufe der Organisation Eingang findet – ein Prozess organisationalen Lernens, wenn man so will. Diese Möglichkeit erkennt der Vorgesetzte. Er schätzt das Potential seines Mitarbeiters und will es durch „Entwicklungsmaßnahmen“ weiter ausbau-
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en und „stärken“. „Weiterentwicklung“ hin zum „Experten“, also der höchsten Bewertungsstufe bei den fachlichen Kompetenzen im Bewertungsbogen, heißt für den Vorgesetzten in diesem Falle vor allem, dass der Mitarbeiter noch mehr Erfahrung zu sammeln hat. In der Erfahrung liegt die Perfektion der Kompetenz, weil erst durch Erfahrung im Sinne eines Wissens über die Abteilungs- und Unternehmensziele, Wissen zweckorientiert und korrekt in Handlungen umgesetzt wird (vgl. North 1999, 41f.). Auch wenn die Zielsetzung durch den Vorgesetzten klar ist, macht die Formulierung „da schadet es auch nicht“ doch stutzig: Sie könnte ein Hinweis darauf sein, dass dem Unternehmen an der Hervorbringung von Experten, also auf ein ganz bestimmtes Fachgebiet spezialisierte Mitarbeiter, gar nicht gelegen ist, da diese dann auch nur in ganz bestimmten Bereichen eingesetzt werden können. Durch ihr Expertentum verlieren sie an Flexibilität. Dass diese jedoch eine wichtige Rolle im Unternehmen spielt, zeigt die Konzentration auf die „Überfachlichen Kompetenzen“ im Mitarbeitergespräch. Mitarbeiter sollen flexibel einsetzbar sein und sich schnell in neue Aufgaben einarbeiten können. In diesem speziellen Fall greift man jedoch zur Unterstützung individueller und organisationaler Lernprozesse gerne auf das ausgefeilte Wissen des Mitarbeiters zurück. Ein Vorteil könnte für das Unternehmen darin liegen, dass die Vermittlung durch ihn bereits organisations- oder bereichsspezifisches Anwendungswissen (s. Kap. 9.2) enthält, dass es also den Transfer in die konkrete Arbeitssituation der Lernenden erleichtert. Wie bereits oben erwähnt, kann „Coaching“ im hier vorgefundenen Verständnis aber auch gerade dazu eingesetzt werden, Seminare durch effizientere Formen der Lernunterstützung zu ersetzen: F (m): […] Ok. Dann der Budgetplanungsprozess auf der Stelle jetzt dann wichtig M (m): Mhm. F: in der Führungsposition mit Können. Das muss man jedes Jahr machen. Ist momentan bei Ihnen ein Wissen um M: Klar. F: wo ich aber automatisch auch sage, das ist Coaching letztendlich durch mich, wo ich Sie dementsprechend entwickeln muss, dass Sie das Wissen aufbauen. (WU FK VII)
Für den Vorgesetzten ist es sowohl eine Selbstverständlichkeit („automatisch“) als auch eine Verpflichtung („muss“), nicht nur dafür Sorge zu tragen, dass ein Mitarbeiter das nötige Wissen aufbaut, wobei Wissen hier immer auch einen starken Anwendungsbezug hat („Können“), sondern selbst in die Rolle des Vermittlers zu schlüpfen. Diese direkte Verantwortung findet man vor allem in Ge-
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sprächen mit Mitarbeitern, die seit kurzem Führungsverantwortung haben oder diese künftig übernehmen sollen. Dabei geht es nicht nur, und tendenziell sogar weniger, um Führungsthemen, wie es die ursprüngliche Idee des (Führungskräfte-)Coachings als „persönliche[.] Beratung auf Prozessebene für unterschiedliche berufliche und private Anliegen“ (Rauen 2000, 42) vorsieht. Die Ebene des Gesprächs ist eher eine sachlich-fachliche; es geht um Instrumente für Organisation und Verwaltung der Bereiche und des Personals: F (m): […] Ok. Dann sind wir bei dem Punkt ‚Vorgesehene Maßnahmen‘, da habe ich jetzt von vorne schon die ganzen ergänzt, die insofern, eh, noch, wie sagt man, aufgebaut werden müssen. Das ist einerseits ein Coaching von mir jetzt dann Richtung Personalführung, wo noch Wissen erforderlich ist, teilweise sind Sie ja schon recht gut an der Stelle, und die Feinheiten, sage ich einmal, die gleichen wir aus, indem wir irgendwo miteinander sprechen, wenn es wirklich Probleme gibt, kommen Sie auf mich zu, dann klären wir sie M (m): Klar. F: beziehungsweise wenn ich jetzt irgendwo etwas weiß, wo man [2] Lohnerhöhung und sonst etwas, da binde ich Sie ja schon, jetzt schon mit ein, dass wir die ganzen Sachen dementsprechend, eh, mit durchmachen, das zweite Coaching war auch vorne das, der Budgetierungsprozess, und den machen wir nächstes Jahr dann noch konsequenter als dieses Jahr, und werden wir das entsprechende Fachwissen bei Ihnen aufbauen letztendlich auch durch Coaching. Dann habe ich den Punkt Englisch drin, also Englischkurs, da müssten wir jetzt einmal darüber diskutieren, wie wir es machen. Es gibt zwei Möglichkeiten, einerseits haben wir ja bei [Firmenname] die verschiedensten Kurse, haben wir uns ja im letzten Jahr schon einmal darüber unterhalten M: Mhm. (WU FK VII)
Am Ende des Gesprächs werden Coaching ebenso wie traditionelle Weiterbildungsveranstaltungen gemeinsam mit dem Englischkurs als Maßnahme festgehalten. Im obigen Beispiel gibt es zwei Coaching-Themen: Einmal ist die Personalführung zu nennen. Auch hier geht es vor allem um Führungsinstrumente oder rechtliche und finanzielle Fragen, wie „Lohnerhöhung“. Der Vorgesetzte spricht darüber hinaus aber auch „Probleme“ im Zusammenhang mit der Personalführung an und bietet sich als Ansprechpartner an, auf den der Mitarbeiter jederzeit zukommen kann. Das „zweite Coaching“ widmet sich dem „Budgetierungsprozess“, also wieder einer eindeutig sachorientierten Aufgabe eines Mitarbeiters mit Führungsverantwortung. In der pädagogischen Literatur zur beruflichen Weiterbildung wird Coaching zwar als Form des „Lernens am Arbeitsplatz“ (Arnold/ Schüßler 2002, 118) explizit erwähnt, wird aber auch dort eher als „[s]ystematisches Beratungsund Handlungskonzept“ (ebd.) beschrieben, in dem die persönliche Entwicklung und Leistungsfähigkeit des Mitarbeiters im Zusammenhang mit Umstrukturierungen und Konflikten gefördert werden soll. Im oben verwendeten Sinne tritt
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„Coaching“ vorrangig als direkter und gezielter Vermittlungsprozess zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter oder unter den Mitarbeitern selbst und seltener als persönliche Beratung in Erscheinung. In der einschlägigen Coachingliteratur ist der Vorgesetzte als Coach durchaus umstritten (vgl. Rauen 2000, 51). Es wird auf die starke inhaltliche Beschränkung hingewiesen, die Aufgrund des hierarchischen Gefälles entsteht. Die oben beschriebene Beobachtung deckt sich mit Rauens Wahrnehmung, dass beim Coaching durch den Vorgesetzten persönliche Probleme kaum angesprochen werden und Mitarbeiter „überwiegend für bestimmte Aufgaben qualifiziert, angeleitet und motiviert“ (ebd.) werden. Vor diesem Hintergrund stellt Rauen in Frage, ob ein solches Vorgehen noch als Beratung angesehen werden kann. Nichtsdestotrotz gibt es auch ein Gespräch, in dem eben diese persönliche, beratende Form des Coachings vom Mitarbeiter im Hinblick auf ein regelmäßigeres Feedback eingefordert wird: M (m): Unter dem Gesichtspunkt Coaching habe ich mir vorgestellt, dass du mir auch, eh, unterhalb, also wenn wir uns mal unterhalten, ehm, noch mal regelmäßiger vielleicht ein Feedback gibst, wie es so aussieht F (m): Habe ich auch mit hineingeschrieben, Coaching, (beide lachen), denke ich auch, dass das sinnvoll ist, das ist, zum einen ist es ehm, auch für mich ganz gut, ich sage immer ganz gern, Sparringspartner zu haben, wenn ich mir Sachen überlege, gerade strategische Sachen, sich da abzustimmen, ich denke, das ist für dich auch die Möglichkeit, da in solche Sachen ein bisschen reinzukommen. M: Ok. (WU FK VI)
Auch dieser Mitarbeiter ist bereits in der Stellvertreterposition. Der Vorgesetzte nimmt Coaching hier als Möglichkeit wahr, nicht nur in eine Richtung, also von oben nach unten, Feedback zu geben, sondern sich mit dem Mitarbeiter über „strategische Sachen […] abzustimmen“, also auf einer gleichberechtigten Ebene Themen und Entscheidungen durchzudenken („Sparringspartner“), sich auszutauschen und zu beraten; es nimmt dabei eher den Charakter eines „PeerCoachings“ (vgl. Allen 2005) an. Gleichzeitig ist es eine Gelegenheit für den Mitarbeiter, sich mit den Anforderungen vertraut zu machen, die in einer höheren Position mit Finanz- und Personalverantwortung auf ihn zukommen.
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8.2.3 Karriereplanung und Beratung 8.2.3.1
„in der Nachfolgeregelung sehe ich dich als ganz festen Bestandteil“
Das Thema Entwicklung bzw. Potential des Mitarbeiters ist im Formular für das Mitarbeitergespräch verankert und wird konsequent angesprochen. Dabei wird zwischen „kurzfristig bis zu 12 Monaten“ und „langfristig bis zu 3 Jahren“ (Gesprächsbogen) unterschieden. Im Vergleich zu anderen Items wird dieser Punkt in den Gesprächen relativ ausführlich besprochen. Auch dies entspricht der Vorgabe aus dem Gesprächsbogen, in dem Vorgesetzter und Mitarbeiter unterschreiben, dass „[d]ie festgehaltenen Entwicklungen und Maßnahmen […] in einem gemeinsamen Gespräch diskutiert“ (ebd.) wurden. Für die Analyse ist hier weniger das Thema Entwicklung und Karriereplanung an sich interessant, denn es ist Teil der organisationalen Vorgaben und deshalb obligatorisch; die Frage ist vielmehr, in Verbindung mit welchen anderen Themen und unter welchem Fokus über die Weiterentwicklung von Mitarbeitern gesprochen wird. F (m): Und ich sage heute, in den nächsten zwölf Monaten sehe ich ganz klar einen Aufbau, und das muss ich dir jetzt auch ganz deutlich sagen, Aufbau aber bis zu drei Jahren eine horizontale Veränderung. M (m): Mhm. F: Und zwar horizontale Veränderung, die ich hier ganz klar sehe, eh, nicht in einen [Fachbereich], nicht in ein [Fachbereich] oder in einen anderen Bereich, sondern ich sehe hier ganz klar die horizontale Veränderung für die Übernahme des Bereichs [Fachbereich] zu einem Zeitpunkt X. Und das kann ich jetzt auch ganz klar hier platzieren, (1) in der Nachfolgeregelung sehe ich dich als ganz festen Bestandteil hier für diesen Bereich. M: (1) Mhm. F: Ich kann dir heute keine Aussage treffen, weil ich will jetzt auch den Bereich nicht sofort verlassen, aber man weiß nie, was kommt, wie es weitergeht, und ganz konkret, in der, ich sehe hier, dass du eigentlich der Mann bist, auf den wir aufbauen können und der, wenn ein Müller 22 hier nicht mehr wäre, der dann die ganze Thematik hier übernehmen kann. Wir werden dazu jetzt in den nächsten zwölf Monaten, das auch konkret, werde ich dich mehr einbinden, auch zum Beispiel nächste Budgetierung, damit du in den Bereich mit rein wächst M: Mhm. F: in das ganze Thema administrative Aufgaben, organisatorische Aufgaben für diesen Bereich, sei es Thema Unterschriftenregelung, Richtlinien, die für einen Vorgesetzten da sind, damit du die Aufgaben langsam kennen lernst, aber ganz bewusst der Aufbau in den nächsten zwölf Monaten M: Gut. (WU FK V)
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Name des Vorgesetzten
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Der Vorgesetzte spricht von „Aufbau“. Im Formular für das Mitarbeitergespräch bedeutet Aufbau: „Der Mitarbeiter kann innerhalb des Zeitraumes auf der derzeitigen Planstelle eine spezielle Entwicklung erfahren, da er zur Übernahme zusätzlicher Aufgaben und Verantwortung geeignet ist (Job Enrichment, Job Enlargement, Projektverantwortung, auch Stellvertreterfunktion …)“ (Gesprächsbogen). Dies kann bedeuten, dass die Kompetenzen des Mitarbeiters aufgebaut im Sinne von erweitert werden sollen, um ihn auf eine zukünftige Position vorzubereiten. Es kann darum gehen, ihn so einzusetzen, dass er im Unternehmen sichtbar wird, dass er Aufgaben übernimmt, durch die er sich im Unternehmen bewähren kann. Oder es kann heißen, dem Mitarbeiter bereits verantwortungsvolle Aufgaben zu übergeben, damit er in eine höhere Position hineinwachsen kann. Ziel ist im obigen Beispiel, dass der Mitarbeiter die Stelle seines heutigen Vorgesetzten übernimmt. Dass der Vorgesetzte dies so deutlich sagen „kann“, lässt darauf schließen, dass man sich darüber auf höherer Ebene bereits verständigt hat. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Vorgesetzte ebenfalls einer „Veränderung“ entgegensieht, denn erst dann ist der für den Mitarbeiter vorgesehene Platz frei und dieser ist ganz klar „in diese[m] Bereich“. Zur Vorbereitung auf die neuen Aufgaben soll der Mitarbeiter stärker einbezogen werden, wenn der Vorgesetzte die spezifischen Führungsaufgaben erledigt. Dass der Aufstieg eines Mitarbeiters unter Umständen davon abhängt, ob auch der Vorgesetzte in der Hierarchie nach oben wandert („wenn ein Müller hier nicht mehr wäre“, „weil ich will jetzt auch den Bereich nicht sofort verlassen“), wird auch in anderen Gesprächen deutlich: F (m): Langfristig, die nächsten drei Jahre, sehe ich bei Ihnen auf jeden Fall ein Potential, dass vertikal das Ganze, nach oben, ich, als Stelle, ich muss eine Stelle hinterlegen, ist die Stelle „Leiter [Bereich]“, also meine alte Stelle dann letztendlich. M (m): Mhm. F: Vertikal aus den genannten Gründen auch vorher, wo ich sage, Sie sind einfach geeignet, ein Leiter zu werden, und des Ganze ist meine Intention, dass wir das Ganze in den nächsten drei Jahren einmal sehen, dass wir da hinkommen in der Richtung. M: So lange eine Chance besteht, dass die Hierarchien weiter so bleiben, (beide lachen) F: Ich hoffe es. M: dass Rosner, Sing, Zeilringer, dann ist mir das egal, sage ich jetzt einmal, in welcher Position, bloß F: Da müssen Sie mit dem Rosner reden. (WU FK VII)
Der Mitarbeiter ist der avisierte Nachfolger seines Vorgesetzten. Wenn dessen Vorgesetzter, also der nächsthöhere Vorgesetzte, der Meinung ist, dass dieser aufsteigen und sich im Unternehmen weiterentwickeln sollte („Da müssen Sie mit dem Rosner reden.“), ist auch der Aufstieg des Mitarbeiters möglich. Auch
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bei diesem Gespräch ist die Weiterentwicklung des Mitarbeiters schon beschlossene Sache. Der Vorgesetzte plant hier für seinen Mitarbeiter („das Ganze ist meine Intention“). Sowohl die Stelle, auf die der Mitarbeiter vorrücken soll („also meine alte Stelle dann“) als auch die Gehaltsentwicklung ist schon mit der Personalabteilung abgesprochen und in einem „Entwicklungsplan“ schriftlich fixiert: F (m): (schmunzelt) In dem Punkt, ich habe es Ihnen auch schon einmal mündlich mitgeteilt, gibt es auch eh einen Entwicklungsplan an der Stelle, M (m): Mhm. F: Auch Richtung Gehalt, haben wir ja mit der Personalabteilung schon entsprechend ausgearbeitet, dass wir Sie auch entsprechend auch zu dem Ziel Leiter [Abteilungsname] dann hinführen werden, ist ausgearbeitet, liegt aber in der Personalabteilung. (WU FK VII)
Die Begriffe „Nachfolgeregelung“ und „Entwicklungsplan“ sind charakteristisch für die Vorgehensweise im Unternehmen bzw. für ein verbreitetes und anerkanntes Muster, nämlich der Orientierung an formalen Regelungen und Vorgaben: Der Mitarbeiter wird gezielt („bewusst“, „Aufbau in den nächsten zwölf Monaten“) auf die Führungsaufgaben vorbereitet. Die Übernahme von übergeordneten Stellen bzw. von Führungsverantwortung wird rechtzeitig geplant und geregelt, und zwar nicht nur in informellen Gesprächen, sondern auf formaler Ebene im Rahmen des Mitarbeitergesprächs oder durch Entwicklungspläne, die gemeinsam mit der Personalabteilung erstellt wurden. Auch an anderer Stelle ist es vor allem der Vorgesetzte, der im Gespräch auf die Weiterentwicklung seiner Mitarbeiterin dringt und bereits die überfachlichen Kompetenzen unter diesem Gesichtspunkt mit ihr durchgeht: F (m): Ich will dich auf Teamleiterebene auf diese Aufgaben bringen, und das ist eine Aufgabe vom Teamleiter, wenn der Sachbearbeiter nicht weiter kommt, ob es Termin ist, ob es Preis ist oder so, damit wir, also dass wir in die Richtung hinarbeiten, sprich, wenn du diesen Schritt einmal machen solltest, ne, wobei du, du weißt ja, dass du die volle Unterstützung von mir hast, ne, dass der Schritt nicht zu groß ist, dass jetzt vielleicht nicht ein ganzer Schritt oder eineinhalb, sondern vielleicht nur eine halbe Stufe, dass du sagst, Mensch, das habe ich doch schon ein paar Mal gemacht, ne, da kenne ich mich ja schon aus, das habe ich ja schon ein paar Mal gemacht, also sprich, dass da, die Angst auch vor dem Schritt nicht zu groß ist, weil du sagst, naja, habe ich ja alles schon gemacht, ist ja kein Thema, also das zum Thema Kundenorientierung, da lege ich natürlich extrem großen Wert darauf. (WU MA II)
Dass im Hinblick auf den Wechsel in eine höhere Position auch über Gefühle („Angst“) gesprochen wird, stellt eine große Ausnahme dar. In aller Regel findet die Erörterung dieses Themas auf einer rein sachlich-inhaltlichen Ebene statt,
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also: Welche Kompetenzen werden benötigt? Welche sind schon vorhanden? Bzw. wie können diese erworben werden? Hier geht es dem Vorgesetzten auch darum, bei der Mitarbeiterin Hemmschwellen abzubauen, indem ihre Kompetenzen bereits im Hinblick auf eine bestimmte Stelle erweitert werden. Zentral scheint ihm hier zu sein, darauf deutet die mehrfache Betonung hin, dass die Mitarbeiterin bestimmte Tätigkeiten, die auf sie zukommen werden, „schon ein paar Mal gemacht“ hat, also eine gewisse Routine aufweisen kann und ein Können-Lernen stattgefunden hat (vgl. Göhlich 2001, 233). Die Sicherheit, die die Mitarbeiterin durch die mehrfache Wiederholung von Tätigkeiten gewinnt, ist dabei nicht nur für die Mitarbeiterin selbst von Bedeutung, sondern ist auch für die Erfüllung ihrer Aufgaben wichtig. Auch das lässt der Vorgesetzte noch anklingen, als er am Ende wieder auf die A-Kompetenz „Kundenorientierung“ zurückkommt. Wie im gerade beschriebenen Beispiel und den Beispielen im vorangegangenen Abschnitt zu den Themen „Coaching“ und „learning-on-the-job“ findet bei Mitarbeitern, bei denen eine vertikale Veränderung in Verbindung mit der Übernahme von Führungsverantwortung geplant ist, 23 in den meisten Fällen schon in der aktuellen Position eine gezielte Vorbereitung statt: Die Mitarbeiter haben entweder bereits die Stellvertreterposition ihrer Vorgesetzten inne oder sollen diese von nun an übernehmen, was auch in der Stellenbeschreibung verankert werden soll (vgl. WU FK II). In diesen Fällen bringen die Vorgesetzten in den Gesprächen klar zum Ausdruck, dass ein großer Teil dieser Vorbereitung, die „Heranführung“ an neue Tätigkeiten und Kompetenzen, zu den Aufgaben der Vorgesetzten gehört. Eher selten wird im Hinblick auf eine Stellenveränderung eine Weiterbildungsmaßnahme off-the-job geplant. Die „Hinführung“ erfolgt auf der inhaltlichen Ebene vor allem über die enge Zusammenarbeit zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter.
23
Dies ist bei den Gesprächen, an denen eine Teilnahme ermöglicht wurde, relativ häufig der Fall, was wiederum ein deutlicher Hinweis darauf ist, dass für die Untersuchung vor allem Gespräche ausgewählt wurden, bei denen eine enge Zusammenarbeit und ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter bestehen und folglich zu erwarten ist, dass sie entsprechend positiv und konfliktfrei verlaufen. Ebenso ist anzunehmen, dass bei den betroffenen Paarungen auch über das Mitarbeitergespräch hinaus ein guter Kontakt besteht.
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8.2.3.2
„da ich es ja gut mit dir meine, […] werde ich mir auch erlauben, auch meine Meinung dazu zu sagen“
Im Zusammenhang mit Coaching als persönliche Beratung durch den Vorgesetzten wurde bereits angedeutet, dass die hierarchische Beziehung zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter keine ideale Voraussetzung für ein Beratungsverhältnis darstellt. Der Mitarbeiter befindet sich in einer strukturellen Abhängigkeit von den Entscheidungen des Vorgesetzten, was den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwar nicht unmöglich macht, aber doch erschwert. Gerade wenn es um die Weiterentwicklung eines guten Mitarbeiters geht, steckt der Vorgesetzte in einem Dilemma zwischen der Unterstützung seines Mitarbeiters, den Interessen der Organisation und seinen eigenen bzw. den Interessen seiner Abteilung. Inwieweit Führungskräfte trotz dieser potentiellen Interessenskonflikte im Blick auf die Ziele ihrer Mitarbeiter beratend tätig werden können, zeigen folgende Gesprächsauszüge: F (m): Und da will die Firma letztendlich wissen, oder letztendlich auch ich als Vorgesetzter, wenn Sie sagen, Sie haben da ein riesen Interesse, dann ist es ja mein Ding auch, dass ich sehe, dass ich was für Sie bekomme, dass wir den Wunsch da irgendwo für Sie erfüllen, oder parallel, es gibt in der Firma, wenn irgendwelche Stellen gesucht werden über die Personalabteilung, dass die dann im Prinzip die [Mitarbeitergesprächs]-Bögen in dem Bereich auswerten, und sagen einerseits, was hat er M (m): für ein Fachwissen F: für tätigkeitsspezifische Kompetenzen, wir suchen irgendjemand, der hat auch irgendwelche Kompetenzen, dann werden die verglichen mit denen, die Sie haben, plus zusätzlich die Mobilität, und wenn das alles erfüllt ist, dann kommt jemand auf Sie zu, wahrscheinlich Personalabteilung, oder höchstwahrscheinlich sogar ich als Chef. Die Personalabteilung wird mich ansprechen, und dann wird man mit Ihnen sprechen, das heißt dann nicht, dass Sie das müssen oder sonst was, Sie können auch jederzeit Nein sagen. Bloß, wenn Sie im Prinzip Nein ankreuzen, wird niemand kommen, weil M: Ok, nein dann, das lassen wir F: Wenn die jemanden suchen für Amerika, dann kommt keiner, wenn Sie sagen Nein schon von vorn herein M: Ok. Nein, das lassen wir auch bei Nein, und wie es dann in ein paar Jahren aussieht oder in Jahren, wenn die Familie wieder kleiner wird, dann kann man ja. (WU FK VII)
Das Beispiel beschreibt sehr anschaulich, wie die Ergebnisse des Mitarbeitergesprächs, die an die Personalabteilung weitergeleitet werden, für eine effiziente Ressourcenallokation genutzt werden sollen, also dazu, den richtigen Mitarbeiter mit den entsprechenden Kompetenzen an den richtigen Einsatzort im Unternehmen zu bringen. Als gleichwertig („parallel“) zu diesem Ziel der „Firma“ stellt der Vorgesetzte das „riesen Interesse“ und „den Wunsch“ des Mitarbeiters dar,
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für dessen Verwirklichung er sich und das Unternehmen in die Verantwortung nimmt („dann ist es ja mein Ding auch“). Gerade wenn es um Auslandseinsätze geht, ist dabei die familiäre Situation des Mitarbeiters maßgeblich. Ohne hier in irgendeiner Form eine Empfehlung auszusprechen, erläutert der Vorgesetzte dem Mitarbeiter das Prinzip und macht ihn auf die Probleme aufmerksam, die er bei seiner Entscheidung berücksichtigen sollte. An der sehr bestimmten Reaktion des Mitarbeiters wird deutlich, dass ihm diese Informationen für seine Entscheidung in der aktuellen Situation bereits geholfen haben. Auch im folgenden Beispiel wird deutlich, dass sich der Vorgesetzte für die Weiterentwicklung der Mitarbeiterin gemäß ihren Wünschen verantwortlich fühlt: F (m): Das ist ein Punkt, da müssen wir dran arbeiten, M (w): Mhm. F: also, sagen wir einmal so, das ist jetzt, eh, in diesem Block für mich mit das Wichtigste, du musst, deine Markt- und Wettbewerbskenntnisse musst du, weil ich weiß ja, du willst ja weiterkommen, musst du verbessern, M: Ja. F: Wie wir das machen können, ne, ich kann jetzt sagen M: naja, einige Sachen machen wir ja schon, letztes Mal die A-Konkurrenten F: solche, die Workshops helfen da natürlich, das ist ganz klar, mh, dann will ich dir natürlich auch irgendeine Hilfestellung geben, ich kann nicht zu dir sagen, du musst das verbessern, ne, und du brauchst dann irgendwie Unterstützung, und ich sage, naja, das ist ja nicht meine Sache, da müssen wir schon miteinander arbeiten, ehm, hilfreich ist da sicherlich der Bernd Rothmer, der Bernd Rothmer oder auch der Hubert Welsch, ehm, du musst jetzt zum Beispiel wissen die Hauptkonkurrenten, also [Firmenname] ist ganz klar, ne, aber dann gibt es ja noch spezielle Bereiche, zum Beispiel, eh, [Firmenname] […] Da müssen wir ein bisschen forcieren, da bekommst du sicherlich Unterstützung in Bezug jetzt auf die Workshops, aber das ist auch eine Sache, das ist eine Holschuld M: Ja F: deinerseits, nicht so dass man sagt, Mensch wer gibt mir denn jetzt die Informationen, setzt dich hin und denkst, naja, irgendwann, werden die schon einmal auf meinen Tisch fliegen, sondern teilweise tun sie es in Bezug jetzt auf die Workshops, aber da musst du auch aktiv rangehen, entweder du sprichst mich manchmal an, oder Bernd Rothmer, oder, da gibt es in [Standort] noch bei den Kollegen eine Stelle, ich glaube, das macht sogar der Kai Lüders, ne, aber sagen wir einmal so, das müssen wir jetzt nicht über das Knie brechen jetzt, dass du sagst, zwanzig Prozent deiner Arbeitszeit dazu verwendest, dass du da irgendwelche Wettbewerbsinformationen, das ist nicht unbedingt primär dein Job, das ist so ergänzend, ne, dass du das weißt, du kannst auch zum Beispiel nachfragen, eh, wenn dir der, Mexiko zum Beispiel, der Kleinert oder der Hoffmann, ne, Wettbewerbssituation, dass du gezielt nachfragst, ne, wer ist das, [Firmenname], [Firmenname], und dir das natürlich irgendwo hinterlegst, notierst. (WU MA II)
Der Vorgesetzte macht der Mitarbeiterin klar, dass sie selbst aktiv werden muss, wenn sie „weiterkommen“ will. Er sieht sich zwar in der Verantwortung dafür, ihr aufzuzeigen, was sie noch verbessern muss, um ihre Ziele erreichen zu kön-
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nen, und sie dabei zu unterstützen („Hilfestellung geben“, „Unterstützung“), macht ihr aber auch deutlich, dass sie selbst einen großen Teil der Verantwortung trägt („Holschuld“, „aktiv rangehen“, „gezielt nachfragen“, „du spricht mich manchmal an“), an Informationen und zusätzliches Wissen zu kommen. Er nennt ihr Ansprechpartner im Unternehmen, die für ein bestimmtes Wissen stehen und bei denen sie „gezielt nachfragen“ soll, um auch beim Erwerb dieses zusätzlichen Wissens möglichst effizient zu sein. Es ist ihm wichtig zu betonen, dass diese Aktivitäten ihre Tätigkeit in seiner Abteilung nicht beeinträchtigen dürfen. Das zusätzliche Wissen hat mit ihren aktuellen Aufgaben wenig zu tun – dies kann man auch daran erkennen, dass es sozusagen konserviert oder festgehalten werden soll, indem es von der Mitarbeiterin notiert und hinterlegt wird, um dann hervorgeholt werden zu können, wenn sie es tatsächlich braucht. Es ist keine Rede davon, dass es schon in der aktuellen Position zum Einsatz kommen könnte. Entsprechend sollen die Aktivitäten zur Erlangung dieses Wissens einen möglichst geringen Teil ihrer „Arbeitszeit“ ausmachen, am besten sogar außerhalb dieser stattfinden („ergänzend“). Die Abteilung soll keinen Nachteil von der Weiterentwicklung der Mitarbeiterin haben. Der Vorgesetzte verspricht der Mitarbeiterin, sie bei der Erreichung ihrer Ziele zu unterstützen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs zeigt sich jedoch, dass diese Unterstützung an Bedingungen gebunden ist: F (m): Ich würde dich nur weglassen, eh, wenn du von der Hierarchie eine Stufe nach oben gehst, dann schon. Und, eh, du weißt, eh, eine Stufe nach oben, sollte auch, man sollte auch da (1) sich das gut überlegen (1) du weißt genau, was ich, auf, ne, also, eh, ich werde dir sicherlich, sagen wir einmal die Entscheidung, ob du eine Stelle annimmst oder nicht, ne, bleibt dir überlessen, eh, dir überlassen M (w): Mhm F: aber da ich ja, kann man ruhig, da ich es ja gut mit dir meine, (1) ne, eh, werde ich mir auch erlauben, auch meine Meinung dazu zu sagen. Den Fehler habe ich einmal gemacht, dass ich jetzt, wo ich gedacht habe, da müsste ich mit ihr sprechen, habe ich es nicht gemacht, den werde ich nicht mehr machen, ne, und das wird auch in Zukunft so sein, eh, (3) wenn du intern eine Stelle an-, eh, angeboten bekommst oder du bewirbst dich um eine Stelle, dass ich sage, weil ich doch a paar Wochen länger dabei bin, und ich vielleicht die Leute kenne und dich kenne, meinen, das ist dann subjektiv, ne, meinen Eindruck, eh, oder meinen Tipp dir gebe. Sage ich, Irene, mach das, ist in Ordnung oder mach das nicht. Ob du das dann machst, das ist ja deine Sache, nur ich denke, wenn du von ein paar Leuten, wo du weißt, Mensch, das, sagen wir einmal so, das Urteil, oder sagen wir einmal so, der Tipp, das meinen die bestimmt nicht böse, dass du dir das mit anhörst. Kann natürlich sein, dass das dann total verwirrend ist, ne, aber lieber, eh, eh, solche Informationen noch zu sammeln, und vielleicht am Anfang ein bisschen verwirrt sein, als manche Sachen gar nicht zu wissen, und im Nachhinein zu sagen, Mensch wenn ich das gewusst hätte, hätte ich ja das erst recht gemacht oder erst recht nicht gemacht oder so, ne. Und ich denke, je mehr Informationen du bekommst, umso besser ist es, um dir ein Gesamtbild zu machen, und auch die ganze Situation einschätzen zu können. Also
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von meiner Seite ganz klipp und klar, wenn da, auch wenn ich irgendetwas hören sollte, werde ich mich für, für dich einsetzen, im Rahmen mei- meiner Möglichkeiten natürlich, ist ganz klar, (M lacht) und, eh, dich (1) dann weglassen. Ich denke, das ist auch dein Ziel, das ist ganz klar, Teamleiter, ne? M: Mhm. (WU MA II)
Den persönlichen Nachteil bzw. den Nachteil, den die Abteilung durch ihren Weggang hätte, würde der Vorgesetzte nur in Kauf nehmen, vorausgesetzt die Mitarbeiterin verbessert sich in ihrer Position in der Hierarchie. Umständlich macht er sie im ersten Abschnitt auf seine Bedenken aufmerksam, die er „auch“ beim Wechsel in eine höhere Position hätte. Wovor er sie genau warnen will, bleibt unklar, das wiederholte „du weißt“ „du weißt genau, was ich“ deutet darauf hin, dass sich die beiden nicht zum ersten Mal darüber unterhalten und dass er seine Position bereits klar gemacht hat. Er betont, dass letztlich die Entscheidung bei ihr liege, gleichzeitig insistiert er aber im Folgenden so stark und wortreich, dass die Mitarbeiterin sich seinen Ratschlägen kaum entziehen kann. Aufgrund seiner Erfahrung („weil ich doch ein paar Wochen länger dabei bin“) sieht sich der Vorgesetzte eindeutig in der Rolle des Beraters. Ihm ist klar, dass sein Rat nicht objektiv sein kann („meine Meinung“, „subjektiv“, „meinen Eindruck“, „meinen Tipp“). Und er empfiehlt ihr, sich auch von anderen („von ein paar Leuten“) beraten zu lassen, deren „Urteil“ sie schätzt, weil sie sie für kompetent hält. Wichtiger scheint ihm aber noch zu sein, dass es Menschen sind, zu denen sie Vertrauen hat („das meinen die bestimmt nicht böse“). Die „Informationen“ und „Tipp[s]“, die die Mitarbeiterin bekommt, können aus seiner Sicht zunächst „total verwirrend“ sein, sind aber nötig, damit sie sich ein „Gesamtbild“ machen und die „ganze Situation“ einschätzen kann. Dies soll ihr helfen, die richtige Entscheidung zu treffen. Was sich der Vorgesetzte vornimmt, findet man auch in einem der frühen pädagogisch-wissenschaftlichen Beiträge von Mollenhauer, der seinerseits Informationen als Voraussetzung für engagierte Auseinandersetzung und Selbstaufklärung (vgl. Mollenhauer 1965, 33) sieht. Der Berater wird als jemand angesprochen, „der sich im Geflecht der persönlichen und gesellschaftlichen Existenz [hier: dem Betrieb] besser auskennt“ (ebd., 31). Es werden von ihm kein „Zwang, keine Vorschriften, keine unumstößlichen Wahrheiten“ (ebd.) erwartet. Sein Rat kann also durchaus wie der des Vorgesetzten „subjektiv“ sein. Trotzdem machen seine Bemerkung „da ich es ja gut mit dir meine“ und sein Hinweis auf Personen, die es „bestimmt nicht böse“ meinen, deutlich, dass ein gut gemeinter uneigennütziger Rat nicht selbstverständlich ist. Dies kann einerseits bedeuten, dass sie auch schlecht beraten werden könnte oder dass er seine Erfahrung nicht an sie weitergebe, wenn er es nicht gut mit ihr meinte. So
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oder so zeigt sich hier, dass die Beziehungen innerhalb der Organisation von den individuellen Interessen ihrer Mitglieder geprägt sind. Immer wieder klingt an, dass der Vorgesetzte oder andere Kollegen ihren institutionellen Status und ihre damit verbundene Definitionsmacht („weil ich doch ein paar Wochen länger dabei bin, und ich vielleicht die Leute kenne und dich kenne“) auch missbrauchen könnten (vgl. Gröning 2006, 95), mag der Vorgesetzte auch noch so sehr die Entscheidungsfreiheit der Mitarbeiterin betonen. Die oben aufgeführten Gesprächsausschnitte machen die verschiedenen und manchmal eben auch entgegengesetzten Interessenslagen der Beteiligten deutlich: Die „Firma“ sucht den Mitarbeiter mit den passenden „Kompetenzen“ und der entsprechenden „Mobilität“ für den Einsatz in einer bestimmten Position. Der Vorgesetzte will, wie bereits in Kapitel 7 gezeigt wurde, seine „Stellung“ durch den „Erfolg“ seiner Abteilung sichern und benötigt dazu kompetente Mitarbeiter, und der Mitarbeiter selbst will für sich „weiterkommen“ und nimmt dafür gegebenenfalls auch einen Abteilungs- oder gar Unternehmenswechsel in Kauf. In diesem Geflecht aus Interessen agiert der Vorgesetzte und vollführt im Hinblick auf die Beratung seiner Mitarbeiter einen Balanceakt. Rauen meint „unternehmenszielorientierte Beeinflussung des Verhaltens der Mitarbeiter“ (2000, 52) sei zwar im „normalen Rahmen“ legitim, von Coaching oder Beratung könne man deshalb aber nicht sprechen (vgl. ebd.).
8.2.4 Zusammenfassung Bei der Planung von Weiterbildungsmaßnahmen im Wirtschaftsunternehmen herrscht insgesamt ein starker Verwertungsgedanke vor. Weiterbildungsmaßnahmen sollen möglichst passgenau auf die jeweilige Stelle abgestimmt sein. Abgeleitet wird der Weiterbildungsbedarf vor allem aus dem Abgleich des Anforderungsprofils mit dem Qualifikationsprofil des Mitarbeiters im Mitarbeitergespräch. Lernanlass ist also die Diskrepanz zwischen Soll und Ist bzw. die negative Beurteilung oder Bewertung durch den Vorgesetzten. Über die Notwendigkeit einer direkten Verwertbarkeit von neu Gelerntem herrscht Einigkeit zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern. Maßnahmen, die nicht in einem direkten Bezug zur aktuellen Tätigkeit stehen, sind geradezu undenkbar. Weiterbildung ist Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck. In einem Probezeitgespräch macht der Vorgesetzte dem Mitarbeiter deutlich, dass ein gewisses Maß an Bereitschaft, an Weiterbildungsveranstaltungen
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teilzunehmen, erwünscht ist, dass dem Wunsch nach Weiterbildung aber auch klare Grenzen gesetzt sind: F1(m): […] ne, wenn einer andauernd vor der Tür steht und sagt, er will noch weitere Seminare, und nicht mehr arbeiten will, das kann es auch nicht sein, ne, (WU PZ MA I)
So wird dem Mitarbeiter schon beim Eintritt ins Unternehmen klar gemacht, was von ihm erwartet wird: nämlich Bereitschaft, wenn ihm Weiterbildung vom Vorgesetzten nahe gelegt wird, aber Zurückhaltung, wenn es um den persönlichen Weiterbildungsanspruch geht. Die Formulierung ist zwar leicht überzogen und ironisch, aber nichtsdestoweniger ernst gemeint. Weiterbildung wird im Unternehmen gerne unterstützt, und zwar vor allem dann, wenn sie primär den Interessen der Abteilung bzw. des Unternehmens dient. Es sind in erster Linie die Vorgesetzten, die den Bedarf diagnostizieren und die nicht nur formal, aus dem Prozess für das Mitarbeitergespräch abgeleitet, die Verantwortung für die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter haben, sondern dieser auch in der Praxis nachkommen und als Personalentwickler für ihre Mitarbeiter tätig werden. Dies bedeutet, dass die Vorgesetzten einerseits Weiterbildungsveranstaltungen für ihre Mitarbeiter vorschlagen und auswählen und andererseits auch die Qualität der Maßnahme überprüfen, indem sie sich von ihren Mitarbeitern eine Rückmeldung erbeten. Machen die Mitarbeiter schlechte Erfahrungen mit Weiterbildungsveranstaltungen, geht eine schriftliche Rückmeldung an die Personalabteilung.24 Die Mitarbeiter können natürlich Vorschläge machen und tun dies auch, die strukturelle Macht liegt aber bei den Vorgesetzten, zumal diese auch diejenigen sind, die im Rahmen der Budgetplanung Einfluss auf die Höhe der zur Verfügung stehenden Mittel für Weiterbildungsmaßnahmen haben. Entsprechend wenig haben die Mitarbeiter die Möglichkeit, ihre ganz persönlichen Interessen in die Weiterbildungsplanung einzubringen und nach ihrer persönlichen Neigung Kompetenzen weiter auszubauen. Der bereits in Kapitel 7.3 erwähnte Punkt im Gesprächsbogen zu „Vom Mitarbeiter freiwillig initiierte Maßnahmen“, der praktisch von keinem der Vorgesetzten aufgegriffen wird, während ansonsten sämtliche Unterpunkte zumindest kurz angesprochen werden, spricht eine deutliche Sprache: Was nicht im Hinblick auf die Unternehmensziele als Gewinn brin-
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Diese Rückmeldung gibt allerdings nur die persönliche Einschätzung des Mitarbeiters wieder und ist keine objektive Überprüfung des Gelernten. Ob bspw. ein Transfer in die betriebliche Praxis möglich ist, wird dabei nicht erhoben.
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gend betrachtet wird, fällt unter den Tisch.25 Vorhandene Interessen und Neigungen der Mitarbeiter werden nicht erfasst und können so auch nicht als Ressourcen genutzt werden. Dem Prinzip der Verwertbarkeit ist auch die Substitution von traditionellen Seminaren durch „Coaching“ durch den Vorgesetzten oder anderer Maßnahmen on-the-job geschuldet. Betrachtet man die Argumentation in den Gesprächen, verwundert es nicht weiter, dass Gonon und Stolz (2004) mit Bezug auf Erhebungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft und einer im Auftrag der Europäischen Kommission durchgeführten Untersuchung seit Mitte der 1990er Jahre insgesamt einen Rückgang der Weiterbildungszahlen feststellen. Lag die Gesamtinvestition der deutschen Unternehmen 1992 noch bei 36,5 Milliarden DM, sanken sie 1995 auf 33,9 Milliarden DM und stiegen erst 1998 wieder, allerdings nur auf 34,3 Milliarden DM (vgl. ebd. 10f.). Offensichtlich geht aus diesen Zahlen nicht zwangsläufig hervor, dass die Unternehmen Kosten für Weiterbildungsmaßnahmen einsparen müssen oder wollen, wie es die reine Betrachtung der quantitativen Ergebnisse (vgl. Karg 2006, 32) suggeriert; es ist vielmehr so, dass der Verwertungsgedanke bzw. das Verwertungsprinzip in den Unternehmen ein so machtvolles Muster ist, dass im Hinblick auf Weiterbildung oder einfach Weiterlernen das learning-on-the-job bzw. das „Coaching“ als die effizientere und damit naheliegendere Alternative erscheint. Die Entstehung dieses Musters ist vermutlich auf eine starke Kostenorientierung zurückzuführen. Der Gedanke der Effizienz und Verwertbarkeit hat aber zwischenzeitlich ein machtvolles Eigenleben entwickelt. Die Tatsache, dass das Budget im Wirtschaftsunternehmen bereits vor dem Mitarbeitergespräch festgelegt ist, also noch bevor der Abgleich von Soll und Ist überhaupt hat stattfinden können, stellt innerhalb dieser Logik einen Widerspruch dar. Auf das erkannte Defizit kann nur noch in einem begrenzten Rahmen eine unmittelbare Reaktion erfolgen. Wünsche der Mitarbeiter im Hinblick auf bestimmte Weiterbildungsveranstaltungen können durch diese Vorgehensweise aber umso leichter beschränkt werden; im Zweifelsfall muss nur auf die strukturellen Zwänge in Form des Budgets verwiesen werden. Karriere- oder „Entwicklungsplanung“ und die „Nachfolgeregelung“ sind ein fester und wichtiger Bestandteil der Gespräche. Die Vorgesetzten sprechen für das Unternehmen, wenn sie die Wünsche und Vorstellungen der Mitarbeiter 25
Zwischen der Datenerhebung und den Rückmeldegesprächen im Wirtschaftsunternehmen wurde der Gesprächsbogen überarbeitet. Der Punkt „Vom Mitarbeiter freiwillig initiierte Maßnahmen“ wurde ersatzlos gestrichen. Es fand also eine Anpassung der formalen Vorgaben an das informelle Muster statt.
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ins Zentrum der gemeinsamen Überlegungen stellen und einen großen Teil der Verantwortung für das Heranführen der Mitarbeiter an neue Aufgabenstellungen übernehmen. Häufig ist der Aufstieg eines Mitarbeiters mit dem Aufstieg des direkten Vorgesetzten verbunden; der Mitarbeiter rückt auf die Stelle des Vorgesetzten nach, so dass die Vorbereitung über die Stellvertreterposition in der eigenen Abteilung nahe liegt und vor dem Hintergrund der oben angesprochenen Effizienzbestrebungen nur konsequent ist. Der vermeintliche Fokus auf den einzelnen Mitarbeiter darf hier aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Förderung in diesem Zusammenhang immer auch im Blick auf die Abteilungs- und Unternehmensziele geschieht. Das eigentliche Ziel ist auch hier die gelungene Ressourcenallokation, wobei die Kompetenzen der Mitarbeiter und das in ihre Weiterentwicklung investierte Budget die zu verteilenden Größen darstellen.
8.3 Vergleich 8.3.1 Muster organisationaler Praxis Bei der Zusammenschau der beiden Organisationen werden im Hinblick auf den Stellenwert von und den Umgang mit Weiterbildung eine Reihe von Gegensätzen deutlich, die beginnend mit den formalen Rahmenbedingungen für die Teilnahme an Weiterbildungsveranstaltungen (s. Kap. 5) nun nochmals im Einzelnen gegenüber gestellt werden. Im Sozialunternehmen schützt das Fortbildungskontingent die Mitarbeiter vor der Willkür ihrer Vorgesetzten (vgl. Crozier/ Friedberg 1993, 54) und sichert jedem Mitarbeiter im selben Umfang die Teilnahme an Weiterbildungsveranstaltungen seiner Wahl zu. Durch zeitliche und finanzielle Vorgaben wird allerdings auch ein fester Rahmen gesetzt, der nicht oder nur in Ausnahmefällen überschritten werden kann. Im Wirtschaftsunternehmen besteht im Hinblick auf den Besuch von Weiterbildungsveranstaltungen eine zweifache Abhängigkeit der Mitarbeiter: Sie sind von der Entscheidung ihrer Vorgesetzten abhängig, ob und welche Weiterbildungsveranstaltungen genehmigt werden; und sie sind abhängig vom Abteilungsbudget, das bereits vor dem Mitarbeitergespräch feststeht. Grundsätzlich besteht hier allerdings die Möglichkeit, auch kostenintensivere Maßnahmen zu unterstützen. Die Ausgangsfragen für die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen sind im Sozialunternehmen die Fragen „Was liegt mir?“, „Welche Aufgaben sind im Moment zu bearbeiten?“, „Welche Verantwortung habe ich?“. Im Mittelpunkt
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stehen die spezifischen Fähigkeiten und Interessen der Mitarbeiter und ihre „Fachlichkeit“ bzw. Professionalität. Im Wirtschaftsunternehmen dominiert die Frage, was die Abteilung braucht. Im Zentrum der Überlegungen stehen die Ziele und Interessen des Unternehmens und der konkrete (Qualifikations-) Bedarf, der in einer Abteilung zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhanden ist. Die Vorgehensweise in den beiden Unternehmen bei der Festlegung von Weiterbildungsmaßnahmen ist dabei ebenso unterschiedlich wie die Begründung ihrer Notwendigkeit: Im Sozialunternehmen bestimmen die Mitarbeiter selbst ihren Weiterbildungsbedarf, oder vielleicht besser: ihr Weiterbildungsbedürfnis. Sie kommen mit konkreten Vorstellungen ins Mitarbeitergespräch oder berichten von Veranstaltungen, an denen sie bereits teilgenommen haben. Gestützt und geschützt durch das Fortbildungskontingent entscheiden sie eigenständig, an welchen Veranstaltungen sie teilnehmen. Vorgesetzte und Mitarbeiter legen bei Gesprächen über Weiterbildung eine ressourcenorientierte Grundhaltung an den Tag: Sie knüpfen an Vorhandenes an und versuchen, bestehende Fähigkeiten und Interessen auszubauen. Im Wirtschaftsunternehmen sind die Vorgesetzten für die Diagnose des Weiterbildungsbedarfs und dessen Umsetzung in Weiterbildungsmaßnahmen zuständig. Durch den Bogen, der den Ablauf des Mitarbeitergesprächs bestimmt, ist dabei eine starke Defizitorientierung vorgegeben. Der Vorgesetzte beurteilt – meist gemeinsam mit dem Mitarbeiter, aber doch tonangebend –, was der Mitarbeiter gemessen am Stellenprofil und am Abteilungsbedarf nicht kann, und leitet daraus dessen Weiterbildungsbedarf ab. Dabei wird die Teilnahme an Seminaren durch ein Weiterbildungsbudget gleichzeitig ermöglicht und begrenzt. Am Beispiel des Umgangs mit Weiterbildung zeichnen sich unterschiedliche Identifikations- und Orientierungspunkte ab, auf die die Akteure, insbesondere die Mitarbeiter, in den beiden Organisationen Bezug nehmen: Für die Mitarbeiter des Sozialunternehmens steht die Verantwortung gegenüber ihrer eigenen Professionalität und „Fachlichkeit“ im Zentrum. Sie identifizieren sich mit ihrer Tätigkeit und mit der Arbeit mit den Klienten und scheinen sich nur mittelbar über die Ausübung ihrer Tätigkeit mit der konkreten Stelle in der Organisation verbunden zu fühlen. Der Stellenwert von klassischen Weiterbildungsveranstaltungen, wie er aus der Tradition der Einrichtung und der Profession heraus erwächst, spielt eine wichtige Rolle: Weiterbildung wird als etwas Wertvolles und gleichzeitig Selbstverständliches betrachtet; die Teilnahme an einer Weiterbildungsveranstaltung, die außerhalb des eigenen Arbeitsumfeldes stattfindet, wird als Möglichkeit begriffen, Abstand vom Alltag in der Einrichtung zu be-
8.3 Vergleich
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kommen und die eigene Tätigkeit und die Bedingungen in der Organisation reflektieren zu können. Im Wirtschaftsunternehmen zeigt sich immer wieder deutlich die Bezogenheit aller Abläufe auf das Gesamtunternehmen oder stellvertretend dafür auf die Abteilung, in der die Mitarbeiter beschäftigt sind. Es existiert eine starke Verpflichtung dem Unternehmen und den formalen Vorgaben gegenüber, was sich bspw. in der peinlich genauen Einhaltung der Vorgaben für das Mitarbeitergespräch zeigt. Alle Maßnahmen unterliegen dem Gebot der direkten Verwertbarkeit, der Vermeidung von Verschwendung, der Effizienz und Effektivität im Sinne des Unternehmens. Der Anspruch der Mitarbeiter im Sozialunternehmen auf ihre persönliche Weiterentwicklung wird am Thema Weiterbildung überdeutlich. Die Bezugnahme in der Argumentation der Mitarbeiter auf fachliche Ziele oder die Verantwortung gegenüber den Klienten ist dabei vermutlich nicht immer ganz selbstlos. Umgekehrt ist die Gewährung dieser Entwicklungsmöglichkeiten von Seiten des Sozialunternehmens nicht ohne Nutzen für die Organisation, denn die Arbeit im pädagogisch-sozialen Bereich, die Arbeit mit den Klienten, ist zu einem großen Teil von der Persönlichkeitskompetenz und der Reflexionsfähigkeit und -bereitschaft der Mitarbeiter abhängig. So wird Reflexionsfähigkeit in verschiedenen Definitionen pädagogischer Handlungskompetenz als wesentliches Element aufgeführt (vgl. Friebertshäuser 2002, 141; Böllert/ Nieke 2002, 71). Im Wirtschaftsunternehmen ist der Aspekt der Karriereplanung, der in den Gesprächen viel Raum einnimmt und der den Mitarbeitern offensichtlich bereitwillig eingeräumt wird, ebenfalls nur bedingt der Mitarbeiterorientierung des Unternehmens zuzurechnen, sondern lässt sich vielmehr auf das oben beschriebene Prinzip der Ressourcenallokation zurückführen. Entsprechend oder zumindest ähnlich ist auch zu erklären, wie die Mitarbeiter in den Organisationen eingesetzt werden: Wird im Sozialunternehmen darauf geachtet, dass Mitarbeiter ihre persönlichen Interessen und Neigungen und die darauf begründeten Fähigkeiten und Zusatzausbildungen in ihre Arbeit einbringen können, weil die Arbeit mit den Klienten von der Person des Mitarbeiters lebt, ist es das vorrangige Ziel des Mitarbeitergesprächs im Wirtschaftsunternehmen, die Qualifikation, das Potential und die Mobilität jedes Mitarbeiters durch das Mitarbeitergespräch zu quantifizieren und für die Personalabteilung und andere nachfragende Bereiche transparent zu machen – auch hier wiederum, damit eine optimale Verteilung der Ressource Qualifikation innerhalb des Unternehmens stattfinden kann. Beide Organisationen gehen bei der Gestaltung der
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Weiterbildung für ihre Mitarbeiter so vor, wie es der Umsetzung der spezifischen Aufgaben und Ziele in den Organisationen dienlich ist. Über diese unterschiedlichen Muster lassen sich weitere Differenzen erklären: So findet bspw. im Hinblick auf die Seminare die Frage des Transfers (vgl. Faulstich 1998, 193ff) im Sozialunternehmen keine Erwähnung, weil die Seminare weniger zum Erlernen neuer Techniken und Methoden genutzt werden als zur Reflexion und Anregung der eigenen Tätigkeit bzw. zum Ausbau der eigenen Professionalität. Für das Wirtschaftsunternehmen ist die Frage des Transfers vor allem unter dem Gesichtspunkt der direkten Verwertbarkeit der Seminarinhalte, also der direkten Übertragbarkeit des Gelernten auf die betriebliche Praxis, von Bedeutung und spielt dort deshalb im Hinblick auf die Legitimation von Weiterbildung aufgrund ihrer „Reproduktionsbedeutsamkeit“ (Harney 1998, 148) für den Betrieb eine ungleich größere Rolle. Im Sozialunternehmen ist nie die Rede davon, Seminare durch on-the-jobMaßnahmen oder Coaching zu ersetzen; sie werden als Auszeit und Reflexionsmöglichkeit genutzt und als Investition in die eigene Professionalität bzw. „Fachlichkeit“ betrachtet und sind nicht zwangsläufig auf einen aktuellen Bedarf ausgerichtet. Dagegen werden Coaching und on-the-job-Maßnahmen im Wirtschaftsunternehmen im Hinblick auf die direkte Verwertbarkeit des Gelernten als adäquate Instrumente der Weitergabe und Vermittlung von Wissen empfunden, da sie zielgenau auf den aktuellen Bedarf reagieren können. Bezugnehmend auf die in Kapitel 5 festgestellten Unterschiede in der formalen Struktur der Organisationen und deren Auswirkungen auf die Vernetztheit der Teilsysteme und Prozesse zwischen ihnen, kann die unterschiedliche Präferenz von Weiterbildungsformen auf die lose bzw. enge Kopplung von Sozialunternehmen bzw. Wirtschaftsunternehmen zurückgeführt werden (vgl. Weick 1976). Spielen im Wirtschaftsunternehmen die interne und direkte Wissensweitergabe von Vorgesetztem zu Mitarbeiter und Lernen am Arbeitsplatz, also ausgesprochen prozessnahe Formen des Lernens, eine wichtige Rolle, sind die Formen der Weiterbildung im Sozialunternehmen eher arbeitsplatzfern. Auch dies geschieht nicht zufällig: Der Abstand von der eigenen Tätigkeit wird gewünscht und als Reflexionsmöglichkeit genutzt. Im Arbeitsalltag bilden sich in den Einrichtungen autarke Einheiten, die teilweise bis hin zum einzelnen Mitarbeiter kaum auf Zusammenarbeit und Zusammenwirken angewiesen sind. Entsprechend ist der Austausch organisationsspezifischen Wissens von weit geringerer Bedeutung für die professionelle Erledigung der Aufgaben, als dies im Wirtschaftsunternehmen der Fall ist.
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8.3.2 Auswirkung der Praxismuster auf Lernprozesse Die Vorgehensweise im Sozialunternehmen fördert die eigenständigen „Suchbewegungen“ (Arnold 1995, 16; Arnold/ Bloh 2003, 12) der Mitarbeiter und deren Verantwortung für ihre fachliche Qualifikation, von der die ganze Organisation profitieren kann: Die Mitarbeiter bringen neue Impulse in ihre Tätigkeit ein, die zwar nicht geplant sind, aber trotzdem bereichernd sein können, und erschließen damit möglicherweise neues Potential bei sich und in der gesamten Einrichtung. Die Mitarbeiter orientieren sich an einem Bildungsbegriff, der eigenständige „Suchbewegung[en] mit großer Offenheit und vielfältigem Interesse“ (Lehner 2001, 79) verbindet. Gleichwohl darf hier nicht von einer „Beliebigkeit“ (ebd.) dieses Prozesses ausgegangen werden, denn die Bildungsanlässe sind, wie die Gespräche zeigen, durchaus an der aktuellen Tätigkeit orientiert, wenn sie auch nicht zwangsläufig an den konkreten oder objektiven aktuellen Bedarf der Einrichtung angepasst sind. In dem Anspruch der Mitarbeiter, sich eigenverantwortlich weiterzubilden, existiert ein organisationales Muster, das wirkmächtiger zu sein scheint als die Einrichtungshierarchie oder formale Vorgaben. Gerade im Zusammenhang mit dem in Kapitel 7 herausgearbeiteten Muster des permanenten Hinterfragens von Strukturen und Entscheidungen birgt dies jedoch ein gewisses Risiko, gewährt es doch keine Garantie darauf, dass die Qualifikationen, die ein Mitarbeiter im Moment in einer Position benötigen würde, tatsächlich auch erworben werden. Individuelle Lernprozesse laufen dadurch weniger zielgerichtet ab, wodurch auch das Erreichen organisationaler Ziele gefährdet werden kann. Im Wirtschaftsunternehmen läuft man Gefahr, dass durch das strikte Einhalten der formalen Strukturen und der hierarchischen Ordnung die Eigeninitiative der Mitarbeiter auf der Strecke bleibt. Weiterbildung ist die Konsequenz aus einer Negativbewertung (der Kompetenz) des Mitarbeiters. Sie sanktioniert gewissermaßen, indem sie auf Qualifikations- bzw. Kompetenzlücken und veränderte Anforderungen im betrieblichen Alltag reagiert. Die Diagnose durch die Vorgesetzten und deren großer Anteil bei der Initiation von Weiterbildungsmaßnahmen kann den Mitarbeitern Lernen als von „außen erzwungen“ (Faulstich 1998, 67) erscheinen lassen: „Es ist dann kaum noch erfahrbar, daß Lernen auch Entfaltung sein könnte, Möglichkeit die eigenen Interessen zu entwickeln und die eigene Position auszubauen, neue Herausforderungen zu bewältigen; kurz: daß Lernen auch Spaß machen kann“ (ebd.). Dafür kann im Wirtschaftsunternehmen sehr effizient und zielgenau auf den aktuellen Qualifikationsbedarf des Mitarbeiters bzw. der Abteilung eingegangen werden.
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Karg beschreibt im Rahmen einer quantitativen Studie zur betrieblichen Weiterbildung, „dass die Seminarteilnahme als solche schon Zufriedenheit auslöst, unabhängig von den jeweiligen Inhalten“ (Karg 2006, 182), auch wenn die betriebliche Anwendbarkeit nicht ebenso hoch eingeschätzt wird wie das Seminar als solches. Dies kann evtl. mit den Äußerungen der Mitarbeiter des Sozialunternehmens im Hinblick auf die Möglichkeit der Reflexion bestätigt werden; die Aussagen der Mitarbeiter im Wirtschaftsunternehmen sprechen eher gegen Kargs Ergebnisse, denn in diesen Gesprächen wird die Qualität eines Seminars insbesondere an seinem Bezug zum Arbeitsalltag gemessen, und die Mitarbeiter äußern ihre Unzufriedenheit, sollte dies nicht der Fall gewesen sein. Der Bezug zum Arbeitsalltag wird auch bei der Auswahl von Weiterbildungsmaßnahmen konsequent verfolgt. Neben Faktoren wie den Seminarinhalten, der Gestaltung der Lernumgebung, der Trainingssituation, dem Arbeitsumfeld und der Person des Lernenden stellt auch die Änderungsmotivation eine wichtige Einflussgröße dar. Diese äußert sich vor allem dadurch, dass Mitarbeiter selbst die Initiative für Weiterbildungsmaßnahmen ergreifen (vgl. ebd., 117). Karg stellt außerdem einen signifikanten positiven Zusammenhang zwischen der selbstmotivierten Initiative und einer positiven Einschätzung der Anwendbarkeit des Gelernten im betrieblichen Alltag fest. Ein negativer Zusammenhang findet sich, wenn die Vorgabe zum Weiterbildungsbesuch vom Vorgesetzten kam. Da die positive Einschätzung der Transfermöglichkeit in den Arbeitsalltag wiederum eine entscheidende Größe für den tatsächlichen Transfer zu sein scheint (vgl. ebd., 83 u. 176), ist die Förderung der Eigeninitiative der Mitarbeiter im Hinblick auf Weiterbildungsmaßnahmen also unbedingt wünschenswert, was eher für die Handhabung von Weiterbildung innerhalb des Sozialunternehmens und gegen die Vorgehensweise im Wirtschaftsunternehmen spräche.
8.3.3 Verankerung im theoretischen Diskurs Mit Blick auf den eingangs skizzierten theoretischen Diskurs zum Thema Weiterbildung kann geschlossen werden, dass der Beruf als Be-Rufung im Kontext des Sozialunternehmens nach wie vor eine tragende Rolle spielt, während im Wirtschaftsunternehmen der „Betriebsmensch“ (Harney 2002) im Vordergrund steht: „Die Vorstellung vom gottgefälligen Leben, welches in arbeitsamem Streben und pflichtbewusster Berufsarbeit seinen Ausdruck findet[,] bildet letztlich die kulturelle Basis, die dem Be-
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rufskonzept seine Plausibilität und eine gesellschaftliche Gültigkeit verleiht, die sich in dieser Form in anderen Kulturen nicht herausgebildet hat. Der Beruf war Be-Rufung (‚Viele sind berufen, wenige nur auserwählt‘), und die berufliche Pflichterfüllung wurde, auch wenn dies dem einzelnen immer weniger bewusst war, als ein ,Dienst vor Gott‘ (Weber) empfunden“ (Arnold/ Gonon 2006, 74).
Im Sozialunternehmen verbindet sich diese protestantische Berufsethik, die in den klassischen Berufsbildungstheorien von Kerschensteiner, Spranger, Fischer und Litt aufgegriffen wurde (vgl. ebd.), zudem mit dem sozialpädagogischen Auftrag des „Helfens“ und der Verpflichtung gegenüber den Bedürftigen. Im Wirtschaftsunternehmen macht sich an mehreren Stellen der starke Bezug auf den Betrieb bemerkbar: Dies geschieht unabhängig davon, ob es um die direkte Verwertbarkeit der Weiterbildungsinhalte und die Effizienz ihrer Vermittlung geht oder um die A-Kompetenzen bzw. die „Überfachlichen Kompetenzen“, die von den Vorgesetzten mehrfach als das eigentlich Interessante oder Spannende am Mitarbeitergespräch hervorgehoben werden und in denen es eben um jenes Konzept der Schlüsselqualifikation geht, in dem sich nach Harney „die betriebliche Handlungslogik – das Interesse nämlich an organisationszugänglicher, sozusagen flüssiger Verfügung und Verfügbarkeit“ (Harney 1998, 253f.) ausdrückt. Im Sozialunternehmen stehen dagegen die Stärkung der eigenen „Fachlichkeit“ und der „eigentlichen Kompetenzen“ im Vordergrund, also die Vorstellung von einer Beruflichkeit oder Professionalität, die von einem „bestimmten persönlichen Besitz an Kompetenz und Wissen ausgeht“ (ebd., 254). Ebenfalls mit Verweis auf Harney beschreibt Kuper den Beruf „als eine vom Betrieb unabhängige soziale Realität, die als Umwelt des Betriebes […] Vorstrukturierungen enthält, auf die sich Betriebe bei der Planung des Personaleinsatzes beziehen können. Der Beruf reguliert somit die Inklusion von Personen in die betriebliche Arbeit, ohne sich in eine Abhängigkeit von den betrieblichen Handlungsimperativen zu begeben“ (Kuper 2000, 106). Mit der Bezogenheit auf den Beruf erklärt sich hier also die beobachtete und oben beschriebene relative Unabhängigkeit des professionellen Selbstverständnisses der Mitarbeiter von der Organisation als solcher. Gleichzeitig bildet das professionelle Selbstverständnis im Sinne dieser Vorstrukturierungen die Basis für Muster organisationaler Praxis im Umgang mit betrieblicher Weiterbildung. Insofern macht es nicht nur Sinn, mit Harney grundsätzlich, sondern gerade beim vorliegenden Vergleich als Unterscheidungsmerkmale der beiden Organisationen an den vermeintlich „überkommenen Trennungen zwischen Organisation und Profession, zwischen Betrieblichkeit und Beruflichkeit des Handelns“ (Harney 1998, 255) festzuhalten und damit die oben bereits beschriebenen unter-
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schiedlichen „Problembezüge“ (ebd.) der Organisationen zu unterstreichen. Während im Sozialunternehmen analog zur beruflichen Weiterbildung „auf die Transformation von Personen in Experten und in gesellschaftlich anerkannte Kompetenzinhaber“ abgestellt wird, zielt die betriebliche Weiterbildung, wie sie im Wirtschaftsunternehmen vorzufinden ist, „auf die Transformation von Personen in Personal und damit auf die Betrachtung von Personen als betriebliche Ressourcen“ (Harney 1998, 113). Im Sinne Arnolds kann für die beiden Organisationen weder von einem „Streitgegenstand“ noch von einer „Verflüchtigung“ im Hinblick auf das Spannungsverhältnis zwischen Konzepten von Bildung und Qualifikation gesprochen werden (vgl. Arnold 1995, 5). In der Praxis beider Organisationen kann dagegen eine deutliche Hinwendung zu einem der beiden unterschiedlichen Pole ausgemacht werden: Die aus dem Weiterbildungskonzept des Sozialunternehmens zu entnehmende ganzheitliche Ausrichtung des Angebots und die Unterteilung der Veranstaltungen in Seminare zur Förderung der spezifischen Fachkompetenz, zur Persönlichkeitsbildung und zur Förderung der eigenen geistig-mentalen Entwicklung findet sich auch in den Praxismustern wieder, die aus den Gesprächen herausgearbeitet wurden. Gleichzeitig ist die Orientierung der Weiterbildungspraxis im Wirtschaftsunternehmen unübersehbar auf Qualifizierung ausgerichtet. Auch der Aspekt der A-Kompetenzen als überfachliche Kompetenzen bzw. Schlüsselqualifikationen, denen gerne eine neuerliche Hinwendung zu Bildung oder Persönlichkeitsentwicklung zugeschrieben wird (vgl. Arnold/ Schüßler 2002, 130; vgl. dazu kritisch Kuper 2000, 89), kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hier um ein Qualifikationslernen im Sinne einer Anpassung an den Bedarf des Unternehmens (vgl. Harney 1998, 253) und nicht um eine „Zunahme der Freiheitsgrade für die Beschäftigten“ (Kuper 2000, 101) geht. Die von Arnold postulierte „Subjektorientierung“ in der betrieblichen Weiterbildung ist nicht auf eine moralische Neuorientierung oder Humanisierung der Betriebe zurückzuführen, sondern stellt lediglich einen neuen „Modus der Rationalisierung betrieblicher Inklusion“ (ebd., 110) dar. Es findet eine „Überbetonung der Individualisierungsvorgänge in der Einstellung von Personen zu ihrer Arbeit und dem arbeitsbezogenen Lernen“ (ebd., 81) statt, die sich gerade in der aus den Mitarbeitergesprächen herausgearbeiteten betrieblichen Realität des Wirtschaftsunternehmens nicht wiederfinden. Sowohl für das Sozialunternehmen als auch für das Wirtschaftsunternehmen gilt, dass sich betriebliche Weiterbildung nicht entlang pädagogischer Leitideen konstituiert, sondern sich an den funktionsbezogenen Erwartungen des Systemkontexts der Organisation orientiert (vgl. ebd., 109). Dies kann durch die Tatsache belegt werden, dass sich die in Kapitel 7
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herausgearbeiteten organisationalen Muster nun auch im Hinblick auf den Umgang mit Weiterbildung identifizieren lassen. Aus einer stärker betriebswirtschaftlich und strategieorientierten Perspektive betrachtet, lassen sich die jeweiligen organisationalen Muster von Weiterbildung als klassischem Bereich der Personalentwicklung in das Spannungsfeld zwischen Anpassungsweiterbildung und Potentialorientierung einordnen. So meint Sattelberger, dass eine Unternehmensleitung gut daran tue, die Ziele von Weiterbildung und Personalentwicklung „klar und deutlich mit Perspektiven und Grenzen zu formulieren. Denn eine PE, in der freischwebende PE-Künstler nach Gutdünken aktiv sind, ist wenig produktiv. In Strategie eingebundene Personalentwicklung läßt zwar weniger Raum für Exotik und Spielwiesen, erhöht aber die Durchschlagskraft“ (Sattelberger 1989a, 21). Dagegen bewertet Staudt diese Strategieorientierung äußerst kritisch und propagiert eine stärkere Potentialorientierung der Unternehmen: „Bei allen positiven Leistungen dieser als ,strategisch‘, proaktiv oder antizipativ bezeichneten Vorgehensweisen für eine rechtzeitige und nicht bloß reaktive Qualifizierung wird deutlich, daß auch hier Personalentwicklung im Kern als planbare abhängige Variable betrachtet wird“ (Staudt 1995, 187). Wie im Zusammenhang mit dem Wirtschaftsunternehmen beschrieben, beobachtet auch er, dass eine „Übereinstimmung von Anforderungs- und Fähigkeitsprofilen“ (ebd.) weiterhin angestrebt wird. Die Gefahr, die Staudt darin sieht, besteht darin, dass „[n]icht unmittelbar erforderliche, gleichwohl vorhandene oder entwickelbare Qualifikationen […] dabei als Überqualifikation“ (ebd.) erscheinen und aus der Sicht des Betriebs ein Konfliktpotential in Form von Fluktuation und persönlichen Spannungen in der Hierarchie bergen (vgl. ebd.). In der Nichtbeanspruchung von Qualifikation kann eine Form der Ressourcenverschwendung gesehen werden, deren negative Folgen in der „Demotivation mit der möglichen Folge ,innerer Kündigung‘ oder gar des Ausscheidens der betreffenden Mitarbeiter“ (ebd., 188) liegen können. Die Lösung liegt für Staudt in der Potentialorientierung als Leitidee einer Integration von Personal- und Organisationsentwicklung. Die unternehmerische Planungskette, die traditionell mit einer Orientierung am Markt beginnt und Organisation und Technik an die Anforderungen des Marktes anpasst und schließlich auch Personalmanagement und -entwicklung darauf abstimmt, müsste nach Staudt umgekehrt werden, weil die bereits vorhandenen qualifikatorischen Potentiale nicht nur bestimmte alternative Organisationsstrukturen verhindern, sondern diese auch ermöglichen und befördern können (vgl. ebd., 189) und damit ein unterschätztes Potential für Prozesse organisationalen Lernens bilden.
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Staudt fordert deshalb, dass Personalentwicklung in die Fachabteilungen verlegt und in die Hände der Führungskräfte gelegt wird. Das Wirtschaftsunternehmen bedient sich durch das Mitarbeitergespräch zwar der von Staudt vorgeschlagenen Prinzipien (Führungskräfte/ arbeitsplatznahe Qualifizierung, Dezentralisierung, learning-on-the-job/ Selbstregulation) (vgl. Staudt 1995, 193), das traditionelle Lückenmanagement macht aber nach wie vor einen großen Teil des Instruments Mitarbeitergespräch aus. Das Desinteresse an den von Mitarbeitern freiwillig initiierten Maßnahmen weist auf die Verhaftung der organisationalen Muster in einem defizitorientierten Qualifikationsmanagement. In den Rückmeldegesprächen wird betont, dass allein diese Vorgehensweise eine effiziente Möglichkeit darstellt, Weiterbildung zu planen. Der Gedanke von Effizienz ist stärker als die in den Gesprächen angelegte Potentialorientierung, die eigentlich nur im Hinblick auf die Frage der Karriereplanung von Bedeutung ist. Grundsätzlich ist die Vorgehensweise dort die einer defizitorientierten Anpassungsweiterbildung und gleicht damit den Ergebnissen, zu denen Münch bereits 1996 in einem Gutachten für das Institut der deutschen Wirtschaft auf der Basis von „Telefoninterviews mit maßgeblichen Repräsentanten der Personalentwicklung deutscher Unternehmen“ (Münch 1997, 17) kommt: Personalentwicklung wird immer weniger angebots- und nachfrageorientiert, sondern immer stärker bedarfsorientiert und auch gestaltungsorientiert durchgeführt. Potentialorientierung spielt indessen eine „vergleichsweise geringe Rolle“ (ebd.). Das Fortbildungskontingent im Sozialunternehmen beugt der Gefahr ausschließlicher Anpassungsweiterbildung vor. Hier ist zwar eine starke Potentialorientierung erkennbar, im Gegenzug kann aber der Vorwurf gemacht werden, es würde Weiterbildung nach dem Gießkannenprinzip betrieben und keine im Sinne der Unternehmensziele strategieorientierte und damit auch effektive Personalentwicklung.
8.3.4 Personalentwicklung als pädagogische Praxis?! Die Personalentwicklungs- bzw. Weiterbildungspraxis im Sozialunternehmen ermöglicht bildungsförderliche eigenständige Suchbewegungen bei den Mitarbeitern. Dadurch kann vorhandenes Wissen und Können aufgegriffen, stabilisiert und erweitert werden. Vorhandenes Potential wird durch das Einbeziehen von Interessen der Mitarbeiter bei der Aufgabenverteilung genutzt. Die Wünsche der Mitarbeiter werden unterstützt, und die Freude der Mitarbeiter an ihrer eigenen
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Weiterentwicklung wird als erstrebenswert betrachtet. Auf die Befindlichkeit der Mitarbeiter wird explizit bei der Absprache von Zielen, Weiterbildungsmöglichkeiten und der Verteilung von Arbeitsaufgaben eingegangen. Die Person des Mitarbeiters steht hier als Subjekt im Vordergrund, dessen Entwicklung gefördert werden soll, so dass Personalentwicklung hier deutlich an Zielen ausgerichtet ist, die sich am Bildungsbegriff orientieren. Die Interessen und das vorhandene Wissen und Können der Mitarbeiter werden durch organisationale Prozesse aufgegriffen; darüber hinaus können im Sozialunternehmen im Hinblick auf Weiterbildung jedoch kaum Impulse ausgemacht werden, die organisationale Lernprozesse initiieren. Im Wirtschaftsunternehmen finden bei der Bestimmung des Weiterbildungsbedarfs durch die Vorgesetzten pädagogische Prozesse wie Diagnostik und Beurteilung statt. Darüber hinaus sind die Vorgesetzten auch aufklärend und anregend im Hinblick auf die Weitergabe ihres organisationsspezifischen Wissens und Könnens tätig. Die organisationale Grundorientierung strebt hier häufig die Initiation organisationaler Lern- und Veränderungsprozesse an, über deren Umsetzung jedoch auf Basis der Gespräche kaum eine Aussage getroffen werden kann. Unter der Überschrift des „Coachings“ werden die Vorgesetzten eindeutig als Lernunterstützer und damit also auch pädagogisch tätig. Im pädagogischen Diskurs weicht jedoch die anfängliche Euphorie angesichts der Verlagerung von Lernprozessen auf den Arbeitsplatz, wie dies im Wirtschaftsunternehmen angestrebt wird, einer deutlichen „Skepsis“ (Göhlich/ Zirfas 2007, 159). Der Grund dafür liegt in den hohen Anforderungen an den Arbeitsplatz als Erfahrungsraum, der die Grundvoraussetzung dafür darstellt, dass Lernprozesse dort überhaupt möglich werden (vgl. ebd., 158). Falls diese nicht gesichert sind, bringt die Verlagerung des Lernens an den Arbeitsplatz die Gefahr eines Rückgangs von Qualifikationsreserven mit sich, der auf die Betriebe selbst zurückschlagen kann, da „[s]tatt auf Vorrat, […] dann nur noch just in time gelernt“ (ebd., 159) wird. Die persönliche oder interessengeleitete Weiterentwicklung der Mitarbeiter spielt im Wirtschaftsunternehmen eine eindeutig nachgeordnete Rolle. Ob aufgrund des hohen Stellenwertes der überfachlichen Kompetenzen, die einen ganzheitlichen Zugang suggerieren, und der doppelten Zweckstruktur von Personalentwicklung, wie Arnold und Bloh und andere Vertreter der Konvergenzthese postulieren (vgl. Arnold/ Bloh 2003; Harteis 2002), trotzdem von einer Orientierung am Konzept der Bildung und mit Bezug auf Humboldt von einer „proportionierlichen Ausbildung aller Kräfte“ (Humboldt, zitiert nach Arnold/ Bloh 2003, 10) gesprochen werden kann, ist angesichts dieser eindeutigen Fokussierung auf die Interessen des Unternehmens, die die eigenständigen Suchbewegungen der Mitarbeiter
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mitunter mehr blockiert als fördert, eher fraglich. So mögen zwar auf einer prozessualen Ebene pädagogische Teilaspekte zum Tragen kommen, die auch pädagogische Kompetenz bei den Personalverantwortlichen voraussetzen; die „Unbegrenzbarkeit der Persönlichkeitsbildung“ (Arnold/ Bloh 2003, 11) im Rahmen betrieblicher Personalentwicklung erscheint angesichts der vorliegenden Praxisbeispiele aber doch eine sehr idealisierende Sichtweise auf Unternehmen zu sein.
9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
Um sich dem Thema „Wissen“ im organisationalen Zusammenhang anzunähern, liegt es nahe, dies über eine Auseinandersetzung mit dem Konzept „Wissensmanagement“ (vgl. Probst/ Raub 2003; vgl. Pawlowsky 1998) zu tun. Dieses beschäftigt sich vor dem Hintergrund des immer größer werdenden Anteils von so genannten wissensintensiven Unternehmen in der New Economy (vgl. Schüßler/ Weiss 2003) nicht nur mit der Vermittlung von Wissen an den einzelnen Akteur, wie es die pädagogische Situation des Unterrichts repräsentiert (vgl. Helsper/ Keuffer 2002), sondern widmet sich den Fragen der Schaffung (vgl. Nonaka/ Takeuchi 1997), der Zugänglichkeit und Verfügbarkeit (vgl. ebd.; Severing 2003, 140f.) und des Transfers (vgl. Blaich 2004, 42ff) von Wissen innerhalb einer Organisation. Die Besonderheit der „Ressource Wissen“ (Severing 2003, 139) wird gerne in Abgrenzung zu den traditionellen Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital definiert (vgl. Nonaka/ Takeuchi 1997, 17; Severing 2003, 137). Wissen erscheint dabei als intellektuelle Fähigkeit: Wissensarbeiter arbeiten mit dem Kopf, nicht mit den Händen (vgl. zusf. Nonaka/ Takeuchi 1997, 17). Verwendet man Göhlichs (2007, 181) Unterscheidung nach Aspekten des Lernens in Wissen-, Können-, Leben- und Lernen-Lernen, liegt einigen Veröffentlichungen mehr oder weniger stillschweigend ein Wissensbegriff zugrunde, der von kognitiven, prinzipiell objektivierbaren und veräußerbaren Sachen oder Informationen ausgeht (vgl. Probst/ Raub 2003, 128f.). Gleichzeitig findet eine Gleichsetzung von Wissensmanagement mit „Skill-Management“ (ebd., 134) statt, und es ist die Rede vom „Fähigkeitsprofil“ (ebd.) des Mitarbeiters und „zentrale[n] Kompetenzen“ (ebd.), was stärker an den von Göhlich gewählten Begriff des „Könnens“ als „verkörperlichte und so ggf. auch reflexionslos reaktivierbare Handlungsfähigkeit“ (Göhlich 2007, 184) erinnert. Göhlich selbst vergleicht seine Unterscheidung von Wissen und Können mit der Unterscheidung von Nonaka und Takeuchi in explizites und implizites Wissen (vgl. Nona-
I. Sausele-Bayer, Personalentwicklung als pädagogische Praxis, DOI 10.1007/978-3-531-94021-2_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
ka/ Takeuchi 1997, 19; Göhlich 2001, 245f.), ohne jedoch von einer Übereinstimmung zu sprechen.26 Wie bereits in Kapitel 2.3 beschrieben, lässt sich explizites Wissen nach Nonaka und Takeuchi „in Worten und Zahlen ausdrücken und problemlos mit Hilfe von Daten, wissenschaftlichen Formeln, festgelegten Verfahrensweisen oder universellen Prinzipien mitteilen. […] Implizites Wissen ist sehr persönlich und entzieht sich dem formalen Ausdruck, es läßt sich nur schwer mitteilen“ (Nonaka/ Takeuchi 1997, 18). Es ist „tief verankert in der Tätigkeit und der Erfahrung des einzelnen sowie in seinen Idealen, Werten und Gefühlen“ (ebd., 19). Implizites Wissen beinhaltet dabei eine technische und eine kognitive Dimension. Die technische Dimension enthält durch Erfahrung gewonnene Fähigkeiten und Expertenkenntnisse, womit sie am nächsten zu Göhlichs Verständnis von „Können“ liegt. Die kognitive Dimension steht für selbstverständlich gehaltene, tief verwurzelte mentale Modelle und Annahmen (vgl. ebd.). Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch der Begriff des praktischen Wissens zu nennen, wie ihn Wulf im Zusammenhang mit mimetischen Lernprozessen verwendet, nämlich die unbewusste, unreflektierte Orientierung an Modellen, Vorbildern und Vorstellungen, die im Kontext von sozialem Handeln nahe legen, was in einer konkreten Situation angemessen ist (vgl. Wulf 2001, 254; Wulf 2007, 97f.). Weder Göhlich noch Nonaka und Takeuchi grenzen ihr Verständnis von Wissen und Können bzw. explizitem und implizitem Wissen vom Kompetenzbegriff ab, der aber gerade aufgrund seiner häufigen Verwendung im Zusammenhang mit Personalentwicklung und betrieblicher Bildung nicht unerwähnt bleiben, sondern eingeordnet werden sollte. Die Wissenstreppe von Klaus North (1999) bringt den Wissensbegriff gemeinsam mit den Begriffen Zeichen, Daten und Information auf der einen Seite und Können, Handeln, Kompetenz und Wettbewerbsfähigkeit auf der anderen Seite in eine hierarchische Ordnung, wobei dem Wissen eine zentrale Stellung zukommt. Wissen generiert sich aus Informationen und wird in Informationen kommuniziert und gespeichert. Erst durch die Verbindung von Informationen mit Kontext, Erfahrungen und Erwartungen entsteht jedoch Wissen. Wissen ist für North in Anlehnung an Probst et al. (1997) „die Gesamtheit der Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die 26
Göhlich schreibt: „Mag im Begriff des Wissen(lernen)s unter Umständen das Können(lernen) als ,praktisches Wissen‘ mitreflektierbar sein, so gerät zumindest der Aspekt des Leben(lernen)s aus dem Blickfeld. […] Aber selbst der Begriff des impliziten Wissens umfaßt mit den ritualisierten Prozeduren vielleicht das, was ich oben als Können (hier: eines kollektiven Akteurs) bezeichnet habe, aber nicht den Aspekt des Lebens im definierten Sinne eines, z.B. auch spontanen, SoSeins“ (Göhlich 2001, 245f.).
9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
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Personen zur Lösung von Problemen einsetzen“ (North 1999, 41). Dieses Wissen ist dann wiederum die Voraussetzung für Können, das dann konkret wird, wenn es in Handlungen und Problemlösungen umgesetzt wird, also ein Antrieb oder eine Motivation dazu besteht. Kompetenz liegt schließlich dann vor, wenn Wissen (im Sinne der Unternehmensstrategie) zweckorientiert und korrekt in Handlungen umgesetzt wird (vgl. ebd., 41f.). In einem Verständnis von Organisation, das der Organisation eine organisationale Wissensbasis zuschreibt, kann die Veränderung derselben als eine zentrale Form organisationalen Lernens verstanden werden (vgl. Probst 1995, 167). Veränderung, sei es die von individuellem Handeln, von Abläufen oder von Strukturen, von systemischem Prozessieren, in jedem Fall aber die damit verbundene Veränderung der individuellen und organisationalen Wissensbasis, die Entwertung vorhandenen und die Notwendigkeit des Aufbaus von neuem Wissen, stößt bei den Mitarbeitern einer Organisation jedoch nicht immer auf Offenheit und Kooperation. Argyris (1997) beschreibt übergreifend für staatliche Regierungsstellen, den Bildungsbereich und für Wirtschaftsunternehmen, dass dann Abwehrverhalten entsteht, das Lernen in Organisationen behindert, wenn Individuen, Gruppen oder Organisationen befürchten müssen, „Peinlichkeit oder Bedrohung zu erfahren, und gleichzeitig die Agierenden davon abhält, die Ursachen für die Peinlichkeit oder die Bedrohung aufzuspüren und zu bereinigen“ (ebd., 24). In Kapitel 2.3 wurden drei Grundmodelle organisationalen Wandels skizziert und organisationales Lernen als Kritik bzw. Weiterentwicklung der Modelle von Organisationsgestaltung und Organisationsentwicklung beschrieben. Insbesondere personale Ansätze der Organisationsentwicklung, die sich stärker als die Ansätze der Organisationsgestaltung mit der Rolle der Individuen und Gruppen in Veränderungsprozessen befassen (Schreyögg 2008; Gebert 1995; Vahs 2005), nehmen auch den Widerstand der einzelnen Akteure gegen Veränderungen in den Blick und bieten Konzepte zu dessen Überwindung an. Hier ist zum einen das Drei-Phasen-Modell von Lewin zu nennen (vgl. Schreyögg 2008, 413). In einer ersten Phase („unfreezing“) sollen hier zunächst die Mitarbeiter von der Notwendigkeit bevorstehender Veränderungen überzeugt werden. In einem zweiten Schritt („moving“) soll unter Einbeziehung der relevanten Akteure ein neues Organisationskonzept entworfen und implementiert werden, das in einer dritten Phase („refreezing“) stabilisiert wird (vgl. Steinmann/ Schreyögg 1997, 443). Die Survey-Feedback-Methode, die ebenfalls auf Lewin zurückgeht, wurde von Likert und Bowers ausgearbeitet (vgl. Schreyögg 2008, 420): Die Einbeziehung der Mitarbeiter und Führungskräfte in einen Erhebungs- und Feedbackpro-
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zess, in dem die vorhandenen Probleme der Organisation diagnostiziert werden, gilt hier als die „grundlegende Basis für die Reorganisation von Wahrnehmungen und Einstellungswandel“ (Back, zitiert nach Schreyögg 2008, 414). Veränderungen, so die Annahme, wird weniger Widerstand entgegengebracht, wenn der Veränderungsimpuls aus der Gruppe kommt (ebd., 413), weil die Mitarbeiter durch ihre Partizipation am Entscheidungsprozess die Veränderung stärker mittragen, als wenn sie von oben verordnet wird. Am erfolgversprechendsten, so Rosenstiel (2000), scheint eine Kombination aus den skizzierten personalen Ansätzen der Organisationsentwicklung mit Prozessberatung und einer gezielten Aufgabenorientierung zu sein (vgl. ebd., 417). Grundsätzlich können Widerstände gegen Veränderungen aus der Person oder aus der Organisation kommen (vgl. Schreyögg 2008, 406). Diese werden dort erklärungsbedürftig und problematisch für die Organisation, „wo ein veränderungsbedingter objektiver Nachteil monetärer oder nicht-monetärer Art nicht erkennbar ist“ (ebd., 405), da hier eine Lösung über die Aushandlung eines Kompromisses nicht ohne weiteres möglich ist. Piderit weist auf ambivalente Einstellungen hin, wo den Gründen für den Wandel zwar vom Verstand her zugestimmt wird, die Änderung aber trotzdem als ungerechtfertigte Zumutung empfunden wird (vgl. ebd.). Auf der Ebene der Person kann Widerstand durch langjährige Gewohnheiten und die damit verbundene Befriedigung bei der Ausführung von Routinen erklärt werden. Ersterfahrungen wird unbewusst der Vorrang vor späteren Erfahrungen gegeben. Der „Frustrations-Regressions-Effekt“ entsteht dann, wenn Veränderungsprogramme eingeübte Verfahrensweisen entwerten und die Folge der daraus entstehenden Frustration kein nach vorne gerichtetes Suchen nach neuen Lösungen auslöst, sondern „ein Festklammern an alten Wegen oder eine heimliche Rückkehr zu dem Althergebrachten“ (ebd., 407). Auf der Ebene der Organisation resultieren Widerstände aus organisationalen bzw. kollektiven Orientierungsmustern, die durch die Manifestierung in jahrzehntelanger Praxis große Macht in Organisationen besitzen. „Es sind gerade diese emergenten Regeln und Normen, die eine starke Beharrungstendenz aufweisen, in ihrer Dynamik aber häufig unerkannt bleiben“ (ebd.), weil sie meist unbewusst wirken. Dies gilt auch bspw. für neu einzuführende Praktiken oder Prozesse, die mit informellen Regeln und Privilegien kollidieren. Weiter ist das „not invented here“-Syndrom zu nennen, das sich gegen Veränderungsprogramme von außen richtet und das, je stärker es ausgeprägt ist, die Organisation außer Stande setzt, den Erfordernissen des Wandels gerecht zu werden. Aus systemischer Sicht bringen Veränderungen von Routinen und Strukturen die Gefahr
9.1 Sozialunternehmen
217
eines Ungleichgewichtszustandes mit sich. Aus mikropolitischer Perspektive wird auch hier wieder auf „informale Status- und Prestigehierarchien“ (ebd., 408) hingewiesen, „die von organisatorischen Änderungsinitiativen häufig (unbewusst) in Frage gestellt werden“ (ebd.). Schließlich ist der Erklärungsansatz der „strukturellen Trägheit“ zu nennen, nach dem „Organisationen eine Menge Energie mobilisieren, um ihre Praktiken zu stabilisieren und sie gegen Veränderungen zu schützen“ (ebd.). Dies ist zunächst zwar positiv, wird aber dann problematisch, wenn sich die Organisation bei Veränderungsdruck von außen nicht mehr selbst aus seinen Stabilisierungspraktiken befreien kann. Ähnlich wie das Modell der strukturellen Trägheit erklärt der Ansatz der „Pfadabhängigkeit“ organisationalen Widerstand gegen Veränderungen: Die Organisation stärkt erfolgreiche Praktiken, die sich zu „historisch gewachsenen Strukturen und Prozessen“ (ebd.) verfestigen. Diese ermöglichen nur noch ganz bestimmte Innovationen, nämlich solche, die eine Analogie zu den „Kernkompetenzen“ (ebd., 409) der Organisation aufweisen. Parallel dazu verliert „das Experimentieren mit Ressourcen zur Entwicklung alternativer Lösungsansätze kontinuierlich an Attraktivität“ (ebd.). Die Organisation befindet sich gewissermaßen in einer „Kompetenzfalle“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund kann Wissen im Folgenden grundsätzlich als relativ statisches bzw. stabilisierendes Element von Prozessen in Organisationen im Gegensatz zur Veränderung als prozessualem, dynamischem und destabilisierendem Element organisationaler Praxis betrachtet werden.
9.1 Sozialunternehmen In den Mitarbeitergesprächen des Sozialunternehmens wird häufig nicht zwischen Fähigkeiten, Kompetenzen, Wissen und Können unterschieden. Gerade der Begriff des Wissens wird sehr weit gefasst. Um mit Wittgenstein zu sprechen: „Die Grammatik des Wortes ,wissen‘ ist offenbar eng verwandt mit der Grammatik der Worte ,können‘, ,imstande sein‘. Aber auch eng verwandt der des Wortes ,verstehen‘“ (Wittgenstein 1977, 96f.). Dabei geht es insbesondere um Wissen, das die Gesprächspartner bestimmten Akteuren zuschreiben: sich selbst, Kollegen oder Vorgesetzten; wobei eine stark handlungsbezogene Orientierung im Sinne eines Know-how festzustellen ist, was stärker als der Wissensbegriff auch das „Können“ im Sinne einer „verkörperlichte[n] und so ggf. auch reflexionslos reaktivierbare[n] Handlungsfähigkeit“ (Göhlich 2007, 184) und „Prozessgewissheit“ (ebd.) einschließt.
218
9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
9.1.1 Bedeutung und Vermittlung von Wissen 9.1.1.1
„die haben alle diese Fragen, können die wunderbar beantworten“
In Kapitel 7 wird das ambivalente Verhältnis der Mitglieder des Sozialunternehmens zu formalen und schriftlichen Regelungen deutlich sowie die damit verbundenen Schwierigkeiten insbesondere für neue Führungskräfte, sich in ihrer neuen Rolle mit den dazugehörigen Befugnissen und Kompetenzen zu positionieren. Die ausschlaggebenden Faktoren für die Akzeptanz einer Führungskraft sind häufig auf informeller Ebene zu finden. Dazu gehören die Dauer der Zugehörigkeit zu einer Einrichtung oder eine gewisse Hartnäckigkeit bei der Verfolgung der einrichtungsspezifischen Interessen aber eben auch, wie gezeigt werden konnte, die fachliche Kompetenz einer Führungskraft. Ob jemand als Leitung wahrgenommen und akzeptiert wird, ist maßgeblich davon abhängig, inwieweit er die ihm zugeteilten Aufgaben beherrscht. Deshalb redet der Vorgesetzte im folgenden Gesprächsbeispiel sehr eindringlich auf seine Mitarbeiterin ein, die erst vor kurzem eine Leitungsposition übernommen hat: F (m): Also Sie haben, und das müssen Sie einfach noch mehr nutzen, diese, diese Aufgabenstellungen, die Sie im Haus haben, die haben wir hier in [Ort] alle, nur nicht alle in jeder Gruppe. M (w): Mhm. F: Ne, also der der Schwerpunkt ist eben bei Ihnen verlagert, dadurch dass Sie eben dezentraler wohnen, ne, aber Sie haben hier Ansprechpartner eigentlich für alle Arbeitsgebiete, die Sie betreffen, für alle, ne, es gibt nichts, was, eh, wofür nicht das Know-how da wäre. Sie müssen es nur abrufen. Das heißt, wenn Sie, wenn Sie Fragezeichen haben, und ich kann mir vorstellen, dass Sie viele haben, ne, dann müssen Sie zumindest wissen, wo rufe ich an, wenn ich Fragen habe zu dem Thema?, wo informiere ich mich da?, wo bekomme ich das Formular her?, was mache ich, wenn irgendwer?, was passiert mit der Abrechnung von irgendwas?, ne, Rentenbescheid, ne. (SU FK II)
Obwohl der Vorgesetzte hier von Know-how spricht, evoziert der Computerjargon („abrufen“) eine Wissensplattform, auf der Informationen permanent extern verfügbar sind und über die der Zugang zu Wissen quasi durch Mausklick erfolgt. Tatsächlich geht es hier vor allem um verwaltungstechnische Abläufe wie das richtige Formular für einen Kostenantrag oder die Gestaltung des Dienstplans. Es geht also doch eher um explizites, von den Wissensträgern veräußerbares Wissen. Der erste Schritt, zu diesem Wissen zu gelangen, ist, zu wissen, wo man nachsehen bzw. wen man fragen kann. Die Führungskraft ist sich der Dringlichkeit bewusst, dass sich die Mitarbeiterin möglichst schnell das „Know-how“ für ihren Zuständigkeitsbereich aneignet. Er verlangt nicht von ihr,
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bereits alles zu wissen; im Gegenteil, er hat Verständnis dafür, dass sie vieles noch nicht weiß. Gleichzeitig verdeutlicht er ihr aber, dass es ihre Aufgabe ist, die Wissenslücken („Fragezeichen“) zu beseitigen. Er macht sie darauf aufmerksam, dass das Wissen, das sie benötigt, bereits in der Einrichtung existiert; die Mitarbeiterin muss es nur „abrufen“. Dazu macht er ihr verschiedene Angebote: F (m): Ne, aber diese Fragen zu klären, ne, Fragezeichen, was sollen wir machen?, mhm, fehlt das Wissen, das Wissen können Sie holen. Wo Sie dieses Wissen herbekommen, das sind so Sachen zum Beispiel, wo Sie dann mit dem Mentor reden können, in der Bereichsrunde reden können, können Sie auf mich zukommen, können wir Sie verweisen, wir haben ja hier auch eine Werkstatt, die haben alle diese Fragen, können die wunderbar beantworten, da gehen Sie mal zur Frau Knut und lassen sich das mal erklären, wie das abläuft, wenn Sie da Fragen haben, von der Anmeldung, oder Sie rufen die Frau Mayerhofer an, wenn es was gibt mit Rentenbescheid, Klärung von, ja. Und das, das hilft dann, ne, wenn Sie wissen, das ist das Sachgebiet hier, das wird mit dem nächsten Telefonverzeichnis jetzt einfacher, weil wir machen jetzt ein aufgabenbezogenes M (w): Oh, ja, das ist klasse, ja F: da wird es schon auch deutlicher, da rufe ich jetzt an, da geht es auch um Personalfragen, da geht es um Bewohner, da geht es um Geld, M: Hmm. F: Ne, also das so als, aber das ist immer für Sie auch wichtig zu klären, wo bin ich drin?, was muss ich denn überhaupt machen?, und wo bekomme ich das Wissen her?, weil das liegt ja jetzt an, ne, diese hoheitlichen Aufgaben. (SU FK II)
Der Vorgesetzte, der jetzt auch ausdrücklich von „Wissen“ spricht, beschreibt seiner Mitarbeiterin, wo die Wissensträger sitzen, die sie braucht. Der Mitarbeiterin wird ein Mentor zur Seite gestellt, der Vorgesetzte bietet sich selbst als Ansprechpartner an und verweist auf die „Bereichsrunde“, in der sich die Wohnbereichsleiter regelmäßig treffen und in der ein Austausch über gemeinsame Fragestellungen stattfinden soll. Schließlich nennt er ihr Ansprechpartner für konkrete Fragen. Dort kann sie das nötige Wissen in seinen Augen einfach und unkompliziert ab-„holen“, ohne selbst viel dafür tun zu müssen. Auch hier wird wieder deutlich: Das Wissen, um das es hier geht, besteht hauptsächlich aus extern verfügbaren Informationen, die nicht erst durch zeitaufwendige Lernprozesse inkorporiert werden müssen. Diese Hilfestellung soll auch formal durch ein aufgabenbezogenes Telefonverzeichnis institutionalisiert werden, das den Zugriff auf wichtige Informationen oder die Klärung von Fragen erleichtern und beschleunigen soll. Durch das neue Telefonverzeichnis macht die Einrichtung transparent, welche Mitarbeiter welche Themen bearbeiten. Gleichzeitig wird den zuständigen Personen formal eine bestimmte Kompetenz und Verantwortung für bestimmte Abläufe zuge-
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
schrieben. Dadurch wird der Wissenstransfer innerhalb der Einrichtung erleichtert. Im obigen Beispiel erschwert die Tatsache, dass sich die Einrichtungen an unterschiedlichen Orten befinden, den Austausch von Wissen („dadurch dass Sie eben dezentraler wohnen“). Oft erlauben es aber auch die organisatorischen Rahmenbedingungen nicht ohne weiteres, auf das an eine bestimmte Person gebundene Wissen zuzugreifen: M (w): Ja, (3) eigentlich jedem. (3) Also durch die Arbeitszeiten ist natürlich schon, dass man sich überlegen muss, oder ich schreibe es mir eben dann in den Kalender, wenn ich jetzt den Herrn Schröder etwas fragen will, das muss ich jetzt, sonst vergesse ich es auch wieder, dann schreibe ich mir das eben am Montag oder am Dienstag in den Kalender von jedem rein und frage ihn dann. Oder zum Beispiel die Andrea, kam jetzt ehrlich gesagt noch nicht so oft vor, mh, bei der Claudia habe ich momentan so das größte Problem, die habe ich jetzt, glaube ich, schon ein paar Wochen nicht mehr gesehen. Weil sie jetzt am Montag wieder nicht da war, und da, merke ich, kann man schon viel fragen, weil die unheimlich viel weiß, ne. (SU MA I)
Die Mitarbeiterin beschreibt eine Situation, die in pädagogischen Institutionen, in denen überdurchschnittlich viele Teilzeitkräfte beschäftigt sind (vgl. Baxmann 1999, 67f.), häufig anzutreffen ist. Die unterschiedlichen Arbeitszeiten der Mitarbeiter erschweren den Austausch untereinander. Auch hier geht es um explizites, erfragbares und damit veräußerbares Wissen. Der Austausch dieses Wissens muss aber regelrecht organisiert und geplant werden („Kalender“). Mitarbeiter nicht greifbar zu haben, denen ein umfassendes Wissen zugeschrieben wird, empfindet die Mitarbeiterin als problematisch, woraus geschlossen werden kann, dass die Mitarbeiterin diesem eher informellen, weil nicht institutionalisierten, Austausch eine hohe Bedeutung beimisst.
9.1.1.2
„mein Bereich, meine Zuständigkeit und wo ich mich auch sicher fühle“
Das Gefühl, nicht alles zu wissen oder zu wenig kompetent zu sein, ist für die Mitarbeiter belastend. Einer neuen Mitarbeiterin ist im folgenden Beispiel deutlich anzumerken, wie sehr sie sich in ihrer Anfangszeit in der Einrichtung unter Druck gesetzt hat: M (w): Also für mich war es ja ein ganz eh (2) bewegtes Jahr, zum Teil kam ich mir echt vor wie im Strudel, so am Anfang, aber das lag sehr an mir, weil ich so den Eindruck hatte, ich, neues Arbeitsgebiet. Ich versuche mit meinen Kompetenzen so reinzukommen und muss ganz viel neu lernen, und hab es am Anfang gemerkt, eh, oah, ich hatte so den Eindruck oder den
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Anspruch an mich, ich muss alles wissen. Was die Ergotherapeuten machen, was die Logopäden machen, dann die Entwicklungsgitter parat haben, Elternberatung im Kopf. Und dann hatte ich ja ziemlich schnell viele Kinder, und habe so gemerkt, oah, ich bekomme überhaupt keinen Fuß mehr auf den Boden. Und eh, (2) war dann für mich dann einmal auch so an einem Punkt, wo ich dachte, also ich muss anfangen, meine Rolle hier im Team zu gestalten und mir einen Schwerpunkt zu setzen, weil ich so gemerkt habe, es gibt Sachen, die kann die Claudia besser, die, da hat die Verena eine viel konkretere Vorstellung, bei der Simone sowieso, also da weiß ich wenig, eh, da weiß ich, denke ich, gerad so das, was ich wissen muss (lachend, etwas verlegen), und auch so die Tests, also da bin ich froh, wenn ich eine Vorstellung habe, was läuft, und kann diese Bereiche zuordnen, ehm, und wo ist denn meine Rolle? Seit ich mich da so mehr am, ehm, für mich selbst am arbeiten bin, wird das eigentlich so dreidimensional, mein Bereich, meine Zuständigkeit und wo ich mich auch sicher fühle, geht es mir viel besser. […] Aber da habe ich gemerkt, am Anfang, ich habe mich einfach überfordert mit dem musst alles machen, musst alles können und es muss auch alles laufen. Und so fühle ich mich wohl da. Und ich habe jetzt momentan auch so die Kinder, wo ich den Eindruck habe, das passt. (SU MA I)
Ebenso wie im vorherigen Abschnitt geht es auch hier um explizites Wissen („parat haben“, „alles wissen“, „im Kopf“, „was ich wissen muss“, „Vorstellung“), hinzu kommt nun aber auch die Ebene des Könnens. Dies wird unter anderem durch die verwendeten körperlichen und haptischen Bilder („Strudel“, „Fuß“, „Boden“) deutlich. Die Mitarbeiterin erlebt eine körperlich empfundene Desorientierung. Sie kommt als Sozialpädagogin in das interdisziplinäre Arbeitsfeld der Frühförderung. Mit einigen Monaten Distanz erzählt sie davon, wie sie ihre Einarbeitungsphase erlebt hat. Dabei entfahren ihr immer wieder Stöhnlaute („oah“), die zeigen, dass der Druck aus der ersten Zeit in der Einrichtung immer noch spürbar und sehr präsent ist. Dieser Druck wurde offensichtlich nicht aus der Einrichtung heraus von der Vorgesetzten oder von Kolleginnen ausgeübt, sondern von ihr selbst aus dem eigenen „Anspruch“ heraus erzeugt, „alles machen“ und „alles können“ zu müssen. Sie erlebt diese Phase als „Strudel“, also als Zeit ohne Orientierung, in der alles über sie hereinbricht, ohne dass sie selbst Einfluss nehmen oder die Dinge in die Hand nehmen kann. Das Gefühl, nichts zu wissen und zu können, verunsichert sie. Über den zunächst belastenden Vergleich mit ihren Kolleginnen gewinnt sie schließlich die Erkenntnis, dass jede von ihnen und auch sie selbst etwas anderes besser kann oder mehr über ein ganz bestimmtes Thema weiß als die anderen. Sie beginnt, ihre Rolle im Team zu gestalten und ihre eigenen Schwerpunkte zu setzten. Mit der Konzentration auf ihre eigenen, ganz persönlichen Kompetenzen („für mich selbst“) gewinnt sie neue Sicherheit. Es sind ihr „Bereich“ und ihre „Zuständigkeit“, wo sie sich, nachdem diese für sie endlich klar definiert sind, sicher fühlt und ihren funktionalen Beitrag in der Einrichtung leisten kann. Der Begriff der „Rolle“ geht dabei Hand in Hand mit dem Kompetenzbegriff nach North, denn beide implizieren
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
einen funktionalen bzw. adäquaten Beitrag der handelnden Person im Hinblick auf die Ziele des Gesamtsystems (vgl. North 1999, 42; vgl. Katz/ Kahn 1978, 194). Von Unterstützung, die sie von Seiten ihrer Vorgesetzten und ihrer Kolleginnen bekommen hat, erwähnt sie nichts – weder positiv noch negativ. Möglicherweise war sie aber auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um Hilfsangebote von außen wahrnehmen oder annehmen zu können, oder hat sich gescheut, ihren neuen Kolleginnen von ihren Zweifeln zu erzählen, weil sonst der Eindruck hätte entstehen können, es würde nicht „alles laufen“, was sie bzw. ihre Stellung in der Einrichtung geschwächt hätte. Ähnlich wie sie in der Anfangsphase die alleinige Verantwortung dafür übernimmt, selbst „alles wissen“ oder zumindest „lernen“ zu können, erklärt sie sich auch zum Zeitpunkt des Gesprächs noch für ihr damaliges Dilemma verantwortlich („aber das lag sehr an mir“). Auf die Idee, dass die Einrichtung sie dabei hätte unterstützen können, ihren Platz zu finden, kommt sie nicht. Dabei könnte man gerade darin die Aufgabe der Organisation sehen, die Mitarbeiterin auf dem Weg von „ich, [und mein] neues Arbeitsgebiet“ zu „ich“ und „meine Rolle hier im Team“ zu unterstützen und damit auch das neue Wissen der Mitarbeiterin ins Team zu integrieren (vgl. Neuberger 1994, 137). Die Mitarbeiterin musste sich jedoch selbst ihren „Bereich“ suchen und sich für bestimmte Themen oder Fälle zuständig erklären, weil ihr von Seiten der Einrichtung keine Vorgaben gemacht worden sind. Einerseits kann dies als Chance für die Mitarbeiterin gesehen werden, dass sie sich gemäß ihrer Interessen und Kompetenzen in die Einrichtung einbringen kann, andererseits wird hier aber auch wieder deutlich, um wie viel schwieriger der Übergang in eine neue Stelle ist, wenn jegliche organisationalen Vorgaben als Orientierungspunkte fehlen. Die Verunsicherung, die bei jeder Veränderung zunächst entsteht, könnte von Seiten der Organisation abgeschwächt werden, indem gerade in solchen Übergangssituationen Unterstützungsangebote gemacht würden. Andernfalls läuft die Organisation dabei auch Gefahr, dass die Mitarbeiterin ihren Platz nicht findet und ihre Kompetenzen auch aus der Sicht der Einrichtung nicht optimal einbringen kann. Außerdem wäre denkbar, dass die neue Mitarbeiterin durch die fehlende Regulierung von außen stärker möglichen Machtspielen und Aushandlungsprozessen (s. Kap. 7) innerhalb des Kollegiums ausgesetzt ist. Die im obigen Beispiel gefundene Verbindung von Wissen und Sicherheit gilt nicht nur für einzelne Personen, sondern kann auch ein ganzes Team betreffen. Der folgende Gesprächsausschnitt bezieht sich auf eine Wohngruppe aus dem Bereich der Behindertenhilfe:
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M (w): Die Feldhasenruhen in sich und machen ihre Arbeit. F (m): Mhm. (2) Aber das Ruhen ist nicht M: nicht negativ F: nicht negativ oder statisch, sondern da ist, also mehr Ruhen im Sinne von, von Sicherheit und, und Wissen und, und Hingucken. M: Ja, ja, genau. (SU MA V)
Die Wohngruppe „Feldhasen“ 27 wird von der Mitarbeiterin als eine Gruppe beschrieben, die im besten Sinne des Wortes in sich ruht. Dies könnte bedeuten, dass es keine Querelen innerhalb des Teams gibt, dass die Mitarbeiter wenig Unterstützung von außen, bspw. vom pädagogischen Dienst, benötigen, dass das Team Probleme mit Bewohnern eigenständig und übereinstimmend löst et cetera. Auf die Nachfrage ihres Vorgesetzten, der ausschließen möchte, dass die Mitarbeiterin damit nicht meint, dass die Gruppe phlegmatisch oder „statisch“ ist, sucht sie nach einer Konkretisierung für „Ruhen“. Er findet sie in der Trias von „Sicherheit“, „Wissen“ und „Hingucken“: „Hingucken“ meint hier auch die Fähigkeit und Bereitschaft, die eigene Praxis in Frage zu stellen und sich im Sinne eines organisationalen Lernens nach Argyris und Schön auf die gemeinsame Erkundung der eigenen Praxis zu begeben. Das Team kann sich aus der Sicherheit heraus, etwas zu wissen und mit Problemen umgehen zu können, offen ansehen, was in der Gruppe passiert. Oder: Durch das genaue Hinsehen und den offenen und ehrlichen Umgang miteinander ist das Team in der Lage, sich Wissen anzueignen, das ihm wiederum Sicherheit gibt, adäquat zu handeln. Unabhängig von der Reihenfolge ist entscheidend, dass diese drei Punkte der Gruppe die nötige Stabilität geben, um „ihre Arbeit“ machen zu können und sich nicht auf Nebenschauplätzen, wie Kompetenzgerangel, zu verlieren. Man kann davon ausgehen, dass hier eine große Übereinstimmung zwischen implizitem Wissen und explizitem Wissen vorliegt – etwa in dem Sinne, in dem Koch Wissen im strengen Sinne als ein „Für-wahr-Halten im Modus der Gewissheit“ beschreibt: „Wer etwas weiß, der weiß nicht nur etwas, sondern auch, dass er es weiß“ (Koch 2007, 44). Diese Klarheit über die eigene Kompetenz und das Wissen und die Kompetenz der Kollegen und Führungskräfte schränkt Machtspielräume ein (vgl. Crozier/ Friedberg 1993). „Wissen“ wird damit sowohl für die einzelne Mitarbeiterin im ersten Beispiel („Und so fühle ich mich wohl da.“) als auch für eine ganze Gruppe im zweiten Beispiel („ruhen in sich“) zum Bestandteil eines guten Gefühls und fördert die Arbeits- und Funktionsfähigkeit der Beteiligten. 27
Gruppenname
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
9.1.1.3
„wo ich dann sage, Bruder, das ist jetzt so schön drin in mir“
Auch wenn „Ruhen“ nicht impliziert, dass etwas statisch wäre, kann Veränderung doch Unruhe und Unsicherheit, ja sogar Angst auslösen: M (m): […] Ein bisschen Angst habe ich vor den neuen Gruppennamen, da (lacht) F (w): Was macht Ihnen da Angst? (lacht) M: Ja, wenn ich dann so Zettel bekomme, auf denen nicht mehr der Gruppenname steht, den man kennt, sondern diese, irgendwelche, eh, Stockwerke oder Zimmernummern, wo ich dann sage, Bruder, das ist jetzt so schön drin in mir, ich weiß die Telefonnummern auswendig, ich kenne die Ansprechpartner, ich kenne die Gruppenmitarbeiter, ich weiß, wer wo hingehört. Das ist ein tolles Gefühl, wenn auch einmal jemand in der Küche steht, der nicht weiter weiß, also jetzt an der Ausgabe, und du weißt, der Bewohner, da ist die Gruppenleitung zuständig, die Nummer, das ist alles schon in Fleisch und Blut, und jetzt fängst du dann wieder an (lacht), geht es dir wieder wie vor sieben Jahren. F: (lacht) Na, ich denke, so, eh, gravierende Unterschiede werden es jetzt nicht sein. M: Ja, ich hoffe. F: Sie meinen jetzt, eh, dass wir von den, eh, Tier- und Pflanzennamen weggehen wollen zu M: Zu Senioren und erster Stock, zweiter Stock, also das ist schon eine Umstellung. F: Ich kann das gut hören, dass, dass das, wenn es so drin ist, dass einem das einfach sehr geläufig ist und es auch deutliche Unterscheidungskriterien M: Ich sage dann auch in der Küche, macht euch da noch nicht verrückt. Also, wir nehmen unsere alten Namen solange wir die haben (lachend). Bis wir es schriftlich vor uns liegen haben. Wir müssen. (SU MA IV)
Das Thema Veränderung löst unangenehme Gefühle bei dem Mitarbeiter aus. Dies zeigt dieser Gesprächsausschnitt deutlich, in dem sich Mitarbeiter und Vorgesetzte immer wieder ins Wort fallen und der Mitarbeiter sehr engagiert und ausdrucksstark davon berichtet, wie er mit der geplanten Umbenennung der Wohngruppen in seinem Bereich umgeht. Auch im wiederholten Lachen des Mitarbeiters findet sein Unwohlsein Ausdruck. Dagegen ist es „ein tolles Gefühl“ etwas zu wissen, denn es macht ihn denjenigen, die weniger wissen, überlegen. Das Wissen ist inkorporiert („jetzt so schön drin in mir“, „in Fleisch und Blut“), es ist ein Teil von ihm. Ohne nachdenken zu müssen („auswendig“), weiß er sofort, wer wohin gehört, wer wofür zuständig ist. Durch die Veränderung muss er wieder von vorne anfangen. Er wird um Jahre zurückgeworfen und muss wieder dieses Gefühl der Unsicherheit aus der Anfangsphase aushalten. Davor hat er Angst. Fast beschwörend beginnt der Mitarbeiter Satz um Satz mit „ich weiß“ und „ich kenne“, als könne er dadurch sein Wissen bewahren, das durch die Änderung seinen bisherigen Wert zu verlieren droht. Dieser Wert besteht zum einen in der Sicherheit, die der Mitarbeiter durch das inkorporierte Wissen
9.1 Sozialunternehmen
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in seinem Arbeitsalltag hat. Dagegen löst der Gedanke, nichts zu wissen, Angst und Stress aus. Dies ist mit Hobfolls (1988) Theorie der Ressourcenerhaltung zu erklären: Wissen stellt nach Hobfoll eine wichtige Ressource dar. „We strive to obtain, retain, and protect our resources“ (Hobfoll 1998, 168). Wenn Menschen ihre Ressourcen verlieren oder diese Ressourcen bedroht sehen, entsteht Stress: „Stress follows circumstances where people’s resources are threatened with loss, when resources are lost, or where there is failure to gain resources following resource investment“ (ebd., 166). Gleiches gilt auch für unser Wissen und unsere Fähigkeiten. Zum anderen ist Wissen für den Mitarbeiter die Grundlage für das Vertrauen seiner Vorgesetzten, das sich in mehr Verantwortung und erweiterten Handlungsspielräumen für ihn auszahlt: M (m): […] Wenn die Vertrauensbasis passt, also wenn man, wenn der Vorgesetzte, in dem Fall Sie, sagt, gut der Menninghaus, der weiß, dass er jetzt nicht zum [Name Fachgeschäft] nach [Ort] fahren darf für einen Kartoffelschäler, sondern, dass er den eben beim [Name Großhändler] bestellt oder, dass er weiß, ich gehe mal davon aus, dass er weiß, wo der billigste zu beziehen ist, dass man da so einen kleinen Freiraum hat. Das fände ich jetzt schön. (SU MA IV)
Im Umkehrschluss sind organisationale Lern- und Veränderungsprozesse, durch die bestehendes Wissen und Kompetenzen bedroht sind, auch immer mit der Gefahr einer Machtverschiebung und der Verkleinerung von Handlungsspielräumen verbunden. Auf den Versuch der Vorgesetzten, ihren Mitarbeiter zu beschwichtigen und ihn damit zu beruhigen, dass die Veränderungen schon nicht so groß sein werden – wobei sie ihm kein konkretes Angebot zur Bewältigung der Situation macht –, geht dieser zunächst nicht ein, sondern schildert, wie er die Situation wiederum an seine Mitarbeiter kommuniziert. Auch hier wird deutlich: Er will das Alte mit aller Macht erhalten, bis er und seine Mitarbeiter durch schriftliche Anordnung gewissermaßen gezwungen werden, sich umzustellen. Die Vorgesetzte appelliert an den Mitarbeiter. Sie ruft ihm in Erinnerung, welche Argumente für die Veränderung sprechen: F (w): Ich hoffe aber, dass Sie auch die andere Seite verstehen, M (m): Ja, klar, als Postanschrift F: wir sind hier für Menschen da, die hier zur Miete wohnen in Anführungszeichen, und ich möchte auch nicht im eh, Haus, eh, Sonnenblume oder so wohnen, sondern ich wohne auch in der Beethovenstraße, und, eh, wie gesagt, ich kann das gut hören, aber die andere Seite ist einfach die, dass wir uns da auch als Organisation entwickeln wollen. Das wäre mir schon wichtig, dass Sie das auch Ihren Mitarbeiterinnen dann entsprechend weitervermitteln können. M: Ja, ich stehe noch nicht ganz dahinter, aber ich bin auf einem guten Weg.
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen F: Dass die Blockaden nicht ganz so groß sind. (lacht) für gewinnen, dass Sie den Weg weiter gehen. (SU MA IV)
Ich möchte Sie da-
Der Mitarbeiter kennt die Argumentation mit der „Postanschrift“ schon, ob er aber die ganze Dimension dessen verstanden hat, was die Vorgesetzte meint, wenn sie davon spricht, „dass wir uns da auch als Organisation entwickeln wollen“, ist eher unwahrscheinlich. Der von ihr angesprochene Paradigmenwechsel in der Sonderpädagogik von Segregation nach Integration (vgl. Feuser 1995) und die Veränderung der Sozialunternehmen von einer Stätte für Hilfebedürftige zum sozialen Dienstleister kann er nur bedingt nachvollziehen („ich stehe noch nicht ganz dahinter“), da er zu sehr in seiner persönlichen Arbeitssituation verhaftet ist. Die Vorgesetzte spricht von „wir“ und „uns“ und versucht, den Mitarbeiter so hinter sich und die Idee zu bringen, die hinter der Umbenennung der Gruppen steht. Sie gesteht dem Mitarbeiter seine Bedenken zu („ich kann das gut hören“), neben den übergeordneten Zielen der Organisation gelten diese aber nicht, und so wischt sie die Einwände sofort wieder weg und sagt ihm deutlich, dass sie von ihm erwartet, dass er die Ziele der Organisation mit trägt und ihre Entwicklung nicht blockiert. Sie will, dass er seinen Widerstand abbaut und danach („dann“) auch seine Mitarbeiterinnen überzeugt.
9.1.2 Verunsicherung durch Veränderung 9.1.2.1
„und den Leuten auch etwas Positives rüberzubringen an, an einer negativen Sache“
Die Art und Weise, wie im Sozialunternehmen Veränderungen vorgenommen werden, erinnert an die klassischen Ansätze der Organisationsentwicklung nach Lewin (s. Kap. 2.3.1). Ausgehend von der Problematik der Stigmatisierung der Bewohner durch die Gruppennamen wird ein Ziel formuliert, das für den Mitarbeiter kurz die „Postanschrift“ ist, und dessen Umsetzung angegangen. Im Vorfeld werden die Mitarbeiter über die geplanten Veränderungen informiert, jedoch ist aus den Aussagen des Mitarbeiters zu schließen, dass er als Küchenleiter nicht, wie es u.a. auch die Survey-Feedback-Methode vorsehen würde, an dieser eher pädagogisch-inhaltlichen Entscheidung bzw. Problemdiagnose beteiligt war (vgl. Schreyögg 2008, 420; vgl. Rosenstiel 2000, 414f.). Ihm, ebenso wie seinen Mitarbeitern, wird die Entscheidung lediglich bekannt gegeben und erläutert:
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F (w): Ich denke, Herr Menninghaus, immer wenn man irgendetwas neu organisieren muss, Veränderungen einbringt, eh, wie habe ich kürzlich in, in, bei dieser […]-Tagung gehört, da hieß es, eh, dass Einrichtungen wie wir Abwehrorganisationen sind. Das, denke ich, trifft es ganz gut, weil erst einmal sind wir alle auf Abwehr eingestellt. Überall verändert sich etwas, nur wir nicht. M: Weil es eben alte Strukturen sind. F: Und, ja, ich denke, das erleben Sie in Ihrem Bereich genauso, wie es auf einer anderen Ebene der Herr Walter bis hin zur Unternehmensleitung, die sich dem stellen müssen, und, eh, aber aus diesem Grund auch nicht sagen können, eh, wenn alle nicht wollen, dann machen wir es nicht. Ich denke, da kommen wir nicht vorwärts und, eh, es ist schwer, ja M: Ja, das ist aber schon schwer, auch dieses Kämpfen. Dieses, dieses Überzeugen und die Leute dann trotzdem zu motivieren und bei der Stange zu halten, und den Leuten auch etwas Positives rüberzubringen an, an einer negativen Sache, dass die also diese Einstellung bekommen. Wie jetzt bei der Frau Rosenthaler. Das, die mag die Küche nicht und wenn sie es nicht mag, mag sie es nicht, aber ich glaube, mittlerweile ist sie so weit, dass sie nicht mehr wo anders hin will. (F lacht). Trotzdem geht Sie morgen heim und sagt, sie mag die Küche nicht. F: Mhm. M: Ja, also, ich glaube, Sie verstehen, was ich meine. (2) Den, die Leute wirklich ein bisschen mit zu bewegen, sagen, jetzt komm jetzt, machen müssen wir es, sieh es ein bisschen positiv. (SU MA IV)
Wandel wird von der Vorgesetzten als eine Notwendigkeit beschrieben, die für die Entwicklung der Organisation im Sinne eines Verbesserns und „vorwärts“ Kommens unabdingbar, wenn auch nicht immer für alle Beteiligten angenehm ist. Sie nimmt dabei sich selbst und die Hierarchieebenen bis zur Unternehmensleitung nicht aus, wenn sie sagt, dass „Abwehr“ gegen Veränderungen eine normale Reaktion ist, meint aber wohl vor allem, dass jede Hierarchieebene mit dem Widerstand umgehen muss, der Veränderungen entgegengebracht wird. Der Mitarbeiter empfindet das „Überzeugen“ als Kampf. Seine Rolle im Veränderungsprozess besteht darin, eine bereits gefallene Entscheidung, an der er nicht beteiligt war und von der er nicht überzeugt ist, an seine Mitarbeiter weiterzugeben. Er selbst kann die Vorteile nicht sehen; er bleibt dabei, dass es eine „negative Sache“ ist; gleichzeitig weiß er, dass er seine Mitarbeiter nur „motivieren und bei der Stange […] halten“ kann, wenn er es schafft, ihre „Einstellung“ zu verändern. Er handelt dabei gegen seine eigene Überzeugung, weil er weiß, dass er keine Möglichkeit hat, sich der Entscheidung von oben zu widersetzen („machen müssen wir es“). Die Wahrscheinlichkeit, dass er seine Einstellung irgendwann tatsächlich ändert, ist unter diesen Umständen recht gering. Dies zeigen bspw. sozialpsychologische Untersuchungen zur erzwungenen Zustimmung („forced compliance“) im Rahmen der Dissonanztheorie (vgl. Festinger/ Carlsmith 1959). Die Mitarbeiterin „Frau Rosenthaler“ ist dafür das beste Beispiel: Sie hat sich
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
zwar an die Arbeit in der Küche gewöhnt, ihre negative Einstellung ihrer Tätigkeit gegenüber wird sie aber auch in Zukunft („morgen“) nicht ändern.
9.1.2.2
„das bekommt man doch regelmäßig gesagt“
Nicht nur die Sorge, dass das eigene Wissen und die eigene Kompetenz wertlos werden könnten, sondern auch das Nicht-sicher-Wissen in Form von Gerüchten innerhalb der Organisation erzeugen Unsicherheit und Angst: F (m): Nein, aber hat mir auch Spaß gemacht, und die Zusammenarbeit macht mir auch Spaß. M (w): Schön, mir auch. Das heißt, ich darf noch ein bisschen hier arbeiten. Ich muss nicht das Gefühl haben F: Dass du woanders arbeitest? M: Dass ich entsorgt werde. F: Hattest du das, hattest du das Gefühl zwischendurch? M: Ja, weil ich so alt bin. F: Weil du so alt bist? M: Mhm. F: (3) Heißt? M: Na, das bekommt man doch regelmäßig gesagt, man ist alt und teuer, und es kommen junge Kollegen nach. F: Das bekommst du aber nicht von mir gesagt. M: Nein, F: Da müssen wir jetzt trennen (lachend), das bekommst du nicht von mir gesagt. M: Nein, aber denke ich mir manchmal. (SU MA V)
Auch wenn die Mitarbeiterin davon spricht „das bekommt man doch regelmäßig gesagt“, scheint das Thema, dass ältere Mitarbeiter „entsorgt“ würden, nicht in dieser Form offiziell kommuniziert, sondern von ihr selbst aus verschiedenen Informationen zusammengereimt worden zu sein. „Man“ bekommt gesagt, „man ist alt und teuer“. Weder benennt sie denjenigen, der dies gesagt haben soll, noch hat dies jemand direkt zu ihr gesagt. Es ist unklar, wer genau betroffen ist. Trotzdem wird in der Einrichtung darüber gesprochen und über mögliche Konsequenzen dieser Überlegungen nachgedacht. Die Mitarbeiterin hat den Eindruck, dass dies „regelmäßig“ geschieht und wohl demzufolge ernst zu nehmen ist. Sie fühlt sich bedroht („entsorgt“, „weil ich so alt bin“) und ist sichtlich beunruhigt. Sie spricht das Thema ganz am Ende ihres Jahresgesprächs an und hat wohl damit gerechnet oder befürchtet, dass der Vorgesetzte sie im Gespräch darauf ansprechen würde. Nachdem er dies nicht tut, verschafft sie sich selbst Gewissheit. Durch seine Distanzierung („das bekommst du nicht von mir gesagt“) schafft es der Vorgesetzte aber nicht, das Gerücht vollständig auszuräu-
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men. Die Ungewissheit kann im schlechtesten Fall dazu führen, dass die Mitarbeiterin demoralisiert und demotiviert wird, dass sie von der Angst um ihre Arbeit gelähmt wird und dass ihr Interesse an der Arbeit sinkt, weil diese entwertet wird und als verzichtbar angesehen wird.
9.1.3 Veränderung und Stabilität 9.1.3.1
„diese Beziehungsfindung oder Stabilisierung oder Konsolidierung“
In Kapitel 7 wurde gezeigt, dass Veränderungen in der Organisation, bspw. ein Wechsel in der Einrichtungsleitung, nicht nur für Unruhe im Team, sondern, je nach Art der Einrichtung, auch unter den Klienten sorgen kann. F (m): Ich meine, das ist natürlich durch das Vakuum, das wussten wir, wenn der Herr Lederer geht, durch den Zeitpunkt, wie er gegangen ist, also diese Schnelligkeit, dann diese Lücke, die dann da war, war ja klar, dass ein Machtvakuum entstanden ist, also Sie würden jetzt sagen, diese Beziehungsfindung oder Stabilisierung oder Konsolidierung des Wohnbereiches nach innen ist jetzt, was die Bewohner betrifft, die Betreuer betrifft, haben die das jetzt zur Kenntnis genommen? M (w): Ja. Also, ich denke, das ist schon, wie gesagt, immer noch der Punkt, ehm, wo sie sehr wohl wissen, die Bewohner, ich bin, die Annette ist jetzt WBL, die, ehm, (6) ah, ja, ich denke, das ist eine Mischform zum Teil schon noch. (SU FK II)
Nicht nur unter den Betreuern, die eine neue Vorgesetzte aus ihren eigenen Reihen akzeptieren müssen, sondern auch unter den Bewohnern kommt es durch den Leitungswechsel zu einer Destabilisierung. Das „Machtvakuum“, das durch den abrupten Weggang des vorherigen Leiters entstanden ist, wird von allen Beteiligten, Mitarbeitern wie Bewohnern, genutzt, um neue Spielräume und Spielregeln (vgl. Crozier/ Friedberg 1993, 248) auszuloten. „Stabilisierung“ oder „Konsolidierung“ sind deshalb in diesem Kontext gleichbedeutend mit „Beziehungsfindung“. An diesem Punkt reicht auch das alleinige „zur Kenntnis nehmen“ oder „Wissen“: „die Annette ist jetzt WBL“ nicht aus. Die „Beziehungsfindung“ ist insbesondere unter den in den vorangegangenen Kapiteln dargestellten strukturellen Rahmenbedingungen im Sozialunternehmen ein langwieriger Prozess der Neudefinition von Rollen, Beziehungen, Spielräumen und Kompetenzen, der entscheidende Auswirkungen auf den Einarbeitungsprozess eines neuen Mitarbeiters oder einer neuen Führungskraft hat.
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
Eine geklärte vertrauensvolle Beziehung ist auch für die Zusammenarbeit von pädagogischem Dienst und den Mitarbeitern in den verschiedenen Einrichtungen notwendig: F (m): War am Anfang so Misstrauen mit drin, oder? M (w): Ja. F: Also auch, was bleibt unter uns?, oder was, was, weil das kann ja immer bei einem WBL so dieser Punkt sein, so diese Doppelstruktur, dass sie einerseits so ja wissen, der pädagogische Dienst, eh, ja, mehr für das Pädagogische zuständig, soll nicht so für das Team zuständig sein, aber gleichzeitig wissen sie, die pädagogischen Dienste in ihrer Funktion sitzen auch mit der Einrichtungsleitung zusammen, und gerade, wenn es so einen Punkt mit Team gibt M: eben mhm, und er hat mich am Anfang in beiden Teams vorgestellt als vorläufig, das war ganz auffallend. Es kam häufiger, ist ja nur vorübergehend und nur vorläufig, und ich habe sie dann einmal darauf angesprochen, weil ich einfach, mir Informationen gefehlt haben, na ja, Sie sind ja, Sie machen das doch nur vorläufig, und ich hab ja nicht gewusst. Und dann habe ich gesagt, na dieses vorläufig. F: Aber dieses vorläufig hat für alle, für alle Beteiligten etwas Wackeliges gehabt. M: Mhm. F: Also für dich mit Sicherheit ja auch. Also wie tief lasse ich mich auch auf sie, auf die ganze Sache auch ein? M: Ich hatte nicht das Gefühl, dass es vorläufig ist, F: Mhm. (SU MA V)
Strukturell wird die Zusammenarbeit mit dem pädagogischen Dienst für die Wohngruppen dadurch erschwert, dass allen bewusst ist, dass dieser nicht nur den Teams in den Wohngruppen bei pädagogischen Fragen zur Seite steht, sondern auch die Einrichtungsleitung bei Schwierigkeiten mit den Teams berät. Obwohl die Mitarbeiter des pädagogischen Dienstes nicht weisungsbefugt sind und über keine formale Macht verfügen, lässt diese Zwitterstellung die Teams in einer permanenten Unsicherheit im Hinblick darauf, inwieweit sie dem pädagogischen Dienst vertrauen können und inwieweit sie mit ihm auch offen über wohnbereichsinterne Probleme sprechen können, für die Schwierigkeiten im Team verantwortlich sind. Das alte Dilemma sozialpädagogischer Tätigkeit zwischen Hilfe und Kontrolle wird wieder deutlich (s. Kap. 7). Im oben aufgeführten Beispiel wird bei einem Wechsel der Zuständigkeit des pädagogischen Dienstes in zwei Wohngruppen die neue Mitarbeiterin zudem ausdrücklich nur als „vorläufig“ vorgestellt. Diese Information von der Einrichtungsleitung führt dazu, dass die Mitarbeiterin von den Wohngruppen nicht umfassend informiert wird und damit auch die Zusammenarbeit zwischen Wohngruppe und pädagogischem Dienst nicht effektiv ablaufen kann. In der Anfangsphase besteht eine Unsicherheit („etwas Wackeliges“) und ein „Misstrauen“ von
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Seiten des Teams, das durch die von oben kommunizierte Vorläufigkeit der Zuständigkeit noch verstärkt wird. Auch hier ist erst eine Klärung der Beziehung nötig, um die Voraussetzungen für eine gute Zusammenarbeit zu schaffen. Wie bereits in Kapitel 7 herausgearbeitet, erschweren die formalen Strukturen mitunter die Beziehungsklärung. Dass die Beziehungsebene stimmt, ist für pädagogisches Arbeiten unentbehrlich. In pädagogischen Institutionen kann dieser Prozess nur unter Einbezug der Klienten stattfinden. Deshalb ist es nahe liegend, dass Fischer die zentrale Aufgabe pädagogischer Führung „in einer sich verändernden Welt“ darin sieht, „Stabilität und Wandel in einem gesunden Maß in Balance zu halten“ (Fischer 2001, 20). Sie soll „einerseits dafür sorgen, dass das Ausmaß von Veränderungen so niedrig gehalten wird, dass Sicherheit und Geborgenheit als Voraussetzung für die gesunde seelische Entwicklung von Kindern und Erwachsenen gegeben ist. Andererseits hat sie aber auch die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass notwendige Veränderungen eingeführt und durchgesetzt werden“ (ebd.). Die folgenden Beispiele aus dem Sozialunternehmen zeigen, dass auch beim Thema „Veränderung“ immer deren Auswirkungen auf Kinder, Bewohner oder Betreute mitgedacht werden müssen und dass nicht nur im Zentrum steht, ob und wie der einzelne Mitarbeiter mit Veränderungen klar kommt: M (m): Eh, es war einfach auch, eh, eine sehr ungewisse Zeit für die Gruppe, weil eh, ein Wechsel stattfand, es waren auch Kinder eh, in der Gruppe, die langjährig bei der einen festen Bezugsperson waren, und durch den Umbruch war natürlich auch die Gruppe ziemlich konfus, kann man sagen, ziemlich wild, und das war schon am Anfang schwierig dann eben, eh, dass wir das gemeinsam miteinander eben einfach eine Gruppe bilden, die war wirklich durch den Wind. […] F (m): (3) Also, Sie haben am Anfang schon unter diesen Nachwehen, dieser dieser starken (1) Personalveränderung, dieser Wechselzeit zu leiden gehabt, dass da einiges an Wechsel vorher war sowieso, und auch Kinder gewechselt haben, Kinder noch alte Bezüge irgendwo hatten. Das alles war sicher auch nicht einfach. M: Auch die Gruppe war, hatte darunter gelitten, das war einfach, ja, auch früher eine starke Bindung zu dem Vorigen, eh ja, das war einfach anfangs dann schon schwierig. F: Was haben Sie da jetzt für ein Gefühl, wie lange ungefähr, eh, haben Sie dann, eh, hat man dann gebraucht, um so ein bisschen eine Linie reinzubekommen, wo Sie gemerkt haben, jetzt geht es besser? M: Also ich habe das ja nicht miterlebt, wie es vorher war, aber es ist einfach dann auch durch Erzählungen so gewesen, dass es dann, wie wir dann als festes Team, also die Frau Mende und ich, dass das fest, dass das klar war, dass wir als festes Team hier drin sind, dass das besser geworden ist. F: Und auch schon relativ schnell. M: Es war ja teilweise so in der, in der ungewissen Phase, dass da Gelder wirklich aus dem Fenster raus sind und solche Sachen, und wir haben dann miteinander einfach die Regeln aufgebaut, miteinander dann wirklich feste Strukturen reingebracht dann auch, ich meine, die waren vorher bestimmt auch da, aber das war einfach vorher
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen F: Aber auch pädagogisch war alles aus dem Lot geraten, M: der Vorgänger hatte eben eine gute Bindung zu den Kindern, und eh, damit waren feste Regeln nicht sehr, für ihn, nicht so wichtig. Er hat ja davon sowieso nichts davon gehalten und bei ihm hat das dann geklappt. Und dann haben wir eben Regeln eingeführt F: Damit überhaupt wieder Struktur und Ordnung reinkommt. M: Struktur reinkommt. Und dann auch angefangen, weil mit dem Essen hat das dann, haben wir auch angefangen eben Struktur reinzubringen, wir teilen aus, wir machen das, bis es wieder klappt. F: Mhm, mhm, um das Chaos überhaupt ein Stück weit wieder in den Griff zu bekommen. M: Genau. Und dann ist das schon von vorn herein eh, besser geworden, klar. Was auch schwierig war, das waren die langjährigen Kinder, da eben ehm, eine Beziehung aufzubauen. Das war immer, das hat immer hinterhergehinkt, […] (SU MA VI)
Eine Reihe personeller Veränderungen in einer Einrichtung der Jugendhilfe hat die Kinder, die dort nach Schulschluss betreut werden, in den Augen des damals neuen Mitarbeiters vollkommen durcheinander gebracht: Er beschreibt die Gruppe, wie er sie damals übernommen hat, als „ziemlich wild“, „konfus“ und „durch den Wind“. Dies begründet der Mitarbeiter vor allem mit der starken Bindung, die die Kinder zu seinem Vorgänger hatten. Die Unruhe, die durch den personellen Wechsel entstanden war, wurde durch die „gute Bindung“ verstärkt, die der Vorgänger zu den Kindern hatte: einerseits, weil es dadurch für den neuen Mitarbeiter und seine Kollegin schwerer war, selbst eine Bindung zu den Kindern aufzubauen; andererseits, weil die Beziehung zwischen Kindern und ehemaligem Gruppenleiter „feste Regeln“ ersetzt hatte. Die Gruppe so zu leiten, ist für den Mitarbeiter aber stark personenabhängig, denn er betont: „bei ihm hat das dann geklappt“. In der chaotischen Situation jedoch, in der der neue Mitarbeiter die Gruppe übernimmt, sind die Kinder weder allgemein gültigen Regeln noch einer affektiven Beziehung verpflichtet. Das neue Team muss also in jeder Hinsicht bei Null anfangen in seinen Bemühungen, „einfach eine Gruppe [zu] bilden“, „Linie reinzubekommen“, „Struktur“ und damit Orientierungspunkte für den Umgang miteinander in der Gruppe zu schaffen. Aber nicht nur auf pädagogischer bzw. auf der Beziehungsebene war alles „aus dem Lot“ geraten, auch auf organisatorischer Ebene gab es durch fehlende Regeln und Zuständigkeiten Schwierigkeiten. So beschreibt der Mitarbeiter, „dass da Gelder wirklich aus dem Fenster raus sind“. An dieser Stelle fällt der Vorgesetzte dem Mitarbeiter ins Wort, und schwenkt wieder auf den pädagogischen Aspekt um („Aber auch pädagogisch war alles aus dem Lot geraten“). Die Finanzen interessieren ihn an dieser Stelle wenig, er möchte mehr über die Arbeit mit den Kindern erfahren. Vor dem Hintergrund des Gesprächs kann dafür nicht nur die Priorisierung pädagogischer gegenüber ökonomischen oder organi-
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satorischen Fragen verantwortlich sein, sondern auch Differenzen gerade auf der pädagogischen Ebene, die Vorgesetzter und Mitarbeiter auch noch zum Zeitpunkt des Gesprächs haben und für deren Klärung das Gespräch genutzt werden soll. Seit sicher ist, dass der Mitarbeiter und seine Kollegin bleiben und nun ein „festes Team“ bilden, kehrt in der Wahrnehmung des Mitarbeiters wieder Ruhe in der Gruppe ein. Er stellt aber fest, dass sich alle anderen Bereiche, die durch den personellen Wechsel beeinträchtig worden waren, schneller beruhigt haben; die Beziehungsebene hat „immer hinterhergehinkt“. Die Beziehungsfindung geht über eine rein formale Rollenklärung hinaus. Das von Katz und Kahn (1978) stammende Konzept der Rollenepisode beschreibt den Prozess der Rollenübernahme von der Sendung von Rollenerwartungen der Teammitglieder bis zum entsprechenden Rollenverhalten des Rollenempfängers. Beziehungsfindung liegt auf einer tieferen, persönlicheren Ebene und ist noch stärker als die Rollenfindung von interpersonalen und persönlichen Faktoren abhängig (vgl. ebd., 197). Hier geht es weniger um Funktionalität und Verhaltenserwartungen als um Vertrauen und eine affektive Verbundenheit, die unabhängig von formalen Regeln und Strukturen bzw. über sie hinaus existiert und auch einen erheblichen Einfluss darauf hat, wie eine Rolle ausgefüllt wird (vgl. ebd., 217). Entsprechend schwierig gestaltet es sich, nach einem personellen Wechsel an eine bestimmte Person gebundene Praxismuster zu ersetzen. Eine Möglichkeit, diese Phase zu bewältigen, sind straffe neue Regeln, die erst später wieder durch eine stärker emotionale Bindung ersetzt werden können. Wie sich bereits in Kapitel 7 in Verbindung mit Führung gezeigt hat, sind hier zunächst klare Rollendefinitionen und affektive Neutralität notwendig, bis sich die neue Ordnung stabilisiert hat.
9.1.3.2
„den Kindern eine Raumumstellung zuzumuten, kann man eigentlich nur einmal im Jahr bringen“
Nicht nur personelle Veränderungen können Bewohnern, Kindern und Jugendlichen zu schaffen machen, auch Veränderungen des pädagogischen Raumes können insbesondere bei Kindern Unsicherheiten auslösen. Dies zeigt ein Probezeitgespräch mit einer neuen Mitarbeiterin eines Kindergartens: M (w): Und dann haben wir eben noch einmal darüber gesprochen, schon gleich an dem Tag, an dem die Umstellung war, da habe ich auch herausgehört, dass sie es eigentlich trotzdem gern noch anders hätte mit dem Bauteppich, und dass der der das Sofa anders stehen soll. (2)
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen Ja, da habe ich mir gedacht, weshalb macht sie es denn dann erst. Und und, als wir dann darüber gesprochen haben, und dann haben wir gesagt, im Zuge der Faschingsumstellung wollen wir es dann richtig machen. Da ist es mir jetzt dann egal, ob sie das macht, wenn ich da bin oder nicht, weil jetzt haben wir darüber gesprochen, was wir wo haben wollen und wie wir es haben wollen und ehm, dann macht es mir jetzt nichts mehr aus, aber da habe ich mich einfach wirklich (1) F (w): Warum findest Du es schlimm, mehrmals im Jahr umzustellen? M: übergangen gefühlt Weil ich jetzt die Erfahrung gemacht habe letztes Jahr bei Timo [Sohn von M, der auch in der Gruppe ist] ehm, der hatte wahnsinnige Schwierigkeiten damit, der wollte nicht mehr in den Kindergarten gehen, weil der Raum anders war. Und ich denke mir eben, die Kinder zeigen das nicht hier, aber daheim haben sie vielleicht wirklich Schwierigkeiten damit, dass das anders ist, und darum habe ich mir gedacht, das sollte man nur einmal im Jahr machen, so eine, so eine richtige Umstellungsveränderung, dass die Bauecken wo anders sind, dass die Stühle und Tische wo anders stehen, dass (SU PZ MA III)
Die Mitarbeiterin äußert sich gegenüber ihrer Vorgesetzten sehr vorwurfsvoll darüber, dass ihre Kollegin in ihrer Abwesenheit einige Veränderungen an Aufteilung des Gruppenraumes vorgenommen hat. Der Ärger der Mitarbeiterin rührt vermutlich von dem Zwiespalt her, in dem sie sich befindet: Sie fühlt sich einerseits „übergangen“ und würde gerne in einer weiteren Aktion ihre eigenen Vorstellungen von einer guten Raumaufteilung mit einbringen („Da ist es mir jetzt dann egal, ob sie das macht, wenn ich da bin oder nicht, weil jetzt haben wir darüber gesprochen“), andererseits möchte sie den Kindern keine weitere Veränderung („so eine richtige Umstellungsveränderung“) zumuten. Ihre pädagogischfachliche Haltung wird durch die persönliche Betroffenheit ihres Sohnes verstärkt, der bei der letzten Umräumaktion in der Kindergartengruppe große Probleme hatte und nicht mehr in den Kindergarten gehen wollte. Die Mitarbeiterin beschreibt nicht genau, wie sich dies geäußert hat, aber aus der Tatsache, dass er „wahnsinnige Schwierigkeiten“ hatte und er nicht mehr in den Kindergarten gehen wollte, kann man wohl schließen, dass es ihm nicht nur nicht gefallen hat, sondern dass er von der Veränderung („dass das anders ist“) stark verunsichert war. Eine unnötige Veränderung („weshalb macht sie es denn dann erst“) soll also im Interesse der Kinder unbedingt vermieden werden. Auch wenn die Unzufriedenheit mit der Raumaufteilung, also pädagogische Überlegungen zum Raum, der Auslöser für die Umstellung gewesen sein mögen, im Gespräch mit der Vorgesetzten wird nicht weiter besprochen, ob eine veränderte Gestaltung des Gruppenraumes für die Kinder möglicherweise auch anregend sein könnte und neue oder bessere Lern- und Erfahrungsräume eröffnen könnte (vgl. Liebau 1997, 56). Die Frage der emotionalen Sicherheit der Kinder, die möglichen nega-
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tiven Konsequenzen von Veränderungen und, wie sich später noch zeigen wird, deren Vermeidung oder Bewältigung haben Vorrang vor Überlegungen zu den Bildungsmöglichkeiten des Raumes (vgl. Becker et al. 1997, 15). Die Vorgesetzte nimmt die Bedenken ihrer Mitarbeiterin ernst und versucht mit ihr herauszufinden, wie man künftig mit solchen Situationen, in denen Veränderungen anstehen, umgehen könnte: F (w): Könntest du dir vorstellen, dass du das entschärfst für Kinder, wie den Timo, indem du sie miteinbeziehst? Also gerade die Großen. (2) Ihnen bewusst machst, dass das vielleicht ungut, unglücklich ist, so wie es ist, dass man eine andere Lösung sucht, so wie sie sich das vorstellen können. M (w): Ich denke schon, dass man da vorher darüber reden muss, ich weiß nicht, wie das letztes Jahr gelaufen ist, aber er hat da echt Schwierigkeiten gehabt, er wollte nicht und er fand es blöd, wie das Zimmer jetzt ist. F: Mhm, gut, ob sie dann mit dem dem umgestellten Raum (1) zurecht kommen, ist auch noch einmal M: und ehm aber man muss vorher darüber F: etwas anderes, ne M: reden und und, ja (4) ich denke schon, dass er es jetzt besser hinnimmt, aber ich denke, wenn, es geht vielleicht mehreren Kindern so, darum habe ich mir gedacht, mh, F: Ja, glaube ich auch, dass das für mehrere Kinder ein Problem sein kann. M: Ja. (4) Mal sehen, also wenn wir da, jetzt war es keine großartige Veränderung, jetzt waren ja wirklich nur die Ecken und Tische, eh, es ist alles gleich geblieben, nur nur dass zwei Schränke eigentlich wo anders stehen F: aber das war genau das, was du, wo du gesagt hast, warum hat das sein müssen M: das wäre nicht nötig gewesen, das wäre jetzt überhaupt nicht nötig gewesen, weil, es hätte ausgereicht die Spielsachen umzuräumen, da hätte man jetzt nicht die Schränke dazu umstellen müssen, (2) ja es war ei- (2) ja es war war einfach, dass ich mich übergangen gefühlt habe, das war eigentlich so für mich das Schlimmere. Ja. (SU PZ MA III)
Die Vorgesetzte nimmt zum einen der Situation ihre Brisanz, indem sie bestätigt, dass auch andere Kinder Probleme mit der räumlichen Veränderung haben können. Damit findet die Mitarbeiterin weg von ihrer persönlichen Betroffenheit durch ihren Sohn und kann aus einer sachlich-fachlichen Perspektive der Frage nachgehen, wie man Kindern wie Timo, aber eben nicht nur Timo, helfen könnte. Die Vorgesetzte schlägt vor, die Kinder dazu direkt in die Umgestaltungen mit einzubeziehen und sie nach ihren Vorstellungen zu fragen. Auf diesem Weg weg von der eigenen Person hin zur pädagogischen Aufgabe scheint die Mitarbeiterin auch Distanz zu ihrem Ärger zu bekommen. Während sie laut überlegt und immer wieder Pausen macht, um nachzudenken, kommt sie schließlich zu dem Ergebnis, dass das „Schlimmere“ für sie die Tatsache war, übergangen worden zu sein. Damit hält sie an ihrer Kritik an der unnötigen Umräumaktion
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
fest, kann aber weniger emotional nach einer Lösung suchen. Der Vorschlag der Vorgesetzten wiederum setzt genau dort an, wo auch die Modelle zur Überwindung von Widerständen gegen Veränderung im Rahmen der Organisationsentwicklung ansetzen: Sie versuchen, diejenigen, die vom Wandel betroffen sind und die auf die Veränderungen mit Angst und Unsicherheit und in Folge dessen auch mit Abwehr reagieren könnten, in die Entscheidungsfindung mit einzubeziehen (vgl. Schreyögg 2008, 411). Nicht zuletzt geschieht dies auch durch die gemeinsame Lösungssuche mit der Mitarbeiterin.
9.1.4 Veränderung, Partizipation und Macht 9.1.4.1
„Frust würde ich das nicht nennen, es ist eher ein Stück Unverständnis“
Veränderungen sollen Sinn machen, sie sollen nicht unnötig vorgenommen werden, dazu sind vor allem auch aus pädagogisch-fachlicher Perspektive ihre Kosten zu hoch. Tun sie dies nicht, sind die Gründe für neue Arbeitsabläufe, Raumgestaltungen oder Kompetenzzuweisungen aus fachlicher Perspektive nicht nachvollziehbar, stoßen sie, wie obiges Beispiel schon gezeigt hat, auf Unverständnis („das wäre nicht nötig gewesen“) oder können, wie ein Vorgesetzter befürchtet, auch „Frust“ auslösen und die „Motivation“ der Mitarbeiter bremsen: F (m): Ehm, also ich, ich habe das als Veränderung erlebt, dass solche Punkte, wie zum Beispiel Belegungsbesprechung früher noch mehr in der Bewohnerrunde angesiedelt waren, und jetzt im Moment, zwar immer wieder heißt es, das kommt, wird dann auch in der Bewohnerrunde, also in unserer Runde, in die du dann eingebunden bist, wird es besprochen, aber es wird immer wieder auch, werden immer wieder Sachen auch herausgenommen vom Chef, weil er dann sagt, das bespricht er mit dem Herrn Böttcher allein, oder das wird immer wieder herausgenommen, so da gebe ich einen Projektauftrag jetzt an die Wohnbereichsleiter. M (w): Mhm, mhm. F: Und ich könnte mir vorstellen, dass das manchmal auch Frust, deswegen M: Ehm F: Motivation und Frust, eh, M: Frust würde ich das nicht nennen, es ist eher ein Stück Unverständnis. Ich denke, da setzt man jetzt diese drei WBLs zusammen und die sollen diese Gruppen zusammensetzen, da guckt logischerweise auch jeder ein Stück F: auf seinen Bereich M: auf seinen Bereich. Warum kann da nicht noch ein Unabhängiger, oder einer von ein bisschen außen, der aber alle Bewohner kennt, und das noch ein bisschen steuern? Das verstehe ich einfach nicht. F: Ja Ja, ja. M: Das hat weniger mit Frust zu tun.
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F: Ok, ja. M: Das sehe ich einfach anders. (SU MA V)
Hier geht es um Veränderungen durch Entscheidungen des nächsthöheren Vorgesetzten. Vom Vorgesetzten wird dieser im Gespräch nicht namentlich erwähnt, sondern immer nur unpersönlich und distanziert als der „Chef“ betitelt. Ohne Rücksprache mit seinen verantwortlichen Mitarbeitern verteilt dieser Aufgaben und Zuständigkeiten neu und entzieht seinen Mitarbeitern damit Kompetenzen und Mitsprachemöglichkeiten. Dies tut er „immer wieder“, wie der Vorgesetzte bei der Beschreibung der aktuellen Situation mehrmals wiederholt. Entgegen der Erwartung und teilweise auch zur Erleichterung des Vorgesetzten versichert die Mitarbeiterin aber, dass dies bei ihr keinen „Frust“ ausgelöst habe. Etwas missbilligend, aber sachlich, begründet sie ihr „Unverständnis“ über die Entscheidungen von oben. Während des Gesprächs bleibt sie sehr ruhig, fast schon gleichgültig. Es geht ihr nicht um ihren persönlichen Einfluss in der Einrichtung, aber sie kann die Gründe für bestimmte Entscheidungen nicht nachvollziehen, insbesondere die Tatsache, dass in der Einrichtung vorhandene Kompetenz („einer von ein bisschen außen, der aber alle Bewohner kennt“), die sie bei sich sieht, nicht genutzt wird, um für alle Beteiligten sinnvolle und gerechte Entscheidungen zu treffen. So werden die Entscheidungen als gegeben hingenommen und wie vorgegeben durchgeführt, was sich aus den Formulierungen im Indikativ Präsens „es wird immer wieder“, „weil er dann sagt“, „so da gebe ich einen Projektauftrag“ etc. schließen lässt. Dieses Beispiel zeigt den Fall eines „Chefs“, der die Position schon seit einigen Jahren bekleidet und „immer wieder“ im Alleingang Entscheidungen trifft. Von den Mitarbeitern wird dies zwar registriert und kommentiert; aus dem Gespräch geht aber nicht hervor, ob dies dem gemeinsamen Vorgesetzten gegenüber angesprochen wird. Der Versuch des direkten Vorgesetzten, dies zumindest im Gespräch gegenüber seiner Mitarbeiterin zu problematisieren und damit möglicherweise auch entstandenen Frust aufzufangen, wird von der Mitarbeiterin nicht aufgegriffen. Das offensichtlich autoritäre Vorgehen des Chefs, das gegen alle Führungsleitlinien des Sozialunternehmens steht, wird von ihr fast ein bisschen zu leicht abgetan. Möglicherweise liegt hier eine Tabuisierung von Machtund Hierarchiestrukturen sowie der eigenen Machtansprüche vor, was sich aus der Tradition der kritischen Erziehungswissenschaft heraus erklären lässt (Pongratz et al. 2004). Stattdessen ziehen sich die Mitarbeiter auf einen fachlichen Standpunkt zurück.
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
9.1.4.2
„das sind einfach Dinge, da kämpfe ich schon jahrelang“
So wenig sinnvoll aus der Sicht der Mitarbeiter manche von oben angeordnete Veränderung sein mag, so wenig nachvollziehbar ist für sie auch das Ausbleiben von Veränderungen, die zur Verbesserung der Lebens-, Wohn- und Lernbedingungen der Klienten beitragen könnten: M (m): Ich bin nicht un-, eh, unzufrieden mit meiner Arbeit, um Gottes Willen F (w): Nein, M: in keinster Weise, sondern ich sehe einfach Dinge, die man anders regeln könnte, die man abstellen könnte mit Kleinigkeiten, mit baulichen minimalsten Veränderungen, und das sind einfach Dinge, da kämpfe ich schon jahrelang, da habe ich schon bei der Frau Graf damals darum gekämpft, da habe ich gesagt, wir werden, wenn das dann eben so schlimm ist, dass die Feuerwehr da nicht reinfahren kann, machen wir eben einen mobilen Zaun, ja, den man abends wieder abbaut, F: ja M: ja, aber das ist dann schon gar nicht mehr weiter gedrungen, an die Obrigkeit, also, ich denke, das ist ja auch mein Job, ich bin ja Anwalt für die Bewohner, ich muss mir Gedanken machen, wie kann ich ihnen etwas erleichtern und verbessern, und das hat nichts mit meiner Motivation zu tun. (SU MA II)
Wie die Mitarbeiterin im obigen Beispiel weist dieser Mitarbeiter hier weit von sich („um Gottes Willen“, „in keinster Weise“), dass sich das Ausbleiben der Veränderungen auf seine Motivation auswirken könnte. Seine fachliche Haltung, die sich aus seinem professionellen Selbstverständnis speist, „Anwalt für die Bewohner“ zu sein, lässt nicht zu, dass seine „Motivation“ durch die vergeblichen Anstrengungen, Veränderungen durchzusetzen („da kämpfe ich schon jahrelang“), beeinträchtigt würde. Als Anwalt der Bewohner ganz im Sinne des Verständnisses der geisteswissenschaftlichen Pädagogik geht es ihm allein darum, optimale Bedingungen für die Bewohner zu schaffen. Er sieht, dass man Dinge „anders regeln könnte“; die Veränderungen müssten seiner Ansicht nach nur klein sein, um eine große Wirkung, eine große Entlastung für Betreuer und Betreute zu erzielen. Seine vorherige Vorgesetzte hat seine intensiven Bemühungen aber nicht unterstützt und seine Vorschläge nicht an die „Obrigkeit“, wie er die Einrichtungsleitung spöttisch nennt, weitergegeben. Warum sie dies nicht getan hat, bleibt unklar. An anderer Stelle im Gespräch wird aber deutlich, dass dies nicht nur einmal so war, denn er lobt an seiner neuen Vorgesetzten besonders, dass sie Anregungen aus dem Team zumindest immer sofort weiter leitet, auch wenn sie sich nicht immer durchsetzten kann. Den Ausgangspunkt für den Mitarbeiter bilden aber in jedem Fall seine Klienten („wie kann ich ihnen etwas erleichtern und verbessern“). Und so wird auch
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in anderen Gesprächen deutlich, dass die Initiative, etwas zu verändern, Altes zu reflektieren und zu überprüfen und Neues in Gang zu bringen, von Seiten der Mitarbeiter nicht auf organisatorischen, finanziellen oder Überlegungen zur Sicherung der eigenen Macht beruht, sondern in erster Linie auf pädagogischfachlichen: M (w): Tulpen-Team ist so, das haben wir aber schon immer so gemacht. Schon bei der Carla, glaube ich. F (m): Schon vor zwanzig Jahren also. M: Ja, also was ich da mitbekommen habe, meine Zeit, das war die Carla, das war, mit der war ich in der HEP28-Schule, also da denke ich mir, also irgendwann, könnte man einmal etwas Neues machen. F: Also nach zwanzig Jahren noch zu sagen, das haben wir immer gemacht, also, ohne zu überprüfen, es ist ja etwas anderes, ob ich sage, gut, ich überprüfe immer mal wieder und guck, was hat sich halt bewährt, und dann sind eben Teile dabei, die waren vor zwanzig Jahren schon gut und sind es heute noch und deswegen habe ich es, nehme ich es bewusst mit. M: Aber so pauschal. F: Aber so unreflektiert und pauschal zu sagen, das war eben früher so und dann machen wir es weiterhin so, also das löst auch Rebellion aus, und so lassen wir es nicht (lacht). Ja, so sehe ich das auch. Und es, gibt es, gibt es da einen Zugang, also kannst du, weil da wäre ja praktisch dann, wenn man so von der Teamentwicklung her gucken müsste, es wäre, auf zu neuen Ufern, auch einmal etwas Neues anfangen, eh, sich mit Altem kritisch auseinandersetzen. M: Ehm, bis jetzt noch nicht. Ich hoffe, dass das auch im Zuge von, wir haben ein bisschen mehr Zeit, dass ich da besser reinkomme. (SU MA V)
Die Bereitschaft, die eigene Praxis zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern, ist von Team zu Team unterschiedlich. Die Praxis im „Tulpen-Team“ wird von der Mitarbeiterin des pädagogischen Dienstes als „das haben wir aber schon immer so gemacht“ charakterisiert. Das „aber“ deutet auf eine Entgegnung hin, also auf eine Abwehr von bereits eingebrachten Vorschlägen der Mitarbeiterin, die der Meinung ist, dass es an der Zeit sei, „einmal etwas Neues zu machen“. Der Vergleich mit einer Kollegin, die mit ihr in der Ausbildung war, deutet darauf hin, dass sie auch im pädagogischen Bereich Dinge, die sie vor ca. zwanzig Jahren in ihrer Ausbildung gelernt hat, für überholt oder zumindest überdenkenswert hält. Weder ihr noch ihrem Vorgesetzten, der ihr zustimmt, geht es darum, alles anders zu machen und zu ändern nur um der Veränderung Willen. Beide halten es für sinnvoll, zwischen möglicherweise über Jahrzehnte Bewährtem und Dingen, die entwicklungsfähig sind, abzuwägen. Es soll eine Reflexion der aktuellen Praxis und eine bewusste Entscheidung für einen bestimmten Weg stattfinden. Einfach „unreflektiert und pauschal“ am Bisherigen 28
Heilerziehungspflege
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
festzuhalten, löst bei der Mitarbeiterin „Rebellion“ aus, interpretiert der Vorgesetzte die Äußerung seiner Mitarbeiterin. Ob dies tatsächlich so ist, oder ob der Vorgesetzte dadurch versucht, die Mitarbeiterin aus der Reserve zu locken und zu provozieren, bleibt unklar. Der Vorgesetzte positioniert sich mit seiner Äußerung trotzdem deutlich („so lassen wir es nicht“, „so sehe ich das auch“) und macht sein professionelles Selbstverständnis klar: Veränderungen sind aus pädagogischer Sicht wichtig und notwendig. Die Mitarbeiterin will das Team dabei unterstützen. Noch ist aber das Vertrauensverhältnis zwischen ihr und dem Team und auch der dortigen Wohnbereichsleitung nicht sehr stabil; sie hat noch keinen „Zugang“ gefunden, was die Teamentwicklung erschwert. Die Mitarbeiterin, die zum Zeitpunkt des Gesprächs sehr viele Teams betreut, hofft, dass sich das Verhältnis verbessert, wenn sie dem Tulpen-Team mehr Zeit widmen kann. Während bisher vom Team und von Teamentwicklung die Rede war, wird im weiteren Gesprächsverlauf deutlich, dass hier eigentlich die fachliche Ebene im Mittelpunkt steht: F (m): Ja. Zweite Frage wäre dann, fällt es dir auf, und fällt es der WBL auf, oder fällt es nur dir auf?, also was wird, wird eine Strategie daraus? Was macht man jetzt, wenn man das, wenn man das so feststellt? Und, siehst es nur du, das ist immer schwieriger natürlich, ne M (w): Mh, nein, nein ich glaube schon, dass es die WBL auch sieht, die lö-, hat aber, glaube ich, andere Lösungsansätze. F: Mhm, das war jetzt zwei Mal glaube ich, ne. (lacht) Ich glaube, dass sie es so sieht und ich glaube, dass sie andere Lösungsansätze hat. M: Mhm. F: War das schon Inhalt oder wäre das dann auch so ein Punkt, also wie entwickelt man auch so eine Gemeinsamkeit in der Entwicklung dieser Gruppe. M: Ja. (1) Ja. Haben wir ja schon einmal angefangen, dann kam wieder was weiß ich was dazwischen, aber F: Mhm. (schreibt) Gemeinsame päda-, also ich, einfach mal so als, als Gedanken, weil er gerade auftaucht im Gespräch, gemeinsame pädagogische Linie mit WBL entwickeln (schreibt) und zwar eher für die, für die Tulpen. M: Mhm. (SU MA V)
Das Ziel, das der Vorgesetzte schließlich festhält, lautet: „gemeinsame pädagogische Linie mit WBL entwickeln“. Es geht um die Entwicklung der ganzen „Gruppe“, also um die pädagogische Arbeit mit den Bewohnern, nicht um das Team. Die Teamentwicklung ist lediglich ein Mittel auf dem Weg („Strategie“) zur Veränderung der pädagogischen Praxis. Beiden ist bewusst, dass es einfacher wäre, Veränderungen durchzusetzen, wenn die Wohnbereichsleitung die Situation genauso sähe („Und, siehst es nur du, das ist immer schwieriger natürlich“). Die „Strategie“ ist also, zunächst ein Vertrauensverhältnis auf fachlicher Ebene, „so eine Gemeinsamkeit“ mit der Wohnbereichsleitung zu schaffen und davon
9.1 Sozialunternehmen
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ausgehend dann über die „Teamentwicklung“ die pädagogische Praxis zu verändern. Aus den Kommentaren der Mitarbeiterin („Ich hoffe, dass das auch im Zuge von, wir haben ein bisschen mehr Zeit, dass ich da besser reinkomme“ und „Haben wir ja schon einmal angefangen, dann kam wieder was weiß ich was dazwischen“) wird deutlich, dass es eine gewisse Zeit braucht, bis sich Beziehungen stabilisieren und gemeinsames Arbeiten Kontinuität erlangt. Der Klärung der Beziehungsebene wird als Basis für eine gute Zusammenarbeit große Bedeutung beigemessen. Erst eine gewisse Sicherheit auf der persönlichen Ebene, möglicherweise auch das Ausschließen-Können von Machtbestrebungen, schafft Offenheit für Veränderungen. Unter dem Gesichtspunkt der Stabilität und der Frage, ob eine Veränderung pädagogisch sinnvoll ist, ist auch der Zeitpunkt von Veränderungen von Bedeutung. Dies gilt für die Zusammenarbeit von Leitung, Betreuern und Fachdiensten ebenso wie für die pädagogische Arbeit mit den Klienten: F (m): […] Dass man, dass man die Zeit hier sehr gut und effektiv nutzt, und dass also dann auch so ein bisschen die Pädagogik, eh, ja, wie gehen wir miteinander um, dass es erkannt wird, wie wichtig Beziehungen sind, und trotzdem Struktur und Ordnungen. Ich denke, die meisten Regelungen und Strukturen sind vernünftig, trotzdem könnte man die sicherlich im Laufe der Zeit vielleicht noch ein bisschen konkretisieren und bewusst machen, was gilt überhaupt? M (m): Oder überarbeiten. F: Oder überarbeiten, wo braucht man es vielleicht, wo muss man sie vielleicht verändern, also die Dinge müssen ja oft modifiziert, weiterentwickelt werden, dass man das nicht statisch macht, weil es sich zufällig so ergeben hat, eh, und dass man sich dann damit im Laufe der Zeit so auch mit grundsätzlich pädagogischen Dingen, wie wir es auch jetzt über die kurze Konzeptionsbesprechung schon gemacht haben, eh, das würd ich sehr schön finden, dass wenn da im Laufe der nächsten Zeit, steht jetzt aber nicht unter Zeitdruck, eh, tatsächlich auch ein bisschen so die, die grundsätzlich pädagogischen Dinge jetzt in dem, in dem, in dem stabileren Team, die sind ja jetzt sehr stabil die beiden Teams, ich hoffe, dass sie das bleiben, dass man da mal wieder eh, eine Überprüfung irgendwie macht. M: Ja. (1) Ich meine, das tun wir ja ständig, zum Beispiel haben wir ja gesagt, wir müssen die Hausaufgabensituation ändern, oder solches, ne, einfach unsere Regeln, dann sehen wir uns auch die Regeln an, wenn wir miteinander Team haben, und, das ist eben auch, es kommen immer neue Kinder und damit ist das auch immer, das ist ja nicht immer für jedes Kind gleich. (SU MA VI)
Im Gespräch zwischen der neuen Einrichtungsleitung und dem Mitarbeiter geht es um die Bedeutung von „Regelungen“, „Strukturen“ und „Ordnungen“ im Verhältnis zu „Beziehungen“ für die Arbeit mit den betreuten Kindern. Der Vorgesetzte, dem im Augenblick im Umgang mit den Kindern Regeln und Ordnungen zu stark dominieren und dem der Beziehungsaspekt sehr wichtig ist, ist die treibende Kraft, wenn es darum geht, „im Laufe der Zeit“ „die Pädagogik“ zu verändern. „Pädagogik“ ist für ihn in dieser Einrichtung der Jugendhilfe, die er
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
leitet, gleichbedeutend mit „wie geht man miteinander um“. Auch hier sind es wieder die Kinder, die von den Veränderungen profitieren sollen. Letztlich sind sie es und nicht die Mitarbeiter der Einrichtung, die lernen sollen, wie man miteinander umgeht, und die begreifen sollen, „wie wichtig Beziehungen sind“. Dies können sie in diesem Falle am besten über die Beziehung zu ihren Betreuern bzw. über mimetische Lernprozesse nach dem Vorbild des Verhaltens der Mitarbeiter in der Einrichtung. Bevor die Kinder das Richtige lernen können, müssen also erst die Mitarbeiter etwas lernen bzw. sich auf pädagogischkonzeptionelle Veränderungen einlassen. Notwendige Bedingung für den Wandel ist für den Vorgesetzten, wie auch oben schon beschrieben, die Stabilität im Team. Auch an dieser Stelle ist interessant, wie der Vorgesetzte dem Mitarbeiter die aus seiner Sicht notwendige „Überprüfung“ der „grundsätzlich pädagogischen Dinge“ nahezubringen versucht. Durch die Wiederholung von Formulierungen, wie „im Laufe der Zeit“, „im Laufe der nächsten Zeit“ und „nicht unter Zeitdruck“ versucht er, die Dringlichkeit zu nehmen. Das Spektrum reicht von der reinen Klärung („konkretisieren und bewusst machen“) über gezieltes Verändern („überarbeiten“), Abwägen zwischen Bewährtem und Überholtem, was die Möglichkeit beinhaltet, dass „vielleicht“ gar nichts verändert werden muss („wo braucht man es vielleicht“), über die allgemeine Selbstverständlichkeit der Notwendigkeit von Veränderungen („die Dinge müssen ja oft modifiziert, weiterentwickelt werden“) bis hin zu einem persönlichen Statement für eine Veränderung („das würde ich sehr schön finden“) und steigert sich mit den Formulierungen von einem Können zum Müssen bzw. Verpflichten. Über das professionelle Selbstverständnis des Vorgesetzten macht dieser Abschnitt jedenfalls deutliche Aussagen: Pädagogische Praxis soll sich einer kontinuierlichen Selbstprüfung und Weiterentwicklung unterziehen. Es wird keine Zufälligkeit geduldet; was zählt, ist die bewusste und reflektierte Entscheidung für einen bestimmten Weg („dass man das nicht statisch macht, weil es sich zufällig so ergeben hat“).
9.1.4.3
„das kann kein Ziel sein“
In der Wahrnehmung der Mitarbeiter legt die Führungsebene keinen großen Wert auf Veränderungen, die von Seiten der Mitarbeiter angeregt werden: M (m): […] wenn es irgendwie machbar ist, dann wird das eben gemacht, und so erwarte ich das letztendlich auch von meinen Vorgesetzten und von den, von den Herren da oben, nicht nur immer zu sagen, räumlich und personell geht das nicht, die fragen nämlich gar nicht an der Ba-
9.1 Sozialunternehmen
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sis nach, ist denn das überhaupt irgendwie möglich?, wenn sie das nämlich manchmal tun würden, dann kämen wahrscheinlich wirklich konstruktive und gute Ideen dabei heraus. (SU MA II)
Änderungsvorschläge der Mitarbeiter werden durch den Rückzug auf strukturelle Gründe abgeblockt („räumlich und personell“). Dass dies nicht nur in der Wahrnehmung der Mitarbeiter so ist, zeigt sich in der Reaktion einer Vorgesetzten, die sich entsprechend klar und ebenso abweisend auf eine ambitionierte Idee ihres Mitarbeiters hin äußert, die darauf abzielt, die Position der noch ins Unternehmen integrierten Küchen zu stärken und zu verhindern, dass Caterer von außen die Versorgung übernehmen: F (w): Nein. Nein, aber eh, ich denke, das kann kein Ziel sein, wenn es nicht von der nächsthöheren Ebene in der Richtung forciert wird und wie gesagt, da gibt es ganz andere eh, Tendenzen und Absichten im Moment. Das ist ja nett, dass Sie sich da jetzt reinstressen und, und sich Gedanken machen, ich, ich denke das M (m): Nein, ich habe mich auch da jetzt nicht reingestresst, aber F: behalten Sie das einfach einmal im Hinterkopf, wenn sich die Situationen verändern. M: das ist eben etwas, was mir aufgefallen ist, dass wir eben die Essen kochen und nebenan wird es ausgegeben, und es gibt eigentlich immer so dieses, was habt ihr denn gekocht?, und derjenige, der es kocht, wenn er es gleich verteilen würde, das wäre eigentlich F: Nein, aber das ist wirklich ein unrealistisches Ziel für dieses Jahr. Kann ich einfach so sagen, das ist so. (SU MA IV)
Die Vorgesetzte versucht zwar, das Engagement ihres Mitarbeiters zu würdigen, klingt dabei aber sehr bemüht („Das ist ja nett“). Zunächst weist sie seine Vorschläge sehr entschieden ab („Nein“), kommt ihm dann aber doch noch ein Stück entgegen und scheint ihn nicht ganz entmutigen zu wollen („behalten Sie das einfach einmal im Hinterkopf“). Der Mitarbeiter reagiert enttäuscht, fällt seiner Vorgesetzten ins Wort und verteidigt seine Idee. Ohne dem Mitarbeiter die Hintergründe („da gibt es ganz andere eh, Tendenzen und Absichten im Moment“) genauer zu erläutern, beendet sie die Sequenz schließlich wieder ebenso entschieden wie zu Beginn („das ist so“). Es gibt über die Auseinandersetzungen zwischen Mitarbeitern und direkten Vorgesetzten keine Hinweise auf eine gemeinsame Diskussion, auf ein gemeinsames Nachdenken über die Entwicklung der Abteilungen. Viele Anregungen der Mitarbeiter verpuffen wohl, ohne dass eine Auseinandersetzung mit ihnen stattgefunden hat. Die Kompetenz der Mitarbeiter wird nicht genutzt, obwohl sie ein großes Veränderungspotential böte, denn zum einen sind die Mitarbeiter die eigentlichen Experten für die Bedingungen an ihrem Arbeitsplatz, und zum ande-
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
ren hätten Veränderungen, die aus den Reihen der Mitarbeiter angeregt worden sind bzw. in deren Umsetzung die Mitarbeiter einbezogen waren, eine weit höhere Chance auf Verwirklichung als von oben vorgegebene Veränderungen (vgl. Schreyögg 2008, 411ff).
9.1.5 Zusammenfassung Der Wissenstransfer zwischen den Mitarbeitern ist in unterschiedlichen Einrichtungen des Sozialunternehmens unterschiedlich stark institutionalisiert. Die Einführung eines Telefonverzeichnisses in einem Bereich der Behindertenhilfe, das nach Zuständigkeitsbereichen gegliedert ist, macht transparent, wer in der Einrichtung über welches Wissen verfügt, und erleichtert gezieltes Nachfragen und das schnelle Einholen von Informationen. Es gibt Einrichtungen, in denen beim Übergang in eine Führungsposition ein fester Ansprechpartner als Mentor angeben und zusätzlich auf Vorgesetzte und Kollegen verwiesen wird; in anderen Einrichtungen muss der Austausch unter den Mitarbeitern selbst organisiert werden und stößt dabei auf organisatorische Hindernisse, wie zum Beispiel die Personalknappheit oder die Teilzeitbeschäftigung vieler Mitarbeiter und die dadurch kaum vorhandene Überschneidung der Arbeitszeit sowie die räumliche Entfernung zwischen manchen Einrichtungen, die einen unmittelbaren Austausch von Erfahrungen und ungezwungenes Nachfragen aus einer konkreten Situation heraus erschwert. Insbesondere der Austausch von implizitem Wissen, der hauptsächlich über den direkten kollegialen Austausch erfolgt, wird dadurch erschwert.29 Unsicherheit bezüglich des eigenen Wissens und der eigenen Kompetenzen wird von den Mitarbeitern im Sozialunternehmen als etwas sehr Unangenehmes empfunden. Es löst Angst, Stress und vorübergehende Orientierungslosigkeit aus. Umgekehrt sorgt das Wissen um das eigene Wissen und die eigene Fachkompetenz und die Anerkennung derselben durch Kollegen und Vorgesetzte für Sicherheit bei der Aufgabenbewältigung, für Wohlbefinden und Stabilität. Die Mitarbeiter haben einen hohen Anspruch an ihre Fachkompetenz. Sie wollen diese in die Einrichtung einbringen und damit ihren ganz persönlichen Beitrag leisten. Dabei entsteht offensichtlich ein hoher Druck auf den Einzelnen, der sich 29
Modelle wie das Telefonverzeichnis können auch über Zuständigkeitsbereiche hinaus zu bestimmten Erfahrungen oder Fragestellungen erstellt werden, in die jeder Mitarbeiter seine spezifischen Kompetenzen einspeist, und erleichtern damit die Identifizierung der Wissensträger (Meinsen 2006, 20).
9.1 Sozialunternehmen
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in Übergangsphasen, sei es beim Antritt einer neuen Stelle, bei der Übernahme einer Führungsposition oder bei organisatorischen Veränderungen noch steigert und die Mitarbeiter verunsichert. Auch Gerüchte oder ein schlechtes Beziehungsgefüge unter Führungskräften, Mitarbeitern und Klienten führen zu einer latenten Unsicherheit und damit ebenfalls zu einer Schwächung der Leistungsund Funktionsfähigkeit der betroffenen Mitarbeiter und Teams. Im Hinblick auf Veränderungen innerhalb der Teams aber auch in der Gesamtorganisation sind die Klienten ein wichtiger Kristallisationspunkt: Veränderungen werden daran gemessen, ob sie pädagogisch sinnvoll oder vertretbar sind. Grundsätzlich hält man die Veränderung und die Reflektion des Bestehenden für notwendig, wenn es der pädagogischen Arbeit dient. Das heißt einerseits, dass Veränderungen dann eingefordert werden, wenn die Mitarbeiter der Meinung sind, dass die Wohn-, Lern- und Arbeitsbedingungen für die Klienten verbessert werden müssten. Andererseits werden Veränderungen, insbesondere dann, wenn sie von oben angeordnet wurden, auf ihre Verträglichkeit für die Klienten kritisch überprüft. Für die pädagogischen Mitarbeiter scheint dabei weniger entscheidend zu sein, grundsätzlich an Entscheidungen beteiligt zu sein bzw. Einfluss in der Organisation zu haben, als die pädagogisch-fachliche Nachvollziehbarkeit von Veränderungen. Dabei spielt die persönliche und fachliche Verantwortung für die Klienten eine wichtige Rolle, die ein Mitarbeiter mit dem Ausdruck „Anwalt“ für die Klienten beschreibt. Ob dieses Eintreten für die Interessen der Klienten nun tatsächlich immer als alleinige Motivation im Vordergrund steht, oder ob es hier auch um die Verbesserung und Erleichterung der eigenen Arbeitsbedingungen geht, kann aus den vorliegenden Gesprächen nicht beantwortet werden und sei dahingestellt. Anders könnte man argumentieren, dass hier persönliche und auch fachliche Werte wie Partizipation zugunsten der persönlichen Kongruenz geopfert werden. Denn vom fachlichen Standpunkt aus wird von den Mitarbeitern auch dann argumentiert, wenn sie von ihren Vorgesetzten auf mikropolitische Themen angesprochen werden: Alleingänge im Hinblick auf Veränderungen, also Entscheidungen, Vorgaben oder Aufträge, bzw. das Ausbleiben von notwendigen Veränderungen oder die Eigeninitiative, die ins Leere geht, haben laut Aussage der Mitarbeiter keine Auswirkungen auf ihre Motivation. Autoritäres Verhalten ihrer Vorgesetzten löst keinen Frust aus, sondern stößt lediglich auf fachliches Unverständnis. Der eigene Einfluss, das Einbringen der eigenen Kompetenzen ist lediglich aus fachlichen Gründen von Bedeutung. – Möglicherweise bedient man sich hier eines anerkannten Musters, der „Fachlichkeit“, um das Thema Macht bzw. Ohnmacht und eigenes Machtstreben umgehen zu können und damit nicht
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
in Konflikt mit den eigenen bzw. den professions- und einrichtungsspezifischen Werten zu kommen. Wandel benötigt im Sozialunternehmen einen stabilen Rahmen. Gerade aus pädagogischer Sicht ist die Balance von Stabilität und Wandel besonders wichtig. Die Ansätze, die zur Bewältigung von Wandel, für die Vermeidung von Ängsten und Widerständen herangezogen werden, sind für Erwachsene und Kinder, Mitarbeiter und Betreute ähnlich: In den Gesprächen wird von den Vorgesetzten empfohlen, die Mitarbeiter in Entscheidungen einzubeziehen und gemeinsam über Änderungen nachzudenken. Man setzt auf Partizipation und die Erläuterung der Notwendigkeit von Veränderungen. Umgesetzt wird das gemeinsame Nachdenken über Lösungsmöglichkeiten in der Realität aber möglicherweise eher auf der Ebene der Betreuten als auf der Ebene der Mitarbeiter. Was die Mitarbeiter betrifft, stößt man auch in den Gesprächen selbst häufig auf Situationen, in denen längst entschieden worden ist und nun im Nachhinein die Gründe erläutert werden. Ein weiterer bedeutsamer Aspekt für die Bewältigung von Wandel liegt in den Beziehungen, die sich durch organisatorische oder personelle Veränderungen ebenfalls wandeln oder erst neu entstehen müssen. Diese liegen auf einer zwischenmenschlichen, emotionalen Ebene und ergeben sich nicht automatisch aus formalen Rollen oder Positionen, stellen aber die Voraussetzung für Vertrauen und ein Gefühl von Sicherheit dar, das Einfluss darauf hat, inwieweit sich die Mitarbeiter auf Veränderungsprozesse einlassen.
9.2 Wirtschaftsunternehmen Im Wirtschaftsunternehmen wird der Wissensbegriff eher unspezifisch verwendet, wenn es bspw. um eine bestimmte Haltung geht oder um Erfahrung und Fachkompetenz. „Veränderungsbereitschaft“ ist als „Überfachliche Kompetenz“, die „bei jedem Mitarbeiter zu bewerten“ ist, thematisch vorgegeben. Interessant ist hier also nicht die Tatsache, dass „Veränderung“ in den Gesprächen thematisiert wird, sondern ob und wie das Thema in den Gesprächen aufgegriffen wird. Allgemein kann man sagen, dass Veränderungen, insbesondere auf organisationaler Ebene, nicht auffallend häufig oder ausführlich angesprochen werden. Das Mitarbeitergespräch ist kein Ort für die inhaltliche Auseinandersetzung mit organisationalen Abläufen. Nur ansatzweise wird der Zusammenhang zwischen der Tätigkeit des Mitarbeiters, den aktuellen Geschehnissen in der Abteilung und im Unternehmen und den Kompetenzen der Mitarbeiter hergestellt. Leider ist es an
9.2 Wirtschaftsunternehmen
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dieser Stelle nur eingeschränkt möglich, für das Wirtschaftsunternehmen etwas über den tatsächlichen Umgang mit Wissen und Veränderung im Arbeitsalltag zu sagen. Zu stark prägt hier der Aspekt der Beurteilung und der Blick auf die ideale Ausprägung der Kompetenzen per definitionem die Gespräche, so dass sowohl die Äußerungen der Mitarbeiter als auch die der Vorgesetzten eher als Teil der „espoused theory“ zu verstehen sind.
9.2.1 Wissen 9.2.1.1
„dass du deine Erfahrungsbasis so weit ausgebaut hast, dass du eben Sachen verknüpfen kannst“
Der Wissensbegriff wird selten direkt angesprochen, taucht aber indirekt immer wieder im Zusammenhang mit den überfachlichen, bei jedem Mitarbeiter zu bewertenden Kompetenzen „Querdenken“ und „Veränderungsbereitschaft“ auf: F (m): Querdenken ist es das gleiche. Sage ich auch die Drei. M (m): Habe ich auch. F: Ein Punkt, wo ich wichtig, wo ich wirklich sage, das ist wieder jetzt erwähnenswert, bringt andere dazu, über eigenes Aufgabengebiet hinweg Zusammenhänge zu erkennen und zu berücksichtigen M: Mhm. F: Wir haben Mitarbeiter dabei, bei manchen muss man es machen, denen muss man es erklären, bei manchen braucht man es nicht, dass es auch außerhalb unserer Abteilung noch etwas gibt, manche sind selbstverständlich, die verstehen es auch so, aber bei denen, die es nicht so ganz verstehen, dass man das einfach einmal das Wissen, einmal über den Tellerrand hinaus schauen, dass man das einmal weiterbringt. (WU FK VII)
Der Vorgesetzte geht an dieser Stelle über die rein numerische Bewertung „die Drei“ hinaus, weil ihm diese Fähigkeit seines Mitarbeiters, im Gegensatz zu manchen anderen aus dem Kompetenzkatalog („das ist jetzt wieder erwähnenswert“), sehr wichtig ist. Dabei geht es ihm nicht nur darum, dass der Mitarbeiter selbst quer denken, also Zusammenhänge erkennen und in seinem Handeln berücksichtigen kann, sondern auch darum, dass er auch andere dazu bringen kann, über ihren „Tellerrand“ hinauszublicken. Es geht ihm um ein ganzheitliches Wissen aller Mitarbeiter, im Sinne eines Überblicks, um „Zusammenhänge“ sowie um Wissen über die Organisation, also auch über die eigene Abteilung und das eigene konkrete Tätigkeitsfeld hinaus. Und mehr noch als um das spezifische Wissen geht es ihm um die dahinter stehende Haltung („selbstverständlich“). Das
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
Verhältnis von Querdenken und Wissen ist demnach folgendes: Querdenken ist etwas Habituelles, genauer: eine Haltung, die ein mindestens implizites Wissen über seine Notwendigkeit einschließt; und es ist etwas, dessen unabdingbare Voraussetzung Wissen aus Erfahrung darstellt. Im nächsten Gespräch sind sich Vorgesetzter und Mitarbeiter über die Definition der Kompetenz „Querdenken“ nicht ganz einig: F (m): also zum einen ist es etwas, was dir liegt als Mensch, zum anderen ist es so, dass du deine Erfahrungsbasis so weit ausgebaut hast, dass du eben Sachen verknüpfen kannst, wenn ich mich nur ein Leben lang mit einer Schiene beschäftige, dann kann ich wenig verknüpfen, deswegen finde ich, ist das Querdenken [unverständlich] […] M (m): Querdenken heißt für mich irgendwo kritisch und auch selbstkritisch, und das, denke ich, bin ich schon, ehm, ich habe mir noch die Frage aufgeschrieben, ob ich manchmal, ich denke, also ich bin kein, ehm, also ich bin kein Revoluzzer oder so, ja, ob ich manchmal noch mehr so F: @noch kritischer sein dürftest@ M: Ja, oder solltest, ne, weil ich komme selten daher und sage, wir müssen doch alles ganz anders machen, oder so, ne, aber es, es macht ja auch nicht immer Sinn. (WU FK IV)
Während der Vorgesetzte unter „Querdenken“ versteht, dass der Mitarbeiter „Sachen verknüpfen“ kann, versteht der Mitarbeiter darunter, sich „kritisch und auch selbstkritisch“ mit Prozessen auseinanderzusetzen und Veränderungen anzuregen („wir müssen doch alles ganz anders machen“). Die Erläuterungen im Gesprächsbogen liegen näher am Verständnis des Vorgesetzten, aber auch dort ist in dem Punkt „denkt in Alternativen“ (Mitarbeitergesprächsbogen) die Abweichung von bestehenden Praktiken und damit die Möglichkeit von Veränderung vorgesehen. Die Fähigkeit des Querdenkens liegt für den Vorgesetzten, ähnlich wie im obigen Beispiel, in der Person begründet; man kann es sich aber auch aneignen, indem man Erfahrungen in verschiedenen Bereichen sammelt und sich nicht „nur ein Leben lang mit einer Schiene beschäftig[t]“. Wenn man sich mit verschiedenen Themen, mit verschiedenen Aspekten einer Sache auseinandersetzt, bildet sich ein Netz des Wissens aus Erfahrungen, das eine differenzierte Betrachtung von Abläufen und Entscheidungen ermöglicht und im Rahmen der Personalentwicklung bspw. durch Maßnahmen wie Jobrotation gefördert werden könnte (vgl. Ulich 2006, 148). Im Fortgang des Gesprächs betont der Vorgesetzte, dass im Arbeitsalltag kritisches Hinterfragen allerdings nur mit mehr Muße möglich sei (vgl. WU FK IV). Das Tagesgeschäft beansprucht die Mitarbeiter im Moment also voll. Die Abläufe können nicht permanent hinterfragt werden, da dazu nicht die nötigen Kapazitäten vorhanden sind. Aber nicht nur Muße ist eine wichtige Vorausset-
9.2 Wirtschaftsunternehmen
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zung für Veränderung. Auch hier spielen immer die entsprechende Wissensoder Erfahrungsbasis und der Blick für Prozesse auf organisationaler Ebene eine bedeutende Rolle: F (m): Wir waren letztes Jahr bei einer Zwei, weil wir ganz klar gesagt haben, du bist neu, du musst dich in vielen Teilbereichen noch zurücknehmen und kannst teilweise auch nicht kritisch hinterfragen, ist es so richtig?, ist es so nicht richtig?, passt das für das Gesamtunternehmen?, wie gehe ich vor? Ich sage aber heute ganz klar, du erfüllst zu hundert Prozent, voll und ganz deinem Aufgabengebiet. M (m): Mhm. (WU FK V)
Beim Vergleich der Bewertung der überfachlichen Kompetenz „Veränderungsbereitschaft“ mit dem Vorjahr merkt der Vorgesetzte an, dass sich der Mitarbeiter zum damaligen Zeitpunkt in der Einarbeitungsphase befand. Er mag also damals zwar im Besitz von Fachwissen gewesen sein, was ihm aber fehlte, war organisationsspezifisches, auf den organisationalen Kontext bezogenes handlungsorientiertes Wissen („für das Gesamtunternehmen“). Er war weder so weit, überprüfen zu können, ob bestehende Abläufe für die Gesamtorganisation passen, noch konnte er die konkrete Umsetzung von Veränderungen planen („wie gehe ich vor“). Veränderungsbereitschaft kann also nur in Verbindung mit dem entsprechenden Wissen auch zu sinnvollen Veränderungen führen, wobei es hier weniger um spezifisches Fachwissen als um ein organisationsbezogenes Wissen geht.
9.2.1.2
„langfristig brauchbares Wissen aufbauen“
„Veränderungsbereitschaft“ ist im Wirtschaftsunternehmen eine bedeutende Kompetenz, aber auch hier haben die Mitarbeiter ein Bedürfnis nach Stabilität: M (m): Wobei, wobei, natürlich, ich mache immer etwas, was kommt oder so, wobei ich gerne jetzt die [Aufgabenbereich] habe, weil das einmal, ehm, übergreifend ist, weil das Methoden sind, ne, wo ich auch ein bisschen mehr so, ehm, auf jeden Fall langfristig brauchbares Wissen aufbauen kann, denke ich, einfach Methodenkompetenz, ne (WU FK IV)
Dem Mitarbeiter ist es ein Anliegen, seinem Vorgesetzten mitzuteilen, dass er den neuen Aufgabenbereich gerne übernommen hat und auch gerne langfristig betreuen möchte. Noch bevor er richtig angesetzt hat, sein Anliegen vorzubringen, bricht er jedoch ab und beeilt sich, dem Vorgesetzten zu signalisieren, dass
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
er „natürlich“ jederzeit bereit ist, neue Aufgaben zu übernehmen; vermutlich weil er weiß, dass dies von ihm erwartet wird. Aus seinen Formulierungen geht hervor, dass er es gewohnt ist, sich kurzfristig in neue Themen einzuarbeiten und sich dazu neues, spezielles Wissen anzueignen („weil das einmal, […] übergreifend ist“). Sein Anliegen geht aber genau in die andere Richtung („wo ich auch ein bisschen mehr so“): Er möchte „langfristig brauchbares Wissen aufbauen“. Dieser Aussage liegt die möglicherweise unangenehme Erfahrung zu Grunde, dass die Dauer der Brauchbarkeit seines Wissens, insbesondere speziellen Fachwissens, das nicht „übergreifend“ ist, begrenzt bleibt (vgl. Schüßler/ Weiss 2003, 254). Dies kann unterschiedliche Ursachen haben. Einmal kann durch schnelle technische oder organisationale Veränderungen Wissen veralten; durch neue Produkte ändern sich die Anforderungen an die Mitarbeiter. Zum anderen ist es möglich, dass Mitarbeiter immer neu in unterschiedlichen Projekten eingesetzt werden, möglicherweise gezielt, um ihr Erfahrungsspektrum zu erweitern. Aus dem Gespräch kann man nicht schließen, worum es ihm bei seinem hier vorgebrachten Anliegen genau geht, ob er es ermüdend oder mühselig findet, sich immer wieder neu in Themen einzuarbeiten, ob es ihn frustriert und demotiviert, oder ob er es schlicht nicht für sinnvoll hält. Klar ist aber seine Forderung nach längerer Brauchbarkeit seines Wissens im Sinne neu erworbener Kompetenzen. Im Hinblick auf die Brauchbarkeit geht es also einerseits um die Aktualität des Wissens. Die andere Seite, wenn auch damit eng verbunden, stellt die Brauchbarkeit des Wissens aus der Perspektive des Unternehmens dar. In der Antwort des Vorgesetzten zeigt sich, dass in der Stabilität auch eine ökonomische Notwendigkeit liegt: F (m): ich sehe das [Aufgabenbereich] natürlich auch als längerfristiges Thema, das siehst du hoffentlich auch daran, dass wir hinsichtlich Seminaren und ähnlichem etwas machen, ich möchte ja auch nicht, dass das Geld für das Unternehmen umsonst geflossen ist, das heißt, das muss, der Gustav hat das jetzt über lange Jahre betreut oder auch ein bisschen forciert, ich stelle mir schon auch vor, dass du das längerfristig machst, das ist ganz klare Kiste, eh, ich kann natürlich nicht voraussehen, was in fünf Jahren ist. (WU FK IV)
Der Vorgesetzte versteht unter „längerfristig“ einen Zeitraum von bis zu „fünf Jahren“. Darüber hinaus will oder kann er keine Aussagen treffen. Für diesen Zeitraum lohnt es sich auch aus der Sicht des Unternehmens, in Weiterbildung zu investieren. Hier bestätigt sich, was in Kapitel 8 bereits herausgearbeitet wurde, nämlich die entschieden nutzenorientierte Haltung des Wirtschaftsunternehmens im Hinblick auf Weiterbildungsmaßnahmen. Entsprechend ist auch Wissen nur dann etwas wert, wenn es „brauchbar“ ist. Brauchbar ist es dann, wenn es in
9.2 Wirtschaftsunternehmen
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der konkreten Arbeitssituation des Mitarbeiters zum Tragen kommt. Orientierungspunkt ist hierbei immer der Nutzen für das Unternehmen („das Geld für das Unternehmen umsonst geflossen“). Dem Vorgesetzten ist wichtig, dass dem Mitarbeiter auch bewusst ist, dass das Unternehmen in ihn und seine Kompetenz investiert („das siehst du hoffentlich auch daran“), und dass er dies auch zu schätzen weiß. Weiterbildung fungiert hier offensichtlich auch als Belohnung für erbrachte Leistungen und als sanftes Druckmittel des Unternehmens, die Loyalität der Mitarbeiter zu gewinnen. Der Mitarbeiter muss also von zwei Seiten mit der Entwertung seines Wissens rechnen: Einerseits ist es dem natürlichen Zerfall durch technologische Neuerungen ausgesetzt, andererseits muss es den immer neuen Anforderungen des Unternehmens genügen.
9.2.2 Veränderungsbereitschaft 9.2.2.1
„das legt ihr jetzt nicht immer von links nach rechts, jetzt macht ihr es von links nach da und da, damit es besser geht“
Prozessoptimierung und die Tatsache, dass das Unternehmen immer größer wird und sich deshalb zwangsläufig verändern muss, machen die „Veränderungsbereitschaft“ zu einer wichtigen Kompetenz, die bei jedem Mitarbeiter zu bewerten ist: F (m): Du bist offen und das bitte ich dich auch so weiter zu behalten, das ist auch eine ganz wichtige, wichtige Softskill für die Zukunft, weil [Firmenname] wird sich weiter verändern, weil wir eben so groß sind mittlerweile, dass es gar nicht anders geht. (WU FK IV)
Offenheit bedeutet dabei nicht, Änderungen kritiklos zu übernehmen. Es geht darum, dass die Mitarbeiter Veränderungen gegenüber grundsätzlich „positiv eingestellt“ sind: F (m): ich sehe eigentlich auch (1) keine Möglichkeit, (1) sich wesentlich flexibler zu verhalten, eh, also positiv flexibel zu verhalten, als du es jetzt gemacht hast, also zum einen im letzten Jahr als auch die Jahre davor, das sieht man jetzt wieder auch bei der Übernahme zur, der [Aufgabenbereich], dass du egal welche Anforderungen gestellt werden auch mitziehst und sagst, ok, ändert sich wieder etwas, es gibt entweder neue Struktur oder es gibt eine neue Ausrichtung, was auch immer, und du gibst deine Bedenken, wenn es welche gibt, zu, (1) also legst du offen und sagst, ok, das und das sehe ich vielleicht kritisch oder so, aber du bist immer durchaus positiv eingestellt und (1) ziehst es dann auch so durch. (WU FK IV)
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
Die Veränderungen, um die es hier geht, werden von oben vorgegeben: Die Formulierung „es gibt“ eine neue „Struktur“ oder eine neue „Ausrichtung“ weist darauf hin, dass die Mitarbeiter zu einem Zeitpunkt mit einer Änderung konfrontiert werden, zu dem die Entscheidung, in welche Richtung es gehen soll, bereits gefallen ist. Der Vorgesetzte hebt hervor, dass der Mitarbeiter in dieser Situation seine Bedenken offen ausspricht, dann aber trotzdem getroffene Entscheidungen mit trägt. Seine Formulierung „du gibst deine Bedenken […] zu, (1)“ mit der anschließenden kurzen aber bedeutungsschwangeren Pause deutet auf eine andere, schlechtere, Möglichkeit hin, mit Veränderungen umzugehen, nämlich, Bedenken zu verschweigen, diese aber insgeheim trotzdem zu hegen. Eine solche Haltung könnte dazu führen, dass Veränderungen im Verborgenen bewusst oder unbewusst unterlaufen werden. Die kritische aber konstruktive Äußerung der Bedenken macht eine offene Auseinandersetzung mit den Kritikpunkten möglich. Berechtigte Kritik kann bei den Planungen miteinbezogen werden, die Kritiker werden zu Förderern von Veränderungsprozessen und nicht zu (heimlichen) Gegnern (vgl. Doppler/ Lauterburg 2002, 332f.). Offenheit für Veränderungen wird bei den Mitarbeitern also geschätzt. Eine Führungskraft sieht es als karriereförderlich an, wenn die Mitarbeiter mit neuen Ideen nach außen gehen und sich nicht nur anpassen, weil sie dadurch im Unternehmen „sichtbarer“ werden. Während auf einer übergeordneten strategischen Ebene Veränderung im Rahmen von Business Reengineering Prozessen (s. Kap. 2.3) entstehen, sind die Mitarbeiter auf der operativen Ebene offensichtlich gefordert, selbst aktiv zu werden: F (m): Mir geht es aber auch hier, ne, dass man sagt, ok, kritisch zu hinterfragen, (2) wie arbeiten wir im Team heute und wie könnte man besser arbeiten, um dann die Leute zu treiben und zu sagen, also hier, das legt ihr jetzt nicht immer von links nach rechts, jetzt macht ihr es von links nach da und da, damit es besser geht, ne, und, und, dieses, diesen Prozess voranzutreiben und zu analysieren, wie arbeiten wir und wie könnten wir besser arbeiten, das ist auch ein Fokus, den man da darauflegen müssen, nicht jetzt nur persönlich, dass man sagt, ok, hier, ich bin jeder Zeit bereit, etwas anderes zu machen, sondern wie, wie gehe ich her, wie, wie gestaltet man das Umfeld (WU FK I)
Hier ist nicht die alleinige Bereitschaft von Bedeutung, „etwas anders zu machen“ oder neue Aufgaben zu übernehmen. In den Augen des Vorgesetzten besteht eine ausgeprägte Veränderungsbereitschaft darin, „kritisch zu hinterfragen“ und konkrete Vorschläge für Verbesserungen zu machen. Veränderungen laufen nicht isoliert beim einzelnen Mitarbeiter ab, sondern auf der Ebene des Teams mit Blick auf die Organisation, wie bereits in anderen Gesprächen deutlich wur-
9.2 Wirtschaftsunternehmen
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de. Insbesondere Mitarbeiter mit Führungsverantwortung sollen den „Prozess vorantreiben“ und die „Leute treiben“. Aus der Wortwahl des Vorgesetzten, der Wiederholung des Verbs „treiben“, wird deutlich, dass Veränderungen nicht von alleine von statten gehen. Im Gegenteil: Sie brauchen aus der Sicht des Vorgesetzten jemanden, der die Richtung vorgibt und die Mitarbeiter wie eine träge Herde kontinuierlich zum Weitergehen auffordert. Veränderungsbereitschaft erscheint als Kompetenz, die zwar bei jedem Mitarbeiter bewertet werden soll, deren Existenz in der betrieblichen Praxis aber offensichtlich in Frage gestellt wird. Der „Prozess“ selbst besteht aus mehreren Schritten: der Analyse des IstZustands („wie arbeiten wir im Team heute“), den Überlegungen zur Optimierung („wie könnten wir besser arbeiten“) und schließlich der Anordnung der geänderten Abläufe („das legt ihr jetzt nicht immer von links nach rechts, jetzt macht ihr es von links nach da und da“). Unverzichtbare Basis für die Initiation von Veränderungen ist, das zeigt sich auch hier, das Wissen über organisationsspezifische Zusammenhänge bzw. darüber, wie bestimmte notwendige Veränderungen umgesetzt werden können („wie gehe ich her“). Dies kann wiederum nicht ohne die Berücksichtigung des Umfeldes, möglicherweise nicht einmal ohne die Umgestaltung der organisationalen Rahmenbedingungen erfolgen und erfolgreich sein („wie gestaltet man das Umfeld“). Die Reichweite dieser von unten angestoßenen Veränderungsprozesse beschränkt sich allerdings auf das direkte Arbeitsumfeld eines Mitarbeiters, auf das Team. Die Zusammenschau dieser Gesprächsausschnitte zeigt, dass es für Veränderungen eine Trias von Voraussetzungen beim einzelnen Mitarbeiter braucht: zum einen die persönliche Offenheit der Mitarbeiter für Veränderungen, zum anderen aktives Hinterfragen von bestehenden Strukturen und Prozessen und schließlich auch das Wissen, wie Veränderungen tatsächlich umgesetzt werden können. Wichtiger Bestandteil dieses Wissens ist, wie bereits im ersten Abschnitt herausgearbeitet wurde, die Kenntnis der organisationalen Gegebenheiten. Veränderung wird dabei auf der einen Seite als geplanter Wandel im Sinne der Organisationsgestaltungsansätze (vgl. Schreyögg 2008, 169) angeordnet und vollzogen. Sie kann aber auf der anderen Seite auch in einem kleineren Umfang auf der operativen Ebene von den Mitarbeitern ausgehen.
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
9.2.2.2
„weil jeder ist nicht immer so veränderungsbereit“
Wie bereits gezeigt, bedeutet „Veränderungsbereitschaft“ nicht nur, persönlich für Veränderungen offen zu sein und diese mitzutragen; eine wichtige Aufgabe, die sich insbesondere an Mitarbeiter mit Personalverantwortung richtet, ist auch, Veränderungen in Gang zu bringen und den Mitarbeitern den Sinn von Veränderungen zu vermitteln: F (m): […] Bei der Veränderungsbereitschaft, ich habe vorne die Punkte einmal grob angekreuzt, wo ich die Riesenpotentiale bei Ihnen sehe, einerseits, ich habe es in den einleitenden Worten schon mal gesehen, die Vier auf jeden Fall, da sind Sie überdurchschnittlich. Es fängt an mit ‚setzt Veränderungsprozesse in Gang‘, sprich wenn ich wieder da an das SAP denke, das Ganze, ‚begleitet Veränderungsprozesse aktiv‘, also unterstützt auch die Mitarbeiter mit dabei, und überzeugt auch die Mitarbeiter für die Notwendigkeit der Veränderung, das ist auch ein schwerer Job an der Stelle, weil jeder ist nicht immer so veränderungsbereit, aber Sie machen es gut, sehr gut sogar an der Stelle, weil wirklich die Mitarbeiter auch mitziehen, dass die wirklich an der Stelle mitmachen. (WU FK VII)
Auch hier findet sich ein Hinweis darauf, dass Veränderungen von oben vorgegeben werden. Die Formulierung aus dem Gesprächsbogen „setzt Veränderungsprozesse in Gang“ suggeriert zwar zunächst, dass hier vom Mitarbeiter selbst Veränderungen initiiert werden sollen, da es sich aber um die unternehmensweite Einführung von SAP handelt – eine Entscheidung, die zweifelsohne von der Unternehmensleitung getroffen wurde –, geht es auch hier tatsächlich wieder nur um die Umsetzung einer von oben vorgegebenen Veränderung. Im Hinblick auf den Umgang mit Veränderungen im Unternehmen ist die Äußerung des Vorgesetzten entscheidend, Veränderung sei ein „schwerer Job“, „weil jeder ist nicht immer so veränderungsbereit“. Er sagt nicht: Nicht jeder ist immer veränderungsbereit. Dies macht einen entscheidenden Unterschied, denn er sagt damit, dass Widerstand gegen Veränderungen nicht nur an bestimmten Personen hängt (nicht jeder), sondern dass die Abneigung dagegen, von Gewohntem abzuweichen, bei „jedem“ situationsbedingt („nicht immer“) zu finden ist. Die Fähigkeit, andere von der Notwendigkeit von Veränderungen zu überzeugen und sie bei der Umsetzung zu unterstützen, ist also für eine Führungskraft zentral. Ein „schwerer Job“ ist dies unter anderem deshalb, weil die Gründe für Widerstände häufig nicht auf rationaler Ebene zu finden sind. Es bleibt zu fragen, wo nun also die Ursachen für Widerstände im Wirtschaftsunternehmen liegen und wie mit diesen umgegangen wird:
9.2 Wirtschaftsunternehmen
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F1 (m): Ja gut, ich meine, das ist sehr wichtig, das Thema ist einfach, diese Stelle die hat (2) betrachtet Teilaspekte von verschiedenen Bereichen, es kann Ihnen dann auch passieren, dass die eine oder andere Stelle, wo wir Sie hinschicken zur Einarbeitung ein bisschen, wie will ich sagen, irritiert ist bis, das kann auch sein, dass Sie ein bisschen Widerstände da fühlen, weil, weil die Leute unter Umständen Angst haben, dass Sie ihnen, eh, die Arbeit wegnehmen. M (m): Ja. F2 (m): Das haben wir ja gestern auch erlebt, ne, M: Ja, ja. F2: beim Städtler da hinten waren, auch erst einmal, ich merke das ja dann immer, eh, so Aussagen, die dann kommen, so, ja, und wir sind hier zentral, da haben wir die, die Leute, die Erfahrung haben, und die muss auch zentral bleiben diese Aufgabe und die, diese, diese Stelle, die wir da für das Unternehmen ausüben, ne. Das, das kam sofort, also, beim zweiten, dritten Satz kam schon der Satz, ne, war schon klar, musst natürlich entsprechend, M: Hm. F2: dann auch so die Vorteile eben dann darstellen, dass der Herr Städtler sieht, dass wir eine gute Zusammenarbeit brauchen. Ich kann nur, eh, auf einer Basis, dass der Herr Scharrer genau weiß, mit welchen, eh, Werkzeugen arbeiten die, wer ist für was Ansprechpartner und so weiter, so haben wir das auch erklärt, dass die Vorteile die sind, dass die auch einen Ansprechpartner hier haben, und auch, eh, da hier nicht rumrennen müssen, um jemanden zu finden, der ihnen entsprechend auch bei ihren Aufgaben ein bisschen unterstützt auch, ne, mit unseren Anforderungen und so weiter, (WU PZ MA I)
Die Schaffung einer neuen Stelle soll zu einer besseren Abstimmung zwischen Produktion und Vertrieb beitragen. In ihr werden die Aufgaben aus verschiedenen Bereichen gebündelt. Der neue Mitarbeiter soll als Ansprechpartner für die Produktion zur Verfügung stehen, wird aber von den Betroffenen in der Produktion zunächst einmal abgelehnt. Die Angst der dortigen Mitarbeiter davor, dass man ihnen Arbeit wegnehmen und sie dadurch überflüssig machen könnte, ist so groß, dass sie die Vorteile, die sie selbst durch die neue Stelle haben könnten, zunächst nicht sehen. Gelöst werden soll die Problematik dadurch, dass bei der Vorstellung des neuen Mitarbeiters in der Produktion die Gründe für seine (bereits erfolgte) Einstellung erläutert und Vorteile dargestellt werden, die durch die Unterstützung seitens des neuen Mitarbeiters entstehen. Man kann nur vermuten, dass die Betroffenen in der Produktion im Vorfeld nur bedingt über die Einrichtung dieser neuen Stelle und die Gründe dafür informiert waren. So trifft die Ablehnung den neuen Mitarbeiter auch und vor allem als Person, denn die Veränderung wird mit ihm als Person eingeführt. Auch sein erster Vorgesetzter beschreibt das Verhalten des Umfelds auf die Veränderung als Reaktion auf die Person des neuen Mitarbeiters: Er geht davon aus, dass dieser den Widerstand „fühlen“ wird, und er kündigt an, dass „die Leute unter Umständen Angst haben, dass Sie ihnen, eh, die Arbeit wegnehmen“. Letzteres erfolgt in der Wahrnehmung der Mitarbeiter in der Produktion also
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
nicht durch die Unternehmens- oder Abteilungsleitung, sondern durch den neuen Mitarbeiter. Es besteht die Gefahr, dass man versucht, ihn auszubremsen und ihm den Einarbeitungsprozess zu erschweren, denn damit er sich gut einarbeiten kann, ist er von den Informationen abhängig, die er von den Verantwortlichen aus der Produktion erhält („dass wir eine gute Zusammenarbeit brauchen“, „dass der Herr Scharrer genau weiß“). Diese wiederum werden bestrebt sein, ihre eigene Position im Unternehmen über die Exklusivität ihres eigenen Wissens und ihrer eigenen Erfahrungen („wir sind hier zentral, da haben wir die, die Leute, die Erfahrung haben“) zu sichern (vgl. Crozier/ Friedberg 1993, 51), da sie sonst einen Machtverlust oder gar den Verlust ihres Arbeitsplatzes befürchten. Die Weitergabe von Wissen wird dadurch behindert: F1 (m): Das ist, das überrascht mich jetzt gar nicht, dass das, die Aussage von dem Kollegen Städtler dort unten kommt, weil das, die Leute haben sich noch nicht daran gewöhnt, dass die Firma anders tickt, dass, dass, dass F2 (m): Ja, ja, genau, das ist der Punkt F1: im Rahmen von der prozessorientierten Organisation die Verantwortungen verschoben werden und das Schlimme ist, dass wenn Leute längere Zeit in gewissen Positionen oder Funktionen waren, dass die ganz einfach nahezu unfähig sind, eine neue Verantwortung, eine umdefinierte Verantwortung aufzunehmen, die meinen immer, wenn ich das nicht genauso mache, wie ich das in der Vergangenheit gemacht habe, ne, dann, dann habe ich keine Arbeit mehr, erkennen aber nicht, ne, dass sie eigentlich eine ganz andere, eine ganz neue Arbeit haben und nehmen die auch gar nicht wahr, ne, F2: Genau, die sie aber angehen müssten, ne, F1: Die sie angehen müssten, ja. (WU PZ I)
Zu der Angst vor dem Verlust des eigenen Arbeitsplatzes kommt die jahrelange Gewohnheit an bestimmte Abläufe und eine bestimmte Unternehmensausrichtung, die die Mitarbeiter träge macht. Sie sind „nahezu unfähig“, haben sozusagen verlernt, sich umzustellen. Es fällt ihnen schwer, sich mit den gravierenden Umstellungen in der Unternehmensstrategie („dass die Firma anders tickt“) mitzuentwickeln. In ihrer Wahrnehmung hat nur das Gewicht, was schon immer so war. Wie man diese Problematik angehen könnte, wird im Gespräch nicht weiter erörtert. Die Formulierung „die Leute haben sich noch nicht daran gewöhnt“ lässt den Schluss zu, dass man von einem Gewöhnungsprozess ausgeht, der seine Zeit braucht, aber nicht weiter unterstützt werden muss. Darüber, wie Mitarbeiter, die seit langer Zeit bestimmte Abläufe, Strukturen und Verantwortungszuschreibungen gewohnt sind, lernen können, auch eine „umdefinierte Verantwortung aufzunehmen“, tauscht man sich nicht weiter aus. Das Gespräch wird nicht dafür genutzt, sich gemeinsam Gedanken über mögliche Lernunterstützungs-
9.2 Wirtschaftsunternehmen
257
maßnahmen zu machen, die die Bereitschaft der Mitarbeiter, sich auf die Veränderungen einzulassen, fördern und damit auch den intendierten Lern- und Entwicklungsprozess auf organisationaler Ebene unterstützen.
9.2.3 Unterstützung von Veränderungsprozessen 9.2.3.1
„wie kann man überhaupt das Denken für das Gesamtunternehmen in die Leute reinbringen“
Veränderung bedeutet also nicht nur, Abläufe und Strukturen anders zu gestalten („das legt ihr jetzt nicht immer von links nach rechts, jetzt macht ihr es von links nach da und da“), sondern es bedeutet auch, Sichtweisen, Blickwinkel und Haltungen an neue Rahmenbedingungen anzupassen (vgl. Schreyögg 2008, 406). Letzteres ist weder zwangsläufig Teil von individuellen Lernprozessen noch von Veränderungsprozessen auf organisationaler Ebene (s. Kap. 2). Für ein Unternehmen stellt sich die Frage, wie beide Formen der Veränderung, der Weiterentwicklung oder auch des Lernens unterstützt werden können. M (m): (3) Gut gelaufen, also finde ich jetzt, ist (1) diese Einführung vom Projektsystem bei B. Also, das haben sie so weit angenommen und, also, das finde ich, ist gut gelaufen, was nicht so gut gelaufen ist, das war die SAP-Einführung (2) F (m): Bei uns (2) M: Nicht bloß bei uns, allgemein und dann auch bei uns, weil eben wenig Unterlagen da waren und dann auch wenig Zeit war, die Unterlagen zu erstellen oder sauber zu erstellen. F: Mhm. M: (3) Wir haben zwar nie Probleme gehabt, dass wir nicht lieferfähig waren oder irgendsoetwas, so etwas hat es nicht gegeben, aber wir haben es eben mit Riesenaufwand gemacht. Und der Aufwand, der fehlt uns an der Kapazität bis heute, sage ich jetzt einmal. (WU FK VII)
Hintergrund dieses Gesprächs ist die einige Monate zurückliegende Fusion des Stammunternehmens A mit dem Unternehmen B (s. Kap. 5.2). Vorgesetzter und Mitarbeiter unterscheiden nach wie vor stark zwischen „B“ und „uns“. Bestimmte Instrumente, die sich bei A bewährt haben, werden nun auch in den neu hinzugekommenen Unternehmensteilen eingeführt. Die Basis dafür stellen „Unterlagen“ dar, an denen man sich orientieren kann. Steht zu wenig Zeit zur Verfügung, eine solche Umstellung gut vorzubereiten, also bspw. „die Unterlagen zu erstellen oder sauber zu erstellen“, werden die Standardabläufe stark in Mitleidenschaft gezogen. Es besteht die Gefahr von Verzögerungen in der Produktion. Der Aufwand ist höher, als er bei einer guten Vorbereitung hätte sein müssen
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
(„Riesenaufwand“). Der dadurch entstandene Verlust an „Kapazität“, von dem der Mitarbeiter spricht, bleibt für längere Zeit spürbar. Bis sich die Vorteile, die durch die Umstellung erzielt werden sollten, bemerkbar machen, dauert es. Zunächst stellt die Veränderung für alle Beteiligten eine Belastung dar und wirft eingespielte organisationale Prozesse aus der Bahn. Noch komplizierter wird es, wenn es sich nicht nur um die Einführung eines neuen Instruments handelt, sondern um ein grundlegendes Umdenken innerhalb des neu formierten Unternehmens: M (m): Das haben wir momentan extrem, also nicht in der eigenen Abteilung, ne, aber F (m): Bei den anderen M: was ich momentan am Telefon hänge, ne, das ist F: Das ist insgesamt das Problem M: Die kommen und fragen. Die ganze Welt fragt, was F: Das ist das Problem, über das ich neulich auch mit dem Rosner diskutiert habe, wie kann man die Geschäftsprozesse, wie kann man überhaupt das Denken für das Gesamtunternehmen in die Leute reinbringen, M: Mhm. F: Die einzige Möglichkeit, die wir beide letztendlich gesehen haben, das ist das Vorleben einerseits, das muss von oben vorgelebt werden, wird ja auch gemacht, es muss durch uns vorgelebt werden, dass wir ein Unternehmen sind, dass wir nicht nur über unseren, über A nachdenkt, M: Klar. F: sondern dass A, B, C und D dabei ist, und das Wissen muss man einmal ein bisschen manifestieren und letztendlich müssen wir es als Vorgesetzte vorleben, dass die Mitarbeiter das auch nachleben, dass sie nicht bloß an ihren, an ihren Arbeitsplatz denken, an ihr A, sondern dass sie über die Grenzen hinausschauen, und die Prozesse, sagen wir, da sind wir jetzt insgesamt alle gefordert wieder mit den Geschäftsprozessen, dass wir die entsprechend rausbringen. Da ist M: Da ist wichtig, dass es da einmal Unterlagen gibt, ne, weil, wie gesagt, momentan ist es eben so, auch die Cer zum Beispiel [Produkt x]-Projekte, [Produkt y]-Projekte, die hängen regelmäßig am Telefon, was machen wir denn da?, was machen wir denn da? Das ist F: Wenn Sie unsere Unterlagen runterschicken, bringt das denen etwas? M: Nein, das sind, nicht jetzt das Erstellen, ich glaube, das haben sie drauf im SAP, das Erstellen von, sondern so Entscheidungen, was?, wann?, wie? Da tun sie sich auch teilweise, Was können wir machen, wenn wir, wenn es wie jetzt von intern auf extern, oder F: Ja? M: Ja, ja, F: Das habe ich noch gar nicht mitbekommen so etwas. Dann machen sie direkt bei Ihnen den Anruf dann? M: Naja, klar. Das ist die, naja gut, die Maier, die macht die [Produkt y]-Projekte, die ist in der Anlagenbuchhaltung bei denen, und die ist auch mit im Team [Arbeitsbereich], in den Ablauf vom Kuhfuß, Weidner, Gauger, und von daher kennt sie mich und dann (lacht) F: Nein, wenn Sie unterstützen können, unterstützen Sie da auf jeden Fall, dass die die Hilfe haben. (WU FK VII)
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Sobald es nicht mehr nur um formalisierbare Abläufe („das Erstellen von“), um das reine Bedienen von Instrumenten oder Programmen geht, sondern um Entscheidungen („was?, wann?, wie?“), reicht auch das alleinige Erstellen und zur Verfügung stellen von Unterlagen nicht mehr aus. Hier muss von den Neulingen erst erlernt werden, auf welcher Basis im Unternehmen Entscheidungen getroffen werden, welche Prioritäten gesetzt werden und wie in bestimmten Situationen vorgegangen wird („was machen wir denn da?“). Eine Möglichkeit, die auch praktiziert wird, ist das Nachfragen bei den erfahrenen Wissensträgern („Die kommen und fragen. Die ganze Welt fragt, was“), bis eigene Erfahrungen gemacht werden können. Den Vorgesetzten interessiert aber nicht nur die operative Ebene, sondern insbesondere die Vermittlung übergeordneter Haltungen als Grundlage performativer Muster, „das Denken für das Gesamtunternehmen“. Die „einzige Möglichkeit“, die der Vorgesetzte hier sieht, ist das Vorleben dieser Haltungen und zwar sowohl „von oben“, also wohl durch die Unternehmensleitung, als auch durch die ursprüngliche A-Belegschaft („durch uns“), die dies den neuen Organisationsmitgliedern vorlebt. Entscheidend sind aus der Sicht des Vorgesetzten in jedem Falle die Personalverantwortlichen, die diese Haltung, „über die Grenzen hinausschauen“, an ihre Mitarbeiter weitergeben müssen. Diese performativen Prozesse, die Weitergabe einer Haltung, ist durch den Ansatz von Argyris und Schön (1999) nur bedingt zu erklären. Dieser beschreibt, wie in Kapitel 2 gezeigt wurde, insbesondere Lernprozesse auf der kognitiven Ebene. Hier jedoch geht es um mimetische Lernprozesse (Wulf 2007), bei denen die Haltung der Vorgesetzten innerhalb der Organisation von den Mitarbeitern habitualisiert („in die Leute reinbringen“, „manifestieren“) werden soll. Ein organisationaler Lernprozess hätte dann stattgefunden, wenn sich die im Einzelfall gezeigte Haltung in ein für die gesamte Unternehmensgruppe gültiges Muster transformiert hätte (vgl. Göhlich 2001, 217), das „Denken für das Gesamtunternehmen“ in der Organisation also zu einer Selbstverständlichkeit geworden wäre. Dem Mitarbeiter geht es in diesem Fall aber um konkrete Unterstützung von Lernprozessen auf der Ebene der einzelnen Akteure durch unmittelbar auf den Arbeitsprozess bezogene Hilfen, auf die ad hoc zugegriffen werden kann. Er unterbricht seinen Vorgesetzten, der noch über die Bedeutung des Vorlebens spricht, und betont, dass dringend Unterlagen bereitgestellt werden müssen, in denen nachgeschlagen werden kann, und die so eine Basis für den Ablauf bestimmter Prozesse schaffen. Dies tut er, obwohl er kurz darauf auf die Nachfrage seines Vorgesetzten einräumt, dass das zur Verfügung stellen von Unterlagen das angesprochene Problem nicht löst. Das Gespräch über das Prinzip des Vorlebens
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
ist damit aber erst einmal beendet. Was hier jedenfalls deutlich wird, ist die Tatsache, dass organisationale Lern- und Veränderungsprozesse die Weitergabe und Vermittlung expliziten und impliziten Wissens notwendig macht. Möglicherweise dringt der Mitarbeiter deshalb auf die Unterlagen, weil er der erste Ansprechpartner für die neuen Abteilungen zu sein scheint. Man kennt ihn, weiß, dass er sich auskennt und greift automatisch auf sein Wissen und seine Erfahrungen zu. Den Vorgesetzten, eine Hierarchiestufe höher, tangieren diese Nachfragen eher selten. Der Austausch findet auf der stärker operativen Ebene statt. Es steht nicht in Frage, dass diese Unterstützung, diese „Hilfe“, in jedem Fall gewährt werden soll. Jedoch wird deutlich, dass die Bewältigung von Wandel und die Unterstützung von Lernprozessen einzelne Akteure und die „Kapazitäten“ der Organisation vor allem auf informellem Wege stark in Anspruch nehmen, da offensichtlich die auf organisationaler Ebene bereitgestellte Lernunterstützung im Moment noch nicht ausreicht.
9.2.3.2
„zuvor haben wir sie auch eingebunden, aber sie haben es eben danach nicht mehr gewusst“
Im direkten Mitarbeiterkreis setzt man nach schlechten Erfahrungen mit Mitarbeitern, die Entscheidungen nicht mitgetragen oder unterlaufen haben, auf Kommunikation und Beteiligung: F: Aber die Abteilungsbesprechung müsste letztendlich dann wirken? M: Ja. F: Plus eben, dass man sie enger einbindet jetzt drüben, wenn wir irgendwelche Entscheidungen oder etwas Neues machen. M: Genau. F: Wenn da noch etwas ist M: Also eben schriftlich jetzt, ne, ich meine, zuvor haben wir sie auch eingebunden, aber sie haben es eben danach nicht mehr gewusst. F: (5) (lacht) Ok. Dann auf der letzten Seite der Überfachlichen Kompetenzen: ‚Kommunikation‘, das passt (3) ‚stellt getroffene Entscheidungen‘, das ist für mich jetzt zum Beispiel, ich hab es vorher schon mal erwähnt, wenn Sie irgendeine Entscheidung haben, das nachvollziehbar und transparent das Ganze (WU FK VII)
Die Mitarbeiter werden „enger“ in Entscheidungsprozesse eingebunden, was noch nicht heißt, dass sie direkt daran beteiligt werden, sondern dass sie besser informiert werden („Also eben schriftlich jetzt“). Um zu verhindern, dass trotz des Einbindens Entscheidungen nicht akzeptiert oder einfach übergangen werden, was hier in Form eines passiven Widerstands geschah („aber sie haben es
9.2 Wirtschaftsunternehmen
261
eben danach nicht mehr gewusst“), wird alles schriftlich fixiert. Dadurch erhält es mehr Gewicht, denn, wie bereits in Kapitel 7 gezeigt: Formal Festgelegtes hat im Wirtschaftsunternehmen einen hohen Stellenwert. Der Gesprächsauszug lässt die Interpretation zu, dass die Beteiligung, von der die beiden sprechen, einfach nicht konsequent genug umgesetzt wird und für die Mitarbeiter möglicherweise wie eine Scheinbeteiligung wirkt. Denn letztlich werden Entscheidungen, wie auch im Bogen formuliert, zuerst auf anderer Ebene getroffen („getroffene Entscheidungen“) und dann „nachvollziehbar und transparent“ kommuniziert. Das kommt aber keiner aktiven Beteiligung am Entscheidungsprozess gleich, bei der die Ideen und Kritikpunkte der Mitarbeiter tatsächlich relevant werden. Damit wird bei den Mitarbeitern das Abwehrverhalten gegen Neuerungen und das Festhalten an den handlungsleitenden Theorien unterstützt. Es entstehen „defensive routines“, die das Bestreben, Altes aufrechtzuerhalten, verstärken (vgl. Argyris/ Schön 2002, 118).
9.2.4 Zusammenfassung Ein klarer Bezug auf explizites Wissen findet sich in den Gesprächen vor allem bei der Besprechung desjenigen Teils des Bogens, in dem es um das A-Wissen geht. Gerade im Zusammenhang mit organisationsspezifischem Wissen tauchen aber auch an anderen Stellen in den Gesprächen immer wieder Verweise auf ein stellenübergreifendes Wissen über die Organisation auf, das durch Erfahrung generiert als implizites oder praktisches Wissen vorliegt und eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von Arbeits- und Veränderungsprozessen darstellt: Es wird sowohl als Bestandteil der überfachlichen Kompetenz Querdenken als auch der Veränderungsbereitschaft betrachtet, dass Wissen über die Zusammenhänge in der Organisation (explizit und implizit) sowie Wissen über die Notwendigkeit der Anwendung dieses Wissens (implizit) vorhanden und teilweise habitualisiert ist. Erfahrung wird dabei durch mimetische Lernprozesse (bspw. die Orientierung an den Führungskräften als Vorbilder für das Denken für das Unternehmen) möglich (vgl. Wulf 2007, 100). Das mimetisch Erlebte wird gewissermaßen als praktisches Wissen inkorporiert, kann durch Analyse und Reflexion aber auch begriffen und dadurch explizit werden. Wie stabil dieses Wissen sein kann, hängt wesentlich von den organisationalen Veränderungen ab, von denen eine Abteilung und ihre Mitarbeiter betroffen sind. Im Zuge der Gespräche wird die zunehmende Größe des Unternehmens als eine entscheidende Determinante für Veränderungen beschrieben. Mit dem
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
Wachstum geht eine Zunahme an Komplexität einher, die wiederum durch funktionale Differenzierung, Spezialisierung und die damit verbundene Entstehung neuer Bereiche bewältigt wird. Gerade in dieser Spezialisierung scheint aber eben keine Konstanz zu liegen; sie ist eher eine vorübergehende Reaktion auf den Anpassungsdruck. Wissen ist deshalb auch immer nur vorübergehend „brauchbar“ für das Unternehmen und nur für die Dauer seiner unmittelbaren Brauchbarkeit behält es seinen Wert. Veränderungen werden auf zwei organisationalen Ebenen thematisiert. Zum einen geht es um neue Strukturen und eine neue Ausrichtung auf der Ebene des Gesamtunternehmens, zum anderen werden auf der operativen Ebene Veränderungen angesprochen, deren Notwendigkeit im Hinblick auf die Ziele des Unternehmens insbesondere von den Vorgesetzten wahrgenommen wird und deren Umsetzung von diesen initiiert und vorangetrieben werden soll. In beiden Fällen sind die Entscheidungs- und Veränderungsprozesse nicht partizipativ angelegt. Es handelt sich um Entscheidungen und Anordnungen, die ohne Einbezug der betroffenen Mitarbeiter vonstattengehen. Große organisationale Veränderungen laufen im Wirtschaftsunternehmen im Wesentlichen durch Gestaltungsprozesse von oben wie Business Reengineering ab (s. Kap. 1.3). Neue Abläufe und Strukturen werden festgelegt, die entsprechende Veränderungsbereitschaft und Offenheit für Veränderungen als Habitus bei Mitarbeitern und Führungskräften vorausgesetzt. Letzteren obliegt es, die Gründe für die Entscheidungen an die Mitarbeiter weiter zu vermitteln, was durchaus auch als schwierig anerkannt wird. Auf einer stärker operativen Ebene werden die Mitarbeiter mit Führungsaufgaben (aber nicht die Mitarbeiter) dazu aufgefordert, selbsttätig nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen und bestehende Abläufe und Prozesse zu überprüfen. Wissen und Veränderung sind dabei eng verbunden: Nur wer die Ausgangsbasis kennt, kann diese reflektieren, kann auch etwas verändern bzw. sieht die Dinge, die verändert werden müssen. Was banal klingen mag, ist dabei längst nicht für alle selbstverständlich. Neben der zunehmenden Größe des Unternehmens werden weitere gravierende und andauernde Veränderungen in den Gesprächen angedeutet: die Einführung von SAP, die Umstellung auf eine prozessorientierte Organisation, die damit einhergehende umdefinierte Verantwortung. Es werden zudem Probleme deutlich, die im Zuge dieser Prozesse auftauchen: Kapazitätsverluste, Widerstand auf Seiten der Mitarbeiter und der Wunsch nach mehr Kontinuität. Hier besteht die Gefahr, dass durch permanente managementgesteuerte Umstrukturierungen und Veränderungen – „Wechselbäder“ wie Faulstich (1998, 22) sie nennt – nur
9.2 Wirtschaftsunternehmen
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noch erschöpfte Arbeitskräfte übrig bleiben, „denen die gleichzeitig geforderte Motivation und gar Kreativität ausgetrieben worden sind“ (ebd.).30 Diese Entwicklung kann zeitlich am Wechsel des Unternehmens vom familien- zum managementgeführten Familienunternehmen fest gemacht werden. Dies wiederum geschieht nach dem Ausscheiden des langjährigen Firmen- oder auch Familienoberhaupts. Die Mitarbeiter fühlen sich zwar immer noch mit der Eigentümerfamilie persönlich verbunden, ja vielleicht sogar zugehörig. Persönliche Beziehungen und Verbundenheit werden aber mehr und mehr durch formale Strukturen und schriftlich fixierte Handlungsleitfäden ersetzt. So findet sich mancher Mitarbeiter nun in der zweiten Hälfte seines Arbeitslebens unter Bedingungen wieder, die er sich so nicht ausgesucht hatte und die sich grundlegend von den damaligen unterscheiden. Eine weitere große Veränderung sind die Fusionen. Eine der Herausforderungen in diesem Zusammenhang besteht darin, den Mitarbeitern ein Denken in und mit dem neu formierten Unternehmen zu vermitteln und gemeinsame Geschäftsprozesse zu etablieren. Die besondere Herausforderung an die AMitarbeiter ist die Vermittlung der Unternehmenswerte an die anderen Unternehmen. In den Gesprächen werden insbesondere drei Strategien deutlich, was die Unterstützung dieser großen Veränderungsprozesse betrifft. Es werden Unterlagen erstellt, die den Mitarbeitern in den neu hinzugekommenen Unternehmen zur Verfügung gestellt werden. A-Mitarbeiter stehen als Ansprechpartner für Fragen zur Verfügung. Für die Vermittlung einer neuen Denkhaltung, die nicht nur die Interessen des eigenen Arbeitsplatzes bzw. eines Unternehmensbereichs, sondern auch die anderen Geschäftsbereiche und Unternehmensteile berücksichtigt und das Unternehmen als Einheit begreift, bleibt aus Sicht der Führungskräfte nur das Vorleben. Man muss sich hier also auf mimetische Lernprozesse verlassen: auf die Weitergabe von Werten, die Vermittlung einer bestimmten Herangehensweise an Probleme und einen neuen Blick auf das Gesamtunternehmen durch das Vorleben derselben. Dieser wenig kontrollier- und plan30
In den Rückmeldegesprächen wird diese Entwicklung bestätigt und noch stärker betont. Es werde andauernd etwas verändert, man wisse heute nicht, mit wem man morgen zusammenarbeite und in welchem Büro man sitze. Man habe das Gefühl, es werde verändert nur um der Veränderung Willen, um keine Gewöhnung aufkommen zu lassen und die Mitarbeiter flexibel zu halten. Das Unternehmen habe sich seitdem so stark gewandelt, dass man als langjähriger Mitarbeiter in seiner Berufslaufbahn keinen Unternehmenswechsel habe vornehmen müssen, um in zwei verschiedenen Unternehmen gearbeitet zu haben. Unternehmensstruktur und -kultur hätten sich fundamental verändert, so die Äußerungen der Mitarbeiter. Dies bedeutet auch, dass für viele Mitarbeiter das Unternehmen, für das sie sich meist zu Beginn ihres Arbeitslebens entschieden hatten, nicht mehr das Selbe ist wie damals.
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bare Prozess, der auf eine unbestimmte Zeit läuft, steht im Kontrast zu den stark auf Effizienz, Effektivität und Kontrolle ausgerichteten Strukturen und Mustern organisationaler Praxis im Unternehmen. Ein weiteres Muster, an das andere anschließen, zeigt sich in der Tendenz, das Unternehmen als Ganzes als Dreh- und Angelpunkt für Wissen, Haltungen und deren Veränderung zu nehmen. Entsprechend hat auch Wissen keinen eigenen Wert. Seine Brauchbarkeit wird am Bedarf des Unternehmens gemessen. Wissen über die Organisation ist aufgrund der Größe und der Komplexität des Unternehmens entscheidend für das Gelingen von Arbeits- und Veränderungsprozessen. Die Bezugsgröße für alle Veränderungen und Investitionen, worunter bspw. auch Weiterbildung fällt, ist dabei die Verbesserung der Effizienz und der Effektivität des gesamten Unternehmens. Entsprechend werden auch die negativen Auswirkungen von Veränderungen an den Konsequenzen für das Unternehmen gemessen. So führt die Unterstützung von Veränderungsprozessen aus der Organisation heraus bspw. zu einem Kapazitätsverlust. Gleichzeitig ist kritisches Hinterfragen im Arbeitsalltag ein Zeitproblem und nach Ansicht verschiedener Führungskräfte nur mit mehr Muße (vgl. WU FK IV), beim Autofahren oder direkt im Prozess selbst, wenn man eine Aufgabe bearbeitet, möglich (vgl. WU MA II), da der Druck im normalen Arbeitsalltag zu hoch ist.
9.3 Vergleich 9.3.1 Muster organisationaler Praxis Bedeutung von Wissen Während im Sozialunternehmen Wissen und Kompetenz als wichtige Voraussetzung für Stabilität und Sicherheit thematisiert werden und sich dort am ehesten aus einer gewissen Stabilität heraus Wandel vollzieht, wird Wissen im Wirtschaftsunternehmen ebenfalls als eine Voraussetzung für Veränderungen und Optimierung von Prozessen dargestellt, jedoch ohne den Umweg über die Stabilität zu machen bzw. ohne den Aspekt der Stabilität mit einzubeziehen. Wissen ist hier das Sprungbrett für Veränderung und nicht der rettende Ast, an dem man sich bei anstehenden Veränderungen festhalten kann. Eine mögliche Ursache für diese Beobachtung liegt in dem bereits im Hinblick auf Weiterbildung beschriebenen professionellen Selbstverständnis der Mitarbeiter. Dieses leitet sich bei den Mitarbeitern des Sozialunternehmens aus
9.3 Vergleich
265
ihrer jeweiligen Fachdisziplin bzw. der Tätigkeit und der Verantwortung gegenüber den Klienten ab. Es ist sicherlich auch an die Organisation selbst und die damit verbundenen Werte gebunden, scheint seine Wurzeln aber noch stärker in der (pädagogischen) Profession der Mitarbeiter zu haben, denn auf den Träger des Sozialunternehmens als Arbeitgeber wird von den Mitarbeitern höchst selten explizit Bezug genommen. Bei den Mitarbeitern des Sozialunternehmens sind Wissen und Kompetenz stärker mit ihrem jeweiligen Inhaber verbunden und von der Person stärker inkorporiert und habitualisiert. Dies rührt auch daher, dass die Persönlichkeitskompetenz in pädagogischen (Interaktions-)Prozessen von größerer Bedeutung ist als bspw. bei der Entwicklung neuer Fertigungsverfahren. Wissen und Kompetenz haben in erster Linie eine große Bedeutung für die eigene Identität. Erst im zweiten Schritt folgt der Blick auf die Klienten und die Arbeitszusammenhänge. Entsprechend ist mit der Entwertung von Wissen durch anstehende Veränderungen mehr als bei anderen Professionen eine von den Betroffenen empfundene Entwertung und Bedrohung der eigenen Person verbunden. Im Wirtschaftsunternehmen ist immer wieder die Gesamtorganisation Bezugspunkt für Entscheidungen. Den Mitarbeitern wird ein eher unternehmensspezifisches Selbstverständnis nahe gelegt. Kompetenzen und Wissen sind eng mit Aufgaben und Positionen verbunden, und wiederum über diese Aufgaben und Positionen haben die Mitarbeiter Einfluss im Unternehmen. Solange das aufgabenbezogene Wissen gebraucht wird, ist auch der Mitarbeiter unverzichtbar. Unsicherheit wird hier, wie in Kapitel 7 dargestellt, durch Stellenprofile und andere formale Vorgaben abgeschwächt, ausgeglichen oder entsteht gar nicht erst in dem Maße. Im Sozialunternehmen wird sie durch den professionellen Habitus, das permanente sich selbst und andere In-Frage-Stellen und die (vermeintlich) fehlenden formalen Vorgaben verstärkt. Der Wert des Wissens hat im Sozialunternehmen also stärkere Auswirkungen auf den Selbstwert einer Person; im Wirtschaftsunternehmen bemisst sich der Wert eines Mitarbeiters über die Brauchbarkeit seines Wissens für das Unternehmen. Sowohl im Sozialunternehmen als auch im Wirtschaftsunternehmen lösen Veränderungen, die die Ressource Wissen der Mitarbeiter bedrohen könnten, weil sie nicht mehr gebraucht wird, Angst aus. Während diese Angst im Sozialunternehmen auch von den Mitarbeitern offen angesprochen wird, spricht man im Wirtschaftsunternehmen nur über Dritte, die Angst haben oder geplanten Veränderungen Widerstand entgegenbringen.
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Wissenstransfer Beide Organisationen sorgen grundsätzlich für Rahmenbedingungen für Wissenstransfer. Die Weitergabe von Wissen wird von den Vorgesetzten als selbstverständlich dargestellt, allerdings nur auf Nachfrage, denn in beiden Unternehmen wird an Stellen, an denen explizit über die Weitergabe von Wissen gesprochen wird, von einer „Holschuld“ gesprochen. Sich zu informieren und sein Wissen zu erweitern, ist die Aufgabe der Mitarbeiter selbst. Die Vorgesetzten geben lediglich die Hinweise auf die Quellen bzw. stehen selbst als Ansprechpartner zur Verfügung. Modelle wie das Telefonverzeichnis im Sozialunternehmen können als eine Art Navigationssystem auf der Suche nach diesen Quellen benutzt werden. Denkbar wäre eine Erweiterung über Zuständigkeitsbereiche hinaus zu bestimmten Erfahrungen oder Fragestellungen, in die jeder Mitarbeiter seine spezifischen Kompetenzen einspeist, wodurch die Identifizierung der Wissensträger maßgeblich erleichtert würde (vgl. Meinsen 2006, 20). Soweit es also um explizites Wissen geht, ist der Fall in beiden Organisationen relativ klar. Etwas schwieriger gestalten sich die Identifikation und die Weitergabe von implizitem oder praktischem Wissen. Was diese Prozesse betrifft, schwingt vor allem im Wirtschaftsunternehmen eine gewisse Ratlosigkeit in den Äußerungen der Gesprächspartner mit. Dies liegt möglicherweise auch daran, dass es sich hier um Vorgänge handelt, die nicht vorgegeben, verordnet und kontrolliert werden können, die relativ langwierig sind und einer gewissen Eigendynamik überlassen sind. In einer Kultur der klaren Entscheidungen, schriftlichen Vorgaben und stark ausgeprägten Kontrollstrukturen mag dies eine irritierende Erfahrung sein.
Bedeutung von Veränderungen Auch im Hinblick auf Veränderung spielt das professionelle Selbstverständnis der Mitarbeiter eine große Rolle. Die Bereitschaft, die eigene Tätigkeit oder die herrschende Gesamtpraxis im Team kritisch zu reflektieren und über Veränderungen nachzudenken, ist bei den Mitarbeitern des Sozialunternehmens eher einer Verpflichtung gegenüber sich selbst oder den Klienten geschuldet, während sie im Wirtschaftsunternehmen aus einer Verpflichtung gegenüber dem Unternehmen besteht. Veränderungsbereitschaft ist dort eine vom Unternehmen von allen Mitarbeitern gleichermaßen geforderte Schlüsselqualifikation.
9.3 Vergleich
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Hingegen unterscheidet sich nicht wesentlich, von welcher Stelle aus Veränderungen initiiert werden bzw. welche Veränderungen sich in den jeweiligen Organisationen tatsächlich durchsetzen: In beiden Organisationen werden große strategische Veränderungen tendenziell durch die Führungsebene initiiert und angeordnet. Die Aufforderung in den Führungsleitbildern, Mitarbeiter in Entscheidungsprozesse einzubeziehen, klingt deshalb etwas hohl. Ausschlaggebend für Veränderungen sind in den meisten Fällen finanzielle Gründe. Hier wie dort wird von den Vorgesetzten erwartet, dass sie ihre Mitarbeiter von den Vorteilen der Veränderungen überzeugen. In beiden Organisationen wird konstatiert, dass bei Veränderungen häufig mit Widerstand zu rechnen ist. Vor diesem Hintergrund wird den Vorgesetzten zugestanden, dass es sich bei der Vermittlungsarbeit mitunter um einen „schweren Job“ bzw. um einen „Kampf“ handelt. Die Reaktion der Mitarbeiter auf Entscheidungen, die über ihre Köpfe hinweg getroffen wurden, ist unterschiedlich: Im Sozialunternehmen werden Veränderungen häufig daraufhin überprüft bzw. daran gemessen, inwieweit sie die Situation der Klienten verbessern. Es werden fachliche Kriterien angelegt. Entscheidungen werden zwar hingenommen, aber, wie sich auch im Zusammenhang mit dem Thema Führung und Macht zeigt, nicht zwangsläufig auch akzeptiert. Die Aushandlungsprozesse laufen häufig unterschwellig weiter. Trotzdem werden Alleingänge von Vorgesetzten oder Entscheidungen von oben selten um ihrer selbst Willen kritisiert. Die Argumentation findet meist auf einer fachlichen Ebene statt. Es findet gewissermaßen eine Tabuisierung von Machtstrukturen bzw. eigenen Machtansprüchen statt, die sich damit erklären lässt, dass die Mitarbeiter, die schon lange Jahre im Sozialunternehmen beschäftigt sind, in einer Doppelstruktur aufwachsen, die über die Jahre zur Gewohnheit wird: Einerseits ist das Sozialunternehmen hierarchisch aufgebaut, andererseits existiert unterhalb der Leitungsebene die Mitarbeiterschaft, die aufgrund ihrer (sozial-)pädagogischen Fachtradition Macht und Kontrolle eher kritisch gegenüber steht und in der es eben nicht um Entscheidungen und Einfluss geht. Im Rahmen dieser Struktur Machtansprüche zu hinterfragen und dadurch implizit eigene zu stellen, würde die innere Kongruenz der Mitarbeiter gefährden. Angeordnete Veränderungen im Wirtschaftsunternehmen werden kaum in Frage gestellt. Auch dies lässt sich mit der Gültigkeit von schriftlich fixierten Aufgaben, Positionen, Regeln und Strukturen erklären, wie sie der in Kapitel 7 beschriebenen Bürokratie entsprechen. 31 Die Mitarbeiter äußern zwar durchaus 31
In den Rückmeldegesprächen wird der Vergleich mit dem Militär gezogen. Es wird deutlich, dass durch permanente Veränderungen und die daraus resultierende Notwendigkeit, die individuelle und organisationale Wissensbasis anzupassen, auch eine Veränderungsmüdigkeit entstehen kann.
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
ein Bedürfnis nach Stabilität, fühlen sich aber verpflichtet, auf Veränderungen positiv zu reagieren. Nicht umsonst wird dieser Punkt in den Mitarbeitergesprächen beurteilt. Dies wird auch im Zusammenhang damit deutlich, welche Rolle Zeit in den beiden Organisationen spielt: Während im Wirtschaftsunternehmen mit „langfristig“ ein Zeitraum von weniger als 5 Jahren gemeint ist, ist im Sozialunternehmen von einem längeren Zeitraum bspw. beim Rückblick auf die eigene Ausbildung vor ca. zwanzig Jahren die Rede; ebenso wie ein Zeitraum von sieben Jahren als gerade ausreichend beschrieben wird, damit etwas selbstverständlich wird. Auf einer stärker operativen Ebene werden die Mitarbeiter im Wirtschaftsunternehmen dazu aufgefordert, eigenständig Abläufe zu überprüfen und zu verbessern; in den Gesprächen selbst werden von den Mitarbeitern diesbezüglich aber kaum Vorschläge gemacht. Anders verhält es sich im Sozialunternehmen, wo in fast jedem Gespräch Vorschläge zur Verbesserung der Situation der Klienten und der eigenen Arbeitsbedingungen geäußert werden, wenn auch häufig mit dem Hinweis darauf, dass es schwierig ist, die gewünschten Veränderungen gegenüber der „Obrigkeit“ durchzusetzen.
9.3.2 Auswirkung der Praxismuster auf Lernprozesse und Verankerung im theoretischen Diskurs Lernunterstützung Hier sollen insbesondere die jeweiligen Auswirkungen der oben herausgearbeiteten unterschiedlichen Bedeutung von Wissen und Veränderungen auf die Rolle und den Charakter der Lernunterstützung in den beiden Organisationen aufgezeigt werden: In den Gesprächen des Sozialunternehmens wird an vielen Stellen deutlich, dass der von Göhlich benannte Aspekt der Lernunterstützung, die „Stabilisierung“ (Göhlich 2001, 236), entscheidend für die Bewältigung von Wandel bzw. für den Umgang mit Übergangssituationen ist bzw. wäre, da das „Zulassen des Vorhandenen […] seinerseits stets Stabilisierungspotential“ (ebd., 237) enthält. Probleme in Form von Verunsicherung und ihren beschriebenen Folgen Angst, Stress, Widerstand und der damit verbundenen Dysfunktionalität der Bereiche entstehen dann, wenn die verantwortlichen Führungskräfte es versäumen, vorhandenes Wissen und Können, vorhandene Kompetenz und vorhandene Praxis zuzulassen, anzuerkennen und in bestehende oder zu erneuernde Prozesse der organisationalen Praxis zu integrieren. Dies zeigt sich am Beispiel der neuen
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Mitarbeiterin, die in einen „Strudel“ gerät, weil sie den Bereich noch nicht gefunden hat, in dem sie ihre persönlichen Kompetenzen einbringen kann, ebenso wie bei dem Mitarbeiter, der so lange die alten Gruppennamen verwendet, bis er gezwungen wird, dies zu unterlassen; es zeigt sich bei der Wohngruppe „Feldhasen“, die wissen, dass sie wissen, und deshalb auch ihre bisherige Praxis in Frage stellen können, ebenso wie bei der Gruppe in der Jugendhilfe, die nichts mehr hatte, worauf sie zurückgreifen konnte, weil alle Strukturen, Spielregeln und Beziehungen durch häufigen personellen Wechsel und den vorangegangenen Wechsel des Trägers verschwunden waren, und die nun höchst empfindlich auf den Versuch reagiert, ihre mühsam erarbeiteten Strukturen in Frage zu stellen. Im Wirtschaftsunternehmen gehen Wissen und Veränderung Hand in Hand: Erst ein bestimmtes Fachwissen und ein umfassendes auf die Organisation bezogenes Wissen bzw. ein Wissen über die Organisation macht die Mitarbeiter kompetent für kritisches Hinterfragen und Veränderungen im Sinne der Organisation. Für die Lernunterstützung durch die Vorgesetzten im Wirtschaftsunternehmen bedeutet dies, dass sie weniger einen stabilisierenden als einen aufklärenden und anregenden Aspekt hat (vgl. Göhlich 2001, 238f.): So ist bspw. in der Kompetenzbeschreibung für „Querdenken“ enthalten „bringt andere dazu, über eigenes Aufgabengebiet hinweg Zusammenhänge zu erkennen und zu berücksichtigen“ oder „denkt in Alternativen“. Es geht also um die Anregung, für die Mitarbeiter neues bzw. anderes Wissen in ihre Arbeitsabläufe zu integrieren. Auch im Zusammenhang mit „Querdenken“, insbesondere aber bei der Kompetenz „Veränderungsbereitschaft“, geht es darum, „kritisch und auch selbstkritisch“ zu sein, zu sagen, „wir müssen doch alles ganz anders machen“. Die Mitarbeiter sollen „kritisch hinterfragen, ist es so richtig?“. Hier wird der aufklärende Aspekt der Lernunterstützung deutlich, zu der Führungskräfte und Mitarbeiter durch formale Vorgaben und auch durch ihre Vorgesetzten in den Gesprächen angehalten werden. Dies gilt ebenso für organisationale Lernprozesse, denn die Mitarbeiter werden grundsätzlich dazu aufgefordert, über ihren „Tellerrand“ hinauszublicken und das Gesamtunternehmen in den Blick zu nehmen. Somit ist die Organisation stetiger Bezugspunkt für Lernprozesse der Mitarbeiter. Es findet nach Argyris und Schön organisationales Lernen statt, denn die Mitarbeiter machen sich stellvertretend für die Organisation daran, Prozesse und Abläufe kritisch zu hinterfragen und zu analysieren und die Ergebnisse dann an andere weiter zu vermitteln.
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
Vom Familienbetrieb zum Konzern Was die großen Veränderungsprozesse der letzten Jahre betrifft, die sich in den beiden Unternehmen vollzogen haben, sind einige Parallelen festzustellen: In beiden Unternehmen gelten in der Anfangsphase familiäre Werte. Die Mitarbeiter fühlen sich dem gemeinsamen Familienoberhaupt und der Gemeinschaft verpflichtet. Die damals entstandenen Muster sind noch nicht ganz verschwunden. Das Wirtschaftsunternehmen ist weiterhin im Familienbesitz; Mitglieder der Gründerfamilie sind nach wie vor in der Unternehmensleitung präsent, zur Unternehmensleitung gehört aber seit der Fusion auch ein familienexterner Manager. Das Unternehmen ist seitdem managementgeführt. Im Wirtschaftsunternehmen findet sich auch bei jüngeren Mitarbeitern hin und wieder ein Rückbezug auf die „familiären“ Verpflichtungen, wenn bspw. ein Vorgesetzter eine sehr persönliche Verbundenheit zum Unternehmensleiter ausdrückt, die er keineswegs ironisch meint. In beiden Organisationen ist ein Großteil der Mitglieder schon sehr lange in der Organisation tätig. Sie haben dort ihre Ausbildung absolviert, wurden übernommen oder sind kurz nach Abschluss des Studiums ins Unternehmen eingetreten. Ihre berufliche Sozialisation ist stark an die jeweilige Organisation und ihre spezifische Organisationskultur gebunden. Auch darüber lassen sich Schwierigkeiten mit Veränderungsprozessen insbesondere jeweils beim älteren Teil der Belegschaft erklären. Bei beiden Mitarbeitergruppen hat mit dem Eintritt in die Organisation auch eine Entscheidung für eine bestimmte Art von Organisation stattgefunden. Sowohl im Sozialunternehmen als auch im Wirtschaftsunternehmen haben sich jedoch die Werte in den letzten Jahrzehnten stark verändert – im Sozialunternehmen durch die stärkere ökonomische Ausrichtung, im Wirtschaftsunternehmen durch die Managementführung und die veränderte Organisationsstruktur.
Widerstände Widerstände gegen Veränderungen finden sich sowohl auf der Ebene der Personen als auch auf der Ebene der Organisation. Das Konzept des Widerstands soll jedoch nicht als Legitimation des Veränderns und der Veränderer und als kategorische Kritik der Ablehnung durch die Betroffenen verstanden werden. Zum einen wird dadurch „die Möglichkeit, dass der Widerstand sinnvoll, moralisch gerechtfertigt oder auch für die Abteilung eigentlich funktional [sein könnte,]
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von vornherein ausgeschlossen“ (Schreyögg 2008, 405). Zum anderen zeigen insbesondere die Beispiele der fehlenden Stabilisierung, die sich in beiden Organisationen finden, um so mehr, dass Veränderung nicht nur als Vollzug eines geplanten Prozesses betrachtet werden kann, sondern vielmehr als gemeinsamer Lern- und Lernunterstützungsprozess der Individuen und der Organisation verstanden werden muss, für den nicht zuletzt die Wertschätzung des Bestehenden eine gewichtige Rolle spielt. Aus dieser Perspektive betrachtet, benötigen Veränderungen in Organisationen nicht nur die Bereitschaft der Mitarbeiter, diese zu initiieren bzw. sich auf diese einzulassen, sondern auch die entsprechende pädagogische Lernunterstützungskompetenz auf Seiten der Verantwortlichen zur adäquaten Initiation und Begleitung dieser Prozesse.
9.3.3 Personalentwicklung als pädagogische Praxis?! Im Hinblick auf die Weitergabe von Wissen sind das Engagement und die Offenheit der Vorgesetzten in beiden Unternehmen sehr ausgeprägt. Bei Führungskräften beider Organisationen wird deutlich, dass sie sich zur Weitergabe ihres persönlichen Wissens über die Organisation verpflichtet fühlen. Es werden Angebote gemacht oder auf Wissensträger in der Organisation hingewiesen. Die Führungskräfte zeigen sich hier als pädagogische Wissensmanager: Sie regen an und klären auf; sie identifizieren Wissensträger in ihrem Bereich; und sie bringen dadurch Lernprozesse in Gang. Darüber hinaus erwarten sie von den Mitarbeitern, dass diese selbst die Initiative für die Erweiterung ihres Wissens ergreifen. Im Wirtschaftsunternehmen finden sich in den Gesprächen auch immer wieder klassische Vermittlungssituationen, in denen der Vorgesetzte direkt pädagogisch tätig wird, indem er Sachverhalte, Zusammenhänge und Vorgehensweisen erläutert. In der organisationalen Praxis des Sozialunternehmens finden sich institutionalisierte Lernunterstützungsstrukturen wie Mentoren und Formen des Wissensmanagements wie interne Telefonverzeichnisse. Im Hinblick auf organisationale Veränderungsprozesse zeigt sich in der Praxis der Mitarbeitergespräche des Sozialunternehmens eine eher schwach ausgeprägte (Lern-)Unterstützung und Begleitung durch die Vorgesetzten. Wie weiter oben beschrieben, herrscht im Sozialunternehmen, ebenso wie im Wirtschaftsunternehmen, die Praxis der Verordnung von Veränderungen von oben vor. Die Führungskräfte im Sozialunternehmen erweisen sich diesbezüglich eher als das ausführende Organ für die Unternehmensleitung und agieren nicht als eigenständige Organisationsentwickler, die sich gemeinsam mit ihren Mitarbei-
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9 Wissen und der Umgang mit Veränderungen
tern auf die Suche nach Lernmöglichkeiten und Lernnotwendigkeiten machen. Dies ist von Seiten der Organisation auch nicht vorgesehen. Es geht hier nicht um eigenständige Suchbewegungen, sondern darum, Mitarbeitern die Gründe für Veränderungen klar zu machen, die von oben für notwendig erachtet werden. Ein ungenutztes Potential für die Personal- und Organisationsentwicklung im Sozialunternehmen liegt in der Stabilisierung vorhandenen Wissens und Könnens der Mitarbeiter, das für die Initiation und Umsetzung von Veränderungsprozessen auf individueller und organisationaler Ebene eine wichtige Rolle spielen würde. Als Element eines pädagogischen Verständnisses von Lernunterstützung (s. Kap. 2.1.5) könnte schon allein die Anerkennung der Kompetenz der Mitarbeiter zu mehr Vertrauen und Sicherheit führen und damit auch zu einer erhöhten Bereitschaft, sich auf Veränderungsprozesse einzulassen. Diese Anerkennung könnte auch durch die Partizipation der Mitarbeiter an Veränderungsprozessen erfolgen, denn grundsätzlich zeigen die Mitarbeiter im Sozialunternehmen eine hohe Reflexivität im Hinblick auf Veränderungsmöglichkeiten in ihrem Arbeitsbereich. Sie würden gerne selbst als Organisationsentwickler im pädagogisch-fachlichen Auftrag agieren. Die organisationale Praxis ermöglicht zwar Freiräume für die persönliche Weiterentwicklung der Mitarbeiter, wie Kapitel 8 zum Thema Weiterbildung zeigt; dem Übergang zum Organisational-Werden dieser Ideen und Lernmöglichkeiten sind aber relativ schnell enge Grenzen gesetzt. Ein Ziel kann nur ein Ziel sein, wenn es von oben unterstützt wird. Dadurch greifen Personal- und Organisationsentwicklung sowie individuelle und organisationale Lern- und Veränderungsprozesse im Sozialunternehmen nur selten ineinander. In den Gesprächen des Wirtschaftsunternehmens begegnet man immer wieder Vermittlungssituationen, in denen Vorgesetzte ihren Mitarbeitern Zusammenhänge erklären oder, insbesondere bei den Mitarbeitern mit Führungsaufgaben, ihnen Möglichkeiten erläutern, wie diese selbst vermittelnd tätig werden können, und die Mitarbeiter auch explizit dazu auffordern. Zu einem großen Teil richtet sich diese Aufforderung zur Vermittlung auf organisationale Veränderungsprozesse, die mittels individueller Lernprozesse erreicht werden sollen. Dabei wird in den Gesprächen deutlich, dass es sich bei dem Wissen, das bei organisationalen Lernprozessen zu vermitteln ist, sowohl um implizites als auch um explizites Wissen handelt. Dabei ist Führungskräften wie Mitarbeitern bewusst, dass der Weg der Vermittlung jeweils ein anderer ist. Es wird hier auf der einen Seite vorgelebt, auf der anderen Seite erklärt, schriftlich gemacht und angetrieben. Die Führungskräfte im Wirtschaftsunternehmen agieren als Organisationsentwickler. Elemente pädagogischer Praxis sind dabei immer wieder aus-
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zumachen, wenn diese auch nicht bewusst als solche wahrgenommen wird. Es ist die Mission bzw. der Auftrag, das Unternehmen voranzubringen, der die Vorgesetzten ihre Botschaft an die Mitarbeiter vermitteln und sie zu Aufklärern werden lässt. Informelle Wege der Wissensbeschaffung der Mitarbeiter im Rahmen von Veränderungsprozessen weisen darauf hin, dass die zur Verfügung gestellten Lernunterstützungsstrukturen zur Bewältigung des Wandels noch optimiert werden können. Die Beispiele zeigen, dass anderenfalls die zeitlichen Kapazitäten der Mitarbeiter, die als Ansprechpartner und Wissensvermittler aus- und aufgesucht werden, und die Mitarbeiter selbst zu stark belastet werden.
10 Verknüpfung individueller und organisationaler Lernprozesse
Während in den vorangegangenen Anal3ysekapiteln „bottom-up“ vorgegangen und ausschließlich aus dem empirischen Material heraus gearbeitet wird, was schließlich Muster organisationaler Praxis und deren Auswirkungen auf individuelles und organisationales Lernen sichtbar macht, sucht dieses Kapitel gezielt nach tatsächlich in den Gesprächen erfolgter oder in der organisationalen Praxis erkennbarer Lernunterstützung. Insbesondere sollen hier diejenigen Punkte in den Blick genommen werden, an denen individuelle und organisationale Lernprozesse verknüpft werden, was, wie in Kapitel 4 dargestellt, ein potentielles Ziel des Mitarbeitergesprächs darstellt. Den theoretischen Referenzrahmen für dieses Kapitel bilden die Ausführungen in Kapitel 1.1.2 dieser Arbeit, hier insbesondere das Verständnis von Lernen und Lernunterstützung nach Göhlich (2001). Lernen wird als „erfahrungsreflexive, auf den Lernenden sich auswirkende Gewinnung von spezifischem Wissen und Können“ (Göhlich/ Zirfas 2007, 17) verstanden. Es handelt sich nicht nur um einen kognitiven, sondern um einen mehrdimensionalen, auch körperlichen und häufig mustermimetischen Prozess auf der Basis bewusster oder unbewusster Erfahrung. Hier sei an die vier Aspekte des Lernens (KönnenLernen, Wissen-Lernen, Leben-Lernen und Lernen-Lernen) sowie an die drei Ebenen der Lernunterstützung Stabilisieren, Aufklären und Anregen verwiesen. Die theoretischen Modelle für die Betrachtung der Verknüpfung individuellen und organisationalen Lernens finden sich in den vorgestellten „klassischen“ Ansätzen organisationalen Lernens von March und Olsen, Duncan und Weiss, Nonaka und Takeuchi sowie Argyris und Schön ebenso wie in den integrativen Modellen von Hanft und Felsch (s. Kap. 2.3).
I. Sausele-Bayer, Personalentwicklung als pädagogische Praxis, DOI 10.1007/978-3-531-94021-2_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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10 Verknüpfung individueller und organisationaler Lernprozesse
10.1 Sozialunternehmen Im Sozialunternehmen können drei Strategien ausgemacht werden, durch die Vorgesetzte, Mitarbeiter und die Organisation versuchen, zu lernen bzw. Lernprozesse zu unterstützen: Erstens handelt es sich um die mehr oder weniger bewusste Orientierung an einem Vorbild, also um Prozesse der Mimesis, des Abguckens und Nachahmens; zweitens werden das Wissen und die Erfahrung von Kollegen und Vorgesetzten, also in der Organisation vorhandene Ressourcen, auf einer eher informellen Ebene aber trotzdem gezielt angeboten und nachgefragt; und drittens kann der Versuch beobachtet werden, diese informellen Prozesse durch formale Strukturen zu institutionalisieren.
10.1.1 Mimesis 10.1.1.1
„vielleicht kopiert man auch ein bisschen“
Das folgende Beispiel stammt nicht aus dem pädagogischen, sondern aus dem hauswirtschaftlichen Bereich. Es geht vornehmlich um den Aspekt des KönnenLernens, also um die Nachahmung des Vorbilds der Vorgesetzten durch den Mitarbeiter: F (w): Und das ist etwas, was ich sehr aufmerksam beobachte, wahrnehme und was mir auch gut gefällt. M (m): Mhm. F: Weil, ja, das auch so meine Art ist, von mir kennen Sie das ja schon länger. M: Aber vielleicht kopiert man auch ein bisschen, weil man es oft genug sieht oder weil man sieht, dass der Vorgesetzte damit ja eigentlich gut fährt, bei seinem Vorgesetzten wieder, man kupfert schon ein bisschen ab, sage ich ganz ehrlich. Man wäre ja dumm, wenn man es, oder ich würde jetzt lügen, wenn ich es, wenn ich es, wenn ich sage, das ist alles auf meinem Mist gewachsen. Da wär man ja dumm. F: Nein, ich finde es auch gut, wenn Sie sich da Dinge abschauen. Das war das, was mir meine Lehrfrau vor, ja, 25 Jahren oder wie lange das her ist, schon mit auf den Weg gegeben hat, hat sie gesagt, du musst ehrlich sein, aber mit den Augen darfst du alles stehlen. M: Genau. F: Das finde ich auch gut, wenn Sie da beobachten, eh, ja, wenn Sie feststellen, das kann ich ja übertragen, oder das ist auch für mich hilfreich, warum nicht. M: Ja. (SU MA IV)
Offensichtlich hat hier ein Lernprozess stattgefunden, denn die Vorgesetzte konstatiert und lobt, dass sie an ihrem Mitarbeiter ein neues Verhalten beobachtet, das sie selbst „ja schon länger“ praktiziert. Sie nimmt sich als Vorbild wahr,
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denn seine Orientierung an ihrer „Art“ gefällt ihr gut. Der Mitarbeiter selbst erklärt seine Orientierung am Vorbild der Vorgesetzten zum einen grundsätzlich durch die Möglichkeit, ein bestimmtes Verhalten regelmäßig beobachten zu können („weil man es oft genug sieht“), zum anderen durch die Feststellung, dass das beobachtete Verhalten erfolgreich ist („dass der Vorgesetzte damit ja eigentlich gut fährt“). Bei den Lernprozessen, die hier beschrieben werden, handelt es sich also um eine Mischung aus mimetischem Lernen (vgl. Wulf 2007) und Beobachtungs- oder Modelllernen, wie Bandura es beschreibt (vgl. Edelmann 1996). Legt die Bemerkung des Mitarbeiters über den Erfolg des beobachteten Verhaltens eine behavioristische Erklärung nahe – das Verhalten wird übernommen, weil es positiv verstärkt wurde; man spricht hier auch von „stellvertretender Verstärkung“ (vgl. ebd., 285) –, verweist seine Überlegung „Man wäre ja dumm“ auf die dahinter stehenden kognitiven Verstärkungs- und Motivationsprozesse (vgl. ebd., 287). Dies bedeutet nicht, dass das Verhalten eins zu eins übernommen wird. Es ist nicht „alles“ auf dem „Mist“ des Mitarbeiters gewachsen, aber er hat selbstverständlich die Möglichkeit, eigene Anteile in seine Nachahmung der Art der Vorgesetzten einzubringen; er „kupfert […] ein bisschen“, aber nicht zwangsläufig alles ab. So entsteht im Prozess der Mimesis etwas Eigenes; gleichzeitig erweitert der Mitarbeiter durch den Lernprozess seine Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten (vgl. Wulf 2007, 96). Die Vorgesetzte ermutigt den Mitarbeiter, der den Eindruck macht, sich für sein Nachahmen rechtfertigen zu wollen („Man wäre ja dumm, […], oder ich würde jetzt lügen“), mehrfach dazu, sich bei ihr Dinge abzuschauen („Das finde ich auch gut“, „ich finde es auch gut“). Mit dem Verweis auf ihre „Lehrfrau“ zeigt sie, dass es sich hierbei um ein altes Prinzip der Lehre, des Verhältnisses zwischen Meister und Lehrling handelt: „Die Lehre erscheint hier insbesondere als Vorbild und Vormachen, welches vom Lernenden nachgemacht, nachgeahmt wird. Hierbei geht es vor allem um Können-Lernen“ (Göhlich/ Zirfas 2007, 157). Dies findet auf der Ebene mimetischer Prozesse statt, ohne dass es eine konkrete Vermittlungssituation geben würde, in der das zu Lernende vorgemacht, nachgemacht und eingeübt wird. Bereits in Kap. 7.1 konnte im Zusammenhang mit der Übernahme des Führungsstils gezeigt werden, dass mimetische Lernprozesse eine hohe Relevanz bei Führungsthemen haben. Auch im folgenden Beispiel handelt es sich um ein Führungsthema. Es geht konkret um das Führen von Mitarbeitergesprächen, wofür der Mitarbeiter das Vorbild durch seine Vorgesetzte als wertvoller einschätzt als eine Fortbildung:
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10 Verknüpfung individueller und organisationaler Lernprozesse F (w): Gut, wie geht es Ihnen jetzt. M (m): Wie ging es Ihnen jetzt mit dem Gespräch? (beide lachen) M: Gut, also ich habe ein bisschen Schiss gehabt am Anfang. Man hat es ja auf der Fortbildung gelernt, aber es ist ja meistens so, dass die Realität anders ist als auf der Fortbildung. F: Das ist so. M: Wie gehe ich in das Gespräch? Und ich habe mir dann auch überlegt, wie mache ich das dann? Naja, jetzt warten wir erst einmal, wie das die Frau Körner mit mir macht, da kann man ja einiges abkupfern. Aber es ist eigentlich, eigentlich so gelaufen, wie ich mir das gedacht habe. Im Großen und Ganzen. Nein. Es wird immer ein, immer ein Gespräch, also es wurde ja gesagt, es ist ein Gespräch von, in der gleichen Ebene. Es wird immer ein Gespräch vom Vorgesetzten zum, zum Mitarbeiter, das wird nie in der gleichen Ebene sein. Aber es kommt eben immer auf den Einzelnen an, wie er sich dann gibt oder wo er sich traut etwas zu sagen oder nicht. Doch, ich fand es gut. (SU MA IV)
Themen- oder Aufgabenbereiche, bei denen die eigene Position unklar oder noch unsicher ist („wie mache ich das dann“), legen offensichtlich die Orientierung an einem Vorbild nahe. Gleichzeitig spielt ein anderer Modus des Lernens eine Rolle, nämlich das Lernen aus Erfahrung im Sinne eines Widerfahrens (vgl. Göhlich 2007a, 195): Der Mitarbeiter hofft in diesem Fall, durch die Beobachtung seiner Vorgesetzten bzw. durch die Erfahrung am eigenen Leib („wie das die Frau Körner mit mir macht“) für seine eigenen Führungsaufgaben zu profitieren, also etwas zu lernen („da kann man ja einiges abkupfern“). Wulf beschreibt als Antrieb für mimetische Lernprozesse das „Begehren, den Älteren ähnlich zu werden“ (2007, 92) zwar im Zusammenhang mit Kindern, die Überlegung passt aber einerseits zur oben gezeigten Vorbildfunktion des älteren und erfahreneren Lehrmeisters bzw. der „Lehrfrau“ und schließt andererseits an die familienartige Struktur des Sozialunternehmens an – an die Gemeinschaft aus Älteren und Jüngeren und an das sich daraus ergebende Machtgefüge, wie es in Kapitel 7.3 beschrieben wurde. Nach der Reflexion des Erlebten bzw. in der Erinnerung (vgl. Göhlich 2007a, 198) ist die Erfahrung, die der Mitarbeiter gemacht hat, nur eine Bestätigung seiner Vorstellungen („es ist eigentlich so gelaufen, wie ich mir das gedacht habe“). Er ist mit dem Gespräch zufrieden („ich fand es gut“). Entsprechend liegt eine Nachahmung des Beobachteten und Erfahrenen nahe, auch wenn hier ebenfalls wieder eine Modifikation stattfindet und keine reine Kopie des beobachteten Verhaltens erfolgt („Aber es kommt eben immer auf den Einzelnen an“). Ebenfalls um ein Lernen ohne einen aktiven Vermittlungsakt von Seiten des Vorgesetzten geht es in folgendem Gesprächsausschnitt, der bereits in Kapitel 7.1 unter dem Gesichtspunkt von Macht genauer betrachtet wurde: Die Mitarbeiterin hat die Leitung eines Wohnbereichs übernommen, in dem sie vorher viele
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Jahre als Stellvertreterin ihres eher autoritären Vorgängers tätig war. Sie selbst hat von ihrem Vorgesetzten damals nur wenig erfahren. Dieser hat die mit der Leitungsfunktion verbundene Macht und das Wissen zur Ausfüllung dieser Position stark an sich gezogen bzw. „zentriert“, wie es im Gespräch heißt. Wenn es nun darum geht, für die Mitarbeiterin selbst eine Vertretung aufzubauen, geht die Mitarbeiterin davon aus, dass durch ihr „offenes Arbeiten“ und ihren offeneren Umgang mit den Mitarbeitern automatisch mehr Wissen über die Abläufe im Wohnbereich transparent wird: F (m): Haben Sie denn zu irgendeinem Zeitpunkt mit der Frau Wunder einmal so ein Gespräch geführt über die Rolle der Vertretung und was dann dazu gehört, und wie Sie sich das wünschen, wie Sie sich das vorstellen? M (w): Eh, das hatten wir geführt, am Anfang, ganz am Anfang (2) wobei (hustet) ich gesagt habe, sie soll sich da nicht so viel erwarten, dass ich mir vorstelle, eh, wie ich als Vertretung, ich wusste eigentlich gar nichts, ich bin eigentlich immer ins kalte Wasser geworfen worden. Und ich denke, nachdem ich sowieso offener arbeite als der Dirk, weil ich immer denke, Mitarbeiter sind motivierter, wenn sie Schritte nachvollziehen können. Muss nicht alles wissen, aber in vielen Sachen denke ich mir, ist es einfacher zu arbeiten, wenn ich weiß, warum ich so arbeiten muss. Ja, also bin ich sowieso viel offener im Umgang mit den Mitarbeitern, als der Dirk jemals war. Also von daher kann ich, muss ich ja auch nicht viel weiter geben, weil ja sowieso ein offener, offenes Arbeiten ist. F: Hm, aber das, irgendwie steckt da ja ein Widerspruch drin, wenn Sie sagen, darfst da nicht so viel, Sie haben beim Herrn Lederer wenig erfahren, M: Hmm. F: weil er das ja ein bisschen mehr so, Wissen ist Macht, sage ich jetzt einmal so. Sie arbeiten offener M: Mhm. F: und sagen dann zu Ihrer Vertretung, du musst dir nicht viel Hoffnungen machen, weil, da gibt es ja nicht viel zu erfahren. M: Nein [1] nein, nein, weil ich ja so offener arbeite F: Da gibt es doch ganz viel dann zu erwarten, M: Jetzt habe ich es nicht verstanden. F: Dann gibt es doch ganz viel zu erwarten. Das ist doch eigentlich, eigentlich geht es ihr doch besser als Ihnen M: Na ja, zu viel zu erwarten, ich denke, ich übergebe ihr Sachen, oder ich, wenn ich nicht kann, dann übernimmt sie für mich irgendwelche Sachen, F: Mhm. M: ja, aber jetzt so, was das Haus anbelangt oder jetzt wieder Wohnung oder so, ich meine, das, eigentlich, wenn sie zuhört, weiß sie das, weil ich das öffentlich gemacht habe. Zum Teil. (SU FK II)
Mimetisches Lernen kann nur dort stattfinden, wo ein Verhalten bzw. die Ausübung bestimmter Tätigkeiten auch beobachtet werden können. Während dies beim ehemaligen Einrichtungsleiter, also dem Vorgänger der Mitarbeiterin, nicht möglich war, weil dieser ihr, seiner damaligen Stellvertreterin, keinen Einblick
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in die Leitungsaufgaben ermöglicht hat, geht die Mitarbeiterin davon aus, dass ihre eigene Stellvertreterin bestimmte Themen „was das Haus anbelangt oder jetzt wieder Wohnung“ erfährt, „wenn sie zuhört“. Hier geht es aber offensichtlich weniger um Können-Lernen als um WissenLernen, weniger um das Nachahmen eines Vorbilds bei der Ausübung bestimmter Tätigkeiten als um die Weitergabe von Wissen und Informationen. Dies sieht die Mitarbeiterin durch ihr offeneres Arbeiten als gewährleistet an. Transparenz und Öffentlichkeit („weil ich das öffentlich gemacht habe“) bedeuten zwar, dass die Gründe für Entscheidungen nicht geheim gehalten werden („Schritte nachvollziehen können“); dies garantiert aber offensichtlich nicht, dass dabei auch tatsächlich ein Wissenstransfer stattfindet. Um an Informationen heranzukommen, muss die Stellvertreterin sehr aufmerksam sein, da ihre Vorgesetzte gezielte Vermittlungsprozesse bzw. ein gezieltes „[W]eitergeben“ von Wissen und Informationen nicht für nötig hält. Das Beispiel des Vorgesetzte-Stellvertreterin-Verhältnisses macht aus einem weiteren Grund deutlich, dass der Lernprozess der Stellvertreterin keineswegs allein durch das offene Arbeiten sicher gestellt ist: Es zeigt, dass Lernprozesse auch auf eine dialogische Auseinandersetzung mit dem Anderen angewiesen sind (vgl. Göhlich/ Zirfas 2007, 180; Schein 1996b) und nicht nur von der Fähigkeit, sondern auch von der Bereitschaft der Beteiligten, zu lernen, abhängen („wenn sie zuhört“), denn das „wenn“ kann entsprechend nicht nur für Zuhören-Können, sondern auch für Zuhören-Wollen stehen. Die Haltung der Mitarbeiterin steht im Gegensatz zur Vorgehensweise des Einrichtungsleiters, ihres neuen direkten Vorgesetzten. Dieser bemüht sich, die Argumente und Beweggründe seiner Mitarbeiterin zu verstehen und der Mitarbeiterin durch den dazu nötigen Dialog, Einsicht in ihr eigenes Verhalten zu geben, ohne sie dabei offen zu kritisieren. Dies ist ganz im Sinne der „Gesichtswahrung“ nach Schein (ebd., 211), der die essentielle Voraussetzung für Lern- und Veränderungsprozesse im Dialog sieht.
10.1.2 Nutzung vorhandener Ressourcen 10.1.2.1
„weil, das Potential hätten wir“
Immer wieder sind es im Sozialunternehmen die Mitarbeiter, die anregen, das in den Einrichtungen vorhandene Wissen, das Potential und die Ressourcen der Kollegen zu nutzen. Sie sind es, die den Austausch initiieren oder organisieren
10.1 Sozialunternehmen
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und ihr Wissen und ihre Erfahrungen anderen zur Verfügung stellen wollen. Sie scheitern aber auch immer wieder – an ihren Kollegen und an ihren Vorgesetzten: M (m): […] Und ja, fachlich, mich, mich demotiviert oder mich hat ein bisschen enttäuscht, dieses, diese Küchenleiterrunde, wo ich mir eigentlich schon einiges erhofft habe, weil, das Potential hätten wir. F (w): Sie meinen diese Runde, wo die Küchenleitungen des [Sozialunternehmens] sich treffen. M: Ja, ja. Da sehe ich eben, dass da kein Interesse besteht, oder dass auch die Kollegen jetzt wirklich kein, sagen wir mal, keine Lust haben, sich da nachmittags hinzusetzen, und das eigentlich als Kaffeetrinken sehen. Und eh, ich sehe das eigentlich schon, eh, als (2) naja, als Chance, dass man, wie jetzt in [Standort], dass da kein Caterer rein kommt, wenn man da stark genug wäre, aber F: Das weiß ich nicht, kann ich nicht beurteilen, M: Und dass man auch mehr machen könnte, wir könnten schon ein bisschen besser dastehen, auch als Küchen allgemein. F: Wenn ich Sie richtig verstehe, fehlt Ihnen so der kollegiale Austausch. M: Ja, ja F: Obwohl Kollegen da sind und M: Ich kenne das jetzt von einem guten Freund, der bei [Unternehmen] arbeitet in [Ort] und da bekomme ich das mit. Die treffen sich einmal alle vierzehn Tage und das ist super. Da gibt es auch einen Protokollanten und die, die haben ihre Themen, die gehen auch zusammen essen, die, die, da gibt es auch allein Fortbildungen, wie es auch hier gemacht wird, aber da besucht der die Fortbildungen und berichtet, da macht der die Fortbildung und jeder profitiert eigentlich vom anderen, und das ist eigentlich bei uns nicht der Fall. F: Und das war aber eigentlich Intention dieses Arbeitskreises, wenn es nicht läuft, ist es schade, eh, ich weiß nicht, ob man noch einmal an irgendeiner Stelle nachhaken kann. Das steht und fällt eben auch immer mit den Personen, die da sind. M: Ja, ich habe es selber noch mal versucht, aber mit, mit F: Ja, also ich sehe das ähnlich wie Sie, es ist schade, es könnte schön sein, aber, eh, vielleicht muss man da wirklich sehen, eh, ja, dass Sie sich irgendwie anders orientieren, weg von den internen Kollegen hin zu andern. (SU MA IV)
Das Ideal, das der Mitarbeiter hier beschreibt, kennt er nur vom Hörensagen aus einem anderen Unternehmen: Kollegen treffen sich alle zwei Wochen, um sich über gemeinsame, zuvor bestimmte fachliche Themen auszutauschen („die haben ihre Themen“); sie halten die Inhalte und Ergebnisse ihrer Treffen schriftlich fest, konservieren sie dadurch und machen sie auch für andere zugänglich („da gibt es auch einen Protokollanten“); sie berichten sich gegenseitig von ihren Fortbildungen und fungieren damit als Multiplikatoren für neueste fachliche Erkenntnisse; der finanzielle sowie der zeitliche Aufwand, den die Unternehmen bzw. die Einzelnen in Weiterbildung investieren, wird dadurch effizient genutzt; sie verbinden ihre Treffen mit einem gemeinsamen Essen, was für viele gleichzeitig Arbeit und persönliche Leidenschaft, in jedem Fall aber ein gemeinsamer Anknüpfungspunkt sein mag; sie bilden ein Netzwerk, in dem jeder von jedem
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lernt und profitiert und in dem eine systematisierte Weitergabe von neuem Wissen stattfindet. Ohne zu wissen, wie diese vom Mitarbeiter beschriebene Runde in einem anderen Unternehmen entstanden ist, erinnert seine Beschreibung stark an das, was Wenger und Snyder als „communities of practice“ bezeichnen. Von einem Team oder einer Arbeitsgruppe, die zur Bewältigung einer bestimmten Aufgabe eingerichtet werden, unterscheiden sich diese durch ihren informellen Charakter: „[T]hey organize themselves, meaning they set their own agendas and establish their own leadership. And membership in a community of practice is selfselected. In other words, people in such communities tend to know when and if they should join. They know if they have something to give and whether they are likely to take something away” (Wenger/ Snyder 2000, 142). Sie existieren über bestehende Strukturen hinaus bzw. liegen quer zu diesen. Sie werden von den Autoren als äußerst Erfolg versprechend für den Austausch von Wissen und Ideen innerhalb eines Unternehmens und über Unternehmensgrenzen hinaus bewertet, allerdings stellen sie fest, dass ihr informeller Charakter sie nur schwer für den formalen Zugriff von Seiten der Führungspersonen zugänglich macht. Ihre Einrichtung ist also nicht anordenbar, sondern muss aus eigenem Antrieb erfolgen. Dass dies unter den Küchenleitern des Sozialunternehmens so nicht funktioniert, wird von der Vorgesetzten also folgerichtig auf die „Personen, die da sind“, zurückgeführt. An den entsprechenden organisatorischen Rahmenbedingungen mangelt es jedenfalls nicht im Sozialunternehmen, denn es gibt „diese Küchenleiterrunde“. Es sind die einzelnen Personen, die „kein Interesse“ am gegenseitigen Austausch haben. Anstatt voneinander zu lernen und an gemeinsamen Themen zu arbeiten, trifft man sich lieber zum „Kaffeetrinken“ und unterläuft damit den von der Einrichtung vorgegebenen Rahmen („Und das war aber eigentlich Intention dieses Arbeitskreises“). Der Mitarbeiter beschreibt dies zunächst als demotivierend, schwächt dies dann aber ab und meint, er sei „ein bisschen enttäuscht“ über die Haltung seiner Kollegen. Er nimmt den Arbeitskreis als „Chance“ wahr weiterzukommen, das Ansehen der eigenen Zunft im Gesamtunternehmen zu verbessern („wir könnten schon ein bisschen besser dastehen, auch als Küchen allgemein“) und die eigenen fachlichen Kompetenzen im Unternehmen zu stärken und zu sichern („wenn man da stark genug wäre“). Hier geht es ihm sicherlich auch um die Sicherung der eigenen Position, des eigenen Bereichs und nicht zuletzt des eigenen Arbeitsplatzes sowie um ein Signal an die Einrichtungs- bzw. Unternehmensleitung, nicht so leicht austauschbar zu sein; es wird aber auch deutlich, dass seine
10.1 Sozialunternehmen
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Überlegungen für das Gesamtunternehmen gelten. Dieses rückt spätestens dann in den Blick, wenn er merkt, dass er für den Erhalt der eigenen Stelle auf den Austausch auf organisationaler Ebene nicht verzichten kann. Als möglicherweise drohendes Szenario weist er auf das Outsourcen von Leistungen hin, für die eigentlich die Kompetenzen im eigenen Hause vorhanden wären („weil, das Potential hätten wir“), nämlich auf den Einsatz eines Catering-Unternehmens an einem anderen Standort des Sozialunternehmens. Hier bestünde ein großes Potential für organisationale Lernprozesse. Der Mitarbeiter beobachtet stellvertretend für die Organisation bzw. das Subsystem „Küchen allgemein“ eine aus seiner Sicht unglückliche Entwicklung in einem anderen Teil des Sozialunternehmens (vgl. Argyris/ Schön 1999, 31). Seine Initiative zur Veränderung der Praxis im eigenen Bereich und an den anderen Standorten resultiert aus einer Krise bzw. Bedrohung. Die herrschende Praxis sollte seiner Ansicht nach verändert werden; individuelle und kollektive Lernprozesse sollen in Form eines systematischen Austauschs unter den Kollegen initiiert werden, damit die unternehmenseigenen Küchen überleben können. Der Versuch des Mitarbeiters, mit seiner Vorgesetzten auf diese überindividuelle Ebene zu kommen, wird von der Vorgesetzten abgeblockt („Das weiß ich nicht, kann ich nicht beurteilen“) und bringt ihn zurück auf die Ebene des Austauschs unter den Kollegen („Wenn ich Sie richtig verstehe, fehlt Ihnen so der kollegiale Austausch“). Sie unterstreicht, dass sie kaum Möglichkeiten sieht, die Situation zu verändern („ich weiß nicht, ob man noch einmal an irgendeiner Stelle nachhaken kann“). Durch die Initiierung des Arbeitskreises wurden zwar die organisationalen Voraussetzungen geschaffen, der gegenseitige Austausch kann auf dieser Ebene aber nicht angeordnet werden. Es müsste bspw. ein Moderator von außen eingesetzt oder unter den Küchenleitern bestimmt werden, der die Arbeitskreise anleitet. Da keine Gesamtküchenleitung existiert, sondern die verschiedenen Küchenleiter der Sozialunternehmen jeweils der hauswirtschaftlichen Leitung ihres Wohnbereichs unterstellt sind, bleibt die Zuständigkeit für übergeordnete Lernprozesse unklar. Lernen und die Weitergabe von Wissen sind so von der Initiative der beteiligten Personen abhängig. In diesem Fall werden in der Organisation vorhandene Ressourcen nicht genutzt. Von der Vorgesetzten kommt schließlich nur der vage Vorschlag für den Mitarbeiter, sich persönlich, nämlich außerhalb des Sozialunternehmens, einen ähnlichen Kreis zu suchen. Das Anliegen des Mitarbeiters, einen organisationsinternen und -übergreifenden Austausch zu pflegen und damit auch Lernprozesse auf organisationaler Ebene anzuregen, wird von ihr nicht weiter unterstützt. Die
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Motivation des Mitarbeiters, auch im Sinne der Organisation Verbesserungen anzustreben, wird dadurch möglicherweise geschwächt. Die Suche des Mitarbeiters nach kollegialem Austausch führt ihn schließlich zu einer externen Gruppe von Gesamtküchenleitern, die sich, in einer Art „community of practice“, unternehmensübergreifend zusammengefunden haben: M (m): Ich war ja bei diesem [Titel-]Arbeitskreis, das war professionell, das war schon fast zu, zu professionell für mich, also das muss ich wirklich sagen, das war schon, war schon noch hochrangiger. Da waren ja dann Gesamtküchenleiter von [Großunternehmen] und, und Gesamtküchenleiter von [Großunternehmen]. Da bist du eigentlich ein kleines Licht, und die haben natürlich ganz andere Themen gehabt, die mir schon auch was gebracht haben, aber wo ich mir gesagt habe, buh, hoffentlich fragt mich keiner (lachend). F (w): Aber das war genau der Grund, Herr Menninghaus, weshalb wir gesagt haben, dieser Arbeitskreis bringt für uns eigentlich nichts, weil er zu wenig vergleichbar ist und auch, eh, der kollegiale Austausch nicht den Erfolg hat oder das Ergebnis bringt, das eh, für uns hier einfach auch nützlich ist. M: Ja, die hatten auch sehr, sehr eh, auch Themen, die also jetzt teilweise die Küchen selbst gar nicht betroffen haben, jetzt wie Einkauf und so, was bei uns ja geregelt ist. (SU MA IV)
Hier wird deutlich, dass eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass Wissen und Erfahrungen sinnvoll weitergegeben werden können und Lernprozesse möglich werden, ein zumindest ähnliches Ausgangsniveau der Beteiligten darstellt. Zwar kann der Mitarbeiter in einzelnen Punkten von der großen Erfahrung seiner Kollegen profitieren, er fühlt sich aber sichtlich unwohl in der Gruppe („kleines Licht“, „hoffentlich fragt mich keiner“). Der Aufwand zeigt hier nicht das „Ergebnis“ und den Nutzen, den die Vorgesetzte sich wünschen und unter deren Voraussetzungen sie eine Teilnahme des Mitarbeiters befürworten würde.
10.1.2.2
„ich grübel da immer einmal so darüber nach, wie man das machen könnte“
Nicht immer ist es so einfach, explizites Wissen innerhalb der Organisation auszutauschen und damit Verbesserungen zu erreichen, wie durch die Anschaffung von technischen Geräten im folgenden Beispiel: M (m): Also für mich jetzt einmal, sagen wir einmal, meine Ziele, das wäre eigentlich, was mich persönlich interessieren würde, eh, Weiterbildungen, also Fortbildungen, mh, in der, im Autismusbereich, also grundlegende Dinge aber auch in dem Bereich unterstützende, gestützte Kommunikation. Sie wissen ja, wir haben einen PC drüben, wir haben auch jetzt, Gott sei Dank, die Software, die ja sehr teuer ist, da gibt es sehr gute Software, wird auch von unseren Bewohnern angenommen und immer wieder eingesetzt. Ich würde das eigentlich gerne auch
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den anderen Kolleginnen und Kollegen zukommen lassen, die ganze Geschichte, ich habe es mal kurz Ihnen gegenüber auch erwähnt, in der Form, dass man einen PC einbaut in ein Gestell mit Rädern, dass eben jeder das nutzen kann, dass man das dann von A nach B fahren kann, weil diese Software ja sehr teuer ist. Und dass man eben einfach das auch jedem bieten könnte. (SU MA II)
Die Einrichtung verfügt für die Arbeit mit den Bewohnern über einen Computer, der durch eine spezielle Software auch von geistig behinderten Bewohnern genutzt werden kann. Die Erfahrungen mit dieser technischen Möglichkeit, das Lernhandeln der Bewohner zu unterstützen, sind so gut, dass der Mitarbeiter sie auch anderen Gruppen zur Verfügung stellen will. Er will sich in diesem Bereich („unterstützende, gestützte Kommunikation“) selbst weiter fortbilden („Weiterbildungen, also Fortbildungen“), gleichzeitig will er aber auch die bereits vorhandenen Ressourcen, über die er in seiner Gruppe verfügt, weitergeben und allen anderen zugänglich machen („Ich würde das eigentlich gerne auch den andern Kolleginnen und Kollegen zukommen lassen“). Dies ist in diesem Fall relativ einfach und kostengünstig („weil diese Software ja sehr teuer ist“) durch eine technische Lösung möglich: Er will den Computer mobil machen und ein „Gestell mit Rädern“ dafür bauen. Dadurch kann die Lernunterstützungspraxis der gesamten Einrichtung verbessert werden. Es findet also ein organisationaler Lernprozess durch die „Mobilmachung“ individuellen Wissens und neuer Ideen statt. Ein regelmäßiger Austausch expliziten Wissens ist aber auch in dieser Einrichtung noch nicht institutionalisiert: M (m): Und eh, das fand ich jetzt auch ganz gut, der Daniel hat super Ideen gehabt, jetzt vor Weihnachten hat er gesagt, er fotografiert ein Bilderbuch ab, F (w): Genau. M: Und, eh, erzählt dann, die, die Weihnachtsgeschichte anhand von einer Diaserie, wirft sie an die Wand, projiziert sie groß und erzählt die und der macht ja auch so eine Art Morgenkreis anscheinend, ich war ja jetzt noch nicht bei ihm drüben, weil das wäre vielleicht auch einmal interessant, weil eben auch die Ergos dann gesagt haben, ehm, das fanden sie gut und in manchen Gruppen läuft das eben nicht so, und dass man sich da vielleicht einmal austauscht, auch so die Themen vielleicht einfach einmal niederschreibt, was ist alles möglich, ja, also wir haben zum Beispiel immer festgestellt, dass der Dieter, eh, als wir angefangen haben, die Bine und ich, aus der Teekanne trinken wollte, aber die nicht aufbekommen hat und sich fürchterlich darüber aufgeregt hat, und dann haben wir das als Thema genommen, haben dann alles was man aufdrehen kann, haben wir dann hergenommen, haben wir Flügelschrauben ganz große auf einen Gewindestab drauf gedreht, oder eine Thermoskanne haben wir dann auch genommen, die leer ist, wo er dann so lange probiert hat, also wir haben, eine Woche ziehen wir immer so ein Thema durch, das machen wir dann immer wieder, das wiederholt sich dann immer wieder, und mittlerweile ist es für den Dieter zum Beispiel kein Thema mehr, dass er seine Thermoskanne selbst aufdreht. (SU MA II)
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Erst über die Ergotherapiepraktikanten („die Ergos“), die während ihrer Ausbildung in verschiedenen Gruppen der Einrichtung tätig sind, hat der Mitarbeiter genauer erfahren, wie in anderen Gruppen gearbeitet wird und was den Praktikanten davon gut oder weniger gut gefallen hat. Er ist interessiert an den Ideen der anderen („weil das wäre vielleicht auch einmal interessant“) und möchte seine Ideen auch denjenigen zugänglich machen, die von den Praktikanten nicht so gut beurteilt wurden („in manchen Gruppen läuft das eben nicht so“). Eine Möglichkeit wäre, in einer der anderen Gruppen zu hospitieren und sich selbst ein Bild von der dortigen Praxis zu machen, eine andere Möglichkeit wäre, sich mit den Kollegen auszutauschen und die Themen, die gut ankommen, Methoden, die sich bewährt haben, oder einfach „super Ideen“ weiterzugeben. Was „möglich“, also in der Arbeit mit den Bewohnern ein- und umsetzbar ist, soll festgehalten werden („niederschreiben“) und damit für alle Mitarbeiter jederzeit zugänglich sein. Letztlich dienen der Austausch und das gegenseitige VoneinanderLernen der Mitarbeiter der Verbesserung der Lernunterstützung für die Bewohner in der Einrichtung. Die Erweiterung der Kompetenzen der Bewohner steht für den Mitarbeiter, der anschaulich von den Lernprozessen eines Betreuten erzählt, eindeutig im Mittelpunkt seines Interesses. Interessant ist hier zudem die Rolle der Ergopraktikanten, die mit den organisationalen Abläufen und Strukturen und den impliziten Mustern noch nicht so vertraut sind und damit eine wertvolle Ressource für organisationale Lernprozesse darstellen könnten, wenn man sie systematisch nutzte: Im Gegensatz zu den Mitarbeitern, die nur selten ihren Arbeitsbereich wechseln, rotieren Praktikanten und Auszubildende innerhalb der verschiedenen Einrichtungen und Arbeitsgruppen. Dadurch lernen sie die unterschiedlichen Praxen der Teilbereiche kennen und können von diesen berichten. Zudem verstellt ihnen noch kein „blinder Fleck“ (vgl. Schreyögg 2008, 416) durch die langjährige Zugehörigkeit zur Organisation den Blick auf die Dinge, was den Einrichtungen die Möglichkeit gäbe, über diese Personengruppe einen Blick von außen auf die eigenen Abläufe und Strukturen zu werfen und aus dieser vorübergehenden Distanz heraus Überlegungen über notwendige Lern- und Veränderungsprozesse anzustellen. Auch wenn der gute Wille und das Interesse da sind, ist es gar nicht so einfach, den Austausch innerhalb der Einrichtung zu institutionalisieren bzw. einen geeigneten Rahmen dafür zu finden: F (w): Ehm, ich habe ja jetzt so, ich grübel da immer einmal so darüber nach, wie man das machen könnte, da fehlt mir noch die richtig gute Idee, weil ich will nicht alle Themen nur zu Klausurtagen-Inhalten werden lassen, weil da für mich das Team auch wichtig ist, ja. Also da mache ich mir auch schon meine Gedanken, wie ich das machen kann, dass ich diese inhaltlichen Sachen einmal anschaue, weil ich natürlich auch von außen verschiedene Ideen habe und
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manches gefällt mir supergut und manches ist jetzt nicht so schön und so, wo ich denke, oh, da gehört noch ein bisschen, und von Ritualen bin ich sowieso ein bisschen ein Fan, weil ich auch glaube, dass das für die, für unsere Besucher sehr sehr wichtig ist, also das glaube ich schon. (SU MA II)
Das Thema „Ideenaustausch“ konkurriert mit anderen Themen, die für die Einrichtung wichtig sind. So erwägt die Vorgesetzte, die selbst die Notwendigkeit sieht, sich „diese inhaltlichen Sachen“ in den jeweiligen Gruppen einmal genauer anzusehen und an manchen Stellen eigene Ideen miteinzubringen, ob sie diese inhaltlichen Fragen zu einem Thema der Klausurtage machen möchte, zu denen sich das gesamte Team einmal im Jahr trifft. Auf der einen Seite soll aber während der Klausurtage ihrer Ansicht nach das Team als solches, also die Zusammenarbeit und Beziehungsthemen, im Mittelpunkt stehen; auf der anderen Seite sollen die vielen inhaltlichen Themen, die besprochen werden müssten, auch keine Randexistenz führen und „nur“ zu „Klausurtagen-Inhalten“ werden. Die Vorgesetzte würde diese Themen also lieber stärker mit in den institutionellen Alltag einbauen, was aber schwierig zu sein scheint. Es fehlt ihr noch „die richtig gute Idee“. Der Mitarbeiter gibt auf diese Überlegungen seiner Vorgesetzten eine recht pragmatische Antwort, die die Vorgesetzte erfreut bestätigt: M (m): Also ich, ich finde eben jetzt, da auch wieder, dass man sich dann einmal, eh, dass sich da eben vielleicht einmal zwei oder drei sich zusammensetzen, F (w): Genau, genau. M: das muss ja nicht stundenlang sein, das muss ja nicht ausufern, F: Nein. M: dass man da eben einfach einmal sich ein bisschen Gedanken macht, wie kann man so was dann vielleicht verändern, dass man auch irgendwo, von der Arbeit her, dass gerade so Außenstehende, wie die Ergos, das hat mir dann schon zu denken gegeben, ne, wenn die dann so sagen, wir wollen auf jeden Fall da jetzt in der Gruppe und in der Gruppe nicht, weil da ist es ja, ich meine, da muss ich dann auch sagen, dann muss man es ein Stück weit vielleicht auch begründen, warum das nicht so ist, das muss ja nicht schlecht sein, aber dann muss ich dann eben einfach auch sagen, das geht bei uns nicht aus dem und dem Grund, ja. F: Völlig klar. F: Oder wir wollen es einfach nicht, das ist nicht unser Ziel, das kann ja sein, dass jeder Mitarbeiter andere Ziele hat. M: Genau, ja. (SU MA II)
„[Z]wei oder drei“ Mitarbeiter sollen sich zusammensetzen und zusammentragen, was bereits in den Gruppen eingesetzt wird bzw. welche Ideen es darüber hinaus gibt. Mit Rücksicht auf die Kollegen, sich selbst oder lediglich die organisatorische Realisierbarkeit dieses Treffens betont er, dass dafür nicht viel Zeit nötig wäre („das muss ja nicht stundenlang sein“). Seine Bemerkung „das muss
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ja nicht ausufern“ deutet darauf hin, dass vergleichbare Treffen nicht immer effizient verlaufen. Möglicherweise könnte dies ein Argument für seine Kollegen sein, sich gegen ein solches Treffen auszusprechen. Dem möchte er gleich entgegenwirken. Er selbst ist solchen Initiativen gegenüber wohl grundsätzlich sehr offen („ich finde eben jetzt, da auch wieder“). Auffällig ist aber, wie er seine Formulierung abschwächt von einem unkomplizierten, umfassenden „dass man sich dann einmal“ zu einem „dass sich da eben vielleicht einmal zwei oder drei“ – also nicht mehr alle und auch nicht sicher. Das „vielleicht“ wiederholt sich an Stellen, an denen er über mögliche Veränderungen bzw. über die Begründungen seiner Kollegen gegen Änderungen spricht. Aus allem, was er über seine Kollegen sagt, versucht er, die Schärfe oder das Unbedingte zu nehmen. Eine mögliche Erklärung könnte darin liegen, dass die Beteiligten, erst einmal in eine solche Situation des Austauschs gebracht, gezwungen wären, sich und die Praxis ihrer Einrichtung zu legitimieren („dann muss man es ein Stück weit vielleicht auch begründen“). Diese Möglichkeit der Kontrolle ihrer Arbeit, die ansonsten weitestgehend hinter verschlossenen Türen stattfindet, scheut sicherlich mancher Mitarbeiter. Erschwerend wirken auch hier wieder organisationale Muster und die Unverbundenheit der Einrichtungen, die schon in den vorangegangenen Kapiteln deutlich wurden und die den Mitarbeitern große Freiheiten im Arbeitsalltag einräumen. Aus der Bemerkung der Vorgesetzten, mit der sie eine mögliche Reaktion der Mitarbeiter beschreibt („Oder wir wollen es einfach nicht, das ist nicht unser Ziel, das kann ja sein, dass jeder Mitarbeiter andere Ziele hat“), wird deutlich, dass eine Heterogenität der Ziele selbst in parallel zueinander existierenden Gruppen vollkommen legitim ist (vgl. Weick 1976). Es muss nicht zwangsläufig eine fachliche Rechtfertigung stattfinden; diese kann auch einfach in den persönlichen Zielen der Mitarbeiter begründet liegen, über deren fachlichen Bezug hier keine Aussage gemacht wird. Die Erreichung des eigentlichen Ziels des Ideenaustauschs, der vom Mitarbeiter vorgeschlagen worden war, die Verbesserung der Lernunterstützung in den verschiedenen Gruppen der Einrichtung, ist durch die lose Kopplung und die dadurch fehlende Bezogenheit der Lernunterstützungspraxis der verschiedenen Gruppen aufeinander in Frage gestellt. Die andere Gruppe neben den Bewohnern, deren primäre Aufgabe es ist, in der Einrichtung zu lernen, sind die „Ergos“. Diese sind im Gegensatz zu den Bewohnern in der Position, sagen zu können, „wir wollen auf jeden Fall da jetzt in der Gruppe und in der Gruppe nicht“ arbeiten, weil sie in der einen Gruppe mehr, in der anderen weniger lernen. Ein Großteil der Lernprozesse der Praktikanten findet nicht nur auf der Ebene der direkten Vermittlung statt, denn sie
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werden als vollwertige Arbeitskräfte eingesetzt, sondern im Wesentlichen auf der Ebene mimetischen Lernens (vgl. Wulf 2007) und der Sozialisierung (vgl. Nonaka/ Takeuchi 1997) im Vollzug des Arbeitsprozesses selbst. Die konkrete Praxis in den Gruppen und die Haltung der einzelnen Mitarbeiter sind also entscheidend für die Ausbildung und Weiterentwicklung der Praktikanten. Wo diese nichts lernen können, sind aus der Sicht des Mitarbeiters auch die Bewohner nicht gut aufgehoben („das hat mir dann schon zu denken gegeben“). So versucht er zwar, wie oben beschrieben, durch seine Formulierungen, den Druck auf die Kollegen abzuschwächen, andererseits ist es für ihn unabdingbar, dass von den Kollegen reflektiert und transparent gemacht werden kann und soll, weshalb sie so und nicht anders arbeiten. Können sie dies nicht, so wäre der Umkehrschluss, dass sie sich dann an der Praxis der anderen Gruppen orientieren sollten. Dadurch können die Treffen nicht nur einem Austausch von Ideen dienen und darüber die Praxis der Einrichtungen verbessern, sondern zu einer informellen Form der Qualitätssicherung (vgl. Galiläer 2005, 230) werden.
10.1.2.3
„ich gehe ja auch einmal auf andere zu und frage“
Das Wissen der Kollegen kann im Alltag durch unkompliziertes Nachfragen eingeholt werden. Dies wird bei einem interdisziplinär zusammengesetzten Team in der Frühförderung besonders deutlich: M (w): Ich glaube schon, ja. Also wir unterhalten uns ja auch darüber und wir, eh, ich gehe ja auch einmal auf andere zu und frage, Mensch, wie könnten wir denn da noch einmal oder eh was anbieten oder gezielt, oder was würdest denn du da machen, oder so. Oder auch dass ich sage, guck dir doch dieses Kind einmal an, ne, zum Beispiel. Beim Henning zum Beispiel hat die Verena einen Test (lacht kurz) Test versucht, das hat nicht ganz geklappt, aber immerhin noch einmal genauer gezielter so die Bewegungsabläufe angeguckt oder auch die Logopädie. Wo man sagt, da machen wir einmal einen Termin aus und dann bekomme ich da so einen Zwischenstand. Ist noch altersgemäß oder nicht und ich finde das gut. F (w): Mhm, ja, die Zuordnung läuft ja jetzt auch nicht nur über mich, sondern das ist ja gerade so der Austausch unter den Kollegen auch, wo sich jemand, eh, die Verena, dass sie sich jemanden mit herein holt und sagt, schau doch mal hier mit bei diesem Kind mit rein, oder umgekehrt, dass man eben das auch austauscht. Sagen, eh, oder das ist so meine mein eh, meine Nachfrage einfach auch, läuft das eigentlich unter den Kollegen, ist es dann transparent, welchen Schwerpunkt, man auch eigentlich hat in der Arbeit? M: Doch, ich finde schon, also, wenn ich jetzt sage, eh, zu der Mutter, ich spreche mal die Logopädin an, gestern zum Beispiel bei der Regina, da sagen wir eben, gut, ist die Sprache jetzt noch altersgemäß, und sie ist mal angesprochen worden von jemandem, und ich kenne jetzt die Regina auch schon sehr lange, ich weiß, wie sie ist, dass die mal reden mag und mal nicht, wenn Sie Sorgen haben, wir beobachten bis zum Frühjahr und dann machen wir einen Termin mit der Frau Grund. So kann ich das mit der Mutter besprechen und dann weiß ich auch, dass das klappt. Dass die Simone dann einfach mal ein oder zwei Termine freimacht und sich das
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10 Verknüpfung individueller und organisationaler Lernprozesse Kind anschaut. Und ich finde das gut. Das ist ja gerade das, was ja Frühförderung ist, sonst müsste man ja nicht interdisziplinär arbeiten. Und das macht es schon aus, oder dass man einmal eine Zwischendiagnostik macht, ne, dass man sagt, was ist denn jetzt eigentlich so der Stand?, wie jetzt, wenn Eltern, hat man ja auch, eh, zur Einschulung, oder soll jetzt das Kind Vorschulkind im Kindergarten werden?, dass dann der Herr Schröder noch mal den KABC macht, oder etwas entsprechendes. Und das finde ich gut und das läuft ja auch. (SU MA I)
Die interdisziplinäre Zusammensetzung des Teams macht das Nachfragen hier zu etwas Nahe-Liegendem. Möglicherweise senkt die Tatsache, dass die Mitarbeiter hier unterschiedliche Fachausbildungen haben, auch die Hemmschwelle, ein Nicht-Wissen einzugestehen (vgl. Kap. 9.1): Man fragt nach etwas, was man aufgrund seiner spezifischen Ausbildung nicht unbedingt wissen muss bzw. nach etwas, was klar außerhalb des eigenen Fachgebiets liegt. Dadurch entsteht keine Konkurrenz. Mit Nicht-Wissen kann offener umgegangen werden. Der Austausch ist intensiver. Das Konzept der Frühförderung („Das ist ja gerade das, was ja Frühförderung ist“, „interdisziplinär arbeiten“) wird in den Augen der Mitarbeiterin also offensichtlich umgesetzt. Sie kann sich auf die Abstimmung mit den Kolleginnen und auf ihren fachlichen Rat verlassen („und dann weiß ich auch, dass das klappt“) und schätzt diese Form der Zusammenarbeit („Und das macht es schon aus“, „ich finde das gut“), wie sie mehrfach betont. Die Kooperation geht hier sogar so weit, dass nicht nur nachgefragt wird, sondern dass die Kinder auch von den Kollegen „gezielt“ auf bestimmte Fragen hin „angeguckt“ werden. So können Informationen über bzw. Erfahrungen mit einem Kind persönlich und dadurch umfassender weitergegeben werden („und ich kenne jetzt die Regina auch schon sehr lange, ich weiß, wie sie ist“), als wenn bspw. eine externe Logopädin aufgesucht werden müsste. Eine Voraussetzung dafür, dass dieses Modell funktioniert, zeigt sich in der „Nachfrage“ der Vorgesetzten nach der ausreichenden Transparenz der spezifischen Kompetenzen und der sich daraus ergebenden Arbeitsschwerpunkte der Mitarbeiter innerhalb des Teams. Diese Transparenz ist nötig, damit in einem ersten Schritt die Kinder gleich den richtigen Betreuern zugeordnet werden können und in einem zweiten Schritt die Betreuer dann die jeweiligen ergänzenden Meinungen oder Gutachten einholen können. Die Kinder, die von den Mitarbeitern der Frühförderung betreut werden, befinden sich also in der idealen Situation, dass ihre Lern- und Entwicklungsprozesse von Experten unterschiedlicher Disziplinen gefördert werden und die Dienstwege unter den Mitarbeitern sehr kurz und informell sind, so dass eine unmittelbare Reaktion auf auftauchende Fragen möglich ist.
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Eingeschränkt wird diese von der Mitarbeiterin als recht unkompliziert dargestellte Kooperation durch organisatorische Rahmenbedingungen: F (w): Stimmt. Eh, wie erleben Sie insgesamt so die Zusammenarbeit im Team? M (w): Also, ich denke, wenn man sich holt, was man braucht, dann gut. Also ich habe so das Gefühl, man kann jeden fragen, was man will. Also, die Frau Böhmer eben, wenn man sie erwischt, ne (lächelt). F: Weil die viel unterwegs ist, das ist (3) mobile M: Ja, (3) eigentlich jeden (3) also durch die Arbeitszeiten ist natürlich schon, dass man sich überlegen muss, oder ich schreibe es mir eben dann in den Kalender, wenn ich jetzt den Herrn Schröder etwas fragen will, das muss ich jetzt, sonst vergesse ich es auch wieder, dann schreibe ich mir das eben am Montag oder am Dienstag in den Kalender von jedem rein und frage ihn dann. Oder einmal die Andrea, kam jetzt ehrlich gesagt noch nicht so oft vor, mh, bei der Claudia habe ich momentan so das größte Problem, die habe ich jetzt, glaube ich, schon ein paar Wochen nicht mehr gesehen. Weil sie jetzt am Montag wieder nicht da war, und da, merke ich, kann man schon viel fragen, weil die unheimlich viel weiß, ne. F: Mhm, aber das ist einfach von den Stunden her (2) sie ist eben hauptsächlich Donnerstag und Sie sind Montag, Dienstag, Mittwoch, da ist einfach wenig Überschneidung, außer eigentlich im Team dann. (SU MA I)
Man kann zwar jeden fragen, was man will, aber man hat nicht immer die Gelegenheit dazu. Durch Teilzeitstellen treffen sich manche Mitarbeiterinnen kaum und sehen sich manchmal über Wochen gar nicht („da ist einfach wenig Überschneidung“). Andere sind „mobile“ Mitarbeiterinnen, die Kinder in Kindergärten etc. betreuen. Will man also auf das Wissen der Kollegen („weil die unheimlich viel weiß“) zurückgreifen, muss man sich dies als Mitarbeiter organisieren und bspw. im Kalender vermerken (vgl. Kap. 9.1). Von alleine kommt die Unterstützung also nicht. Man muss sich holen, was man braucht, und gezielt nachfragen. Grundsätzlich sind dafür aber alle offen. Wie der nächste Gesprächsausschnitt zeigt, hat diese Offenheit den Fragen der Kollegen gegenüber auch positive Auswirkungen auf die Stimmung im Team, was die Mitarbeiterin schätzt. Ein anderer Grund dafür, weshalb der Austausch unter den Kollegen manchmal ausbleibt oder zumindest als anstrengend empfunden wird, ist Zeitdruck: M (w): Aber so persönlich kann man jeden fragen. Also, das finde ich eigentlich gut. Ich komme ja aus einem Team, in dem es nicht so gut gelaufen ist, und fühle mich jetzt hier schon wohl. Das merke ich, also ist ein deutlicher Unterschied von der Stimmung her. (2) Ehm, ich merke manchmal so zwischen den Terminen, dass ich relativ, eh, begrenzt bin oder mich auch abgrenze, wenn irgendetwas kommt, irgendeiner schneit immer rein und will irgendetwas oder so. Weil ich merke, die Termine sind bei mir genau so gezirkelt, dass ich gucken muss, ich muss das eine aufschreiben, meistens komme ich dazu gar nicht, dann habe ich noch irgendwo was zum Telefonieren und muss den nächsten Termin vorbereiten, dann jetzt das Zimmer frei räumen, weil da jemand anderes rein will, anderes erst neu überlegen, was wollte ich denn da
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10 Verknüpfung individueller und organisationaler Lernprozesse machen? und dann schauen, ob die Materialien da sind. Manchmal, was auch so ein Ärgerpunkt ist, eh, bei den Materialien, dass man eben in jede Spielekiste reingucken muss, ob die auch vollständig ist, ne, oder ob in der Kugelbahn dann, ob in der Kiste auch die Kugeln sind und solche Sachen. Also, das kostet auch alles einfach noch einmal Zeit. Und da merke ich so zwischen den Terminen, da habe ich manchmal schon so den Sprich-mich-nicht-an. (lacht) Ich habe zu tun, oder ich habe jetzt etwas ganz anderes im Kopf. Und dann klingelt es auch schon, und ehm, (2) da merke ich selbst, dass ich so ein bisschen unter Strom stehe, aber ich denke, das ist normal, wenn man seine Zahlen hat. Wobei ich jetzt meine neuen Zahlen gar nicht kenne mit meiner halben Stelle. (SU MA I)
Der Arbeitstag der Mitarbeiterin ist genau „gezirkelt“. Jede Minute ist verplant. Termine müssen vor- und nachbereitet werden, Telefonate getätigt und benutzte Zimmer für den nächsten Termin aufgeräumt werden. So meint die Mitarbeiterin aus ihrer eigenen Wahrnehmung heraus, dass sie den Kollegen in solchen Situationen signalisiert, dass sie jetzt nicht angesprochen werden möchte, dass sie sich abgrenzt, weil ihre Kapazitäten „begrenzt“ sind. Die Mitarbeiterin ist dann so mit ihren eigenen Klienten beschäftigt, dass sie sich nicht auf die Anliegen ihrer Kollegen einlassen kann. Hier wird die Tatsache, dass jeder jeden jederzeit alles fragen kann, zu einer Belastung, denn „irgendeiner schneit immer rein und will irgendetwas oder so“. Die Mitarbeiterin begründet ihre Anspannung durch die „Zahlen“, die sie mindestens erreichen muss, um ihre Stelle zu refinanzieren. Sie ist gezwungen, dicht zu planen, und hat kaum Freiräume zwischen ihren Terminen mit Klienten. Finanzieller Druck führt also auch zu Zeitdruck und ist damit kontraproduktiv, wenn es um den informellen Austausch unter den Mitarbeitern und damit um die Ermöglichung von Wissenstransfer oder, allgemeiner, von Lernprozessen geht.
10.1.2.4
„wenn Sie donnerstags da sind, vereinbaren Sie sich mit dem Herrn Klausner“
Das Gesprächsbeispiel einer neuen Führungskraft, aus dem die folgenden Ausschnitte stammen, macht erneut deutlich, dass auch und gerade bei der Einarbeitung in neue Stellen das Nachfragen bzw. der direkte Zugriff auf das Wissen und die Erfahrung der Kollegen einen großen Anteil an den Lernprozessen der Organisationsmitglieder hat: F (m): Sie können auch noch einmal so Ressourcen nutzen, ne, wenn Sie donnerstags da sind, vereinbaren Sie sich mit dem Herrn Klausner, ne, besuchen Sie ihn in seiner Gruppe oder er, Sie treffen sich im WBL-Büro, der zeigt Ihnen, wie man das macht, dann bekommen Sie einen
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Intensivkurs, zwei Stunden, ne, und das hilft dann schon, und wenn Sie das nächste Mal donnerstags kommen, M (w): Mit Dienstplan jetzt? F: Ja, genau. M: Ja, ok, mhm. F: Da können Sie, und das geht ruckzuck, also da sind zwei Stunden viel, weil das ist ja ein eigenes Programm. M: Mhm. F: Die Feinheiten kriegen Sie dann durch das Tun. Und wenn Sie den Dienstplan hier eingeben, ne, dann haben Sie immer Kollegen, wo Sie sagen, ich habe jetzt eine Frage, das habe ich jetzt noch nicht, wie machst denn du das?, ne, auch das wieder, treffen Sie sich mit der Frau Fleißig oder mit irgendjemandem, der gerade im WBL-Büro sitzt, üben das, machen das. Aber Sie müssen jetzt, also es ist jetzt die Zeit, M: Ja. F: reinzugehen. M: Ja, ok. Das ist das nächste, ja. (SU FK II)
Der Vorgesetzte weist an dieser Stelle zum wiederholten Mal auf die in der Einrichtung vorhandenen „Ressourcen“ in Form der Kompetenzen derjenigen Kollegen hin, die im Hauptort der Einrichtung tätig sind. Diese soll die neue Führungskraft nutzen, um bestimmte Instrumente, wie die Dienstplangestaltung, zu erlernen. Er schlägt ihr vor, sich mit einem erfahrenen Kollegen zu treffen, der ihr zeigen kann, „wie man das macht“. Sie soll den „Dienstplan hier eingeben“ und in der Gegenwart der Kollegen „üben“, um an Punkten, an denen Sie nicht mehr alleine weiterkommt, unmittelbar („ich habe jetzt eine Frage“) nachfragen zu können („das habe ich jetzt noch nicht, wie machst denn du das?“). Diese Vorgehensweise erinnert an eine klassische Vierschritt-Methode nach dem Prinzip des Vormachens und Nachmachens (vgl. Pätzold 1996, 172ff). Der Vorgesetzte beschreibt diese Art und Weise zu lernen als „Intensivkurs“, also als effizient genutzte Zeit, in der „ruckzuck“ in „zwei Stunden“ neues, stark anwendungsbezogenes Wissen („wie man das macht“) hinzugewonnen werden kann. Dass es hier vor allem um ein Können-Lernen im Sinne einer Prozessgewissheit geht, zeigt die Betonung der tatsächlichen Ausübung der Tätigkeit durch den Vorgesetzten: Erst „durch das Tun“ kann die Mitarbeiterin die „Feinheiten“ erlernen; sie soll sich nicht nur zeigen lassen, wie es geht, sondern den Dienstplan selbst eingeben und „üben“ (vgl. Göhlich/ Zirfas 2007, 157), also das Gelernte stabilisieren (vgl. Göhlich 2001, 238).
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10 Verknüpfung individueller und organisationaler Lernprozesse
10.1.3 Institutionalisierung 10.1.3.1
„das wird mit dem nächsten Telefonverzeichnis jetzt einfacher, weil wir machen jetzt ein aufgabenbezogenes“
Im Hinblick auf das oben Beschriebene kann noch nicht von institutionalisierter Lernunterstützung gesprochen werden: Es wurde kein konkreter Kollege ausgewählt und der Mitarbeiterin zugeordnet; es kommen verschiedene Kollegen („Herr Klausner“, „Frau Fleißig“) in Frage oder eben „irgendjemand, der gerade im WBL-Büro sitzt“; und es gibt keinen klaren Rahmen, in dem die Lernunterstützung stattfinden soll, sondern nur ein vages „wenn Sie donnerstags da sind“. Trotzdem handelt es sich um zielgerichtete und geplante Angebote der Lernunterstützung, die von der Einrichtungsleitung und von den Kollegen bereitgestellt werden und die von der Mitarbeiterin konkret nachgefragt („wenn Sie das nächste Mal donnerstags kommen“) und eingefordert werden können. Darüber hinaus existiert aber auch eine institutionalisierte Form der Unterstützung durch eine Mentorin: F (m): Und Sie müssen da eben mehr aushalten (1) mit Ihrem Stil. Und wie viel Sie aushalten, das hängt davon ab, wann Sie dann irgendwann die rote Karte ziehen und sagen, jetzt reicht es mal und so (lachend). Da sollten Sie nicht zu lange warten. Ne, also, nicht dass Sie dann irgendwann leiden, weil sonst werden Sie bitter. Das ist die Gefahr dabei. Aber das sind jetzt so, das sind jetzt meine eigenen Theorien, wie es Ihnen damit geht, wissen Sie ja selbst (2). Ja, das heißt, diese Rolle, dieser Rollenwechsel, das war ja auch ein Grund, warum wir gesagt haben, wir bieten Ihnen jemanden an, eine Ansprechpartnerin, die das selbst auch durchlebt hat. Ne. Deshalb sind wir auf die Frau Fleißig gekommen, die lag Ihnen ja näher. Eh, ich weiß jetzt nicht, wie es in den letzten Wochen war, aber ich habe sie einmal gefragt, wie es denn so aussieht, und sie hat mir gesagt, Sie nehmen das sehr wenig in Anspruch. M (w): (2) Ja, also das ist für mich ganz schwierig, ehm, (2) also ich glaube, wenn ich hier vor Ort wäre oder häufiger vor Ort wäre, dass ich dann einfacher (2) mal zu ihr gehen könnte. Dann hätte ich da (2) gar keine Probleme. Es ist für mich sehr schwierig, das irgendwie oft so in Worte zu zu packen und mich dann ans Telefon zu hängen, weil ich kann es dann oft einfach, eh, nicht in Worte fassen. Das wär dann einfach, dass ich hin, also, ich kenne das ja auch von, wo ich in [Standort einer anderen Organisation] gearbeitet hab, dass man dann mal auf die andere Gruppe geht und zu seinem Kollegen sagt, ich weiß nicht, ich habe da gerade etwas erlebt, irgendwie kann ich es noch nicht so fassen, und dann schildere ich das und das ist dann so ein Austausch von zehn Minuten, wo der andere bloß ein paar Sätze sagt und sagt, ja stimmt, da hast du recht. Aber weil ich es nicht in Worte fassen kann, rufe ich dann auch nicht an. (SU FK II)
Der Rollenwechsel von der Mitarbeiterin zur Führungskraft ist ein Prozess, der nicht allein durch die Aneignung kognitiven Wissens bewältigt werden kann. Erfahrung ist hier eine entscheidende Größe: Etwas selbst „durchlebt“ zu haben wird als Voraussetzung für sinnvolle und wirksame Lernunterstützung angese-
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hen, und etwas selbst zu durchleben und zu erfahren ist ein wesentlicher Bestandteil des Lernprozesses („wie es Ihnen damit geht, wissen Sie ja selbst“). Wie in Kapitel 7.1 gezeigt wurde, unterliegt der Rollenwechsel beim Übergang in eine Führungsposition sehr stark den informellen Mustern der Organisation. Machtmotive und Emotionen beeinflussen von verschiedenen Seiten den Einarbeitungsprozess, so dass es hier nicht nur um die Hinführung an sachlichinhaltliche Themen geht. Deshalb wird der Mitarbeiterin speziell für diese Seite der Einarbeitung eine Mentorin zur Seite gestellt, „eine Ansprechpartnerin, die das selbst auch durchlebt hat“. Sie ist die offizielle und persönliche („die lag Ihnen ja näher“) Ansprechpartnerin der Mitarbeiterin, die dieses Angebot wiederum aber nur sehr wenig in Anspruch nimmt. Ihre Zurückhaltung begründet sie mit der Tatsache, dass sie nicht im gleichen Ort tätig ist („schwierig“), was unterschiedliche Interpretationen zulässt: Einerseits könnte dies bedeuten, dass es ihr zu kompliziert und zu aufwendig erscheint, sich bei den wenigen Malen, an denen sie für Dienstbesprechungen vor Ort ist, zusätzlich auch noch mit der Mentorin zu verabreden. Der Erfahrungsaustausch wird durch die räumliche Entfernung erschwert. Die durch eine längere Pause unterbrochene Bemerkung der Mitarbeiterin „Dann hätte ich da (2) gar keine Probleme“, mit der sie die Zwanglosigkeit dieser Treffen betont, deutet aber andererseits darauf hin, dass es nicht nur organisatorische Gründe sind, die sie davon abhalten, ihre Mentorin anzusprechen. Dadurch dass sie sich konkret mit der Mentorin verabreden oder diese gezielt anrufen muss, bekommt ihre Anfrage einen formalen Charakter. Das Nicht-Wissen oder Nicht-Können, das Anlass ihres Anrufs ist, erhält dadurch möglicherweise mehr Gewicht, als wenn es in ein informelles persönliches Gespräch zwischen Tür und Angel eingeflochten werden könnte („ich weiß nicht, ich habe da gerade etwas erlebt“). Die Hemmschwelle steigt also, über Schwierigkeiten beim Hineinwachsen in die neue Rolle zu reden. Die Mitarbeiterin selbst beschreibt es weiter als schwierig, die Probleme, die sie hat, bzw. die Erfahrungen, die sie macht, zu verbalisieren. In Worte zu fassen und zu schildern, was sie gerade erlebt hat, erscheint ihr in der informelleren Situation des persönlichen Gesprächs mit dem Kollegen nebenan, wie sie es aus der Tätigkeit in einer anderen Einrichtung kennt, leichter, als ihrer Kollegin am Telefon zu erklären, wo das Problem liegt. Das Telefon scheint also eher als Medium für konkrete Fragen und klar abgegrenzte Probleme genutzt zu werden und nicht zum Erzählen von noch unreflektiertem Erlebtem. Gerade diese Erlebnisse und Gefühle sind es aber, die im Prozess der Rollenfindung eine große Bedeutung haben (vgl. Kap. 7.1). Die Transformation dieser Erfahrung in ein
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10 Verknüpfung individueller und organisationaler Lernprozesse
Wissen über sich selbst und die Umwelt, die von der gemeinsamen Reflexion des Erfahrenen mit einem Kollegen profitieren würde, unterbleibt aber aufgrund der räumlichen Trennung (vgl. Göhlich 2007a, 198). Eine Externalisierung impliziten Wissens, eine Möglichkeit, die Nonaka und Takeuchi (1997) im Prozess der Artikulation sehen, unterbleibt. Auch wenn das Telefon kein Medium ist, das zum Erzählen genutzt wird: Ein Medium, durch das Wissen im Sinne eines „know-what“ bzw. „know-how“ weitergegeben werden kann, ist es allemal. Die Erstellung eines aufgabenbezogenen Telefonverzeichnisses in einer Organisation kann also durchaus als Lernprozess der Organisation im Sinne eines Bereitstellens individuellen und organisationalen Wissens für alle Organisationsmitglieder, zumindest aber als Form der Lernunterstützung für alle, die sich informieren wollen, verstanden werden: F (m): Also Sie haben, und das müssen Sie einfach noch mehr nutzen, diese, diese Aufgabenstellungen, die Sie im Haus haben, die haben wir hier in [Standort] alle, nur nicht alle in jeder Gruppe. M (w): Mhm. F: Ne, also der Schwerpunkt ist eben bei Ihnen verlagert, dadurch dass Sie eben dezentraler wohnen, ne, aber Sie haben hier Ansprechpartner eigentlich für alle Arbeitsgebiete, die Sie betreffen, für alle, ne, es gibt nichts, was, eh, wo nicht das know-how da wäre. Sie müssen es nur abrufen. Das heißt, wenn Sie, wenn Sie Fragezeichen haben, und ich kann mir vorstellen, dass Sie viele haben, ne, dann müssen Sie zumindest wissen, wo rufe ich an, wenn ich Fragen habe zu dem Thema?, wo informiere ich mich da?, wo bekomme ich das Formular her?, was mache ich, wenn irgendwer?, was passiert mit der Abrechnung von irgendwas?, ne, Rentenbescheid, ne […] F: Ne, aber diese Fragen zu, zu klären, ne, Fragezeichen, was sollen wir machen?, mhm, fehlt das Wissen, das Wissen können Sie holen. Wo Sie das Wissen herbekommen, das sind so Sachen zum Beispiel, wo Sie dann mit dem Mentor reden können, in der Bereichsrunde reden können, können Sie auf mich zukommen, können wir Sie verweisen, wir haben ja hier auch eine Werkstatt, die haben all diese Fragen, können die wunderbar beantworten, ne, da gehen Sie mal zur Frau Knut und lassen sich das einmal erklären, wie das abläuft, wenn Sie da Fragen haben, von der Anmeldung, oder Sie rufen die Frau Mayerhofer an, wenn es etwas gibt mit Rentenbescheid, Klärung von, ja. Und das, das hilft dann, ne, wenn Sie wissen, das ist das Sachgebiet hier, das wird mit dem nächsten Telefonverzeichnis jetzt einfacher, weil wir machen jetzt ein aufgabenbezogenes, da wird es schon auch deutlicher, da rufe ich jetzt an, da geht es auch um Personalfragen, da geht es um Bewohner, M: Oh, ja, das is klasse, ja F: da geht es um Geld, M: Hmm. F: Ne, also das so als, aber ist immer für Sie auch wichtig, zu klären, wo bin ich drin?, was muss ich denn überhaupt machen?, und wo bekomme ich das Wissen her?, weil das liegt ja jetzt an, ne, diese hoheitlichen Aufgaben, M: Ja. (SU FK II)
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Durch das aufgabenbezogene Telefonverzeichnis macht die Einrichtung transparent, an welchen Stellen welche Wissensträger sitzen. Langes Suchen und sich Durchfragen nach dem richtigen Ansprechpartner werden dadurch vermieden. Fragen aller Art („was mache ich, wenn irgendwer?“) können so von kompetenten Gesprächspartnern schneller beantwortet werden. Für den Vorgesetzten ist nicht entscheidend, dass ein Mitarbeiter alles weiß, aber er muss sich zu helfen wissen; er muss wissen, wie er an bestimmte Informationen kommt und muss aktiv werden („was muss ich machen?“), sich also das Wissen „holen“. Die Möglichkeiten, die der Vorgesetzte aufzählt, fallen also sowohl unter die Kategorie eines einfachen Nachfragens, wenn man sich ohnehin trifft wie bspw. in der „Bereichsrunde“ oder beim Vorgesetzten, als auch unter eine nicht zwangsläufig formalere aber doch in gewisser Weise institutionell verankerte Form der Informationsbeschaffung auf der Basis eines offiziellen Telefonverzeichnisses. Dieses legitimiert das Nachfragen gewissermaßen und hat dadurch Aufforderungscharakter. All diese (Lernunterstützungs-)Angebote bewirken aber wenig, wenn sich die Mitarbeiterin nicht die Zeit dafür nimmt. Deshalb appelliert der Vorgesetzte an sie, sich die Lernzeiten fest in den Dienstplan einzuplanen, egal ob es sich um Treffen mit Kollegen, Weiterbildungsveranstaltungen oder eigenständiges Üben handelt: F (m): Wenn Sie sich die Zeit nicht nehmen, ne, für diese Aufgaben, dann werden Sie in zwei Jahrn die noch nicht können, und das geht nur, wenn Sie sich im geplanten Dienstplan, ich meine, Notsituation ist immer, ne M (w): Mhm. F: aber Sie müssen sich im geplanten Dienst, eh, wirklich Zeit nehmen, um diese Aufgaben zu machen, und die müssen Sie sich einplanen, wenn Sie die nicht einplanen, dann haben Sie sie nicht. M: Mhm. F: Und da sind dann Korridore, dann machen Sie das und arbeiten sich da ein, treffen sich mit Kollegen, ne, setzen sich an einen PC und üben, lassen sich das von der Frau Winkler erklären, gehen auf eine Schulung, ne. (SU FK II)
Der Arbeitsalltag lässt diese Spielräume allerdings häufig nicht offen. Sich spontan Zeit zu nehmen funktioniert nicht; die Zeit muss tatsächlich eingeplant werden. Dass aufgrund der Arbeitssituation in der Einrichtung, Krankheit oder Urlaub von Mitarbeitern immer eine „Notsituation“ herrscht, darf daran nichts ändern.
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10 Verknüpfung individueller und organisationaler Lernprozesse
10.1.4 Zusammenfassung In der Praxis des Sozialunternehmens sind insbesondere gelingende individuelle Lernprozesse in den Bereichen des mimetischen Lernens und des Wissenstransfers erkennbar. Für mimetische Lernprozesse wirkt hier vor allem unterstützend, das Handeln von Kollegen und Vorgesetzten und idealer Weise auch deren Erfolg beobachten zu können. Sowohl für interpersonalen als auch gruppen- und bereichsübergreifenden Wissenstransfer geht die Initiative häufig von den Mitarbeitern aus. Allerdings findet dieser Austausch von Wissen und Ideen kaum systematisiert oder institutionalisiert statt, sondern geht meist auf eine spontane Idee oder Aktivität eines Mitarbeiters zurück. Gezielte Nachfragen stoßen in der Regel bei den Angesprochenen auf Offenheit. Eine besondere Bereitschaft nachzufragen findet sich in interdisziplinären Arbeitsbereichen, wenn nicht notwendiger Weise durch das Nachfragen eigene Unwissenheit und Unsicherheit offenbart werden muss. Die Transparenz bzgl. der Wissensträger bzw. der jeweiligen Kompetenzen der Kollegen und die individuelle Planung des Austauschs innerhalb der organisatorischen Rahmenbedingungen wirken unterstützend. Bei der Anregung zu organisationalen Lern- und Veränderungsprozessen ist die Initiative einzelner Mitarbeiter beobachtbar. Auslöser kann bspw. die Beobachtung eines individuellen oder bereichsübergreifenden Problems bzw. eine Bedrohung der Existenz der eigenen Stelle oder des Bereichs sein (s. Kap. 9.1). Gleichwohl ist nicht jede Initiative eines Mitarbeiters und jeder Ansatz zur Verbesserung der organisationalen Praxis von Erfolg gekrönt. Individuelle und organisationale Lernprozesse werden durch vielfältige Faktoren behindert. Dabei kann zwischen Faktoren unterschieden werden, die auf der Seite der potentiellen Lernenden selbst, auf der Seite der potentiellen Lernunterstützer und auf der Seite des organisationalen Rahmens liegen. Lernprozesse sind sowohl von den jeweiligen Fähigkeiten als auch von der Motivation und Bereitschaft der einzelnen Person des Lerners abhängig. Bei einem Austausch innerhalb einer Gruppe von Lernern spielt das ähnliche Ausgangsniveau der Beteiligten eine Rolle, damit an vorhandenes Wissen sinnvoll angeschlossen werden kann. Die Notwendigkeit, eigene Schwächen, Defizite, Unsicherheit oder einfach Nicht-Wissen eingestehen zu müssen, führt dazu, dass Fragen nicht oder nur ungern gestellt werden. Die Angst vor Kontrolle mindert die Bereitschaft, sich über die jeweils eigene Praxis auszutauschen; unterschiedliche Zielsetzungen und Prioritäten machen die Akzeptanz und Übernahme von Anregungen von Kollegen unwahrscheinlich.
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Auch auf der Ebene der potentiellen Lernunterstützer spielen persönliche Faktoren und Machtfragen eine Rolle. So liegt es in der Hand der Führungskräfte, ob sie das individuelle Engagement ihrer Mitarbeiter anerkennen und aufgreifen, ob sie transparent arbeiten und dadurch Einblicke in die Begründung ihres Handelns liefern, ob sie ihr Wissen weitergeben und anderen etwas beibringen wollen oder ob sie bspw. aus Gründen des Machterhalts bestrebt sind, ihr Wissen für sich zu behalten. Beide Ebenen zeigen, dass insbesondere individuelle Lernprozesse von der Beziehung und dem Dialog zwischen Lernenden und Lernunterstützern abhängig sind. Auf der Ebene der Organisation lassen sich einerseits Behinderungen durch organisatorische Rahmenbedingungen wie Dienstpläne, den Einsatz von Teilzeitkräften, räumliche Distanz und Zeitdruck benennen, die bei der Wissensweitergabe und dem Austausch bei der Verarbeitung von Erfahrung hinderlich sein können. Zum anderen spielen Faktoren eine Rolle, die auf die Organisationskultur zurückzuführen sind: Dazu gehört der Umgang mit Fehlern und Schwächen, die Einstellung zum Nicht-Wissen, die Anerkennung von Anregungen und die Einbindung neuer Mitarbeiter, das Aufgreifen von Anstößen, die von Seiten der Mitarbeiter kommen, bzw. das aktive Nachfragen bei den Mitarbeitern und auch die Frage, inwieweit bspw. die Heterogenität der Zielsetzung unter den Mitarbeitern, die teilweise auf die lose Kopplung der Teilsysteme zurückzuführen ist, zu den kulturellen Mustern gehört und als solches akzeptiert wird. Für die kulturellen Faktoren organisationaler Lernprozesse und deren Initiierung durch einzelne Mitarbeiter ist bei fast allen der oben Genannten eine Negativausprägung auszumachen. Die Aktivitäten der Mitarbeiter sind häufig nur im Hinblick auf ihre eigene Weiterentwicklung erfolgreich und werden aufgrund personaler und organisationaler Hemmnisse nur bedingt organisational.
10.2 Wirtschaftsunternehmen In den Gesprächen des Wirtschaftsunternehmens konnten zwar weniger Textstellen gefunden werden, die auf individuelle und organisationale Lernprozesse und deren Unterstützung und Behinderung hinweisen. Interessant ist jedoch, dass vereinzelte Mitarbeitergespräche von Führungskräften sehr gezielt als Ort der Vermittlung von ihrer Meinung nach wesentlichen Punkten genutzt wird.
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10 Verknüpfung individueller und organisationaler Lernprozesse
10.2.1 Pädagogische Führungskräfte 10.2.1.1
„oder aber auch mit ihren Stärken, ne, auch die gezielter eingesetzt haben, oder an den Schwächen gearbeitet haben“
Das Mitarbeitergespräch dient der Identifikation von Qualifikationslücken und dem Nachdenken über Entwicklungsmöglichkeiten des Mitarbeiters. Ob und wie das Gespräch selbst über die Planung von Weiterbildungsmaßnahmen hinaus genutzt werden kann, um Lernprozesse beim einzelnen Mitarbeiter in Gang zu setzen, zeigt sich exemplarisch in folgendem Gesprächsausschnitt: F (m): Ich guck auch, ich meine, das einfachste, wenn ich so die [Mitarbeitergespräche] zum Unterschreiben bekomme, das nutzen die meisten Leute auch maximal, die kreuzen dann nur immer die Mitte an und dann ist fertig, (2) ich habe jetzt (4) ich gehe grundsätzlich her und kreuze auch hier und da Extreme an, M (m): Ja. F: ganz einfach, um dann auch daraus eine Vereinbarung zu treffen im [Mitarbeitergespräch], da sollte man etwas tun. M: Ja. F: oder da kann man etwas tun, ne. So, und ich habe mich auch in der Vergangenheit nicht gescheut, einmal eine Fünf oder eine Eins hinzuschreiben, M: Mh. F: (3) habe da dann durchaus an der einen oder anderen Stelle etwas bewirkt, dass die Leute sagen, darüber nachgedacht haben, was ist denn das überhaupt, oder aber auch mit ihren Stärken, ne, auch die gezielter eingesetzt haben, oder an den Schwächen gearbeitet haben. Und von daher bin ich kein Freund von der, von der Mitte, was aber jetzt gerade bei der Fünferskala ein bisschen schwierig ist. (WU FK I)
Der Vorgesetzte, der in großem Umfang die Protokolle der Mitarbeitergespräche seiner Mitarbeiter, die selbst Führungsverantwortung haben, zum Gegenzeichnen erhält, beschreibt, dass „die meisten Leute“ den bequemsten Weg gehen („das einfachste“) und immer nur „die Mitte“, also die Drei, ankreuzen. Um mit den Mitarbeitern „Vereinbarungen“ treffen zu können, also eine Grundlage dafür zu haben, sie zu Weiterbildungsveranstaltungen zu verpflichten („da sollte man was tun“), aber insbesondere auch, um sie dazu zu motivieren („da kann man was tun“), geht der Vorgesetzte auch gerne in die „Extreme“ und kreuzt auch schon mal die „Eins“ oder die „Fünf“ an. Aber auch um den Mitarbeitern ihre Stärken deutlich zu machen und ihnen mehr Selbstsicherheit im Hinblick auf das zu geben, was sie können, setzt er die extreme Bewertung, wie er resümiert, „durchaus an der einen oder anderen Stelle“ wirkungsvoll („etwas bewirkt“) ein. Dadurch stabilisiert der Vorgesetzte einerseits vorhandene Fähigkeiten und Kenntnisse seiner Mitarbeiter, indem er sie als „Stärken“ würdigt, andererseits wirkt sein
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Verhalten aufklärend im Sinne Göhlichs, denn es wird das Wissen und Können des Mitarbeiters zu anderem Wissen und Können, im Falle der Mitarbeitergespräche zum Anforderungsprofil, in Beziehung gesetzt und dadurch ein Lernprozess in Gang gebracht (vgl. Göhlich 2001, 238). Seine persönliche Strategie, dazu extreme Bewertungen zu nutzen, erhält seinen Effekt möglicherweise dadurch, dass bei den bewerteten Mitarbeitern eine Irritation ausgelöst wird, die, zumindest in der Erfahrung des Vorgesetzten, aktivierend wirkt, möglicherweise aber auch lähmende und demotivierende Auswirkungen haben kann. So schreibt Rosenstiel Kritik zwar eine Informations- und Lernfunktion zu, weist aber auch auf mögliche demotivierenden Effekte hin (vgl. Rosenstiel 2003b, 270ff). Das Beispiel zeigt ein Potential auf, das in den Mitarbeitergesprächen des Wirtschaftsunternehmens liegt, macht aber auch deutlich, dass die Gespräche häufig („maximal“) nicht für eine differenzierte Rückmeldung an die Mitarbeiter genutzt werden, da viele einfach nur die „Mitte“ ankreuzen.
10.2.1.2
„So, jetzt verstehen Sie, wie das funktionieren soll“
Im folgenden Probezeitgespräch, das gleichzeitig als erstes Mitarbeitergespräch genutzt wird, macht der Vorgesetzte dem neuen Mitarbeiter nochmals seine Aufgaben klar, woraus sich innerhalb des Gesprächs eine kurze Vermittlungssequenz ergibt: F1 (m): Das ist genau auch einer der Punkte, wo Sie aktiv werden sollten, das können Sie hier daran einmal noch weiter ausprägen und noch üben, weil, es ist ja so, wenn man jetzt eine bestimmte Type in Kalkulation gibt, der kalkuliert das mit fünfzigtausend Stück, zack, und dann wird ein Preis darauf gemacht, (1) kann richtig sein, ne, wenn das nun aber, ne, eine Type ist, die hier in unserem Baukasten, ne, eigentlich erscheinen sollte, und wo wir wissen, da gibt es einen Riesenbedarf an anderer Stelle, ne, M (m): Muss hier mit (deutet auf seine Tabellen), ja F1: weil ansonsten werden wir das Geschäft nicht entwickeln, ne, und das, diese Ausprägung, wie man das macht, wie man damit umgeht, ne, wie wir auch die Leute in der Produktgruppe, das heißt den Herrn Mayer, da hin steuern, das ist auch etwas, was Sie da machen müssen, weil das passiert, ne, grundsätzlich, oder passierte in der Vergangenheit grundsätzlich, ne, M: Dass der Kunde kam mit kleinen Stückzahlen, F1: Jaa M: und dann hat man hier mit der Kleinserie oder was berechnet F1: natürlich M: obwohl eigentlich noch potentiell fünf Kunden dahinter stehen, die eigentlich das gleiche Produkt F1: genau so M: naja, das ist nicht so F1: und man kommt dann in so eine Spirale rein, ne, was ist Henne, zu der Situation, was ist Henne, was ist Ei, ne, kein Auftrag, weil keine Menge, ne, keine Menge weil kein Auftrag, ne,
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10 Verknüpfung individueller und organisationaler Lernprozesse kein Werkzeug, weil kein Auftrag, ne, und dann muss man einfach einmal sagen, aber man kann natürlich n-, nicht hergehen und per Wildwuchs sagen, ich investiere da in das Werkzeug, da in das Werkzeug, kreuz und quer, ne, das muss irgendwo vernünftig, logisch und strategisch durchdacht werden, und das ist die Basis dafür (deutet auf Ms Unterlagen) […] F1: So, und was jetzt passiert in Zukunft, ist, wenn dann der Kollege Stahl und der Meier kommt und sagt, wir bekommen den Auftrag nicht, wir brauchen Werkzeugkosten, ne, M: Hm. F1: darf ich das?, dann sage ich, jaha, da muss der Herr Scharrer einmal sagen, ob das vernünftig ist. M: Ok. F1: So, jetzt verstehen Sie, wie das funktionieren soll, ne. M: Mhm. (WU PZ I)
Der neue Mitarbeiter sitzt auf einer neu geschaffenen Stelle, die zwischen Entwicklung, Vertrieb und Produktion vermitteln soll. Der Vorgesetzte spielt mit dem neuen Mitarbeiter die Abläufe und Strategien durch und zeigt ihm seine Möglichkeiten und Spielräume und seine Verantwortung auf. Es entsteht der Eindruck, er erteilt ihm einen Auftrag im Sinne einer Mission: In einem Umfeld, in dem hauptsächlich Techniker arbeiten, soll der neue Mitarbeiter, der sowohl ein technisches als auch ein betriebswirtschaftliches Studium hat, die Spirale „kein Auftrag, weil keine Menge, […] keine Menge weil kein Auftrag“ durchbrechen. Wollte man das Gespräch im Sinne eines Unterrichtsgesprächs typisieren, könnte man hier trotz der dominierenden Rolle des Vorgesetzten ansatzweise von einem „[i]mpulsgebend-synthetisierende[n] Dialog“ (Pätzold 1996, 116) sprechen, denn der Mitarbeiter lässt sich auf die anregend vorgetragenen Ausführungen seines Vorgesetzten (Impuls) ein, bei denen dieser den Mitarbeiter immer wieder direkt anspricht („wo Sie aktiv werden sollten“, „was Sie da machen müssen“). Der Mitarbeiter vollzieht die Erläuterungen nochmals eigenständig nach („Dass der Kunde kam mit kleinen Stückzahlen“ etc.) und gelangt dadurch zu einem tieferen Verständnis und einer Generalisierung („der Kunde“ steht für alle Kunden) der Abläufe (vgl. ebd.). Diese Art des Gesprächs, die ausführliche Auseinandersetzung mit den Strategien und Aufgaben der Abteilung bzw. des einzelnen Mitarbeiters sowie die konkreten Vermittlungsaktivitäten des Vorgesetzten, taucht nur ganz vereinzelt im Wirtschaftsunternehmen auf. Bezeichnenderweise stammt dieser Ausschnitt aus einem Mitarbeitergespräch, das zugleich als Probezeitgespräch fungiert. Der Vorgesetzte ist hier außerdem deutlich älter als der Mitarbeiter und auch im Arbeitsalltag weiter von ihm entfernt, als es bei den meisten anderen Gesprächspartnern der Fall ist, was möglicherweise die Ursache dafür ist, dass er sich im
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Mitarbeitergespräch gezielt Zeit für etwas nimmt oder nehmen muss, was sonst im Arbeitsalltag nebenbei passiert. Durch den individuellen Lernprozess, der beim Mitarbeiter stattfindet, wird dieser darauf vorbereitet, einen organisationalen Lernprozess zu initiieren und zu steuern. Die bisherige und inzwischen von der Abteilungsleitung als veraltet („weil das passiert, ne, grundsätzlich, oder passierte in der Vergangenheit grundsätzlich“) und problematisch („weil ansonsten werden wir das Geschäft nicht entwickeln“) erkannte Praxis soll durch den neuen Mitarbeiter und sein spezifisches Kompetenzprofil verbessert werden. Dies ist vergleichbar mit Geißlers Verständnis organisationalen Lernens, nämlich einem individuellen Lernen, „das die einzelnen Organisationsmitglieder untereinander so abstimmen, daß es möglich wird, gemeinsam die sozialen Regeln und Interaktionsstrukturen, die ihrem Arbeiten und Kooperieren zugrunde liegen, zu verbessern. […] Die Voraussetzung für ein solches Lernen der Organisation ist, daß die einzelnen Organisationsmitglieder in ihrer Organisation die dafür notwendigen Kompetenzen haben bzw. erlernen“ (Geißler 2000, 50).
Diese Voraussetzungen wurden durch die Einstellung des neuen Mitarbeiters und seine strategische Einweisung im Mitarbeitergespräch geschaffen.
10.2.1.3
„einmal vorne weg gehen mit einer Meinung, das darfst du schon ab und zu machen“
Die eigene Meinung einzubringen, Bestehendes zu reflektieren und dadurch die Kollegen zum Nachdenken über Veränderungen anzuregen, wurde bereits in Kapitel 5.3 im Zusammenhang mit den überfachlichen Kompetenzen „Querdenken“ und „Veränderungsbereitschaft“ als etwas aus der Sicht des Unternehmens und der Vorgesetzten Positives herausgearbeitet. Hat ein Mitarbeiter Erfahrung und ein umfassendes Wissen, soll er dieses auch einbringen und den Kollegen bzw. dem Team und der Organisation zur Verfügung stellen. Dadurch werden Lernprozesse der Individuen bzw. der Organisation erst möglich (vgl. Argyris/ Schön 1999). Auch im Zusammenhang mit der überfachlichen Kompetenz „Teamfähigkeit“ bildet das Einbringen von Erfahrung die Grundlage für Lernprozesse: F (m): Was mir zum Teamfähigkeitspunkt aber noch einfällt, wo ich sage, da hast du auch noch Potential, ist eben auch, was wir eben schon besprochen haben, du darfst manchmal auch, ehm, einen eigenen Vorschlag von dir aus machen, so wäre es richtig, oder so wäre es noch besser, oder ich würde vorschlagen, wir machen es so, ne, also du diskutierst mit, du bist sehr konstruktiv, du darfst aber auch einmal den ersten Schritt machen, du darfst auch sagen, das würde
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10 Verknüpfung individueller und organisationaler Lernprozesse ich gerne verändert haben wollen, da, auch bei nebensächlichen Sachen, wie Büroplanung oder so, darfst du ruhig deine Meinung auch einmal initial äußern und sagen, ich bin Koordinator, und generell und ich habe hier, was weiß ich, die zweit- oder drittmeiste Erfahrung der ganzen Abteilung, also kann ich mir da auch einmal die Meinung, einmal vorne weg gehen mit einer Meinung, das darfst du schon ab und zu machen. (WU FK IV)
Auch oder gerade unter dem Aspekt der Teamfähigkeit genügt es dem Vorgesetzten nicht, dass sich der Mitarbeiter in seiner aktuellen Position („Koordinator“) und mit seiner Erfahrung in die Gruppe einfügt, sich anpasst bzw. sich beteiligt („du diskutierst mit“). Erst durch das aktive Einbringen („initial äußern“) konkreter Vorschläge („so“, „das“) auf der Basis seiner Erfahrung („die zweit oder drittmeiste Erfahrung der ganzen Abteilung“) und seines Fachwissens („ich bin Koordinator“) bringt er das Team weiter, kann er die Praxis der Abteilung verbessern und kollektive Lernprozesse auslösen. Es geht hier also nicht nur um die Weiterentwicklung des Mitarbeiters und darum, sein „Potential“ für sich selbst zu entfalten und seine Position in der Abteilung zu stärken; sondern es geht im Gegenteil darum, dass das Team vom Wissen und der Erfahrung des einzelnen Mitarbeiters profitiert. Wieder taucht hier im Zusammenhang mit „Teamfähigkeit“ ein Führungsaspekt auf (s. Kap. 5.1.2): „vorne weg gehen“, also das Team hinter sich zu bringen und auf einen bestimmten Weg zu führen. Der Mitarbeiter übernimmt als Unterstützer der Lernprozesse seiner Teamkollegen die Aufgabe des „Anregens“ (Göhlich 2001, 239) und führt sie zu alternativen Praxisformen. Die mehrmals ausgesprochene Erlaubnis des Vorgesetzten („du darfst“, „da darfst du“), die sich durch die Kompetenz des Mitarbeiters legitimiert, kann hier nicht nur als Ermunterung, sondern auch als deutliche Aufforderung, wenn nicht sogar als konkreter Auftrag verstanden werden, wenngleich die Relativierung der Erfahrung des Mitarbeiters durch die Abschwächung „zweit- oder drittmeiste Erfahrung“ und die wiederholten Einschränkungen „einmal“, „ab und zu“ und „manchmal“ in Kombination mit der wiederholten Erlaubnis „du darfst“ den Mitarbeiter gleichzeitig in seine Schranken verweist, was seine Position in der Abteilung angeht. Hier wird wieder die ausgeprägte Hierarchie deutlich, die offensichtlich nur bedingt von der fachlichen Qualifikation der Beteiligten abhängig ist und in die sich der Mitarbeiter folglich trotz seiner Stellung als „Koordinator“ einzuordnen hat. In einem anderen Gespräch wird deutlich, dass im Hinblick auf die Teamfähigkeit die Äußerung der eigenen Meinung und des eigenen Standpunkts auch eine pädagogische Verantwortung gegenüber den anderen Teammitgliedern mit sich bringt:
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F (m): Und jetzt komme ich nämlich genau zu dem Punkt, ‚vertritt im Team eigene Standpunkte mit adäquaten Mitteln‘, (2) das ist auch ein Problem, das wir generell haben, ein generelles Problem, das auch ein Müller hat, das muss ich jetzt einmal ganz klar sagen, ein Müller bereitet vor, ein Müller listet auf, ganz klar, fachlich, sachlich strukturiert, was es eigentlich ist, die eigentlich für jeden einleuchtend sind, (1) ne M (m): Mhm. F: aber, ich vergesse dabei, dass die anderen intellektuell, das ist nicht negativ gemeint, dass ich jetzt sage, die sind blöd, sondern dass die anderen Leute intellektuell gar nicht in der Lage sind, mir zu dem Zeitpunkt, zu dem ich das präsentiere, zu folgen, (3) das ist der Punkt dahingehend zum Beherrschen, und (1) da sage ich, müssen wir alle, aber auch du noch, lernen, dass, dein Thema ist ja jetzt Vier, dass wir zu dieser Vier kommen, M: Mhm. F: die Leute genau, auch in der Teamfähigkeit, die Leute genau dort abholen, genau dort abholen, wo sie gerade stehen, und dementsprechend dann darauf aufsetzen, um meinen Standpunkt zu erklären. Und dann muss ich vielleicht auch in Teilbereichen manchmal zurückgehen auch, was für mich völlig klar ist, es ist auch ein Spagat manchmal, weil gerade im Projekt muss ich dann auch manchmal ganz strikt sagen, und so ist es jetzt, jetzt kann ich nicht mehr warten, sondern da muss ich auch mal ganz klar die Vorgaben geben, aber das ist der Punkt dahingehend. M: Ok. (WU FK V)
Zunächst muss das Lernen der Kollegen durch die Weitergabe von Erfahrung und Wissen ermöglicht werden. Dies ist aber nur der erste Schritt. Unter diesen ersten Schritt fällt alles, was der Vorgesetzte, Müller, mit „ein Müller bereitet vor, ein Müller listet auf, ganz klar, fachlich, sachlich strukturiert, was es eigentlich ist“ beschreibt. Im zweiten Schritt geht es um die Vermittlung, um das Erläutern des „Standpunkts“. Dazu muss man „die Leute genau dort abholen, genau dort abholen, wo sie gerade stehen“. Der Vorgesetzte folgt damit einem zutiefst pädagogischen Prinzip, dem Prinzip der individuellen Förderung, das ebenfalls in Göhlichs Kategorie der Lernunterstützung, des Stabilisierens, eingeordnet werden kann, da es hier auch darum geht, den aktuellen Standort des Mitarbeiters zunächst einmal einfach nur anzuerkennen. Dazu benötigt der Vorgesetzte diagnostische Kompetenzen, denn er muss den Kenntnisstand seines Gegenübers im Sinne einer Inventarisierung bestimmen (vgl. Kleber 2002, 106). Dieses Prinzip, bei dem es auch um die Möglichkeit zur Partizipation und zur Integration aller Beteiligten geht, steht im Widerspruch zu den Prinzipien, die sonst im Projektalltag des Unternehmens vorherrschen, wo man nicht darauf „warten“ kann, dass jeder Einzelne mitkommt, und wo man „manchmal“ „ganz klar die Vorgaben geben“ muss. Das Lern- und Entwicklungstempo bzw. der Wissensstand („intellektuell gar nicht in der Lage“, „zu dem Zeitpunkt“) eines jeden einzelnen entspricht nicht immer dem Entwicklungstempo bzw. Entwicklungsstand der organisationalen Rahmenbedingungen und Notwendigkeiten. Um dies anzugleichen, wird auch hier wieder mit dem Erfolg versprechenden Instrument des hie-
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10 Verknüpfung individueller und organisationaler Lernprozesse
rarchisch strukturierten Unternehmens gearbeitet: der Anordnung bzw. der „Vorgabe“. Nichtsdestotrotz wird Teamfähigkeit hier als Fähigkeit verstanden und wertgeschätzt, Lernprozesse auf Teamebene unterstützen zu können, denn die Bewertung „Beherrschen“ verdient der Mitarbeiter erst dann, wenn er gelernt hat, ein Thema so zu vermitteln, dass er alle Teammitglieder dort abholt, wo sie gerade mit ihrem individuellen Entwicklungsstand stehen. Das Anliegen des Vorgesetzten geht also dahin, beim Mitarbeiter einen Lernprozess in Gang zu setzen, durch den es wiederum auch anderen ermöglicht wird, Arbeitsaufträge und Zusammenhänge zu verstehen. Dabei geht es weniger um die Weiterentwicklung des einzelnen Mitarbeiters als darum, die Mitarbeiter in die Lage zu versetzen, ihren Aufgaben nachzukommen, denn im Zweifelsfall, wenn es die organisationalen Vorgaben verlangen („im Projekt“), wird auf einen begleiteten Lernprozess, auf das Abholen, verzichtet und eine „Vorgabe“ gemacht. Auch hier ist der Teamaspekt, wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt, Platzhalter für die Orientierung an den Bedürfnissen der Gesamtorganisation, um deren Willen individuelle Lernprozesse gefördert und unterstützt werden. Konkrete Hinweise darauf, wie er dies „lernen“ kann, erhält der Mitarbeiter allerdings nicht. Weder schlägt ihm der Vorgesetzte eine Weiterbildungsmaßnahme vor, noch gibt er seine eigenen Erfahrungen weiter. Er erläutert ihm lediglich die Situation als Hintergrund seiner Beurteilung.
10.2.2 Organisationales Lernen 10.2.2.1
„Das Schlimmste ist, zu sagen, das haben wir schon immer so gemacht“
Die Notwendigkeit von Lernprozessen auf allen Ebenen zeigt sich insbesondere im Zusammenhang mit der in Kapitel 5 erwähnten Fusion mehrerer Unternehmen unter der ehemaligen Geschäftsführung des untersuchten Teilunternehmens. Die beiden folgenden Gesprächsausschnitte stehen am Anfang eines Mitarbeitergesprächs, in dem außergewöhnlich lange über die aktuelle Situation der Abteilung und die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern aus einem der neu hinzugekommenen Unternehmensteile gesprochen wird. M (m): Sicherlich auch, weil die lebten noch in einer anderen Welt, als wir bei uns hier, da verspreche ich mir von den Produktentwicklungen, von den Stufen [Name] und [Name] jetzt mehr, da wir auf die gleichen Dokumente zurückgreifen müssen, die müssen mit den gleichen Unterlagen arbeiten, wie wir es machen,
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F (m): Also vom Gesamtgeschäftsprozess siehst du da in jedem Fall Vorteile. Glaubst du, dass die in dem Jahr dann schon sich auswirken werden, dass wir da ein bisschen mehr Ruhe reinbringen? Oder ob das erst jetzt richtig, weil es gelebt werden muss, zu neuen Schwierigkeiten, aber jetzt mehr organisatorisch, führen wird. M: Ja, ja, die sind noch nicht so weit wie wir, gerade wenn ich in Bezug bei den Produktentwicklungen auch auf die [Programmname] zu sprechen kommen muss, eh, da haben die keine Chance, auch wenn ich den jetzt, den Kollegen jetzt in [Standort] Projekte gebe, ja, und sage, ihr müsst auch die [Programmname] starten, die können das gar nicht. F: Des heißt also, Kapazität wird weiterhin das Thema sein, ja? M: (4) Mh, das können wir organisieren, die müssen eben lernen mit den [Programme] zu arbeiten, mit den [Programmname]. Da ist ja der, der Anstoß auch damals gekommen, von mir, dass wir die [Programmname]-Struktur in die [Programmname]-Struktur über-, übernehmen können, das heißt dieser Schritt muss unbedingt durchgeführt werden, da habe ich heute noch einmal mit dem, mit der Berechnungsabteilung gesprochen, mit dem Dr. Merkens, die sind noch nicht so weit, ja, das ist auch noch nicht, die hängen auch dem Plan hinterher, da müssen wir nächstes Jahr oder dieses Jahr, wir sind ja schon in diesem Jahr, ein bisschen Druck aufrecht erhalten. F: Das heißt, dass die Schwierigkeiten sich dann auch für das nächste Jahr mit Sicherheit, was Berechnung, [Programmname], also wirklich Organisationstools betrifft, da Schwierigkeiten, mhm, hm. M: Ich habe die Kollegen jetzt wieder eingeladen von [Standort], für Januar, dass wir wieder unsere Pro-, Projektbesprechung machen für die ganzen [Produktname] aus der [Ortsname] Ecke aus dem [Bereichsname]. Die kommen, und da werde ich es wieder ansprechen, wie es mit den [Programmname] aussieht, ob sie schon etwas unternommen haben, F: Mhm. M: ich glaube eher, nein. Da habe ich schon überlegt, ob ich das organisieren soll für die, aber F: Nein, selber durchführen lassen und beobachten. (WU FK II)
Problematisch in der oben beschriebenen Situation ist, dass das fusionierte Unternehmen B bzw. dessen Mitarbeiter erst auf den Stand des Stammunternehmens A gebracht werden muss. Dies wird in mehreren Äußerungen deutlich: „die lebten noch in einer anderen Welt“, „die müssen mit den gleichen Unterlagen arbeiten“, „die sind noch nicht so weit wie wir“, „da haben die keine Chance“, „die können das gar nicht“, „die müssen eben lernen“ und „die hängen auch dem Plan hinterher“. Ist vom Unternehmen B die Rede, wird immer stellvertretend von den Mitarbeitern („die“) gesprochen. Auch wenn es hier um organisationale Veränderungsprozesse geht, sind es in der Wahrnehmung der beiden Gesprächspartner doch die einzelnen Akteure, die diese tragen, die mit den Unterlagen arbeiten und die sich die Bedienung neuer Programme und anderes mehr aneignen müssen. Befand man sich bisher noch in der Ausbildungs-, Vermittlungs- oder Konzeptionsphase („die lebten noch in einer anderen Welt“), geht es jetzt um die Umsetzung („weil es gelebt werden muss“). Durch die laufenden Geschäftsprozesse findet formal eine Vereinheitlichung statt. Ob dies jedoch auch zu „mehr
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Ruhe“ in dieser Phase des Wandels führt, ist noch ungewiss. Aus der Vermutung des Vorgesetzten, dass jetzt mehr organisatorische Schwierigkeiten auftauchen könnten, kann geschlossen werden, dass man die Phase des Wissenstransfers für abgeschlossen hält („die lebten noch in einer andern Welt“). Nach dem WissenLernen, folgt nun das Können-Lernen („die können das gar nicht“). Wie bereits im Kapitel zum Thema Veränderung ausgeführt, stellt sich also die Frage, wie die Mitarbeiter von B die nötigen Kompetenzen erwerben können, um die anstehenden Aufgaben zu bewältigen. Eine zu lange Verzögerung führt in der ganzen Abteilung zu Kapazitätsproblemen („Kapazität wird weiterhin das Thema sein“, „die hängen auch dem Plan hinterher“). Entsprechend hoch ist der Druck, die Entwicklung in den neuen Unternehmensteilen voranzutreiben („dieser Schritt muss unbedingt durchgeführt werden“, „ein bisschen Druck aufrecht erhalten“). Eine Möglichkeit wird auch hier in der Bereitstellung von schriftlichen Unterlagen gesehen („die müssen mit den gleichen Unterlagen arbeiten, wie wir es machen“). Es wird in Erwägung gezogen, die Umstellung bei B von A aus zu „organisieren“, um die Umstellung zu beschleunigen; es wird immer wieder nachgefragt, „ob sie schon etwas unternommen haben“. Der Vorgesetzte sieht den besten Weg im Moment darin, die Mitarbeiter die Tools „selber durchführen“ zu lassen – die B-Mitarbeiter sollen also selbst tätig werden und den Umgang mit den Tools bei der selbständigen Durchführung erlernen. Dem Lernprozess wird damit zumindest vorläufig, denn man will den Prozess „beobachten“, der Vorrang vor den Kapazitätsfragen gegeben. Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird deutlich, dass der Mitarbeiter durch sein Eingebundensein in die Unterstützung der Lernprozesse im fusionierten Unternehmen sowie der eigenen Abteilung stark absorbiert ist. Es zeichnet sich ein Dilemma beim Einsatz der Experten oder Wissensträger in der Organisation ab, das im Interesse des Geschäftsbereichs gelöst werden muss: F (m): Voraussetzungen, die wir brauchen, um sagen wir einmal im nächsten Jahr da a) für dich Kapazität zu gewinnen, und b) vielleicht noch effizienter etwas gestalten zu können. (3) USA, englischsprachig, Asien, was würde dich da betreffen?, das schwebt mir da im Kopf herum. Oder tatsächlich Freiräume zu schaffen, jetzt zum Beispiel für Innovationstreffs et cetera. M (m): Na, ich denke, wir müssen die alten Strukturen von B noch ein bisschen aufweichen, dass die von sich aus noch ein bisschen melden, das ist nach wie vor noch so ein bisschen, bisschen Einbahnstraße. Auch wenn Besuche bei [Firmenname] stattfinden zu dem [Produkt], weil die machen ja die [Produkt] direkt mit den Kollegen in [Standort B], da muss ich immer nachfragen, ihr wart doch da, schickt den Bericht, und so was, das F: Unsere Vorgehensweise mit Projekttrennung, siehst du das im Moment eher als Vorteil oder eher behindernd dann an, wenn die Information nicht fließt? M: Wenn wir die trennen würden, wäre ein Vorteil, wohl wissend, dass da vielleicht noch ein, bei uns ein Schulungsbedarf ist für die [Produkt], das war ja damals auch der Einwand von, vom Herrn Hötzel und vom Herrn Höhnel, da sind wir noch nicht so weit, denke ich.
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F: Du erwähnst Schulung, das klingt schon wieder nach Kapa, im Moment organisierst du die mit, ist da notwendig, dass man, sagen wir einmal, eh, Ersatz dafür andenkt? Ich weiß, dass der Krauß Schulungen für Leute organisiert, die neu sind, mit dem Sickinger in der Zentralabteilung, wäre das sinnvoll dann, sagen wir einmal, für bestimmte Bereiche, die zuständigen Herren dazu heranzuführen? […] M: […] Und dann müssen meine Mitarbeiter einmal rauf fahren und sagen, worauf muss ich achten, habe ich das richtig gemacht. Denn nur wenn die etwas machen und mit, sich mit den Experten in, in [Standort B] unterhalten, können sie lernen. Ich glaube nicht, dass man das in einer Schulung in [Standort C] beibringen kann. F: Nein, da, da gebe ich dir absolut Recht. Eh, das war jetzt der umgekehrte Weg, dass wir praktisch die B-[Produkt] anwenden. Was ist mit [Standort B], wenn die A-[Produkt] anwenden? Da machst ja du in [Standort B] im Moment dann die Schulungen, ehm, glaube ich, im Februar geht es wieder weiter M: Mhm. F: eh, glaubst du, dass wir die über das ganze Jahr weiterführen müssen?, ich persönlich glaube, ja, deshalb die Frage auch, ob ein anderer dich dann weiter unterstützen könnte auf diesem Sektor. Ich möchte freie Kapazitäten bei dir haben. […] F: Meine Bitte wäre, tatsächlich nachzudenken, auch jetzt in dem Gespräch, wo könnte man Entlastungen machen oder müssen es anders verteilen?, ich glaube, dass wir im nächsten Jahr in der Lage sind, durch die Mehrkapazität, die wir bekommen haben, jetzt brauchen wir noch eineinhalb Jahre für die Ausbildung der Leute, dass sie wirklich fruchten, siehe Plattner oder Martin Seiter, und dann hoffe ich, dass wir gewisse Tätigkeiten dort hin verlagern können, so dass wirklich freie Kapazitäten zum Vorantreiben des ganzen Bereiches vorhanden sind, das ist also, eh, so mein Anliegen, und in die Richtung sollte man auch in der Entwicklung in dem Gespräch und in den Seminaren und Ausbildungen, die hinten an dem Bogen hängen, eingehen. Eh, siehst du da noch irgendwas, was dich behindern wird? Also jetzt haben wir Kapazitäten, wir haben Projektorganisation, Positives ist, dass wir neue Mitarbeiter haben, die recht gut sind oder sich recht gut machen, wir haben auch gewisse Hoffnungen, dass die B in Bereich mitziehen kann, nicht nur wegen den Kenntnissen, sondern auch wegen den Tools, die wir haben, gibt es noch etwas? (WU FK II)
Das Gespräch findet in einer Umbruchphase im Unternehmen statt, in der alle Neues lernen müssen. Der Mitarbeiter scheint als einer der wenigen im Bereich die notwendigen Voraussetzungen dafür zu haben, Lern- und Entwicklungsprozesse auf verschiedenen Ebenen vorantreiben zu können. Die großen Umstellungen und Veränderungen im Rahmen der Fusionierung binden viel Zeit und Energie bzw. „Kapazität“. Der Mitarbeiter organisiert Schulungen, die zur Übernahme von bestimmten Instrumenten und Techniken im neuen Bereich nötig sind, er koordiniert den Austausch zwischen den Unternehmensteilen („Und dann müssen meine Mitarbeiter einmal rauf fahren“, „da muss ich immer nachfragen“). Er plant und arrangiert also die Unterstützung von Lernprozessen seiner Mitarbeiter und die ganzer Bereiche in den Unternehmensteilen A und B. Zentrales Ziel der Bemühungen des Vorgesetzten („so mein Anliegen“) ist, „dass wirklich freie Kapazitäten zum Vorantreiben des ganzen Bereichs“ ge-
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schaffen werden. Dies bedeutet einerseits, dass in den neuen Unternehmensbereichen die Kompetenzen dafür entstehen müssen, dass bestimmte Aufträge dort ausgeführt werden können („die Mehrkapazität, die wir bekommen haben“, „dass wir gewisse Tätigkeiten dort hin verlagern können“), andererseits sollen Kapazitäten auf der Ebene des einzelnen Mitarbeiters geschaffen werden, der im Moment die Lernprozesse der Kollegen bspw. im Rahmen von „Schulungen“ betreut und organisiert („für dich Kapazität zu gewinnen“, „Ich möchte freie Kapazitäten bei dir haben“). Die freien Kapazitäten sollen einerseits der Weiterentwicklung des Mitarbeiters dienen („USA, englischsprachig, Asien“), andererseits sollen sie für die effizientere Gestaltung und die kontinuierliche Weiterentwicklung der Organisation eingesetzt werden („Innovationstreffs“). Aber auch die Weiterentwicklung des Mitarbeiters steht unter dem Zeichen organisationaler Ziele („und in die Richtung sollten wir auch in der Entwicklung in dem Gespräch und in den Seminaren und Ausbildungen, die hinten an dem Bogen hängen, eingehen“). Das Gespräch soll dazu dienen, herauszufinden, wo der Mitarbeiter entlastet werden kann, wo Aufgaben zur Entlastung des Mitarbeiters anders verteilt werden können, damit der Mitarbeiter in seiner Weiterentwicklung und seinem Einsatz für die Abteilung nicht „behindert“ wird. Die Lern- und Entwicklungsprozesse der Organisation und der individuellen Akteure in ihr stehen in einem permanenten Wechselverhältnis zueinander. Um die Entwicklung des Bereichs vorantreiben zu können, benötigen die Mitarbeiter nicht nur die entsprechenden Kompetenzen, sondern auch den nötigen Freiraum im Sinne von freier Kapazität, mit der sie sich bestimmten Themen widmen können. Gleichzeitig wird abgewogen, ob ein Mitarbeiter für die aktuellen Geschäftsprozesse in der Abteilung oder als Wissensträger für die Organisation einer Schulung bzw. als Lernunterstützer eingesetzt werden soll („Ersatz“, „ob ein anderer dich dann weiter unterstützen könnte auf diesem Sektor“). Damit ein Mitarbeiter seine Kompetenz für die Abteilung voll zum Einsatz bringen kann, werden auch organisationale Veränderungen erwogen („siehst du da noch irgendetwas, was dich behindern wird?“). Der Transfer des spezifischen Wissens zwischen den alten und neuen Unternehmensteilen und der Implementierung bewährter Standards, wie bspw. der Weitergabe von Informationen („dass die von sich aus noch ein bisschen melden, das ist nach wie vor noch so ein bisschen, bisschen Einbahnstraße“, „wenn die Information nicht fließt“) ist ein wesentlicher Bestandteil des notwendigen organisationalen Lern- und Veränderungsprozesses. Dazu muss aus der Sicht des Mitarbeiters die gewohnte Struktur im neuen Unternehmensteil „noch ein bisschen aufweichen“. Die Formulierung erinnert an das „Defreezing“ als Startpunkt
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eines Veränderungsprozesses in einem der frühen Ansätze der Organisationsentwicklung nach Lewin. In der Tat hat man es hier mit einem Veränderungsprozess mit klarem Anfang zu tun (vgl. Schreyögg 2008, 418), nämlich dem Zeitpunkt der Fusionierung. In diesem Prozess geht es um konkrete Maßnahmen, die ergriffen werden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, nämlich die Annäherung der beiden Unternehmensteile, der Transfer, die Übernahme bzw. das Erlernen der jeweils anderen Kompetenzen. Zu diesen Maßnahmen gehören insbesondere Schulungen, aber der Mitarbeiter zeigt auch deutlich die Grenzen der Vermittlung fernab der Praxis auf („Ich glaube nicht, dass man das in einer Schulung in [Standort C] beibringen kann.“). Stattdessen betont er wie bereits im vorigen Gesprächsausschnitt, dass das Lernen im Tun und im Austausch mit den Experten vor Ort über das eigene Tun liegt („Denn nur wenn die etwas machen und mit, sich mit den Experten in, in [Standort B] unterhalten, können sie lernen.“, „habe ich das richtig gemacht“). Der komplexe Kompetenzerwerb, um den es hier geht, besteht sowohl aus einem kognitiven Verstehen bzw. Wissen-Lernen über den Austausch mit den Kollegen als auch im Können-Lernen, im Durchführen und Ausprobieren unter Anleitung. Soziale und interkulturelle Sensibilität als eine der überfachlichen Kompetenzen ist nicht nur im Hinblick auf die weltweiten Aktivitäten des Unternehmens von Bedeutung. Auch im Zusammenhang mit der Fusion erleichtern Offenheit und Wertschätzung der jeweils anderen Kultur und Praxis die Zusammenarbeit und fördern nicht zuletzt auch organisationale Lernprozesse: F (m): offen auf andere Menschen zuzugehen ist auch in Bezug jetzt auf, eh, vorhandene Prozesse, B, Frau Scholz, […] dass man da offen und wertfrei, ne, auf den zugeht und sagt, Mensch, was ihr habt, in dem Fall ist es besser, in dem Fall denkst du, dass es schlechter ist, und dass man da konstruktiv an solche Sachen rangeht. Das Schlimmste ist, zu sagen, das haben wir schon immer so gemacht, ne, und, nee, das passt einigermaßen, machen wir weiter so, das ist aus meiner Sicht dumm, ne, eh, da sollte man offen sein und zumindest versuchen, man soll, jeder sollte einmal darüber nachdenken, versuchen, Mensch, wie machen die das und sich einmal ernsthaft darum kümmern, ne, vielleicht ist es ja, ne, ist es ja, eh, eh, wirklich besser, und da haben wir auch wieder ein Beispiel gehabt, das passt jetzt wirklich so schön rein ins [Mitarbeitergespräch], ne, wo letzte Woche die Klara da war, ne, Paradebeispiel, bei B machen wir es so, ja, und bei A machen wir es so, und dass man unter Umständen, manche Sachen kann man jetzt nicht übernehmen, weil eben die Vorgaben anders sind, ne, aber man kann zumindest von der Denkweise oder von, vom, wenn es nur kleine Punkte sind, ne, dass man sagt, Mensch, wie könnte man denn das mit einfließen lassen, (WU MA II)
Der Vorgesetzte warnt davor, sich überlegen und überzeugt davon zu fühlen, dass die eigenen Prozesse die besseren sind, ohne dies mit mehr als dem Prinzip der Gewohnheit begründen zu können („das haben wir schon immer so ge-
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macht“). Von seinen Mitarbeitern erwartet er, dass sie „konstruktiv“, also „offen und wertfrei“, auf die Kollegen zugehen. „Jeder“ soll sich „ernsthaft“ auf die Vorgehensweisen und Instrumente der anderen einlassen, sich in die „Denkweise“ hineinversetzen und vor diesem Hintergrund argumentieren und die eigene Meinung darstellen („in dem Fall ist es besser, in dem Fall denkst du, dass es schlechter ist“). Das Fremde oder Andere per se abzulehnen, wäre aus seiner Sicht „dumm“, denn damit vergibt man die Chance, die eigenen Prozesse zu verbessern und von den Kollegen zu lernen („vielleicht ist es ja, ne, ist es ja, eh, eh, wirklich besser“) – auch wenn ihm diese Vorstellung nur schwer von den Lippen kommt. Nicht alles, auch wenn es für „besser“ befunden wurde, kann allerdings übernommen werden, „weil eben die Vorgaben anders sind“. Bestehende Strukturen, die formal vorgegeben sind, können also verhindern, dass neue Praktiken eingeführt werden und sich die Organisation weiterentwickeln kann. Auch in diesem Fall hält der Vorgesetzte aber dazu an, zumindest die andere „Denkweise“ und auch „kleine Punkte“ zu übernehmen und damit zumindest die eigene Perspektive unter den gewohnten organisationalen Rahmenbedingungen zu erweitern. Auf dem Wege zu einer gemeinsamen Praxis, zu gemeinsamen Mustern und Werten sowie einer gemeinsamen Unternehmenskultur sind auch und vor allem die Führungskräfte gefragt. Die Übernahme von Haltungen und Kultur findet nicht in einem einmaligen Vermittlungsakt durch Erläutern, Vormachen und Nachmachen und Üben statt. Ganz im Gegenteil sind dazu langwierige Transformationsprozesse nötig, die entsprechend viel Zeit benötigen und in denen das (muster)mimetische Lernen der Akteure eine große Rolle spielt.
10.2.3 Zusammenfassung Wie bereits in Kapitel 9 herausgearbeitet, werden im Wirtschaftsunternehmen das Wissen und die Erfahrung des einzelnen Mitarbeiters gleichzeitig als notwendige Voraussetzung und als Chance für anstehende Lern- und Veränderungsprozesse begriffen. Meist ist das Ziel der Veränderung von der Abteilungsleitung oder Geschäftsführung vorgegeben, und die Mitarbeiter erhalten aufgrund ihrer Kompetenz einen bestimmten Auftrag, nämlich bspw. Wissen weiterzugeben. Seltener werden die Mitarbeiter dazu aufgefordert, unabhängig von einer bestimmten Thematik Veränderungsvorschläge einzubringen. Ein konkreter Auftrag kann in der Durchführung von Schulungen oder der Organisation des
10.2 Wirtschaftsunternehmen
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Austauschs von Erfahrungen und Ideen zwischen verschiedenen Personen und Bereichen liegen. Er kann aber auch aus der konkreten (Um-)Planung von organisationalen Abläufen und Strukturen bestehen. In mehreren Gesprächen kann eine pädagogische Handlungsweise bei den Vorgesetzten beobachtet werden, ohne dass dies von ihnen so benannt würde. Immer wieder versuchen die Vorgesetzten, ihren Mitarbeitern bestimmte Grundsätze klar zu machen, bspw. die anderen Kollegen dort abzuholen, wo sie stehen, ihnen den Grund für ein bestimmtes Vorgehen deutlich zu machen oder sich auf Fremdes und Unbekanntes einzulassen. Bereits in diesen kurzen Sequenzen liegen aufklärende und anregende Aspekte für Lernprozesse bei den Mitarbeitern. Durch die genaue Beschreibung und Begründung des eigenen Vorgehens und der eigenen Erfahrung als Orientierung für die Mitarbeiter erhalten diese Sequenzen den Charakter eines Vermittlungsaktes. Sowohl das Auftreten der Vorgesetzten in diesen Gesprächsauszügen als auch die Grundsätze, an die sie ihren Mitarbeitern gegenüber appellieren, lassen Lernunterstützung, wie sie in dieser Arbeit definiert wird, als Teil des Führungsaspekts erscheinen. Sowohl auf individueller als auch auf organisationaler Ebene entstehen Lernprozesse durch das Vorangehen und die fachliche Führung einer Person, die sich durch ihre Position in der Unternehmenshierarchie, durch ihre Erfahrung und ein besonderes (Fach-)Wissen auszeichnet. Auch hier ist also die Kompetenz einer Person der Ausgangspunkt für individuelle und organisationale Lernprozesse. Die einzelnen Mitarbeiter sind die Träger organisationaler Lern- und Veränderungsprozesse. Wissen zwischen unterschiedlichen Unternehmensteilen bzw. Teilsystemen der Organisation wird durch den direkten Austausch mit Kollegen und Experten und die Verwendung gemeinsamer Unterlagen weitergegeben. Die Übernahme der Prozesse aus den neuen Unternehmensbereichen bzw. dem Mutterunternehmen soll durch eigenes, selbständiges Tun und durch Üben erfolgen. Probleme, die im Zusammenhang mit Lernprozessen angesprochen werden, finden sich einerseits in der Kehrseite der Grundsätze, an die die Vorgesetzten appellieren: Mitarbeiter dürfen ihr Fachwissen und ihre Erfahrung nicht für sich behalten, wenn sich die Abteilung und das Unternehmen weiterentwickeln sollen. Arroganz und Abwehr gegen Unbekanntes verstellt den Blick auf eine in anderen Bereichen bereits existierende, bessere Vorgehensweise. Andererseits stellen mangelnde Kompetenzen auf Seiten der Mitarbeiter ein Hindernis oder zumindest eine Ursache für die Verzögerung organisationaler Lernprozesse dar. Der Zeitdruck durch die laufenden Geschäftsprozesse führt
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dazu, dass auf den individuellen Lernbedarf der Mitarbeiter nicht immer eingegangen werden kann. Lernprozesse werden dann durch formale Vorgaben und Anordnungen ersetzt. Mitarbeiter und Führungskräfte, die sich durch ein besonderes Wissen auszeichnen, sind sowohl für die Unterstützung individueller als auch organisationaler Lernprozesse von großer Bedeutung. Durch den verstärkten Einsatz als Lernunterstützer im Hinblick darauf, Kompetenzen von Mitarbeitern und Prozesse in unterschiedlichen Unternehmensbereichen anzugleichen, ist die Arbeitskraft dieser Personen gebunden. Dadurch entstehen sowohl im aktuellen Tagesgeschäft als auch im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Bereiche Kapazitätsprobleme. Dies veranlasst die Verantwortlichen wiederum, nach organisationalen Veränderungen zu suchen, die einen möglichst effektiven Einsatz dieser Kompetenzträger für das Unternehmen möglich machen. Dabei werden sie sowohl als Personal- als auch als Organisationsentwickler aktiv. Insgesamt zeigt sich für das Wirtschaftsunternehmen eine starke Interdependenz von individuellen und organisationalen Lern- und Veränderungsprozessen. Insbesondere die spezifische Kompetenz eines Mitarbeiters im Hinblick auf eine bestimmte Thematik und einen bestimmten Lernanlass zeigt sich immer wieder als Dreh- und Angelpunkt für davon ausgehende Lernprozesse anderer Mitarbeiter oder der Abteilung bzw. der Organisation.
10.3 Vergleich Die Impulsgeber für Lernprozesse sind im Sozialunternehmen eher auf der Seite der Mitarbeiter, im Wirtschaftsunternehmen eher auf der Seite der Vorgesetzten zu finden. Beschreiben im Sozialunternehmen die Mitarbeiter, wie sie sich selbst und aus eigener Initiative an Vorbildern orientieren, bei Kollegen nachfragen und ihre Konsequenzen aus Erfahrungen ziehen, sind es im Wirtschaftsunternehmen die Führungskräfte, die in das Gespräch Vermittlungssequenzen einbauen oder Coachingangebote machen, also sich selbst als Vorbild anbieten und ihre Mitarbeiter dazu anhalten, ihr Wissen an Kollegen weiterzugeben – auch dies teilweise und wenn es die Rahmenbedingungen zulassen in einem geplanten Vermittlungsprozess. Die Führungskräfte des Sozialunternehmens nutzen die Gespräche kaum für die direkte Vermittlung bestimmter Themen oder Haltungen. Wo sich Elemente von Vermittlung finden, nehmen die Gespräche die Gestalt eines Dialogs an, durch den sich die Vorgesetzten der aktuellen Situation
10.3 Vergleich
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des Mitarbeiters annähern und durch Nachfragen bestimmte Themen, Anregungen oder Kritik äußern. Voraussetzung für die Umsetzung der Vorschläge von Mitarbeitern ist im Sozialunternehmen die Tatsache, dass die Probleme, auf die einzelne Mitarbeiter hinweisen, von den Verantwortlichen (an-)erkannt und als verfolgungswürdige Lern- und Veränderungsanlässe für die Organisation akzeptiert werden. Im Wirtschaftsunternehmen wird der Spielraum für Vorschläge von Seiten der Mitarbeiter von vornherein begrenzt bzw. als Erlaubnis ausgesprochen. Im Sozialunternehmen scheint die Eigeninitiative der Mitarbeiter im Zweifelsfall einfach ignoriert bzw. als nicht existent betrachtet zu werden, wie der bereits in Kapitel 9 aufgegriffene Kommentar einer Vorgesetzten zeigt, die zu dem Vorschlag eines Mitarbeiters meint: „Nein. Nein, aber eh, ich denke, das kann kein Ziel sein, wenn es nicht von der nächsthöheren Ebene in der Richtung forciert wird“ (SU MA IV). Trotz des Engagements der Mitarbeiter wirken individuelle und organisationale Lernprozesse im Sozialunternehmen merkwürdig unverbunden. Die Aktivitäten der Mitarbeiter bleiben häufig auf ihre eigene Weiterentwicklung beschränkt, werden nicht aufgegriffen und dadurch auch nur bedingt organisational. Im Gegensatz dazu zeigt sich für das Wirtschaftsunternehmen eine starke Interdependenz von individuellen und organisationalen Lern- und Veränderungsprozessen. Die spezifische Kompetenz eines Mitarbeiters wird immer wieder als Ausgangspunkt für Lernprozesse anderer Mitarbeiter, der Abteilung und der Organisation genutzt. Initiiert und angeregt, z. T. sogar angeordnet, werden diese Prozesse von den Vorgesetzten. Eine mögliche Erklärung für diese unterschiedlichen Muster im Hinblick auf Lernen und Lernunterstützung liegt in der jeweiligen Struktur der beiden Organisationen begründet, die in Weicks Unterscheidung von loser und enger Kopplung greifbar wird (s. Kap. 5). Durch die relative Unabhängigkeit der einzelnen Einrichtungen im Sozialunternehmen voneinander sind sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben nicht im selben Maße auf einen Austausch von Wissen und Kompetenz angewiesen, wie es für die Prozesse im Wirtschaftsunternehmen der Fall ist, wo durch die Matrixorganisation ein enges Zusammenspiel der einzelnen Fachabteilungen notwendig ist. Im Hinblick auf ihre Tätigkeit werden den Mitarbeitern im Sozialunternehmen als Personen große Spielräume bis hin zu eigenen Zielen eingeräumt, was teilweise ebenfalls strukturell bzw. durch den in der Art der Tätigkeit begründeten Anspruch auf Autonomie (Fuchs 2004, 247) bedingt ist. Dadurch ist strukturell wenig Kontrolle möglich, gleichzeitig wird Kontrolle, auch wenn sie als Ideenaustausch daher kommt, von den Mitarbeitern
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10 Verknüpfung individueller und organisationaler Lernprozesse
abgelehnt, auch oder gerade wenn sie qualitätssichernde Aspekte enthalten könnte. Die von den Mitarbeitern aufgeführten Praxismuster haben in Kombination mit der losen Kopplung der Teilbereiche und Untergruppen im Sozialunternehmen also in mehrfacher Hinsicht einen lern- und entwicklungshemmenden Effekt.
11 Personalentwicklung als Praxis der Lernunterstützung
Aus der Synthese der Analysecluster in den Kapiteln 7 bis 10 ergibt sich ein „Gesamtbild“ der Praxis der beiden Organisationen und der jeweils dahinter stehenden Organisationskultur, das im Folgenden dargestellt wird. Der Blick geht dabei jeweils von der individuellen Ebene bzw. der Ebene der Mitarbeiter hin zur Leitungsebene bzw. zur Gesamtorganisation. Konnte in den Analysekapiteln bereits gezeigt werden, dass die Personalentwicklungspraxis beider Organisationen pädagogische Elemente enthält, wird vor dem Hintergrund dieses Gesamtbildes deutlich, in welchem Rahmen hier pädagogische Praxis bzw. Lernunterstützung vor dem Hintergrund der Praxismuster der Organisationen möglich ist.
11.1 Sozialunternehmen 11.1.1 Muster organisationaler Praxis im Überblick Im Sozialunternehmen begegnet man Mitarbeitern, die sich stark über ihren Beruf und ihre Fachlichkeit definieren. Sie empfinden eine starke Verbundenheit ihrer Person mit ihrem Beruf, ihrer Tätigkeit und der Stelle, die sie in der Organisation einnehmen. Entsprechend hoch ist ihr Anspruch, ihre persönlichen Interessen, ihre Erfahrungen sowie ihr Wissen und Können in die Tätigkeit einbringen zu können. Ihre Verbundenheit mit der Organisation, in der sie tätig sind, und die Orientierung an deren Zielen sind im Vergleich zu ihrer persönlichen Identifikation mit ihrer Tätigkeit schwächer ausgeprägt. Ihr Selbstverständnis ist von ihrer Fachlichkeit, von ihrer Tätigkeit bzw. der Arbeit mit den Klienten geprägt. Damit eng verbunden sind Angst und Stress, sobald dieses eng an die eigene Person gekoppelte Wissen und Können in Frage gestellt wird oder durch Veränderungsprozesse wie Stellenwechsel und Umstrukturierungen entwertet zu
I. Sausele-Bayer, Personalentwicklung als pädagogische Praxis, DOI 10.1007/978-3-531-94021-2_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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11 Personalentwicklung als Praxis der Lernunterstützung
werden droht. Damit scheint eine Bedrohung der Person selbst bzw. der eigenen Identität einherzugehen. Umgekehrt führen die Sicherheit bzgl. des eigenen Wissens und seine Anerkennung durch Vorgesetzte und Kollegen zu Wohlbefinden und einer Stabilität, aus der heraus Veränderungen erst möglich werden. Aus der engen Kopplung von Person und fachlicher Kompetenz resultiert auch die Verpflichtung und tatsächlich übernommene Verantwortung gegenüber der eigenen persönlichen und fachlichen Weiterentwicklung. Die Teilnahme an Weiterbildungsveranstaltungen stellt für die Mitarbeiter eine Selbstverständlichkeit dar. Der eigene Weiterbildungsbedarf wird selbst diagnostiziert; geeignete Maßnahmen werden aus eigener Initiative heraus ergriffen und ggfs. auch gegen Widerstände durchgesetzt. Der Wunsch nach einer vertikalen Veränderung innerhalb der Organisation, der Übernahme einer Führungsposition oder Karriereorientierung kommt dabei nicht zum Ausdruck. Stattdessen sind eher eine Verschleierung eigener Machtansprüche und der Rückzug auf eine fachliche Position zu beobachten. Dieser Betonung fachlicher Argumente, also bspw. der Bedürfnisse der Klienten, hinter denen, so lässt sich vermuten, auch die eigene Situation am Arbeitsplatz steht, findet sich sowohl im Umgang mit Entscheidungen als Ausdruck von Macht in der Organisation, die über die Köpfe der Mitarbeiter hinweg getroffen werden, als auch im Umgang mit Veränderungen im Allgemeinen. Auf der Ebene des Fachlichen existiert ein starker Anspruch mitzureden, sich einzumischen und auch bereits getroffene Entscheidungen und existierende Strukturen kritisch zu hinterfragen, diese sogar zu unterlaufen, wenn es fachliche Gründe nötig erscheinen lassen. Das ambivalente Verhältnis zu den eigenen Machtansprüchen geht Hand in Hand mit einer starken Verunsicherung im Hinblick auf den geeigneten Führungsstil und die Rolle als Leitung einer Einrichtung: Die Mitarbeiter mit Personalverantwortung fühlen sich in aller Regel einem kooperativen Führungsstil verpflichtet, werden aber im Alltag mit der Erfahrung konfrontiert, dass die eigenen Mitarbeiter nicht nur Mitspracherecht, sondern auch Entscheidungen fordern. Diese Entscheidungen werden wiederum von den Mitarbeitern in Frage gestellt werden, und die Aushandlungsprozesse innerhalb des Teams vor diesem Hintergrund benötigen viel Zeit und Energie. Ein zentrales Element des Sozialunternehmens ist trotz der von den Mitarbeitern wahrgenommenen Veränderung die familienähnliche Struktur. Diese Struktur findet sich bereits auf formaler Ebene, zeigt sich aber auch in den Aushandlungsprozessen zwischen den Mitgliedern und den Machtverhältnissen, die sich, ähnlich der Beziehungen innerhalb einer Familie, am Recht des Älteren im
11.1 Sozialunternehmen
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Sinne der Dauer der Zugehörigkeit zur Organisation orientieren. Der Eindruck des Ungeregelten, unklare Stellenbeschreibungen und -bezeichnungen verstärken die Tendenz der Mitarbeiter, Entscheidungen und formale Strukturen permanent fachlich-kritisch zu hinterfragen. Gleichzeitig werden Unsicherheiten verstärkt, die bei Veränderungen und Stellenwechseln hinsichtlich der eigenen Kompetenzen entstehen, wobei Kompetenzen hier im doppelten Sinne sowohl als Befugnisse als auch als Wissen und Können der Mitarbeiter zu verstehen sind. Im Gegensatz zum offiziellen Führungsleitbild des Sozialunternehmens und zum Wunsch der Akteure, kooperativ zu führen, ist auf der Ebene der Unternehmensleitung ein autoritärer Führungsstil zu beobachten. Der dadurch formell wie informell existierende Bruch zwischen Unternehmensleitung und Mitarbeiterschaft blockiert mimetische Lernprozesse. Vor diesem Hintergrund ist auch der Umgang mit Veränderungsvorschlägen aus der Mitarbeiterschaft heraus zu betrachten: Ein Ziel kann nur dann ein Ziel sein, wenn es von Seiten der Unternehmensleitung vorgegeben wird. Mitarbeiter und deren Vorschläge werden, soweit dies aus den Gesprächen hervorgeht, nur selten in Veränderungsprozesse einbezogen. Von den Führungskräften wird erwartet, dass sie Veränderungen mittragen und ihren Mitarbeitern die Gründe für die Veränderungen vermitteln. Das Engagement und die Eigeninitiative der Mitarbeiter werden durch die Nichtbeachtung ihrer Vorschläge entwertet. Der Rückzug der Mitarbeiter auf die fachliche Ebene und die Arbeit mit den Klienten sowie die Nutzung der auf dieser Ebene vorhandenen Freiräume scheint unvermeidlich. Gleichzeitig werden diese Freiräume dadurch unantastbar. Durch die lose Kopplung der einzelnen Teilbereiche und Einrichtungen bis hin zur einzelnen Wohngruppe ist es für die Mitarbeiter möglich, sich in ihrer alltäglichen Arbeit weitestgehend der Kontrolle von oben zu entziehen. Dies befördert die Kultur des Hinterfragens von Anordnungen und Veränderungen sowie das heimliche Festhalten an alten Verfahrensweisen. Das Muster der Fachlichkeit ist innerhalb der Organisation sehr stark. Dies bestätigt nicht nur der formale Rahmen des Fortbildungskontingents, der jedem Mitarbeiter ein solides Mindestmaß an Weiterbildung sichert, sondern zeigt sich auch im Umgang der Vorgesetzten mit den Weiterbildungswünschen der Mitarbeiter. Persönliche Interessen und Begabungen der Mitarbeiter bilden den Ausgangspunkt für Weiterbildung sowie für den Einsatz in der Einrichtung und die Aufgabenverteilung. In der Organisation herrscht eine ressourcenorientierte Haltung vor. Man konzentriert sich auf den Ausbau des Vorhandenen und der Stärken der Mitarbeiter. Weiterbildung wird dabei auch und besonders als Refle-
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11 Personalentwicklung als Praxis der Lernunterstützung
xionsmöglichkeit verstanden, was sich in der Dominanz von Seminaren bei der Wahl von Fördermöglichkeiten für die Mitarbeiter zeigt.
11.1.2 Unterstützung von Lernprozessen – Personalentwicklung als pädagogische Praxis im Sozialunternehmen Das Engagement und die Eigeninitiative der Mitarbeiter sind insbesondere im Hinblick auf die eigene Weiterentwicklung erfolgreich. Persönliche Ziele und Ideen können eingebracht und umgesetzt werden; die Mitarbeiter werden nach ihren Interessensschwerpunkten und persönlichen Stärken eingesetzt. Die kaum vorhandene Zielgerichtetheit und Steuerung der Auswahl von Weiterbildungsveranstaltungen zeigt sich hier eher als Vorteil denn als Nachteil, da sich die Vorgehensweise von Seiten der Organisation als kongruent mit den Zielen der Akteure erweist, die sich ganzheitlich und eigenverantwortlich, interessen- und klientenbezogen weiterentwickeln wollen. Dies fördert die Qualität der Prozesse im Sozialunternehmen, in deren Zentrum die Unterstützung der Klienten steht. Diese wiederum kommt nicht ohne Mitarbeiter aus, die sich als Personen in ihre Tätigkeit einbringen. Gegenüber ihren Mitarbeitern erweisen sich die Führungskräfte des Sozialunternehmens als Personalentwickler, die, wie Kuper (2000) formuliert, eine kritische Stellvertreterschaft gegenüber den Ansprüchen der Organisation einnehmen. Sie fördern die Lernprozesse ihrer Mitarbeiter ähnlich, wie sie die ihrer Klienten fördern; dabei halten sie sich zunächst selbst zurück, ermöglichen Freiräume und greifen die Eigeninitiative und die bestehenden Stärken und Interessen der Mitarbeiter auf. Sie sind an einer ganzheitlichen Entwicklung der ihnen Anvertrauten interessiert. Sie übernehmen ein Mandat, im Rahmen dessen sie auch gegenüber der Bereichsleitung für die Weiterbildungsziele ihrer Mitarbeiter eintreten. Auch auf der Ebene des Lernunterstützungssystems sind die Strukturen, die in den Mitarbeitergesprächen deutlich werden, insbesondere auf das Lernen der Individuen ausgerichtet. Die Lernunterstützung ist hier eher passiv im Sinne der Schaffung von entsprechenden Rahmenbedingungen und der Wahrung der Freiräume für die Eigeninitiative der Mitarbeiter. Im Hinblick auf Veränderungsprozesse, die über die Weiterentwicklung der Individuen und in diesem Zusammenhang, so lässt sich vermuten, auch über den Kompetenzbereich der Führungskräfte hinausgehen, ordnen sich diese den Vorgaben von oben unter. Die Ebene der organisationalen Lernprozesse zeigt sich hier durch kulturelle Muster blockiert, die in der Struktur der Organisation be-
11.2 Wirtschaftsunternehmen
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gründet liegen. Als Merkmale sind hier die familienähnliche Struktur mit ihrer Trennung zwischen Unternehmensleitung und Mitarbeiterschaft auf der einen Seite und die lose Kopplung der Teilsysteme auf der anderen Seite zu nennen. Die machtvolle Position der Unternehmensleitung und die Trennung zwischen Unternehmensleitung und Mitarbeiterschaft verhindern mimetische Lernprozesse und führen dazu, dass Veränderungsvorschläge der Mitarbeiter auf organisationaler Ebene ins Leere laufen. Die lose Kopplung der einzelnen Einrichtungen und Gruppen macht übergreifende Lernprozesse auf den ersten Blick unnötig und unterstützt den Rückzug der Mitarbeiter in den eigenen Arbeitsbereich, in dem jeder nach seiner Fasson arbeiten kann. Das Wissen und Können der einzelnen Mitarbeiter wird nur bedingt organisational, weil auf der einen Seite das Interesse daran fehlt, Wissen auszutauschen, und auf der anderen Seite Hemmungen bestehen, Nichtwissen einzugestehen oder die eigenen Arbeitsprozesse für andere in der Organisation zu öffnen. Die pädagogische Praxis, die von den Führungskräften im Hinblick auf die Unterstützung der Mitarbeiter bei Personalentwicklungsfragen gepflegt wird, kann sich im Hinblick auf organisationale Lernprozesse nicht durchsetzen. Personalentwicklung bleibt auf das lernende Subjekt beschränkt.
11.2 Wirtschaftsunternehmen 11.2.1 Muster organisationaler Praxis im Überblick Die Mitarbeiter im Wirtschaftsunternehmen zeigen eine hohe Identifikation mit dem Unternehmen, man möchte fast von einem unternehmensspezifischen Selbstverständnis der Mitarbeiter sprechen. Dieses wird sowohl direkt durch die Verbundenheit mit den Eigentümern als auch indirekt über die Übereinstimmung mit organisationsspezifischen Werten bspw. im Hinblick auf die Investition in Weiterbildung und in der peinlich genauen Einhaltung der schriftlichen Vorgaben für das Mitarbeitergespräch zum Ausdruck gebracht. Das Wissen und Können der Mitarbeiter ist stark an ihre Aufgaben und Positionen im Unternehmen gekoppelt. Veränderungsbereitschaft und das Hinterfragen von Bestehendem geschieht nicht aus eigenem Antrieb, sondern äußert sich als Verpflichtung gegenüber dem Unternehmen. Aus dieser Verpflichtung heraus resultiert auch die Zurückstellung eigener Machtansprüche hinter die Ziele der Organisation. Ein Großteil der Mitarbeiter weist eine lange Zugehörigkeit zur Organisation auf, so
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11 Personalentwicklung als Praxis der Lernunterstützung
dass die berufliche Sozialisation fast ausschließlich in Form einer betrieblichen Sozialisation durch das Unternehmen stattfindet. Im Hinblick auf Weiterbildung verhalten sich die Mitarbeiter eher zurückhaltend, machen teilweise Vorschläge, stellen aber keine Forderungen. Indem sie betonen, keine Unternehmensgelder verschwenden zu wollen, machen sie stattdessen auch in diesem Zusammenhang ihre Solidarität gegenüber dem Unternehmen deutlich. Die formalen Strukturen treten in den Prozessen der Organisation deutlich zu Tage. In den Gesprächen finden sich immer wieder Verweise auf andere Hierarchiestufen; schriftliche Regelungen haben einen hohen Stellenwert. Die Vorgaben für das Mitarbeitergespräch weisen auf die Existenz klarer, schriftlicher Stellenbeschreibungen hin. Die genaue Einhaltung der schriftlichen Vorgaben sowie Versuche, an anderen Stellen schriftlich zu informieren, zeigen gleichzeitig die Akzeptanz dieser formalen Regelungen auf. Die „bürokratischen“ Elemente der Organisation zeigen sich so nicht nur in der Regelgebundenheit der Verfahren, der Aktenmäßigkeit der Verwaltung und der Amtshierarchie, sondern auch in der Trennung von Person und Position. Die Kompetenzen eines Mitarbeiters orientieren sich an seiner Fachkompetenz und seiner Position im Unternehmen. Hinweise auf informelle, personengebundene Machtstrukturen sind kaum auszumachen. Konsequenterweise spielen Führungsthemen in dieser Struktur kaum eine Rolle. Tendenziell wird Führung als Beherrschung eines technischen Instruments betrachtet. Von Seiten des Unternehmens wird der Teamgedanke stark gemacht. Auch hier findet sich das Bild der Familie resultierend aus der nach wie vor engen Verbundenheit mit der Gründer- bzw. Eigentümerfamilie, die in der gesamten Region großen Einfluss hat. Bestimmte Schlüsselqualifikationen tragen als Zusatz den Unternehmensnamen und werden von jedem Mitarbeiter erwartet. Stellenübergreifendes Wissen über die Organisation hat eine hohe Bedeutung; sich dieses zu beschaffen, wird als Holschuld des Mitarbeiters wahrgenommen. Es wird als zentrale Voraussetzung für Veränderungen in der Organisation sowie für die Kompetenzen „Veränderungsbereitschaft“ und „Querdenken“ bei den Mitarbeitern betrachtet. All diese Punkte spiegeln die Omnipräsenz der Gesamtorganisation und ihrer Ziele in den Prozessen der Personalentwicklung wider. Sämtliche Prozesse im Unternehmen weisen eine starke Bezogenheit aufeinander auf. Dies setzt sich auch im Hinblick auf Weiterbildungsmaßnahmen für die Mitarbeiter fort. Weiterbildung ist immer nur Mittel zum Zweck, nie Selbstzweck. Es herrscht ein starker Verwertungsgedanke vor. Weiterbildungsbedarf wird vor allem vom
11.2 Wirtschaftsunternehmen
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Vorgesetzten in Abhängigkeit vom Stellenprofil und dem Bedarf der Abteilung diagnostiziert. Die Vorgehensweise unterliegt dabei einer starken Defizitorientierung. Die Möglichkeit der Teilnahme ist abhängig vom Abteilungsbudget. Im Hinblick auf den individuellen Weiterbildungsanspruch der Mitarbeiter wird Zurückhaltung erwartet. Auch in der Art der ausgewählten Maßnahmen zeigt sich die Bezogenheit auf die Organisation. Zunehmend wird die Teilnahme an Seminaren durch learning-on-the-job- und Coachingprozesse ersetzt. Karriereplanung findet vor allem zur optimalen Ressourcenallokation innerhalb der Organisation statt.
11.2.2 Unterstützung von Lernprozessen – Personalentwicklung als pädagogische Praxis im Wirtschaftsunternehmen Sämtliche Lern- und Lernunterstützungsprozesse unterliegen im Wirtschaftsunternehmen den Kriterien der Effizienz und der Verwertbarkeit. Entsprechend zielgerichtet werden Weiterbildungsmaßnahmen geplant und Veränderungsbereitschaft sowie die Weitergabe individuellen Prozesswissens an andere Teammitglieder gefordert und in den Mitarbeitergesprächen beurteilt. Die Struktur der Gespräche ebenso wie die Kultur der Organisation räumen für Abweichungen von formalen Vorgaben wenig Spielraum ein. Im Zweifelsfall werden Abweichungen durch den Einsatz von aus der Organisationskultur heraus begründbaren und deshalb legitimen und offensichtlich durchsetzungsfähigen Maßnahmen wie schriftlichen Anordnungen wiederhergestellt. Wenn auch der Wert des rationalen Wirtschaftens nichts ist, was alleine für die Berufsgruppe der Ökonomen handlungsleitend wirkt (vgl. Liebau 1982), hat er doch im untersuchten Unternehmen große Zugkraft, was sich in der Art und Weise, in der die Mitarbeiter die organisationsspezifischen Werte aufführen, deutlich niederschlägt. Die Übereinstimmung zwischen den Zielen des Unternehmens bzw. der Abteilung und der Haltung der Mitarbeiter wirkt selbstverständlich. Entsprechend reibungslos scheinen Lernprozesse auf individueller Ebene vor allem im Hinblick auf die Weiterqualifizierung der Mitarbeiter zu verlaufen: Die Abteilung gibt den Bedarf vor; der Vorgesetzte leitet einen wie auch immer gearteten Lern- oder Vermittlungsprozess ein. Die enge Bezogenheit der Abteilungen aufeinander macht einen permanenten Wissensaustausch und die Standardisierung von Prozessen unabdingbar. Die Führungskräfte agieren hier, wie Neuberger (1994) beschreibt, als Personal-Entwickler für das Unternehmen. Sie verstehen sich als Vermittler zwischen dem Bedarf der Organisation und der
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11 Personalentwicklung als Praxis der Lernunterstützung
Qualifikation des einzelnen Mitarbeiters. Sie werden selbst in den Gesprächen oder im Rahmen der von ihnen angesprochenen Coachingprozesse als Wissensvermittler und Lernunterstützer aktiv und fordern ihre Mitarbeiter mit Personalverantwortung zu eben solchen Vermittlungsprozessen auf. Obwohl die Personalentwicklung durch die Führungskräfte fast ausschließlich unter organisationaler Perspektive geschieht, wird auch hier die Umsetzung schwieriger, wenn es um organisationsübergreifende Lernprozesse geht. Im Falle der neu gebildeten Unternehmensgruppe schließt dies auch organisationskulturübergreifende Lernprozesse mit ein. Hier zeichnen sich langwierige und Kapazitäten raubende Prozesse ab, die nicht allein durch die Benutzung der gleichen schriftlichen Vorgaben bewältigt werden können. Es erweist sich, dass die pädagogischen Kompetenzen der Führungskräfte und der an den Veränderungsprozessen beteiligten Mitarbeiter zur Bewältigung dieser komplexen, nicht linear auf individuelle Qualifikationsanpassung ausgerichteten Lernsituationen nicht ausreichen.
12 Im Spiegel aktueller Konzepte und Entwicklungen
In Kapitel 2.2.3 wurden aktuelle Tendenzen und Entwicklungen in Personalentwicklungskonzepten aufgezeigt: Vor dem Hintergrund einer ganzheitlichen Orientierung an den Fähigkeiten des Subjekts, der Annahme seiner Selbstorganisationsfähigkeit und Eigenverantwortung und dem Ziel der Vermittlung einer kooperativen und reflexiven Grundhaltung verändert sich das Verhältnis von Lernen und Arbeiten. Die Mitarbeiter sollen im Rahmen eines arbeitsplatznahen Settings Kompetenzen erwerben, durch die veränderte Anforderungen rechtzeitig antizipiert und Qualitäts- und Leistungsstandards verbessert werden können. Die Bedeutung informellen Lernens wächst. Den neueren Konzepten von Personalentwicklung wohnt ein potentieller Zugewinn an Autonomie und Entfaltungsmöglichkeiten für den einzelnen Mitarbeiter inne. Gleichzeitig kommt dem Vorgesetzten eine neue Rolle zu: Zu seinen bisherigen sach- und personenbezogenen Führungsaufgaben kommen nun verstärkt auch pädagogische Aufgaben der Lernunterstützung hinzu, wie beispielsweise die Gestaltung eines angemessenen Lernumfeldes am Arbeitsplatz, die Ermöglichung von Freiräumen oder die Stabilisierung von Erfahrungslernen und dessen Integration in Abteilungsprozesse. Eine besondere Herausforderung besteht im Organisational-Werden des individuellen Lernens, also in der Unterstützung organisationaler Lernprozesse durch die Führungskräfte. Sie müssen nicht mehr nur unternehmerisch, sondern auch (organisations-)pädagogisch denken und handeln. In der Betrachtung der Praxis ergibt sich ein gemischtes Bild, in dem pädagogisch denkende Führungskräfte in pädagogischen Einrichtungen vorkommen, deren Handlungsspielräume stark begrenzt sind; in dem Führungskräfte im Wirtschaftsunternehmen pädagogisch handeln, ohne sich dessen bewusst zu sein; in dem Mitarbeiter organisationale Lernprozesse anregen wollen, aber nicht zum Zuge kommen; in dem andere die Erlaubnis bekommen, eigenständig Ideen zu entwickeln, allerdings nur in einem vorgegebenen Rahmen; und in dem beide Organisationen offensichtlich noch keine adäquate Praxis der Unterstützung organisationaler Lernprozesse gefunden haben. Personalentwicklung zeigt sich in beiden Unternehmen als sozialer und performativer Prozess, der stark von den bestehenden Praxismustern in Bezug auf
I. Sausele-Bayer, Personalentwicklung als pädagogische Praxis, DOI 10.1007/978-3-531-94021-2_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Macht, der hierarchischen Struktur der Organisationen und den Interessen der einzelnen Akteure geprägt ist. Die Führungskräfte verstehen sich als Personalentwickler und Förderer ihrer Mitarbeiter, wenn auch aus unterschiedlichen, der jeweiligen organisationalen Praxis verpflichteten Motiven heraus. Gerade im Wirtschaftsunternehmen ist die Verbindung von Lernen und Arbeiten ein wesentlicher Teil der Personalentwicklungspraxis. Im Sozialunternehmen zeigt sich eine starke Subjektorientierung im Rahmen der Weiterbildungsplanung; Lernen und Arbeiten sind hier weiterhin entkoppelt, da der Abstand zum Arbeitsalltag, die Möglichkeit der Reflexion und die Weiterentwicklung der Interessen der Mitarbeiter die entscheidenden Kriterien für die Wahl der Weiterbildungsart und des Lernortes darstellen. So ist die bestehende Personalentwicklungspraxis in ihrem traditionellen Zuständigkeitsbereich der individuellen Lernprozesse für beide Organisationen funktional; sie stößt aber im Hinblick auf die Unterstützung organisationaler Lernprozesse an ihre Grenzen. Hier zeigt sich in beiden Organisationen – so unterschiedlich deren Personalentwicklungspraxis und die dahinter stehenden Werte auch sonst sein mögen – die Tendenz, Veränderungen von oben anzuordnen und diese nicht gemeinsam mit den Mitarbeitern zu entwickeln. Die Mitarbeiter werden mit ihren Veränderungsvorschlägen in klare Grenzen verwiesen, sind aber angehalten, angeordnete Veränderungen mitzutragen. In beiden Organisationen entstehen in diesem Fall defensive Routinen in Form eines Rückzugs auf den eigenen Arbeits- und Kompetenzbereich, was die Weitergabe und das Organisational-Werden individuellen Wissens und Könnens verhindert. Das Mitarbeitergespräch als (idealerweise gleichberechtigtes) Gespräch zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter an der Schnittstelle zwischen Organisation und Individuum erscheint als ideales Instrument, Personalentwicklung unter einer erweiterten Zielsetzung durchzuführen, die auch organisationale Lernprozesse in den Blick nimmt und nach Möglichkeiten der Verschränkung individuellen und organisationalen Lernens sucht: Es schafft einen formalen Rahmen, in dem die Führungskraft gezielt als Personalentwickler agieren kann, egal welchen Charakter Personalentwicklung in dem jeweiligen Unternehmen auch haben mag. Innerhalb dieses Rahmens können nicht nur individuelle Entwicklungsund Lernprozesse unterstützt werden, was, wie die Auswertung der Gespräche gezeigt hat, in aller Regel auch geschieht, sondern es kann für einen lernförderlichen Dialog genutzt werden, durch den sich die Ziele der Organisation, für die der Vorgesetzte im Gespräch steht, und die Beobachtungen, Ideen und Ziele, die der Mitarbeiter mit einbringt, einander annähern können. Vorgesetzter und Mitarbeiter können gemeinsam kritisch reflektieren und Lösungsmöglichkeiten für
12 Im Spiegel aktueller Konzepte und Entwicklungen
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aktuelle Problemstellungen gemeinsam durchspielen. Das Mitarbeitergespräch birgt damit das Potential, Widerstände gegen notwendige Veränderungsprozesse durch Partizipation und Anerkennung der Mitarbeiter abzubauen und Personalund Organisationsentwicklung, individuelle und organisationale Lernprozesse zu verbinden. Die Analyse der Gespräche zeigt jedoch, dass dieses Potential kaum genutzt wird. Zwar werden durch die Gespräche Lernprozesse auf individueller Ebene in Gang gebracht und unterstützt, indem bspw. auf Seminare oder in der Organisation existierende Lernunterstützungsstrukturen wie Supervision, Coaching oder Mentoren verwiesen wird; die dialogische Aufarbeitung von Praxismustern, die die Lernprozesse, insbesondere aber ein Organisational-Werden individueller Lernprozesse, also eine Verbindung von Personal- und Organisationsentwicklung verhindern, ist sehr selten zu beobachten. Die oben aufgegriffenen aktuellen Tendenzen und Entwicklungen in der Personalentwicklung weisen ein hohes Potential für Lernprozesse auf, die die Ziele von Organisation und Individuen verbinden können. Für eine konsequentere Umsetzung müssten aber erst Machtansprüche und traditionelle Machtstrukturen aufgelöst sowie pädagogische Kompetenz im Sinne eines reflexiven Praxiswissens vermittelt werden. Schein konstatiert, dass Lernprozesse in einer Organisation nicht ohne die Entwicklung gemeinsamer Denkmodelle auskommen. Zwar bezieht Schein die performative Ebene nicht mit ein, sondern bezieht sich lediglich auf kognitive Prozesse; sein Vorschlag, zur Initiierung von Lernprozessen in einen Dialog einzutreten (vgl. Schein 1996, 210), soll hier trotzdem abschließend aufgegriffen werden, denn auch zur Herausarbeitung und Aufarbeitung lernhinderlicher performativer Muster organisationskultureller Praxis stellt der Dialog, wie einzelne Gesprächsbeispiele zeigen, die geeignete Form der Auseinandersetzung dar. Ein Element dieses Dialogs – scheinbar zunächst abseits der Ermöglichung eines (gemeinsamen) Lernprozesses – ist die „Gesichtswahrung“ (ebd., 211), also die Förderung des Selbstwerts des Gegenübers. Dieses Element ist in allen stabilisierenden Formen der Lernunterstützung (vgl. Göhlich) enthalten und hat sich besonders im Sozialunternehmen als Ausgangspunkt von Veränderungsund Lernprozessen gezeigt. Erst aus der Anerkennung des Bestehenden und der Stärkung des Einzelnen erwachsen das Vertrauen, die Bereitschaft und der Mut, neue Wege zu gehen, sich zu öffnen und sich auszutauschen. Ein weiteres Element des Dialogs ist der „Kontakt zu den unterschwelligen Annahmen“ (Schein 1996, 213), also der „basic assumptions“, bzw. zu den performativen Praxismustern. Dazu ist die Bewusstwerdung, Klärung und Reflexion der vorherrschenden Deutungsschemata und Praxismuster notwendig, aus der heraus dann auf einer
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12 Im Spiegel aktueller Konzepte und Entwicklungen
höheren Bewusstseins- und Kreativitätsebene ein gemeinsamer Denkprozess und veränderte Praxismuster entstehen können. Die Organisationsmitglieder benötigen einen Zugang zu bislang unbekanntem Wissen und nicht zugänglichen Erfahrungen. Eine Möglichkeit, diesen Zugang zu schaffen, stellt Beratung durch externe Experten dar. Der vielversprechendere Weg liegt aber im Ausbau pädagogischer Kompetenz in der Organisation selbst und darin, Personalentwicklung als lernförderlichen Dialog zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter zu praktizieren. Nur so können die Unterstützung individueller und organisationaler Lernprozesse zu einer organisationalen Selbstverständlichkeit werden. Macht, so bestätigt die Analyse der Gespräche die Annahmen von Hanft und Felsch, spielt eine wesentliche Rolle für die strukturelle und prozessuale Ausgestaltung von Personalentwicklung, insbesondere für die Weitergabe von Wissen und die Partizipation an Lern- und Veränderungsprozessen in einer Organisation. Sie muss deshalb bei der Betrachtung von Personalentwicklung stets als bestimmender Faktor mit einbezogen werden. Gleichwohl profitieren Lernprozesse davon, dass die einzelnen Akteure ihre Machtinteressen zurückstellen und performative Muster, die zur Tradierung und Aufrechterhaltung traditioneller Machtstrukturen beitragen, durch neue, Partizipation und individuelle Entwicklungsmöglichkeiten eröffnende Praxismuster ersetzt werden. Auch dies stellt einen individuellen insbesondere aber auch organisationalen Lernprozess dar, der nicht ohne (organisations-)pädagogische Kompetenz bewältigt werden kann. Die Führungskräfte benötigen Wissen über die Voraussetzungen und Hindernisse individueller und organisationaler Lernprozesse, das jenseits des expliziten Wissens um die Vorgaben der Organisation zu Weiterbildung und Qualitätssicherung liegt. Dieses Wissen besteht zum einen aus einem theoretischen Wissen über die Wirkung mustermimetischer Lernprozesse und zum anderen aus einem organisationsspezifischen Wissen und der Kompetenz, dieses zu erschließen. Letzteres kann nur gemeinsam mit den Mitarbeitern dialogisch erkundet und reflektiert werden. Das eine wie das andere aber stellt einen integralen Bestandteil der Führungskräfteentwicklung als Baustein einer lernwirksamen Personalund Organisationsentwicklung dar.
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