Nietzsche und die Religionen
Johann Figl
Walter de Gruyter
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Nietzsche und ...
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Nietzsche und die Religionen
Johann Figl
Walter de Gruyter
Johann Figl Nietzsche und die Religionen
Nietzsche und die Religionen Transkulturelle Perspektiven seines Bildungs- und Denkweges von
Johann Figl
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019065-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Einbandgestaltung unter Verwendung von Ausschnitten von GSA 71/61, p. 15, Foto: Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Vorwort
Vorwort Vorwort In der vorliegenden Studie geht es um Nietzsches Kenntnisse einer Vielfalt von Religionen, insbesondere um das in seinem Bildungsweg vermittelte Wissen über nichtchristliche Religionen und „andere“ Kulturen; schwerpunktmäßig sollen daher die frühen Schriften und Aufzeichnungen Nietzsches untersucht werden. Diese liegen nun in der historisch-kritischen Edition der nachgelassenen Aufzeichnungen aus der Kindheit, Jugend- und Studentenzeit in fünf Textbänden (1995-2006) vor, die die Erste Abteilung der von Giorgio Colli und Mazzino Montinari begründeten Kritischen Gesamtausgabe der Werke bilden. Ergänzend wurden einige Schulmitschriften, die erst im Nachbericht zu veröffentlichen sind, sowie in Auswahl auch Kollegnachschriften berücksichtigt. Auf dieser Basis ist es möglich, besonders die frühe Begegnung Nietzsches mit alt- und außereuropäischen Kulturen sowie vor- und nichtchristlichen Religionen in neuer Weise zu erforschen. Mit der Veröffentlichung dieser Monographie ist auch ein persönliches Anliegen verbunden: ich möchte darin zwei Arbeitsgebiete, denen ich mich seit langem gewidmet habe, miteinander verknüpfen, nämlich den weiten Bereich der Religionswissenschaft und die speziellen Fragen der Nietzsche-Forschung. Dabei konnte ich auf Überlegungen in mehreren Artikeln aufbauen, die schon veröffentlicht sind, hier aber in überarbeiteter Weise in den Gesamtkontext integriert wurden, was im Einzelnen jeweils angegeben ist. Durch diese fächerübergreifende Fragestellung traten nicht allein bisher wenig beachtete Aspekte an Nietzsches „Bildungsweg“ und seiner späteren Philosophie klarer hervor, sondern es wurde ebenfalls das wissenschaftsgeschichtliche Umfeld der Entstehung des Faches Religionswissenschaft in einigen
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Vorwort
Aspekten deutlicher sichtbar; diese Disziplin hatte sich im Anschluss an die vergleichende Sprachwissenschaft entwickelt, die Nietzsche in seinem Philologiestudium gut kennen gelernt hat. Die vorliegende Untersuchung hätte nicht ohne die aktive Unterstützung von Seiten vieler Personen durchgeführt werden können. Zu danken habe ich zunächst den Verantwortlichen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar, die in stetem Entgegenkommen die Einsicht in die Originalmanuskripte Nietzsches ermöglichten. Für wertvolle Unterstützung danke ich auch Frau Marie-Luise Haase. Ebenso möchte ich den Mitarbeitern der Herzogin-Anna-Amalien-Bibliothek, in der ich die Bestände der Bibliothek Nietzsches wiederholt einsehen konnte, meinen Dank aussprechen, namentlich Herrn Erdmann von Wilamowitz-Moellendorf für die sachkundige Hilfe. In gleicher Weise gilt mein Dank Frau Petra Dorfmüller, Leiterin der Bibliothek der Schule in Schulpforta, für ihre Unterstützung. Mein besonderer Dank gilt Frau Institutsreferentin Dagmar Hofko, die alle für die Erstellung des Druckmanuskriptes erforderlichen Sekretariatsarbeiten mit Sorgfalt und Geduld durchgeführt hat. Herrn Mag. Manfred Hinterleitner, Assistent am Institut für Religionswissenschaft der Universität Wien, danke ich in besonderer Weise für sein großes Engagement bei der Durchsicht des Manuskriptes. Ebenfalls ist dem Verlag Walter de Gruyter Dank auszusprechen, vor allem Frau Dr. Gertrud Grünkorn, Frau Annika Tanke sowie Herrn Andreas Vollmer und Herrn Christoph Schirmer, durch deren engagierte Betreuung die sorgfältige Drucklegung dieses Buches realisiert werden konnte. Ich hoffe, dass durch die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung neue Dimensionen an Nietzsches Bildungsweg aufgezeigt werden können, und diese zu einem besseren Verständnis seines transkulturellen Denkens beitragen mögen. Wien, den 2. Februar 2007
Johann Figl
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Einleitung ...................................................................................... 1. 2. 3. 4.
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Religionswissenschaft und Nietzsche-Forschung........... Wahrnehmung „fremder“ Religionen und Kulturen ..... Zur Genese transkulturellen Denkens.............................. Hauptetappen des Bildungsweges Nietzsches.................
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1. Kapitel: Außereuropäische Kulturen in Nietzsches gymnasialem Bildungsweg........................................
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Methodologische Vorüberlegungen ......................................... 1. Bildungsziele in Naumburg und Schulpforta................... 2. „Rassen“ und Religionen – diskriminierende Darstellungen in Schulbüchern.......................................... 3. „Wilde Völker“ innerhalb der „Weltgeschichte“ ............ 4. Altorientalische Kulturen (insbesondere die Perser)...... 5. Religion und Kultur der klassischen Antike .................... 6. Mythologie und Dichtung der Germanen........................ 7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft ...... 8. Der Islam – Leben Mohammeds und Glaubensartikel.. 9. Das Judentum – Literarkritik des Alten Testaments...... 10. Zusammenfassung: Vom „Welt-Bild“ des Kindes zur „Welt-Anschauung“ des Jugendlichen.......................
11 17 40 52 66 77 87 101 132 145 152
2. Kapitel: Religionen und „Religionswissenschaft“ in Nietzsches Universitätsstudium .............................. 159 1. Philosophien und Religionen (besonders Indiens) in historisch-vergleichender Perspektive.......................... 163
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Inhaltsverzeichnis
2. Komparatistik und Sanskrit-Kenntnisse in Philologie-Vorlesungen ....................................................... 188 3. Der Terminus „Religionswissenschaft“ in Nietzsches Aufzeichnungen ............................................... 202 3. Kapitel: Religionswissenschaftlich relevante Fragen in Nietzsches akademischer Tätigkeit..................... 229 1. Lektüre von Max Müllers ‚Essays‘..................................... 2. Darlegung der vergleichenden Sprachwissenschaft („Grammatik“-Vorlesung).................................................. 3. Resultate und Grenzen der komparativen Methodik („Enzyklopädie“-Vorlesung)............................ 4. Religionsethnologie und Philologie (Vorlesung „Der Gottesdienst der Griechen“) ...............
229 236 238 245
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens .......................... 267 1. Transkulturelle Perspektiven in der ‚Geburt der Tragödie‘.......................................................... 2. Alternative Beurteilung außereuropäischer Völker (‚Unzeitgemäße Betrachtungen‘)........................................ 3. Interesse an östlicher Philosophie ..................................... 4. „Historisches“ und „komparatives“ Philosophieren (‚Menschliches, Allzumenschliches‘)................................. 5. Religionsgeschichte Indiens als Modell für Europa (‚Morgenröthe‘)..................................................................... 6. „Tod Gottes“ – religionsgeschichtliche Aspekte............ 7. Nietzsche und die „Religionsstifter“................................. 8. Nietzsches Weg zu einer transkulturellen Hermeneutik .........................................................................
268 280 287 292 297 301 312 329
Inhaltsverzeichnis
IX
Quellen- und Dokumentationsverzeichnis ................................. 349 A Quellenverzeichnis............................................................... 349 B Dokumentationen ................................................................ 351 C Zu Nietzsches Bibliothek und Lektüre............................. 352 Literaturverzeichnis ........................................................................ 355 A B C D
Werke und Briefe Nietzsches (mit Siglen) ....................... Lexika und Nachschlagewerke........................................... Schulbücher, die zitiert wurden (Auswahl) ...................... Monographien und Artikel .................................................
Register
355 356 356 358
...................................................................................... 379
A Personenregister ................................................................... 379 B Sachregister ........................................................................... 386
Einleitung
Einleitung
1. Religionswissenschaft und Nietzsche-Forschung
1. Religionswissenschaft und Nietzsche-Forschung Die folgenden Ausführungen versuchen, die beiden Themenbereiche „Nietzsche-Forschung“ und „Religionswissenschaft“ einander anzunähern. Es geht grundlegend darum, den geistigen Werdegang Nietzsches und seine Aussagen über Religionen aus der Sicht religionswissenschaftlich relevanter Fragestellungen zu erforschen, neu zu lesen und zu interpretieren; dabei ist Religionswissenschaft in einem weiten Sinn verstanden. Zudem werden wissenschaftsgeschichtliche Fragen des Faches miteinbezogen. In engem Zusammenhang damit wird schwerpunktmäßig der Frage nachgegangen, in welcher Weise und in welchem Umfang in Nietzsches schulischer und akademischer Ausbildung religionskundliches Wissen vermittelt wurde und wie er es aufgenommen hat. Die Fragestellung legt sich einerseits aufgrund der Gleichzeitigkeit von Nietzsches Bildungs- und Studienweg und der Entstehung der Vergleichenden Religionswissenschaft nahe, andererseits wegen der inneren Verflochtenheit von Philologie und Religionswissenschaft. Es gilt als eine weithin anerkannte Tatsache, dass Max Müller mit seinen Schriften in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts „die Grundlage einer Vergleichenden Religionswissenschaft im engen Anschluss an die damals aufblühende Vergleichende Sprachwissenschaft gelegt (hat)“1. Dieser komparativen, insbesondere auf der Indogermanistik beruhenden Sprachwissenschaft ist Nietzsche in – bisher kaum beachteter – intensiver Weise schon in Schulpforta in verschiede-
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K. Rudolph, Die Religionsgeschichte an der Leipziger Universität und die Entwicklung der Religionswissenschaft, 1962, 13.
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Einleitung
nen Unterrichtsfächern begegnet, erst recht in seinem PhilologieStudium; und er setzte sich als Professor der Klassischen Philologie damit auseinander. In diesem Kontext konnte es praktisch nicht ausbleiben, sich auch mit jenem Philologen, der die Brücke zur vergleichenden Religionsforschung geschlagen hat, nämlich Max Müller, zu befassen, was Nietzsche in rezeptiver und zugleich kritischer Weise getan hat. Nietzsche aber ist nicht allein dem Werk des Begründers der Religionswissenschaft begegnet, sondern in seinem Werdegang spielen jene geistesgeschichtlichen Entwicklungen eine wichtige Rolle, die zu umfangreichen neuen Kenntnissen über „andere“, außereuropäische (aber auch alteuropäische) Kulturen und Religionen geführt und die Entstehung einer eigenen Disziplin „Religionswissenschaft“ vorbereitet haben. Unter diesen „Antecedents of Comparative Religion“ zählt Eric J. Sharpe in seiner bedeutenden Geschichte des Faches außer den Übersetzungen indischer und persischer Werke seit Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts namentlich auch die entstehende Indogermanistik und die durch sie ermöglichten vergleichenden indoeuropäischen Studien auf, die zu der Einsicht führten, dass die Vergangenheit der europäischen Völker, wie der Griechen und Germanen, mit der Vergangenheit Indiens und Persiens eng verknüpft ist2. Nietzsche hat diese Grundüberzeugungen schon in seiner gymnasialen Ausbildung kennen gelernt, wie im Folgenden ausführlich dargelegt wird. In Schulpforta hat er aber ferner schon Autoren kennen gelernt, die ebenfalls zur „Vorgeschichte“ der Religionswissenschaft gehören3 und in ihrem Denken „fremde“ Kulturen, insbesondere indische Motive, miteinbezogen haben, wie vor allem Ralph Waldo Emerson; und in der Studentenzeit jenen Autor, der einer der großen Protagonisten der Öffnung der europäischen Kultur zum östlichen Denken hin war, nämlich Arthur
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Vgl. E. J. Sharpe, Comparative Religion, 51997, 22f. Vgl. a. a. O., 23f.
1. Religionswissenschaft und Nietzsche-Forschung
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Schopenhauer. Dies geschah im Wesentlichen in dem Zeitraum, in dem sich das Fach Religionswissenschaft herausbildete4. Allein von dieser historischen Gleichzeitigkeit her legte sich die Untersuchung des Verhältnisses Nietzsche und die Religionen vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte der Religionswissenschaft nahe. Doch letztlich waren es sachliche Gründe, die die Befassung mit einem solchen Problem motivierten, nämlich die Frage, in welchem Ausmaß Nietzsche, der als einer der ersten „transkulturellen“ und die „eigene“ Religion, Kultur und Nationalität kritisch überschreitenden Denker gelten kann, in seinem Bildungsweg Kenntnisse über außereuropäische Religionen und Kulturen vermittelt wurden und wie diese im Einzelnen ausgesehen haben. Darauf versucht die vorliegende Arbeit eine Antwort zu geben, indem früheste Notizen Nietzsches herangezogen werden. Sie führt sowohl in die Entstehungsgeschichte des Denkens Nietzsches als auch der Disziplin „Religionswissenschaft“ hinein. Es ist eine Verknüpfung, die in der wissenschaftsgeschichtlichen Signatur des 19. Jahrhunderts grundgelegt ist5. Bei aller gegebenen Eurozentrik bzw. trotz des aufstrebenden Nationalismus in diesem Jahrhundert ist doch eine in der vorhergehenden Geschichte ungeahnte Ausweitung des Wissens über außereuropäische Kulturen und Religionen erfolgt. Damit sind im Prinzip zugleich die Ansätze einer transkulturellen Sicht der Völker und Religionen grundgelegt: in der Religionswissenschaft führen diese zu einer objektiveren Wertung der verschiedenen außereuropäischen Religionen; im Denken Nietzsches zu einer tendenziellen Überschreitung der Kulturen und Religionen, zu ei-
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Vgl. a. a. O., 28. Im 20. Jahrhundert kann dann auch die andere Linie, jene von der Religionswissenschaft zu Nietzsche, bzw. dessen Einfluss auf die religionswissenschaftliche Forschung untersucht werden, wie es sehr überzeugend die Studie von Volkhard Krech macht; vgl. ders., Wissenschaft und Religion. Studien zur Geschichte der Religionsforschung in Deutschland 1871 bis 1933, 2002, bes. 293-312: Das ‚Nietzsche-Syndrom‘.
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Einleitung
nem auch in diesem Sinn transkulturellen Denken. Die vorliegende Studie möchte einige Einblicke in die Anfänge eines solchen Denkens vermitteln, wie sie sich in der entstehenden Religionswissenschaft und bei Nietzsche (beginnend mit seiner Schulzeit) gezeigt haben. Es ist ein Weg, der bei Nietzsche von der heimatlichen Atmosphäre, von den durch das preußische Bildungssystem in der Mitte des 19. Jahrhunderts vermittelten Inhalten über andere Völker und Religionen zu einer globalen Perspektive führt; damit war eine Basis gegeben, die im Prinzip transnationale, kulturenüberschreitende Perspektiven ermöglichte, als deren Vordenker Nietzsche verstanden werden kann. Der Schwerpunkt liegt daher auf dem bildungsmäßigen Werdegang Nietzsches, also insgesamt auf dem so genannten „jungen Nietzsche“, dem Schüler und Studenten der Philologie; zudem auch auf Nietzsches wissenschaftlicher Tätigkeit als Professor der Klassischen Philologie. Gerade in diesem Bildungs- und Wissenschaftsweg sind enge Verknüpfungen mit allgemeineren Kenntnissen über außereuropäische Kulturen und Religionen sowie mit der damals entstehenden Religionswissenschaft gegeben, wie im Folgenden, z. T. unter Heranziehung von bisher unveröffentlichten sowie wenig beachteten Aufzeichnungen Nietzsches, aufgezeigt wird. In diesem Interessenhorizont können daher nicht allein Nietzsches frühe religionskundliche und spätere explizit religionswissenschaftliche Kenntnisse über „fremde“ Kulturen aufgezeigt werden, sondern zugleich deren Vernetzung mit dem wissenschaftsgeschichtlichen Kontext seiner Zeit, in dem die Begegnung mit außereuropäischen Kulturen in einem neuen Ausmaß ermöglicht wurde.
2. Wahrnehmung „fremder“ Religionen und Kulturen
2. Wahrnehmung „fremder“ Religionen und Kulturen Da sich die vorliegende Untersuchung schwerpunktmäßig dem Bildungs- und Wissenschaftsweg Nietzsches – vom Schüler bis zum Professor – zuwendet, es sich mithin um einen pädagogisch-di-
2. Wahrnehmung „fremder“ Religionen und Kulturen
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daktisch akzentuierten Zugang handelt, kann sehr klar gesehen werden, wie sich im speziellen Ausbildungsweg Nietzsches jene allgemeine und in einer weiteren Öffentlichkeit verbreitete Art des Umgangs mit „fremden“ Religionen und Kulturen widerspiegelt, die im deutschen Sprachraum in der Mitte des 19. Jahrhunderts anzutreffen war: wie andere „Racen“, wie die Terminologie damals lautete, aus eurozentrischer Sicht wahrgenommen wurden; wie einerseits offen rassistische Inhalte in den Lehrbüchern, die an den von Nietzsche besuchten Gymnasien (z. B. in Geographie) verwendet wurden, anzutreffen sind; wie aber andererseits durch die hohe philologische Qualifikation der Lehrer sowie durch historische Studien nach und nach damals stark verbreitete Vorurteile gegenüber nichtchristlichen Religionen und außereuropäischen Kulturen abgebaut wurden; wie z. B. vermittels der Indogermanistik und Beispielworten aus dem Sanskrit die sprachgeschichtliche und völkerverbindende Brücke zu den Kulturen und Religionen Indiens hergestellt werden konnte; oder wie vermittels damals neu erschienener Arbeiten über Mohammed und den Islam, auf die in den höheren Klassen des gymnasialen Geschichtsunterrichts Bezug genommen wurde, diskriminierende Aussagen über diese Religion relativiert wurden. Die vorliegende Untersuchung vermag so nicht allein einen Beitrag zur Erforschung des Bildungsweges und der damit verknüpften Entstehungsgeschichte zentraler Auffassungen über außereuropäische Kulturen und Religionen bei einem der bedeutendsten Philosophen der Moderne zu leisten, sondern zugleich einen Einblick in die Thematisierung des „Fremden“ in jener europäischen Kultur zu geben, von der ausgehend Nietzsche schließlich Schritt für Schritt zu einem sie relativierenden transkulturellen, zu einem „übereuropäischen“ Blick gelangte. Nietzsches Denken selbst ist heute in diesen transkulturellen Kontext hineinzustellen, wobei sich umgekehrt zeigt, dass seine universelle, die einzelnen Kulturen überschreitende Sicht eine spezifische Genese hat, die angemessen nicht ohne Beachtung des
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Einleitung
allgemeinen kulturellen und besonders wissenschaftsgeschichtlichen Kontextes im Europa des 19. Jahrhunderts verstanden werden kann. Dies trifft nicht allein auf inhaltliche Aspekte zu, sondern in vielleicht noch größerem Ausmaß auf die Methoden: die Wissenschaft dieses Jahrhunderts war eine historisch-genealogische und eine komparativ-vergleichende; davon ist Nietzsches Denken von seinen Anfängen bis zu den späten Werken geprägt.
3. Zur Genese transkulturellen Denkens
3. Zur Genese transkulturellen Denkens Die vorliegende Untersuchung zielt primär darauf ab, die religionskundlichen und religionswissenschaftlichen Kenntnisse Nietzsches in den einzelnen Etappen seines Bildungs- und Forschungsweges zu erfassen. Erst wenn dies geschehen ist, kann die Frage des inneren Zusammenhanges und der weiteren Differenzierung einzelner Themen, die Aspekte von Religionen betreffen, innerhalb seines philosophischen Werkes rezeptionsgeschichtlich besser eingeordnet werden. Obwohl es hermeneutisch problematisch wäre, die Befassung des Kindes bzw. Jugendlichen Nietzsche mit gewissen Fragen (z. B. archaische Kulturen oder Antike) im Sinne einer „linearen“ Fortführung als „Vorwegnahme“ analoger Themen der späteren Philosophie zu deuten (z. B. der „blonden Bestie“ oder der Bedeutung der Antike), wäre es umgekehrt nicht angemessen und wohl auch nicht möglich, bei der Lektüre seiner frühen Aufzeichnungen von den tragenden Begriffen und Symbolfiguren der ausgearbeiteten Philosophie völlig abzusehen. Es ist sowohl die jeweilige Zeitgebundenheit und quellengeschichtliche Herkunft eines spezifischen Themas oder Begriffes als auch dessen Integration im Kontext des gesamten Denkweges Nietzsches zu beachten. Dabei mag sich zeigen, dass frühe Denkfiguren und wissenschaftliche Grundannahmen (z. B. der Indogermanistik) das weitere Denken Nietzsches – z. T. bis zum späten Nachlass – mitprä-
3. Zur Genese transkulturellen Denkens
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gen. Einige dieser Elemente wird die vorliegende Untersuchung herausstellen. Damit verbunden ist eine weiterreichende Intention: nämlich die grundlegende Bedeutung solcher früher religionswissenschaftlicher Kenntnisse für Nietzsches philosophische und kritische Analyse der Religionen und Kulturen aufzuweisen und so zum Verständnis der Genese seines transkulturellen Denkens beizutragen. Die vorliegende Schrift will an Nietzsches Denkweg aufzeigen, wie sehr er im Verhältnis zu außereuropäischen Kulturen einerseits zutiefst von den kulturellen Vorgaben seiner Zeit geprägt ist, in der in Europa eine neue und reichhaltige Kenntnisnahme „fremder“ Kulturen beginnt – eine Vorstellungswelt, die in die traditionellen Denkformen nicht ohne weiteres integrierbar und in diesem Sinn „transkulturell“ ist; wie er andererseits aber durch permanente kritische Auseinandersetzung sowohl mit der „eigenen“ als auch mit „fremden“ Kulturen zu Auffassungen gelangt, welche die hegemoniale eurozentrische Weltsicht, die er in der Mitte des 19. Jahrhunderts kennen lernte, relativieren, kritisieren und z. T. überwinden. Zu diesem Zweck ist der Weg zu verfolgen, der von den frühesten, innerhalb des damaligen Schulwesens vermittelten Kenntnissen über „fremde“ Kulturen zur universitären Bildung weiterführt, und hier wiederum von den im Studium vermittelten transkulturellen Inhalten zu Nietzsches eigener Vermittlung des Wissens über ferne Kulturen, die in seiner Lehrtätigkeit als Professor der Klassischen Philologie geschieht; es ist ein Weg, der von der Erfahrung der Heimat und der eigenen Sprache zunächst zu den klassischen Sprachen, dann aber ebenso zur Indogermanistik führte, wodurch erste Kenntnisse über Sanskrit und indische Religionen und Philosophien ermöglicht wurden. In diesem Bildungsweg wird eine Fülle von religionskundlichem Wissen vermittelt, das sich auf alle großen religiösen Traditionen erstreckt und zudem von früh an auch Kenntnisse über die „archaischen“ Religionen impliziert, die schließlich eine wichtige Rolle bei der Interpretation der Religion der Griechen erhalten, die Nietzsche unter Einbeziehung grundlegender Werke
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Einleitung
der damaligen Ethnographie, der ethnologischen Richtung der entstehenden Religionswissenschaft in Großbritannien (besonders Tylor), erläutert. Im Hinblick auf die Geschichte des Faches Religionswissenschaft ist es von besonderem Interesse, dass Nietzsche, wie seine Aufzeichnungen zeigen, schon gegen Ende der Studentenzeit (1868) eine klare Konzeption der Religionswissenschaft im Rahmen der Philologie gekannt hat. Ebenso lässt sich anhand von Nietzsches bisher unveröffentlichten Kollegnachschriften aufzeigen, dass er schon als Student der Philologie (1864-1868) wiederholt vom Schrifttum Max Müllers gehört hat, der als der, jedenfalls als einer der bedeutendsten Begründer der Religionswissenschaft gilt, und zwar von dessen Werken zur Sprachwissenschaft und Mythologie – also zu einem Zeitpunkt, als dessen religionswissenschaftlichen ‚Essays‘ noch nicht ins Deutsche übersetzt waren; dies geschah erst 1869/70, und aus diesen Bänden hat Nietzsche gleich nach ihrem Erscheinen Exzerpte angefertigt. Die genauere Erforschung dieser wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe vermag daher zugleich ein Licht auf die Genese des Faches Religionswissenschaft zu werfen, die zuinnerst mit der in der Mitte des 19. Jahrhunderts schon seit einigen Jahrzehnten etablierten und ausgearbeiteten vergleichenden Sprachwissenschaft verbunden ist.
4. Hauptetappen des Bildungsweges Nietzsches
4. Hauptetappen des Bildungsweges Nietzsches In der folgenden Darstellung sind die Hauptetappen des Bildungsweges Nietzsches und seiner Begegnung mit vor- und nichtchristlichen Religionen und außereuropäischen Kulturen in chronologischer Reihenfolge angeordnet. Im ersten Kapitel werden die im gymnasialen Ausbildungsweg (18551864) vermittelten Kenntnisse über nichtchristliche Religionen erfasst.
4. Hauptetappen des Bildungsweges Nietzsches
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Im zweiten Kapitel wird die Studentenzeit Nietzsches (1864-1868), besonders in Hinsicht seiner Begegnung mit der damals entstehenden Religionswissenschaft, behandelt. Das dritte Kapitel wendet sich der Professorenzeit Nietzsches (18691879) zu und zeigt auf, wie er als Universitätslehrer grundlegende kultur- und religionswissenschaftliche Kenntnisse in seine philologischen Vorlesungen integriert. Im vierten Kapitel werden schließlich einige Perspektiven aufgezeigt, wie kultur-, religions- und sprachwissenschaftliche Denkformen Nietzsches philosophische Publikationen mitprägen – angefangen von der ‚Geburt der Tragödie‘ bis hin zu einigen Grundannahmen der späten Werke und des Spätnachlasses. Dieses letzte Kapitel wird nur einige exemplarische Beispiele für diese kultur- und religionswissenschaftliche Strukturierung des philosophischen Denkens Nietzsches bringen können; eine tendenziell erschöpfende Darstellung würde eine weitere und umfassendere Monographie erfordern. Der Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung liegt somit einerseits auf der schulischen Vermittlung „anderer“ Religionen und Kulturen, die aber schon (besonders in Schulpforta) in einem wissenschaftlichen, besonders sprachvergleichenden Kontext geschieht; andererseits auf der Studenten- und Professorenzeit, die vom Fach her eine Begegnung mit der Religionswissenschaft nahelegte, während in der späteren Zeit, nachdem Nietzsche seine Tätigkeit als Lehrer der Philologie aufgegeben hat, der wissenschaftliche Aspekt hinter den existenziell-philosophischen zurücktritt, wie im letzten Kapitel aufgezeigt wird; in diesem Prozess erhalten die (religions-)wissenschaftlichen Methoden und Kenntnisse eine „transformierte“ Gestalt bzw. neue „Funktion“. Nietzsche hat auf seinem bildungsmäßigen und philosophischen Weg selbst realisiert, was er in späten Fragmenten (1885), im Kontext „dionysischer“ Symbolik, als Aufgabe vor Augen stellt:
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Einleitung Schritt vor Schritt umfänglicher werden, übernationaler, europäischer, übereuropäischer, morgenländischer, endlich griechischer – denn das Griechische war die erste große Bindung und Synthesis alles Morgenländischen und eben damit der Anfang der europäischen Seele, die Entdekkung unserer ‚neuen Welt ‘ (…) (KGW VII 3, 416: 41 [7]).
1. Kapitel: Außereuropäische Kulturen in Nietzsches gymnasialem Bildungsweg
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Methodologische Vorüberlegungen
Methodologische Vorüberlegungen Es mag von manchen die Frage aufgeworfen werden, wieso den Aufzeichnungen aus der Kindheit und Jugend Nietzsches bei der hier verfolgten Fragestellung ein so großer Wert beigelegt wird, dass sich eine detaillierte Erforschung dieser Materialien nahelegt. Ein genereller Grund ist für mich die Annahme, dass sich besonders in den pädagogisch und didaktisch transferierten Inhalten unmittelbar spiegelt, in welcher Weise eine Kultur mit dem „Fremden“ umgeht, wie sie die Menschen ferner Länder und die Angehörigen „anderer“ Religionen bewertet – es sind nicht allein Wissensinhalte, sondern vielmehr Werthaltungen, die hier vermittelt werden. In Schulbüchern schlägt sich z. B. das weithin „akzeptierte“ Urteil einer Gesellschaft über ferne Ethnien, „fremde“ Religionen, andere Ethiken etc. nieder. Darin zeigen sich Werthaltungen, die für die kommende Generation als wichtig erachtet werden. Diese können zwar aus den betreffenden didaktischen Materialien, aus den verwendeten Schulbüchern direkt entnommen werden, doch ist es eine weitere Frage, was davon im konkreten Unterricht tatsächlich vermittelt wurde und wie diese Inhalte von den Schülerinnen und Schülern aufgenommen und verarbeitet wurden. Dies kann an entsprechenden Aufzeichnungen von Seiten der „Rezipienten“ abgelesen werden. Im Fall von Friedrich Nietzsche sind wir in der günstigen Situation, dass solche Mitschriften aus dem Schulunterricht zu einem beachtlichen Teil erhalten sind. Sie können nicht allein in ihrer Relevanz für Nietzsches Bildungsweg, sondern zugleich auch als
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Dokumente für die damalige kulturelle Situation, wie sie sich aus der Sicht des Schülers widerspiegelt, gelesen werden1. Diese Materialien sind eine Basis, um das geistige und kulturelle Umfeld Nietzsches möglichst detailliert zu erfassen, um Nietzsches Stellungnahme dazu würdigen zu können; zugleich zeigen sie, welchen Anschauungen und Begriffen (z. B. „Rasse“) Nietzsche schon früh begegnet ist. Dabei ist es wichtig, die Originalität von Nietzsches Aussagen nicht ohne ihre notwendige Kontextualität zu würdigen, die wesentlich durch Bildung und Lektüre, durch die Kultur und das Wissen seiner Zeit mitgeprägt ist. Dies trifft besonders in Hinsicht auf die spezielle Thematik der Religionen zu. Nietzsches „eigener“ Anteil darf aber auch bei diesen frühen und frühesten Aufzeichnungen nicht vernachlässigt werden, denn diese zeigen in ihrer zwar kindgemäßen Art dennoch eine bisweilen sehr originelle Auseinandersetzung z. B. mit griechischen Mythen und germanischen Heldensagen, aber auch – im Zusammenhang mit der Kreuzritterthematik – mit der christlichislamischen Konfrontation. In einer Zeit, die sich zu Recht dem Philosophieren von und mit Kindern mit großer Aufmerksamkeit zuwendet, ist es naheliegend, solche dichterisch gestalteten
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Diese Gründe haben mit dazu beigetragen, dass solche Schulmaterialien in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches (KGW) ediert werden. In dieser Neuausgabe sind auch eine Reihe von schulischen Texten (Übersetzungen u. dgl.) sowie Exzerpte, Aufgabenhefte u. ä. veröffentlicht, die in der über ein halbes Jahrhundert zuvor herausgegebenen Historisch-Kritischen Ausgabe der Werke der Jugendzeit nicht aufgenommen waren. In mehreren Beiträgen bin ich, meist im Zusammenhang mit der Herausgabe der Ersten Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches (KGW I), auf diesen Problemkreis eingegangen. Zur Schulzeit Nietzsches vgl. bes. die Arbeiten von R. Blunck, R. Bohley, Th. H. Brobjer, S. L. Gilman, H. G. Hödl, R. G. Müller, M. Pernet und vor allem von H. J. Schmidt, der am ausführlichsten die Kindheit und Jugend Nietzsches dargestellt hat (siehe die einschlägigen Publikationen im Literaturverzeichnis).
Methodologische Vorüberlegungen
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„Überlegungen“ in der Kindheit zu beachten2. Aus diesem Grund wird die vorliegende Darstellung auch die Naumburger Gymnasialzeit Nietzsches miteinbeziehen, d. h. die Aufzeichnungen, die im Band I 1 der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches enthalten sind – ergänzt um einige wenige Schulmaterialien, die erst im ,Nachbericht‘ zur Abteilung I abgedruckt werden. Zu Beginn des ersten Kapitels dieser Untersuchung (1.) wird eine allgemeine Darstellung der beiden Gymnasien (Naumburg und Schulpforta) gegeben. In den folgenden Punkten (2.-9.) werden religions- und kulturspezifische Lehrinhalte erfasst, und zwar (jeweils Unterpunkt 1.) die Naumburger Zeit (1855-1858) und dann (jeweils Unterpunkt 2.) die Ausbildung in Schulpforta (1858-1864). Obwohl einerseits die Unterschiede zwischen dem Naumburger Domgymnasium und der – wie es oft heißt – „Eliteschule“ in Pforta in lehrplanmäßiger und organisatorischer Hinsicht nicht allzu große Differenzen zur Folge hatten, bildete doch andererseits der Schulwechsel für Nietzsche eine bedeutsame biographische Zäsur, die sich zudem mit dem lebensgeschichtlichen Übergang von der Kindheit zur Jugendzeit überlappt. Auch die inhaltlichen Orientierungen und Informationen über „fremde“ Kulturen in Naumburg waren (u. a. bedingt durch die Verwendung anderer Schulbücher) von jenen in Schulpforta teilweise verschieden; vor allem ergibt sich organisch eine Differenz durch die unterschiedlichen Schulstufen mit entsprechend verschiedenen Lehrinhalten. Um diesen Fakten zu entsprechen, wird hier darstellungsmäßig sowohl die klare Unterteilung im gymnasialen Studienweg Nietzsches als auch die strukturelle Zusammengehörigkeit (vom Schultyp her) beachtet. In einem Überblick über universelle Bildung notiert Nietzsche unter der Rubrik Wissen: „1. Geogr / 2. Gesch“ und andere Fachgebiete (KGW I 2, 136: 6 [77]). Die beiden ersteren Fächer – in den Lehrplänen meist zusammen genannt – waren
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Vgl. auch die zusammenfassenden Überlegungen am Schluss dieses Kapitels, S. 152ff.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
es auch, in denen in den Schulbüchern Nietzsches der Tendenz nach schon im Naumburger Gymnasium ein universeller Überblick vermittelt wurde, der – mit anderer Akzentuierung – in Schulpforta weitergeführt wurde. Informationen über „fremde“ Kulturen und Religionen in Geschichte und Gegenwart wurden freilich auch in anderen Fächern vermittelt, wie insbesondere in den Sprachen (Latein und Griechisch, besonders auch in Deutsch, z. T. aber auch in Französisch, wenn z. B. Übersetzungen von Texten zu machen waren, die von der islamischen Kultur handelten; ebenso in Hebräisch – besonders über das Judentum). In verschiedenen Fächern konnten also außereuropäische Kulturen und vor- bzw. nichtchristliche Religionen zur Sprache kommen3. Natürlich konnte auch der Religionsunterricht zu einer Quelle von Kenntnissen über nichtchristliche Religionen werden4. Wenn wir hier Nietzsches eigene Notizen aus den ersten Klassen des Gymnasiums heranziehen, so finden sich darin zwar nur wenige Hinweise auf Informationen über nichtchristliche Religionen, was freilich nicht bedeutet, dass es sie nicht zahlreicher gegeben hat. In dem „Schulaufgaben“-Heft des Zwölfjährigen (es reicht vom 17. Mai bis Juni 1856, und später wird es ab September d. J. weitergeführt, erstmals veröffentlicht in KGW
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Vgl. dazu die umfassende Untersuchung von G. Peuster-May, Die Behandlung der Religionen in der schulbezogenen Literatur des 18./19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1850-1900, 1988, und die statistischen Auswertungen zur Thematisierung nichtchristlicher Religionen. Peuster-May wertete Geschichts-, Religions- und Deutschbücher besonders des 19. Jahrhunderts und die Erdkundebücher allgemein sowie speziell (‚Religionen der Völker‘) aus; auf die Religionen der klassischen Antike, aber auch auf das Judentum, wurde dort verzichtet (vgl. Einleitung, XVI). Vgl. grundlegend U. Tworuschka, Die Geschichte nichtchristlicher Religionen im christlichen Religionsunterricht. Ein Abriß, 1983, sowie die von ihm und M. Klöcker betreute Dissertation von Peuster-May (siehe vorhergehende Anm.), die den Religionsunterricht eigens einbezieht, zugleich aber auch nachweist, dass in anderen Fächern, neben Geschichte vor allem in Erdkunde, die Vermittlung von Wissen über außereuropäische Kulturen umfangreicher als im Fach Religion war.
Methodologische Vorüberlegungen
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I 1, 329-347: 2A [1]) werden sehr oft Aufgaben, die zum Religionsunterricht gehören, genannt, z. B. wiederholt „Biblische Geschichte(n)“ (vgl. 330; 335; 339f; 345ff), „Die zehn Gebote (…)“ (333), das Lernen von Liedern (mit Angabe der Seite bzw. Nummer im Gesangbuch) (vgl. 335), dann Repetitionsaufgaben dazu mit Anführung der Liedanfänge (vgl. 347). Dieser Tatbestand zeigt das kirchliche Interesse „an unhinterfragbaren Stoffen aus Katechismus, Bibel und Gesangbuch“, wie es z. B. in einem preußischen ministeriellen Erlass von 1854 ins Zentrum gerückt wurde5. Trotz dieser ekklesiozentrischen Ausrichtung des Religionsunterrichts war es möglich und z. T. auch notwendig, andere Religionen wenigstens zu erwähnen und in Einzelfällen näher darzustellen. Dieser Sachverhalt spiegelt sich auch im Religionsbuch, das in Schulpforta eingeführt wurde, als Nietzsche dort die letzten Klassen besuchte, und das er 1863 für sich gekauft hat, nämlich das ‚Hülfsbuch für den evangelischen Religionsunterricht‘ von Wilhelm Adolf Hollenberg 6. Hauptinhalte dieses Buches waren Kirchenlieder (1ff), der kleine Katechismus Luthers (34ff) und das christliche Kirchenjahr (50-52), dann das alte und neue Testament (53ff bzw. 95ff); ausführlich kommt die Kirchengeschichte (alte, mittlere, neuere) zur Sprache (143-245), und am Schluss die Glaubenslehre und die Augsburgerische Confession zusammen mit den drei ökumenischen Symbolen (246 bzw. 283ff). Vor- und nichtchristliche Religionen werden bei der biblischen Umwelt („das Heidenthum“, vgl. 58) und im kirchengeschichtlichen Kontext erwähnt; „Muhamed. 571-632“ wird in einem eigenen Paragraphen behandelt (164-166) – wie auch in der Profange-
_____________ 5 6
Vgl. Chr. Grethlein, Art. Religionsunterricht, in: 4RGG 7, 390. Es war die 5. Auflage – von Nietzsche am 26. September 1863 gekauft (vgl. GSA 71/361, 4; Blatt 181); vgl. G. Campioni u. a. (Hg.), Nietzsches persönliche Bibliothek, 2003, 303. Es ist aber nicht mehr in der Bibliothek Nietzsches erhalten und auch nicht mehr im neuen Bestandsverzeichnis der Bibliothek Schulpforta angeführt (wohl war es im alten mit Signatur genannt).
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
schichte in chronologischem Zusammenhang, vor Bonifatius (680755). Indien kommt im Zusammenhang mit dem Missionsauftrag des Christentums zur Sprache (z. B. 240-243), aber die Religionen Indiens werden nicht näher erläutert. Der systematischen Fragestellung dieser Untersuchung entsprechend soll zunächst in den auf die Darstellung der beiden Gymnasien (1.) unmittelbar folgenden Punkten (2. und 3.) auf diejenigen Fächer eingegangen werden, in denen ein Überblick über die „Racen“ (wie es in den Schulbüchern damals hieß) und Religionen vermittelt wurde, wobei zuerst schwerpunktmäßig der Geographieunterricht zu berücksichtigen ist; daran anschließend auf die universalistische Konzeption des Geschichtsunterrichtes, bei dem ein grundlegender Aspekt die Darstellung des archaischen Ursprungs war; in diesem Horizont wurden die lebenden indigenen Völker als „Wilde“ verstanden. In den folgenden Punkten ist dann auf einzelne Kulturen und Religionen einzugehen: insbesondere auf jene des altorientalischen Raumes (besonders Perser, 4.), dann auf jene der Griechen (5.) und Germanen (6.); danach wird auf die Indogermanistik als Brücke zu Indien eingegangen (7.); schließlich auf das Bild von den Muslimen (8.) und Juden (9.), das Nietzsche in seiner Sozialisation in christlichen Schulen7 vermittelt wurde. Bei der Darstellung des Überblicks sowie der einzelnen nichtchristlichen Religionen sind – wie erwähnt – jeweils zuerst (Unterpunkt 1.) die Naumburger Schulmaterialien auszuwerten, dann (Unterpunkt 2.) jene von Schulpforta.
_____________ 7
Nietzsches Kennenlernen des Christentums in seinem Bildungsweg habe ich in mehreren Publikationen dargestellt; es sei besonders verwiesen auf J. Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, 47-70 (Gymnasialzeit); zur Kindheit vgl. den Hinweis auf Bohley in der folgenden Anmerkung.
1. Bildungsziele
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1. Bildungsziele in Naumburg und Schulpforta
1. Bildungsziele 1.1. Christliche Orientierung und „religionswissenschaftliche“ Bildung der Lehrer am Naumburger Domgymnasium 1.1.1. Grundlegung der schulischen Ausbildung Noch bevor Friedrich Nietzsche (geboren am 15. Oktober 1844) an die Naumburger öffentlichen Schulen gekommen ist und am regulären Schulunterricht teilgenommen hat, hatte er noch in Röcken – als fünfjähriges Kind – stundenweise Unterricht erhalten; entsprechende Zeugnisse über diese Zeit sind erhalten8 und in der Jugendbiographie genannt, die seine Schwester verfasst hat9. Ende September 1850, also knapp vor seinem sechsten Geburtstag, kommt Nietzsche an die öffentliche Schule in Naumburg, nämlich an die Bürgerschule, die er bis Ostern 1853 besucht. Nach der Bürgerschule besucht Nietzsche – gemeinsam mit seinen Freunden Pinder und Krug – ein Privatinstitut, das der Predigtamt-Kandidat Karl Moritz Weber in Naumburg eingerichtet hatte und dessen Aufgabe in seinem Namen zum Ausdruck kommt: „Institut zum Zwecke gründlicher Vorbereitung für Gymnasien und andere höhere Lehranstalten“ (vgl. KGB I 4, Nb. 274). Im Anschluss daran kommt Nietzsche – ebenfalls mit seinen beiden Freunden – an das Domgymnasium in Naumburg, an eine Schule, deren wechselvolle Geschichte bis ins Jahr 1030 zurückreicht. Während es bisher kontrovers diskutiert wurde, ab wann er dort war – ob ab Ostern oder erst ab Herbst (Michaelis) 1855, ist
_____________ 8
9
Vgl. den Brief der Mutter Franziska Nietzsche an ihre Freundin Emma Schenk vom 16. 11. 1849: „Fritzchen geht seit seinem Geburtstag täglich auf eine Stunde in die öffentliche Schule (…)“; zit. nach R. Bohley, Nietzsches christliche Erziehung, in: Nietzsche-Studien 16 (1987) 167 Anm. 18. Zu den „Anfangsgründe(n) des Schreibens“ vgl. J. Figl, Das religiös-pädagogische Kindheitsmilieu Nietzsches, in: A. Schirmer/R. Schmidt (Hg.), Entdecken und Verraten, 1999, 24-36, bes. 24-26. Vgl. E. Förster-Nietzsche, Der junge Nietzsche, 1912, 19 und 22.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
diese Frage durch ein neu aufgefundenes Dokument geklärt, in dem der Direktor des Domgymnasiums, Dr. Förtsch, Ende September 1858 im Abgangszeugnis bestätigt, dass Friedrich Wilhelm Nietzsche „von Michaelis 1855 bis jetzt (scil. September 1858; J. F.) Schüler des hiesigen Domgymnasiums gewesen (ist) und das letzte Semester der Tertia desselben angehört (hat)“10. Darauf weist auch eine briefliche Aussage der Mutter Nietzsches vom 14. Februar 1856 hin, die besagt, dass „Fritz doch seit Michaelis auf dem hiesigen Domgymnasium (ist)“ (KGB I 4, 40), d. h. seit Herbst 1855, wodurch sich die Annahme bestätigt hat, dass er dann wahrscheinlich bis zu diesem Zeitpunkt am Weber’schen Institut gewesen ist (Ende des Sommersemesters 1855); davon geht auch Reiner Bohley, der einer der besten Kenner des Bildungsweges Nietzsches war, aus11. Nietzsche ist also im Herbst 1855, nachdem er und seine Freunde durch Direktor Förtsch „etwas exanimirt (sic!)“ wurden, nach Quinta des Domgymnasiums „versetzt“ worden, worüber er in seinem Rückblick auf die Kindheit, den er als 14-Jähriger verfasst, selbst berichtet (KGW I 1, 299: 4 [77]). Die Klasseneinteilung war in der Weise, dass die Reifeprüfung am Schluss von Prima war; am Beginn war Sexta, die in Naumburg 1856 neu eingerichtet wurde. Nietzsche besuchte dort Quinta, Quarta und Untertertia; dann wechselte er nach Schulpforta, wo er das schon in Naumburg absolvierte erste Halbjahr von Untertertia wiederholen musste; diese Schulstufe war in Pforta die Anfangsklasse, denn dieses Gymnasium begann erst mit Tertia; es folgten Secunda und Prima (jede dieser Schulstufen umfasste zwei Jahre, also Unter- und Obertertia usw.). Die Einteilung des Schuljahres war an beiden von Nietzsche besuchten Gymnasien folgendermaßen: das Wintersemester begann zu Michaelis (29. September) oder kurz danach (Anfang Oktober)
_____________ 10 Th. H. Brobjer, Why did Nietzsche Receive a Scholarship to Study at
Schulpforta?, in: Nietzsche-Studien 30 (2001) 327. 11 Vgl. R. Bohley, Nietzsches christliche Erziehung (1987) 164ff.
1. Bildungsziele
19
und dauerte bis Ostern (März oder Anfang April); danach begann das Sommersemester, das bis Mitte oder Ende September dauerte; die Sommerferien dauerten vier Wochen (etwa Mitte Juli bis Mitte August)12. Für das Domgymnasium in Naumburg wurde eine eigene Ferienordnung von der vorgesetzten Schulbehörde in Magdeburg festgelegt13. 1.1.2. Unterrichtsfächer und Schullehrbücher Über den Inhalt der Unterrichtsfächer in Naumburg sind wir durch die Schulnachrichten dieses Gymnasiums relativ gut unterrichtet. Sie erschienen jährlich und umfassen jeweils den Zeitraum von Ostern des einen Jahres bis Ostern des darauf folgenden Jahres. Darin werden die Lehrinhalte der einzelnen Schulstufen genannt – bis 1855/56 nach drei Gruppen unterschieden und in folgender Reihenfolge angeführt: 1. Sprachen, schwerpunktmäßig Latein, dann Griechisch, Deutsch, Französisch durchgehend und Hebräisch in den oberen Schulklassen; 2. Wissenschaften, zu denen Religion, Geschichte und Geographie, Mathematik, Physik und Philosophische Propädeutik gezählt werden. In den unteren Klassen gehören zu den Wissenschaften die Naturkunde bzw. Naturbeschreibung; schließlich 3. Singen und Zeichnen sowie Kalligraphie (in Quinta und Quarta). Ab 1857/58 wird in der Fächerliste zuerst „Religion“ genannt, danach erst die „Sprachen“ und die „Wissenschaften“, am Schluss „Zeichnen“ und „Kalligraphie“. Diese neue Anordnung, mit Religion an der Spitze, die auch für Schulpforta gegolten hat, geht auf einen Erlass des königlichen Provinzial- und Schulkollegiums vom 10. Oktober 1857 zurück. Demnach haben die Gymnasien der Provinz die zu absolvierenden Lehrpensa in nachfolgender Rei-
_____________ 12 Vgl. Th. H. Brobjer, Nietzsche’s Education at the Naumburg Domgym-
nasium 1855-1858, in: Nietzsche-Studien 28 (1999) 305. 13 Vgl. Schulnachrichten Naumburg 1856/57, XI.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
henfolge zu beachten: Religion, Deutsch, Latein, Griechisch, Französisch, Geschichte, Geographie, Mathematik und Rechnen, Physik, Naturkunde, Zeichnen und Schreiben14. Besonders aufschlussreich ist die Anzahl der Stunden in den einzelnen Fächern, v. a. in den klassischen Sprachen: sie beträgt von Quinta bis Secunda je 10 (!) Wochenstunden in Latein, in Prima 8. Der Griechischunterricht umfasste von Quarta bis Prima je 8 Wochenstunden. Im Vergleich dazu war die durchschnittliche Stundenzahl in Geschichte und Geographie 3, in Mathematik 3 bzw. 4, in allen anderen Fächern 2. Das große Übergewicht von Latein ist auffallend; hinzu kommt, dass Nietzsche mit seinen Freunden Pinder und Krug schon in dem Vorbereitungs-Institut auf das Gymnasium bei „Cand Weber (…) den ersten Unterricht im Griechischen u. Lateinischen“ empfangen hatte (KGW I 1, 289: 4 [77]). In den Schulnachrichten werden die im Unterricht verwendeten Lehrbücher angegeben sowie auch die Lehrer, die diese Fächer in der jeweiligen Schulstufe unterrichteten. Es werden die Stoffgebiete und tabellarisch eine Übersicht über die Lehrgegenstände wie auch die Verteilung der Lehrfächer unter den Lehrern angeführt. Schließlich gibt es ein Verzeichnis, das die im jeweils vergangenen Jahr in den drei oberen Klassen (Prima, Secunda, Tertia) aufgegebenen Themata zu freien Ausarbeitungen im Lateinischen und im Deutschen enthält. Weiters werden Verordnungen und Bekanntmachungen der „vorgesetzten hohen Behörden“ mitgeteilt, insbesondere die Entscheidungen des zuständigen königlichen preußischen Ministeriums in Berlin, die durch die Schulbehörde in Magdeburg bekannt gemacht wurden. Da es die zum Dom gehörige Schule war, sind auch die Entscheidungen des „Hochwürdigen Domkapituls“, wie es hier heißt, wichtig. Eine Chronik der Schule, eine Aufstellung der neu erworbenen Bücher des „Lehrapparates“ für die Gymna-
_____________ 14 Unterrichts- und Schulangelegenheiten 1856-1875, Archiv Schulpforta,
Sign. Nr. 0466. Zu dieser auch für Schulpforta geltenden Neuregelung vgl. unten S. 23f, Anm. 21.
1. Bildungsziele
21
sialbibliothek sowie für die Lese- und Hilfsbibliothek der Schüler ist ebenfalls in diesen Schulnachrichten enthalten, auch Angaben über Veränderungen im Lehrerkollegium und über die Schüler der einzelnen Klassen. Aus einer Reihe dieser Angaben, insbesondere aus den Lehrplänen und den verwendeten Schulbüchern (v. a. in Geschichte und Geographie, aber auch in Deutsch und in weiteren Fächern) können Rückschlüsse darauf gezogen werden, in welchem Ausmaß Nietzsche schon in den ersten Klassen des Gymnasiums „andere“ Kulturen der Vergangenheit und Gegenwart überhaupt kennen lernen konnte. Darüber hinaus ist in einigen der verwendeten Schullehrbücher (z. B. in Welters ‚Lehrbuch der Weltgeschichte‘, das in Naumburg verwendet wurde; Nietzsches eigenes Exemplar ist noch in der Bibliothek Nietzsches erhalten) ein tendenziell universalistischer, die gesamte Weltgeschichte umfassender Ansatz gegeben, der in Ansätzen transkulturelle Intentionen impliziert. Dabei zeigen sich manche ungewohnte Perspektiven bezüglich der Wahrnehmung „fremder“ Kulturen, die im Folgenden aufgezeigt werden. Dennoch kann von der religiösen Eingebundenheit des Gymnasiums her vermutet werden, dass die Begegnung mit außereuropäischen Kulturen stark von einer christentumszentrierten Perspektive bestimmt war, denn die christliche Ausrichtung war nicht nur ein Erfordernis für die Schüler, sondern ebenso eine Vorbedingung für die Lehrer, von denen eine – wie es wörtlich in den Schulnachrichten heißt – „religionswissenschaftliche“ (gemeint ist eigentlich eine theologische) Zusatzausbildung verlangt wurde. 1.1.3. „Religionswissenschaft“ für Nicht-Theologen – christliche Orientierung der Lehrer und Schüler Es bedarf keines besonderen Nachweises, dass sowohl das Gymnasium in Naumburg als auch jenes in Pforta allein aufgrund der institutionellen und lokalen Vorgegebenheiten als Domschule bzw. als „Königliche Landesschule“ in einem strengen religiöschristlichen, näherhin evangelischen Kontext, gestanden sind. In
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
der Allgemeinen Schulordnung des Domgymnasiums in Naumburg finden wir folgende Paragraphen15: An Sonn- und Festtagen sind die Schüler verpflichtet, dem öffentlichen Frühgottesdienste in der Domkirche gemeinschaftlich in anständiger Kleidung, ruhig und still beizuwohnen und dürfen ihre Plätze nicht vorher verlassen als bis der inspizierende Lehrer ihnen dazu die Erlaubnis gegeben hat (…) (§ 37);
und es wird darauf Wert gelegt, dass der Inhalt der Predigt aufgenommen wird: Während der Predigt sind die Schüler der beiden unteren Klassen bemüht, sich das Thema und die Disposition desselben anzumerken, die oberen Schüler über den Vortrag seinen Hauptgedanken nach auf angemessene Weise nachzuschreiben (§ 38).
Über diese lokal gegebene disziplinäre Situation in Naumburg hinausgehend wurde aber die christliche Orientierung der Lehrer generell erwartet; und zwar wird in einem Erlass von 1856 verlangt, dass sie „Kenntnisse in der Religionswissenschaft“ haben. Es ist dieser Begriff nicht im fachspezifischen Sinn Max Müllers verwendet, sondern wohl in dem seit Beginn des 19. Jahrhunderts gebräuchlichen Sinn, dass das Christentum als die „vollkommene Religion“ im Rahmen der universitären Lehrerausbildung näher kennen gelernt werden soll16; also war damit christliche Religionsphilosophie bzw. Theologie gemeint. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprach man von Theologie „als christlicher (bzw. jüdischer) Religionswissenschaft“, und zwar „im Sinn einer positiven Wissenschaft, welche einer bestimmten geschichtlichen Religion gilt“, wodurch sie zugleich von der „gesamten Religionswissenschaft“ unterschieden wurde17. Der Erlass, der schon den
_____________ 15 Zit. nach der Allgemeinen Schulordnung, Bibliothek Domgymnasium
Naumburg. 16 Vgl. J. Figl, Einleitung. Religionswissenschaft, in: ders. (Hg.), Handbuch
Religionswissenschaft, 2003, 21. 17 Art. Theologie, in: Meyers Konv.-Lexikon 15, 637. Vgl. auch W. Met-
terhausen, Friedrich Nietzsche’s Bonner Studentenzeit, ²1942, der
1. Bildungsziele
23
Abiturienten, die das höhere Lehramt anstrebten, bekannt gemacht und deshalb auch in den Schulnachrichten veröffentlicht wurde, zeigt diesen Wortgebrauch: da die Bestimmung besteht, dass „Candidaten“ (scil. des „höhern Schulamts“, J. F.), welche bei der Prüfung pro facultate docendi ungenügende Kenntnisse in der Religionswissenschaft zeigen, ungeachtet der in andern Fächern erworbenen Qualification doch erst dann angestellt werden dürfen, wenn sie in einer wiederholten Prüfung auch in der Religionswissenschaft befriedigende Kenntnisse nachgewiesen haben, so wird dafür gesorgt werden, dass auf den Universitäten in jedem Studienjahre den Studirenden, welche nicht bei der theologischen Facultät eingeschrieben sind, Gelegenheit geboten wird, religionswissenschaftliche Vorträge zu hören18.
Sie haben bei der Prüfungsanmeldung auch nachzuweisen, „auf welchem Wege sie während ihres akademischen Studiums bemüht gewesen sind, ihre religionswissenschaftlichen Kenntnisse zu erwerben und tiefer zu begründen“19. Von den Lehrern in allen Fächern wurde somit eine vertiefte „wissenschaftliche“ Kenntnis des Christentums verlangt, also gerade auch von den Nicht-Theologen. Ziel dieser ministeriellen Vorgaben war es, christliche Glaubenslehren über den Religionsunterricht hinausgehend im Interesse der allgemeinen gesellschaftlichen Bedeutung dieser Religion in der Schulpädagogik generell zu verankern. In derselben Richtung kann die oben angeführte20 Regelung verstanden werden, das Fach „Religion“ als erstes in der Fächertabelle anzuführen21.
_____________ 18 19 20 21
Nietzsches theologische Studien noch in einem Abschnitt mit der Überschrift „Religionswissenschaft“ behandelt (a. a. O., II und 56ff). Schulnachrichten Naumburg 1856/57, IX. Ebd. Vgl. oben S. 20. Ob diese Vorschrift noch eine Nachwirkung der restaurativen Bildungspolitik des früheren preußischen Staatsministers Eichhorn (1831-1848) war, wie vermutet wurde (vgl. H. Heumann, Typenformung durch Anstaltserziehung an der Landesschule zur Pforte 1820-1910, 1940, 172),
24
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Während von den Lehrern in den „profanen“ Fächern die Kenntnis christlicher Werte verlangt wurde, waren die Lehrer im Fach Religion nicht immer ihrer Aufgabe gewachsen; Nietzsches Erfahrungen mit ihnen waren sehr widersprüchlich, sowohl in Naumburg22 als auch in Pforta23. 1.2. Wissenschaftlich-philologische Ausrichtung und orientalistische Interessen an der Landesschule Pforta 1.2.1. Wissenschaftliche Zielsetzungen einer „Eliteschule“ neuhumanistischer Prägung Die Landesschule in Schulpforta war nicht nur durch die lokale Nähe mit Naumburg verbunden, sondern es gab auch personelle und institutionelle Verknüpfungen. Ein Beispiel dafür ist die Literaria, ein literarischer Verein in Naumburg, in dem eine Reihe von Naumburger Bürgern – unter ihnen Personen, die Nietzsche gut kannte, wie z. B. der Vater eines seiner besten Freunde, Pinder – Mitglieder waren und fast alle Pförtner Lehrer Vorträge gehalten haben, wie z. B. Steinhart, Koberstein, Peter, Niese, Corssen u. a.24. Zwischen den Lehrerkollegien der beiden Gymnasien bestand äußer-
_____________ kann hier nicht weiterverfolgt werden. Eichhorn suchte „in Übereinstimmung mit den Wünschen Friedrich Wilhelm IV (…) die Kirchlichkeit im Volk zu heben“ (vgl. Art. Eichhorn, J. A. F., in: Meyers Konv.Lexikon 5, 360f). 22 Während bei „Cand Weber“ eine „ausgezeichnete Religionsstunde“ gegeben war, sagt Nietzsche über das Gymnasium in Naumburg: „was mir besonders weh that, war der wahrhaft erbärmliche Religionsunterricht, der allerdings bis Tertia fortdauerte“ (KGW I 1, 289 und 299: 4 [77]). 23 Vgl. R. Bohley, Die Christlichkeit einer Schule, 1974, bes. 132ff, und J. Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, 57 und 63 mit Anm. 24 Vgl. die detaillierte Aufstellung der Themen der Vorträge der Pförtner Lehrer in der Literaria bei R. Bohley, Über die Landesschule zur Pforte, in: Nietzsche-Studien 5 (1976) 318-320.
1. Bildungsziele
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lich ein gutes Verhältnis25. Für Nietzsche selbst war eine Verbindung dieser beiden Gymnasien auch dadurch gegeben, dass er – wie erwähnt – die schon in Naumburg absolvierte Zeit von Tertia in Pforta nochmals zu machen hatte (was aber nichts Außergewöhnliches war). Es hat den Anschein, als wollte diese Schule durch solche Prozeduren ihre gegenüber anderen Gymnasien höhere wissenschaftliche Reputation unter Beweis stellen – und dafür dürfte sie bekannt gewesen sein, wie aus einem Revisionsbericht von 1861, also drei Jahre nachdem Nietzsche dort aufgenommen worden ist, hervorgeht: Daß man bei der Aufnahme aus anderen Gymnasien diese Schulen meistern wolle, indem man die betreffenden Schüler eine Klasse niedriger setze, stellen die Lehrer in Abrede. Indes sind doch nach einer von Prof. Buchbinder gemachten Zusammenstellung in fünf Jahren von 100 in die Landesschule aus anderen Gymnasien aufgenommenen Schülern 27 niedriger gesetzt worden, so daß der Ruf, in dem in dieser Hinsicht die Landesschule steht, nicht ganz unbegründet ist26.
Dieser Anspruch der Überlegenheit mag mit der Zielsetzung der Schule, die auf ihre Gründungsintention zurückgeht, zusammenhängen: das Gymnasium in Schulpforta war von Herzog Moritz von Sachsen in der Reformationszeit (1543) gegründet worden – neben den beiden anderen Fürsten- und Landesschulen St. Afra zu Meißen und St. Augustin zu Grimma27, die „Pforte“, wie sie auch genannt wird, war wie die beiden anderen in einem ehemali-
_____________ 25 Vgl. z. B. die Glückwunschadresse anlässlich des 25-Jahr-Jubiläums des
Naumburger Direktors Förtsch (vgl. Jahresbericht Pforta 1858/59, XI), den Nietzsche als „liebevollen, guten Manne“ schildert, der ihn und seine beiden Freunde in das Gymnasium aufgenommen habe (vgl. KGW I 1, 299: 4 [77]). 26 Zit. nach S. L. Gilman, Pforta zur Zeit Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 8 (1979) 418. 27 Vgl. G. Arnhardt/G.-B. Reinert, Die Fürsten- und Landesschulen Meißen, Schulpforte und Grimma, 2002; H. Heumann, Schulpforta. Tradition und Wandel einer Eliteschule, 1994 (zur Beurteilung des Schülers Nietzsche vgl. 120ff).
26
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
gen Klostergebäude untergebracht – in dem früheren Zisterzienserkloster St. Marien zur Pforte (ad portam). Diese Schulen gehörten zu den bedeutendsten evangelischen Bildungsinstitutionen in Deutschland – oft auch „Eliteschulen“ genannt, deren generelle Aufgabe es war, auf das Universitätsstudium vorzubereiten und so zur Heranbildung von Kandidaten für gesellschaftlich wichtige akademische Berufe beizutragen (Theologen, Philologen, Ärzte, Verwaltungs- und Militärbeamte u. a.). Damit verbunden war eine spezielle Vorbereitung auf den „Gelehrtenberuf“. In der Selbstvorstellung der Landesschule Pforte wird schon zu Beginn auf das Ziel einer späteren wissenschaftlichen Laufbahn hingewiesen. In dem § 1 dieses „Leitbildes“ (wie man heute sagen würde), das von 1825 an bis 1861, also bis zu Nietzsches Zeit an der Schule, unverändert geblieben ist, heißt es: Die Köngliche Landesschule Pforta ist, der Absicht ihrer Stifter und der eigenthümlichen Verfassung nach, eine Erziehungs- und Unterrichtsanstalt, in der eine bestimmte Zahl junger Leute evangelischer Confession innerhalb eines gesetzlich bestimmten Zeitraums, vom reiferen Knabenalter an bis zum Uebergange auf die Universität, für das höhere wissenschaftliche Leben, oder für den eigentlichen Gelehrtenberuf vorbereitet wird;
und es wird nochmals wiederholt, dass nur solche Knaben aufgenommen werden dürfen, „an denen, neben sittlicher Tüchtigkeit und Unverdorbenheit, eine ernstliche Neigung und eine entschiedene Fähigkeit zu den höheren Studien wahrnehmbar ist, und welche nicht bloß eine allgemeine Bildung für den bürgerlichen und geselligen Bedarf, sondern eine tüchtige Vorbereitung für die Anforderungen des Gelehrtenstandes zu erhalten wünschen“28. Mit diesen Zielen entsprach Schulpforta den Aufgaben des neuhumanistischen Gymnasiums 29 im Sinne der Reformen Wilhelm von
_____________ 28 Zit. nach R. Bohley, Über die Landesschule zur Pforte (1976) 298. 29 Neben den Gymnasien bestanden andere Bildungseinrichtungen, auch
solche für Mädchen, denen aber der Zugang zur Universität verwehrt war: vgl. H. Cancik, Nietzsches Antike: Vorlesung, ²2000, 6 mit Anm. 18.
1. Bildungsziele
27
Humboldts, das die Aufgabe hatte, auf das Universitätsstudium vorzubereiten, und dessen Abschluss dafür Zugangsberechtigung war30. Diese Reformen wurden unter Ilgen, der von 1802 bis 1831 Rektor dieser Schule war, eingeführt; er war mit Humboldt befreundet und stand mit ihm in Briefwechsel; als preußischer Unterrichtsminister war Humboldt ein großer Freund und Gönner der Schule von Pforta31. 1815 ist Pforta – infolge der allgemeinen politischen Ereignisse – preußische Landesschule geworden. Humboldt verstand Bildung als universale Bildung, d. h. als „die Entfaltung aller Persönlichkeitskräfte in der Begegnung mit der Antike“, naturwissenschaftliche Kenntnisse werden nicht ausgeschlossen, sondern integriert32. Dem Bildungsziel des Neuhumanismus entsprechend traten dann in Schulpforta „allmählich das Turnen, der Deutschunterricht und naturwissenschaftliche Exkurse an die Seite der Altsprachen, wenn auch nicht gleichberechtigt“33. Der Gedanke der „universellen Bildung“ war an dieser Schule auch zu jener Zeit noch sehr lebendig, als Nietzsche aufgenommen wurde. Zu Beginn des zweiten Jahres34 in Schulpforta notiert er in tagebuchähnlichen Aufzeichnungen: „Ich habe meinen Geburtstag erlebt und bin aelter geworden (…) Mich hat jetzt ein ungemeiner Drang nach Erkenntniß, nach universeller Bildung ergriffen; Humbold (sic!) hat diese Richtung in mir angeregt“ (KGW I 2, 134: 6 [77]). Wahrscheinlich hat Nietzsche hier zugleich auch an Alexander von Humboldt gedacht, und nicht nur an
_____________ 30 Ab der preußischen Neuordnung der Reifeprüfung von 1834 „wurde
31 32 33 34
das humanist(ische) G(ymnasium) (‚Gelehrtenschule‘) zur ‚Vorbereitungsanstalt‘ für die Uni(versität)“ – bis dahin hatte die Artistenfakultät die Auswahl der Studenten selbst getroffen: vgl. Art. Gymnasium, in: Brockhaus-Enzyklopädie 9, 312. Vgl. P. Dorfmüller/R. Konetzny (Hg.), Schulpforta, ³2003, 51f, 55; R. Bohley, Die Christlichkeit einer Schule, 1974, 51ff. Art. Humboldt, W. v. , in: Brockhaus-Enzyklopädie 10, 298. P. Dorfmüller/R. Konetzny (Hg.), Schulpforta, 32003, 129. Er schreibt in diesen Notizen von 1859 vom „Spätherbst“ und von den „Michaelisexcursionstagen“: KGW I 2, 134: 6 [77].
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
dessen Bruder Wilhelm, mit dem primär der Gedanke der Universalbildung verknüpft ist. Er hatte nämlich zu seinem 15. Geburtstag (15. Oktober 1859) von seiner Tante Rosalie das Buch von P. F. H. Klencke ‚Alexander von Humboldt. Ein biographisches Denkmal‘35 geschenkt bekommen. Auch Alexander von Humboldts Perspektive war universell, jedoch stärker auf Reisen und Länderkunde sowie Naturwissenschaften bezogen. So konnte er in diesem Buch, also auch außerhalb des Schulunterrichts, fremde Völker und Länder kennen lernen. Für Nietzsche umfasst ein „innerer Trieb zu universeller Bildung“ – wie er formuliert – „alles andere u. fügt vieles neues hinzu“; in einer Tabelle nennt er Sprachen, Künste, Nachahmungen und Wissen (I 2, 136). Nachdem er unter diesen Rubriken verschiedene Bereiche angeführt hat (z. B. bei den Sprachen: „1. Hebraeisch. 2. Griech 3. Lat<ein> 4. Deutsch. 5. Englisch 6. Französi<s>ch. etc.“), schreibt er zusammenfassend: „und über alles Religion, die Grundveste alles Wissens!“ (Ebd.)36 Diese traditionelle Gläubigkeit, die sich hier am Beginn der Pförtner Zeit noch ausdrückt, sollte gerade durch das Wissen in vielen Fächern, besonders auch über „andere“ Kulturen, nach und nach relativiert werden. Die Universalität der neuhumanistischen Ausbildung hat – trotz ihrer grundlegenden Orientierung an der Antike – auch die Öffnung zu außereuropäischen Kulturen gefördert. Wesentlich war hier die generelle philologische Ausrichtung: im Medium der Sprache sollte die antike Welt erschlossen werden. Wilhelm von Humboldt
_____________ 35 Es war die 2. Auflage, Leipzig 1852; das Buch ist nicht mehr in der
Bibliothek Nietzsches erhalten; vgl. KGB I 1, 82: an seine Tante schreibt er in der zweiten Oktoberhälfte, dass „Humbolds (sic!) Biographie dem Geiste gemundet (hat) und mundet noch immer“; dazu KGB I 4, 100; später hat er diese Biographie Deussen geborgt: vgl. Brief von Deussen an Nietzsche vom 6. 1. 1867 (KGB I 3, 172). 36 Vgl. dazu H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus II/1, 1993, 462ff; H. G. Hödl, „Vom kleinen Stockphilister zum Kritiker der greisenhaften Jugend“, in: Nietzscheforschung 5/6 (2000) 372f.
1. Bildungsziele
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war selbst ein maßgeblicher Sprachwissenschaftler, dessen Studien weit über die klassischen Sprachen hinausreichten37. Und er war, ebenso wie der Begründer der vergleichenden Sprachwissenschaft, Franz Bopp, den er sehr förderte, von Anfang an „von der Wichtigkeit des Sanskrit durchdrungen“38. Die sprachlich akzentuierte, klassisch-philologische Bildung in Pforta konnte so zum Ausgangspunkt auch für außereuropäische Philologien werden, und insgesamt wurde damit eine solide Basis für die Laufbahn eines Gelehrten gelegt. Tatsächlich haben große Gelehrte auch in Fächern der im 19. Jahrhundert neu entstehenden Disziplinen an dieser Schule studiert, wie z. B. der Ägyptologe Lepsius 39 und der Indologe Deussen 40. Letzterer war ein Schulkollege Nietzsches, ebenso wie der spätere scharfe Kritiker von Nietzsches ‚Geburt der Tragödie‘, der Klassische Philologe von Wilamowitz-Möllendorf 41. In Schulpforte studierten auch große Historiker wie Leopold von Ranke sowie bedeutende Philosophen und Dichter (besonders sind hier Klopstock und Fichte zu nennen); tatsächlich zeigt sich aber, dass die Absolventen in allen gesellschaftlichen Berufen, die eine akademische Vorbildung erforderten, tätig gewesen sind42.
_____________ 37 Vgl. sein bekanntes Werk Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java: nebst einer
38 39
40 41 42
Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechtes, 3 Bände, 18361839. E. Windisch, Geschichte der Sanskrit-Philologie und indischen Altertumskunde, Band 1, 1917, 71. Lepsius vollendete Champollions Entzifferungswerk der Hieroglyphenschrift und erhielt 1842 die erste deutsche Professur für Ägyptologie in Berlin; er leitete auch eine Expedition nach Ägypten, vgl. V. Krech, Wissenschaft und Religion, 2002, 107f. Siehe S. 116, Anm. 288. Siehe unten S. 287f. Vgl. K. Gründer (Hg.), Der Streit um Nietzsches ‚Geburt der Tragödie‘, 1969, 27-55. Vgl. als Beispiel die Aufzählung der Studienrichtungen, die die Absolventen zu wählen gedachten, in den Jahresberichten sowie die Nachrufe
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Obwohl in der erwähnten Selbstvorstellung der Schule des Weiteren auch gesagt wird, dass diese „doch keineswegs als eine Verpflegungs-Anstalt für Söhne dürftiger Eltern angesehen werden darf“43, scheint in der Realität doch der soziale Aspekt eine wesentliche Rolle gespielt zu haben. In dem Revisionsbericht von Schulrat Heiland aus dem Jahr 1861 wird die Klage des Rektors von Pforta referiert, „daß viele der Schüler nur geringe wissenschaftliche Befähigung“ hätten; auch der Revisor, der im Namen der Behörde in Magdeburg die Schule überprüft, schließt sich diesem Urteil an und möchte gerade bei den aus sozialen Gründen vergebenen Plätzen die alte Regelung beibehalten: „Es wäre wohl zu wünschen, daß sich ein Modus finden ließe, daß wenigstens in die Königlichen Freistellen nur Knaben aufgenommen würden, die für die wissenschaftliche Laufbahn befähigt sind“, und er fügt lakonisch hinzu: „Für stumpfe Köpfe ist Pforte keine Pflanzstätte“44. Ob es allerdings auch zutrifft, dass Nietzsche primär deshalb an der Landesschule eine Freistelle bekommen hat, weil er einerseits ein Halbwaise und weil andererseits sein verstorbener Vater ein Pastor gewesen ist – und nicht wegen seiner Begabung und Qualifikation, müsste durch eine nähere Erforschung der konkreten Aufnahmebedingungen für diese „Eliteschule“ geklärt werden45. Ohne auf diesen Aspekt näher eingehen zu können, ist den-
_____________ (mit Angabe ihrer beruflichen Tätigkeit, Jahresbericht 1858/59, X) auf die verstorbenen ehemaligen Pförtner Schüler, für die jährlich ein sogenanntes Ecce abgehalten wurde: siehe dazu näher: J. Figl, ‚Tod Gottes‘ und die Möglichkeit ‚neuer Götter‘, in: Nietzsche-Studien 29 (2000) 82101, bes. 85ff: ‚Totenfeiern in Schulpforta‘. 43 Zit. nach R. Bohley, Über die Landesschule zur Pforte (1976) 298. 44 Zit. nach S. L. Gilman, Pforta zur Zeit Nietzsches (1979) 418. 45 Diese Annahme vertritt Th. H. Brobjer, Why did Nietzsche Receive a Scholarship to Study at Schulpforta? (2001) 322-328, bes. 325; als Beleg nennt er das von ihm im Archiv in Pforta aufgefundene „Abgangszeugnis“ Nietzsches von Naumburg, insbesondere die Benotung in zentralen Fächern (Griechisch, Latein), die nur durchschnittlich gewesen sei.
1. Bildungsziele
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noch festzuhalten, dass einerseits Nietzsche im Laufe der Ausbildung seine herausragende Begabung besonders in sprachlichen Fächern (einschließlich des Deutschen) unter Beweis stellte, und dass andererseits die besondere wissenschaftliche Reputation der Schule auch noch zu seiner Zeit gegeben war. Diese lag z. B. gegenüber den Lehrern am Naumburger Gymnasium nicht nur in der formal höheren Qualifikation, die sich im Titel „Doktor“ oder „Professor“ zeigt46, sondern m. E. vor allem in dem Ansehen, das die Publikationen einiger der langjährig in Schulpforta tätigen Professoren in der damaligen akademischen Welt – besonders auch an Universitäten – genossen haben, wie insbesondere die wichtigsten Werke von Koberstein, Steinhart, Corssen u. a., auf die er sich im Lebenslauf anlässlich seiner Berufung als Professor an die Universität Basel namentlich bezieht47. Die Begegnung mit solchen Lehrern brachte für Nietzsche schon im Gymnasium eine Auseinandersetzung mit anspruchsvollen wissenschaftlichen Fragen, die des Weiteren eine erste Brücke zu außereuropäischen Sprachen und Kulturen eröffnet haben. 1.2.2. Literatur über außereuropäische Kulturen (insbesondere „Orientalia“) und sprachwissenschaftliche Schwerpunkte Ein Zeugnis für die Offenheit gegenüber der wissenschaftlichen Beschäftigung mit „fremden“ Kulturen stellt die Bibliothek dar48, deren Neuerwerbungen (unter Lehrapparat) im Jahresbericht der Schule jeweils ausgewiesen wurden. „Vor allem im 19. Jahrhundert erreichten die Bestände eine Qualität, die weit über den Rahmen einer Gymnasialbibliothek hinausging. Die Bibliothek umfasst heute ca. 80.000 Exemplare, darunter kostbare Erstausgaben
_____________ 46 Vgl. dazu Th. H. Brobjer, Nietzsche’s Education at the Naumburg
Domgymnasium 1855-1858 (1999) 311. 47 Vgl. unten S. 106ff; 119ff; 128ff. 48 Vgl. dazu grundlegend: P. Dorfmüller, Zur Geschichte der Bibliothek
Schulpforte, 2001.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
von Kopernikus, Galilei und Tycho de Brahe“49. Der reiche Bestand hängt mit der Qualität der Ausbildung zusammen: „Hier machte sich natürlich auch positiv bemerkbar, dass der Staat von Anfang an sehr interessiert daran war, möglichst nur hervorragende Gelehrte als Lehrer in den Landesschulen einzusetzen, denn ihr wissenschaftliches Niveau und Interesse spiegelt sich auch in den Beständen wider“50. Diese Bibliothek war Lehrern und Schülern an bestimmten Tagen zugänglich. Von Nietzsches Entlehnungen in Prima (1863/64) sowie aus seiner Zeit als Student und später als Professor (anlässlich von Ferienaufenthalten in Naumburg, 1865-1879) liegt ein veröffentlichtes Verzeichnis vor51. Im vorliegenden Zusammenhang ist von Interesse, dass in der Bibliotheca scholae Portensis eine eigene Abteilung Orientalia anzutreffen ist. Unter „Orientalismus“ verstand man zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als dieser Begriff eine lexikalische Verbreitung fand, „zunächst das Studium des gesamten, des Nahen und Fernen Ostens“52. Das Bestandsverzeichnis aus dem 19. Jahrhundert umfasst eine zwar nicht sehr große, aber doch beachtliche Anzahl von ausgewählten Werken zu orientalischen Sprachen und Kulturen, z. B. des Arabischen und Ägyptischen, aber auch Foliobände und frühe Veröffentlichungen zum Islam vom 17. bis zum 19. Jahrhundert53. Die Einbeziehung orientalischer Kulturen und Religio-
_____________ 49 P. Dorfmüller/E. Kissling, Schulpforte, 2004, 74. 50 Ebd. 51 M. Oehler, Nietzsches Bibliothek, 1942: Anhang, 45-55; hier sind die philo-
logischen Schriften aufgenommen; eine Vervollständigung dieser Angaben wäre wünschenswert! 52 G. Endreß, Einführung in die islamische Geschichte, 1982, 20f. Zur Eurozentrik und der daraus resultierenden Problematik des Begriffs „Orient“ im 19. Jahrhundert vgl. grundlegend E. W. Said, Orientalism, 1978 (dt. 1979). 53 Z. B. A. Hinckelmannus, Lex Islamitica Muhammedis filii Abdallae pseudoprophetae, 1694; M. Wolff, El-Senusi’s Begriffsentwicklung des muhammedanischen Glaubensbekenntnisses, Arabisch und Deutsch, 1848.
1. Bildungsziele
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nen ist ebenso in anderen Abteilungen der Bibliothek gegeben, wie insbesondere in der Altertumswissenschaft. Unter dieser Rubrik werden unter anderem sprachvergleichende Werke und Zeitschriften angeführt, darunter auch solche, die für die entstehende Religionswissenschaft wichtig waren. So wurde z. B. regelmäßig die ‚Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft‘ erworben54; ebenso die ‚Zeitschrift fuer vergleichende Sprachforschung‘ von Adalbert Kuhn 55, zu deren Mitarbeitern führende Sprachwissenschaftler gehörten, unter ihnen Max Müller 56; ferner Werke wie die ‚Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Send, Armenischen, Griechischen, Lateinischen, Litauischen, Altslavischen, Gothischen und Deutschen‘ von Franz Bopp 57, dann das ‚Sanskrit-Wörterbuch‘, bearbeitet von Böhtlingk und Roth 58, die Bände des berühmten Werkes von Christian Lassen ‚Indische Alterthumskunde‘ (Berlin 1852) sowie das ‚Verzeichnis der Sanscrithandschriften von Dr. Weber, mit 6 Schrifttafeln‘ (Berlin 1853)59 und von demselben Autor als Privatdozenten des Sanskrit in Berlin ‚Ueber den Zusammenhang Indischer Fabeln mit Griechischen‘ (Berlin 1855) sowie ‚Eine Legende des CataparthaBrahmana‘ (1855)60. Aus diesen Verzeichnissen ergibt sich, dass die religions- und sprachwissenschaftlichen Kenntnisse der Zeit über den Orient, einschließlich Indiens, in Pforta zumindest präsent waren und im Prinzip angeeignet werden konnten. Noch
_____________ 54 55 56 57 58 59 60
Ebenso die frühe Schrift von Th. Hyde, Historia religionis veterum Persarum, eorumque magorum (…), 1700. Vgl. z. B. Jahrgänge 5ff (1852ff). Vgl. dazu die Jahresberichte 1854f, 1857, 1859f. Vgl. Jahrgang 1858 und 1861/62. Gesamtregister der ersten zehn Bände 1862/63, XVII. Vgl. Verzeichnis der bisherigen Mitarbeiter im Jahrgang 8 (1859) IV. 2. Ausgabe, Band 1-3, Berlin 1857-1861, vgl. Jahresbericht 1861/62, XVI. St. Petersburg, Theil 1-3, 1855-1861, vgl. Jahresbericht 1861/62, ebd. Vgl. z. B. Jahresbericht 1853, XVI; 1861/62, XVII. Vgl. Jahresbericht 1855, XVI.
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viele weitere einschlägige Titel über östliche Kulturen und Sprachen enthält der Bestandsnachweis der Bibliothek aus dem 19. Jahrhundert, der heute noch eingesehen werden kann. Daneben gab es noch eine eigene Schülerbibliothek, deren Bestand für die Zeit, als Nietzsche dort studierte, nur lückenhaft zu rekonstruieren ist. Diese Schülerbibliothek war aus der seit 1570 bestehenden Bibliothek im 19. Jahrhundert als eigene Abteilung hervorgewachsen; ab 1836 gab es in Schulpforta dafür einen eigenen Raum – zunächst als Deutsche Lesebibliothek gedacht, dann (noch im selben Jahr) als Hülfsbibliothek für Alumnen gegründet; Letztere diente zur Unterstützung der Studien und war für ärmere Schüler gedacht61. Verantwortlich dafür und wesentlich beteiligt an dieser Entwicklung war Karl August Koberstein, der seit 1820 (vor allem) Deutsch an der Schule unterrichtete und später zu einem der einflussreichsten Lehrer Nietzsches werden sollte. Aus Kobersteins Nachlass befinden sich wichtige Werke in der Bibliothek, die zeigen, wie eng die Professoren mit den wissenschaftlichen Entwicklungen ihrer Zeit vernetzt waren – auch in persönlicher Hinsicht. Er war nicht nur mit den Brüdern Grimm 62 und mit Karl Lachmann, dem Herausgeber der Nibelungen, befreundet63, sondern er stand auch in Kontakt mit Christian Carl Josias Bunsen, dem großen Förderer von Max Müller. Müller widmet diesem als seinem „Freund und Wohlthäter“ den ersten Band seiner ‚Essays‘, ‚Beiträge zur vergleichenden Religionswissenschaft‘, der 1869 auf Deutsch erschienen ist. Bunsen hat schon 1849 Koberstein handschriftlich drei Beiträge64 als Sonderdruck gewidmet65;
_____________ 61 Vgl. C. Kirchner, Die Landesschule Pforta in ihrer geschichtlichen Entwicklung,
1843, 111, vgl. 140; für den Hinweis auf diese Zusammenhänge danke ich Frau Petra Dorfmüller, Bibliothekarin in Schulpforta. 62 So gibt es eine Widmung von Jacob Grimm an seinen „Freund Koberstein“: ABLS Msc. B. 193: Mss. Kobersteins, Mp 4. 63 Siehe unten S. 91, Anm. 212. 64 Ch. Bunsen/Ch. Meyer/M. Müller, Three Linguistic dissertations, 1848, 254-350. Zur Zusammenarbeit von Müller und Bunsen vgl. E. Win-
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dieser enthält auch eine Abhandlung von Müller, der darin auf die indogermanistischen Forschungen der Zeit, auf die klassische indische Literatur, auf die Zend-Sprache und auf Pali-Inschriften und im Zusammenhang damit auf die Lehre Buddhas eingeht66. Bunsen selbst legt den Schwerpunkt auf die Bedeutung der neueren ägyptologischen Studien für die Klassifikation der Sprachen, wobei er ausführlich auf den Ägyptologen Lepsius eingeht, der, wie erwähnt, selbst ein Pförtner Schüler war67. Mit diesen Hinweisen auf Bücher in der Bibliothek und von Lehrern Schulpfortas soll kein direkter Bezug zu Nietzsches Kenntnissen über außereuropäische Kulturen hergestellt werden, aber sie vermögen zu zeigen, dass an diesem Gymnasium ein geistiges Klima bestanden hat, in dem eine literarische Begegnung mit nichtchristlichen Religionen und Kulturen möglich war. Dass das Interesse für orientalische Sprachen und Kulturen vermutlich auch in manchen der Gymnasiasten geweckt wurde, zeigt z. B. die Studienwahl Paul Deussens, des berühmten Mitschülers und Freundes Nietzsches, der ab den ersten Semestern in Bonn Sanskrit-Studien betrieben hat68. Das umfassende Wissen der Lehrer von Pforta war somit nicht nur die beste Vorbereitung für ein Studium der Philologie,
_____________ 65 66
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disch, Geschichte der Sanskrit-Philologie und indischen Altertumskunde, Teil 2, 1920, 285f. Vgl. das Exemplar mit Widmung an K. A. Koberstein in der Bibliothek Pforta (aus dem privaten Besitz Kobersteins, wie das Exlibris zeigt). Vgl. M. Müller, On the Relation of the Bengali to the Arian and Aboriginal Languages of India, in: Ch. Bunsen/Ch. Meyer/M. Müller, Three Linguistic dissertations, 1848, 319-350, bes. 326, 329f. Vgl. S. 29, Anm. 39. Ch. Bunsen, On the results of the recent Egyptian researches in reference to Asiatic and African ethnology, and the classification of languages, in: Ch. Bunsen/Ch. Meyer/M. Müller, Three Linguistic dissertations, 1848, 254-299, bes. 273f; zu den damals neueren Resultaten der Indogermanistik, vgl. a. a. O., 255ff. Vgl. KGB I 3, 75: Brief Deussens an Nietzsche vom 2. Februar 1866, und P. Deussen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, 1901, 21.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
sondern vermittelte wohl auch eine Erstbegegnung mit Vorstellungen östlicher Religionen und Philosophien69, sodass die Konfrontation mit dem Denken Asiens, insoweit sie an der Universität stattfand, Nietzsche nicht völlig unvorbereitet traf. Für die Schüler selbst war in einer Reihe von Unterrichtsfächern, deren Inhalte z. T. aus den Jahresberichten zu ersehen sind, die Möglichkeit gegeben, zumindest in Ausschnitten Aspekte nicht nur vergangener, sondern auch zeitgenössischer außereuropäischer Kulturen und Religionen kennen zu lernen. Hinzu kommt in den höheren Klassen, dass freien Ausarbeitungen von Themen (besonders in Deutsch) ein großer Platz eingeräumt wurde – bis hin zu eigenen Gedichten, die manchmal bei Schulfeiern öffentlich vorgetragen werden konnten70. Der selbständigen Beschäftigung mit unterrichtsrelevanten Themen ist in Pforta offenbar ein großer Stellenwert beigemessen worden. In allen diesen Bereichen konnte Nietzsche außereuropäische Religionen und Kulturen wenigstens in Aspekten kennen lernen. Inwieweit das tatsächlich geschehen ist, muss detailliert nachgewiesen werden. Eine wesentliche Hilfe für die Eruierung der „Quellen“, aus denen Nietzsche religionskundliche Kenntnisse vermittelt bekommen konnte, bilden die Jahresberichte dieses Gymnasiums. Die Jahresberichte der Landesschule sind ähnlich strukturiert wie die Schulnachrichten der Domschule. Auch der Inhalt der Lehrpläne ist – bis auf kleine Differenzen – derselbe. Auf solche Unterschiede, die einige Eigentümlichkeiten des Lehrbetriebes in Pforta zeigen, sei kurz hingewiesen. Im Prospekt der Jahresberichte wird bei der Lehrverfassung zuerst der „Unterricht in Sprachen und Wissenschaften“ gemeinsam aufge-
_____________ 69 Vgl. E. Schmidt, Art. Koberstein, A. (K.), in: Allgemeine Deutsche Biogra-
phie 16, 360-362. 70 Vgl. z. B. Jahresbericht 1859/60, X: „theils selbst gefertigte Gedichte“;
1861/62, XVIIf: Ordnung der Schulfeier, bei der Nietzsche ‚Ermanarichs Tod‘ vorträgt; in Deutsch waren unter den Aufgaben zu freien Ausarbeitungen z. B. „metrische Versuche zu einer beliebigen Sage“ möglich, oder überhaupt die „freie Wahl eines Themas“: Jahresbericht 1861/62, V.
1. Bildungsziele
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zählt (ebenso mit „Religion“ beginnend), dann der „Unterricht in den Künsten“, bei denen Musik und Gesang, Zeichen- und Schreibunterricht und schließlich – vor den gymnastischen Übungen – der Tanzunterricht genannt werden71. Bezüglich der Aufteilung der Stunden bemühte sich der Revisionsbericht von 1861 um eine Reduzierung der Lektionen, da durch diese „das freie Privatstudium (…) wesentlich eingeengt wird“; insbesondere wird der Deutschunterricht in Tertia reduziert (von 3 auf 2 Stunden), auch „sollen geschichtlich-geographische Lektionen in Untertertia künftig nur 4 sein statt der bisherigen 5“. Im Gegensatz dazu wird befürwortet, „daß in Prima 10 lateinische Stunden statt der gesetzlichen 8 der Landesschule als ein Praecipuum gelassen werden“72. Der Überblick über die gesamten Lehrgegenstände, in denen Nietzsche in Schulpforta unterrichtet wurde, weist insgesamt – außer den „künstlerischen“ Fächern – 197 Stunden aus, von denen knapp mehr als die Hälfte für die beiden klassischen Sprachen vorgesehen waren: 99 (63 Latein, 36 Griechisch). Die solide, in Naumburg schon grundgelegte Ausbildung in Latein macht es
_____________ 71 „Dieser Unterricht wird während der 6 Wintermonate vom October bis
März, auf welche er zur Zeit beschränkt ist, von dem Tanzlehrer Bartels aus Naumburg in 12 wöchentlichen Lehrstunden ertheilt. Sämmtliche Zöglinge sind in 12 Abtheilungen gebracht, von denen jede wöchentlich eine Stunde hat. Die Uebungen sind nach einer methodischen Stufenfolge vom Leichteren zum Schwereren geordnet, wobei in den untersten Abtheilungen die Regeln des äussern Anstandes in der Haltung und den Bewegungen des Körpers, als Grundlage des gesammten Tanzunterrichts, gelehrt und eingeübt werden“ (Jahresbericht 1858/59, IV). Die Ausbildung darin dürfte gut gewesen sein – in Halle wurden die ehemaligen Zöglinge von Pforta „als die geschicktesten Turner und als die feinsten Tänzer“ bezeichnet (C. L. Peter, Erklärung, in: Berliner Blätter für Schule und Erziehung, 7. März 1861, Nr. 10, 80). Zur Thematik des Tanzes bei Nietzsche vgl. z. B. sein bekanntes Wort von einem „Gott (…), der zu tanzen verstünde“ (KGW VI 1, 45); siehe dazu J. Figl, Religionen in der Moderne (2001) 67. 72 Zit. nach S. L. Gilman, Pforta zur Zeit Nietzsches (1979) 412.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
verständlich, dass Nietzsche diese Sprache auch im mündlichen Ausdruck gut beherrschte, wie sein Reifezeugnis bestätigt73. Die Konzentration auf die klassischen Sprachen der europäischen Kultur war ohne Zweifel grundlegend. Diese bildeten, wie im Folgenden begründet wird, dennoch eine Basis, um im Kontext der vergleichenden Philologie auch außereuropäischen Kulturen begegnen zu können; eine wesentliche Rolle spielte zudem der Deutsch- und Geschichtsunterricht, der die komparative Dimension hinsichtlich der indogermanischen Sprachen thematisierte und erste Informationen über Sanskrit und Zend, die Sprachen der heiligen Schriften des Hinduismus (sowie Buddhismus) und Zoroastrismus, vermittelte. 1.2.3. Antike und Orient – Alternativen zur „Christlichkeit einer Schule“? Noch immer wichtig für die Darstellung der christlichen Ausrichtung von Schulpforta ist die unveröffentlichte Arbeit von Reiner Bohley über ‚Die Christlichkeit einer Schule. Schulpforte zur Schulzeit Nietzsche’s‘74. Das Internat und die Schule hatten im Tagesablauf einen klösterlichen Charakter: die Neuankömmlinge wurden als „Novitien“ bezeichnet, der Tag begann mit einer Morgenandacht und hatte weitere feste Gebetszeiten, wie vor dem Essen im „Refektorium“, und ebenso war eine Abendandacht vorgegeben. Der schon erwähnte Revisionsbericht beklagt, dass die Professoren nicht am Morgengebet teilnähmen – nicht einmal der „geistliche Inspektor“ Niese. Zudem fehle in dessen Unterricht, in Religion (!), „das geistliche Gepräge“ – im Unterschied zu Professor Buddensieg, der aber die Schüler „zu wenig in das Alte Testament
_____________ 73 Vgl. Goethe-Schiller-Archiv in Weimar, GSA 71/361, 2; schon
mitgeteilt von E. Förster-Nietzsche, Der junge Nietzsche, 1912, 134. 74 Der Dokumentationsteil dazu ist publiziert: R. Bohley, Über die Landes-
schule zur Pforte, in: Nietzsche-Studien 5 (1976) 298-320.
1. Bildungsziele
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einführt“75. Buddensieg war ein Lieblingslehrer Nietzsches, über dessen Tod er sehr betrübt war76. Bei einigen Professoren ist eine gewisse liberale Haltung gegenüber der religiösen Praxis an der Schule gegeben. Die Anregungen von Seiten der vorgesetzten staatlichen Stellen mögen wenig genutzt haben. Und es trifft wohl auch nicht – wie Bohley zu Recht annimmt – die Aussage Heilands zu, der 1862 in einem Lexikon-Artikel schreibt, dass es im altsprachlichen Unterricht in Schulpforta zu einer „Vergleichung des Heidenthums mit dem Christenthum“ gekommen sei, und dass die „altclassische Bildung“ als „Vorstufe zur christlichen Wahrheit“ zur Sprache gekommen sei77. Vielmehr dürfte sich in Schulpforta eine Problematik gezeigt haben, die der dort langjährig wirkende Professor Niese schon eineinhalb Jahrzehnte zuvor mit der Frage formuliert hatte: „Wie können wir das Christenthum über Alles setzen und uns doch an den Werken des klassischen Alterthums erfreuen und sie uns zu Mustern der Nachahmung dienen lassen?“78 Dies war eine grundlegende Fragestellung, die zu Nietzsches Zeit eine wohl noch größere Brisanz bekommen hatte: die antike Kultur als Bildungsideal konnte auch als Alternative zum Christentum verstanden werden. Zu dieser seit der Zeit des Humanismus gegebenen Perspektive kam im 19. Jahrhundert eine weitere dazu, die den Alleingeltungsanspruch des Christentums im Prinzip relativieren konnte, nämlich die „orientalische“ Welt, besonders die Religionen Indiens. Die „Orientalia“ hatten nicht allein in der Bibliothek von Schulpforta eine gewisse Bedeutung, sondern solche Wissensinhalte wurden in einer Reihe von Unterrichtsfächern transportiert.
_____________ 75 Zit. nach S. L. Gilman, Pforta zur Zeit Nietzsches (1979) 410. 76 Vgl. KGB I 1, 169f: Brief an die Mutter vom 20. August 1861; vgl. dazu
Jahresbericht 1861/62, X. 77 Zit. nach R. Bohley, Die Christlichkeit einer Schule, 1974, 135. 78 Jahresbericht 1840, XI. Zu den Problemen, die sich aus dem Verhältnis
von klassischer Bildung und christlichem Glauben ergeben konnten vgl. R. Bohley, a. a. O., 15ff, 24 und 56-62.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Es ist unzweifelhaft, dass die Klassische Philologie das Zentrum der Studien an dieser Schule geblieben ist; aber nicht zuletzt aufgrund der breiten, auch komparativ-philologischen Kompetenz einiger Lehrer, war eine Öffnung hin zu außereuropäischen Sprachen, Kulturen und Religionen nicht nur möglich, sondern als Konsequenz einer vergleichenden Sprachwissenschaft naheliegend.
2. „Rassen“ und Religionen – diskriminierende Darstellungen in Schulbüchern
2. „Rassen“ und Religionen 2.1. ‚Anfangsgründe der Erd-, Völker- und Staatenkunde‘ – ein Naumburger Geographie-Schulbuch Das Unterrichtsfach Geographie hatte – als Erdkunde – die Aufgabe, grundlegende Informationen über den Globus zu vermitteln. Hier war der wohl prominenteste Ort, um „andere“ Kulturen der Gegenwart kennen zu lernen; es war ein weiter Horizont, der eröffnet wurde, wenngleich die Enge der Urteile über ferne Länder diese Weite grundlegend einschränkte; denn in den Schulbüchern, die Nietzsche verwendete, herrschte eine stark eurozentrische Sicht vor. Aus den Angaben in den Naumburger Schulnachrichten kann für die Jahre, in denen Nietzsche dort studierte, entnommen werden, dass in Quinta „die erste Lehrstufe in dem geographischen Lehrbuche von Roon 2 Stunden“ Gegenstand des Faches war, und in Quarta die zweite Lehrstufe in „Roon’s geographischen Lehrbuche 3 St.“. Für Untertertia allerdings (Nietzsche war aber nur bis zum Ende des Sommersemesters in Naumburg) wird ein anderes Lehrbuch genannt: „Repetition des 3. und 4. Buches in Daniel’s Lehrbuch der Geographie. Alte Geographie des römischen Reichs“. Ab 1858/59 ist unter den eingeführten Lehrbüchern in allen
2. „Rassen“ und Religionen
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Schulstufen „Daniel, Lehrbuch der Geographie“79 angeführt – nicht mehr „Roon“80, der im Schuljahr davor noch in allen Schulstufen von Quinta bis Prima verwendet wurde81; in früheren Jahren hingegen war für Tertia die „erste Hälfte der dritten Lehrstufe in Roon’s geographischen Lehrbuche nebst Repetition der beiden ersten Curse“ vorgesehen82. Der Titel des Lehrbuches für Geographie von Albrecht von Roon lautete: ‚Anfangsgründe der Erd-, Völker- und Staatenkunde. Ein Leitfaden für Schüler von Gymnasien, Militair- und höheren Bürgerschulen. Für einen stufenweisen Unterrichtsgang berechnet und entworfen von Albrecht von Roon. Drei Abtheilungen‘. Für Militärschulen war das Buch zunächst gedacht; Roon selbst hatte eine militärische Laufbahn absolviert: er war preußischer Feldmarschall, später (1859) wurde er Kriegsminister83, 1873 preußischer Ministerpräsident. Die drei Abteilungen waren in den ersten Auflagen auch gesondert zu kaufen, wobei die Seiten jeweils neu nummeriert waren. In den späteren Auflagen jedoch, von denen Nietzsche offenbar eine benutzt hat, gab es eine durchgehende Seitenzählung, und die drei Teile waren in einem Buch gebunden84. Die Dreiteilung ergibt sich aus der Absicht, unter verschiedenen Gesichtspunkten die geographischen Räume der Erde darzustellen, nämlich unter einem topischen, einem physikalischen und einem ethnogra-
_____________ Vgl. dazu unten S. 46. Vgl. Schulnachrichten 1858/59, XIII. Vgl. Schulnachrichten 1857/58, VIII. Vgl. Schulnachrichten 1855/56, III, und 1856/57, III; 1857/58, III; jedoch nicht mehr – wie gesagt – 1858/59, d. h. ab Ostern 1858, als Nietzsche diese Klasse besuchte: vgl. Schulnachrichten 1858/59, II und VIII: Die eingeführten Lehrbücher. 83 Vgl. Vorwort zur 1. Auflage, in: 11. Auflage 1860, III. 84 Hier wird die 11. Auflage von 1860 verwendet, die durchgehend nummeriert war; ebenso trifft dies für die 10. Auflage von 1856 zu. 79 80 81 82
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
phisch-statistischen 85. Die topische Geographie, die erste Lehrstufe, stellt die verschiedenen Regionen der Erde ausschließlich nach ortsbezogenen Aspekten dar: es werden die Regionen, Länder und Meere geschildert. In der physikalischen Geographie geht es z. B. um Themen wie die Erwärmung der Erde, die Atmosphäre, der Ozean, die Niederschläge und dergleichen, auch um Flusssysteme, die nach den einzelnen Kontinenten dargestellt werden. Die dritte Lehrstufe umfasst Völker- und Staatenkunde, wobei die Völker, deren ethnische Zusammensetzung, auch die Religionen und Sprachen behandelt werden. Nietzsche aber hat diesen Bereich höchstwahrscheinlich nicht mehr aus Roons Schulbuch kennen gelernt, denn der Teil III, der die ethnographisch-statistischen und auch religionsbezüglichen Ausführungen beinhaltet, wäre für Tertia vorgesehen gewesen; doch wurde in dem Jahr, als Nietzsche in dieser Schulstufe war, ein neues Geographie-Lehrbuch in Naumburg eingeführt, nämlich jenes von Daniel. So sind alle Belegstellen aus Roon, die in Nietzsches Schulnotizen erhalten sind, aus den Teilen I und II entnommen. Dies entspricht auch dem Lehrplan in Naumburg. Aus Roon bzw. im Anschluss an die Darstellung von Roon im Unterricht finden sich einige Mitschriften bei Nietzsche86, z. B. ein Überblick über die Kontinente, über „die alte Welt, zu welcher Europa Asien Afrika geh[r]ören, und die neue Welt, zu welcher Amerika und Australien“ zu zählen sind (KGW I 1, 324: 1A [13]). Die geographische Abgrenzung Asiens sowie der Zusammenhang mit Europa werden näher geschildert (vgl. 326: 1A [16]). Aus Roon hat Nietzsche auch im Schönschreibunterricht einige Texte ausgewählt, wie er selbst angibt87; z. B. finden sich im Schön-
_____________ 85 Vgl. A. von Roon, Anfangsgründe der Erd-, Völker- und Staatenkunde, 1860. 86 Zu KGW I 1, 324: 1A [13] vgl. A. von Roon, a. a. O., 6, und zu 1A [14]
vgl. a. a. O., 14f. 87 GSA 71/13: K II 55, p. 17. Die Transkription des Schönschreibheftes
hat Hans Gerald Hödl im Hinblick auf den Nachbericht zu Abteilung I der KGW durchgeführt.
2. „Rassen“ und Religionen
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schreibheft Texte, die das Plateau von Dekan darstellen88. Unmittelbar vor diesen exzerpierten Stellen ist im Buch von Roon von Arabien die Rede: über die Terrassenlandschaften der Randgebirge, namentlich im Westen, wird gesagt, dass diese Gegend „von jeher das glückliche Arabien (heute Jemen) genannt wurde“ und hinzugefügt: „Im N(orden) desselben die Landschaft Hedschas, das heilige Land der Muhamedaner“89. Auf der nächsten Seite wird das „hinter-indische Gebirgsland“ behandelt, und im Gefolge davon kommen Hindustan, der Ganges und Indus sowie „das sogenannte Pendschab (d. i. Fünf-Strom-Land)“ zur Sprache. Von dieser Seite hat Nietzsche den dort folgenden Text (über Mesopotamien) in Schönschrift abgeschrieben. Aus diesem Textbefund würde sich ergeben, dass Nietzsche keine direkte Kenntnis der nichtchristlichen Religionen durch das Roon’sche Lehrbuch im Unterricht erhalten hat, wenngleich es ihm prinzipiell möglich war, die diesbezüglichen Teile darin selbst zu lesen. Die von Nietzsche ausgewählten Stellen zeigen aber, dass er mit jenen Weltregionen vertraut gemacht wurde, in denen der Islam, der Hinduismus und der Buddhismus anzutreffen waren; jedoch fand in diesen Teilen des Lehrbuches keine direkte Wissensvermittlung über die betreffenden Religionen statt. Dies hängt zusammen mit dem erwähnten Aufbau von Roons Werk. Im Folgenden ist daher Roon nur insofern zu berücksichtigen, als der dritte Teil seines Lehrbuches Wissensinhalte über „andere“ Kulturen vermittelt, die, da dieses Lehrbuch eine große Verbreitung hatte, für die Schulpädagogik der damaligen Zeit repräsentativ sind. Dieser Bekanntheitsgrad hängt mit einem größeren Werk des Autors zusammen, nämlich mit den ‚Grundzügen der Erd-, Völker- und Staatenkunde‘90, auf das er in seinem Schulbuch z. B. „in Betreff
_____________ 88 Vgl. ebd. 89 A. von Roon, Anfangsgründe der Erd-, Völker- und Staatenkunde, 1860, 134. 90 3 Bände, 1832; 3. Auflage 1847-1855.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
der Charakteristik und Würdigung der verschiedenen Religionen“ verweist91. Wie erwähnt, behandelt das Lehrbuch von Roon auf der dritten Lehrstufe die „Völker- und Staatenkunde“. Nach statistischen Angaben, die von 1.000 Millionen Menschen weltweit ausgehen, wird Asien als der bevölkerungsreichste Kontinent genannt (570 Millionen), dann Europa (276 Millionen) und schließlich die anderen Kontinente. Europa gilt als der am dichtesten besiedelte Kontinent92. Der eurozentrische Aspekt der Ausführungen in Roons Lehrbuch zeigt sich recht deutlich im Abschnitt über Europa. Lebensweise und ökonomische Entwicklung hätten dahin geführt, dass „die geistige Entwicklung der Europäer der aller anderen Völker der Erde überlegen“ ist, und es kommt zu der in ihrer undifferenzierten Eurozentrik kaum überbietbaren Aussage: „Europäisch und NichtEuropäisch sind Gegensätze geworden, wie Gebildet und Roh“; es wird noch hinzugefügt, dass infolge dieses Verhältnisses der kleinste Erdteil die Welt beherrsche93. Gerade in diesem Zusammenhang sollte man sich erinnern, dass der Verfasser dieses Schulbuches hohe militärische Funktionen innegehabt und als Lehrer in der Kadettenausbildung gewirkt hatte. Diese Ausführungen vermitteln einen Einblick in die rassistisch und eurozentrisch akzentuierte Sicht der „anderen“ Völker. Der okkupative missionarische Anspruch und die Überlegenheit des Christentums sowie auch die damit zusammenhängende Kolonisation werden mit weltweitem hegemonialem Anspruch vertreten. Das Christentum trage „im Gegensatz zu jeder Art von Heidenthum die Fähigkeit der Weltverbreitung in sich“94. Roon geht von einer undifferenzierten Überlegenheit des Christentums aus: das
_____________ 91 A. von Roon, Anfangsgründe der Erd-, Völker- und Staatenkunde, 1860, 205,
Anmerkung. 92 Vgl. a. a. O., 195. 93 A. a. O., 21. 94 A. a. O., 204, vgl. 206.
2. „Rassen“ und Religionen
45
Christentum sei „die Offenbarung des wahren und einzigen Gottes durch Jesum Christum“95. Nach Roon drückt sich auch in der Religion, nicht nur in der Sprache und in der Lebensweise, das „innere Leben, der Charakter der Völker“ aus. Die Religion wird dabei verstanden als die Art und Weise, wie „er (scil. der Mensch; J. F.) sein Verhältniß zu Gott auffasst“. Zunächst werden – beginnend mit dem „Heidentum“ – die großen Gruppen von Religionen vorgestellt: es werden das Judentum, das Christentum und „die Lehre Muhamed’s, der Islam“, genannt. Dabei wird eine „Urmonotheismusthese“ als selbstverständlich angenommen, denn die „heidnischen“ Religionen haben „die Idee der Einheit Gottes“ aufgegeben und deswegen werden sie „polytheistische Religionen“ genannt, während „die jüdische oder die mosaische, die christliche und muhamedanische Religion“ als monotheistische zusammengefasst werden. Beim Islam werden die zwei „Haupt-Partheien: Sunniten und Schiiten“ genannt sowie die Tatsache von siebzig verschiedenen kleineren „Sekten“. Das Urteil über die Zukunft der nichtchristlichen Religionen, auch über das Judentum und den Islam, ist sehr negativ96.
_____________ 95 A. a. O., 204. 96 Vgl. ebd. und a. a. O., 206. Es wird eine Statistik der großen Religionen,
nach Erdteilen unterschieden, abgedruckt, die sich nur geringfügig von jener bei Daniel unterscheidet. Vgl. H. A. Daniel, Lehrbuch der Geographie, 1857 (BN), 43, wo folgende Zahlen angeführt werden: Juden (3-4 Millionen), Christen (350 Millionen), „Muhammedaner“ (über 200 Millionen), Polytheisten bzw. „Heiden“ (über 600 Millionen), wobei zu Letzteren auch die Anhänger des „Buddhaismus“ und „Bramaismus“ gezählt werden. Im Geographiebuch von Voigt (vgl. dazu unten S. 50f) werden 15 Jahre zuvor (1842) folgende Zahlen genannt (in Millionen): jüdische Religion 3, christliche 270, „muhammedanische“ 138, „brahmanische“ 117, „buddhaistische“ 230, andere „heidnische“ 119, zusammen 877 Millionen.
46
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Das Geographie-Lehrbuch von Daniel 97 wurde in Naumburg neu eingeführt, als Nietzsche in Untertertia kam (Ostern 1858). Im Hinblick darauf hat sich Nietzsche das Buch am 16. Februar 1858 gekauft (vgl. KGW I 1, 215: 4 [8]). Dieses ‚Lehrbuch der Geographie für höhere Unterrichtsanstalten‘ (Halle 1857) von Hermann Adalbert Daniel ist noch heute in der Bibliothek Nietzsches erhalten; darin finden sich auch einige Anstreichungen – allerdings fast ausschließlich in dem Teil über Europa98. Dies hängt offenbar damit zusammen, dass damals in Nietzsches Klasse das 3. und 4. Buch behandelt wurden, in denen es um Europa und um Deutschland geht; die „außereuropäischen Erdtheile“ werden schon im 2. Buch behandelt. Insgesamt ist auffallend, dass der Teil über Europa und Deutschland mehr als doppelt so umfangreich ist als jener über alle nichteuropäischen Erdteile zusammen. Dem eurozentrischen Blickwinkel korrespondiert das absolute und universalistische Selbstverständnis des Christentums als der „vollkommenste(n) Religion“, die Missionare „unter die nichtchristlichen Völker“ ausschickt99. Die Darstellung der nichtchristlichen Religionen entspricht in etwa jener bei Roon, jedoch zeigt sich das Überlegenheitsgefühl weniger in einer pauschalen Untergangsperspektive für die „anderen“ Religionen, sondern in einer Sicht, die mit dem missionarischen Anspruch einhergeht. Den außereuropäischen Kulturen und Religionen dürfte Nietzsche primär im Rahmen des Geographieunterrichts in Unter-
_____________ 97 Daniel hat später – von 1859 bis 1863 – ein dreibändiges ‚Handbuch der
Geographie‘ (Frankfurt a. M.) veröffentlicht, das allerdings populärer Natur war und – wie schon bald nach seinem Erscheinen gesagt wurde – „im einzelnen nicht immer verläßlich ist“ (Art. Erdkunde, in: Meyers Konv.-Lexikon 5, 761). 98 Zu H. A. Daniel, Lehrbuch der Geographie, 1857 (BN) vgl. G. Campioni u. a. (Hg.), Nietzsches persönliche Bibliothek, 2003, 176; dazu Th. H. Brobjer, Chronological Listing of Nietzsche’s Reading and Library 1856-1858 (Appendix B), in: Nietzsche-Studien 28 (1999) 321. 99 H. A. Daniel, a. a. O., 43.
2. „Rassen“ und Religionen
47
tertia in Schulpforta begegnet sein, in der Asien, Afrika, Amerika und Australien den Lehrstoff bildeten. 2.2. Die „außereuropäischen Erdteile“ und die Grundeinteilung der Religionen 2.2.1. „Menschenracen“ Wie erwähnt, hat Nietzsche die nichteuropäischen Erdteile in Schulpforta im Geographieunterricht durchgenommen; dort war für das Sommersemester 1859, also in Untertertia, im Lehrplan „Physische und politische Geographie von Asien, Afrika, Amerika, Australien“100 vorgesehen. Das war nach den Pförtner Lehrplänen das letzte Jahr, wo Geographie separat angeführt wurde (2 Stunden, neben 3 Stunden Geschichte); die Lehrinhalte wurden in den Folgejahren nur noch für Geschichte angegeben, obwohl in der „Übersicht der Lehrgegenstände“ die Fächer „Geographie und Geschichte“ (3 Stunden) stets gemeinsam genannt sind101. Gegen Ende dieses Semesters – genau am 8. August 1859, wie er in seinen tagebuchartigen Notizen festhält – hatte er „eine Geograpfierepet. (sic!) über alle Theile der Erde außer Europa u. Australien. Glük zu!“ wünscht er sich noch (KGW I 2, 100: 6 [77]). Als Lehrbuch für Geographie ist in den Jahresberichten von Schulpforta durchgehend Voigts ‚Leitfaden beim geographischen Unterricht‘ angegeben. Der Verfasser greift auf Roon und andere GeographieLehrbücher der damaligen Zeit zurück102. Es ist dieses Buch, das Nietzsche von seiner Mutter in seinem ersten Brief aus Schul-
_____________ 100 Jahresbericht 1858/59, III, und 1859/60, III; vgl. auch R. Bohley, Über
die Landesschule zur Pforte (1976) 309. 101 Jahresbericht 1858/59, VIII, und 1860/61, VIII; ab 1861/62 sind in Un-
tertertia 4 Stunden „Geographie und Geschichte“ angeführt. 102 Vgl. Vorwort zur 3. Auflage von 1836, wieder abgedruckt in der 7. Auf-
lage von 1842 (mir liegt nur diese Ausgabe vor; J. F.). Vgl. z. B. Jahresbericht 1858/59, VI, und 1859/60, VI.
48
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
pforta, den er mit „Alumnus portensis etc.“ unterzeichnet, erbittet: „Dann auch ein Buch: Voigt, Geographie. Wenn es nicht unter meinen Büchern ist, so besorge es so schnell als möglich von Domrich zu mir“103 – „Domrich“ ist eine Naumburger Buchhandlung. Unter physischer Geographie wurde die Erde betrachtet, wie „sie von Natur ist “; was sie vernachlässigt, das kommt in der „politische(n) Geographie“, d. h. Staatengeographie, zur Sprache: sie beschäftigt sich mit der Erde als einem „Wohnplatze von Menschen“ 104; in ihr geht es um die Staaten und Völker. Die Einteilung in Voigts Buch entspricht nur z. T. dieser allgemeinen Untergliederung: während in den ersten beiden „Cursen“, wie es heißt, eher die physikalischen Aspekte behandelt werden, geht es im dritten Cursus um die Länder- und Völkerkunde und im vierten um die Staatenkunde, wobei stets alle Erdteile behandelt werden. Wenn der Lehrplan in Schulpforta die Unterteilung in außereuropäische Erdteile (die im Sommersemester behandelt werden) und Europa vorsieht, so entspricht das einer damals üblichen Aufgliederung, wie sie z. B. auch in Daniels Lehrbuch gegeben ist. Vor diesem Hintergrund kann angenommen werden, dass Nietzsche im Geographieunterricht in Schulpforta, wo Voigts „Leitfaden“ als Lehrbuch diente, bei den nichteuropäischen Erdteilen auch deren Kulturen (Völker- und Staatenkunde) kennen lernen konnte; aber eine klare Zuordnung zu einzelnen Abschnitten aus Voigt ist nicht möglich. Es kann nur angenommen werden, dass Inhalte dieses Lehrbuches Nietzsche zu Beginn der Pfortenser Zeit bekannt geworden sind. Mit dieser hypothetischen Einschränkung seien im Folgenden kurz Voigts relativ knappen Überblicks-Informationen über Religionen und Völker der Menschheit dargestellt; auf einzelne Religionen ist bei den betreffenden späteren Abschnitten näher einzugehen.
_____________ 103 KGB I 1, 16: 6. Oktober 1858. 104 H. A. Daniel, Lehrbuch der Geographie, 1872, 1; vgl. Art. Erdkunde, in:
Meyers Hand-Lexikon 1, 584.
2. „Rassen“ und Religionen
49
Unmittelbar vor der Behandlung des Themenkreises Völker, Religion wird der Mensch dargestellt, insbesondere die „Racen (sic!)“; es wird die seit Ende des 18. Jahrhunderts verbreitete Unterteilung in „fünf Varietäten“ (Kaukasier, Mongolen, Neger [sic!], Amerikaner und Malaien)105 referiert, und dies nicht ohne deutlich rassistische Bemerkungen, z. B. über die „malayische Race“: „Geistige Ausbildung fehlt nicht ganz“106. Eine solche Aufteilung der „Menschenracen“ findet sich ebenso bei Daniel, der hinzufügt, dass diese „fünf größere(n) Menschenklassen“ „im Vergleich mit den Klassen der Botanik und Zoologie richtiger Varietäten genannt“ werden. Auch Roon spricht von „Varietäten und Racen“107. Der Bezug zur Zoologie ist dadurch gegeben, dass „der Mensch nach seiner körperlichen Seite zunächst als die höchste Stufe der Thierbildung da(steht)“, sich aber von den Tieren durch die „geistige Welt“ unterscheidet108. Auch im Geschichtslehrbuch waren stark rassistische und diskriminierende Aussagen anzutreffen. Aus dem genannten „Lehrbuch“ von Welter schreibt Nietzsche folgende Stelle über die Hunnen ab: Die Hunnen Ein asiatisches Nomadenvolk, bewohnten den weiten Raum der sich von Sibirien bis herauf nach China und Indien erstrekt. Man hielt sie für Kinder der Zauberinnen und boßen Geister so wild und furchtbar war ihr Äußeres. Sie waren klein und dick, mit einen (sic!) fettigen fleischi-
_____________ 105 106 107 108
Art. Erdkunde, in: Meyers Konv.-Lexikon 5, 760; vgl. a. a. O. 11, 473ff. F. Voigt, Leitfaden beim geographischen Unterricht, 1842, 51f. A. von Roon, Anfangsgründe der Erd-, Völker- und Staatenkunde, 1860, 197. H. A. Daniel, Lehrbuch der Geographie, 1857 (BN), 40; die Formulierung betreffend „Thierbildung“ findet sich auch schon in der 2. Auflage von 1847 (!), 36 – also lange vor Darwins Entstehung der Arten (1859); es steht nämlich kein evolutionistisches Verständnis, erst recht nicht im darwinistischen Sinn hinter dieser Formulierung.
50
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg gen Halse, mit breiten Schultern und einen übermäßig dicken Kopf. Welter109 (GSA 71/213: K II 55, p. 11).
Solche rassistischen Aussagen aufgrund körperlicher Merkmale finden sich auch in anderen Lehrbüchern, wie z. B. in jenem von Roon, wenn er die „mongolische Race“ beschreibt: mit „schmutzig brauner Hautfarbe (…) würfelartigem Schädel, gedrungenem, knochigem, häufig unschönem und niedrigem Wuchse“110. Diese diskriminierenden Aussagen, die in ähnlicher Weise hinsichtlich vieler außereuropäischer Völker gemacht werden, sind nicht dadurch zu relativieren, dass die Verfasser solcher Schulbücher von der (christlich bedingten) „Einheit des Menschengeschlechts“ ausgegangen seien, insbesondere aufgrund der gemeinsamen Abstammung111. Roon etwa meint, dass „die gesammte Menschheit (…) eine einzige Gattung“ bilde, die im Sprachbesitz zum Ausdruck komme, und er nimmt aufgrund der geistigen Dimension an, „daß die sogenannte ‚Racen-Verschiedenheit‘ die Einheit des Menschengeschlechts keineswegs ernstlich in Zweifel stellt“112. Dennoch ist die Beschreibung der einzelnen „Rassen“ offenkundig diskriminierend. 2.2.2. Einteilung der Religionen Die Zivilisation wird von Voigt in Abhängigkeit von der Religion gesehen, da diese „die erste Grundlage der Gesittung ist“; hinsichtlich der Religionen wird folgende Grundunterteilung gegeben:
_____________ 109 Vgl. Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 (BN), 361. Die Ab-
schrift weist geringfügige Abweichungen vom Text bei Welter auf (z. B. heißt es „fetten“ statt „fettigen“). 110 A. von Roon, Anfangsgründe der Erd-, Völker- und Staatenkunde, 1860, 196; vgl. dieselbe Formulierung schon in der Ausgabe von 1841, Band 3, 5, die zeigt, dass über Jahrzehnte solche rassistischen Urteile unkorrigiert an den Schulen weitervermittelt wurden. 111 Vgl. a. a. O., 6. 112 A. a. O., 9.
2. „Rassen“ und Religionen
51
Der Religion nach zerfallen die Menschen in I. Verehrer eines Gottes, wozu vorzüglich gehören die Anhänger 1) der jüdischen Religion in allen Erdtheilen; 2) der christlichen Religion oder Kirche, in Europa, Amerika, zum Theil auch in Sibirien und Ostindien, so wie durch Missions-Anstalten in Afrika und Australien stellenweis verbreitet; 3) der muhammedanischen Religion oder des Islams in Asien und Afrika, zum Theil auch in Europa. (…) II. Verehrer mehrerer Götter (Götzen), Heiden, die entweder die Gestirne und das Feuer, oder Dinge aus der Körperwelt, oder endlich selbst gemachte Bilder göttlich verehren. Besonders durch die brahmanische und buddhaistische Religion zu merken113.
Die Grundunterscheidung von monotheistischen und polytheistischen („heidnischen“) Religionen findet sich in diskriminierender Weise bei Roon dargelegt. Diese Ausführungen vermitteln einen Einblick in eine rassistisch und eurozentrisch akzentuierte Sicht der „anderen“ Völker. In diesen diskriminierenden Kontext werden Informationen über Völker und Nationen einbezogen. Es werden so zwar erste Kenntnisse über außereuropäische Kulturen und Sprachen und über die Varietät der Religionen vermittelt, jedoch von einer nicht hinterfragten Überlegenheit des Christentums ausgehend, die sich besonders gegenüber den polytheistischen Religionen zeige, welche einerseits z. T. als fetischistisch charakterisiert werden („Dinge aus der Körperwelt“), und zu denen andererseits aufgrund der als „göttlich“ verehrten, selbst gemachten Bilder (eine biblisch inspirierte Redeweise) der „Brahmanismus“ und der Buddhismus gerechnet werden. Es ist damit insgesamt eine von Missverständnissen und Vorurteilen geprägte Sicht insbesondere der östlichen Religionen grundgelegt. Einige dieser weltanschaulich bedingten Urteile werden im Laufe seiner weiteren Schulzeit in Pforta von Nietzsche selbst in eigenen Überlegungen infrage gestellt werden; andere werden
_____________ 113 F. Voigt, Leitfaden beim geographischen Unterricht, 1842, 53.
52
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
durch eine immer differenzierter aufgefasste historische Methodik obsolet werden; ein Restbestand an eurozentrischer Denkweise, wie insbesondere die Überlegenheit des klassischen Bildungsideals, wird von Nietzsche erst nach der Zeit in Pforta problematisiert werden.
3. „Wilde Völker“ innerhalb der „Weltgeschichte“
3. „Wilde Völker“ 3.1. „Rohheit“ und „Grausamkeit“ archaischer Lebensformen
3.1.1. Ein universalistisches Schullehrbuch mit biblischer Ursprungsgeschichte Nietzsches gymnasialer Bildungsweg beginnt in Naumburg mit der von ihm wiederholt benützten „Weltgeschichte“ von Welter. Sie war Grundlage des Unterrichts von Quinta an: Erzählung des Wissenswürdigsten besonders aus der alten Geschichte, an interessante Persönlichkeiten geknüpft (nach Welter); Stoffgebiet in Quarta war die Geschichte der Griechen und orientalischen Völker, und in Tertia Römische Geschichte mit Wiederholung der griechischen 114. In den ersten Jahren des Gymnasiums wurde also besonders die alte Geschichte behandelt, einschließlich der orientalischen Völker, und zwar nach dem genannten ‚Lehrbuch der Weltgeschichte für Gymnasien und höhere Bürgerschulen‘ von Welter. Dieses behandelt nach der Urgeschichte, der Geschichte Israels und der Ägypter wie Phönizier kurz die Babylonier, Assyrer, die Meder und die Perser; ausführlich kommen die Griechen und Römer zur Sprache. Der Erste Theil: Die alte Geschichte dieses Lehrbuchs ist in der Bibliothek Nietzsches mit einer Reihe von Lesespuren erhalten115. Dieses Schul-Lehrbuch ist in zahlreichen Auflagen116 und in verschie-
_____________ 114 Schulnachrichten 1855/56, IV; 1856/57, IV; 1858/59, II. 115 Vgl. G. Campioni u. a. (Hg.), Nietzsches persönliche Bibliothek, 2003, 651f. 116 1. Auflage schon Münster 1826; Nietzsche hat die 14. Auflage von 1854
besessen, nach der hier zitiert wird; zum Vergleich wird gelegentlich die
3. „Wilde Völker“
53
denen Fassungen erschienen. Der schon im Titel zum Ausdruck gebrachte welt-, d. h. universalgeschichtliche Anspruch war auch in anderen Schulbüchern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anzutreffen117. Die beanspruchte Universalität steht aber – ähnlich wie bei den Geographie-Schulbüchern – oft im Gegensatz zur faktischen eurozentrischen und christentumszentrierten Darstellung. So beginnt Welter die Urgeschichte mit dem biblischen Bericht von der Erschaffung der ersten Menschen und dem Sündenfall und dessen Folgen für das Menschengeschlecht und führt sie weiter bis hin zur „Sündflut“ und zum Turmbau von Babel; dann nennt er die „Entstehung der ersten Staaten“ (Assyrien und Ägypten) und die wichtigsten Begebenheiten aus der Geschichte Israels, des „auserwählten Volke(s) Gottes“ von Abraham an118. Von der weltanschaulich-christlichen Sicht her wird der Verlauf der Weltgeschichte interpretiert. 3.1.2. „Jäger“ und „Fischer“ als archaische Lebensformen Von den verschiedenen Kulturen, die in diesem „Lehrbuch“ dargestellt sind, soll zunächst jene behandelt werden, die Nietzsche von den ersten Gymnasialklassen an vielfach beschäftigt hat und bei der er, wie im Folgenden aufgewiesen wird, von Welters Werk beeinflusst ist, nämlich jene der Jäger und Fischer. Die archaische Lebensweise ist auch deshalb von besonderem Interesse, weil in der damaligen Literatur bei indigenen Völkern, die man „Primitive“ oder „Wilde“ nannte, ein unmittelbares Weiterleben der „urzeitlichen“
_____________ 10. Auflage von 1848 herangezogen; 15. Auflage 1858; 31. Auflage 1873. 117 Vgl. z. B. H. Leo, Lehrbuch der Universalgeschichte, 6 Bände, 1835-1844; siehe bes. G. Peuster-May, Die Behandlung der Religionen, 1988, die im chronologischen Verzeichnis (482-484) etwa ein Dutzend Ge-schichtsbücher im Zeitraum von 1815 bis 1865 anführt, deren Titel „Weltgeschichte“ beinhalten. 118 Vgl. Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 (BN), bes. 37ff und 83.
54
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Sitten und religiösen Vorstellungen angenommen wurde119. Im Zusammenhang damit wurden zeitgenössische ethnographische Kenntnisse im Schulunterricht vermittelt. Dieser ethnologische Aspekt ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil er in Nietzsches späterer wissenschaftlicher Tätigkeit und in seiner Philosophie eine große Rolle spielt. In Welters „Lehrbuch“, das didaktisch bewusst einen erzählenden Stil hat, um der altersgemäßen Auffassungsgabe gerecht zu werden, wird als „die älteste Beschäftigung, die Gott den ersten Menschen“ anwies, der Ackerbau betrachtet (18); ebenso „uralt“ sei auch die Viehzucht (einschließlich des Nomadentums; vgl. 24). Von diesen beiden Kulturformen werden deutlich die Jagd und der von Welter nur kurz erwähnte Fischfang abgehoben120. Im Jäger wird eine problematische und minder zu bewertende Lebensform gesehen, weil sie mit dem Töten von Tieren einhergeht121. Die archaische Lebensweise von Jägern und Fischern war im Gymnasium wiederholt als Thema von Aufsätzen vorgegeben. So lautete schon in Naumburg ein Thema zur freien Ausarbeitung „Jägerund Fischerleben“122; Entwürfe zur Behandlung dieser Thematik sind in Nietzsches Nachlass erhalten geblieben (vgl. KGW I 1, 278: 4 [73] und [74])123.
_____________ 119 Ein solcher direkter Zusammenhang rezenter ethnischer Kulturen mit
120 121 122 123
prähistorischen wird heute ebenso wie die evolutionistische Deutung zurückgewiesen: vgl. K. R. Wernhart, Ethnische Religionen, in: J. Figl (Hg.), Handbuch Religionswissenschaft, 2003, 260, und O. H. Urban, Religion der Urgeschichte, in: J. Figl (Hg.), Handbuch Religionswissenschaft, 2003, 89. Vgl. Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 (BN), 28. Vgl. a. a. O., 27f: Punkt 8 ‚Die Jagd‘, und 28f: Punkt 9 ‚Folgen der Jagd‘. Vgl. Schulnachrichten Naumburg 1858/59, VIII. Th. H. Brobjer (Nietzsche’s Education at the Naumburg Domgymnasium 1855-1858 [1999] 309 Anm. 26) vermutet, dass es ein Fehler sei, dass dieser Text mit dem Titel „Jäger und Fischer“ nicht unter den Schulmaterialien angeführt worden ist. Dazu ist klärend festzustellen, dass es sich selbstverständlich um ein Werk aus der Schule handelt; aber in
3. „Wilde Völker“
55
In dem Aufsatz ‚Jäger und Fischer‘ (1858) bemüht sich Nietzsche, die Vorstellung zurückzuweisen, dass ein solches Leben besonders angenehm gewesen sei. Es kommt der Gedanke der Trennung und Zerstreuung des Menschengeschlechts in prähistorischer Perspektive zur Sprache, wenn es heißt, dass das „allmähliche Zunehmen u. Heranwachsen des Menschengeschlechts (…) eine immer weitere Zerstreuung und Trennung von einander mit sich (brachte). Die einen geriethen auf unwegsame Gebirge, andere verirrten in ungeheure Wälder, wieder andere gelangten an den dürren u. unfruchtbaren Strand des Meeres“ (278: 4 [74]). Aus ihrer Not, in der sie den Hunger „nur mühsam mit Wurzeln u. Kräutern stillten“, entstand die Gewaltsamkeit beim Nahrungserwerb: „Die Noth machte sie kühn; mit geschwungner Keule zerschmetterten sie den Kopf des Thieres (…)“ (ebd.). In dieser Schilderung werden z. T. wörtliche Formulierungen aus Welters Absatz Nr. 8 Die Jagd verwendet, wo zu Beginn von der „weitere(n) Trennung“ gesprochen wird, ebenso von den „ungeheure(n) Wälder(n)“, und am Schluss von der „Wanderung an Meere und Flüsse, wo Fischfang den Hunger stillen lehrte“. Ebenso findet sich bei Welter die Aussage: „Die Noth macht den Menschen kühn“, und es heißt da, dass er mit der Keule hinter dem wilden Tier herlief124.
_____________ der Abteilung I der KGW wurden unter Schulmaterialien nur Texte verstanden, die wesenhaft rezipiert sind, d. h. die keine eigene gestalterische Möglichkeit für Nietzsche zuließen und deshalb nur im Anhang zu KGW I 1 veröffentlicht sind (313ff). Ein Aufsatz hingegen gehört nicht zu solchen Materialien, weil er z. T. – soweit es eben bei den Ausführungen eines dreizehnjährigen Kindes möglich ist – eigene Überlegungen wiedergibt (vgl. dazu die editorischen Leitlinien im Vorwort zu KGW I 1, IX). 124 Vgl. Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 (BN), 27f.
56
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Solche Vorstellungen waren Nietzsche also aus dem Unterricht vertraut; eventuell hat er sie sich durch eigene Lektüre oder schon früher durch Lernen angeeignet125. In manchen Aspekten ist Welters Schilderung der Lebensweise der Jäger noch grausamer als jene Nietzsches, wenn es z. B. heißt: „Das rohe Fleisch des erschlagenen Thieres stillte seinen Hunger, das warme Blut desselben war sein köstlichstes Getränk. Die abgezogene Haut hing er sich selbst um und freuete sich hoch auf, dem furchtbaren Raubthiere so ähnlich zu sein“126. Ebenso werden die Folgen der Jagd in einem eigenen Abschnitt als verrohend dargestellt: Ein so unstätes, wildes Leben aber läßt den Menschen roh und erstickt alle edleren Triebe des Herzens. Der Jammer und das Elend seiner Mitmenschen rühren nicht sein Herz, weil er durch das stete Morden lebendig fühlender Wesen und durch den steten Anblick ihrer schmerzhaften Todeszuckungen gegen alles Mitleid abgestumpft wird. Das stille, häusliche Familienglück bleibt ihm fremd (…) Überhaupt ist der jagende Mensch so ungesellig als das Raubthier und fast so wild als dasselbe. Die Herrschaft über die Thiere macht ihn zu dem stolzesten und unbändigsten Geschöpfe unter dem Monde, welches mit dem lebhaftesten Gefühle seines Vorzuges auf alle übrige Menschen als Schwächere herabsieht. Daher macht er alles zu Sklaven, was seine Wuth am Leben läßt127.
3.1.3. „Rohe“ Sitten „wilder Völker“ In diesem Kontext wird die Lebensweise rezenter indigener Kulturen gedeutet: „Noch jetzt verzehren manche wilde Völker die erjagten Thiere eben so roh“; diese Folgen einer Jägerkultur seien heute noch in den Erdteilen außerhalb Europas anzutreffen:
_____________ 125 Aus Nietzsches eigenem Schulaufgabenheft geht hervor, dass er im Som-
mer 1856 – also in Naumburg – Geschichte sowohl nach Th. B. Welter als auch nach C. Peter gelernt hat: vgl. z. B. KGW I 1, 329ff: 2A [1]. In diesem Zeitraum aber hat er nicht die Anfänge der Geschichte, sondern spätere Perioden durchgenommen: vgl. z. B. a. a. O., 332, 346f. 126 Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 (BN), 27f. 127 A. a. O., 29f.
3. „Wilde Völker“
57
Eine allmälige Verwilderung, wie wir sie noch jetzt bei manchen Völkern in den übrigen Erdtheilen finden, ist die nothwendige Folge einer solchen Lebensart128.
Diese Verwilderung wird an einigen ethnographischen Beispielen aufgezeigt, wie z. B. an der Nacktheit der „Neger (sic!)“ an der Ostküste Australiens, die sich mit „rother Thonerde“ anmalen. Hier wird die Körperbemalung der – ohne den Ausdruck zu verwenden – Aborigines so geschildert: „Soll es aber recht vornehm sein, so malen sie weiße Ringe um die Augen und weiße Streifen in verschiedenen Richtungen über den ganzen Körper, stecken auch wohl einen Knochen oder ein Hölzchen durch die Nase“; ferner wird z. B. der Körper- und Federnschmuck (mit Papageienfedern) in anderen Teilen der Welt, nämlich bei manchen Völkern in Mexiko, geschildert, und es heißt, dass sie „in diesem sonderbaren Putze jubelnd (umher)tanzen“129. Deutlicher noch kommt die Verwilderung, die sich in grausamen Sitten zeigt, in einem Aufsatz Nietzsches zu demselben Thema zum Ausdruck, den er drei Jahre später in Schulfporta verfasst130. Die Exemplifizierung der archaischen Lebensweise anhand der Sitten rezenter „wilder“ Stämme war auch darin begründet, dass z. B. die noch lebenden Jäger- und Fischervölker mit fast denselben Worten beschrieben wurden. Als Beispiel sei das in Naumburg verwendete Geographiebuch von Roon erwähnt, in dem dieser das Wanderleben der Jäger- und Fischervölker in folgender Weise schildert: dieses sei „bedingt durch den Kampf des Menschen gegen eine karge Natur, durch den feindseligen Verkehr mit den thierischen wie mit den menschlichen Mitgeschöpfen. Die Fristung des eigenen durch die Vernichtung fremden Lebens ist das alleinige Tagewerk. Es erlaubt nirgend ein stättiges Verweilen, nöthigt vielmehr zu fortwährenden Wanderungen“131. Während
_____________ 128 129 130 131
A. a. O., 28. A. a. O., 29. Vgl. S. 59f. A. von Roon, Anfangsgründe der Erd-, Völker- und Staatenkunde, 1860, 202.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
das Leben der Hirtenvölker, das nomadische Leben, auf „den friedlichen Verkehr des Menschen mit gezähmten Thieren gegründet ist“, so seien doch die „Nomaden-Völker (…) ebenfalls roh“132. Ein Grundmerkmal der nichtsesshaften Lebensformen wird in deren Rohheit erblickt. 3.2. „Kindheit der Völker“ und „einfache Religionslehre“ 3.2.1. Das Jäger- und Fischerleben und Fragen der Entwicklung des Menschen Wie in den in Naumburg verwendeten Schulbüchern konnte Nietzsche auch in jenen von Schulpforta dem diskriminierenden Urteil über die „Wilden“, auch über die Jäger- und Fischerkulturen, begegnen. Kurz und bündig wird in dem Geographie-Lehrbuch von Voigt gesagt: die Menschen, die nur von Jagd und Fischerei leben, heißen „wilde Völker“ „wegen ihrer räuberischen und rohen Sinnesart, so wie wegen des Mangels an aller Bildung“133. In Schulpforta wird die Beschäftigung mit dem Jäger- und Fischerleben von Nietzsche nun nochmals gefordert, und zwar in Untersecunda im Sommersemester 1861. Das Thema zur freien Ausarbeitung lautete: „Worin stimmt das Jägerleben mit dem Fischerleben überein, und wie unterscheidet sich das eine von dem anderen?“134 In diesem Zusammenhang schreibt Nietzsche am 5. März 1861 an seine Mutter, dass er das Thema Jäger- und Fischerleben schon einmal in Naumburg ausgearbeitet habe, und er bittet um sein deutsches Arbeitsheft, das im Bücherschrank zu Hause aufbewahrt sei (vgl. KGB I 1, 148f). In manchen Punkten dieser Beschreibung schließt Nietzsche im späteren Aufsatz offensichtlich an die Naumburger Ausführungen an – besonders was die Lebensweise und die Nahrung die-
_____________ 132 A. a. O., 11. 133 F. Voigt, Leitfaden beim geographischen Unterricht, 1842, 52. 134 Jahresbericht Pforta 1860/61, V.
3. „Wilde Völker“
59
ser Völker betrifft; ebenso in der Bedeutung, die der Nahrungserwerb für sie hatte: „Die Jagd und der Fischfang sind für beide nicht nur Nahrungsquellen, sie sind vielmehr die eigentlichen Lebenselemente, ohne die sie sich ihr Dasein kaum vorstellen können“ (KGW I 2, 232: 10 [2]). In ähnlicher Weise wie schon im Naumburger Aufsatz ist auch der Gedanke des Herumschweifens „ohne festen Wohnsitz“ ausgedrückt (ebd.). Doch die Konzeption des Ganzen ist schon durch die Fragestellung eine wesentlich selbständigere: sie ist eine komparatistische, bei der zunächst die Ähnlichkeit und dann die Verschiedenheit herausgearbeitet werden sollte. In den Stichworten zum Entwurf, den Nietzsche für diesen Aufsatz konzipiert, wird das auch ganz klar unterschieden. Zunächst wird bei beiden Arten des Lebens „darwinistisch“ – ohne dass hier Darwin genannt wird, dessen epochemachendes Werk ‚On the origin of species by means of natural selection‘ erst zwei Jahre zuvor (1859) erschienen war – vom „Recht des Stärksten“ gesprochen (231: 10 [1]) – eine Redeweise, die hier eine diskriminierende Charakterisierung indigener Völker als „Wilde“ zum Ausdruck bringt. Die dann folgende Schilderung erinnert inhaltlich stark an Ausführungen von Welter; ob Nietzsche sie möglicherweise vom Naumburger Aufsatz, der uns in seinem vollen Wortlaut nicht überliefert ist, übernommen hat, kann wohl kaum geklärt werden. Es werden die grausamen Sitten hervorgehoben, das Fehlen häuslicher Gefühle – „alles gestaltet sich nach dem Gesetz der Gewalt, der Uebermacht“ (233: 10 [2]). Wilder Blutdurst, qualvolle Todesarten Gefangener, unversöhnliche Rache, Entfesselung aller wilden Begierden und aller tierischen Leidenschaften werden beschrieben. Diese Jäger- und Fischervölker seien dadurch „in eine Tiefe der Wildheit herabgesunken, die uns kaum noch hie u. da an die mit Vernunft und Geist begabten Geschöpfe Gottes erinnert“ (232). Zum Vergleich sei auf eine Stelle hingewiesen, in der Welter Beispiele für solche Grausamkeit und das tiefe Versinken in die „Wildheit“ schildert:
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg Auf der Halbinsel Labrador, die im nördlichen Amerika an der Hudsonsbai liegt, herrschte die grausame Sitte, daß der Sohn mit eigener Hand seinen alten schwachen Vater tödtete, sobald dieser an der Jagd nicht mehr Theil nehmen konnte. Er hielt das sogar für den größten Liebesdienst, und unbegreiflich war es ihm, wie der Europäer so etwas grausam finden konnte. Ja man hat Menschen getroffen, die ihre gefangenen Feinde auf das grausamste schlachteten und verzehrten. So tief kann der Mensch in Wildheit versinken, wenn er nicht durch sorgfältige Pflege die ihm vom Schöpfer ertheilten Kräfte immer mehr zu entwickeln sucht135.
Bei Nietzsche sind noch weitere ethnographische Bemerkungen zu finden, die wohl anderen Quellen entnommen sind, nämlich über die unentwickelten geistigen Eigenschaften einer solchen Lebensart, die sich besonders in dem zeigen, „was wir über die Berührung gebildeter Nationen und dieser Wilden lesen“; von Nietzsche werden drei Eigenschaften hervorgehoben, die sich „aber auch durchgängig bei allen ungesitteten Völkern finden“ (233): zuerst ihre Leichtgläubigkeit, dann die Neigung zum Wunderbaren (Aberglaube, Furcht vor Naturerscheinungen und unausgebildeter Götzendienst; in der Skizze wird auch noch die Zauberei genannt: vgl. 231: 10 [1]), und schließlich „ein scharfe<s> Auffassen des Gedächtnisses“. Alle drei Eigenschaften werden durch die Lebensart erklärt. Auch die zuletzt genannte Gedächtnisfähigkeit wird negativ beurteilt und folgenderweise erklärt: „Je weniger ein Mensch mit mannichfachen Gedanken beschäftigt wird, desto leichter behält er die kleine Anzahl von Begriffen und Begebenheiten, die ihn sehr ergreifen“ (233f: 10 [2]). Neben diesen überwiegend negativ konnotierten Elementen kommen bei der zweiten Frage, jener nach der Verschiedenheit, die „positiven“ Aspekte für die Kulturentwicklung der Menschheit zur Sprache. Der Beitrag der Jäger habe in der geschichtlichen Entwicklung darin bestanden, dass sie „zuerst die Gründer von Staaten“ gewesen seien, „die in ihrer ersten Gestalt Tyrannenherr-
_____________ 135 Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 (BN), 29f.
3. „Wilde Völker“
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schaften voll Gewalt und Willkür waren. Dadurch war aber der erste Schritt zur gesellschaftlichen Verbindung, zur Culturentwicklung gethan“ (234). Der Beitrag der Fischerstaaten bestand demgegenüber im „Handel“ und im „Kunstsinn“, sodass Nietzsche sagen kann, dass „Staat, Handel, Kunst (…) drei Saulen (sic!) (sind), auf denen die Entwicklung der ganzen Menschheit beruht“; vor dem Zerfall aber habe diese Säulen „die wahre Religion“ (ebd.) bewahrt. Mit diesem Hinweis wird abschließend versucht, indirekt den christlichen Kontext wieder herzustellen. Entscheidend ist m. E. zu sehen, dass nach dem Wissensstand, den Nietzsche damals hatte, die „Kindheit der Völker“, wie sie sich in den Jägern und Fischern gezeigt habe, in der Gegenwart bei den „Wilden“, d. h. bei indigenen Völkern, denen die Europäer zu Nietzsches Zeit begegneten, anzutreffen sei. 3.2.2. „Ursprache“ und „Hang zum Uebernatürlichen“ Schon in dem Aufsatz ‚Jäger und Fischer‘ meint Nietzsche, dass man den ursprünglichen „Naturzustand (…) in Bezug auf eine ähnliche Entwicklung bei jedem Menschen die Kindheit der Völker nennen könnte“ (I 2, 232). Ein Vortrag bei Freunden aus derselben Zeit (am 24. März 1861) lautet „Die Kindheit der Völker“ (235-243: 10 [3])136, wo er sich bezüglich der Entwicklung der Menschheit vorerst für die Meinung entscheidet, „die den Menschen mit Kultur versehen schaffen und sich dann theils unter dem Einfluß großer Weltereignisse und Revolutionen zur Barbarei wenden, theils weiter auf den begonnenen Pfaden der Kultur entwickeln läßt“ (237). Es ist
_____________ 136 Es war Nietzsches Vortrag in der Germania, der gemeinsam mit Wilhelm
Pinder und Gustav Krug gegründeten Gruppe mit der Absicht, dass alle drei Mitglieder regelmäßig Beiträge, Aufsätze, Gedichte, Musikstücke abliefern (vgl. KGW I 2, 475-483: 13 [28], bes. 481). Vgl. zu dem Schulaufsatz von Pforta ‚Jäger und Fischer‘ sowie zu dem Vortrag „Die Kindheit der Völker“ H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus II/1, 1993, 516-531, und H. G. Hödl, Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, 2001, 216-220.
62
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
die Auffassung, nach der „die Kultur vieler Völker etwas Ursprüngliches, die Roheit und geistige Niedrigkeit andrer Nationen ein Verfall ehemaliger Gesittung“ ist (236). Dieser „Verfallstheorie“ stellt er die „andre Ansicht“ gegenüber, die „den Menschen aus einem thierähnlichen Zustand (…) emporsteigen (läßt)“ (ebd.). Diesen „thierischen Standpunkt“ erwägt Nietzsche zugleich, ebenso die damit zusammenhängende andere Frage, „ob es überhaupt möglich sei, daß aus einem Menschenpaar sich so ganz verschiedenartige Racen bilden konnten“ (236f). Doch Nietzsche möchte solche Fragen nicht definitiv entscheiden. Ob es sich hier um eine „darwinistische“ Auffassung handelt, muss allerdings offen bleiben137. Zwei Aspekte betrachtet Nietzsche näher, nämlich erstens die Sprache und zweitens die Religion der Völker. Er vertritt die Meinung, dass es eine Ursprache gegeben habe: „Wi können und müssen nach der Art und Weise, wie sich die Menschen ausbreiteten, eine Ursprache annehmen, die in sich die Stämme aller übrigen Sprachen barg, selbst aber verschwunden ist, während ihre Nachkommenschaft sich unendlich fortpflanzt“ (237). Seine Vermutung ist, dass diese Sprache wortarm war und nur die sinnlichen Begriffe enthielt und dass erst in den Tochtersprachen sich die Zahl der Wörter vermehrte (vgl. ebd.). Was die Religion betrifft, so wird von einem kindlichen Verhältnis zu Gott ausgegangen; auch den Gottesdienst müsse man sich „als einen sehr kindlichen vorstellen“ (238). Es ist ein Gott, der in den Gestalten der Natur erfahren wird: im Donner, im Blitz, im Sturm, in den Bergen (vgl. ebd.) – eine Auffassung, in der sich in partiellen Aspekten das naturmythologische Konzept hinsichtlich indogermanischer Religionen spiegelt, das auch für Max Müller zentral war138. Nietzsche meint weiters, dass ursprünglich ein ungezwungenes, natürliches Verhältnis zu einem allmäch-
_____________ 137 Vgl. oben S. 49, Anm. 108. 138 Vgl. zu diesem Konzept unten S. 243.
3. „Wilde Völker“
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tigen Schöpfergott bestanden habe. Zugleich aber wird „die Neigung zum Wunderbaren, zum Glauben an Erscheinungen, und zur Traumdeutung“ genannt: aufgrund dieses „Hang(s) zum Uebernatürlichen“ habe „diese so einfache Religionslehre nach und nach eine heidnische Beimischung“ erhalten und sei „gar allmählich in einem (sic!) Polytheismus“ übergegangen; auch bei dem Glauben, „daß Jehovah nur der Gott Israels sei“, seien „sicherlich Anklänge an einen wenngleich unausgebildeten Polytheismus“ anzutreffen, der sich in der Redeweise, dass er „als höchster Gott über alle andern Göttern throne“, zeige (239). Diese Auffassung kann als eine „modifizierte Urmonotheismustheorie“ bezeichnet werden139. Ein interessanter Aspekt in Nietzsches Ausführungen ist die Annahme, dass ein Volk, wenn es erst eine Schriftsprache habe, „in die Reihe der weltgeschichtlichen Völker“ aufgenommen sei (243). Bei Nietzsche begegnet uns hier ein Bild von der Entwicklung der Menschheit, das biblische Aussagen über die Schöpfung des Menschen (von Gott als Kulturwesen gut geschaffen, Annahme eines ursprünglichen Gottesglaubens u. ä.) beibehält, aber zusätzlich gewisse Kenntnisse aus ethnographischer Literatur (mit den damals verbreiteten Urteilen über indigene Völker) voraussetzt. 3.2.3. Die Kulturstufe des Ackerbaus Auch in späteren Jahren in Schulfporta hat Nietzsche Grundzüge des Bildes vom urgeschichtlichen Menschen, insbesondere vom „gesetzlosen“ Jäger, beibehalten. Es wird diese „wilde“ von der gesitteten und geordneten Lebensweise der Ackerbauern abgehoben. In einem Aufsatzthema war schon in der Fragestellung tendenziell eine eindeutige Annahme vorgegeben: ‚In wie fern ist der Ackerbau als die Grundlage aller gesetzlichen Ordnung und Gesittung zu betrachten?‘ (KGW I 3, 91-95: 14 [41])
_____________ 139 Vgl. J. Figl, Gott – monotheistisch, in: ders. (Hg.), Handbuch Religionswis-
senschaft, 2003, 547f.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Nietzsche meint, dass die Kulturentwicklung ein beschwerlicher Weg war, und er fügt hinzu: Die Anfänge dieses Weges führen durch Wildnisse: es sind die Zeiten, in den<e>n der Einzelne durch rohe Gewalt, durch Raub und Jagd kümmerlich sein Leben fristet, wo alle edlen Neigungen und Beschäftigungen des gesitteten Menschen sich kaum in ihren ursprünglichsten Keimen wiederfinden, wo die Kraft des Geistes niedergedrückt liegt, und die Sinnlichkeit und der rohe Genuß ungezügelt ihre Herrschaft behaupten (91f).
Dagegen sei die Lebensweise der Nomaden „schon weit milder, dem Stande der Gesittung weit näher“ (92), weil sie durch eine gleichmäßige Beschäftigung, Sorge um die Zukunft und vor allem durch den familiären Zusammenhalt geprägt ist – eine Schilderung, wie sie Nietzsche z. B. schon bei Welter in den wesentlichen Grundzügen kennen lernen konnte140. Schließlich ermöglichte die Sesshaftigkeit, was sich in den „wilden“ Lebensformen nicht entfalten konnte: „den Sinn für das Edle und Schöne, für die Reize des Daseins“ (94). Er sagt, dass diese Vorgänge langsam fortschritten, „wie es auch durch die Geschichte nachgewiesen ist“, und meint, dass „es (…) Nationen (giebt), denen ein ungünstiges Geschick – etwa abgeschiedene Lage oder eine beschränkte Geisteskraft – ewig in diesen Entwicklungszuständen zu verharren bestimmt hat“ (ebd.). Nietzsche meint also, dass es in der Gegenwart noch Völker gebe, die auf einer „archaischen Kulturstufe“ zurückgeblieben seien. 3.2.4. Der „edle“ Wilde Obwohl Nietzsche einerseits gewisse diskriminierende Aussagen über indigene Völker (wie z. B. die eben zitierte „beschränkte Geisteskraft“) als gleichsam undiskutierte Vorgaben aus der damaligen ethnographischen Literatur bzw. aus dem Schulunterricht
_____________ 140 Vgl. Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 (BN), 25ff: über die
„arabischen Nomaden“ (27); siehe S. 132.
3. „Wilde Völker“
65
übernimmt, finden sich andererseits auch Aussagen, die zur Kategorie des so genannten „edlen“ Wilden gehören. Die Ausführungen haben den Titel ‚Der Wilde‘ (KGW I 2, 6f: 5 [3]). Hier wird offensichtlich von der gleichnamigen Darstellung von Johann Gottfried Seume ausgegangen. Dieser Dichter war Nietzsche vertraut, da dessen Geburtsort Poserna nur eine Stunde von Röcken, dem Geburtsort Nietzsches, entfernt liegt, worauf der fast Vierzehnjährige in seinem Rückblick ‚Die Jugendjahre‘ (KGW I 1, 281-311: 4 [77]) hinweist: hier nennt er Seume einen „wahrhaft patriotisch gesinnten Mann u. Dichter“ (284); und er notiert seinen Namen schon in der Skizze zu dieser „Biographie“ (279: 4 [75]). Der Text ‚Der Wilde‘ von Seume findet sich auch im Lesebuch von Nicolaus Bach 141, das von Koberstein herausgegeben wurde. In dieser Erzählung bittet „ein Kanadier“ – es ist ein Hurone, also Angehöriger eines Indianerstammes – aus den „Wäldern Quebeks (sic!)“ wegen eines „furchtbare(n) Ungewitter(s)“ einen „gesittet feinen Europäer“ (wie wohl nicht ohne Ironie formuliert wird) um vorübergehenden Aufenthalt; dieser jagt ihn aber schimpfend und fluchend und mit dem Stock drohend weg. Als der Europäer selbst in eine ähnliche Lage gerät, wird er in der Hütte von demselben „Wilden“, den er nicht gleich wieder erkennt, gastwirtlich aufgenommen. Als er schließlich merkt, wer ihn so gut bewirtet hat, und er sich verlegen für sein ‚früheres Verhalten entschuldigt, antwortet der Hurone lächelnd: „ ‚Seht, ihr fremden, klugen, weißen Leute, wir Wilden sind doch bessre Menschen als ihr!‘ “ (KGW I 2, 6f: 5 [3]). Gleichsam als Kompensation der überwiegend diskriminierenden Aussagen wird hier das Bild des moralisch besseren „Wilden“ vor Augen gestellt.
_____________ 141 Vgl. N. Bach, Deutsches Lesebuch für Gymnasien und Realschulen. Mittlere
Lehrstufe. Erste Abtheilung, 3. Auflage 1849, 16-18.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
3.2.5. Die „ganze Weltgeschichte“ – eine Zielvorstellung Nietzsche wird in den ersten Jahren in Schulpforta aber nicht allein mit Ursprungsfragen, sondern auch mit den großen Bereichen damaliger Geschichtskonzeption – alte (besonders griechische und römische) Geschichte, Mittelalter, neuere Geschichte142 – konfrontiert, und seine Ausbildung endet mit einem Überblick über die Weltgeschichte: „in Prima (wird) in einem zweijährigen Curs die ganze Weltgeschichte nochmals vorgetragen“143. Dieser neue Lehrplan kam zur Zeit Nietzsches in Schulpforta voll zum Tragen, sodass er in den beiden letzten Gymnasialjahren (Oberund Unterprima hörten dieses Fach gemeinsam) in einem Semester „alte Geschichte, erster Theil“ als Stoffgebiet hatte, in den anderen drei Semestern „römische Geschichte“, „Geschichte des Mittelalters“ und „neuere Geschichte“144.
4. Altorientalische Kulturen (insbesondere die Perser)
4. Altorientalische Kulturen 4.1. Die Religion Zoroasters in Nietzsches Geschichtslehrbuch
4.1.1. Darstellung orientalischer Völker im Geschichtsunterricht Welters „Lehrbuch“ geht von der Annahme aus, dass der „Schauplatz der ältesten Völker (…) Asien und ein Theil von Afrika und Europa (war)“; vor allem aber war Asien „das eigentliche Stammland der Menschheit“, und es war „von jeher (…) der Schauplatz großer Weltbegebenheiten. Alle Kultur, alle Kenntnisse und Einrichtungen haben sich von hier aus über die Erde verbreitet“145.
_____________ 142 Vgl. bes. Mp V 15, pp. 3ss.: „Erster Theil der neueren Geschichte. Nietzsche
1861“. 143 Jahresbericht 1858/59, II, Anmerkung. 144 Vgl. Jahresbericht 1862/63, I, und 1863/64, I. Aufgrund der Wiederho-
lung des Stoffes ist es gelegentlich erfordert, zusätzlich zu den inhaltlichen auch formale Kriterien zu beachten, um Nietzsches Mitschriften chronologisch genau zuzuordnen. 145 Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 (BN), 4.
4. Altorientalische Kulturen
67
Im Hintergrund dieser Hochschätzung Asiens, die in eigenartigem Kontrast zu der Annahme steht, dass Europa „für die Entwickelung und Bildung der Menschheit mehr getan (hat) als alle übrigen Erdtheile zusammen“146, steht die Auffassung, dass Asien der Ort des Paradieses und „die Wiege der ganzen Menschheit“ war147. Doch unabhängig von solchen biblisch inspirierten Auffassungen war der Orient auch aufgrund der in griechischen Quellen überlieferten Historiographie (z. B. Herodot, Xenophon)148 grundlegender Teil des Geschichtsunterrichts. Wie erwähnt, wurde im Geschichtsunterricht in Naumburg eine Kenntnis orientalischer Völker vermittelt. In Quarta, die Nietzsche 1856/57 besuchte, war der Lehrinhalt in Geschichte und Geographie: „Geschichte der Griechen und orientalischen Völker“149. In der Schulstufe vorher (Quinta) war eine eher kindgerechte Vermittlung des Lehrstoffes in diesem „Doppelfach“ vorgesehen: Erzählung des Wissenswürdigsten besonders aus der alten Geschichte, an interessante Persönlichkeiten geknüpft (nach Welter)150. Es ist anzunehmen, dass hier Welters ‚Lehrbuch der Weltgeschichte‘, das an diesem Gymnasium ebenfalls in Tertia und Quarta verwendet wurde151, gemeint ist. Dafür spricht z. B. auch, dass Nietzsche schon im Februar 1856 (also in Quinta) ein Gedicht, nämlich ‚Des Cyrus Jugendjahre‘, formuliert, das unzweifelhaft Welters Darstellung voraussetzt. Unabhängig von dieser speziellen Frage konnte Nietzsche erste Informationen über Kulturen Asiens, einschließlich Indiens, aus Welters Werken entnehmen.
_____________ 146 147 148 149 150 151
A. a. O., 11. A. a. O., 16. Vgl. K. E. Müller, Geschichte der antiken Ethnologie, 1997, 54ff. Schulnachrichten 1856/57, IV. Schulnachrichten 1855/56, IV. Vgl. Schulnachrichten 1857/58, VIII.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
4.1.2. Poetische Aneignung historischer Inhalte Welche Resonanz findet dieser Unterricht über die orientalischen Völker in Nietzsches Aufzeichnungen der Naumburger Zeit? Exemplarisch sei auf einige m. E. hinsichtlich seiner Kenntnisse recht informative Notizen eingegangen. Es sei vorweg gesagt, dass es sich überwiegend um eine poetische „Verarbeitung“ solcher Wissensinhalte handelt, die wohl schon im Unterricht kindgemäß vermittelt wurden und die Nietzsche als Zwölfjähriger in Gedichten weiter ausgestaltet, dabei aber offenbar stark an den Vorlagen orientiert bleibt. In einem Überblick aus der Zeit von 1856 bis Anfang 1857 hat er den „Stoff zum (sic!) geschicht Gedichten“ zusammengestellt, die sich auf die griechische Geschichte beziehen (KGW I 1, 132ff: 2 [7]) und von denen mehrere auch ausgeführt sind (z. B. Cecrops: 134ff: 2 [8], Antromeda (sic!): 136ff: 2 [9], Leonidas und Telakeus: 139ff: 2 [10]); doch weitere Gedichte schildern die ältesten Hochkulturen, wie jene der Ägypter und Assyrer. In einem Gesang kommt ein Wanderer mit einem Boot an „Ägyptens Strande“ und erblickt verwundert die Bauten Ägyptens: die „Pyramiden“, die „Sarkophage“, die „Obelisken“ und „Collose (sic!)“; im Geiste lässt er die Geschichte vorüberziehen: Jetzo steht er bei den hohen Säulen Und bedenkt das alte alte Volk Das einst doch so mächtig war Und die Wunderwerk erbaue Nun betrachtent geht er weiter. Denket nach wie viele Völker Diese Bauten einst Schauten Griehen Römer und Franzosen Preusen und auch der Türk viele Alle blicken sie noch an (I 1, 126f: 2 [3]).
Es sind hier eigentlich Erlebnisse eines Reisenden vor Augen gestellt, der von diesen Denkmälern überwältigt ist; es wird so von der Vergangenheit bis zu den „neusten Reisenden“ (126) der Gegenwart eine Brücke geschlagen.
4. Altorientalische Kulturen
69
Die Fortsetzung des Gedichtes zeigt, dass es sich um eine Reise handelt, die kindlicher Phantasie entspricht, aber offenbar bisher noch nicht eruierte Vorlagen hat: ein Adler trägt auf seinen Fittichen den Wanderer bis nach Ninive, wo er zum Ausgräber (!) wird und „den Boden voll Sculpturen“ findet, worüber er sich „freut“; das Nachdenken über das, was er gesehen hat, führt den „Pilger“ jedoch zur Einsicht, dass „das Glük vergänglich sei“ (129)152. Mit der Frage des Glücks hat sich Nietzsche auch kurz darauf (1857) in anderen Gedichten zu historischen Stoffen befasst (vgl. z. B. Alfonso: I 1, 175-180: 3 [1] und 185-187: 3 [6]). Doch beim vorliegenden Gedicht ist es von Interesse zu sehen, dass eine fiktive Reise zu den Relikten bzw. Ausgrabungsstätten altorientalischer Kulturen unternommen wird – wahrscheinlich inspiriert durch Berichte von Forschern oder Reisenden darüber153; die Quelle dafür ist aber noch nicht erschlossen. 4.1.3. Politik und Religion der Perser Wie erwähnt154, hat Nietzsche in seinen poetischen Anfängen (1856) das Gedicht Des Cyrus Jugendjahre (120-122: 2 [1]) verfasst, in dem er von einem „selsam (sic!) Traum“ des Mederkönigs Astyages ausgeht: „Das ein Baum / Aus den Schoos der Mandane / Wachse und sich weit verbreite / Ueber Asien und seine Leute“ (120).
_____________ 152 Mette hat dem Gedicht unter Heranziehung einer Gedichtliste nachträg-
lich den Titel „Vergänglichkeit des Glücks“ gegeben: BAW 1, 347, vgl. 371. 153 Z. B. erschien in diesen Jahren in deutscher Übersetzung: A. H. Layard, Ninive und seine Überreste, 1854. Die Funde aus Ninive und Nimrud (1847-1850) wurden in Europa als Sensation aufgenommen: Metzler Lexikon Religion IV, 56. Zu Ägypten gab es ausreichend Berichte seit der Expedition Napoleons und der Entzifferung der Hieroglyphen durch J. F. Champollion (1822), die der Ägyptologe Lepsius, ein ehemaliger Pförtner Schüler, zu Ende geführt hat (vgl. oben S. 29, Anm. 39). 154 Vgl. oben S. 67.
70
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
In dieser auch von Herodot in den ‚Historien‘ (1, 108-119)155 und von Xenophon in der ‚Kyropädie‘ (Die Erziehung des Kyros) überlieferten Sage, die aber im Schulunterricht – auch bei Welter – als historische Begebenheit berichtet wird, wird erzählt, dass der Traum, der umgehend von Priestern gedeutet werden musste, sich auf den neugeborenen Sohn Cyrus beziehe, der eines Tages seinem Vater Astyages die Herrschaft nehmen und sie den Medern geben würde. Daraufhin entschied dieser, dass das Kind durch Harpagus, einem der Hofleute, ausgesetzt werden solle; dieser habe aber Mitleid gehabt und es einem Hirten gegeben, von dem es aufgezogen wurde; schließlich kehrte es an den Hof zurück; Harpagus erhält jedoch, als bekannt wird, dass er den Befehl nicht ausgeführt hat, eine grausame Bestrafung – es wird ihm das eigene Kind, das der König aus Rache schlachten ließ, als Speise vorgesetzt. Auf diese brutale Tat weist Nietzsche am Ende dieses Gedichtes, das er gemeinsam mit anderen Gedichten seiner Mutter zum Geburtstag übergibt, nur noch hin, ohne sie selbst zu berichten – er setzt sie als bekannt voraus, jedenfalls war sie ihm bekannt; seiner Mutter aber will er diese grausame Schilderung am Geburtstagsfest vielleicht ersparen: „Er lies in (sic!) (scil. Harpagus; J. F.) auch nicht unbestraft gehn / Wie wir aus den Fortgang der Geschichte werd<en> sehn“ (122). Nietzsche hat diese Geschichte offensichtlich aus Welters „Lehrbuch“ bzw. aus der mündlichen Erzählung seines Lehrers kennen gelernt; denn er verwendet z. T. wortwörtlich gleiche Formulierungen156. Zugleich ist daran zu sehen, dass das Kind Nietzsche Unterrichtsinhalte eigenständig poetisch bearbeitet und auf eigene Weise wiedergibt. Im vorliegenden Zusammenhang der Beschäftigung mit der Kultur der Perser ist aber besonders zu fragen, ob und in welchem
_____________ 155 Vgl. dazu generell R. G. Müller, Antikes Denken und seine Verarbeitung in
Texten des Schülers Nietzsche, 1993, 14ff. 156 Vgl. z. B. die Verse Zeile 18-34, dazu Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltge-
schichte, 1854 (BN), 96f.
4. Altorientalische Kulturen
71
Ausmaß er vielleicht schon in diesem Kontext, in Naumburg, auch die historische Religion der Perser, den Zoroastrismus, kennen gelernt hat. Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, denn unmittelbar vor der Seite, auf der Welter in seinem „Lehrbuch“ in Nr. 34 die Ausführungen über Cyrus, Stifter des Reiches. 555 vor Chr. Seine Jugendgeschichte beginnt (an der letzteren Formulierung mag sich Nietzsche beim Titel des Gedichtes ‚Des Cyrus Jugendjahre‘ orientiert haben), wird in Nr. 33 eine Kurze Beschreibung ihres (scil. der Perser; J. F.) Landes und ihrer Sitten gegeben; diese und auch die vorangehende Seite weisen Lesespuren durch eingefaltete Ecken auf157. In dieser einleitenden Beschreibung werden die Perser als „kriegerisch und freiheitsliebend“ dargestellt, die teils als Nomaden, teils in festen Wohnsitzen leben. Die Religion wird folgendermaßen beschrieben: Ihre Götter verehrten sie nach Weise der alten Deutschen ohne Bildsäulen, Tempel und Altäre und beteten außer den himmlischen Gestirnen besonders das Feuer an. Ihre Priester opferten auf hohen Bergen und hießen Magier. Der Ordner und eigentliche Stifter ihres Glaubens war ein im Inneren Asiens lebender Weiser, Zoroāster oder Zerduscht genannt, der etwa 600 vor Chr. lebte158.
„Zerduscht “ ist der Name für Zarathustra im Avesta, „Zoroāster “ die griechische Bezeichnung. Die Lehre wird so dargestellt: Seine Lehre ist besonders dadurch ausgezeichnet, daß er außer dem höchsten Weltschöpfer, den er Ormuz nannte, noch ein göttliches Wesen, Arĭman, als Hervorbringer alles Bösen in der Welt und mehre ihnen untergeordnete, theils gute, theils böse Engel annahm159.
_____________ 157 Vgl. Originalexemplar in BN (HAAB), vgl. dazu auch G. Campioni u. a.
(Hg.), Nietzsches persönliche Bibliothek, 2003, 652, zu S. 93 und 96. 158 Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 (BN), 95. 159 Ebd.
72
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Auch das Zendavesta (heute wird meist nur von Avesta gesprochen) wird erwähnt160, und das gegenwärtige Weiterleben des Kultes bei den Parsen genannt: In seinem Religionsbuche, Zendavēsta, d. i. lebendiges Wort, genannt, wird jedem Perser Wohlthätigkeit, Gastfreiheit, tugendhafter Wandel, Verehrung des Ormuz und Ausbreitung seines Reiches, damit die Herrschaft des Bösen, des Ariman, endlich ganz gestürzt werde, zur Pflicht gemacht. Noch jetzt dauert der alte Feuerdienst bei einem kleinen Theile der Perser, den so genannten Parsen oder Gebern, fort161.
Die Religion der Perser wird in Welters „Lehrbuch“ schon in dem Kapitel über die Urgeschichte bei der Erfindung des Gebrauches des Feuers als Beispiel – neben Prometheus und den Vestalinnen – erwähnt: „Die Perser und andere Völker verehrten es geradezu als die wohltätigste Gottheit und ordneten für den Dienst derselben besondere Priester an, die man Feuerpriester nannte“162. Dieses Bild von der Religion Zarathustras konnte Nietzsche auch in Geographiebüchern, die zu seiner Zeit in Naumburg verwendet wurden, antreffen163. Roon behandelt die „Zend-Religion“ im Zusammenhang der „indischen Völker“. Es ist der „Dualismus, der Feuerdienst oder die Zend-Religion, von Zerduscht (Zoroaster) gestiftet, – einst über ganz Iran verbreitet, gegenwärtig nur noch, mit einer sehr geringen Zahl von Anhängern, in den ‚Gebirgsschlupfwinkeln‘ Vorder-Asiens (Guebern), – am östlichen KaukasusFuße und auf der West-Küste Vorder-Indiens (Parsen)“164. In Daniels Geographiebuch wird diese Religion in dem Paragraphen über Das Persische Reich (West-Iran) kurz erwähnt: „Aber auch der alte Feuerdienst des Zendvolkes hat noch seine zerstreu-
_____________ 160 Die etymologische Ableitung ist bis heute ungesichert; wahrscheinlich
161 162 163 164
heißt Avesta „Lobpreis“ oder „(religiöses) Wissen“: vgl. Art. Avesta, in: 4RGG 1, 1024. Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 (BN), 95. A. a. O., 22. Vgl. S. 41ff. A. von Roon, Anfangsgründe der Erd-, Völker- und Staatenkunde, 1860, 205.
4. Altorientalische Kulturen
73
ten Anhänger, die man Parsen, Guebern (Ungläubige) oder Feueranbeter nennt“165. Eine explizite Nennung Zarathustras und des Zendavesta ist jedoch in Nietzsches eigenen Notizen in Naumburg, soweit diese hier berücksichtigt sind, nicht anzutreffen. Mit den Persern und ihren Königen hat sich Nietzsche mehrfach befasst bzw. befassen müssen. Er nennt in seinen Notizen die Perserkönige Xerxes 166 und Artaxerxes (vgl. z. B. KGW I 1, 142: 2 [10] und 356: 3A [4]). Ein wiederholter Eintrag in Nietzsches Aufgabenheft lautet: „Die Perserkr lern<en>“ (I 1, 330: 2A [1], 22. Mai 1856; vgl. auch den weiteren diesbezüglichen Eintrag vom 10. Juni 1856: 335). Die Schlacht beim ThermopylenPass, den Kampf des Leonidas, hat Nietzsche öfters in Gedichten formuliert und dabei auch an Schillers Gedicht Der Spaziergang angeknüpft (vgl. z. B. I 1, 125: 2 [2]: „Wandrer, wenn du in Griechenland wanderst / Wirst du begegnen den Thermop (…)“; (vgl. BAW 1 Nb. 460). 4.2. Historiographische Kenntnis der Perser 4.2.1. Herodots ‚Historien‘ Im Rahmen des Unterrichts in den beiden klassischen europäischen Sprachen konnte Nietzsche in mannigfacher Weise die Kultur, die Politik und teils auch die Sitten der Perser kennen lernen, und im Zusammenhang damit möglicherweise auch die Religion dieses Volkes, den Zoroastrismus. Die Hauptquellen für seine Kenntnisse über dieses Volk waren die ‚Historien‘ des Herodot –
_____________ 165 H. A. Daniel, Lehrbuch der Geographie, 1857 (BN), 60; vgl. 1872, 64. 166 Vgl. auch den Satz über Xerxes, der inhaltlich aus Welters Weltge-
schichte entnommen ist: „An der Spitze seiner Millionen stand Xerxes, selbst wie ein Gott von seinen Heeren verehrt“ (Schönschreibheft, GSA 71/213: K II 55, p. 24; vgl. Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 [BN], 166).
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
jenes Werk, in dem wir „– erstmals – eine Art Universalgeschichte mit länder- und völkerkundlichen Einlagen“ antreffen167; zu nennen ist ebenfalls Xenophons historisches Werk ‚Anabasis‘ (in vollem Wortlaut: Kýru anábasis, Der Hinaufmarsch des Kyros)168. Mit diesen Werken hat sich Nietzsche in allen Schulstufen in Schulpforta gründlich befassen müssen: in Obertertia wird die Anabasis das ganze Jahr gelesen, in Secunda sind ausgewählte Kapitel aus Herodot (aus dem 6.-8. Buch) als Lektüre in Griechisch im Jahresbericht angegeben169, und in Latein lautet ein Thema zur freien Ausarbeitung, welche Meinung Herodot betreffend den Neid der Götter habe, was am Beispiel des Krösus und des Polycrates aufgezeigt werden soll (mit genauen Stellenangaben)170. In Prima ist ebenfalls eine freie Bearbeitung der Rede von Kyros, aber auch des Übermutes des Xerxes nach Herodot aufgegeben, und ein weiteres Thema sind Fragen der Persischen Kriege171. Nietzsche hat also einen großen Teil dieses Werkes des „Vaters der Geschichtsschreibung“, wie ihn Cicero nennt, gekannt, nachweislich auch Stellen aus dem Buch I (besonders Kapitel 90). Es mag sein, dass er auch die folgenden Kapitel über Kyros (Kapitel 95ff, in denen sich auch die erwähnte Sage über Harpagos befindet: Kapitel 108-131) und die anschließenden Ausführungen über die Sitten und Gebräuche, einschließlich der Religion der Perser (Kapitel 131-139), gelesen hat, wo – ohne Nennung des Namens Zarathustra – einige zoroastrische Riten geschildert werden, wie z. B., dass kein Opfer ohne die Magier verrichtet werden darf (Kapitel 132), oder dass die Leichen ausgesetzt wurden, damit sie vor der Bestattung von Vögeln und Hunden (sic!) (Kapitel 141) zerfleischt werden.
_____________ 167 168 169 170 171
K. E. Müller, Geschichte der antiken Ethnologie, 1997, 99. Vgl. Kindlers Literatur-Lexikon 7, 5441. Vgl. R. Bohley, Über die Landesschule zur Pforte (1976) 308. Vgl. a. a. O., 314. Vgl. Titelangaben bei R. Bohley, a. a. O., 316f.
4. Altorientalische Kulturen
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Es handelt sich um eine nur partiell zutreffende Erfassung der religiösen Gebräuche in Persien zur Zeit Herodots, nicht um eine authentische Wiedergabe der Religion; doch ist insgesamt eine so intensive literarische Begegnung gegeben, dass gesagt werden kann, dass Nietzsche von den antiken Kulturen – außer jenen der Griechen und Römer – die persische historisch am besten kennen gelernt hat. Dies zeigt auch das Faktum, dass Nietzsche in seiner Valediktionsarbeit ‚De Theognide Megarensi‘ nochmals auf Harpagos zu sprechen kommt, den er in seinem Kindheitsgedicht ‚Des Cyrus Jugendjahre‘ erwähnt hat172. Harpagos war Feldherr des Kyros, was ein historisches Faktum ist. Auf diesen Feldherrn kommt Nietzsche im Zusammenhang der Datierung der Lebenszeit von Theognis (nach Nietzsche ca. 563 bis ca. 483 oder ein wenig danach) zu sprechen. Er schreibt dann von dem Schrecken („terror“), der durch die Perser auf die griechischen Städte (in Europa) ausgeübt worden sei und von dem Theognis und auch Herodot „mit sehr bekannten Worten“ („notissimis verbis“) berichten (KGW I 3, 426: 18 [2]). Aus solchen Hinweisen kann entnommen werden, dass die Perser – nicht zuletzt aufgrund ihrer Kriege mit den Griechen – für Nietzsche ein Volk waren, das er von verschiedenen literarischen Quellen her, angefangen von den ältesten historiographischen Berichten, gut kennen gelernt hatte. Der Religion der Perser konnte Nietzsche auch in anderer Literatur begegnen, mit der er im Unterricht konfrontiert war bzw. sich selbst beschäftigt hatte, z. B. in dem Buch ‚Das Leben Mohammed’s‘ von Washington Irving, das er im Zusammenhang mit der Darstellung des Islam im Geschichtsunterricht kennen lernte. Darin heißt es, dass die Sekte der Magier oder Gebern (die Feueranbeter) in Persien entstanden sei, und dass nach einiger Zeit „ihre mündlich überlieferten Lehrsätze durch ihren großen Pro-
_____________ 172 Vgl. S. 69f.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
pheten und Lehrer Zoroaster in seinem Buche Zendavesta niedergeschrieben (wurden)“173. 4.2.2. Zend-Sprache als indogermanische Sprache Die Begegnung mit einer Reihe orientalischer Kulturen, insbesondere den Indern und Iraniern, war von der Sprach- und darin erkennbaren Völkerverwandtschaft her gegeben, die seit den Grundwerken der Indogermanistik allgemein bekannt geworden war, vor allem durch das Werk des dänischen Forschers Rasmus Christian Rask ‚Ueber das Alter und die Echtheit der ZendSprache und des Zend-Avesta‘ (Berlin 1826); im deutschen Sprachraum besonders durch die von Franz Bopp ab 1833 verfasste ‚Vergleichende Grammatik‘ der indoeuropäischen Sprachen – ausgehend von Sanskrit und der mit ihm verwandten Zendsprache 174. Dieser Sprachzusammenhang wird in einer Mitschrift Nietzsches (Mp V 8, p. 1) angeführt: „Die Germanen gehören zu den Indogermanen (…) Hiezu gehören die Inder, ferner die arischen Inder zum Unterschied von den dunkleren. 2. Die Centvölker (sic!). Hiezu Bartrer (sic!), Meder, Perser“; gemeint sind bei den Letzteren diejenigen Völker, in denen die Zendsprache anzutreffen ist. Die unrichtige Schreibweise der Wörter „Centvölker“ und „Bartrer“ (anstelle von Bactrer) zeigt wohl, dass es (im Unterricht) gehört, und nicht abgeschrieben wurden175. In Zend ist insbesondere der
_____________ 173 W. Irving, Das Leben Mohammed’s, 1850 (ABLS), 17, vgl. S. 129, Anm.
330: Erwähnung Zoroasters in einem Beitrag von Nietzsches Lehrer Steinhart. 174 F. Bopp, Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Zend, Griechischen, Lateinischen, Litthauischen, Altslawischen, Gothischen und Deutschen, 1833-1852. 175 Dies dürfte dafür sprechen, dass dieser Text am Anfang der Schulpforta-Zeit einzuordnen ist, weil es kaum denkbar ist, dass Nietzsche am Ende der fundierten – auch vergleichend-philologischen – Ausbildung das Wort „Zend“ nicht richtig schreibt; Nietzsche hat „Cent“ vielleicht in Anlehnung an das lateinische „centum“ geschrieben. Vgl. S. 119, Anm. 293, wo die Frage der Datierung behandelt und die Fortführung dieses Textes zitiert ist.
5. Religion und Kultur der klassischen Antike
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heilige Text der Lehren Zarathustras (Zendavesta) abgefasst176. Im 19. Jahrhundert wurde das Zend auch „Avestasprache oder Altbactrisch (genannt), weil es wahrscheinlich in Bactrien gesprochen wurde“177. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Nietzsche in diesem Zusammenhang auch Informationen über das Zendavesta (es mag auch der Name des Religionsgründers Zoroaster, mit dem das Zendavesta zuinnerst verknüpft ist, genannt worden sein) vermittelt bekommen hat. Die selbstverständliche Nennung der Zend-Völker im Unterricht scheint bei den Schülern schon eine gewisse Vertrautheit mit diesem Ausdruck vorausgesetzt zu haben.
5. Religion und Kultur der klassischen Antike
5. Religion und Kultur der klassischen Antike 5.1. „Archaische“ Ursprünge des Griechentums und frühe Kenntnis der antiken Götterwelt
Aufgrund der Bedeutung, die Latein und Griechisch schon im Naumburger Domgymnasium hatten, kann gesagt werden, dass die klassische antike Kultur die einprägsamste Alternativwelt zum Selbstverständnis der christlich geprägten Kultur der damaligen Zeit war. Auf keine anderen Fächer wurde ein derart hoher Wert gelegt, wie auf diese beiden klassischen Sprachen: von den insgesamt 31 Wochenstunden z. B. in Quarta, die Nietzsche in Naumburg besuchte, waren 16 Stunden, also knapp mehr als die Hälfte, für die Pflichtfächer Latein (10) und Griechisch (6) vorgesehen178! Andere Kulturen der Antike konnten bei weitem nicht in diesem Ausmaß vermittelt werden, erst recht nicht die sprachliche Fundierung für deren vertiefte Kenntnis. Dennoch: die europäische Antike, die intensive Befassung insbesondere mit dem Griechen-
_____________ 176 Vgl. Art. Zend und Art. Zendavesta, in: Meyers Hand-Lexikon 2, 2108. 177 Art. Zend, in: Meyers Konv.-Lexikon 16, 867. 178 Vgl. Schulnachrichten Naumburg 1857/58, V.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
tum war zugleich eine Brücke für die frühe Vermittlung von Kenntnissen über weitere Kulturen des Altertums. Um Nietzsches Kenntnis und Beurteilung außereuropäischer Völker angemessen einordnen zu können, ist es schon aus diesem Grund notwendig, seine frühe Begegnung mit der griechischen und lateinischen Literatur zu kennen; doch diese ist auch in sich sehr wichtig, weil sie den Umgang mit den Ursprüngen der europäischen Kultur vermittelt, die aber besonders im Hinblick auf die Religion als so „fern“ erlebt wird, dass sie z. T. auch als eine „fremde“ Kultur vor Augen tritt. 5.1.1. „Uranfänge“ der Griechen Eine frühe Kenntnisnahme der Herkunft der Griechen aus Asien zeigt eine Textstelle, die Nietzsche 1856 aus Welter wortwörtlich in Schönschrift abgeschrieben hat: Die ältesten Bewohner. Ein besonderes Volk der Griechen kennt die älteste Zeit noch nicht. Griechenland wurde vielmehr von vielen kleinen Völkerschaften bewohnt, die vor und nach aus Asien, der Wiege der Menschheit, eingewandert waren. Das an der Nordgrenze sich ausbreitende Thrazien war gleichsam ein große Vorhof, durch welchen sie nach und vor einzogen (GSA 71/213: K II 55, p. 11)179.
Hier wird eine grundlegende Überzeugung in kindgemäßer Weise wiederholt, nämlich dass nach den biblischen Berichten die „Wiege der Menschheit“ in Asien war180; es wird kurz darauf hingewiesen, dass die Griechen „im Ganzen dieselbe Sprache (hatten)“; der fehlende soziale Zusammenhang wird so geschildert, wie es für die „älteste Zeit“ der Völker üblich war181: „und (scil. die Griechen; J. F.) waren auch wohl von denselben Stamme,
_____________ 179 Vgl. Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 (BN), 117; Nietzsches
Textwiedergabe zeigt Verschreibungen und minimale Abweichungen von der Vorlage; z. B. schreibt Welter: „vor und nach einzogen“. 180 Vgl. bes. a. a. O., 16f. 181 Vgl. oben S. 52ff.
5. Religion und Kultur der klassischen Antike
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übrigens aber besaßen sie wenig Gemeinsinn. Jede von den kleinen Völkerschaften lebte getrennt für sich und war voll Neid und Eifersucht gegen die Nachbarn“ (ebd.). Obwohl die Kultur der Griechen aufgrund ihrer Klassizität als ein Vorbild gegolten hat, konnte Nietzsche schon in den ersten Klassen des Gymnasiums auch eine ganz „andere“ Seite dieser Kultur kennen lernen: eine archaisch-destruktive. Ein Aufsatzthema aus dem letzten Halbjahr, das Nietzsche am Domgymnasium in Naumburg verbracht hat (Untertertia im Sommersemester 1858), erlaubt einen konkreteren Einblick in die Darstellung der archaischen, prähistorischen „Wildheit“. Diese wird durch eine vergleichende Charakterschilderung hervorgehoben, deren Thema ‚Jason und Medea‘ (nach Ovid. Metam. VII, 1-293)182 war. Die Ausführungen Nietzsches zeigen nicht nur den inneren Kampf der Medea zwischen dem grausamen Befehl des Vaters und der Liebe, in der sie für Jason entbrennt – „und so entschwindet mir der Seele Frieden“ (KGW I 1, 264: 4 [55]), sondern ein Ziel dieser Beschäftigung war es, Medea „mit der Chrimhilde des Nibelungenliedes“ zu vergleichen – „nur herrscht in dieser eine deutsche Rohheit, welche sie endlich bis zum Thier ernedrigt (sic!), während jene immer den Ideenkreise der Griechen sich anschließt“ (I 1, 255: 4 [44]). Es klingt hier zwar der Unterschied zwischen der Klassizität der griechischen Kultur und der größeren „Rohheit“ in der deutschen Literatur an, doch die weiteren Überlegungen führen zu den „Uranfänge(n)“ der Völker zurück und zeigen, dass dieser Hintergrund auch bei der griechischen Kultur gegeben ist:
_____________ 182 Vgl. KGW I 1, 255: 4 [45]. Eine Ausgabe der Medea des Euripides aus
dem Jahr 1848 ist noch heute in der Bibliothek Nietzsches vorhanden. Es ist also nicht nur von Ovid auszugehen, doch die Ausführungen über Medea nennen „Ovid. VII.“ explizit (ebd.; der Themenbereich „Jason und Medea“ wird wiederholt behandelt: z. B. KGW I 1, 246ff: 4 [33], a. a. O., 262ff: 4 [54] und [55]).
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg So wie bei allen Völkern die Uranfänge roh und gewaltsam gewesen sind, so war es auch bei den Griechen. Die noch wilde Natur, die Trennung der einzelnen Familien, die geringen Ansichten von Religion und Menschlichkeit, ihre rohe Nahrungsweise leiteten sie von selbst auf Gewaltthat hin. Bald war es Neid bald Habsucht oft aber nur Ehrsucht welche die Männer zu wechselseitigen Kriegen anregten. Daraus entsprang jene wilde Leidenschaft welche nur immer Abentheuer und Gefahren in Augen hat (255f: 4 [46])183.
Diese Abenteuer werden dann anhand der Darstellung der Heldentaten durch griechische Sänger geschildert, insbesondere beim Argonautenzug184. Die Welt des Kampfes und der Gefahren – insbesondere des Krieges – waren dem Schüler Nietzsche vertraut. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Texte, die in Latein und Griechisch zu übersetzen waren, zu einem großen Teil Texte des Krieges, der Eroberung, der List, des Tötens gewesen waren. Solche treffen wir in den Schulmaterialien Nietzsches von 1856 bis 1858 in Naumburg oft an. Schon als Zwölfjähriger übersetzt er den bekannten Beginn der ‚Äneis‘ von Vergil: Ich werde Waffenthaten und den / Mann besingen, der Troer welcher / zuerst an den Gestade / Von Italien nach den Götter<sp>ruche / reißt und nach Lavina kam / An das Gestade; Vieles hat jener / erdultet auf den Lande und auf den Meere / Durch die Götter kraft durch den lang / dauernden Zorn der Juno. / Auch viel und durch den Krieg gelitten / Als er die Stadt gründete (I 1, 350: 2A [4]).
Ferner finden sich im Zusammenhang mit dem Unterricht in den klassischen Sprachen Kriegstexte über Cornelius Nepos (I 1, 354: 3A
_____________ 183 Zu einer ähnlichen Sicht der Vorgeschichte der Griechen kommt er in
dem erwähnten Text aus Welter im Schönschreibheft, vgl. S. 78. 184 Vgl. KGW I 1, 255f: 4 [46]; vgl. auch die Notiz a. a. O., 258: 4 [48]:
„Monolog der Medea“. Mit dem „Argonautenzug“ hatte sich Nietzsche nach eigener Angabe in seinem Rückblick ‚Aus meinem Leben‘, den er in der Zeit vom 18. August bis zum 1. September 1858 verfasst hat, schon als Zwölfjähriger (1855/56) befasst (vgl. a. a. O., 308: 4 [77], vgl. 309: zu Medea).
5. Religion und Kultur der klassischen Antike
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[2]) und Marcus Aurelius Antoninus (355: 3A [3]), Berichte über Schlachten von Xerxes und Artaxerxes (355f: 3A [4]) und Schilderungen der Kämpfe und Machenschaften Hannibals (a. a. O., 358363: 3A [6]): die Seeschlachten, die List, die Verwendung von giftigen Schlangen – bis hin zum Selbstmord Hannibals; damit er das Leben „nicht durch fremden Ausspruch verliere, nahm er, seiner frühern Tapferkeit eingedenk, Gift, welches er immer bei sich zu tragen pflegte“ (363). Nietzsche fertigt selbst eine Übersetzung aus dem 12. Kapitel von Homers ‚Odyssee‘ an (a. a. O., 369-375: 4A [4]), in dem Odysseus als „grausam“ bezeichnet wird: Dieses sagte ich; ihnen aber brach das liebe Herz / Darauf antwortete aber Euryloches mit verhaßter Stimme. / ‚Grausam bist du Odysseus und in Rücksicht auf Stärke ermüdest du nicht / An den Gliedern; wahrlich dir ist alles ehern bereitet (…)‘ (370).
Es ist der Held Odysseus, der grausam „mit spitzen Eisen“ tötet (382). Im Zusammenhang mit dem „Stoff zum (sic!) geschicht Gedichten“ hatte er „Schlachten“ der Antike aufgelistet, die jene der Ägypter, Israels, und natürlich jene der Griechen miteinschließen (I 1, 132-134: 2 [7]). Diese Themen spiegeln wohl auch persönliche kindliche Interessen und Neigungen, wenngleich er sie zuerst in verschiedenen Unterrichtsfächern vermittelt bekam. Das Interesse zeigt sich auch an der Tatsache, dass Nietzsche an kriegerischen Auseinandersetzungen seiner Zeit schon als Kind lebhaften Anteil nahm. Zu seinen allerfrühesten Aufzeichnungen gehören umfangreiche „Materialien“ zum türkisch-russischen Krieg (1853-1855), die veranschaulichen, dass er die Ereignisse innerlich miterlebt; er thematisiert sie in vielen Notizen über Festungswesen, Kriegstagebücher, Spiele, Orakularien, Skizzen von Schlachtaufstellungen und dergleichen (vgl. I 1, 9-104: 1 [7Z]-1 [78]!). 5.1.2. Rezeption der antiken Götterwelt in den ersten Gymnasialjahren Durch die Lektüre der ‚Odyssee‘, die Nietzsche eigens reflektiert hat, wie die Notiz ‚Ueber das Lesen der Odyssee‘ zeigt (KGW I 1,
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
242: 4 [28]), wurde er schon in Naumburg in originärer Weise mit der griechischen Religion und ihren archaischen Kultformen vertraut gemacht: Odysseus, der zu den „unsterblichen Göttern“ wehklagend „Vater Zeus und ihr anderen seligen unsterblichen Götter (…)“ (I 1, 372: 4A [4]) ruft, befragt „alle Götter, welche den Olympus bewohnen“ (371) und bringt dem Helios Opfer dar (vgl. ebd.). Ein großer Teil des griechischen Pantheons kommt in der ‚Odyssee‘ zur Sprache – auch in jenen Teilen, die Nietzsche übersetzte185. Einen ersten Eindruck von der griechischen Religion konnte Nietzsche bei der Lektüre von Welters „Weltgeschichte“ bekommen; daraus schreibt er eine Textstelle mit dem Titel ‚Die gemeinsame Religion‘ ab – die Überschrift ist in Nietzsches Exemplar unterstrichen; die Textstelle könnte aber auch im Rahmen eines Diktats niedergeschrieben worden sein. Welters „Weltgeschichte“ geht vom Unterschied zwischen dem „eigenen“, christlich-monotheistischen Glauben und dem griechischen Polytheismus aus: Die Griechen verehrten nicht wie wir einen Gott, sondern hatten mehre Götter und Göttinnen. Die griechischen Gottheiten erscheinen als Glieder einer großen Familie. An der Spitze derselben steht Uranus oder Himmel, aus dem alles hervorging. Sein Sohn Chronos verschlang zum Sinnbild der alles verzehrenden Zeit seine Kinder. Zeus wurde durch List gerettet. Neptun der Gott des Wassers. Mars, Gott des Krieges. Pluto, Gott der Unterwelt. Vulkan der Gott des Feuers, Bachus, Gott des Weins Diana, Venus Ceres Aurora, Musen, die Grazien und Furien waren Göttinnen. Apollo war der Licht und Sonnengott (GSA 71/213: K II 55, p. 12)186.
Diese Niederschrift stammt aus dem Jahr 1856. Aus Welter sind die beiden ersten Sätze beinahe wortwörtlich übernommen; die folgenden Ausführungen sind eine Kurzfassung der Darlegungen
_____________ 185 Nach einer von Nietzsches Schwester angefertigten Bücherliste hat
Nietzsche 1858 eine zweibändige Homer-Ausgabe besessen (GSA 71: Mp I 13, p. 49). Vgl. auch Th. H. Brobjer, Chronological Listing of Nietzsche’s Reading and Library 1856-1858 (Appendix B) (1999) 317. 186 Vgl. Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 (BN), 131f.
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Welters, wobei – mit Ausnahme von Uranos und Chronos – von Nietzsche des Weiteren nur die lateinischen Götternamen genannt werden – unter Weglassung der griechischen, die Welter jeweils zuerst anführt. Hinsichtlich des für Nietzsche später besonders wichtig gewordenen Gottes Dionysos findet sich bei Welter in diesem Zusammenhang folgende Aussage: „Dion˝sus oder Bachus war das Sinnbild der im Frühlinge jugendlich emporblühenden Natur und Vorsteher des Weinbaues“. In Nietzsches eigenem Exemplar dieses Lehrbuchs ist das Wort „Dion˝sus“ unterstrichen, ebenso der Name der Göttin „Demēter“ auf derselben Seite187. Es ist jedenfalls von Interesse zu sehen, dass unter den griechischen Götternamen vom Schüler Nietzsche in den ersten Gymnasialklassen Dionysos, Symbol der frühlingshaften Natur und „Vorsteher des Weinbaues“, ein Fruchtbarkeitsgott, und die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter, „Vorsteherin des Getreidebaues“, auf diese Weise hervorgehoben wurden188. Schon früher hatte er mit seinen Freunden Gustav Krug und Wilhelm Pinder – auch seine Schwester Elisabeth und Pinders Schwestern spielten mit – in dem ‚Lustspiel: Der Geprüfte‘ (KGW I 1, 109: 1 [81]) bzw. ‚Die Götter auf den Olymp‘ (110: 1 [83]) eine „Götterversaml“ (106: 1 [79]) inszeniert, in der Apollo und Jupiter dem Sirenius, einem Halbgott, eine Prüfung auferlegen, welcher sich schließlich – dem Lockruf der Nymphen
_____________ 187 A. a. O., 133; es finden sich noch weitere Notizen mit derselben Tinte
in diesem Buch (vgl. besonders 119f zu Cecrops, Kadmus und Danaus; vgl. dazu KGW I 1, 132: 2 [7]: Stoff zum (sic!) geschicht Gedichten); vom gesamten Kontext her kann angenommen werden, dass diese Hervorhebungen von Nietzsche stammen, auch wenn bei Unterstreichungen eine eindeutige Zuordnung nicht immer möglich ist. 188 Unterstreichungen, die aber mit Bleistift gemacht sind, finden sich hier noch bei Hera und Poseidon, vgl. a. a. O., 132.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
folgend – selbst in den Tod stürzt, schlussendlich aber von Jupiter in das Götterreich aufgenommen wird (vgl. 106-108)189. Das Ganze ist eine ernst-heitere Inszenierung, die aber grundlegende Kenntnisse der griechischen Götterwelt voraussetzt. In anderen „Dramenentwürfen“, die ebenfalls mit einer Götterversammlung beginnen, schildert er den Untergang Troja’s (I 1, 235238: 4 [16] und [17]). In einem Gedicht Olympos (I 1, 181f: 3 [4]) wird – eingebettet in eine Traumerzählung – der „Wohnsitz der Götter“ (181) beschrieben: Und ich träumte so vieles was ich für würdig erachte Es den freundlchen (sic!) Leser in deutlicher Sprach zu erzählen Ohne poetischen Schmuk (sic!) das Leben Unsterlicher (sic!) Götter Welche der Traumgott der hörenden Ohre mir nannte Auch den Leser verkünden; drum höre was ich da erfuhr (182).
Auch folgendes Gebet an Zeus findet sich unter diesen frühesten Aufzeichnungen Nietzsches: Wir kommen hier / O Zeus zu dir / Und sagen Dank / Durch Lobgesang, / Das unsre Bitt / Gewähret ist (145f: 2 [12]).
Die griechisch-römische Götter- und Sagenwelt kommt noch in weiteren Texten Nietzsches aus dieser Zeit vor, etwa in dem Gedicht ‚Antromeda (sic!). Sage 2 über ihre Befreiung durch (sic!) Perseus‘ (I 1, 136-139: 2 [9]; hier: 136). Die angeführten Texte illustrieren, wie sehr Nietzsche mit den Mythen und Sagen der Antike vertraut war. Sein Interesse daran zeigt sich u. a. auch an der Wahl des Buches von K. A. Schönke ‚Die Sagenwelt der Alten. Für die Jugend bearbeitet‘ (Berlin 1856), das er zu Weihnachten 1857 gegenüber dem Werk von W. Howitt ‚Australischer Robinson: Erzählungen eines Knaben aus den
_____________ 189 Vgl. zur Interpretation: H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus II/1, 1993,
916-972.
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Wildnissen Australiens‘ (Berlin 1856/57) bevorzugt hatte190 (vgl. 170f: 2 [34]). In einer Bücherliste, die Elisabeth Nietzsche wahrscheinlich im Jahr 1858 angefertigt hat, findet sich zudem G. Schwabs ‚Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums‘ (Stuttgart 1858) (GSA 71, Mp I 13, p. 49)191. Angesichts der großen Fülle von Kenntnissen über die griechische Kultur ist es eine weitere Frage, wie Nietzsche mit diesen umgegangen ist. Die hinterlassenen Texte, wie Theaterstücke, Gedichte etc., die ihren Inhalt der griechischen Götter- und Sagenwelt entnommen haben, dokumentieren, dass der Schüler Nietzsche in den Anfangsklassen des Gymnasiums diese Themen mit persönlichem Interesse aufgenommen und eigenständig weiter ausgestaltet hat. Es ist – bei bleibender Andersheit – ein reeller Prozess kindgemäßer Rezeption, ein Prozess der Einfügung antiker Vorstellungswelt in die Phantasie- und Gefühlswelt eines Knaben in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu konstatieren.
5.2. Mythologie und Religion der klassischen Antike in historischkritischer Perspektive Eine noch größere Bedeutung als in anderen Gymnasien hatte der Unterricht in alten Sprachen in Schulpforta. Das zeigt sich z. B. auch an der Stundenzahl für Latein. Im Revisionsbericht von 1861, der in Deutsch und Geschichte sowie Geographie eine Reduzierung der Stunden gefordert hat, wird im Gegensatz dazu befürwor-
_____________ 190 Dazu Th. H. Brobjer, Chronological Listing of Nietzsche’s Reading and
Library 1856-1858 (Appendix B) (1999) 315. 191 Im selben Notizheft Nietzsches von der Hand der Schwester die Notiz:
„Pantheon, 3 Bd.“, und – in anderer Schrift – ferner der Hinweis: „Anthropologie, Kant“, und „Träumereien“ (GSA 71, Mp I 13, p. 51). Zu Schwabs Werk vgl. näher die Angaben bei G. Campioni u. a. (Hg.), Nietzsches persönliche Bibliothek, 2003, 545.
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tet, „daß in Prima 10 lateinische Stunden statt der gesetzlichen 8 der Landesschule als ein Praecipuum gelassen werden“192. Ein Spezifikum der Pforte dürfte auch die sogenannte Valediktionsarbeit gewesen sein, eine größere wissenschaftliche Arbeit, die jeder Abiturient über ein frei gewähltes Thema verfasste193 – ursprünglich fast ausschließlich in Latein, ab 1852 auch immer öfter in Deutsch. Nietzsche selbst hat sie lateinisch, bekanntlich über ein Thema der griechischen Literaturüberlieferung, verfasst: ‚De Theognide Megarensi‘ (KGW I 3, 420-463: 18 [2]). Es ist hier nicht möglich, die gesamte Breite der Ausbildung in Latein und Griechisch auch nur umrisshaft zu skizzieren; generell kann aber festgestellt werden, dass die philologische Qualifikation ein so hohes Niveau hatte, dass, wie es bei Nietzsches Valediktionsarbeit der Fall war, im Studium der klassischen Sprachen an der Universität daran unmittelbar angeknüpft werden konnte, und zwar in methodologischer wie materialer Hinsicht. Auch inhaltlich kann nicht die Vielfalt der religiös und weltanschaulich relevanten Themen dargelegt werden, die der Unterricht in den klassischen Sprachen mit sich brachte. Nur auf einen Aspekt soll hingewiesen werden: in seiner Valediktionsarbeit befasst sich Nietzsche auch ausdrücklich mit den griechischen Göttern und Sitten zur Zeit des Theognis. Der dritte und letzte Teil dieser 86 Manuskriptseiten umfassenden Arbeit ist mit dem Titel überschrieben: ‚Theognidis de deis, de moribus, de rebus publicis opiniones examinantur‘ (454). In Vorarbeiten dazu weist Nietzsche – im Anschluss an Nägelsbachs Werk über die nachhomerische Theologie194 – auf die alte dorische Auffassung hin, dass die Götter nach einem mit den Menschen geschlossenen Vertrag den Menschen zukommen ließen, „was Recht ist, also
_____________ 192 Zit. nach S. L. Gilman, Pforta zur Zeit Nietzsches (1979) 412, siehe
oben S. 37. 193 Vgl. a. a. O., 414. 194 K. F. Nägelsbach, Die nachhomerische Theologie des griechischen Volksglaubens
bis auf Alexander, 1857; dazu BAW 1, Nb. 399.
6. Mythologie und Dichtung der Germanen
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vornehmlich Reichthum u. Armut“ (I 3, 413: 18 [1], vgl. a. a. O., 457: 18 [2]); deshalb seien die sozialen Unterschiede nicht aufzuheben. Theognis will auch nicht, dass die Menschen beginnen, an der Gerechtigkeit der Götter zu zweifeln (vgl. a. a. O., 461: 18 [2]). Hier ist eine religionssoziologische Dimension angesprochen, die die enge Verknüpfung von Sozialstruktur und Götterglauben hervorhebt195.
6. Mythologie und Dichtung der Germanen
6. Mythologie und Dichtung der Germanen 6.1. Germanische und nordische Sagenwelt
Schon in Naumburg hat sich Nietzsche mit dem germanischen (z. B. mit dem Nibelungenlied) und dem nordischen Sagenkreis (insbesondere mit der – in Nietzsches Schreibweise – „Fryhjof“Sage) befasst. In der erwähnten196 Auseinandersetzung mit dem Argonautenzug sagt Nietzsche in einem ersten Textentwurf über die Medea: „Medea ist zu vergleichen mit der Chrimhilde des Nibelungenliedes“ (KGW I 1, 255: 4 [44]). Vielfach ist in Schulaufsätzen der damaligen Zeit bezüglich literarischer Werke und darin geschilderter großer Gestalten ein Vergleich zwischen der griechischen Kultur und der deutschen Literatur anzutreffen197; es geht dabei um Charakterschilderungen. Nietzsche war sich schon als Jugendlicher bewusst, dass dies eine sehr tief gehende Auseinandersetzung mit Themen des Deutschunterrichts darstellt. So sagt er zurückblickend auf Naumburg in einer Tagebuchaufzeichnung: „Ich bin hier in Pforta etwas im Deutschen zurückgekommen. In Naumburg hatten wir schon Abhandlungen und Charakterschilderungen und hier müssen wir Ge-
_____________ 195 Vgl. auch seine späteren Überlegungen zu soziologischen Aspekten des
Kultes in der Vorlesung ‚Der Gottesdienst der Griechen‘: vgl. S. 250. 196 Vgl. S. 80. 197 Vgl. dazu auch die Valediktionsarbeiten aus Schulpforta, S. 113.
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schichten zu Sprüchwörtern ersinnen u. a.“ (KGW I 2, 114: 6 [77])198. Diese Notiz zeigt, dass für Nietzsche schon in Naumburg der Deutschunterricht eine wichtige Rolle gespielt hatte. Darüber hinaus hat sich Nietzsche außerhalb der Schule mit Themen der deutschen Sagenwelt auseinandergesetzt, wie z. B. das Gedicht ‚Ringgrafs Kleinod‘ (KGW I 1, 142-145: 2 [11]) zeigt. Ebenso kannte er weit verbreitete Werke des Germanisten und Dichters Karl Simrock. Dessen Werk ‚Das deutsche Kinderbuch‘ war nach der Auflistung Elisabeth Nietzsches von 1858 Teil der Bibliothek ihres Bruders199; und die „Wahl“ seines Freundes Pinder von „Simrocks mittelhochdeutsche(m) Lesebuch“ hält Nietzsche „für vortrefflich“200; Nietzsche hat somit dieses Buch schon zuvor gekannt. Die „Fryhjof Sage“ gehört zu jenen Themen, über die sich der 13-jährige Nietzsche im Entwurf seiner Jugend-Biographie „Gedanken“ macht (I 1, 279: 4 [75]). Sie wurde oft ins Deutsche übersetzt201. Die Frithjofssage, eine Liebesgeschichte aus der Zeit vor der christlichen Missionierung, die um 1300 in Island aufgezeichnet worden ist, war besonders durch die Bearbeitung in E. Tegnérs 202 gleichnamigem Versepos (1820-1825) in der Romantik
_____________ 198 Vgl. dazu Th. H. Brobjer, Nietzsche’s Education at the Naumburg
199
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201 202
Domgymnasium 1855-1858 (1999) 312, der diese Aussage als das einzige Beispiel für Nietzsches Vergleich zwischen Pforta und dem Domgymnasium bringt. Vgl. Th. H. Brobjer, Chronological Listing of Nietzsche’s Reading and Library 1856-1858 (Appendix B) (1999) 317. Ebenso Teil der Bibliothek Nietzsches war Simrocks ‚Heliand‘ (GSA 71: Mp I 13, p. 49). Gemeint ist K. Simrock, Altdeutsches Lesebuch zum Gebrauch bei Vorlesungen. Mit einer mittelhochdeutschen Formenlehre, 1851. Vgl. KGB I 1, 24, Brief an Wilhelm Pinder Anfang November 1858, und KGB I 4, 55; dazu Th. H. Brobjer, a. a. O., 319, das Werk ist auch in der Bibliothek Schulpforta vorhanden. Art. Frithjofssage, in: Meyers Konv.-Lexikon 6, 740. Brobjer meint, dass sich die Notiz auf E. Tegnér (1825) bezieht: a. a. O., 320.
6. Mythologie und Dichtung der Germanen
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bekannt geworden203. Ferner wurde auch die Begegnung mit altund mittelhochdeutscher Literatur schon in Naumburg vermittelt, z. B. mit Texten Walthers von der Vogelweide 204. Es ist offenkundig, dass für Nietzsche schon in den ersten Schulstufen des Gymnasiums der Deutschunterricht eine große Bedeutung hatte. Neben einer beachtlichen Kenntnis der modernen Literatur205 regte dieser die Begegnung mit der germanischen und nordischen Mythen- und Sagenwelt an, in der ein „archaischer“ Zustand – die „Uranfänge der Völker“ – thematisiert wurde; dies geschah insbesondere im Vergleich mit der griechischen und lateinischen literarischen Überlieferung, die einen noch größeren Raum in Nietzsches Bildungsweg eingenommen hat. Vermutlich aber hat ihn die Welt germanischer Mythen emotional stärker beeindruckt. 6.2. Vergleich und Widerspruch germanischer und christlicher Anschauungen 6.2.1. Die Bedeutung des Deutschunterrichts in Schulpforta Vor dem Hintergrund der Befassung mit dem Nibelungenlied in Naumburg ist es nicht verwunderlich, dass sich Nietzsche in Schulpforta, wo er das erste Semester von Untertertia wiederholt,
_____________ 203 Vgl. dazu den einschlägigen Artikel in: Brockhaus-Enzyklopädie 7, 690. 204 Nietzsche hat den berühmten Text: Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr
in Neuhochdeutsch wiedergegeben: KGW I 1, 271: 4 [63], dazu BAW 1, Nb. 465; vgl. auch ein weiteres Gedicht: KGW I 1, 250: 4 [36], das sich an Walther von der Vogelweide anschließt: dazu BAW 1, Nb. 464. 205 Nicht allein die altdeutsche Literatur, sondern auch die neuere Dichtung spielte für den Zwölf- bis Dreizehnjährigen eine große Rolle: Seume, Lenau, Körner, Hoffmann, Lessing, Platen und andere Dichter werden im Rückblick auf die Jugendjahre namentlich genannt (KGW I 1, 279: 4 [75]); zu Seume vgl. S. 65.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
zu Weihnachten von der Mutter das „Nibelungenlied, übertragen von Niendorf“ wünscht206. Das Nibelungenlied sollte in Schulfporta noch eine große Bedeutung für Nietzsche erhalten. An diesem Gymnasium war es ein Schwerpunkt des Deutschunterrichts, der Nietzsche durch Karl August Koberstein erteilt wurde. Die Bedeutung dieses berühmten, weit über Schulpforta hinaus bekannten Literarhistorikers für diese Schule lag nicht zuletzt darin, dass er dem Fach „Deutsch“ in Pforta die Gleichberechtigung neben den alten Sprachen erkämpfte207. Koberstein führte dort auch das Nibelungenlied als Gegenstand des Unterrichts ein208. Die Nibelungen gehörten bei ihm generell zum Unterricht in Obersecunda, und Nietzsche hatte in dieser Schulstufe im Wintersemester 1862/63 (laut Auskunft des Jahresberichts) das Stoffgebiet „Erklärung einiger Stücke aus dem Nibelungenliede“, und in Prima eine „Uebersicht der älteren deutschen
_____________ 206 Vgl. KGB I 1, 35: Brief vom 3. Dezember 1858 an die Mutter; vgl. auch
den Brief an Wilhelm Pinder am selben Tag (a. a. O., 34) sowie den Brief an die Mutter von „kurz vor dem 8. Dezember 1858“ (a. a. O., 36); vgl. die entsprechenden Buchnotizen zur „Frithjofssage“ und zu den „Nibelungen“ (KGW I 1, 212f: 4 [4] und [5]). Vgl. auch Kobersteins späteren Hinweis auf G. Mohnickes Übersetzung dieser Sage aus dem Schwedischen (1826) in seinem Grundriß der Geschichte der deutschen National-Litteratur (3. Auflage, Band 3, 1866, 2563). 207 Nach R. Bohley, Die Christlichkeit einer Schule, 1974, 154; vgl. B. Rogge, Pförtnerleben, 1893, 53; siehe generell E. Schmidt, Art. Koberstein, A. (K.), 360-362. Koberstein (1797-1870) wirkte in Pforta von 1820 bis kurz vor seinem Tod als Professor der deutschen Sprache. 208 Vgl. die Würdigung des Rektors C. L. Peter in: Album des Literarischen Vereins Naumburg, 1871, 65-80: dem Andenken Kobersteins gewidmet. In Nietzsches Nachlass findet sich eine Nachschrift zu den Nibelungen: Mp V 15, p. 170; wahrscheinlich steht diese im Zusammenhang mit Kobersteins Unterricht bzw. dessen Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur (vgl. dazu auch BAW 2, Nb. 444).
6. Mythologie und Dichtung der Germanen
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Nationalliteratur (…)“209. In beiden Klassen gab Koberstein ein Thema über das Nibelungenlied zum Inhalt einer freien Ausarbeitung 210. Nietzsche bezog sich dabei aber nicht mehr auf die Ausgabe von Niendorf, sondern auf die von Koberstein bevorzugte Lachmann’sche Edition211; mit Lachmann war Koberstein auch persönlich befreundet212. Mit dem Nibelungenlied hat sich Koberstein intensiv befasst; Karl Bartsch, der Herausgeber der nach Kobersteins Tod veranstalteten fünften Edition des ‚Grundrisses der Geschichte der deutschen Nationalliteratur‘, schreibt im Vorwort dazu, dass er im Nachlass „über das Nibelungenlied ein Excerpt von 53 enggeschriebenen Quartseiten vorfand“213. In den von Koberstein selbst besorgten Ausgaben seiner Literaturgeschichte wurde der Behandlung des Nibelungenliedes ebenfalls ein wichtiger Platz eingeräumt214. Durch Koberstein wurde Nietzsche nicht allein inhaltlich mit wichtigsten mittelhochdeutschen Texten vertraut gemacht, son-
_____________ 209 Zit. nach R. Bohley, Über die Landesschule zur Pforte (1976) 306; vgl.
E. Schmidt, Art. Koberstein, A. (K.), 362. Vgl. dazu R. Bohley, Über die Landesschule zur Pforte (1976) 312. K. Lachmann (Hg.), Der Nibelungen Noth und Klage, 3. Auflage 1851. Vgl. I. Lelke, Die Brüder Grimm in Berlin, 2005, bes. 188. Vgl. K. A. Kobersteins Grundriss der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, 5., umgearbeitete Auflage von K. Bartsch, Band 1, 1872, VI. Dieses Werk erschien 1827 in erster Auflage mit dem Untertitel ‚Zum Gebrauch auf gelehrten Schulen entworfen‘; es war also als Schullehrbuch gedacht; 2. Auflage 1830; 3. Auflage 1837. Die 4. Auflage erschien von 1847 bis 1866, nun in drei Bänden. Dieses Werk begründete die Bekanntheit Kobersteins unter den Gelehrten; Anton Springer, der Bonner Kunsthistoriker, hielt ihn nach Nietzsches Brief „für den bei weitem bedeutendsten Literarhistoriker unsrer Zeit“ (KGB I 2, 55; Brief vom 1865 an Carl von Gersdorff). 214 Vgl. z. B. schon die 2. Auflage 1830, 44ff, und 4. Auflage, Band 1, 1847, 230ff. 210 211 212 213
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
dern ebenso grundlegend in sprachlicher Hinsicht215: ein Schwerpunkt des Unterrichts in Untersecunda war in Mittelhochdeutsch gegeben, wo der Lehrplan lautete: Grundlinien des etymologischen Theils der deutschen Grammatik, nebst einer Uebersicht über die Hauptepochen der Entwicklungsgeschichte unserer Sprache (Jahresbericht 1860/61, III). In dem Revisionsbericht, der 1861 im Auftrag des Kultusministers vom Schulrat Heiland aufgrund einer Beschwerde von Voitus, der in Berlin eine angesehene Position inne hatte und diese Beschwerde als Vater eines Alumnen von Pforta beim Minister eingebracht hatte216, erstellt wurde, findet dieser Aspekt von Kobersteins Unterricht eine positive Wertung: Dass unter dem Einflusse des Prof. Koberstein das Mittelhochdeutsche in den Kreis des deutschen Unterrichts gezogen ist, ist sicherlich als ein Vorteil für die Landesschule zu betrachten. Die Grundlinien des ethymologischen (sic!) Teiles der deutschen Grammatik (…) werden in so praktischer und faßlicher Weise von diesem sachkundigen Manne gelehrt, daß ich an seiner Methode und an den Erfolgen seines Unterrichts viel Freude gehabt habe (…) Ich bin überzeugt, daß dieser Unterricht geeignet ist, manchen Schüler höheren wissenschaftlichen Sprachstudien zuzuführen217.
Zur selben Zeit hat auch Carl Ludwig Peter, der Rektor der Schule, Koberstein in einem Artikel öffentlich in Schutz genommen, der sich gegen die Anschuldigungen von Voitus richtete: „Man fördert die Kenntnisse des Mittelhochdeutschen dergestalt, dass sie in Prima das Nibelungen-Lied in der Ursprache lesen“218. Tatsächlich sind Kobersteins „Grundlinien“ kurz darauf unter dem Titel ‚Laut- und Flexionslehre der mittelhochdeutschen und neuhochdeutschen Sprache in ihren Grundzügen‘ im Druck er-
_____________ 215 Vgl. zu Nietzsches Kenntnissen des Mittelhochdeutschen seine ‚Anmer-
kungen zu den Nibelungen‘ (1863): KGW I 3, 148-167: 15 [24]. 216 Vgl. S. L. Gilman, Pforta zur Zeit Nietzsches (1979) 407. 217 Zit. nach S. L. Gilman, a. a. O., 416. 218 C. L. Peter, Erklärung, in: Berliner Blätter für Schule und Erziehung, 4. Feb-
ruar 1861, Nr. 6, 44.
6. Mythologie und Dichtung der Germanen
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schienen. Es ist eine Einführung für den Schulgebrauch; sie wurde 1862 gedruckt, also zu der Zeit, als Nietzsche in Schulpforta war. In seiner ‚Laut- und Flexionslehre‘ bringt er u. a. Beispiele für mittelhochdeutsche Deklinationen der Eigennamen aus dem Nibelungenlied219. Diese Fragestellungen bildeten einen Schwerpunkt von Kobersteins wissenschaftlichen Arbeiten. Dies zeigen uns nachgelassene Manuskripte Kobersteins in Schulpforta220, wo im Anschluss an die gotischen Buchstaben einzelne Deklinationen anhand von Beispielwörtern aufgeführt sind. Es ist also eine solide Kenntnis des Mittelhochdeutschen und im Zusammenhang damit auch partiell des Althochdeutschen vermittelt worden221. Nietzsche schrieb schon im November 1861 seiner Schwester, dass in Deutsch „das Nibelungenlied in der Ursprache gelesen wird“ (KGB I 1, 188). Sowohl inhaltlich als auch sprachlich war damit eine geeignete Basis gegeben, die es Nietzsche ermöglichte, auch außerhalb der Pflichtaufgaben sich mit Themen der germanischen und nordischen Mythologie und Sagenwelt zu befassen, was er in der Gymnasialzeit auch ausführlich getan hat. 6.2.2. „Götterdämmerung“ (Ältere Edda) Bei den germanischen Heldensagen lassen sich drei Sagenkreise unterscheiden: 1.) die Nibelungensage, 2.) die Sagen um Dietrich von Bern (zurückgehend auf Theoderich den Großen) und 3.) die Sagen von Ermanarich (nordisch Jörmunrekk), die im Norden in der Swanhild-Sage (Swanhild war die Gattin Ermanarichs) überliefert ist222. Ermanarich war ein ostgotischer König im 4. Jahrhundert, also zur Zeit der Völkerwanderung und der Hunneninvasion. Diese Sagen
_____________ 219 Vgl. K. A. Koberstein, Laut- und Flexionslehre, 1862, 57f. 220 ABLS, Msc. B. 193, 12. 221 Vgl. die Notiz: „Ueber althochd<eutsch>. Deußen“ (KGW I 2, 311: 11
[32]). 222 Vgl. Art. Heldenlieder und Art. Ermanarich, in: Lexikon alter Kulturen 2,
225 bzw. 1, 636.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
gehen auf die Zeit der Völkerwanderung zurück, sind aber erst aus späterer Zeit, überwiegend aus dem Mittelalter, schriftlich überliefert, und zwar in den Heldenliedern der Älteren Edda und in mittelhochdeutschen Epen. Im Juli 1861 verfasst Nietzsche ‚eine historische Skizze‘ über ‚Ermanarich, Ostgothenkönig‘ (KGW I 2, 274-284: 10 [20]). Er hat sich „vorgenommen, besonders auf die nordische Gestaltung der Sage, auf ihre Unterschiede von der deutschen etwas näher einzugehn“ (277); er wendet sich also vorzüglich der Fassung zu, „die uns in der ältern Edda entgegentritt“ (278). Nietzsche geht es darum, „die älteste Geschichte und Sitte der Gothen“ darzustellen (275), also um die „aelteste Gothenurgeschichte“ (273: 10 [18]). Nietzsche geht literarhistorisch vor. Er schreibt, dass die Sage von Ermanarich „echt deutsch und durch die Personen, die darin auftreten, und durch die Oertlichkeit an Deutschland gebunden (ist)“ (I 2, 282: 10 [20]). Diese Wandlungsmöglichkeit sieht er in einer Aussage von Wilhelm Grimm (vgl. BAW 1, Nb. 458) angesprochen: ‚Die Sage kann, sagt Grimm, wenn sie verpflanzt wird, Namen und Gegend völlig verändern u. vertauschen; erkennt sie aber in der Fremde die Heimat noch an, so liegt darin ein großer Beweis ihrer Abkunft. Der Grundstoff kam aus Deutschland, das Wort im weitesten Sinne genommen, herüber und wahrscheinlich in Liedern, die in der Darstellungsweise der nordischen ähnlich waren.‘ (I 2, 297f)
Dieses Zitat hat Nietzsche wörtlich aus der Vorrede zur Ausgabe der Edda von Simrock abgeschrieben223. Koberstein kommt in seiner „Literaturgeschichte“ im Paragraph 32 auf die deutsche Heldensage zu sprechen und erwähnt dort, dass „am weitesten (…) die Zeugnisse zurück(reichen), welche sich auf
_____________ 223 Eine Verschreibung ist gegeben; anstelle von „verändern oder vertau-
schen“ schreibt Nietzsche nämlich „verändern u. vertauschen“; vgl. K. Simrock (Hg.), Die Edda, 2. Auflage 1855, Erläuterungen, 370. Die erste Ausgabe dieses Werkes ist 1851, die zweite 1855 erschienen. Nach der Letzteren, die Nietzsche verwendet hat, wird im Folgenden zitiert.
6. Mythologie und Dichtung der Germanen
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die Sage von dem Gothenkönig Ermanrich beziehen, der unter dem Namen Ermanaricus auch bei Jornandes vorkommt“224. Dann wird gesagt, dass das, was man von ihm wisse, Inhalt eines gotischen Liedes gewesen sei, wofür u. a. die Tatsache spreche, dass diese Sage in den späteren Dichtungen Deutschlands und des Nordens weitergelebt habe. „Dort ward Ermanrichs Sage, die nach Zeugnissen aus den folgenden Jahrhunderten umfassender war, als sie bei Jornandes erscheint, an die Dieterichssage geknüpft, und diese Verknüpfung lässt sich bis zur Scheide des zehnten und eilften Jahrhunderts zurückverfolgen; im Norden lehnte sie sich an die Siegfriedsage an; wann, lässt sich nicht mehr sagen: den alten Eddaliedern war diese Verbindung schon bekannt“225. In diesem Zusammenhang wird auf die Ausgabe der Älteren Edda von Simrock verwiesen226. Die zweite Auflage von 1855 verwendet Nietzsche 1861. In einer späteren ausführlicheren Darstellung von 1863 mit dem Titel „Die Gestaltung der Sage vom Ostgothenkoenig Ermanarich bis in das 12 te Jahrhundert“ (KGW I 3, 239-269: 16 [3]) schließt Nietzsche an diese Thematik Kobersteins direkt an – bis hin zu wörtlichen Formulierungen, z. B. wenn er sagt, dass er noch zusammenstellen wolle, „was nach den angeführten Zeugnissen um die Grenzscheide des 10 und 11 Jahrhunderts über die Ermanarichsage bekannt gewesen sein mag“ (264). Zugleich ist er sich auch bewusst, wie viel er den Werken der Brüder Grimm verdankt, wenn er diese Abhandlung „mit dem lebhafteste Dank gegen die Männer“ schließt, „denen ich hierbei alles und jedes schulde, vor allem aber gegen die Gebrüder Grimm, die sich ein unvergängliches Ehrendenkmal in dem Herzen eines jeden Deutsche gegründet haben“ (269). In der Abhandlung von 1861 vergleicht Nietzsche abschließend den Jörmunreck der Edda und den Ermanarich des Jornandes
_____________ 224 K. A. Koberstein, Grundriss der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, 5.
Auflage, Band 1, 1872, 44. 225 Ebd. 226 Vgl. a. a. O., 45, Anm. 5.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
und geht dabei auf den Unterschied zwischen dem nordischen und dem deutschen Heldenmythos näher ein (vgl. KGW I 2, 280f: 10 [20]). Ermanarich erscheint als der Weiseste aller Barbaren, und Nietzsche vermutet, dass er vielleicht schon Christ sei, mindestens das Christentum kenne; im Unterschied dazu wurzle der nordische Heldenmythos „noch ganz im Götterglauben des Heidenthums“ (280). Und Nietzsche fasst zusammen: „Es ist eine bekannte Thatsache, daß der Norden alles in das Schreckliche, Wilderhabene, Mysteriöse zieht, was in Deutschland noch im Bereich historischer Helle und der Menschlichkeit liegt“ (281). Die „einsame, wildkühne Natur des Nordens“ präge sich auch in seinen Gesängen ab: „alles ereignet sich urplötzlich, oft zum dramatischen Dialog zusammengedrängt. Und fürwahr, es sind Dramen, die furchbar erhabensten, die je gedichtet wurden, die darum auch in ihrer Gewalt den Zuhörer niederschmettern“ (ebd.). Als Beispiel dafür bringt Nietzsche den grundlegenden ersten Text der ‚Göttersage‘ in der Älteren Edda, nämlich die Schilderung der „Götterdämmrung“ in der bedeutenden mythologischen Dichtung ‚Völuspa‘, wo die Sonne schwarz wird, die Erde ins Meer versinkt, wo Glutwirbel den allnährenden Weltbaum umwühlen, und die Lohe den Himmel leckt, sie ist die grandioseste Erfindung, die je das Genie eines Menschen ersann, unübertroffen in der Litteratur aller Zeiten, unendlich kühn und furchtbar und doch sich in bezaubernden Wohlklängen auflösend (281f).
Mit dem letzteren Hinweis ist die Wiedererstehung einer neuen Welt gemeint, die in der ‚Völuspa‘ in den Strophen 58 bis 65 geschildert wird: ‚Da werden sich <wieder> die wundersamen / Goldne Scheiben im Grase finden, / Die in Urzeiten die Asen hatten, / Die vollführenden Götter u. Fiölnirs Geschlecht. / Da werden unbesät die Aecker tragen, / Alles Böse schwindet, Baldur kehrt wieder, / In des Siegsgotts Himmel nahen Baldur und Hödur. / Die walweisen Götter …‘ (282).
6. Mythologie und Dichtung der Germanen
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Bei dieser Darstellung der Götterdämmerung227 werden ähnliche Bilder verwendet wie bei der Schilderung der Folgen des Todes Gottes in Aphorismus Nr. 125 der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘, insofern hier drei der wichtigen Symbole zur Sprache kommen: die Sonne, die Erde und das Meer: Schwarz wird die Sonne, / Die Erde sinkt ins Meer, / Vom Himmel fallen / die heitern Sterne. / Gluthwirbel umwühlen / den allnährenden Weltbaum, / Die heiße Lohe / beleckt den Himmel228.
6.2.3. Christentum und germanisches „Heidentum“ – ein ambivalentes Verhältnis Im November 1862 wendet sich Nietzsche in mehreren Entwürfen nochmals der Ermanarich-Thematik zu (vgl. KGW I 3, 52-65: 14 [23-32]), wobei er sich besonders mit Swanhild und Bekka im historischen Kontext befasst. Hier wird sehr stark auch der Widerspruch zwischen Christentum und Heidentum hervorgehoben, etwa am Beispiel des Zweikampfs zwischen Randwe und Bekka, der heidnischer Oberpriester ist (vgl. 54). Es ist das Konzept eines Dramas mit mehreren Akten, in dem die „christliche Partei“ gegen die „heidnische“ kämpft (vgl. 62f), das jedoch nicht ausgeführt wurde. Im Hintergrund solcher Überlegungen stehen offenbar zeitgenössische Konzepte über das Verhältnis Christentum-Germanen, in denen sich stark nationalistische Interessen spiegeln. In den Augen vieler Autoren des 19. Jahrhunderts ist durch die christliche Missionierung das sogenannte „ursprüngliche Deutsche“ überdeckt worden. Gerade bei seinem Lehrer Koberstein wie auch in der Literatur, die Nietzsche hier heranzieht (besonders Simrock), ist dieser Gedanke des Gegensatzes zwischen Christentum und „heidnischem“ Ethos deutlich hervorgehoben, wenn
_____________ 227 Eine dichterische Fassung von „Ermanarichs Tod“ schreibt Nietzsche
zwischen Oktober 1861 und März 1862 nieder (vgl. KGW I 2, 370-375: 12 [17]); hier spricht Nietzsche von der „Götterdämmrung schwüle(n) Pracht“ (a. a. O., 370). 228 K. Simrock (Hg.), Die Edda, 2. Auflage 1855, 11f, Strophe 57.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
auch in einer ambivalenten Wertung. Die Bedeutung nämlich, die die Annahme des Christentums für die germanischen Völker hatte, wurde bei den Autoren, über die Nietzsche die Welt der Germanen und deren Literatur kennen gelernt hat, in ihren Vorteilen, aber auch Nachteilen gesehen. Koberstein spricht einerseits von den schnellen Fortschritten, die die Germanen „in der Civilisation nach ihrer nähern Bekanntschaft mit den Römern und der Annahme des Christenthums machten“229 und davon, dass „den grössten Einfluss auf die Umgestaltung der geistigen und sittlichen Zustände der Deutschen (…) die Einführung des Christenthums (hatte)“; andererseits stellt er fest, dass „den christlichen, aus der Fremde kommenden Bekehrern“, im Interesse, ihre Lehre auf Dauer zu sichern, daran gelegen war, „alles das aus dem Leben, den Sitten und der Vorstellungsweise der Neubekehrten zu entfernen, was diese an ihre alte Götterwelt erinnern, die Sehnsucht darnach in ihnen erwecken, den Rückfall in das Heidenthum herbeiführen konnte. Die Geistlichkeit trat daher gleich von vorn herein in ein entschieden feindliches Verhältniss zu der Volkspoesie“230. Anders sei das Verhältnis im skandinavischen Norden, besonders in Island, gewesen, „wo das Christenthum allmähliger und weniger gewaltsam, als in Deutschland, eingeführt wurde, und gebildete einheimische Geistliche die ältesten Sammler und Aufsager von Sagen und Liedern der heidnischen Vorzeit waren“231. Auch die angelsächsische Geistlichkeit trat der Volkspoesie „bei weitem weniger feindselig gegenüber, als die deutsche“232. Es war also
_____________ 229 K. A. Koberstein, Grundriss der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, 5.
Auflage, Band 1, 1872, 10; vgl. 4. Auflage 1847, 10. 230 K. A. Koberstein, a. a. O., 17. In einer Anmerkung wird aber hinzuge-
fügt: „Wenn aber auch die Geistlichkeit den alten Glauben stürzte, ganz ausrotten konnte sie ihn nicht“, denn vieles habe sich in der Vorstellungsweise des Volkes im Aberglauben, in seinen Sitten, Gewohnheiten und Spielen erhalten, „was durch nie abgerissene Fäden mit dem alten Heidenthum zusammenhängt“. 231 A. a. O., 18. 232 Ebd.
6. Mythologie und Dichtung der Germanen
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durchaus eine Sicht der christlichen Missionierung der Germanen gegeben, die die Gewaltsamkeit derselben deutlich sah und ebenso auch die „toleranteren“ Entwicklungen im Norden233. Der Tendenz, die die Erneuerung des „Deutschen“ im Sinne des Nationalen vermittels der germanischen Literaturüberlieferung anstrebte, begegnet Nietzsche auch in den Erläuterungen zur Übersetzung der Edda von Karl Simrock 234. Nietzsche hat die Erläuterungen offenbar gelesen, und er schließt sich in seinen Überlegungen zum Verhältnis der deutschen zur nordischen Ermanarich-Sage selbst dem Argument Simrocks an, das dort unter Bezugnahme auf Wilhelm Grimm gebracht wird. Simrock erblickt in der Sprache und in der Literatur das Gemeinschaftliche der Deutschen: „Ihnen verdanken wir es, wenn sich neuerdings unser Volk wieder als ein deutsches zu empfinden begann“235; er meint, dass die „vaterländischen Götter“ in „unsern Herzen ihre Auferstehung feiern (wollen)“236. In der Vereinigung der ‚Älteren‘ mit der ‚Jüngeren Edda‘ erblickt er „gleichsam die nordische Bibel, und somit auch die unsrige, da der Glaube der Nordmänner im Wesentlichen mit dem deutschen übereinstimmt“237. Vor einem solchen Hintergrund ist es nicht verwunderlich, wenn die Missionierung durch das Christentum sehr kritisch gesehen wird. Er schreibt z. B.:
_____________ 233 Ähnliches wird im Hinblick auf die ersten Jahrhunderte nach dieser
234 235 236 237
Missionierung ausgeführt, und es wird mit Bezug auf Jacob Grimm, einen Autor, auf den sich Koberstein stets positiv beruft, gesagt, dass dieser treffend andeute: „Nachdem das Christenthum die noch aus heidnischer Wurzel entsprossene Dichtung des 8. und 9. Jahrh(underts) verabsäumt oder ausgerottet hatte, musste die deutsche Poesie eine Zeit lang still stehen, eine Pflanze nicht ungleich, die (sic!) das Herz ausgebrochen ist“ (a. a. O., 43, Anm. 8). Siehe oben S. 94, Anm. 223. K. Simrock (Hg.), Die Edda, 2. Auflage 1855, 354. Ebd. A. a. O., 355.
100
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg In Deutschland war der Eifer der christlichen Priester leider mit zu großem Erfolge bemüht, das Heidentum bis auf die letzten Spuren zu tilgen (…) Am meisten ist der Verlust unsrer heidnischen Götter und Heldengesänge zu beklagen, welche den lebendigsten Ausdruck der ursprünglich deutschen Weltanschauung enthalten haben müssen (…) Wollen die Deutschen nun die ihrem Geist eingeborenen und noch einwohnenden Götter ehren, wollen sie den Geist ihrer ältesten Geschichte zu sich sprechen lassen, so müßten sie nach diesem äußersten Thule (scil. nach Island; J. F.) wandern, und die Früchte kosten, die unter dem starrsten aller Himmel gereift sind238.
Seine Ausführungen zeigen, dass es bei der Befassung mit den germanischen Mythen nicht nur um eine literarische Kenntnis oder museale Wiederbelebung, sondern um eine innere Aneignung geht. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass solche Intentionen auf Nietzsche eine gewisse Faszination ausgeübt haben. Bei aller historischen und literarkritischen Befassung mit diesen Dichtungen klingt doch stets eine existenzielle Betroffenheit durch. Diese Texte bringen eine Darstellung mächtiger psychischer Prozesse und grausamer Verhaltensweisen – bis hin zu beeindruckenden religiösen Vorstellungen, wie z. B. über den Untergang der Götter. Das Christentum wird in einem relativ klaren Gegensatz zur hier gegebenen polytheistischen Welt gesehen. Die Differenz zwischen Polytheismus und Monotheismus ist Nietzsche wiederholt auch in den Zeugnissen der alt- und mittelhochdeutschen Literatur begegnet, nicht nur in jenen der klassischen griechischen Texte. Der Unterschied zwischen polytheistischem und christlichmonotheistischem Weltbild spiegelt sich in der Überlieferungsge-
_____________ 238 Ebd. In diesem Kontext ist zu beachten, dass damals von vielen zudem
eine „national-religiöse Christlichkeit“ angestrebt wurde. Dies ist etwa der Fall bei dem für Schulpforta zuständigen Schulrat Karl Gustav Heiland (vgl. R. Bohley, Die Christlichkeit einer Schule, 1974, 22f; vgl. oben S. 39); auch bei Lehrern in Schulpforte, wie z. B. bei Niese, dem Religionslehrer Nietzsches in den oberen Klassen, spielten derartige Intentionen eine Rolle (vgl. a. a. O., 146).
7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft
101
schichte althochdeutscher Texte. Nietzsche versuchte, Einflüsse des Christentums durch eine vergleichende Methode zu eruieren, insofern er z. B. die „nordische“ Textüberlieferung von Jörmunrekk der „deutschen“ (christlich geprägten) von Ermanarich gegenüberstellte. Diesen komparativen Zugang hat er nicht nur (hier aber besonders) bei der Überlieferung von Heldenliedern angewendet, sondern in Einzelfällen auch beim Vergleich mit den großen Epen Indiens. Die methodologische Basis dafür war durch die Indogermanistik und die vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgegeben.
7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft
7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft 7.1. Darstellung Indiens in Naumburger Schulbüchern
Im Zusammenhang der Beschäftigung mit dem Indienfeldzug Alexanders des Großen mögen Nietzsche vielleicht schon in Naumburg Kenntnisse über die wichtigste Religion Indiens, den Brahmanismus, wie es damals hieß, vermittelt worden sein. Bei Nietzsche kommt „Alexander (…) 336-323.“ im Kontext der Aufzählung von „Schlachten“ zur Sprache239. Welter hat einen eigenen Paragraphen über Alexander in Indien, jedoch mit nur spärlichen Hinweisen auf die Religion. Er schreibt: „Die Bewohner zeichneten sich schon früh durch Kunstfleiß und Kenntnisse aus. Sie waren, wie die Ägypter, in Kasten getheilt. Die Priester und Gelehrten, Braminen genannt, machten die vornehmste Kaste aus“240. Den Ausdruck „Kasten“ hat Welter vor allem auf die ägyptische Kultur bezogen und bei dieser näher dargestellt241. In eigenen Dichtungen verarbeitet Nietzsche Inhalte des Unterrichts; in dem Drama ‚Philotas u. die Verschworenen‘ (KGW I
_____________ 239 Vgl. KGW I 1, 133f: 2 [7]. 240 Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 (BN), 222. 241 Vgl. a. a. O., 55ff.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
2, 139-164: 6 [79]) wird berichtet, wie Alexander der Große von Abgesandten „aus allen Gebieten Asiens bis hin zum Indusstro<m>“ als „Weltbeherrscher“ verehrt wird; und Nietzsche spricht von „Magier(n), des Indus weise(n) Söhne(n)“ (150). Auch in den in Naumburg verwendeten Geographiebüchern wurde Indien behandelt, aber wie erwähnt242 hat Nietzsche dieses Stoffgebiet schwerpunktmäßig erst in Schulpforta kennen gelernt. Zur Illustration der möglichen Kenntnisse über indische Religionen sei aber kurz auf die Inhalte von zur Zeit Nietzsches am Naumburger Gymnasium verwendeten Lehrbüchern in Geographie (Roon und Daniel) verwiesen. Von Albrecht von Roon werden die östlichen Religionen als „das Heidenthum der kaukasischen Menschheit“ bezeichnet, zunächst „das Brahmanenthum, die verbreitetste Religion der indischen Völker, auf der Halbinsel diesseits des Ganges“, über den Buddhismus finden sich – nach einem Hinweis auf die Parsen – folgende Ausführungen: „Die verbreitetsten Religionsformen der mongolischen Menschheit sind das Buddhathum und das Schamanenwesen“. Der Buddhismus erscheint als „die ausgebreitetste aller heidnischen Religionen, weil sie sich überall dem älteren lokalen und nationalen Heidenthum der Völker nachbequemt hat“243. Etwas differenzierter, wenn auch gleichfalls noch mit vielen Vorurteilen behaftet, behandelt Daniel die Religionen „Vorder-Indiens“, einschließlich der Sikhs 244. Bei den Hindus werden die Hauptgötter (Brahma, Wischnu [sic!] und Schiva) erwähnt und ihre Bedeutung erklärt, ebenso die Kasten von den Brahmanen bis zu den „kastenlosen Menschen“ und den „negerartigen (sic!) Parias“. Es wird die noch „immer nicht ganz verschwundene Wittwenverbrennung“, die „übrigens keine Religionsvorschrift“ sei, genannt245.
_____________ 242 243 244 245
Vgl. oben S. 47. A. von Roon, Anfangsgründe der Erd-, Völker- und Staatenkunde, 1860, 205. H. A. Daniel, Lehrbuch der Geographie, 1857 (BN), 81f; vgl. 1872, 85f. A. a. O., 79; vgl. 1872, 83.
7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft
103
Der Buddhismus wird sowohl beim „Chinesische(n) Reich“, in dem „die am meisten verbreitete Religion die des Buddhismus“ sei246, als auch beim „Japanische(n) Reich“ erwähnt, bei Tibet aber etwas näher geschildert: Das ganze Land ist das Hauptheiligthum des Buddhismus oder Lamaismus, denn die überaus zahlreichen in viele Ordnungen getheilten Priester, die hier in diesem Lande auch das weltliche Regiment haben, heißen Lamas. In der klosterreichen Hauptstadt Lassa wohnt der Dalai-Lama, in dem Buddha’s göttlicher Stellvertreter immer von neuem Mensch wird. Darum ehrt man ihn selbst wie einen Gott247.
Auf weitere inhaltliche Aspekte des Glaubens der „brahmaistische(n) und buddhistische(n) Heiden“, wie es beim Asien-Überblick heißt248, wird aber nicht näher eingegangen. Auf Sanskrit wird einerseits als Sprache der „heiligen Religionsbücher der Hindus“ hingewiesen, andererseits aber auch beim allgemeinen Überblick über Asien, „die ältesten Sitze der Menschen“, wo die indogermanische Sprachverwandtschaft genannt wird: „die uralte heilige Sprache der Inder, Sanskrit, (zeigt) eine auffallende Verwandtschaft z. B. mit fast allen europäischen Hauptsprachen“249. Ausführlicher noch wird die Sprachverwandtschaft bei Roon behandelt. Der Verfasser geht von sieben Hauptvölkern und Sprachstämmen aus, beginnend mit dem chinesisch-japanischen bis hin zum „indisch-europäischen“, zu dem zehn Sprachfamilien gehören: „Indische (Sanskrit-), persische, kaukasische, griechischlateinische, keltische, germanische, slavische, lettische, semitische Völker und die Basken“250.
_____________ 246 247 248 249 250
A. a. O., 83; vgl. 1872, 87. A. a. O., 89; vgl. 1872, 94. A. a. O., 80; vgl. 1847, 49. A. a. O., 54; vgl. 1847, 49. A. von Roon, Anfangsgründe der Erd-, Völker- und Staatenkunde, 1860, 201. Unrichtigerweise werden hier auch semitische Völker und die Basken genannt.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Diese Ausführungen zeigen, dass es im damaligen Schulsystem vorgesehen war, schon ab Tertia (für diese Schulstufe war der Stoff dieses Teils von Roons Lehrbuch vorgesehen) Grundkenntnisse über Sprachfamilien und insbesondere auch über die indoeuropäischen Sprachen vermittelt zu bekommen. Ob dies bei Nietzsche schon in Naumburg der Fall war, muss allerdings offen bleiben, da keine Aufzeichnungen vorliegen, aus denen dies eindeutig hervorginge; aber unzweifelhaft sind solche Kenntnisse in Schulpforta gegeben. 7.2. Die indoeuropäische Sprach- und Völkerfamilie Mit guten Gründen kann gesagt werden, dass der Deutschunterricht besonders ab der Zeit in Schulpforta neben dem Unterricht in den klassischen Sprachen den wohl größten Einfluss auf Nietzsches Kenntnis vergangener bzw. „fremder“ Kulturen gehabt hat, und zwar in zweifacher Hinsicht: einerseits wurde durch ihn eine Begegnung mit der Erlebniswelt germanischer und nordischer Mythen ermöglicht, andererseits wurden in ihm Kenntnisse über Ähnlichkeiten mit und Differenzen zu anderen indoeuropäischen Kulturen vermittelt, und zwar durch die vergleichende Sprachund Literaturwissenschaft. Auf diese Weise konnte Nietzsche schon im Gymnasium z. B. einige Worte aus dem Sanskrit und den Vergleich germanischer bzw. griechischer Epen mit den großen indischen Werken Mahābhārata und Rāmāyana kennen lernen. Natürlich gab es über den Unterricht in der deutschen Sprache und Literatur hinausgehend weitere Quellen für solche Kenntnisse: sowohl in anderen Schulfächern (wie insbesondere Geschichte), als auch in der persönlichen Befassung, z. B. mit althochdeutschen Texten; oder aber auch durch die Lektüre von Emerson (vgl. dazu bes. 7.2.6.).
7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft
105
7.2.1. Eine „asiatisch-europäische Welt“ (Karl August Koberstein) Eine der wichtigsten Auffassungen, die eine transkulturelle Dimension des Sprach- und Geschichtsunterrichts grundlegte, war die Überzeugung von der indogermanischen Sprachverwandtschaft. In Schulpforta begegnete Nietzsche in verschiedenen Kontexten der Auffassung, dass Europäer und Inder sowie Perser und andere Völker zu einer Völkerfamilie gehören. Diese Grundthese hatte sein Deutschlehrer Koberstein in seinen Aufzeichnungen wiederholt vertreten. Sein handschriftlicher Nachlass, der im Wesentlichen im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW) in Berlin, zu einem geringen Teil auch in Schulpforta aufbewahrt ist, zeigt das in vielfacher Weise. In einer Abhandlung ‚Über die deutsche Sprache‘ (Archiv-Bezeichnung) geht er unter dem Titel Einleitung von der Auffassung aus, dass „die deutsche Sprache ihrem Ursprunge nach einem der großen Sprachstämme an(gehört)“, der sich vom mittleren Asien aus ausgebreitet habe; dort hätten sich die Sprachen des „indogermanischen Stammes“ „am reinsten und ungetrübtesten erhalten“. „Dahin gehören namentlich die Sanskrita (d. h. vollkommene) Sprache Indiens (…)“251; doch er habe es in seinen Ausführungen „nicht darauf abgesehen, die Verwandtschaft der deutschen Sprache mit der indischen, griechischen und lateinischen bis ins Einzelne nachzuweisen“, dazu fehle es ihm – wie er sagt (und da ist ein Unterschied zu Corssen, dem anderen großen sprachwissenschaftlich ausgewiesenen Lehrer Nietzsches gegeben)252 – „nicht nur an den erforderlichen Vorkenntnissen“, sondern auch die „Untersuchungen, welche seit kurzer Zeit auf dem Felde der vergleichenden Sprachwissenschaft angestellt sind“, hätten noch nicht die Reife erlangt, die es ermöglichen würden, die Hauptresultate in einem leicht übersehbaren Zusammenhang mitzuteilen; aber er bringt „noch andere Beweismittel für die Abstammung der
_____________ 251 ABBAW, Koberstein-Nachlass, Nr. 14, p. 1. 252 Vgl. unten S. 119.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Deutschen aus Asien“253, die für ihn unbestritten ist. In den sehr umfangreichen Materialien zur deutschen Literaturgeschichte behandelt er schon zu Beginn unter der Rubrik Ältestes die Abkunft der Deutschen aus Asien. – Runen. – Barden.254. Die Grundlagen der Beziehung Europas zu Asien werden von Koberstein auch in seinen Veröffentlichungen in genereller Weise verstanden, so weit reichend sogar, dass er von einer „asiatischeuropäischen Welt“ spricht: „Daß die Völker (…), daß Perser, Griechen, Celten, Germanen und Slaven alle zu Einer der großen Völkerfamilien der asiatisch-europäischen Welt gehören und in einem sehr nahen Verwandtschaftsverhältniß zu einander stehen, hat die Wissenschaft unserer Zeiten außer allem Zweifel gesetzt“255. Koberstein präzisiert den Erkenntnisstand der damaligen indogermanistischen Forschungen in folgender Weise: Am bestimmtesten aber spricht für die asiatische Abkunft der Deutschen die unleugbare Grundähnlichkeit, die sich zwischen den germanischen und andern abendländischen Völkern einerseits, und einigen morgenländischen andrerseits in Sprachen, religiösen Anschauungen, Rechtsgebräuchen und Sitten, Sagen und selbst Schriftzeichen findet. Darnach scheinen die Germanen mit den Indern, Persern, Griechen, Lateinern und anderen europäischen Völkerstämmen von einem Urvolke ausgegangen zu sein, welches seine Sitze in den Gegenden des Kaukasus und kaspischen Meeres gehabt haben mag256.
Die Anmerkungen dazu zeigen, dass Koberstein die einschlägige Literatur der damaligen Zeit gekannt und verarbeitet hat, wie die
_____________ 253 ABBAW, Koberstein-Nachlass, Nr. 14, p. 3; insbes. geht er auf die Sage
von Odin ein, die berichtet, dass er „aus Asien gekommen“ sein soll; und – was noch wichtiger sei – dass er „eine Buchstabenschrift, das sogenannte Runenalphabet“, mitgebracht habe. 254 A. a. O., Nr. 118, (Umschlag 1), vgl. Nr. 119: Liste zu den Materialien. 255 K. A. Koberstein, Vermischte Aufsätze zur Litteraturgeschichte und Aesthetik, 1858, 56. Vgl. dazu auch Koberstein-Nachlass, Nr. 113, S. 15. 256 K. A. Koberstein, Grundriß der Geschichte der deutschen National-Litteratur, 4. Auflage, Band 1, 1847, 8.
7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft
107
‚Deutsche Grammatik‘ Jacob Grimms 257, Bopps ‚Vergleichende Grammatik‘ und Potts ‚Etymologische Forschungen‘; damit knüpft er direkt an die Grundlagenwerke der Indogermanistik an. Koberstein hat demnach die Grundannahmen der frühen Indogermanistik als wissenschaftlich gesicherte Daten übernommen und im Unterricht, den Nietzsche hörte, vermittelt. Sehr wahrscheinlich geschah dies schon in Untersecunda; als Lehrstoff für Deutsch ist nämlich auf dieser Schulstufe angegeben: Grundlinien des etymologischen Theils der deutschen Grammatik, nebst einer Uebersicht über die Hauptepochen der Entwicklungsgeschichte unserer Sprache 258. Die Verwandtschaft der indogermanischen Sprachen wurde in Grundzügen schon Ende des 18. Jahrhunderts von William Jones erkannt. Diese Entdeckung führte zu einer gravierenden Änderung in den Auffassungen über Sprachverwandtschaft und in der Folge zur Begründung der Vergleichenden Sprachwissenschaft, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts besonders im Kontext der Indogermanistik entstand. Die Bezeichnung „Indogermanistik“ stammt von Malte-Brun 259. Durch Rückschlüsse wurde die Regelmäßigkeit der Lautentsprechungen durch den dänischen Sprachforscher Rasmus Christian Rask epochemachend aufgezeigt, Franz Bopp begründete die historisch-vergleichende Grammatik in seinem ebenfalls grundlegenden Werk ‚Vergleichende Grammatik‘260, und Jacob Grimm zeigte vergleichend die geschichtliche Entwicklung an der germanischen Sprache auf261 und wies dadurch
_____________ 257 Die ‚Deutsche Grammatik‘ von Grimm wird in der Würdigung Ko-
258 259
260 261
bersteins durch den Pförtner Rektor Peter als eine „Hauptgrundlage“ von dessen Unterricht bezeichnet: vgl. Album des Literarischen Vereins, 1871, 65ff. Zit. nach R. Bohley, Über die Landesschule zur Pforte (1976) 306. Précis de la géographie universelle, 1820. Vgl. Art. indogermanisch, in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 329. Vgl. näherhin M. Meier-Brügger, Indogermanische Sprachwissenschaft, 72000, 11f; St. R. Fischer, Eine kleine Geschichte der Sprache, 22004, 168ff. F. Bopp, Vergleichende Grammatik, 1833ff. Art. Indogermanistik, in: Brockhaus-Enzyklopädie 10, 461f.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
die indogermanische Sprachfamilie nach262. In seiner ‚Deutschen Grammatik‘ (4 Bände, 1819-1837) vergleicht er die deutsche Sprache mit den ihr verwandten. In der Linie dieser Entwicklung stehen die ‚Etymologischen Forschungen auf dem Gebiete der IndoGermanischen Sprachen‘ (1833) von August Friedrich Pott, die, wie der Untertitel besagt, „mit besonderem Bezug auf die Lautumwandlung im Sanskrit, Griechischen, Lateinischen, Littauischen und Gothischen“ durchgeführt sind. Er schließt mit seinen Bemühungen an die vergleichende Sprachwissenschaft von Bopp, Grimm und Humboldt an. Koberstein, der von 1820 an bis kurz vor seinem Tod 1870 Lehrer in Schulpforta war, ist mit seinen eigenen Arbeiten direkt in der Linie Grimms gestanden und hat sich mit der Literatur- und Sprachgeschichte befasst, besonders auch – wie erwähnt – mit den Nibelungen; zu deren wichtigem Herausgeber Karl Lachmann hatte er persönlichen Kontakt. Seine Bekanntschaft mit den Brüdern Grimm war zudem durch familiäre Beziehungen gefestigt worden263. Diese persönlichen Vernetzungen mögen die wissenschaftlichen Verbindungen gestärkt haben; sachlich war es für Nietzsches Deutschlehrer jedenfalls evident, dass in der Geschichte der Sprachen und der Literaturen europäischer Völker deren asiatische Herkunft nicht außer Acht gelassen werden könne. Darauf ist Koberstein auch wiederholt in seiner „Literaturgeschichte“ zu sprechen gekommen. Schon in der Einleitung zum Gesamtwerk hat er z. B. das hohe Alter des Nibelungenliedes hervorgehoben, wobei er die Lehrmeinung der „gemuthmaßten Ueberkunft aus dem Morgenlande mit einwandernden deutschen Völkerschaften“ erwähnte264. Koberstein kommt auf den Orient ferner dann zu sprechen, wenn er nach den Einflüssen auf die „deutsche National-
_____________ 262 Vgl. Art. indogermanisch, in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 329. 263 Wie z. B. durch die Übernahme einer Taufpatenschaft. Vgl. dazu I.
Lelke, Die Brüder Grimm in Berlin, 2005, 188. 264 Vgl. 4. Auflage, Band 1, 1847, 15; er lässt diese Frage aber offen.
7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft
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Litteratur“ frägt; auf sie hätten schon im Mittelalter und noch mehr in der neueren Zeit „fremde Elemente ihren Einfluß ausgeübt“, wobei auch der Orient genannt wird: „zum Theil selbst, wenigstens mittelbar, (haben) die (scil. Literaturen; J. F.) des Morgenlandes (…) zu verschiedenen Zeiten mehr oder minder das litterarische Leben der Deutschen in Stoff, Form und Gehalt bestimmen helfen“265. Zwei Epochen solchen asiatischen Einflusses hebt Koberstein in seiner „Literaturgeschichte“ hervor: die Vermittlung über die Kreuzzüge und die Zeit der Romantik. Hinsichtlich der aus dem Orient zurückkehrenden Ritter schreibt er: „Was Orientalisches in manchen deutschen Gedichten dieses Zeitalters ist, namentlich in denen vom Gral, rührt wohl eben so sehr von den spanischen Arabern durch Vermittlung der Provencalen und Franzosen, als unmittelbar aus Asien her“266. Für den Beginn des 19. Jahrhunderts stellt er – mit kritischer Tendenz – „ein Neben- und Durcheinander sich widerstrebender Richtungen, ein buntes Gewirr von Nachahmungen und Nachbildungen älterer heimischer und fremder Dichtungen aus allen Ländern und Zeiten“ fest267 und führt dazu eine Fülle wissenschaftsgeschichtlich wegweisender Übersetzungen aus orientalischen Sprachen, aus der persischen, arabischen und indischen Dichtung, an268. Koberstein wusste also um die vielfältigen Einflüsse orientali-
_____________ 265 Vgl. a. a. O., 3. 266 2. Auflage, 1830, 32 Anm. 1; im Zusammenhang damit wird u. a. auf „v.
Hammer, üb. die Baphometslehre“ verwiesen; ferner wird hier die Legende von Barlaam und Josaphat genannt (vgl. a. a. O., 55, und 4. Auflage, Band 1, 1847, 220). Von der Sammlung ‚Das Buch von den sieben weisen Meistern‘ sagt er, dass „deren Ursprung bis nach Indien zurückreicht“ (4. Auflage, Band 1, 183). 267 4. Auflage 1866, Band 3, 2562f. 268 Z. B. „Jos. von Hammer (gemeint ist Hammer–Purgstall; J. F.) der Divan des Hafis, aus dem Persischen (…); Montenebbi, aus dem Arabischen (…). Von J. Görres Firdusi, Schah Nameh, Heldenbuch von Iran (…)“; auf Texte in Fr. Schlegels Ueber die Sprache und Weisheit der Inder (1808)
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
scher Dichtung im Einzelnen Bescheid, und es ist anzunehmen, dass diese Hintergründe im Unterricht erwähnt wurden. Im Horizont dieser sprachwissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Annahme einer indogermanischen Völkerfamilie befasst sich Koberstein auch mit der Verbreitung eines Motivs, das die Verbindung zwischen europäischen und asiatischen Dichtungen zeige, nämlich mit einer bestimmten „Art der Seelenwanderung“, wie er in dem Titel seines Aufsatzes ‚Ueber die in Sage und Dichtung gangbare Vorstellung von dem Fortleben abgeschiedener menschlicher Seelen in der Pflanzenwelt‘ zum Ausdruck bringt269. Möglicherweise ist Nietzsches Kenntnis des verwandten Gedankens einer Vorexistenz der Seele, den er – im Anschluss an Emerson – als hinduistischen referiert270, durch die Begegnung mit solchen Überlegungen seines Lehrers verstärkt worden, falls Koberstein dieses Motiv auch im Unterricht behandelt hat; dieser ist nämlich überzeugt, dass die bei verschiedenen Völkern aufgezeigte und „ihnen allen gemeinsame Vorstellung auf nichts anderm als einem uralten Glaubenssatz dieser so genannten indogermanischen Völkerfamilie beruhe, den die Phantasie frühzeitig in die Dichtung hineinzog und ihn in dieser auch da noch festhielt, wo er längst seine Gültigkeit für das vernünftige Denken verloren hat“271. Die referierten Belege zeigen, dass in Pforta Denkmotive indischen Ursprungs trotz der eindeutig klassisch-philologischen Ausrichtung der Schule keineswegs völlig ausgeklammert waren, sondern – wenigstens gelegentlich – im Kontext anderer Themenkreise und Fragen zur Sprache kommen konnten. Im Besonderen
_____________ wird hingewiesen, ebenso auf die von A. W. Schlegel herausgegebene Indische Bibliothek (1820ff.) mit Übersetzungen von Bopp u. a. (vgl. a. a. O., 2563). 269 In: K. A. Koberstein, Vermischte Aufsätze zur Litteraturgeschichte und Aesthetik, 1858, 31-62; Zitat: 58. 270 Vgl. unten S. 130f. 271 K. A. Koberstein, a. a. O., 56.
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war dabei auf den Professor für deutsche Sprache einzugehen, auf Karl August Koberstein, der, wie in seiner Biographie gerühmt wird, „in fremden Litteraturen heimisch“ war272 und auf diese Weise auch die Brücke zu östlichem Gedankengut zu schlagen vermochte. Er gehörte nach Nietzsches Urteil zu den „ausgezeichnete(n) philologische(n) Lehrer(n)“ in Pforta, die getroffen zu haben er als „das Glücklichste“ schätzte273. 7.2.2. Vergleich des Nibelungenliedes mit Rāmāyana und Mahābhārata Zentrale Gestalten des Nibelungenliedes (wie Krimhild) und die „heidnischen“ Auffassungen darin werden von Nietzsche nicht allein mit christlichen Anschauungen verglichen274, sondern mit wichtigen Personen der Epen anderer Sprachen und Kulturen, wie insbesondere der griechischen 275 und – in einem besonderen Fall – der indischen. In einem Deutschaufsatz, der von Koberstein am 8. Dezember 1862 zensiert wurde (Mp V 22a, pp. 1-15; vgl. BAW 2, Nb. 445) und der die Characterschilderung der Kriemhild nach dem Nibelungenliede zum Thema hatte276, kommt Nietzsche auf die Epen Mahābhārata und Rāmāyana, die beiden berühmten Grunddokumente indischer Literatur und Religion, zu sprechen. Die Schilderung des Charakters von Krimhild wird hier in die schicksalhafte Schuldverfloch-
_____________ 272 Vgl. E. Schmidt, Art. Koberstein. K. (A.), 360. 273 Vgl. den Lebenslauf als Beilage zum Brief vom 1. 2. 1869 an Wilhelm
Vischer anlässlich seiner Berufung nach Basel (KGB I 2, 366-368). Vgl. ebenso den Brief an seinen Schulkollegen Carl von Gersdorff, der „deutsche Sprache und Literatur“ zu studieren beabsichtigte, und dem Nietzsche schreibt: „wir haben ein ausgezeichnetes Vorbild in Koberstein“ (KGB I 2, 55: Brief vom 25. Mai 1865). 274 Vgl. oben S. 97. 275 Vgl. S. 79. 276 Vgl. dazu R. Bohley, Über die Landesschule zur Pforte (1976) 312 mit Anm. 14.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
tenheit hineingestellt. Zu Beginn des Aufsatzes277 finden wir die Feststellung, dass auch in Situationen, in denen sich die Menschen „von den rollenden Rädern eines ewigen Schicksals fortgerissen wähnen“, immer Augenblicke kommen werden, „wo der Mensch die Götter in heiterer, ewig gleicher Größe fern von Neid und Zerstörungslust auf ihren Stühlen sitzend und sich selbst an seine Schuld gefesselt und von Reue zerfleischt erblickt. Auch in den Nibelungen liegt eine solche Anschauung in seltner Tiefe und Erhabenheit zu Grunde“ (KGW I 3, 33f). Daran anschließend folgt im Schulaufsatz eine Aufzählung großer Epen in Weltliteraturen, die eine vergleichende Perspektive voraussetzt: Eine solche tiefe Auffassung des Schicksals leuchtet, wenn auch nur für schärfer Blickende bemerkbar, aus jenen Volksdichtungen hervor, in denen die Geistes- und Gefühlswelt einer ganzen Nation in ursprünglicher Großartigkeit und Reinheit zu Tage tritt, in Ilias und Odyssee, in Ramajana und Mahabbarata (sic!), in den Nibelungen und in Gudrun (…) (KGW I 3, 39).
Es werden je zwei epische Dichtungen der griechischen, der indischen und der deutschen Literatur genannt. Diese Epen und weitere wurden in einschlägigen Überblicksartikeln des 19. Jahrhunderts oft zusammen dargestellt278. Der Vergleich zwischen deutschen und griechischen Epen wurde im Unterricht Kobersteins über Jahrzehnte in Schulpforta praktiziert. In den Verzeichnissen der Pfortenser Valediktionsarbeiten finden wir entsprechende Titel solcher Arbeiten von den zwanziger Jahren bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts279. Diese zei-
_____________ 277 Diesen Aufsatz hatte Nietzsche „für November 1862“ der Germania
gewidmet; im Vortrag ist aber der Verweis auf die indischen Epen noch nicht gegeben (vgl. KGW I 3, 33-38: 14 [17]). 278 Vgl. dazu Art. Epos, in: Meyers Konv.-Lexikon 5, 709-713. 279 Z. B. Carol. Friedr. Henricus Guilelmus Schultz, 21. 3. 1827, Comparatio inter carmen Nibelungarum et Homeri Iliadem (S. 131), Bruno Haushalter, Versuch einer Vergleichung des deutschen Volksepos mit
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gen zudem, dass die Charakterschilderungen Krimhilds und anderer wichtiger Personen aus dem Nibelungenlied wiederholt vorkommen280. Das Nibelungenlied wurde im 19. Jahrhundert auch die „deutsche Ilias“ genannt281. Doch auch der Vergleich der Nibelungen mit den indischen Epen oder des griechischen Dramas mit jenem der Inder war zur Zeit Nietzsches in der Literatur anzutreffen282, wie
_____________ dem griechischen. Mit besonderer Berücksichtigung der homerischen Gesänge und der Nibelungen (S. 180) Oktober 1863. Die Seitenangaben beziehen sich auf das Verzeichnis der Pfortenser Valediktionsarbeiten 1810-1833/6; 1833/7-1865, Sign.: ABLS Ms B 239, 2. Theil. 280 Carol. Aemil. Hasper, Charakterschilderung der Kriemhild, namentlich über deren Rache wegen der Ermordung Siegfrieds, entworfen nach mehreren aus der Nibelungen Noth entnommenen Stellen; Coelestin Buchs, Charakterschilderung des Markgrafen Rüdiger von Bechelaren nach dem Nibelungenlied, 9. 8. 1863 (S. 182); R. Wachsmuth, Einiges über das Nibelungenlied überhaupt und über den Charakter der Kriemhild darin insbesondere 1858 (S. 145). Vgl. Pfortenser Valediktionsarbeiten, ABLS Ms. c. B. 239³, weitere Titel betreffend Charakterschilderungen finden sich 153ff, 164ff, 168ff. 281 Art. Nibelungenlied, in: Meyers Hand-Lexikon 2, 1354. 282 In der indologischen Grundlagenliteratur wurde naturgemäß auf diese Epen Bezug genommen: vgl. schon die Ausgabe des Rāmāyana von August Wilhelm von Schlegel (1823), worauf sich – ebenso wie auf dessen Aufsatz über das Mahābhārata – Christian Lassen bezieht: Indische Alterthumskunde, Band 1, 1847, 482ff. A. W. von Schlegel war Nietzsche als Schriftsteller schon im Gymnasium gut bekannt: aus dessen Kritischen Schriften, Band 2 (1828) exzerpiert er Ueber das Verhältniß der schönen Kunst zur Natur (…): vgl. Mp V 23, pp. 1-7; nun erstmals publiziert in KGW I 3, 103-106: 14A [1]. Vgl. dazu BAW 2, Nb. 458. A. W. Schlegel wird auch – zugleich mit W. von Humboldts ‚Aesthet Versuche‘ – in Mp V 36, pp. 8s. erwähnt. In diesen Vorträge(n) über deutsche Literatur geht Nietzsche zuerst auf Erzählende Dichtungen ein, auf „die im engeren Sinn epische“ Gattung. In diesem Kontext werden ferner die „Geschichte der griech Poesie“ von „Fr Schlegel “ sowie die „Prolegomena“ von „Fr Au Wolf[f]“ genannt. Aus diesem grundlegenden Werk (cap. VIII) hat Nietzsche schon in Schulpforta exzerpiert: siehe Mp IV 11, pp. 1-3, nun erstmals publiziert in:
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in dem Werk von Valentin Rose ‚De Aristotelis librorum ordine et auctoritate. Commentatio‘283, aus dem Nietzsche einige Jahre später als Student in Leipzig (1867/68) solche komparatistische Beobachtungen exzerpiert: So sind Mahabarata u Ramajana nach Christ erst verfaßt. Ähnlich steht es mit unserm Nibelungenlied (KGW I 4, 169: 52 [2])284.
Für Nietzsche war der vergleichende Umgang mit dem Nibelungenlied grundlegend geworden. Als er sich im Jahr 1863 in den Ferien ausführlicher mit dem Nibelungenlied befasst, ist es ein wichtiger Ausgangspunkt, dass die Charaktere des Nibelungenliedes „im Gegensatz zu den homerischen zu betrachten (sind)“ (KGW I 3, 144: 15 [17]); er beabsichtigt „Kriemhilt u. Helena zu vergleichen“ (149: 15 [24]). Charakterschilderungen als solche haben ein auf die Eigentümlichkeit einer Person bezogenes Interesse. Wichtig ist Nietzsche daher der psychologische Zugang: Auf welche verschiedne Arten drückt das deutsche u. griechische Volksepos Seelenbewegungen aus. Welcher Mittel bedient sich das deut<sche> u. das griech Volksepos, um die Seelenregungen seiner Helden zum Gefühl zu bringen (ebd.).
_____________ KGW I 3, 323-325: 16A [1]. Nähere Angaben dazu wird der Nachbericht zu KGW I bringen. 283 1854 (BN), bes. p. 21. 284 Roses Vergleich dient dem hier nicht weiter zu verfolgenden Argument, dass „solche großen Gedichte geschrieben (werden), nicht mündlich überliefert“ (ibid.). Rose nennt auf der von Nietzsche exzerpierten Seite auch die Gesänge der ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘. Vgl. KGW I 4, 168: 52 [2] den Verweis auf die „indische Dichtung v. A. Weber“ (bei Rose p. 20 wird von Weber die „Ind Lit<eratur> G<eschichte> 176sqq.“ angeführt) im Zusammenhang mit Fragen der Datierung von epischen Gedichten; vgl. zudem die Feststellung, dass das griechische Drama „wie bei den Indern auf heroischen Stoffen ruht“: KGW I, 4, 169: 52 [2].
7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft
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In Epen werden zentrale menschliche Probleme behandelt285. Nietzsche hat besonderes Interesse an den psychologischen Aspekten: für ihn leuchtet in den „Volksdichtungen“, wie er im Krimhild-Aufsatz im Zusammenhang mit den großen Epen sagt, „die Geistes- und Gefühlswelt einer ganzen Nation“ hervor; es tritt „für schärfer Blickende“ die psychologische Befindlichkeit ganzer Völker vor Augen, und zwar tritt diese in den alten Epen „in ursprünglicher Großartigkeit und Reinheit zu Tage“ (KGW I 3, 39: 14 [18]). Mit einer solchen Auslegung ist der Rückgang auf die Anfänge der Völker angezielt, sie ist die Realisierung eines an den Ursprüngen orientierten Denkens, wie es in der von der Romantik und von den Brüdern Grimm inspirierten Literaturgeschichtsforschung intendiert war. Die Suche nach den „Uranfängen“ ist eng mit der komparativen Betrachtungsweise verknüpft: diese ist eine Hermeneutik, die ebenfalls das „Ursprüngliche“ der jeweiligen Anfänge deutlicher hervortreten lässt. Nietzsche geht es hier um die „Seele“ der Völker, um „Seelenbewegungen“ in verschiedenen Epen der Weltliteratur, die auf eine wissenschaftliche, objektive Weise verstanden werden sollen. Diese ist zwar kollektiv orientiert, d. h. auf Völker im Ganzen hin, doch ist in ihr aufgrund ihres psychologischen Ansatzes die Wendung zum Individuum angelegt. Zwischen der „völkerpsychologischen“ Deutung und einer subjektiven Selbstbetrachtung besteht dann methodologisch kein unüberwindbarer Gegensatz mehr. Darin sind m. E. Ansätze der Interpretation zu erkennen, die auf Nietzsches spätere kulturpsychologische Analysen vorausweisen. 7.2.3. Sanskrit-Wörter in Nietzsches Aufzeichnungen Im Kontext der sprachwissenschaftlich-vergleichenden Darlegungen war es Mitte des 19. Jahrhunderts unausweichlich, auf die Bedeutung des Sanskrit zu sprechen zu kommen, da die Kenntnis
_____________ 285 Vgl. Art. Epos, in: Meyers Konv.-Lexikon 5, 711f.
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dieser Sprache wesentlich zur Entstehung einer vergleichenden Sprachwissenschaft beigetragen hat: Erst die Entdeckung der alten heiligen Sprache Indiens, des Sanskrit, gegen Ende des 18. Jahrh. und die Aufdeckung des Zusammenhangs, in dem es mit den meisten Kultursprachen Europas steht, gaben den Anstoß zu einer ausgedehntern Sprachvergleichung und damit zur Begründung einer wirklichen Wissenschaft von der Sprache, deren Lebensprinzip, wie das jeder Wissenschaft, die Vergleichung ist286.
In Schulpforta, einer Schule, in der die Klassische Philologie zentral war, wurde schon früh auch die Bedeutung dieser Sprache gesehen. Das zeigen nicht nur die einschlägigen Werke in der Bibliothek287, sondern z. B. auch die Valediktionsarbeit des später berühmt gewordenen Ägyptologen Karl Richard Lepsius, die er schon (wie dem entsprechenden Verzeichnis in Schulpforta zu entnehmen ist) 1829 zu dem Thema verfasste: Über den Einfluß, welchen die Behandlung der deutschen Grammatik in den neusten Zeiten und die aus ihrer größeren Bekanntschaft mit dem Sanskrit hervorgegangenen allgemeinen Sprachvergleichungen auf die Richtung der Philologie überhaupt und namentlich der klassischen haben führen müssen. Deutsch288.
Sanskrit war freilich nicht nur für die Klassische Philologie wichtig, sondern konnte in verschiedenen weiteren Fächern, wie im Deutsch- oder Geschichtsunterricht, thematisch werden. In welchen Kontexten ist Nietzsche der „heiligen Sanscrita“289, wie August Friedrich Pott sagt290, und den wenigen Worten aus die-
_____________ 286 Art. Sprache und Sprachwissenschaft (Grammatik, Etymologie), in:
Meyers Konv.-Lexikon 15, 180. 287 Vgl. S. 32f. 288 Karl Richard Lepsius, Naumburg, 25. 3. 1829. Verzeichnis der Pforten-
ser Valediktionsarbeiten, 1810-1833, 6: Msc. B. 239, 2. Theil, Band 1829, 147. 289 Vgl. Art. Sanskrit, in: Meyers Konv.-Lexikon 14, 300: „die alte heilige Sprache Indiens“. Ähnlich hat man im 19. Jahrhundert von Pali als der „heiligen Sprache des Buddhismus“ gesprochen (Art. Indische Sprachen, in: Meyers Konv.-Lexikon 8, 926).
7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft
117
ser Sprache, die sich in seinen Aufzeichnungen aus Schulpforta finden, begegnet? In einem Notizheft, das Nietzsche im März 1861 als „alumnus portensis“, als Internatsschüler von Schulpforta, wie er selbst zu Beginn sagt (KGW I 2, 295: 11 [1]), führt, findet sich auf den ersten Seiten die Aufzeichnung von zwei Sanskrit-Wörtern (298: 11 [8]): Aham. ahamkara
Ich Ichheit
Diese Aufzeichnung wurde erstmals schon in der Ausgabe von Mette veröffentlicht. Eine weitere umfangreichere Aufzählung von Sanskrit-Wörtern findet sich in einem Schulheft Nietzsches, das, da es sich um Schulmitschriften handelt, bisher unveröffentlicht ist und erst im Nachbericht zur Abteilung I veröffentlicht wird291. Zuerst soll auf die letztere Textstelle eingegangen werden, danach auf die bekannte Notiz „Aham./ahamkara“. 7.2.3.1. Aufweis der indogermanischen Sprach- und Völkerverwandtschaft anhand von Sanskrit-Wörtern. Einige Sanskrit-Wörter hat Nietzsche offensichtlich im Kontext des Geschichtsunterrichts niedergeschrieben. Die Ausführungen in der betreffenden Schulmitschrift gehen auf die früheste Geschichte der Germanen ein und erwähnen beim Nachweis der Zugehörigkeit der Germanen zu den Indogermanen die Sprachverwandtschaft mit dem Sanskrit. Darin heißt es zunächst: Seit unvordenklichen Zeiten sind indog<ermanische> Völker nach Europa. Griechen, Italiker nahmen den Süden den Westen nahmen die
_____________ 290 A. F. Pott, Etymologische Forschungen, 1833, Band 1, Vorwort, X. „Sansk-
rit“ (samskrita) heißt wörtlich „richtig gebildet“, d. h. die „geregelte (scil. Sprache; J. F.)“, das „Zurechtgemachte“, das „Geordnete“. 291 Der Nachbericht zu KGW I befindet sich in Ausarbeitung.
118
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg Celten England Schottland Irland Gallien Spanien dann die Germanen und endlich Lettoslavische Völker (Mp V 8, p. 1)292.
Danach kommt die entscheidende Begründung: Der Beweis für diese Annahme beruht in der Sprache. Seit vierzig Jahren hat man die Verwandtschaft aufgefunden. dadami dadasi dadasti (sic!) sanscr. verg ΈϟΈΝΐ die Benennungen für Haus und
_____________ 292 Vgl. oben S. 76, wo aus der Einleitung zu diesem Text zitiert wird. Es
kann sicher angenommen werden, dass es sich dabei um eine Mitschrift aus dem Geschichtsunterricht handelt, und zwar wahrscheinlich aus dem Unterricht in Untersecunda, in der Nietzsche 1860/61 war. Der Themenbereich in diesem Jahr lautete: „Geschichte des Mittelalters“, wobei im Wintersemester die „erste Hälfte“ und im Sommersemester die „zweite Hälfte von den Hohenstaufen an“ zu behandeln war (Jahresbericht 1860/61, III). Auf einer wesentlich späteren Seite desselben Heftes finden wir tatsächlich den Eintrag Nietzsches: „Sommersemester. Zeitalter der Hohenstaufen“ (p. 98). Es ist deshalb mit guten Gründen anzunehmen, dass dann die erste Hälfte aus dem Wintersemester 1860/61 stammt, auch wenn in diesem umfangreichen Heft zwischendurch Aufzeichnungen aus den späteren Klassen (z. B. pp. 54-56, vom Herbst 1862: BAW 2, Nb. 445 und KGW I 3, 51-53: 14 [22-27]) bzw. weitere Texte, z. B. zur Kirchengeschichte und Englischen Geschichte, sich befinden. Eine Unsicherheit der Datierung ergibt sich daraus, dass in Prima der gesamte Unterrichtsstoff wiederholt wurde (vgl. oben S. 66) und die ‚Geschichte des Mittelalters‘ dort ebenfalls vorgesehen war (vgl. R. Bohley, Über die Landesschule zur Pforte [1976] 309). In Schul-Lehrbüchern war es damals offenbar üblich, die „Geschichte des Mittelalters“ mit den „alten Deutschen“ zu beginnen, wie dies auch in dem Lehrbuch der Weltgeschichte für Schulen von Th. B. Welter der Fall ist. Auch in Nietzsches Mitschriften-Heft ist zu Beginn die „Alte deutsche Geschichte“ behandelt, wie der archivarische Eintrag lautet (Mp V 8: Umschlag vorne), und Mette datiert Aufzeichnungen, die erst nach den Sanskrit-Notizen gemacht wurden, nämlich zu Hermanarich (vgl. BAW 1, Nb. 456), auf einen Zeitpunkt vor Juli 1861, wo Nietzsche die Ermanarich-Arbeit schrieb (vgl. oben S. 94ff). Aufgrund dieses Kontextes wird hier von der Annahme ausgegangen, dass Nietzsche diese SanskritNotizen schon im Wintersemester 1860/61 niedergeschrieben hat.
7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft
119
Hof im Sanscrit pīter (sic!), gr. pāter (sic!) lat. pāter d<eutsch> Vater. mīter (sic!) Mutter acas, ϟÓΖ equus. ovis, avi, avīster (ebd.)293.
Nietzsches Lehrer im Fach Geschichte (3-stündig) war in Secunda und Prima Professor Corssen, der auch Latein (10 Stunden) unterrichtete und Ordinarius (d. h. Klassenvorstand) der Klasse war (vgl. Jahresbericht 1860/61, II). Von der sprachwissenschaftlichen Kompetenz Wilhelm Corssens (1820-1875) her kann angenommen werden, dass er vergleichende Beispiele in seinen Unterricht integriert hat und Nietzsche diese Beispiel-Wörter im Unterricht bei diesem Professor kennen gelernt hat. Denn Corssen hat eine rund 100 (!) Seiten umfassende kritische Beurteilung der ‚Vergleichenden Grammatik‘ von Bopp veröffentlicht294, in der z. B. „da-dâ-mi, da-dâ-si, da-dâ-ti (…)“ den entsprechenden griechischen Ausdrücken parallel gesetzt werden295. In der Diskussion um Bopps grundlegendes Werk wurden wiederholt Corssens Auffassungen, v. a. hinsichtlich der italischen Sprachen, eingebracht296. Die Sanskrit-Wörter, die Nietzsche hier kennen lernt, sind in den einschlägigen Werken damals (und z. T. noch heute) oft ange-
_____________ 293 Anstelle von pīter müsste es korrekt pitār heißen, entsprechend auch
matār anstatt mīter; die falsche Betonung von griechisch pāter (richtig: patēr) ist wohl ein Flüchtigkeitsfehler, dadasti (statt: dadati, er gibt) eine Verschreibung. Diese ungenauen Schreibweisen lassen darauf schließen, dass Nietzsche diese Sanskrit-Ausdrücke beim mündlichen Vortrag seines Lehrers gehört und nicht aus einer schriftlichen Vorlage übernommen hat, wie es auch schon bei den dieser Textpassage unmittelbar vorausgehenden Sätzen (z. B. „Cent“ anstelle von „Zend“), die oben zitiert wurden, anzunehmen war (vgl. oben S. 76, Anm. 175). 294 W. Corssen, Kritische Beurtheilung [der Vergleichenden Grammatik von Bopp: Abh. I (1833), II (1837), IV (1842), V (1849), VI (1852)], in: Neues Jahrbuch für Philosophie und Pädagogik, Band LXVIII, Hefte 3-5, 225256, 353-376, 465-484. 295 Vgl. a. a. O., 348, vgl. 356 und 353. 296 Vgl. H. Schweizer-Sidler, Anzeige: Vergleichende grammatik des sanskrit, zend, armenischen, griechischen, u. s. f., von Franz Bopp, 1858, in: Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung, hg. von A. Kuhn, Band 8 (1859) 221-236; zu Corssen vgl. z. B. 221, 224, 231ff.
120
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
führt. So z. B. spricht Bopp schon in der ‚Vorrede‘ zum Band 2 seiner ‚Vergleichenden Grammatik‘ von dadâmi, dadâsi, dadâti und den „analogen Formen im Griechischen und Lateinischen“297. Was die Sanskrit-Bezeichnungen für Verwandte betrifft, so hat diese Nietzsche später selbst als Professor seinen Studenten vor Augen geführt298. Als besonders sprechendes Beispiel für den indogermanischen Grundwortschatz ist Sanskrit pitār, lat. pāter, dt. Vater weit verbreitet299; es ist zugleich ein Beispiel für die Lautverschiebung, die zur deutschen Sprache führte300. Solche Beispiele vermitteln Nietzsche wichtige Einsichten in die Verwandtschaft der europäischen Sprachen mit jenen Indiens (Sanskrit) und Persiens (Zend). Ähnliches gilt von den Bezeichnungen für Tiere (wie z. B. die angeführten Worte für Pferd und Schaf), aus deren sprachlicher Verwandtschaft auf die den indoeuropäischen Völkern gemeinsame Tierhaltung geschlossen wurde301. Nietzsche hat rückblickend auf die Pfortenser Zeit mit Anerkennung von Corssen gesprochen und später in dem Lebenslauf anlässlich der Berufung an die Universität Basel mit Stolz darauf hingewiesen, dass er in Schulpforta „gerade auf ausgezeichnete philologische Lehrer traf, auf Männer wie Steinhart, Corssen, Ko-
_____________ 297 Vorrede, in: Vergleichende Grammatik, Band 2 (1835) III, im Zusammen-
298 299
300 301
hang mit der Einbeziehung des Slawischen; vgl. 698 die detaillierten Gegenüberstellungen mit Zend, Griechisch, Lateinisch, Litauisch und Slawisch (Band 3 [1837]). Vgl. KGW II 2, 192; dazu unten S. 238. Vgl. z. B. Art. indogermanische Sprachen, indoeuropäische Sprachen, in: Brockhaus-Enzyklopädie 10, 460. Vgl. M. Meier-Brügger, Indogermanische Sprachwissenschaft, 72000, 76f; E. Tichy, Indogermanistisches Grundwissen, 2000, 17. Vgl. J. Grimm, Geschichte der deutschen Sprache, Band 1, 1848, 266, 392, 396. Vgl. dazu z. B. J. Grimm, a. a. O., Kap. ‚Das Vieh‘, 29ff; zu den Beispielworten vgl. 30 und 34. Vgl. zum Rückschluss vom „rekonstruierbare(n) Wortschatz“ auf „die Kultur der uridg. Sprachwissenschaft“ betreffend Viehzucht: M. Meier-Brügger, a. a. O., 61 und 50f (zu „Pferd“).
7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft
121
berstein (…), die mir zum Theil auch ihre nähere Neigung schenkten“ (KGW I 5, 56: 71 [1]). In der Naumburger Literaria hat Corssen einen Vortrag über ‚Die Ergebnisse der neueren Sprachforschung für die Kulturgeschichte‘ gehalten302. Sein Hauptwerk ist die von der Universität Leipzig gekrönte Preisschrift ‚Über Aussprache, Vokalismus und Betonung der lateinischen Sprache‘303. In dem erwähnten Revisionsbericht von 1861 heißt es über ihn: „Durch seine Gelehrsamkeit und seine ganze Persönlichkeit würde Prof. Corssen für eine Universitätslehrstelle sehr wohl geeignet sein“304. In der erwähnten umfassenden Rezension über Bopps ‚Vergleichende Grammatik‘ stellt Corssen in einer Tabelle auch die Personalpronomina gegenüber, ausgehend von „ich“ in Sanskrit („aham“) im Vergleich zu Griechisch und Lateinisch, Gotisch („ik-“) und anderen Sprachen305 – ein weiteres Beispielwort, das sich bei Nietzsche gemeinsam mit einer davon abgeleiteten Form (ahamkara) findet. 7.2.3.2. „Ahamkara – Ichheit“. Die beiden Sanskrit-Wörter „aham“ und „ahamkara“, neben die Nietzsche auch die deutsche Übersetzung „Ich“ bzw. „Ichheit“ geschrieben hat („ahamkara“ heißt eigentlich „Ich-Macher“, worauf im Folgenden noch näher einzugehen ist), finden sich unmittelbar vor einer Notiz zu der zweibändigen Ausgabe der Edda von Simrock (KGW I 2, 298: 11 [9]).
_____________ 302 Vgl. R. Bohley, Über die Landesschule zur Pforte (1976) 319. 303 2 Bände, 1858-1859. In den Folgejahren entwirft er Kritische Beiträge zur
lateinischen Formenlehre (1863 und 1866); sein späteres Werk Über die Sprache der Etrusker (2 Bände, 1874-1875) hat hingegen starken Widerspruch gefunden; seine Verbundenheit mit Schulpforta, wo er 18461866 wirkte, zeigen auch historische Arbeiten z. B. über die Rudelsburg (2. Auflage 1869) und über die Alterthuemer und Kunstdenkmale des Cisterzienserklosters St. Marien und der Landesschule zu Pforte (1868) (BN). Vgl. Art. Corssen, W., in: Meyers Konv.- Lexikon 4, 295. 304 Zit. nach S. L. Gilman, Pforta zur Zeit Nietzsches (1979) 426. 305 Vgl. W. Corssen, Kritische Beurtheilung, 249.
122
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Diese Notizen stehen mit vielen anderen in einem Notizheft, das Nietzsche im März 1861 begonnen hat, in dem sich aber auch noch Eintragungen vom August des folgenden Jahres befinden. Die Sanskrit-Ausdrücke und der Buchtitel der von Simrock herausgegebenen Edda sind relativ weit vorne in diesem Notizheft angeführt. Kurz danach (300-302: 11 [14]) finden sich Stundeneinteilungen für die Tage der Osterferien des Jahres 1861, etwas später (303f: 11 [15] und [17]) Notizen von den Juli-Ferien 1861. Nietzsche hat dieses Notizheft vermutlich unmittelbar vor oder zu Beginn der Osterferien 1861 begonnen, also am Ende des Wintersemesters – jenes Semesters, in dem er höchstwahrscheinlich die Sanskrit-Vergleichsvokabeln bei Corssen im Geschichtsunterricht kennen gelernt hat. Von daher wäre es nicht völlig überraschend, dass Nietzsche mit einzelnen Worten dieser Sprache vertraut war und hier wiederum Ausdrücke aus dieser Sprache auftauchen. Dennoch bleibt offen, in welchem näheren Zusammenhang er auf den spezifischen Ausdruck „ahamkara“ gestoßen ist und wie er ihn verstanden hat. Solange nicht die direkte Quelle dafür erschlossen ist, kann vom Kontext her bloß die Vermutung ausgesprochen werden, dass Nietzsche die beiden Sanskrit-Vokabel im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit althochdeutscher Literatur notiert hat, namentlich mit der von Simrock herausgegebenen Edda. Nietzsche hatte damals dieses Werk gelesen, weil er sich, wie er im dort folgenden Fragment (298: 11 [10]) sagt, mit der „Gothenurgeschichte“ befasst hat, was schließlich zu der ‚historische(n) Skizze‘ ‚Ermanarich, Ostgothenkönig‘ (I 1, 274-284: 10 [20]) geführt hat; und unter der Überschrift ‚Gothenurgeschichte‘ findet sich schon eine erste Konzeption des Inhalts, die dann im Wesentlichen auch im Ermanarich-Vortrag so ausgearbeitet wurde. Mit den Ostgoten aber, namentlich mit Ermanarich, ist Nietzsche nicht allein – wie aufgezeigt306 – in Deutsch bei Koberstein
_____________ 306 Siehe S. 118 mit Anm. 292.
7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft
123
konfrontiert worden, sondern die Thematik wurde nachweislich auch im Geschichtsunterricht behandelt. Da der Name des gotischen Königs in einer jeweils anderen Schreibweise in Nietzsches Notizen anzutreffen ist, kann auf unterschiedliche Quellen geschlossen werden. Beide Richtungen sollen hier weiterverfolgt werden: zunächst jene, die zum historischen Kontext der Goten, dann jene, die zum sprachgeschichtlichen Umfeld des Althochdeutschen führt. Die historische Linie führt unmittelbar zurück zum Unterricht in Geschichte. Freilich, ein unmittelbarer Zusammenhang mit den Sanskrit-Ausdrücken wird dadurch nicht hergestellt, wenngleich Nietzsche im Geschichtsunterricht sowohl andere Sanskrit-Ausdrücke gehört als auch die Thematik der Ostgotengeschichte kennen gelernt hat. Die zweite Linie führt in die Sprachgeschichte: im selben Jahr nämlich, in dem Nietzsche höchstwahrscheinlich die „altdeutsche Geschichte“ kennen gelernt hat, war die Thematik des Deutschunterrichts bei Koberstein: „Grundlinien des etymologischen Theils der deutschen Grammatik, nebst einer Uebersicht über die Hauptepochen der Entwickelungsgeschichte unserer Sprache; daneben Correctur deutscher Aufsätze“307. In demselben Heft, in dem sich Corssens Ausführungen zur deutschen Geschichte befinden, finden sich auch Aufzeichnungen, die offenbar aus dem sprachgeschichtlichen Unterricht Kobersteins stammen, wenn z. B. die „schwache Deklination“ im Gotischen, im Althochdeutschen und im Mittelhochdeutschen dargestellt wird308. Es war weithin bekannt, dass in „Untersecunda mittelhochdeutsche Grammatik getrieben (wurde)“, wie es in der Biographie über Koberstein heißt309. Ob Nietz-
_____________ 307 Jahresbericht 1860/61, III. 308 Anhand des Beispielwortes „Mensch“; vgl. Mp V 8, pp. 164-166:
Adjektivdeklination. In handschriftlichen Aufzeichnungen Kobersteins (u. a. zu den gotischen Buchstaben, zu Althochdeutsch) findet sich bei den Pronomen auch die Form „ik“: ABLS Msc. B. 193, 12 p. 4. 309 Vgl. E. Schmidt, Art. Koberstein, A. (K.), 362.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
sche im Zusammenhang damit oder durch Corssen diese SanskritAusdrücke kennen gelernt hat, muss hier offen bleiben, obwohl es durchaus naheliegend war, innerhalb der Darstellungen der Lautund Formenlehre sich auch auf Sanskrit zu beziehen310. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass Nietzsche im Kontext dieses Sprachunterrichts die Begriffe „aham“ und „ahamkara“ gehört hat. Insbesondere trifft das für das Wort „aham“ zu, weil dieses in zahlreichen einschlägigen indogermanistischen Studien immer wieder im Zusammenhang mit dem deutschen „Ich“ und dem lateinischen „Ego“ angeführt wird – schon beginnend mit den klassischen Werken wie der ‚Vergleichenden Grammatik‘ von Franz Bopp 311, dann bei August Friedrich Pott 312 und bei Jacob Grimm in der ‚Geschichte der deutschen Sprache‘313. Ebenso wird auch im großen Wörterbuch von Grimm der Sanskrit-Ausdruck bei dem Stichwort „Ich“ angeführt314.
_____________ 310 Dies ist z. B. in dem Werk von Henneberger ‚Altdeutsches Lesebuch für
311 312 313 314
höhere Lehr-Anstalten‘ der Fall, das aus dem Besitz Kobersteins stammt und heute in der Bibliothek von Schulpforta ist. Dort finden sich im Anhang „Grundzüge der Laut- und Formenlehre“ (155-190). Es sind nicht alle Seiten aufgeschnitten, wohl aber die Seiten 157-161, auf denen sich Hinweise auf die altindische (Sanskrit) und die altpersische Sprache (Zend) finden und wo als Beispiele für das Lautverschiebungsgesetz auch Sanskrit-Ausdrücke herangezogen werden; entsprechend dem Lautverschiebungsgesetz werden Griechisch, Gotisch und Althochdeutsch einander gegenübergestellt. 1. Auflage, Band 2, 1835, 467, zu den Pronomina erste und zweite Person. Etymologische Forschungen, 1833, 144. Band 1, 1848, 408, als Beispiel für die Lautverschiebung. Ferner ist auf einige Aufsätze in der ‚Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung‘, die von Kuhn herausgegeben wurde, hinzuweisen, von der alle Bände in Schulpforta vorhanden sind. Vgl. z. B. „-ik“ in einem Artikel von Kuhn (Band 2, 1853, 271); in einem Artikel von Curtius über die ‚Aspiraten der indogermanischen Sprachen‘ (325); vgl. C. Lottner (Band 7, 1858, 161) und ausdrücklich in der Abhandlung von
7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft
125
Vor dem Hintergrund der Befassung mit der sprachgeschichtlichen Literatur bzw. mit althochdeutschen Werken war es unschwer möglich, dass man diesem Sanskrit-Wort begegnen konnte. Bei den angeführten Belegen für „aham“315 findet sich aber nirgends – auch nicht im Grimm’schen Wörterbuch – der Ausdruck „ahamkara“. Die Nebeneinanderstellung dieser Begriffe kann einerseits als eine grammatikalische und wortbildungsmäßige Funktion (Komposition mit kr- – machen)316 aufgefasst werden, andererseits als eine Aussage über einen zentralen Inhalt, einen Schlüsselbegriff indischer Philosophie. In der indischen Philosophie, insbesondere in der SāmkhyaPhilosophie, ist der Ausdruck „ahamkara“ ein zentraler Terminus; wörtlich heißt er „Ich-Macher“. Er kommt schon in den ‚Upanishaden‘ vor. Es ist jenes Prinzip im Menschen, das für die Individualität verantwortlich ist, das das „Selbstbewusstsein“ meint, ferner auch den Trieb, dass er alles auf sich bezieht und sich als Einzelwesen zur Geltung bringt317. Ahamkāra ist jenes Prinzip, das für die Dualität von Subjekt und Objekt verantwortlich ist, das zur Zweiheit und zur Erfahrung der Vielfalt der Erscheinungswelt („māyā“) führt; alle Wahrnehmungen sind mit dem ahamkāra verknüpft318. Nietzsche allerdings übersetzt den Ausdruck mit „Ichheit“319 bzw. findet diese Übersetzung vor.
_____________ 315
316 317
318 319
„Bugge, die formen der geschlechtslosen persönlichen pronomina“ (Band 4, 1855). Vergleiche auch Art. ich, in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 324. Dazu E. Seebold, Das System der Personalpronomina in den frühgermanischen Sprachen, 1984, bes. 20-24 und 95. Vgl. dazu W. Morgenroth, Lehrbuch des Sanskrit, 61989, bes. 215f. Vgl. Art. Ahamkāra, in: Das Oxford-Lexikon der Weltreligionen, hg. von J. Bowker, 29; H. von Glasenapp, Die Philosophie der Inder, 41985, 187 und 207. Vgl. Lexikon der östlichen Weisheitslehren, 7. Vgl. H. J. Fuchs, Art. Ichheit, Egoität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 4, 22, und A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Insgesamt gibt der Ausdruck „Ichheit“ in einem negativen und egozentrischen Sinn einen wichtigen Akzent des indischen ahamkāra wieder, und er entspricht in diesem Punkt dem Ausdruck des „Ichmachers“. Vielleicht ist Nietzsche, als er diese Ausdrücke notiert hat, die zentrale Thematik des Ichs stärker bewusst gewesen bzw. von ihm mit bedacht worden. Eventuell klingt hier schon jene Thematik an, die er ein Jahr nach diesen Notizen im Zusammenhang mit dem Thema ‚Willensfreiheit u. Fatum‘ (KGW I 2, 437-440: 13 [7]) klar formuliert, wenn er sagt: In der Willensfreiheit liegt für das Individuum das Princip der Absonderung, der Lostrennung vom Ganzen, der absoluten Unbeschränktheit; das Fatum aber setzt den Menschen wieder in organische Verbindung mit der Gesammtentwicklung (440).
Dahinter steht eine Auseinandersetzung zwischen der Isoliertheit, der Selbständigkeit des Ich und der Eingebundenheit in das universelle Ganze, was Nietzsche hier allerdings noch in einem Gegensatz sieht: der fatumlosen absoluten Willensfreiheit, die den Menschen zu Gott machen würde, stellt er das fatalistische Prinzip gegenüber, das ihn zu einem Automaten depotenzieren würde (vgl. ebd.). Es ist vor diesem Hintergrund ungewiss, ob Nietzsche die zentrale Dimension und die grundlegende Aussage von ahamkāra im Sinne des Prinzips, das das Ich macht, verstanden hat; es ist aber nicht ausgeschlossen, denn interessanterweise wird dieser Ausdruck in einem Buch, das sich Nietzsche damals gewünscht hat, nämlich Wollheims „altindische Mythologie“ (KGW I 2, 307), richtig übersetzt. Wollheim da Fonseca verwendet ihn im Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung des religiösen Empfindens, in der schließlich das Individuum das Gefühl der eigenen Göttlichkeit bekommt, und es heißt dann weiter: „Diese Empfindung erfüllte den Menschen mit dem Selbstheitsgefühl. Dieses
_____________ Zweiter Band, in: ders., Sämtliche Werke, 7 Bände, hg. von A. Hübscher, 1972, 573.
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Ichbewusstsein lag gleichfalls, als Keim hoher und niederer Leidenschaften, im Menschen und schon die Inder rechneten es zu den Schöpfungselementen, und bezeichneten mit einem Worte die beiden Pole dieses Bewusstseins, sie nannten nämlich ahangkâra (wörtlich Ichmachung, egofactio) das Selbstgefühl und die Selbstsucht“320. Es ist nicht geklärt, ob Nietzsche dieses Buch Wollheims erhalten und gelesen hat oder nicht; jedenfalls aber hat er es gekannt. Es ist nicht anzunehmen, dass er den Ausdruck „ahamkara“ aus diesem Buch übernommen hat – allein schon wegen der unterschiedlichen Transkription, die hier gegeben ist; es ist aber bei diesem Autor eine philosophische Deutung gegeben, die weit über die Verwendung grammatikalischer und sprachvergleichender Beispiele hinausreicht. 7.2.4. Religionsgeschichtliches Interesse an Indien Auch wenn wir nicht wissen, ob Nietzsche das genannte Werk von Wollheim da Fonseca erhalten und eventuell gelesen hat, so bekundet dieser Buchwunsch vom Titel her doch ein Interesse an der indischen Mythologie. Es ist zugleich ein Werk, das im Kern mit jenem zentralen Ansatz der Religionswissenschaft zu vergleichen ist, den etwa gleichzeitig (aber in seinen deutschen Publikationen erst ein Jahrzehnt später) Max Müller vertreten hat. Wollheim verfolgt nämlich die Tendenz, „den Zusammenhang zwischen Mythen, Sagen und religiösen Gebräuchen zu beweisen und die Vergleichung derselben miteinander anzustellen“ – „nicht auf dem Wege unzuverlässiger Spekulationen (…), sondern auf dem der Wissen-
_____________ 320 A. E. Wollheim da Fonseca, Mythologie des alten Indien (Allgemeine ver-
gleichende Mythologie, Band 1) 1856 (III). In ähnlicher Weise versteht H. von Glasenapp den ahamkāra: „Es ist dies das dinglich vorgestellte Bewusstsein des Individuums, sein Trieb alles auf sich zu beziehen, sich als Einzelwesen zur Geltung zu bringen“; ahamkāra, der „Ichmacher“, ist „das Selbstgefühl, das zwischen Ich und Außenwelt unterscheidet“ (ders., Die Philosophie der Inder, 41985, 157 und 207).
128
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
schaft“321. Diese neue Perspektive verknüpft er mit der traditionellen Aussage über Asien als der „Wiege der Menschheit“ und kommt zusammenfassend zu dem Schluss: „Der Sprachforschung also zunächst haben wir die Gewißheit zu verdanken, daß Asien die Wiege der Menschheit war. Die Völker aller Welttheile zeigen in ihren Urmythen, daß sie sich dieses gemeinsamen Ursprungs noch lange Zeit bewußt waren“322. Maßgebend sind dabei für ihn – zusätzlich zur notwendigen Kenntnis der Quellensprachen Sanskrit und Pali – die „riesenhafte(n) Fortschritte“ der Philologie „seit dem Ende des vorigen und Beginne dieses (scil. des 19.; J. F.) Jahrhunderts“; sie hat „mit der Fackel der wissenschaftlichen Etymologie den richtigen Weg gezeigt“323, wofür er auch – jeweils von der Sanskrit-Wurzel ausgehend – einige Beispiele bringt324. 7.2.5. Philosophiegeschichtliche Bezüge zu Indien Dass eine Kenntnis über neuere, auf Indien bezogene Werke, die für die Vorbereitungsphase der Religionswissenschaft wichtig waren, bei weiteren Lehrern in Pforta gegeben war, zeigen etwa die Arbeiten von Karl Heinrich August Steinhart (1801-1872). Von 1831 bis 1871 war er Professor für Griechisch und Hebräisch in Pforta. Nietzsche hatte bei ihm in Obersecunda Latein (Cicero-Lektüre) und in Oberprima Griechisch, wobei auch Platons ‚Phaidon‘ gelesen wurde325; zudem war er Hebräisch-Lehrer in Nietzsches Klasse326. Er hat sich wissenschaftlich vor allem durch Studien zur neuplatoni-
_____________ 321 A. E. Wollheim da Fonseca, a. a. O., Vorwort (I). 322 A. a. O., 2. Das bekannte Wort „Ex oriente lux“ ist als Emblem den
Ausführungen über Asien vorangestellt. 323 A. a. O., 1f. 324 Vgl. a. a. O., 4. 325 Vgl. R. Bohley, Über die Landesschule zur Pforte (1976) 309; vgl. Nietz-
sches Befassung mit den Reden des platonischen Symposions im August 1864: KGW I 3, 384-388: 17 [12]. 326 Vgl. J. Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, 42.
7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft
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schen und später zur platonischen Philosophie ausgewiesen327. Schon 1829 veröffentlichte er eine Abhandlung über die Dialektik Plotins, auf die in Hegels ‚Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie‘ bei der Darstellung Plotins verwiesen wird328, 1840 dann die ‚Meletemata Plotiniana‘; beide Arbeiten erschienen jeweils im Jahresbericht von Pforta329. Steinhart kommt auf den Einfluss Asiens in seiner Abhandlung über die plotinische Dialektik zu sprechen; er nennt hier die Gnostiker, „die die christliche Wahrheit mit ihren leeren Wahnvorstellungen, die aus den trüben asiatischen Quellen geschöpft sind, verwirrten“330. Positiver beurteilt er östliches Denken in den ‚Meletemata Plotiniana‘, wo er sagt, dass ihm „die Philosophie der asiatischen Völker, vor allem der Inder, nicht zu vernachlässigen zu sein schien“, um die Philosophie der Platoniker recht verstehen zu können331. Es zeigt sich hier eine offene Rezeption der vor allem durch H. Th. Colebrookes Werk ‚On the philosophy of the Hindus‘ (1824) in Europa bekannt gewordenen Denkrichtungen Indiens. Ein direkter Nachweis, dass Nietzsche durch Steinhart mit indischen Philosophien konfrontiert worden ist, ist allerdings aufgrund der Aufzeichnungen aus der Schulzeit Nietzsches kaum zu erbringen; hier bedarf es noch detaillierter Studien, die das Ver-
_____________ 327 Vgl. dazu R. Hocke, Art. Steinhart, K. H. A., in: Allgemeine Deutsche
Biographie 42, 711f. 328 Vgl. G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden (auf der Grundlage der
Werke von 1832-1845), Band 19, 1977, 447. 329 Quaestionum de dialectica Plotini ratione, fasc. I, 1829; Meletemata Plotiniana,
1840. 330 K. H. A. Steinhart, Quaestionum (siehe vorhergehende Anm.), 13: „(…)
Gnosticorum, qui veritatem christianam somniis suis ex turbidis Asiaticis fontibus haustis turbabant (…)“. In einer Anmerkung dazu spricht er von der „orientalischen Mythologie der Inder und Perser“ und erwähnt auch Zoroaster: a. a. O., Anm. 30. 331 K. H. A. Steinhart, Meletemata Plotiniana, 1: „neque mihi Asiaticorum populorum, Indorum praecipue, philosophia negligenda esse videbatur (…)“; vgl. 16.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
hältnis Nietzsches zu Steinhart (sowie zu anderen Lehrern) im Speziellen untersuchen. Es ist dennoch davon auszugehen, dass die Lehrer, die zur Zeit Nietzsches in Pforta unterrichteten, auch von jenem Wissensstand mitteilten, den ihre Publikationen dokumentieren; und darin ist der Bezug auf die Kulturen Asiens in mannigfacher Weise gegeben. 7.2.6. Fatum und hinduistische Wiedergeburtslehre – Aspekte von Nietzsches Emerson-Lektüre Nietzsche hat sich auch außerhalb des Unterrichts, möglicherweise aber davon angeregt, mit Literatur befasst, die Kenntnisse über indische Anschauungen vermittelte. Einer der wichtigen Autoren war der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Ralph Waldo Emerson (1803-1882), einer der Repräsentanten der transzendentalistischen Bewegung; Emerson erblickt in der Natur die Quelle göttlicher Offenbarung. Ebenso wie von der deutschen Transzendentalphilosophie und Romantik ist er durch die indische Philosophie beeinflusst, die sich in seinen Schriften niedergeschlagen hat. Von seinen ab 1841 erschienenen ‚Essays‘ ist 1858 eine Auswahl in deutscher Übersetzung erschienen332; das populär gewordene Buch ‚Die Führung des Lebens‘333 wurde 1862 ins Deutsche übersetzt. Nietzsches Kenntnisse über indische Geistigkeit in der Gymnasialzeit dokumentiert auf bemerkenswerte Weise folgendes Zitat aus Emersons ‚Essays‘, das er in seinem Aufsatz ‚Willensfreiheit und Fatum‘ anführt: Der Hindu sagt: Fatum ist nichts, als die Thaten, die wir in einem früheren Zustande unseres Seins begangen haben (KGW I 2, 438: 13 [7]).
_____________ 332 Aus dem Englischen von G. Fabricius, 1858 (BN). 333 Conduct of Life, 1860; dt. Übers. 1862 von E. S. von Mühlberg: Die Füh-
rung des Lebens. Gedanken und Studien; vgl. Art. Emerson, R. W., in: Meyers Konv.-Lexikon 5, 600f; Art. Emerson, R. W., in: Brockhaus-Enzyklopädie 6, 344f.
7. Indien und indoeuropäische Sprachverwandtschaft
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Das Zitat zeigt eine Vertrautheit mit der Lehre von Karma und Wiedergeburt, welche hier im Kontext einer kritischen Auseinandersetzung mit dem christlichen Unsterblichkeitsglauben steht334, denn Nietzsche fordert alle, die an die Unsterblichkeit der Seele glauben, auf, sie müssten „auch an die Vorexistenz der Seele glauben“, wenn sie nicht „aus etwas Sterblichen etwas Unsterbliches sich entwickeln lassen“ wollten (ebd.). Bei Nietzsche – und ebenso schon bei Emerson – soll damit gesagt werden, dass der Mensch „von aller Ewigkeit war, was er ist“, wie Emerson mit einem Wort Schellings formuliert335. Auch Nietzsche ist der Überzeugung, dass die „Tätigkeit des Menschen (…) nicht erst mit der Geburt (beginnt), sondern schon im Embryon und vielleicht (…) schon in Eltern und Voreltern“ (ebd.); auch Emerson spricht vom „Embryo“336. Der hinduistische Gedanke des Fatums wird im Kontext einer „Vorexistenz“ in verschiedenen Stadien verstanden. Emerson weist auch ausdrücklich auf die Dimension des Wiedergeborenwerdens hin: er meint, dass wir mit vollem Recht sagen können, „daß wir geboren und mehrmals wiedergeboren werden“337. Für Emerson ist der zyklische Charakter wichtig: er spricht vom „Ring des Fatums“338 und vom „Hindu unter dem Rade“; in der letzteren Formulierung steht der fatalistische Aspekt im Vordergrund, der Glaube an „ein vorbestimmtes Schicksal“, den auch „Türke, Araber, Perser“ teilten339.
_____________ 334 Auch bei Feuerbach hatte Nietzsche außer Das Wesen des Christenthums 335 336 337 338 339
dessen Gedanken über Tod u. Unsterblichkeit gewünscht: vgl. KGW I 2, 307. R. W. Emerson, Versuche (Essays), 1858 (BN), 8. Ebd. A. a. O., 17. A. a. O., 14. A. a. O., 3.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
8. Der Islam – Leben Mohammeds und Glaubensartikel
8. Der Islam 8.1. Die „Mohamedaner“ – eine ambivalente Beurteilung Wie erwähnt, hat Nietzsche die Länder, in denen der Islam entstanden ist, schon im Geographieunterricht am Naumburger Gymnasium kennen lernen können340. Einige Aussagen über die Araber und den Islam konnte ihm auch schon der erste Teil ‚Die alte Geschichte‘ von Welters „Weltgeschichte“, obwohl dieser nur bis 476 n. Chr. reicht, vermitteln, nämlich im Zusammenhang der Darstellung der Zeitrechnung: hier heißt es, dass die Araber die Jahre „von der Flucht ihres Propheten Mahomed von Mecka (sic!) nach Medina, vom Jahre 622 nach Chr.“341 an zählten. Bei der Charakterisierung der „arabischen Nomaden“ wird nicht nur deren patriarchalische Sozialstruktur genannt, sondern in damals verbreiteter Ausdrucksweise von den „Söhne(n) der Wüste“ gesprochen und gesagt, dass sie von Jugend an ein „Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit“ besäßen342. Nietzsche aber setzte sich schon in der Naumburger Zeit auch persönlich mit Aspekten islamischer Länder und Kulturen auseinander. Den Krieg zwischen der Türkei und Russland, den so ge-
_____________ 340 Siehe oben S. 43. Kurz dargestellt sind die Entstehung und die Haupt-
elemente dieser Religion bei Daniel im Abschnitt über die Arabische Halbinsel: „Denn nachdem Muhamed (gestorben 632) in Mekka als Verkündiger einer neuen Lehre aufgetreten und ihm nach schweren Kämpfen die ganze Halbinsel zugefallen war, entflammte des neuen Propheten Gebot, mit dem Schwerte seine Religion, den Islam (d. i. Ergebung an Gott), auszubreiten, den Heldenmuth der feurigen Araber“ (Daniel, Lehrbuch der Geographie, 1857 [BN], 75; ebenso 1872, 79, und schon 1847, 70); über Jahrzehnte ist das Urteil über Mohammed in diesem Schulbuch unverändert geblieben! 341 Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 (BN), 3. 342 A. a. O., 27f.
8. Der Islam
133
nannten Krimkrieg (1853-1855), verfolgte er mit seinen Freunden Pinder und Krug mit großer Anteilnahme. Obwohl Preußen neben Österreich und den Westmächten auf Seiten der Türkei in den Krieg eintrat, haben er und seine Freunde – wie Nietzsche in seinem Rückblick ‚Die Jugendjahre‘ im August/September 1858 schreibt – „für die Russen Parthei genommen“; „wüthend“ hätten sie „jeden Türkenfreund zum Kampf“ aufgefordert (KGW I 1, 290: 4 [77]). Aus dieser lebhaften Stellungnahme angesichts der Belagerung „Sepastopols (sic!)“ kann nicht eine als solche schon diskriminierende Beurteilung des türkischen Kriegsgegners abgeleitet werden; wohl aber ist Nietzsche einer solchen in diesen Jahren im Unterricht begegnet. Ein Text aus dem Französischunterricht bringt die Geschichte von einem verarmten Griechen, der, um der Unterdrückung durch seinen Gouverneur zu entgehen, „sich mit seiner ganzen Familie in den Bezirk eines anderen Pascha (verfügt) (sic!)“ – im Wissen, dass man Kopfsteuer bezahlen muss. Das Verhalten des ihn dann gleichermaßen unterdrückenden Pascha wird mit dem Hinweis begründet: „Jeder Mohamedaner glaubt aus Religionsgrundsatz er habe das Recht alle Nationen zu verachten und besonders die Griechen zu tyrannisiren“ (348: 2A [2]). Die Tyrannisierung anderer Völker wird mithin als „Religionsgrundsatz“ ausgegeben. Dieses Urteil über den Islam, besonders über den Islam in der Türkei, das als selbstverständliche Vorgabe im Fremdsprachenunterricht einfließt, ist offenkundig eine Diskriminierung der „Mohamedaner“, wie damals die Muslime bezeichnet wurden. Im Hinblick auf den gesamten Unterricht in Naumburg kann aber nicht gesagt werden, dass solche diskriminierenden Aussagen über nichtchristliche Religionen durchgehend maßgebend waren. Im ‚Deutschen Lesebuch für höhere Unterrichts-Anstalten‘ von H. Masius 343 findet sich zwar der Text von W. Hackbinder
_____________ 343 H. Masius, Deutsches Lesebuch für höhere Unterrichts-Anstalten; mir liegt nur
Teil 2 (für mittlere Klassen) der späteren Ausgabe von 1875 (6. Auflage) vor (ABLS). Vgl. Schulnachrichten 1857/58, II; KGW I 1, 215: 4 [8].
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
‚Konstantinopel‘, in dem immerhin das islamische Glaubensbekenntnis wiedergegeben wird344, aber auch der Bericht von K. von Rotteck ‚Die Eroberung von Konstantinopel‘ (1453), in dem Grausamkeiten der Türken geschildert werden345. Demgegenüber wurden Orient-offene Texte jedenfalls in den oberen Klassen (die Nietzsche dort allerdings nicht mehr besucht hat) herangezogen, wie z. B. ein Thema zur freien Ausarbeitung in Deutsch in Prima zeigt: „Ueber Mohamed’s Gesang von Goethe“346. In Nietzsches eigenen Aufzeichnungen aus diesem Zeitraum zeigt sich ein ambivalentes Islambild – besonders vor dem Hintergrund der Kreuzzugsthematik, wie Nietzsche in dem Text ‚Orcadal‘ (165-168: 2 [32]) als Selbstgespräch desselben formuliert: Fort in den Kampf, / Unwiderstehlich werde ich / Zum dichten Schwarm der Pilger hingezogen, / Die nach Jerusalem zum Grabe wallen / Deß Höchsten, dess die Menschen je gesehn. / Dorthin nach Osten werd’ ich ziehn! / Den bittern Haß den Saracenen / Denn Christen aber Lieb und Muth / Dem Höchsten Himmels und der Erden, Leben,/ Mein Herz für ihn voll Liebesglut (165).
Orkadal, ein Christ, ist mit Orius, einem Sarazenen, in Freundschaft verbunden, der sich weigert, gegen das eigene Volk zu kämpfen; daraufhin will auch Orkadal nicht „mit ziehn, ob mir schon die Lust danach unmäsig ist“; schließlich wird er jedoch von einem „Om<ar>“ getötet, der sich als getaufter Konvertit ausgegeben hatte (vgl. 166f). Obwohl das Modell der Freundschaft von einem Muslim und einem Christen am Beginn steht, wird die ambivalente Sicht des Islam dadurch nicht entscheidend relativiert. Auch hier sehen wir – wie in dem Gedicht über die Jugend des Cyrus – eine poetische Transformation historischer Inhalte.
_____________ 344 A. a. O., 171-174; islamisches Glaubensbekenntnis: 172. 345 A. a. O., 350f. 346 Schulnachrichten 1857/58, VII. Vgl. den Text in: Goethes Werke in zwei Bän-
den, 1957, Band 1, 102-104. Dieser Text von Goethe ist in dem Lesebuch abgedruckt, das Koberstein herausgegeben hat: vgl. Anm. 348.
8. Der Islam
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8.2. Das Leben Mohammeds und die Glaubensartikel des Islam in historischer Darstellung 8.2.1. Der Islam in Deutsch-Lesebüchern und in einem LiteraturgeschichteExzerpt Möglicherweise hat sich Nietzsche in Schulpforta ebenfalls literarisch mit einer auf den Islam bezogenen Thematik befasst. So notiert er z. B. mehrere Namen aus dem islamischen Kulturraum (z. B. Soliman, Mehm<ed>, Ali, Mustava, Ibrahim), die er den Namen von Schulkollegen und auch sich selbst (Sol, Mehm<ed>) zuordnet (KGW I 2, 333: 11 [85]). Wichtige Aspekte des Islam und der von ihm geprägten Kultur konnten Schüler damals in Lesebüchern für den Deutschunterricht kennen lernen. Zudem haben bedeutende deutsche Dichter Themen gewählt, die sich auf den islamischen Kulturraum beziehen. So ist in dem Lesebuch von Bach 347, das von Koberstein herausgegeben wurde, der berühmte Text von Goethe ‚Mahomets Gesang‘348 abgedruckt, der ein Zeugnis der Faszination europäischer Intellektueller vom exotisch wahrgenommenen Orientalischen ist349; ebenso der Text ‚Abdallah‘ von A. von Chamisso 350, der auch von einem Derwisch handelt. In der Mittleren Lehrstufe (Zweite Abtheilung) sind Auszüge aus den Gesängen ‚Die Abassiden‘ von A. Graf von Platen 351 sowie Auszüge aus den ‚Gaselen‘ von F. Rückert 352 abgedruckt. Es ist im Einzelnen nicht aufzuweisen, in welcher Form Nietzsche mit die-
_____________ 347 N. Bach, Deutsches Lesebuch für Gymnasien und Realschulen. Mittlere Lehrstufe. Erste Abtheilung, 3. Auflage 1849. Die Jahresberichte von Schulpforta (vgl. 1858/59, VI) nennen unter den Lehrbüchern aber nur Teil 3 und 4. 348 A. a. O., 160; vgl. zur Befassung damit auch in Naumburg S. 134. 349 Vgl. M. Rodinson, Europe and the mystique of Islam, 1988, 52f. 350 N. Bach, Deutsches Lesebuch für Gymnasien und Realschulen. Mittlere Lehrstufe. Erste Abtheilung, 3. Auflage 1849, 25-30. 351 A. a. O., Zweite Abtheilung, 3. Auflage 1851, 72ff. 352 A. a. O., 316.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
sen Texten vertraut gewesen ist, doch sie zeigen die Art, wie der Islam zur damaligen Zeit im Deutschunterricht zur Sprache gekommen ist. Nietzsche hat sich auch in den Pförtner Jahren eigenständig mit Themen befasst, die einen direkten oder indirekten Bezug zum Islam hatten. In einem 1863 angefertigten Exzerpt aus Hermann Hettners ‚Geschichte der französischen Literatur im XVIII. Jahrhundert‘ erwähnt er Voltaires Theaterstück ‚Mahomet‘; aus diesem Werk habe der Philosoph dem König Friedrich 1740 vorgelesen (vgl. KGW I 3, 217: 15A [2]). Das Theaterstück, dessen voller Titel ‚Le fanatisme ou Mahomet le Prophète‘ (‚Der Fanatismus oder Mohammed, der Prophet‘) lautet, wiederholt die traditionelle Diskriminierung Mohammeds. Später hat Voltaire seine Sicht teilweise revidiert: er hat weniger den Propheten und stärker den Gesetzgeber hervorgehoben353. Aus dem Exzerpt aus Hettner ist nicht zu erkennen, ob Nietzsche dieses wirkungsgeschichtlich wichtige Werk Voltaires näher gekannt hat. De facto kann jedoch gesagt werden, dass die Sicht des Islam, die Nietzsche in Schulpforta kennen lernen konnte, keine durchgehend diskriminierende war, sondern eine komparative und tendenziell offene, wie sich in weiteren Aufzeichnungen zeigt. 8.2.2. „Arabergeschichte“ im gesamthistorischen Kontext In dem umfangreichen Heft Mp V 8, das unter Hinweis auf die Zugehörigkeit der Deutschen zu den Indogermanen (und auf die oben dargestellte Sprachverwandtschaft354) mit der Geschichte der Germanen beginnt, finden sich auch einige Seiten zur Arabergeschichte. Vielleicht steht hinter der Formulierung „Arabergeschichte“ das Wissen um das Werk des berühmten Arabisten Gustav Flügel ‚Geschichte der Araber‘, dessen erste Auflage 1838 in zwei
_____________ 353 Vgl. H. Bobzin, Mohammed, 2000, 19. 354 Vgl. S. 76.
8. Der Islam
137
Bänden und 1840 in einem Band in Leipzig erschienen ist355. Die Araber-Thematik ist in einen gesamthistorischen Ablauf eingefügt: zunächst wird die Geschichte der germanischen Völker bis zu den Ost- und Westgoten, den Burgundern und Franken (bis zu Pippin) referiert (pp. 1-27) – die letzte angeführte Jahreszahl ist hier 686; unmittelbar darauf folgen Ausführungen, die mit Arabergeschichte überschrieben sind (pp. 28-32); nach der Notiz „750 Abassiden auf den Thron“ wird mit dem Westgothenreich fortgesetzt (pp. 32ss.). Die Ausführungen über die Araber sind mithin in die Chronologie der Weltgeschichte eingefügt – eine Art der Darstellung, wie sie sich auch sonst in den Geschichtswerken und Schulbüchern zur Zeit Nietzsches findet356. Wenn in diesem Kontext auf Mohammed und den Islam ausführlicher eingegangen wird, so geschieht es in der zur Schulzeit Nietzsches anzutreffenden Art, dass zuerst der Gesamtkontext des Volkes (die Zugehörigkeit der Araber zu den Semiten) in Erinnerung gerufen, dann auf die geographischen Gegebenheiten eingegangen wird (es wird z. B. wieder – wie schon in Roons Lehrbuch357, nun aber in griechischer Sprache – das „glück-
_____________ 355 Art. Flügel, G., in: Meyers Konv.-Lexikon 6, 400. Der volle Titel des 1867
in zweiter umgearbeiteter Auflage erschienenen Werkes lautet: Geschichte der Araber bis auf den Sturz des Chalifats von Bagdad. Flügel war von 1832 bis 1850 Professor in St. Afra zu Meißen – wie Pforta eine der preußischen Königlichen Landesschulen. Vgl. S. 25. 356 Vgl. z. B. das weitere Buch von Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte für Schulen, 6. Auflage 1848, in dem Die Geschichte des Mittelalters mit den „alten Deutschen“ beginnt und die Thematik der Araber zwischen den Abschnitten über das Ostgotische Reich und das Fränkische Reich eingefügt ist: „In Arabien tritt Mahomed (622) als Stifter einer neuen Religion auf, die sich mit reißender Schnelligkeit verbreitet. Die Araber werden ein eroberndes Volk; ihren Fortschritten in Europa aber wird durch den großen Sieg, den die Franken bei Tours (732) über sie erfechten, eine Grenze gesetzt“ (Inhaltsverzeichnis XI). 357 Vgl. oben S. 43.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
liche Arabien“ erwähnt); und dass schließlich die Charaktereigenschaften pauschal aufgezählt werden: Beduinen sehr kriegerisch[es]. Höchst tapfer, ritterlich, gastfreundlich, rachsüchtig, beutegierig (p. 28)358.
8.2.3. Das Leben Mohammeds Relativ ausführlich wird auf Mohammeds Leben eingegangen, auf seine Geburt in Mekka, auf die Kaaba, auf seine Heirat mit „Kadidscha (sic!)“, seine Karawanenreisen, seine ersten Visionen (610), sodann auf die Übersiedlung nach Medina und die Tätigkeit dort, und schließlich auf die Kämpfe der Folgejahre – bis zu seinem Tod 632 (pp. 28ss.). Als Beispiel dafür, dass „vieles später hinzugesetzt“ wurde, wird in Klammer die bekannte Himmelsreise des Propheten mit den Worten erwähnt: „Ein Erzengel führt ihn nach Jerus durch sieben Himmel (…)“. Bei dem Satz „Mohammed begibt sich nach Medina“ ist eingefügt: „622 Hedschra 16. Juli“ (p. 29); diese Hinzufügung ist verständlich aufgrund der Bedeutung dieser Jahreszahl für den Islam! Nietzsche gibt in seiner Nachschrift bzw. seinem Exzerpt als Literatur ausdrücklich „Washington Irving, Muhammad’s Leben“ an (p. 28). Dieses Werk des nordamerikanischen Schriftstellers ist in deutscher Übersetzung schon 1850 in Leipzig erschienen359; nach dieser wird im Folgenden zitiert. Ein Exemplar dieser Ausgabe von 1850, auf die sich Nietzsche bezieht, befindet sich denn auch in der Bibliothek von Schulpforta.
_____________ 358 Für die Durchsicht der Transkription auf den folgenden Seiten danke
ich H. G. Hödl. 359 Originalausgabe: The Life of Mahomet, 1850. Mir liegt auch die 2. Auflage
vor: Das Leben Mohammed’s, 1867. In den deutschen Ausgaben von 1850 und 1867 findet sich ein Phantasiebild des Propheten, das ihn mit dem Koran in der Hand darstellt. Vgl. auch: W. Irving, History of Mahomet and his Successors, 1849-50; dt. Geschichte der Kalifen. Vom Tode Mohamed’s bis zum Einfall in Spanien, 1854. Vgl. Art. Mohammed, in: Meyers Konv.-Lexikon 11, 705-706, bes. 705.
8. Der Islam
139
Offenbar finden sich manche Aspekte aus Irvings Darstellung in Nietzsches Niederschrift – z. B. in Schreibweise (z. B. „Kadidscha“, „Aejischa“) und Terminologie („Visionen“, „Verzückungen“), die freilich damals allgemein üblich waren360. Ebenso finden wir einzelne Berichte, z. B. über die Bekehrung Omars: „Omar dringt riesig tapfer in seine Wohnung ein, aber er wird bekehrt“ (p. 28)361, oder über die „Schlacht von Beder“ (p. 29)362, die wohl z. T. aus Irvings Darstellung übernommen sind. Freilich hat Nietzsche diese Informationen aus anderer Literatur über den Islam entnehmen können. Für eine Rezeption von Irving spricht aber auch die Tatsache, dass Nietzsches Text Urteile wiedergibt, die charakteristisch und wegweisend für Irvings Intention sind, nämlich die partielle Revision des jahrhundertealten Urteils des christlichen Abendlandes über Mohammed, dass er ein Betrüger sei363. Nietzsche notiert über Mohammed: „Sein Leben sittenstreng u. einfach. Man kann nicht sagen, daß er ein Betrüger sei. Ueberreizte Einbildung Ueberspannter Mensch“ (ibid.). Und Irving selbst geht ausführlich auf die Frage: „War Mohammed ein Betrüger? “ ein364. Seine Antwort lautet folgendermaßen: In Ermangelung genügender, weltlicher Beweggründe sind wir genöthigt, eine andere Erklärung seines Benehmen auf dieser Stufe seiner räthselhaften Geschichte zu suchen, und wir haben uns bemüht, dies in den ersten Kapiteln dieses Werkes zu thun, wo wir gezeigt haben, wie sein enthusiastischer, schwärmerischer Geist allmälig durch Einsamkeit, Fasten, Gebet, Betrachtung und körperliche Krankheit zu einer Art von vorübergehendem Delirium aufgereizt wurde, in welchem er sich einbildete, daß er eine Offenbarung vom Himmel erhalte, und zum Propheten des Höchsten erklärt werde. Wir müssen glauben, daß in diesem
_____________ 360 361 362 363 364
Vgl. W. Irving, Das Leben Mohammed’s, 1850, 28ff, 36ff, 69f, 98ff. Vgl. dazu a. a. O., 59ff. Vgl. a. a. O., 106ff. Vgl. H. Bobzin, Mohammed, 2000, 13f. Vgl. W. Irving, Das Leben Mohammed’s, 1850, 233ff, Kolumnenüberschrift.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg Falle ein Selbstbetrug eingetreten war, und daß er an die Wirklichkeit des Traumes oder der Erscheinung glaubte (…)365.
Diese Theorie des „Selbstbetrugs“ ist zwar auch keine historisch fundierte Aussage und transportiert Fehlurteile weiter, wie z. B. den Vorwurf des „Deliriums“ und dass er kein echter Prophet sei366, aber sie führt Irving immerhin zu der Feststellung, er sei „weit davon entfernt“, „Mohammed für den groben und gottlosen Betrüger zu halten, als welchen ihn Einige dargestellt haben (…)“367. Auch wenn über Irvings Mohammed-Werk nicht zu Unrecht geurteilt worden ist, dass es „sich weniger durch Tiefe der Forschung als durch eleganten Stil und lichtvolle Darstellung auszeichnet“368, so gilt doch, dass er mit seinen Revisionen, die zu einem modifizierten Urteil über Mohammed führten, wegweisend war; solchen neuen Beurteilungen hat sich Nietzsche in seinen Studien in Schulpforta angeschlossen369. 8.2.4. Darstellung der Glaubensartikel des Islam Nietzsche hat die wichtigsten Grundlagen des islamischen Glaubens in einem Exzerpt bzw. einer Nachschrift wiedergegeben. Zunächst notiert er Worterklärungen, wie z. B. zum Islam selbst: „Islam soviel wie Ergebung. Mosleminen. Gottergebene“ (p. 28). Unrichtig aber wird das Wort „Koran“ übersetzt, das eigentlich „Rezitation“, „Lesung“ bedeutet. Nietzsche notiert: „Im Koran (Lehre) (Alcoran) (die Lehre) sein<e> (scil. Mohammeds; J.
_____________ 365 A. a. O., 227. 366 Vgl. dazu H. Bobzin, Mohammed, 2000, 14ff: Epileptiker; 9f: Pseudopro-
phet; siehe dazu auch den oben angeführten Buchtitel von A. Hinckelmannus: S. 32, Anm. 53. 367 W. Irving, Das Leben Mohammed’s, 1867, 229. 368 Art. Irving, W., in: Meyers Konv.-Lexikon 9, 24. 369 Vgl. dazu auch H. G. Hödl, Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, 2001, 239.
8. Der Islam
141
F.) Religion“ (p. 29). Der Glaubensinhalt des Islam wird in folgenden Punkten wiedergegeben: 1. Es giebt nur einen Gott Allah und Muhammed ist sein größter Prophet. 2. Vorhandensein von Engeln. 3. Leben nach dem Tode mit Belohnung u. Bestrafung. 4. Paradies sorgfältig geschildert mit allen Genüssen. 5. Vorherbestimmung, wann ein jeder sterben soll. Fatalismus. Seinen Kriegern günstig (ibid.).
Wahrscheinlich war damit beabsichtigt, die verbindlichen fünf bzw. sechs (wenn die Vorherbestimmung zusätzlich genannt wird) Glaubensartikel wiederzugeben370. Von der üblichen Reihenfolge weicht Nietzsches Aufzählung insofern ab, als unter Punkt 1 das Glaubensbekenntnis, das nicht allein den Glauben an Allah, sondern ebenso an seinen Propheten ausdrückt, zwar zutreffend wiedergegeben wird, jedoch im Folgenden die „Propheten“ und „Schriften“ nicht genannt werden. Trotzdem enthält diese Aufzählung wesentliche Elemente des islamischen Glaubens – mit einigen Akzenten, die in der westlichen Rezeption damals (und z. T. bis heute) betont werden, wie etwa die Schilderungen des Paradieses „mit allen Genüssen“. Im Zusammenhang der Beschäftigung Nietzsches mit dem Fatum ist die Deutung des islamischen Glaubens als „Fatalismus“ von besonderem Interesse. Bei seiner Emerson-Lektüre, die im Hintergrund seiner Ausführungen zu ‚Willensfreiheit und Fatum‘ steht, konnte Nietzsche ebenfalls dem Islam als Glauben „an ein vorherbestimmtes Schicksal“ begegnen371.
_____________ 370 Diese werden in richtiger Reihenfolge bei W. Irving, Das Leben Moham-
med’s, 1867, Anhang, 233-247, aufgezählt: 1) Glauben an Gott, 2) an die Engel, 3) an den Koran (sic!), 4) an die Propheten, 5) an die Auferstehung und das jüngste Gericht sowie 6) an die Vorherbestimmung. 371 Siehe oben S. 131.
142
1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
8.2.5. Richtungen und Ausbreitung des Islam Es sei auch kurz auf Nietzsches Kenntnis der beiden Hauptrichtungen des Islam und dessen Expansionsbestrebungen in der Frühzeit hingewiesen. Nietzsche notiert: Im Islam bilden sich zwei Partheien. Nach Sammlung Sunnah. Wer diese anerkennt Sunniten; die anderen Schiiten. Die meisten <sind> Sunniten. Perser, Afganen <sind> Schiiten (pp. 29s.)372.
Ausgehend von den vier ersten Kalifen, den Nachfolgern Mohammeds, schildert Nietzsche die „Ausbreitung des Mohamedanismus“ bis zur Expansion der Omajaden bis nach Spanien (pp. 30s.). Namentlich werden „Abu Bekr (sic!)“, dann „Omar“, der als „großer Eroberer“ dargestellt wird, sowie „Odmann (sic!)“ und schließlich „Ali(s)“ Kampf mit „Moabija (sic!)“ und Ermordung erwähnt. Dieses Manuskript Nietzsches zeigt, dass er sich grundlegendes Wissen über Mohammed, den Islam, dessen Richtungen und frühe historische Expansion in Schulpforta erworben hat. Dieses Wissen war weithin eine Wiedergabe der Kenntnisse, die durch die damals entstehenden Werke über den Propheten und die von ihm gestiftete Religion zugänglich waren. Eine historisch fundierte Sicht führte zu neuen Einsichten, wie sie der große Koran-Forscher Gustav Flügel hinsichtlich des Charakters Mohammeds einige Jahre später in folgender Weise ausgedrückt hat: die historische Kritik in neuer und neuester Zeit habe zu einer geläuterten Ansicht geführt, die besage, dass Mohammed „bei allen Mängeln, die Niemand verkennen wird, vielfach unsere Achtung verdient“373. Die Urteile über Mohammed, die in der Geschichte des christlichen Abendlandes – ebenso wie jene über die islamische Religion
_____________ 372 Mit „Sammlung“ sind wohl die Sammlungen von Hadithen gemeint, die
Überlieferungstexte (zusätzlich und außerhalb des Korans); mit „Sunnah“ ist der Brauch, die Überlieferung, das Vorbild des Propheten Mohammed gemeint, wie es in den Hadithen überliefert wird. 373 G. Flügel, Geschichte der Araber, 2. Auflage 1867, 89.
8. Der Islam
143
– vielfach diskriminierend waren374, werden durch historisch-kritische Ansätze – teilweise jedenfalls – relativiert, und es werden Wege einer objektiveren Islamforschung beschritten. Aus heutiger Sicht kann gesagt werden, dass die Kernaussagen des islamischen Glaubens von Nietzsche großteils zutreffend wiedergegeben wurden. Einige historisch richtige Informationen über Mohammed und den Islam (vor allem in chronologischer Hinsicht) konnte Nietzsche auch im ‚Hülfsbuch für den evangelischen Religionsunterricht‘ von W. A. Hollenberg finden, das er sich für die oberen Klassen des Gymnasiums besorgt hatte; allerdings herrscht in der Gesamtdarstellung eine von Vorurteilen geprägte negative Wertung vor (z. B. beim einseitigen Zitieren von Texten aus Suren, die sich auf kriegerische Auseinandersetzungen beziehen, sowie auch beim Vergleich von Koran und Heiliger Schrift)375. Diese Wertung unterscheidet sich somit sowohl von jener, die er im Geschichtsunterricht kennen lernen konnte, als auch von einer philologischkomparativen Beurteilung des Korans. 8.2.6. Der Koran in vergleichender Betrachtung In einem als Fragment erhalten gebliebenen Konzept auf einer Seite (Mp IV 4, p. 20)376, die vermutlich zu einem mehrere Seiten umfassenden, in lateinischer Sprache abgefassten Manuskript ge-
_____________ 374 Vgl. H. Bobzin, Mohammed, 2000, 9ff: Vom ‚Pseudopropheten‘ zum
‚Helden‘: Abendländische Mohammedbilder. 375 Vgl. im angegebenen Buch von W. A. Hollenberg, 1863, bes. 164f (siehe
oben S. 15f). Zur heutigen religionswissenschaftlichen Darstellung vgl. z. B. K. Prenner, Islam, in: J. Figl (Hg.), Handbuch Religionswissenschaft, 2003, 436-456. 376 Ingo Rath hat den lateinischen Text transkribiert und kurz kommentiert, und zwar im Hinblick auf den Nachbericht zu KGW I, wo er auch veröffentlicht wird. Der fragmentarische Charakter erschwert die Entscheidung, ob und in welchem Ausmaß hier eigene Überlegungen Nietzsches anzutreffen sind; zudem ist die Quelle für diesen Text noch nicht eruiert.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
hörte, geht Nietzsche auf die ersten schriftlichen Textsammlungen ein, die schon lange zuvor mündlich überliefert wurden. Zwei von diesen nennt er ausdrücklich, nämlich die germanischen Lieder, die schon vor Tacitus gerühmt und schließlich von Karl dem Großen gesammelt und in Büchern erfasst wurden („tandem ab Carolo magno collectas et in libros redactas esse“); als zweites Beispiel wird auf den Koran verwiesen: ebenso hätten die Araber nicht vor dem siebenten Jahrhundert die Poesie früherer Zeitalter in Sammlungen zusammenzustellen begonnen, und beim Koran selbst werde ein ähnliches Geschick angenommen wie von den ersten Texten Homers („et coranus ipse in textuum primorum Homeri similem fortunam confitetur“). Es wird hier die Entstehung des Korans aus vorangehenden poetischen Überlieferungen in ähnlicher Weise wie jene früher germanischer Textsammlungen gesehen und den Überlieferungen, die Homer gesammelt hat, parallel gesetzt. Doch der Vergleich geht noch weiter: es sei ein ähnlicher Prozess bei anderen Völkern gegeben, und ausdrücklich heißt es, dass die Hebräer hier vergleichbar zu sein scheinen („Hebraei videntur comparandi esse“), bei denen der Gebrauch von Literatur und das Bücherschreiben jünger zu sein scheinen, als gewöhnlich geglaubt werde. In dieser Aufzeichnung Nietzsches ist das Prinzip des Vergleichens maßgebend geworden: einleitend zu den Überlegungen auf dieser Seite sagt er, dass der (methodisch) genaue Vergleich („accurate instituta comparatio“) auf die untersuchte Sache sehr viel Licht werfen könnte. In den letzten Semestern in Schulpforta ist Nietzsche mit der Auffassung einer wesentlich komparativen Methodik vertraut gewesen, die er wohl bejaht – sowohl hinsichtlich des Korans als auch im Hinblick auf die religiösen Überlieferungen der hebräischen Bibel, also auf für das Judentum und Christentum grundlegende Offenbarungstexte.
9. Das Judentum
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9. Das Judentum – Literarkritik des Alten Testaments
9. Das Judentum 9.1. Das Judentum in der Perspektive des christlichen Glaubens
In den wenigen Aufzeichnungen Nietzsches über das Judentum aus der Naumburger Zeit, die sich zudem nur implizit auf dieses beziehen, wird diese Religion ausschließlich aus der Perspektive des christlichen Glaubens wahrgenommen, wie er im Religionsunterricht vermittelt wurde. Nietzsche besaß mehrere Bücher, die sich mit dem Judentum aus christlicher Perspektive befassen (GSA 71: Mp I 13, p. 51, Auflistung von Elisabeth Nietzsche 377), wie z. B. das Werk ‚Biblische Dichtungen‘ von Lange 378. In einer ‚Kleinen Weihnachtsgabe‘ (KGW I 1, 204-207: 3 [23]) für seine Mutter kommt er auf die „Propfeten (sic!)“ zu sprechen, die „verspottet, verhöhnt, und sogar getödtet (wurden)“ (205), und er schreibt ein Lied auf, das von Jesus als „Davids Reis“ spricht (205f). Ebenso verbleibt das Gedicht ‚Am Palmsonntage‘ (I 1, 258f: 4 [49]) völlig im Kontext der Anschauungen des christlichen Glaubens, sodass es in diesen Notizen zu keiner direkten Befassung mit dem Judentum als Religion kommt – Nietzsche war zu sehr in seiner christlichen Lebenswelt integriert. Auch beim Lernen und Wiederholen der Biblischen Geschichte(n) (vgl. I 1, 330: 2A [1], 340 und 345-347) und der „zehn Gebote“ (vgl. 333 und 344) wird das Alte Testament als Teil der Heiligen Schrift des Christentums gelesen. Eine unmittelbare Begegnung mit den Grundgestalten der jüdischen Religion mag außer dem evangelischen Religionsunterricht, in dem vielfach ein Bezug zur Bibel gegeben war, die historische Darstellung der Geschichte Israels in Welters „Weltgeschichte“, vermittelt haben: Abraham und Moses werden in eigenen
_____________ 377 Vgl. Th. H. Brobjer, Chronological Listing of Nietzsche’s Reading and
Library 1856-1858 (Appendix B) (1999) 318. 378 Vgl. a. a. O., 319.
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Abschnitten behandelt379. Über Moses wird – den biblischen Bericht nacherzählend – gesagt, dass er nicht in das verheißene Land gelangte, „weil er nur ein einziges Mal in seinem Vertrauen auf Gott gewankt hatte“380; sein Name sei bis heute lebendig: „Mehr als dreitausend Jahre sind seitdem verflossen, und noch lebt sein Name weithin, wie keines Sterblichen Name, in der Verehrung der Völker fort“381. Doch die Geschichte Israels, die Nietzsche hier kennen lernen konnte, war eine für Kinder aufbereitete Historisierung der biblischen Geschichte, deren Wunderberichte wortwörtlich verstanden wurden. Jahreszahlen bilden die Verknüpfung mit dem historischen Ablauf: so z. B. notiert Nietzsche den Untergang des Reiches Israel (751) und die Zerstörung Jerusalems (587) (vgl. I 1, 133: 2 [7]). 9.2. Literarkritische, sprach- und philosophievergleichende Deutung der hebräischen Bibel382 9.2.1. Die literarkritische Beurteilung des Alten Testaments Sehr früh schon war Nietzsche in Schulpforta mit historischen und literarkritischen Fragen hinsichtlich des Alten Testaments konfrontiert worden. Der Unterrichtsstoff in Religion bei Professor Buddensieg in Untertertia war: „Das Wichtigste aus dem alten Testamente (namentlich aus den geschichtlichen Büchern) gele-
_____________ 379 Vgl. Th. B. Welter, Lehrbuch der Weltgeschichte, 1854 (BN), 37ff bzw. 63ff. 380 A. a. O., 63. Vgl. dazu das schon früher von einer Brunneninschrift wie-
dergegebene Gedicht über Moses: KGW I 1, 320: 1A [5]; dazu H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus I/2, 1991, 179ff, und die a. a. O., Anm. 7 wiedergegebene briefliche Mitteilung von Reiner Bohley. 381 A. a. O., 63f. 382 Die Ausführungen in diesem Punkt sind eine geringfügige Überarbeitung der einschlägigen Darstellung in meinem Buch Dialektik der Gewalt, 1984, 58-61.
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sen; Repetition des Katechismus, Bibelsprüche und geistliche Lieder“383. In der Lektionstabelle in Schulpforta wird direkt gesagt, dass es um „die Lektüre der historischen Bücher des Alten Testaments“384 ging; dies macht verständlich, dass die historische Perspektive im Religionsunterricht wichtig wurde. Zudem aber ging es um weitere, um „poetische“ Texte, wie etwa die Psalmen. Der noch nicht Vierzehnjährige hält in einer Tagebuchaufzeichnung vom 20. August 1859 zu den Ausführungen seines Religionsprofessors Buddensieg, in denen er „einiges über die hebräische Poesie (sagte)“, Folgendes fest: „Sie (scil. die Poesie; J. F.) besteht in dem Parallelismus der Gedankenglieder und bedient sich mitunter sogar des Reimes. Er führte uns als Muster desselben den 8ten Psalm auf“ (KGW I 2, 116: 6 [77]). Doch eines der aufschlussreichsten Dokumente für die literarkritische Beurteilung des Alten Testaments ist eine Niederschrift Nietzsches mit dem Titel ‚Eintheilung der hebr. Bibel‘, die fünf Manuskriptseiten umfasst und auf die – nach einer Leerseite – Notizen mehrerer hebräischer Namen folgen385. Aufgrund dieses Faktums sowie wegen der Überschrift und einer Reihe von inneren Gründen386 darf vermutet werden, dass sie im Zusammenhang
_____________ 383 Zit. nach R. Bohley, Über die Landesschule zur Pforte (1976) 305. 384 Lections-Tabelle der Königlichen Landes-Schule Pforta, Bibliothek
Schulpforta, ABLS Nr. 0468. 385 Vgl. auch die Manuskriptbeschreibung in BAW 2, Nb. 458. 386 Zwar hatte Nietzsche in dem Jahr, in dem er den Hebräischunterricht
begann (ab Untersecunda, Herbst 1860) auch im Religionsunterricht als Stoffgebiet „Einleitung in das alte Testament, verbunden mit Bibellesen“ (vgl. die Übersicht über die Unterrichtsgegenstände bei R. Bohley, Über die Landesschule zur Pforte [1976] 305), doch ist wegen der Art und des Inhalts der Behandlung des Alten Testaments – es ist ein ausschließliches Interesse an der hebräischen Bibel gegeben – kaum anzunehmen, dass diese Niederschrift zum Religionsunterricht gehört. Als Inhalt für den Hebräischunterricht geben die Jahresberichte in den Programmen der Königlichen Landesschule Pforta die gelesenen Stellen der Bibel
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mit dem Hebräischunterricht entstanden ist. Es wird einleitend die Haupteinteilung der hebräischen Bibel gegeben: Nur zwei Theile der Schrift: Gesetz u. Propheten (thora u. nebihim[sic!]) Alle andere Schriften Ketubim (Schriften) letztere nicht so ‚inspirirt‘, wie die Juden glaubten (Mp V 29, p. 1)387.
Nach der Erklärung der Bedeutung dieser hebräischen Bezeichnungen wird eine kurze Charakterisierung einzelner Schriften durchgeführt, bei der die historisch-kritische Beurteilung schlechthin bestimmend ist. Folgende Aspekte der alttestamentlichen literar- und quellenkritischen Analyse sind bemerkenswert: •
Entstehungs- und Verfasserfrage: die Auffassung, dass die Thora mosaisch sei, wird als „ueberwundener Standpunkt“ bezeichnet (Mp V 29, p. 3). Die Alternative, die Nietzsche kennen lernte, lautet: Nicht das Werk eines Einzelnen, sondern vieler Jahrhunderte. Nur die ersten Keime u. Anfänge gehen auf Mose zurück: 1. die ursprünglichste[n] Thora „die zehn Gebote“ 2. Einzelne Aufzeichnungen histor Thatsachen in größter Kürze „der Herr gebot Mose“, dies u. das aufzuschreiben. Chroniken art Berichte. Daraus später Legenden entstanden (ibid.).
Das Entstehungs- bzw. Verfasserproblem wird in Orientierung an einem Prototyp der Lösung eines Problems der Klassischen Philologie prinzipiell zu klären versucht: Fr. Aug. Wolf[f]s Untersuchungen über Homer maßgebend für die Thora. Axiom: die einzeln<en> Theile der Thora versch Verfassern (…)“ (ibid.).
Die Methodik der Interpretation antiker klassischer Literatur ist hier zum Maßstab für die Bibelanalyse geworden!
_____________ (vor allem Genesis und Psalmen) sowie die grammatischen Übungen an: vgl. die Jahresberichte von 1855, 1860, 1864. 387 Nietzsche lernt hier die jüdische Auffassung kennen, dass es verschiedene Grade der Inspiration gibt. Dieser Satz ist aber noch nicht im Sinne einer neuzeitlichen Inspirationskritik zu verstehen.
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Von diesem quellenkritischen Ansatz her verwundert es nicht, wenn Nietzsche auch die „Zweiquellentheorie“ des Pentateuchs relativ ausführlich kennen lernte (vgl. Mp V 29, pp. 4s.), die auf der Verschiedenheit der Gottesnamen (Jahwe bzw. Elohim) in den verschiedenen Teilen beruht und Mitte des 19. Jahrhunderts schon eine lange Tradition hatte, vielfach aber auch abgelehnt wurde388. •
Profane literarische Gattungen: der Grundsatz, die Schriften der Bibel zunächst als rein menschliche Schöpfungen zu betrachten, findet einen deutlichen Niederschlag in der Kennzeichnung einiger biblischer Bücher als Dokumente profaner Literaturgattungen. Zum Buch ‚Esther‘ wird notiert: „histor Roman am Hofe des Artaxerxes“ (Mp V 29, p. 2), und unter einem Notabene lesen wir: „Ruth eine genealog geschichtl Idylle; Familiensage, nicht von den ältern Propheten verfaßt“ (ibid.). Die ‚Klagelieder Jeremiae‘ werden als „Elegien auf den Untergang Jerus“ gekennzeichnet, wobei hinzugefügt wird, dass sie „gewiß nicht von Jer<emias> (sind)“ (ibid.)389. Dass eine literarkritische Erklärungsweise solcher Art tatsächlich vom Lehrer Nietzsches, und zwar in einer für die Schüler eindrucksvollen Weise, durchgeführt wurde, die wohl auch den Kontrast zum herkömmlich vertrauten Bibelverständnis spürbar erleben ließ, geht aus einer biographischen Mitteilung Deussens hervor, der sich nach vierzig Jahren erinnert, dass „Steinhart im Hebräischen in Prima den 45. Psalm durchaus als ein weltliches Hochzeitsbild erklärte“390.
_____________ 388 Vgl. H. Cazelles, Art. Pentateuch, in: Bibel-Lexikon, hg. von H. Haag,
1345ff, bes. 1347ff (Pentateuchkritik). 389 Vgl. A. van den Born, Art. Klagelieder, in: Bibel-Lexikon, hg. von H.
Haag, 959. 390 P. Deussen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, 1901, 4.
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9.2.2. Vergleich biblischer mit philosophischen Anschauungen Es wurde, wie erwähnt, die Quellentheorie Wolfs zur Klärung der Homerischen Frage direkt als Modell für die Erklärung der Entstehung und Verfasserschaft der einzelnen Teile der Thora verwendet. Dieser methodische Zugang ermöglichte grundsätzlich, biblische Schriften mit Werken der griechischen Literatur zu vergleichen. In der Niederschrift Nietzsches finden sich zu Kohelet folgende Bemerkungen: (…) eine Rede eines der weis<en> Männer zu vergl<eichen> mit Plat Dialogen. Eins der merkwürdigsten wegen der Anfänge der Philosophie: Anklänge des epikur<eischen> Systems (Mp V 29, p. 2).
Die beschriebene These ist zwar nichts Außergewöhnliches, da in der Geschichte der Auslegung des Buches Kohelet darin tatsächlich einerseits ein Dialog erblickt wurde391 und andererseits zuzugeben ist, dass auch nach neueren Forschungsergebnissen der Verfasser „griechische Auffassungen gekannt und berücksichtigt hat“, jedoch „die Abhängigkeit (…) von der griechischen Philosophie (Epikureer […]) kaum nachzuweisen (ist)“392. Gleichwohl – und darum geht es in der vorliegenden Untersuchung – ist es höchst beachtenswert, dass Nietzsche schon im Gymnasium kennen lernte, wie eine Schrift des Alten Testaments mittels literaturvergleichender Methodik mit Hauptwerken griechischer Philosophie in Beziehung gesetzt werden kann. Die Vergleichung weltanschaulicher Grundauffassungen literarischer Werke ist vom Schüler Nietzsche nicht nur hinsichtlich der germanischen Götterlieder sowie der großen indischen Epen – wie dargestellt – durchgeführt worden, sondern auch im Bezug auf die hebräische
_____________ 391 Vgl. J. van der Ploeg, Art. Prediger, in: Bibel-Lexikon, hg. von H. Haag,
1402. 392 A. a. O., 1403. Vgl. dazu generell: St. Fischer, Die Aufforderung zur Lebens-
freude im Buch Kohelet und seine Rezeption der ägyptischen Hafnerlieder, 1999, bes. 203ff.
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Bibel, und ebenso – worauf hier nicht mehr näher eingegangen wird – hinsichtlich des Neuen Testaments393. Darüber hinaus war es aufgrund der umfassenden philologischen Kenntnisse der Lehrer in Pforta möglich und naheliegend, auch einen Vergleich zwischen den semitischen und den indogermanischen Sprachen anzusprechen, worauf – das Kapitel über den gymnasialen Bildungsweg Nietzsches abschließend – eigens hingewiesen werden soll. 9.2.3. Hebräisch im Kontext sprachvergleichender Grammatik In einer Aufzeichnung, die im Zusammenhang des Hebräischunterrichts geschrieben wurde, werden grammatikalische Aspekte dieser Sprache in einem komparativen Horizont erklärt. Sie trägt die Überschrift ‚Grammatikalische Erörterungen‘, und ihr Inhalt ist: „1. Von den elementaren Zusammenhang der Sylben. 2. Ueber das Zeitmaß der Sylbe. 3. Ueber den Ton“ (Mp V 30, p. 1). Es wird von dem „dreifache(n) Fortgang“ in den meisten Sprachen ausgegangen (Laut – Silbe – Wort), und die Frage, ob nicht auch schon eine Silbe ein Wort bilden kann, mit dem Hinweis auf Chinesisch beantwortet: „Es giebt die chinesische Sprache, die zu den einsylb gehört“. Davon werden die semitischen und indogermanischen Sprachen gleichermaßen abgehoben: Zu den (sic!) semit u. indogerman Mehrsylbigkeit. In den semit Sprachen immer zweisylb Wurzelwörter (ibid.).
In den weiteren Ausführungen wird der Unterschied der beiden Sprachfamilien in der Wortbildung hervorgehoben: Im indogerm kann ein einzelner Vokal schon eine Sylbe bilden. Im hebraeisch<en> gehört zu jedem Vokal auch ein Consonant (ibid.).
_____________ 393 Vgl. J. Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, bes. 61f.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Im Folgenden werden die Aspekte des Tons sowie der „Proclisis (Vorauswerfung eines Accentes)“ und „Enclisis“ im Hebräischen anhand einzelner Beispielwörter dargelegt (cf. p. 2)394. An diesen grammatikalischen Überlegungen kann gesehen werden, dass der sprachwissenschaftliche Zugang tendenziell ein universeller war (er verweist hier sogar auf die Struktur des Chinesischen), dass er im Prinzip ein vergleichender war, und ein elementarer Ansatz, um die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten nicht nur von Sprachen, sondern von Kulturen und Religionen zu erfassen: die Transkulturalität wird in Schulpforta philologisch und historisch-vergleichend grundgelegt.
10. Zusammenfassung: Vom „Welt-Bild“ des Kindes zur „Welt-Anschauung“ des Jugendlichen
10. Zusammenfassung Die Kulturen und Religionen, die Nietzsche im Verlauf seiner gymnasialen Ausbildung kennen gelernt hat, sind vor allem im Rahmen des Unterrichts, also der didaktischen Vermittlung vor Augen getreten – angefangen von den kindgemäßen Formen bis zu wissenschaftlichen Beschäftigungen in den oberen Klassen des Gymnasiums. Die überwiegend historisch bzw. sprachwissenschaftlich vermittelten Formen der Rezeption sind m. E. eine wichtige Ausgangsbasis für Nietzsches eigenes Nachdenken über fremde Kulturen; ein „Nachdenken“, das als „Kinderphilosophie“ bzw. – in späteren Jahren – als „Jugendphilosophie“395 bezeichnet
_____________ 394 Vgl. zu Enklise (Verschmelzung eines unbetonten Wortes mit einem vo-
rangehenden betonten) und Proklise (Anlehnung eines unbetonten Wortes an ein folgendes betontes) bei der Satzintonation im Indogermanischen: E. Tichy, Indogermanistisches Grundwissen, 2000, 42. 395 Es ist wichtig, die Bedeutung dieser frühen Überlegungen zu beachten; zudem sind die verschiedenen Entwicklungsstufen zur Kenntnis zu nehmen und damit auch die Unterschiede in den altersspezifischen Überlegungen. Vgl. dazu R. L. Fetz, Von der Kinderphilosophie zur Ju-
10. Zusammenfassung
153
werden kann. In Parallele dazu wird auch von Kinder- und Jugendtheologie gesprochen396. Im Konzept von Fetz wird zu Recht die Philosophie der Kinder von jener der Jugendlichen unterschieden, wobei der Übergang von der Kindheit zur Jugend mit der Pubertät angesetzt wird. In diesem Übergang zeige sich eine grundlegende Transformation des Weltbildes des Kindes, die sich auch „im Denken selbst, also hinsichtlich seines Reflexionsvermögens“ auswirke: der Unterschied besteht darin, ob die Erkenntnis des Gegenstandes, des Objektes, reflektiert wird, oder das, womit erkannt wird, die Erkenntnismittel, wobei vor allem ältere Kinder gemeint sind, die überlegen, welche Konsequenzen die von ihnen gemachten Aussagen haben, und nicht jüngere Kinder (und Kleinkinder), die mit Piagets Entwicklungskonzept, der in Analogie zum Denken der so genannten „Primitiven“ von kindlichem Animismus spricht, als weithin einem mythischen Denken (im Unterschied zu einem naturwissenschaftlich-aufgeklärten) verhaftet verstanden werden397. Diese Überlegungen, die heutigen pädagogisch-didaktischen Problemstellungen entstammen, können zwar nicht unmittelbar auf Nietzsches Zeit und Entwicklung übertragen werden, doch sie sind hilfreich, um Strukturunterschiede zwischen den Überlegungen am Anfang der Gymnasialzeit und jenen in späteren Schuljahren und in der Studentenzeit zu erfassen. In Überlegungen des zwölf- und dreizehnjährigen Schülers Nietzsche zeigt sich ein „Weiterdenken“ vorgegebener Lehrinhalte in kindgemäßer Form. Dies geschieht im Unterricht in der
_____________ gendphilosophie, in: Information Philosophie, Heft 1, April 2005, 46-53. Dieses Entwicklungsmodell beruht auf der umfassenden Forschungsarbeit: R. L. Fetz/K. H. Reich/P. Valentin, Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis, 2001. 396 Vgl. Katechetische Blätter 131 (2006), Heft 2 die Aufsätze zu diesem Thema. 397 Vgl. R. L. Fetz, Von der Kinderphilosophie zur Jugendphilosophie (2005) 49 und 47.
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1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg
Weise des Nacherzählens und Nachempfindens, des spontanen Sich-Hineinfühlens in die vorgegebenen Inhalte (z. B. das Leben der „Jäger und Fischer“); außerhalb des Unterrichts in „persönlichen“ Aufzeichnungen Nietzsches, vielfach in poetischer Form – in direkter Anknüpfung an Inhalte des Mythos oder Traumes: z. B. wenn der zwölfjährige Nietzsche die Jugendjahre des Cyrus beschreibt, dessen Inhalte – wie aufgezeigt wurde – aus dem Geschichtsunterricht über die Perser stammen398. Analoges gilt z. B. hinsichtlich der inneren Verarbeitung und Aneignung von Inhalten der christlich-islamischen Geschichte (z. B. der Kreuzfahrerzeit)399. Nietzsche schreibt in kindgemäßer Dichtung historische Themen mit großteils eigenen Formulierungen nieder, die aber noch keine kritische oder wissenschaftlich-methodologisch reflektierte Auseinandersetzung darstellen, wie wir sie vielfach im Jugendalter, in den mittleren und höheren Schulstufen des Gymnasiums, antreffen. Nietzsche erspürt in den letzten Jahren seiner Kindheit gleichsam in der eigenen Phantasie das Zeitalter der „Kindheit der Völker“; er bringt sie in kindgemäßer Form zur Sprache. Insgesamt ist aber festzuhalten, dass vom Anfang bis zum Ende des Gymnasiums versucht wurde, den Schülern eine universale Geschichtsschau zu vermitteln, die allerdings in den ersten Jahren sehr stark von betont europäischen und christlichen Perspektiven geprägt war. Die Ausbildung in den höheren Klassen, gerade auch im historischen Unterricht, verstärkt durch die philologisch-kritischen Zugänge, die auch in anderen Gymnasien der damaligen Zeit, wie z. B. in Naumburg400, vermittelt wurden, haben im Ganzen ein historisch-kritisches Bild der Geschichte und ihrer literarischen Überlieferung vermittelt. Überzeugende Beispiele dafür sind die Integration von Erkenntnissen der vergleichenden Sprachwissenschaft und Indogermanistik im Geschichtsunterricht sowie die Modifika-
_____________ 398 Vgl. oben S. 68f. 399 Vgl. S. 134. 400 Vgl. Th. H. Brobjer, Nietzsche’s Education at the Naumburg Domgym-
nasium 1855-1858 (1999) 310.
10. Zusammenfassung
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tion des tradierten Bildes vom Islam und besonders von Mohammed, wie aufgezeigt werden konnte. Auf der Basis der Materialien ist somit auf der einen Seite von einem Unterschied kindlicher und jugendlicher Reflexionsformen auszugehen; auf der anderen Seite gilt es jedoch, trotz differenter Strukturen die Kontinuität und den Zusammenhang zwischen früheren und späteren Ausdrucks- und Denkformen zu beachten. Es sind die Phasen des Überganges als Etappen der Veränderung zu werten, die oft graduell verlaufen, in wenigen Fällen allerdings auch Anzeichen gravierender Umbrüche verraten; dies war bei jeder der dargestellten Kulturen im Einzelnen zu sehen. Trotz solcher unleugbarer Änderungen des Philosophierens in inhaltlichpositioneller als auch formell-explikativer Hinsicht kann bei einer Reihe von Themen (wie z. B. dem Interesse an den Anfängen, an der „Urzeit“; an den „fremden“, „alternativen“ Aspekten „anderer“ Kulturen) eine Kontinuität festgestellt werden, die sich in den Umbrüchen durchhält. Dies gilt wohl auch im Hinblick auf das „eigentliche“ Philosophieren, auf Reflexionen Nietzsches im allgemeinen philosophischen Sinn. Letzteres kann wohl schon – ohne hier eine fixe Zäsur machen zu wollen – von den Überlegungen des Sechzehn- und Siebzehnjährigen angenommen werden, wie sie sich z. B. in den Reflexionen zum Themenkreis von „Fatum und Geschichte“ und auch in den Auseinandersetzungen mit der germanischen Mythologie zeigen. In einem erweiterten, heute vielfach verwendeten Sinn sind auch Kinder „Philosophen“, sie denken über „Sinn“-Fragen nach und kommen zu oft originellen Lösungen und – für Erwachsene – überraschenden Antworten. Nietzsche ist in diesem Sinn gewiss ein philosophierendes Kind und – was mit noch mehr Recht gesagt werden kann – ein philosophierender Jugendlicher gewesen. Gerade wenn heute in Überlegungen zur „Kinderphilosophie“ darauf hingewiesen wird, dass der übliche Schulbetrieb die naive
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Offenheit und das spontane Fragen der Kinder einschränke401, kann von Nietzsche im Gegenteil gesagt werden, dass, obwohl zu seiner Zeit das pädagogische Reglement im Schulunterricht strenger war (vielleicht will er deshalb im persönlichen Nachdenken umso „freier“ sein), er sich seine Phantasie und seine alternativen Überlegungen nicht von außen reglementieren ließ – jedenfalls nicht im Bereich seiner „privaten“ Aufzeichnungen, die ein poetisch offenes, wohl auch begabtes, wenn auch vielfach nachahmendes Kind (der größte Teil der Notizen aus der Naumburger Zeit) und später einen philosophisch und wissenschaftlich sehr aufgeschlossenen und kritischen Jugendlichen zeigen. Es gilt, die Unterschiede in den Aussagen Nietzsches zu ein und demselben Thema in der Kindheit und in der Jugendzeit zu beachten. Dies trifft auch auf Nietzsches Befassung mit „anderen“ Kulturen im Erwachsenenalter, als Student, dann als Pädagoge und Professor zu – in jenen Lebensphasen, die in den folgenden Kapiteln dargestellt werden. Inwiefern in diesen verschiedenen Lebensstadien nicht nur im Hinblick auf die philologischen und historischen Kenntnisse, sondern auch auf seine darauf gründenden philosophischen Konsequenzen zutrifft, dass eine „Kontinuität trotz Differenzierung“, die „eine Kontinuität in der Differenzierung ist“402, angenommen werden kann, mag durch die folgenden textlich fundierten Nachweise deutlich werden. Bei diesen Texten handelt es sich zu einem großen Teil um Notizen im Kontext des Studiums der Klassischen Philologie (KGW I, Bde. 4 und 5)403, ergänzt um kurze Auszüge aus Kollegnachschriften, bzw. um Vorlesungen von Nietzsche selbst. Das zentrale Interesse der Untersuchung richtet sich aber auf die Frage, inwiefern darin religionswissenschaftlich relevante Themen zur
_____________ 401 Vgl. R. L. Fetz, Von der Kinderphilosophie zur Jugendphilosophie
(2005) 46. 402 A. a. O., 51. 403 Der von Katherina Glau erstellte Nachbericht zu diesen Bänden (Studen-
tenzeit) von Abteilung I ist z. Zt. in Ausarbeitung.
10. Zusammenfassung
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Sprache kommen; diese Fragerichtung legt sich von der einleitend dargelegten, eng mit der (vergleichenden) Sprachwissenschaft zusammenhängenden Entstehungssituation des Faches Religionswissenschaft nahe404, – nur diese Zugangsweise kann hier befolgt werden, und eben nicht eine philologische bzw. philologiehistorische. Trotz dieser fachspezifisch erforderten Eingrenzung vermögen die in den beiden folgenden Kapiteln auswahlweise berücksichtigten Aufzeichnungen Nietzsches zu zeigen, dass für ihn die Grundannahmen der damals entstehenden Religionswissenschaft nicht fremd waren, und er zudem außereuropäische Kulturen in einer Vielzahl von Aspekten gekannt hat.
_____________ 404 Vgl. oben S. 1ff.
2. Kapitel: Religionen und „Religionswissenschaft“ in Nietzsches Universitätsstudium
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit 2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit Nach dem Abitur in Schulpforta beginnt Nietzsche Mitte Oktober 1864 das Studium an der Universität Bonn und hat sich „auf Theologie und Philosophie eingeschrieben“, wie er an seinen ehemaligen Tutor Hermann Kletschke schreibt (KGB I 4, 15)1; zu Beginn des Sommersemesters 1865 wechselt er zur Philologie und ist an der Philosophischen Fakultät eingeschrieben; ab dem Wintersemester 1865/66 studiert er in Leipzig, wohin sein berühmter
_____________ 1
Nachträge, Brief vom 31. Oktober 1864; ebenso an seine Schwester und Mutter, Brief vom 24./25. Oktober 1864 (KGB I 2, 16). Nach den Angaben des Nachberichts zum Briefwechsel Nietzsches war er im ersten Bonner Semester nur an der Evangelisch-Theologischen Fakultät (vgl. Kommentar in KGB I 4, 335) immatrikuliert; doch seine Studien und Kollegmitschriften zeigen, dass er von Anfang an auch Vorlesungen an der Philosophischen Fakultät besucht hat. In der Vita, die er anlässlich der Berufung an die Universität Basel einreicht, deutet er seine theologischen Interessen ausschließlich in Richtung Philologie um und spricht bloß von „theologischen Streifzügen“: „Als ich nach einem sechsjährigen Aufenthalte der Schulpforte als einer strengen aber nützlichen Lehrmeisterin dankbar Lebewohl gesagt hatte, gieng ich nach Bonn. Hier richteten sich meine Studien eine Zeitlang auf die philologische Seite der Evangelienkritik und der neutestamentlichen Quellenforschung. Außer diesen theologischen Streifzügen war ich Zuhörer in den philologischen und archaeologischen Seminarien“ (KGW I 5, 56: 71 [1]). Nietzsche hatte schon in Pforta die Absicht gehabt, beide Studien zu beginnen, wie es im Zeugnis der Reife heißt: er verlässt die Schule, um in Bonn Philologie und Theologie zu studieren (vgl. GSA 71/361, 2, Bl. 11).
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
Lehrer Friedrich Ritschl nach einem Streit mit dem Philologen Otto Jahn mit Beendigung des Sommersemesters 1865 gegangen ist. In einem Brief vom 25. Mai 1865 an seinen Freund Carl von Gersdorff teilt Nietzsche mit, dass er selbst – wie dieser – auch beschlossen habe, nach Leipzig zu gehen. Es dürfte also nicht allein die Tatsache, dass Ritschl dorthin gewechselt war, der Grund für die Wahl des neuen Studienortes gewesen sein; dies hat ihn allerdings darin bestärkt: „Nachdem ich diesen Entschluß gefaßt hatte, hörte ich auch von Ritschl’s Abgang, und das bestärkte mich darin“ (KGB I 2, 56). Die Bände 4 und 5 der Ersten Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches beinhalten einen wesentlichen Teil der nachgelassenen Aufzeichnungen aus seiner Studentenzeit. Die Aufzeichnungen ab Herbst 1864 bis zum Beginn der Baseler Zeit (im Jahr 1869) umfassen eine große Fülle von Notizen, Entwürfen und Konzepten sowie auch von in sich abgeschlossenen Abhandlungen. Dieser mehrere tausend Seiten umfassende Manuskriptbestand gehört unterschiedlichen Themengebieten an: nicht ganz die Hälfte der Aufzeichnungen sind biographischen, gemischt philologisch-philosophischen und philosophischen, der wohl überwiegende Teil des Gesamtbestandes ist philologischen Inhalts. Die Bedeutung der Studienzeit Nietzsches für die Entwicklung seiner theoretischen Auffassungen wurde bisher nicht ausreichend erforscht. Ein Grund dafür ist in der Tatsache zu erblicken, dass bis heute seine Kollegnachschriften noch nicht publiziert sind2. Zu einem geringen Teil (ca. 150 Manuskriptseiten) sind
_____________ 2
Vgl. KGW I 4, Vorwort V. Es ist anzustreben, alle diese Nachschriften der wissenschaftlichen Forschung in geeigneter Weise zugänglich zu machen, selbst wenn dies – bei den philologischen z. B. aufgrund des Umfangs – nicht „zur Gänze in Textform“, d. h. als Buch, geschehen könnte, wie in diesem Vorwort (a. a. O., IX) gesagt wird. Dies wurde aber z. T. missverstanden (vgl. Ch. Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, 2005, 17). Die vorliegende Untersuchung mag mit dazu
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
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diese philosophischen, theologischen, kunstgeschichtlichen und politologischen Inhalts (v. a. Bonner Zeit); zum größten Teil aber handelt es sich um Mitschriften philologischer Vorlesungen – der Manuskriptbestand ist hier von beträchtlichem Umfang: ca. 1.100 Seiten! Einige wenige Texte aus dem Gesamtbestand der Kollegnachschriften sind veröffentlicht3. Gerade diese Aufzeichnungen aber könnten direkten Einblick in die Art und Weise geben, in welcher Nietzsche in den Vorlesungen, die er gehört hat, außereuropäischen Kulturen und nichtchristlichen Religionen begegnet ist; denn die Philologie vermochte eine Brücke zu anderen Kulturen und Sprachen zu sein, wie insbesondere zur indischen sowie zu weiteren im Kontext der Indogermanistik und vergleichenden Sprachwissenschaft thematisierten Kulturen. Es ist im Folgenden natürlich nicht möglich, das immense unveröffentlichte Material der Vorlesungsmitschriften Nietzsches auszuwerten; aber exemplarisch sollen einige Stellen daraus zitiert werden, die immerhin zu zeigen vermögen, wie umfassend und selbstverständlich z. B. die vergleichende Methodik bei den Philologen, die Nietzsche als seine Lehrer hatte, beachtet wurde. Die Mitschriften können ferner Aufschluss über Einflüsse auf Nietzsche in der Studienzeit geben; sie dokumentieren seine frühe Begegnung mit wesentlichen Grundgedanken des damaligen universitären Wissenschaftsverständnisses, mit den zentralen Inhalten und wichtigen Richtungen der Philologie, aber auch der Literatur,
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3
beitragen, die große Bedeutung der philologischen Kollegmitschriften für Nietzsches Denkweg im Ganzen sowie in dem spezifisch religionswissenschaftlichen Aspekt aufzuweisen. Vgl. dazu J. Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, bes. 80ff; ders., Nietzsches frühe Begegnung mit dem Denken Indiens, in: Nietzsche-Studien 18 (1989, Gedenkband für M. Montinari) 455-471; zu einer weiteren Kollegnachschrift siehe z. B. H. Cancik, Otto Jahns Vorlesung „Grundzüge der Archäologie“, in: W. M. Calder III/H. Cancik/B. Kytzler (Hg.), Otto Jahn (1813-1868). Ein Geisteswissenschaftler zwischen Klassizismus und Historismus, 1991, 29-56.
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
Theologie und Philosophie4. Letzteres trifft besonders auf die nicht-philologischen Vorlesungen zu, die Nietzsche in Bonn gehört hat; auf eine für die frühe Begegnung mit den Philosophien und Religionen Indiens besonders aufschlussreiche Kollegnachschrift ist im Folgenden (1.2.) näher einzugehen. Die im GoetheSchiller-Archiv in Weimar aufbewahrten Manuskripte von Nietzsches Nachschriften der von ihm besuchten Vorlesungen können zusätzlichen Aufschluss über seine Begegnung mit religionswissenschaftlicher Literatur und überhaupt mit außereuropäischen Kulturen geben. Von wohl noch größerer Bedeutung sind Nietzsches eigene Überlegungen in der Studentenzeit; im Hinblick auf die Religionswissenschaft ist es von besonderem Interesse, dass Nietzsche in diesem Zeitraum – noch vor Erscheinen (1869) und Lektüre (1870) von Max Müllers religionswissenschaftlichen ‚Essays‘ – ausdrücklich Religionswissenschaft thematisiert und reflektiert, und zwar im Kontext der Philologie. In drei Abschnitten soll Nietzsches Kenntnis von und eigene Beschäftigung mit zentralen religionswissenschaftlichen Themen während der Studentenzeit dargestellt werden: Erstens seine Kenntnis zentraler Aspekte insbesondere des Buddhismus und Hinduismus, wie sie sich auf der Grundlage seiner philosophiegeschichtlichen Vorlesungsmitschrift nachweisen lässt; zweitens die Dimension der vergleichenden Sprachwissenschaft (der methodologischen Basis der Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert), wie er sie in wichtigen philologischen Vorlesungen (besonders bei Georg Curtius) gehört hat; drittens die explizite Nennung des Begriffs Religionswissenschaft in exzerpthaften Aufzeichnungen Nietzsches zur ‚Encyklopädie der Philologie‘, dessen Verständnis und Einordnung innerhalb der Philologie m. E. stark von Curtius beeinflusst ist.
_____________ 4
Vgl. J. Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, 39ff (Teil I).
1. Philosophien und Religionen (besonders Indiens)
163
Die Gliederung der Darstellung von Nietzsches Professorentätigkeit im nächsten Kapitel wird analog dazu strukturiert sein: (1) die Kenntnisnahme wichtiger Aspekte verschiedener Religionen durch die Lektüre von Max Müllers ‚Essays‘; (2) die Wertung der sprachvergleichenden Methodik in Nietzsches eigenen Vorlesungen; (3) die Integration religionswissenschaftlicher, besonders religionsethnologischer Kenntnisse im Rahmen seiner Überblicksvorlesung zum ‚Gottesdienst der Griechen‘. Alle Abschnitte zusammengenommen zeigen, dass sich Nietzsche in seiner Studenten- und Professorenzeit in vertiefter Weise mit jener Vielfalt der Religionen auseinandergesetzt hat, die schon seine Schulzeit geprägt hatte.
1. Philosophien und Religionen (besonders Indiens) in historisch-vergleichender Perspektive
1. Philosophien und Religionen (besonders Indiens) 1.1. „Orient“ und „Okzident“ – generelle Hinweise auf verschiedene Religionen
Nietzsche hat sich im Laufe seines Studiums vielfältige Kenntnisse über außereuropäische Kulturen und Religionen angeeignet. In einzelnen Bereichen, die schon in der gymnasialen Ausbildung eine Rolle spielten, hat er weitere, z. T. vertiefende Aspekte kennen gelernt. So gibt er in der Niederschrift „Ueber die Verwandtschaft unsrer Literatur mit den indogermanischen Literaturen“ (KGW I 5, 27f: 66 [2]) neuere Entwicklungen in dieser Frage wieder: es gelte als „festgestellt (…), daß die Mythologie viele urgemeinsame Elemente enthält“, und dass in dieser „Reste urgemeinsamer Poesie“ erhalten seien; ebenso seien wörtliche Übereinstimmungen in Zauberformeln „zwischen Inden u. Germanen“ bzw. Ähnlichkeiten zwischen „altlatein. u. indische(r) (Metrik)“ zusammengestellt worden; auch hier zeige sich in „allgemein metrischen Gesetzen (…) die Uebereinstimmung“ (27).
164
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
Ein weiterer Beleg für die Befassung mit Themen, die er von der Gymnasialzeit her kannte, ist das Exzerpt von Valentin Roses Buch ‚De Aristotelis librorum ordine et auctoritate. Commentatio‘. Schon im Gymnasium schrieb er die Stelle über die indischen Epen Mahābhārata und Rāmāyana ab und verglich sie mit dem Nibelungenlied5. Im Philologiestudium nun exzerpiert er die Aussage über das griechische Drama, dass es „wie bei den Indern auf heroischen Stoffen ruht“ (KGW I 4, 169: 52 [2]); er vergleicht auch die epischen Gedichte der Alexandriner „mit der indischen Dichtung“ und verweist auf Albrecht Weber (168). In Notizen aus der letzten Leipziger Zeit führt er neben Webers ‚Akademischen Vorlesungen über indische Litteraturgeschichte‘6 auch Christian Lassens ‚Indische Alterthumskunde‘7 an. In Notizen über die „Einflüsse auf die litterarhistorischen Studien“ (I 4, 223-225: 52 [31]) spricht er von der „Neigung für indische Poesie“ sowie von „mystische(m) Drang u. Allegoriensucht“ (224). In dem genannten Exzerpt aus Rose nennt er im Zusammenhang mit den unechten Überlieferungen der „Weisheit barbarischer Philosophen“ (I 4, 163)8 neben Namen wie Dardanus und Ostanes (sagenhafte Gestalten Phöniziens bzw. Ägyptens) auch den Namen „Zaratas (sive Zoroastres)“ (ebd.)9. Für die Zahl der „magische(n) Schriften des Dardanus“ verweist Nietzsche in ergänzenden Bemerkungen (vgl. BAW 4, Nb. 419) zur Studie ‚Die ΔϟΑ΅ÓΉΖȱder Democritea‘ (KGW I 4, 283-342: 54 [1] – [8]) auf Friedrich Ritschls ‚Opuscula‘ (vgl. 296 und 311); er erwähnt Ostanes als einen „Nachfolger des Zoroaster“
_____________ 5 6 7 8 9
Siehe S. 112; siehe KGW I 4, 169: 52 [2]. Vgl. KGW I 4, 168f: 52 [2] und BAW 4, Nb. 630. Vgl. BAW 4, Nb. 630. Vgl. auch KGW I 4, 227: 52 [34]: „Die uralten oriental. Philosophen“. Vgl. a. a. O., 263: 52 [55]: Zoroaster – im Zusammenhang mit Zeitberechnungen. Vgl. dazu K. Preisendanz, Art. Ostanes, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Band 18/2, 1609-1642, bes. 1614f; Art. Zaratas, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, 2. Reihe, Band 18, 2318f.
1. Philosophien und Religionen (besonders Indiens)
165
(312). Diese Notizen veranschaulichen, dass Nietzsche in seiner Studentenzeit wiederholt dem Namen Zoroaster (griechisch für Zarathustra) sowie dessen komplexer Überlieferungsgeschichte in der griechischen Literatur begegnet ist10. Nietzsches weit gestreute Interessen zeigen auch mathematikhistorische Notizen, in denen er auf „Cantor, mathemat. Beiträge zum Culturleben <der Völker>. 1863“ verweist, wobei der arabische und indische Kulturraum zur Sprache kommen (I 4, 117-126: 42 [1] – [15], bes. 124: 42 [11]; vgl. 585). Freilich war die Erweiterung seiner Kenntnisse zu einem nicht geringen Teil von den Vorlesungen abhängig, die er besucht hatte, zu einem anderen Teil von seinen persönlichen Interessen bestimmt, wie z. B. von der Lektüre Arthur Schopenhauers. So hat er die Religionen und Philosophien Indiens in einer philosophiegeschichtlichen Vorlesung näher kennen gelernt, wie im Folgenden ausführlich analysiert wird. Doch auch weitere Vorlesungen der Bonner Zeit konnten Nietzsche eine Ausweitung seiner Kenntnisse über andere Kulturen ermöglichen, wie jene über Archäologie von Otto Jahn. In dem Abschnitt ‚Grundzüge der Archaeologie‘ war auch die Thematik „Der Vordere Orient, Mesopotamien, Iran“ vorgesehen (C II 2, p. 11); wir wissen jedoch nicht, in welchem Umfang Nietzsche diese religionskundlich bedeutsamen Abschnitte aufgenommen hat, da seine Mitschrift sehr lückenhaft und zudem das Wenige, das erhalten ist, in mehreren Heften verstreut ist11. Immerhin werden zu Ägypten Bücher von Karl Richard
_____________ 10 Vgl. M. Stausberg, Art. Zoroastres/Zoroastrismus, in: Der Neue Pauly.
Enzyklopädie der Antike, Band 15/3, 1229-1234; in der europäischen Rezeptionsgeschichte werden mehrere Träger dieses Namens unterschieden; siehe ders., Faszination Zarathustra, Teil 1, 1998, 328ff: ‚Der eine Zoroaster oder die vielen ‚Zoroastres‘?‘; vgl. auch E. Hardy, Zur Geschichte der vergleichenden Religionsforschung, in: Archiv für Religionswissenschaft 4, 103f: zu den Zeugnissen klassischer Schriftsteller über Zoroaster. 11 Vgl. BAW 1, LVI. Siehe dazu näher die Studie von H. Cancik, in der er die Mitschrift von E. Hiller mit jener von Nietzsche vergleicht, um den
166
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
Lepsius, dann „Champollion u die Hieroglyphen“ notiert; ebenso wird Literatur zu Persien (beginnend mit Reisebeschreibungen) und zu den Ausgrabungen – besonders jene in Ninive durch Layard (seit 1847) – angeführt12. In anderen Vorlesungen wurden ebenfalls außereuropäische Kulturen erwähnt: in der „Politik“-Vorlesung von H. K. L. von Sybel (Wintersemester 1864/65) wird z. B. gesagt, dass die „Theokratie“, der Glaube, dass „Gott ein einzeln Volk geleitet (habe)“, bei „den Juden, Medern, Persern, Muhamedan<ern>, auch in dem Papstthum“ anzutreffen sei (C I 6, p. 2; vgl. p. 7 „chines Mandarinen“). In weiteren Vorlesungen kamen Vorstellungen und Begriffe zur Sprache, die damals die Wahrnehmung nichtchristlicher Religionen prägten. In der Vorlesung ‚Deutsche Kunstgeschichte‘ (Wintersemester 1864/65) von Anton H. Springer wird die Auffassung referiert: „der Orient hat keine Geschichte, er wird durch Fatalismus regiert“ (C I 4, p. 18)13. In der „Kirchengeschichte“-Vorlesung von W. L. Krafft wird – hegelianisch formuliert – das Christentum als die „absolute Religion Weltreligion“ verstanden, die mittelbar durch die „Naturreligion“ des antiken Heidentums vorbereitet worden sei (C I 2, p. 4). „Das
_____________ Inhalt der Vorlesung von Jahn zu erschließen: Otto Jahns Vorlesung „Grundzüge der Archäologie“ (1991) 29-56. 12 Vgl. C I 1a, pp. 9s., wo sich dieser Teil aus C II 2 befindet; vgl. BAW 1, LV. Zu Jahns Sicht der antiken Mythologie vgl. R. Schlesier, Mythenwahrheit versus Aberglaube: Otto Jahn und der böse Blick, in: W. M. Calder III/H. Cancik/B. Kytzler (Hg.), Otto Jahn (1813-1868). Ein Geisteswissenschaftler zwischen Klassizismus und Historismus, 1991, 234-257; sie weist darauf hin, dass dessen Arbeit über den „bösen Blick“ ihn „gleichzeitig mit archäologischen wie mit religionswissenschaftlichen Problemen (konfrontierte)“, a. a. O., 234f. 13 Diese Aussage wird von Springer dem französischen Maler Horace Vernet zugeschrieben, der in Nordafrika war und das orientalische Leben für seine Genre-Bilder studierte: vgl. Art. Vernet, H., in: Meyers Konv.Lexikon 16, 145.
1. Philosophien und Religionen (besonders Indiens)
167
röm Weltreich diente zu einer Basis für den Universalism<us>“; es wird insbesondere auf die „Alexanderzüge“ hingewiesen, durch die „die Schranke zwisch<en> Orient u. Occident gefallen“, der „jüdische Partikularism<us> gebrochen“ worden sei und sich eine „Weltsprache“ und ein „Weltverkehr von Alexandrien aus“ ausgebildet hatte (p. 5). In diesen Ausführungen spiegelt sich das absolutistische Selbstverständnis christlicher Theologie im 19. Jahrhundert, das weltgeschichtlich begründet wird; in diesem Sinn wird die alexandrinische Kultur vereinnahmend als Vorbereitung für das Christentum interpretiert, zugleich aber gesehen, dass in diesem historischen Zeitraum die Grenzen zwischen Orient und Okzident aufgebrochen wurden – eine Situation, die in historischen Studien des 19. Jahrhunderts besonders betont wurde14. 1.2. Einbeziehung und Ausgrenzung der „orientalischen“ Philosophie in der Philosophiegeschichte 1.2.1. Die Kollegnachschrift ‚Allgemeine Geschichte der Philosophie‘ (Manuskriptbeschreibung) Im Sommersemester 1865 besuchte Nietzsche die für unsere Frage wegweisende und grundlegende Vorlesung ‚Allgemeine Geschichte der Philosophie‘15 von Carl Schaarschmidt 16, die Grundlage und Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sein soll17.
_____________ 14 Vgl. Anm. 30 (S. 179f) im vorliegenden Kapitel; zum Begriff „Orient“‘
vgl. S. 32, Anm. 52. 15 Es handelt sich um das Manuskript mit der Signatur: GSA 71/41; alte
Signatur: C II 1. Aus diesem Manuskript wird im fortlaufenden Text unter Angabe der Seite (p.) zitiert. 16 Carl Schaarschmidt (1822-1909) war selbst ein ehemaliger Schüler von Schulpforta. Schon zu Beginn des Studiums in Bonn bekam Nietzsche mit ihm Kontakt; Karl Steinhart, der Altphilologe aus Schulpforta, hatte eine Empfehlung für Nietzsche und Deussen mitgegeben, und Schaarschmidt hat im Laufe des ersten Semesters beide mehrfach mit
168
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
In Bonn hat Nietzsche für die Mitschrift der Vorlesungen Quarthefte bzw. Blätter aus solchen verwendet. Den genauen Umfang der im Goethe-Schiller-Archiv in Weimar aufbewahrten Hefte respektive die Anzahl der Blätter dieser Nachschriften hat Hans Joachim Mette in seinem ‚Sachlichen Vorbericht‘ verzeichnet. Da Nietzsche nicht für jede Vorlesung durchgehend ein eigenes Heft verwendete, sondern für einzelne Stunden auch Hefte benutzte, die hauptsächlich für eine andere Vorlesung bzw. für Aufzeichnungen anderer Art dienten, ist auch die Nachschrift der philosophiegeschichtlichen Vorlesung bei Schaarschmidt nicht fortlaufend in einem einzigen Heft aufgezeichnet; das einschlägige Konvolut umfasst 76 Quartseiten. Auf mehr als der Hälfte dieser Seiten befinden sich Aufzeichnungen, die zu der genannten Vorlesung gehören; weitere Seiten sind mit Notizen aus anderen Vorlesungen bzw. zu Themenbereichen, mit denen sich Nietzsche in Bonn befasste, beschrieben (wie z. B. zum platonischen Symposion oder über politische Dichter)18. Darüber hinaus gehören die Seiten 10-12 von Nietzsches Nachschrift der „Politik“-Vorlesung von H. K. L. von Sybel (Wintersemester 1864/65) zur Schaarschmidt-Vorlesung; ferner befinden sich in einem Quartheft von 16 Seiten mit ‚Studien zu Theognis‘ fünf Seiten aus der philosophiegeschichtlichen Vorlesung19.
_____________ herzlicher Offenheit zu sich nach Hause eingeladen: vgl. Briefe vom 10. 11. 1864, 7. und 9. 12. 1864, von Ende Dezember 1864 und vom 11. 1. 1865, siehe KGB II 1, 18, 21f, 35f. Vgl. J. Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, 57 Anm. 42. Es ist nicht uninteressant festzuhalten, dass Nietzsche noch 1887 eines seiner letzten Werke, nämlich ‚Zur Genealogie der Moral‘, an Schaarschmidt schicken ließ: KGB III 5, 188. 17 Vgl. die Zusammenstellung in BAW 1, LV s. Die Quarthefte hatten meist das Format 18,5 x 24cm. Die Ausführungen in Abschnitt 1 wurden großteils schon publiziert in: J. Figl, Nietzsches frühe Begegnung mit dem Denken Indiens (1989) 455-471; sie sind hier überarbeitet. 18 Vgl. KGW I 4, 60f: 31 [1]. 19 Vgl. BAW 1, LXXIX: Mp VII, 3.
1. Philosophien und Religionen (besonders Indiens)
169
Für die Einleitung wird – mit Ausnahme des Vorlesungstitels – die deutsche Schrift, für den Rest der Vorlesung überwiegend die lateinische Schrift verwendet20. Die Vorlesung Schaarschmidts beginnt nach Nietzsches Mitschrift mit einer Art Einleitung, in der der Begriff der Philosophie (§ 1) sowie das Verständnis der Geschichte der Philosophie (§ 2), dann Quellen und Literatur (§ 4) angegeben werden; ein weiterer Abschnitt (vermutlich § 3 – die Nummerierung fehlt bei Nietzsche) geht auf die Methode ein. Danach wurde „Die alte Philosophie“ (C II 1, pp. 8-32) dargestellt, dann die neuzeitliche – vor allem Spinoza, Locke, Berkeley und Hume (pp. 44-51) sind besprochen worden; schließlich – nach Nietzsches Mitschrift recht lückenhaft – die „Neueste Philosophie“ (p. 56): Werke Kants werden genannt und teilweise referiert (pp. 61s.); auf einer separaten Seite (p. 59), die sehr wahrscheinlich zum Kontext dieser Vorlesung gehört, findet sich ein Exzerpt mit der Überschrift ‚Kritik der Kantische(n) Philosophie von A. Schopenhauer‘ aus dem Anhang zu Schopenhauers Werk ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘21. Das Denken Asiens ist im eigentlichen Inhalt der Vorlesung nicht berücksichtigt, es wird sogar bewusst ausgeschlossen. Nach der Überschrift ‚Die alte Philosophie‘, mit der die inhaltliche Darstellung einsetzt, wird apodiktisch festgestellt: „Wir scheiden die orientalische (scil. Philosophie; J. F.) einfach ab“ (p. 8). Nach Schaarschmidts Konzeption sollte also das Denken Asiens aus seiner Darstellung der Philosophiegeschichte ausgeklammert sein. Er folgt hier offensichtlich dem im 19. Jahrhundert weithin geläufi-
_____________ 20 Möglicherweise hat Nietzsche den Anfang der Vorlesung zu Hause in
Reinschrift nachgetragen; vgl. dazu W. Metterhausen, Friedrich Nietzsche’s Bonner Studentenzeit, 21942, 23. Besonders schwer leserlich ist p. 56, weil diese ausnahmsweise mit Bleistift geschrieben ist. 21 A. Schopenhauer, Sämtliche Werke, 1972, Band 1, 494ff; vgl. J. Figl, Nietzsches Begegnung mit Schopenhauers Hauptwerk, in: W. Schirmacher (Hg.), Schopenhauer, Nietzsche und die Kunst (Schopenhauer-Studien 4), 1991, 89-100.
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
gen Modell, das die östliche Philosophie in der Geschichtsschreibung ausschließt, wie Wilhelm Halbfass überzeugend im Hinblick auf Indien nachgewiesen hat22. Trotz dieser konzeptuellen Exklusion durch Schaarschmidt kommt das östliche Denken an drei Stellen dieser Nachschrift Nietzsches zur Sprache, nämlich erstens in der Einleitung, zweitens bei der Erörterung des Neuplatonismus und drittens im Schopenhauer-Exzerpt, das wahrscheinlich ebenfalls zur SchaarschmidtVorlesung gehört. Darauf soll im Einzelnen eingegangen werden. Die Befassung mit den Kollegnachschriften Nietzsches hat ihren forschungsmäßigen Sinn wohl primär darin, festzustellen, welchen Auffassungen Nietzsche begegnet ist, wobei auch der Zeitpunkt von besonderem Interesse ist, um begründet weiterfragen zu können, ob und in welcher Weise ihn diese – sei es in der Form affirmativer Rezeption oder kritischer Negation – beeinflusst haben könnten. Deswegen soll im Folgenden herausgestellt werden, in welcher Weise das Denken Indiens charakterisiert wird, dem Nietzsche in der philosophiegeschichtlichen Vorlesung begegnet ist. Doch die konkrete inhaltliche Charakteristik (Richtungen, Begriffe, Theorien) wäre unzureichend, würde man den methodologischen Horizont nicht beachten, innerhalb dessen diese außereuropäische Philosophie vor Augen gestellt wird. 1.2.2. Vergleich indischen und griechischen Denkens im historischen Kontext Von der Thematik der Vorlesung her ist es evident, dass prinzipiell eine historische Perspektive leitend sein sollte. Welcher Art aber näherhin diese geschichtliche Methodik war, könnte primär aus den einleitenden Ausführungen (pp. 3-8) entnommen werden. Ein eigener Paragraph zur Methode aber fehlt; offensichtlich war ein solcher von Schaarschmidt vorgesehen und vermutlich auch gebracht worden, denn unmittelbar vor Beginn des Paragraphen 1 über den ‚Begriff der Philosophie‘ wird Folgendes gesagt: „Um
_____________ 22 Vgl. W. Halbfass, Indien und Europa, 1981, 165ff, bes. 176.
1. Philosophien und Religionen (besonders Indiens)
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den Gegenstand (scil. der Geschichte der Philosophie; J. F.) zu begrenzen, müssen wir auf den Begriff eingehen. Daran muß sich eine Betrachtung über die Methode, zuletzt über die philos Literatur anknüpfen“ (p. 3). Dennoch geht der methodische Ansatz der Vorlesung mit genügender Deutlichkeit aus den erwähnten Seiten sowie aus den einleitenden Ausführungen im Ganzen hervor. Besonders aufschlussreich hierfür sind schon die ersten Sätze der Mitschrift: Wir gehen aus von der Scheidung objektiver u. subjektiver Geschichte. Die Geschichte der Phil ist ein geist Prozeß, ein bestimmter Entwicklungskampf der Vernunft. Es gilt das Gesetz dieses Kampfes zu entdecken. Nicht auf das Resultat, sondern auf die Genesis kommt es an (ibid.).
Abgesehen von den für Nietzsches späte Philosophie höchst aufschlussreichen Formulierungen, nämlich, dass es hier einerseits um einen „Kampf“ gehe, und andererseits die noch bedeutsamere, dass es auf die „Genesis“ ankomme, was auf die genealogische Denkweise in den Spätwerken Nietzsches bezogen werden kann, ist festzustellen, dass Schaarschmidt bemüht ist, ein „Gesetz“ der Philosophiegeschichte zu eruieren. Dabei ist er weniger am Ergebnis als an der Entstehung, weniger am Resultat als an der Genese interessiert. Mit der Betonung des Prozesshaften, des Geschichtlichen schlechthin, nimmt Schaarschmidt einen Grundgedanken auf, den er im Vorwort zu dem einige Jahre zuvor erschienenen Werk ‚Der Entwicklungsgang der neueren Speculation als Einleitung in die Philosophie der Geschichte‘ pointiert formuliert hat: er wolle – gegen den Rationalismus – den Satz herausstellen, „Philosophie und Geschichte seien im Grunde und wesentlich eines und dasselbe“23. Dadurch wird die Philosophie hineingestellt in den das 19. Jahrhundert insgesamt prägenden Prozess des historischen Denkens. Dies klingt hegelianisch; gleichwohl distanziert sich Schaar-
_____________ 23 C. Schaarschmidt, Der Entwicklungsgang der neueren Speculation als Einleitung
in die Philosophie der Geschichte, 1857, IV.
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
schmidt gemäß der Nachschrift dieser Vorlesung von Hegels absoluter Sicht, wenn er – ohne Hegel zu nennen24 – sagt: Die vollendetste (scil. „reflektierende“ Darstellung der Philosophie; J. F.) ist die welche von einem allgemein<en> Standpunkt ausgeht, so daß die einzelnen Philosophie Momente (sic!) der Entwicklung ist. Nur muß man sich vor dem Absolutismus in der Gesch der Ph hüten (p. 5).
Es ist also kein absolut notwendiger historischer Entwicklungsprozess, der hier angenommen wird, aber immerhin ein faktischer, der festzustellen ist. Im konkreten Geschichtsverlauf gliedert sich dieser Prozess in mehrere Etappen, die den Rahmen für die Einordnung des indischen Denkens abgeben. Innerhalb der einleitenden Überlegungen Schaarschmidts wird nach der Feststellung, dass „die Ph mit dem ‚sich Wundern‘ (beginnt)“, gesagt, dass „der indogerm u. der semit Stamm die Träger der philos Entwicklung (sind)“ (ibid.)25. Die indogermanistische Grundannahme schlägt organisch die Brücke zum Denken Asiens, wenn es heißt: Der Indogerm Stamm erstreckt sich von dem südw<estlichen> Asien durch Europa, Ind, Persien (…) Die indische N dann das griechische u. das german Volk tragen die phil Bedeutung (ibid.).
Dieser denkgeschichtlichen Zusammengehörigkeit aufgrund der sprachgeschichtlich aufweisbaren ethnologischen Verbindung korrespondiert die Feststellung einer ökonomischen Beziehung zwischen den verschiedenen Kulturen: „Ein früher Handelszusammenhang zwischen Vorderasien, Indien u. Griechenland läßt uns vermuthen, daß auch Gedanken mitgekommen sind“ (p. 6).
_____________ 24 Gleichwohl bezieht er sich in seinen Publikationen mehrfach auf ihn:
vgl. C. Schaarschmidt, a. a. O., 207-218. 25 Über dem Wort „philos“ ist im Manuskript ein unleserli-
ches Wort eingefügt.
1. Philosophien und Religionen (besonders Indiens)
173
In den beiden zitierten Stellen ist ausdrücklich von Asien die Rede, aber schon die geographische Konzentration auf das „südw<estliche> Asien“ bzw. „Vorderasien“ zeigt, dass der Ferne Osten, dass China und Japan nicht erörtert werden. Die Philosophie Indiens aber wird ausdrücklich gewürdigt und ihre Inhalte werden kurz skizziert. Hinsichtlich der „semit V“ wird jedoch gesagt: „Aber diese Nationen sind unphilosophisch, es sind Fabeln was man sich von ang<eblicher> Ph erzählt“ (p. 5), um kurz darauf zu behaupten: „Die indische N dann das griechische u. das german Volk tragen die phil Bedeutung“; von hier aus ergibt sich organisch eine Dreiteilung: „Drei große Stufen: die indische die griechische u. die neuere. (letzt<ere> unter dem Einfluß des Christenthums.)“ (ibid.). Es ist die Rede von „Stufen“, womit anscheinend die Idee der Höherentwicklung insinuiert wird. Jedoch wird nicht ein einfaches Fortschrittskonzept vertreten, sondern es werden Vor- und Nachteile der einzelnen Epochen einander gegenübergestellt. Dieses historisierende Stufenmodell gibt so den Hintergrund für eine vergleichende Perspektive ab. Diese ist für die damalige Beurteilung der indischen Religionen höchst aufschlussreich: Das Ind bleibt auf der Stufe der Einheit v Gott u Welt, Geist u Natur stehen. Griechen machen in der Analysis den weiteren Schritt, sie brechen der Subjektivt Bahn (p. 6);
und unter dem Stichwort „Allgemeine Charakteristik“ heißt es: Dem Ind Geist entgegen ist der griech ein progressiver, zur Analysis befähigter. An die Stelle der sinnigen Kontemplation tritt die Dialektik (p. 9).
Wir können also festhalten, dass hier indisches und griechisches Denken unter zwei Aspekten gegenübergestellt werden: einerseits unter dem Aspekt des vereinheitlichenden bzw. analytisch-trennenden Denkens, andererseits unter der Perspektive des in sich ruhenden, kontemplativen bzw. progressiv-dialektischen Denkens. Während in Griechenland die Subjektivität sich durchsetzt, bleibt
174
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
in Indien die Seele, bleibt das Geistige an das Göttliche und an die Natur zurückgebunden. Hinter dieser Gegenüberstellung steht sicher eine Wertung, aber keine einseitige. Gewiss, das indische Denken ist die frühere Stufe der geistigen Entwicklung und das griechische die darauf folgende und in diesem Sinn „höhere“ Stufe. Gleichwohl aber sieht Schaarschmidt auch „die Begrenzung“ des griechischen Geistes; er erblickt sie in „der Unfähigkeit die gelösten Elemente wieder zur Versöhnung zu bringen. Er endigt mit dem reinen Dualismus“ (ibid.). Erst in der „neuere(n) Phil“, die „an den unaufgehobenen Gegensatz v Natur u. Geist, Gott u. Welt (an)knüpft“, geschieht die „Versöhnung der Gegensätze“ (p. 7); hierin zeigt sie sich – im Unterschied zur Philosophie des Altertums – „als wesentlich christliche“ (ibid.). Schaarschmidt folgt also einem philosophiegeschichtlichen Konzept, in dem die neuere Philosophie als „christliche“ die höchste Stufe darstellt, der gegenüber auch die griechische in ihren Mängeln erscheint. Das indische Denken wird allerdings im Vergleich zum griechischen beurteilt. Wir können also festhalten, dass die methodologische Perspektive wesenhaft eine vergleichende ist; diese prägt auch die inhaltliche Charakterisierung dieses als fremd empfundenen Denkens, wie sie in Nietzsches Nachschrift wiedergegeben ist. 1.3. Inhaltliche Charakterisierung der brahmanisch-vedischen Religion Im Anschluss an die schon zitierte Feststellung von den „drei große(n) Stufen“ der philosophischen Entwicklung gibt Schaarschmidt eine kurze, schlagwortartige Kennzeichnung des indischen Denkens: „Die Indische ist noch nicht gehörig durchforscht, sie zeigt nur Elemente u. besitzt keinen logische Fortschritt, gehemmt durch hieratische<s> Element. Dazu wirken geogr u. historische Eindrücke“ (p. 5).
1. Philosophien und Religionen (besonders Indiens)
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Diesen restriktiven Aussagen, die offen lassen, ob die behaupteten Grenzen der indischen „Stufe“ des Denkens nicht auch durch die mangelnde Erforschung bzw. ungenaue Kenntnis mitbedingt sind, folgt ein auffallend positives Urteil: „Sie haben eine außerord<entliche> geistige Begabung“, was mit Bezugnahme auf die „philos Elemente“ (ibid.) der Sprache begründet wird. Nach den genannten generellen Hinweisen folgt die eigentliche Nennung zentraler Grundannahmen indischer Religionen, die sowohl in ihrer Entstehung als auch Charakterisierung den engen Konnex von philosophischen und religiösen Grundauffassungen zeigen. Zu Beginn wird das „BrahmaReligionssystem“ als „Verknöcherung einer ursprünglich reinen u. erhabenen Naturreligion“ vor Augen gestellt und gesagt, dass sich die Philosophie im Anschluss an dieses System zeige; namentlich wird dann die „Sancyaphilosophie“ angeführt, die „Freiheit von den orthodoxen Anschauungen (zeigt)“. Diese Ausführungen seien wegen ihrer quellengeschichtlichen Bedeutung zur Gänze wiedergegeben: Das BrahmaReligionssystem ist eine Verknöcherung einer ursprünglich reinen u. erhabenen Naturreligion. Im Anschluß an dies<es> System zeigt sich die Philos. In Commentaren zu den Vedas uns überliefert (pp. 5).
Es wird hinzugefügt: Sie haben die Unart philos Aphorismen zu lieben. Diese sind jetzt herausgegeben. Aber man bekommt beim besten Willen keinen Sinn heraus (p. 6).
Aus der Charakterisierung in Nietzsches Mitschrift geht zwar nicht eindeutig hervor, um welches Werk es sich handelt, doch der Ausdruck „Aphorismen“ weist auf die Sāmkhya-Sutren hin, die unter dem Namen des legendären Gründers dieser Schule, Kapila, überliefert sind; die erste (englische) Ausgabe war folgende: ‚The Aphorisms of the Sánkya Philosophy of Kapila, with illustrative extracts from the commentaries‘, Book I-IV, Sanskrit and English, transl. by J. R. Ballantyne (Allahabad 1852-1856); die zweite Aus-
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
gabe dieses Werkes erschien einige Jahre später: ‚The Sánkhya Aphorisms of Kapila. With extracts from Vijnána Bhikshu’s commentary‘, fasciculus I (Calcutta 1862); das Gesamtwerk (Calcutta 1865) erschien innerhalb der bekannten Bibliotheca Indica (New Series, Nr. 32 und 81); es ist möglich, dass Schaarschmidt diese Ausgabe meint. Auf die Aphorismen weist auch die freimütige Aussage hin, dass „man beim besten Willen keinen Sinn heraus(bekommt)“; den Schwierigkeitsgrad hebt auch eine der bedeutendsten einschlägigen Abhandlungen der damaligen Zeit hervor, in der es heißt, dass es schwierig sei, etwas „Obskureres“ als diese Sutren zu finden26. Danach folgt eine Aufzählung von drei Hauptgegenständen, die sich im Ganzen offensichtlich auf die indische, besonders in den Veden gegebene Auffassung, bezieht: Drei Hauptgegenstände: 1. die göttlich<en> Dinge, Gott u. Schöpfung 2. die Seele u. der Ascetische Zwang. 3. Logische Lehren. Pantheistische Grundcharakter, die Welt ist Emanation Gottes, ebenso die menschl Seele. Zwar nicht logisch bewiesen sondern als Behauptungen nach den Vedas, nach dem volksthümliche System. Die Schranke der irdische Unvollkommenh<eit> abzustreifen ist das Ziel der Askese. Seelenwand<e>rung ist die Folgerung, das Manugesetzbuch enthält Drohungen mit der Seelenwand<e>rung (pp. 5s.).
Die wiedergegebenen Texte vermögen zu zeigen, in welcher Weise Nietzsche einen generellen Überblick über indisches Denken vermittelt bekommen hat und welche Strömungen und zentralen Begriffe desselben er schon im ersten Studienjahr kennen lernte. Es sei im Zusammenhang dieser Feststellung nochmals auf die generelle quellen- und rezeptionsgeschichtliche Fragestellung der vorliegenden Untersuchung hingewiesen. Dies bedeutet, dass Nietzsches Aufzeichnungen stets im Kontext der damals zugänglichen Kenntnisse über außereuropäische Religionen zu lesen sind. Die-
_____________ 26 J. Barthélemy Saint-Hilaire, Premier Mémoire sur le Sânkhya, in: Mémoi-
res de l’Académie des Sciences morales et politiques de l’Institut de France, tom. 8, 1852, 107-561, Zitat: 111.
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ser zeitgeschichtliche Bezug eröffnet ein umfassenderes Verständnis der zitierten Manuskripttexte, denn er kann zur Interpretation der in Nietzsches Mitschrift sich spiegelnden Auffassungen hinsichtlich der verschiedenen Aspekte indischer Religionen und Philosophien beitragen. Zugleich ist damit eine Voraussetzung geschaffen, um die weitere Frageintention zu verfolgen, nämlich zu untersuchen, welches werkimmanente „Schicksal“ solche tragenden und für seine spätere Philosophie bedeutsamen Begriffe und Themen haben sollten, wie z. B. die Sāmkhya-Philosophie27, das Manugesetzbuch28 oder Nihilismus und Buddhismus generell. 1.4. Buddhismus als „pantheistischer Nihilismus“29 Bei der zitierten Charakterisierung der Hauptthemen indischen – besonders vedischen – Denkens wird in einer Art Zusammenfassung der „pantheistische Grundcharakter“ hervorgehoben, weil die Welt ebenso wie die menschliche Seele eine „Emanation Gottes“ sei. Offensichtlich wird keine strikte Trennung zum Buddhismus hin vollzogen. Am Ende des zuletzt zitierten Absatzes ist folgende signifikante Äußerung über den Buddhismus notiert: Im Buddhaismus ist er (vermutlich zu beziehen auf: pantheistischer Grundcharakter; J. F.) noch tiefer in den pantheist Nihilismus versunken. Nirwana ist das Ziel ‚Vernichtung‘ (p. 6).
Es sind zwei Aspekte, die an dieser Kennzeichnung – man könnte fast sagen: „Definition“ – auffallen und in der Interpretation noch näher hervorgehoben werden sollen: einerseits die Tatsache, dass
_____________ Vgl. z. B. KGW VI 2, 427: GM III 27; KGW VI 3, 202: AC 32. Vgl. z. B. KGW VI 3, 94ff: GD ‚Die Verbesserer der Menschheit‘ 3-5, 237ff: AC 56. 29 Ursprünglich großteils veröffentlicht in: J. Figl, Die Buddhismus-Kenntnis des jungen Nietzsche, in: E. Gössmann/G. Zobel (Hg.), Das Gold im Wachs (Festschrift für Th. Immoos), 1988, 499-511. 27 28
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
der Buddhismus hier als Nihilismus charakterisiert und dies auch durch die Nennung der Ausdrücke „Nirwana“ und „Vernichtung“ noch betont wird; andererseits das Faktum, dass es sich um einen pantheistischen Nihilismus handelt, wodurch nach der Darstellung Schaarschmidts der Zusammenhang mit dem indischen Denken insgesamt gegeben ist. Zunächst zum ersten Aspekt: die zentrale Kennzeichnung des Buddhismus besteht darin, dass er – wie erwähnt – Nihilismus genannt wird. Offensichtlich handelt es sich dabei um einen damals feststehenden Terminus für diese Religion bzw. Philosophie. Der Grund für eine solche Charakterisierung liegt zweifelsohne in einem spezifischen Verständnis von Nirvāna, nämlich in einem solchen, wie es auch in der Mitschrift Nietzsches zum Ausdruck kommt: „Nirwana“ wird als „Vernichtung“ gedacht. Der Ausdruck „Vernichtung“ ist unter Anführungszeichen gesetzt; dies mag zunächst darauf hinweisen, dass nicht die Meinung vorliegt, hier handle es sich um eine direkte und unmittelbare Übersetzung des Sanskrit-Ausdrucks, sondern dass mit dem Begriff „Vernichtung“ nur eine Annäherung an das erreicht wird, was „Nirwana“ meint; worin jedoch dieses „Vernichten“ besteht, geht aus dieser Aussage nicht klar hervor; aus dem Kontext aber kann Folgendes erschlossen werden: vom Ziel, das das „Nirwana“ sein sollte, ist die Rede. Es ist wohl zugleich eine ontologisch relevante Aussage damit gemacht – darauf weist der philosophische Terminus Nihilismus hin. Damit ist aber zugleich der Konnex mit dem indischen Denken allgemein hergestellt, das in den vorhergehenden Abschnitten dargelegt wird. Auf diesen zweiten Aspekt ist noch kurz einzugehen. Der kontextuelle Bezug hebt einen neuen, weiteren Aspekt am Buddhismus hervor, nämlich den pantheistischen Charakter dieses „Nihilismus“. Damit ist von der Sache her etwas Nichtbuddhistisches angesprochen: es ist hinduistisches Denken, das nach Schaarschmidts Meinung wiedergegeben wird, und zwar im Anschluss an die obige Charakterisierung der „Welt“ und der
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„menschliche(n) Seele“ als einer „Emanation Gottes“, worin der „pantheistische Grundcharakter“ des indischen Denkens bestehe; der Buddhismus wird als Radikalisierung, als Vertiefung eines solchen „pantheistischen Denkens“ bezeichnet. Der Buddhismus wird bei Nietzsche in einer Vorlesungsnachschrift seines zweiten Semesters substantivisch als Nihilismus charakterisiert, der adjektivisch in seinem pantheistischen Charakter bestimmt wird. Die philosophiegeschichtliche Vorlesung Schaarschmidts hat also die nähere Kenntnisnahme und Kennzeichnung des Buddhismus für Nietzsche mitbestimmt. An zwei weiteren Stellen ist in dieser Vorlesung von Schaarschmidt vom Buddhismus die Rede – jeweils in einem anderen Kontext und mit anderer Kennzeichnung, stets aber im Zusammenhang mit der Darstellung des Neuplatonismus. Die bisher wiedergegebenen Zitate bilden die hauptsächlichen Texte der Schaarschmidt-Vorlesung hinsichtlich des indischen Denkens. Sie befinden sich insgesamt in den einleitenden Ausführungen zu dieser Vorlesung; in der „eigentlichen“ Darstellung der Philosophiegeschichte wird darauf nicht mehr näher eingegangen, sondern wir lesen nach der Überschrift „Die alte Philosophie“ – wie erwähnt – die lapidare Feststellung: „Wir scheiden die orientalische einfach ab“ (p. 8). Dennoch findet sich an einer späteren Stelle, unmittelbar vor der Darstellung des Neuplatonismus, eine für die vorliegende Themenstellung höchst relevante Aussage, indem offensichtlich die Strömungen aufgezählt werden, die mitgewirkt haben, dass in dieser Epoche „ein allgemeiner Umschwung ein(tritt)“, wobei auch der Buddhismus in einer originellen Präzisierung genannt wird: Oriental wirkt hier ein. Der Gnosticismus. 1. Der Parsismus (der Dualismus) 2. Der Buddhaismus (Glocken und Rosenkränze.) 3. Das Judenthum (…) (p. 28)30.
_____________ 30 Der Einfluss des orientalischen Denkens auf gnostisches und neupla-
tonisches Denken war ein verbreiteter Topos der philosophiegeschicht-
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
Der Einfluss des Buddhismus innerhalb dieser Umbruchssituation in der Antike wird nach dieser Aufzählung – neben dem des Judentums – ein weiteres Mal ausdrücklich genannt (cf. ibid.). 1.5. Zum geistesgeschichtlichen Kontext der Philosophiegeschichtsschreibung Es ist zu fragen, wieso die orientalische Philosophie – mit Ausnahme der zitierten Erwähnung – von der eigentlichen Darstellung prinzipiell ausgeschlossen wird. Für Schaarschmidts Darstellungsweise trifft hier im Wesentlichen das Urteil zu, das Halbfass hinsichtlich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausspricht, wenn er von der „Ausschließung Indiens aus der Geschichtsschreibung der Philosophie“ spricht31. Schaarschmidt orientiert sich bei seiner Vorgehensweise offenbar an Vorbildern und gängigen Modellen, was auswahlweise an zwei aussagekräftigen Beispielen illustriert sei. Das bekannteste
_____________ lichen Diskussion (Hegel, Zeller, Ueberweg u. a.); schon 1828 schreibt I. J. Schmidt, „die Bemerkung, dass die Gnostiker ihre Ideen aus den Religionssystemen des Orients geschöpft haben, (ist) an und für sich nichts weniger als eine neue“, in: Über die Verwandtschaft der gnostischtheosophischen Lehren mit den Religionssystemen des Orients, vorzüglich dem Buddhaismus, 1828, III. Vgl. auch das von Schaarschmidt angeführte Buch (C II 1, p. 29; vgl. p. 28) von C. H. Kirchner, Die Philosophie des Plotin, 1854, 16. Zur spezifischen Kennzeichnung („Glocken u. Rosenkränze“) vgl. den Hinweis auf den „Rosenkranz“ als eine äußere Einrichtung, in der sich (neben anderen, wie z. B. dem Klosterleben) die Verwandtschaft der verschiedenen „Buddha-Lehren“ mit essenischen, christlichen und gnostischen Lehren zeige, bei J. F. Fries, Geschichte der Philosophie, Band 2, 1840, 101. Zu „Glocken und Rosenkränze“ bei buddhistischen Zeremonien vgl. ferner C. F. Koeppen, Die Religion des Buddha, Band 1, 1857, 563 bzw. 345 und 356; Band 2, 1859, 304-308 bzw. 319. Vgl. auch zu Steinharts Darstellung des asiatischen Einflusses auf den Neuplatonismus oben S. 129 mit Anm. 330. 31 W. Halbfass, Indien und Europa, 1981, 165 (Kapitelüberschrift) und bes. 176.
1. Philosophien und Religionen (besonders Indiens)
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Konzept ist jenes von Hegels ‚Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie‘, das Schaarschmidt in seinen Literaturangaben hervorhob und zugleich kritisch beurteilte32. Hegel bringt innerhalb der ‚Einleitung‘ einen eigenen Abschnitt über die ‚Orientalische Philosophie‘, wo er feststellt, dass „das Erste die sogenannte orientalische Philosophie (ist)“, jedoch zugleich hinzufügt: „Aber sie tritt nicht in den Körper und Bereich unserer Darstellung ein; sie ist nur ein Vorläufiges, von dem wir nur sprechen, um davon Rechenschaft zu geben, warum wir uns nicht weitläufiger damit beschäftigen (…)“33. In diesen Kontext fügt sich Schaarschmidts Diktum „Wir scheiden die orientalische (scil. Philosophie; J. F.) einfach ab“ organisch ein. Zugleich aber zeigt sich, dass im Zusammenhang der Erwähnung des Gnostizismus doch vom Buddhismus die Rede ist. Auch für diese Einbeziehung sei ein Beispiel genannt, und zwar innerhalb der Literatur, die Schaarschmidt selbst anführt, nämlich das Werk von Jakob Friedrich Fries, in dem einleitend zwar die Ausklammerung der „asiatischen Philosopheme“ betont wird34, sich bei der Darstellung des Gnostizismus jedoch eigene Paragraphen zu den „Buddhisten“ und zur „Philosophie in der Sanskrit-Literatur“ finden35. Nietzsche lernt also eine philosophiegeschichtliche Einordnung des indischen Denkens kennen, die von einer eigenartigen Ambivalenz gekennzeichnet ist: es wird behandelt, um es aus-
_____________ 32 „Hegels Vorlesungen sind die bedeut<endsten> herausgeg<eben>
v Michelet. Von bes große<m> Nutzen. Hegels Voraus<setzung> daß sich in der Gesch die Gedankenarbeit ebenso entwickelt habe, wie in der Dogmatik der Ph. ‚Logische Aufeinanderfolge der Systeme‘. Daher bedient er sich häufig Zwangsmaßregeln an Zeit und Fakten“ (C II 1, p. 8). Vgl. dazu G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, hg. von K. L. Michelet, 3 Bände, 1833-1836 (= Werke, Vollst. Ausgabe, Band 13-15); bes. Band 1, 43. 33 A. a. O., Band 1, 135. 34 J. F. Fries, Geschichte der Philosophie, Band 2, 1840, 67. 35 A. a. O., 93ff und 101ff.
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
schließen zu können, bzw. es kommt nur als vermutlicher exogener Einfluss auf eklektizistische und synkretistische Strömungen der antiken Philosophie zur Sprache – jedoch nicht an sich selbst. Dennoch sollte es im Laufe des denkerischen Weges Nietzsches eine größere Bedeutung erhalten36. Soviel kann angesichts der Urteile Nietzsches über indische Philosophien und Religionen generell festgestellt werden, dass er nicht bei einem Ausschluss dieses Kulturraums stehen geblieben ist, sondern ihn berücksichtigte, wobei – wie in der philosophiegeschichtlichen Vorlesung – eine komparatistische Perspektive leitend war. Da es sich bei den dargestellten Themen durchweg um Sachverhalte handelt, die rezipiert wurden, was am offenkundigsten bei einer Nachschrift der Fall ist, ist es angezeigt, gleichsam den vorlesungsimmanenten Fragezusammenhang zu überschreiten – hin zum allgemeinen geistes- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext. Für die vorliegende Thematik gilt es das in der damaligen Philosophiegeschichtsschreibung präsente Wissen über die indische Philosophie als Hintergrund zu berücksichtigen. Es sind also auf dieser umfassenderen Ebene die in Nietzsches Nachschrift gegebenen Kenntnisse des indischen Denkens mit verbreiteten zeitgenössischen Werken zur Philosophiegeschichte zu vergleichen, wofür die Literaturangaben in der Schaarschmidt-Vorlesung selbst die erste Orientierung abgeben könnten37. Darüber hinaus sind weitere Werke heranzuziehen, an denen sich möglicherweise die Darstellung Schaarschmidts orientiert, wie insbesondere allgemein rezipierte Veröffentlichungen zur Indologie, die auch für die philosophiegeschichtliche Problemstellung relevant waren, wobei im gegenständlichen Fall im Speziellen auf die indologische Tradi-
_____________ 36 Vgl. G. M. C. Sprung, Nietzsche’s interest in and knowledge of Indian
thought, in: D. Goicoechea (Ed.), The Great Year of Zarathustra (18811981), 1983, 166ff; darin wird auch auf einschlägige Werke aus der Bibliothek Nietzsches Bezug genommen (bes. 172f). 37 Zur zitierten Textpassage über den Buddhismus findet sich aber kein Literaturhinweis.
1. Philosophien und Religionen (besonders Indiens)
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tion an der Universität Bonn, an der 1818 der erste Lehrstuhl für dieses Fach eingerichtet worden war38, Bezug genommen werden kann. Zu jedem der hier angesprochenen Themen gibt es schon zum damaligen Zeitpunkt eine umfassende Literatur39. Hier sei insbesondere hingewiesen auf den allgemeinen, damals relevanten religionskundlichen Kontext von Schaarschmidts Charakterisierung der brahmanischen Religion und der ‚Veden‘40, der SāmkhyaPhilosophie41, des Verständnisses der Seelenwanderung nach dem
_____________ 38 Vgl. H. von Glasenapp, Art. Indologie, in: 3RGG 2, 726ff. Zu der Zeit,
als Nietzsche in Bonn studierte, lehrte Christian Lassen an dieser Universität Indologie; Deussen war sein Hörer (vgl. Brief an Nietzsche vom 2. Februar 1866: KGB I 3, 75). Lassens umfassendes Werk Indische Alterthumskunde (4 Bände, 1847-1861) mag wohl auch Schaarschmidt bekannt gewesen sein, der in seiner Vorlesung ja von „geogr (…) Eindrücke“ (C II 1, p. 5) spricht; vgl. dazu Chr. Lassen, Indische Alterthumskunde, Band 1 (Teil 1: Geographie, Ethnographie und Älteste Geschichte), 1ff; die ‚Hauptmomente der Religionsgeschichte‘ werden a. a. O., 756ff behandelt. 39 Vgl. dazu das Werk von E. Windisch, dessen Sanskrit-Arbeiten Nietzsche als Studienkollege in Leipzig mit Interesse verfolgte (vgl. z. B. KGB I 2, 272f, 283, 286f): Geschichte der Sanskrit-Philologie und indischen Altertumskunde, 1. Tl. 1917; 2. Tl. 1920 und 1921. Siehe unten S. 191f. 40 Im Besonderen ist hier auf die allgemein beachteten Werke von H. Th. Colebrooke zu verweisen: On the Philosophy of Hindus, in: Transactions of the Royal Asiat. Soc. of Gr. Britain and Ireland, vol. 1, 1827, 19ff, 92ff, 439ff, 549ff; vol. 2, 1830, 1ff; Miscellaneous Essays, 3 vol., 1858. Die berühmte Darstellung über die Veden von H. Th. Colebrooke war ins Deutsche übersetzt worden: Abhandlung über die heiligen Schriften der Inder. Aus dem Englischen übersetzt von L. Poley, 1847. Siehe auch Fr. Schlegel, Ueber die Sprache und Weisheit der Inder, 1808. Vgl. die Darstellung der vedischen Religion in dem von Schaarschmidt angegebenen Werk von H. Ritter, Geschichte der Philosophie, 12 Bände, 1829-1853, 1. Tl., bes. 128ff. 41 Auch in der von Schaarschmidt erwähnten Geschichte der Philosophie von J. F. Fries wird auf das „Sankhia des Kapila“ Bezug genommen (Band 2, 1840, 115). Es ist aber zu vermuten, dass Schaarschmidt auch das bekanntere Werk dieser Schule, die ‚Sāmkhya-kārikā Iśvaràkrsnas‘ in einer Übersetzung gekannt hat: eine lateinische Übersetzung stammt vom Bonner Indologen Lassen: Gymnosophista sive Indicae philosophiae documenta
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
‚Manugesetzbuch‘42 und schließlich der Kennzeichnung des Buddhismus als einen „pantheist Nihilismus“. 1.6. Philosophischer Vergleich indischer Auffassungen mit griechischen (Exzerpte aus Schopenhauers Hauptwerk) In seiner Geschichte der vergleichenden Religionswissenschaft weist Eric J. Sharpe unter den Vorläufern dieser Disziplin auf Schopenhauer hin, der einer der Bewunderer der Übersetzung der ‚Upanishaden‘ (Oupnekhat) von Anquetil Duperron aus dem Persischen war, wie es sein berühmtes Diktum zum Ausdruck bringt: „Es ist die belohnendeste und erhebendeste Lektüre, die (…) auf der Welt möglich ist: sie ist der Trost meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens seyn“43. Im Zusammenhang damit werden von Sharpe die Transzendentalisten genannt, u. a. Emerson, Thoreau und Alcott, die diese Empfindungen aufgenommen haben44. Ralph Waldo Emerson und Arthur Schopenhauer sind für Nietzsche sehr bedeutsam geworden. Den Ersteren hat er schon im Gymna-
_____________ coll., ed., enarr. Vol. I, Fasc. I, Isvaracrishnae Sankhya-Caricam tenens, 1832; zum „unorthodoxen” Charakter vgl. ebd. XI, und H. Th. Colebrooke, On the Philosophy of Hindus, vol. 1, 1827, 19; eine deutsche Übersetzung bringt K. J. H. Windischmann, Die Philosophie im Fortgang der Weltgeschichte, 1. Tl., 3. Abtlg., 1832, 1812-1846. Zur Geschichte der Editionen vgl. ferner R. Garbe, Die Samkhya-Philosophie. Eine Darstellung des indischen Rationalismus, 2. Auflage 1917, 105ff. 42 Diese Aussage bezieht sich offenbar auf das ‚Gesetzbuch Manus‘, XII, 53-82: Hindu Gesetzbuch oder Menu’s Verordnungen, übersetzt von W. Jones, 1797, 449ff; erwähnt von J. F. Fries, Geschichte der Philosophie, Band 2, 1840, 108; zur Seelenwanderung als Strafe und zum Zusammenhang mit dem Sāmkhya vgl. Fr. Johaentgen, Über das Gesetzbuch des Manu, 1863, bes. 38 und 32. 43 A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, in: A. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 6, 1972, 422. 44 Vgl. E. J. Sharpe, Comparative Religion, 51997, 21f.
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sium gelesen45, und durch ihn ist er auch schon mit indischen Auffassungen bekannt geworden, die auch bei Schopenhauer anzutreffen sind, wie z. B., dass „jeder sich nur insofern als unsterblich denken (kann), als er sich auch ungeboren denkt“46; daraus resultierten die Karma- und Präexistenzauffassung47. Ebenso findet sich bei Schopenhauer ein Satz über die Hindu, der sehr ähnlich jenem von Emerson ist, den Nietzsche zitiert48; bei Schopenhauer ist er auf die Verschiedenheit der Charaktere bezogen und lautet so: Hindu und Buddhisten lösen das Problem dadurch, daß sie sagen: ‚Es ist die Folge der Thaten des vorhergegangenen Lebenslaufes‘49.
Es ließ sich jedoch bisher kein überzeugender Nachweis erbringen, dass Nietzsche Schopenhauer schon im Gymnasium – wie Karl Löwith vermutet – kennen gelernt hat: Nietzsche habe als Vorlage für seine ‚Willensfreiheit-und-Fatum‘-Überlegungen außer Emersons Essay über ‚Das Fatum‘, der 1862 in deutscher Übersetzung erschienen war50, auch Schopenhauers ‚Transzendentale Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen‘ gekannt51.
_____________ 45 Vgl. oben S. 130f. 46 A. Schopenhauer, Über den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbar-
47 48 49 50 51
keit unseres Wesens an sich, in: A. Schopenhauer, Sämtliche Werke, 1859, Band 2, 558. Vgl. a. a. O., 55 und 560f. Vgl. oben S. 130. A. a. O., 606. Vgl. H. Heimsoeth, Metaphysische Voraussetzungen und Antriebe in Nietzsches „Immoralismus“, 1955, 475ff. Vgl. K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, ³1978, 236 Anm. 1; siehe den Hinweis bei H. G. Hödl, Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, 2001, 81 Anm. 181, mit Verweis auf meinen Artikel ‚Nietzsches Begegnung mit Schopenhauers Hauptwerk‘ (1991) in dem ich – entgegen dem Selbstzeugnis Nietzsches aus der Leipziger Zeit (vgl. KGW I 4, 513: 60 [1]) – annehme, dass Nietzsche schon früher – in Bonn – Schopenhauer exzerpiert hat.
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
Nach Nietzsches eigenem Zeugnis hat er Schopenhauer erst im zweiten Studienjahr in Leipzig gelesen. Möglicherweise ist er aber schon früher, in Bonn, im Zusammenhang der Schaarschmidt-Vorlesung, Texten dieses Denkers begegnet, da sich auf einer der letzten Seiten von Nietzsches Nachschrift ein Auszug aus dem Anhang zum ersten Band von ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘ unter dem Titel ‚Kritik der Kantische(n) Philosophie von A. Schopenhauer‘ (p. 59) findet. Es handelt sich tatsächlich um ein Exzerpt, das den Seiten 494-500 des ersten Bandes der von Nietzsche benutzten dritten Auflage von Schopenhauers Hauptwerk entspricht. Falls dieses Exzerpt im Zusammenhang mit der Schaarschmidt-Vorlesung entstanden ist, dann hat Nietzsche schon in seiner Bonner Studienzeit Schopenhauers Denken kennen gelernt. Er selbst jedoch schildert in seinem Rückblick auf die beiden Leipziger Jahre, den er mit „17 Oktober 1865-10 August 1867“ überschreibt (KGW I 4, 506-530: 60 [1]), die bekannte Episode, wie er Schopenhauers ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘ kennen gelernt hat. Allein diese Tatsache verlegt die erste Begegnung mit Schopenhauer in die Leipziger Zeit. Hinzu kommt auch noch eine Notiz im Anschluss des erwähnten Berichtes über die Leipziger Zeit, in der er diese nach Semestern ordnet und dort zum ersten Semester (Oktober 1865-Ostern 1866) Folgendes notierte: „Winter. Wohnung bei Rohn, Blumengasse 4 im Garten. Schopenhauer wird mir bekannt“ (528). Aus beiden Zeitangaben geht hervor, dass diese Begebenheit in das erste Leipziger Semester fällt. Es wird in dem genannten Rückblick noch ausführlicher geschildert: „Eines Tages fand ich nämlich im Antiquariat des alten Rohn dies Buch (scil. Schopenhauers Hauptwerk ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘; J. F.), nahm es als mir völlig fremd in die Hand und blätterte“ (513). Ohne auf diese spezielle Frage der ersten Begegnung Nietzsches mit Schopenhauer weiter einzugehen, was an anderer Stelle ausführlicher gemacht wird52, wo der Inhalt dieses Ex-
_____________ 52 Vgl. J. Figl, Die Buddhismus-Kenntnis des jungen Nietzsche (1988)
499-511, bes. 505f; ders., Nietzsches Begegnung mit Schopenhauers
1. Philosophien und Religionen (besonders Indiens)
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zerptes fast zur Gänze erstmals veröffentlicht ist, soll hier nur der kurze Text wiedergegeben werden, der für unsere Frage einschlägig ist. Aus Schopenhauers Hauptwerk wird die Stelle exzerpiert, in der Schopenhauer Kants größtes Verdienst, nämlich die Unterscheidung der Erscheinung vom Ding an sich, mit Platons Höhlengleichnis und mit indischer Denkweise vergleicht. In Nietzsches Textauszug heißt es: Das ist zugleich die Hauptansicht Platons und der Veden und Puranas. (Gleichniß von der Höhle in der Republ. – Schleier der Maja) (p. 59).
Bei Schopenhauer lautet der entsprechende Textabschnitt: Die selbe Wahrheit, wieder ganz anders dargestellt, ist auch eine Hauptlehre der Veden und Puranas, die Lehre von der Maja, worunter eben auch nichts Anderes verstanden wird, als was Kant die Erscheinung, im Gegensatze des Dinges an sich nennt: denn das Werk der Maja wird eben angegeben als diese sichtbare Welt, in der wir sind, ein hervorgerufener Zauber, ein bestandloser, an sich wesenloser Schein, der optischen Illusion und dem Traume zu vergleichen, ein Schleier, der das menschliche Bewußtseyn umfängt, ein Etwas, davon es gleich falsch und gleich wahr ist, zu sagen daß es sei, als daß es nicht sei53.
Nietzsche exzerpiert also auf einem der letzten wahrscheinlich der Schaarschmidt-Nachschrift zuzuordnenden Blätter den Anhang zu Schopenhauers Hauptwerk54. Der Buddhismus wird aber im Exzerpt Nietzsches nirgends ausdrücklich genannt. Ob er die dem Anhang des ersten Bandes von ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘ unmittelbar vorhergehenden Seiten, wo vom „Nirwana der Buddhaisten“ die Rede ist55, gelesen hat, kann aus dem Exzerpt nicht ersehen werden. Die Bedeutung des buddhistischen Zentralbe-
_____________ Hauptwerk (1991) 89-100. 53 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, in:
ders., Sämtliche Werke, 1972, Band 2, 496. Die dritte Auflage von Schopenhauers Hauptwerk war 1859 erschienen. 54 Vgl. dazu a. a. O., Band 1, 1972, 494-500. 55 A. a. O., 487.
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
griffs Nirvāna mag Nietzsche erst infolge der späteren, vertieften Begegnung mit Schopenhauers Hauptwerk aufgegangen sein.
2. Komparatistik und Sanskrit-Kenntnisse in Philologie-Vorlesungen
2. Komparatistik und Sanskrit-Kenntnisse Bei der Darstellung religionswissenschaftlich relevanter Aspekte in einigen Kollegnachschriften Nietzsches aus der Leipziger Zeit, wo Nietzsche ab dem Wintersemester 1865/66 studiert hat, möchte ich von einem Statement Max Müllers ausgehen, das er über das Philologiestudium an der Universität Leipzig etwa zu der Zeit, als Nietzsche dort studierte, abgegeben hat. Darin ist auch die Rede von jenen bedeutenden Sprachgelehrten, die Nietzsches Lehrer waren und zu denen er öfters persönlichen Kontakt hatte. 2.1. Max Müllers Würdigung des Philologiestudiums in Leipzig Max Müller gibt in einer 1870 gehaltenen Vorlesung an der Royal Institution in London56 über die Situation der philologischen Vorlesungen an der Universität Leipzig, wo er selbst sein Studium abgeschlossen hat, folgenden interessanten Bericht: Als ich vor einigen Jahren in Deutschland reiste, fand ich, dass fast Alle, welche classische Philologie studirten, die Vorlesungen über vergleichende Philologie besuchten. In Leipzig fand ich über 100 Studenten im Auditorium des Professor Curtius; und sogar der Professor des Sanskrits, mein alter Lehrer, Professor Brockhaus, der, als ich zu Leipzig studirte, zu Anfang des Semesters drei, zu Ende einen Zuhörer hatte, hatte jetzt gegen fünfzig Schüler, die wenigstens so viel von Sanskrit zu lernen
_____________ 56 Veröffentlicht in seiner Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft,
1874, 2. Auflage 1876.
2. Komparatistik und Sanskrit-Kenntnisse
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wünschten, als zu einem wirklich fruchtbringenden Studium der vergleichenden Grammatik unumgänglich ist57.
Die von Max Müller genannte Hörerzahl wird auch durch einen Brief Nietzsches an Rohde bestätigt, der zeigt, dass diese Zahl noch etwas gestiegen ist. Darin teilt er seinem Freund mit, dass sich Windisch, ein Studienkollege, mit dem er gemeinsam im Leipziger Philologischen Verein war, habilitieren möchte, und „mit einer Vorlesung über Sanskritgrammatik anfangen (wird), da Brockhaus ihm dieses Colleg freundlicherweise abgetreten hat“; in diesem Zusammenhang berichtet er, „daß augenblicklich 66 Studenten dies Colleg hören“58. Insgesamt zeugt diese Aussage von dem großen Stellenwert der Sanskrit-Kenntnisse im Rahmen der Sprachvergleichung und Indogermanistik für das Philologiestudium in Leipzig. Es ist von genereller wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung, dass an der Universität Leipzig schon seit 1830 regelmäßig Vorlesungen über allgemeine Religionsgeschichte gehalten wurden, und zwar war es Gustav Seyffarth, dem das Verdienst zukommt, „diesem Fach offizielle Geltung verschafft zu haben“59. Seine zunächst in lateinischer Sprache gehaltenen Vorlesungen haben von Anfang an eine komparative Perspektive („comparando explicavit“) verfolgt, wobei er die ägyptische Mythologie mit der indischen und griechischen, dann auch lateinischen und persischen verglich. Ab 1841/42 wird auch explizit „Allgemeine Geschichte der alten Religionen“ (historia veterum religionum generalis) gelesen. Seyffarths 1843 erschienenen ‚Grundzüge der Mythologie und der alten Religionsgeschichte‘ zeigen, dass darin zwar eine „völlig unkritische ‚Vergleichende Religionsgeschichte‘ “ betrieben wurde60, aber im-
_____________ 57 M. Müller, a. a. O., 3. In den siebziger Jahren wuchs die Anzahl der Hö-
rer von Curtius’ Vorlesungen sogar auf 200 bis 300 an: vgl. Art. Curtius G., in: Allgemeine Deutsche Biographie 47, 600. 58 KGB I 2, 286, Brief vom 6. Juni 1868. 59 K. Rudolph, Die Religionsgeschichte an der Leipziger Universität, 1962, 74. 60 A. a. O., 75.
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
merhin war das Fachgebiet durch seine Lehrtätigkeit an der Universität Leipzig allmählich zu einem eigenen Bereich geworden, und er gilt als „eigentlicher Religionshistoriker“, der sich nicht nur auf die klassische Antike beschränkte61. Zugleich aber muss festgehalten werden, dass die Religionsgeschichte in Leipzig „ihre Hauptförderung der Philologie und Altertumskunde (verdankt)“62, und dies trifft wohl auch für andere Universitäten und für das Fach insgesamt zu. Namentlich ist hier u. a. der Altphilologe Gottfried Hermann zu nennen, dessen Schüler Seyffarth war – ebenso wie Max Müller 63. Vor diesem universitätsgeschichtlichen Hintergrund ist es verständlich, dass an der Universität Leipzig zur Studienzeit Nietzsches das Fach „Allgemeine Religionsgeschichte“ ausdrücklich gelesen wurde, und zwar von dem Philosophen Karl Rudolf Seydel 64. Für Nietzsche aber waren die Begegnungen mit einem anderen Professor, einem weithin berühmten Orientalisten, wichtig, nämlich mit dem Indologen Hermann Brockhaus. 2.2. Nietzsches Kontakte zu dem Orientalisten Hermann Brockhaus Max Müller erwähnt in dem genannten Rückblick auf seinen Leipziger Besuch zwei Professoren, die auch für Nietzsche äußerst be-
_____________ 61 62 63 64
A. a. O., 72. A. a. O., 71. Vgl. a. a. O., 72. Vgl. den Überblick seiner Vorlesungen von 1865/66 bis 1868 bei K. Rudolph, a. a. O., 82: „Hauptzüge der allgemeinen Religionsgeschichte (Wi. 1865/66); Vergleichende Darstellung der Religionen aller Völker der Erde (So. 1867); Allgemeine vergleichende Religionsgeschichte, 2. Hälfte: die Religionen der Semiten und europäischen Arier (Wi. 1867/68); Allgemeine Religionsphilosophie (!) letzter Theil (Juden, europäische Arier, Christentum, Islam, allgemeine Übersicht des Ganzen), So. 1868“.
2. Komparatistik und Sanskrit-Kenntnisse
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deutsam waren und mit denen er auch in persönlichem Kontakt gestanden ist. Neben Georg Curtius war es Hermann Brockhaus (1806-1877), der bedeutende Orientalist, der seit 1841 Professor der altindischen Literatur in Leipzig war und dort noch zur Zeit Nietzsches wirkte. Er hielt Vorlesungen über ‚Ostasiatische sowie indo-arische Kulturgeschichte einschließlich Religionsgeschichte‘; unter diesen Vorlesungen waren z. B. im Sommersemester 1863 ‚Indische Alterthumskunde‘ (Religion, Literatur, Staat) und im Sommersemester 1866, als Nietzsche in Leipzig studierte, ‚Persische Alterthumskunde‘65. Hermann Brockhaus gab eine Reihe von Werken heraus, wie z. B. die kaschmirische Märchensammlung des Somadeva ‚Kathâ-sarit-sâgara‘ (1839-1862, Buch 1-5, mit deutscher Übersetzung), aber auch ‚Die Lieder des Hafis‘ (1854-1860). Er war Mitbegründer der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 66 und ein guter Kenner der Literatur des Parsismus, was im Hinblick auf Nietzsches spätere Zuwendung zur Gestalt Zarathustras beachtet werden sollte; Brockhaus hat 1850 die wichtige gottesdienstliche Sammlung ‚Vendidād-Sāde‘, einen Teil des Zendavesta, herausgegeben. Nietzsches Kontakt zu Brockhaus wurde nicht zuletzt durch seinen Freund Ernst Windisch hergestellt, der aufgrund der Themen seiner akademischen Arbeiten den beiden genannten Professoren nahegestanden ist. Er schreibt an Nietzsche: „Natürlich gehöre ich, wie du mir gewiß glauben wirst, zu den aufrechten Verehrern und Bewunderern Ritschls und würde mich geschmeichelt fühlen, wenn ich einmal mit unter die Zahl seiner Schüler gerechnet würde“; doch er fügt hinzu: „Jetzt bringen es aber die äußeren Verhältnisse mit sich, dass ich einen viel engeren Anschluß an Brockhaus und Curtius erstreben muss“67. Beide Professoren nämlich hätten seinen Plänen gegenüber eine große Zuvorkom-
_____________ 65 Vgl. a. a. O., 78. 66 Vgl. dazu Art. Brockhaus, H., in: Meyers Hand-Lexikon 1, 335, sowie in:
Brockhaus-Enzyklopädie 4, 7. 67 KGB I 3, 252.
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
menheit gezeigt. Windisch beabsichtigte damals, eine Habilitationsschrift zu einem sprachvergleichenden Thema, nämlich „Über die Bedeutung des Relativs für den Satzbau des Indischen Baktrischen Griechischen“ zu verfassen, da er „gern als Docent des Sanskrit und der Sprachvergleichung auftreten möchte“68. Windisch fügt in seinem Brief vom 2. Mai 1868 an Nietzsche noch hinzu, dass er sich in die „indische Litteratur mehr vertiefen (muss)“, was durch eine weitere Arbeit, welche die „indischen Grammatiken“ betrifft, geschehen soll69. Nietzsche hat jedoch nicht allein über Windisch, sondern auch in anderen Zusammenhängen einen persönlichen Bezug zu Brockhaus gehabt. So z. B. ersuchte er Diederich Volkmann in Pforta um das „indogermanische Programm“ von 1867, da „Prof. Brockhaus in Leipzig es gern haben (möchte)“70. Besonders ab Oktober 1868 fand sich Nietzsche oft in den Leipziger Gesellschaftskreisen ein – auch in jenem von Professor Brockhaus. In dessen Haus traf er erstmals auch Richard Wagner, der dort zu Gast war; die Frau von Hermann Brockhaus, Ottilie, war nämlich eine Schwester Wagners 71. Es waren Treffen, die den Namen Professorium hatten und oft bei Brockhaus stattfanden, wie Nietzsche Ende November/Anfang Dezember 1868 in einem Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche
_____________ 68 A. a. O., 250. 69 A. a. O., 250f; 1869 erschien sein Werk Untersuchungen über den Ursprung
des Relativpronomens in den indogermanischen Sprachen. Grundlegend ist sein Spätwerk Geschichte der Sanskrit-Philologie und indischen Altertumskunde, 2 Bände, 1917-1921. 70 KGB I 2, 245, Visitkartennotiz von 1867/68, die allerdings nur zum Teil erhalten ist; aber aus dem Kontext kann wohl erschlossen werden, dass es sich um den genannten Sachverhalt handelt. 71 Vgl. den Brief vom 8. Oktober 1868 an Rohde, wo Nietzsche die Absicht äußert, mehr Gesellschaftsmensch zu werden, um in die Kreise um Brockhaus hineinzukommen; am 9. November desselben Jahres kann er dann Rohde mitteilen, dass er dort zu dem Abend eingeladen war, wo Wagner anwesend war, und er erzählt davon begeistert, vgl. KGB I 2, 321ff bzw. 337ff.
2. Komparatistik und Sanskrit-Kenntnisse
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schreibt72. An seine Mutter und Schwester schreibt er einige Monate später, nachdem er von seiner Berufung nach Basel erfahren hat, von mehreren Gesellschaften – nicht nur bei Brockhaus, sondern auch bei Curtius, bei Ritschl und anderen73. Diese brieflichen Äußerungen zeigen, wie Nietzsche auch im privaten Bereich mit diesen Professoren und ihrem Kreis verbunden war. Aber darüber hinaus lernte er in den Vorlesungen vor allem Friedrich Ritschl kennen. Dieser bedeutende Altphilologe war zweifelsohne der ihm am nächsten stehende Lehrer, der bekanntlich seine gesamte Karriere sehr förderte und auch die Berufung nach Basel wesentlich mitentschied und unterstützte. Nietzsche besuchte bei ihm schon in Bonn und dann vielfach in Leipzig Vorlesungen. Aber auch bei Georg Curtius hörte er mehrere Vorlesungen. Wiederholt wird in den Vorlesungen der genannten Lehrer Nietzsches auf die vergleichende Sprachwissenschaft und Indogermanistik eingegangen; dazu seien einige Beispiele angeführt. 2.3. „Sprachvergleichung“ in Vorlesungen Ritschls Im Sommersemester 1865 hat Nietzsche in Bonn die Vorlesung ‚Institutiones grammaticae linguae latinae‘ von Friedrich Ritschl besucht. Von ihr liegt eine Nachschrift Nietzsches vor, die aber sehr lückenhaft ist74. Im Goethe-Schiller-Archiv ist noch eine weitere Nachschrift dieser Vorlesung von unbekannter Hand aufbewahrt75. Im Folgenden soll diese umfangreiche (53 Blatt bzw. 105
_____________ 72 Vgl. a. a. O., 347. 73 Vgl. a. a. O., 373, zweite Februarhälfte 1869. 74 Vgl. die Manuskript-Beschreibung zu C II 3 in: BAW 1, LVI;
ergänzende Notizen dazu in C II 1, pp. 33-35, 37; C II 2, pp. 31s.; C II 4, p. 12. 75 Sie hat die Mette-Signatur C IV 3b = GSA 71/55 und den Titel: ‚Lateinische Grammatik, vorgetragen von F. Ritschl Bonn, Sommersemester 1865, Erster Theil‘; sie schließt mit der Notiz: „Schluß der Vorlesung am 1. Aug. 1865“ und erwähnt Ritschls Abschied (von Bonn) (Bl. 53).
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
Seiten umfassende!) Nachschrift daher ebenfalls herangezogen werden, um die Auffassungen Ritschls hinsichtlich der vergleichenden Sprachwissenschaft und der Indogermanistik in einigen hier interessierenden Aspekten zu erfassen76. Zu Beginn nennt Ritschl nach beiden Mitschriften die – wie er sagt – „sechs Fundgruben“, die es „für die historische Auffassung (giebt): 1. die Literatur, 2. die Metrik, 3. die Handschriften, 4. die Inschriften, 5. die Zeugnisse und die Doctrinen der einheim Grammatiker, 6. die Sprachvergleichung in enger<en> und weiter<en> Kreisen, z. B. der altital Dialekte, dann der Sprachäste, dann der Sprachstämme“ (C II 3, p. 4), wobei der Sprachstamm „des Indogermanischen“ gemeint ist (nach C IV 3b, Bl. 2). Wie auch noch weitere Vorlesungsmitschriften Nietzsches dokumentieren77, ist die Sprachvergleichung für Ritschl eine wichtige Quelle philologischer Arbeit, auch wenn er sich selbst für diese sechste „Fundgrube“ nicht direkt zuständig betrachtete. Nietzsche
_____________ 76 Nach der einschlägigen Arbeit ‚Nietzsche und die historisch-kritische
Philologie‘ von Christian Benne, die 2005 erschienen ist, „(ist) Ritschl auf dem Gebiet der Grammatik Anhänger der sprachvergleichenden, historischen Sprachwissenschaft“ und „förderte und forderte bei seinen Schülern die Bekanntschaft mit der Indogermanistik, auch wenn sie nach seinem Verständnis eines gesonderten Studiums bedurfte“ (a. a. O., 71); dieser Sachverhalt ist auch in Nietzsches Mitschriften von Vorlesungen Ritschls anzutreffen, auf die Benne hier ebenfalls verweist (vgl. a. a. O., 71 mit Anm. 120, bes. die Erwähnung von Literaturhinweisen auf Bopp, Schleicher und Humboldt). 77 In der Vorlesung ‚Die römische Epigraphik als Hülfsmittel zum Studium der lateinischen Grammatik‘ spricht Ritschl von den „6 Quellen für die Grammatik“; diesem Kontext entsprechend lautet der letzte Punkt: „6. Vergleichend(e) Grammatik“ (C III 3, p. 4). Vgl. auch die Vorlesungsmitschrift ‚Einleitung und Anleitung zur lateinischen Sprache‘, wo Ritschl im sechsten Punkt auf die „Vergleichung von Sprachzweigen, Ästen und Stamm“ zu sprechen kommt (C IV 3, p. 11). Eine weitere Vorlesung, die Nietzsche hörte, war ‚Die wichtigsten Lehren der lateinischen Grammatik‘ (vgl. C IV 4) im Sommersemester 1867.
2. Komparatistik und Sanskrit-Kenntnisse
195
notiert: „Die 1. 5. 6. Fundgrube sind von ander<er> Seite frühe ausgebaut. Die 2. 3. 4. von Ritschl (…)“ (C IV 3, p. 11). In der Bonner Vorlesung geht Ritschl auf die Bedeutung der Sprachvergleichung schon im ‚ersten Abschnitt‘ ein, in dem „die Perioden der Literatur in ihrem Verhältniß zur Sprachgeschichte“ behandelt werden (C II 3, pp. 4ss.), und er sagt entsprechend der erwähnten Nachschrift des unbekannten Verfassers: „die Urperiode ist niemal<s> d Inschriften, sonder nur durch Resultate der Sprachvergleichung bekannt“ (C IV 3b, Bl. 2). Im ‚sechsten Abschnitt‘78 wird dann „die Sprach- und Dialektvergleichung“ (Bl. 40) direkt behandelt. Gegen Schluss der Vorlesung (C IV 3b, Bl. 51) wird unter der Überschrift Die Sprachvergleichg wichtige Literatur angegeben. Insbesondere wird gesagt, dass sie auf „F Bopp“ zurückgehe, und es werden dessen zwei wichtigen Werke über das „Conjugationssystem der Sanskritspr (…) 1816“ und die „Vergleichende Grammatik (…) 1833ff“ angegeben; kurz wird auch das Werk von „A. Schleicher, Compendium der vergleich<enden> Grammat der indogerman Sprachen Weimar 1861-62. 2 Bde.“ angeführt; ferner wird auf Wilhelm von Humboldts Abhandlung „Ueber die KawiSprache“, auf Arbeiten von Steinthal und auf Heyses Werk „System der Sprachwissenschaft herausgg. von Steinthal, Berlin 1856“ hingewiesen. Ganz am Schluss der sprachvergleichenden Literatur wird „Max Müller, Vorlesgen über die Wissenschaft der Sprache, übersetzt von Böttcher (sic!), Leipz 1863-65. 2 Bde.“ angeführt. In einer anderen Mitschrift Nietzsches wird ebenfalls Max Müller genannt (cf. C IV 2, p. 174)79.
_____________ 78 Für diese abschließenden Ausführungen beziehe ich mich vor allem auf
die genannte umfangreiche Nachschrift der Bonner „Grammatik“Vorlesung Ritschls von unbekannter Hand. 79 Diese Ausführungen befinden sich in dem Heft (C IV 2), das hauptsächlich die „Lyriker“-Vorlesung von Curtius beinhaltet; mehrere Seiten (158-174) gehören jedoch zu Ritschls Kolleg „Einleitung und Anleitung zur lateinischen Grammatik“, vgl. BAW 1, LVIII.
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
Auf einem Blatt, das dieser Nachschrift von Ritschls Vorlesung ‚Einleitung und Anleitung zur lateinischen Grammatik‘ vom Wintersemester 1866/67 (C IV 3) separat beigelegt ist, werden zentrale grammatikalische Fragen auch in sprachvergleichender Form dargestellt: z. B. wird der Instrumentalis behandelt, bei dem Latein im Vergleich zu Sanskrit erläutert wird; ferner werden die verschiedenen Deklinationen in Sanskrit, Griechisch und Latein für den Genetiv, Dativ und Ablativ mit den entsprechenden Endungen tabellarisch dargestellt (cf. p. 3). Diese Inhalte der Vorlesungen von Ritschl führen in jene Methodik und Wissenschaft ein, die wissenschaftsgeschichtlich die Ursprungsdisziplin der Religionswissenschaft ist: in die vergleichende Methodik der Philologie; sie war für Max Müller das Modell für diese neue Disziplin. Denn der Weg zur Religionswissenschaft hat den Schritt von der Klassischen Philologie zur vergleichenden Sprachwissenschaft zur Voraussetzung. Georg Curtius, der andere wichtige Lehrer Nietzsches, hat diese Entwicklung in Richtung einer komparativen Philologie maßgebend geprägt; in seinen Vorlesungen zeigen sich – nach Nietzsches Mitschrift – aber auch schon ansatzhaft Perspektiven eines Religionsvergleichs, z. B. hinsichtlich des Vergleichs der griechischen Religion mit der „Naturreligion“ der Veden. 2.4. Sprach- und Religionsvergleichung in den Vorlesungen von Georg Curtius Der Philologe Georg Curtius, Bruder des berühmten Altertumsforschers Ernst Curtius, war seit 1862 Professor an der Universität Leipzig. Seine wichtigsten Schriften zeigen schon in ihren Titeln, dass er die sprachvergleichende Methode innerhalb der Philologie integriert hat: 1848 erschien in zweiter Auflage das Werk ‚Die Sprachvergleichung in ihrem Verhältniss zur klassischen Philologie‘, 1846 bereits der erste Band des Werkes ‚Sprachvergleichende Beiträge zur griechischen und lateinischen Grammatik‘; mehrmals
2. Komparatistik und Sanskrit-Kenntnisse
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wurden seine ‚Grundzüge der griechischen Etymologie‘ (18581862) aufgelegt80. In einem Brief an Carl von Gersdorff, der auch in Leipzig zu studieren beabsichtigte, schrieb Nietzsche, dass er selber dort Curtius antreffen werde, der „wichtig für Sprachvergleichung“ sei81. Im Wintersemester 1865/66 besuchte Nietzsche bei Georg Curtius dann auch die Vorlesung ‚Geschichte der griechischen Literatur‘, was auch in den Studienprotokollen des Universitätsarchivs protokolliert ist82 und worüber eine Mitschrift Nietzsches existiert. Im Sommersemester 1866 hörte er die Vorlesung ‚Encyclopädie der classischen Philologie, verbunden mit einer ausführlichen Einleitung in die griechisch-lateinische Sprachwissenschaft‘ von Curtius 83, die ihn aber sehr langweilte: „Bei Curtius schlafe ich fast ein“84. Von dieser Vorlesung ist keine Nachschrift von Nietzsche erhalten, sodass wir keinen direkten Nachweis haben, was er in der „Enzyklopädie“-Vorlesung von Curtius hörte. Im Wintersemester 1866/67 besuchte Nietzsche die Vorlesung ‚Griechische Grammatik‘ bei Curtius, von der eine Nachschrift existiert (C IV 1a und 1b)85; eine solche gibt es ebenso von der Vorlesung ‚Erklärung der Fragmente der griechischen Lyriker‘ (C IV 2)86. Aus diesem Semester (November/Dezember 1866) stammt auch der einzige Brief Nietzsches an Curtius, der aber nicht abgeschickt wurde, sondern nur als Entwurf überliefert ist (vgl. KGB I 2, 178-180); darin geht es um „Vermuthungen“ und
_____________ Vgl. Art. Curtius, G., in: Meyers Hand-Lexikon 1, 440. 25. Mai 1865: KGB I 2, 55. Vgl. KGB I 4, Nb. 380. Vgl. Protokolle, KGB I 4, Nb. 407. Brief an Mushacke, 27. April 1866: KGB I 2, 129. Vgl. Brief vom 11. Oktober 1866 an Gersdorff: KGB I 2, 175 und Brief vom November 1866 an Mushacke, a. a. O., 181; vgl. auch KGB I 4, Nb. 439. 86 Vgl. dazu KGB I 4, Nb. 442. 80 81 82 83 84 85
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
Übersetzungsvorschläge zum Danaelied des Simonides, das in der genannten Vorlesung behandelt wurde. Schon vom grundlegenden Anliegen von Curtius her ist anzunehmen, dass auch er in seinen Vorlesungen ausführlicher auf die sprachvergleichenden Dimensionen innerhalb der Philologie eingegangen ist. Das trifft auch in vollem Umfang zu. So ist in seiner Vorlesung zur ‚Griechischen Grammatik‘ im ‚Cap I‘ die Sprachvergleichung das Kriterium der Einteilung: zuerst behandelt er die griechische Grammatik im Altertum (cf. C IV 1a, pp. 3ss.), im zweiten Punkt ‚die neuere Grammatik bis zur Anwendung der neueren Sprachvergleichung‘ (pp. 27ss.), und der dritte Paragraph befasst sich mit der griechischen Grammatik ‚unter dem Einfluss der Sprachvergleichung‘ (pp. 37ss.). Von den Ergebnissen dieser neuen Sprachforschung her wird eine Skizze der Geschichte der griechischen Sprache gegeben (cf. pp. 41ss.). Lautlehre sowie Lautwandel und –gesetze werden sprachvergleichend (Latein, Griechisch, Sanskrit, Althochdeutsch) behandelt (cf. C IV 1b, p. 7 und p. 17). Ebenso wird die Lehre „Von den Stämmen“ (z. B. konsonantische etc.) anhand zahlreicher Sanskrit-Wörter dargestellt (cf. C IV 4, 105-113; diese Seiten gehören zu C IV 1b, vgl. BAW 1, LIX). Als weiteres Beispiel der Vorlesungen von Curtius sei die ‚Geschichte der griechischen Literatur‘ herangezogen. Im zweiten Kapitel dieser Vorlesung behandelt er – entsprechend der Kollegnachschrift Nietzsches (C III 1a, Wintersemester 1865/66) – ‚Die Vorbedingungen der Griech Liter‘. Für ihn ist klar: „Die Entst<eh>ung des indogerm Sprachstammes ist bewiesen“ (p. 14). Unter der zahlreich angeführten Literatur finden sich die einschlägigen Werke, die später auch für Nietzsches eigene Vorlesungen bedeutsam werden sollten, wie z. B. Jacob Grimms ‚Geschichte der deutschen Sprache II. B.‘ (Berlin 1848); auch Adalbert Kuhns ‚Zur älteren Geschichte der indogermanischen Völker‘ ist angeführt; in manchen Werken kommen im Titel die Anfänge
2. Komparatistik und Sanskrit-Kenntnisse
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Europas zur Sprache87. Innerhalb von Curtius’ Ausführungen finden sich etymologische Darlegungen, z. B. zur Zeitberechnung nach Monden (-ma messen); Sanskrit-Termini werden öfters genannt, ebenso die sprachvergleichende Ableitung des Wortes Zeus von „Glänzen“ (p. 15). Im Anschluss daran notiert Nietzsche: Vergleichende Mythologie v Jacob Grimm angeregt. Dann von Adalbert Kuhn, Herabkunft des Feuers, Berlin 1845. Der Prometheusmythos fällt in diese Periode. Max Müller Vorlesungen über Sprachwissenschaft (ibid.).
Curtius geht in seinen Ausführungen auf die historische Ausdifferenzierung der indogermanischen Völker ein, um anschließend insbesondere die ‚Aussonderung der griechischen Stämme‘ zu behandeln. Im Zusammenhang damit kommt auch die „Rohheit“ der Indogermanen und das ‚Verhältnis zwischen Griechen und Barbaren‘ zur Sprache. Er meint: „Das indogerm Volk durchaus kein rohes (…)“ und führt weiter aus: „Aus der Einheit wird zunächst eine Zweiheit. Die Inder u. Perser bilden die eine Gruppe. Die zweite die europäischen Völker (…) Die Griechen mit den Italikern noch eins = das graeko-ital Volk (von Theodor Mommsen erfundenes Wort)“ (p. 16). Vor diesem Hintergrund wird postuliert: „Es muß eine graekoital Zeit gegeben haben (…) Die Ital lösten sich zuerst ab. Das geht aus der Sprache hervor“ (ibid.). Aus Sprachdifferenzen wird auf die Frühgeschichte der europäischen Völker geschlossen, wobei wiederholt (Klein-)Asien erwähnt wird. Danach wird die „panhellenische“ Zeit skizziert: „Nach ihrem (scil. der Italiker; J. F.) Ausscheiden haben die Griechen wahrscheinlich noch längere Zeit in Nähe der persischen Stämme gewohnt. Diese Zeit können wir die Panhellenische nennen. Wir müssen sie für sehr bedeutend halten, denn alles gemeinsam<e> wurzelt in ihr“. Als abschließende These formuliert er: „Die Gr stehen noch
_____________ 87 Vgl. C III 1a, p. 16: „Lorenz Dief[f]enbach, origines Europaeae Deutsch.
1861“; vgl. dazu Art. Diefenbach, L., in: Meyers Konv.-Lexikon 4, 951.
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
nicht in so schroffe Gegensatz zu den Barbaren“ (ibid.). Es kommt also in gewissem Sinn zu einer partiellen Relativierung der griechischen Kultur; die genealogische Nähe zu den „Barbaren“ wird erwähnt. Ein eigener Paragraph handelt ‚Ueber die griechische Religion‘. Zu den einleitenden Worten „Verehrung der Natur“ notiert er das Wort ΔΣΑΘ΅ȱ ΔΏφΕȱ ΌΉЗΑȱ σΗΘǀΑǁDz dann wird gesagt, dass „sie auf dems<elben> Grund indoger<manischer> Völker (stehen)“, und hinzugefügt: Max Müller, compar Mythol, Oxford 1856, II. Reihe seiner Vorles 1864 London.
Die Vorlesung setzt dann in Nietzsches Nachschrift mit Worten fort, die sehr deutlich die „naturmythologische“ Sicht der indischen Religion in der damaligen Zeit demonstrieren: „Der Naturdienst tritt in den Hymnen der Veden uns entgegen. Naturobject und Gott fallen hier noch zusammen“ (p. 23). Dann folgen Ausführungen über den Kult, die Nietzsches späterer Bewertung der griechischen Religion88 sehr ähnlich sind: Nichts ist bezeichnender als daß die Götter sich freuen an der Freude der Menschen nicht an Entbehrungen. Freude ist Gottesdienst. Im Opfer liegt eine Verpflichtung, aber das Opfer ist verbunden mit dem Mahl. Welche Mannigfalt der Feste (p. 24).
In den Ausführungen über ‚Gesang und Sänger bei Homer‘ wird z. B. gesagt: „Die älteste Poesie müssen wir als Hymnische vorstellen, entsprechend den Veden der Inder. Schlichte Anrufungen der Götter. Die ind Hymnen gehören in eine sehr alte Zeit“; es wird auch auf die „Übersetz“, die „Benfey,
_____________ 88 Vgl. dazu KGW VI 2, 349: GM II 23; VI 2, 68: JGB 49; dazu J. Figl,
Dialektik der Gewalt, 1984, 296f. Es finden sich weitere interessante Inhalte, z. B. über die „apollinische(n) Namen“ und die „dionysisch-thrakische(n) Namen“ sowie auch über die Tragödien, besonders des Aischylos: cf. C III 1a, p. 31 und pp. 167ss.
2. Komparatistik und Sanskrit-Kenntnisse
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Orient und Occident (…) gegeben (hat)“, hingewiesen89. Auf derselben Seite wird angeführt: „32 Hym des I Buches des Rigveda, enthält nur Erzählung“ (p. 27). Auch in der Einleitungsvorlesung zu den Lyrikern geht Curtius schon zu Beginn, bei der etymologischen Herleitung des Wortes ΐΉΏΎϱΖ, das die jüngere Bezeichnung für ΏΙΕΎϱΖ sei, bis auf die Wurzel „in der uralten Hymnenpoesie der Inder“ zurück (C IV 2, p. 5). Wiederholt werden komparatistisch Sanskrit-Wörter herangezogen (cf. p. 65). Ebenso wird „Genealogie“ (p. 23) und vergleichende Sprachwissenschaft thematisiert. Obwohl Nietzsche anfänglich offenbar keine besondere Begeisterung für die Vorlesungen von Georg Curtius verspürte, dürfte ihn dieser Sprachwissenschaftler in einer Reihe von Ansichten – auch über die Religion – beeinflusst haben. Gegen Ende des Studiums begegnete er ihm persönlich bei den oben erwähnten gesellschaftlichen Treffen Leipziger Professoren; in seiner Wohnung traf er eine Gruppe ihm nahestehender Studierender, zu der Roscher und Windisch gehörten, die z. T. schon wichtige Arbeiten im Bereich der vergleichenden Sprachwissenschaft und der Indologie verfasst hatten90. Nach dem Studium entfremdete sich Nietzsche Curtius immer mehr, denn er unterstützte nun „Ritschls Versuch, mit seinen ‚Acta societatis philologiae Lipsiensis‘ der Vorherrschaft sprachlich-grammatischer Forschungen unter den Leipziger Philologen, die auf Curtius zurückging, entgegenzuwirken. Nach dem Erscheinen der Geburt der Tragödie verdächtigte er Curtius, für die in Fachkreisen ablehnende Haltung seinem Werk gegenüber mitverantwortlich zu sein“91. Nietzsche rechnet Curtius im Zusammen-
_____________ 89 Theodor Benfey hat diese Zeitschrift einige Zeit selbst herausgegeben
(vgl. Art. Benfey, Th., in: Allgemeine Deutsche Biographie 46, 359). 90 Vgl. oben S. 191f. 91 KGB I 4, Nb. 698.
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
hang mit dem ‚Geburt der Tragödie‘-Streit zu den – wie er ironisch sagt – „besten Freunden“92. Gleichwohl aber sollte der Einfluss von Curtius auf Nietzsche nicht unterschätzt werden. Eine direkte Abhängigkeit von diesem Lehrer scheint gerade im Bereich seiner Reflexionen über die Stellung der Religionswissenschaft im Kontext der Philologie gegeben zu sein, die Nietzsche wahrscheinlich unter Aufnahme von Überlegungen dieses Sprachwissenschaftlers 1868 niederschrieb, wie im Folgenden näher aufgewiesen wird.
3. Der Terminus „Religionswissenschaft“ in Nietzsches Aufzeichnungen
3. Der Terminus „Religionswissenschaft“ 3.1. „Religionswissenschaft“ innerhalb des Konzeptes einer ‚Encyclopädie der Philologie‘ Das Werk Nietzsches – einschließlich seiner unveröffentlichten Aufzeichnungen – ist so umfassend, dass es kaum einem Forscher möglich ist, es im Detail, etwa im Hinblick auf die Verwendung einzelner Begriffe, zu kennen. Ein solcher Begriff ist „Religionswissenschaft“93; er findet sich in der abgekürzten Form „Religionswiss.“ im Nachlass Nietzsches vom Frühjahr 1868, und zwar
_____________ 92 KGB II 3, 27: Brief an Rohde vom 7. Juli 1872. 93 Die Feststellung von Andreas Urs Sommer in seinem verdienstvollen
Beitrag ‚Ex oriente lux? Zur vermeintlichen Ostorientierung in Nietzsches Antichrist‘, in: Nietzsche-Studien 28 (1999) 194-214, dass „weder der Ausdruck ‚Religionswissenschaft‘, noch gar derjenige einer ‚Vergleichenden Religionswissenschaft‘ in Nietzsches Werken und Nachlass auftaucht“ (a. a. O., 197), trifft daher hinsichtlich des ersteren Ausdrucks zwar nicht zu, doch kann m. E. mit Recht gesagt werden, dass „Nietzsche in seinem Spätwerk Methoden an(wendet), die Müllers Konzept ähneln“, und dass „das, was bei Nietzsche an das komparative Vorgehen der Religionswissenschaft erinnert, stets in einen übergeordneten Kontext eingebaut (ist)“ (ebd.).
3. Der Terminus „Religionswissenschaft“
203
in einem Konzept mit der Überschrift ‚Encyclopädie der Philologie‘94; dieses ist erstmals schon 1937 in der Historisch-Kritischen Ausgabe, in dem von Hans Joachim Mette und Karl Schlechta gemeinsam herausgegebenen Band 4 veröffentlicht (BAW 4, 3-8), und neu ediert in KGW I 5, 192-198: 75 [3]. In diesem Text steht der Ausdruck „Religionswissenschaft“ als Name für einen Forschungsbereich innerhalb der bzw. in engem Zusammenhang mit der Philologie – neben „Sprachwiss<en>sch“, „Litteratwiss<en>sch“, „Archaeologie“ etc. (198). Es handelt sich dabei um Gedanken, die überwiegend eine Wiedergabe aus damals vorliegender Literatur sind. Wie im Folgenden aufgezeigt wird, ist Nietzsche dieser Verhältnisbestimmung von Philologie und Religionswissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit in der Leipziger Antrittsvorlesung ‚Philologie und Sprachwissenschaft‘ von Georg Curtius begegnet, die zwar schon einige Jahre vor dem Studienbeginn Nietzsches, nämlich am 30. April 1862, gehalten wurde, die aber gedruckt vorlag und auf welche Nietzsche in seinem „Encyclopädie“-Konzept ausdrücklich hinweist. Dennoch spiegeln diese Aufzeichnungen wohl auch Nietzsches eigene Überlegungen wieder, wie sich in kritischen Bemerkungen und darüber hinaus an der Tatsache zeigt, dass er auf diese Notizen bei seiner drei Jahre später gehaltenen umfangreichen Vorlesung „Encyclopaedie der klass. Philologie“ (KGW II 3, 339437) zurückgreift, sie – wie Mette meint – „z. T. sehr intensiv benutzt (hat)“ (BAW 4, Nb. 616). Freilich lassen sich bei der späteren Vorlesung, wie im Folgenden aufgezeigt wird, wichtige neue Akzentsetzungen feststellen – gerade auch im Hinblick auf die Einordnung der religionswissenschaftlichen Ausführungen innerhalb dieser philologischen Einführungs- und Überblicksvorlesung. Bei der Analyse dieser knappen, sechs Manuskript-Seiten umfas-
_____________ 94 Vgl. auch die Notiz (Herbst 1867 bis Frühjahr 1868) über „zukünftige
Collegien“, wo er bei den „Allgemeine(n)“ schreibt: „1. Encyklopädie der Philol“: KGW I 4, 435: 57 [71].
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
senden Niederschrift sollen zwei Linien verfolgt werden: einerseits die Frage der Religion bzw. Mythologie, inwieweit sie hier direkt oder indirekt angesprochen wird, andererseits die quellengeschichtliche Problematik, um welche Kollegnachschrift es sich dabei handelt – vorausgesetzt es ist, wie Mette vermutet95, eine solche: manches spricht dafür, z. B., dass wichtige Namen (wie jene des Philologen und Mythenforschers Christian Gottlob Heyne) falsch geschrieben sind (als „Heine“); anderes aber ist für Vorlesungsmitschriften m. E. eher untypisch, z. B. die genaue Angabe einer Seite eines Aufsatzes (z. B. zu Jahn). Diese Frage aber kann hier nicht definitiv entschieden werden. Die Niederschrift ‚Encyclopädie der Philologie‘ von 1868 hat folgende Gliederung: „Bemerkung zum Titel“; „Name, Begriff und Aufgabe“; „Philologie als begeisterte Pflege und Nachbildung des Alterthums“, mit Verweis auf „O. Jahn, die Bedeutung der Alterthumswiss<enschaften> in Deutschland. Preuß Jahrb 4 “ (KGW I 5, 193: 75 [3])96.
_____________ 95 Erstherausgeber Mette meint allerdings, dass es sich „nicht um eine di-
rekte Kollegnachschrift, sondern um die Kopie einer solchen, vermutlich nach dem Vortrage Fr. Ritschls (der dieses Kolleg zu lesen pflegte)“ handelt (BAW 4, Nb. 616). Um diese Vermutung bestätigen zu können, müssten entsprechende Stellen bei Ritschl ausfindig gemacht werden, was hier nicht weiterverfolgt wird; vgl. dazu näher J. Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, 108 Anm. 40; siehe S. 214f. 96 Es handelt sich um die Rede Jahns, die er anlässlich der Übergabe des Rektorates am 15. Oktober 1859 in Bonn gehalten hat; sie wurde in den Preußischen Jahrbüchern, 4. Jahrgang (1859), 494-515 veröffentlicht; später auch in erweiterter Form in O. Jahn, Aus der Alterthumswissenschaft. Populäre Aufsätze, 1868, 1-50. Diesen Aufsatzband hat Paul Deussen (1869) seinem Freund geschenkt und er befindet sich auch in der Bibliothek Nietzsches (vgl. G. Campioni u. a. [Hg.], Nietzsches persönliche Bibliothek, 2003, 319). Zur Kritik Nietzsches an dem ursprünglich verehrten Lehrer, der zugleich Philologe und Musiker war, vgl. B. von Reibnitz, Otto Jahn bei Friedrich Nietzsche, in: W. M. Calder III/H. Cancik/B. Kytzler (Hg.), Otto Jahn (1813-1868). Ein Geisteswissenschaftler zwischen Klassizismus und Historismus, 1991, 204-233. Jahn wird ferner KGW I 5, 196: 75 [3]
3. Der Terminus „Religionswissenschaft“
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In Nietzsches Niederschrift (193ff) wird – ebenso wie in Jahns Aufsatz97 – ein historischer Überblick über die Entwicklung der Philologie seit Ende des 14./Anfang des 15. Jahrhunderts gegeben. Es folgen die Abschnitte „Philologie als Polymathie und Polyhistorie“; „als Sprachstudium“; „als Kritik“; „im Bunde mit den schönen Wissenschaften“ (Lessing, Winckelmann u. a.). Den „Anfang mytholog Studien“ – so heißt es in diesem Abschnitt – „repräsentirt Heine (sic!) 1729-1812“ (195). Diese hier wiedergegebene Einschätzung von Heyne entspricht auch der heutigen Auffassung; er gilt „als Begründer der Mythosforschung in der klassischen Altertumswissenschaft“, und als solcher – was für die Geschichte des historischen Teils des Faches Religionswissenschaft von besonderem Interesse ist – „in gewisser Hinsicht überhaupt (als) Begründer der Religionsgeschichte“98. Bei dem Abschnitt „Philologie als Alterthumskunde“ wird allein „Fr Au Wolf 1754-1824“ angeführt. Wolfs Konzept sei Philologie als „ ,Inbegriff philosophischer und historischer Kenntnisse, durch die wir das Alterthum in allen Hinsichten kenne lernen‘ “ – wie hier zwar zitiert, aber nicht näher ausgeführt wird (195). Der „Ort“ der „Mythologie“ war in Wolfs „Encyclopädie“-Vorlesung innerhalb des Abschnitts ‚Haupttheile
_____________ bei der Darstellung von G. Hermann erwähnt, und a. a. O., 197, wo die „S. 20“ dieses Aufsatzes angeführt wird; wahrscheinlich ist davon ein Sonderdruck vorgelegen, wie H. J. Mette vermutet (vgl. BAW 4, Nb. 617). Der Vortrag ist tatsächlich „als Separatum erschienen“: vgl. G. Schade, Otto Jahn. Bibliographie, in: W. M. Calder III/H. Cancik/B. Kytzler (Hg.), Otto Jahn (1813-1868). Ein Geisteswissenschaftler zwischen Klassizismus und Historismus, 1991, 269. 97 Vgl. O. Jahn, Aus der Alterthumswissenschaft. Populäre Aufsätze, 1868 (BN), 1ff; dazu B. Kytzler, Jahns populäre Aufsätze „Aus der Alterthumswissenschaft“, in: W. M. Calder III/H. Cancik/B. Kytzler (Hg.), Otto Jahn (1813-1868). Ein Geisteswissenschaftler zwischen Klassizismus und Historismus, 1991, 96-105, bes. 101f. 98 F. Graf, Griechische Mythologie. Eine Einführung, 1985, 284; zit. nach: Art. Heyne, C. G., in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon XVIII, 635ff.
206
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
der Alterthumswissenschaft‘, der auf den ersten Abschnitt, die formalen ‚Fundamentaltheile‘ dieser Disziplin, folgt. Neben Mythologie werden Geographie, Politische Geschichte, die Alterthümer, dann Literatur und Geschichte der Wissenschaften und Künste und schließlich die Geschichte der Kunst im Inhaltsüberblick angeführt99. Im Anschluss daran kommt in Nietzsches Aufzeichnungen „Philologie als gelehrtes Studium des (sic!) alten Litteratur“ (besonders G. Hermann) zur Sprache; dann „die universale Philologie Boekhs“ (196). Zu August Boeckh führt er entsprechende Primärliteratur an (vgl. ebd.). Es wird zu Beginn konstatiert, dass „eine ausführl Darlegung nirgends gedruckt vor(liegt)“; tatsächlich ist seine ‚Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften‘ erst 1877 von Ernst Bratuscheck herausgegeben worden. Aber Nietzsche notiert den hermeneutischen Grundgedanken Boeckhs: die Philologie sei „das Wiedererkennen des Erkannten, Reproduktion des Produzirten“ (ebd.)100. Daran anschließend wird „Litteratur über Encyclop der Philol“ angeführt. Nietzsche nennt zu Recht die Antrittsvorlesung von Ludwig Lange (vgl. 197), da sie dessen ‚Vorlesung über Encyklopädie und Methodologie der Philologie‘ eröffnet101. Danach wird ein Überblick über die „Gliederung u. Stellung zu anderen Wissenschaften“ gegeben, bevor in den abschließenden Notizen „Aufgaben u. Stellung der klass Philologie“ zur Sprache kommen sowie auf wichtige Literatur „über das
_____________ 99 Vgl. F. A. Wolf, Vorlesung über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft,
hg. von J. D. Gürtler, 1831, V ff. Dieses Buch befindet sich in der Bibliothek Nietzsches. 100 Vgl. ebenso G. Curtius, Ueber die Geschichte und Aufgabe der Philologie, 1862, 28. Vgl. A. Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. von E. Bratuscheck, 2. Auflage 1886, 53: „Nach dem von uns aufgefundenen Begriff ist die Philologie die Erkenntniss des Erkannten, also eine Wiedererkenntniss eines gegebenen Erkennens; ein Erkanntes wiedererkennen heisst aber es verstehen“. 101 Vgl. L. Lange, Die klassische Philologie in ihrer Stellung zum Gesammtgebiete der Wissenschaften und in ihrer inneren Gliederung, 1855, bes. 19.
3. Der Terminus „Religionswissenschaft“
207
Studium“ derselben hingewiesen wird (ausdrücklich wird Niebuhrs „Brief an einen jungen Philol. Leip 1839“ genannt; 197f). In unserem Kontext ist besonders die „Gliederung u. Stellung zu anderen Wissenschaften“ von Interesse, durch die die wissenschaftsinterne und -externe Positionierung des Faches umrissen wird: „Gliederung u. Stellung zu anderen Wissenschaften. 1. Sprache 2. Religion. 3. Kunst. a) die redende b) die bildende 5. Das äußere Leben, Sitte, Staats u. Privatalterthümer, Recht“ (197).
Der Punkt 3b kann wohl als vierter Punkt in der Aufzählung, die fünf Punkte hat, verstanden werden. Diese fünf Gebiete werden anschließend in folgender Tabelle zusammengestellt: Sprachwiss<en>sch Religionswiss<enschaft> Litteratwiss<en>sch Archaeologie.
Deutsch<e> Griech Röm Sprache Religion Rel Rel
etc.
Sitte Sitte Sitte Klass Philol Deutsch<e> Philol
Indische Sprache etc. Rel etc.
Literatur
Lit<eratur> Lit<eratur>
Lit<eratur> etc.
bild<ende> K
b b K K
b K etc. Sitte Indische Phil
(KGW I 5, 198).
208
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
Erstens ist festzustellen, dass es eine Vielfalt von Philologien gibt – auch die Indische wird ausdrücklich angeführt, wobei die Klassische den anderen überlegen ist. Zweitens scheint in Nietzsches Tabelle Religionswissenschaft ein wichtiger eigener Wissenschaftsbereich zu sein. Drittens wird Religionswissenschaft gleich nach der Sprachwissenschaft angeführt, Religion in Parallele zur Sprache gesehen – ein Konzept, das bei Max Müller zum maßgebenden wird, insofern er Religionswissenschaft in Analogie zur vergleichenden Sprachwissenschaft konzipiert und von den Sprachen her einen Stammbaum der Religionen ausarbeitet. Auf diese drei Aspekte ist näher einzugehen. Ad 1) Eine ‚Encyclopädie der Philologie‘ umfasst eine Vielfalt von Bereichen der in der betreffenden Philologie behandelten Kultur: zuerst die Sprache, dann die Religion, die Literatur („redende“ Kunst), die Kunst („bildende“ Kunst, wie sie z. B. anhand archäologischer Ausgrabungen wieder sichtbar wird), dann den gesamten „äußere(n)“ Lebensbereich einer antiken Kultur; als Beispiel dafür wird die „Sitte“ angeführt; als weitere wichtige Bereiche des „äußere(n) Leben(s)“ sind die so genannten „Staatsaltherthümer“ (Staatsformen in der klassischen Zeit, wie Königtum, Demokratie, Tyrannei), dann die „Privatalterthümer“ (wie Entwicklung der Wohnungen, Mobiliar, Beleuchtung, aber auch die Rechtsverhältnisse der Sklaven, Ehe, Stellung der Frauen, Knabenliebe u. a.) genannt102. Die jeweilige Philologie (Klassische Philologie, Deutsche Philologie, ebenso auch: Indische Philologie) fasst diese Bereiche zusammen und behandelt sie auf ihre eigene Weise – es „scheidet sich somit die philologische Betrachtung u. die allgemeinwissensch“ (ebd.), wie Nietzsche unter Bezugnahme auf Georg
_____________ 102 Vgl. dazu die Aufzählung in Nietzsches eigener Vorlesung ‚Encyclopä-
die der klassischen Philologie‘ drei Jahre später (1871): KGW II 3, 436f.
3. Der Terminus „Religionswissenschaft“
209
Curtius sagt103. Diesem Konzept dürfte folgende Auffassung über das Verhältnis der Wissenschaften zugrunde liegen: es gibt einerseits die spezielle Behandlung der betreffenden Gegenstandsbereiche (z. B. Sprache, Religion) innerhalb der jeweiligen Fachdisziplin – im Sinne z. B. der „Indischen Philologie“, der „Speziellen Religionswissenschaft“ betreffend die Religionen Indiens, andererseits die allgemeine Behandlung dieser Gegenstandsbereiche – im Sinne z. B. der „allgemeinen Sprachwissenschaft“, der „allgemeinen Religionswissenschaft“. Diese „allgemeinen“ Wissenschaften sind in der konkreten Durchführung vergleichend – jedenfalls trifft dies für die Sprachwissenschaft bei dem Autor zu, auf den sich Nietzsche hier ebenfalls explizit bezieht, nämlich auf Georg Curtius. Im Hinblick auf die Religionswissenschaft bedeutet dies, dass es einerseits einen religionswissenschaftlichen Zugang im Rahmen einer „allgemeinen“ eigenen Disziplin gibt, andererseits die Befassung mit religiösen Gegebenheiten der Antike auf fachspezifischer philologischer Basis. Die Religionswissenschaft als solche befasst sich mit den Religionen verschiedener Kulturen bzw. Völker; die jeweilige Philologie untersucht die Religion innerhalb einer einzelnen Kultur. Beide Disziplinen aber überschneiden sich – die angeführte tabellarische Skizze veranschaulicht dies – im Bereich einer spezifischen Religion. Unterschieden sind sie, wie erwähnt, im Objektbereich, das heißt, ob sie den gesamten („allgemeinen“) Gegenstandsbereich der Religion, d. h. prinzipiell in allen Kulturen, Sprachen behandeln, oder nur den einer spezifischen Kultur der Antike. Nietzsche betont die Pluralität der „Alterthümer“, wobei aber die Methode zu ihrer Erforschung durch die jeweilige Disziplin dieselbe ist; sie ist das Wesentliche einer Disziplin. Diesen Gedanken präzisiert folgende These: „Es giebt so viele Philologien, als es Alterthume giebt. Das Ziel u. die Methode ist dieselbe.
_____________ 103 Er verweist hier auf dessen Antrittsvorlesung ‚Philologie und Sprachwis-
senschaft‘ aus dem Jahr 1862 (gedruckt Leipzig 1862).
210
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
(Somit steckt darin das Wesen der Philologie)“ (I 5, 197)104. Die Methodik kennzeichnet den Zugang zu den unterschiedlichen Bereichen einer antiken Kultur, zugleich aber sind die Philologien im Umgang mit verschiedenen Kulturen („Altertümern“) jeweils am Modell der Klassischen Philologie orientiert. Ad 2) Die Überlegungen zur klassisch-philologischen Enzyklopädie vollziehen sich vor dem Hintergrund einer Mehrzahl von Philologien. An Friedrich August Wolfs Verständnis der Philologie als Altertumskunde wird kritisiert, dass der „Begriff des Alterthums (unklar)“ gefasst sei, und als Frage hinzugefügt: „Inder, Hebräer, Ägypter?“ (I 5, 195)105 Demnach wird eine Pluralität von Philologien vorausgesetzt, innerhalb derer freilich der Klassischen Philologie (griechische und römische Antike) der Vorrang zukomme: „ ,klassisch‘ “ sei sie, „weil dies (scil. das griechische und römische in ihrem Zusammenhang; J. F.) Alterthum am mannichfaltigsten u. freiesten entwickelt ist“; zudem sei die „Technik der klass Philologie (…) die älteste normal ausgebildete“106; außerdem gebe es eine „geschlossne Philologie nur da, wo es einen geschlossnen Kulturkreis giebt. Rohere Völker haben keine Philologie, sondern nur Ethnographie“107. In seinen späteren Vorlesungen, insbesondere in jener über den ‚Gottesdienst der Griechen‘, wird Nietzsche diese „rohen“
_____________ 104 Vgl. dazu G. Curtius, Ueber die Geschichte und Aufgabe der Philologie, 1862,
25; auch diese Publikation führt Nietzsche (a. a. O., 197) ausdrücklich an. 105 In der Bibliothek Nietzsches findet sich das Buch von F. A. Wolf, Vorlesung über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft, hg. von J. D. Gürtler, 1831. Doch hier nennt Nietzsche in seinen Notizen F. A. Wolfs „Prolegom<ena> 1795“. Die Anfrage betreffend der genannten „orientalischen“ Völker hat er später in der geplanten ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘ ‚Wir Philologen‘ wieder gestellt (vgl. unten S. 283f). Dort exzerpiert er die Stelle über „Ägypter Hebräer Perser“ aus Wolfs ‚Kleinen Schriften‘; vgl. demgegenüber S. 240. 106 KGW I 5, 198: 75 [3]. 107 A. a. O., 197.
3. Der Terminus „Religionswissenschaft“
211
Völker und die entsprechende ethnographische Literatur, die sich mit ihnen befasst (John Lubbock, Edward Burnett Tylor), dann zur Interpretation der klassisch-griechischen Kultur miteinbeziehen. Es ist ein eher unkonventioneller Weg, wie die Erstherausgeber dieser Vorlesung, Otto Crusius und Wilhelm Nestle, noch ein halbes Jahrhundert später feststellen108. Dieser Text setzt also eine Vielfalt von Philologien voraus: es werden namentlich die Deutsche und die Indische Philologie angeführt, und zwar in Parallele zur Klassischen. Im Zusammenhang damit kommen auch die Religionen dieser Kulturen zur Sprache, sodass sich der Gesichtskreis über den griechisch-römischen Kulturraum hinaus auch religionsgeschichtlich ausweitet. Ad 3) Von besonderem Interesse an dem zuletzt genannten Faktum ist der Aspekt, dass die Parallelität der Religionen der Parallelität der Sprachen entspricht. Damit ist eine große Nähe zu der Auffassung von Max Müller gegeben: bekanntlich intendierte er eine Religionswissenschaft in Parallele zu und nach dem Vorbild der vergleichenden Sprachwissenschaft109. In beiden Konzepten sind Sprache und Religion aufeinander bezogen. Die religionswissenschaftliche Methodik war in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch nicht klar entfaltet; aber es gab den wegweisenden Ansatz von Müller, sie in Analogie zur vergleichenden Sprachwissenschaft zu konzipieren, wodurch eine innere Nähe zur Philologie gegeben war. Müller selbst war Philologe, und von dieser Disziplin her hat er die Religionswissenschaft methodologisch grundzulegen versucht. Bei diesem Versuch gewann der vergleichende Aspekt eine immer größere Bedeutung, denn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Sprachwissenschaft in wichtigen Bereichen zu einer vergleichenden Sprachwissenschaft entwickelt. Gerade im Anschluss an diese komparatistischen Ansätze entwarf Müller das Modell der Religionswissenschaft und ihrer Methodik.
_____________ 108 Siehe S. 252. 109 Vgl. J. Figl, Einleitung. Religionswissenschaft, in: ders. (Hg.), Handbuch
Religionswissenschaft, 2003, 22.
212
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
Es ist von Interesse, dass in diesen Aufzeichnungen Nietzsches, für den die komparative Ausrichtung sprachwissenschaftlicher Studien schon seit der Gymnasialzeit eine selbstverständliche Vorgabe war, Boeckhs universale Philologie als „zu eng“ kritisiert und auf die „Sprachvergleiche“110 verwiesen wird. Diese Dimension hat Nietzsche in seiner eigenen philologischen Tätigkeit als Professor des Faches zwar als wichtig erachtet, doch scheint er sie durchwegs nur als einen Aspekt der Philologie im Ganzen betrachtet zu haben, wie u. a. auch seine eigene Vorlesung ‚Encyclopädie der klassischen Philologie‘ dokumentiert111. Vor dem Hintergrund der Geschichte der Religionswissenschaft ist es von großem Interesse, dass Nietzsche etwa zeitgleich mit Max Müller, der ab 1868 Professor für vergleichende Sprachwissenschaft in Oxford war, erste Ansätze zu einer vergleichenden Religionswissenschaft in Orientierung an der vergleichenden Sprachwissenschaft kannte. Ein Jahr zuvor war Müllers erster Band seiner Aufsätze mit dem Titel ‚Chips from a German Workshop‘ erschienen. Erst 1869 wurde eine deutsche Veröffentlichung der ersten beiden Bände der ‚Essays‘ publiziert, die Nietzsche bald nach deren Erscheinen ausführlich exzerpierte, worauf unten näher eingegangen werden soll112. Noch vor der Übersetzung ins Deutsche hat Nietzsche in Notizen ebenfalls eine Parallelisierung zwischen Sprachwissenschaft und Religionswissenschaft wiedergegeben, die damals im Rahmen der Philologie wohl an verschiedenen Stellen zur Sprache gekommen war; davon war auch Nietzsche beeinflusst. Die Idee lag gleichsam „in der Luft“ – Max Müller hat ihr zu dem wissenschaftsgeschichtlichen Durchbruch verholfen, der ihn zu dem, jedenfalls zu einem der Begründer der Vergleichenden Religionswissenschaft machte; und es ist Nietzsche, der dessen einschlägige ‚Essays‘ unmittelbar nach ihrem Erschei-
_____________ 110 KGW I 5, 196: 75 [3]. 111 Siehe S. 241f. 112 Siehe S. 229ff.
3. Der Terminus „Religionswissenschaft“
213
nen zur Kenntnis nimmt und in seine eigenen Überlegungen miteinbezieht. Diese „Offenheit“ für Religionswissenschaft und die Kenntnis von Max Müller war wohl in den Vorlesungen (und Publikationen) von Georg Curtius vorbereitet worden, jenes Professors der Philologie, der wesentlich dazu beigetragen hat, dass die vergleichende Sprachwissenschaft in der Philologie grundlegend berücksichtigt wurde; in ähnlicher Weise wurde sie bei Müller zur Grundlage der Religionswissenschaft. Diese wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge werden von der wechselseitigen Kenntnis und Bezugnahme der beiden Philologen aufeinander in ihren Publikationen erklärbar. Georg Curtius hat, wie aufgezeigt, in seinen Vorlesungen wiederholt auf Max Müllers damals vorliegende wichtige Veröffentlichungen verwiesen, wie insbesondere auf dessen ‚Comparative Mythology‘ und dessen ‚Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache‘113, die ebenfalls die Mythologie behandeln114. Dasselbe tat er auch in seinen Publikationen115. Umgekehrt hat sich auch Müller wiederholt auf die sprachvergleichenden Arbeiten von Curtius bezogen116. In seinem Nachruf auf Georg Curtius hat Müller
_____________ 113 Vgl. S. 199. Vgl. auch den Hinweis darauf in: G. Curtius, Erläuterungen zu
meiner griechischen Schulgrammatik, 1863, 6. 114 Vgl. bes. die letzten vier Vorlesungen im zweiten Band, 1866, 314-530;
Curtius erwähnt schon die englische Ausgabe (1864) dieser „II. Reihe seiner Vorles“ (siehe oben S. 200). Von Max Müllers Bearbeitung der Veden, die „bald vollständig“ vorliegen würden, erhofft er sich für die sprachvergleichenden Forschungen „noch reiche Ausbeute“: G. Curtius, Die Sprachvergleichung in ihrem Verhältniß zur classischen Philologie, 2. Auflage 1848, 57 Anm. 2. 115 Vgl. G. Curtius, Grundzüge der griechischen Etymologie, 1. Theil, 1858, z. B. 298 Hinweis auf die Essays, Oxford 1856 (es handelt sich um ‚Comparative Mythology‘); a. a. O., 21 und 273 auf Aufsätze Müllers in der von A. Kuhn herausgegebenen Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung; vgl. ebenso die Bezeichnung des „Ziel(s) der Philologie“ im Anschluss an M. Müller (vgl. S. 226). 116 Vgl. z. B. M. Müller, Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache, Band 1, 1863, 339 Anm. 4; Band 2, 1866, 560 Anm. 15, 562 Anm. 56.
214
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
geschrieben, dass ihre Auffassungsunterschiede generell in ein gegenseitiges Verstehen gemündet seien – aus dem einfachen Grund, dass sie beide um die Wahrheit und nicht um den Sieg sich gesorgt hätten117. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Nietzsche kennt den Begriff der Religionswissenschaft in dem neuen fachwissenschaftlichen Sinn, d. h. unterschieden von dem (christlich-)philosophischen Sprachgebrauch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nämlich im Kontext von Sprachwissenschaft und Philologie(n), und dies noch bevor Max Müllers einschlägige ‚Essays‘, besonders deren Band 1 mit dem Untertitel ‚Beiträge zur vergleichenden Religionswissenschaft‘ (1869), in deutscher Sprache vorgelegen sind – jenes Autors, der dieser neuen Bedeutung des Ausdrucks Religionswissenschaft allgemein zum Durchbruch verholfen hat118. 3.2. „Mythologie“ innerhalb der „Encyclopädie“-Vorlesung Ritschls Wie erwähnt, meint Hans Joachim Mette in seinem Nachbericht zu der analysierten „Encyclopädie“-Aufzeichnung Nietzsches, dass es sich dabei vermutlich um die Nachschrift einer Vorlesung Ritschls handle, „der dieses Kolleg zu lesen pflegte“, wie er in Klammer hinzufügt119. Diese Problematik kann hier nicht generell behandelt werden, sondern es soll nur der hier interessierenden Frage nach der Einordnung der Thematik der Religion bzw. der Religionswissen-
_____________ 117 Wiedergegeben nach der englischen Zitation im ‚Vorwort‘ seines Bru-
ders E. Curtius, in: G. Curtius, Ausgewählte Reden und Vorträge, 1886, XXVI. 118 Vgl. dazu J. Figl, Einleitung. Religionswissenschaft (2003) 21f. 119 Vgl. oben S. 204, Anm. 95. Die aufgezeigte starke Berücksichtigung von Otto Jahn, jenes Philologen, dessentwegen Ritschl Bonn verlassen hat, lässt es übrigens als zweifelhaft erscheinen, dass es sich um die Nachschrift einer Ritschl-Vorlage handelt.
3. Der Terminus „Religionswissenschaft“
215
schaft im philologisch-enzyklopädischen Zusammenhang nachgegangen werden. Der Inhalt der „Encyclopädie“-Vorlesung Friedrich Wilhelm Ritschls wird in Auszügen von seinem Biographen Otto Ribbeck wiedergegeben120. Ritschl hat diese Vorlesung zuerst in Breslau 1835 gehalten, später auch in Bonn – die eigenhändigen Notizen in Ritschls ältestem Heft nennen Daten aus 1839 und 1843121. Trotz dieser weit zurückgehenden Erstaufzeichnungen Ritschls ist nicht auszuschließen, dass Inhalte daraus in aktualisierter Form auch in anderen Vorlesungen122, auch noch in solchen, die Nietzsche (ab 1864/65) hörte123, gebracht wurden, wie das bei anderen bedeutenden Philologen, insbesondere bei Boeckhs „Encyklopädie“-Vorlesung, der Fall war124. In Ritschls Vorlesung werden „bei der Anordnung der einzelnen Disciplinen als propädeutische, formale vorangestellt: Hermeneutik und Kritik“; dann „Grammatik“ und „Metrik“; darauf folgt „die Masse derjenigen, welche die Darstellung des antiken Lebens selbst zum Inhalt haben“125. Bei diesen „materialen Disziplinen“ unterscheidet Ritschl vier: 1) „Litteraturgeschichte“, 2) „politische Geschichte und Antiquitäten“, 3)
_____________ 120 Vgl. O. Ribbeck, Friedrich Wilhelm Ritschl. Ein Beitrag zur Geschichte der
121 122 123 124
125
Philologie, 2 Bde., 1879-1881, Band 1, 1879, 327-339; vgl. H. Cancik: Otto Jahns Vorlesung „Grundzüge der Archäologie“ (1991) 38 Anm. 30; J. Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, 108f. Vgl. O. Ribbeck, a. a. O., Band 1, 327; vgl. 133. Ritschl hat später den Gesamtstoff der Philologie auf einzelne Semester aufgeteilt: vgl. O. Ribbeck, a. a. O., 338f und 243f. Diese Frage könnte nur nach einer genauen Analyse der umfangreichen Kolleg-Mitschriften Nietzsches beantwortet werden. Boeckh hatte von 1809 bis 1865 – in 26 Semestern (!) – Vorlesungen über ‚Encyklopädie der Philologie‘ gehalten, und er legte dabei „seinen Vorträgen bis an das Ende ein 1809 (!) geschriebenes Heft zu Grunde“: E. Bratuscheck, Vorwort, in: A. Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. von E. Bratuscheck, 2. Auflage 1886, III. O. Ribbeck, Friedrich Wilhelm Ritschl. Ein Beitrag zur Geschichte der Philologie, Band 1, 1879, 331.
216
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
„Mythologie, d. i. Dogmengeschichte (!), und die Formen des Cultus: Liturgik (sic!)“, 4) „Das künstlerische Leben, mit Ausschluss der Poesie: Archäologie“126. Diese Aufteilung auf vier Bereiche hat eine gewisse formale Ähnlichkeit mit Nietzsches Skizze; eine inhaltliche Vergleichbarkeit ist darin gegeben, dass in Nietzsches Skizze – ähnlich wie bei Ritschl – die „künstlerische“ Dimension sich nur auf die „bildende“ Kunst (Archäologie) und nicht auf die „redende“ (Poesie) bezieht. Doch diese Differenzierung findet sich ebenfalls bei Georg Curtius, wie im Folgenden aufgezeigt wird (vgl. 3.3.1.); dies mag auch damit zusammenhängen, dass Curtius selbst ein früherer Schüler Ritschls in Bonn war. Was aber im vorliegenden Kontext vor allem im Mittelpunkt der Überlegungen steht, ist der Terminus „Religionswissenschaft“. Dieser ist bei Curtius anzutreffen, Ritschl hingegen verwendet in dem bei Ribbeck abgedruckten Auszug von dessen „Encyklopädie“-Vorlesung den traditionellen Begriff „Mythologie“ (mit Bezug auf O. Müllers ‚Prolegomena‘)127. Ein wichtiger Unterschied zu Curtius ist auch in der Begründung der genannten Aufteilung gegeben: dabei knüpft Ritschl an die Ideen Schellings an: die vier Bereiche des Stoffgebietes des klassischen Altertums werden auf die „vier Ideen des Guten, Heiligen, Schönen, Wahren“ und die dadurch „bedingten Sphären der Sittlichkeit, Religion, Kunst, Wissenschaft“ zurückgeführt128. Im Ge-
_____________ 126 A. a. O., 331f. 127 Vgl. O. Ribbeck, a. a. O., 337. 128 Vgl. F. W. Ritschl, Art. Philologie, in: Conversations-Lexikon 3, 497ff, 501,
und O. Ribbeck, Friedrich Wilhelm Ritschl. Ein Beitrag zur Geschichte der Philologie, Band 1, 1879, 131f. Es sei erwähnt, dass eine Unterteilung in vier Bereiche z. B. auch von August Boeckh vorgenommen wurde: nach ihm bestehen die materialen Disziplinen der Allgemeinen Alterthumskunde in I. Staatsleben, II. Privatleben, III. Cultus und Kunst, IV. Wissen; beim Wissen kommt darüber hinaus die „Mythologie“ zur Sprache. Die Mythologie ist hier ein wichtiger Bereich des materialen Teils der Philologie, und zwar des zweiten und dritten der insgesamt vier Bereiche. Vorangestellt ist hier ebenfalls Hermeneutik und Kritik, die formale Theorie der philologi-
3. Der Terminus „Religionswissenschaft“
217
gensatz dazu wird Friedrich August Wolfs Gliederung der Altertumswissenschaft in 24 Abteilungen von Ritschl in dem erwähnten anonymen „Philologie“-Artikel im Conversations-Lexikon von 1833 „vernichtend charakterisiert und gnadenlos kritisiert“129. In der erwähnten Leipziger Antrittsvorlesung von Georg Curtius, die Nietzsche nach der Tabelle ausdrücklich anführt, werden jedoch diese vier Dimensionen als „vier Hauptseiten einer jeden entwickelten Cultur“ von Wolf her begründet (vgl. 3.3.1.), sodass dieser Teil des Exzerptes bzw. Konzeptes wohl auf den anderen wichtigen Lehrer Nietzsches zurückzuführen ist; bei Curtius hatte Nietzsche immerhin, wie erwähnt, eine „Enzyklopädie“-Vorlesung gehört130, von der allerdings keine Nachschrift existiert, sodass in dieser Hinsicht keine Hilfe für die Entscheidung, auf welche Vorlage sich Nietzsche in diesen „Encyklopädie“-Notizen im Gesamten bezieht, gegeben ist. Diese Überlegungen zusammenfassend ist m. E. anzunehmen, dass sich Nietzsches Verwendung des Begriffs „Religionswissenschaft“ sowie die schematische Gliederung im Ganzen seinem Lehrer Georg Curtius verdankt. Diese Vermutung stützt sich vor
_____________ schen Wissenschaften. Vgl. dazu das erst nach seinem Tod veröffentlichte Werk: A. Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. von E. Bratuscheck, 1886, 52ff: „Entwurf unseres Planes“. 129 B. Kytzler, Jahns populäre Aufsätze „Aus der Alterthumswissenschaft“ (1991) 99. F. A. Wolfs Ueberblick sämmtlicher Theile der Alterthums-Wissenschaft, in dem er diese 24 nennt, bildet den Abschluss seiner ‚Darstellung der Alterthums-Wissenschaft‘, die 1807 erschienen ist: vgl. F. A. Wolf, Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert, mit einem Nachwort von J. Irmscher, 1986, 143-145. 1833, in dem Jahr, in dem Ritschls kritischer Artikel erschien, wurde sie nochmals von S. F. W. Hoffmann herausgegeben. In der Bibliothek Nietzsches befindet sich die Enzyklopädie der Altertumswissenschaft, 1831, als erster Band der Vorlesungen Wolfs, hg. von J. D. Gürtler. 130 Vgl. oben S. 197.
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2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
allem auf die beiden kleinen Schriften von Curtius, die Nietzsche in seiner Niederschrift anführt. 3.3. „Allgemeine Religionswissenschaft“ bei Georg Curtius – eine Quelle für Nietzsches Verständnis dieser Disziplin 3.3.1. „Religion“ als Teil einer Kultur Die von Nietzsche erwähnte Vorlesung von Georg Curtius ‚Philologie und Sprachwissenschaft‘ ist dessen Antrittsvorlesung an der Universität Leipzig (gehalten am 30. April 1862). Darin schließt sich Georg Curtius dem Verständnis der Philologie als Altertumswissenschaft an, welches Friedrich August Wolf begründete, und von dem her sich vier Teile dieser Wissenschaft ergeben: Stellen wir der Philologie in diesem Sinne die Aufgabe das Alterthum in seiner Gesammtheit zu erforschen (…), so bilden die verschiedenen Seiten dieses Alterthums die einzelnen Theile der Wissenschaft, die untereinander völlig gleichberechtigt, sich zu dem Gesammtbilde der antiken Cultur zusammenschliessen. Die vier Hauptseiten einer jeden entwickelten Cultur werden Sprache, Glaube, Kunst und Sitte sein. Eine jede dieser Seiten bildet eine Disciplin der classischen Philologie, wobei es indess wegen der grossen Verschiedenheit der Quellen und des Stoffes nöthig sein wird, die Kunst sofort in die redende und bildende zu sondern und die Wissenschaft von der redenden Kunst oder der Litteratur zu einer Hauptdisciplin zu erheben131.
Damit sind im Wesentlichen die vier Punkte genannt, die Nietzsche – einschließlich der Unterteilung von Kunst in a) redende und b) bildende, was ihn wohl zu einem Punkt 5 kommen ließ – anführt: Sprache, Religion, Literatur, Kunst, Sitte. Diese Gliederung und insbesondere die konstitutive Berücksichtigung der Religion als Teilbereich der Philologie führt Curtius auf Wolf direkt zurück. Denn dieser habe einen universalen Begriff dieser Disziplin gehabt, die er bevorzugt Altertumswissenschaft nannte:
_____________ 131 Vgl. G. Curtius, Philologie und Sprachwissenschaft, 1862, 6.
3. Der Terminus „Religionswissenschaft“
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er sah nämlich deren Ziel in der „Erforschung des gesammten Alterthums“, wobei es nicht allein darum ging, sich auf die Beherrschung der griechischen und lateinischen Sprache zu beschränken und „die alten Autoren sprachlich und sachlich erklären zu können“, sondern es ging ihm um die Erforschung der „antike(n) Cultur überhaupt, wie sie sich in der Sprache, im Glauben, im öffentlichen und Privatleben, in der redenden und bildenden Kunst entfaltet hat“132. Bei diesem Verständnis war die wissenschaftliche Befassung mit dem „Glauben“, also der Religion und Mythologie, in die Philologie eingebunden, weil sie – ebenso wie die Sprache – ein Teil der ganzen Kultur ist. 3.3.2. Vergleichende Sprachwissenschaft und „allgemeine Religionswissenschaft“ Auch der von Nietzsche in der Tabelle133 angeführte doppelte Zusammenhang, nämlich der „allgemeinwissenschaftliche“ (Sprach-, Religions-, Literaturwissenschaft etc.) und der „philologische“ (Klassische, Deutsche Philologie etc.), ist bei Georg Curtius dargelegt: Diese einzelnen Disciplinen haben nun offenbar, so gut wie die Gegenstände, die sie behandeln (scil. griechische Sprache, griechischen Götterglauben, griechische Kunst und Sitte; J. F.), alle einen doppelten Zusammenhang (…) Insofern das Volk das Subject aller jener geistigen Thätigkeiten ist, können wir diesen Zusammenhang den nationalen nennen. Andrerseits aber berührt sich jede Seite des Volkslebens mit der entsprechenden aus dem Leben eines andern Volks (…) Indem man also durch die Masse des zu erforschenden Stoffes einen Durchschnitt in andrer Richtung macht, ergibt sich als Einheit für die verschiedenen Sprachen eine allgemeine Sprachwissenschaft, für den Volksglauben eine allgemeine Religionswissenschaft und so fort. Jede philologische
_____________ 132 G. Curtius, Ueber die Geschichte und Aufgabe der Philologie, 1862, 22f. Vgl.
dazu Nietzsches Tabelle zur ‚Enzyklopädie der Philologie‘, S. 207. 133 Siehe ebd.
220
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit Disciplin lässt sich stofflich einer solchen höheren Einheit unterordnen134.
Curtius scheint eine schematische Darstellung vor Augen zu haben, wenn er vom „Durchschnitt“ spricht, der „in andrer Richtung“ zu machen sei, und der zu einer „allgemeinen“ Wissenschaft führe, die jeweils die einzelnen Teilbereiche (Sprache, Religion etc.) umfasse; in diesem Sinn nennt er hier explizit die „allgemeine Religionswissenschaft“. Diese „allgemeinen“ Disziplinen sind jedoch mit den „Spezial“-Disziplinen verknüpft und überlagern sich wechselseitig; Curtius verwendet den Ausdruck „Kreuzung“: „Es ist klar, dass jener vorher erwähnte nationale und dieser stoffliche Zusammenhang sich kreuzen. Aber gerade diese Kreuzung, diese Bearbeitung desselben Stoffes von verschiedenen Gesichtspunkten aus fördert die Wissenschaft“135. Es kommt zu einer „Kreuzung“ von „nationalen“ (in Nietzsches Tabelle sind es die senkrechten Anordnungen: griechisch, deutsch, indisch etc.) und inhaltlichen Bearbeitungen des Stoffes (bei Nietzsche die waagrecht angeordneten Disziplinen: die einzelnen Wissenschaften). „Allgemeine Religionswissenschaft“136 bedeutet also für Curtius – analog zur „allgemeine(n) Sprachwissenschaft“ – jene höhere Einheit, der sich z. B. die spezielle Befassung mit der griechischen Religion „stofflich (…) unterordnen“ lässt. Curtius geht hier nicht weiter auf die „allgemeine Religionswissenschaft“ ein; er ist vielmehr der Auffassung, dass „von den bezeichneten allgemeinen Disciplinen (…) nun keine so weit ausgebaut und ergebnissreich (ist) wie die allgemeine Sprachwissenschaft“137. Vor diesem wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund
_____________ 134 G. Curtius, Philologie und Sprachwissenschaft, 1862, 7. 135 Ebd. 136 Terminologisch spricht Curtius hier von Religionswissenschaft, aber er
verwendet im vorliegenden Zusammenhang für die religiösen Aspekte einer Kultur andere Ausdrücke, etwa „Volksglauben“ (7), „Götterglauben“ (6), „Mythologie“ (5). 137 G. Curtius, Philologie und Sprachwissenschaft, 1862, 7.
3. Der Terminus „Religionswissenschaft“
221
zu Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts erhellt sich, warum es sich nahegelegt hat, dass der Aufbau einer „allgemeinen Religionswissenschaft“ sich am Modell der „allgemeinen Sprachwissenschaft“, wie dies bei Max Müller zur selben Zeit der Fall war, orientierte. Es ist auch evident, dass unter allgemeiner Sprach- bzw. Religionswissenschaft de facto eine vergleichende Wissenschaft zu verstehen ist, wie die nähere Darlegung des Verhältnisses zur „besonderen Sprachwissenschaft“ von Curtius deutlich zeigt. 3.3.3. Verhältnis von „allgemeiner“ und „besonderer“ Sprachwissenschaft Das Verhältnis zwischen allgemeiner und spezieller Wissenschaft führt Curtius am Beispiel der Sprachwissenschaft aus. Es geht um die Notwendigkeit einer „wechselseitigen Ergänzung“138 von allgemeiner und spezieller Sprachwissenschaft: Je geistiger, feiner, reicher das Object der Sprache ist, desto weniger wird das Studium irgend einer einzelnen Sprache des Zusammenhanges mit der allgemeinen Sprachwissenschaft entbehren können. Und umgekehrt, insofern die Sprachen der Griechen und Römer uns in einer reichen Fülle von Werken der redenden Kunst vorliegen, (…) kann eine Behandlung von allgemeinen Gesichtspunkten aus unmöglich genügen (…)139.
Diese These exemplifiziert er an der „Wichtigkeit der vergleichenden (!) Sprachforschung für die Philologie“140: er weist hin auf die Kenntnis „der wunderbar regelmässigen und durchsichtigen Sanskritsprache“, auf die von Franz Bopp, Wilhelm von Humboldt und Jacob Grimm ausgehenden „belebenden Antriebe der allgemeinen Sprachforschung“141, und er stellt fest: „Diese Zeit, die wir die indogermanische Periode nennen wollen, bildet den Hintergrund für das Einzelleben der genannten Sprachen und Völker. Die Entdeckung des indogermanischen Sprachstammes allein ist eine
_____________ 138 139 140 141
A. a. O., 8. A. a. O., 7. A. a. O., 16. A. a. O., 8.
222
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
Thatsache von unendlicher Wichtigkeit auch für den classischen Philologen“. Diesen Hintergrund gelte es zu erforschen, denn er führe in eine Zeit, „die weit jenseit (sic!) aller geschichtlichen Ueberlieferung, ja jenseit der Existenz der einzelnen Völker liegt“. Die „nationalen“ Sprachen sind so von ihrem Sprachstamm, von der Sprachfamilie her zu verstehen, also von einer „unendlich viel älteren“ Zeit her. Daher gilt: Eine jede Sprache ist ihrer Grundlage nach etwas transnationales und eben deshalb von dem Standpunkte des Philologen allein nicht völlig zu begreifendes.
Dieses „Transnationale“ ist vor den einzelnen Kulturen anzutreffen – es ist die „indogermanische Periode“, wie Curtius sie nennt. Seit der „Entdeckung des indogermanischen Sprachstammes“ hat sich „wie durch einen Riss in die verhüllenden Nebelwolken eine lichte Vorwelt in scharfen Umrissen aufgethan“142; und es ist die komparative Methode, die das ermöglichte: Die Vergleichung der als verwandt erkannten Sprachen unter einander, die Analyse der Formen, die Ausscheidung des allen gemeinsamen von dem jeder Sprache eigenthümlichen, das sind die einfachen, leicht begreiflichen und bei besonnener Anwendung untrüglichen Mittel um in jene Vorwelt und damit zu jener sprachlichen Grundlage zu gelangen, auf welcher sich der Bau der Griechen- und Römersprache erhob143.
Es geht darum, Sprache „in ihrem Ursprung und allmählichen Werden“ zu begreifen144. Nach diesem Konzept sind somit Vergleichung und Einsicht in deren Ursprung eng zusammengehörig: diese Methodik ermöglicht die Kenntnis von Anfang und Entwicklung einer Kultur. Nietzsche konnte dieser – in seiner Terminologie – „genealogisch“ orientierten Analyse von Kulturen in Schriften und wohl auch in Vorlesungen von Georg Curtius begeg-
_____________ 142 A. a. O., 9. 143 A. a. O., 10; von „römische(r)“ Sprache ist auch in Nietzsches Tabelle
(vgl. oben S. 207) die Rede. 144 A. a. O., 9.
3. Der Terminus „Religionswissenschaft“
223
nen, der, wie erwähnt wurde145, explizit die Genealogie im Zusammenhang mit der Sprachvergleichung behandelte. Hier sind Ansätze für die Frage nach den Ursprüngen gegeben, für die die Komparatistik grundlegend ist. Dieses Konzept ermöglicht zunächst den Blick auf die archaischen Anfänge der klassischen Kultur (Griechen, Römer) und öffnet diese – besonders durch die Indogermanistik und die Sanskrit-Studien – zu anderen Völkern und insbesondere auch zu der Kultur Indiens hin. Diese methodologischen (und inhaltlichen) Ansätze haben Nietzsches weiteren wissenschaftlichen Weg als Professor der Altphilologie begleitet und auch seine späteren philosophischen Perspektiven mitbestimmt. 3.3.4. Ausweitung der altertumswissenschaftlichen Studien auf außereuropäische Kulturen Georg Curtius hebt weiters hervor, die Bedeutung von Friedrich August Wolf habe auch darin bestanden, dass seine Anregung „weit über die Gränze der griechischen und römischen Welt ging“; und es stellte sich insbesondere seit der Romantik die Frage: „(…) warum sollte man nicht auch andre Völker als die Griechen und Römer in ähnlicher Weise erforschen?“ Während das „hebräische Alterthum (…) schon längst fleissig erkundet (war)“, habe die romantische Poesie die indische Welt erschlossen: Am Ganges entdeckte man ein Alterthum, älter als das griechische, eine Sprache, deren Erforschung zu ganz ungeahnten Aufschlüssen über die Abstammung und die Wanderungen der Culturvölker der Welt führte146.
Es wird zudem auf die vielfältigen Entdeckungen und Ausgrabungen seit Anfang des 19. Jahrhunderts hingewiesen, auf die Entschlüsselung der Hieroglyphen durch Champollion, auf die orientalistischen Studien generell, die das Arabische und Persische betrafen, und auf die archäologischen Ausgrabungen von Persepolis, Babylon und Ninive, die eine verschüttete Kulturwelt zum Gegen-
_____________ 145 Vgl. oben S. 201. 146 G. Curtius, Ueber die Geschichte und Aufgabe der Philologie, 1862, 23.
224
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
stand der Forschung machten, sodass man „jetzt verschiedene Philologien nach den Völkern, mit denen es eine jede zu thun hat, (unterscheidet)“; obwohl es für Curtius klar ist, dass weiterhin die klassische Kultur „nächst dem Christentum (…) die wichtigste Grundlage der gesammten neueren Bildung (bleibt)“, führt dies zu einer Erweiterung des Horizonts: „Denn wir sahen ja, dass jetzt längst der Wahn verschwunden ist, als ob die Griechen und Römer allein grosses hervorgebracht hätten“, und Curtius umreißt die „transkulturelle“ Perspektive der philologisch-historischen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts in folgenden dem Zeitgeist entsprechenden Formulierungen: „Jedes Volk entfaltet sein eigenstes Wesen, das der Erforschung und Aufbewahrung werth ist. Neben der Klarheit und Anmuth der Hellenen, neben dem thatkräftigen Ernst der Römer hat auch der tiefsinnige Spiritualismus der Inder, die Phantasie der Araber, die sinnige und gemüthvolle Art unsers deutschen Volks ihre eigenthümliche Grösse“147. Trotz dieser „universalen“ Perspektive kann nicht übersehen werden, dass in der Beurteilung der außereuropäischen Kulturen selbst bei Curtius bisweilen eine diskriminierende Terminologie anzutreffen ist148. 3.3.5. „Transnationale“ und universale Perspektiven Schon über ein Jahrzehnt vor der ausführlich dargestellten Kieler Antrittsvorlesung hat Curtius die das „Nationale“ ansatzhaft überbietende Dimension des „Humanen“ zum Ausdruck gebracht, und zwar in der Antrittsvorlesung in Prag, wohin er 1849 berufen worden war149.
_____________ 147 A. a. O., 25f. 148 Vgl. ders., Philologie und Sprachwissenschaft, 1862, 8, wo er von „den Spra-
chen culturloser (!) Völker America’s, Africa’s, Asiens“ spricht. 149 Vgl. G. Curtius, Ueber die Bedeutung des Studiums der klassischen Litteratur
(Eine Antrittsvorlesung, gehalten in Prag am 26. October 1849), 1849. Curtius war auch deshalb nach Prag berufen worden, um das Griechisch-Studium in Österreich zu erneuern, was ihm besonders durch seine Griechische Schulgrammatik gelungen ist; sie ist 1852 erschienen und gehörte Ende des 19. Jahrhunderts „in Österreich wie in Deutschland zu den
3. Der Terminus „Religionswissenschaft“
225
Angesichts der Infragestellung der Ausbildung der Jugend in der klassischen Literatur weist er darauf hin, dass das Studium der griechisch-römischen Antike die Befassung mit der eigenen, „nationalen“ Literatur, deren Berechtigung er nicht infrage stellt, doch in einen weiteren Rahmen stellt, der die Herausforderung des „Fremden“ zeigt: Aber das Eigne, wenn es auch noch so werthvoll ist, ist darum nicht gerade der beste Stoff für ein kräftiges Arbeiten. Die Kraft erprobt sich am besten am fremden Stoffe; gestärkt mag sie dann auch und daneben dem Eignen sich zuwenden150.
Sein Resümee lautet: Und wahrlich mit der strengen Abgeschlossenheit der Nationen ist es doch auch nicht gethan. Da namentlich wo verschiedene Völker berufen sind in friedlicher Gemeinschaft fortzuschreiten kommt es wahrlich nicht bloss darauf an national, es kommt auch wesentlich darauf an human zu sein151.
Eine kulturenüberschreitende Perspektive ergibt sich für Georg Curtius aus der Sprachvergleichung der indoeuropäischen Sprachen, die als solche zeige, dass jede Sprache etwas „transnationales“
_____________ verbreitetsten Grammatiken“ (Art. Curtius, G., in: Allgemeine Deutsche Biographie, 398); sie wurde noch im 20. Jahrhundert verwendet (vgl. z. B. die Ausgabe von 1959 und in Überarbeitungen neu aufgelegt: vgl. W. von Hartel [Bearb.], Griechische Schulgrammatik, 1988). Curtius spricht den bildungspolitischen Hintergrund in dieser Prager Antrittsvorlesung wiederholt an, und er meint: „Eine neue Epoche ist für die classischen Studien in Oesterreich angebrochen“ (a. a. O., 109, vgl. 89). – Über ein Jahrzehnt später (1863) sind von Curtius Erläuterungen zu meiner griechischen Schulgrammatik erschienen, wo wiederholt auf die indogermanische Sprachverwandtschaft eingegangen wird; dieses Werk hat Nietzsche erworben; es befindet sich in seiner Bibliothek (2. Auflage von 1870); die Griechische Schulgrammatik hat er zwar bestellt, aber sie ist nicht in der Bibliothek Nietzsches: vgl. G. Campioni u. a. (Hg.), Nietzsches persönliche Bibliothek, 2003, 176. 150 G. Curtius, Ueber die Bedeutung des Studiums der klasssischen Litteratur, 1849, 28f. 151 Ebd.
226
2. Kapitel: Nietzsches Studienzeit
sei152. Er zielt mithin – zumindest als Programm – eine universale Perspektive an. Nachdem er als ein gemeinsames Ergebnis der Sprach- und der „ihr nah verwandte(n) Mythenforschung“ die Tatsache herausgestellt hat, dass die verschiedenen Völker wie Inder, Perser, Griechen, Germanen usw. „eines Ursprungs sind“153, trifft er am Schluss seiner Ausführungen – unter Berufung auf Max Müller, für den die von Curtius angedeutete enge Sprach- und Mythenforschung maßgebend war – folgende Feststellung: Aber nicht auf diese Völker, welche sich auf solche Weise zu der einen grossen Gruppe der indogermanischen oder indoeuropäischen vereinigen, beschränkt sich die Philologie. Alle Völkercultur dient ihr zum Gegenstand und ihr letztes Ziel kann man kaum bedeutungsvoller bezeichnen als mit den Worten eines deutschen Orientalisten in Oxford, Max Müller: das Ziel der Philologie in ihrem höchsten Sinne ist nur eins, zu lernen was der Mensch ist, indem sie lernt was er gewesen ist 154.
Durch die wissenschaftliche Ausbildung konnte eine Relativierung des Eurozentrismus, aber auch des das 19. Jahrhundert prägenden Nationalismus, der ebenfalls in Nietzsches Bildungsweg anzutreffen war155, mit herbeigeführt werden. Demgegenüber wird durch solche wissenschaftliche Ansätze ein „transnationaler“ und transkultureller Horizont für das Bild vom und die Bildung des Menschen eröffnet, der – von den indoeuropäischen Völkern ausgehend – eine alle Völker umfassende Perspektive vor Augen hat. Das pragmatische Bildungsziel klassischer Studien bleibt aber formal erhalten: aus dem, was der Mensch war, zu lernen, was er ist – ein anthropologisches Programm, das Nietzsche später ohne Einschränkungen durchgeführt hat, mit einem Resultat, das nicht mehr „humanistisch“ im klassischen Sinn
_____________ 152 Vgl. G. Curtius, Philologie und Sprachwissenschaft, 1862, 9, dazu oben S. 222. 153 G. Curtius, Ueber die Geschichte und Aufgabe der Philologie, 1862, 31. 154 Ebd. Vgl. zum „allgemein Menschliche(n) in allen (…) Religionen“ bei
Müller (Essays, Band 1, 1869, XXXI). 155 Vgl. oben S. 100 mit Anm. 238.
3. Der Terminus „Religionswissenschaft“
227
war, sondern eine neue Form und Sichtweise des Humanen konzipierte. Die hier an einem repräsentativen Autor, der ein wichtiger Lehrer Nietzsches war, exemplarisch skizzierte Öffnung der philologischen Studien auf andere Kulturen hin, ist ein Resultat des Bewusstwerdens der Vielfalt religiöser und kultureller Ausdrucksformen in der Geschichte, aber auch der Pluralität rezenter Ethnien. Obwohl die europäischen Nationen anderen Kulturen vielfach weiterhin in kolonialistischer und diskriminierender Weise begegneten156, konnte in allgemein vermittelten Bildungsinhalten des 19. Jahrhunderts von dieser Pluralität nicht mehr abgesehen werden, und durch die erwähnten wissenschaftlichen Intentionen war, wie Georg Curtius unter Berufung auf Max Müller sagt, eine universelle Sicht eröffnet worden, die im Prinzip eine neue Beurteilung der Religionen anderer Völker ermöglichte.
_____________ 156 Vgl. dazu auch die Diskriminierungen innerhalb wissenschaftlicher Dis-
ziplinen im folgenden Kapitel: S. 247, Anm. 32; S. 266 mit Anm. 78f.
3. Kapitel: Religionswissenschaftlich relevante Fragen in Nietzsches akademischer Tätigkeit
3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
1. Lektüre von Max Müllers ‚Essays‘
1. Lektüre von M. Müllers ,Essays‘ 1.1. Exzerpte aus Müllers religionswissenschaftlichen Aufsätzen Max Müller hat selbst in Leipzig studiert, an jener Universität, an der auch Nietzsche den größten Teil seines Studiums absolviert hat. Der Begründer der Religionswissenschaft hat mit Interesse die Entwicklung der vergleichenden Sprachwissenschaft an seiner Heimatuniversität verfolgt und mit Anerkennung die Integration von grundlegenden Sanskrit-Kenntnissen in das Studium der Klassischen Philologie gewürdigt; und er hat in diesem Kontext besonders auf Georg Curtius verwiesen1, der später auch Nietzsches Lehrer war. Allein vor diesem lokalgeschichtlichen und biographischen Hintergrund ist es nicht überraschend, dass Max Müller für Nietzsche kein völlig unbekannter Autor war. Doch es sind weitere sachliche und wissenschaftsgeschichtliche Gründe zu nennen, die zu einer frühen Begegnung Nietzsches mit Werken dieses Wissenschaftlers beigetragen haben: einige der wichtigen Veröffentlichungen Müllers, insbesondere aus dem Bereich der Sprachwissenschaft und der vergleichenden Mythologie, sind innerhalb der Philologie rezipiert worden; und er selbst war Philologe. Wie oben erwähnt2, kann aus Nietzsches Nachschrift der Vorlesung über die ‚Geschichte der griechischen Literatur‘ von Georg Curtius entnom-
_____________ 1 2
Siehe oben S. 188. Vgl. S. 199f.
230
3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
men werden, dass dieser auf die Vorlesungen über Sprachwissenschaft von Max Müller verwiesen hatte, sowie auf dessen Werk ‚Comparative Mythology‘ von 18563. Auch Friedrich Ritschl nannte in seinem Kolleg Max Müllers ‚Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache‘4. Einige Jahre später, im November 1869, im zweiten Semester seiner Professorentätigkeit, hat Nietzsche dieses Werk Max Müllers, ‚Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache‘ (übersetzt und bearbeitet von C. Böttger [Leipzig 1863-1866]), und im Oktober 1875 dessen ‚Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft‘ (1874) aus der Universitätsbibliothek Basel entlehnt5. 1869/70 hat sich Nietzsche, wie aus nachgelassenen Aufzeichnungen dieser Zeit hervorgeht, selbst religionsgeschichtliche Projekte überlegt: er gedenkt „Hefte (…) zur Religionsgeschichte (anzulegen)“ (KGW III 3, 61: 3 [9]) und nennt unter eventuellen Themen (mit Fragezeichen versehen) die „Geschichte des Christenthums“ und „Der Buddhismus“ (78: 3 [67]). Schon im Jahr 1870 wandte er sich Müllers ‚Essays‘6 zu, von denen die ersten zwei Bände 1869 in Leipzig in deutscher Übersetzung erschienen waren. Der erste Band hatte den Untertitel: ‚Beiträge zur vergleichenden Religionswissenschaft‘. Auch im ‚Vorwort‘ dazu findet sich die Verwendung des Ausdrucks „Religionswissenschaft“ in dem neuen fachspezifischen Sinn, z. B. wenn er sagt: „Mein Zweck beim Schreiben dieser Essays war hauptsächlich der, das Interesse für vergleichende Religionswissenschaft
_____________ 3
4 5
6
Dieser Beitrag wird später nochmals im Band 2 der ‚Essays‘ veröffentlicht, der sich in der Bibliothek Nietzsches befindet: siehe Anm. 12 in diesem Kapitel. Vgl. oben S. 195. Vgl. L. Crescenzi, Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in Basel entliehenen Bücher (1869-1879), in: Nietzsche-Studien 23 (1994) 388-442, bes. 393 und 435. Sie wurden nach der zweiten englischen Ausgabe mit Autorisation des Verfassers ins Deutsche übertragen.
1. Lektüre von M. Müllers ,Essays‘
231
und vergleichende Mythologie anzuregen, und die Quellen nachzuweisen, in denen ein ernster Forscher weitere Belehrung finden kann“7. Dort ist auch die von Müller intendierte Orientierung an der Sprachwissenschaft angesprochen, die aufgrund der Sprachvergleichung eine komparative Wissenschaft war. Die vergleichende Methode sollte nun auch für die Begegnung mit den Religionen die maßgebende sein. Müller war sich bewusst, „dass der Geist der Wissenschaft in unserm Jahrhundert ein vergleichender“8 sei; und er stellte die Frage, was „uns“ denn hindern sollte, „die vergleichende Methode, die so grosse Resultate in anderen Regionen des Wissens zu Tage gefördert hat, auch auf das Studium der Religionen anzuwenden“9. Einen Spruch Goethes paraphrasierend meinte er, dass der Satz „Wer eine kennt, kennt keine“ nicht nur für das vergleichende Studium der Sprachen zutreffe, sondern dass „ganz dasselbe (…) von den Religionen“10 gelte. Im Hinblick darauf lag es nahe, dass jene Vorgangsweise, die für die damalige Sprachwissenschaft eine maßgebende war, konsequenterweise auch auf die Religionen angewandt werden konnte und sollte. Für die Realisierung dieses Vorhabens sah er allerdings in den ‚Essays‘ Schwierigkeiten, da er daran zweifelte, „ob der Zeitpunkt schon da ist, um, nach dem Vorbilde der Sprachwissenschaft, den Plan einer Religionswissenschaft mit Sicherheit zu entwerfen“11. Den Inhalt des zweiten Bandes der ‚Essays‘ bilden ‚Beiträge zur vergleichenden Mythologie und Ethologie‘12. Beide Bände wa-
_____________ 7 8 9 10 11 12
M. Müller, Essays, Band 1, 1869, XXXI. Ders., Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft, 1874, 10. A. a. O., 13. A. a. O., 14. Ders., Essays, Band 1, 1869, IX. Letzterer Band befindet sich noch heute in der Bibliothek Nietzsches. Inzwischen liegt auch der entsprechende Nachbericht zur dritten Abteilung der KGW vor, in dem ein Großteil der von Nietzsche exzerpierten
232
3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
ren für Nietzsche wichtig geworden. Aus ihnen hat er von September 1870 bis Januar 1871 mehrere Stellen exzerpiert, sich zum Teil aber zugleich kritisch mit den weltanschaulichen Auffassungen Max Müllers auseinandergesetzt. Der zweite Band war für Nietzsche aus der Perspektive der Klassischen Philologie wohl von besonderem Interesse. Darin finden sich u. a. Aufsätze über ‚Griechische Mythologie‘ und ‚Griechische Sagen‘ (128-138 bzw. 139152), der wichtigste Beitrag in diesem Band ist jedoch die grundlegende Abhandlung ‚Vergleichende Mythologie‘ (1-127), die ursprünglich (‚Comparative Mythology‘, London 1856) in englischer Sprache erschienen war; darauf hatte Curtius in seiner Vorlesung hingewiesen; auch Nietzsche selbst verweist seine Hörer im folgenden Sommersemester (1871) in der „Encyclopädie“-Vorlesung auf „M. Müller ‚comparative Mythologie‘ in den Essays“ (KGW II 3, 410). Aus der Abhandlung ‚Vergleichende Mythologie‘ hat Nietzsche im Winter 1870/71 unter anderem folgende Notiz exzerpiert: „Geenar wurde von Atli gebunden und unter die Schlangen geworfen. Doch selbst die Schlangen bezaubert er, indem er mit den Zähnen auf der Harfe spielt, bis endlich eine der Vipern an ihm emporkriecht und ihn tödtet“ (KGW III 3, 112: 5 [65])13. Die Stelle, deren erster Satz nur inhaltlich wiedergegeben ist, steht bei Müller (Band 2, 98) im Kontext von Themenkreisen, die Nietzsche vom Gymnasium her, wie oben erwähnt wurde14, sehr vertraut waren – nämlich des Gudrun-Liedes, des Nibelungenliedes und der Gestalt des Ermanarich. Müller will an dieser Stelle auch zeigen, wie diese deutsche Sage auf den griechischen Mythos anzuwenden ist (vgl. 99). Nietzsche hatte sich mit diesem Themenkreis schon im Gymnasium, gerade auch in vergleichender Hinsicht, befasst.
_____________ Stellen aus den Aufsätzen Max Müllers nachgewiesen wird (vgl. KGW III 5/2, Nb. 1511-1514). 13 „Geenar“ ist zu korrigieren in: „Gunnar“, vgl. KGW III 5/2, Nb. 963. 14 Siehe oben S. 90f, S. 94f und S. 112.
1. Lektüre von M. Müllers ,Essays‘
233
Der erste Band scheint für Nietzsche unter anderem deswegen besonders wichtig geworden zu sein, weil sich in ihm wichtige Ausführungen zum Buddhismus finden, wie ‚Über den Buddhismus‘ (162-204), ‚Buddhistische Pilger‘ (205-241)15 und ‚Die Bedeutung von Nirvāna‘ (242-252). Aus diesen Schriften, besonders aus den ‚Buddhistischen Pilgern‘, hat Nietzsche wiederholt zitiert16. Texte in diesen Bänden sind zentrale Quellen für seine spätere Rede vom „Tod Gottes“, wie insbesondere das „urgermanische Wort: alle Götter müssen sterben“ (KGW III 3, 129: 5 [115])17. Diese Exzerpte stehen wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit dem Buddhismus im Kontext der Ausarbeitung der ‚Geburt der Tragödie‘. Wohl in Hinblick darauf hat sich Nietzsche im Oktober 1870 zudem das Werk ‚Die Religion des Buddha‘ (2 Bände, Berlin 1857-1859) von Carl Friedrich Koeppen ausgeborgt18. Nietzsche gibt in seinen Exzerpten auch Verse aus dem wichtigen Hymnus 129 aus dem 10. Buch des Rigveda wieder19. Ein
_____________ 15 Vgl. dazu unten S. 307, Anm. 55. 16 Vgl. KGW III 5/2, Nb. 1513, Kommentar zu folgenden Fragmenten: 5
[56]-[64]; zu allen drei buddhistischen Artikeln vgl. KGW III 3, 104f: 5 [31]. 17 Vgl. dazu M. Müller, Buddhistische Pilger, in: ders., Essays, Band 1, 1869, 211f, KGW III 5/2, Nb. 1515, und generell J. Figl, ‚Tod Gottes‘ und die Möglichkeit ‚neuer Götter‘, in: Nietzsche-Studien 29 (2000) 82101, bes. 89f. Siehe unten S. 301ff. 18 Vgl. L. Crescenzi, Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in Basel entliehenen Bücher (1994) 401. Vgl. dazu generell B. Spannhake, Umwertung einer Quelle. Vergleichende Anmerkungen zur Buddhismus-Interpretation des jungen Nietzsche in ,Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘ und der Studie Carl Friedrich Koeppens über ,Die Religion des Buddha und ihre Entstehung‘, in: Nietzsche-Studien 28 (1999) 156-193. Siehe S. 276 mit Anm. 8. 19 Vgl. KGW III 5/2, Nb. 1512 zu: 5 [53]; die Rigveda-Stelle stammt aus Müllers Beitrag ‚Der Veda und Zendavesta‘, in: ders., Essays, Band 1, 1869, 74.
234
3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
weiterer Beitrag in diesem Band lautet: ‚Die Werke des Confuzius‘ (264-271). Nachweislich ist er in Müllers ‚Essays‘ ebenfalls der Religion des Zarathustra (Zoroaster) begegnet, und er exzerpiert einige Stellen aus dem Aufsatz ‚Die heutigen Parsis‘ (144-161)20. Im ersten Band von Müller finden sich weitere Aufsätze über den Zendavesta (vgl. 60ff, 106ff, 124ff, 129ff). Nietzsche konnte hier den Horizont über die klassische Welt der Griechen (und Römer) hinaus ausweiten – nicht nur zu den verwandten indogermanischen Sprachen und den betreffenden Religionen hin, wie insbesondere zum Buddhismus, Hinduismus und Zoroastrismus bzw. Parsismus; auch Kenntnisse über fernöstliche Kulturen (wie beispielsweise den Konfuzianismus) wurden durch Müllers Werke vermittelt – bis hin zu Aussagen über indigene Völker, wie z. B. die Wiedergabe einer Notiz Müllers bei Nietzsche zeigt: Müller spricht im Kontext seiner naturmythologischen Überlegungen davon, dass in jeder Religion eine Entwicklung von der polytheistischen Mythologie, in der z. B. der Gott, der die Sonne präsentiere, mit dem Untergang der Sonne identifiziert wurde („Die Sonne muß untergehen, und die Sonnengötter müssen sterben“), zur Auffassung einer unsichtbaren höchsten Gottheit hin („der unbekannte Gott“, das Fatum) festzustellen sei; auch in Peru sei dies der Fall21. In Nietzsches Notiz wird aber nur mehr der „freidenkerische“ Aspekt dieses Prozesses festgehalten und in der unmittelbar folgenden Notiz die Auffassung ausgesprochen: „ ,Alle Götter müssen sterben‘ “ – diesmal aus der germanischen Mythologie entnommen (KGW III 3, 111: 5 [57]).
_____________ 20 Vgl. dazu KGW III 3, 110f: 5 [54]-[55] und KGW III 5/2, Nb. 1513.
Frühere Notizen (1867) zu Zoroaster finden sich in KGW I 4, 311f: 54 [1], Anm. 1 und 2. Vgl. oben S. 164f mit Anm. 9f. 21 Vgl. M. Müller, Buddhistische Pilger, in: ders., Essays, Band 1, 1869, 210f.
1. Lektüre von M. Müllers ,Essays‘
235
1.2. Kritik an Max Müllers Weltanschauung Die Rezeption mancher Stellen aus Max Müllers Werken bedeutet keineswegs, dass er mit der weltanschaulichen Einstellung dieses Sprach- und Religionswissenschaftlers einverstanden gewesen wäre. Müller war bekanntlich glaubensmäßig an das Christentum gebunden. In seinen persönlichen Notizen notiert Nietzsche Folgendes: „Max Müller ist an den Pranger zu stellen als ein das deutsche Wesen verleugnender, in englischem Aberglauben untergegangener Deutscher (…) (Essays, I p. 203.)“ (KGW III 3, 113: 5 [71]). Die Stelle, die Nietzsche hier bei Max Müller meint, ist auf Arthur Schopenhauer zu beziehen, aus dem Müller, ohne allerdings den Namen zu nennen, zitiert. Er spricht von ihm als einem „moderne(n) deutsche(n) Philosoph(en)“, der sagt: In seinem objectiven Werthe ist es mehr als zweifelhaft, dass das Leben dem Nichts vorzuziehen. Ich sollte meinen, dass, wenn Erfahrung und Nachdenken ihre Stimme erheben könnten, sie uns das Nichts anempfehlen würden. Wir sind was wir nicht sein sollten, und werden daher aufhören zu sein22 –
eine Auffassung, die Müller im Zusammenhang mit der Erörterung des Verständnisses von Nirvāna bei Buddha zurückweist23. Auch mit anderen Auffassungen, insbesondere mit der monotheistischen Position, die Müller darstellt und selbst vertritt, setzt sich Nietzsche schon damals und in der Folgezeit kritisch auseinander24. Der religiöse Standpunkt Müllers zeigt sich vor allem auch darin, dass er mit seinen ‚Essays‘ „einen höhern Zweck verfolgen“ will, nämlich „theils das allgemein Menschliche in allen und jeden Religionen deutlich hervorzuheben, theils das Ewig-Wahre und Unvergängliche in allen Formen des Glaubens und der Gottesver-
_____________ 22 Aus dem Aufsatz ‚Ueber den Buddhismus‘, in: M. Müller, Essays, Band
1, 1869, 203 (vgl. KGW III 5/2, Nb. 1514). 23 Vgl. a. a. O., 204. 24 Vgl. dazu S. 304ff.
236
3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
ehrung nachzuweisen“25. Max Müller befolgte noch nicht jene strikte Enthaltung gegenüber dem Wahrheitsverständnis der Religionen, wie sie die spätere, vor allem in kritischer Auseinandersetzung mit der Religionsphänomenologie sich entwickelnde Religionswissenschaft kennzeichnet26; seine Forschungen waren noch mit einem weltanschaulich-religiösen Interesse verknüpft. Dieses allerdings stand im Gegensatz zu dem religionskritisch-atheistischen Standpunkt, den Nietzsche unzweifelhaft schon zur damaligen Zeit vertrat.
2. Darlegung der vergleichenden Sprachwissenschaft („Grammatik“-Vorlesung)
2. Darlegung der Vergleichenden Sprachwissenschaft Um Nietzsches Verhältnis zur damals entstehenden vergleichenden Religionswissenschaft angemessen beurteilen zu können, ist es notwendig, seine Sicht der vergleichenden Sprachwissenschaft, die damals schon einige Jahrzehnte praktiziert worden ist, zur Kenntnis zu nehmen; denn wie erwähnt war das religionswissenschaftliche Konzept Max Müllers am Modell der vergleichenden Sprachwissenschaft orientiert, und von der Stellungnahme dazu hängt indirekt auch ab, wie die Bedeutung der Vergleichung innerhalb der Religionsforschung gewürdigt wird. Nietzsche ist der vergleichenden Sprach- und Literaturforschung vielfach in seiner Ausbildung begegnet. Schon im Gymnasium hat er sich mit einschlägigen Fragen selbst befasst, und auch während des Studiums setzte er sich wiederholt mit der Verwandtschaft der Sprachen und Literaturen auseinander27. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass auch innerhalb der Vorlesungen, die Nietzsche als Professor der Klassi-
_____________ 25 M. Müller, Essays, Band 1, 1869, XXXIs. 26 Vgl. J. Figl, Einleitung. Religionswissenschaft, in: ders. (Hg.), Handbuch
Religionswissenschaft, 2003, 26ff. 27 Siehe oben, z. B. S. 113ff, S. 208ff.
2. Darlegung der Vergleichenden Sprachwissenschaft
237
schen Philologie gehalten hat, die Frage der Sprachverwandtschaft in verschiedenen Zusammenhängen erörtert wird. So z. B. widmet er dieser Thematik in den ‚Vorlesungen über lateinische Grammatik‘ (KGW II 2, 183-310) im Wintersemester 1869/70 ein eigenes ‚Cap. 2. Das Lateinische in seiner Verwandtschaft mit anderen Sprachen‘ (188-194). Dabei geht er von der Tatsache aus, dass die Verwandtschaft des Lateinischen und Griechischen „erst durch Kenntnißnahme des Sanscrit entdeckt wurde“ (189). Er weist auf William Jones (1746-1794) und auf den Beginn der europäischen Sanskrit-Forschung hin; dieser hat, wie Nietzsche hier ausführt, das Gesetzbuch des Manu, das Drama Śakuntalā und auch einen Hymnus des Rigveda übersetzt und den Druck des ersten Sanskrit-Werkes besorgt. „Er ahnte auch die Verwandtschaft der Mythologien“ (ebd.). Dann konzentriert er sich auf die großen Vertreter der vergleichenden Sprachwissenschaft seit Anfang des 19. Jahrhunderts – Friedrich Schlegel, Jacob Grimm, Franz Bopp und Wilhelm von Humboldt. Alle einschlägigen Werke werden für die Hörer kurz referiert, wie Schlegels ‚Ueber die Sprache und Weisheit der Inder. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde‘ (1808); dadurch sei „das Studium des Sanscrit in die deutsche Wissenschaft eingeführt worden“ (ebd.). Er weist darauf hin, dass in Schlegels Werk über die Sprache „zum ersten Male der Ausdruck vergleich. Grammatik“ vorkomme, und dass darin „die Verwandtschaft des Sanscrit mit der römischen (sic!) u. griech. german. u. pers. Sprache (…) dem unbefangenen Forscher als einfache Thatsache sich darbiete“ (190). Von den Personalpronomina in Sanskrit (asmi, asi, asti) ausgehend werden dann die Singular-Präsens-Formen in dreizehn verwandten Sprachen vergleichend dargestellt. Besonders wird hier die Bedeutung von Franz Bopps grundlegendem Werk von 1816 „über das Konjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griech. latein. pers. und german. Sprache“ gewürdigt sowie dessen „vergleich. Grammatik des Sanskrit Zend Griechischen Lateinischen Litthauischen Gothischen u. Deutschen“, deren erste Abteilung 1833 erschien, genannt (191).
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3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
Zusammenfassend werden die drei Gruppen der „indogermanische(n) Sprachenfamilie“ aufgezählt: die „asiatische“, die „südwestlicheuropäische“ und die „nördlicheuropäische“, wobei Nietzsche hinzufügt, dass „das Altindische (einschließlich Theile des Veda) (…) zur asiatischen gehört“ (193). Ebenso wird die „Hauptidee“ von Wilhelm von Humboldt dargelegt, „daß die Sprachenverschiedenheit auf die Charakterverschiedenheit der Völker zurückgeht“ (192). In diesem Zusammenhang werden auch Rückschlüsse auf die indogermanische Periode anhand zentraler Verwandtschaftsbezeichnungen in Sanskrit und auf Deutsch (z. B. „Vater pitar heißt ‚Beschützer‘ “) aufgewiesen (ebd.). Die verschiedenen Studien zusammenfassend stellt er fest, dass man so „auf die indogermanische Ursprache (kommt): diese ist ebensowohl uritalisch urgriechisch urdeutsch urindisch usw.“ (194); und er fügt graphisch einen Sprachenstammbaum bei28, der von der „indogermanische(n) Ursprache“ bis zum Deutschen, Griechischen, Indischen, Iranischen und zu weiteren indogermanischen Sprachen führt (ebd. mit Anm. 3).
3. Resultate und Grenzen der komparativen Methodik („Enzyklopädie“-Vorlesung)
3. Grenzen der komparativen Methodik Etwa drei Jahre nach den exzerpthaften Aufzeichnungen zur ‚Encyclopädie der Philologie‘ hat Nietzsche als Professor in Basel selbst eine Vorlesung zu diesem Thema gehalten. Deren Titel lautet: ‚Encyclopädie der klassischen Philologie und Einleitung in das Studium derselben‘ (KGW II 3, 341-437). Sie hat einen ähnlichen Aufbau wie das genannte Exzerpt: die historische Darstel-
_____________ 28 Dieser auf A. Schleicher (1866) zurückgehende Stammbaum gilt noch in
der heutigen Indogermanistik als „das adäquateste Modell für das Verständnis unserer Konstrukte“: M. Meier-Brügger, Indogermanische Sprachwissenschaft, 72000, 63.
3. Grenzen der komparativen Methodik
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lung der Philologie in verschiedenen Ländern (Frankreich, England, Deutschland u. a.), der ein großer Raum zukommt, steht am Beginn. Dann werden verschiedene Bereiche der Methodik behandelt, wobei auch die Sprachvergleichung innerhalb der Klassischen Philologie erörtert wird (vgl. 389f). Eigene Paragraphen handeln ‚Über Religion und Mythologie der Alten‘ und ‚Über das Studium der religiösen Alterhümer‘ (vgl. 410ff bzw. 420ff). 3.1. Grenzen der Sprachvergleichung Die Resultate der Sprachvergleichung sind in der Vorlesung des Sommersemesters 1871 ‚Encyclopädie der klassischen Philologie‘ ein selbstverständlicher Ausgangspunkt der Ausführungen. Durch die Sprachvergleichung werde bewiesen, dass es für die Griechen eine „uralte Volksentwicklung“ gegeben habe: „Die Griechen haben nichts aus dem Orient entnommen: sie sind selbst ursprünglich im Orient gewesen“; durch Rückschluss wird u. a. festgestellt: „Gemeinsam Glanz- u. Himmelsreligion“ (II 3, 428). Doch das Überraschende ist hier, dass er auch die Grenzen des Vergleichs angesichts der klassischen Sprachen hervorhebt. Der „Sprachvergleichung“ ist ein eigener Punkt in dem Paragraphen über die Methodik des philologischen Studiums gewidmet. Dabei betont er den Hörern gegenüber die Klassizität des Griechischund Lateinstudiums: „Für den klass. Philologen darf Griech. u. Latein nie eine Sprache neben vielen andern sein: ob ihr Knochengerüst mit den andern Sprachen übereinstimmt, ist für das Gymnasium ganz gleichgültig“; und er fügt hinzu: „Es kommt gerade auf das Nichtgemeinsame an, in dies hat man sich hineinzuleben“ (389). Damit stellt er klar, was die Beschäftigung mit der Sprachvergleichung für den Klassischen Philologen eigentlich bedeutet: sie ist zwar „für ihn als Gelehrten unvermeidlich“, ja „von höchstem Werth“; einschränkend jedoch sagt er: „Nur bleibt es eben ein Mittel für sein Hauptziel, während es häufig genug zum Hauptziel wird“; ein wichtiges Anliegen bestehe in der „lebendige(n) Ansicht
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3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
von der Sprache als dem Ausdrucke der Volksseele“, und „mit Hülfe der Sprachforschung“ gelte es „über den starren Formalism der ältern klass. Philol. (…) hinauszukommen“ (390). Dagegen sei „die kritisch-hermeneutische Methode etwas Unumgängliches“, sie führe zum „Verständniß des Klassischen (…): danach bemesse er (scil. der zukünftige Lehrer der Philologie; J. F.) den Werth vergleich. Sprachstudien“ (ebd.). Es komme eben „auf das charakteristisch-Griechische u. Lateinische an“, und zwar „unsrer modernen Welt gegenüber“. Dabei wird zugleich – dieses Mal ganz im Sinne Friedrich August Wolfs – die Abgrenzung gegenüber orientalischen Kulturen der Alten Welt hervorgehoben: „Denn für uns reden wir von Klassicität, für unsre moderne Welt, nicht im Hinblick auf Inder, Babylonier u. Aegypter“ (ebd.). In ähnlicher Weise wird im folgenden Paragraphen über ‚Die Sprachkenntniß‘ (393ff) gesagt, dass die „Stilvergleichung auf dem Höhepunkte der Sprachentwicklung“ erst möglich sei, die „der vorgeschichtl. Entwicklung der Sprache, mit der die Etymologie zu thun hat“, entgegengesetzt sei. Auf diesen Höhen werde die Sprache als Kunst behandelt: „hier wird sie für uns klassisch“ (394). Die Griechen seien „wie das Genie“ und „deshalb die unsterblichen Lehrer“. Aufgabe der Philologie sei es, diese Disziplin als Mittel zu verstehen, „sich und der heranwachsenden Jugend das Dasein zu verklären“ (437). Nietzsche ist zwar überzeugt, dass die Vergleichung notwendig und unumgänglich ist und auch vieles der griechischen und römischen Antike, auch das Kleinste, „zu den wichtigsten Vergleichungen auffordere“ (436), doch bei all dem ist er der Meinung, dass noch die geringsten Lebensäußerungen der antiken klassischen Literatur „den Stempel des Genie’s (tragen). Hier gilt immer: si duo faciunt idem, non est idem“ (437) – die Begrenzung der Komparatistik wird aufgrund der Klassizität des griechischen Altertums gefordert.
3. Grenzen der komparativen Methodik
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3.2. Ergebnisse und Grenzen der vergleichenden Mythenforschung Die Thematik des Religiösen und der Religion wird in der „Enzyklopädie“-Vorlesung mehrfach angesprochen; explizit wird sie in den erwähnten beiden späteren Paragraphen behandelt: in § 19, der lautet: ‚Über Religion und Mythologie der Alten‘, und in § 20 ‚Über das Studium der religiösen Alterthümer‘. Nietzsches Darstellung der griechischen Religion und Mythologie schließt einerseits an die vergleichende Mythenforschung seiner Zeit an, andererseits aber zeigt er deren Grenzen auf und hebt die Einzigartigkeit und Klassizität der griechischen Mythologie hervor. In seinen Ausführungen stellt er fest: „Wichtig wird jetzt die Bekanntschaft mit Sanscrit: aus dem Indischen wird jetzt die griech. M. abgeleitet“ (II 3, 410), und er weist besonders auf Creuzer und dessen Kritiker Voss und Lobeck hin. Er macht die sachlich zutreffende Feststellung, die beweist, dass er die damals aktuelle religionswissenschaftliche Entwicklung gut gekannt hat: „Augenblicklich lehnt man sich besonders an die vergleich. Sprachforschung an“. In diesem Zusammenhang nennt er drei Autoren: Welcker, bei dem diese eine Art „vorläufige(n) Abschluß“ gefunden habe; er verweist auf die Bedeutung des Werkes „ ,Herabkunft des Feuers‘ 1859“ von Adalbert Kuhn und auf „M. Müller ‚comparative Mythologie‘ in den Essays“ (ebd.). In dieser Vorlesung hebt er also deutlich hervor, dass die neuere Religionswissenschaft sich in Anlehnung an die vergleichende Sprachforschung entwickle. In einem anderen Zusammenhang nennt er als Beispiel „die uralten mytholog. Namen“, die für die historische Grammatik „nicht immer lösbar“ seien: „hier kommt die vergleich. Mythologie u. die vergl. Sprachforschung zu Hülfe“ (397). Als erstes Ergebnis der vergleichenden Mythenforschung referiert er die Auffassung, dass „die Namen von Gottheiten ursprünglich Prädikate sind“ – entweder „Synonyme“, oder auch, weil „viele
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3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
dieser Namen wieder gebräuchlich für andre Objekte (sind,) Homonyme“; und er erläutert dies unter Heranziehung entsprechender Sanskrit-Ausdrücke: Die Erde wird zB. urvī (die Weite), prithvī (die Breite), mahī (die Große) genannt: das sind Synonyme. Urvi bezeichnet aber auch den Fluß, Prithvi Himmel u. Dämmerung, Mahi die Kuh und die Sprache. Daher werden Erde, Fluß, Himmel, Dämmerung, Kuh u. Sprache Homonyme. Daher, wenn die Metaphern vergessen sind, große Verdunkelung der Mythen (410).
Ebenso wird der Name Zeus erklärt („Zeus, = Dyâus, der helle Himmel Juppiter. Ju = Diu“), und auch bei Eos wird auf die Wortwurzel zurückgegangen (411). Als eine Gemeinsamkeit von Griechen und Indern wird – ohne hier namentlich auf Adalbert Kuhn zu verweisen – die Auffassung referiert, „daß das Feuer von einem Gott den Göttern geraubt sei u. wider Willen den Menschen gebracht sei“ (ebd.). Im Zusammenhang mit den Namen werden auch jene Göttergestalten erklärt, die für Nietzsche in der ‚Geburt der Tragödie‘ eine grundlegende Bedeutung haben, nämlich Apollo (vgl. 411f) bzw. Dionysos (vgl. 413f). In seinen Ausführungen hat Nietzsche die wesentliche Richtung der vergleichenden Mythenforschung seiner Zeit treffend wiedergegeben. Denn als Protagonist dieser Perspektive galt neben Max Müller vor allem Adalbert Kuhn mit seiner Schrift ‚Die Herabkunft des Feuers und des Göttertranks‘ (1859). Diese beiden Forscher wandten die sprachwissenschaftlichen Kenntnisse, besonders die Etymologie, auf die Analyse der Göttergestalten in griechischen, römischen, germanischen und anderen Mythen an – insbesondere im Vergleich mit den indischen Vorstellungen, wie sie vor allem im Rigveda anzutreffen waren: „Die dort vorkommenden Götternamen enthüllen uns die ursprüngliche Bedeutung der Götter auch der übrigen indogermanischen Völker, reichen also in die indogermanische Vorzeit hinauf“29.
_____________ 29 E. Hardy, Zur Geschichte der vergleichenden Religionsforschung, in:
Archiv für Religionswissenschaft 4 (1901) 208.
3. Grenzen der komparativen Methodik
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Max Müller und Adalbert Kuhn stimmten in der Grundauffassung überein, dass die Mythen auf Naturerscheinungen zurückzuführen30, d. h. die Götternamen im Zusammenhang mit natürlichen Erscheinungen zu interpretieren seien. Nietzsche versteht diese Interpretationen als Beispiele „für die Naturbedeutung der Götter“, denn „das Interesse der vergl. Mythenforschung ist das Zurückführen ethischer Ideen auf sinnliche Anschauungen. Wir werfen einen Blick in eine gänzlich unerfahrene Urzeit, die ihren ökonomischen Hausstand auf alle Naturerscheinungen überträgt“ (412). Nietzsche kritisiert diese Betrachtungsweise jedoch als „etwas Langweiliges“, und er meint: Viel wichtiger ist das allmähl. Werden einer ethischen Gottheit nachzuweisen: hier finden wir wieder die Aufgabe des klassischen Philologen. Denn die Musterbilder des Zeus, des Apollo usw. sind einzig, die phantastische Naturanschauung theilen alle rohen Völker (ebd.).
Angesichts des Ideals der Klassizität griechischer Gottesvorstellungen werden die Ansätze der vergleichenden Mythologie in ihren Grenzen aufgewiesen. Nietzsche ist der Meinung, dass im Gebiet des Griechischen und Italischen „eine spezifisch nationale Entwicklung“ gegeben sei. Diese sei „somit durch Vergleichung nicht zu ergründen“ (ebd.). Hier zeigt sich wiederum der Aspekt, dass die Vergleichung das Spezifische der griechischen Mythologie nicht zu erfassen vermag, wie es Nietzsche in dieser Vorlesung analog ja auch im Hinblick auf die Sprachvergleichung herausgestellt hat. 3.3. Kritik an der „Universalreligion“ der Mysterienkulte In weiteren Ausführungen geht Nietzsche schwerpunktmäßig auf die chthonischen Götter und besonders auf die Geheimkulte ein, auf den Aspekt der Fruchtbarkeit, auf Schuld und Sühne und auf
_____________ 30 Vgl. a. a. O., 209.
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3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
die Feste. Mittelpunkt seiner Überlegungen sind die Mysterien: es werden der „unbegrenzte Synkretismus“ (II 3, 414) und die „Theokrasie“ behandelt, die „das Streben“ habe, „durch das Aufheben der nationalen Götter u. Gleichstellung fremder G. eine Universalreligion zu begründen“ (416). Er kritisiert die magischen Mysterien und die Wundersucht in dieser Zeit und konstatiert „die schwärmerische Abstinenz, neben der schrecklichsten Ausschweifung“ (417). Die Veränderungen betrafen – so Nietzsche – auch die Auffassung vom Jenseits und – infolge davon – die vom Diesseits: Die Weltlichkeit der alten Religion verschwindet immer mehr: in der klassischen Zeit dachte man das Fortleben als ein kraftloses Traumleben: wer weiser sein wollte, redete von der Seelenwanderung. Jetzt nimmt Jeder für sich die ewige Seligkeit in Anspruch. Häufig auf Sarkophagen die Reise nach den seligen Inseln dargestellt. Das Hauptmittel, um darauf Ansprüche zu haben, knüpft sich an die Mysterien: in ihnen wird die Unsterblichkeit garantirt (ebd.).
Darin seien die verschiedenen „Mysterien“, wie z. B. jene des Dionysos, der Isis und des Mithras „einmüthig“ (ebd.). In diesen Aspekten der Mysterien erblickt er auch schon Vorbereitungen des Christentums: „Besonders wichtig, daß die Götter jetzt entnationalisirt wurden: sodann das Allgemeine Vorurtheil zu Gunsten des Orientalischen“. Dann werde „der Zweck des Daseins auf ein Jenseits bezogen“, wofür „geheime Weihen“ und „bewußte Moralität, die bis zur Askese steigt“, die „Hauptmittel“ seien (418). In dem darauf folgenden Paragraphen 20 ‚Über das Studium der religiösen Alterthümer‘ wird der Gottesdienst der Griechen als „individuelles lebendes Ganze(s)“ dargestellt, wobei dessen einzelne Elemente zur Sprache kommen. Ausgegangen wird von der „Urvorstellung“ des Opfers, dann werden der Eid, die Reinigungen, die heiligen Örter, der Priesterstand und die Feste erklärt (vgl. 420ff). Hier klingen schon manche der Themen an, die Nietzsche einige Jahre später in der Vorlesung über den ‚Gottesdienst der Griechen‘ in großer Ausführlichkeit behandelt, und zwar unter Heranziehung bedeutender religionswissenschaftlicher und ethnographischer
4. Religionsethnologie und Philologie
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Werke (besonders von Tylor und Lubbock), die z. T. in der Zwischenzeit erstmals in deutscher Sprache erschienen waren.
4. Religionsethnologie und Philologie (Vorlesung „Der Gottesdienst der Griechen“)
4. Religionsethnologie und Philologie 4.1. Klassische Einmaligkeit und „unreines Denken“ im griechischen Kult
Im Wintersemester 1875/76 bzw. nochmals im Wintersemester 1877/78 hat Nietzsche laut Ankündigung die Vorlesung ‚Altertümer des religiösen Cultus der Griechen‘ bzw. ‚Religiöse Altertümer der Griechen‘ gehalten, die von 8 bzw. 6 Hörern besucht wurde. Sie wurde unter dem Titel ‚Der Gottesdienst der Griechen‘ veröffentlicht (KGW II 5, 355-520). Die leitende Frage soll hier sein, inwiefern Nietzsches Vorlesung einen Bezug zur damaligen Religionswissenschaft hat. Vorweg muss gesagt werden, dass es eine Spezialvorlesung der Klassischen Philologie ist, die sich überwiegend auf entsprechende philologische Literatur bezieht, also stark innerhalb des Faches bleibt und weniger den vergleichenden Aspekt in den Mittelpunkt stellt, wie er damals für die Religionswissenschaft, wie sie Max Müller konzipiert hatte, maßgebend war. Der Bezug auf vergleichende Sprachforschung und indogermanistische Grundkenntnisse, der auch in der „Enzyklopädie“-Vorlesung von 1871 präsent war, ist hier aber ebenfalls gegeben. Hinzu kommt die Berücksichtigung neu erschienener religionsethnologischer Literatur (besonders Tylor und Lubbock). Außer Edward Burnett Tylors Werk ‚Die Anfänge der Cultur‘ (2 Bde., Leipzig 1873) hat Nietzsche u. a. folgende Literatur entlehnt: von Carl Bötticher ‚Der Baumkultus der Hellenen‘ (Berlin 1856) und von Ludwig Preller ‚Griechische Mythologie‘ (2 Bde., Leipzig 1854), ‚Die Religion und Mythologie der Griechen‘ (2 Bde., Leipzig 1865-1873) von Johann Adam Hartung, von Heinrich-Dietrich Müller ‚Mythologie der griechi-
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3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
schen Stämme‘ (Göttingen 1857-1861) sowie von Franz Carl Movers ‚Die Phönizier‘ (2 Bde., Bonn 1841-1856)31. Nach einer Einleitung, die grundlegende und allgemeine Fragen des Kultes behandelt und zwölf Paragraphen umfasst, folgt ein Hauptteil, der folgende drei Abschnitte hat: I. Orte und Gegenstände des Cultus, II. Personen des Cultus und III. Gebräuche des Cultus. Der Hauptteil der Vorlesung entspricht im Wesentlichen dem Inhalt und Aufbau, wie er in dem bekannten ‚Lehrbuch der gottesdienstlichen Alterthümer der Griechen‘ (Heidelberg 1846) von Karl Friedrich Hermann anzutreffen ist, auf dessen zweite, von Karl Bernhard Stark bearbeitete Auflage (1858), die sich in der Bibliothek Nietzsches befindet, er schon in der „Enzyklopädie“-Vorlesung hingewiesen hatte (vgl. KGW II 3, 425). Dieser hat nach einem ersten Hauptteil, der der Geschichte gewidmet war, in den folgenden Kapiteln des zweiten Hauptteils zunächst Örtlichkeiten des Kultes, dann Gebräuche, dann Personen des Kultes, schließlich Zeiten und in einem letzten Teil Feste und Festgebräuche behandelt. Ähnlich wie im Hinblick auf die Klassizität der griechischen Kultur generell meint Nietzsche hier, dass die Vorrangstellung der griechischen Religion anzuerkennen sei. Es wird die Einmaligkeit des Gottesdienstes der Griechen hervorgehoben; in fast schwärmerisch klingender Art schreibt er: „Es hat nie einen solchen Gottesdienst gegeben wie den griechischen: er ist durch Schönheit Pracht Mannichfaltigkeit Zusammenhang einzig in der Welt und eins der höchsten Erzeugnisse ihres Geistes“; durch diese Erscheinung des griechischen Gottesdienstes bekomme man „erst einen Maßstab für das, was in religiösen Culten barbarisch ist“ (KGW II 5, 363). Man sei es – meint er – „den Griechen schuldig, sie auch hierin nicht in Stich zu lassen und ihnen ihren einzigen Platz in der Weltgeschichte zu bewahren“ (ebd.). Diese Bedeutung habe der Gottesdienst bekommen, weil dieses Volk eine ungeheure Kraft verwendet hätte, um ihn zu feiern. Sie hätten viel
_____________ 31 Vgl. L. Crescenzi, Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitäts-
bibliothek in Basel entliehenen Bücher (1869-1879) (1994) bes. 433-442.
4. Religionsethnologie und Philologie
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Geist, Mühe und Kraft verwendet und den Willen aufgebracht, „sich mit nichts Mittelmäßigem genügen zu lassen – das ist hier griechisch: also Charakter-Eigenschaften“ (364). Trotz dieser Einmaligkeit in der Weltgeschichte aber seien die Griechen nicht „original im Sinne eines ganz autochthon und unberührt gebliebenen Cultus“, denn „die Elemente ihres Cultus“ würden sich „überall“ finden – bei den Phöniziern, den Phrygiern, den Germanen oder den Römern; mit diesen verschiedenen Kulturen und Völkern sei das Griechentum auch durch die „Logik des Denkens“ verbunden, die auf dem Gebiet des Gottesdienstes geherrscht habe. In den Augen Nietzsches zeigt sich diese in einem „unreine(n) Denken“, einem Denken, das sich noch jetzt überall bei den Völkern „auf niederen Culturstufen“ sowie bei „schlecht unterrichteten Volksklassen der civilisierten Nationen“ finde (364f). Das Entstehen des Kultes aus dem „unreinen Denken“ erläutert Nietzsche mit einem an Eugen Dühring 32 anknüpfenden Vergleich: „Auf diesem Boden des unreinen Denkens erwuchs der griechische Cultus; wie auf dem Boden des Rachegefühls das Rechtsgefühl erwachsen ist. So wie man gesagt hat: ‚Die besten Dinge und Handlungen haben unappetitliche Eingeweide.‘ “ (365).
_____________ 32 Dies ist ein Zitat aus E. Dührings Werk Der Werth des Lebens, 1865 (BN).
In diesem Werk in der Bibliothek Nietzsches ist folgender Satz unterstrichen: „dass das Rachegefühl das Fundament ist, auf welchem der ganze Bau aller unserer Rechtsbegriffe ruht“ (222). Vgl. dazu das Exzerpt aus Dühring, besonders die Stelle, wo von der „transzendenten Befriedigung der Rache“ die Rede ist: KGW IV 1, 207-257: 9 [1], bes. 252: Rechtsgefühl als Ressentiment gehört mit der Rache zusammen; vgl. auch 226: „Der Begriff des Rechtes entspringt eben in dem Leidenden. Dadurch dass die Leidenden sich rächen, werden sie zu Lehrmeistern des Rechts für Alle“. Eine ähnliche Aussage findet sich bei E. Dühring, Cursus der Philosophie, 1875 (BN), 404. Der Ausdruck „unappetitliche Eingeweide“ geht auf Paul Rée zurück (vgl. A. Orsucci, Orient – Okzident, 1996, 19). Insgesamt ist darin ebenso wie im Ausdruck „unreine(s) Denken“ eine diskriminierende Aussage über nichtgriechische, besonders indigene Kulturen, impliziert.
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3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
In den ersten beiden allgemeinen, grundlegenden Paragraphen behandelt Nietzsche einerseits die Form dieses „unreinen Denkens“, zu der z. B. „Ungenauigkeit der Beobachtung“, „falscher Begriff der Causalität“, Vorliebe für das „Außergewöhnliche“, aber auch „Antrieb der Faulheit“ gehöre, und andererseits die weitere Grundüberzeugung, die als „Material ihres Denkens (…) die Natur und den Verkehr mit ihr“ betreffe (365f); dieser sei dadurch gekennzeichnet, dass man nichts von Naturgesetzen wisse, dass „überhaupt jeder Begriff der natürlichen Causalität“ fehle (366f). Dieses „irrationale“ Naturverhältnis illustriert Nietzsche mit Beispielen aus Indien und China (vgl. 367-369). Alle diese Beziehungen seien Ursache von Zeremonien, die später systematisiert worden seien; der „Sinn des religiösen Cultus“ sei es, „den günstigen Verlauf des Naturganzen sich durch einen entsprechenden Verlauf eines Prozeduren-Systems zu garantiren“ (369)33. Kult sei also im Wesentlichen ein Verhalten gegenüber der Natur – mit der Absicht, sie zu beherrschen; deswegen sei das „Hauptmittel“ die „Zauberei“ und „der Zauberer (…) älter als der Priester“ (368f). Neben diesen „archaischen“ Prozeduren beruhe der Kult aber „ebenso (…) auf anderen und edleren Vorstellungen“, wie Wohlwollen, Dankbarkeit usw. (369). Auch auf „sehr niederen Culturstufen“ sei der Mensch nicht immer Knecht der Natur: diese Dimension zeige sich „auf der griechischen Stufe der Religion“ darin, dass man „besonders im Verhalten zu den olympischen Göttern (…) mehr das Zusammenleben von zwei Kasten (sieht)“, nämlich „einer vornehmeren, mächtigeren“, jener der Götter, und einer „weniger vornehmen“, jener der Menschen: „aber beide gehören zusammen und sind Einer Art, sie brauchen sich vor einander nicht zu schämen“ (ebd.). Auch im
_____________ 33 Der „große Kreislauf der Natur“ wird hier in einer Anmerkung „annus
annulus“ genannt; eine vergleichbare Formulierung verwendet Nietzsche später bei einer der ersten Kennzeichnungen der ewigen Wiederkehr des Gleichen: im Sommer 1881 notiert er in einem Fragment: „ ‚Annulus aeternitatis.‘ “ (KGW V 2, 147: 11 [197]); vgl. dazu M. Montinari, Nietzsche lesen, 1982, 82; vgl. S. 319f.
4. Religionsethnologie und Philologie
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Opfer würden die Griechen mit ihren Göttern „wie eine niedere Kaste mit einer höheren mächtigeren edleren, mit der man sich aber von gleicher Abstammung weiß“, verkehren; im Opfer gehe es darum, dass man „die Zusammengehörigkeit von Göttern u. Menschen in gemeinsamem Verbrauche des Geschenkes feiert“, wie er am Schluss der Vorlesung ausführt (519). 4.2. Ursprünge („Keime“) des religiösen Kultes und plurale Einflüsse In einem zweiten Schritt (§§ 3 und 4) der Einleitung geht Nietzsche speziellen Aspekten nach, die zum Kult führen, bestimmten „Begriffsgruppen“, die den „Keim zu einer gottesdienstlichen Handlung“ erregen (II 5, 370). Zuerst erwähnt er das „Ahnengrab“ und den damit verbundenen „Todtenkultus“. In diesem Zusammenhang gibt er sachlich die animistische Deutung der Entstehung der Religion Tylors wieder, ohne hier allerdings diesen Autor zu erwähnen. Nietzsche schreibt: „Der Todtenkultus ist noch älter als der Götterkultus, und der Glaube an Ahnengeister früher, ja eine nothwendige Vorstufe im Glauben an die belebte Natur; hier haben die Menschen die pietätvolle Affektion gegen Geister gelernt“ (ebd.). Mit dem Grab in Zusammenhang stehe der Glaube, dass der Tote sich einkörpere, z. B. in einen Baum, der zum „Weihebaume“ wird, oder in einem Tier, das in der Nähe des Grabes ist. Der Geist eines Ahnherrn lebt dann, wie totemistisch formuliert wird, „in einem Thiere“ fort (371). Weiter heißt es: „Der Todte lebt fort, denn er erscheint in Träumen u. Hallucinationen der Lebenden; so begründet sich der Glaube an Geister, getrennt vom Körper; so ward sein Grab Gegenstand abergläubischer Betrachtung“ (ebd.). Weitere Aspekte sind zweitens die „Schutzbilder“ bzw. „das Unterpfand“, drittens „die Reinigung“ und viertens „die nachahmende Handlung“: „Fast alle Kulte enthalten ein ΈΕκΐ΅, ein Stück dargestellten Mythus, der sich auf die Gründung des Kultus bezog“ (372ff). In diesen vier genannten Aspekten erblickt Nietzsche die
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3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
„Grundrequisite eines Cultus“, die auf jeder Stufe eines solchen anzutreffen sei (375). In den weiteren Überlegungen (§§ 5-9) geht er den Einflüssen nach, die die Weiterentwicklung dieser grundlegenden Stufe ermöglicht und auf den griechischen Kult eingewirkt haben, den verschiedenartigen Elementen, auf denen er beruht. Er beginnt mit den „semitischen Elementen“: er nennt z. B. die „Siebenzahl“, die „7tägige Woche“ (377f), dann behandelt er die thrakischen (vgl. 384ff), schließlich die graeko-italischen (vgl. 387ff) Elemente; vermittels der Sprachvergleichung werden auch die keltischen hinzugenommen (vgl. 387), schließlich zählt er die „Elemente aus ureinheimischen niedriger stehenden Bevölkerungen“ auf; insbesondere wird hier die „Baumverehrung“ genannt und das Beispiel vom „heiligen Baum (…) inmitten einer buddhist. Umgebung“ gebracht (395)34. Im letzten Teil der Einleitung (§§ 10-12) wird der Frage nachgegangen, wie es trotz der Verschiedenheit der aufgezeigten Elemente, die aus verschiedenen Völkern und Kulturen stammen, zur neuen Einheit gekommen ist. Was macht den „Cultus zum ÓàΗΐΓΖ?“ Die Antwort Nietzsches ist, dass es die Gewalt des Hauses, der Familie, des Geschlechts, der Sippe, des Stammes sei, schließlich der polis, die „die mächtigste organisirende Gewalt des Cultus“ sei (400). Im Zusammenhang mit der Frage der Veränderung des Kultes betont Nietzsche, dass es ein Kennzeichen vor allem der antiken Religiosität sei, dass man den Kult nicht angreifen durfte, obwohl es ansonsten sehr frei zuging (z. B. konnte in der Komödie über die Götter gelacht werden) (vgl. 411). Es gab zwar auch einzelne Asebieprozesse, Nietzsche unterscheidet diese aber deutlich von der Inquisition und von geistlichen Gerichten,
_____________ 34 Eine Quelle dafür ist Tylor; auch W. Mannhardts Studie Der Baumkultus
der Germanen und ihrer Nachbarstämme, 1875, wird ausführlich benützt, ebenso das Werk von C. W. Bötticher, Der Baumkultus der Hellenen, 1856, wie A. Orsucci Orient – Okzident, 1996, 23ff, detailliert nachgewiesen hat.
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die es bei den Griechen gerade nicht gegeben habe; es gehe in der staatlichen Gesetzgebung nur um „das äußerliche Verhalten des Menschen zu den Göttern“ (ebd.). Die Neuerung des Kultes vollzog sich ohne Gewalt: „nirgends herrscht in der Entwicklung des Cultus die Gewalt, die Rohheit der Übermacht, die momentane Leidenschaft. Es ist ein sorgsam geschontes Leben, inmitten aller Gewalt (…)“ (415). 4.3. Religionswissenschaftliche Quellen der „Gottesdienst“Vorlesung 4.3.1. Der Manuskriptbestand Ein Teil der Quellen lässt sich anhand der Aufzeichnungen Nietzsches direkt eruieren. Die beiden Herausgeber Otto Crusius und Wilhelm Nestle haben auch ein Verzeichnis der handschriftlichen Philologica Nietzsches im Anhang zu dem betreffenden Band der Gesamtausgabe der Werke abgedruckt35. In diesem Überblick ist die Vorlesung ‚Der Gottesdienst der Griechen‘ ganz vorne angeordnet (P I; P II; bei Mette P II 14a; P II 14b). Dazu gibt es eine große Fülle von Notizen Nietzsches, die bei der ersten Anordnung noch als Beilage angeführt wurden; heute sind es die Mappen XI 6 (zur Religions- und Literaturgeschichte) und XI 7 (wo Vorstufen zur Religionsgeschichte abgedruckt sind); die aktuelle Archiv-Signatur für beide Mappen ist GSA 71/227. An diesen Aufzeichnungen Nietzsches zeigt sich seine Arbeitsweise, und sie sind auch Dokumente dafür, dass Nietzsche konsequent neuere Literatur berücksichtigt hat36 – insbesondere auch aus dem Be-
_____________ 35 F. Nietzsche, Philologica, Band 3 (= Nietzsche’s Werke, Band XIX): Un-
veröffentlichtes zur antiken Religion und Philosophie, 1913, 419ff. Mette nennt es „das erste Verzeichnis der Art für Nietzsche“: BAW 1, CXX. 36 Dasselbe lässt sich für die „Rhetorik“-Vorlesung feststellen: vgl. die grundlegenden Ausführungen von G. Most und Th. Fries, : Die Quellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung, in: T. Borsche u. a. (Hg.),
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3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
reich der Religionsethnologie. Das Originelle dieser Vorgangsweise hat Crusius, der für die Erstherausgabe dieser Vorlesung verantwortlich war, folgendermaßen beschrieben: Das Charakteristische des Entwurfs ist aber die ausgesprochen moderne Haltung des Ganzen. Nicht viele Philologen werden Mitte der siebziger Jahre von den ausgezeichneten Arbeiten Wilhelm Mannhardts Notiz genommen haben; und Namen, wie Spencer, Tylor, Fergusson (Tree- and serpent-worship), hörte man wohl in den Vorlesungen von Philosophen, wie Wundt oder Carl Göring, ganz sicher nicht bei Ritschl oder G. Curtius37.
Die die Vorlesung vorbereitenden Aufzeichnungen ermöglichen zugleich, wichtige Quellen Nietzsches zu eruieren, die er in seiner Vorlesung z. T. wörtlich übernommen hat. Die Quellen sind aber nur selten ausgewiesen. Ein großer Teil der von Nietzsche verwendeten Literatur ist in der quellenhistorisch durchgeführten Nietzsche-Monographie von Andrea Orsucci ‚Orient – Okzident‘38 aufgeschlüsselt und kommentiert. Im Folgenden soll auf einige religionswissenschaftlich besonders wichtige Intentionen eingegangen werden, die Nietzsche bei der Ausarbeitung seiner Vorlesung ‚Gottesdienst der Griechen‘ verfolgt hat; anhand dieser bisher unveröffentlichten Vorbereitungsmaterialien kann noch genauer als durch den Vorlesungstext allein aufgezeigt werden, in welchem
_____________ ‚Centauren-Geburten‘. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, 1994, 17-46, bes. 23. 37 F. Nietzsche, Philologica, Band 3, 1913: Anhang 393; vgl. Nachwort 416. Nietzsche nennt z. B. J. Fergussons Tree and serpent worship, 1868, auch W. Mannhardts Studie Der Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme, 1875, sowie das Werk Der Baumkultus der Hellenen, 1856, von C. W. Bötticher, vgl. KGW II 5, 395-397; zu Bötticher vgl. auch a. a. O., 417; vielfache Verweise auf H. Nissen, Das Templum, 1869, vgl. dazu A. Orsucci, Beiträge zur Quellenforschung, in: Nietzsche-Studien 23 (1994) 446f und 477f; W. H. Roscher, Studien zur vergleichenden Mythologie der Griechen und Römer, 1873-1875, vgl. KGW II 5, 386; ders., Apollon und Mars, 1873, vgl. KGW II 5, 487. 38 Untertitel: Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, 1996.
4. Religionsethnologie und Philologie
253
Umfang er Grundaxiome der Religionsethnologie seiner Zeit (z. B. die Animismustheorie Tylors) rezipiert hat. 4.3.2. Nietzsches Lektüre und Rezeption von Tylors ‚Die Anfänge der Cultur‘ Edward Burnett Tylor (1832-1917) gehört zu den „Klassikern der Religionswissenschaft“. Als dessen zwei wesentlichen Beiträge für die Ethnologie und Religionswissenschaft nennt Karl-Heinz Kohl die Theorie der Survivals und die Theorie des Animismus 39. Beide hat Tylor in seinem zweibändigen Werk ‚Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art and Custom‘ grundgelegt, das 1871 in London erschien. Die deutsche Übersetzung, die zwei Jahre danach (Leipzig 1873) veröffentlicht wurde, trägt den Titel ‚Die Anfänge der Cultur‘. Das Hauptwerk Tylors hat sich Nietzsche am 29. Juni 1875 aus der Universitätsbibliothek Basel ausgeborgt40. In diesem Sommersemester las er ‚Geschichte der griechischen Literatur ‘, im folgenden Wintersemester ‚Der Gottesdienst der Griechen‘. 4.3.2.1. Survival („Überlebsel“) und Weiterleben ältester Sitten. Sowohl für die Survival-Auffassung als auch für die animistische Auffassung lassen sich in Nietzsches Aufzeichnungen aus der Zeit, als er die „Gottesdienst“-Vorlesung vorbereitet hat, quellengeschichtliche Nachweise erbringen, die zeigen, dass er sie von Tylor übernommen hat. Im Hinblick auf die „Überlebsel“ hat dies schon Andrea Orsucci überzeugend nachgewiesen41. In diesem Zusammenhang ist
_____________ 39 K.-H. Kohl, Edward Burnett Tylor, in: A. Michaels (Hg.), Klassiker der
Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, 1997, 50ff, bes. 52. 40 Vgl. L. Crescenzi, Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in Basel entliehenen Bücher (1869-1879) (1994) 388-432, bes. 432, Nr. 458. 41 Vgl. A. Orsucci, Orient – Okzident, 1996, 33ff.
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3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
z. B. folgendes Fragment aus dem Frühling-Sommer 1875 von Interesse, das zugleich eine Kurzdefinition des Survivals gibt: „Im religiösen Cultus ist ein früherer Culturgrad festgehalten, es sind ‚Überlebsel‘ “ (KGW IV 1, 159: 5 [155]). Damals spricht Nietzsche auch von „Überbleibseln“ (162: 5 [164]) – ein Ausdruck, den er später in ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ im Aphorismus Nr. 223 (‚Abendröthe der Kunst‘: KGW IV 2, 188) und 614 (‚Zurückgebliebene und vorwegnehmende Menschen‘: 360) verwendet. Schon vom Gymnasium her war ihm dieser Ausdruck vertraut: in seinen ‚Anmerkungen zu den Nibelungen‘, zur Lachmann’schen Ausgabe, notiert er: „Uralte heidnische Ueberbleibsel: Die weise Weiber, das Gezwerge“ (KGW I 3, 149: 15 [24]); und in der umfangreichen Abhandlung über die Ermanarich-Sage spricht er z. B. vom „Ueberbleibsel der Sage“ (261: 16 [3]). Karl August Koberstein verwendet den Begriff im Titel eines Aufsatzes42, und ebenso ist er bei Jacob Grimm anzutreffen43. Der Begriff survival kommt bei Nietzsche ebenfalls vor (vgl. KGW IV 2, 77: MA 64, und 573: 24 [2])44. In vorbereitenden Notizen (GSA 71/227: Mp XI 6 und 7), die zum „Gottesdienst“-Kolleg sowie (zum größeren Teil) zum „Literaturgeschichte“-Kolleg Nietzsches gehören, wird explizit auf zwei Stellen aus Tylors Hauptwerk (mit Seitenangabe) verwiesen:
_____________ 42 Vgl. K. A. Koberstein, Vermischte Aufsätze zur Litteraturgeschichte und
Aesthetik, 1858, 223, wo er „über einige Ueberbleibsel der ältesten uns bekannten vaterländischen Poesie“ spricht. 43 Vgl. J. Grimm, Geschichte der deutschen Sprache, Band 1, 1848, 5: „ueberbleibsel“ (klein geschrieben!). 44 Hinweis auf diese Stellen bei A. Orsucci, Orient – Okzident, 1996, 34f. Der Begriff Überlebsel gibt wort- und sinngemäß den englischen Ausdruck survival angemessener wieder als Überbleibsel. Ersterer wurde in der deutschen Übersetzung von Tylors Hauptwerk verwendet (vgl. E. B. Tylor, Die Anfänge der Cultur, Band 1, 1873, 16) und auch in der deutschen Übersetzung von John Lubbocks Werk Die Entstehung der Civilisation, 1875 (BN) (431) mit Bezug auf Tylors Werk.
4. Religionsethnologie und Philologie
255
Wie man ein Wort musikalisch expressiv macht Tylor 174., auf Wagner anzuwenden. Musik ist ein uraltes Mittel deutlicher zu sprechen: und deshalb gebraucht man sie im Verkehre mit den Göttern45. Man glaubte bei den mänadisch<en> Feiern auf dem Parnass tanze Dionysos im Chore mit, man glaubte die Stimm<en> der Satyrn u. des Tympanon zu vernehmen. Man traut den niederen Schichten, den wildesten u. rohesten Stämmen die Kraft der Zauberer mehr zu, die höheren Kasten fühlen sich darin schwächer. Wem trauen die Griechen den wirksamsten Verkehr mit den Göttern zu? Die Orpheotelesten sind ein verachtetes Volk, aber man braucht sie, die unzählige Bettelpriester. Mysterien sind die abergläub Culte der unterworfen<en> Schichten, welche die herrschende mit Angst erfüllen u. allmählich zu sich herüber ziehn. Tylor 11346.
Die erste Notiz bezieht sich auf die von Tylor herausgestellte Dimension des „Gefühlstons“ in der Sprache47 – eine Beobachtung, die Nietzsche Jahre zuvor in seiner Sprachtheorie betont hat: er geht von einer „Doppelheit im Wesen der Sprache“ (KGW III 3, 378: 12 [1]) aus, wobei der „Tonuntergrund der allgemeine und über die Verschiedenheit der Sprachen hinaus verständliche (ist)“ (379; Frühjahr 1871); im Hinblick auf Wagner stellt er fest, dass das TonVerstehen in seiner Musik entscheidend sei48. Es verwundert daher nicht, wenn er in dem hier wiedergegebenen Abschnitt der vorbereitenden Notizen sagt, dass Tylors Auffassung davon, „ein Wort musikalisch expressiv (zu) machen“, auf Wagner anzuwenden sei. Beim zweiten Verweis auf Tylor sind im Originaltext konkrete Beispiele von „unterworfenen Schichten“ und deren Macht ange-
_____________ 45 GSA 71/227: Mp XI 6 (Bl. 66); in Klammer wird jeweils die aktuelle
Zählung der Blätter angegeben; diese wird im Folgenden auch bei Mp XI 7 angeführt. 46 GSA 71/227: Mp XI 6 (Bl. 68). Vgl. auch die Wiedergabe dieser Texte bei A. Orsucci, Orient – Okzident, 1996, 82 bzw. 64. 47 Vgl. E. B. Tylor, Die Anfänge der Cultur, Band 1, 1873, 173; dazu näher A. Orsucci, a. a. O., 83. 48 Vgl. dazu J. Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, 157ff.
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3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
führt: „die Malayen der Halbinsel, welche die mohamedanische Religion und Civilisation angenommen haben“, aber in Furcht vor den niederen Stämmen leben; ebenso die „Todesfurcht“ hinduistischer drawidischer Stämme vor den „verachteten und elenden, im Walde lebenden Ausgestossenen, welche aber, wie man glaubt, die Gabe haben, Menschen und Thiere und Schätze durch Zauberei zu vernichten“49. Den letzteren Gedanken hat Nietzsche im Kolleg ‚Gottesdienst der Griechen‘ zu Beginn des einschlägigen Paragraphen (§ 9) ‚Elemente aus ureinheimischen niedriger stehenden Bevölkerungen‘ übernommen und in den folgenden Kontext gestellt50: Die Hellenen haben gleich Indern Italikern Deutschen ihr Land mit den Waffen in der Hand erobert und sich eine ältere Race botmäßig gemacht: doch so, daß die urälteste Sitte zum Theil wieder auf die Einwanderer übergeht, namentl. durch die Angst, welche höher entwickelte Völker vor der magischen Kraft der niedrigeren, in deren Nähe sie wohnen haben (KGW II 5, 395).
Daran anschließend gibt Nietzsche folgende Beispiele, die ebenfalls aus Tylor übernommen werden51; es handelt sich um Belege für das Weiterleben urältester Anschauungen in „höheren siegreichen Religionen“, wie der folgende Text besagt: Bis auf den heutigen Tag giebt es im südlichen Asien Distrikte, wo die Verehrung der Bäume herrscht, trotzdem die Gegend<en> buddhaistisch sind. Offenbar war es nicht möglich, diese Culte auszurotten: man bildete Übergangs-Legenden und ließ zB. Buddha selber 33mal in Baumgenien verwandelt gewesen sein. Die Skulpturen [von] des Tope von Sanchi in Centralasien beweisen (nach Fergusson „Baum- u. Schlangenverehrung“), daß um das erste Jahrhundert unserer Zeitrechnung heilige Bäume in buddh. Religionssyst. sehr viel Bedeutung haben. (…) Die Baumverehrung ist überall vorgefunden worden und findet
_____________ 49 E. B. Tylor, Die Anfänge der Cultur, Band 1, 1873, 112f. 50 Vgl. oben S. 250. 51 Das hat A. Orsucci in dem Buch Orient – Okzident, 1996, 23ff, nachge-
wiesen; vgl. oben S. 250, Anm. 34.
4. Religionsethnologie und Philologie
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sich dann als Bestandtheil der höheren siegreichen Religionen wieder (II 5, 395)52.
Im Text der Vorlesung ‚Der Gottesdienst der Griechen‘ finden sich weitere Formulierungen und Überlegungen, die zweifellos ebenfalls auf diesen großen Ethnologen zurückgehen, wie z. B. die Rede vom „Überlebsel“ oder die Annahme eines Weiterwirkens archaischer Formen der Verehrung. Diese These trifft m. E. auch auf den zweiten für die Religionswissenschaft zentralen Beitrag Tylors zu, nämlich auf die animistische Entstehungstheorie der Religion. 4.3.2.2. Animismus und die Entstehung der Religion. Animismus (von lat. anima, die Seele) ist nach Tylor die „Lehre von geistigen Wesen“, und er ist in seiner universellen Sicht der Überzeugung, dass diese die „Grundlage der Philosophie der Religion von der der Wilden an bis hinauf zu der der civilisirten Menschen“ darstelle53. In diesem Sinn hat Tylor, wie er selber schreibt, „eine rudimentäre Definition der Religion“ gegeben54; als minimale Definition fordert er den „Glauben an geistige Wesen“55 (Belief in Spiritual Beings)56. In diesem „minimalen“, das heißt an inhaltlichen Merkmalen geringen und gerade deshalb sehr weiten Religionsverständnis führt Tylor die Entstehung der Religion auf Erlebnisweisen des Menschen zurück, in denen dieser die Erfahrung einer „immateriellen Substanz“ mache: Nach Tylor macht der Mensch im Traum die Erfahrung einer immateriellen Substanz in sich. In Schlaf und Traum erlebt er Ereignisse, macht Reisen, überwindet Distanzen usw., obgleich sein Körper an Ort und Stelle verbleibt. Also kommt der Mensch durch Überzeugung zu der
_____________ 52 Vgl. E. B. Tylor, Die Anfänge der Cultur, Band 2, 1873, 218-220 und 241. 53 A. a. O., Band 1, 1873, 419f; vgl. dazu K.-H. Kohl, Edward Burnett Ty-
lor (1997) 52. 54 A. a. O., 418. 55 Ebd. 56 Vgl. J. Figl, Einleitung. Religionswissenschaft (2003) 66.
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3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit Annahme, dass es neben dem belebten Köper noch ein geistiges Prinzip geben muss, das sich vom Körper trennen kann, ohne dass dieser stirbt57.
Eine weitere Annahme, die durch die Begegnung mit Verstorbenen im Traum mitbewirkt sei, ist jene von der „dualen Natur“ dieser Lebenssubstanz: nämlich einerseits als Lebensprinzip, das eng körpergebunden ist und mit dem Tod ebenfalls endet, und andererseits als die eigentliche Seele, die schattenhaft nach dem Tod weiterlebt und in Träumen erscheinen kann58. Nietzsche hat, was bisher m. E. nicht in dieser Deutlichkeit gesehen wurde, die zentralen Elemente der Animismustheorie Tylors rezipiert, wie aus den unveröffentlichten „Vorstufen“ zur „Gottesdienst“-Vorlesung unzweideutig hervorgeht – klarer noch als im Text der Vorlesung selbst, in dem aber ebenfalls die grundlegenden Aspekte der Tylor’schen Annahmen bezüglich der Toten und Geister wiederkehren. In einem vorbereitenden Konzept lesen wir Ausführungen, die z. T. gleich lautend mit den eben zitierten von heutigen Religionsethnologen sind. Nietzsche notiert: Traum Hallucination Schatten scheinen eine Trennung der Seele, ein Herumschweifen derselben zu verbürgen. Wenn es auch nur Menschengeister gebe, so doch auch die der Todten (die im Traum erscheinen); überall könnte man diesen begegnen, diesen und den Geistern der Lebenden, die gerade unterwegs sind. Alles Menschengeschehen kann eine Wirkung solcher Geister sein. – Nach der Analogie von Körper u. Geist deutet sich der Mensch die Natur. Nun aber giebt es auch Thiergeister (…) Wenn ein Stein plötzlich rollt, der vorher fest war, wenn auf einsamer Haide ein ungeheurer Block liegt, so muß auch der Stein Leben haben. Alle<s> Todte kann plötzlich bewegt, belebt erscheinen (Mp XI 7 [Bl. 110]).
Solche Erfahrungen haben nach Tylors Überzeugung eine für die Entstehung der Religionen grundlegende Bedeutung: „Seiner The-
_____________ 57 K. R. Wernhart, Ethnische Religionen. Universale Elemente des Religiösen,
2004, 84. 58 Vgl. K.-H. Kohl, Edward Burnett Tylor (1997) 53.
4. Religionsethnologie und Philologie
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orie nach standen das Traumerleben, Trancezustände, Visionen, Halluzinationen und die Erfahrung des Todes am Anfang aller Religion. Im Traum scheint sich der Mensch von seinem Körper lösen zu können“59. In einer weiteren Aufzeichnung mit der Überschrift ‚1. Das Ahnengrab‘ finden sich schon Ausführungen (Mp XI 7 [Bl. 135/6]), deren Wortlaut fast identisch ist mit dem Text der „Gottesdienst“-Vorlesung: Der Todte lebt fort, denn er erscheint in Träumen u. Hallucinationen der Lebenden; so begründet sich der Glaube an Geister, getrennt vom Körper; so ward sein Grab Gegenstand abergläubischer Betrachtung. Da sieht man Blumen oder einen Baum aus ihm herauswachsen: das, was da in der Blume oder dem Baume lebt, muß jedenfalls der Geist des Todten sein. Also eine Verwandlung, eine neue Einkörperung (KGW II 5, 371).
Die These der Einkörperung ist ein weiteres Grundelement der Animismus-Theorie Tylors 60, das Nietzsche übernimmt: So wie nun Mensch den Mensch bestimmt, so bestimmt er auch irgend einen Naturgeist; der hat auch sein Körperliches, an dem er zu fassen ist. Der Baum und neben ihm der Keim, aus dem er entstand, scheinen zu beweisen, daß dies nur Einkörperungen von einem Geiste sind. Ein Stein, der plötzlich rollt, ist der Leib, in dem ein Geist wirkt: liegt auf einsamer Haide ein ungeheurer Block, so muß der sich selbst hinbewegt haben, also einen Geist beherbergen (368).
Schließlich kommt Nietzsche zu der pointierten Aussage, die er zu Beginn der „speziellere(n) Ansätze“ zur Entstehung eines Kultes über das „Ahnengrab“ trifft: „Der Todtenkultus ist noch älter als der Götterkultus, und der Glaube an Ahnengeister früher, ja eine nothwendige Vorstufe im Glauben an die belebte Natur; hier haben die Menschen die pietätvolle Affektion gegen Geister gelernt“ (370). In einer Vorstufe dazu heißt es – thetisch formuliert: „Zau-
_____________ 59 A. a. O., 52. 60 Vgl. E. B. Tylor, Die Anfänge der Cultur, Band 2, 1873, 153, 160 und 222f.
Vgl. dazu näher A. Orsucci, Orient – Okzident, 1996, 69f.
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3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
berei ist die Voraussetzung der Religion. Todtenkult der Ausgang des Geisterkultes“61. Der animistische Grundcharakter wird hier durch den Totenkult akzentuiert und am Beispiel der römischen Kultur exemplifiziert: Besonders gut haben die Römer diese Vorstellung ausgebildet. In ältester Zeit begrub man die Todten im Hause (Nissen Templ. p. 147). Als lares, „Herren“, wachen die geschiedenen Geister darüber, daß alles mit rechten Dingen zugehe. Der lar familiaris ist der Ahnherr des ganzen Hauses (…) Der Italiker hatte keinen unbewachten Augenblick im Leben, Geisteraugen sehen alles, Geisterohren hören alles (II 5, 370).
Mit dem Geisterglauben eng verbunden ist die „Zauberei“. Den letzteren Themenbereich hat Nietzsche überwiegend mit Beispielen aus Lubbocks ‚Entstehung der Civilisation‘ illustriert, der sich aber seinerseits gelegentlich auf Tylor beruft. 4.3.3. Rezeption von Auffassungen aus Lubbocks ‚Entstehung der Civilisation‘‘ Wie erwähnt, hat Nietzsche etwa zur selben Zeit, als er Tylors Hauptwerk gelesen hat (Entlehnung Ende Juni 1875), das Buch ‚Die Entstehung der Civilisation und der Urzustand des Menschengeschlechtes‘ (Jena 1875, Originaltitel ‚The Origin of Civilisation and the Primitive Condition of Man‘, 1870) von John Lubbock gekauft (im Juli 1875). Dieser universal orientierte Wissenschaftler hat sich mit der Prähistorie und mit den Sitten indigener Völker befasst. Er hat weiters zoologische, physiologische, archäologische sowie ethnologische Studien betrieben und war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch im deutschen Sprachraum bekannt62. Lubbock war kein Religionswissenschaftler im engeren Sinn, aber er wandte sich Themen zu, die in der damaligen Zeit diskutiert wurden und die zentral für die Frühgeschichte der Religionswissenschaft waren, wie z. B. dem Ursprung
_____________ 61 Mp XI 7 (Bl. 110). 62 Vgl. dazu Art. Lubbock, J., in: Meyers Konv.-Lexikon 10, 944.
4. Religionsethnologie und Philologie
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der Religionen; zudem befasste er sich mit Grundbegriffen der Religionsethnologie (wie z. B. dem Fetischismus). Nietzsche benutzte dessen Werk ausgiebig für die Vorbereitung der Vorlesung ‚Gottesdienst der Griechen‘, und in der Vorlesung wird namentlich auf Lubbock verwiesen, nämlich bei der Darstellung der These, dass bei dem „magie- und wundersüchtigen Menschen“ der archaischen Zeit „überhaupt jeder Begriff der natürlichen Causalität (fehlt)“ (II 5, 366f). Nietzsche schreibt: „In Indien pflegt (nach Lubbock) ein Tischler seinem Hammer, seinem Beil u. den übrigen Werkzeugen Opfer darzubringen. Ein Brahmane behandelt den Stift, mit dem er schreibt, ein Soldat die Waffen, die er im Felde braucht, ein Maurer seine Kelle, ein Arbeiter seinen Pflug in gleicher Weise“ (367). Dies ist inhaltlich eine Wiedergabe aus Lubbocks genanntem Werk63. Eine weitere Stelle, in der Nietzsche den englischen Anthropologen – ohne ihn zu nennen – zitiert, ist ebenfalls ein Beispiel dafür, dass ein „falscher Begriff der Causalität“ vorliege, die „Verwechselung des Nacheinander mit dem Begriff der Wirkung“: „ ‚Jemand nahm den Trank ein; später wurde er gesund – also in Folge des Trankes!‘ so schließt man. Der König der Coussa-Kaffern hatte ein Stück von einem gestrandeten Anker abgebrochen und starb bald darauf. Sämmtliche Kaffern hielten nunmehr den Anker für ein lebendes Wesen und grüßten ihn ehrfurchtsvoll, sobald sie in seine Nähe kamen“ (365). Lubbock führt dieses Beispiel
_____________ 63 Vgl. J. Lubbock, Die Entstehung der Civilisation, 1875 (BN), 239: „In In-
dien (…) pflegt eine Frau den Korb zu verehren, welcher ihre Lebensbedürfnisse enthält, und ihm Opfer darzubringen; das Nämliche thut sie mit der Reismühle und allen anderen Geräthen, die sie zu ihren häuslichen Arbeiten benutzt. Ein Tischler zollt die gleiche Ehrerbietung seinem Hammer, seinem Beil und den übrigen Werkzeugen; er bringt ihnen ebenfalls Opfer dar. Ein Brahmane behandelt den Stift, mit dem er schreibt, ein Soldat die Waffen, die er im Felde braucht, ein Maurer seine Kelle und ein Arbeiter seinen Pflug in gleicher Weise“.
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3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
an, um „die uns auf den ersten Blick so fremdartig erscheinende Neigung“ zu erklären, „leblose Dinge zu vergöttern“64. Eine weitere Stelle aus Lubbocks Werk zeigt, wie die Menschen in früheren Kulturen über die Körperlichkeit der bildlichen Repräsentationen auf die Götter eingewirkt haben: Alles, was einen Leib hat, ist der Zauberei zugänglich, also auch die Naturgeister. Ist ein Gott geradezu an sein Bild gebunden, so kann man auch ganz direkten Zwang gegen ihn ausüben. Die geringen Leute in China umwinden das Bild eines Gottes, der sie in Stich läßt, mit Stricken, reißen es nieder, schleifen es über die Straßen durch Lehm- und Düngerhaufen; ‚du Hund von einem Geiste‘, sagen sie, ‚wir ließen dich in einem prächtigen Tempel wohnen, wir vergoldeten dich hübsch, wir fütterten dich gut, wir brachten dir Opfer und doch bist du so undankbar.‘ (368f)65
Lubbock führt diese Behandlung von „Götzenbildern“ als Beispiel für den Fetischismus an, der nach seinem Urteil „gleichbedeutend mit Zauberei (ist)“66. Nachdem es Lubbocks Anschauung ist, dass „die Zauberer aller Weltgegenden eine Macht über einen Feind zu haben glauben, falls sie von demselben etwas in Besitz erhalten können“67, erscheint ihm „der Fetischismus eine Erweiterung dieses Glaubens“ zu sein. Der Neger denkt, daß der Besitz eines einen Geist darstellenden Fetisches bewirkt, daß der Geist sein Diener wird. Bekanntlich schlagen die Neger ihren Fetisch, wenn ihre Gebete keine Erhörung finden (…) Daher kann man den Fetisch eigentlich kein Idol nennen (...) Ein Idol ist ein Gegenstand der Anbetung, während dagegen ein Fetisch die Gottheit unter die Herrschaft des Menschen bringen soll (…)68.
_____________ 64 Siehe dazu a. a. O., 236; siehe auch A. Orsucci, Orient – Okzident, 1996,
65 66 67 68
16, der diese Stelle im Quellenverzeichnis (375) unter „Lubbock“ anführt (vgl. 24ff, 37ff, 192ff). Nietzsche notiert in seinen Aufzeichnungen Mp XI 6 (Bl. 76) zweimal „Lubbock p. 236“. Dies ist ein großteils wörtliches Zitat aus J. Lubbock, a. a. O., 279f. A. a. O., 276. Ebd. A. a. O., 277.
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In den „Vorarbeiten“ Nietzsches finden sich ebenfalls Verweise auf Seiten aus Lubbocks Werk ‚Die Entstehung der Civilisation‘. So wird die Stelle über den Umgang mit einem „nutzlosen“ Götterbild in China, das bei Lubbock auf Seite 279 steht, angeführt, um einen Grundbegriff magischen Denkens zu erklären: Wodurch zwingt man? Einmal durch Fesselung (darüber geschrieben die Seitenangabe; J. F.) Lubbock p. 279, Knechtung im direkten Sinne. Sodann durch Magie u. Sympathie, so wie der Arzt auf den Kranken einwirkt, der Liebhaber auf die ferne Geliebte. Drittens auf Grund von Verträgen, wobei Schwüre gewechselt sind, Unterpfänder gegeben sind, wodurch sich jemand selber gebunden hat (Mp XI 7 [Bl. 139]).
Diese Texte sind Vorstufen zu den Ausführungen über die Arten des Zwanges bei der Zauberei: Die harmloseste Art ist der Zwang, den man ausübt, wenn man Jemandes Neigung erwirbt (...) Dann kann man Verträge schließen, wobei man sich zu bestimmtem Verhalten gegenseitig verpflichtet und Pfänder stellt, Schwüre wechselt. Aber es kann auch ein gewaltsamer Zwang ausgeübt werden, durch Magie u. Zauberei: wie der Mensch mit Hülfe des Zauberers einem Feind schadet u. ihn vor sich in Angst erhält, wie der Liebeszauber in die Ferne wirkt (KGW II 5, 368).
An einer anderen Stelle der „Vorarbeiten“ lesen wir: „Einfluss auf entfernte Personen übt man, indem man auf etwas mit ihnen nah Zusammenhängendes wirkt – Kleider, abgeschnitt<ene> Stücke Haar, Nägel“ (Mp XI 7)69. Die wichtigste magische Praxis wird in der Vorlesung dementsprechend charakterisiert: „Das Hauptmittel aller Zauberei ist, daß man etwas in Gewalt bekommt, was jemandem gehört, Haare, Nägel, etwas Speise von seinem Tisch, ja selbst sein Bild, seinen Namen“ (KGW II 5, 368). Eine Quelle dafür ist eine fast gleich lautende Stelle aus Tylors Hauptwerk70.
_____________ 69 Zit. in A. Orsucci, Orient – Okzident, 1996, 67. 70 E. B. Tylor, Die Anfänge der Cultur, Band 1, 1873, 115: siehe A. Orsucci,
a. a. O., 67 mit Anm. 29.
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3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
Dieselben Beispiele finden sich unter Berufung auf „Taylor (sic!)“ auch in Lubbocks Werk ‚Die Entstehung der Civilisation‘71. Auch andere Quellen – aber mit demselben Aussagegehalt72 – führt Lubbock für dieses magische Verhalten an: „Gewöhnlich halten es die ‚Wilden für unerläßlich, daß der Zauberer zu seinem Werke etwas erhält, das mit dem erwählten Opfer in körperlichem Zusammenhange steht; sei es nun eine Locke seines Haares, etwas von seinem Speichel, einige Schnitzel von seinen Nägeln oder ein wenig von seinem Essen (…)‘ “73. Krankheit und Tod werden im magischen Denken – nach Nietzsches Darstellung – ebenfalls nicht als natürliche Phänomene verstanden: „Alle Erkrankungen, der Tod selbst ist Resultat magischer Einwirkungen. Es geht beim Krankwerden u. Sterben nie natürlich zu; die ganze Vorstellung vom ‚natürlichen Hergang‘ fehlt (…)“ (367). Für diese Sicht „primitiver“ Völker führen Tylor und Lubbock zahlreiche Belege an74. In dem Buch ‚Die Entstehung der Civilisation‘ sagt Letzterer: „Ein Wilder, welcher annimmt, daß alle Erkrankungen ein Ergebniß der Zauberei sind, hält natürlich auch den Tod für das Resultat magischer Künste (…) Ungemein häufig finden wir bei den niederen Rassen die Ueberzeugung, daß der Tod nie in Folge naturgemäßer Gründe einträte. Sie glauben vielmehr, daß alle diejenigen, welche keiner äußern Verletzung erlagen, ein Opfer der Zauberei wurden“75. Zusammenfassend kann über Nietzsches Rezeption der Hauptwerke von Tylor und Lubbock festgestellt werden, dass sie dazu beigetragen hat, dass er sich eine neue Sicht für die philologische Darstellung der griechischen Religion angeeignet hat. Es geht ihm dabei um die vorgriechischen, vorklassischen Ursprünge, die Elemente hätten, die für archaische Religionen generell gälten, wenn er
_____________ 71 72 73 74 75
Vgl. J. Lubbock, Die Entstehung der Civilisation, 1875 (BN), 204f. Vgl. z. B. auch a. a. O., 278 (zum „Talisman“). A. a. O., 204. Vgl. a. a. O., 186ff. A. a. O., 187.
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z. B. die Religion auf den Totenkult bzw. Geisterglauben zurückführt. Damit ist der religionsvergleichende Aspekt über den Bereich der „indogermanischen“ Sprachen hinaus ausgeweitet worden: auf animistische Welterfahrungen und auf konkrete ethnologische Beispiele aus Indien, China und anderen Kulturen. Im Gegensatz dazu hatte er in dem oben analysierten Konzept über die „Encyclopädie“ (1868) notiert, dass „rohere Völker keine Philologie (haben), sondern nur Ethnographie“76 – und darum aus dem Gegenstandsbereich der Philologie im engeren Sinn auszuklammern seien. Hier nun werden ethnographische Kenntnisse bewusst einbezogen, um die zentralen Elemente der Religion zu deuten. Diese philologische Vorlesung ist daher auch aus religionswissenschaftlicher Perspektive von besonderem Interesse, da sie zeigt, in welcher Weise die religiösen Themenbereiche einer bestimmten – nämlich der griechischen – Kultur in den Kontext von „archaischen Kulturstufen“ (wie sie Nietzsche rezipiert) hineingestellt werden. Es war überhaupt ein Grundgedanke Nietzsches, der ihn auch in den späteren Werken begleitete, dass von den archaischen Ursprüngen her das gegenwärtige Phänomen besser verstanden werden könne. Zugleich wird das aktuelle Erscheinungsbild von seinen Ursprüngen her hinterfragt und in seinen „rohen“ – wie Nietzsche sagt – Untergründen erfasst, wie es z. B. der Gedanke ausdrückt, dass Recht auf Rache beruhe. Wie oben schon hingewiesen wurde77, ist diese Aussage, die mit dem „unreinen Denken“ in Verbindung gebracht wird, diskriminierend; Analoges trifft auf Ausdrücke wie die „rohen“ und „wilden“ Völker zu. Dies hängt auch mit den rassentheoretischen Annahmen zusammen, die teils mit der seit Anfang des 19. (in Ansätzen schon Ende des 18.) Jahrhunderts ent-
_____________ 76 Vgl. oben S. 210. 77 Vgl. S. 247, Anm. 32.
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3. Kapitel: Nietzsches akademische Tätigkeit
stehenden Sprachwissenschaft78 sowie in der Ethnologie79 dieser Zeit anzutreffen waren. Sowohl in späteren Werken Nietzsches als auch in philosophischen Notizen und Publikationen sowie Plänen dazu aus der Zeit seiner Professorentätigkeit lässt sich das Nachwirken seiner religionswissenschaftlich-philologischen Studien sowie der sie leitenden Methoden aufweisen. Aber es ist hier weder beabsichtigt, dieses „Weiterwirken“ früh rezipierter Ideen in einem umfassenderen Sinn aufzuzeigen – dies würde eine weitere, zudem sehr umfangreiche Monographie erfordern, noch sollen spätere Auffassungen und Ideen Nietzsches von früheren „abgeleitet“ werden, da dies dem sich weiterentwickelnden Denken Nietzsches keinesfalls gerecht würde, besonders auch nicht der Tatsache, dass Nietzsche neben und nach seiner philologischen Tätigkeit weiterhin mit einer Fülle von Informationen über „fremde“ Kulturen und Religionen konfrontiert war, die z. T. weit über die Kenntnisse hinausreichten, die er auf seinem Weg der Ausbildung sowie auch der eigenen Lehrtätigkeit erworben hatte. Es soll im anschließenden Kapitel nur auf einige wichtige religionstheoretische und methodologische Aspekte seiner Darstellung eingegangen werden, die in einem nachweislichen Zusammenhang mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit stehen. Im Ganzen vermögen sie m. E. zu zeigen, dass die transkulturelle Ausrichtung der Philosophie Nietzsches ohne Kenntnis seines Bildungsweges und der wissenschaftlichen Methode seiner Zeit – einschließlich der damals entstehenden Religionswissenschaft – kaum angemessen interpretiert werden kann.
_____________ 78 Vgl. bes. R. Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland, 21989;
M. Olender, Die Sprachen des Paradieses. Religion, Philologie und Rassentheorie im 19. Jahrhundert, 1995. Siehe auch S. 284 mit Anm. 17. 79 Vgl. bes. W. Petermann, Die Geschichte der Ethnologie, 2004, zur Rassentheorie, passim; zu Pott, a. a. O., 408; zu Tylor und Lubbock z. B. 466; zu Nietzsche 557ff.
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
Nietzsches Denken ist von den methodologischen Strukturen, aber auch von den inhaltlichen Grundmotiven, die er in seinem bildungsmäßigen Werdegang und vor allem in seiner wissenschaftlich-philologischen Ausbildung und Tätigkeit kennen gelernt hat, auch noch zu jener Zeit geprägt, als er beruflich keine philologische Tätigkeit mehr ausübt. Seine Philosophie bleibt in methodologischen und inhaltlichen Aspekten weiterhin von der Philologie geprägt, wenngleich die Methoden der „Genealogie“ und der „Historie“ eine neue Funktion und veränderte Bedeutung im philosophischen Kontext erhalten. Nietzsche selbst hat schon als Student – und ebenso dann in seiner Professorenzeit – darum gerungen, eine neue Bestimmung des Verhältnisses von Philologie und Philosophie zu erreichen, bis schließlich die Letztere zum Maßstab der Ersteren wurde, was zu großen Spannungen führte. Nietzsches gespanntes Verhältnis zur Philologie war spätestens seit der Publikation der ‚Geburt der Tragödie‘ (1872) auch einer weiteren wissenschaftlichen und allgemeinen Öffentlichkeit bekannt geworden. Zugleich aber verfolgt er in diesen Schriften Intentionen, die die „eigene“ Kultur überschreiten. Diese transkulturellen Ansätze zeigen sich schon in der ‚Geburt der Tragödie‘, und sie werden durch die ‚Unzeitgemäßen Betrachtungen‘ in den Folgejahren (1872-1874), insbesondere durch die zweite und dritte, nämlich ‚Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben‘ (1874) und ‚Schopenhauer als Erzieher‘ (1874), noch vertieft. Auf diese frühen philosophischen Schriften ist im vorliegenden Kapitel zunächst einzugehen, anschließend daran auf spätere Schriften. Es werden in diesem Kapitel aber nur einige Aspekte des vielschichtigen Verhältnisses Nietzsches zu den Religionen innerhalb seines
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
philosophischen Werkes behandelt, die im Rahmen der Gesamtthematik m. E. besonders wichtig sind1.
1. Transkulturelle Perspektiven in der ‚Geburt der Tragödie‘2
1. Transkulturelle Perspektiven In einer Zeit der intensivierten Begegnung zwischen verschiedenen Kulturräumen wächst das Desiderat einer Theorie, die es einerseits vermag, gemeinsame Strukturen unterschiedlicher Kulturen zu erfassen, ohne dass dabei andererseits der eigentümliche Charakter der jeweils spezifischen Kultur übergangen wird; vielmehr müsste vom allgemeinen Kulturbegriff her und vor dessen Hintergrund das Besondere einer einzelnen Kultur klarer interpretierbar sein. Kultur als solche ist so zu definieren, dass die speziellen Formen in ihrer Verschiedenheit von einem umfassenden Verständnis her
_____________ 1
2
Auf weitere Aspekte bin ich schon in früheren Publikationen eingegangen, auf die ich hier verweisen will, wie auf den Beitrag ‚Die Religion als Kulturphänomen – Gegenstand der Kritik Nietzsches‘, in: E. Biser (Hg.), Besieger Gottes und des Nichts, 1982, 52-83 (besonders zu ‚Unzeitgemäßen Betrachtungen‘), und die entsprechenden Ausführungen in Dialektik der Gewalt, 1984, besonders 8. Kapitel: ‚Der Tod Gottes als Folge des wissenschaftlich-historischen Denkens‘ (254ff), im 9. Kapitel zu ‚Grausamkeit – der Grundtext der Religion‘ (282ff) und im 11. Kapitel zum Anfang und ‚Kreislauf der Kulturen‘ (342ff). „Philologie“ und „Grammatik“ sind für Nietzsches Religionstheorie bis ins Spätwerk von Bedeutung, einschließlich etymologischer Ableitungen (z. B. von „Gut und Schlecht“: vgl. die ‚Erste Abhandlung‘ von ‚Zur Genealogie der Moral‘, KGW VI 2, 269ff). Dieser Abschnitt wurde im Wesentlichen unter dem Titel ‚Kultur, Kunst und Religion. Transkulturelle Perspektiven angesichts des Buddhismus-Verständnisses in Nietzsches Geburt der Tragödie‘ in Zen Buddhism Today. Annual Report of the Kyoto Zen Symposion Nr. 9, 1992, 46-60, veröffentlicht. Er geht auf einen Vortrag beim Kyoto-ZenSymposion 1992 zurück, welches das Thema ‚Religion and Culture in the Contemporary World‘ hatte.
1. Transkulturelle Perspektiven
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ausgelegt werden können. Das Konzept eines solchen Kulturbegriffs finden wir bei Nietzsche – wenn auch nur in elementaren Ansätzen – vorgebildet, und zwar im Besonderen aus der Zeit der Ausarbeitung der ‚Geburt der Tragödie‘. Doch Nietzsche ging es in diesem bedeutsamen philosophischen Erstlingswerk wie in seinen späteren kritischen Reflexionen nicht bloß um eine begriffliche, theoretische Bestimmung von Kultur, sondern seine denkerischen Bemühungen waren stets verbunden mit der Suche nach der daseinsermöglichenden, lebensfördernden Kultur; er hat mit der Theorie die Frage nach der Therapie der Kulturen verbunden, die in seinen Augen die trotz aller Negativität mögliche Entfaltung des Lebens stark einschränken. Gerade auch das Werk ‚Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘ kann als Suche nach einer neuen Kultur verstanden werden, die – im Anschluss an die griechische Welt – „als die einzige und tiefste Lebensmöglichkeit“ (KGW III 3, 297: 9 [36]) angestrebt wird und in deren Horizont die Kultur seiner Zeit als Abfall erscheint. Es sind darum jene „Mittel“ zu suchen, die vor deren Gefahren zu „retten“ vermögen; das wesentliche Medium dieser intendierten integren Kultur ist in Nietzsches Frühzeit zweifelsohne die Kunst, besonders die Tragödie. Auf sie hin und von ihrem Idealbegriff her interpretiert er alternative Kulturen, zu denen im Besonderen die tragisch bzw. buddhistisch genannte gehört. 1.1. Kulturphilosophisches Axiom: Kulturen als „Illusionswelten“ Nietzsches Überlegungen aus der Zeit der Abfassung der ‚Geburt der Tragödie‘ implizieren eine bestimmte Theorie der Kultur, die terminologisch noch stark von Schopenhauers Werk ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘ beeinflusst ist. Dennoch verbirgt sich hinter der Terminologie weithin eine genuin Nietzscheanische Vorstellungswelt. Nach diesem Konzept ist der Mensch in jeder Kultur von Wahnvorstellungen beherrscht. Die Kultur strukturiert eine Illusionswelt, die das Ziel hat, den Menschen das Leben zu ermöglichen,
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
sie ans Dasein zu fesseln. Movens dieser Verlockung zum Dasein ist der „gierige Wille“, der zu diesem Zweck eine „Illusion“ über die Dinge breitet; es sind also „Reizmittel“, und aus ihnen „besteht alles, was wir Cultur nennen“ (KGW III 1, 111f: GT 18). Ihre Umschreibung erfasst die Inhalte der Kultur, nämlich Vaterlandsliebe, Geschlecht, Wissenschaft, Willensfreiheit, aber auch Frömmigkeit und Konfession (vgl. KGW III 3, 103: 5 [27]); bei all diesem handle es sich wesentlich um „Wahnvorstellungen“ (102: 5 [24][26]). Eine Kultur gründet somit auf „Illusionen“, die insofern Bedingung des Daseins sind, als sie über die Unlust am Dasein „hinwegtäuschen“ sollen (vgl. KGW III 1, 112: GT 18). Nietzsche unterscheidet in der ‚Geburt der Tragödie‘ Nr. 18 (III 1, 111-116) „drei Illusionsstufen“ der „edler ausgestatteten Naturen“; von den „gemeineren und fast noch kräftigeren Illusionen“ will er hier schweigen: erstens nennt er „die sokratische Lust des Erkennens“, zweitens den „Schönheitsschleier der Kunst“ und drittens den „metaphysische(n) Trost“, „dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst“ (111f). Es gibt also die „sokratische“, die „künstlerische“ und die „tragische Cultur“; historisch werden sie – vereinfacht gesehen – in der „alexandrinische(n)“, „hellenische(n)“ und „buddhaistische(n) Cultur“ repräsentiert. Die einzelnen Ausgestaltungen kommen zustande, wenn jeweils ein Aspekt der menschlichen Illusionen in den Vordergrund rückt; jeder Typ ist Ausdruck einer jeweils spezifischen „Proportion der Mischungen (scil. der Reizmittel; J. F.)“ (112). 1.1.1. Die theoretische Kultur der Moderne Idealtypisch kennzeichnet Nietzsche die sokratisch-alexandrinische Kultur als jene, die zur Moderne geführt hat. Von ihrem Verständnis her entwickelt er eine Theorie der Moderne. Nietzsche sagt im Zusammenhang mit der Beschreibung der sokratischen Kultur: „Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Cultur befangen“; ihr Ideal ist der theoretische Mensch,
1. Transkulturelle Perspektiven
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„dessen Urbild und Stammvater Sokrates“ ist (III 1, 112). Die Grundthese von Nietzsche lautet, dass Sokrates als der theoretische Mensch den Sieg über die tragische griechische Weltauffassung errungen habe, indem er die Moral und die Kunst in den Dienst des Willens gestellt habe; dass durch den theoretischen Menschen, der teleologisch denke, die Mythologie zerstört werde und die Volksinstinkte ausgelöscht würden3. In verschiedenen Bereichen der Kultur – einschließlich der Religion – zeigt Nietzsche auf, wohin diese rationalistische Akzentuierung des abendländischen Weltverhältnisses geführt hat – nämlich zum Verlust einer tragischen bzw. mythisch-umfassenden Welterfahrung. Und er meint, dass nun eine Situation eingetreten sei, in der die sokratische Kultur an ihr Ende gelange, wodurch nun in neuer Weise eine tragische Perspektive eröffnet werde. Von zwei Seiten her beginne heute der moderne Mensch die Grenzen der sokratischen Kultur zu ahnen, von zwei Seiten aus sei sie erschüttert. Nietzsche nennt zuerst den sozialgeschichtlichen Grund: den „Glaube(n) an das Erdenglück Aller“ (113); diesen „optimistische(n) Geist“ bezeichnet er „als den Vernichtungskeim unserer Gesellschaft“; er sei zudem auch in „unsere(n) blassen und ermüdeten Religionen“ zur Herrschaft gekommen, „die selbst in ihren Fundamenten zu Gelehrtenreligionen entartet sind: so daß der Mythus, die nothwendige Voraussetzung jeder Religion, bereits überall gelähmt ist (…)“ (ebd.)4; dann verweist er auf eine philosophiegeschichtliche Perspektive: das Rüstzeug der Wissenschaft selbst werde von Schopenhauer und Kant benutzt, um die Grenzen des Erkennens aufzuzeigen; die aeternae veritates hätten zur Folge gehabt, dass die Erscheinung – „das Werk der Maja“ (114) – an die Stelle des innersten und wahren Wesens trete und daher die Erkenntnis des wahren Wesens der Dinge unmöglich gemacht sei.
_____________ 3 4
Vgl. KGW III 3, 83: 3 [86], a. a. O., 69f: 3 [33]. Vgl. dazu J. Figl, Die Religion als Kulturphänomen – Gegenstand der Kritik Nietzsches (1982) 54ff: ‚Die Destruktion des mythischen Horizonts der Religion‘.
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
„Mit dieser Erkenntniss ist eine Cultur eingeleitet“, welche er „als eine tragische zu bezeichnen wage“ (ebd.). Es ist erhellend, dass noch im Druckmanuskript „buddhaistische“ gestanden war, das aber Nietzsche zu „tragische“ korrigiert hat5. 1.1.2. Die tragisch-buddhistische Kultur Die tragisch-buddhistische Weltsicht ist gleichsam die Kehrseite der sokratischen: als Gegensatz zur sokratischen steht sie einerseits in einer gewissen Parallele zur künstlerischen Weltsicht, doch ist sie andererseits mit der künstlerischen keinesfalls identisch, sondern in charakteristischer Weise von ihr unterschieden: ihr fehlt gerade jene Dimension, die das Hauptmerkmal der künstlerischen bzw. ästhetischen Weltanschauung ausmacht, nämlich die Kunst-Erfahrung. In dieser Hinsicht ist sie der sokratischen verwandt, die ebenfalls im Gegensatz zur ästhetisch-mythologischen Weltdeutung gesehen wird. Insoweit nun Nietzsche die tragische Weltsicht als die buddhistische bezeichnet, ist einerseits eine gewisse Verwandtschaft zwischen seiner Konzeption, die sich als künstlerische versteht, und dem Buddhismus gegeben, und andererseits zugleich eine spezifische Differenz. Sowohl die Ähnlichkeiten bzw. Gemeinsamkeiten sind daher zu beachten, als auch die Unterschiede. Beide Aspekte dieses Verhältnisses, die wesentlich für Nietzsches Buddhismus-Verständnis sind, sollen auf der Basis seiner Aussagen aus der Zeit der ‚Geburt der Tragödie‘ dargestellt werden.
_____________ 5
Vgl. KGW III 5/1, Nb. 335; im Handexemplar der zweiten Auflage (1874) steht am Rand „indische (brahmanische)“; ob diese Ergänzung von Nietzsches Hand ist, hatte Montinari noch mit einem Fragezeichen versehen: vgl. F. Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (= KSA), Band 14, 55.
1. Transkulturelle Perspektiven
273
1.2. Tragische Kunst und buddhistische Religion: Gemeinsamkeiten und Differenzen 1.2.1. Nähe zum und Abkehr vom Weg des „indischen Buddhaismus“ Der Buddhismus bildet für Nietzsche eine Konzeption, die seinem eigenen Ansatz einer tragischen Weltsicht im Prinzip nahesteht, und es ist von da her auch zu verstehen, wenn er sich abzugrenzen versucht. Es geht nicht um eine totale Abgrenzung, sondern um das Finden der eigenen Position angesichts der buddhistisch-„nihilistischen“ Alternative. In verschiedenen Aufzeichnungen aus der Zeit der Ausarbeitung bzw. Fertigstellung der ‚Geburt der Tragödie‘6 ist das Suchen eines Weges dokumentiert, der sich – trotz der Ähnlichkeit – vom buddhistischen bzw. indischen
_____________ 6
Das Werk ‚Die Geburt der Tragödie‘ (GT) ist im Jänner 1872 erschienen, im Verlag E. W. Fritsch in Leipzig, der der Verleger Wagners war. Die endgültige Gestalt hatte es im Sommer/Herbst 1871 angenommen, nachdem Nietzsche schon am 20. April 1871 den Anfang der geplanten Broschüre an den Verleger Wilhelm Engelmann in Leipzig geschickt hatte; da dieser drei Monate – bis Ende Juni – gezögert hatte, bevor er sich zur Drucklegung bereit erklärte, hatte Nietzsche das Teilmanuskript wieder zurückverlangt (vgl. KSA, Band 14, 42f). Eine teilweise Vorveröffentlichung der GT (Kapitel 1-15) stellt der Privatdruck ‚Sokrates und die griechische Tragödie‘ dar, die Nietzsche Anfang Juni 1871 erscheinen ließ. Gedanken dieser Abhandlung sowie anderer nachgelassener Schriften (‚Die dionysische Weltanschauung‘, ‚Die Geburt des tragischen Gedankens‘) (siehe KGW III 2, 43-91) sind in zwei in Basel gehaltenen, öffentlichen Vorträgen Nietzsches (18. Jänner und 1. Februar 1870) schon vor einem kleineren Kreis von Zuhörern – darunter auch Jacob Burckhardt – geäußert worden; diese Vorträge hatten die Titel ‚Das griechische Musikdrama‘ und ‚Socrates und die Tragoedie‘ (KGW III 2, 3-41; Näheres zur Textgeschichte siehe KSA, Band 14, 41f. Vgl. zudem die Vorstufen zur ‚Geburt der Tragödie‘, in: KGW III 5/1, Nb. 209-304). Aus diesem Zeitraum (1869-1871) sind zahlreiche nachgelassene Fragmente erhalten, die Vorstufen zu den erwähnten Vorträgen bzw. zum Privatdruck und zur GT enthalten. Dieser Nachlass ist zur Interpretation der GT und ihrer Aussagen über den Buddhismus heranzuziehen.
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
unterscheidet. Dabei wird einerseits direkt die Alternative zwischen „Griechenland“ und „Indien“ hervorgehoben, andererseits wird der griechische Weg als die Überwindung einer anderen Alternative, nämlich jener zwischen „Rom“ und „Indien“, verstanden. Die erste Alternative erblickt Nietzsche in der griechischen Antike, die als verbindliches Lebensideal angesehen wird: Die griechische Welt als die einzige und tiefste Lebensmöglichkeit. Wir erleben das Phänomen wieder, das uns entweder nach Indien oder nach Griechenland treibt. Dies das Verhältniß von Schopenhauer und Wagner (KGW III 3, 297: 9 [36]).
Es ist interessant, dass Nietzsche Schopenhauer hier in einer kritischen Alternative zu Wagner sieht, obwohl er zu diesem Zeitpunkt – und noch bis zur ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘ ‚Schopenhauer als Erzieher‘ – im Bann dieses Denkers steht; daran kann ersehen werden, wie Nietzsche den durch Schopenhauer repräsentierten „indischen“ Weg beurteilt7. In Vorarbeiten zur ‚Geburt der Tragödie‘ finden wir auch die weitere Alternative, in der „Indien“ (als Synonym für den Buddhismus) einer anderen entgegengesetzten Weltsicht gegenübergestellt wird, nämlich der römischen. Hier lautet die formelhafte Fragestellung: „ ,Nach Rom oder nach Indien.‘ “ (III 3, 393: 13 [4] und 13 [6]). Im Text der ‚Geburt der Tragödie‘ werden diese polaren Gegensätze näher gekennzeichnet, und zwar als jene zwei Möglichkeiten, die sich ergeben könnten, wenn ein Volk den orgiastisch-dionysischen Lebensgrund erfahren hat: Von dem Orgiasmus aus führt für ein Volk nur ein Weg, der Weg zum indischen Buddhaismus, der, um überhaupt mit seiner Sehnsucht in’s Nichts ertragen zu werden, jener seltnen ekstatischen Zustände mit ihrer Erhebung über Raum, Zeit und Individuum bedarf (...). Eben so nothwendig geräth ein Volk, von der unbedingten Geltung der politi-
_____________ 7
Vgl. J. Figl, Nietzsches Begegnung mit Schopenhauers Hauptwerk, in: W. Schirmacher (Hg.), Schopenhauer, Nietzsche und die Kunst (Schopenhauer-Studien 4), 1991, 89-100.
1. Transkulturelle Perspektiven
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schen Triebe aus, in eine Bahn äusserster Verweltlichung, deren grossartigster, aber auch erschrecklichster Ausdruck das römische imperium ist (KGW III 1, 129: GT 21).
Doch jede dieser einseitigen Ausgestaltungen der genannten Alternative ist nach Nietzsches Sicht zu überwinden durch einen neuen Weg, den er in Griechenland vorgezeichnet findet. „Zwischen Indien und Rom hingestellt und zu verführerischer Wahl gedrängt“, so sagt er im Anschluss an das wiedergegebene Zitat, sei es nämlich „den Griechen gelungen, in classischer Reinheit eine dritte Form hinzuzuerfinden“ (ebd.). Diese dritte Gestalt erschöpfe sich „weder durch ein ekstatisches Brüten, noch durch ein verzehrendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre“, sondern führe zu der „herrliche(n) Mischung“, die in der Tragödie ihren Ausdruck findet (129f). 1.2.2. Der gemeinsame „Illusionshintergrund“ der Tragödie und des Buddhismus Die in der griechischen Tragödie von Nietzsche angenommene und in deren „Wiedergeburt“ in der Gegenwart erstrebte Idee der Erlösung ist die Antwort auf eine Erfahrung des Weltleidens, die auch dem Buddhismus zugrunde liege. In der Beschreibung dieser Situation als einer solchen, die das Leiden im Grunde der Dinge unverhüllt zeigt, würden Buddhismus und die tragische Weltsicht der Griechen übereinkommen. Beide Weltdeutungen – die der griechischen Tragödie und jene der buddhistischen Religion – hätten eine ähnliche Konzeption, die auf der Überzeugung beruhe, dass die Notwendigkeit des Leidens anerkannt werde. Somit „(ist) der Illusionshintergrund der Tragödie (…) der der buddhistischen Religion“ (KGW III 3, 125: 5 [102]), wie Nietzsche wörtlich sagt. Zugleich aber wird hier der Unterschied deutlich: in der Tragödie wird die Erfahrung des Leidens zum „Born einer Daseinsmöglichkeit“ (ebd.), während der Buddhismus nicht zu dieser Möglichkeit gelangt; ihm fehlt nämlich gerade jenes Merkmal, das die Tragödie konstituiert: die Kunst. Gerade sie aber vermag ange-
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
sichts der „Gefahr (…), sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen“ (KGW III 1, 52: GT 7), zu retten. 1.2.3. Buddhismus als unkünstlerischer „Quietismus“ Die tragische Weltsicht – jedoch ohne Kunst – ist nach Nietzsches Urteil die buddhistische! Pointiert spricht er dies in dem Satz aus: „Dem Buddhisten fehlt die Kunst: daher der Quietismus“ (KGW III 3, 108: 5 [44]). Die Intention dieses Satzes wird deutlicher, wenn man weitere Exzerpte aus Werken, die für Nietzsches Sicht des Buddhismus zur Zeit der Entstehung der ‚Geburt der Tragödie‘ wichtig waren, heranzieht, nämlich Carl Friedrich Koeppens Werk ‚Die Religion des Buddha‘ und Max Müllers ‚Essays‘8. So exzerpiert er – in dieser Sinnrichtung – nur ein einziges der zehn Gebote Buddhas, die Müller zur Gänze anführt; Nietzsche schreibt: „Das siebente Gebot Buddha’s an seine Jünger ist – sich öffentlicher Schauspiele zu enthalten“ (111: 5 [58]). Es ist durch diese Notiz also genau derjenige Aspekt der mönchischen Askese herausgehoben, der sich auf die Kunst (des Dramas) bezieht, und nicht etwa das Verbot kostspieliger Kleider (8. Gebot) oder un-
_____________ 8
Das bedeutsame, in der Mitte des 19. Jahrhunderts sehr bekannte Werk von C. F. Koeppen, Die Religion des Buddha, 2 Bde., 1857-1859 (vgl. das recht positive Urteil M. Müllers, Essays, Band 1, 1869, 180), hat Nietzsche am 25. Oktober 1870 aus der Baseler Universitätsbibliothek entlehnt (vgl. M. Montinari, KSA, Band 14, 575). Durch die Veröffentlichung der nachgelassenen Fragmente aus der Entstehungszeit der ‚Geburt der Tragödie‘ sind wir in der Lage, Nietzsches Lektüre von Max Müllers ‚Essays‘ festzustellen. Montinari hat nicht nur erstmals diese Fragmente im authentischen Wortlaut publiziert, sondern auch in seinem kritischen Kommentar dazu – in der Taschenbuchausgabe – auf die erwähnten Werke von Müller und Koeppen hingewiesen; vgl. KSA, Band 14, 534ff. Die Fragmente befinden sich vor allem in KGW III 3, 103ff: 5 [30ff]). Im Nachbericht dazu werden die einzelnen Stellen, die Nietzsche exzerpiert, detailliert aufgeschlüsselt; zur Stelle vgl. KGW III 5/2, Nb. 1512: Hinweis auf Koeppen, Die Religion des Buddha, Band 1, 1857, 504f; vgl. oben Anm. 18 zum 3. Kap., S. 233.
1. Transkulturelle Perspektiven
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zeitiger Mahlzeiten (6. Gebot). Es wird mithin die ästhetische Enthaltsamkeit innerhalb der buddhistischen Askese hervorgehoben. Positiv formuliert lautet dies so: „Die Kunst ist ein sicheres Positivum gegenüber dem erstrebenswerthen Nirwana“ (III 3, 75: 3 [55]). Grundsätzlich ergibt sich die Bedeutung der Kunst daraus, dass derjenige, der die „Wahnvorstellungen„ durchschaut, nur die Kunst zum Trost hat (vgl. 102: 5 [26]). Die buddhistische Sichtweise wäre demnach jene, die zwar auch die „Wahnvorstellungen“ durchschaut, aber nicht zur ästhetischen Deutung des Daseins findet; sie bleibt demgegenüber einer quietistischen Leidverfallenheit verhaftet, denn allein die Kunst könnte diesen „tragischen Quietismus“ überwinden. Unter Kunst ist nach Nietzsche vornehmlich die Tragödie zu verstehen, und sie hat konsequenterweise im Hinblick auf den Buddhismus – im Sinne eines „thatlosen Ausruhen(s)“ verstanden – die Aufgabe, diesen zu überwinden: „Vor dem Buddhaismus soll uns die Tragödie (...) retten“ (III 3, 391: 13 [2]). 1.3. „Dionysische“ Elemente im Buddhismus 1.3.1. „Orgiastische“ Feier des Frühlingsanfangs Nietzsche ist also im Grunde überzeugt, dass dem Buddhismus gerade jene ästhetisch-dionysische Dimension fehle, die im „Musikorgiasmus“ (KGW III 1, 130: GT 21) der Tragödie realisiert wird. Vor dem Hintergrund dieser generellen Beurteilung ist es erstaunlich und überraschend, dass Nietzsche im Buddhismus dennoch Elemente zu konstatieren vermag, die der Interpretation als „Quietismus“ partiell widersprechen. In diese Richtung ist die Feststellung zu lesen, dass der Buddhismus – gerade als Gegenpol zur „Sehnsucht in’s Nichts“ – „jener seltnen ekstatischen Zustände mit ihrer Erhebung über Raum, Zeit und Individuum bedarf“ (129). Hier werden die meditativ erlangte Ekstase und ihre Auswirkungen als ähnlich jener dionysisch-orgiastischen Erfahrung
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
beschrieben, für die ebenfalls Raum und Zeit und insbesondere das Individuum überschritten werden. Für eine solche Parallelisierung spricht auch das Faktum, dass Nietzsche in der ‚Geburt der Tragödie‘ mehrfach ausdrücklich eine „mystische“ Weltsicht anstrebt, wobei Mystik im dionysischen Sinn verstanden wird9. Dennoch ist es in den Augen Nietzsches verwunderlich, wenn in der Geschichte des Buddhismus von echten „orgiastischen“ Zuständen berichtet wird. In einer nachgelassenen Aufzeichnung, die aufgrund des Kontextes zu der in Nr. 21 der ‚Geburt der Tragödie‘ enthaltenen ekstatischen Bestimmung des Buddhismus gehört, bringt Nietzsche sein Erstaunen über diese Aspekte im Buddhismus zum Ausdruck. Im Anschluss an die Lektüre von Koeppens Schilderung des buddhistischen Festes des Frühlingsanfangs schreibt er: Sonderbare Erzählung über Buddha, der in der Feier des Frühlingsanfanges, da mit dem zugleich der siegreiche Kampf des Stifters der Lehre gegen die falschen Lehren überhaupt festlich begangen wird --- (sic!). Hier giebt er sich dramatischen Vorstellungen hin. Priester in orgiastischer Trunkenheit und Ausgelassenheit: Buddha selbst über seine Erlösung unzählicher Menschen, acht Tage lang weltl Ergötzungen. (KGW III 3, 393: 13 [3])10
1.3.2. Symbole der „Leere“ und des „Kreislaufs des Entstehens und Vergehens“ in der buddhistischen Kunst Im Anschluss an die zuletzt wiedergegebene Aufzeichnung notiert Nietzsche folgende Worte: Rad Was<s>erblase, hohle Bogenlinie (ebd.).
_____________ 9 Vgl. z. B. KGW III 3, 138: 6 [11]. 10 Vgl. zu „unzählicher“ KGW III 5/2, Nb. 1638: Berichtigungen; siehe auch
die Notiz KGW III 3, 104: 5 [31]: „Buddha übergab sich den dramatischen Vorstellungen, als er mit seiner Erkenntniß durchgedrungen war: ein Schlußsatz“. Vgl. dazu KGW III 5/2, Nb. 1511; hinsichtlich des Ausdruckes „orgiastisch“ ist zu bemerken, dass Koeppen über die „carnevalsartige Ausgelassenheit und die Trunkenheit der Priester“ schreibt (Die Religion des Buddha, Band 1, 1857, 575).
1. Transkulturelle Perspektiven
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Bei Koeppen findet sich eine höchst aufschlussreiche Illustration dieser Symbole buddhistischer Architektur, insbesondere des Stupa der ältesten Zeit11; bei der Beschäftigung mit Koeppens Werk konnte Nietzsche sowohl dem Rad als Symbol für das Zentrum der buddhistischen Weltanschauung begegnen, nach der alles in einem „ewigen Umschwunge und Kreislaufe des Entstehens und Vergehens“ sich befindet, als auch dem Begriff der Leere (śūnyatā), die durch die Wasserblase sinnbildlich dargestellt wird. Die Stelle lautet im vollen Wortlaut bei Koeppen: Nun zeigen die Söhne des Buddha überall in ihrer Architectur jene merkwürdige, höchst charakteristische Vorliebe für die Rundung, für die Wölbung und die Bogenlinie namentlich für den weit ausgeschweiften Hufeisenbogen, und diese Vorliebe wurzelt unfehlbar in dem Kern ihrer Welt- und Lebensanschauung. Dieser letzteren zufolge giebt es kein festes, bestimmtes Seyn, sondern Alles rollt und kreist im unaufhörlichen Wechsel und Wandel: darum ist das Rad ihr liebstes Symbol. Das Rad und die Kugel passen indess nur für die Ornamentik, doch nicht als selbstständige Formen für die Architectur. In dem ewigen Umschwunge und Kreislaufe des Entstehens und Vergehens bewährt sich aber eben die innere Nichtigkeit, Hohlheit und Leerheit aller Dinge, jeder Existenz, jeder Individualität. Diese Hohlheit und Leerheit, welche der Kern jeder Erscheinung ist, liess sich nun sinnlich und bildlich nur durch die Höhlung der Form, d. h. durch die Wölbung, durch die Bogenlinie und Kuppelform darstellen. Ein sehr beliebtes Bild für die Leere (Çûnya), in der alles Wesen beruht, ist nun bekanntlich in der buddhistischen Phraseologie die Wasserblase (...)12.
Bei der Lektüre dieses Abschnitts ist Nietzsche gewiss zentralen Aspekten der buddhistischen Weltsicht nahegekommen, die auch dem Selbstverständnis des Buddhismus weit angemessener sind als die Konzeption eines Nihilismus in der Nachfolge Schopenhauers es ist. Während sich Letzterer dem philosophiegeschichtlichen Horizont europäischen Denkens verdankt, verweisen die ange-
_____________ 11 Vgl. C. F. Koeppen, Die Religion des Buddha, Band 1, 1857, 546; vgl. a. a.
O., 547 (dazu KGW III 5/2, Nb. 1545). 12 A. a. O., 547.
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
sprochenen Symbole (Rad, Wasserblase, hohle Rundung) auf buddhistische Schlüsselbegriffe (Kreislauf der Wiederkehr als samsāra und Leere als śūnyatā). Diesen Momenten aber scheint Nietzsche nicht mehr weiter nachgegangen zu sein – sie hätten zu einem angemesseneren, auch schon zu seiner Zeit möglichen Buddhismusverständnis geführt, als es jenes von Schopenhauer war. Im Hinblick auf den Gedanken der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“, den Nietzsche im Herbst 1881 als zentralen „erfahren“ hat13, ist es von Interesse zu sehen, dass er etwa ein Jahrzehnt zuvor der buddhistischen Grundlehre von „dem ewigen Umschwunge und Kreislaufe des Entstehens und Vergehens“ bei der Lektüre Koeppens begegnet ist.
2. Alternative Beurteilung außereuropäischer Völker (‚Unzeitgemäße Betrachtungen‘)
2. Alternative Beurteilung außereuropäischer Völker 2.1. Die Forderung nach „geschichtlichen“ Völkern – ein „occidentalisches Vorurtheil“?
In Vorarbeiten zur zweiten ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘ aus dem Jahr 1873 zeichnet sich eine Kritik am damals verbreiteten Urteil über sogenannte „unhistorische“ Kulturen, wie besonders über jene der Inder, ab; die Forderung nach „geschichtliche(n) Menschen und Völker(n)“ könnte nach Nietzsches Meinung ein „occidentalisches Vorurtheil“ sein, das dazu führte, dass wir „die anderen verachten“: Am Ganges leben nach unserer Meinung schwach gewordene, in heissem Clima und Trägheit überdrüssige Menschen; wir werfen ihnen die schwache Persönlichkeit vor und erklären ihre unhistorische Betrachtungsart als Zeichen der Stagnation. Vielleicht aber ist auch unsere Forderung geschichtlicher Menschen und Völker nur ein occidentalisches Vorurtheil (KGW III 4, 278: 29 [88]).
_____________ 13 Vgl. S. 319f.
2. Alternative Beurteilung außereuropäischer Völker
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In der dritten ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘ über ‚Schopenhauer als Erzieher‘ werden die wissenschaftlichen Methoden in einen größeren Horizont hineingestellt. Es werden die philologischen Methoden insgesamt auf die Philosophie bezogen und an dieser gemessen. „Nur als Buch“ einen Autor kennen zu lernen, wie er es selbst mit Schopenhauer zunächst erlebte, erscheint ihm nun als „ein grosser Mangel“; es ist daher sein Anliegen, „durch das Buch hindurch zu sehen und mir den lebendigen Menschen vorzustellen“ (KGW III 1, 346: UB III, 2). Es geht darum, das lebendige Beispiel der Philosophen zu befolgen, das „ganze Völker nach sich ziehen kann“ – wofür er exemplarisch die indische Geschichte nennt: „die indische Geschichte, die beinahe die Geschichte der indischen Philosophie ist, beweist es“ (ebd.). Die hermeneutische Aufgabe lautet nun: „Man muss den Maler errathen, um das Bild zu verstehen, – das wusste Schopenhauer“ (352). Von hier aus werden die Wissenschaften generell kritisiert: Nun ist aber die ganze Zunft aller Wissenschaften darauf aus, jene Leinewand und jene Farben, aber nicht das Bild zu verstehen; ja man kann sagen, dass nur der, welcher das allgemeine Gemälde des Lebens und Daseins fest in’s Auge gefasst hat, sich der einzelnen Wissenschaften ohne eigene Schädigung bedienen wird, denn ohne ein solches regulatives Gesammtbild sind sie Stricke, die nirgends an’s Ende führen und unsern Lebenslauf nur noch verwirrter und labyrinthischer machen (352f).
Wenn Wissenschaften nicht im Kontext eines „Gesammtbild(es)“ gesehen werden, dann besteht die Gefahr, dass sie den Wissenschaftler „schädigen“. Wissenschaft gehört nach Nietzsche eingefügt in einen umfassenden Horizont – in jenen des Lebens. Auch in der Philosophie gehe es nicht um das „gelehrtenhafte Für und Wider“, sondern um die „Forderung jeder grossen Philosophie“, nämlich aus dem Bild allen Lebens den Sinn des eigenen Lebens
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
zu lernen, und umgekehrt: aus dem eigenen Leben „die Hieroglyphen des allgemeinen Lebens“ zu verstehen (353)14. Vom philologischen Studium klassischer Schriften gelangt Nietzsche zur existenziellen Interpretation der „Hieroglyphen“ des Lebens. Eine Distanz gegenüber dem üblichen Verständnis von Philologie zeigt sich auch in seinen Überlegungen zu der geplanten ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘ ‚Wir Philologen‘, wo er das Verständnis des Faches und der Griechen zu „vorklassischen“ und außereuropäischen Kulturen hin öffnet. 2.2. Besonderheit und Relativierung der Griechen im Vergleich zu „orientalischen“ Völkern In ‚Notizen zu Wir Philologen‘ im März 1875 meint Nietzsche, dass es schwer sei, „die Bevorzugung zu rechtfertigen, in der das Alterthum steht: denn sie ist aus Vorurtheilen entstanden“, und unter den Gründen nennt er: „1) aus Unwissenheit des sonstigen Alterthums, 2) aus einer falschen Idealisirung zur HumanitätsMenschheit überhaupt; während Inder und Chinesen jedenfalls humaner sind“ (KGW IV 1, 90: 3 [4]). Nietzsche stellt auch die generelle Niedrigerbewertung der nichtgriechischen Kulturen infrage, wie er sie bei Wolf sieht, der
_____________ 14 Dieses Postulat bringt überzeugend ein Wort des Kalifen Ali zum Aus-
druck, das Nietzsche als Motto in sein eigenes Exemplar der zusammengebundenen Bände der ersten und dritten ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘ geschrieben hat: „Dein Loos, das dir vom Leben zugewiesen ist, ist das Suchen nach dir selber: darum lasse ab von dem Suchen nach anderen Dingen. (Der Kalif Ali.)“ (mitgeteilt in BAW 1, LIII). Vgl. Nietzsches Wort in der dritten ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘: „sei du selbst!“ (KGW III 1, 334: UB III, 1), bzw. das bekannte Wort: „Werde, der du bist!“, das Nietzsche später öfters zitierte (siehe die Stellenangaben in KGB I 4, Nb. 473) und dessen griechische Fassung er schon in seiner Studentenzeit verwendete (vgl. die Briefe vom 3. November 1867 und 1.-3. Februar 1868 an E. Rohde: KGB I 2, 235 und 247).
2. Alternative Beurteilung außereuropäischer Völker
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meint, dass man „Aegypter Hebräer Perser und andre Nationen des Orients nicht auf Einer Linie mit Griechen und Römern aufstellen darf“, und dass jene sich gar nicht über „ ,bürgerliche Policirung oder Civilisation‘ “ erhoben hätten, „ ,im Gegensatze höherer eigentlicher Geistescultur‘ “; ferner stellt dieser den „fernsten Osten von Asien“ – („ ,ähnlich solchen Individuen, die […] niemals das Bedürfniss höherer Aufklärung empfinden‘ “) – den Griechen gegenüber (92: 3 [7])15. Nietzsche hingegen sagt: „Das eigentlich wissenschaftliche Volk, das Volk der Litteratur, sind die Aegypter und nicht die Griechen“ (IV 1, 148: 5 [122]; vgl. a. a. O., 135: 5 [66]). Dennoch bleibt in der neuen Gestalt der Philologie, die Nietzsche vor Augen hat, ebenfalls der Vorrang der griechischen Kultur gegenüber anderen Kulturen erhalten – sie waren Genie gerade auch im Nachahmen und als Lernende (vgl. a. a. O., 135: 5 [65])16.
_____________ 15 Vgl. den Verweis auf F. A. Wolf, Kleine Schriften, 1869, 817f, in: KGW IV
4, Nb. 359f. Vgl. die entsprechenden Stellen in der neuen Edition von Fragmenten von Wolfs geplanter ‚Einleitung in die Enzyklopädie der Altertumswissenschaft‘, in: R. Markner/G. Veltri (Hg.), Friedrich August Wolf. Studien, Dokumente, Bibliographie, 1999, 48-75, bes. 61; vgl. hier ebenfalls den Beitrag von A. Grafton, Juden und Griechen bei Friedrich August Wolf, 9-31; hinsichtlich der literarischen Gattungen, die nach Wolf im Orient fehlen würden, siehe B. von Reibnitz, Vom ‚Sprachkunstwerk‘ zur ‚Leselitteratur‘, in: T. Borsche u. a. (Hg.), ‚Centauren-Geburten‘. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, 1994, 48; vgl. zur kritischen Anfrage Nietzsches betreffend der „orientalischen“ Völker oben S. 210. 16 Bei der Lektüre von Burckhardts ‚Vorlesungen über griechische Kulturgeschichte‘, die Nietzsche in einer Nachschrift vorgelegen sind (vgl. KGW VI 4, Nb. 369), sowie von Schopenhauers ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘ geht er besonders auf die „Griechen“ als „das Genie unter den Völkern“ ein (KGW IV 1, 136: 5 [70]; vgl. 5 [65], [75], [76], [79], [82] u. ö.). Darum trifft weiterhin zu, was H. Cancik in dem Beitrag ‚Philologie als Beruf‘, in: T. Borsche u. a. (Hg.), ‚Centauren-Geburten‘. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, 1994, 81-98, in dem er in überzeugender Weise den Aufbau der geplanten ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘ ‚Wir Philologen‘ rekonstruiert, zusammenfassend feststellt: „Diese Überschätzung vom Alterthum und classischer Philologie zeigt,
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
Als solche haben sie vieles von anderen Völkern übernommen, wie z. B. die „Constitution der Polis“ von den Phöniziern (ebd.). Ein wichtiger Punkt ist also ihre Rezeption des „Fremden“, wie Nietzsche in demselben Exzerpt notiert: „Sie leugnen auch gar nicht das Eingewanderte und Nicht-Ursprüngliche ab“ (ebd.). Als Beispiel für die Übernahmen aus vorgriechischen Kulturen, das er in seiner Vorlesung über den griechischen Kult ausführlich dargelegt hat, nennt er den „Baum- und Schlangenkult“, der auf die „Urbevölkerung griechischen Bodens: mongolischer Abkunft“ zurückgehe. Vor diesem Hintergrund sei die Auffassung eines „ ,Rassegriechen‘ “ eher infrage zu stellen: „Was sind ‚Rassegriechen‘? Genügt es nicht anzunehmen, daß Italiker mit thrakischen und semitischen Elementen gepaart Griechen geworden sind?“ (IV 1, 172: 5 [198]) Hubert Cancik merkt darum kritisch an, dass es sich hier um eine „rassengeschichtliche Hypothese“ Nietzsches handelt, die eine „allmähliche ‚Reinigung‘ des Rassenchaos – Mongolen, Semiten, Thraker – zu einer Kaste zum Ziel hat“17. Die vorliegenden Notizen aus dieser Zeit würden zugleich zeigen, dass „ ,Reinheit‘ der Rasse jedenfalls auch bei Nietzsche ein positiver biologischer Grundbegriff (ist)“, da sich „sein durchaus berechtigter Zweifel an autochthonen Völkern, am reinen Ursprung, am indogermanischen Erbe (…) seinerseits auf biologische Hypothesen und deren historische Anwendung“ stütze, wie Cancik annimmt, und diese „biologische Hypothese“ sei auch in Nietzsches späterer Philosophie anzutreffen18. Meines Erachtens überwiegt bei Nietzsche auf seinem weiteren Denkweg die „transkulturelle“ Perspektive, und
_____________ wie fest der junge Nietzsche in der deutschen philhellenischen Tradition verwurzelt war“ (a. a. O., 96). 17 H. Cancik, „Mongolen, Semiten, Rassegriechen.“ Nietzsches Umgang mit den Rassenlehren seiner Zeit, in: J. Golomb (Hg.), Nietzsche und die jüdische Kultur, 1998, 67-86, Zitate: 69 und 78. 18 Vgl. a. a. O., 71f.
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nicht die „rassistische“ Verengung und damit verbundene Diskriminierung, wenngleich Letztere nicht völlig überwunden wird19. Die Beachtung der „nichtgriechischen“ Elemente der griechischen Kultur, die Nietzsche aus der Literatur seiner Zeit übernommen hat, kann zugleich auch in Richtung Relativierung der klassischen Kultur interpretiert werden, die „fremde“ Kulturen sowie die „eigene“ neu bewertet. 2.3. Ansätze einer religionsvergleichenden Betrachtung Zur selben Zeit, als Nietzsche im Frühjahr 1875 ‚Wir Philologen‘ konzipierte, plante er auch eine weitere ‚Unzeitgemäße Betrachtung‘ mit dem Thema ‚Ueber Religion‘. Darin finden sich Ansätze zu einer vergleichenden Sicht der Religionen, die eine stark psychologische Akzentuierung haben. Er sagt: „Jede Religion hat für ihre höchsten Bilder ein Analogon in einem Seelenzustande“. Die Vorstellungen entsprechen einem psychischen Zustand, und dieses Faktum wird an den Gottesvorstellungen im Islam, im Christentum und im Griechentum illustriert. Der auf die zitierte These folgende Text lautet: „Der Gott Mahomets die Einsamkeit der Wüste, fernes Gebrüll des Löwen, Vision eines schrecklichen Kämpfers. Der Gott der Christen – alles was sich Männer und Weiber bei dem Worte ‚Liebe‘ denken. Der Gott der Griechen: eine schöne Traumgestalt“ (KGW IV 1, 104f: 3 [53]). Die hier angedeuteten Vergleichspunkte hat Nietzsche weiterverfolgt – insbesondere die Gegenüberstellung von griechischem und christlichem Liebesverständnis. Sie findet sich schon als erste Notiz in dem vermutlich für die ‚Unzeitgemäße Betrachtung‘ mit dem Titel ‚Über Religion‘ (IV 1, 163f: 5 [166]) gedachten Konzept, wo zuerst die Aussage angeführt wird: „I Die Liebe der Kunstgriff des
_____________ 19 Vgl. dazu meinen in Ausarbeitung befindlichen Beitrag: Judentum, in: J.
Birx u. a. (Hg.), Wagner und Nietzsche. Kultur – Werk – Wirkung. Ein Handbuch (erscheint 2008).
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
Christenthums in seiner Vieldeutigkeit. (Die Geschlechtsliebe im Alterthum bei Empedokles rein gefaßt.) II Die christliche Liebe, auf Grund der Verachtung“ (ebd.). Hier sehen wir eine Gegenüberstellung verschiedener Verständnisweisen der Liebe. In der genannten „Vieldeutigkeit“ erblickt Nietzsche einen „Kunstgriff“, wie er auch bei Platon anzutreffen sei (vgl. KGW IV 4, Nb. 266). Diese Überlegungen hat Nietzsche im Aphorismus Nr. 95 von ‚Vermischte Meinungen und Sprüche‘ zusammengefasst, und er leitete davon eine Differenz zu anderen Religionen ab: Liebe sei der „feinste Kunstgriff, welchen das Christenthum vor den übrigen Religionen voraus hat“, und „so wurde es die lyrische Religion (während in seinen beiden anderen Schöpfungen das Semitenthum der Welt heroisch-epische Religionen geschenkt hat)“ (KGW IV 3, 50: MA II, VM 95). Nietzsche fasst in dieser Aussage diese drei monotheistischen Religionen zusammen und bezeichnet sie anhand einer literarischen Kategorisierung als „lyrisch“ bzw. „heroisch-episch“. In einfachen Umrissen ist hier eine Art Vergleichung von Religionen gegeben. Im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur „Religion“ sowie der Vorbereitung auf die „Cultus“-Vorlesung war es naheliegend, dass Nietzsche auch Max Müllers Werk ‚Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft‘ (Oktober 1875) entlehnte, das ein Jahr zuvor erschienen war; es war am Beginn jenes Semesters, in dem er seine Vorlesung über die ‚Altertümer des religiösen Cultus der Griechen‘, wie die Ankündigung lautete20, gehalten hat. Im Hinblick darauf hat er in den vorausgehenden Monaten und während des Semesters zahlreiche einschlägige religionswissenschaftliche und –ethnologische Werke entlehnt, die großteils schon oben angeführt wurden21. Diese Werke zeigen Nietzsches weit gestreutes religionswissenschaftliches Interesse, und sie dienen ihm in der „Gottes-
_____________ 20 Vgl. C. P. Janz, Friedrich Nietzsches Akademische Lehrtätigkeit in Basel
1869-1879, in: Nietzsche-Studien 3 (1974) 192-203, bes. 200. 21 Siehe S. 245f.
3. Interesse an östlicher Philosophie
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dienst“-Vorlesung auch zu einem modifizierten Verständnis der Religion der Griechen, wobei das Klassizitätsideal relativiert wurde, ohne jedoch prinzipiell infrage gestellt zu werden. Bei den meisten zitierten Werken ist eine klare philologische und historische Ausrichtung gegeben. Nietzsche jedoch liest diese Bücher zugleich im Horizont seiner eigenen philosophischen Reflexionen, die ihn schließlich zur Abwendung von der Philologie im fachspezifischen Sinn führen. Nietzsche möchte die religionswissenschaftliche Literatur in einen philosophischen Kontext einbeziehen.
3. Interesse an östlicher Philosophie
3. Interesse an östlicher Philosophie 3.1. „Von-innen-her-Verstehen“ östlicher Philosophie – ein hermeneutisches Ziel Von einem philosophischen Horizont her will Nietzsche auch die religionswissenschaftliche Kenntnis anderer Kulturen und östlicher Philosophien verstanden wissen. Prägnant postuliert er dies in einem Brief an Paul Deussen vom Januar 1875, in dem er es als dessen „edles Lebenswerk“ würdigt, „die indische Philosophie durch gute Übersetzungen uns zugänglich zu machen“ (KGB II 5, 10), und wo er von seiner „Begierde“ schreibt, „selber aus jener Quelle zu trinken, welche Du uns allein einmal öffnen willst“ (11). Nietzsche kritisiert „Prof. Windisch, der sich mit den philosophischen Texten (scil. der Inder; J. F.) sehr befasst hat“22, aber ein SāmkhyaManuskript mit den Worten kommentierte, dass „diese Inder (…) immerfort philosophirt (haben), und immer in die Quere“ (ebd.). Für Nietzsche wird die Redewendung „immer in die Quere“ zum Ausdruck dafür, „die Unbefähigung unsrer indischen Philologen, und ihre gänzliche Roheit zu bezeichnen“. Er fügt das griechische Sprichwort „Esel zur Lyra“ hinzu, das die „Beschäftigung mit et-
_____________ 22 Ernst Windisch hat 1870/71 in London einen Katalog von Sanskrit-
Handschriften zusammengestellt: vgl. KGB II 7/3, 1; 33.
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
was, wozu man nicht befähigt ist“23, thematisiert; als Beispiel dafür weist Nietzsche auch auf die Rektoratsrede von Hermann Brockhaus hin, die einen „Überblick über die Resultate der indischen Philologie“ gegeben habe, und er fügt sarkastisch hinzu: „aber von Philosophie war alles stumm, ich glaube, er hatte sie zufällig vergessen“ (ebd.). Nietzsche kritisiert den „rein“ philologischen Umgang mit indischer Philosophie und Literatur; im Gegensatz dazu erscheint ihm deshalb Deussens „vorausgegangene Beschäftigung mit Kant und Schopenhauer“ als „glücklich“ (ebd.). Noch 1887, also nach mehr als einem Jahrzehnt, wird mit denselben Argumenten Max Müller kritisiert: auch die sprachgelehrtesten Engländer (wie Max Müller) sind gegen D<eussen> Esel, weil ihnen ‚der Glaube fehlt‘, das Herauskommen aus Schopenhauer-Kantischen-Voraussetzungen (KGB III 5, 144, Brief an H. Köselitz vom 8. September 1887).
Diesen starken philosophischen Bezug philologisch-religionswissenschaftlicher Arbeiten zeigt auch die Bemerkung bei Erwähnung des Faktums, dass Deussen „jetzt die Upanishad’s (übersetzt)“: „was würde Schopenh für eine Freude haben!!“ (ebd.)24.
_____________ 23 Vgl. KGB II 7/3, 1; Nb. 33; zur hier zitierten griechischen Redeweise
vgl. auch KGW III 1, 420: UB III, 8. Hermann Brockhaus hat die kritisierte Rede am 31. Oktober 1872 gehalten. 24 Deussen hat damals an der Übersetzung jener Upanishaden gearbeitet, die er in einer weit verbreiteten, aber erst zehn Jahre später erschienenen Ausgabe veröffentlicht hat: Sechzig Upanischads des Veda, aus dem Sanskrit übersetzt und mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Paul Deussen, Leipzig 1897; vgl. KGB III 7/3, 1; 171. Deussen selbst wollte dort die „Hütte seines Lebens“ bauen, „wo sich die Linien von Philosophie und Indologie schneiden“ (P. Deussen, Mein Leben, 1922, 165); diese Konstellation hat W. Halbfass zu dem Urteil veranlasst, dass er bis heute „der einzige Inhaber eines Lehrstuhls für Philosophie in Deutschland“ gewesen sei, „der zugleich ein hervorragender Sanskritist war“ (Indien und Europa, 1981, 145f). Darauf weist K. Baier, Yoga auf dem Weg nach Westen, 1998, 104, hin.
3. Interesse an östlicher Philosophie
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Nietzsche sagt hier über Deussen, dass dieser „der erste Europäer ist, der von Innen her der indischen Philosophie nahe gekommen ist“, und er weist in diesem Zusammenhang auf Deussens Übersetzung der ‚Sutrâ’s des Vedanta‘ hin, die dieser ihm mitgebracht habe (ebd.)25. Für Nietzsche setzt das „Von-innen-her-Verstehen“ östlicher Philosophie zwar einerseits selbstverständlich die solide philologische Arbeit, die jede Übersetzung erfordert, voraus, doch ist es ihm andererseits ein nicht weniger wichtiges Anliegen, die Philologie im Kontext der Philosophie, im Sinne des „Gesamtbildes“ des Daseins zu sehen, wie er es in der ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘ über ‚Schopenhauer als Erzieher‘ fordert. Der Verzicht auf diese philosophische Relevanz und die Beschränkung auf die „bloße“ philologische Befassung erscheint ihm schon 1874 als eine „Unbefähigung“, wie er gegen Brockhaus polemisch sagt. Nietzsches Weg zur Philosophie geht von der Philologie aus, lässt diese aber nie völlig außer Acht. Das gilt ebenso für seine wissenschaftlichen Kenntnisse über Religionen – sie stehen auf seinem weiteren Weg im Kontext philosophisch-anthropologischer Intentionen. Ab Mitte der siebziger Jahre zeigt sich Nietzsches verstärktes Interesse an östlichen Philosophien auch am Erwerb von Texten klassischer Werke Chinas und Indiens. Im Februar 1875 kauft er eine Konfuzius-Ausgabe26, zur gleichen Zeit auch das Táo-te-king von Lao-tse 27 – beide in kommentierten Übersetzungen von R. von
_____________ 25 Es ist das Buch: Die Sûtra’s des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmânsâ des
Bâdarâyana nebst dem vollständigen Commentare des Çankara aus dem Sanskrit übersetzt von Paul Deussen, Leipzig 1887 (BN). Das Werk hat nur auf wenigen Seiten Lesespuren: vgl. G. Campioni u. a. (Hg.), Nietzsches persönliche Bibliothek, 2003, 186. 26 Confucius, Tá-Hio, Die erhabene Wissenschaft. Aus dem Chines. übersetzt und erklärt von R. von Plaenckner, 1875 (vgl. G. Campioni u. a. [Hg.], Nietzsches persönliche Bibliothek, 2003, 170). 27 Lao-tse, Táo-te-king. Der Weg zur Tugend. Aus dem Chines. übersetzt u. erklärt von R. v. Plaenckner, 1870 (vgl. G. Campioni u. a. [Hg.], a. a. O., 338).
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
Plaenckner; die beiden Bücher sind aber nicht mehr in Nietzsches Bibliothek erhalten; über das Konfuzius-Buch korrespondiert Marie Baumgartner einige Monate später mit ihm28. In der zweiten Hälfte des Jahres 1875 tut er sich um, wie er schreibt, „Verleger und Orientalisten zur Herausgabe des Tripitaka der Buddhisten aufzureizen (sic!)“29. In einem weiteren Brief aus demselben Jahr schreibt er an Carl von Gersdorff: Wirklich, ich bewundere den schönen Instinkt Deiner Freundschaft (…) daß Du gerade auf diese indischen Sprüche verfallen mußtest, während ich mit einer Art von wachsendem Durst mich gerade in den 2 letzten Monaten nach Indien umsah. Ich entlieh von dem Freunde Schmeitzners Hr. Widemann die englische Übersetzung der Sutta Nipáta, etwas aus den heiligen Büchern der Buddhaisten; und eine der festen Schlußworte einer Sutta habe ich schon in Hausgebrauch genommen ‚so wandle ich einsam wie das Rhinoceros‘ (KGB II 5, 127f: 13. Dezember 1875)30.
_____________ 28 Vgl. KGB II 6/1, 94: Brief an Nietzsche vom 3. April 1875; vgl. KGB
II 7/3, 2; 495. 29 KGB II 5, 126: Brief an E. Rohde vom 8. Dezember 1875. 30 Möglicherweise hat sich Nietzsche die Übersetzung von Coomára-
swámy (Sutta Nipâta, London 1874) entliehen. Den zitierten Vers aus dem „buddhistischen Liede“, wie er später formuliert, übernimmt er in Aphorismus Nr. 469 von ‚Morgenröthe‘ (vgl. KGW V 1, 285). Bei dem Buch, das Gersdorff liest, ist das Werk: Indische Sprüche. Sanskrit und Deutsch, hg. von O. Böhtlingk, 3 Bde., 2. Auflage, St. Petersburg 18701873, gemeint; vgl. dazu generell KGB II 7/3, 1; 117. Gersdorff hatte bei seinem Besuch bei Nietzsche in Basel im Frühjahr 1875 diese Bücher bei sich und schenkte sie ihm im Dezember dieses Jahres: vgl. KSA, Band 14 (Kommentar), 555. Nietzsche hat ein Zitat daraus später als Motto seiner geplanten Schrift ‚Wir Philologen‘ vorangestellt: vgl. KGW IV 1, 87: 2 [1] (mit Stellenangabe). Vgl. auch das Wort des Buddha: „Gehet hin und verbergt eure guten Werke und bekennt vor den Leuten die Sünden, die ihr begangen“, das weitere ‚Notizen zu Wir Philologen‘ einleitet: a. a. O., 90: 3 [1]; vgl. dazu KSA, Band 14, 555f, und Th. H. Brobjer, Nietzsche’s Reading About Eastern Philosophy, in: The Journal of Nietzsche Studies 28 (2004) 3-35.
3. Interesse an östlicher Philosophie
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3.2. Philologie und religionsgeschichtliches Wissen im Dienste existenziellen Philosophierens Die östliche Philosophie tritt für Nietzsche vor allem in ihrer existenziellen Dimension vor Augen; wir können eine sehr individuelle und selektive Form der Rezeption auf Seiten Nietzsches feststellen. Gleichwohl erblickt er die grundlegende Voraussetzung für eine angemessene Übermittlung östlichen Denkens in philologisch fundierten Übersetzungen. Zu diesem Zweck schlägt er seinem Verleger Ernst Schmeitzner kompetente Dozenten der Indologie bzw. Sinologie vor. Auf „indisch-chinesischem Gebiete“ konnte er Folgendes in Erfahrung bringen, wie er in einem Brief vom September 1875 Schmeitzner mitteilt: „Sehr befähigt zu OriginalÜbersetzungen aus dem Sanscrit, also speziell zur Verdeutschung wichtiger und interessanter buddhistischer Schriften“ (KGB II 5, 108), sollen folgende Gelehrte sein: er nennt neben dem jungen Baseler Gelehrten Eduard Müller(-Hess), der später (1897) Professor für Indologie und Orientalistik in Berlin wurde, Salomon Lefmann 31, einen Privatdozenten in Heidelberg, wobei er seinem Verleger gegenüber, der erklärter Antisemit war, eine den Autor als Juden diskriminierende Bemerkung anfügt („– aber dies ist ein Jude und soll manches gegen sich haben“, 109)32; dann für Chinesisch Wilhelm Schott, der Professor für orientalische Sprachen in Berlin war33. Nietzsches Äußerungen zeigen, dass er die Kenntnis und das Denken anderer Kulturen für bedeutsam hält und in diesem Kon-
_____________ 31 S. Lefmann, Lalita Vistara. Erzählung von dem Leben und der Lehre der
Clâkya Simha, 1874; siehe KGB II 7/3, 1; 104. 32 Zu Nietzsches Verhältnis zum Judentum – er hat sich später entschie-
den gegen den Antisemitismus gewendet – vgl. die Beiträge in J. Golomb (Hg.), Nietzsche und die jüdische Kultur, 1998, bes. Y. Yovel, Nietzsche und die Juden, in: a. a. O., 126-142. Vgl. auch J. Figl, Judentum, in: J. Birx u. a. (Hg.), Wagner und Nietzsche. Kultur – Werk – Wirkung. Ein Handbuch (erscheint 2008). 33 Vgl. KGB II 7/3, 1; 104.
292
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
text auch die Philologie würdigt; dass es ihm dabei jedoch wesentlich um den Inhalt dieser Werke geht, und nicht um formale Fragen einer sich als distanziert und neutral verstehenden Philologie oder (Religions-)Wissenschaft. Mit seiner Abwendung von der Philologie geht einerseits die Relativierung einer darauf basierenden Befassung mit Religionen einher, andererseits aber wird die Auseinandersetzung mit Religionen und Kulturen auf einer philosophisch-anthropologischen Ebene weitergeführt, wobei die Philologie und das historische Wissen über die Religionen integriert werden. Eine wichtige Etappe auf diesem Weg, der die Transformation und Integration historisch-philologischer Inhalte und Methoden im Rahmen einer intentional transkulturellen Philosophie mit sich bringt, ist das Werk ‚Menschliches, Allzumenschliches‘, in dem sich einerseits die Kontinuität zwischen philologischen und philosophischen Themen und andererseits der Neuansatz einer philologisch-historisch geschulten Philosophie zeigt.
4. „Historisches“ und „komparatives“ Philosophieren (‚Menschliches, Allzumenschliches‘)
4. „Historisches“ und „komparatives“ Philosophieren 4.1. Notwendigkeit des „historischen Philosophierens“
Die Vorlesung über den ‚Gottesdienst der Griechen‘ hielt Nietzsche – wie erwähnt – im Wintersemester 1875/76 als umfangreiche, dreistündige Vorlesung; sie wurde 1877/78 wiederholt. In der Zwischenzeit hatte er ein Freijahr bekommen und den Winter 1876/77 in Sorrent verbracht, wo die wesentlichen Aufzeichnungen und Entwürfe zu ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ entstanden. Anfang Dezember 1877 schrieb er an den Verleger Schmeitzner, damit das Buch bis zum Mai 1878 erscheinen könne, denn es sei dem Andenken Voltaires zu seinem 100. Todestag (30. Mai 1778) gewidmet; 1878 erscheint somit ‚Menschliches, Allzu-
4. „Historisches“ und „komparatives“ Philosophieren
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menschliches‘, und ein Jahr später ein zweiter Band mit dem Titel ‚Vermischte Meinungen und Sprüche‘. In ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ führt Nietzsche jene genealogische Erklärungsweise durch, die er in der „Gottesdienst“Vorlesung (vgl. 3. Kap., 4.1.)unter Verwendung eines Zitates von Dühring mit folgenden Worten formuliert hatte: Auf diesem Boden des unreinen Denkens erwuchs der griechische Cultus; wie auf dem Boden des Rachegefühls das Rechtsgefühl erwachsen ist. So wie man gesagt hat: ‚Die besten Dinge und Handlungen haben unappetitliche Eingeweide. ‘ (KGW II 5, 365)
Diese ethnologische (mit dem angelsächsischen Ursprungsbegriff: anthropologische) Zugangsweise wird des Weiteren zu einer allgemeinanthropologischen Interpretationsweise: zu einer genealogisch-desillusionierenden Aufklärung über die Kehrseite der Kultur im allgemeinen Sinn des Wortes. Nietzsche analysiert die zentralen Themenfelder – u. a. die moralischen Empfindungen (2. Hauptstück), das religiöse Leben (3. Hauptstück), und er stellt Überlegungen zu Weib und Kind an (7. Hauptstück). Bei allen diesen Themen geht es ihm um eine Erklärung von ihren gegensätzlichen Aspekten, von der „anderen“, verborgenen Seite her. Schon im Aphorismus ‚Chemie der Begriffe und Empfindungen‘ leitet ihn die Fragestellung: „wie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern?“ (KGW IV 2, 19) Seine „Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen“ führt zur Frage, ob nicht „auch auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind?“ (20) – eine Annahme, die als weiterführende Variante des Dühring-Zitates gelesen werden kann. Nietzsche stellt hier „die Fragen über Herkunft und Anfänge“ (ebd.) – jene Fragen, die die Menschheit gerade nicht liebe (vgl. ebd.).
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
Diese „Chemie der Empfindungen“, diese – wie es auch heißt – „Naturwissenschaft“, ist eng verknüpft mit der „historische(n) Philosophie“, der „allerjüngste(n) aller philosophischen Methoden“ (19). Ihr wendet er sich im 2. Aphorismus von ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ zu: gerade der „Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen“; und Nietzsche argumentiert hier weiter mit der Ur- und Vorgeschichte der Kultur: „Nun ist alles Wesentliche der menschlichen Entwicklung in Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen vier tausend Jahren, die wir ungefähr kennen“ (20f). Nietzsche relativiert von der „Vorgeschichte“ her die „unveränderlichen Thatsachen“ – auch jene über den Menschen. Sein Resümee: „Alles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt“; das „historische Philosophiren“ ist „nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung“ (21). Ebenso wie die genealogische ist auch die komparative Methodik grundlegend. Der Aphorismus Nr. 23 bringt dies präzise schon in seinem Titel zum Ausdruck; er lautet: Zeitalter der Vergleichung (IV 2, 40)34. 4.2. Direkte Anknüpfung an religionswissenschaftliche Themen der „Gottesdienst“-Vorlesung Die „Gottesdienst“-Vorlesung bildet nicht allein einen wichtigen Hintergrund zum Verständnis solchen historischen Philosophierens, das aus der wissenschaftlichen Begegnung mit „fremden“ bzw. vergangenen Kulturen erwachsen ist, sondern mehrere Aphorismen in ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ sind direkte Übernahmen aus seinen (damals unveröffentlichten) Vorlesungen. Einige Beispiele dafür seien genannt, weil sie zeigen, dass die ethnologische, insbesondere durch die Rezeption von Tylor und Lubbock geprägte Sichtweise der Religionen, in wichtigen Punkten für Nietz-
_____________ 34 Vgl. zur näheren Interpretation die Schlussüberlegungen S. 348.
4. „Historisches“ und „komparatives“ Philosophieren
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sches Deutung der Religionen auch in seinem philosophischen Denken grundlegend geblieben ist. Mit nur geringfügigen Änderungen übernimmt er Texte aus der Vorlesung ‚Der Gottesdienst der Griechen‘ in sein Werk ‚Menschliches, Allzumenschliches‘. Analoges gilt für eine andere Vorlesung, nämlich ‚Geschichte der griechischen Literatur‘. Der Aphorismus, der fast wörtlich aus seiner Vorlesung über den griechischen Kult entnommen ist, lautet: ‚Ursprung des religiösen Cultus‘ (KGW IV 2, 112-116: MA I, 111). Die entsprechenden Passagen, wie z. B. über die Form des Denkens, wurden ausführlich zitiert35. Ein zweiter wichtiger Text, den Nietzsche ebenso fast wörtlich aus der „Cultus“-Vorlesung (vgl. KGW II 5, 436f) in den zweiten Band von ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ übernommen hat, befasst sich mit der Darstellung von Göttern. Der entsprechende Aphorismus Nr. 222 in ‚Vermischte Meinungen und Sprüche‘ ist überschrieben mit: Das Einfache nicht das Erste, noch das Letzte der Zeit nach; dieser Abschnitt ist aus seiner Vorlesung aus dem Paragraphen über ‚Die Entwicklung der Götterbilder‘ entnommen. In diesem Aphorismus wendet sich Nietzsche gegen die Auffassung einer „allmähliche(n) Entwickelung der Götterdarstellung von jenen ungefügen Holzklötzen und Steinen aus bis zur vollen Vermenschlichung hinauf“; demgegenüber meint er, dass in der Zeit, wo man die Gottheit in Bäume, Holzstücke, Steine und Tiere hineinverlegt hatte, „man sich vor einer Anmenschlichung ihrer Gestalt wie vor einer Gottlosigkeit scheute“ – es war also gerade nicht eine anthropomorphe Darstellung des Gottes angezielt. Die religiöse Phantasie habe sich gescheut, „an die Identität des Gottes mit einem Bilde (zu) glauben“ (KGW IV 3, 111: VM 222). Nietzsches Resümee ist: „Das älteste Götterbild soll den Gott bergen und zugleich verbergen“ – ähnlich wie in der Cella, dem „Allerhei-
_____________ 35 Vgl. oben S. 247f.
296
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
ligsten“ des Tempels, durch das geheimnisvolle Halbdunkel die Gottheit versteckt werden soll – „aber nicht ganz“ (111f). Nietzsche geht somit von einer gewissen Ambivalenz des Numen aus. Er verwendet in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich und wiederholt den Begriff „Numen“, sowohl in ‚Vermischte Meinungen und Sprüche‘ als auch schon in der Vorlesung36. Von besonderem Interesse sind auch die Ausführungen über den Traum (vgl. KGW IV 2, 23: MA I, 5; 27-31: MA I, 12f), die z. T. in wörtlichen Zitaten an die „Gottesdienst“-Vorlesung anknüpfen und ohne den Hintergrund von Tylors Auffassungen wohl nicht zutreffend interpretiert werden können37. Nietzsche hat auch Ausführungen aus der anderen Vorlesung von 1875/76, nämlich jener ‚Ueber die Geschichte der griechischen Literatur‘, in sein Werk ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ übernommen. So z. B. den Aphorismus Nr. 156 ‚Das Mundstück der Götter‘ (KGW IV 3, 91; entspricht KGW II 5, 351); ebenso die kritische Auseinandersetzung mit der „naiven“ Auffassung, dass ein Gott durch den Dichter rede, dass er „im Zustande einer religiösen Erleuchtung schaffe“ (KGW IV 3, 91). Es ließen sich weitere Stellen nachweisen, wie z. B. die Ausführungen im Aphorismus Nr. 221 Ausnahme – Griechen (110), die inhaltlich ebenfalls weithin identisch sind mit Aussagen der Vorlesung ‚Ueber die Geschichte der griechischen Literatur‘ (vgl. dazu KGW II 5, 312).
_____________ 36 Vgl. KGW IV 3, 111: VM 222: „Das Bild soll das Numen der Gottheit
in irgend einer geheimnisvollen, nicht völlig auszudenkenden Weise (…) als örtlich gebannt erscheinen lassen“, vgl. KGW II 5, 436: GDG I, 3 u. ö. 37 Vgl. H. Treiber, Zur ‚Logik des Traumes‘ bei Nietzsche, in: NietzscheStudien 23 (1994) 1-41, bes. 24f; J. Figl, Sprache und Traum bei Nietzsche (Vortrag beim VI. Forum der Internationalen Vereinigung für Daseinsanalyse [IVDA], Prag 25.-27. Mai 2006; Veröffentlichung in Vorbereitung).
5. Religionsgeschichte Indiens als Modell
297
Die genannten Aspekte zeigen, dass man eine Reihe von Aussagen Nietzsches in den philosophischen Werken ohne ihren philologischen bzw. religionswissenschaftlichen Hintergrund und ohne ihre wissenschaftsgeschichtliche Herkunft nicht angemessen einordnen kann.
5. Religionsgeschichte Indiens als Modell für Europa (‚Morgenröthe‘)
5. Religionsgeschichte Indiens als Modell 5.1. Religionen Indiens als Alternative zum Monotheismus
In der Auseinandersetzung mit Schopenhauer bzw. Wagner ist im Wintersemester 1869/70 der Buddhismus für Nietzsche ein wichtiges Thema38. Bei diesen beiden großen Vorbildern Nietzsches hat die Religion des Nirvāna bekanntlich eine große Bedeutung. Doch Nietzsche formt nicht bloß in Auseinandersetzung mit diesen beiden Autoren sein Bild vom Buddhismus, sondern greift auf weitere wichtige Quellen ab Herbst 1870 zurück, die aus religionswissenschaftlicher Sicht diese östliche Religion vor Augen stellen, insbesondere wiederholt auf die ‚Essays‘ Max Müllers; sie beziehen sich auf verschiedene Religionen39. Ich möchte nur einen Aspekt hervorheben, der Nietzsches Überzeugung von der Verwandtschaft des „deutschen Wesens“ mit dem Indischen zum Ausdruck bringt; diese „indogermanische“ Zusammengehörigkeit sieht Nietzsche in Differenz zum semitischen Monotheismus.
_____________ 38 Vgl. z. B. KGW III 3, 78: 3 [67]. 39 Die Religion des Zoroaster, die Parsen (a. a. O., 5 [54] und [55]) sind
hier genannt, ebenso ein Zitat aus dem Rigveda (5 [53]) und die Inka (5 [56]); Buddha wird mehrmals erwähnt – teils kritisch (wie in den zitierten Aussagen über das Verhältnis zur Kunst: 5 [44] und [58]), teils affirmativ (vgl. z. B. 5 [64]; vermutlich als Alternative zum Neuen Testament: 5 [60]). Vgl. oben S. 233f.
298
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
Während die Argumentation von Max Müllers Aufsatz ‚Der semitische Monotheismus‘ – in Auseinandersetzung mit Ernest Renan – im Gesamten dahin geht, die Gleichheit des „primitiven“, des semitischen sowie des germanischen „Schauens Gottes“ herauszustellen wie auch auf die für beide gemeinsamen Gefahren hinzuweisen – beide verfielen in den Polytheismus40, notiert Nietzsche nach Lektüre dieses Aufsatzes, dass das „deutsche Wesen“ jenes „unnationale Joch“ – offenbar den jüdisch-christlichen Monotheismus – „abzuschütteln“ habe; er meint, dass ihm das gelinge und fügt hinzu: „Der indische Hauch bleibt zurück: weil er uns verwandt ist“ (KGW III 3, 104: 5 [30]). Hier klingt schon eine kulturgeschichtliche Möglichkeit an, die Nietzsche für die Zukunft erwartet und die auf dem indogermanischen „Axiom“ beruht: auch für Europa soll der Atheismus als Ablehnung des „fremden“ Gottes kommen, ähnlich wie in Indien die Götter kritisiert wurden, bis hin zum buddhistischen „Atheismus“. Im Werk Max Müllers konnte Nietzsche, gerade auf denjenigen Seiten, aus denen er exzerpiert hat, die buddhistische „Erlösungstheorie“ als einen „reinen Atheismus und Nihilismus“, den Buddhismus explizit als eine Religion, die „keinen Gott (hat)“, kennen lernen41. In den Augen des christlichen Religionswissenschaftlers war „eine solche Religion (...) für ein Tollhaus gemacht“42 – Nietzsche jedoch lässt später den „tollen Menschen“ den „Tod Gottes“, das Ende der christlichen Religion, verkünden.
_____________ 40 Vgl. M. Müller, Essays, Band 1, 1869, 320f; vgl. a. a. O., 306: „Diese ur-
sprüngliche Erkenntniss (scil. „Intuition von der Gottheit“, a. a. O., 307; J. F.) ist aber weder monotheistisch, noch polytheistisch, sondern kann beides werden, je nach dem Ausdruck, den der Mensch derselben durch die Sprache giebt“. Nietzsche hat von S. 211 bis S. 219 und spätere Seiten exzerpiert, vgl. KGW III 5/2, Nb. 1513. 41 Vgl. a. a. O., 214 und 220. 42 A. a. O., 221; vgl. auch 206: hinsichtlich der Religion des Buddhismus, „so abstossend, ja unheilvoll sie uns auch scheinen mag“, wird gesagt,
5. Religionsgeschichte Indiens als Modell
299
An den wiedergegebenen Exzerpten wird ersichtlich, dass von Nietzsche damals schon die indische Religionsgeschichte und deren kritisches Verhältnis zu den Göttern – besonders auch der Buddhismus, mit dem er sich befasste – als Alternative zum Monotheismus der europäischen Kultur erwogen wird. Zusammenfassend kann in Hinblick auf Nietzsches kultur- und religionsvergleichende Fragestellung festgehalten werden, dass er sich seit Beginn der siebziger Jahre mit alternativen religiösen Vorstellungen befasst – besonders in Begegnung mit religionswissenschaftlichen Werken; die indisch-buddhistische Weltsicht steht als eine ambivalente Alternative vor Augen. 5.2. Christentum angesichts des „indogermanischen“ Brahmanismus Die Rezeption der beiden großen asiatischen Religionen Buddhismus und Brahmanismus, wie im 19. Jahrhundert der Hinduismus genannt wurde, ist in Nietzsches Aufzeichnungen und Werken der Folgezeit noch in mannigfacher Weise anzutreffen. Hier soll nur eine Linie weiterverfolgt werden, die symptomatisch zu sein scheint: Nietzsche nennt oft, wenn er von dem spricht, was nach dem „Zuendegehen“, nach dem „Sterben des Christentums“, nach dem „Tod Gottes“ kommen wird, die buddhistische Perspektive; Atheismus und Buddhismus sind gleichsam zwei Ausprägungen der kulturellen Zukunftssituation. Ähnlich wird der Brahmanismus als eine dem Christentum überlegene Religion beurteilt, die er dann jedoch auch kritisiert. In ‚Morgenröthe‘ (1880) stellt Nietzsche Brahmanen- und Christenthum (Aphorismus Nr. 65) gegenüber, wobei Ersteres als „Recept“ für solche gilt, die „sich selber beherrschen können und welche bereits dadurch in einem Gefühle der Macht zu Hause
_____________ dass sie „dennoch (…) den wahren Geist der Demuth und der Selbstaufopferung einzuhauchen vermochte“.
300
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
sind“, während das Letztere das „Recept (…) für Solche (ist), welchen gerade diess fehlt“ (KGW V 1, 59), und weiter: das „Gefühl der Macht“ sei „heute auf Seiten der Wissenschaft“ (V 1, 476: 4 [183]), es zeigte sich in der „Herrschaft über die Natur“. Dazu sagt Nietzsche in einer nachgelassenen Notiz: „die fixe Idee des 20. Jahrhunderts ist Bramanismus, indogermanisch“ (4 [180]). Nietzsche aber überlegt zugleich, ob dieses „Bramanenthum vielleicht zu übertreffen (ist)“, weil in der Wissenschaft „nicht der Einzelne für sich“ – als Philosoph – gilt, sondern bloß „Glied “ (4 [183]), Teil einer übergeordneten Gemeinschaft ist. Es zeigt sich, dass bei Nietzsches Beurteilung dieser asiatischen Religion seine eigene Auffassung vom Christentum bzw. vom Individualismus leitend ist und der Brahmanismus als Argument dafür herangezogen wird. Diese Notizen sind im Zusammenhang mit der Lektüre von Jacob Wackernagels ‚Ueber den Ursprung des Brahmanismus‘ (Basel 1877 [BN]) entstanden, ebenso wie der letzte Aphorismus Nr. 96 des ersten Buches der ‚Morgenröthe‘ ‚In hoc signo vinces.‘ (83f; vgl. 475: 4 [186])43. Die Grundaussage ist, dass Europa noch nicht die Freisinnigkeit der alten Brahmanen erreicht habe, die schließlich dazu führte, dass die Götter beiseite geworfen wurden – „was Europa auch einmal thun muss!“ Der nächste Schritt war das Auftreten Buddhas, des „Lehrers der Religion der Selbsterlösung “ – von dieser Stufe der Kultur sei Europa noch weit entfernt. Die indische Kulturgeschichte, die zum Sturz der Macht der Götter führte, dient als Vorbild für den Weg Europas zum Atheismus; Europa habe nachzuholen, was „in Indien, unter dem Volke der Denker, schon vor einigen Jahrtausenden als Gebot des Denkens gethan wurde“ (V 1, 83). Diese Einschätzung der beiden asiatischen Religionen ist aus der Sicht der atheistischen Position Nietzsches, die so mannigfach in der ‚Morgenröthe‘ artikuliert wird, eine durchaus positive und
_____________ 43 Vgl. KSA, Band 14, 631, und M. Brusotti, Beiträge zur Quellenfor-
schung, in: Nietzsche-Studien 21 (1992) 390-397, bes. 393.
6. „Tod Gottes“ – religionsgeschichtliche Aspekte
301
zukunftsweisende; es wird allerdings vorwiegend der theismuskritische Aspekt an den asiatischen Religionen gesehen und praktisch nicht das eigentliche religiöse Anliegen derselben, ihr Transzendenzbezug bzw. ihre meditative Struktur44. Den Transzendenzbezug müsste Nietzsche in ähnlicher Weise ablehnen, wie er dies beim Christentum macht. Freilich würde die unterschiedliche Strukturiertheit des Buddhismus als einer a-theistischen Religion, die Nietzsche deutlich bewusst geworden ist, eine andere Argumentationsweise als gegen das Christentum, das als Gottesglaube definiert wird (vgl. ‚Morgenröthe‘, Aphorismus Nr. 91 und Nr. 95; KGW V 1, 80f und 82f), erfordern.
6. „Tod Gottes“ – religionsgeschichtliche Aspekte
6. „Tod Gottes“ – religionsgeschichtliche Aspekte 6.1. Religionswissenschaftliche und religionsphilosophische Exzerpte und Notizen
Nietzsche ist Formulierungen, in denen vom „Sterben der Götter“ gesprochen wird, in seiner Lektüre mehrfach begegnet. Bereits im Nachlass Herbst 1869 finden sich einige markante Notizen Nietzsches, die seine Beschäftigung mit diesem Thema aufzeigen. Der Gedanke des Zuendegehens der Götter bzw. der Religionen ist in diesem Zeitraum von Nietzsche vielfach ausgesprochen.45 In weiteren Nachlassaufzeichnungen von 1873/74 hat sich Nietzsche
_____________ 44 Nietzsche hat aus Max Müller z. B. nicht die „Vier Wahrheiten“ sowie
die Nirvāna-Meditation vor dem Sterben Buddhas in seinen Exzerpten von diesen Seiten (a. a. O., 217ff, vgl. oben Anm. 40, S. 298) berücksichtigt. 45 Vgl. z. B. KGW III 3, 7: 1 [3]; a. a. O., 24: 1 [59]: „Die Zeit des Euripides ist die der Götterdämmerung: er hat ein Gefühl davon“. Vgl. KGW III 2, 58: DW 2.
302
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
stark mit dem „Sterben“ der Religion – insbesondere des Christentums – durch die kritische Historie auseinandergesetzt.46 Hier soll aber der Blick auf diejenigen Formulierungen aus der frühen Baseler Zeit gerichtet werden, in denen sich Parallelen zu jenen zeigen, die in späteren Texten Nietzsches zu dieser Thematik zu finden sind. Folgende Bedeutungszusammenhänge sind hier von besonderem Interesse: 1. Die schopenhauerische Formulierung vom Zerfallen in die Individualitäten: „Der absterbende Wille (der sterbende Gott) zerbröckelt in die Individualitäten“ (KGW III 3, 74: 3 [51]). 2. Das Exzerpt von 1870 aus dem Buch von Georg Curtius über die griechische Etymologie, in dem „̉ϱΑΑΙΒΓΖ“, das „ΔϱΑΙΗΓΖ im Lesbisch-aeolischen Dialekt“ entspricht, erklärt wird: „̉ϱΑΑΙΒΓΖ ist ‚der todte Zeus‘ oder der ‚tödtende Zeus‘ (...)“ (III 3, 82: 3 [82])47. 3. Im Wintersemester 1870/71 liest Nietzsche die religionswissenschaftlichen ‚Essays‘ von Max Müller (Band 1 und 2). Im Anschluss an die Lektüre des Beitrags ‚Der semitische Monotheismus‘ aus Band 1 notiert er u. a.: „Monotheismus als ein Minimum von poetischer Welterklärung (...) Das Ende der Reli-
_____________ 46 Vgl. dazu die Stellenangaben bei J. Figl, Die Religion als Kulturphäno-
men (1982) bes. 67ff. 47 Nietzsche hat das Werk von G. Curtius, Grundzüge der griechischen Etymolo-
gie, 3. Auflage 1869, am 2. Februar und 4. Mai 1870 und auch im Jahr 1871 aus der Baseler Universitätsbibliothek entlehnt: vgl. KSA, Band 14, 532f, und L. Crescenzi, Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in Basel entliehenen Bücher (1869-1879), in: Nietzsche-Studien 23 (1994) 388-442, bes. 396 und 404. Nietzsche hat sich mit dieser Thematik in der Vorlesung ‚Encyclopädie der klassischen Philologie‘ im Sommersemester 1871 befasst: „In den Dionysischen Mythen waren alle Götter sterblich (...) Zeus tödtet sie (scil. die Titanen; J. F.)“ (KGW II 3, 414); vgl. ferner in anderem Kontext KGW II 5, 452: GDG I, 5, wo Nietzsche die „ ‚sterblichen Götter‘ “ im Unterschied zu den olympischunsterblichen nennt.
6. „Tod Gottes“ – religionsgeschichtliche Aspekte
303
gion ist da, nachdem man die Nationalgötter eskamotirt hat“ (III 3, 103f: 5 [30])48. Nietzsche sieht jedoch in der Eliminierung der Nationalgötter ein Problem: „Unsre Nationalgötter und unsre Gefühle dafür haben einen Wechselbalg dafür bekommen (...)“, nämlich den monotheistischen Gott. Auch auf die dadurch bewirkte „Quälerei“ für die Kunst weist Nietzsche hin – davon werde sich das „deutsche Wesen“ frei machen (104). Gegenüber der Überwindung des Polytheismus durch den Monotheismus bleibt Nietzsche auch deshalb skeptisch, weil für ihn eine streng einheitliche, „monotheistische“ Perspektive gar nicht möglich ist, wie er angesichts der Lektüre Max Müllers notiert: „Der Glaube an einen Geist ist eine Einbildung: sofort anthropomorphische, ja polytheistische Stellvertreter“ (104: 5 [31], vgl. 107: 5 [39]). Etwas später kommt er in einem Exzerpt aus dem Beitrag ‚Buddhistische Pilger‘ von Müller auf den „Tod“ der Götter in der germanischen Mythologie zu sprechen, und zwar im Zusammenhang mit der Überlegung, dass die Gottesidee – als höchste Vollkommenheit – die Möglichkeit vieler Götter ausschloss. In der „teutonischen Mythologie“ habe man „die entsetzlichste Lösung des Problems“: den Tod der Heroen und darüber hinaus den Tod der Götter. Nietzsche zitiert49: ‚Alle Götter müssen sterben‘ die urdeutsche Vorstellung, die die Wissenschaft mit höchster Kraft bis jetzt durchführt. ‚Der Tod Sigurds, des Abkömmlings Odins, konnte den Tod Balders, des Sohns des Odin,
_____________ 48 Vgl. KSA, Band 14, 534f; zum Ausdruck „Minimum“ vgl. M. Müller, Es-
says, Band 1, 1869, 304. 49 Vgl. M. Müller, Essays, Band 1, 1869, 211f; bei Müller ist – anstelle von
Nietzsches Formulierung „der andren Götter“ – die Rede vom „Tod (…) aller der unsterblichen Götter“; vgl. ferner Band 2, 1869, 209, wo mit dem Ausdruck „die Götter waren todt“ zudem die Tatsache beschrieben wird, dass „das Christenthum (…) die alten Götter der teutonischen Stämme zerstört (hatte)“.
304
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens nicht abwenden: auf Balders Tod folgte bald der Tod Odins und der andren Götter.‘ (III 3, 111: 5[ 57])50
4. Eine religionsphilosophische, auf das Christentum zu beziehende Aussage treffen wir im Nachlass aus der Zeit der Ausarbeitung von ‚Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben‘, in einem Exzerpt aus Humes ‚Dialoge über natürliche Religion‘, einem Werk, das sich in Nietzsches Bibliothek befindet: es ist die Stelle, in der von einer „der Last der Jahre unterliegenden Gottheit“ und von „dem Tode derselben“ gesprochen wird (KGW III 4, 275f: 29 [86]). Hume geht dabei von der gebrechlichen und unvollkommenen Welt aus und stellt die Überlegung an, ob sie „vielleicht nur das Werk irgend einer abhängigen Untergottheit und der Gegenstand des Hohngelächters höherer Wesen (ist)“ (275 zitiert)51, woraus eine dem Polytheismus nachgeformte Vorstellungswelt sichtbar wird; es ist klar, dass damit eine Konfrontation mit dem Christentum, besonders mit dem christlichen Schöpfergott angesichts der unvollkommenen Welt, gemeint ist. 6.2. Kritik des christlichen Monotheismus und polytheistische Vorstellungswelt Wenn man die ausgewählten Stellen über das „Sterben“ eines Gottes im Nachlass der Jahre 1869/70 bis 1873 überblickt, so
_____________ 50 Daran anknüpfend sagt Nietzsche in seinem Entwurf zu einer Tragödie
‚Empedokles‘, der sich im selben Notizheft befindet: „Ich glaube an das urgermanische Wort: alle Götter müssen sterben“ (KGW III 3, 129: 5 [115]). In diesem – nicht ausgeführten – Empedokles-Entwurf kommt auch die Formulierung vor: „ ‚Der große Pan ist todt.‘ “ (a. a. O., 5 [116]). Vgl. auch a. a. O., 244: 8 [30] und 8 [32] im Zusammenhang mit dem „Pan am Aetna“ und a. a. O., 247: 8 [37] mit dem „Tod des Pan“. 51 In ‚Also sprach Zarathustra‘ III werden sich die Götter selbst zu Tode lachen – angesichts des Wortes, dass nur ein Gott sei (vgl. KGW VI 1, 226).
6. „Tod Gottes“ – religionsgeschichtliche Aspekte
305
muss einerseits gesagt werden, dass jedes dieser Zitate einen jeweils spezifischen Sinn ergibt; dies hängt auch mit dem Faktum zusammen, dass es sich stets um die Wiedergabe anderer Autoren handelt: Nietzsche rezipiert diese Formulierungen – gelegentlich wörtlich – von den Vorlagen, aus denen er exzerpiert, besonders von jenen des Sprach- und Religionswissenschaftlers Max Müller – es ist also zuerst die rezeptive Struktur der zitierten Stellen festzustellen; andererseits jedoch ist es auffällig, dass Nietzsche sich einige Exzerpte in einem neuen Sinn zu Eigen macht, sie kommentiert und eigenständig verschiedene Kontexte verknüpft, z. B. wenn er auf Müllers Aussage über den Tod der germanischen Götter im Zusammenhang mit dem „Tod des Pan“ rekurriert. Darin kann eine Intention erblickt werden, die Nietzsches eigene Sicht des Gottesproblems darstellt, die in dem Satz gipfelt, dass er an das „urgermanische Wort“ glaube, dass „alle Götter sterben müssen“. Es dürfte evident sein, dass Nietzsche in dieser Aussage den christlichen Gott mit meint, was nicht zuletzt aus dem Verweis darauf deutlich wird, dass die Wissenschaft diese altgermanische Vorstellung konsequent in die Realität umsetze. An diesem Punkt zeigt sich ein spezifischer Aspekt der Inanspruchnahme der von Nietzsche rezipierten Textpassagen: während sich diese alle im originären Kontext auf eine polytheistische Götterwelt der Vergangenheit – griechische, germanische oder auch indische – beziehen, verfolgt Nietzsche die Tendenz, den jüdisch-christlichen Monotheismus für „tot“ zu erklären. Besonders deutlich wird dies an der Aussage über den „Monotheismus als Minimum von poetischer Welterklärung“. Die Gründe, die Nietzsche für die Negation speziell des Monotheismus nennt, können mit den Stichworten mangelnde Poesie und Unterdrückung der Kunst erfasst werden: durch eine monotheistische Konzeption würden Äußerungen des Lebens52, die in der Kunst ihren Ausdruck finden, eingeengt. Diese Motive führ-
_____________ 52 Vgl. S. 308.
306
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
ten zum „Sterben“ des einen Gottes; abgesehen davon sei eine Einheitskonzeption fiktiv – sie tendiere unausweichlich zu polytheistisch-anthropomorphen Alternativen. Nietzsche verfolgt mit dem Rückgriff auf die Aussagen Müllers über die Überwindung des germanischen bzw. indischen Polytheismus eine Tendenz, die im Gegensatz zu jenen des – trotz aller liberalen Wissenschaftlichkeit – christlich denkenden Religionswissenschaftlers steht53. Für Max Müller ist das Sterben der Götter deshalb unvermeidlich, weil schon von der Idee Gottes als einer höchsten Vollkommenheit her die Möglichkeit einer „Mehrheit der Götter“ ausgeschlossen sei, und da diese „nothwendigerweise zur Vernichtung derselben führen musste, hing ihnen auch der Makel der Sterblichkeit an“54. Nietzsche hingegen, für den eine solche Idee Gottes obsolet ist, sagt die Sterblichkeit gerade auch vom „semitischen Monotheismus“ aus, der für den deutsch-englischen Religionswissenschaftler die Überwindung dieses „Makels“ war. Nietzsche ordnet damit den christlichen Gott in die Reihe der sterblichen Götter ein. Die Gegenüberstellung der „Mehrheit der Götter“ und der „Einzigkeit Gottes“ wird aufgelöst: auch der einzige Gott ist nunmehr nur ein Gott neben anderen; es ist eine kontinuierliche Entwicklungslinie vom Polytheismus zum Monotheismus und umgekehrt gezogen. Im Hinblick auf die etwa ein Jahrzehnt später antreffbare Formulierung „Gott ist tot“ bzw. auf die Rede vom „Tod Gottes“ ist somit hervorzuheben: es gibt „Vorformulierungen“, die jener des „Tollen Menschen“ (vgl. KGW V 2, 158ff: FW 125) sehr nahekommen – jedenfalls in der grammatikalisch-textlichen Struktur, etwa „der todte Zeus“, „Tod des Pan“, „Tod Odins und der andren Götter“; der widersprüchliche Tatbestand, dass in diesen Exzerpten ein unleugbarer polytheistischer Kontext gegeben ist, während sich die „klassische“ Gott-ist-tot-Verkündigung primär auf den
_____________ 53 Vgl. z. B. das Vorwort in Band 1 und ebenso die Abhandlung: ‚Christus
und andere Meister‘ (49ff); vgl. zu Nietzsches Polemik S. 235. 54 M. Müller, Essays, Band 1, 1869, 210f.
6. „Tod Gottes“ – religionsgeschichtliche Aspekte
307
jüdisch-christlichen Monotheismus bezieht, wird dadurch überbrückt, dass der eine Gott in engem Zusammenhang mit den vielen Göttern gesehen wird. Vor diesem Hintergrund wird die zugleich polytheistische und monotheistische Redeweise des „Tollen Menschen“ plausibel, in der es heißt: „– auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt!“ (159) Der christliche Gott ist nun nur einer der Götter, die „verwesen“. In Auseinandersetzung mit Aussagen in den religionswissenschaftlichen ‚Essays‘ Max Müllers 55 kommt Nietzsche zu Überlegungen, die schließlich auch im christlichen Gott nur einen der Götter erblicken – und das heißt: dessen Sterblichkeit. 6.3. Die Möglichkeit „vieler neuer Götter“ nach dem „Tod“ des christlich-moralischen Gottes Wenn die in den bisherigen Zugangsweisen aufgezeigten Zusammenhänge bedacht werden, dann ergeben sich neue Aspekte der Auslegung von Nietzsches Wort „Gott ist tot“. Ähnliches wird sich auch bei den folgenden Ausführungen über die „Ewige Wiederkunft des Gleichen“ erweisen (vgl. 7.2.1.). Die Dimension des Lebens im Sinne der Diesseitigkeit, die die Existenz eines jenseitig
_____________ 55 Möglicherweise ist Nietzsche den diesbezüglichen oben zitierten Aussa-
gen in M. Müllers Aufsatz ‚Buddhistische Pilger‘ im Herbst 1881 erneut begegnet und hat dies als Anregung für seine „Gott-ist-tot“-Formulierung genommen; denn Nietzsche hat in diesem Zeitraum das Bild von „Buddha’s Schatten in der Höhle“ – im Zusammenhang mit dem „Gott, den wir todt gesagt haben“ – aufgenommen, das in eben diesem Aufsatz (M. Müller, Essays, Band 1, 1869, 237) vorkommt (KGW V 2, 524: 14 [14]). Dies ist eine Vorstufe des Aphorismus Nr. 108 der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘; als Quelle dafür wurde M. Müllers Aufsatz ‚Buddhistische Pilger‘ (in: ders., Essays, Band 1, 1869, 205-241, bes. 235ff) in der am Institut für Religionswissenschaft der Universität Wien entstandenen Diplomarbeit von B. Schuh, Der Stellenwert des Buddhismus in der Philosophie Nietzsches, 1999, 41 mit Anm. 121, ausfindig gemacht.
308
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
gedachten Sinnhorizonts negiert, tritt vor dem Hintergrund der Wiederkunftslehre stärker hervor. Eine Interpretation des Daseins primär unter dem Aspekt des Leidens und der Lebensverneinung, wie sie für das christliche Gottesverständnis nach Nietzsches Auffassung leitend war, ist damit endgültig zurückgewiesen; ebenso ein Monotheismus, der Poesie und Kunst einzuengen scheint, wie insbesondere in den zitierten Exzerpten deutlich wurde. Neben diesen inhaltlichen Aussagen zeigte sich dabei vor allem der formale Aspekt, dass die Struktur der Aussage vom „Tod Gottes“ höchstwahrscheinlich von diesen Exzerpten mitgeprägt ist, die sich auf die polytheistische Mythologie beziehen; gewissermaßen mit ihrer Hilfe wird der moralische Gott des Christentums für tot erklärt. Von diesem Hintergrund der Lebensdynamik einerseits und der „polytheistischen“ Akzentuierung der Thematik andererseits ist darum die Frage nach den möglichen weiteren Perspektiven nach dem „Tod Gottes“ mitbestimmt. Nietzsche hat die Thematik des „Todes Gottes“ nach der Veröffentlichung der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ weiterverfolgt, insbesondere in ‚Also sprach Zarathustra‘56. Darüber hinaus plante er nach Abfassung von ‚Also sprach Zarathustra‘ II ein Zarathustra-Drama, das als vierten und letzten Akt eine „Leichenfeier ‚Wir tödteten ihn‘ “ vorgesehen hätte (KGW VII 1, 391: 10 [45]; vgl. 391f: 10 [46] und [47])57. Er spricht auch von „Gottes Todtenfest“58.
_____________ 56 Vgl. die detaillierte Studie von M. L. Haase, Todesarten: ‚Wenn Götter
sterben ... ‘, in: J. Golz (Hg.), Das Goethe- und Schiller-Archiv 1896-1996, 1996, 395-414. 57 Vgl. den Sonderdruck in der Bibliothek Nietzsches: A. Mickiewicz, Aus Mickiewicz’s ‚Todtenfeier‘. Improvisation. Uebersetzt von Siegfried Lipiner, o. O. u. J. Zur Kenntnis von Mickiewicz vgl. den Brief an Overbeck im folgenden Jahr, am 7. April 1884 (KGB 6, 494), in dem sich Nietzsche kritisch zu Lipiner äußert. 58 KGW VIII 1, 126: 2 [129]; vgl. KSA, Band 14, 726.
6. „Tod Gottes“ – religionsgeschichtliche Aspekte
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Ist nach der „größte(n) Todtenfeier – hin zur Unsterblichkeit“, wie es auch in einem Plan zu ‚Also sprach Zarathustra‘ II heißt (487: 13 [20]), eine Auferstehung zu erwarten, so wie sie Nietzsche-Zarathustra hinsichtlich des Unerlösten seiner Jugend erwartet, wenn er sagt: „Und nur wo Gräber sind, giebt es Auferstehungen. – “(KGW VI 1, 141: Za II ‚Das Grablied‘)? Was bedeutet es, wenn Nietzsche sagt, dass, nachdem „dieser Gott (starb)“ und „seit er im Grabe liegt“, nun erst der „höhere Mensch“ – und nur er – „wieder auferstanden“ ist (353: Za IV)59? Diesen Fragen ist nachzugehen, denn Nietzsches Atheismus ist wohl kaum durch interpretative Finessen zu relativieren oder gar zu eliminieren, so dass man in ihm einen verborgenen „Gottsucher“ erkennen könnte. Es wäre dem Verständnis der atheistischen Position Nietzsches wenig gedient, wenn hier nicht die Eindeutigkeit seiner religionskritischen Intentionen, die weit in die Jugend zurückreichen, zur Kenntnis genommen würde. Dennoch gibt es Interpretationsansätze, die Nietzsches Offenheit für neue religiöse Perspektiven, für „kommende Götter“ betonen; und diese stehen nicht a priori in völligem Gegensatz zu Nietzsches Aussagen, denn er selbst hat in einigen Texten solche Perspektiven angesprochen. Diese sollen kurz vor Augen gestellt werden. Zunächst ist auf eine Aufzeichnung hinzuweisen, die noch während der Ausarbeitung von ‚Also sprach Zarathustra‘ I entstanden ist und vielfach im Zusammenhang des „Todes“ des moralischen Gottes interpretiert wurde, da sie die Möglichkeit eines „neuen“ Gottes eröffnet: „Ihr nennt es die Selbstzersetzung Gottes: es ist aber nur seine Häutung: – er zieht seine moralische Haut
_____________ 59 An dieser Grab- und Auferstehungsmetaphorik zeigt sich der christliche
Hintergrund der Rede vom „Tod Gottes“ und von der Auferstehung, der neben dem aufgezeigten polytheistischen Kontext für Nietzsche weiterhin zentral ist: vgl. J. Figl, ‚Tod Gottes‘ und die Möglichkeit ‚neuer Götter‘, in: Nietzsche-Studien 29 (2000), 82-101, bes. 82ff: ‚Gott-ist-tot als Wort christlicher Frömmigkeit‘.
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
aus! Und ihr sollt ihn bald wiedersehn, jenseits von gut und böse“ (KGW VII 1, 105: 3 [1], Nr. 432). Diese Perspektive hat Nietzsche weiterhin beschäftigt. Aus der Zeit nach Abschluss des letzten Buches von ‚Also sprach Zarathustra‘ findet sich im Nachlass folgende Bemerkung: „NB. Die Religionen gehn an dem Glauben der Moral zu Grunde: der christlich-moralische Gott ist nicht haltbar: folglich ‚Atheismus‘ – wie als ob es keine andere Art Götter geben könne“ (KGW VIII 1, 112: 2 [107]). Es ist hier die Möglichkeit nicht-moralischer, d. h. zugleich nichtchristlicher „Götter“ angesprochen. Ein Jahr danach erwägt Nietzsche ebenfalls „Gott als das Jenseits, das Oberhalb der erbärmlichen Eckensteher-Moral von ‚Gut und Böse‘ “; konkret formuliert ist Gott als „die ganze Fülle der Lebensgegensätze in sich drängend und sie in göttlicher Qual erlösend, rechtfertigend“ gedacht (KGW VIII 2, 246f: 10 [203]). Wieder ein Jahr später finden wir in einem umfassenden, relativ geschlossenen Nachlass-Text Zur Geschichte des Gottesbegriffs (KGW VIII 3, 321-324: 17 [4]) die Aussage: „Ich würde nicht zweifeln, daß es viele Arten Götter giebt“; zum Begriffe „Gott“ gehört dazu, dass er „jenseits auch (...) von Gut und Böse“ (324) ist. Die Alternative zur „nihilistische(n) Religion“ des Christentums, in der Gott zum „Widerspruch des Lebens“ geworden ist, ist eine Religion der Dankbarkeit, in der Gott „Verklärung und ewiges Ja“ (323) bedeutet. Gilt es diesen Gott zu „schaffen“? Nietzsche stellt in einem berühmten Satz fest: „Zwei Jahrtausende beinahe: und nicht ein einziger neuer Gott!“ (Ebd.) Wie ist dieser „neue Gott“? Einfach zu zeigen ist, wie er für Nietzsche nicht ist, wofür er das Gegenteil ist: er lehnt den „europäischen Monotono-theismus (sic!)“ ab; negiert wird die monotheistische Konzeption. Nietzsche verwendet in diesem Zusammenhang ausdrücklich eine „polytheistische“ Redeweise: „Und wie viele neue Götter sind noch möglich!“ (Ebd.) Ein weiteres Merkmal der „postchristlichen“ Situation, die von Nietzsche diagnostiziert wird, ist der scheinbar paradoxe
6. „Tod Gottes“ – religionsgeschichtliche Aspekte
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Sachverhalt, dass der Theismus abnimmt, während die Religiosität wächst. In ‚Jenseits von Gut und Böse‘ stellt Nietzsche unter dem Titel Warum heute Atheismus? fest: ‚Der Vater‘ in Gott ist gründlich widerlegt; ebenso ‚der Richter‘, ‚der Belohner‘. Insgleichen sein ‚freier Wille‘ (...) – Dies ist es, was ich, als Ursachen für den Niedergang des europäischen Theismus, aus vielerlei Gesprächen, fragend, hinhorchend, ausfindig gemacht habe; es scheint mir, dass zwar der religiöse Instinkt mächtig im Wachsen ist, – dass er aber gerade die theistische Befriedigung mit tiefem Misstrauen ablehnt (KGW VI 2, 70f: JGB 53).
Hier wird eine nicht-theistische, eine a-theistische Religiosität als für die Zukunft wahrscheinliche Möglichkeit angesprochen, und manche Aspekte der Religionsgeschichte der Folgezeit dürften Nietzsche tatsächlich Recht gegeben haben, insofern sich eine neue Religiosität ohne Gott, jedenfalls ohne ein theistisch verstandenes Absolutes, zeigt60. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Nietzsche, obwohl er selbst nicht zu einem neuen Gottesglauben gelangt ist, dennoch die Möglichkeit neuer Religiosität in Betracht zieht, und zwar einerseits in einer überwiegend nicht-theistischen, andererseits in einer pluralen Gestalt. Als Möglichkeit wird eine „polytheistische“ Zukunft erwogen, nämlich viele „neue Götter“. In der nachfolgenden Religionsgeschichte ist tatsächlich eine Pluralität, eine Vielund Mannigfaltigkeit neuer Religionen entstanden – freilich kaum im Sinne über-moralischer Religiosität61. Der „Polytheismus“ scheint über den Monotheismus zu siegen, eine „Göttervielfalt“ in Gestalt einer Religionspluralität ist hervorgetreten – also jener Religionstyp, den der Monotheismus überwinden wollte. Freilich bedürfte es einer weiteren Untersuchung, inwiefern die plurale Reli-
_____________ 60 Vgl. näherhin J. Figl, Das Göttliche in einer gottfernen Gesellschaft, in:
Concilium 31 (1995) 160-165. 61 Vgl. J. Figl, Die Mitte der Religionen, 1993.
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
gionsentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts mit Nietzsches Redeweise näherhin in Beziehung gebracht werden kann62.
7. Nietzsche und die „Religionsstifter“63
7. Nietzsche und die „Religionsstifter“ Vor dem Hintergrund von Nietzsches Überlegungen zur Möglichkeit eines nicht-moralischen Gottes und „neue(r) Götter“ stellt sich die Frage, inwiefern sich nicht auch in Nietzsches Denken selbst Ansätze einer „neuen Religiosität“ zeigen und wie das Verhältnis des Verfassers von ‚Also sprach Zarathustra‘ zu den Stiftern klassischer Religionen generell ist. Diesem Aspekt soll im vorliegenden Abschnitt nachgegangen werden. In dem Abschnitt von ‚Ecce homo‘, in dem sich Nietzsche „gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden“ wendet, sagt er auch, dass in ihm „nichts (…) von einem Religionsstifter (ist)“ (KGW VI, 3, 363f: EH ‚Warum ich ein Schicksal bin‘ 1). Der Kontext dieser Aussagen verdeutlicht, warum diese dezidierte Abgrenzung gegenüber den Religionsstiftern erforderlich ist: es ist die – jener von Religionsstiftern vergleichbare – weltgeschichtliche Bedeutung (sein „Schicksal“), die seiner Selbstdeutung nach sich einmal an seinen Namen und an seine Botschaft (er versteht sich als „froher Botschafter“: 364, vgl. 393) anknüpfen wird, nämlich „an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war“; und er fügt hinzu: „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit –“ (363). Genau an dieser Stelle betont er, dass mit alledem nichts von einem Religionsstifter in ihm sei. Von den Religionsstiftern grenzt er sich schon im ‚Vorwort‘ zu dieser späten Schrift ab, wenn er darin über seinen ‚Zarathustra‘ sagt, dass „hier (…) kein ‚Prophet‘, keiner jener schauerlichen
_____________ 62 Vgl. J. Figl, Religionen in der Moderne. Nietzsches Diagnose, ihre Prob-
leme und Perspektiven, in: R. Reschke (Hg.), Zeitenwende – Wertewende, 2001, 65-75, bes. 68ff. 63 Erstveröffentlichung in: Nietzscheforschung 11 (2004) 87-96.
7. Nietzsche und die „Religionsstifter“
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Zwitter von Krankheit und Willen zur Macht (redet), die man Religionsstifter nennt“ (257). Es ist zudem die nach Nietzsches eigenem Verständnis gegebene „Grundconception“ dieses Werkes, nämlich der „Ewige-Wiederkunfts-Gedanke“ (VI 3, 333: EH ‚Also sprach Zarathustra‘ 1), der ebenfalls eine Deutung in Parallele zu religiösen Grundaussagen nahelegen könnte. Nietzsche nennt diesen Gedanken im Spätnachlass selbst einmal „Religion der Religionen“ (KGW VII 3, 208: 34 [199]), was eine Abgrenzung bzw. Präzisierung des Begriffs „Religion“ verlangt. Ausgehend von dieser Problemstellung möchte ich im Folgenden auf zwei Aspekte von Nietzsches Verständnis der Religionsstifter eingehen: der eine zielt auf Nietzsches Analyse und Kritik dieser geschichtlich bedeutsamen Persönlichkeiten, der andere versucht Nietzsches Wiederkunftsgedanken darzustellen, und zwar sowohl in den Aspekten, wo er als Gegensatz zu einer religiösen Daseinsdeutung profiliert ist, als auch in dem gelegentlich von Nietzsche selbst explizierten Aspekt, ob und inwiefern diese „Lehre“ selbst „Religion“ genannt werden kann. Die Antwort auf diese Frage will ich in Form einer Interpretation dafür besonders einschlägiger Texte Nietzsches geben. Zwei Textgruppen sind dies: einerseits aus ‚Ecce homo‘ vor allem jene, in denen auf ‚Zarathustra‘ und dessen „Grundconception“, den Wiederkunftsgedanken, Bezug genommen wird, und andererseits nachgelassene Fragmente aus dem Umfeld der erstmaligen Nennung Zarathustras sowie der „Ewigen Wiederkunft des Gleichen“ im Spätsommer 1881. 7.1. Analyse und Kritik der „Religionsstifter“ 7.1.1. Nietzsches Verständnis des „Religionsstifters“ Mit dem Religionsstifter als solchem hat sich Nietzsche mehrfach befasst: in ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ beschreibt er sie als Betrüger, die aber „aus diesem Zustande der Selbsttäuschung nicht herauskommen“, und er meint: „Selbstbetrug muss da sein,
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
damit Diese und Jene großartig wirken. Denn die Menschen glauben an die Wahrheit dessen, was ersichtlich stark geglaubt wird“ (KGW IV 2, 70f: MA I, 52). In der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ wird das Motiv des Selbstbetrugs des Religionsstifters in Richtung seiner die eigenen Erlebnisse missverstehenden Auslegung weitergeführt. Im Aphorismus Als Interpreten unserer Erlebnisse stellt Nietzsche fest: „Eine Art von Redlichkeit ist allen Religionsstiftern und Ihresgleichen fremd gewesen: – sie haben nie sich aus ihren Erlebnissen eine Gewissenssache der Erkenntniss gemacht“ (KGW V 2, 230f: FW 319). Der Gedanke der fälschenden Interpretation wird später von Nietzsche noch vertieft64. Im 5. Buch der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘, im Aphorismus Vom Ursprung der Religionen, ist es die „eigentliche Erfindung der Religionsstifter“, dass sie zuerst „eine bestimmte Art Leben und Alltag der Sitte“, eine „disciplina voluntatis“ ansetzen, und dass sie dann „gerade diesem Leben eine Interpretation“ geben, die ihm höchsten Wert zu verleihen scheint, was die „wesentlichere“ von „diesen zwei Erfindungen“ sei (V 2, 271: FW 353); Jesus, Paulus und Buddha werden als solche „Interpreten“ exemplarisch vorgestellt: Die Bedeutung, die Originalität des Religionsstifters kommt gewöhnlich darin zu Tage, dass er sie (scil. die Lebensart der Menschen; J. F.) sieht, dass er sie auswählt, dass er zum ersten Male erräth, wozu sie gebraucht, wie sie interpretirt werden kann. Jesus (oder Paulus) zum Beispiel fand das Leben der kleinen Leute in der römischen Provinz vor, ein bescheidenes tugendhaftes gedrücktes Leben: er legte es aus, er legte den höchsten Sinn und Werth hinein – und damit den Muth, jede andre Art Leben zu verachten (...) Buddha insgleichen fand jene Art Menschen vor, und zwar zerstreut unter alle Stände und gesellschaftliche Stufen seines Volks, welche aus Trägheit gut und gütig (vor Allem inoffensiv) sind, die, ebenfalls aus Trägheit, abstinent, beinahe bedürfnisslos leben:
_____________ 64 Vgl. zu diesem Themenbereich im Spätwerk Nietzsches generell meine
Studie: J. Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip, 1982; zur religionsspezifischen Thematik unter diesem Gesichtspunkt: ders., Dialektik der Gewalt, 1984, bes. 301ff; zur Terminologie bes. 355.
7. Nietzsche und die „Religionsstifter“
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er verstand, wie eine solche Art Menschen mit Unvermeidlichkeit, mit der ganzen vis inertiae, in einen Glauben hineinrollen müsse, der die Wiederkehr der irdischen Mühsal (das heisst der Arbeit, des Handelns überhaupt) zu verhüten verspricht, – dies ‚Verstehen‘ war sein Genie (V 2, 271f).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass hier stets das Motiv vorherrscht, dass eine bestimmte Interpretation den Religionsstifter kennzeichnet, die eigentlich eine „Erfindung“ ist, die in anderen Kontexten eine „Täuschung“, eine „Falschheit“, eine „Verlogenheit“ genannt wird. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, wenn Nietzsche in dem Buch, in dem er „gegen die Verlogenheit von Jahrtrausenden“ auftritt, den „Religionsstifter“ als entschieden negative Gegenfigur kennzeichnen muss, als jenen, der Erlebnisse selektiv und tendenziös interpretiert. 7.1.2. Spezifische Motive für die Abgrenzung vom „Religionsstifter“ Was wehrt Nietzsche näherhin ab, wenn er in ‚Ecce homo‘ den Satz formuliert: „Und mit Alledem ist Nichts in mir von einem Religionsstifter – (…)“ (KGW VI 3, 363: EH ‚Warum ich ein Schicksal bin‘ 1)? Es wird eine Deutung zurückgewiesen, die sich aus der Selbstbeschreibung, aus den dieser Aussage unmittelbar vorhergehenden Sätzen, ergeben könnte. Es sind die Einleitungssätze des Abschnitts ‚Warum ich ein Schicksal bin‘: „Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab (…)“ (ebd.), und die mit den Worten fortgeführt werden, die einleitend schon zitiert wurden. Der in Nietzsches Selbstinterpretation radikale Umbruch und die dadurch angezielte Umwertung darf nach seinem Urteil nicht in Analogie zum Beginn einer neuen Religion gedeutet werden, auch wenn in seinen Augen Religionen in ihrem Anfang – wie das Christentum – Umwertungen waren65. Anders formuliert: obwohl hier nach Nietzsches Selbstverständnis eine in der Weltgeschichte
_____________ 65 Vgl. dazu J. Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, 354ff.
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
unvergleichliche, ungeheure Veränderung des Bewusstseins sich ereignet, gebe es dennoch in jener Person, die sich als Urheber dieser neuen Vision betrachtet, nichts, das für einen Religionsstifter charakteristisch sei. Gegen eine solche sich vielleicht nahelegende formale Parallelisierung führt Nietzsche inhaltliche Gründe an, von denen er einige im Einzelnen aufzählt, wie insbesondere: (1) „Religionen sind Pöbel-Affairen“, etwas Unreines, und er müsse sich nach der Berührung mit religiösen Menschen die Hände waschen; (2) er „will keine ‚Gläubigen‘ “; dies führt (3) weiter zur Aussage: „Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst …“ (ebd.). Im Vorwort zu ‚Ecce homo‘ klingen dieselben Motive mehrfach an – besonders dort, wo er von seinem ‚Zarathustra‘ spricht: (1) es ist ein elitäres Buch, „nicht nur das höchste Buch, das es giebt“, sondern „das eigentliche Höhenluft-Buch“ (und somit gegen den „Pöbel“ gerichtet); (2) „Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht ‚gepredigt‘, hier wird nicht Glauben verlangt“ – er will also keine „Gläubigen“, und (3) Zarathustra ist in dem, was er sagt, „genau das Gegentheil von dem, was irgend ein ‚Weiser‘, ‚Heiliger‘, ‚Welt-Erlöser‘ und andrer décadent in einem solchen Falle sagen würde“ (257f: EH, Vorwort 4). In diesem Zusammenhang lesen wir in der schon angeführten Selbstinterpretation eine Art „Definition“ des Religionsstifters: „Hier redet kein ‚Prophet‘, keiner jener schauerlichen Zwitter von Krankheit und Willen zur Macht, die man Religionsstifter nennt“ (257). „Wille zur Macht“ meint in diesem Zusammenhang auch, Herrschaft über viele zu erlangen; „Krankheit“ ist jenes Kennzeichen des religiösen Menschen, das von Nietzsche besonders deutlich im Spätwerk hervorgehoben wird66.
_____________ 66 Vgl. dazu näher J. Figl, a. a. O., 298ff bzw. 302ff.
7. Nietzsche und die „Religionsstifter“
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7.1.3. Weiterer Kontext der Zurückweisung des „Religionsstifters“ und des „Heiligen“ Nietzsches Antithesen, die in der Zurückweisung jener Begriffe, die alle in einer Linie liegen – nämlich „Weiser“, „Heiliger“, „Erlöser“, „Prophet“ und schließlich „Religionsstifter“ – zum Ausdruck kommen, sind im Kontext eines anderen offenkundigen Anliegens des Werkes ‚Ecce homo‘ zu lesen: Nietzsche will darin sagen, wer er ist; signifikant dafür sind seine Worte: „Verwechselt mich vor Allem nicht! “ (KGW VI 3, 255: EH, Vorwort 1) Auch hier sagt er unmittelbar anschließend, was er nicht ist: „zum Beispiel durchaus kein Popanz, kein Moral-Ungeheuer“; er versteht sich als „eine Gegensatz-Natur zu der Art Mensch, die man bisher als tugendhaft verehrt hat“; als solcher sei er „ein Jünger des Philosophen Dionysos“, und er zöge es vor, „eher noch ein Satyr zu sein als ein Heiliger“ (VI 3, 256: EH, Vorwort 2), wodurch ebenfalls die Abgrenzung zum Heiligen betont wird. Ideale bzw. Götzen will er umwerfen, der erlogenen Welt wird die Realität gegenübergestellt; den Gegensatz zu der Figur des Heiligen will er in seiner Schrift zum Ausdruck bringen (vgl. ebd.), „denn es gab nichts Verlogneres bisher als Heilige“, wie er in dem Abschnitt ‚Warum ich ein Schicksal bin‘ sagt (363). Eine sich durchhaltende Tendenz der zitierten Stellen dürfte im folgenden Grundanliegen zu erblicken sein: um die Identität zu gewinnen, um „der und der“ zu sein (255: EH, Vorwort 1), ist es für Nietzsche notwendig, den Gegensatz zu einer präsentativen Gestalt des religiösen Lebens, zum Heiligen, hervorzuheben. In diesem Kontext dient die Zurückweisung des Begriffs „Religionsstifter“ auch dazu, das Eigene zu profilieren, sie wendet sich gegen eine Zentralgestalt der traditionellen gestifteten Religionen. Wichtig ist es auch zu beachten, dass Nietzsche diese Abgrenzung im Vorwort zu ‚Ecce homo‘ ausdrücklich im Zusammenhang mit seinem ‚Zarathustra‘ vornimmt. Damit ist zugleich auch die Grenzziehung zwischen den Religionen und dem Gedanken der Ewigen Wiederkunft ausgesprochen, denn die „Grundconception des Werks“ ist,
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
wie erwähnt, „der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke“ (333: EH ‚Also sprach Zarathustra‘ 1); es ist der „Grundgedanke(n) des Zarathustra“ (334). Aus dieser Perspektive ist die Wiederkunftslehre die radikale Alternative zu den Religionen, zu ihren Verfälschungen, Verneinungen und zu ihrer Jenseitsorientierung. Nietzsche nennt ihn – von ihm selbst in ‚Ecce homo‘ schon unter Anführungszeichen gesetzt – „den ‚abgründlichsten Gedanken‘ “ (343)67. Er ist für ihn die „höchste Formel der Bejahung“ (333), es geht ihm darum, „das ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein“ (343). Es mag offen bleiben, wie Nietzsche zur „Ewigen Wiederkunftslehre“ als einer Art philosophischem Axiom in den letzten Jahren seines Lebens tatsächlich gestanden ist; doch es dürfte deutlich sein, dass er von der lebensbestimmenden Kraft dieses „Gedankens“ von dem Jahr an, wo dieser gleichsam wie eine „Inspiration“ über ihn gekommen ist, überzeugt war, da er noch in den letzten Monaten seines bewussten geistigen Schaffens die überragende Bedeutung dieses „Gedankens“ im Zusammenhang mit dem ‚Zarathustra‘ betont hat. 7.2. Wiederkunftslehre als „Religion der Religionen“ Nachdem die traditionelle Form von Religion im Zusammenhang mit den Religionsstiftern dargestellt worden ist, geht es nun darum, Nietzsches eigene Grundkonzeption zu skizzieren. Welche Funktion, welche Sinnintentionen hinsichtlich der Lebensgestaltung verbindet Nietzsche mit der Wiederkunftslehre? Dazu ist es nützlich, die erstmalige Nennung dieses zentralen „Gedankens“ zu analysieren. Des Weiteren ist zu fragen, in welchem Sinn
_____________ 67 An anderer Stelle spricht er davon im biographisch(-polemischen) Kon-
text: „Aber ich bekenne, dass der tiefste Einwand gegen die ‚ewige Wiederkunft‘, mein eigentlich abgründlicher Gedanke, immer Mutter und Schwester sind“ (KGW VI 3, 266: EH ‚Warum ich so weise bin‘ 3).
7. Nietzsche und die „Religionsstifter“
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Nietzsche die Wiederkunftslehre als eine „Religion“ bzw. später sogar als „Religion der Religionen“ bezeichnet (vgl. bes. 7.2.4.). 7.2.1. Nennung „Zarathustras“ und der Wiederkunftslehre im Kontext einer „neuen Art zu leben“ Der Text, in dem zum ersten Mal der Name Zarathustra in Nietzsches spezifischem Verständnis auftaucht und worauf er in ‚Ecce homo‘ selbst hinweist (vgl. VI 3, 333), ist genau datiert: Sils-Maria, 26. August 1881 (KGW V 2, 417f: 11 [195]-[197])68. Er steht im Zusammenhang mit dem Titel eines geplanten Werkes Mittag und Ewigkeit, das den Untertitel hat: Fingerzeige zu einem neuen Leben. Der Text, der dann folgt, bildet dem Inhalt nach die ersten Sätze von ‚Also sprach Zarathustra‘ (vgl. KGW VI 1, 5: Zarathustras Vorrede 1), die im Wesentlichen identisch sind mit dem Anfang des schon in der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ veröffentlichten Aphorismus Nr. 342 (KGW V 2, 251); er lautet in der Aufzeichnung vom August 1881: Zarathustra, geboren am See Urmi, verliess im dreissigsten Jahre seine Heimat, gieng in die Provinz Aria und verfasste in den zehn Jahren seiner Einsamkeit im Gebirge den Zend-Avesta (417: 11 [195])69.
Unmittelbar daran anschließend heißt es: „Die Sonne der Erkenntniß steht wieder einmal im Mittag: und geringelt liegt die
_____________ 68 In dem gebundenen Heft M III 1 (= Fragmentengruppe 11, Frühjahr
bis Herbst 1881, KGW V 2, 339-473); vgl. M. Montinari, Nietzsche lesen, 1982, 81. 69 Während Mazzino Montinari 1982 noch feststellte, dass „die genaue Quelle, aus der Nietzsche diesen Namen übernahm, auch heute noch als unbekannt gelten (muß)“ (a. a. O., 81), kann inzwischen dank überzeugender Quellenstudien dieses Problem als gelöst gelten. Paolo D’Iorio eruierte die Quelle dieser Stelle: sie ist Friedrich Anton von Hellwalds Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart (1875) entnommen. Nietzsche hatte sich dieses Werk von Overbeck nach Sils-Maria schicken lassen. Siehe P. D’Iorio, Beiträge zur Quellenforschung, in: Nietzsche-Studien 22 (1993) 395; vgl. KSA, Band 15, Chronik und Gesamtregister: Chronik zu Nietzsches Leben, 117.
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
Schlange der Ewigkeit in ihrem Lichte – es ist eure Zeit, ihr Mittagsbrüder!“ (11 [196]) Wie hängen also „Mittag“ bzw. „Ewigkeit“ und diese „Fingerzeige zu einem neuen Leben“, oder, wie es im folgenden Fragment (11 [197]) heißt, und dieser „ ,Entwurf einer neuen Art zu leben‘ “, zusammen? Ist in dieser Symbolik des „Mittags“, der zugleich die „Ewigkeit“ meint, eine neue Art des Lebens impliziert? Die Sinnaussage dieses Entwurfs tritt deutlicher hervor, wenn man ihn mit einem anderen vergleicht, den Nietzsche „Anfang August 1881“, also einige Wochen zuvor, ebenfalls in SilsMaria notierte, und den er selbst datiert hat. Er hat die Überschrift ‚Die Wiederkunft des Gleichen. Entwurf‘ (V 2, 392: 11 [141]). Im Folgenden geht es bei Nietzsches Interpretation der Wiederkunft insbesondere um die Auswirkungen auf das individuelle Selbstverständnis der hier verkündeten Lehre. Neben anderen zentralen Inhalten, wie dem einer kosmologischen Sicht, die mit dieser Wiederkunftslehre verbunden ist, scheint die Bedeutung, die diese Lehre für die Lebensgestaltung, für eine neue existenzielle Schwerpunktsetzung der Menschen hat, in den Augen Nietzsches schlechthin grundlegend zu sein. Schon in der ersten Zusammenstellung mit dem Titel Die Wiederkunft des Gleichen schreibt er unter Punkt 5: „Das neue Schwergewicht: die ewige Wiederkunft des Gleichen. Unendliche Wichtigkeit unseres Wissen’s, Irren’s, unsrer Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende. Was machen wir mit dem Reste unseres Lebens – wir, die wir den grössten Theil desselben in der wesentlichsten Unwissenheit verbracht haben?“ (Ebd.) Diese Lehre ist eine das Leben verändernde Lehre, eine Lehre, die die Biographie in zwei Teile trennt; Nietzsche sagt später des Öfteren, dass mit seinem Leben und seiner Verkündigung die Geschichte der Menschheit in zwei Teile geteilt wird70; hier
_____________ 70 Vgl. insbesondere ‚Die Fröhliche Wissenschaft‘, Aphorismus Nr. 125:
‚Der tolle Mensch‘: „Es gab nie eine grössere That, – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“ (KGW V 2, 159); vgl. auch
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aber geht es darum, dass das individuelle Leben sich notwendig ändern wird, wenn man die Einsicht in diese Wiederkunftslehre gewonnen hat. Die Frage ist, was man dann mit dem Rest des Lebens tut, nachdem im Horizont dieser Einsicht, dieses neuen Wissens, das vorhergehende Leben als „wesentlichste Unwissenheit“ erscheint. Aus dem „Schwergewicht“, das diese Lehre bedeutet71, ergibt sich für Nietzsche die unendliche Wichtigkeit all dessen, was Menschen in Hinkunft tun. Diese Einsicht und die Anerkennung der neuen Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen fordert eine Änderung des Selbstverständnisses, das zu einer extrem hohen Bedeutung des individuellen Lebens führt: „Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben!“, fordert er (V 2, 401: 11 [159]), und die Konsequenz daraus ist die Einsicht: „Diess Leben – dein ewiges Leben!“ (a. a. O., 411: 11 [183])72 7.2.2. Überbietung der traditionellen Religionen und ihrer Jenseitsorientierung Mit dieser Auffassung wendet sich Nietzsche von den Religionen schlechthin ab, und er meint, dass dieser Gedanke, „das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben“ zu drücken, „mehr als alle Religionen (enthält)“, weil die Religionen das gegenwärtige Leben „als ein flüchtiges verachten und nach einem unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten“ (KGW V 2, 401: 11 [159]). Von hier aus kritisiert Nietzsche nicht nur das Christentum, sondern auch die alexandrinische Kultur; als Motiv für ihr „Zugrundegehen“ gibt er
_____________ ‚Ecce homo‘, 8: ‚Warum ich ein Schicksal bin‘: jener, der über die christliche Moral aufklärt, ist „eine force majeure, ein Schicksal, – er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke. Man lebt vor ihm, man lebt nach ihm …“ (KGW VI 3, 371). 71 Vgl. ‚Die fröhliche Wissenschaft‘, Aphorismus Nr. 341: ‚Das grösste Schwergewicht‘, wo Nietzsche erstmals im veröffentlichten Werk die Wiederkunftslehre thematisiert (vgl. KGW V 2, 250). 72 Vgl. dazu näher: J. Figl, Religionen in der Moderne (2001), bes. 73f.
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an: „Sie vermochte mit all ihren nützlichen Entdeckungen und der Lust an der Erkenntniß dieser Welt doch dieser Welt, diesem Leben nicht die letzte Wichtigkeit zu geben, das Jenseits blieb wichtiger! Hierin umzulehren jetzt immer noch die Hauptsache – vielleicht wenn die Metaphysik eben dies Leben mit dem schwersten Accent trifft – nach meiner Lehre!“ (V 2, 413: 11 [187]) In diesen Notizen aus der Zeit der erstmaligen Nennung des „Wiederkunft-Gedankens“ ist es also ein Aspekt, ein zentrales Anliegen der Philosophie Nietzsches, zu einer im Verhältnis zu den jenseitsorientierten Religionen neuen Einstellung dem Leben gegenüber zu kommen. Diese Lehre hat Auswirkungen auf das konkrete Leben: „Nicht nach fernen unbekannten Seligkeiten und Segnungen und Begnadigungen ausschauen, sondern so leben, daß wir nochmals leben wollen und in Ewigkeit so leben wollen. – Unsere Aufgabe tritt in jedem Augenblick an uns heran“ (401: 11 [161]). Aus der Einsicht in den „Ewigkeitswert“ des Lebens wird die Bedeutung des Augenblicks auch dadurch erhöht, dass die Grundaufgabe in jeder Situation neu geleistet werden kann. Sie soll aber so geleistet werden, dass sie „ewigen“ Bestand in dem Sinn hat, dass der Mensch sie immer wieder leben will und bejahen kann. 7.2.3. Neubestimmung der Individualität (des „Ich“) in kritischer Auseinandersetzung mit Religionsstiftern Aus der Betonung des diesseitigen Lebens – ein jenseitiges gibt es nach Nietzsches Urteil nicht – erfolgt auch die Hervorhebung der Individualität, und als eine „Haupttendenz“ gilt, „die Liebe zum Leben, zum eigenen Leben auf alle Weise pflanzen!“ (KGW V 2, 410: 11 [183]) Die geforderte Lebenspraxis ist ein Weg zur Individualisierung und Individualität – bei gleichzeitiger Anerkennung und Betonung der Eigenheit des Anderen, die ebenso geschützt und gestützt werden muss. Jeder wird den Anderen gelten lassen; gefordert ist eine „neue große Toleranz“ für diese Einsicht: „so sehr es oft wider seinen Geschmack geht, wenn der Einzelne wirklich die Freude am eigenen Leben mehrt!“ (Ebd.)
7. Nietzsche und die „Religionsstifter“
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Vor dieser neuen Betonung der Individualität und der Ich-Bezogenheit wird das Problem des Verhältnisses zu den von Nietzsche genannten Herden-Gefühlen, die eben mächtiger und älter seien, deutlich sichtbar. Sogar im „erwachten Individuum“ sei dieser „Urbestand der Heerdengefühle noch übermächtig“ (412: 11 [185]) – ein „Ego“ sei deswegen heute noch sehr selten73. Einer der Gründe ist die religiöse Erziehung; das Verlangen nach staatlich-sozialen Bindungen, die Nationen usw. sind hier ebenfalls zu nennen (vgl. ebd.). Eine Folge daraus ist die Unsicherheit hinsichtlich des „Ego“: Der Egoismus ist noch unendlich schwach! (…) Man frage nur einmal, wie Wenige gründlich prüfen: warum lebst du hier? warum geht du mit dem um? Wie kamst du zu dieser Religion? Welchen Einfluß übt diese und jene Diät auf dich? Ist dies Haus für dich gebaut? usw. Nichts ist seltener als die Feststellung des ego vor uns selber. Es herrscht das Vorurtheil, man kenne das ego, es verfehle nicht, sich fortwährend zu regen: aber es wird fast gar keine Arbeit und Intelligenz darauf verwandt – als ob wir für die Selbsterkenntniß durch eine Intuition der Forschung überhoben wären! (V 2, 426: 11 [226])
Im Zusammenhang mit der Suche nach dem „Ego“ macht Nietzsche eine interessante Feststellung, bei der er auch Religionsstifter einschließt: dass nämlich in den früheren Kulturen gerade jene, die den Egoismus verurteilt haben, ihn selbst praktiziert hätten: Der Egoism ist verketzert worden, von denen die ihn übten (Gemeinden Fürsten Parteiführern Religionsstiftern Philosophen wie Plato); sie brauchten die entgegengesetzte Gesinnung bei den Menschen, die ihnen Funktion leisten sollten (V 2, 455: 11 [303]).
So betrachtet gab es in der Geschichte immer schon zwei Arten von Menschen, nämlich die „Heerden-Menschen und die selbsteignen Menschen: letztere zuerst als Hirten“ (414: 11 [191]). Vor diesem Hintergrund wird die isolierte Notiz verständlich: „Jesus war ein großer Egoist“ (448: 11 [283]). Religionsstifter haben demnach Züge, die Nietzsche für jedes Individuum einfordert, wodurch frei-
_____________ 73 Vgl. dazu auch das Fragment KGW V 3, 511: 12 [213] (Herbst 1881).
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
lich die Bedeutung dessen, was Ich-Bewusstsein heißt, ebenfalls eine neue, eine nicht-religiöse Bedeutung bekommt. Nietzsche geht es um Individualität, um den Sinn des „Eigenen“. Dieser kann nicht von anderen Autoritäten bestimmt werden, weder von dem „Man“ der Masse, der „Herde“, wie es Nietzsche nennt, noch von deren „Führern“; Religionen sind „Herdenbildungen“. Religionsstifter vermitteln ein für viele geltendes Lebensmodell – Nietzsches Konzept ist aber eines für das jeweilige Individuum; auch darum muss er den Vergleich mit Religionsstiftern trotz deren historischer Bedeutung, ihrer „Vorläufer“-Funktion für die Ausbildung eines Selbst, ablehnen. Dies trifft selbst dann noch zu, wenn Nietzsche seine eigene Lehre, wie es gelegentlich im Nachlass der Fall ist, als „Religion“ bezeichnet. 7.2.4. Die Wiederkunftslehre – eine „Religion“ Nietzsche bezeichnet in isolierten Notizen den Gedanken der „ewigen Wiederkunft“ als eine Art „Religion“ und ist davon überzeugt, dass man an diesen Gedanken „glauben“ kann: „die nicht daran Glaubenden müssen ihrer Natur nach endlich aussterben!“ (KGW V 2, 471: 11 [338]) In diesem Kontext nennt er ihn „meinen Gedanken“, und er schreibt: „Er soll die Religion der freiesten heitersten und erhabensten Seelen sein – ein lieblicher Wiesengrund zwischen vergoldetem Eise und reinem Himmel!“ (11 [339])74 In dieser Umschreibung klingt die biographisch konnotierte Formulierung aus ‚Ecce homo‘ an, in der er seine Philosophie „das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge“ nennt (KGW VI 3, 256: Vorwort 3). Im Zeitraum April bis Juni 1885 versteht er in einem Plan, wo Zarathustras Abschied konzipiert wird, „die Wiederkunft als Religion der Religionen“ (VII 3, 208: 34 [199]; vgl. a. a. O., 188: 34 [144] und [145], und nun auch KGW IX 1, 57). Die nähere Bedeutung dieser isoliert vorkommenden Formulierung ist nicht
_____________ 74 Diese Fragmente sind zu einer späteren Zeit, nach Februar 1882, ent-
standen; vgl. Datum KGW V 2, 470: 11 [336].
7. Nietzsche und die „Religionsstifter“
325
ohne weiteres ersichtlich. Vielleicht kommt in ihr der tröstliche Aspekt der Wiederkunftslehre zum Ausdruck, wofür eine andere Nachlassformulierung, die zur „Abschieds“-Thematik gehört, zu sprechen scheint75. Ohne auf diesen möglichen speziellen Aspekt weiter eingehen zu wollen, sei auf das Grundsätzliche dieser Formulierung verwiesen. In sprachlich-formaler Hinsicht bringt die Formulierung „Religion der Religionen“ eine Überbietung der traditionellen Religionen zum Ausdruck; von der ersten „Inspiration“ an ist er davon überzeugt, dass sein Gedanke „mehr als alle Religionen (enthält)“, und zwar wegen der Diesseitsorientiertheit (vgl. KGW V 2, 401: 11 [159]), denn der Wiederkunfts-Gedanke verlangt im Verhältnis zu den Religionen eine neue Lebensart, die sich als eine realistischere und diesseitige Sinnantwort versteht. Sie gibt keine allgemeine Antwort wie die traditionellen Religionen, sondern fordert auf, die jeweils „eigene“ zu finden, insofern sie sich am „Ego“ (im beschriebenen Sinn) orientiert. Nietzsche möchte seine Lehre auch nicht wie eine „plötzliche Religion“ lehren, denn „für den mächtigsten Gedanken bedarf es vieler Jahrtausende“, bevor er sich durchsetzen wird; im Vergleich dazu sind „die Paar Jahrtausende, in denen sich das Christenthum erhalten hat“, nicht bedeutsam (11 [158]). Es ist auffallend, dass Nietzsche diese Umschreibung mit den „Jahrtausende(n)“ auch für sein Werk ‚Also sprach Zarathustra‘ und dessen Botschaft verwendet: in ‚Ecce homo‘ sagt er, dass das Buch ‚Zarathustra‘ „mit einer Stimme über Jahrtausende hinweg“ spricht (KGW VI 3, 257,
_____________ 75 In einem von Nietzsche selbst als Plan zu ‚Zarathustra‘ bezeichneten
Notiz heißt es: „letzter Abschied von der Höhle (das Tröstliche der ewigen Wiederkunft zeigt zum ersten Mal sein Gesicht)“ (KGW VII 3, 76: 31 [9], Winter 1884/85; a. a. O., 50: 29 [14]: „Ewige Wiederkehr jedes guten Dings“); es ist nicht nur eine erschreckende Botschaft, sondern auch eine „tröstliche“ – weil auch das Gute auf ewig bewahrt ist: in ‚Ecce homo‘ sagt er rückblickend auf den Tag, wo er sein 44. Lebensjahr vollendet hat, dass er es „begraben (durfte), – was in ihm Leben war, ist gerettet, ist unsterblich“ (KGW VI 3, 261).
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
Vorwort 4), und er beschreibt das Außergewöhnliche der diesem Werk zugrunde liegenden „Inspiration“, die er auch als „Offenbarung“ (VI 3, 337: ‚Also sprach Zarathustra‘ 3) bezeichnet, auf folgende Weise: „Dies ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, dass man Jahrtausende zurückgehn muss, um Jemanden zu finden, der mir sagen darf ‚es ist auch die meine‘ – “ (338). Vor diesem Hintergrund ist sein Wort in Warum ich ein Schicksal bin 1, dass er sich „gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden im Gegensatz weiss …“ (VI 3, 363f), besser einzuordnen: es geht dabei um die Gegensatzbegriffe „Wahrheit“ und „Lüge“, aber in einem neuen Sinn, nämlich im Kontext einer menschheitsgeschichtlich bedeutsamen „Umwerthung aller Werthe“ (ebd.); es geht um die Auseinandersetzung mit der durch die traditionellen Religionen geprägten Moral. Von hierher interpretiert Nietzsche in den unmittelbar anschließenden Abschnitten (Warum ich ein Schicksal bin 2 und 3) auch den Namen Zarathustra – gerade in dem Zusammenhang, wo er sich als den „ersten Immoralisten“ bezeichnet: für ihn ist das, „was die ungeheure Einzigkeit jenes Persers ausmacht, (…) gerade dazu das Gegentheil“, denn dieser habe die „Moral in’s Metaphysische“ übersetzt: „Zarathustra schuf diesen verhängnisvollsten Irrthum, die Moral: folglich muss er auch der Erste sein, der ihn erkennt“; der Name jenes Religionsstifters besagt in Nietzsches (Selbst-)Deutung „die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz – in mich (…)“ (365). Aus der Anti-Position gegenüber den traditionellen Religionen und Religionsstiftern ergibt sich, dass Nietzsches eigene Lehre nicht als eine Religion im „substanziellen“ Sinn dieses Begriffs bezeichnet werden kann, auch wenn er selbst gelegentlich das Substantiv „Religion“ dafür verwendet. Eine andere Frage ist, ob dem Gedanken der Ewigen Wiederkunft und der von Zarathustra verkündeten Botschaft – Nietzsche bezeichnet sich in ‚Ecce homo‘ als „froher Botschafter“ (364) – ein religiöser Charakter im „funktionalen“ Sinn zugesprochen werden kann; ob sie Funktionen hat, die
7. Nietzsche und die „Religionsstifter“
327
auch die traditionellen Religionen erfüllen, wie z. B. eine Antwort auf den Sinn des Kosmos oder auf die Frage des Todes zu geben und eine Orientierung für ein erfülltes Leben anzubieten, bedarf einer weiteren Analyse. Dabei ist es wichtig, die beiden grundlegenden Verständnisweisen von Religion in der heutigen Religionswissenschaft vor Augen zu haben, um Missverständnisse auszuschließen: beim materialen oder auch substanziellen bzw. substanzialistischen Religionsbegriff geht es um zentrale Inhalte (Gott, Ewiges Leben, religiöse Gebote etc.); der funktionale Religionsbegriff hingegen hat keine inhaltliche Begrenzung, er ist sehr weit, kann praktisch alle anthropologisch relevanten Bereiche umfassen (existenzielle Grunderfahrungen, aber auch Sport, Kunst, Werbung etc.); man kann sagen, dass dadurch religiöse Funktionen erfüllt werden können (Sinnfrage, Gemeinschaftsgefühl etc.) oder Züge anzutreffen sind, die religionsanalog sind (z. B. Rituale). Im ersteren Begriff geht es also v. a. um Religionen (im herkömmlichen Sinn), im letzteren um Religiosität und „Religion“ (in einem allgemein-anthropologischen Sinn); in diesem funktionalen Kontext kann religionssoziologisch bei Weltanschauungen (Atheismus, Agnostizismus etc.) oder politischen Systemen ein „religiöser“ Charakter konstatiert werden76. In diesem Zusammenhang ist es legitim, bei Nietzsches neuer „Inspiration“ der „Ewigen Wiederkunft“ von „Religiosität“ oder „Religion“ zu sprechen. Es gibt für eine solche Redeweise wichtige und auch begründete Ansätze77. Es bedarf einer religionswissenschaftlich fundierten Begriffsbestimmung, die sowohl dem spezifisch philosophischen Gebrauch religiöser Termini bei Nietzsche gerecht wird78 als auch seiner ent-
_____________ 76 Vgl. J. Figl, Einleitung. Religionswissenschaft, in: ders. (Hg.), Handbuch
Religionswissenschaft, 2003, bes. 65-68. 77 Vgl. insbesondere J. Lippitt/J. Urpeth (Ed.), Nietzsche and the Divine,
2000; und R. Okochi, Wie man wird, was man ist, 1995, bes. 65ff. 78 Dies gilt besonders auch für die Begriffe „Gott“ und „Religion“ selbst;
erst wenn diese geklärt sind, kann entschieden werden, wie das Verhältnis des Gedankens der „Ewigen Wiederkunft“ zu den Religionen ist und
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
schiedenen Kritik an Vorstellungen und Praktiken, die er ausdrücklich in einem dezidiert religiösen Kontext sieht und als solche zurückweist79. Gewiss aber ist Nietzsches Wiederkunftslehre keine „Religion“ im substanziellen Sinn, wie es die traditionellen Religionen sind. Dies unterscheidet ihn wesentlich von den Religionsstiftern, die allesamt auch Religionskritiker – darin ist Nietzsche mit ihnen vergleichbar – waren; aber anstelle der traditionellen Religion (bei Buddha: vedisch-brahmanische Religion; bei Jesus: jüdische Religion; bei Mohammed: arabische Stammesreligion) haben sie jeweils eine neue Religion mit teils anderen Inhalten, jedenfalls in einer neuen Gesamtdarstellung, gebracht bzw. gaben den Anstoß dazu. Diese Abgrenzung trifft auch und gerade – wie aufgezeigt – für den historischen Zarathustra als Religionsstifter zu.
_____________ ob „die Wiederkunftslehre zwingend eine Verneinung Gottes überhaupt einschließt“: vgl. M. Skowron, Nietzsches weltliche Religiosität und ihre Paradoxien, in: Nietzsche-Studien 31 (2002) 1-39, bes. 4 Anm. 5, mit Verweis auf meinen Artikel ‚Tod Gottes und die Möglichkeit neuer Götter‘ (2000) 82-101. 79 Vgl. oben S. 314ff.
8. Transkulturelle Hermeneutik
329
8. Nietzsches Weg zu einer transkulturellen Hermeneutik „Wer es kann, der folge mir in der Gerechtigkeit gegen verschiedene Culturen“ (Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, 1876/77: KGW IV 2 , 469: 21 [45])
8. Transkulturelle Hermeneutik 8. 1. Historische und komparative Methodik von den frühen bis zu den späten Aufzeichnungen 8.1.1. Genealogische Denkweise – Erklärungen vom „Ursprung“ her In dem 1887 erschienenen Werk ‚Zur Genealogie der Moral‘ sagt Nietzsche, dass seine „Gedanken über die Herkunft unserer moralischen Vorurtheile“ ihren ersten Ausdruck schon in der Schrift ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ gefunden haben (KGW VI 2, 260: Vorrede 2). Ja, er geht noch weiter – in die Kindheit – zurück: als dreizehnjähriger Knabe sei er dem „Problem vom Ursprung des Bösen“ nachgegangen und habe Gott „zum Vater des Bösen“ gemacht (261: Vorrede 3)80. Die genealogische Denkweise, hier namentlich hinsichtlich der moralischen Thematik, hat also in Nietzsches Überlegungen in gewissem Sinn schon in seiner Biographie ihre eigene „Genealogie“. Der Ausdruck und die Methode der Genealogie lassen sich wissenschaftsgeschichtlich weiter zurückführen. Wörtlich heißt „Genealogie“ (vom Griechischen kommend) „Geschlechterkunde“, und ursprünglich war seit dem Ende des 15. Jahrhunderts mit diesem Wort das Bemühen der Gelehrten um den Aufweis der Stammbäume berühmter (besonders der Adels-) Geschlechter
_____________ 80 Vgl. auch den Hinweis in seinen ‚Memorabilia‘ (KGW IV 3, 362ff) von
1878: „Erste philosophische Schrift über die Entstehung des Teufels (Gott denkt sich selbst, dies kann er nur durch Vorstellung seines Gegensatzes)“ (a. a. O., 363: 28 [7]); vgl. dazu M. Montinari, Nietzsche lesen, 1982, bes. 35; vgl. auch KGW I 2, 18: 5 [16].
330
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
gemeint – sie war mithin eine Hilfswissenschaft der Geschichte; in diesem Sinn spricht Carl Ludwig Peter in seinem Werk ‚Zeittafeln der Römischen Geschichte‘ von der „Genealogie der berühmtesten Königsgeschlechter“81; im 19. Jahrhundert bedeutete es im weiten Sinn „die Ableitung eines Dinges von seinem Ursprung“, und es gab eine Genealogie der Wörter, der Sprachen, der Tiere usw.82 Diesem Begriff der Genealogie konnte Nietzsche ebenso bei seinem Lehrer Koberstein in Schulpforta begegnen, und dieser war wiederum stark von Grimms genealogischem Sprachverständnis beeinflusst83. Ebenso sind bei Max Müller die Suche nach dem Anfang und die genealogischen Herleitungen grundlegend, denn er versuchte nachzuweisen, „dass eine genealogische, mit den Sprachen parallel verlaufende Classification der Religionen möglich ist“84. Die vergleichende Sprachwissenschaft führt zur „Urgeschichte der Menschheit, besonders der indigenen Völker“, wie es in einem Lexikon des 19. Jahrhunderts heißt85. Nietzsche selbst hat das genealogische Denken, wie aufgezeigt wurde, über den klassischen und indogermanischen Kontext hi-
_____________ 81 C. L. Peter, Zeittafeln der Römischen Geschichte, 1841, 7ff. Peter war auch
82 83
84 85
Rektor von Schulpforta; Unterrichtsmaterialien, die er erstellt hat, verwendete Nietzsche als Schüler schon in Naumburg: vgl. oben S. 56, Anm. 125. Art. Genealogie, in: Meyers Konv.-Lexikon 7, 81f. Vgl. K. A. Koberstein, Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, 5. Auflage, Band 1, 1872, 13: „Genealogie der Gothen“, ebd. Anm. 4: „Genealogien der altsächsischen Stammsagen“. M. Müller, Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft, 2. Auflage 1876, Vorrede III, vgl. bes. 95f. Art. Urgeschichte, in: Meyers Konv.-Lexikon 15, 180. Vgl. ebenso den Sprachenstammbaum von Schleicher, der zur „indogermanische(n) Ursprache“ führt: KGW II 2, 194, siehe dazu oben S. 238. Auf die „Genealogie“ kommt auch G. Curtius im Zusammenhang mit der Sprachvergleichung zu sprechen, wie Nietzsches Vorlesungsmitschrift zeigt; vgl. S. 201.
8. Transkulturelle Hermeneutik
331
nausgehend auf die „Urgeschichte“ und die Welt der „Wilden“ ausgeweitet. Schon in einschlägigen Abhandlungen der Gymnasialzeit, wie z. B. über Ermanarich, ging es ihm um die (Gothen)„Urgeschichte“86, und der Vergleich Medeas mit der Krimhild des Nibelungenliedes in Naumburg zeigt einerseits den vergleichenden Zugang, eine komparatistische Annäherung an die Literatur, und andererseits den Versuch, über diese Texte zum Ursprünglichen zu kommen, zum Anfang, zur Urgeschichte. Es ist in diesem Sinn ein romantisches Unternehmen, die Orientierung am Beginn, aber die Anfänge sind, und dies steht im Gegensatz zur romantischen Konzeption des „heilen Ursprungs“, düster, grausam, destruktiv87. Der „Grausamkeit“ ist Nietzsche intensiv in der Begegnung mit der Kultur der Römer und Griechen wie auch jener der Perser und anderer Völker begegnet. Bei der Lektüre Tylors und Lubbocks tritt Nietzsche in Berichten über indigene Völker die „Urkultur“, die „Urgeschichte“ der Menschheit relativ umfassend vor Augen. Auch dabei ist er von der „Faszination von den Anfängen“ geleitet88. Nietzsche hat die aus der Philologie und später auch Ethnologie im Hinblick auf religionswissenschaftliche und andere kulturelle Themen rezipierte Methode des Denkens in seinen philosophischen Schriften auf anthropologische Probleme generell angewandt; so schon in ‚Menschliches, Allzumenschliches‘, das nach Nietzsches Selbstinterpretation den Ansatz der ‚Genealogie der Moral‘ vorwegnimmt. Ein solches Ursprungsdenken ist bei Nietzsche eine Voraussetzung für seinen transkulturellen Ansatz, denn auf diese Weise ist es möglich, spezifische Gestalten des Ethos, der Religion, der Herr-
_____________ 86 Siehe S. 94. 87 Vgl. z. B. S. 55f, S. 81f, S. 96. 88 Vgl. D. S. Thatcher, Nietzsche’s Debit to Lubbock, in: Journal of the His-
tory of Ideas 44 (1983) 293-309; 293 Anm. 1: „fascination with beginnings“, wofür auch zahlreiche Titel aus der Bibliothek Nietzsches angeführt wurden, die auf Ursprung und Urgeschichte Bezug nehmen.
332
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
schaft etc. von einer (angenommenen) „Urform“ herzuleiten, die oft im Gegensatz zum „kulturellen“ (Selbst-)Verständnis steht; die vergleichende Perspektive kommt als weitere Argumentationsebene hinzu, weil sie ebenfalls zu den Ursprüngen hinführt. 8.1.2. „Zeitalter der Vergleichung“ – eine Folge des historischen Denkens In einer bemerkenswerten Aufzeichnung, die Nietzsche 1887/88 im Kontext von Notizen zum ‚Antichrist‘ macht, sagt er: Unser Vorrang: wir leben im Zeitalter der Vergleichung, wir können nachrechnen, wie nie nachgerechnet worden ist: wir sind das Selbstbewußtsein der Historie überhaupt … Wir genießen anders, wir leiden anders: die Vergleichung eines unerhört Vielfachen ist unsere instinktivste Thätigkeit … (KGW VIII 2, 409: 11 [374])89.
Diese Mentalität des Vergleichens ist hervorgewachsen aus dem historischen Denken des 19. Jahrhunderts; fast hegelianisch sagt der Kritiker des Idealismus, dass „wir“ das „Selbstbewusstsein der Historie überhaupt“ sind. Das durch und durch geschichtlich geprägte Bewusstsein also ist es, das die Vergleichung ermöglicht. „Genealogie“ („Historie“) und „Komparatistik“ bedingen einander, denn gerade die vergleichenden Wissenschaften sind es, die umgekehrt die Genese, z. B. der Sprachen, der Kulturen und Religionen, aufzeigen. Bekanntlich gilt Max Müller deshalb als Begründer der Religionswissenschaft, weil er die komparative Methode der Sprachwissenschaft auf die Religionswissenschaft übertragen hat. Er intendierte eine Religionswissenschaft in Parallele zu und nach dem Vorbild der vergleichenden Sprachwissenschaft als vergleichende Religionswissenschaft. Der erste Band seiner ‚Essays‘ hat in der deutschen Übersetzung den Untertitel ‚Beiträge zur vergleichenden Religi-
_____________ 89 Auf dieses Wort Nietzsches weist W. Halbfass in dem Abschnitt ‚India
and the Comparative Method‘ hin, in: ders., India and Europe, 1988, 430. Doch schon der Aphorismus Nr. 23 in ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ I lautete ‚Zeitalter der Vergleichung‘ (siehe oben S. 294); vgl. den Hinweis darauf von H. Cancik, Nietzsches Antike: Vorlesung, ²2000, 91.
8. Transkulturelle Hermeneutik
333
onswissenschaft‘. Darin heißt es: „In der Religionswissenschaft können wir vor keiner Vergleichung zurückschrecken, noch irgendwelche Ausnahmen für das Christenthum beanspruchen“: es geht ihm um ein „vergleichendes Studium der Religionen“90. 1873 erscheint seine ‚Introduction to the Science of Religion‘, kurz danach deren deutsche Übersetzung ‚Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft‘91. Die Forderung Müllers nach Vergleichung, die er Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts formuliert, hat Nietzsche, der diese ‚Essays‘ selbst besessen hat, auch in die Tat umgesetzt – freilich in einem anderen als von Max Müller intendierten Sinn. Dennoch zeigt sich bei Nietzsche schon von früh an eine komparative Vorgangsweise, die er in kindgemäßer Form schon in den Schulbüchern in Naumburg kennen lernen konnte, wenn er z. B. aus Welters „Weltgeschichte“ den Text abschreibt: „Die Griechen verehrten nicht wie wir einen Gott, sondern hatten mehrere Götter und Göttinnen“92; oder wenn über die Perser gesagt wird, dass diese „ihre Götter nach Weise der alten Deutschen ohne Bildsäulen, Tempel und Altäre (verehrten)“93. Doch ging es hier nicht um einen objektiven, auch nicht um einen wissenschaftlichen Vergleich, sondern der Vergleich war ein pädagogisch einzusetzendes Mittel zur Veranschaulichung des „Fremden“. Einen anderen Akzent hatte die vergleichende Vorgangsweise bei den in Schulpforta wiederholt verlangten Charakterschilderungen; dabei war die psychologische Dimension klassischer Literaturgattungen (wie z. B. Epen) aufzuzeigen. Von wissenschaftlichem Charakter war dann der Vergleich der griechischen Religion mit jener der Inder, den er in Vorlesungen bei Curtius kennen lernen konnte.
_____________ 90 91 92 93
M. Müller, Essays, Band 1, 1869, Vorrede XVIII-XIX. Vgl. J. Figl, Einleitung. Religionswissenschaft (2003) 22. Vgl. oben S. 82. Vgl. oben S. 71.
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
Nietzsche selbst aber hat – wahrscheinlich im Zusammenhang mit einer geplanten ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘ über Religion94 – solche Vergleiche schon 1875 skizziert. Ein Beispiel dafür ist die oben95 schon zitierte Notiz, dass „jede Religion (...) für ihre höchsten Bilder ein Analogon in einem Seelenzustande (hat)“ (KGW IV 1, 104: 3 [53])96. Drei Religionen werden dabei miteinander verglichen – unter Leitbegriffen, die großteils in der damaligen Literatur anzutreffen waren97. Der Vergleich Islam-Christentum bewegt Nietzsche auch noch in den späteren Werken98. Viel stärker aber hat ihn der Vergleich Buddhismus-Christentum bzw. der indischen und der christlich geprägten Kultur interessiert99. Im ‚Antichrist‘ kommt es zu dem pointierten Vergleich von Buddhismus und Christentum als den zwei „nihilistischen“ Religionen, die aber – so Nietzsche – signifikante Differenzen aufweisen (vgl. KGW VI 3, bes. 184ff: AC 20-23). In diesem Kontext steht die oben zitierte Notiz über das „Zeitalter der Vergleichung“; denn im unmittelbar vorausgehenden Fragment lesen wir von den
_____________ 94 Vgl. KGW IV 1, 85f: 1 [3]-[4]; dazu KGW IV 4, Nb. 357. 95 Vgl. S. 285. 96 Vgl. bes. KGW IV 1, 163f: 5 [166]: ‚Über Religion‘; dazu KGW IV 4,
Nb. 364. 97 Vgl. S. Hardiyanto, Zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Der Islam im Spiegel
des deutschen Denkens im 19. Jahrhundert, 1992; zu Nietzsche besonders 161-176. 98 Nietzsche hat sich in den letzten Jahren seines geistigen Schaffens ein Werk von J. Wellhausen besorgt, nämlich Skizzen und Vorarbeiten. Drittes Heft: Reste arabischen Heidenthums, 1887, das besonders für seine Kenntnis des Islamischen und Vorislamischen wichtig ist. Er notiert daraus eine Reihe von Exzerpten: vgl. KGW VIII 2, 354ff: 11 [287]-[293] u. ö. Vgl. dazu S. Hardiyanto, a. a. O., 170ff. 99 Vgl. dazu J. Figl, Nietzsche’s Encounter with Buddhism, in: B. Bäumer/J. R. Dupuche (Ed.), Void and Fullness in the Buddhist, Hindu and Christian Traditions. Śūnya-Pūrna- Plêroma. With a Concluding Speech by His Holiness the Dalai Lama, 2005, 225-237; vgl. schon den Aphorismus Nr. 96 ‚In hoc signo vinces.‘ in: ‚Morgenröthe‘ (vgl. oben S. 300).
8. Transkulturelle Hermeneutik
335
„beiden großen nihilistischen Bewegungen: a) der Buddhism, b) das Christenthum“, wobei Nietzsche meint, dass „letzteres (…) erst jetzt ungefähr Cultur-Zustände erreicht (hat), in denen es seine ursprüngliche Bestimmung erfüllen kann – ein Niveau, (…) in dem es sich rein zeigen kann“ (KGW VIII 2, 409: 11 [373]). Der Zusammenhang zwischen diesen beiden inhaltlich so verschiedenen Aufzeichnungen scheint mir darin gegeben zu sein, dass es gerade die vergleichende Kultur ist, in der der „neutrale“, „objektiv“ beobachtende Wissenschaftler gewissermaßen die ursprüngliche Bestimmung des Christentums erfüllen kann; denn was Nietzsche über den Anfang des Christentums sagt, gelte gerade auch von der alle Kulturen verstehenden „Mentalität“ des 19. Jahrhunderts: „Wir verstehen Alles, wir leben Alles, wir haben kein feindseliges Gefühl mehr (…) – es kostet uns Mühe, zu verneinen“ (ebd.). Im ‚Antichrist‘ schildert Nietzsche Jesus als den Menschen, der nicht verneinen kann: „Das Verneinen ist eben das ihm ganz Unmögliche“ (KGW VI 3, 202: AC 32). Aufgrund dieser Ähnlichkeit kann Nietzsche die Notiz, die mit dem Satz „Unser Vorrang: wir leben im Zeitalter der Vergleichung (…)“ beginnt, mit der These abschließen: „Im Grunde erfüllen wir Gelehrten heute am besten die Lehre Christi“ – eben deshalb, weil es uns schwer fällt, „Partei gegen etwas zu nehmen ...“ (KGW VIII 2, 409: 11 [374]). Nietzsche stellt also gewissermaßen eine Parallele zwischen der Praxis (er sagt: „Praktik“: KGW VI 3, 203: AC 33) Jesu und der wissenschaftlichen „Neutralität“ her. Es geht weniger um Inhalte als um die Art des Umgangs mit dem „Anderen“. Nietzsche meint, dass „unser Zeitalter“ das „Zeitalter der Vergleichung“ ist und jenes, das „stolz (ist) auf seinen historischen Sinn“ (206: AC 37). Der Grund dafür liegt in „unsrer liebevollen und vorsichtigen Neutralität“, in „jener Zucht des Geistes, mit der allein das Errathen so fremder, so zarter Dinge ermöglicht wird“ (206: AC 36).
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
Die methodologischen Prinzipien der Historie bzw. Genealogie und der Vergleichung leiten Nietzsches späte Kritik am Christentum, desgleichen auch der Appell an die „Neutralität“ und „Zucht des Geistes“; Nietzsches Intention war es, mit diesen – nun philosophisch verstandenen – Methoden die Analyse einer Kultur bzw. Religion (des Christentums) im Vergleich mit anderen (besonders Buddhismus 100, aber auch antike Kultur und Islam) durchzuführen: Das Christenthum hat uns um die Ernte der antiken Cultur gebracht, es hat uns später wieder um die Ernte der Islam-Cultur gebracht. Die wunderbare maurische Cultur-Welt Spaniens, uns im Grunde verwandter, zu Sinn und Geschmack redender als Rom und Griechenland, wurde niedergetreten – ich sage nicht von was für Füssen – warum? weil sie vornehmen, weil sie Männer-Instinkten ihre Entstehung verdankte, weil sie zum Leben Ja sagte (247: AC 60).
Nietzsche versteht sich selbst noch in seinen letzten Werken als ein „Philolog“ – das begründet seine intendierte Neutralität; er sieht sich zugleich aber auch als „Arzt“ (vgl. 224: AC 47) – das führt zu seiner Parteinahme gegen das Christentum und ihm ähnliche Bewegungen. In beiden Dimensionen trachtet er die europäische Kultur bzw. christliche Religion durch ein neues Bild vom Menschen und vom Staat, auch durch eine neue Art des Daseins, zu überwinden. Er gelangt zu einer Sicht, die in besonders akzentuierter Weise auch die „eigene“ Kultur und Religion der kritischen Analyse unterwirft. Dabei folgt er einer philosophischen Analyse, die sich zwar in gewissem Sinn an den Methoden der historischen und vergleichenden Wissenschaften seiner Zeit orientiert, deren Prinzipien (wie Objektivität, Historizität, Komparatistik)101 jedoch ver-
_____________ 100 Vgl. a. a. O., 24. 101 In einer Reihe von Fällen jedoch wurde diese Historizität und Objektivi-
tät de facto nicht erreicht, z. B. hinsichtlich des Verständnisses des ‚Gesetzbuches des Manu‘ (vgl. KGW VI 3, 237f: AC 56): vgl. die Analyse von A. Etter, Nietzsche und das Gesetzbuch des Manu, in: NietzscheStudien 16 (1987), 340-352, die darauf hinweist, dass sich Nietzsche auf
8. Transkulturelle Hermeneutik
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allgemeinert und in einen generellen anthropologischen Kontext transferiert werden. In dieser neuen Kontextualisierung bekommt das religionshistorische und komparative Wissen eine veränderte Funktion, die sich bis in seine letzten Werke verfolgen lässt: Kenntnisse über außereuropäische Kulturen und Religionen dienen der Konzeption einer Anthropologie, die nicht allein die europäische Wertetradition hinterfrägt, sondern letztlich auf ein Bild vom Menschen und von der Gesellschaft zielt, das transkulturell auch in dem Sinn ist, dass die bisherige Geschichte der Kulturen (einschließlich ihrer Religionen) überwunden werden soll. Mit diesen Intentionen hat Nietzsche zwar die wissenschaftliche Methodik als solche hinter sich gelassen; doch sein Denken prägt nun eine interkulturelle Hermeneutik in der Gestalt einer philosophischen Genealogie und kritisch-vergleichenden Analyse der Religionen und Kulturen. Der transkulturelle Horizont, der Schritt für Schritt von den frühesten Anfängen seines Bildungsweges an sich entwickelt hat, kann darum mit guten Gründen als ein wesentliches Charakteristikum der Philosophie Nietzsches, die inmitten und zugleich am Rande der europäischen Kultur steht, betrachtet werden. 8.2. Nietzsches Bildungsweg – Anfänge kulturenüberschreitenden Denkens Ein zentrales Anliegen der vorliegenden Arbeit war es, Nietzsches Kenntnisse nichtchristlicher Religionen und alt- sowie außereuropäischer Kulturen darzustellen, und zwar schwerpunktmäßig in seinem Bildungs- und Wissenschaftsweg, der sowohl das Studium im Gymnasium und an der Universität als auch die wissenschaftliche Tätigkeit als Professor umfasst. Von dieser Fragestellung her wendete sich das Interesse vor allem den frühen Aufzeichnungen Nietzsches zu, die
_____________ die aus indologischer Sicht unzuverlässige Darstellung von L. Jacolliot bezieht: Les législateurs religieux. Manou, Moïse, Mahomet, 1876 (BN); vgl. G. Campioni u. a. (Hg.), Nietzsches persönliche Bibliothek, 2003, 318.
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
inzwischen vollständig in den fünf Textbänden der Abteilung I der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches (KGW I) vorliegen. Ergänzend wurden in einigen Fällen auch Materialien herangezogen, die aufgrund ihres Charakters (als Schulmitschriften, Nachschriften etc.) erst im Nachbericht zu KGW I publiziert werden, wie z. B. jene aus dem Geschichtsunterricht über die „Arabergeschichte“. Da es sich dabei insgesamt stark um die Darstellung rezeptiver Prozesse handelt, legte es sich nahe, den weiteren Kontext bestimmter Notizen Nietzsches durch Heranziehung wichtiger Schulbücher wie auch durch die Berücksichtigung von Schriften und teils unveröffentlichten Manuskripten der Lehrer Nietzsches zu eruieren, und zwar sowohl hinsichtlich der Gymnasialzeit (besonders zu Koberstein, Corssen, Steinhart) als auch hinsichtlich der Studentenzeit. Neben einer philosophiegeschichtlichen Vorlesung (Schaarschmidt) sind hier die Inhalte einiger Kollegmitschriften Nietzsches von größerer Bedeutung, insbesondere jene, in denen die Sprachvergleichung thematisiert wird (besonders von Curtius, aber auch von Ritschl), da die komparative Ausrichtung der Philologie in der Ausbildungszeit Nietzsches maßgebend für die damals entstehende Religionswissenschaft geworden ist. Der Terminus „Religionswissenschaft“ findet sich in den nachgelassenen Aufzeichnungen Nietzsches (ebenso wie „Religionsgeschichte“102), und die nähere Analyse konnte aufzeigen, dass nicht allein ein direkter Bezug zur Auffassung dieses Begriffs „Religionswissenschaft“ bei Georg Curtius, sondern zugleich über Werke dieses Lehrers eine literarische Verbindung zu Max Müller gegeben ist103. Auf verschiedenen Ebenen hat sich Nietzsche mit Müller, dem Begründer der Religionswissenschaft, der zwei Jahrzehnte vor Nietzsche in Leipzig studiert hatte, rezeptiv und kritisch auseinandergesetzt: in Exzerpten aus dessen ‚Essays‘, in der Beurteilung
_____________ 102 Vgl. oben S. 202ff bzw. S. 230. 103 Vgl. S. 199f und S. 266.
8. Transkulturelle Hermeneutik
339
seiner Bedeutung für die aktuelle Religionsforschung, bis hin zu Vorformulierungen des „Todes Gottes“104. Doch wesentlich umfassender als durch die Beschäftigung mit der damals entstehenden Religionswissenschaft selbst waren Nietzsches Kenntnisse über „andere“ Religionen durch die gymnasiale und universitäre Ausbildung vermittelt. Nietzsche begegnet, wie aufgezeigt wurde, in seiner schulischen Ausbildung einer Vielzahl von wichtigen Informationen über Religion und Sprache vorchristlicher und außereuropäischer Kulturen. Schon im Gymnasium war er mit einer Vielfalt von Religionen und Kulturen konfrontiert – von den Persern angefangen bis zum Islam, was eine beachtliche Ausweitung des Wissens über außereuropäische Völker und Kulturen ermöglichte; dies führte großteils zu einer objektiveren, weniger von Vorurteilen geprägten Sichtweise (z. B. in Hinsicht auf Mohammed). Nietzsches wissenschaftlicher Bildungsweg vom Gymnasium bis zur Tätigkeit als Lehrer an der Universität lässt sich überblicksmäßig in folgende Etappen gliedern: •
•
Über eine rezeptive Kenntnisnahme der „eigenen“ Kultur und ihrer christlichen und (historischen) antik-griechischen Gestalt sowie von Informationen über „fremde“ Völker und Kulturen (besonders im Geschichts- und Geographieunterricht in Naumburg und den ersten Jahren in Schulpforta) kommt Nietzsche zu einem Verständnis der klassischen Kultur als vorbildhaftes Modell des Lebens, wobei die griechische Kultur und Religion als im Kontext der indoeuropäischen Völkerfamilie stehend verstanden wird, wodurch zugleich die Relativität der „klassischen“ Kultur deutlich wird; gleichwohl betont Nietzsche angesichts dieser Vergleiche weiterhin die Besonderheit und Einmaligkeit des Griechentums.
_____________ 104 Vgl. S. 301ff.
340
•
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
Der Klassizitätsbegriff wird erneut relativiert durch die Öffnung zur Ethnographie hin: Lubbock und Tylor ermöglichen ihm einen Einblick in die Vorgeschichte, in die „Anfänge der Cultur“ und die „Entstehung der Civilisation“, wie die Titel der maßgebenden Werke der beiden Autoren lauten.
Der Weg der Ausbildung führt also von einer monozentrischen Perspektive, von der Erfahrung mit und dem Kennenlernen von Kulturen aus der Perspektive einer einzigen, nämlich der eigenen Kultur und Religion des 19. Jahrhunderts, also von einer eurozentrischen und sich selbst als absolut verstehenden Religion, zu einer letztendlich polyzentrischen Sicht, für die es eine (legitime) Pluralität von großen Kulturen gibt. In Entsprechung dazu gibt es eine Vielzahl von wissenschaftlich erforschbaren Religionen. Im Hinblick auf die Erforschung von einzelnen textuell fundierten Religionen ist – in Entsprechung zur Verknüpfung von spezieller und vergleichender (allgemeiner) Sprachwissenschaft – auch eine spezielle Religionswissenschaft erfordert, die schließlich mit einer allgemeinen, vergleichenden Religionswissenschaft verknüpft werden sollte. Nietzsche gibt diese Sichtweise hinsichtlich der Religionswissenschaft nur in Gestalt einer Skizze wieder, und zwar in Analogie zur Sprachwissenschaft. Dabei folgt er offenbar seinem Lehrer Georg Curtius 105, der in konstitutiver Weise die vergleichende Sprachwissenschaft in die Klassische Philologie einbezogen hat. In weiteren Studien und Vorlesungen bezieht Nietzsche systematisch und argumentativ den Bereich der Kulturen ohne schriftliche Überlieferung mit ein, die Weltsicht der so genannten „Wilden“; die Heranziehung einschlägiger ethnologischer Literatur seiner Zeit geschieht im Interesse eines vertieften Verstehens der vorklassischen Formen der griechischen Kultur – insbesondere im kultisch-religiösen Bereich; die indoeuropäische „Vorstufe“ erfordert gleichsam zu deren besserem Verständnis diesen Interpretations-
_____________ 105 Vgl. oben S. 208ff.
8. Transkulturelle Hermeneutik
341
ansatz, den Nietzsche in neueren ethnologischen und ethnographischen Werken antrifft. Das Kennenlernen der Wilden war bereits in frühesten Unterrichtsinhalten am Naumburger Gymnasium ermöglicht: in Welters „weltgeschichtlichem“ Überblick wurden Berichte über indigene Völker referiert, ebenso im Geographieunterricht; im Fach Deutsch war die Auseinandersetzung mit der Kulturentwicklung (mit der „Urzeit“ und den „Wilden“ anfangend) in Aufsätzen verlangt. Ebenso wurden in den frühen Klassen des Gymnasiums schon die indogermanistischen Grundannahmen des 19. Jahrhunderts vermittelt, sodass eine über Europa und die europäische Kultur hinausreichende Perspektive im Prinzip vor Augen stand, ohne dass jedoch die Eurozentrik in einem signifikanten Maß relativiert worden wäre. Im Hinblick auf das Menschenbild gelangt Nietzsche – aus einem Milieu stark bürgerlich-christlicher Prägung herkommend – über das klassische Humanitätsideal zu den archaischen Aspekten des Menschseins, die als „vorgeschichtlich“ und mit Grausamkeit und Irrationalität verbunden betrachtet werden. Hinsichtlich seines Urteils über die Religion kommen auf dieser Ebene besonders die magischen und animistischen Aspekte zum Tragen. Mit dieser Akzentsetzung unterscheidet sich Nietzsches Ansatz von zeitgenössischen Konzepten, die – in Weiterführung der bürgerlichen Aufklärungstradition des 19. Jahrhunderts – zwar ebenfalls eine allgemeine, alle Kulturen umfassende Anthropologie angezielt, aber das historisch und vergleichend verstandene „Menschliche“ schlechthin von einem Humanitätsideal her verstanden haben, wie es der Tendenz nach sein Lehrer Curtius – auch unter Berufung auf Max Müller 106 – intendiert hatte, und zwar in Schriften, die Nietzsche in seinen Aufzeichnungen zur ‚Encyclopädie der Philologie‘ anführt, wie die Schrift ‚Ueber die Geschichte und Aufgabe der
_____________ 106 Siehe S. 226.
342
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
Philologie‘107. Nietzsche lernt diese Ansätze kennen, doch gelangt er von den vorliegenden kultur- und religionsgeschichtlichen Kenntnissen her zu einem völlig anderen, großteils entgegengesetzten Verständnis des „Menschlichen“ und „Allzumenschlichen“. Er zieht aus der Fülle des Wissens über verschiedene Kulturen, einschließlich indigener Völker, das im 19. Jahrhundert in ungeahnt wachsendem Ausmaß für die Bildung und Wissenschaft zugänglich geworden war, neue und weit reichende Konsequenzen: in diesem pluralen, „übereuropäischen“ Kontext erscheinen nun Religion und Sitte der „eigenen“ Kultur nicht allein in ihrer Relativität und historischen Bedingtheit, sondern es werden zugleich deren „archaische“, „rohe“ Kehrseiten „entdeckt“ – jene Aspekte, die dem Bildungsbürgertum und öffentlichen Bewusstsein des 19. Jahrhunderts nicht als solche bewusst waren bzw. nicht in ihrer brutalen und grausamen Gestalt (z. B. bei der griechischen Antike) und als menschliche Möglichkeit und Realität wahrgenommen wurden. Ein Anliegen der Philosophie Nietzsches war es, diese andere Seite, diese unbewussten Aspekte und z. T. verdrängte Wirklichkeit in aller Deutlichkeit vor Augen zu stellen. Ein weiteres Anliegen war es, den verschiedenen Kulturen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – eine Aufforderung, die er an manche seiner Zeitgenossen richtete, wie seine – als Motto dieser Zusammenfassung vorangestellte – Notiz ausdrückt; dieses Anliegen reicht in die Zeit zurück, wo er philologische Aufzeichnungen oft direkt in seine philosophischen Publikationen übernimmt, insbesondere in ‚Menschliches, Allzumenschliches‘. Die Voraussetzung für die Vermittlung religionskundlicher Kenntnisse ist in Nietzsches Werdegang zu einem guten Teil in der historischen und komparativen Methodik um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu erblicken. Es wurden dadurch sowohl in inhaltlicher als auch methodologischer Hinsicht schon in Nietzsches Ausbildungszeit sowie in seiner eigenen Lehrtätigkeit Grundlagen gelegt,
_____________ 107 Vgl. oben S. 210, Anm. 104.
8. Transkulturelle Hermeneutik
343
die auch eine Basis für das transkulturelle Denken in seinen philosophischen Schriften waren – angefangen von jenen, die er noch in seiner Zeit als Professor für Klassische Philologie verfasste (wie ‚Die Geburt der Tragödie‘, die ‚Unzeitgemäßen Betrachtungen‘ und ‚Menschliches, Allzumenschliches‘), bis hin zu den Spätwerken (wie ‚Jenseits von Gut und Böse‘, ‚Zur Genealogie der Moral‘, ‚Der Antichrist‘)108. 8.3. Transkulturelle Perspektiven der (wissenschaftskritischen) Philosophie Nietzsches Um Nietzsches Kenntnisse und Beurteilung alt- und außereuropäischer Kulturen und Religionen angemessen würdigen zu können, ist es m. E. notwendig, außer auf die grundlegende Bedeutung seiner philologisch-wissenschaftlichen Ausbildung und Bildung zugleich auf die ebenfalls unübersehbare Kritik an der Wissenschaftskultur des 19. Jahrhunderts hinzuweisen; im Besonderen ist die wissenschaftskritische Dimension in Hinsicht auf seine philosophischen Aussagen über „fremde“ Kulturen und Religionen zu beachten. Denn sein Weg, dessen Richtung sich schon in seiner Antrittsvorlesung als Professor der Philologie (Basel 1869) abzeichnete, die das Thema ‚Homer und die klassische Philologie‘ hatte, führte ihn von der Philologie zur Philosophie. Sein „Streben“ als Philologe fasst er abschließend in „der allerpersönlichsten Art“ – wie er hinzufügt – in der „kurze(n) Formel eines Glaubensbekenntnisses“ zusammen, indem er einen Satz Senecas umkehrt: „ ,philosophia facta est quae philologia fuit‘ “109 (KGW II 1, 268).
_____________ 108 Auf einige dieser Querverbindungen bin ich schon in früheren Publika-
tionen eingegangen: vgl. Anm. 1 zu diesem Kapitel. 109 Bei Seneca lautet der Satz: „itaque quae philosophia fuit, facta philologia
est“ (Epistula 108, 23), zit. nach BAW 5, Nb. 479.
344
4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
Nach Nietzsche soll damit „ausgesprochen sein, dass alle und jede philologische Thätigkeit umschlossen und eingehegt sein soll von einer philosophischen Weltanschauung, in der alles Einzelne und Vereinzelte als etwas Verwerfliches verdampft und nur das Ganze und Einheitliche bestehen bleibt“ (268f). Diese „Einheitskonzeption“ und die damit verbundene tendenzielle Abwendung und teilweise Infragestellung der Klassischen Philologie zeigte sich dann offenkundiger in der ‚Geburt der Tragödie‘, ebenso in der Kritik an der historischen Methode in der ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘ ‚Vom Nutzen und Nachtheil der Historie‘. In ‚Schopenhauer als Erzieher‘ ist es Ziel, „das allgemeine Gemälde des Lebens und Daseins fest in’s Auge“ zu fassen, also das „Gesammtbild“110, den Zusammenhang zu verstehen. Auch in Nietzsches Vorlesungen lassen sich eine Reihe von Stellen für eine „Philosophisierung der Philologie“ (Fritz Bornmann)111 aufzeigen. Die Neigung zur Philosophie und die damit verbundene Wissenschaftskritik reicht in seinem wissenschaftlichen Werdegang jedoch weiter zurück. Schon aus der Zeit, als er sich noch im Studium (1867/68) befand und einschlägige philologische Publikationen ausarbeitete, finden sich in nachgelassenen Aufzeichnungen unzweideutige Urteile über die Grenzen, ja Nachteile rein wissenschaftlichen Arbeitens. Im Umfeld von Notizen zum Democritaufsatz und über die Einflüsse auf die litterarhistorischen Studien meint er beispielsweise: Die meisten Philologen sind Fabrikarbeiter im Dienste der Wissenschaft. Die Neigung erstirbt, irgend ein größeres Ganze zu umfassen oder weitere Gesichtspunkte in die Welt zu setzen. Dagegen arbeiten die Meisten mit emsiger Beharrlichkeit an einer kleinen Schraube: Es ist ih-
_____________ 110 Vgl. oben S. 281. 111 Vgl. F. Bornmann, Anekdota Nietzscheana aus dem philologischen
Nachlaß der Basler Jahre (1869-1878), in: T. Borsche u. a. (Hg.), ‚Centauren-Geburten‘. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, 1994, 74.
8. Transkulturelle Hermeneutik
345
nen genug, in diesem engsten Bereich Meister zu sein, während in den übrigen Fragen selbst ihrer Wissenschaft, vollends aber der Philosophie sie dem vulgus angehören (KGW I 4, 222f: 52 [30]).
Die philosophische Orientierung im Umgang mit Texten zeigt sich später in den nichtphilologischen Schriften Nietzsches vor allem in der Akzentuierung der lebensrelevanten Dimension. Philologie und religionsgeschichtliches Wissen stehen nun generell, wie vor allem hinsichtlich der östlichen Religionen und Philosophien aufgezeigt wurde, im Dienste existenzieller Anliegen und Fragestellungen112. Es geht nicht um ein „objektives“ und in diesem Sinn „äußerliches“ Verstehen, sondern um eine „innere“ Annäherung, wie es nach Nietzsches Urteil z. B. Paul Deussen vermochte, der „der erste Europäer“ sei, „der von Innen her der indischen Philosophie nahegekommen ist“113. Das „Beispiel“ Deussen zeigt freilich auch, dass Nietzsche den philologisch-wissenschaftlichen Zugang (für den das Werk dieses Indologen steht) keineswegs gering geschätzt hat – worauf es ihm auch und vor allem ankommt, ist die Hervorhebung der existenziellen Dimension in der Begegnung mit den Texten anderer Kulturen. Zu diesem Zweck ist es nach Nietzsches Meinung erforderlich, gleichsam durch den Text hindurch das lebendige Vorbild zu erblicken, wie er es im Hinblick auf Schopenhauer von sich selbst gefordert hatte114. In den Spätwerken werden die Termini „Philologie“ und „Text“ zu Metaphern für Phänomene des Lebens (wie z. B. die psychischen Zustände), und es wird vom „Grundtext“ der Religion gesprochen115. Näherhin geht es Nietzsche um eine Dimension, die das Leben fördert und in einer neuen Sinnbedeutung erscheinen lässt. In der ‚Geburt der Tragödie‘ ist diese lebensermöglichende Quelle die griechische Welterfahrung; sie erscheint ihm „als die einzige
_____________ 112 113 114 115
Vgl. S. 291ff. Vgl. S. 287ff. Vgl. oben S. 281. Vgl. J. Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, bes. 244ff, 278ff u. ö.
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
und tiefste Lebensmöglichkeit“116. In diesem Horizont liest er Texte über außereuropäische Kulturen, wie z. B. Koeppens Ausführungen über die buddhistische Feier des Frühlingsanfangs: obwohl bzw. weil diese Religion Nietzsche damals noch (im Gefolge Schopenhauers, aber auch Schaarschmidts) als eine von der „Sehnsucht ins Nichts“ und einem „Quietismus“ geprägte erscheint, ist er erstaunt über die dionysischen und ekstatischen Elemente dieser Religion. Es sind in seinen Augen positive, lebensermöglichende Aspekte117. In Nietzsches weiterem Denkweg geht es nicht primär um wissenschaftliche Erforschung der Kulturen, ebenso wenig um religionswissenschaftliche Aussagen – diese würden die philologische und historische Begründung erfordern, sondern um die Suche und Explikation seiner eigenen Philosophie, aus der sich kritische wie teilweise affirmative Beurteilungen der Religionen ergeben. Wiederholt werden dabei Elemente des Hinduismus (Nietzsche spricht von Brahmanismus), des Buddhismus und des Islam im Vergleich mit analogen Aspekten des Christentums positiver beurteilt. In einem geschichtsphilosophischen Gesamtentwurf wird – in Entsprechung zur Entwicklung in Indien, wo Buddha die Götter negierte – eine atheistische Zukunft Europas erhofft118; das Christentum wird kritisiert, weil es uns „um die Ernte der IslamCultur gebracht (hat)“ – die „wunderbare maurische Cultur-Welt Spaniens (…) wurde niedergetreten“119. Maßstab aber der Kritik ist m. E. – insbesondere in den späteren Schriften – eine daseinsbejahende Perspektive: die maurische Kultur z. B. wird als eine solche gewürdigt, die „zum Leben Ja sagte (…)“120. In analoger Weise wird auch die Götterwelt der antiken Kultur beurteilt121, und selbst am Christentum findet Nietzsche positiv zu wertende Ele-
_____________ 116 117 118 119 120 121
Vgl. oben S. 269. Vgl. S. 277f. Vgl. S. 300. Vgl. S. 336. Ebd. Vgl. die Literaturhinweise S. 200, Anm. 88.
8. Transkulturelle Hermeneutik
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mente: z. B. spricht er von einer „südländischen Freiheit und Freisinnigkeit des Geistes“ (KGW V 2, 285: FW 358)122. Es ist – so kann zusammenfassend gesagt werden – der Maßstab der Lebens- und Diesseitsbejahung, anhand dessen die Religionen und Kulturen der Vergangenheit und Gegenwart beurteilt werden; es ist das „Lebensmodell“ des Augenblicks, wie es im Zusammenhang mit ‚Also sprach Zarathustra‘ zum Ausdruck kommt123. Diese existenzielle Dimension wird wiederholt in Gestalten, die aus der Religionsgeschichte entnommen sind, zum Ausdruck gebracht: Zarathustra und Dionysos sind wohl die bedeutendsten „Namen“, mit denen die Daseinsbejahung dieser Philosophie erfasst wird. In diesem Zusammenhang sei im Hinblick auf Nietzsches Bildungsweg erwähnt, dass er schon in den ersten Gymnasialjahren, noch in Naumburg, diese Namen höchstwahrscheinlich kennen gelernt hatte: in seinem Geschichtslehrbuch aus dieser Zeit ist der Name des Gottes „Dion˝sus“ unterstrichen; ebenso ist darin Zoroaster und dessen Religion behandelt124. Diese Namen und der mit ihnen verbundene Aussagegehalt umschreiben auch Nietzsches Verhältnis zu den Religionen und Religionsstiftern125. Durch Nietzsches Philosophie wird in neuer Weise der Bezug eines autonomen Denkens zu den traditionellen Religionen bestimmt: nicht mehr von diesen her wird der Sinn des Daseins gewonnen, sondern umgekehrt – der Sinn von religiösen Inhalten ergibt sich vom Subjekt, von seiner Wahl und Entscheidung her. Diese Situation kann als das Resultat der Wahrnehmung der Pluralität der Kulturen und Religionen im 19. Jahrhundert interpretiert werden. Nietzsche hat m. E. diese neue geschichtliche Situation, in der sich der Mensch der europäischen Kultur nun befindet, grundlegend bedacht; und er hat sie wiederholt beschrieben, und zwar in äußerst präziser Weise schon in dem Aphorismus Zeitalter der Vergleichung, den er in
_____________ 122 123 124 125
J. Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, 346. Vgl. S. 319ff. Vgl. S. 83 und S. 71. Vgl. S. 317; S. 326f.
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4. Kapitel: Ansätze transkulturellen Denkens
‚Menschliches, Allzumenschliches‘ I publiziert hat – einem Werk, in dem einige philologische Erkenntnisse Ausgangspunkt für philosophische Konsequenzen geworden sind. In diesem Aphorismus Nr. 23 heißt es: Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so größer wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an seinen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? (…) Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können (…) Ebenso findet jetzt ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes, als Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, – aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht! (KGW IV 2, 40)
Da aufgrund der Relativität und Gewordenheit alles religiös und kulturell Gegebenen dieses selbst keine verbindliche Orientierung mehr für das menschliche Handeln gibt, ist es existenzielle Aufgabe des Menschen, so kann gefolgert werden, den Sinn des Daseins selbst zu entdecken, ihn nicht nur zu finden, sondern letztlich – wie Nietzsche z. B. im ‚Zarathustra‘ sagt – zu „schaffen“. Die Kenntnisse der Religionen und Kulturen, die sich Nietzsche in einem intensiven Bildungs- und Forschungsweg angeeignet hat, bilden einen bleibenden Hintergrund für seine neue Philosophie, für seine Sicht des Menschen und der Religionen, letztlich auch für seinen späteren Anspruch, die bisherige Kultur- und Religionsgeschichte im Ganzen überschreiten zu wollen – im Sinne eines durch und durch transkulturellen Denkens.
Quellen- und Dokumentationsverzeichnis
Quellen- und Dokumentationsverzeichnis
A Quellenverzeichnis
A Quellenverzeichnis Ungedruckte Materialien aus Archiv und Bibliothek der Landesschule Schulfporte (ABLS) und aus dem Goethe-Schiller-Archiv (GSA) Weimar (Archivbestand 71: Friedrich Nietzsche) sowie aus dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Berlin) (ABBAW) (Nachlass Kobersteins). 1. Aus der Naumburger Schulzeit (1850-1858) GSA 71/213: K II 55
Schreibebuch für F. W. Nietzsche, Schüler der V. Klasse des Domgymnasiums von Naumburg a./S. (1856)
GSA 71/214,1: Mp I 13
Darin: Verzeichnis der Bücher Nietzsches von Elisabeth Nietzsche (1858), p. 48-51
GSA 71/360,1
4 Halbjahreszeugnisse der Bürgerschule, 18511853 4 Halbjahreszeugnisse der privaten Bildungsanstalt Weber, 1853-1855
GSA 71/360,2
Halbjahreszeugnisse des Domgymnasiums zu Naumburg (1855-1858) und Schulgeldquittungen
2. Aus der Zeit in Schulpforta (1858-1864) GSA 71/217: Mp IV 4
Aufzeichnungen ab 1862, p. 20 Fragment zu Vergleich Koran-Homer
GSA 71/218: Mp V 8
Mitschriften aus dem Geschichtsunterricht
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Quellen- und Dokumentationsverzeichnis
GSA 71/219: Mp V 14
Vorträge über deutsche Literatur
GSA 71/219: Mp V 15
Erster Theil der neueren Geschichte (1861) Nachschrift über die Nibelungen, p. 167-176
GSA 71/220: Mp V 29
Eintheilung der hebräischen Bibel
GSA 71/220: Mp V 30
Grammatische Erörterungen
GSA 71/221: Mp V 36
Vorträge über deutsche Literatur
GSA 71/361,2
Nietzsche: Persönliche und geschäftlich-berufliche Unterlagen: 8 Halbjahreszeugnisse der Königlichen Landesschule Pforta, 1859-1864; Reifezeugnis, 1864
Archiv und Bibliothek Schulpforta ABLS 0466
Unterrichts- und Schulangelegenheiten 1856-1875
ABLS 0468
Lektionspläne 1856-1876
ABLS 0681
Schulangelegenheiten/Schulordnungen 1857-1892
ABLS Msc. B. 239³
Verzeichnis der Valediktionsarbeiten Pförtner Valediktionen 1833,7-1865
ABLS Msc. B. 193
Manuskripte Kobersteins
Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ABBAW
Nachlaß August Koberstein 1797-1870, Nr. 1-118 (bes. die Nrn. 14, 113, 118)
3. Studentenzeit (1864-1869): Collegnachschriften Nietzsches GSA 71/38 = C I 4
Ant. Heinrich Springer, Deutsche Kunstgeschichte, WS 1864/65
GSA 71/40 = C I 6
Heinrich K. L. Sybel, Politik, WS 1864/65
B Dokumentationen
351
GSA 71/41 = C II 1
Karl Schaarschmidt, Allgemeine Geschichte der Philosophie, Bonn, SoSe 1865
GSA 71/42 = C II 2
Otto Jahn, Archaeologie, SoSe 1865
GSA 71/43 = C II 3
Friedrich Ritschl, Institutiones grammaticae linguae latinae, SoSe 1865
GSA 71/45 = C III 1a + 1b Georg Curtius, Geschichte der griechischen Literatur¸ WS 1865/66 GSA 71/50+51 = C IV 1a + 1b Georg Curtius, Griechische Grammatik, WS 1866/67 GSA 71/53 = C IV 3
Friedrich Ritschl, Einleitung und Anleitung zur lateinischen Grammatik¸ WS 1866/67
GSA 71/54 = C IV 3a
Friedrich Ritschl, Historische Grammatik der lateinischen Sprache nebst Einleitung in die römische Epigraphik
GSA 71/55 = C IV 3b
Friedrich Ritschl, Lateinische Grammatik (Collegnachschrift, die nicht von Nietzsche stammt, aber Nietzsche hat diese Vorlesung besucht)
GSA 71/226: Mp XI 6 (1+2) Vorarbeiten zur Vorlesung ‚Über die griechische Literaturgeschichte‘: Bl. 31-69 und 70-105 GSA 71/227: Mp XI 7
B Dokumentationen 1. Zu Naumburg
Vorarbeiten zur Vorlesung ‚Gottesdienst der Griechen‘: Bl. 106-140
B Dokumentationen
Bibliothek des Domgymnasiums Naumburg Katalog der Lese- und Hülfsbibliothek der Schüler, 2 Bde. Allgemeine Schul-Ordnung für das Domgym-nasium zu Naumburg (handschriftliches Manuskript).
352
Quellen- und Dokumentationsverzeichnis
GSA 71/360,5
Gesetze für die Schüler des Domgymnasiums in Naumburg, 1855
Album des Literarischen Vereins Naumburg a. S. zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens, Naumburg 1871 (als Manuskript für die Mitglieder gedruckt). Schulnachrichten des Domgymnasiums Naumburg/Saale. Allgemeine Lehrverfassung für das Schuljahr von Ostern 1855 bis Ostern 1856, ebenso für 1856/57 und 1857/58.
2. Zu Schulpforta Jahresbericht über die Königliche Landesschule Pforta von Ostern 1858 bis Ostern 1859, ebenso 1859/60 bis 1863/64; 1829/30; 1840/41. Bohley, Reiner, Die Christlichkeit einer Schule. Schulpforte zur Schulzeit Nietzsche’s, Naumburg o. J. (1974), (Wissenschaftliche Abhandlung zur Qualifikationsprüfung, maschingeschriebenes Manuskript, vervielfältigt). −
Über die Landesschule zu Pforte. Materialen aus der Schulzeit Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 5 (1976) 298-320.
Dorfmüller, Petra, Zur Geschichte der Bibliothek Schulpforte, 2001 (Typoskript in der Bibliothek der Landesschule Schulpforte). Dorfmüller, Petra/Konetzny, Rudolf (Hg.), Schulpforta – 450 Jahre Schulgeschichte. Ein Lesebuch, Leipzig 1993 (³2003). Gilman, Sander L., Pforta zur Zeit Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 8 (1979) 398-426. Heumann, Hans, Typenformung durch Anstaltserziehung an der Landesschule Schulpforte 1820-1910, Diss. Jena 1940 (maschinschriftliches Manuskript, ein Exemplar in der Bibliothek Schulpforte).
C Zu Nietzsches Bibliothek und Lektüre
C Zu Nietzsches Bibliothek und Lektüre
Brobjer, Thomas H., Nietzsche’s Education at the Naumburg Domgymnasium 1855-1858, in: Nietzsche-Studien 28 (1999) 302-322; 315-322: Chronological Listing of Nietzsche’s Reading and Library 1856-1858.
C Zu Nietzsches Bibliothek und Lektüre
353
Campioni, Giuliano/D’Iorio, Paolo/Fornari, Maria Cristina/Fronterotta, Francesco/Orsucci, Andrea (Hg.), unter Mitarbeit von Renate MüllerBuck, Nietzsches persönliche Bibliothek, Berlin/New York 2003. Crescenzi, Luca, Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in Basel entliehenen Bücher (1869-1879), in: Nietzsche-Studien 23 (1994) 388-442. Oehler, Max, Nietzsches Bibliothek. Vierzehnte Jahresgabe der Gesellschaft der Freunde des Nietzsche-Archivs, 1942. Anhang: 1. Verzeichnis der von Nietzsche aus der Bibliothek der Landesschule Pforta 1863-1869 entliehenen Bücher, 45f. Orsucci, Andrea, Beiträge zur Quellenforschung, in: Nietzsche-Studien 23 (1994) 443-479 und 24 (1995) 358-399 (besonders zur Vorlesung ‚Der Gottesdienst der Griechen‘).
Literaturverzeichnis
Literaturverzeichnis
Sigel BN bedeutet, dass das Buch in der persönlichen Bibliothek Nietzsches (in der Herzogin-Anna-Amalien-Bibliothek, Weimar) erhalten ist.
A Werke und Briefe Nietzsches (mit Siglen)
A Werke und Briefe Nietzsches BAW
Friedrich Nietzsche. Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, 5 Bände, München 1933-1940; Nb=Nachbericht
KGW
Kritische Gesamtausgabe Werke = Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin/ New York 1967ff.
KGB
Kritische Gesamtausgabe Briefwechsel = Nietzsche, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York 1975ff.
KSA
Kritische Studienausgabe = Kritische Studienausgabe, 15 Bände, hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York und München 1988.
Einzelbände von Abteilungen I und II der KGW KGW Abteilung I, hg. von Johann Figl Band 1
Nachgelassene Aufzeichnungen (Anfang 1852 – Sommer 1858), 1995.
Band 2
Nachgelassene Aufzeichnungen (Herbst 1858 – Herbst 1862), 2000.
Band 3
Nachgelassene Aufzeichnungen (Herbst 1862 – Herbst 1864), 2006.
Band 4
Nachgelassene Aufzeichnungen (Herbst 1864 – Frühjahr 1868), 1999.
Band 5
Nachgelassene Aufzeichnungen (Frühjahr 1868 – Herbst 1869), 2003.
356
Literaturverzeichnis
KGW Abteilung II Band 1
Philologische Schriften (1867-1873), 1982.
Band 2:
Vorlesungsaufzeichnungen (SS 1869 – WS 1869/70), Anhang: Nachschriften von Vorlesungen Nietzsches, 1993.
Band 3
Vorlesungsaufzeichnungen (SS 1870 – SS 1871), 1993.
Band 4
Vorlesungsaufzeichnungen (WS 1871/72 – WS 1874/75), 1995.
Band 5
Vorlesungsaufzeichnungen (WS 1874/75 – WS 1878/79), 1995.
B Lexika und Nachschlagewerke
B Lexika und Nachschlagewerke (in chronologischer Anordnung)
Allgemeine Deutsche Biographie, 55 Bände, 1875-1912. Meyers Hand-Lexikon des allgemeinen Wissens, 3. Auflage, 2 Bände, Leipzig 1883. Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens, 4. Auflage, 16 Bände, Leipzig (und Wien) 1888-1890. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter, K. Gründer und G. Gabriel, 12 Bände, Darmstadt 1971-2004. Brockhaus-Enzyklopädie in 24 Bänden, 19. Auflage, Mannheim 1986-1994. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 22. Auflage, Berlin/New York 1989. Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4. Auflage (4RGG), 9 Bände, hg. von H. D. Betz, D. S. Browning, B. Janowski und E. Jüngel, Tübingen 1998-2006. Nietzsche-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, hg. von Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000.
C Schulbücher, die zitiert wurden (Auswahl)
C Schulbücher
Bach, Nicolaus, Deutsches Lesebuch für Gymnasien und Realschulen. Mittlere Lehrstufe. Erste Abtheilung, besorgt von August Koberstein, 3. Auflage, Leipzig 1849 (ABLS).
C Schulbücher −
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Deutsches Lesebuch für Gymnasien und Realschulen. Mittlere Lehrstufe. Zweite Abtheilung, besorgt von August Koberstein, 3. Auflage, Leipzig 1851.
Daniel, Hermann Adalbert, Lehrbuch der Geographie für höhere Unterrichtsanstalten, 8., verbesserte u. vermehrte Auflage, Halle 1857 (BN); 2. Auflage 1847. Hollenberg, Wilhelm Adolf, Hülfsbuch für den evangelischen Religionsunterricht in Gymnasien, 5. Auflage, Berlin 1863. Koberstein, Karl August, Grundriß der Geschichte der deutschen NationalLitteratur, 3 Bände, 4., durchgängig verbesserte und zum größten Theil völlig umgearbeitete Ausgabe, Leipzig 1847-1866. −
Grundriss der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, 5 Bände, 5., umgearbeitete Auflage von Karl Bartsch, Leipzig 1872-1873.
Masius, Hermann, Deutsches Lesebuch für höhere Unterrichts-Anstalten. Theil 2. Für mittlere Klassen, 6. Auflage, Halle 1875. Peter, Carl Ludwig, Zeittafeln der Römischen Geschichte zum Handgebrauch und als Grundlage des Vortrags in höheren Gymnasialklassen mit fortlaufenden Belegen und Auszügen aus den Quellen, Halle 1841; 3., verbesserte Auflage 1864. Roon, Albrecht von, Anfangsgründe der Erd-, Völker- und Staatenkunde. Ein Leitfaden für Schüler von Gymnasien, Militair- und höheren Bürgerschulen. Für einen stufenweisen Unterrichtsgang berechnet und entworfen von Albrecht von Roon. Drei Abtheilungen, 4. Auflage, Berlin 1841, 10. Auflage 1856, 11. Auflage 1860. Voigt, Friedrich, Leitfaden beim geographischen Unterricht. Nach den neueren Ansichten, 7. Auflage, Berlin 1842. Welter, Theodor Bernhard, Lehrbuch der Weltgeschichte für Schulen. Ein frei bearbeiteter Auszug aus des Verfassers größerem Werke, 6. Auflage, Münster 1848. −
Lehrbuch der Weltgeschichte für Gymnasien und höhere Bürgerschulen, 3 Bände, 4., verbesserte und vermehrte Auflage, Münster 1837-1838; 1. Auflage 1826; 10. Auflage 1848; 14., vermehrte und verbesserte Auflage 1854 (Erster Theil: Die Alte Geschichte [BN]).
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D Monographien und Artikel
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Deutsches Lesebuch für Gymnasien und Realschulen. Mittlere Lehrstufe. Zweite Abtheilung, besorgt von August Koberstein, 3. Auflage, Leipzig 1851.
Baier, Karl, Yoga auf dem Weg nach Westen. Beiträge zur Rezeptionsgeschichte, Würzburg 1998. Ballantyne, James R., The Aphorisms of the Sánkya Philosophy of Kapila, transl. by J. R. Ballantyne, Allahabad 1852-1856; 2. Ausgabe: The Sánkhya Aphorisms of Kapila. With extracts from Vijnána Bhikshu’s commentary, fasc. I, Calcutta 1862. Barthélemy Saint-Hilaire, M., Premier Mémoire sur le Sânkhya, in: Mémoires de l’Académie royale des sciences morales et politiques de l’Institut de France, tom. 8, Paris 1852, 107-561. Benne, Christian, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Berlin/New York 2005. Blunck, Richard, Friedrich Nietzsche. Kindheit und Jugend, München/Basel 1953. Bobzin, Hartmut, Mohammed, München 2000. Boeckh, August, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. von Ernst Bratuscheck, 2. Auflage, Leipzig 1886. Böhtlingk, Otto Nikolaus von/Roth, Walter Rudolph von, Sanskrit-Wörterbuch, 7 Bände, St. Petersburg, 1855-1875. Böhtlingk, Otto Nikolaus von (Hg.), Indische Sprüche. Sanskrit und Deutsch, 3 Bände, 2., vermehrte und verbesserte Auflage, St. Petersburg 1870-1873 (BN).
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Über die Landesschule zur Pforte. Materialien aus der Schulzeit Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 5 (1976) 298-320.
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Nietzsches christliche Erziehung, in: Nietzsche-Studien 16 (1987) 164-196.
Bopp, Franz, Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Zend, Griechischen, Lateinischen, Litthauischen, Altslawischen, Gothischen und Deutschen, 6 Bände, Berlin 1833-1852; 2. Auflage, 3 Bände, Berlin 1857-1861. Bornmann, Fritz, Anekdota Nietzscheana aus dem philologischen Nachlaß der Basler Jahre (1869-1878), in: Tilman Borsche/Federico Gerratana/Aldo Venturelli (Hg.), ‚Centauren-Geburten‘. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nitzsche, Berlin/New York 1994, 67-80. Brobjer, Thomas H., Nietzsche’s Education at the Naumburg Domgymnasium 1855-1858, in: Nietzsche-Studien 28 (1999) 302-322. −
Chronological Listing of Nietzsche’s Reading and Library 1856-1858, in: Nietzsche-Studien 28 (1999) 315-322 (Appendix B zu: Nietzsche’s Education at the Naumburg Domgymnasium 1855-1858).
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Why did Nietzsche Receive a Scholarship to Study at Schulpforta?, in: Nietzsche-Studien 30 (2001) 322-328.
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Nietzsche’s Reading About Eastern Philosophy, in: The Journal of Nietzsche Studies 28 (2004) 3-35.
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Über Aussprache, Vokalismus und Betonung der lateinischen Sprache, 2 Bände, Augsburg 1858-1859.
D Monographien und Artikel
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Ueber die Bedeutung des Studiums der klassischen Litteratur. Eine Antrittsvorlesung, gehalten am 26. Oktober 1849, Prag 1849.
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Griechische Schulgrammatik, Prag 1852.
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Grundzüge der griechischen Etymologie, 1. Theil, Leipzig 1858; 3. Auflage 1869.
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Ueber die Geschichte und Aufgabe der Philologie. Ein Vortrag, gehalten im Saale der Harmonie am 22. Februar 1862, Kiel 1862.
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Philologie und Sprachwissenschaft. Antrittsvorlesung, gehalten zu Leipzig am 30. April 1862, Leipzig 1862.
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Erläuterungen zu meiner griechischen Schulgrammatik, Prag 1863; 2. Auflage 1870 (BN).
Daniel, Hermann Adalbert, Lehrbuch der Geographie für höhere Unterrichtsanstalten, 2. Auflage, Halle 1847; 8., verbesserte u. vermehrte Auflage 1857 (BN); 32. Auflage 1872. −
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Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie. Mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte, Düsseldorf 1984.
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Die Buddhismus-Kenntnis des jungen Nietzsche. Unter Heranziehung seiner unveröffentlichten Vorlesungsnachschrift der Philosophiegeschichte, in: Elisabeth Gössmann/Günter Zobel (Hg.), Das Gold im Wachs. Festschrift für Th. Immoos zum 70. Geburtstag, München 1988, 499511.
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Nietzsches frühe Begegnung mit dem Denken Indiens. Auf der Grundlage seiner unveröffentlichten Kollegnachschrift aus Philosophiegeschichte (1865), in: Nietzsche-Studien 18 (1989, Gedenkband für M. Montinari) 455-471.
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Nietzsches Begegnung mit Schopenhauers Hauptwerk. Unter Heranziehung eines frühen unveröffentlichten Exzerptes, in: Wolfgang Schirmacher (Hg.), Schopenhauer, Nietzsche und die Kunst (Schopenhauer-Studien 4), Wien 1991, 89-100.
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Kultur, Kunst und Religion. Transkulturelle Perspektiven angesichts des Buddhismus-Verständnisses in Nietzsches ‚Geburt der Tragödie‘, in: Zen Buddhism Today. Annual Report of the Kyoto Zen Symposion Nr. 9, Kyoto 1992, 46-60.
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Die Mitte der Religionen. Idee und Praxis universalreligiöser Bewegungen, Darmstadt 1993.
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Das religiös-pädagogische Kindheitsmilieu Nietzsches. Eine biographisch-philosophische Interpretation früherer Aufzeichnungen, in: Andreas Schirmer/Rüdiger Schmidt (Hg.), Entdecken und Verraten. Zu Leben und Werk Friedrich Nietzsches, Weimar 1999, 24-36.
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‚Tod Gottes‘ und die Möglichkeit ‚neuer Götter‘, in: Nietzsche-Studien 29 (2000) 82-101.
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Edición de los escritos de juventud de Nietzsche. Las primeras notas de los fragmentos póstumos del filósofo. Un informe sobre su investigación, in: Estudios Nietzsche 1 (2001) 77-89.
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Religionen in der Moderne. Nietzsches Diagnose, ihre Probleme und Perspektiven, in: Renate Reschke (Hg.), Zeitenwende – Wertewende. Inter-
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„Dionysos und der Gekreuzigte“. Nietzsches Identifikation und Konfrontation mit zentralen religiösen ‚Figuren‘, in: Nietzscheforschung 9 (2002) 147-161.
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Einleitung. Religionswissenschaft – historische Aspekte, heutiges Fachverständnis und Religionsbegriff, in: ders. (Hg.), Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, Innsbruck/Wien/Göttingen 2003, 17-80.
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Gott – monotheistisch, in: ders. (Hg.), Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, Innsbruck/Wien/Göttingen 2003, 545-558.
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Nietzsche und die Religionsstifter, in: Nietzscheforschung 11 (2004) 87-96.
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Nietzsche’s Encounter with Buddhism, in: Bettina Bäumer/John Dupuche (Ed.), Void and Fullness in the Buddhist, Hindu and Christian Traditions. Śūnya-Pūrna-Plêroma. With a Concluding Speech by His Holiness the Dalai Lama, New Delhi 2005, 225-237.
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Grundriß der Geschichte der deutschen National-Litteratur, 3 Bände, 4., durchgängig verbesserte und zum größten Theil völlig umgearbeitete Ausgabe, Leipzig 1847-1866.
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Grundriss der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, 5 Bände, 5., umgearbeitete Auflage von Karl Bartsch, Leipzig 1872-1873.
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Laut- und Flexionslehre der mittelhochdeutschen und der neuhochdeutschen Sprache in ihren Grundzügen, Halle 1862.
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Vermischte Aufsätze zur Litteraturgeschichte und Aesthetik, Leipzig 1858.
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Register
Register
A Personenregister
A Personenregister In diesem Register sind die Namen von Personen angeführt, die im Text bzw. in den Anmerkungen (es ist jeweils die Seite angegeben) vorkommen. Namen von Göttern, mythologischen Gestalten, geographische Namen, wie von Orten, Ländern u. dgl., werden im Sachregister angeführt. Das Personenregister wurde von Herrn Manfred Hinterleitner erstellt. Abraham 53, 145 Abū Bakr (Abu Bekr) 142 cĀ’iša (Aejischa) 139 Aischylos 200 Alcott, A. B. 184 Alexander der Große 101f, 167 cAlī (Ali) 142, 282 Arnhardt, G. 25 Artaxerxes 73, 81, 149 Astyages 69f Bach, N. 65, 135 Baier, K. 288 Ballantyne, J. R. 175 Bartels, (vermutl.) A. 37 Barthélemy Saint-Hilaire, J. Bartsch, K. 91 Bäumer, B. 334 Baumgartner, M. 290 Benfey, Th. 200f
176
Benne, Ch. 160, 194 Berkeley, G. 169 Birx, J. 285, 291 Biser, E. 268 Blunck, R. 12 Bobzin, H. 136, 139f, 143 Boeckh, A. 206, 212, 215-217 Bohley, R. 12, 16-18, 24, 26f, 30, 38f, 47, 74, 90f, 100, 107, 111, 118, 121, 128, 146f Böhtlingk, O. N. von 33, 290 Bonifatius 16 Bopp, F. 29, 33, 76, 107f, 110, 119, 120f, 124, 194f, 221, 237 Born, A. van den 149 Bornmann, F. 344 Borsche, T. 251, 283, 344 Böttger, C. 195, 230 Bötticher, C. W. 245, 250, 252
380
Register
Bowker, J. 125 Brahe, T. de 32 Bratuscheck, E. 206, 215, 217 Brobjer, Th. H. 12, 18f, 30f, 46, 54, 82, 85, 88, 145, 154, 290 Brockhaus, H. 188-193, 288f Brockhaus, O. 192 Brusotti, M. 300 Buchbinder, F. 25 Buchs, C. 113 Buddensieg, R. 38f, 146f Buddha 35, 103, 180, 235, 256, 276, 278f, 290, 297, 300f, 307, 314, 328, 346 Bugge, S. 125 Bunsen, Ch. C. J. 34f Burckhardt, J. 273, 283
Curtius, G. 124, 162, 188f, 191, 193, 195-203, 206, 209f, 213f, 216-227, 229, 232, 252, 302, 330, 333, 338, 340f
Calder III, W. M. 161, 166, 204f Campioni, G. 15, 46, 52, 71, 85, 204, 225, 289, 337 Cancik, H. 26, 161, 165f, 204f, 215, 283f, 332 Cantor, G. 165 Cazelles, H. 149 Chamisso, A. von 135 Champollion, J. F. 29, 69, 166, 223 Cicero 74, 128 Colebrooke, H. Th. 129, 183f Colli, G. V Coomáraswámi 290 Cornelius Nepos 80 Corssen, W. 24, 31, 105, 119124, 338 Crescenzi, L. 230, 233, 246, 253, 302 Creuzer, G. F. 241 Crusius, O. 211, 251f Curtius, E. 196, 214
Eichhorn, J. A. F. 23f Emerson, R. W. 2, 104, 110, 130f, 141, 184f Empedokles 286, 304 Endreß, G. 32 Engelmann, W. 273 Ermanarich 36, 93-97, 99, 101, 118, 122, 232, 254, 331 Etter, A. 336 Euripides 79, 301
D’Iorio, P. 319 Daniel, H. A. 40-42, 45f, 48f, 72f, 102, 132 Darwin, Ch. 49, 59 David 145 Deussen, P. 28f, 35, 149, 167, 183, 204, 287-289, 345 Diefenbach, L. 199 Dietrich von Bern 93 Dorfmüller, P. 27, 31f, 34 Dühring, E. 247, 293 Duperron, A. 184 Dupuche, J. R. 334
Fabricius, G. 130 Fergusson, J. 252, 256 Fetz, R. L. 152f, 156 Feuerbach, L. 131 Fichte, J. G. 29 Figl, J. 16f, 24, 30, 151, 168, 233, 271, 274, 291, 296, 309, 314, 333f Fischer, S. 150 Fischer, S. R. 107 Flügel, G. 136f, 142 Förster-Nietzsche, E. 17, 38, 192
A Personenregister Förtsch, C. 18, 25 Friedrich Wilhelm IV. 24 Fries, J. F. 180f, 183f Fries, Th. 251 Fuchs, H. J. 125 Galilei, G. 32 Garbe, R. 184 Gersdorff, C. von 91, 111, 160, 197, 290 Gilman, S. L. 12, 25, 30, 37, 39, 86, 92, 121 Glasenapp, H. von 125, 127, 183 Glau, K. 156 Goethe, J. W. von 134f, 231 Goicoechea, D. 182 Golomb, J. 284, 291 Golz, J. 308 Göring, C. 252 Görres, J. 109 Gössmann, E. 177 Graf, F. 205 Grafton, A. 283 Grethlein, Ch. 15 Grimm, J. 34, 95, 99, 107f, 115, 120, 124f, 198f, 221, 237, 254, 330 Grimm, W. 34, 94f, 99, 108, 115, 124f Gründer, K. 29 Gürtler, J. D. 206, 210, 217 Haag, H. 149f Haase, M. -L. 308 Hackbinder, W. 133 Halbfass, W. 170, 180, 288, 332 Hammer-Purgstall, J. von 109 Hannibal 81 Hardiyanto, S. 334 Hardy, E. 165, 242 Harpagos 70, 74f Hartel, W. von 225
381
Hartung, J. A. 245 Hasper, C. A. 113 Haushalter, B. 112 Hegel, G. W. F. 129, 172, 180f Heiland, K. G. 30, 39, 92, 100 Heimsoeth, G. 185 Hellwald, F. A. von 319 Henneberger, A. 124 Hermann, G. 190, 205f Hermann, K. F. 246 Herodot 67, 70, 73-75 Hettner, H. 136 Heumann, H. 23, 25 Heyne, Ch. G. 204f Heyse, K. W. L. 195 Hiller, E. 165 Hinckelmannus, A. 32, 140 Hocke, R. 129 Hödl, H. G. 12, 28, 42, 61, 138, 140, 185 Hoffmann E. T. H. 89 Hoffmann, S. F. W. 217 Hollenberg, W. A. 15, 143 Homer 81f, 144, 148, 200, 343 Howitt, W. 84 Humboldt, A. von 27f Humboldt, W. von 26-28, 108, 113, 194f, 221, 237f Hume, D. 169, 304 Hyde, Th. 33 Ilgen, K. D. 27 Immoos, Th. 177 Irmscher, J. 217 Irving, W. 75f, 138-141 Jacolliot, L. 337 Jahn, O. 160f, 165f, 204f, 214 Janz, C. P. 286 Jeremias 149 Jesus (Christus) 45, 145, 306, 314, 323, 328, 335
382 Johaentgen, F. 184 Jones, W. 107, 184, 237 Jornandes 95 Kant, I. 85, 169, 186f, 271, 288 Kapila 175, 183 Karl der Große 144 Khadīğa (Kadidscha) 138f Kirchner, C. H. 34, 180 Kissling, E. 32 Klencke, P. F. H. 28 Kletschke, H. 159 Klöcker, M. 14 Klopstock, F. G. 29 Koberstein, K. A. 24, 31, 3436, 65, 90-99, 105-112, 122124, 134f, 254, 330, 338 Koeppen, C. F. 180, 233, 276, 278-280, 346 Kohl, K.-H. 253, 257f Konetzny, R. 27 Konfuzius 289f Kopernikus, N. 32 Körner, Th. 89 Köselitz, H. 288 Krafft, W. L. 166 Krech, V. 3, 29 Krimhild 79, 87, 111, 113, 115, 331 Krösus 74 Krug, G. 17, 20, 61, 83, 133 Kuhn, A. 33, 119, 124, 198f, 213, 241-243 Kyros 67, 69-71, 74f, 134, 154 Kytzler, B. 161, 166, 204f, 217 Lachmann, K. 34, 91, 108, 254 Lange, G. 145 Lange, L. 206 Lao-tse 289 Lassen, Ch. 33, 113, 183 Layard, A. H. 69, 166
Register Lefmann, S. 291 Lelke, I. 91, 108 Lenau, N. 89 Leo, H. 53 Leonidas 68, 73 Lepsius, K. R. 29, 35, 69, 116, 166 Lessing, G. E. 89, 205 Lipiner, S. 308 Lippitt, J. 327 Lobeck, Ch. A. 241 Locke, J. 169 Lottner, C. 124 Löwith, K. 185 Lubbock, J. 211, 245, 254, 260264, 266, 294, 331, 340 Luther, M. 15 Malte-Brun, K 107 Mannhardt, W. 250, 252 Manu 176f, 184, 237, 336 Marcus Aurelius Antoninus 81 Markner, R. 283 Masius, H. 133 Medea 79f, 87, 331 Meier-Brügger, M. 107, 120, 238 Mette, H. J. 69, 117f, 168, 193, 203-205, 214, 251 Metterhausen, W. 22, 169 Meyer, Ch. 34f Michaels, A. 253 Michelet, K. L. 181 Mickiewicz, A. 308 Mohammed 5, 15, 45, 132-143, 155, 285, 328, 339 Mohnicke, G. 90 Mommsen, Th. 199 Montinari, M. V, 161, 248, 272, 276, 319, 329 Morgenroth, W. 125 Moritz von Sachsen 25 Moses 145f, 148
A Personenregister Most, G. 251 Movers, F. C. 246 Mucāwiya (Moabija) 142 Mühlberg, E. S. von 130 Müller (-Hess), E. 291 Müller, H.-D. 245 Müller, K. E. 67, 74 Müller, K. O. 216 Müller, M. 1f, 8, 22, 33-35, 62, 127, 162f, 188-190, 195f, 199f, 202, 208, 211-214, 221, 226f, 229-236, 241-243, 245, 276, 286, 288, 297f, 301-303, 305-307, 330, 332f, 338, 341 Müller, R. G. 12, 70 Mushacke, E. 197 Nägelsbach, K. F. 86 Napoleon 69 Nestle, W. 211, 251 Niebuhr, B. G. 207 Niendorf, M. A. 90f Niese, K. E. 24, 38f, 100 Nietzsche, F. 17, 192 Nietzsche, R. 28 Nissen, H. 252, 260 Oehler, M. 32 Okochi, R. 327 Olender, M. 266 Orsucci, A. 247, 250, 252-256, 259, 262-264 Overbeck, F. C. 308, 319 Ovid 79 Paulus 314 Pernet, M. 12 Peter, C. L. 24, 37, 56, 90, 92, 107, 330 Petermann, W. 266 Peuster-May, G. 14, 53 Piaget, J. 153
383
Pinder, W. 17, 20, 24, 61, 83, 88, 90, 133 Pippin 137 Plaenckner, R. von 289f Platen, A. Graf von 89, 135 Platon 128, 150, 187, 286, 323 Ploeg, J. van der 150 Plotin 129 Poley, L. 183 Polycrates 74 Pott, A. F. 107f, 116f, 124, 266 Preisendanz, K. 164 Preller, L. 245 Prenner, K. 143 Ranke, L. von 29 Rask, R. Ch. 76, 107 Rath, I. 143 Rée, P. 247 Reibnitz, B. von 204, 283 Reich, K. H. 153 Reinert, G.-B. 25 Renan, E. 298 Reschke, R. 312 Ribbeck, O. 215f Ritschl, F. 160, 164, 191, 193196, 201, 204, 214-217, 230, 252, 338 Ritter, H. 183 Rodinson, M. 135 Rogge, B. 90 Rohde, E. 189, 192, 202, 282, 290 Römer, R. 266 Roon, A. von 40-47, 49-51, 57, 72, 102-104, 137 Roscher, W. H. 201, 252 Rose, V. 114, 164 Roth, W. R. von 33 Rotteck, K. von 134 Rückert, F. 135 Rudolph, K. 1, 189f Ruth 149
384 Said, E. W. 32 Schaarschmidt, C. 167-183, 186f, 338, 346 Schade, G. 205 Schelling, F. W. J. 131, 216 Schenk, E. 17 Schiller, F. 73 Schirmacher, W. 169, 274 Schirmer, A. 17 Schlechta, K. 203 Schlegel, A. W. von 110, 113 Schlegel, F. 109, 113, 183, 237 Schleicher, A. 194f, 238, 330 Schlesier, R. 166 Schmeitzner, E. 290-292 Schmidt, E. 36, 90f, 111, 123 Schmidt, H. J. 12, 28, 61, 84, 146 Schmidt, I. J. 180 Schmidt, R. 17 Schönke, K. A. 84 Schopenhauer, A. 3, 125, 165, 169f, 184-188, 235, 269, 271, 274, 279-281, 283, 288, 297, 302, 345f Schott, W. 291 Schuh, B. 307 Schultz, C. F. H. G. 112 Schwab, G. 85 Schweizer-Sidler, H. 119 Seebold, E. 125 Seneca 343 Seume, J. G. 65, 89 Seydel, K. R. 190 Seyffarth, G. 189f Sharpe, E. J. 2, 184 Siegfried 95, 113 Sigurd 303 Simonides 198 Simrock, K. 88, 94f, 97, 99, 121f Skowron, M. 328 Sokrates 271, 273 Sommer, A. U. 202
Register Spannhake, B. 233 Spencer, H. 252 Spinoza, B. 169 Springer, A. H. 91, 166 Sprung, G. M. C. 182 Stark, K. B. 246 Stausberg, M. 165 Steinhart, K. H. A. 24, 31, 76, 120, 128-130, 149, 167, 180, 338 Steinthal, H. 195 Swanhild 93, 97 Sybel, H. K. L. von 166, 168 Tacitus 144 Tegnér, E. 88 Thatcher, D. S. 331 Theoderich der Große 93 Theognis 75, 86f, 168 Thoreau, H. D. 184 Tichy, E. 120, 152 Treiber, H. 296 Tworuschka, U. 14 Tylor, E. B. 8, 211, 245, 249f, 252-260, 263f, 266, 294, 296, 331, 340 Ueberweg, F. 180 Urban, O. H. 54 Urpeth, J. 327 cUmar (Omar) 139, 142 cUthmān (Odmann) 142 Valentin, P. 153 Veltri, G. 283 Vergil 80 Vernet, H. 166 Vischer, W. 111 Voigt, F. 45, 47-51, 58 Voitus, C. A. 92 Volkmann, D. 192 Voltaire, F. M. 136, 292
385
A Personenregister Voss, J. H.
241
Wachsmuth, R. 113 Wackernagel, J. 300 Wagner, R. 192, 255, 273f, 297 Walther von der Vogelweide 89 Weber, A. F. 33, 114, 164 Weber, K. M. 17f, 20, 24 Welcker, F. G. 241 Wellhausen, J. 334 Welter, Th. B. 21, 49f, 52-56, 59f, 64, 66f, 70-73, 78, 80, 82f, 101, 118, 132, 137, 145f, 333, 341 Wernhart, K. R. 54, 258 Widemann, P. H. 290 Wilamowitz-Möllendorf, U. von 29 Winckelmann, J. J. 205 Windisch, E. 29, 34f, 183, 189, 191f, 201, 287
Windischmann, K. J. H. 184 Wolf, F. A. 113, 148, 150, 205f, 210, 217f, 223, 240, 282f Wolff, M. 32 Wollheim da Fonseca, A. E. 126f Wundt, W. 252 Xenophon 67, 70, 74 Xerxes 73f, 81 Yovel, Y.
291
Zarathustra (Zoroaster) 66, 7174, 76f, 129, 164f, 191, 234, 297, 308, 313, 319, 324, 326, 328, 347 Zeller, E. 180 Zobel, G. 177
386
Register
B Sachregister B Sachregister In diesem Register werden insbesondere die für die Themenstellung des vorliegenden Buches relevanten Begriffe weiter aufgeschlüsselt. Dabei wurden auch Texte, die Nietzsche zitiert hat, und Zitate generell einbezogen, da der Aspekt der Rezeption für die vorliegende Studie wichtig ist. Allgemeinere Begriffe, die fast durchgehend vorkommen, wie „Kultur(en)“ oder „Philologie“, werden nicht zur Gänze angeführt, wohl aber in wichtigen Spezifizierungen (wie z. B. „außereuropäische Kulturen“ oder „klassische Philologie“). In der Regel sind Komposita, Adjektiva, Verben u. dgl. dem Substantiv beigeordnet. Bei der Erstellung des Sachregisters hat dankenswerterweise Herr Manfred Hinterleitner mitgewirkt.
Aberglaube 60, 98, 235, 249, 255, 259 absolute Religion 46, 166f, 340 Afrika 42, 47, 51, 66, 224 Ägypten 29, 53, 68f, 164f Ägypter 52, 68, 81, 101, 210, 240, 283 ägyptisch 32 ~e Kultur 101 ~e Mythologie 189 Ägyptologie 29, 35, 69, 116 aham, ahamkāra 117, 121f, 124127; siehe auch Ich Ahnengeist 249, 259 ~grab 249, 259 Ahnherr 249, 260 Alexandrien 167
Alexandriner 164 alexandrinische Kultur 167, 270, 321 Allah 141 Altertumswissenschaft 33, 204206, 217f, 223 Altertumskunde 190f, 205, 210, 216 Altes Testament 15, 38, 145148, 150 Althochdeutsch 93, 101, 104, 122-125, 198 altindisch 124, 238 ~e Literatur 191 ~e Mythologie 126 altorientalische Kultur 16, 66, 69 Amerika 42, 47, 51, 60, 224
B Sachregister Amerikaner 49 Andromeda (Antromeda) 68, 84 Animismus 153, 253, 257, 260, 341 ~theorie 249, 253, 257-259 animistische Welterfahrung 265 „Antichrist“, AC 177, 332, 334336, 343 Antike 6, 14, 27f, 38, 77, 81, 84f, 180, 190, 209f, 225, 240, 274, 342 Antisemitismus 291 Araber 109, 131f, 137, 144, 224 Arabien 43, 137f arabisch 132, 328 ~e Geschichte 136, 337 ~e Dichtung 109 ~er Kulturraum 165 ~e Nomaden 64, 132 Arabisch (Sprache) 32, 223 Archäologie 159, 165f, 203, 207f, 216, 223, 260 Argonautenzug 80, 87 Asebieprozess 250 asiatisch-europäische Welt 105f Asien 36, 42, 44, 46f, 49-51, 66f, 69, 71f, 78, 102, 103, 105f, 108-110, 128-130, 169, 172f, 180f, 191, 199, 224, 256, 283, 299-301, 328 Askese 176, 244, 276f asketischer Zwang 176 Assyrer 52, 68 Assyrien 53 Aurora 82 außereuropäische ~ Erdteile 46-48 ~ Kulturen V, 2-5, 7f, 11, 14, 21, 28, 31, 35f, 38, 40, 46, 51, 157, 161-163, 166, 223f, 282, 337, 339, 343, 346
387
~ Philologien 29 ~ Philosophie 170 ~ Religionen 2-5, 36, 40, 46, 163, 176, 337, 343 ~ Sprachen 31, 40, 51 ~ Völker 50, 78, 280, 339 Australien 42, 47, 51, 57 Avēsta 71f ~sprache 77; siehe auch Zendavēsta Babylon 223 Babylonier 52, 240 Bacchus (Bachus) 82f Baldur (Balder) 96, 303f Barbarei 61, 164, 246 Barbaren 96, 199f Baum 249f, 256, 259, 295 ~- und Schlangenverehrung 256, 284 ~genien 256 ~verehrung 250, 256 Weihe~ 249 Welt~ 96f Beduinen 138 Bibel 15, 63, 67, 144-151 biblische Geschichte(n) 15, 52f, 78, 145f Brahma 102 Brahmanen (Braminen) 101f, 261, 300 brahmanisch-vedische Religion 45, 51, 174, 183, 272, 328; siehe auch Hinduismus Brahmanismus 45, 51, 101f, 175, 299f, 346; siehe auch Hinduismus Buddhismus 38, 43, 45, 51, 102f, 116, 162, 177-184, 186f, 230, 233-235, 250, 256, 269, 272-280, 290f, 297-299, 301, 334-336, 346
388 ~verständnis 272, 280 Buddhisten 181, 185, 187, 276, 290 buddhistisch-nihilistische Alternative/tragischbuddhistische Weltsicht 272f, 276 buddhistische ~ Kultur 269f, 272 ~ Kunst 278 Charakterschilderung 79, 87, 113f, 333 China 49, 173, 248, 262f, 265, 289 Chinese 282 chinesisch 151f, 291 ~e Mandarinen 166 ~es Reich 103 Christentum 16, 22f, 39, 44-46, 51, 96-101, 144f, 166f, 173, 190, 224, 230, 235, 244, 285f, 299-304, 308, 310, 315, 321, 325, 333-336, 346 christentumszentriert 21, 53 „Cultus“-Vorlesung 245-251, 286, 295 Dalai Lama 103 darwinistisch 49, 59, 62 Deutschunterricht 14, 19-21, 27f, 34, 36-38, 87-90, 93, 104, 107, 116, 122f, 134-136 Diana 82 Dionysos 83, 242, 244, 255, 317, 347 Diskriminierung 5, 40, 49-51, 58f, 64f, 133, 136, 143, 224, 227, 247, 265, 285, 291 Edda 93-96, 99, 121f Ekstase 275, 277f, 346
Register ekstatischer Zustand 274, 277 Elohim 149 Emanation 176f, 179 „Encyclopädie der Philologie“ 162, 202-205, 208f, 212, 219, 232, 238f, 245f, 265, 302, 341 Entstehung der Religion 249, 257f Erdkundeunterricht 14, 40 Erleuchtung 296 Erlösung 275, 278, 298, 310; siehe auch Selbsterlösung Ermanarich-Sage 93-95, 99, 254 Esther 149 Ethnische Kulturen 54 Ethnographie 8, 54, 57, 60, 63f, 183, 210f, 244, 265, 340f ethnographisch-statistisch 42 Ethnologie 8, 54, 172, 253, 257, 260, 265f, 293f, 331, 340f; siehe auch Religionsethnologie Etymologie 72, 92, 107, 123, 128, 199, 201, 240, 242, 268, 302 Europa 2, 5-7, 10, 38, 42, 44, 46-48, 51, 56, 66f, 69, 73, 75, 77f, 103, 106, 108, 110, 116f, 120, 129, 135, 137, 154, 165, 172, 190, 199, 227, 237f, 279, 297-300, 310f, 336, 341, 346f; Europäer 44, 60f, 65, 105 europäisch siehe auch außereuropäisch und übereuropäisch ~e Kultur 2, 5, 38, 78, 299, 336f, 341, 347 ~e Völker 2, 106, 108, 199 Eurozentrik 3, 5, 7, 32, 40, 44, 46, 51-53, 226, 340f
B Sachregister evolutionistisch 49, 54 „Ewige Wiederkehr des Gleichen“ 248, 280, 315, 325 „Ewige Wiederkunft des Gleichen“ 307, 313, 317-328 Fatalismus 126, 131, 141, 166 Fatum 126, 130, 141, 155, 185, 234 Fest/Feier 200, 244, 246, 255, 277f, 308f, 346 Fetisch 262 Fetischismus 51, 261f Feueranbeter 73, 75; siehe auch Zoroastrismus Französischunterricht 14, 19f, 133 „Freie Ausarbeitung“ 20, 36, 54, 58, 74, 91, 134 Frithjofsage 87-90 „Fröhliche Wissenschaft“, FW 97, 306-308, 314, 319-321, 347 Ganges 43, 102, 223, 280 „Geburt der Tragödie“, GT 9, 29, 201f, 233, 242, 267-270, 272-278, 343-345 Geist 49, 249, 258-260, 262, 303 Geisterglaube 249, 259f, 265, 303 ~kult 260 Genealogie 6, 148, 200f, 222f, 267, 293f, 329-332, 336f genealogische Denkweise 171, 329f Geographielehrbuch 40-42, 45f, 47, 53, 57f, 72, 102 Geographieunterricht 5, 16, 1921, 40, 46-48, 67, 85, 102, 132, 339, 341
389
Germanen 2, 16, 76, 87, 97-99, 106, 117f, 136, 163, 226, 247 „Germania“ 61, 112 Geschichtsschreibung 74, 170 Geschichtsunterricht 5, 14, 16, 19-21, 38, 47, 66f, 75, 85, 104f, 116-119, 122f, 143, 154, 338 Gewalt 55, 59, 61, 64, 80, 96, 98f, 250f, 263 Glauben 39, 63, 71, 82, 87, 96, 98f, 103, 110, 131, 140-143, 145, 166, 218-220, 235, 249, 257, 259, 262, 271, 288, 301, 310f, 314-316 ~sartikel 132, 135, 140f ~sbekenntnis 134, 141, 343 ~slehre 15, 23 Gnostiker 129, 180 Gnostizismus 179, 181 Götter 51, 63, 71, 74, 77, 80-87, 96, 98-100, 102, 112, 200, 233f, 242-244, 248-251, 255, 262, 295f, 298-312, 333, 346 chthonische ~ 243 ~bild 263, 295 ~ dämmerung 93, 96f, 301 ~darstellung 295 ~glaube 87, 96, 219f ~kult 249, 259 ~lied 150 ~name 83, 242f ~sage 96 ~versammlung 83f Göttin 82f, 333 göttlich 51, 71, 103, 126, 130, 176, 310 das ~e 174 Gott/Gottheit 37, 45, 51, 53f, 59, 62f, 72f, 82-84, 97, 103, 126, 132, 141, 146, 149, 166, 173f, 176f, 179, 200, 234f,
390 241-243, 262, 285, 295f, 298, 302-312, 327-329, 333, 347 „unbekannter Gott“ 234 „Gott-ist-tot“ 306-309; siehe auch Tod Gottes Gottesdienst 62, 191, 200, 244, 246f, 249 „Gottesdienst der Griechen“, GDG 87, 163, 210, 244f, 251-261, 286f, 292-296, 302 Götze 51, 317 ~nbild 262 ~ndienst 60 Gral 109 Grammatik 92, 107, 116, 123, 125, 127, 148, 151f, 189, 192-198, 201, 215, 237, 241, 268, 306 „Grammatik“-Vorlesung 236f Grausamkeit 52, 56, 59f, 70, 79, 81, 100, 134, 268, 331, 341f grausame Sitten 57, 59f Griechischunterricht 14, 19f, 30, 37, 74, 77, 80, 86, 128 Grimma, St. Augustin zu 25 Gudrunlied 112, 232 Guebern, Gebern 72f, 75; siehe auch Zoroastrismus Halluzination 249, 258f Hebräer 144, 210, 283 Hebräischunterricht 14, 19, 28, 128, 147-151 Heide 45, 51, 103 Heidentum 15, 39, 44f, 96-98, 100, 102, 166 heidnisch 45, 51, 63, 97-100, 102, 111, 254 Hidschra (Hedschra) 138 Hieroglyphen 29, 69, 166, 223 „Hieroglyphen des eigenen Lebens“ 282
Register Hiğāz (Hedschas) 43 Hindu 102f, 130f, 185 Hinduismus 38, 43, 110, 130f, 162, 178, 234, 256, 299, 346; siehe auch Brahmanismus Hindustan 43 Hunnen 49 ~invasion 93 Huronen 65 Hymnenpoesie 201 Ich, Ichheit 117, 121, 124-127, 322-325 Ich-Macher 121, 125-127 Ichmachung 127; siehe auch aham, ahamkāra Ilias 112-114 Inder 76, 103, 105f, 113f, 127, 129, 163f, 199-201, 210, 224, 226, 240, 242, 256, 280, 282, 287, 333 Indianer 65 Indien 2, 16, 33, 49, 51, 67, 72, 101f, 105, 109, 116, 120, 127-129, 163, 165, 170, 172174, 180, 223, 248, 261, 265, 274f, 289f, 297f, 300, 346 Religionen ~s 5, 7, 16, 39, 101f, 111, 162f, 165, 173, 175, 177, 182, 200, 207, 209, 297; siehe auch Hinduismus indisch 2, 35, 43, 72, 102-104, 109-114, 126f, 130, 150, 161, 163-165, 170, 172-182, 184f, 187, 189, 191f, 207, 220, 223, 242, 272-274, 281, 288, 290, 297-300, 305f, 334 ~e Philologie 207-209, 211, 287f; siehe auch Indologie ~e Philosophie 7, 125, 129, 162f, 165, 173, 177, 182, 281, 287-289, 345
B Sachregister Indisch (Sprache) 103, 105, 111, 124, 130, 161, 192f, 207, 238, 241, 291; siehe auch Sanskrit Indogermanen 76, 117, 136, 199 indogermanisch 110, 163, 172, 192, 199, 221f, 225f, 234, 238, 242, 284, 297-300, 330 ~e Religionen 62 Indogermanisch (Sprache) 38, 76, 105, 107f, 120, 124, 151, 194f, 221f, 234, 238, 265, 330 Indogermanistik 1f, 5-7, 16, 35, 76, 101, 106f, 124, 154, 161, 172, 189, 193f, 223, 238, 245, 341 Indologie 29, 113, 182f, 190, 201, 288, 291, 337, 345 Indus 43, 102 interkulturell 337; siehe auch transkulturell Iran 72, 109, 165 Islam 5, 12, 14, 32, 43, 45, 51, 75, 132-143, 154f, 190, 285, 334, 336, 339, 346 Israel 52f, 63, 81, 145f Italiker 117, 199, 256, 260, 284 Italisch 119, 238, 243 „Jäger und Fischer“ 53-63, 154 Jagd 54-56, 58-60, 64 Jahwe 149 Japan 103, 173 Jemen 43 „Jenseits von Gut und Böse“, JGB 200, 311, 343 Juden 16, 45, 148, 166, 190, 291 ~tum 14, 45, 144f, 179f, 291 Jugend V, 6, 11-13, 65, 87, 89, 133, 152, 155f, 309
391
~biographie 17, 88 ~philosophie 152 Juno 80 Jupiter 83f, 242 Kadmus 83 Kaffern (Coussa-Kaffern) 261 Kalif 142, 282 Karma 131, 185 Kaste 101f, 248f, 255, 284 Katechismus 15, 147 Kaukasier 49 kaukasisch 102f Kaukasus 72, 106 Kinderphilosophie 152, 155 Kindheit V, 6, 11-13, 16-18, 55, 69f, 75, 81, 85, 152f, 154156, 329 Kirche 15, 24, 51 ~ngeschichte 15, 118, 166 ~njahr 15 ~nlied 15 Klassische Philologie 2, 4, 7, 29, 40, 110, 116, 148, 156, 196, 207-212, 219, 229, 232, 236, 238, 243, 245, 340, 343f Klassizität 79, 239-241, 246 ~sbegriff 340 ~sideal 243, 287 Kohelet 150 Komparatistik 1, 6, 38, 40, 59, 101, 114f, 136, 143f, 151, 182, 188f, 196, 201f, 211f, 222f, 231, 238, 240, 292, 294, 329, 331-333, 336-338, 342; siehe auch Vergleichung Konfuzianismus 234 Koran 138, 140, 142-144 Kreislauf 248, 268, 278-280 Kreuzzug 109, 134 Krieg 74f, 80-82, 132f, 143 Krieger 141
392 kriegerisch 71, 138 Kult 72, 82, 87, 200, 216, 245251, 254f, 259, 284, 286, 293, 295 Geheim~ 243 Geister~ 260 Mysterien~ 243 Toten~ 249, 259f, 265 Kulturstufen 63f, 173, 247f, 265 Labrador 60 Lama 103 ~ismus 103 Lateinunterricht 14, 19f, 30, 37, 74, 77, 80, 85f, 119, 128 Leere 278-280 Leerheit 279 Lhasa (Lassa) 103 „Literaria“ 24, 121 Literaturgeschichte 106, 115, 135, 215, 251, 254 Magie 164, 244, 256, 261, 263f, 341 Magier 71, 74f, 102; siehe auch Zoroastrismus Mahābhārata 104, 111-114, 164 Malayen 49, 256 Manugesetzbuch 176f, 184, 237, 336 Mars 82 Maya (Maja) 187, 271 Meder 52, 69f, 76, 166 Medina 132, 138 Meißen, St. Afra zu 25, 137 Mekka 132, 138 Menschenrassen siehe Rasse „Menschliches, Allzumenschliches“, MA 254, 286, 292296, 313f, 329, 331f, 342f, 348 Mesopotamien 43, 165
Register Mexiko 57 Mission 44, 46, 88, 97, 99 Missionar 46 Missions-Anstalten 51 Missionsauftrag 16 Mongolen 49f, 102, 284 Monotheismus 45, 51, 82, 100, 235, 286, 297-299, 302-311 Morgenland 10, 106, 108f; siehe auch Orient „Morgenröthe“ 290, 297, 299301, 334 Muslime, „Mohammedaner“ 16, 43, 45, 132-134, 140, 166 Mysterien 244, 255 Mythen 12, 84, 89, 96, 100, 104, 127f, 153f, 199, 205, 226, 232, 241-243, 249, 271, 302 Mythologie 8, 62, 85, 87, 93, 96, 126f, 129, 155, 163, 166, 189, 199f, 204-206, 213-216, 219f, 229, 231f, 234, 237, 239, 241, 243, 271f, 303, 308 Nationalismus 3, 97, 226 Naturdienst 200 Naturerscheinung 60, 243 Naturkundeunterricht 19f Naturreligion 166, 175, 196 Neger 49, 57, 102, 262 Neptun 82 Neues Testament 15, 151, 159, 297 Neuhumanismus 24, 26-28 Neuplatonismus 128f, 170, 179f Nibelungenlied 34, 79, 87, 8993, 108, 111-114, 164, 232, 254, 331 Nihilismus 177-179, 184, 279, 298 nihilistische Religion 310, 334f Nimrud 69
B Sachregister Ninive 69, 166, 223 Nirwana 177f, 187f, 233, 235, 277, 297, 301 Nomaden 64, 71, 132 ~tum 54 ~volk 49, 58 Odin 106, 303f, 306 Odyssee 81f, 112, 114 Okzident 163, 167, 201, 280 Opfer 71, 74, 82, 200, 244, 249, 261f, 264 Orient 32f, 35, 38f, 52, 66-68, 76, 108-110, 128f, 134f, 163169, 179-181, 201, 210, 239f, 244, 282f, 291 Orientalia 31f, 39 Orientalismus 24, 32, 190f, 223, 226, 290f Ormuz 71f Orpheotelesten 255 Pali
116, 128 ~-Inschriften 35 Pan 304-306 Pandschab (Pendschab) 43 Parias 102 Parsen 72f, 102, 234, 297 Parsismus 179, 191, 234; siehe auch Zoroastrismus Pentateuch 149; siehe auch Thora Perser 16, 52, 66, 69-76, 105f, 129, 131, 142, 154, 166, 199, 210, 226, 283, 326, 331, 333, 339 Perserkriege 73f Perseus 84 Persien 2, 75, 120, 166, 172 persisch 2, 72, 75, 103, 109, 189, 191, 199 Persisch (Sprache) 103, 109, 124, 184, 223, 237
393
Peru 234 Philologie siehe Klassische Philologie und indische Philologie Philologiestudium Nietzsches VI, 2, 8, 156, 159, 161f, 164, 188-201, 338 Philosophiegeschichte 128f, 162, 165, 167-174, 179-182, 271, 279, 338 Philosophiegeschichtsschreibung 180, 182 Philosophieren existenzielles ~ 9, 282, 291, 320, 345, 347f historisches ~ 292-294 philosophische Propädeutik 19 Phönizien 164 Phönizier 52, 247, 284 Pluto 82 Polytheismus 45, 51, 63, 82, 100, 234, 298, 303-311 Primitive 53, 153, 264, 298 Prometheus 72 ~mythos 199 Prophet 75f, 132, 136, 138-142, 145, 148f, 312, 316f Quebek 65 Quietismus 276f, 346 Rache 59, 70, 113, 138, 247, 265, 293 Rāmāyana 104, 111-114, 164 Rasse 5, 12, 16, 40, 47, 49f, 62, 256, 264, 284 Rassegriechen 284 Rassenchaos 284 Rassentheorie 165f rassistisch 5, 44, 49-51, 285 Religionsethnologie 163, 245, 252f, 258, 261, 286
394 Religionsgeschichte 127, 183, 189-191, 205, 211, 230, 251, 291-311, 338, 342, 345, 347f allgemeine ~ 189f Religionsphänomenologie 236 Religionsunterricht 14f, 19f, 23f, 28, 37f, 145-147 Religionswissenschaft V, 1-4, 69, 17, 21-23, 33, 127f, 156f, 159, 161-163, 166, 196, 202f, 205, 207-209, 211-217, 220, 229-231, 235f, 241, 244f, 251-253, 257, 260, 265f, 286288, 294, 297, 299, 301f, 305-307, 327, 331-333, 338340, 346 allgemeine ~ 209, 218-221, 340 siehe auch vergleichende ~ Rigveda 201, 233, 237, 242, 297 Rohheit 44, 52, 56, 58, 62, 64, 79f, 199, 210, 243, 251, 255, 265, 287, 342; siehe auch Wildheit Romantik 88, 109, 115, 130, 223, 331 Sage
12, 36, 70, 74, 84f, 87-90, 93-99, 106, 110, 127, 149, 232, 254, 330 Śakuntalā 237 Sāmkhyaphilosophie 125, 175, 177, 183, 287 Samsāra 280 Sanskrit 5, 29, 33, 35, 38, 76, 103-105, 108, 115-128, 178, 181, 183, 188f, 192, 195f, 198f, 201, 221, 223, 229, 237f, 241f, 287f, 291 ~grammatik 189 ~kenntnis 188 ~notizen 115-127
Register Schamanenwesen 102 Schiiten 45, 142 Seele 110, 114, 131, 174, 176f, 179, 257f, 285, 334 ~nwanderung 110, 176, 183f, 244 Selbsterlösung, Religion der 300 Semiten 137, 190, 284 ~tum 286 semitisch 103, 151, 172f, 250, 284, 297f, 302, 306 Sibirien 49, 51 Sikhs 102 Sinologie 291 Sirenius 83 Sonnengott 82, 234 Sprachenstammbaum 238, 330 Sprachfamilien 103f, 108, 151, 222, 238 Sprachstamm 105, 194, 198, 221f, 238, 330 Sprachvergleichung 9, 33, 116, 127, 146, 151, 163, 189, 192199, 212f, 223, 225, 231, 239, 243, 250, 330, 338 Sprachverwandtschaft 76, 101, 103, 105-108, 117f, 120, 136, 222, 225, 234, 236f Sprachwissenschaft 1, 8f, 29, 31, 33, 105, 110, 119f, 152, 157, 197, 199-203, 207-309, 211-214, 218-221, 229-231, 242, 266, 332, 340; siehe auch vergleichende Sprachwissenschaft Sunnah 142 Sunniten 45, 142 Śūnyatā 279f Survival siehe Überbleibsel Sutta Nipāta 290
B Sachregister Tanzunterricht 37 Táo-te-king 289 Telakeus 68 Theologie 21-23, 86, 153, 159, 161f, 167 Thora 148, 150; siehe auch Pentateuch Thraker 284 thrakisch 200, 250, 284 Tibet 103 Tod der Götter 303-306 Tod des Pan 304-306 Tod Gottes 96, 233, 268, 298f, 301, 306-309, 339 Trancezustand 259 Transkulturalität 152 transkulturell 3-5, 7, 21, 105, 226, 266f, 292, 329, 331, 337 ~e Perspektiven 224, 268, 284, 343 ~es Denken VI, 4, 6f, 267, 343, 348 Transzendentalismus 130, 184 Transzendentalphilosophie 130 Traum 63, 69f, 84, 140, 154, 187, 244, 249, 257-259, 285, 296 ~gott 84 Tripitaka 290 Türken 68, 131, 133f Überbleibsel, Überlebsel 253f, 257 übereuropäisch 5, 10, 342 Universalbildung 13, 27f Universalreligion 166f, 243f „unreines Denken“ 245, 247f, 265, 293 Unsterblichkeit 82, 131, 185, 244, 302f, 309, 325 ~sglaube 131 „Unzeitgemäße Betrachtungen“,
395
UB 210, 267f, 274, 280283, 285, 288f, 334, 343f Upanishaden 125, 184, 288 Uranos 83 Urgeschichte 52f, 63, 72, 94, 122, 294, 330f; siehe auch Vorgeschichte Urmonotheismusthese, ~theorie 45, 63 Ursprache 61f, 92f, 238, 330 Ursprung 16, 61-64, 66, 77f, 97, 100, 105, 109f, 112, 115, 128, 148, 175, 222f, 226, 239, 241f, 249, 260, 264f, 284, 295, 298, 314, 329-332, 335 Ursprungsgeschichte, biblische 52 Valediktionsarbeit 75, 86f, 112f, 116 Veden 175-177, 183, 187, 196, 200, 213, 233, 238 Venus 82 Vergleichende Religionswissenschaft 1, 34, 184, 201, 212, 214, 230, 236, 332, 340 Vergleichende Sprachforschung 33, 221, 241, 245; siehe auch Sprachvergleichung Vergleichende Sprachwissenschaft VI, 1, 8, 29, 40, 100, 105f, 107f, 115f, 154, 157, 161f, 193f, 196, 201, 208, 211-213, 219, 229, 236f, 330, 332, 340 Vergleichung 2, 6, 39, 79, 87, 89, 95, 101, 104, 107f, 111116, 119, 121f, 127, 143f, 146, 150-152, 161, 163f, 170, 173f, 184, 187-190, 194-196, 199, 209, 211, 221f, 229,
396 231f, 236f, 239-243, 245, 247, 282, 285f, 331-337, 340f, 346, 348; siehe auch Komparatistik Zeitalter der ~ 294, 332, 334f, 347f Verstehen 206, 222, 281f, 315, 335, 340, 344f Ton-~ 255 „Von-innen-her-~“ 287, 289 Vision 138f, 259, 285, 316 Viśnu (Wischnu) 102 Völker, Kindheit der 58, 61, 154 Völuspa 96 Volksdichtung 112, 115 Volksepos 112, 114 Vorgeschichte 80, 240, 294, 340f; siehe auch Urgeschichte Wahn 224 ~vorstellung 129, 269f, 277 Weltgeschichte 21, 52f, 63, 66, 137, 246f, 312, 315
Register Weltreligion 166 Wiedergeburt 130f Wilde 16, 52f, 56-61, 64f, 255, 257, 264f, 331, 340f Wildheit 49, 56, 59f, 63f, 79f; siehe auch Rohheit Willensfreiheit 126, 130, 141, 185, 270, 311 Witwenverbrennung 102 Zauberei 60, 248, 256, 260, 262-264 Zauberer 49, 248, 255, 262-264 Zauberformel 163 Zend 35, 38, 76f, 119f, 124, 237 Zend-Religion 72; siehe auch Avēsta und Zoroastrismus Zendavēsta 71f, 73, 76f, 191, 233f, 319 Zeus 82, 84, 199, 242f, 302, 306 Zoroastrismus 38, 66, 71, 73f, 234, 297, 347; siehe auch Feueranbeter, Guebern, Parsen und Zend-Religion Zweiquellentheorie 149