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Veröffentlichungen des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim
Herausgegeben von Peter Axer, Gerhard Dannecker, Thomas Hillenkamp, Lothar Kuhlen, Eibe H. Riedel, Jochen Taupitz (Geschäftsführender Direktor)
Weitere Bände siehe http://www.springer.com/series/4333
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Anja Beatrice Dolderer
Menschenwürde und Spätabbruch
1C
Reihenherausgeber Professor Dr. Peter Axer Professor Dr. Gerhard Dannecker Professor Dr. Dr. h.c. Thomas Hillenkamp Professor Dr. Lothar Kuhlen Professor Dr. Eibe Riedel Professor Dr. Jochen Taupitz (Geschäftsführender Direktor) Autorin Anja Beatrice Dolderer
Gedruckt mit Unterstützung der Graduiertenakademie der Universität Heidelberg und mit Mitteln der Exzellenzinitiative.
ISSN 1617-1497 ISBN 978-3-642-22467-6 e-ISBN 978-3-642-22468-3 DOI 10.1007/978-3-642-22468-3 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
Meinen Eltern
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2011 von der juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Mein ganz besonderer Dank gebührt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Hillenkamp. Er hat die Bearbeitung des vorliegenden Themas vorgeschlagen und mir stets seine volle Unterstützung zukommen lassen. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Dieter Dölling für die Erstellung des Zweitgutachtens. Herrn Prof. Dr. Claus Bartram danke ich für die Unterstützung bei medizinischen Fragen und die Korrektur des ersten Kapitels. Die Arbeit entstand während meiner Zeit als Stipendiatin des Interdisziplinären Forums für Biomedizin und Kulturwissenschaften (IFBK) im Rahmen des Marsilius-Kollegs der Universität Heidelberg, Teilprojekt „Menschenwürde am Lebensanfang“. Dem IFBK danke ich für die finanzielle Unterstützung. Den Mitgliedern des IFBK und des Marsiliuskollegs danke ich für fruchtbare Gespräche und Anregungen. Danken möchte ich auch meinen Kollegen und Freunden, die mich während des Entstehungsprozesses dieser Arbeit verständnisvoll begleitet haben: Wolfgang Gosch für seine Diskussionsfreude sowie Katja Zabaschus und Susanne Keck für die seelisch-moralische Unterstützung in unzähligen Mittags- und Kaffeepausen. Meiner Schwester, Dr. Simone Abend, danke ich für die Diskussionsbereitschaft in medizinischen Fragen. Meiner Mutter danke ich herzlich für das Korrekturlesen dieser Arbeit. Meinen Eltern, Angelika und Peter Dolderer, widme ich in großer Dankbarkeit dieses Buch. Sie haben mich während des Studiums und der Promotion stets liebevoll unterstützt. Heidelberg, im August 2011
Anja Beatrice Dolderer
Inhaltsverzeichnis
Einführung ............................................................................................................. 1 A. Die Problematik des Spätabbruchs im gesellschaftlichen Diskurs .............. 1 B. Definition: Spätabbruch .............................................................................. 4 C. Angabe der Schwangerschaftsdauer............................................................ 5 D. Häufigkeit ................................................................................................... 6 E. Zielsetzung und Vorgehensweise ................................................................ 6 1. Kapitel: Medizinische Grundlagen................................................................. 9 A. Biologische Entwicklung des nasciturus und Geburt .................................. 9 B. Schmerzempfinden und Leidensfähigkeit des Fötus ................................. 12 C. Die Pränatale Diagnostik........................................................................... 13 I. Pränataldiagnostische Verfahren ........................................................ 13 1. Nicht-invasive Methoden ............................................................ 14 a) Ultraschalluntersuchung ....................................................... 14 aa) Ungezielte Ultraschalluntersuchung .............................. 14 bb) Gezielte Ultraschalluntersuchung .................................. 15 cc) Doppler-Ultraschall ........................................................ 15 dd) Diagnostische Sicherheit ................................................ 15 ee) Ultraschall als Routineuntersuchung .............................. 16 b) Alpha-Fetoprotein-Test ......................................................... 16 c) Triple-Test ............................................................................ 17 d) Analyse fötaler Zellen im mütterlichen Blut......................... 17 2. Invasive Methoden ...................................................................... 17 a) Amniozentese ....................................................................... 17 b) Chordozentese....................................................................... 18 c) Chorionzottenbiopsie und Plazentazentese ........................... 19 d) Fetoskopie ............................................................................. 19 II. Ziele, Vorteile und Grenzen der Pränataldiagnostik........................... 19 III. Auswirkungen der Pränataldiagnostik ................................................ 21 IV. Zeitpunkt pränataldiagnostischer Verfahren ...................................... 22 D. Methoden des Schwangerschaftsabbruchs ................................................ 23 I. Vermeidung der Nidation und frühe Abbrüche .................................. 23 II. Schwangerschaftsabbrüche nach der 12. Woche ................................ 24 III. Schwangerschaftsabbrüche nach der 20. Woche ................................ 24
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Inhaltsverzeichnis
2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben ................................................... 25 A. Die Funktion der Grundrechte beim Schwangerschaftsabbruch ............... 25 I. Abwehrrechte und Schutzpflichten im Vergleich .............................. 25 II. Dogmatische Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflicht............. 27 1. Die Schutzpflichtenjudikatur des Bundesverfassungsgerichts .... 28 2. Kritische Stimmen in der Literatur .............................................. 30 a) Die „abwehrrechtliche“ Lösung............................................ 30 b) Menschenwürdekern ............................................................. 31 c) Die staatstheoretische Fundierung ........................................ 32 d) Grundrechtsschranken und Sozialstaatsprinzip .................... 33 e) Stellungnahme und Ergebnis ................................................ 34 B. Die Menschenwürde ................................................................................. 35 I. Vorüberlegungen ................................................................................ 35 II. Ideengeschichtliche Grundlagen der Menschenwürde ....................... 36 1. Die Menschenwürde in der griechischen und römischen Antike ................................................................. 37 2. Die Menschenwürde in der Spätantike und im Mittelalter .......... 38 3. Die Menschenwürde in der Renaissance ..................................... 39 4. Die Menschenwürde in der Aufklärung ...................................... 40 5. Verfassungsrechtliche Rezeption des Menschenwürdebegriffs ........................................................ 41 6. Ideengeschichtliche Prägung der verfassungsrechtlichen Menschenwürde? ......................................................................... 42 III. Rechtscharakter der Menschenwürdegarantie .................................... 43 IV. Inhalt der Menschenwürde ................................................................. 46 1. Schwierigkeiten bei der Konkretisierung der Menschenwürde ... 46 2. Positive Begriffsbestimmung ...................................................... 47 a) Wert- oder Mitgifttheorien ................................................... 47 aa) Christliche Variante ....................................................... 47 bb) Naturrechtlich-idealistische Variante ............................. 48 b) Leistungstheorie.................................................................... 48 c) Anerkennungs- oder Kommunikationstheorie ...................... 49 d) Zwischenergebnis ................................................................. 52 3. Negative Bestimmungsversuche.................................................. 52 a) Objektformel von Dürig ....................................................... 52 b) Präzisierungsversuche des Bundesverfassungsgerichts ........ 53 c) Präzisierungsversuche in der Literatur.................................. 55 4. Stellungnahme und Ergebnis ....................................................... 57 V. Der Schutz des nasciturus durch die Menschenwürde ....................... 59 1. Der Status des nasciturus in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.......................................................... 59 a) Urteil vom 25. Februar 1975................................................. 59 b) Urteil vom 28. Mai 1993 ...................................................... 60 c) Subjektiv- oder objektiv-rechtlicher Grundrechtsschutz des nasciturus ......................................... 61
Inhaltsverzeichnis
XI
2. Der Status des nasciturus in der Literatur .................................... 61 a) Menschenwürdeträgerschaft ab Vorliegen spezifisch menschlicher Eigenschaften.................................................. 62 aa) Erlebensfähigkeit ........................................................... 62 bb) Überlebensinteresse ....................................................... 67 cc) Ichbewusstsein, Vernunft und Selbstbestimmung.......... 70 dd) Soziale Erkennbarkeit .................................................... 72 ee) Einheit von Leib, Seele und Geist .................................. 73 ff) Zwischenergebnis........................................................... 73 b) Objektiv-rechtlicher Begründungsansatz .............................. 73 aa) Vorwirkung der Menschenwürde in Parallele zum postmortalen Würdeschutz ............................................. 74 bb) Anwartschaftsrecht auf Menschenwürde ....................... 76 cc) Nicht-reziproke Schutzpflicht aufgrund der Potentialität .............................................................. 77 dd) Zwischenergebnis........................................................... 78 c) Menschenwürdeträgerschaft des nasciturus ab einer bestimmten entwicklungsbiologisch bedeutsamen Zäsur ..... 79 aa) Vorüberlegung ............................................................... 79 bb) Menschenwürde bereits mit Befruchtung....................... 79 cc) Menschenwürde ab Nidation.......................................... 83 dd) Menschenwürde ab Individuation .................................. 84 ee) Menschenwürde ab Überlebensfähigkeit ....................... 85 ff) Menschenwürdeträgerschaft des nasciturus ab Geburt .. 87 gg) Zwischenergebnis........................................................... 88 d) Zwischenresümee ................................................................. 88 3. Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG ................................................. 88 a) Grammatikalische Auslegung ............................................... 88 b) Historische Auslegung .......................................................... 90 c) Systematische Auslegung ..................................................... 91 d) Teleologische Auslegung ...................................................... 92 e) Ergebnis ................................................................................ 94 VI. Rechtswirkungen der Menschenwürde.............................................. 94 1. Unantastbarkeit der Menschenwürde .......................................... 94 2. Stufung des pränatalen Würdeschutzes ....................................... 95 3. Ergebnis ..................................................................................... 100 C. Das Recht auf Leben ............................................................................... 101 I. Der materiale Schutzbereich ............................................................ 101 II. Der personale Schutzbereich ............................................................ 101 1. Lebensrecht ab Erlebensfähigkeit oder Überlebensinteresse ..... 101 2. Objektiv-rechtliche Begründung ............................................... 101 3. Der nasciturus als Träger des Lebensrechts ab einer bestimmten entwicklungsbiologisch bedeutsamen Zäsur .......... 102 4. Auslegung des Art. 2 Abs. 2 GG ............................................... 103 a) Grammatikalische Auslegung ............................................. 103 b) Historische Auslegung ........................................................ 104
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D. E.
F.
G.
c) Systematische Auslegung ................................................... 106 d) Teleologische Auslegung.................................................... 106 e) Ergebnis .............................................................................. 107 III. Die Schranke des Lebensrechts ........................................................ 108 1. Das Lebensrecht in der gesetzgeberischen Abwägungsentscheidung ........................................................... 108 2. Stufung des pränatalen Lebensschutzes..................................... 108 3. Ergebnis ..................................................................................... 113 Verhältnis von Menschenwürde und Lebensrecht .................................. 114 I. Entkopplung der personellen Schutzbereiche .................................. 114 II. Entkopplung der materiellen Schutzbereiche ................................... 115 Verbot behinderungsbezogener Diskriminierung gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG .............................................................................. 118 I. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG als Grundlage einer staatlichen Schutzpflicht ......................................................... 118 II. Der Gewährleistungsbereich des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG .................. 119 1. Grundrechtsträgerschaft ............................................................ 119 2. Der Begriff der Behinderung ..................................................... 120 3. Benachteiligung „wegen“ einer Behinderung ........................... 121 4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung behinderungsbezogener Ungleichbehandlung ........................... 122 5. Ergebnis ..................................................................................... 123 III. Zwischenresümee ............................................................................. 123 Kollidierende Rechtsgüter der Schwangeren .......................................... 123 I. Enge oder weite Tatbestandstheorie ................................................. 124 II. Art. 1 Abs. 1 GG .............................................................................. 126 III. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ....................................................................... 127 IV. Art. 4 Abs. 1 GG .............................................................................. 128 V. Allgemeines Persönlichkeitsrecht/ Selbstbestimmungsrecht ........... 128 VI. Art. 2 Abs. 1 GG .............................................................................. 129 VII. Ergebnis ........................................................................................... 130 Grundrechtskoordination ........................................................................ 130 I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ....................... 130 1. Urteil vom 25.2.1975................................................................. 130 2. Urteil vom 28.5.1993................................................................. 132 II. Maßstab der Schutzmaßnahmen....................................................... 133 1. Evidenzkontrolle oder Untermaßverbot .................................... 133 2. Zwischen Untermaß- und Übermaßverbot ................................ 134 III. Betrachtung der gegenüberstehenden Rechtspositionen .................. 136 1. Menschenwürde der Mutter versus Menschenwürde und Lebensrecht des nasciturus ................................................. 136 2. Selbstbestimmungsrecht/Allgemeines Persönlichkeitsrecht der Mutter versus Lebensrecht des nasciturus ........................... 137 3. Gewissensfreiheit versus Lebensrecht des nasciturus ............... 137 4. Handlungsfreiheit versus Recht auf Leben ................................ 137
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5. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Mutter versus Lebensrecht des nasciturus ............................................. 138 a) Lebenskollision ................................................................... 138 b) Körperliche Unversehrtheit der Mutter versus Lebensrecht des nasciturus ................................................. 139 c) Beeinflussung der Abwägungsentscheidung durch Art. 6 Abs. 2 GG ....................................................... 140 d) Postnatale Lebensfähigkeit als Komponente der Abwägungsentscheidung .................................................... 141 e) Unabhängigkeit des Schutzmaßes vom Alter der Schwangerschaft ................................................................. 141 H. Ergebnis zum 2. Kapitel .......................................................................... 142 3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs ......................... 143 A. Überblick über die strafrechtliche Rechtslage......................................... 143 I. Tatbestand ........................................................................................ 143 1. Tatobjekt .................................................................................... 143 2. Tathandlung ............................................................................... 144 3. Vorsätzliche Tatbegehung ......................................................... 144 II. Abgrenzung: Schwangerschaftsabbruch und Totschlag ................... 144 1. Mensch versus Leibesfrucht ...................................................... 145 2. Exkludierende Abgrenzung ....................................................... 147 3. Grundlegende Entscheidungen .................................................. 149 a) Oldenburger Fall ................................................................. 149 b) Zittauer Fall ........................................................................ 150 4. Einschränkung der Lebenserhaltungspflicht des Arztes ............ 151 III. Rechtfertigung von Spätabbrüchen bei Vorliegen der medizinisch-sozialen Indikation gemäß § 218a Abs. 2 StGB .......... 152 1. Lebensgefahr ............................................................................. 152 2. Schwerwiegende Gesundheitsgefahr ......................................... 153 3. Konkrete Gefahr ........................................................................ 156 4. Fallgruppen ................................................................................ 156 5. Subsidiarität des Schwangerschaftsabbruchs............................. 157 6. Einwilligung der Schwangeren .................................................. 158 7. Vornahme durch einen Arzt ...................................................... 158 8. Indikation nach ärztlicher Erkenntnis ........................................ 159 IV. Fehlende Rechtsprechung von Seiten der Strafgerichte ................... 159 B. Beratung .................................................................................................. 161 I. Medizinische Beratung versus psychosoziale Beratung ................... 161 1. Beratende Personen ................................................................... 161 2. Inhaltliche Schwerpunkte .......................................................... 161 3. Beratungsbeziehung................................................................... 163 4. Beratungsmethoden ................................................................... 163
XIV
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II. Beratungssituation nach Wegfall der embryopathischen Indikation und vor dem Bundestagsbeschluss vom 13. Mai 2009 .. 164 1. Ärztliche Beratungspflichten ..................................................... 164 a) Beratungssituation bei der allgemeinen Schwangerschaftsbetreuung ............................................... 164 b) Beratungssituation bei Diagnose- und Indikationsstellung.............................................................. 166 c) Beratungssituation vor Abbruch der Schwangerschaft ....... 167 2. Anspruch der Schwangeren auf psychosoziale Beratung gemäß § 2 SchKG...................................................................... 167 3. Unzureichende Beratung in der Praxis ...................................... 168 4. Die Bedeutung psychosozialer Beratung ................................... 169 III. Beratungssituation nach dem Bundestagsbeschluss vom 13. Mai 2009 ............................................................................ 170 1. Informationsmaterialien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ................................................. 170 2. Ärztliche Pflichten ..................................................................... 171 3. Mutterschaftsrichtlinien und Mutterpass ................................... 173 4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch ......... 175 A. Grundrechtskoordination des § 218a Abs. 2 StGB auf den ersten Blick ................................................................................ 175 B. Verfassungsmäßigkeit des § 218a Abs. 2 StGB auf den zweiten Blick – Schwächen der gesetzlichen Regelung ................................................... 176 I. Menschenwürde und Rechtmäßigkeit des indizierten Abbruchs...... 176 II. Menschenwürde und schmerzhafte Geburt ...................................... 179 1. Schmerzempfinden des Fötus .................................................... 179 2. Fetozid ....................................................................................... 180 III. Menschenwürde und Abtreibungsautomatismus .............................. 182 1. Embryopathisch unterlegte medizinisch-soziale Indikation ...... 182 a) Embryopathische und medizinisch-soziale Indikation im Vergleich ....................................................................... 182 b) Ergebnis .............................................................................. 186 2. Sonderfall: Abbruch wegen tödlicher Erkrankung des Fötus .... 186 3. Bestehender Abbruchsautomatismus in der Praxis.................... 187 4. Bewertung der bereits getroffenen Schutzmaßnahmen ............. 189 a) Beratungs- und Vermittlungspflicht des Arztes .................. 189 aa) Beratungspflicht versus freiwilliges Beratungsangebot......................................................... 190 bb) Beratungs- und Vermittlungspflicht des Arztes ........... 194 b) Unterstützung der Beratungssituation durch Informationsmaterialien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ................................................ 196 c) Überarbeitung der Mutterschaftsrichtlinien und des Mutterpasses .......................................................... 196 d) Bedenkzeit .......................................................................... 197
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e) Regelungsort ....................................................................... 201 f) Ergebnis .............................................................................. 203 5. Weitere Regelungsmängel ......................................................... 203 a) Bestimmtheit, Kompetenz und Kontrollierbarkeit .............. 203 b) Kind-als-Schaden-Rechtsprechung ..................................... 207 aa) Voraussetzungen für eine Ersatzpflicht des Arztes ...... 207 bb) Einwände des Bundesverfassungsgerichts ................... 208 cc) Urteil des BGH vom 18. Juni 2002 .............................. 209 dd) Erstattungsfähigkeit des Unterhalts .............................. 210 ee) Erfolgsaussichten der Klagen Rechtsprechungsübersicht ............................................ 210 ff) Änderungsbedarf? ........................................................ 215 c) Begrenzung der Pränataldiagnostik .................................... 216 d) Statistik ............................................................................... 217 aa) Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht.................. 217 bb) Was wird bisher statistisch erfasst? .............................. 218 cc) Änderungsbedarf .......................................................... 218 dd) Bedenken gegen eine Erweiterung der Statistik ........... 222 ee) Stellungnahme.............................................................. 223 e) Dokumentation des Arztes .................................................. 223 IV. Menschenwürde und gleichbleibender einfachgesetzlicher Schutz des nasciturus ....................................................................... 225 1. Strengere Voraussetzungen bei Spätabbrüchen ......................... 225 2. Wiedereinführung einer befristeten embryopathischen Indikation................................................................................... 226 3. Anwendung der §§ 211 ff. ab extrauteriner Lebensfähigkeit .... 230 4. Ergebnis ..................................................................................... 231 V. Fazit .................................................................................................. 231 C. Änderungsbedürftigkeit des § 12 Abs. 2 SchKG .................................... 231 D. Ergebnis .................................................................................................. 235 Anhang ............................................................................................................... 239 Literaturverzeichnis .......................................................................................... 279
Einführung
A. Die Problematik des Spätabbruchs im gesellschaftlichen Diskurs Späte Schwangerschaftsabbrüche, die zu einem Zeitpunkt stattfinden, zu dem die Föten bereits potentiell extrauterin lebensfähig sind, stoßen in der Gesellschaft, mehr noch als Abbrüche zu früheren Schwangerschaftszeitpunkten, auf Empörung und werden intensiv diskutiert. Zum einen werden ethisch-moralische Bedenken gegenüber der Tötung eines lebensfähigen, erlebensfähigen und möglicherweise bereits schmerzempfindlichen Kindes geltend gemacht.1 Zum anderen stützt sich die Empörung aber auch auf die Gründe, die zu einem Schwangerschaftsspätabbruch führen. Spätabbrüche werden häufig dadurch veranlasst, dass im Rahmen einer pränataldiagnostischen Untersuchung eine Fehlbildung des Kindes festgestellt wird. Nach der Regelung des § 218a Abs. 2 StGB sind diese Abbrüche gerechtfertigt, wenn die Schwangere dadurch in Suizidgefahr gerät oder schwere Depressionen bekommt. Im Gegensatz zu Schwangerschaftsabbrüchen, die durch eine physische Gesundheitsgefahr der Mutter wie Gebärmutterhalskrebs indiziert sind und bei denen neben dem Überleben der Mutter auch das Überleben des Kindes erwünscht ist, wird der Fötus bei embryopathisch motivierten Abbrüchen gezielt getötet. Stoßen medizinisch indizierte (Spät-)Abbrüche weithin auf Akzeptanz, wird bei embryopathisch motivierten Abbrüchen eine Selektion behinderter Föten befürchtet.2 Berichte aus der Praxis stützen diese Befürchtungen. Gynäkologen und Humangenetiker berichten, dass häufig allein die Schwere der Behinderung des Kindes über einen Abbruch entscheide und das zusätzliche Erfordernis der schwerwiegenden Gesundheitsgefahr für die Mutter zwar im Gesetz stehe, in der Praxis aber häufig nur unzureichend angewendet werde. Bezweifelt wird auch, dass eine Behinderung des Kindes überhaupt eine schwerwiegende Gefahr für den psychischen Gesundheitszustand oder eine Suizidgefahr auslösen könne. Mit dem Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz vom 21. August 19953, hat sich die Problematik verschärft. Nach § 218a Abs. 3 StGB i.d.F. des
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Vgl. nur Merkel, Früheuthanasie, S. 461. Vgl. nur Wewetzer, Hessisches Ärzteblatt 2009, S. 398. BGBl. I S. 1050.
A. B. Dolderer, Menschenwürde und Spätabbruch, DOI 10.1007/978-3-642-22468-3_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Einführung
Schwangeren- und Familienhilfegesetzes vom 27. Juli 19924 durften Schwangerschaftsabbrüche bei Vorliegen einer embryopathischen Indikation nur innerhalb von 22 Wochen vorgenommen werden. Durch das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz entfiel die embryopathische Indikation. Eine Vielzahl der Abbrüche, die auf der Grundlage der embryopathischen Indikation vorgenommen werden konnten, werden nun von der unbefristet geltenden medizinisch-sozialen Indikation des § 218a Abs. 2 StGB erfasst. Spätschwangerschaftsabbrüche sind für alle Beteiligten belastender als frühe Abbrüche. Für die Schwangere ist nicht nur die physische, sondern auch die psychische Belastung groß, da sie im Verlauf der Schwangerschaft eine immer enger werdende Beziehung zu ihrem Kind aufgebaut hat. Geht man von einer steigenden Schmerzempfindlichkeit des nasciturus aus, so wird ein Spätabbruch für ihn wesentlich qualvoller sein als ein früher Abbruch. Aber auch für die Ärzte, die, um ein Überleben des Kindes auszuschließen, zum Teil eine gezielte Tötung des Fötus im Mutterleib durch Fetozid vornehmen, stellt ein Spätabbruch eine große psychische Belastung dar. Daher verwundert es nicht, dass die Initiative zu einer Änderung der Rechtslage von der Ärzteschaft ausging. In vielfachen Stellungnahmen forderten die Ärzte unter anderem die Verbesserung der Beratungssituation der Schwangeren, die Einführung einer Bedenkzeit zwischen Diagnose und Abbruch, eine gesonderte statistische Erfassung embryopathisch motivierter Abbrüche, den Ausschluss des Weigerungsrechts des Arztes an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken auf Fälle einer akuten Lebensgefahr für die Schwangere zu beschränken und Spätabbrüche nur bei schwersten Erkrankungen des Fötus zuzulassen.5 Die Forderungen der Ärzte entfachten einen breit angelegten gesellschaftlichen und politischen Diskurs. Angetrieben und emotionalisiert wurde der Diskurs auch durch die Medien, die von den Fällen des Oldenburger Babys Tim im Jahr 19976 und dem Zittauer Fall7 berichteten. In beiden Fällen überlebten die Kinder ihre späte Abtreibung. Auf intensivmedizinische Maßnahmen zur Rettung wurde allerdings verzichtet. Im Zittauer Fall drückte der Chefarzt dem lebenden Kind sogar Mund und Nase zu, um das Sterben zu beschleunigen. Stellungnahmen von Verbänden, die Schwangerschaftskonfliktberatung anbieten, wie beispielsweise der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF),8 pro familia,9 donum vitae,10 die Evangelische Frauenhilfe (EFHiD) und die Frauenarbeit in
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7 8 9 10
BGBl. I S. 1398. BÄK, DÄBl. 1998, S. A-3013 ff.; DGGG, Positionspapier 2003; DGGG, Positionspapier 2004, BÄK/DGGG 2006, S. 115 ff. Einstellungsverfügung der StA Oldenburg vom 3. 5. 1999, NStZ 1999, S. 461 f.; Einstellungsverfügung der StA Oldenburg ohne Datum, versandt am 14. 5. 2003, ZfL 2003, S. 99 ff.; AG Oldenburg, Strafbefehl v. 29. 3. 2004, ZfL 2004, S. 117 f. LG Görlitz, Urteil v. 7. 6. 2002, ZfL 2003, S. 87 ff.; BGHSt, Urteil v. 20. 5. 2003, ZfL 2003, S. 83 ff. SkF, Stellungnahme 2005. pro familia, Ausschuss-Drs. 16(13)439e. donum vitae, Ausschuss-Drs. 16(13)439h.
A. Die Problematik des Spätabbruchs im gesellschaftlichen Diskurs
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Deutschland (EFD),11 sowie Stellungnahmen der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.,12 der Arbeiterwohlfahrt, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband13 und dem Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik14 wurden abgegeben. Allen gemeinsam war das Ziel, die Zahl der Spätabtreibungen zu verringern. Unterschiedlich sind jedoch die vorgeschlagenen Mittel und Wege, um das Ziel zu erreichen. Die öffentliche Diskussion führte vermehrt zu Anträgen und Debatten im Bundestag.15 Im Zentrum der neueren Diskussion standen drei Punkte: 1) Die Verbesserung von Aufklärung und Beratung der Frau, 2) die Einhaltung einer Bedenkzeit von drei Tagen zwischen Diagnose und Indikationsstellung und 3) die Verbesserung der Statistik.16 Am 13. Mai 2009 wurden vom Bundestag Änderungen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes und einige flankierende Maßnahmen beschlossen.17 Dadurch wurde die Beratungssituation der Schwangeren nach einem pathologischen Befund in der Pränataldiagnostik verbessert und eine Bedenkzeit eingeführt. Eine verbesserte statistische Erfassung erzielte demgegenüber keine Mehrheit. An der Erlaubtheit von Spätabbrüchen bei Vorliegen einer medizinischsozialen Indikation ändert die neue Rechtslage aber nichts. Der Kern der bestehenden Rechtslage wurde nicht angetastet. Der Bundestagsbeschluss stieß überwiegend auf positive Resonanz. Die Bundesärztekammer und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe begrüßten erwartungsgemäß den Bundestagsbeschluss. Wie zu erwarten war, stieß der Beschluss auch bei den Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche auf positive Resonanz. Beide hatten sich im Vorfeld bereits für eine Verbesserung der Beratungssituation und eine Mindestbedenkzeit eingesetzt.18 11 12 13 14 15
16 17 18
EFD/EFHiD, Positionspapier 2007. Lebenshilfe, Ausschuss-Drs. 16(13)439g. AWO/Paritätischer Wohlfahrtsverband/pro familia, Stellungnahme 2002. Netzwerk gegen Selektion durch PND 2004, 2006. Beispielhaft angeführt seien die folgenden Anträge: CDU/CSU, „Vermeidung von Spätabtreibungen“, BT-Drs. 15/3948; SPD/Bündnis 90/Die Grünen, „Psychosoziale Beratungsangebote bei Schwangerschaftsabbrüchen nach medizinischer Indikation ausbauen“, BT-Drs. 15/4148; Gesetzentwurf zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes ausgehend von Johannes Singhammer in: BT-Drs. 16/11106; Gesetzentwurf ausgehend von Kerstin Griese in: BT-Drs. 16/11347; Gesetzentwurf ausgehend von Ina Lenke in: BT-Drs. 16/11330; Antrag ausgehend von Christel Humme in: BT-Drs. 16/11342. Vgl. den gruppenübergreifenden Gesetzentwurf im Anhang 1. Vgl. 3. Kapitel B III. Der vormalige Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken ZdK, Prof. Dr. Hans Joachim Meyer hatte zuvor die Abgeordneten aufgefordert, den Gruppenantrag der CDU/CSU und SPD zu unterstützen und begrüßt nun den Bundestagsbeschluss. Vgl. Meyer, http://www.katholisch.de/25759.html; unterstützt wurde dieser Antrag auch von Seiten des Diözesanrates der Katholiken der Erzdiözese München und Frei-
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Einführung
Allerdings betonte der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Zollitsch, dass die Änderungen nur einen kleinen Fortschritt darstellten. Die katholische Kirche stünde Abtreibungen generell ablehnend gegenüber, so dass die Gesetzesänderung nicht die von der Kirche gewünschte Lösung beinhalte. Spätabtreibungen seien zudem eine besonders brutale Form der Tötung.19 Nicht ausreichend erscheint der Bundestagsbeschluss auch Lebensrechtsgruppen wie der Aktion Lebensrecht für Alle (ALFA).20 Demgegenüber greift der Bundestagsbeschluss nach Auffassung der Linksfraktion zu weit in das Selbstbestimmungsrecht der Frauen ein. Die Grundrechte der Frauen auf Unantastbarkeit ihrer Würde, auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit und auf Gewissensfreiheit würden durch das repressive Abtreibungsrecht ohnehin schon stark eingeschränkt, so dass weitere Verschärfungen des Abtreibungsrechts abzulehnen seien.21 Diese Aussagen legen die Vermutung nahe, dass die Diskussionen im Bundestag durch die Neuerungen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes lediglich ein vorläufiges Ende gefunden haben.
B. Definition: Spätabbruch Der Begriff des Schwangerschaftsspätabbruchs wird nicht einheitlich verwendet. Zum Teil werden als Spätabbrüche bereits alle Schwangerschaftsabbrüche bezeichnet, die nach der 12. Schwangerschaftswoche post conceptionem (p.c.) vorgenommen werden. Anknüpfungspunkt für diese zeitliche Differenzierung ist die Regelung des § 218a StGB. Gemäß § 218a Abs. 1 StGB ist ein Schwangerschaftsabbruch tatbestandslos, wenn er innerhalb der ersten 12 Wochen auf Verlangen der Schwangeren von einem Arzt durchgeführt wird und die Schwangere dem Arzt durch eine Bescheinigung nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff von einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle hat beraten lassen. Innerhalb der ersten 12 Schwangerschaftswochen erklärt Abs. 3 darüber hinaus einen Abbruch bei Vorliegen einer kriminologischen Indikation für gerechtfertigt. Schwangerschaftsabbrüche nach der 12. Schwangerschaftswoche
19
20 21
sing und der EKD. Vgl. Diözesanrat der Katholiken, Faltblatt 2009; Reimers (EKD), Votum 2008. Zollitsch, http://www.katholisch.de/21767.html; bereits in der Enzyklika Evangelium vitae mahnt Papst Johannes Paul II zu besonderer Aufmerksamkeit hinsichtlich der Pränatalen Diagnostik. Solange sie eine frühzeitige Therapie zum Ziel habe und keine Gefahren für das Kind und die Mutter berge, sei sie sittlich erlaubt. Werde sie dahingegen vorgenommen, um selektive Abtreibungen zu ermöglichen, so sei sie als höchst verwerflich einzustufen. Vgl. Johannes Paul II, Enzyklika Evangelium vitae 1995, S. 78. Darüber hinaus wird es befürwortet, Gesetzesvorschläge zu unterstützen, die zwar kein vollständiges Verbot von Abtreibungen vorsehen, aber zumindest den Schaden begrenzen. Vgl. Johannes Paul II, Enzyklika Evangelium vitae 1995, S. 91. ALfA, Stellungnahme 2009. BT-Drs. 16/11377, S. 5.
C. Angabe der Schwangerschaftsdauer
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sind nur bei Vorliegen einer medizinisch-sozialen Indikation gemäß § 218a Abs. 2 StGB gerechtfertigt. Die hier zu behandelnde Problematik des Spätabbruchs knüpft nicht an die zeitliche Differenzierung des § 218a StGB an. Unter einem Spätabbruch ist vielmehr ein Schwangerschaftsabbruch zu verstehen, der zu einem Zeitpunkt stattfindet, zu dem der nasciturus bereits potentiell extrauterin lebensfähig ist. Als frühester Zeitpunkt für die extrauterine Lebensfähigkeit wird die 20. Schwangerschaftswoche post conceptionem (p.c.) angeführt. Nach der gemeinsamen Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin und der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin „Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes“ nimmt nach 20 vollendeten Schwangerschaftswochen p.c. bei guter neonatologischer Versorgung die Rate überlebensfähiger Neugeborener kontinuierlich zu.22 Von der 20.-21. Schwangerschaftswoche p.c. steigt die Überlebenschance behandelter Frühgeborener auf bis zu 50 % an, wobei 20 bis 30 % der überlebenden Kinder an schwerwiegenden Gesundheitsstörungen leiden. Frühgeburten ab der 22. Schwangerschaftswoche p.c. überleben bei Behandlung in 60 % der Fälle.23
C. Angabe der Schwangerschaftsdauer Der Gesetzgeber stellt bei den Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4 S. 1 StGB bei der Altersberechnung der Schwangerschaft auf den Zeitpunkt der Empfängnis ab (Altersberechnung post conceptionem, p.c.). Der Arzt hingegen knüpft bei der Berechnung der Schwangerschaftsdauer an den ersten Tag der letzten Regelblutung an (Altersberechnung post menstruationem, p.m.). Der Eisprung findet meist in der Mitte von zwei Zyklen, ungefähr zwischen dem 10. und 18. Zyklustag statt. Regelmäßig besteht daher zwischen den beiden Berechnungsmethoden eine Differenz von zwei Wochen. Die Altersangabe p.m. ist um ca. zwei Wochen höher als die Altersberechnung p.c. Ein Schwangerschaftsalter von 14 Wochen p.m. bedeutet somit, dass 12 Wochen seit der Empfängnis vergangen sind.24 Das Schwangerschaftsalter wird im Folgenden, sofern nicht anders gekennzeichnet, entsprechend der Zählweise der §§ 218 ff. StGB in Schwangerschaftswochen p.c. angegeben.
22
23 24
AMWF-Leitlinien Register Nr. 024/019, S. 6; im Jahr 2004 ging die DGGG in ihrem Positionspapier davon aus, dass ein Überleben des Kindes erst aber der 22-24 Woche p.c. und einem Geburtsgewicht von 500 g möglich sei. Vgl. DGGG, Positionspapier 2004, S. 9. AMWF-Leitlinien Register Nr. 024/019, S. 6. Kröger, in: LK-StGB, Vor §§ 218 ff. Rn. 46.
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Einführung
D. Häufigkeit Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes erfolgten im Jahr 2009 insgesamt 110 694 Schwangerschaftsabbrüche. 3200 Schwangerschaftsabbrüche wurden auf der Grundlage der medizinisch-sozialen Indikation des § 218a Abs. 2 StGB vorgenommen, was nur 2,9 % aller Schwangerschaftsabbrüche entspricht. Zwischen der 20. und 23. Schwangerschaftswoche p.c. wurden 451, nach der 22. Schwangerschaftswoche p.c. 237 Abbrüche vorgenommen.25 Zum Teil wird aber von einer erheblichen Dunkelziffer ausgegangen, die daraus resultieren soll, dass die Ärzte ihrer Meldepflicht aus Angst vor einem Ermittlungsverfahren und wegen des Widerspruchs zu ihrem Berufsethos nicht nachkommen.26 Wernstedt stützt ihre Spekulation auf die Anzahl der Anfragen nach einem späten Schwangerschaftsabbruch am Universitätsklinikum Erlangen. Im Zeitraum von April 2003 bis Oktober 2004 wurden 17 Anfragen nach Spätabbrüchen gestellt. Geht man von 12 Anfragen pro Jahr aus und veranschlagt diese Zahl für alle 35 Universitätskliniken mit Kliniken für Frauenheilkunde, so kommt man im Jahr auf etwa 420 Fälle, bei denen nicht immer eine Indikation gestellt wird. Krankenhäuser der Regel- und Grundversorgung sowie niedergelassene Gynäkologen bleiben bei dieser Zahl noch unberücksichtigt. Für realistisch hält sie daher die Vornahme von 1300 Spätabbrüchen pro Jahr.27
E. Zielsetzung und Vorgehensweise Die geltende Rechtslage ist von einem gesellschaftlichen Konsens weit entfernt. Ziel dieser Arbeit ist es zu überprüfen, ob der Gesetzgeber durch die geltende Rechtslage und Rechtswirklichkeit einer eventuell bestehenden verfassungsrechtlichen Schutzpflicht gegenüber dem nasciturus in ausreichendem Maße nachkommt, ob weitergehende Schutzmaßnahmen getroffen werden müssen, wie das beispielsweise die Kirchen oder die ALfA fordern, oder ob der Staat möglicherweise durch die geltende Regelung zu stark in die Grundrechte der Schwangeren eingreift, wie es beispielsweise die Linksfraktion vertritt. Im ersten Kapitel der Arbeit sollen medizinische Grundlagen erarbeitet werden, die für das Verständnis der weiteren Arbeit unerlässlich sind. Zunächst wird die biologische Entwicklung des nasciturus und dessen Schmerzempfindlichkeit erörtert. Nähere Betrachtung findet auch die Pränatale Diagnostik, da sie häufig die Ursache für einen Spätschwangerschaftsabbruch bildet. Schließlich werden die Methoden des späten Schwangerschaftsabbruchs denen des frühen Abbruchs gegenübergestellt.
25 26 27
Statistisches Bundesamt, Schwangerschaftsabbrüche 2009. Tröndle, FS Müller-Dietz, S. 922; Eberbach verweist darauf, dass die Zahlenangaben höchst widersprüchlich sind. Vgl. Eberbach, in: Römelt, Spätabbrüche, S. 15. Wernstedt, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 178.
E. Zielsetzung und Vorgehensweise
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Im zweiten Kapitel werden zunächst die verfassungsrechtlichen Maßstäbe herausgearbeitet, anhand derer zu überprüfen ist, ob der Staat seiner eventuell gegenüber dem ungeborenen Leben bestehenden Schutzpflicht in ausreichendem Maße nachkommt. Im Zentrum der Betrachtung stehen die Menschenwürde und das Lebensrecht des nasciturus. Zunächst ist die Frage zu klären, ob und wie der nasciturus durch diese verfassungsrechtlichen Normen geschützt wird. Insbesondere ist zu erörtern, ob mit fortschreitender Entwicklung die Schutzbedürftigkeit des nasciturus zunimmt, so dass in der Spätphase der Schwangerschaft erhöhte Anforderungen an einen Schwangerschaftsabbruch zu stellen wären. Da jegliche Einschränkung der Abbruchsmöglichkeiten in die Grundrechte der Schwangeren eingreift, müssen die kollidierenden Grundrechte der Schwangeren den Rechten des nasciturus gegenübergestellt und im Rahmen einer praktischen Konkordanz zum Ausgleich gebracht werden. Im dritten Kapitel wird die einfachgesetzliche Ebene in den Blick genommen. Nach einem kurzen Überblick über den Tatbestand des § 218 StGB wird zunächst eine Abgrenzung zu den Tötungsdelikten vorgenommen. Im Zentrum dieses Kapitels steht anschließend die Erörterung der Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 StGB. Ausführlich dargestellt werden soll in diesem Kapitel auch die Beratungssituation der Schwangeren, die durch verschiedene Richtlinien und nunmehr auch durch das Gendiagnostik- und Schwangerschaftskonfliktgesetz einfachgesetzlich geregelt ist. Im vierten Kapitel wird die einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft. Die vom Bundestag am 13. Mai 2009 beschlossenen Änderungen werden anhand der im zweiten Kapitel erarbeiteten verfassungsrechtlichen Maßstäbe gewürdigt. Weitere Regelungslücken und -alternativen werden erörtert.
1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
Im ersten Kapitel sollen zunächst einige medizinische Grundlagen geklärt werden, die im hier zu behandelnden Kontext relevant sind. Zunächst wird die biologische Entwicklung des nasciturus sowie dessen Schmerzempfindlichkeit in den Blick genommen. Anschließend wird die pränatale Diagnostik eingehend betrachtet, da Spätabbrüche häufig durch einen pathologischen Befund des Fötus in der Pränataldiagnostik veranlasst werden. Schließlich werden die Methoden des späten Schwangerschaftsabbruchs mit den Abbruchsmethoden in einem frühen Stadium der Schwangerschaft verglichen. Die Kenntnis dieser medizinischen Grundlagen ist unabdingbar für eine adäquate Beurteilung des geltenden Rechts.
A. Biologische Entwicklung des nasciturus und Geburt Ernst Haeckel (1834-1919) entwickelte das Biogenetische Grundgesetz, demzufolge der Mensch während seiner Entwicklung im Mutterleib (Ontogenese) die Entwicklung der Stammesgeschichte (Phylogenese) durchlaufe.1 Zunächst entwickle sich aus einem Zellklumpen quasi ein Fisch, dann ein Lurch. Erst im Anschluss daran werde der nasciturus einem Säugetier ähnlich und verwandle sich schließlich in einen Menschen. Haeckels Biogenetisches Grundgesetz hat das Bewusstsein der Menschen nachhaltig geprägt und wird noch heute von Medizinern zitiert und im Biologieunterricht angeführt. Der australische Philosoph Peter Singer, auf den später noch zurückzukommen ist,2 knüpft immer noch an Haeckels Thesen an. Haeckels Auffassung erwies sich allerdings als nicht haltbar. Die Entwicklung des Kindes während der Schwangerschaft wird heute in drei zeitliche Phasen eingeteilt. Die ersten zwei Schwangerschaftswochen bilden die Phase der Frühentwicklung. Von der Einnistung in den Uterus (Nidation) bis zur neunten Schwangerschaftswoche dauert die Phase der Embryonalzeit. Daran schließt sich die Fetalperiode an, die bis zum Ende der Schwangerschaft andauert. Daran anknüpfend spricht man in der medizinischen Terminologie ab der neunten Schwangerschaftswoche nicht mehr vom Embryo, sondern vom Fötus.
1 2
Vgl. dazu die Ausführungen von: Schlingensiepen-Brysch, ZRP 1992, S. 418. 2. Kapitel B V 2 a) bb).
A. B. Dolderer, Menschenwürde und Spätabbruch, DOI 10.1007/978-3-642-22468-3_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
Nach juristischer Terminologie entsteht der Embryo mit Befruchtung (Fertilisation). Die Befruchtung ist kein punktförmiges Ereignis, sondern dauert etwa 24 Stunden. Sie beginnt mit dem Eindringen der Samenzelle in die Eizelle und endet mit der Vereinigung der haploiden Chromosomensätze von Ei- und Samenzelle zum diploiden Chromosomensatz des nasciturus. Bereits mit Befruchtung ist die genetische Singularität des Menschen festgelegt.3 Die Zygote beginnt sich zu teilen, während sie sich in Richtung Uterus bewegt. Bis zum Acht-Zell-Stadium verfügen die Zellen über Totipotenz. Löste man eine der Zellen aus dem Zellverband heraus, so könnte sie sich zu einem vollständigen Embryo entwickeln. Spätestens zwischen dem Acht- und dem 16-Zell-Stadium geht diese Totipotenz aber verloren. Die Zellen können sich nur noch zu unterschiedlichen Zelltypen entwickeln. Man bezeichnet sie daher als pluripotent.4 Drei bis vier Tage später gelangt die mittlerweile vielzellige Kugel, genannt Morula,5 in den Uterus. Die Morula hält sich bis zum sechsten Tag als freie Blastozyste in der Gebärmutterhöhle auf. Die Blastozyste heftet sich am fünften/sechsten Tag nach dem Eisprung an die mütterliche Uterusschleimhaut an. Die freie Blastozyste kollabiert und nistet sich im Bindegewebe ein. Nach 10-14 Tagen ist der Embryoblast eingenistet (Nidation).6 Die Zellen ordnen sich und die Differenzierung von Körperstrukturen beginnt.7 Zunächst gliedert sich der Embryo in zwei epitheliale Zellschichten, den rückwärts liegenden Epiblast und den bauchwärts liegenden Hypoblast. Gegen Ende der zweiten Entwicklungswoche entsteht der so genannte Primitivstreifen. Durch ihn werden zum einen die Achsen des Embryos festgelegt, zum anderen entstehen aus dem Epiblast die drei Keimblätter das Ektoderm, Endoderm und Mesoderm. Mit Ausbildung des Primitivstreifens geht die Fähigkeit zur Mehrlingsbildung verloren (Individuation).8 Nach drei Wochen bildet sich das Blutgefäßsystem. Gegen Ende der dritten Schwangerschaftswoche beginnt der Herzschlauch des Fötus zu pulsieren. Parallel dazu beginnt die Entstehung der Corda dorsalis, um die sich später die Wirbelsäule entwickelt. Aus einer Verdickung des Ektoderms bilden sich Neuralrohr und Neuralleiste, aus denen später die Hirnnerven und Teile des übrigen Nervensystems hervorgehen. In der vierten Entwicklungswoche schließt sich das Neuralrohr am kranialen und am kaudalen Ende des Embryonalkörpers. Das Nervensystem dominiert nun das Wachstum des Embryos.9 Das Gehirn wächst rasch. Aus den drei Keimblättern der Keimscheibe entwickeln sich während der Embryonalperiode alle großen Organsysteme. Nach acht Wochen, am Ende der Embryonalphase, 3 4 5 6 7 8 9
Ausführlich dazu: Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 70 ff. Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 77. Die Zygote sieht in diesem Stadium aus wie eine Maulbeere und wird daher Morula genannt. Vgl. Sadler, Medizinische Embryologie, S. 56. Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 79. Ausführlich dazu: Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 86 ff. Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 92. Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 94.
A. Biologische Entwicklung des nasciturus und Geburt
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sind alle wichtigen Organsysteme angelegt und der Körperumriss hat sich ausgebildet.10 Während die Embryonalphase von Differenzierungen geprägt ist, stehen in der nun folgenden Fetalperiode Wachstum und Reifung im Mittelpunkt.11 Im dritten, vierten und fünften Monat wächst der Fötus rasch in die Länge (ca. 5 cm pro Monat).12 Ab der 15. Schwangerschaftswoche werden die Kindsbewegungen von der Mutter in der Regel deutlich wahrgenommen. Während der letzten zweieinhalb Monate steht die Gewichtszunahme im Vordergrund (ca. 700 g pro Monat).13 Mit der 28. Schwangerschaftswoche sind in der Lunge ausreichend Alveolen und Kapillaren vorhanden, die dem Fötus den Gasaustausch und damit die Sauerstoffaufnahme sowie extrauterines Leben ermöglichen.14 Bei einer intensivmedizinischen Betreuung verschiebt sich der Zeitpunkt der extrauterinen Lebensfähigkeit weiter nach vorne. Als frühester Zeitpunkt für die Lebensfähigkeit wird die 20. Schwangerschaftswoche post conceptionem (p.c.) angeführt. So nimmt gemäß der gemeinsamen Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin und der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin „Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes“ nach 20 vollendeten Schwangerschaftswochen p.c. bei guter neonatologischer Versorgung die Rate überlebensfähiger Neugeborener kontinuierlich zu.15 Die reguläre Schwangerschaft dauert durchschnittlich 38 Schwangerschaftswochen.16 Der Mensch wird schließlich hilfsbedürftig und unfertig geboren und ist auf besondere Fürsorge angewiesen. Im Vergleich zu anderen Säugetieren kommt der Mensch als „physiologische Frühgeburt“ zur Welt. Viele Fähigkeiten, die sich bei Säugetieren während der Schwangerschaft entwickeln, reifen beim Menschen erst im ersten Lebensjahr.17 Der Geburtsvorgang wird in drei Abschnitte eingeteilt: Die Eröffnungsperiode, die Austreibungsperiode und die Nachgeburtsperiode. Die Eröffnungsperiode beginnt mit den ersten Geburtswehen. Unter diesen Wehen öffnet sich der Muttermund vollständig. In der Austreibungsperiode wird das Kind unter Presswehen geboren. In der Nachgeburtsperiode werden schließlich die Plazenta und die Eihäute ausgestoßen.18
10 11 12 13 14 15 16 17 18
Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 232; Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 94. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 234; Sadler, Medizinische Embryologie, S. 121. Sadler, Medizinische Embryologie, S. 121, 123. Sadler, Medizinische Embryologie, S. 121, 125. Sadler, Medizinische Embryologie, S. 269 f. AMWF-Leitlinien Register Nr. 024/019, S. 6. Sadler, Medizinische Embryologie, S. 121. Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 110. Hanke, Spätabtreibungen, S. 14 f.
12
1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
B. Schmerzempfinden und Leidensfähigkeit des Fötus Die Frage ob, ab wann und in welcher Weise der nasciturus Schmerzen empfinden kann, ist nicht vollständig geklärt und wird kontrovers beurteilt.19 Die Entwicklung des Nervensystems liefert aber bedeutsame Hinweise. Die Schmerzempfindung erfolgt, indem mechanische, thermische und chemische Reize von den freien Nervenendigungen in ein elektrisches Signal übersetzt und an das Rückenmark weitergeleitet werden. Über eine Synapse wird die Information an das Gehirn weitergegeben. Die Schmerzinformationen werden im Thalamus gebündelt und verarbeitet. Anschließend werden diese Informationen an die Hirnrinde weitergeleitet und werden uns dadurch „bewusst“. Die Informationen werden schließlich im Kortex weiterverarbeitet.20 Zwei Schmerzkomponenten sind daher zu unterscheiden. Die Nozizeption, bei der freie Nervenendigungen durch Reize aktiviert werden und die objektiv anhand einer spezifischen Nervenaktivität erfasst werden kann, und der Schmerz als subjektiv empfundene Komponente. Allerdings kann auch nur eine der beiden Komponenten gegeben sein, wie zum Beispiel bei Bewusstlosen. Hier findet Nozizeption statt, das Signal wird aber geblockt. Umgekehrt findet bei Patienten mit Phantomschmerzen keine Nozizeption statt, wobei der Patient dennoch Schmerz empfindet.21 Geht man mit der International Association for the study of pain von der Definition Schmerz als ein subjektives Erlebnis aus, so sind thalamokortikale Verbindungen nötig, um Schmerzen bewusst wahrzunehmen. Die Entwicklung des menschlichen Gehirns und des Rückenmarks beginnt bereits in der dritten Schwangerschaftswoche p.c.22 In der siebten Gestationswoche entwickeln sich die freien Nervenendigungen. Zwischen der 7. und der 14. Gestationswoche zeigen sich die ersten auf Rückenmarksebene verschalteten Schutzreflexe23, die allerdings noch keinen Anschluss an das höhere Zentrale Nervensystem haben. Ab der 18., spätestens aber ab der 23. Schwangerschaftswoche zeigt sich eine Stressreaktion durch Ausschüttung von beispielsweise Cortisol oder ßEndorphinen.24 Dies spricht dafür, dass die Schmerzinformation den Hirnstamm und den Thalamus erreicht hat. Damit der Schmerz aber ins Bewusstsein gelangt, müssen die Informationen über thalamokortikale Fasern in den Kortex gelangen, wo sie verarbeitet werden sollen. Die Hirnrinde des Erwachsenen besteht aus sechs Schichten, die sich beim Fötus bis zur 30. Woche entwickeln. Zu diesem Zeitpunkt finden die Fasern des Thalamus Anschluss an den Kortex. Allerdings beweist diese Entwicklung des Nervensystems nicht, dass eine Schmerzwahrnehmung erst ab der 30. Schwangerschaftswoche möglich ist. 19 20 21 22 23 24
Als frühester Zeitpunkt für die Schmerzempfindlichkeit des Nasciturus wird die 8. Schwangerschaftswoche angegeben. Vgl. Hanke, Spätabtreibungen, S. 28. Brusseau, International Anesthesiology Clinics 2008, p.12. Brusseau, International Anesthesiology Clinics 2008, p.12. Brusseau, International Anesthesiology Clinics 2008, p. 14. Brusseau, International Anesthesiology Clinics 2008, p. 14. Brusseau, International Anesthesiology Clinics 2008, p. 12.
C. Die Pränatale Diagnostik
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Bei hydranzephalischen Kindern, die ohne oder nur mit minimaler Hirnrinde geboren werden, konnte man anhand der Mimik feststellen, dass eine Schmerzempfindung wie bei gesunden Kindern stattfindet.25 Dies spricht für das Bestehen eines rudimentären Bewusstseins, das durch subkortikale Strukturen getragen wird und das es möglich erscheinen lässt, dass ein Fötus in einem frühen Stadium eine Form der Schmerzempfindung besitzt.26 Da der Thalamus etwa um die 20. Woche seine Funktion aufnimmt, ist eine Schmerzwahrnehmung ab der 20. Woche wahrscheinlich.27 Die Durchführung von Messungen am intrauterinen Fötus ist jedoch sehr schwierig, so dass die Frage nach der Schmerzempfindlichkeit des Fötus nicht mit Sicherheit beantwortet werden kann.
C. Die Pränatale Diagnostik Spätschwangerschaftsabbrüche werden häufig dadurch veranlasst, dass bei einer pränatalen Diagnostik eine Erkrankung des nasciturus festgestellt wird. Liegen die Voraussetzungen der medizinisch-sozialen Indikation gemäß § 218a Abs. 2 StGB vor, so kann ein Schwangerschaftsabbruch zeitlich unbegrenzt vorgenommen werden. Die pränatale Diagnostik soll daher im Folgenden genau betrachtet werden. Zur pränatalen Diagnostik zählen alle Untersuchungen, die im Rahmen der Schwangerenvorsorge durchgeführt werden und im Mutterpass aufgeführt sind. Nicht alle pränatalen Diagnosemöglichkeiten sind fester Bestandteil der Schwangerenvorsorge. Insbesondere die invasiven Verfahren, die den Fötus betreffen und zugleich einen nicht unerheblichen Eingriff in den Körper der Schwangeren erfordern, werden vorwiegend nur bei Risikoschwangerschaften angewandt. Die Mutterschaftsrichtlinien enthalten in Abschnitt B einen umfangreichen Katalog möglicher Indikationen für das Vorliegen einer Risikoschwangerschaft, zu denen auch ein erhöhtes Alter der Schwangeren (bei Erstgebärenden über 35 Jahre) und Erkrankungen anderer Familienmitglieder gehören.
I. Pränataldiagnostische Verfahren Die verschiedenen Diagnosemöglichkeiten sollen im Folgenden eingehend dargestellt werden. Dabei wird auch berücksichtigt, zu welchem Zeitpunkt man die jeweiligen Diagnosemöglichkeiten durchführen kann. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die zeitlichen Angaben teils um 1-2 Wochen voneinander abweichen. Die hier dargestellte zeitliche Einschätzung kann daher nur eine ungefähre Vorstellung vermitteln. 25 26 27
Brusseau, International Anesthesiology Clinics 2008, p. 17. Brusseau, International Anesthesiology Clinics 2008, p. 20 f. Rager hält eine Schmerzempfindung ab der 24. Woche für wahrscheinlich. Vgl. Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 109.
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1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
1. Nicht-invasive Methoden Zunächst werden die nicht-invasiven Diagnoseverfahren eingehend betrachtet. Dazu zählen die Ultraschalluntersuchung, Alpha-Fetoprotein- und Triple-Test sowie die Analyse von fötalen Zellen im mütterlichen Blut. a) Ultraschalluntersuchung aa) Ungezielte Ultraschalluntersuchung Zu den nicht-invasiven Diagnoseverfahren gehört die Ultraschalluntersuchung. Nach Abschnitt A Ziff. 5 der Mutterschaftsrichtlinien28 sind während der gesamten Schwangerschaft drei Ultraschalluntersuchungen vorgesehen. Das erste Screening findet vom Beginn der 9. bis zum Ende der 12. Schwangerschaftswoche p.m. statt. In dieser frühen Sonographie wird zunächst die Leibesfrucht lokalisiert und ihre Größenentwicklung mittels der Messung der ScheitelSteiß-Länge kontrolliert. Darüber hinaus kann man das Alter der Schwangerschaft bestimmen und den Entbindungstermin berechnen, eine Mehrlingsschwangerschaft entdecken und eine Eileiter- oder Bauchhöhlenschwangerschaft ausschließen. Grobe Auffälligkeiten des Embryos können bereits in dieser zeitlichen Phase aufgedeckt werden. Von einem erfahrenen Arzt können bereits in der frühen Schwangerschaft fetale Strukturen wie Herz, Magen, Nieren, Harnblase, Extremitäten, Kopf mit Gesicht, Gehirn und Wirbelsäule gut gesehen und Fehlbildungen festgestellt werden. Die Nackenfaltendicke liefert Hinweise für das Vorliegen einer Chromosomenstörung (z.B. Trisomie 21) des nasciturus.29 Die zweite Sonographie wird von Beginn der 19. bis zum Ende der 22. Schwangerschaftswoche p.m. durchgeführt. Dabei werden die Plazentalage und -struktur, die Fruchtwassermenge sowie die Kindslage bestimmt. Das Wachstum und die Herztätigkeit des Ungeborenen werden kontrolliert, Kopf, Abdomen und Femur gemessen. Darüber hinaus können fetale Fehlbildungen erkannt und der Geburtstermin überprüft werden.30 Die späte Sonographie, die von Beginn der 29. bis zum Ende der 32. Schwangerschaftswoche p.m. vorgenommen wird, dient der Überprüfung des regelrechten Wachstums und der Lage des Fötus. Plazenta, Gebärmutter und Fruchtwassermenge werden gemessen. Nur selten werden dabei Erkrankungen des Fötus entdeckt, die nicht bereits zuvor festgestellt wurden.31 28
29
30 31
Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die ärztliche Betreuung während der Schwangerschaft und nach der Entbindung („MutterschaftsRichtlinien“) i.d.F. vom 10. Dezember 1985, zuletzt geändert am 6. August 2009, veröffentlicht im Bundesanzeiger 2009, Nr. 174, S. 3921 und am 19. November 2009 in Kraft getreten. Ausführlich zu den Möglichkeiten des 1. Screenings: BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 54 f.; Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 39; S. 73; Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 287. Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 40; Goerke/Valet, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 73; Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 288. Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 40; Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 290.
C. Die Pränatale Diagnostik
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Visuell erfassbar sind beim Ultraschall beispielsweise Gestaltdefekte, Bauchwandbrüche, Zwerchfellhernien, Verlagerungen der Herzachse, Lungendysplasie, Agnesie der Nieren, Zystennieren, Phokomelien und Obstruktionen im MagenDarmtrakt.32 bb) Gezielte Ultraschalluntersuchung Zu differenzieren ist zwischen der ungezielten Ultraschalldiagnostik und der gezielten Fehlbildungsdiagnostik.33 Kommt bei den Basisuntersuchungen, die Bestandteil der Mutterschaftsvorsorge sind, der Verdacht auf, dass der Fötus missgebildet ist, so wird die Schwangere an einen höhergradig qualifizierten Diagnostiker (DEGUM-Stufe II) und bedarfsweise an ein Ultraschallzentrum (DEGUMStufe III) überwiesen.34 Im Anschluss an die erste von den Mutterschaftsrichtlinien empfohlene Ultraschalluntersuchung wird häufig ein so genanntes Ersttrimesterscreening von Pränataldiagnostikern (DEGUM-Stufe II und III) durchgeführt. Dazu wird die Nackenfalte des nasciturus gemessen und das Blut der Schwangeren auf bestimmte Hormon- und Eiweißwerte untersucht. Aus Protein- und Hormonbefunden in Kombination mit dem Alter der Mutter und dem Nachweis eines Nackenödems beim Fötus durch Ultrasonographie kann das Risiko für ein DownSyndrom und andere Chromosomenabweichungen abgeschätzt werden.35 cc) Doppler-Ultraschall Ein Spezialultraschall über die Bauchdecke ist der so genannte Doppler-Ultraschall, mit dem die Durchblutung der Nabelschnur und wichtiger Blutgefäße des nasciturus gemessen werden kann. Dadurch kann festgestellt werden, ob das Kind optimal mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt wird und das Herz sich ordnungsgemäß entwickelt. Da beim Doppler-Ultraschall eine 10-fach höhere Energie eingesetzt wird als beim normalen Ultraschall, sollte er nicht in der frühen Schwangerschaft angewendet werden.36 dd) Diagnostische Sicherheit Viele Fehlbildungen sind im Ultraschallschnittbild schwierig zu erkennen. Die Erscheinungsformen gleicher Anomalien sind aufgrund unterschiedlicher Ausprägungen und Schweregrade sehr variabel. Eine adipöse Bauchdecke der Mutter, geringe oder stark vermehrte Fruchtwassermengen oder eine ungünstige Lage des Fötus können die Diagnose zusätzlich erschweren.37 Die diagnostische Sicherheit 32 33 34
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Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 66. Schmidt-Recla, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 85. Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 398; Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 39, 40, 52; Hillmer, Patientenstatus und Rechtsstatus von Frau und Fötus, S. 37. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 56; Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 39; Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 66. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 54 f. Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 397 ff.
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1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
beträgt bei einem Geübten dennoch bis zu 90 %.38 Häufig reichen allerdings Ultraschallergebnisse allein nicht aus. Die Auffälligkeiten führen zu invasiven Untersuchungen wie der Amniozentese. ee) Ultraschall als Routineuntersuchung Die Ultraschalluntersuchung wird mittlerweile als Routineuntersuchung in der ärztlichen Schwangerschaftsbegleitung angesehen.39 Eine repräsentative Befragung Schwangerer zum Thema Pränataldiagnostik der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2006 ergab, dass fast alle Frauen die drei Ultraschalluntersuchungen durchführen lassen. 70,4 % der Schwangeren nahmen sogar mehr als drei Ultraschalluntersuchungen in Anspruch, um Fehlbildungen des Kindes ausschließen zu können.40 In der Praxis werden daher wesentlich mehr Ultraschalluntersuchungen als die in den Mutterschaftsrichtlinien vorgesehenen durchgeführt.41 Durch die Sichtbarmachung des Kindes entwickeln die schwangeren Frauen und auch die Väter zum Teil eine starke Bindung zu ihrem Kind.42 Andererseits haben schwangere Frauen aber teilweise auch das Gefühl, durch die Ultraschalluntersuchung etwas Intimes preiszugeben, oder befürchten, dass die Sonographie für den Fötus schädlich sein könnte.43 b) Alpha-Fetoprotein-Test Der Alpha-Fetoprotein-Test wird im Zeitraum der 16.-18. Schwangerschaftswoche p.m. vorgenommen. Das Ergebnis liegt nach wenigen Tagen vor.44 Das AlphaFetoprotein (AFP) ist ein Glykoprotein, das im Dottersack und in der Leber des Fötus produziert wird. Mit dem fetalen Urin gelangt es zunächst ins Fruchtwasser und über die Plazenta anschließend ins mütterliche Blut. Im Vergleich zur Nichtschwangeren ist die Konzentration des Proteins bei der Schwangeren um ein Vielfaches erhöht. Der AFP-Spiegel steigt bis zur 30. Schwangerschaftswoche p.m. im mütterlichen Serum an, im Fruchtwasser fällt er im zweiten Trimenon ab. Ist die AFP-Konzentration erhöht, so kann dies beispielsweise auf Neuralrohrdefekte (Spina bifida, Anenzephalie), Bauchwanddefekte, Darmobstruktionen, Nierenanomalien, Steißbeinteratom, Chromosomenaberration oder Hydrops hindeuten.45 Bei einer erhöhten AFP-Konzentration kann keine sichere Diagnose gestellt werden. Möglich ist nur eine Wahrscheinlichkeitsberechnung. Eine gezielte Ultra-
38 39 40 41 42
43 44 45
Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 66; ders. in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 144. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 31. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 32, 33. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 287. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 31, 32. In dieser Befragung gaben ~ 80 % der Schwangeren an, dass die Ultraschalluntersuchung für sie besonders wichtig sei, da sie selbst und der Vater einen ersten Blick auf das Ungeborene werfen könnten. Hillmer, Patientenstatus und Rechtsstatus von Frau und Fötus, S. 37 f. Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 41; Haker, Ethik der genetischen Frühdiagnostik, S. 104. Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 406.
C. Die Pränatale Diagnostik
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schalldiagnostik oder invasive Diagnostik ist zur Aufdeckung einer Anomalie zusätzlich nötig.46 c) Triple-Test Beim Triple-Test werden in der 16. bis 18. Schwangerschaftswoche p.m. im mütterlichen Blut zwei weitere Eiweiße betrachtet, nämlich das humane ChorionGonadotropin und Östradiol.47 Die Konzentration dieser Proteine wird mit dem Alter der Schwangeren in Bezug gesetzt. Dieser Quotient wird mit dem Altersrisiko verglichen. Übersteigt der Quotient das Altersrisiko, so wird eine Amniozentese empfohlen. Auch der Triple-Test ermöglicht nur eine statistische Wahrscheinlichkeitsberechnung für das Risiko einer Frau, ein Kind mit einer Chromosomenstörung (Trisomie 21, 18 und 13) oder einem Neuralrohrdefekt zu gebären.48 Sowohl der AFP-Test als auch der Triple-Test weisen eine relativ hohe Falschpositiv-Rate (zwischen 5 und 9, 6 %) auf. Ein auffälliger Test zieht in der Regel invasive Diagnoseverfahren nach sich und führt zu einer starken Beunruhigung der Eltern. Die diagnostizierten Erkrankungen sind zudem nicht therapierbar. Aufgrund dieser Aspekte werden AFP- und Triple-Test kontrovers beurteilt49 und zunehmend durch das Ersttrimesterscreening mittels Ultraschall (Nackentransparenzmessung) ersetzt. d) Analyse fötaler Zellen im mütterlichen Blut Hierbei werden fötale Zellen, die durch die Plazenta in den Kreislauf der Schwangeren gelangt sind, aus dem mütterlichen Blut isoliert und dann auf chromosomale Normabweichungen untersucht. Diese Untersuchung kann bereits nach ca. 6 Wochen vorgenommen werden. Sie ist allerdings bislang noch nicht ausgereift50 und wird kaum eingesetzt. 2. Invasive Methoden Zu den invasiven Methoden der pränatalen Diagnostik zählen Amniozentese, Chorionzottenbiopsie und Chordozentese sowie die Fetoskopie. Diese Diagnoseverfahren werden im Folgenden näher betrachtet. a) Amniozentese Die Amniozentese (Fruchtwasserpunktion) wird zwischen der 14.-20. Schwangerschaftswoche p.m. durchgeführt, um Chromosomenanomalien, andere genetische Erkrankungen und Stoffwechselstörungen festzustellen und abzuklären.51
46 47 48 49 50 51
Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 407. Hepp, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 145. Hepp, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 145. Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 413; Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 41. DGGG, Positionspapier 2003, S. 28; Haker, Ethik der genetischen Frühdiagnostik, S. 104. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 58.
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1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
Bei der Amniozentese werden 10-20 ml Fruchtwasser über die Bauchdecke der Schwangeren entnommen. Um die optimale Einstichstelle zu finden, wird die Punktion unter Ultraschall vorgenommen.52 Im gewonnenen Fruchtwasser sind Zellen des Fötus vorhanden, die zytogenetisch untersucht werden können.53 Das Ergebnis der Chromosomenanalyse liegt nach zwei bis vier Wochen vor.54 Die Amniozentese ist das häufigste invasive Verfahren der pränatalen Diagnostik. In 0,5-1% der Fälle treten aber Komplikationen wie Fehlgeburt, Frühgeburt, Blasensprung oder intrauteriner Fruchttod auf.55 Die lange Wartezeit stellt darüber hinaus eine psychische Belastung für die Schwangere dar.56 Mittels der FISH-Diagnostik (fluorescent in situ hybridization) können innerhalb von 24 Stunden die häufigsten numerischen Chromosomenstörungen diagnostiziert werden. Für diese Methode werden unkultivierte Fruchtwasserzellen verwendet. Üblicherweise werden die Chromosomen 13, 18, 21 und die Geschlechtschromosomen X und Y im Zellkern auf spezielle Weise angefärbt.57 Beim FISH-Test sind methodenbedingt nicht alle Chromosomenstörungen erkennbar. Er ersetzt somit eine konventionelle Chromosomendiagnostik nicht. b) Chordozentese Die Chordozentese wird etwa um die 18.-20. Schwangerschaftswoche p.m. vorgenommen.58 Hierbei wird fetales Blut aus der Nabelvene gewonnen. 1-2 ml reichen hierfür in der Regel aus. Aus einer Kultur von Lymphozyten kann eine Karyotypisierung erfolgen. Auch Erbkrankheiten, Blutgruppenunverträglichkeiten sowie Infektionen wie beispielsweise Röteln können festgestellt werden. Das Ergebnis liegt nach zwei bis vier Wochen vor.59 Die Chordozentese ist schwieriger durchzuführen als eine Amniozentese. Laut Kiechle hat die Chordozentese in geübten Händen aber eine gleich niedrige Komplikationsrate wie die Amniozentese.60
52 53 54
55 56 57 58 59 60
Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 417. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 297. Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 42; nach Hiersche ist der früheste Zeitpunkt für eine erfolgreiche Amniocentese mit Fruchtwassergewinnung und anzüchtbaren Zellen die 16. Woche p.m. Vier Wochen später bekommt man das Ergebnis der Chromosomenanalyse. Klappt es beim ersten Mal nicht, so kann in der 20. Woche p.m. eine Zweitpunktion unternommen werden. Das Ergebnis liegt dann in der 24. Woche p.m. und damit in der 22. Woche p.c. vor. Daraus resultierte auch die frühere Frist von 22 Wochen. Vgl. Hiersche, FS Tröndle, 1989, S. 671 f. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 297. Feldhaus-Plumin,Versorgung und Beratung zu PND, S. 43. Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 418. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 58. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 58; Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 419; Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 297 f. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 298.
C. Die Pränatale Diagnostik
19
c) Chorionzottenbiopsie und Plazentazentese Eine Chorionzottenbiopsie wird zwischen der 10.-12. Schwangerschaftswoche p.m. vorgenommen.61 Bei der Chorionzottenbiopsie werden unter Ultraschallkontrolle durch Punktion Zellen der den Embryo umgebenden fasrigen Hülle (Trophoblastgewebe) entnommen. Im ersten Trimenon nennt man diesen Vorgang Chorionzottenbiopsie, im zweiten und dritten Trimenon Plazentazentese. Die so gewonnenen Zellen können zur Ermittlung der Chromosomenformel und zu molekulargenetischen Untersuchungen verwendet werden. Eine Kultivierung dieser Zellen ist nicht erforderlich, so dass das Ergebnis bereits nach zehn Tagen vorliegt. Das Abortrisiko beträgt 1-2%. Gesundheitliche Risiken für die Schwangere bestehen ebenfalls.62 Bei frühen Biopsien kann es zu Fehlbildungen des Kindes kommen. Darüber hinaus sind falsch-positive Testergebnisse möglich und führen bei der Schwangeren zu einer enormen psychischen Belastung.63 d) Fetoskopie Im Zeitraum zwischen der 15. und 22. Schwangerschaftswoche p.m. kann eine Fetoskopie durchgeführt werden. Dabei wird der Fötus mit Hilfe eines Endoskops, das durch die Bauchdecke in die Fruchtblase geführt wird, betrachtet und es können Gewebeproben entnommen werden. Die Fetoskopie wird insbesondere dann durchgeführt, wenn ein hohes Risiko für schwerste erbliche Hautkrankheiten besteht, die noch nicht molekulargenetisch diagnostiziert werden können. Die Fetoskopie führt in zwei bis drei Prozent der Fälle zu einer Fehlgeburt oder zum intrauterinen Fruchttod.64
II. Ziele, Vorteile und Grenzen der Pränataldiagnostik Nach den Richtlinien der Bundesärztekammer zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen dient die Pränataldiagnostik dem Abbau von Ängsten und Sorgen der Schwangeren hinsichtlich der Gesundheit des Kindes und der Hilfestellung bei der Entscheidung über Fortsetzung und Abbruch der Schwangerschaft.65 Nach den Mutterschaftsrichtlinien sollen durch die Pränataldiagnostik Risikoschwangerschaften frühzeitig erkannt und Lebens- und Gesundheitsgefahren für die Mutter und das Kind abgewendet werden.66 Die Pränataldiagnostik dient daher zunächst dem Lebensschutz des Kindes, indem Schwangerschaftsabbrüche auf Verdacht und aus bloß anamnestischer Angst verhindert werden.67 In 97-98 % der Fälle kann der Schwangeren die Angst vor 61 62 63 64 65 66 67
BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 58. Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 66; ders. in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 145. Hillmer, Patientenstatus und Rechtsstatus von Frau und Fötus, S. 42. Haker, Ethik der genetischen Frühdiagnostik, S. 105; Hillmer, Patientenstatus und Rechtsstatus von Frau und Fötus, S. 40. BÄK, DÄBl. 1998, S. A-3236. Mutterschaftsrichtlinien, Allgemeines Ziff. 1. Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 67.
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1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
einem behinderten Kind auch tatsächlich genommen werden.68 Vor allem bei Risikoschwangerschaften wird der Schwangeren durch die pränatale Diagnostik ein entspanntes Fortsetzen der Schwangerschaft ermöglicht. Darüber hinaus bekommen auch Paare mit familiären Vorbelastungen die Gelegenheit zu eigenen Kindern, die sonst von einer Schwangerschaft absehen würden. In problematischen Fällen können Zeitpunkt, Modus und Ort der Entbindung festgelegt werden. Unter Umständen kann die Wahl einer speziellen Entbindungsklinik sinnvoll sein. Ergibt die pränatale Diagnostik einen embryopathischen Befund, so können sich die Eltern auf die Erkrankung ihres Kindes oder auf eine Mehrlingsschwangerschaft seelisch vorbereiten und Maßnahmen für das Leben mit einem behinderten Kind treffen.69 Wird bei der pränatalen Diagnostik eine Entwicklungsstörung des Kindes festgestellt, so kann teilweise eine fetale Therapie durchgeführt oder eine postnatale Therapie geplant und optimiert werden. Bei Erkrankungen, die sich intrauterin noch zu bedrohlichen Krankheitsbildern entwickeln können, aber potentiell behandelbar sind, bietet die pränatale Diagnostik Vorteile. Beispielsweise kann auf die fetale Blutarmut bei Rhesusunverträglichkeit oder mütterlicher Ringelrötelinfektion reagiert werden. Eine solche Anämie führt meist zu einem Multiorganversagen und damit zum Versterben des Ungeborenen. Dies kann man verhindern, indem man die Nabelschnur des Fötus punktiert und eine fetale Bluttransfusion vornimmt.70 Ebenso können beispielsweise Lungen- oder Nierenzysten punktiert werden.71 Schwere fetale Herzrhythmusstörungen, wie eine fraktäre Reentry-Tachykardie, können beispielsweise durch die Gabe von Adenosin über den mütterlichen Blutkreislauf oder über die fetale Nabelschnur medikamentös behandelt werden. Behandelbar sind auch Erkrankungen wie Harnabflussstörungen und krankhafte Flüssigkeitsansammlungen im Brustkorb mit Störungen der Lungenentwicklung. Letztere versucht man durch Anlage von Kathetern in das Fruchtwasser abzuleiten.72 Therapierbar nach Geburt sind beispielsweise bestimmte Herzfehler, Neuralrohrdefekte wie ein offener Rücken (spina bifida), Bauchwanddefekte, LippenKiefer-Gaumenspalten, Zwerchfellhernien und Lungenerkrankungen.73 Therapierbar ist auch die sogenannte Phenylketonurie, eine autosomal rezessiv vererbte Stoffwechselstörung, bei der die Aminosäure Phenylalanin nicht abgebaut werden kann. Dadurch reichert sich diese Aminosäure im Körper an und es entsteht Phenylpyruvat, Phenylacetat oder Phenyllactat. Unbehandelt führt dies zu einer schweren Epilepsie. Durch eine lebenslange eiweißarme Diät kann diese Folge verhindert werden. 68 69 70 71 72 73
Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 397 Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 399. Wüstemann, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 47. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 20 f. Wüstemann, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 46 ff. Wüstemann, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 46; Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 67.
C. Die Pränatale Diagnostik
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In vielen Fällen kann die Pränatalmedizin Krankheiten aber nur feststellen, ohne eine Therapie bereitzuhalten.74 Nicht therapierbar sind beispielsweise genetische Anomalien wie die Trisomie 21 und die Trisomie 13, letale Nierenerkrankungen wie das Pottersyndrom und letale Erkrankungen des Skelettsystems sowie syndromale Krankheitsbilder, schwere Neuralrohrdefekte und die Anencephalie sowie Tumore.75 Die Pränataldiagnostik bildet dann häufig die Grundlage einer Konfliktsituation, deren Lösung in einem Schwangerschaftsabbruch gesehen wird.76 Die pränatale Diagnostik bietet aufgrund der fortschreitenden medizinischen Entwicklung immer mehr Möglichkeiten, immer früher und immer geringfügigere erbliche Krankheiten des Fötus zu erkennen, wobei keineswegs alle Erkrankungen erkennbar sind.77 Während sich die pränatale Diagnostik folglich fortwährend verbessert, sind die Therapiemöglichkeiten begrenzt. Die Schere zwischen diagnostizierbaren Leiden und möglichen Therapien öffnet sich immer weiter.78 Die Risiken der Pränataldiagnostik sind im Übrigen nicht zu unterschätzen. Vor allem bei den invasiven Diagnoseverfahren kann es zu einer Fehlgeburt und zu physischen Beeinträchtigungen wie Schmerzen und Blutungen bei der Schwangeren kommen. Oft ist zwischen Eingriff und Befundmitteilung eine 10- bis 21tägige Wartezeit zu überbrücken, in der die Schwangere und ihr Partner Ängsten und damit psychischen Belastungen ausgesetzt sind.79
III. Auswirkungen der Pränataldiagnostik Die Ultraschalldiagnostik wird, wie die Mutterschaftsrichtlinien zeigen, bei der Schwangerschaftsvorsorge routinemäßig durchgeführt. Nur 15 % der Schwangeren verzichten auf PND.80 Werbebroschüren, Medien und die einschlägige Lebenshilfe-Literatur zeichnen häufig idealisierte Bilder einer kontrollierbaren Schwangerschaft, eines glücklichen Familienlebens mit gesunden Kindern. Dadurch entsteht der Eindruck, dass jede Frau sich für ein solch ideales Leben entscheiden kann, indem sie Pränataldiagnostik in Anspruch nimmt und ein fehlgebildetes Kind ablehnen kann. Diejenigen, die sich dennoch für ein solches Kind entscheiden, stehen unter Rechtfertigungsdruck.81 Die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik, auch weniger schwerwiegende Anomalien diagnostizieren zu können, führen zu einem Anspruchsden74 75 76 77 78 79 80 81
Römelt, in: Römelt, Spätabbrüche, S. 27. Wüstemann, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 46; Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 67. Schumann, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 1 f. Fn. 1. Eberbach, JR 1989, S. 266. Eberbach, JR 1989, S. 268. BZgA, IQZ in der PND, S. 14. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 33 Abb. 16, S. 34 Abb. 17; BZgA, IQZ in der PND, S. 13. Charbonnier, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 68.
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1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
ken auf ein gesundes Kind. Die Bereitschaft, eine Behinderung zu akzeptieren, geht aufgrund eines vermeintlichen Anspruchs „ich kann die Schwangerschaft zu jederzeit beenden“ zurück. Schon behebbare Behinderungen wie zum Beispiel eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte sollen vermieden werden,82 denn aus diesem Wissen folgt nicht nur ein individueller, sondern auch ein gesellschaftlicher Erwartungsdruck, jegliche Risiken ausschließen zu müssen.83 Vor wenigen Jahren noch war eine umfassende pränatale Diagnostik nur für Risiko-Schwangerschaften vorgesehen. Die Kapazitäten sind jedoch mittlerweile so weit ausgebaut, dass auch jüngeren Frauen die Durchführung von pränatalen Diagnoseverfahren mit Appell an ihr Verantwortungsgefühl nahe gelegt wird.84 Das Altersrisiko entscheidet heute nicht mehr darüber, ob pränatale Diagnoseverfahren zur Entdeckung von Chromosomenanomalien eingesetzt werden. Das Alter spielt lediglich noch eine Rolle bei der Wahl der Diagnoseverfahren. Bis zu einem Alter von 35 Jahren bevorzugen die Schwangeren nicht-invasive Untersuchungen. Frauen über 35 lassen dagegen häufig eine Amniozentese oder Chorionzottenbiopsie durchführen. Fast ein Drittel der Frauen zwischen 35-39 Jahren und 44 % der über 39 Jährigen lassen sich Fruchtwasser entnehmen. Unter 35 Jahren lassen nur 6 % eine Amniozentese durchführen.85 Erklären lässt sich dieses Ergebnis mit einer Risikoabwägung. Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko der Schwangeren, ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen. Zugleich besteht bei der Vornahme invasiver Diagnostik ein Risiko von 0,5-2 %, dass es zu Komplikationen kommt. Mit zunehmendem Risiko, ein behindertes Kind zu bekommen, steigt die Bereitschaft, das Risiko einer Komplikation in Kauf zu nehmen. Die PND bildet heute zunehmend ein Mittel der Familienplanung, das die Schwangerschaft auf Probe ermöglicht. Beispielsweise zeigt sich bei deutlich erhöhtem Altersrisiko für Trisomie 21 die Tendenz, eine Schwangerschaft zu probieren und bei einem Befund für Trisomie 21 im Anschluss einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen.86
IV. Zeitpunkt pränataldiagnostischer Verfahren Abschließend stellt sich die Frage, warum es überhaupt embryopathisch motivierte Spätschwangerschaftsabbrüche gibt. Die Übersicht über die einzelnen Diagnoseverfahren zeigt, dass alle Diagnoseverfahren bis zur 20. Schwangerschaftswoche p.m. durchgeführt werden können und die Ergebnisse der Diagnoseverfahren damit vor extrauteriner Lebensfähigkeit des nasciturus vorliegen können.
82 83 84 85 86
Beckmann, MedR 1998, S. 157. Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 69, 70; Beckmann, MedR 1998, S. 158. Hillmer, Patientenstatus und Rechtsstatus von Frau und Fötus, S. 47. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 35. Laufs, NJW 1990, S. 1511.
D. Methoden des Schwangerschaftsabbruchs
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Der Grund für die Existenz embryopathisch motivierter Spätabbrüche liegt zum einen darin, dass es Entwicklungsstörungen gibt, die sich erst in der zweiten Schwangerschaftshälfte entwickeln. Außerdem kann eine schwierige, langwierige Diagnostik erforderlich sein, die erst spät abgeschlossen wird und erst im Anschluss eine Prognoseeinschätzung, Beratung und Entscheidungsfindung ermöglicht.87 Auch Fehldiagnosen sind möglich. Die Befunde bei Pränataldiagnostik bieten häufig keine absolute Sicherheit.88 Schließlich kommt es auch vor, dass die Schwangere erst sehr spät einen Arzt aufsucht und Ultraschalldiagnostik in Anspruch nimmt, so dass die Erkrankung oder Behinderung des ungeborenen Kindes erst in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft festgestellt werden kann.89
D. Methoden des Schwangerschaftsabbruchs Um beurteilen zu können, ob späte Schwangerschaftsabbrüche aus medizinischer Sicht besonders problematisch sind, sollen im Folgenden die Methoden sowohl früher als auch später Abbrüche betrachtet werden.
I. Vermeidung der Nidation und frühe Abbrüche Will man die Nidation verhindern, so geschieht das durch die Gabe von Medikamenten. Hohe Dosen von Östradiol oder einem Kombinationspräparat aus Östradiol und Gestagen verhindern die Einnistung.90 In einer sehr frühen Schwangerschaft, bis zum 49. Tag p.m., kann der Schwangerschaftsabbruch medikamentös vorgenommen werden. Die Schwangere erhält zunächst das Antigestagen Mifepriston p.o. und etwa 48 Stunden später ein stark wirksames Prostaglandin, das zur Uteruskontraktion und zur Ausstoßung der Leibesfrucht führt.91 Bis zur 12. Woche wird die Schwangerschaft in der Regel mittels Kürettage abgebrochen. Dazu wird zunächst der Muttermund erweitert. Anschließend wird eine Kanüle aus Plastik oder Metall in die Gebärmutter eingeführt und der Inhalt der Gebärmutter abgesaugt (Vakuumaspiration, Saugkürettage) oder ausgeschabt (Chirurgische Kürettage).92
87 88 89 90 91 92
Garne/Khoshnood/Loane/Boyd/Dolk, BJOG 2010, S. 662 f. BZgA, IQZ in der PND, S. 14. Vgl. dazu: Schwerdtfeger, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 38. Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 255. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 247. Kröger, in: LK-StGB, Vor §§ 218 ff. Rn. 47.
24
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II. Schwangerschaftsabbrüche nach der 12. Woche Nach der 12. Woche gestaltet sich ein Schwangerschaftsabbruch aufgrund der Größen- und Gewichtszunahme des Fötus schwieriger. In der Praxis werden meist Prostaglandine verabreicht. Dadurch werden Wehen ausgelöst und nach mehreren Stunden – durchschnittlich etwa 15 Stunden – wird die Frucht ausgestoßen. Da Plazenta und Eihäute dabei häufig nicht vollständig ausgestoßen werden, muss im Anschluss meist eine Kürettage durchgeführt werden. Teilweise wird zusätzlich Mifepriston 24-36 Stunden vor Gabe der Prostaglandine verabreicht. Dadurch wird die Wirksamkeit des Prostaglandins erhöht und die Zeit vom Beginn der Einleitung bis zur Ausstoßung nahezu halbiert.93 Bis nach Ablauf der 22. Schwangerschaftswoche verstirbt der Fötus regelmäßig im Verlauf des verfrühten Geburtsvorgangs, zum einen durch Sauerstoffmangel, zum anderen dadurch, dass seine Körperstrukturen, wie sein noch zu weicher Kopf, einer verfrühten Geburt nicht gewachsen ist.94 Ein Schwangerschaftsabbruch kann auch mittels Kaiserschnitt (Hysterotomie) durchgeführt werden. Im Vergleich zu anderen Methoden stellt der Kaiserschnitt einen erheblichen Eingriff in den Körper der Schwangeren dar und ist dementsprechend risikoreich. Daher wird ein Kaiserschnitt nur sehr selten durchgeführt.95
III. Schwangerschaftsabbrüche nach der 20. Woche Schwangerschaftsabbrüche nach der 20. Schwangerschaftswoche werden auf dieselbe Weise vorgenommen, wie nach der 12. Schwangerschaftswoche. Nach der 20. Schwangerschaftswoche besteht allerdings die Möglichkeit, dass der nasciturus lebend zur Welt kommt. Wird aber beispielsweise eine Behinderung des Fötus festgestellt und gerät die Mutter dadurch in Gesundheitsgefahren, so ist Ziel des Schwangerschaftsabbruchs die Abtötung der Frucht. Um eine Lebendgeburt zu vermeiden, führt der Arzt neben der Gabe weheninduzierender Mittel einen Fetozid durch. Er tötet dabei den Fötus gezielt im Mutterleib, indem er durch Injektion von Kaliumchlorid eine Herzlähmung des Fötus herbeiführt oder Fibrinkleber in das Herz des Ungeborenen appliziert und dadurch eine mechanische Unterbrechung des Blutflusses auslöst.96 Auch Methoden wie die Gabe von Luft oder das Unterbinden der Blutversorgung durch die Nabelschnur werden beschrieben.97
93 94 95 96 97
Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 247 f. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 247; Wirth, Spätabtreibung, S. 54. Hanke, Spätabtreibungen, S. 21 f. Kröger, in: LK-StGB, § 218a Rn. 55; Wirth, Spätabtreibung, S. 55 f. Feldhaus-Plumin, Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 2008, S. 67.
2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Im zweiten Kapitel werden die verfassungsrechtlichen Maßstäbe herausgearbeitet, anhand derer zu überprüfen ist, ob der Staat seiner eventuell gegenüber dem ungeborenen Leben bestehenden Schutzpflicht in ausreichendem Maße nachkommt. Die Fragen, ob und wie der nasciturus von den Grundrechten geschützt wird, müssen geklärt werden. Als Rechtsgüter des nasciturus kommen die in Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1 und in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG genannten in Betracht. Anschließend soll der Frage nachgegangen werden, in welcher Weise kollidierende Grundrechte der Mutter zu berücksichtigen sind.
A. Die Funktion der Grundrechte beim Schwangerschaftsabbruch Wie bereits in der Einleitung angeklungen, ist der Staat möglicherweise durch die Grundrechte des nasciturus zu dessen Schutz verpflichtet. Bevor überprüft wird, ob der nasciturus in den Gewährleistungsbereich von Menschenwürde und Lebensrecht einbezogen ist, soll, gleichsam vor die Klammer gezogen, das grundrechtsdogmatische Konstrukt der grundrechtlichen Schutzpflicht näher betrachtet werden.
I. Abwehrrechte und Schutzpflichten im Vergleich Nach ständiger Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts stellen Grundrechte primär Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat dar (status negativus). Das Bundesverfassungsgericht leitet diese primäre Grundrechtsfunktion zum einen aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Grundrechtsidee, zum anderen aus den geschichtlichen Vorgängen, die zur Aufnahme der Grundrechte in die Verfassung geführt haben, ab.1 Der Bürger hat demgemäß einen Anspruch gegen den Staat, ungesetzliche und unverhältnismäßige Eingriffe in seinen grundrechtlich gewährleisteten Freiheitsbereich zu unterlassen. Der moderne Eingriffsbegriff versteht unter einem Eingriff jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht, gleichgültig ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmit1
BVerfGE 7, 198 (204 f.).
A. B. Dolderer, Menschenwürde und Spätabbruch, DOI 10.1007/978-3-642-22468-3_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
telbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich, mit oder ohne Befehl und Zwang erfolgt. Die Wirkung muss allerdings von einem zurechenbaren Verhalten der öffentlichen Gewalt ausgehen.2 Da der Staat Schwangerschaftsabbrüche weder selbst anordnet noch durch eigenes Personal durchführen lässt, sondern dem nasciturus vielmehr von privater Seite, nämlich von Seiten der Mutter und dem Arzt, Gefahr droht, sind die Grundrechte in ihrer primären Funktion nicht betroffen. Nicht ein Eingriff des Staates, sondern ein Eingriff von Privatpersonen muss abgewendet werden. Weitgehend einig ist man sich mittlerweile darüber, dass die Grundrechte keine unmittelbar horizontale Drittwirkung zwischen Privaten entfalten,3 so dass weder die Mutter noch der die Abtreibung durchführende Arzt durch die Grundrechte des ungeborenen Kindes unmittelbar beschränkt sind. Die unmittelbare Drittwirkung wird aus guten Gründen abgelehnt. Zum einen widerspräche sie dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 S. 2 und Art. 1 Abs. 3 GG, der nur die öffentliche Gewalt den Grundrechten verpflichtet.4 Zum anderen zeigt die Systematik der Grundrechte, dass nur in wenigen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten die Wirkung auf Private erstreckt wird, wie beispielsweise in Art. 9 Abs. 3 S. 2 oder Art. 20 Abs. 4 GG.5 Eine Grundrechtsbindung aller gegenüber allen würde darüber hinaus dem Sinn und Zweck der Grundrechte widersprechen. Die Grundrechte würden zu Grundpflichten gegenüber den Mitbürgern, was eine weitgehende Freiheitsbeschränkung nach sich zöge.6 Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings in seinem ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch die Existenz grundrechtlicher Schutzpflichten als normative Funktion anerkannt und den Grundrechten damit eine im weitesten Sinne horizontale Funktion zugebilligt. Das Gericht formuliert im Urteil: „Die Schutzpflicht des Staates ist umfassend. Sie verbietet nicht nur – selbstverständlich – unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren.“7
Diese zum damaligen Zeitpunkt neuartige Grundrechtsfunktion stieß sowohl in der Rechtsprechung als auch im juristischen Schrifttum auf nahezu einhellige Akzeptanz. Für die Anerkennung der Schutzpflichten als eigenständige Dimension der Grundrechte spricht, dass das Grundgesetz an mehreren Stellen, wie bei-
2 3
4 5 6 7
Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 253; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rdnr. 63. Dietlein bezeichnet die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte als ausdiskutiert. Vgl. Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 75; anders noch BAGE 1, 185 (193f.). Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 191. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 191. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 191. BVerfGE 39, 1 (42).
A. Die Funktion der Grundrechte beim Schwangerschaftsabbruch
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spielsweise in Art. 1 Abs. 1 S. 2 und Art. 16a Abs. 1 GG, selbst den Schutz bestimmter Rechtsgüter anordnet.8 Der Staat ist somit verpflichtet, grundrechtsbewehrte Rechtsgüter seiner Bürger wie beispielsweise Würde, Leben, Gesundheit, Eigentum und Freiheit vor rechtswidrigen Beeinträchtigungen seitens Dritter zu bewahren.9 Die grundrechtliche Schutzpflicht beinhaltet zunächst einen Regelungsauftrag an den parlamentarischen Gesetzgeber. Ist es seiner Auffassung nach nötig, zu Gunsten des Opfers in grundrechtlich geschützte Rechtsgüter des Störers einzugreifen, so muss er die hierfür erforderliche Eingriffsermächtigung bereitstellen.10 Sowohl in ihrer Abwehrfunktion als auch in ihrer Schutzfunktion richten sich die Grundrechte an denselben Adressaten, den Staat, und sichern dasselbe grundrechtlich gewährleistete Schutzgut vor Eingriffen. Die Übergriffe drohen jedoch von verschiedenen Seiten. Während beim Abwehrrecht der Übergriff von Seiten des Staates droht, droht er bei der Schutzpflicht von dritter, privater Seite, in den Fällen des Schwangerschaftsabbruchs von Seiten der Mutter und dem behandelnden Gynäkologen. Dementsprechend beinhaltet das Abwehrrecht das Recht auf eine negative Handlung.11 Hinsichtlich des Rechts auf Leben und der körperlichen Unversehrtheit beinhaltet das Abwehrrecht beispielsweise das Recht des Bürgers, dass der Staat Verletzungshandlungen unterlässt. Die Schutzpflicht fordert demgegenüber aktive Handlungen zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit vor Übergriffen Dritter.12 Dementsprechend stehen sich nicht nur zwei Parteien, nämlich Bürger und Staat gegenüber, sondern das Beziehungsgeflecht erweitert sich zu einem Beziehungsdreieck aus Grundrechtsbeeinträchtiger (Störer), Grundrechtsgeschütztem (Opfer) und Grundrechtsschützer (Staat).13
II. Dogmatische Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflicht Unproblematisch ist die Begründung der staatlichen Schutzpflicht dann, wenn sie sich explizit aus dem Verfassungstext ergibt. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG verpflichtet die staatliche Gewalt explizit zum Schutz der Menschenwürde. Hinsichtlich des hier ebenfalls zu erörternden Lebensrechts des nasciturus ist eine ausdrückliche Schutzverpflichtung jedoch nicht ersichtlich. Die dogmatische Herleitung ist erwartungsgemäß umstritten. Für Inhalt und Reichweite der grundrechtlichen Schutzverpflichtung ist die dogmatische Herleitung von großer Bedeutung.
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Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 86. BVerfGE 39, 1 (42); Dietlein, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 74. Dietlein, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 70 f. Höfling, in: Thomas/Kluth, Das zumutbare Kind, S. 128. v. Bernstorff, Der Staat 2008, S. 27. Höfling, in: Thomas/Kluth, Das zumutbare Kind, S. 129.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
1. Die Schutzpflichtenjudikatur des Bundesverfassungsgerichts Das Rechtsinstitut der grundrechtlichen Schutzpflicht ist entscheidend geprägt von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Bahnbrechend wirkte insbesondere das erste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch.14 In diesem Urteil leitete es die Pflicht des Staates zum Schutz jedes menschlichen Lebens zum einen unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 ab. Zum anderen stützte es die Schutzpflicht auch auf Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. „Die Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen, läßt sich deshalb bereits unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ableiten. Sie ergibt sich darüber hinaus auch aus der ausdrücklichen Vorschrift des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG; denn das sich entwickelnde Leben nimmt auch an dem Schutz teil, den Art. 1 Abs. 1 GG der Menschenwürde gewährt.“ 15
Die Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 verankerte das Bundesverfassungsgericht in der durch die Grundrechtsnormen verkörperten „objektiven Wertordnung“ und führte dazu aus: „Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthalten die Grundrechtsnormen nicht nur subjektive Abwehrrechte, sondern sie verkörpern zugleich eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt und Richtlinien und Impulse für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung gibt (BVerfGE 7, 198 [205]- Lüth –; 35, 79 [114] – Hochschulurteil – mit weiteren Nachweisen). Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Staat zu rechtlichem Schutz des werdenden Lebens von Verfassung wegen verpflichtet ist, kann deshalb schon aus dem objektiven Gehalt der grundrechtlichen Normen erschlossen werden.“16
Nach der anfänglich klaren Trennung der beiden Begründungsstränge – objektivrechtlicher Gehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG – amalgamiert es zehn Seiten später diese Begründungsansätze, indem es die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ableitet. In der Folgezeit verzichtete das Bundesverfassungsgericht teilweise auf die Bezugnahme der objektiven Wertordnung. Es stützte die Schutzfunktion allein auf Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 GG17 und betonte, dass alle staatlichen Organe menschliches Leben vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren hätten.18 In manchen Entscheidungen diente aber auch die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte weiterhin als Begründung für die Schutzpflicht des Staates.19
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BVerfGE 39,1 ff. BVerfGE 39, 1 (41). BVerfGE 39, 1 (41 f.). Vgl. nur BVerfGE 46, 160 (164); 49, 24 (53); 57, 250 (284 f.). BVerfGE 46, 160 (162). BVerfGE 49, 89 (141 f.); 53, 30 (57); 56, 54 (73); 77, 170 ( 214 f.); 77, 381 (402 f.); BVerfG-K, EuGRZ 1998, 172 (173).
A. Die Funktion der Grundrechte beim Schwangerschaftsabbruch
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Rechtsgüter wie beispielsweise die Berufsfreiheit20 und die Wissenschaftsfreiheit21 wurden auf diese Weise in die Schutzfunktion miteinbezogen. Im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch stützte das Bundesverfassungsgericht die Schutzpflicht wiederum auf Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 1 Abs. 1 GG und formulierte: „Ihren Grund hat diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet; ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt.“22
Vergleicht man die Entscheidungsgründe der ersten und zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch, so wird deutlich, dass sich der Begründungsschwerpunkt für die staatliche Schutzpflicht verlagert hat. Im ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch wird die Schutzpflicht in erster Linie aus der objektivrechtlichen Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG abgeleitet und darüber hinaus auch Art. 1 Abs. 1 GG herangezogen. Demgegenüber rückt das Bundesverfassungsgericht in der zweiten Entscheidung die Menschenwürde weiter in den Mittelpunkt und bezeichnet die Menschenwürde als Grund der Schutzpflicht, wobei personaler und materieller Schutzbereich sowie die Schutzintensität vom betroffenen Grundrecht auf Leben abhängen. Auf die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte wird nicht Bezug genommen. Auch nach dem zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch finden sich beide Begründungsansätze in seiner Rechtsprechung.23 Zusammengefasst kann man somit feststellen, dass das Bundesverfassungsgericht die Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG und im objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte verortet. Klarstellend ist hierzu anzumerken, dass die im Lüth-Urteil wurzelnde Wertordnungstheorie, wonach die Grundrechte eine objektive Wertordnung bilden, in engem Zusammenhang mit der Menschenwürdegarantie steht. Auch diese ist oberster Wert der Verfassung und strahlt in die anderen Grundrechte aus. Im juristischen Schrifttum stieß die dogmatische Herleitung des Bundesverfassungsgerichts auf breite Zustimmung.24
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24
BVerfGE 92, 26 (46). BVerfGE 55, 37 (68). BVerfGE 88, 203 (251). Den Ausführungen der 2. Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch folgen z.B. BVerfGE 90, 145 (195); BVerfG-K, NJW 1995, S. 2343; BVerfG-K, NJW 1996, S. 651. Auf die objektiv-rechtliche Funktion der Grundrechte nimmt demgegenüber Bezug: BVerfG-K EuGRZ 1998, 172 (173). Beipielhaft erwähnt seien: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 414; Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 64 f.; Unruh, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 56 f.; Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 90; angemerkt sei außerdem, dass Dürig bereits 1958 die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 ableitete: Dürig, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 16; Art. 1 Abs. 3 Rn. 102, 131.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
2. Kritische Stimmen in der Literatur Unbestritten blieb diese Judikatur jedoch nicht. Die drei Hauptkritikpunkte seien an dieser Stelle genannt. Die Kritik knüpft zum einen an die Rechtsfigur der objektiven Wertordnung an. Dieses Gebilde sei zu verschwommen, um eine juristische Begründung zu leisten.25 Darüber hinaus wird gerügt, dass der Rekurs des Bundesverfassungsgerichts auf die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte einerseits und Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG andererseits inkonsistent sei und die Ableitung der Schutzpflichten daher höchst unklar bleibe.26 Außerdem habe das Bundesverfassungsgericht nicht hinreichend dargelegt, wie aus der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte eine staatliche Schutzverpflichtung folgen soll.27 Das Meinungsspektrum über die dogmatische Begründung der Schutzpflichten ist in der Literatur weit gefächert. Teilweise wird versucht, die grundrechtlichen Schutzpflichten als Ausfluss des abwehrrechtlichen Gehalts der Grundrechte zu begreifen. Andere versuchen die dogmatische Herleitung stärker am Wortlaut der Verfassung zu orientieren oder staatstheoretisch zu fundieren. Die wesentlichen Begründungsansätze sollen im Folgenden dargestellt werden. a) Die „abwehrrechtliche“ Lösung Die Vertreter des abwehrrechtlichen Lösungsansatzes halten die Rechtsfigur der grundrechtlichen Schutzpflicht für entbehrlich. Diese Fälle ließen sich bereits unter Rückgriff auf die abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte lösen, indem man dem Staat das Verhalten des Bürgers zurechne.28 Anknüpfungspunkt dieser etatistischen Konvergenztheorie29 ist die Tatsache, dass der Staat eine Friedensordnung errichtet hat, innerhalb derer ihm allein das Gewaltmonopol zukommt. Das Verbot der Selbstjustiz hindere den Bürger daran, seine Rechte selbst durchzusetzen, so dass er nunmehr auf staatliches Handeln zu seinem Schutz angewiesen sei. Durch das Verbot privater Gewalt lege der Staat seinen Bürgern die Pflicht auf, beeinträchtigende, aber von der Rechtsordnung gestattete Handlungen von anderen Mitbürgern ohne Gegenwehr zu dulden. Verbiete der Staat ein Verhalten nicht, so erlaube er es und das „Opfer“ müsse das Verhalten dulden. Private Eingriffe, die sich folglich im Bereich des Erlaubten bewegten, könnten daher auf die Rechtsordnung zurückgeführt werden und seien dem Staat zurechenbar.30 25
26 27 28 29 30
Isensee, in: Isensee/Kirchhof; HStR V, § 111 Rn. 81. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 112 f.; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 129-146; Stern, Staatsrecht III/1, S. 912-915. Klein, NJW 1989, S. 1635. Klein, NJW 1989, S. 1635; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 180; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung S. 112 f.; Sondervotum zu BVerfGE 39, 1 (68, 73 ff.). Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213 ff. Begriffsbildung von Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rn. 118. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213 ff. Ausführliche Darstellung bei: Alexy, Theorie der Grundrechte S. 415 ff.; Höfling, in: Thomas/Kluth, Das zumutbare Kind, S. 130 ff; Isensee, in: Isensee/Kirchhof HStR V, § 111 Rn. 118 f.
A. Die Funktion der Grundrechte beim Schwangerschaftsabbruch
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Diese Ansicht wurde zu Recht vielfach kritisiert. Eingewendet wurde zum einen, dass das bloße Nichtverbieten einer Handlung nicht zugleich eine Beteiligung des Staates an der Verletzungshandlung oder eine Zurechnung zum Staat begründen könne.31 Private Eingriffe blieben private Eingriffe. Eine staatliche Verantwortung für solche Eingriffe bestünde nur dann, wenn der Staat verpflichtet sei, diese zu unterbinden. Angelpunkt des Ganzen sei aber dann die Pflicht, die Eingriffe zu unterbinden, und nicht die Zurechnung der Handlungen Privater.32 Zum anderen wurde der Vorwurf methodischer Inkonsequenz erhoben. Indem das Handeln Privater dem Staat als Eingriff zugerechnet werde, werde die Existenz der zu beweisenden Schutzpflicht bereits vorausgesetzt.33 Der Schluss vom Fehlen eines Eingriffsverbots auf eine Duldungspflicht wird zudem als nicht hinreichend begründbar entlarvt. Der Grundrechtsträger sei nämlich nicht verpflichtet, den Eingriff zu dulden, sondern könne ihm ausweichen oder ihn auf andere unverbotene Weise abwenden.34 § 823 Abs. 1 BGB bringe im Übrigen ein allgemeines Nichtschädigungsgebot zum Ausdruck.35 Dieses decke explizit die bedeutendsten grundrechtlichen Schutzgüter, nämlich Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit und Eigentum. Die Rechtsprechung habe darüber hinaus Schadensersatzansprüche gemäß § 823 Abs. 1 BGB auch für Nachteile aus unerlaubten Handlungen gegenüber anderen Grundrechten zugesprochen.36 Auch wenn spezielle Verbote nicht bestünden, sichere § 823 Abs. 1 BGB grundrechtlich verbürgte Schutzgüter gegenüber privaten Angriffen ab. Die Kritik überzeugt und entlarvt diese „abwehrrechtliche Lösung“ als unhaltbar. b) Menschenwürdekern Bereits vor der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch37 leitete Dürig die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ab. Die im Kernbereich der Grundrechte abgesicherten Werte seien dadurch auch gegen Angriffe Privater abzuschirmen.38 Zu schützen sei folglich ein Menschenwürdekern der Grundrechte.39 Soweit das Grundgesetz wie in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG oder Art. 6 GG explizit von „schützen“ spreche, ergebe sich die grundrechtliche Schutzpflicht und ein damit korrespondierendes Recht bereits aus dem Verfassungstext. Dies erschwere es aber, hinsichtlich der Grundrechte, in denen sich kei31 32 33 34 35 36 37 38 39
Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 417; Höfling, in: Thomas/Kluth, Das zumutbare Kind, S. 132; Unruh, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 47 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 417 f. Unruh, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 47; Stern, Staatsrecht III/1, S. 947. Stern, Staatsrecht III/1, S. 730. Kritisch dazu allerdings Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 188. Dietlein, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 46 ff.; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 85 ff.; Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 87. Ausführliche Darstellung bei Dietlein, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 47. BVerfGE 39, 1 (41). Dürig, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. I Rn. 16, Art. 1 Abs. III Rn. 102, 131. Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 71.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
ne explizite Schutzanordnung finde, subjektive Schutzansprüche abzuleiten.40 Ein subjektives Recht auf Schutz wurde von Dürig im Hinblick auf den Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG daher nur bezüglich des Würdekerns von Grundrechten anerkannt.41 Im Übrigen bestehe eine objektiv-rechtliche Staatsaufgabe ohne ein korrespondierendes subjektives Recht. Diese Sichtweise hat den Vorteil, dass sie näher an den Text des Grundgesetzes angelehnt ist, da die Menschenwürdegarantie die Schutzverpflichtung des Staates deutlich zum Ausdruck bringt.42 Problematisch erscheinen allerdings die folgenden Aspekte. Die Verpflichtung des Staates zum Schutz der Menschenwürde sollte an sich bewirken, dass sich der Schutz des Einzelnen verstärkt. Eine Beschränkung eines subjektiven Rechts auf Schutz auf einen Würdekern würde aber eine Verschlechterung des Schutzes bewirken. Auch wenn die Grundrechte teilweise als Konkretisierungen der Menschenwürdegarantie zu verstehen sind, sind sie mit dieser nicht identisch.43 Darüber hinaus bereitet die inhaltliche Bestimmung der Menschenwürde erhebliche Schwierigkeiten, was zusätzlich gegen die Reduktion der Schutzpflichten auf einen Menschenwürdekern spricht. 44 Auch diese Herleitung der Schutzpflichten kann daher nicht überzeugen. c) Die staatstheoretische Fundierung Die Grundlage der Schutzpflicht wird teilweise auch in der Staatsaufgabe der Sicherheit gesehen und damit auf eine außergrundrechtliche Basis gestützt. Der Zweck des modernen Staates bestehe darin, Sicherheit für seine Bürger zu gewährleisten. Darum sei der Staat mit Gehorsamsanspruch, Macht und Gewaltmonopol ausgestattet. Dieser Staatszweck bilde die Grundlage für die heutige staatliche Schutzpflicht. 45 Durch die Verknüpfung der Staatsaufgabe der Sicherheit mit den Grundrechten wird ihr ein verfassungsrechtliches Substrat zugewiesen, nämlich die grundrechtlich geschützten Güter.46 Diese konkretisierten in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension die einzelnen Schutzpflichten des Staates.47 Problematisch ist zum einen, dass auch nach dieser Ansicht zur Konkretisierung der Schutzpflichten auf die objektiv-rechtliche Dimension der einzelnen Grundrechte zurückgegriffen werden muss.48 40 41 42 43 44 45
46 47 48
Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 70. Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 74 f. Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 74 f. Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 89. Unruh, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 43 f. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rn. 83; Stern, Staatsrecht III/1, S. 932; Klein, NJW 1989, 1635 f.; zu den ideengeschichtlichen Hintergründen ausführlich: Unruh, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 37 ff. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rn. 84. Klein, NJW 1989, S. 1636; Stern, Staatsrechte III/1, S. 937. So auch: Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 88; Unruh, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 40.
A. Die Funktion der Grundrechte beim Schwangerschaftsabbruch
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Zum anderen sind im Grundgesetz Schutzpflichten ausdrücklich normiert, wie beispielsweise in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4 GG. Finden sich aber in der Verfassung selbst Anhaltspunkte für die Existenz einer Schutzfunktion der Grundrechte, so kann ein Rekurs auf die Staatszwecklehre nicht die tragende Säule der Begründung sein.49 Für die Begründung der Schutzpflichten können die Staatsaufgabe der Sicherheit und deren ideengeschichtliche Hintergründe aber unterstützend herangezogen werden.50 d) Grundrechtsschranken und Sozialstaatsprinzip Die Schutzpflicht des Staates für das Grundrecht auf Leben leitet Roman Herzog mittels eines Erst-Recht-Schlusses aus der Schranke der Ehre des Art. 5 Abs. 2 GG her. Wenn die Verfassung schon die Ehre schütze, so müsse zugleich eine Schutzpflicht für das ungleich höher stehende Recht auf Leben gegeben sein.51 Auch Seewald versteht Grundrechtsschranken wie Art. 11 Abs. 2, 13 Abs. 7 GG nicht nur als Rechtsbeschränkungen. Unübersehbar sei, „daß auch die Beschränkung von Grundrechten unmittelbar durch die Verfassung oder aufgrund verfassungsrechtlicher Ermächtigung an den Gesetzgeber nicht nur »negativ« rechtsbegrenzende Wirkung hat, sondern - »auf der anderen Seite« - »positive«, begünstigende Rechtswirkungen hat, nämlich zugunsten der Interessen und Rechtsgüter, die die Schrankenregelung tatbestandsmäßig ausfüllen.“52 Diese Schrankenregelungen begünstigten den Bürger „reflexartig“.53 Aufgrund des materiellen Gehalts wie den Lebensschutz verpflichteten sie den Staat zum Handeln.54 Zur Untermauerung wird das in Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip herangezogen. Dieses verpflichte den Staat zum Handeln, während der Inhalt der Handlungspflicht sich aus anderen Verfassungsbestimmungen wie den Grundrechten ergebe.55 Die Ableitung der Schutzpflichten aus den Grundrechtsschranken kann jedoch nicht überzeugen. Grundrechtsschranken sind Befugnisnormen und ermöglichen den Eingriff des Staates in den Schutzbereich eines Grundrechts. Eine Aufgabenzuweisung kann ihnen nicht entnommen werden.56 Einzuwenden ist auch, dass Grundrechte als Leistungsrechte und grundrechtliche Schutzpflichten zwei völlig unterschiedliche Grundrechtsfunktionen darstellen. Bei den Leistungsrechten ist eine bipolare Beziehung zwischen Bürger und Staat gegeben. Bei den Schutzpflichten erweitert sich das Beziehungsgeflecht zu
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So auch: Unruh, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 40; Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 88. Unruh, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 41; Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 88; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 104. Herzog, JR 1969, S. 441 (443). Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 80. Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 80. Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 80 f., 141-143. Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 81 f., 145. Unruh, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 49; Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 89; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 97.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
einem Beziehungsdreieck, nämlich Staat-Störer-Opfer.57 Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat zwar zu aktivem Tun. Materiell zielt es aber auf einen Ausgleich zwischen finanziell unterschiedlich ausgestatteten Mitgliedern durch Umverteilung finanzieller Ressourcen und Absicherung von Lebensrisiken durch die Bereitstellung von Sozialversicherungssystemen.58 Während Schutzpflichten somit auf Gefahrenabwehr zielen, will das Sozialstaatsprinzip den materiellen status quo verbessern und absichern.59 Die grundrechtlichen Schutzpflichten können folglich nicht aus Grundrechtsschranken hergeleitet werden. e) Stellungnahme und Ergebnis Die verschiedenen Begründungssätze in der Literatur können folglich die Existenz der Schutzpflichten nicht überzeugend begründen. Eine staatstheoretische Fundierung, die zur Begründung unterstützend herangezogen werden kann, kommt nicht umhin, zur Konkretisierung der Schutzpflichten auch zugleich die objektivrechtliche Dimension der einzelnen Grundrechte heranzuziehen, auf die auch das Bundesverfassungsgericht abstellt. Die dogmatische Begründung des Bundesverfassungsgerichts ist jedoch, wie bereits angesprochen, vielfacher Kritik ausgesetzt. Diese Kritik ist zu facettenreich, um hier im Detail dargestellt werden zu können. Überprüft werden soll daher lediglich, ob die bereits dargestellten Hauptkritikpunkte plausibel sind. Kritisiert wird zunächst die auf den ersten Blick bestehende Inkonsistenz der Schutzpflichtendogmatik, die teils auf die objektive Wertordnung, teils auf Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG Bezug nimmt.60 Unruh verweist jedoch zu Recht darauf, dass darin kein Widerspruch zu sehen sei, sondern Wertordnungstheorie und Menschenwürdegarantie verfassungsdogmatisch nicht getrennt werden könnten.61 Im LüthUrteil führte das Bundesverfassungsgericht bereits aus, dass die Grundrechte eine objektive Wertordnung konstituierten, die ihren Mittelpunkt in der menschlichen Persönlichkeit und Würde habe.62 Die Bezugnahme sowohl auf die objektive Wertordnung als auch auf die Würdegarantie stellt daher gerade keinen Widerspruch dar. Auch die Kritik, dass die Rechtsfigur der objektiven Wertordnung zu verschwommen sei und subjektive Präferenzentscheidungen des Richters ermögliche,63 lässt sich nicht bestätigen. Inhaltlich begrenzt sich im konkreten Fall die Schutzpflicht auf das Rechtsgut des einschlägigen Grundrechts, in seiner persönlichen, sachlichen und räumlichen Extension.64 57 58 59 60 61 62 63
64
Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 89; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rn. 5. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 97. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 97. Unruh, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 34 Unruh, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 34. BVerfGE 7, 198 (205) Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 112 f.; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 129-146; Stern, Staatsrecht III/1, S. 912-915. Isensee, in: Isensee/Kirchhof , HStR V, § 111 Rn. 81. So auch: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 102.
B. Die Menschenwürde
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Auch die Beanstandung, allein der Hinweis auf den objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte besage nicht ohne weiteres, warum daraus eine Schutzpflicht folgen solle, ist nicht überzeugend.65 Dieser Einwand kann mit einem Blick auf die Genese des Grundgesetzes entkräftet werden. Auch die Verfassungsväter maßen den Grundrechten neben der primär abwehrrechtlichen Funktion eine staatslegitimierende Funktion bei. Der Staat habe „die äußere Ordnung zu schaffen, deren die Menschen zu einem auf der Freiheit des Einzelnen beruhenden Zusammenleben bedürfen. Aus diesem Auftrag stammt letztlich die Legitimität seiner Machtausübung.“66 In dieser staatsfundierenden Funktion, die die Grundrechte dem Staat zur Verwirklichung aufgibt, liegt der Schlüssel zum objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte.67 Die Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflichten aus einer objektivrechtlichen Wertordnung und Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG als Mittelpunkt dieser Wertordnung ist daher höchst plausibel. Unterstützt wird diese Ansicht durch den staatstheoretischen Ansatz.
B. Die Menschenwürde I. Vorüberlegungen Die staatliche Pflicht, die Menschenwürde zu schützen, findet sich nicht nur in unserem Grundgesetz, sondern stößt auf nahezu universelle Akzeptanz. Dieser Gedanke findet sich beispielsweise auch in Art. I-2 des Entwurfs eines Vertrages über eine Verfassung für Europa. Konstituierende Werte der Union sind hiernach: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Verwiesen werden kann auch auf die Präambel der Grundrechtscharta der Europäischen Union. Die Völker Europas erklären hierin ihr Bestreben nach einer friedlichen Zukunft auf der Grundlage gemeinsamer Werte. „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“ Stößt die aus der Würde des Menschen resultierende Schutzpflicht auf umfassende Akzeptanz, so scheiden sich bei der Frage nach Rechtsnatur und Inhalt der Menschenwürde die Geister. Trotz eingehender wissenschaftlicher Bemühungen ist Art. 1 Abs. 1 GG weit davon entfernt, dogmatisch ohne weiteres handhabbar zu sein.68 Die Menschenwürde ist nicht nur fester Bestandteil des Verfassungsrechts sondern auch Gegenstand moralphilosophischer und theologischer Lehren, so dass sich ethische, theologische und juridische Deutungen vermischen. 65 66 67 68
Stern, Staatsrecht III/1 S. 945. Schmid, JöR n.f., Bd. 1 (1951), S. 47. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 194; dem folgend: Müller-Terpitz, der Schutz des pränatalen Lebens, S. 101. Ipsen, JZ 2001, S. 990.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Die inhaltliche Unbestimmtheit des Menschenwürdebegriffs hat den Vorteil, dass sich jeder Mensch mit ihr identifizieren kann und sie dadurch universell auf Akzeptanz stößt. Durch die inhaltliche Unbestimmtheit fällt es aber auch leicht, die Menschenwürde für eigene Zwecke zu beanspruchen. Es besteht die Gefahr, dass diejenigen, die Schwangerschaftsabbrüchen generell ablehnend gegenüberstehen, versuchen, jeden Abbruch als Menschenwürdeverstoß und damit als verfassungswidrig zu qualifizieren. Unter Berufung auf das Unantastbarkeitspostulat des Art. 1 Abs. 1 GG wird die Menschenwürde dadurch zum „Totschlagargument“69. Vor einer Tendenz, die Menschenwürde zu trivialisieren, zur allgegenwärtigen Bezugsgröße zu machen, muss aber gewarnt werden, denn ein inflationärer Gebrauch der Menschenwürde würde eine Entwertung derselben nach sich ziehen.70 Auf der anderen Seite ist zu befürchten, dass diejenigen, die Schwangerschaftsabbrüche befürworten, versuchen, Art. 1 Abs. 1 GG für unanwendbar zu erklären, indem sie den nasciturus aus dem personalen Schutzbereich ausklammern oder die Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen allein an Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG messen. Denn anders als die Menschenwürde ist das Lebensrecht aufgrund des Gesetzesvorbehalts Einschränkungen zugänglich. Will man überprüfen, ob Spätschwangerschaftsabbrüche mit der Menschenwürde vereinbar sind, so ist es erforderlich, die Menschenwürde zunächst handhabbar zu machen. Zum besseren Verständnis werden im Folgenden zunächst die ideengeschichtlichen Grundlagen der Menschenwürde dargestellt und überprüft, ob die Menschenwürde ein bloß objektives Verfassungsprinzip darstellt, oder daneben auch eine grundrechtliche Gewährleistung verbürgt. Im Anschluss daran wird der Inhalt der Menschenwürde konkretisiert. Schließlich ist zu klären, ob, ab wann und in welcher Art und Weise der nasciturus in den Gewährleistungsbereich der Menschenwürde einbezogen ist. Im Hinblick auf Spätabbrüche ist der Frage nachzugehen, ob der Menschenwürdeschutz sich in seiner Intensität an der Entwicklung des nasciturus orientiert und an Spätabbrüche im Vergleich zu frühen Abbrüchen erhöhte Anforderungen zu stellen sind.
II. Ideengeschichtliche Grundlagen der Menschenwürde Der Begriff der Menschenwürde entwickelte sich innerhalb von zweieinhalbtausend Jahren Philosophiegeschichte und erfuhr durch die verschiedenen philosophischen Traditionen unterschiedliche Prägungen.71 Es ist vom jeweiligen Würdeverständnis abhängig, ob der nasciturus bereits als Würdeträger angesehen werden kann.
69 70 71
Taupitz, NJW 2001, S. 3436. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 47; Hufen, JuS 2010, S. 2. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 7.
B. Die Menschenwürde
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1. Die Menschenwürde in der griechischen und römischen Antike In der griechischen und römischen Antike verstand man unter Würde (lat. dignitas) einen Status abhängig von Verdienst, Amt, Rang, Ansehen und persönlicher Bedeutung; folglich die Geltung des Menschen im öffentlichen Leben.72 Da jeder Mensch über verschiedene Ämter und Titel verfügte, war der Umfang der Würde entsprechend unterschiedlich.73 In der mittleren Stoa begann man die Würde in universalistischer Weise zu verstehen; als etwas, was den Menschen von anderen Lebewesen abhob, nämlich Vernunftbesitz und freier Wille unabhängig von Amt und sozialem Status. Diese Würde kam allen Menschen gleichermaßen zu.74 Allerdings begriff die Stoa die Menschenwürde nicht als Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat, sondern als Pflicht des Menschen, sich würdegemäß zu verhalten und beispielsweise ungehemmten sinnlichen Genuss zu meiden.75 Ein solches leistungsbezogenes Würdeverständnis erfasste den nasciturus nicht. Sowohl die Leibesfrucht als auch neugeborene Kinder hatten in der Antike einen sehr niedrigen Status.76 Ein generelles Abtreibungsverbot war sowohl der griechischen als auch der römischen Kultur fremd. Vielmehr wurden Abtreibungen unter dem Gesichtspunkt des Staatswohls beurteilt und als neutrales Instrument der Bevölkerungspolitik verwendet.77 Nach der Lehre der Stoa wurde menschliches Leben mit dem ersten Atemzug und damit mit Geburt eingehaucht und mit dem letzten ausgehaucht.78 Dementsprechend wurde eine Abtreibung nicht bestraft, sondern lediglich als eigentumsrechtliches Problem gehandhabt. Der nasciturus und das Neugeborene galten als Privateigentum des Vaters, der über eine Abtreibung entscheiden durfte. Eine Frau machte sich nur dann strafbar, wenn sie gegen den Willen des Mannes eine Abtreibung vornahm.79 Nach der Sukzessivbeseelungslehre des Aristoteles erfuhr die freie Verfügbarkeit über die Leibesfrucht allerdings eine Einschränkung. Nach Aristoteles Vorstellung besaß die Leibesfrucht zunächst eine vegetative Seele bzw. eine Pflanzenseele. Nach Ausgestaltung des Geschlechts, was beim männlichen nasciturus 40 Tage nach der Befruchtung, beim weiblichen 90 Tage nach Befruchtung abgeschlossen sei, sollte zu der bisher vorhandenen vegetativen Seele eine animalische empfindsame Seele hinzutreten. Mit der Geburt erfolgte die Beseelung mit der denkenden, Bewusstsein besitzenden Geistesseele, die göttlicher Herkunft ist. Bereits mit Bestehen der animalischen Seele sollten Abtreibungen unzulässig sein. 80 72 73 74 75 76 77 78 79 80
Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 3. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 3; Enders, Menschenwürde, S. 177. Podlech, in: AK-GG Art. 1 I Rn. 2. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 4; Hain, Der Staat 2006, S. 194. Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 67. Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 67. Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn, S. 20 f. Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 70; Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn, S. 22. Ausführliche Darstellung bei Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 19 f.; Schmoll, FAZ vom 31. 5. 2001, S. 15.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
2. Die Menschenwürde in der Spätantike und im Mittelalter Seit der Spätantike und dem Mittelalter entwickelte sich im Christentum die „imago-dei-Lehre“. Nach dieser Lehre hebt sich der Mensch von den anderen Lebewesen dadurch ab, dass er als Abbild Gottes geschaffen wurde. Der Mensch ist als Ebenbild Gottes ein Spiegel dessen, der die Freiheit ist. Im Menschen findet sich die Freiheit des Schöpfers gegenüber allen Dingen, insbesondere der Natur, wieder. Dadurch kommt ihm ein unverfügbarer und unverlierbarer Wert zu, der ihn von anderen Geschöpfen abhebt.81 Grundlage dieser Lehre bildet das 1. Buch Mose/Gen. Kap. 1, Vers 26-28: Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch Untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier das auf Erden kriecht.82
Thomas von Aquin (1225-1274), bei dem die imago-dei-Lehre ihren Höhepunkt fand, sah in der Menschenwürde eine primär verpflichtende Gabe Gottes.83 Die menschliche Würde besaß nur der tugendhafte Mensch. Der sündige und damit würdelose Mensch durfte demgegenüber wie ein Tier getötet werden. Als Ebenbild Gottes sind nach dieser Lehre im Übrigen alle Menschen in ihrem Status gleich.84 Der Status des nasciturus wurde unterschiedlich beurteilt. Einig war man sich darüber, dass ein vollwertiger Mensch erst dann existierte, wenn zu dem biologischen Leben eine Geistesseele hinzukam. Wann und wie dies geschehen sollte, wurde allerdings unterschiedlich beurteilt. Die Vertreter des Generatianismus waren der Auffassung, dass die Seele beim Zeugungsakt aus den Seelen der Eltern oder des Vaters erzeugt (lat.: generare) wurde. Nach dem Traduzianismus wurde die Seele übertragen (lat.: traducere).85 Innerhalb dieser Lehren fand sich zum einen die Auffassung, dass die Leibesfrucht erst nach 40 Tagen menschenähnlich wurde und das Menschsein erst zu diesem Zeitpunkt gegeben sein konnte. Die Beseelung konnte folglich auch erst nach 40 Tagen stattfinden. Teilweise wurde das Menschsein aber auch bereits mit Zeugung bejaht.86
81 82 83 84 85 86
Vgl. dazu: Schreiber, MedR 2003, S. 368. Darüber hinaus kann auch auf Psalm 8, Vers 5-9 und 1. Buch Mose/Gen. Kapitel 9, Vers 6 f. und 1. Brief an die Korinther, Kap. 11, Vers 7 hingewiesen werden. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 5; Enders, Menschenwürde, S. 183 f. Vgl. dazu Hain, Der Staat 2006, S. 195. Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 21. Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 22 f.
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Vertreter des Kreatianismus gingen davon aus, dass die Seele von Gott aus dem Nichts erschaffen wurde.87 Wann die Beseelung erfolgen sollte, wurde uneinheitlich beantwortet. Albertus Magnus vertrat eine Simultanbeseelung. Mit der Zeugung erfolgte zugleich die Beseelung. Demgegenüber unterschied Thomas von Aquin wie Aristoteles auch eine vegetative und animalische Entwicklungsstufe, der ein jeweiliger Seelenzustand entsprach. Die von Gott kommende Geistesseele konnte erst hinzukommen, wenn die Leibesfrucht menschliche Gestalt angenommen hatte. Die Beseelung männlicher Embryonen sollte nach 40 Tagen, die weiblicher Embryonen nach 80 Tagen stattfinden. Begründet wurde diese zeitliche Differenzierung mit den alttestamentarischen Reinigungsvorschriften der Frau nach der Geburt.88 Die wechselhafte Dominanz dieser Auffassungen beeinflusste die Sanktionierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Dementsprechend wurde zunächst jede Abtreibung mit lebenslänglicher, dann mit langjähriger Exkommunikation geahndet.89 Später wurde zwischen der Abtreibung einer beseelten und unbeseelten Leibesfrucht differenziert. Die Abtreibung einer beseelten Leibesfrucht wurde kirchenrechtlich als homicidium (Totschlag) geahndet. Die Abtötung unbeseelter Embryonen wurde als schwere sittliche Verfehlung eingestuft und nur mit einer einjährigen Buße belegt.90 3. Die Menschenwürde in der Renaissance Die Epoche der Renaissance ist für das moderne Meschenwürdeverständnis sehr bedeutend. Pico della Mirandola (1463-1494) löste die Würdebegründung von den theologischen Wurzeln und sah den Menschen als Mikrokosmos, in dem alle Möglichkeiten angelegt sind. Der Mensch hat nach seiner Auffassung Möglichkeiten, zwischen denen er frei wählen kann. Als Bildhauer und Dichter (lat.: plastes et fictor) kann er bestimmen, wie er leben will. In dieser Freiheit liegt seine Würde.91 Nicht der vom Sündenfall durch die Gnade Gottes gerettete Mensch, sondern das eigenständig gestaltende, vernünftige Individuum steht im Mittelpunkt. Die Würde ist nicht mehr verpflichtend; ein bestimmter göttlicher Wille muss nicht erfüllt werden. Dem Menschen steht es frei, durch sein eigenes Tun zu höchsten Lebensformen zu gelangen, oder auf die Stufe eines Tieres abzusinken.92 Fraglich ist, welchen Status Pico della Mirandola dem ungeborenen Leben zubilligt. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, ob ein tatsächliches Entwurfsvermögen gegeben sein muss, oder ob die bloße Potenz zu einem solchen Entwurfsvermögen bereits ausreicht. Nach Gröschners Interpretation reicht die
87 88 89 90 91 92
Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 23. Lev., Kap. 12 Vers 1-5; Belling, Rechtfertigungsthese, S. 32. Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 80 ff. Schockenhoff, Ethik des Lebens, S. 305. Vgl. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 9; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 296 f. Enders, Menschenwürde, S. 185.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
bloße Potenz aus, so dass auch der nasciturus in den Kreis der Menschenwürdeträger miteinzubeziehen ist.93 4. Die Menschenwürde in der Aufklärung In der Zeit der Aufklärung besann man sich wieder auf die bereits in der Antike begründete Auffassung von der Würde als Teilhabe an der Vernunft. Pufendorf (1632-1694) verstand unter Würde eine vernunftgeleitete Wahlmöglichkeit, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Dieses Vernunftvermögen sollte der Seele des Menschen entspringen. Da nach Pufendorf alle Menschen unabhängig von Rasse, Geschlecht und Glauben, Verdienst und Ansehen dieses Vernunftvermögen haben, wurde ihnen allen gleichermaßen Würde zugesprochen.94 Unklar ist, welchen Status Pufendorf dem nasciturus zubilligte. Abhängig ist die Beantwortung der Frage wiederum davon, ob die Potentialität der Entscheidungsmöglichkeiten ausreicht, oder ob eine Entscheidungsmöglichkeit tatsächlich bestehen muss und der Mensch daher zumindest geboren sein muss.95 In Kants Ethik wird die vernunftgeleitete sittliche Autonomie dann zum Zentralbegriff. Kant sieht die Würde des Menschen in der Autonomie des Menschen begründet, d.h. in der Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung auf der Grundlage eines freien Willens. Kant versteht hierunter nicht eine Freiheit zu einer beliebigen Selbstgesetzgebung, sondern eine vernunftgeleitete sittliche Autonomie und damit eine Freiheit, nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen zu sein.96 „Allein der Mensch, als Person betrachtet, d.i. als Subject einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht blos als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Werth), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnöthigt, sich mit jedem Anderen dieser Arten messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.“97
Dementsprechend fordert Kant in der zweiten Formel des kategorischen Imperativs: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“98 93
94 95 96 97 98
Gröschner, Menschenwürde und Sepulkralkultur, S. 34; a. A. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 297. Dieser vertritt, dass Picos Würdeverständnis ein tatsächliches Entwurfsvermögen voraussetze, und begründet dies mit der Aussage von Pico della Mirandola, dass „der Vater (in den Menschen) gleich bei seiner Geburt die Samen aller Möglichkeiten und die Lebenskeime jeder Art hineingelegt“ habe, in: Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, S. 11. Ausführlich dazu: Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 186188. So auch: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S.298. Ausführlich dazu: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 299. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, eingel. in: Timmermann, S. 49 f.. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, eingel. in: Timmermann, S. 44, Rn. 49.
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Die Achtungspflicht gegenüber anderen Menschen ist nach Kant aber keine notfalls mit Gewalt durchsetzbare Rechtspflicht. Sie ist zusammen mit der Nächstenliebe als eine der beiden Tugendpflichten einzuordnen. Die Achtungspflicht stellt eine negative Pflicht dar, sich nicht über einen anderen zu erheben. Eine Rechtspflicht stellt sie deshalb nicht dar, weil sie nicht wie Rechtspflichten durch einen bloßen äußeren Akt zu erfüllen ist. Erforderlich ist vielmehr, dass man sie zur Maxime des eigenen Handelns macht. Darüber hinaus ist diese Pflicht zu vage, um eine Rechtspflicht begründen zu können.99 Aus der Lehre Kants auf eine Erstreckung der Menschenwürde auf den nasciturus zu schließen, ist problematisch. Kant knüpft die Würde an vernunftgeleitetes Handeln, das dem Embryo als solchem noch nicht möglich ist.100 Aus diesen Gründen vertritt Dreier zu Recht, dass man Kants Personenbegriff nur unter „ziemlicher Verkennung von Intentionen und Voraussetzungen seiner Philosophie auf vorgeburtliches Leben beziehen kann“.101 5. Verfassungsrechtliche Rezeption des Menschenwürdebegriffs Mitte des 19. Jahrhunderts wird der Begriff der Menschenwürde zum politischen Schlagwort der Arbeiterbewegung. Lassalle forderte den Staat auf, die materielle Lage der Arbeiter zu verbessern und ihnen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen.102 Die Weimarer Reichsverfassung nahm die Forderung nach einem menschenwürdigen Dasein – allerdings beschränkt auf das Wirtschaftsleben – in Art. 151 Abs. 1 S. 1 programmhaft auf: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen.“ Die früheste ausdrückliche Verankerung der Menschenwürde in einer rechtsstaatlichen Verfassung findet sich in der Präambel der irischen Verfassung.103 Das Unrechtssystem des nationalsozialistischen Regimes stärkte nach 1945 das Bewusstsein für die menschliche Würde. Am 26. Juni 1945 nahm die United Nations Conference on International Organization die Satzung der Vereinten Nationen an, die in Nr. 2 der Präambel die Formulierung „Glauben an grundlegende Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Persönlichkeit“ enthielt.104 Aufgenommen wurde die Würde auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948. Auch einige vorkonstitutionelle Landesverfassungen beinhalteten bereits die Menschenwürde.105 99 100 101 102 103
104 105
Kant, Metaphysik der Sitten, 1956, S. 600. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 84. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 84. Dazu Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 15 m.w.N. Präambel der Verfassung der Republik Irlands v. 1.7.1937: „auf daß die Würde und Freiheit des Individuums gewährleistet“ werde. Engl. abgedruckt in JöR Bd. 25 (1938), S. 357. Zur verfassungsrechtlichen Rezeption des Menschenwürdebegriffs ausführlich: Stern, Staatsrecht III/1, S. 15 ff. Beispielsweise Art. 100 der Bayrischen Verfassung vom 2.12. 1946 und Art. 3 der Hessischen Verfassung vom 1. 12. 1946. Ausführliche Darstellung bei: Stern, Staatsrecht III/1, S. 17.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Letztlich bestand im Parlamentarischen Rat Einigkeit darüber, dass die Pflicht zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde in die Verfassung aufzunehmen sei und an die Spitze der Verfassung gehöre.106 Die Menschenwürde wurde darüber hinaus in vielen europäischen Verfassungen verankert, wie in der griechischen, schwedischen, portugiesischen, spanischen, schweizerischen und türkischen Verfassung.107 Ob der nasciturus vom Parlamentarischen Rat in den Schutzbereich der Menschenwürde einbezogen wurde, ist höchst problematisch. Die Beantwortung dieser Frage soll daher einem gesonderten Abschnitt vorbehalten bleiben.108 6. Ideengeschichtliche Prägung der verfassungsrechtlichen Menschenwürde? Nachdem die ideengeschichtliche Entwicklung der Menschenwürde und die verfassungsrechtliche Rezeption skizziert wurden, stellt sich die Frage, ob das grundgesetzliche Würdeverständnis von einer bestimmten theologischen oder philosophischen Denkrichtung geprägt ist. Es gab auf der einen Seite Versuche, die Menschenwürde im Verfassungstext naturrechtlich zu verankern. Dem Grundsatzausschuss lag in seiner 4. Sitzung am 23. September 1948 folgende Fassung zur Beratung vor: „Die Würde des Menschen ruht auf ewigen, einem Jeden von Natur aus eigenen Rechten.“109 Auf der anderen Seite wurde versucht, die Menschenwürde theistisch zu fundieren. In der 42. Sitzung des Hauptausschusses stellte diesbezüglich der Abgeordnete Seebohm den Antrag, in Art. 1 Abs. 2 GG die Worte „von Gott gegeben“ einzufügen.110 Diese Bemühungen fanden aber im Parlamentarischen Rat keine Mehrheit, so dass das Bekenntnis zur Menschenwürde ohne Zusätze und Herkunftsangaben niedergeschrieben wurde. Den entstehungsgeschichtlichen Materialien des Grundgesetzes kann man somit entnehmen, dass die Verfassungsväter und -mütter den Menschenwürdebegriff nicht im Sinne einer bestimmten philosophischen oder theologischen Denkrichtung verstehen wollten. Eine theistische Fundierung der Menschenwürde wäre im Übrigen problematisch. Zum einen widerspräche eine solche der Neutralitätspflicht des Staates. Zum anderen wäre darüber hinaus fraglich, ob sie auch von den Teilen der Gesellschaft akzeptiert würde, die keiner oder einer anderen Religion oder Weltanschauung angehören. Auch eine Fundierung in der Philosophie Kants wäre bedenklich, denn nach Kant ist die Menschenwürde keine Rechtspflicht sondern eine Tugendpflicht.111 Darüber hinaus wird Würde weniger als zu schützendes Gut begriffen, „sondern als – pflichtenethisch grundiertes – Vermögen zu eigener moralischer Gesetzge106 107 108 109 110 111
Stern, Staatsrecht III/1, S. 18, Fn. 62. Vgl. genaue Darstellung bei Stern, Staatsrecht III/1, S. 19. Vgl. 2. Kapitel B V 3 b). Wiedergegeben nach JöR n.f., Bd. 1 (1951), S. 48. Stern, Staatsrecht III/1, S. 18. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 13.
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bung, die im Wesentlichen in der Einsicht in das objektive sittliche Gesetz besteht“.112 Dieser Pflichtcharakter der Menschenwürde spricht dagegen, die verfassungsrechtliche Menschenwürde gänzlich im Sinne der Philosophie Kants zu verstehen.113 Das verfassungsrechtliche Würdeverständnis kann daher weder als Rezeption der imago-dei-Lehre noch der Philosophie Kants verstanden werden. Theodor Heuss bezeichnete das Menschenwürdeversprechen des Grundgesetzes demgemäß als eine „nicht interpretierbare These“114 und meinte damit, dass die Menschenwürde des Grundgesetzes nicht auf einer bestimmten ideengeschichtlichen Strömung basiert.115 Dennoch wirken diese ideengeschichtlichen Grundgedanken in das heute geltende Würdeverständnis fort, was bei den im Folgenden darzustellenden aktuell vertretenen Auffassungen über den Inhalt des Menschenwürdebegriffs deutlich wird. Die ideengeschichtlichen Grundlagen können allerdings nur richtunggebende Hinweise liefern und dürfen nicht zur allein maßgeblichen Interpretationsmaxime gemacht werden.116 Die Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG ist ein verfassungsrechtlicher Begriff, der daher auch nach den Regeln der juristischen Auslegung zu interpretieren ist.117
III. Rechtscharakter der Menschenwürdegarantie Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG beinhaltet hinsichtlich der Menschenwürde ausdrücklich eine Schutzverpflichtung und wird von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG erfasst. Schon aus diesen beiden Aspekten folgt, dass das Menschenwürdepostulat nicht nur einen unverbindlichen Programmsatz, eine präambelartige Motivationserklärung oder eine bloß ethische Deklamation darstellt. Vielmehr handelt es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG um eine unmittelbar verbindliche Norm des objektiven Verfassungsrechts.118 Vom Bundesverfassungsgericht wird die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG daher auch als „tragendes Konstitutionsprinzip“119,
112 113 114 115
116 117 118 119
Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 13. So auch: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, Hofmann, AöR 1993, S. 357, Fn. 17; S. 306; Stern, Staatsrecht III/1, S. 8 f.. Parl. Rat, 4. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen am 23.9.1948, abgedruckt in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Parlamentarischer Rat, Bd. 5/I, S. 72. Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rn. 5; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 306; ausführlich auch Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 7. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rdnr. 1, 7, 13; Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik, S. 149. Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 1 I Rn. 10. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 42; Stern, Staatsrecht III/1, S. 26. BVerfGE 64, 261 (274).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
als „höchster Rechtswert“ im grundgesetzlichen „Wertesystem“120 oder als „Wurzel der Grundrechte“121 bezeichnet. Fraglich ist aber, ob Art. 1 Abs. 1 GG darüber hinaus eine Grundrechtsgewährleistung verbürgt. Die Beantwortung dieser Frage ist nicht nur in prozessualer Hinsicht relevant.122 Prägend ist die Entscheidung dieser Frage zum einen für das Würdeverständnis und die Annäherung an den Würdeinhalt. Herdegen führt dazu aus: „Wer die Menschenwürde nur als ein Prinzip begreift, vermag sich leichter situationsgebundenen Konturen der Würdegarantie zu entziehen als die Verfechter eines subjektiven Rechtes, das sich beim Schutz des einzelnen in konkreten Lebensumständen zu bewähren hat.“123 Darüber hinaus ist die Beantwortung dieser Frage relevant für die Abgrenzung der Menschenwürde von den nachfolgenden Grundrechten, im vorliegenden Fall vor allem vom Lebensrecht.124 Im Folgenden ist daher zu prüfen, ob Art. 1 Abs. 1 GG lediglich eine verbindliche Norm des objektiven Verfassungsrechts darstellt oder darüber hinaus ein Individualgrundrecht verbürgt. Gegen den Grundrechtscharakter des Art. 1 Abs. 1 GG wird angeführt, dass der gesamte subjektiv-rechtliche Gehalt der Menschenwürde bereits in den einzelnen Grundrechten enthalten sei und durch die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG geschützt werde.125 Jede Beeinträchtigung des Art. 1 Abs. 1 GG werde zumindest von Art. 2 Abs. 1 GG erfasst, so dass ein lückenloser Rechtsschutz der Betroffenen gewährleistet sei.126 Darüber hinaus sei die besondere Normstruktur des Art. 1 Abs. 1 GG zu beachten. Im Gegensatz zu anderen Grundrechten, insbesondere den Freiheitsgrundrechten, sei der Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG nicht klar begrenzt. Darüber hinaus sei die Menschenwürde anders als die Gewährleistungen der folgenden Artikel nicht einschränkbar, sondern vielmehr unantastbar. Eine solche Normstruktur sei den folgenden Grundrechten aber fremd.127 120 121 122
123 124 125 126 127
BVerfGE 5, 85 (204); BVerfGE 35, 202 (225). BVerfGE 93, 266 (293). Handelt es sich bei der Menschenwürde um ein Verfassungsprinzip, so ist die Staatsgewalt zwar daran nach Art. 20 III GG gebunden und das Bundesverfassungsgericht müsste die Verletzung dieses Prinzips mit der abstrakten oder konkreten Normenkontrolle überprüfen. Allerdings würde die Verneinung der Grundrechtsqualität bedeuten, dass es sich bei der Menschenwürde um kein subjektives Recht handelt und der einzelne eine Verletzung der Menschenwürde nicht geltend machen könnte. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Ipsen, in: JZ 2001, S. 990. Für die Fragestellung, ob die Spätabtreibungssituation mit der Menschenwürde vereinbar ist, ist die prozessuale Wirkung freilich irrelevant, da der Nasciturus selbst ohnehin keine Verletzung seiner Menschenwürde rügen kann und seine abtreibungswillige Mutter ihn in dieser Sache auch nicht vertreten wird. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 29. So auch: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 357. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. I Rn. 4 ff. (Erstb.); Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 129. Geddert-Steinacher, Menschenwürde, S. 172. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 127; Lorenz, ZfL 2001, S. 39 f.
B. Die Menschenwürde
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Darüber hinaus wird befürchtet, dass die Zuordnung der Menschenwürde zu den Grundrechten eine Relativierung und Abwägung derselben begünstige und sie im Ergebnis schwäche.128 Normative Irrelevanz sei bei einer Verneinung der Grundrechtsqualität im Übrigen nicht die Folge. Als Konstitutionsprinzip und Kerngarantie des Grundgesetzes bilde Art. 1 Abs. 1 GG den denkbar höchsten Maßstab für die Ausübung der staatlichen Gewalt und wirke in der Rechtspraxis in flexibler Weise auf das Verständnis der Grundrechte sowie der gesamten Verfassungsordnung ein.129 Auch die Normgenese deutet darauf hin, die Menschenwürde als bloß objektives Verfassungsprinzip zu begreifen. Im Parlamentarischen Rat formulierte Bergsträsser: „Aus den allgemeinen Ausführungen des Art. 1, die von uns eigentlich präambelartig für die ganzen Grundrechte gedacht waren – so hatten wir Art. 1 von Anfang an aufgefasst -, sollte nun in das unmittelbar geltende Recht übergeleitet werden.“130 Für ein bloß objektives Verfassungsprinzip wird darüber hinaus auf den Normtext verwiesen. Das Wörtchen „darum“ in Art. 1 Abs. 2 GG spreche gegen den Grundrechtscharakter der Menschenwürdegarantie. Auch Art. 1 Abs. 3 GG, der die Staatsorgane zur Einhaltung der „nachfolgenden Grundrechte“ verpflichtet, spreche gegen den Grundrechtscharakter des Art. 1 Abs. 1 GG. Gleichwohl ist diese Argumentation zweifelhaft, da nicht alle nachfolgenden Artikel echte Grundrechte im Sinne subjektiver Abwehrrechte sind und grundrechtsgleiche Rechte auch jenseits des ersten Abschnitts existieren.131 Darüber hinaus steht Art. 1 GG unter der Überschrift „I. Die Grundrechte“, was auf den Grundrechtscharakter der Menschenwürdegarantie hindeutet. Aus dem Zusammenhang der drei Absätze von Art. 1 GG schließt Nipperdey auf den Grundrechtsgehalt der Menschenwürde. Zuerst werde in Abs. 1 die Menschenwürde garantiert, in Abs. 2 folge daraus ein Bekenntnis zu den Menschenrechten und in Abs. 3 wird die Staatsgewalt an die nachfolgenden Grundrechte gebunden. Art. 1 Abs. 1 GG sei daher gerade „die Wurzel und Quelle aller später formulierten Grundrechte und damit selbst das materielle Hauptgrundrecht“.132 Letztlich liefern Wortlaut und Systematik widersprüchliche Aussagen. Eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Rechtsnatur des Art. 1 Abs. 1 GG geben diese Auslegungsmethoden nicht.133 Die wohl herrschende Auffassung in der Literatur geht davon aus, dass Art. 1 Abs. 1 GG zugleich ein Grundrecht darstelle.134 Auch das Bundesverfassungsge-
128 129 130 131 132 133
134
Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 127. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 128. Bergsträsser, in: Parlamentarischer Rat Bd 5, S. 594. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 125. Nipperdey, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte, S. 12. So auch: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 125; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 29; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 358. Häberle, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, § 22 Rn. 74; Hain, Der Staat 2006, S. 196; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 29; ders., GS Heinze, S. 359;
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
richt scheint implizit vom Grundrechtscharakter auszugehen, indem es Verfassungsbeschwerden unter Berufung auf Art. 1 Abs. 1 GG zuließ.135 Begründen lässt sich diese Sichtweise mit teleologischen Erwägungen. Zweck der Norm ist, den Menschen als Subjekt mit eigenen Rechten zu etablieren. Daher muss die Menschenwürdegarantie eine subjektiv-rechtliche Gewährleistung verbürgen.136 Der auf ein Subjekt bezogenen Achtungs- und Schutzverpflichtung des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG muss daher eine Berechtigung des einzelnen Menschen korrespondieren.137 Mit dem Grundgesetz sollen Rechte wirkungsvoll gewährleistet werden. Art. 19 Abs. 4 GG verbürgt dazu einen effektiven Rechtsschutz und Art. 93 I Nr. 4a GG ermöglicht die Verfassungsbeschwerde.138 Lehnt man den Grundrechtscharakter des Art. 1 Abs. 1 GG ab, so ist eine Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf Art. 1 Abs. 1 GG niemals möglich. Gerade dem höchsten Wert der Verfassung muss aber eine optimale Durchsetzungsmöglichkeit entsprechen, so dass Art. 1 Abs. 1 GG zugleich als Grundrecht zu verstehen ist. Die Tatsache, dass bei einer Beeinträchtigung der Menschenwürde meist auch ein anderes Grundrecht betroffen ist, kann diese Sichtweise nicht erschüttern. Lücken weisen die übrigen Grundrechte vor allem im Bezug auf neu aufkommende Gefahren der Biotechnologie auf.139 Auch der Verweis darauf, dass Art. 1 Abs. 1 GG eher als Präambel des Grundrechtsteils gesehen wurde, bedeutet im Hinblick auf seine Offenheit nicht, dass er nicht auch zugleich ein Grundrecht beinhalten kann.140 Art. 1 Abs. 1 GG ist somit nicht nur ein objektives Verfassungsprinzip, sondern beinhaltet zugleich ein Grundrecht.
IV. Inhalt der Menschenwürde Im Folgenden soll die Frage geklärt werden, was die Menschenwürdegarantie inhaltlich verbürgt. 1. Schwierigkeiten bei der Konkretisierung der Menschenwürde Es gibt vielfache Versuche, den Inhalt der Menschenwürde zu konkretisieren. Schwierig gestaltet sich diese Konkretisierung zum einen deshalb, weil die Menschenwürde in zweieinhalb Jahrtausenden Philosophiegeschichte von unterschiedlichen Ideen geprägt wurde.
135 136 137 138 139 140
Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 4 ff.; Ipsen, JZ 2001, S. 990 f.; SchmidtJortzig, DÖV 2001, S. 926; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 358. Vgl. beispielsweise BVerfGE 49, 286; 50, 256; 72, 105. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 30; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 358. Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 6. Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 29. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 29; Ipsen, JZ 2001, S. 991 So auch: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 358.
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Zum anderen bereitet die spezifische Normstruktur des Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit der Unantastbarkeitsklausel Probleme. Im Gegensatz zu anderen Grundrechtsgewährleistungen, wie beispielsweise die Berufsfreiheit des Art. 12 GG oder die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG, verfügt die Menschenwürde nicht über einen sachlich eigengeprägten Normbereich, wie dies auch bei den Generalklauseln des Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG der Fall ist.141 Das Prinzip der Menschenwürde verweist vielmehr auf ein umfassendes Spektrum menschlichen Handelns. Bezugspunkt ist nicht ein besonderes Verhalten eines Grundrechtsträgers. Vielmehr geht es um den Modus einer Handlung. Als modal ausgerichtete Generalklausel kennzeichnet die Menschenwürde eine besondere normative Offenheit.142 Im Wesentlichen gibt es zwei Methoden, sich dem Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde zu nähern. Einerseits wird versucht den Inhalt der Menschenwürde positiv zu bestimmen. Andererseits wird bei der Begriffsbestimmung auf den Verletzungsvorgang abgestellt. Bei der Darstellung der unterschiedlichen Ansichten soll zugleich darauf eingegangen werden, welchen Status der nasciturus bei der jeweiligen Position einnimmt. 2. Positive Begriffsbestimmung a) Wert- oder Mitgifttheorien Die Wert- oder Mitgifttheorien verstehen unter Würde eine bestimmte, den Menschen auszeichnende Qualität.143 Sie stehen in der Tradition der christlichen Naturrechtslehre und der Philosophie Kants. Dementsprechend begegnen uns diese Theorien in zwei Varianten. aa) Christliche Variante Nach der christlichen Variante hat jeder Mensch einen von Gott mitgegebenen Wert.144 Dieser Wert gründet sich auf die Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott, durch welche Gott ihn zu seinem Partner erklärt und zur Verantwortung für sein eigenes Verhalten und die Schöpfung aufgerufen hat.145 Diese besondere Auszeichnung im Rahmen der göttlichen Schöpfungsordnung hebt ihn von anderen Lebewesen ab.146 Würde wird in einem transzendentalen, metaphysischen Sinne verstanden. Dementsprechend kommt es nicht darauf an, ob bestimmte geistige oder moralische Bedingungen erfüllt sind. Die Würde besteht unabhängig von ihrer Aktualisierungsmöglichkeit, vom Entwicklungsstand oder Ichbewusstsein. Ein solches Würdeverständnis hat den Vorteil, dass es die Würde jedes Menschen, auch des geistig Schwerbehinderten, gut begründen kann.147 Auch dem
141 142 143 144 145 146 147
Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 9. Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 9. Vgl. dazu Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 55. Vitzthum, JZ 1985, S. 206. Vgl. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 55. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 55. Hofmann, AöR 1993, S. 361.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
nasciturus kann bei einem solchen Würdeverständnis Würde zugesprochen werden. Problematisch ist jedoch, dass die christliche Variante auf einer sehr bewegten Dogmengeschichte basiert, in der dem nasciturus längst nicht immer eine volle Menschenqualität zuerkannt wurde. Darüber hinaus bereitet es in einem weltanschaulich neutralen Staat Probleme, gewichtige Normen wie Art. 1 Abs. 1 GG anhand religiöser Glaubenssätze zu interpretieren.148 bb) Naturrechtlich-idealistische Variante Nach der auf Kant zurückgehenden naturrechtlich-idealistischen Variante wurzelt die besondere Qualität des Menschen in seiner Begabung zu vernunftgeleiteter sittlicher Autonomie. Auch in dieser Variante versteht man unter Würde eine inhärente, jedem Menschen zukommende Qualität.149 Wie in der christlichen Variante, wird Würde auch hier in einem transzendentalen metaphysischen Sinne verstanden, so dass es auf ihre Aktualisierung oder Aktualisierungsmöglichkeit nicht ankommt.150 Hofmann weist allerdings darauf hin, dass diese Ansicht Begründungsschwierigkeiten beim Würdezuspruch an den nasciturus, geistig Behinderte oder Menschen ohne Bewusstsein habe. Sie müsse dann mit einem potentiellen Vernunftvermögen oder den Fähigkeiten der Gattung argumentieren und könne nicht auf die konkrete Würde des Einzelnen abstellen.151 Auch die naturrechtlich-idealistische Variante legt ein ideengeschichtlich geprägtes Menschenbild zugrunde. Wie oben gezeigt, wollten die Verfassungsväter- und mütter die Menschenwürde aber gerade nicht als Ausprägung einer bestimmten ideengeschichtlichen Strömung verstehen. Weder die christliche noch die naturrechtlich-idealistische Variante sind folglich dazu geeignet, den Inhalt der Menschenwürde zu konkretisieren. b) Leistungstheorie Luhmann vertritt ein leistungsorientiertes, dynamisches Menschenwürdekonzept.152 Dieses Würdekonzept erinnert stark an das am Ansehen in der Gesellschaft orientierte römische Würdeverständnis. Nach Luhmann ist Würde anders als gewisse Grundanlagen der Intelligenz keine Naturausstattung und auch kein dem Menschen aufgrund einer bestimmten Naturausstattung immanenter Wert.153 Würde bedarf nach dieser Auffassung vielmehr der Konstitution. „Sie ist das Ergebnis schwieriger, auf generelle Systeminteressen der Persönlichkeit bezogener, teils bewusster, teils unbewusster Darstellungsleistung und in gleichem Maße Ergebnis ständiger sozialer Kooperation, die ebenfalls bewusst oder unbewusst, la-
148 149 150 151 152 153
Hofmann, AöR 1993, S. 361; Hörnle, ARSP 2003, S. 323. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 310. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 55; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 309. Hofmann, AöR 1993, S. 361. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 68 ff. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 68.
B. Die Menschenwürde
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tent oder durchschauend – niemals aber in Form offener Kommunikation, weil das ein Darstellungsfehler wäre – praktiziert werden kann.“154 Durch eine erfolgreiche Selbstdarstellung in Kommunikation mit anderen Menschen gewinne der Agierende seine Würde und werde zur Person.155 Diese Darstellungsleistung kann nach Luhmann aber auch misslingen, so dass der Mensch bei jeder Kommunikation riskiert, seine Würde zu verlieren.156 Es sei ihm aber auch möglich, diese Würde wiederherzustellen. Luhmann zieht daraus die Konsequenz, dass die Würde nach diesem Verständnis „alles andere als >unantastbarnur< von den objektiven Normen der Verfassung in seinem Recht auf Leben geschützt wird“ ausdrücklich offen gelassen.230 Im zweiten Urteil äußert sich das Bundesverfassungsgericht nicht ausdrücklich zur Grundrechtsträgerschaft des nasciturus. Allerdings spricht es in diesem Urteil von einem „eigenen Lebensrecht des Ungeborenen“231 und führt aus, dass dem nasciturus selbst Menschenwürde zukomme.232 Somit scheint das Gericht nunmehr selbst von einer subjektiven Grundrechtsträgerschaft des nasciturus auszugehen.233 2. Der Status des nasciturus in der Literatur Die Diskussion über den verfassungsrechtlichen Status des nasciturus in der Literatur wurde durch die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht entschärft. Zum einen ließ das Bundesverfassungsgericht offen, ob der Grundrechtsschutz ab Befruchtung oder ab Nidation beginnt.234 Zum anderen wird diese 225 226 227 228 229 230 231 232 233
234
BVerfGE 88, 203 (203, 251). BVerfGE 88, 203 (252). BVerfG, 88, 203 (252) in Bezugnahme auf BVerfGE 39, 1 (41). BVerfGE 88, 203 (252). BVerfGE 88, 203 (252). BVerfGE 39, 1 (41). BVerfGE 88, 203 (252). BVerfGE 88, 203 (251). Auf diese Weise wird das zweite Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch interpretiert von: Kluth, FamRZ 1993, S. 1383; Merkel, FS Müller-Dietz, S. 498, Fn. 15; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 272; Papier, FS Starck, S. 380; demgegenüber geht Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 60 davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht diese Frage offengelassen habe. BVerfGE 88, 203 (252).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Rechtsprechung insgesamt häufig als widersprüchlich kritisiert und damit als nicht ausschlaggebend bewertet.235 a) Menschenwürdeträgerschaft ab Vorliegen spezifisch menschlicher Eigenschaften Teilweise wird der Zuspruch von Menschenwürde vom Vorliegen spezifisch menschlicher Eigenschaften abhängig gemacht wie Erlebensfähigkeit, Überlebensinteresse, Ichbewusstsein, Vernunft und Selbstbestimmung. Das Abstellen auf solche Eigenschaften führt im Ergebnis dazu, dass der Mensch erst ab Geburt in den Gewährleistungsbereich der Menschenwürde einbezogen ist. aa) Erlebensfähigkeit Merkel fordert für den Zuspruch von Menschenwürde und Lebensrecht das Vorliegen von „Erlebensfähigkeit“. Merkel geht zunächst davon aus, dass die Auslegung des Art. 1 Abs. 1 und des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kein eindeutiges Ergebnis bezüglich der Grundrechtsträgerschaft des nasciturus liefere. Daneben könnten auch die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsinterpret den Status des nasciturus nicht eindeutig begründen, denn die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei inkonsistent und folglich nicht aussagekräftig.236 Auf der einen Seite propagiere das Bundesverfassungsgericht einen subjektivgrundrechtlichen Status des nasciturus mit der Folge, dass ein nicht indizierter Schwangerschaftsabbruch zwar straflos, aber weiterhin rechtswidrig sei. Auf der anderen Seite behandle das Gericht diese Abbrüche aber zugleich als rechtmäßig, indem es den Abtreibungsvertrag zwischen Arzt und Schwangerer entgegen §§ 134, 138 BGB für wirksam erkläre,237 Nothilfe zugunsten des Embryos ausschließe,238 einen Anspruch der Schwangeren auf Lohnfortzahlung für die Zeit des Abbruchs vorsehe239 und den Staat zur Bereitstellung eines flächendeckenden Angebots ambulanter und stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen verpflichte.240 Merkel verweist darauf, dass Beihilfe zu einer rechtswidrigen Tötung ebenfalls rechtswidrig sei. Indem der Staat durch die Bereitstellung von Einrichtungen Beihilfe zur rechtswidrigen Tötung leisten müsse, werde er von Rechts wegen zum Unrecht verpflichtet.241 Darüber hinaus verweist er auf das Urteil des BVerfG vom 27.10.1998, in dem der 1. Senat die ärztliche Tätigkeit des beratenen Schwangerschaftsabbruchs und damit die 235
236 237 238 239 240 241
Ipsen, DVBl 2004, S. 1384; ders., JZ 2001, S. 991 f.; Merkel, FS Müller-Dietz, S. 495 ff.; ders. Forschungsobjekt Embryo, S. 94; Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 69; Hoerster, JuS 1995, S. 194; Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, S. 929. Merkel, ZfL 2008, S. 40. BVerfGE 88, 203 (295). BVerfGE 88, 203 (279). BVerfGE 88, 203 (324). BVerfGE 88, 203 (265). Merkel, ZfL 2008, S. 40.
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rechtswidrige Tötung grundrechtsgeschützter Personen dem Schutz des Art. 12 GG unterstellte.242 Aufgrund dieser Widersprüche könne die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Grundrechtsstatus des nasciturus nicht zweifelsfrei begründen. Merkel stellt fest, dass die Instanzen der Rechtsanwendung den rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch durchgängig als rechtmäßig behandelten. Da Normgeltung voraussetze, dass die Norm ein Minimum an sozialer Wirksamkeit besitze, stelle die Formulierung „rechtswidrig“ eine bloße falsa demonstratio dar.243 Ein rechtmäßiger Schwangerschaftsabbruch wäre mit dem Grundrechtsstatus des nasciturus aber nur dann in Einklang zu bringen, wenn die Tötung durch Defensivnotstand gerechtfertigt wäre. Ein Defensivnotstand könnte aber nur dann bejaht werden, wenn der nasciturus die Gefahrentstehung wegen seines zurechenbaren Verhaltens vorrangig zu vertreten habe oder die Hinnahme der Gefahr durch einen Dritten diesem aus Gründen der rechtlich erzwingbaren Solidarität zuzumuten sei.244 Bei einer Schwangerschaft sei aber nicht der nasciturus für sein Dasein verantwortlich, sondern vielmehr die Schwangere, mit Ausnahme der Fälle der aufgezwungenen Schwangerschaft. Eine Rechtfertigungsmöglichkeit scheide in allen anderen Fällen folglich aus. In diesem Konflikt würden dem nasciturus folglich keine Grundrechte gewährt. Da es keine halben Grundrechte gebe, die einmal Schutz gewähren und ein anderes Mal nicht, sei der nasciturus nirgends Grundrechtsträger.245 Aus diesen Befunden zieht Merkel den Schluss, dass der nasciturus nirgendwo als Träger der Grundrechte behandelt werde.246 De lege lata komme ihm folglich kein Grundrechtsschutz zu. Da weder der Verfassungstext noch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts den verfassungsrechtlichen Status des nasciturus verbindlich entschieden,247 überprüft er schließlich, ob dem nasciturus ein subjektiv-grundrechtlicher Status aus moralischen Gründen auf der Grundlage der „SKIP-Argumente“248 zuzubilligen sei. Das Speziesargument, das dem nasciturus Würde und Lebensschutz allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gattung Mensch zuspricht, wird von Merkel als biologistisch-naturalistischer Fehlschluss kritisiert. Das Argument des biologistisch-naturalistischen Fehlschlusses beruht nach ihm auf folgender Überlegung: Den Naturwissenschaften geht es um eine Seins-Beschreibung, wohingegen die normativ und präskriptiv orientierte Rechtswissenschaft und Philosophie auf eine Sollens-Beschreibung zielen. Als unzulässig und als naturalistischer Fehlschluss wird es bezeichnet, wenn aus einer Seins-Beschreibung eine normativ-präskriptive Schlussfolgerung gezogen wird. Eine Berufung auf die Natur kann daher niemals 242 243 244 245 246 247 248
BVerfGE 98, 265. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 503; Merkel, ZfL 2008, S. 40 f. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 94; Merkel, ZfL 2008, S. 41. Merkel, ZfL 2008, S. 41. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 505. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 495 ff. = Spezies-, Kontinuitäts- , Identitäts- und Potentialitätsargument.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
menschliches Verhalten legitimieren, da sie im Gegensatz zu menschlichem Verhalten weder rechtfertigungsfähig noch rechtfertigungsbedürftig ist; rechtfertigungsfähig sind die Handlungen des Menschen, und zwar gerade insofern, als sie keine Naturereignisse sind.249 Nötig sind nach Merkel daher konkrete menschliche Eigenschaften, die es gebieten, dem Menschen einen subjektiv-grundrechtlichen Status zuzubilligen. Rein äußere biologische Unterschiede könnten dies nicht sein, sondern es müssten „subjektive, mit einem inneren Erleben verbundene Eigenschaften sein, und zwar solche, die das eigene Leben für den Menschen in einem höheren Grad, als das bei Tieren der Fall ist, wünschbar, schätzenswert, kurz: zu einem Gut oder zum Gegenstand eines subjektiven Wohls oder Interesses machen.“250 Moralische Rechte seien nur auf diese Weise begründbar, denn wer bestimmte Interessen nicht haben könne, könne nicht verletzt werden und damit sei auch kein sinnvoller Schutz möglich. Voraussetzung für ein Lebensrecht sei daher ein Interesse am eigenen Überleben, das subjektives Empfinden voraussetze.251 Föten ab der 20. Schwangerschaftswoche hätten ein integriertes funktionsfähiges Neuralsystem und seien zu subjektiven Wahrnehmungen fähig. Von diesem Zeitpunkt an habe der nasciturus einen „élan vital“, einen Empfindungsstrom, der dem nasciturus ein minimales Lebensinteresse verleihe und ihn zu einem möglichen Schädigungsobjekt mache.252 Denn wenn die betreffenden Empfindungen des nasciturus „als angenehm und lustvoll erfahren werden…, dann bedeutet das Lustvolle der Erfahrung eo ipso ein gewisses Wollen ihrer Fortdauer.“ Das in diesem Wollen liegende Interesse sei dann zu schützen.253 Dieser Schutz bleibe aber immer noch hinter einem subjektiv-grundrechtlichen Schutz zurück und sei mit anderen Belangen abwägbar. Demgegenüber hätte weder der pränidative Embryo noch der anencephale Fötus ein Überlebensinteresse mangels subjektiven Empfindens. Aus dem Prinzip der Gattungssolidarität folge allerdings, dass auch der pränidative Embryo in die Normsphäre des Lebensschutzes miteinzubeziehen sei, da er ein Entwicklungspotential habe. Diese Gattungssolidarität resultiere daraus, dass alle Menschen einmal aus Embryonen hervorgegangen sind und damit auch allen menschlichen Embryonen die Chance ihrer Entwicklung eingeräumt werden müsse. Anders als ein subjektives Recht auf Leben sei diese Solidaritätspflicht allerdings von relativ geringem Gewicht.254 Im Ergebnis hält Merkel die Vornahme später Schwangerschaftsabbrüche für moralisch erheblich problematischer als frühe. Auch das Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument können nach Merkel die subjektive Grundrechtsträgerschaft des nasciturus nicht begründen.255 249 250 251 252 253 254 255
Pap, MedR 1986, S. 233; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 31. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 508; ders., Forschungsobjekt Embryo, S. 134. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 510; Merkel, DRiZ 2002, S. 190 f. Merkel, Früheuthanasie, S. 461 . Merkel, Früheuthanasie, S. 461. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 511; Merkel, ZfL 2008, S. 42. Zu diesen Argumenten vgl. 2. Kapitel B V 2 c) bb).
B. Die Menschenwürde
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Geborenen Menschen, die vollständig erlebensunfähig sind, wie der irreversibel Bewusstlose im apallischen Syndrom und der Anenzephalus, will Merkel dennoch ein subjektives Grundrecht auf Würde und Leben zusprechen. Er begründet dies mit dem Prinzip des Normschutzes, das er zum einen aus dem Verletzungsverbot und der Solidarität und zum anderen aus den Fundamentalnormen wie Menschenwürde, Recht auf Leben und Gleichheit, die aus Gründen der Humanität und der Stabilität der normativen Gesamttextur der Gesellschaft über die strikten Grenzen hinaus garantiert werden, ableitet.256 Die Grundrechte auf Leben und Würde schützen primär das allgemeine Tötungs- und Entwürdigungsverbot als Fundament der Normordnung.257 Merkel geht bei seiner Argumentation davon aus, dass weder die Auslegung der Norm noch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Rechtsstatus des nasciturus zweifelsfrei entschieden, und sieht daher die Möglichkeit eröffnet, ethisch und rechtstheoretisch zu argumentieren. Der Argumentation Merkels ist aber dann der Boden entzogen, wenn die Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG entgegen seiner Auffassung doch zu einem eindeutigen Ergebnis führen würde. Die Aussage, dass eine Auslegung der Grundrechtsnormen keine eindeutige Antwort auf die Grundrechtsträgerschaft des nasciturus gebe, soll um Wiederholungen zu vermeiden, erst später im Rahmen der Auslegung der Menschenwürde überprüft werden.258 Überprüft werden soll aber bereits an dieser Stelle, ob Merkels weitere Argumentation stimmig ist. Merkel deckt zu Recht Widersprüche in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf. Darauf hinzuweisen ist aber, dass aus einer solchen Widersprüchlichkeit nicht unbedingt geschlossen werden muss, dass die gesamte Postulation der Grundrechtsträgerschaft unhaltbar ist. Denkbar ist auch, dass man die Anordnungen des Bundesverfassungsgerichts, soweit sie mit den eigenen Leitsätzen nicht vereinbar sind, für verfassungswidrig erklärt, da diese Anordnungen der Ebene des einfachen Rechts zuzuordnen sind, wohingegen dem Inhalt der Leitsätze Verfassungsrang zukommt.259 Zum anderen ist es wohl auch verfehlt, bei der bloßen Feststellung der Widersprüche stehen zu bleiben. Im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch werden Vorgaben für einen Lebensbereich, nämlich den Schwangerschaftsabbruch, gemacht, der, wie die Geschichte zeigt, ein Ewigkeitsthema der Menschheit darstellt und in seiner Lösung hoch problematisch ist. Es ist durchaus denkbar, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts Widersprüche bewusst in Kauf nahmen, um zu einer akzeptablen Lösung zu gelangen. Nicht zuzustimmen ist Merkel außerdem in der Aussage, dass der nasciturus in den Fällen des § 218a Abs. 1 StGB nicht als Grundrechtsträger behandelt wird. Die Feststellung, dass der nasciturus in diesen Fällen ohne Notstandslage aufgrund der Entscheidung der Mutter getötet werden darf, ist nicht hinreichend überzeu256 257 258 259
Merkel, FS Müller-Dietz, S. 514. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 514. Vgl. 2. Kapitel B V. Büchner, ZfL 1999, S. 60 f.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
gend. Die Geschichte hat gezeigt, dass Schwangerschaftsabbrüche auch durch ein vollständiges Verbot nicht verhindert werden können. Aus dieser Erkenntnis resultierte letztlich die Beratungsregelung des § 218a Abs. 1 StGB, die einen effektiveren Schutz des nasciturus im Einvernehmen mit der Mutter bewirken soll. Ergibt die Beobachtung des Gesetzgebers, dass der Schutz nicht ausreicht, so hat er nachzubessern. Die Beratungsregelung wurde folglich gerade deshalb erlassen, weil der nasciturus als Grundrechtsträger anzusehen ist und kann daher schwerlich als Beweis dafür herangezogen werden, dass das geltende Recht den nasciturus nicht als Grundrechtsträger behandelt. Darüber hinaus stellt Merkel bei seiner Argumentation die Normenhierarchie quasi auf den Kopf. Indem er die einfachgesetzliche Rechtslage des Schwangerschaftsabbruchs als Argumentationsgrundlage verwendet und dabei Schlussfolgerungen für das Verfassungsrecht zieht, missachtet er, dass nicht das Verfassungsrecht am einfachen Recht, sondern gerade umgekehrt das einfache Recht am Verfassungsrecht zu messen ist. Ist das einfache Recht mit dem Verfassungsrecht nicht vereinbar, so folgt daraus keinesfalls eine Anpassung des Verfassungsrechts. Vielmehr müsste man die einfachgesetzliche Norm für verfassungswidrig erklären. Letztlich lassen inkonsistente Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und verfassungswidrige Gesetze den Vorrang der Verfassung unberührt. Sofern Merkel in rechtstheoretischer Hinsicht argumentiert, dass ein Minimum an sozialer Wirksamkeit Bedingung der Geltung einer Norm sei, lässt er die Vorschriften des Art. 79 GG außer Acht. Gemäß Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG kann der Wortlaut des Grundgesetzes nur durch ein Gesetz geändert werden, das gemäß Art. 79 Abs. 2 GG von einer 2/3-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat gebilligt wurde. Eine Änderung des Art. 1 GG ist gemäß Art. 79 Abs. 3 GG gänzlich unzulässig bis zu dem Zeitpunkt, zu dem gemäß Art. 146 GG eine Verfassung in Kraft tritt, die vom Deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen wurde. Diese Regelungen bezüglich der Verfassungsänderung hätten keine Bedeutung mehr, wenn jeder Artikel, der gerade nicht mehr beachtet wird, seine Geltung verlöre.260 Problematisch erscheint auch, dass Merkel die Forschungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 GG mittels der Gattungssolidarität beschränken will, die dem nasciturus aber keinen Grundrechtsstatus verleiht.261 Die Forschungsfreiheit ist aber nur durch kollidierende Güter von Verfassungsrang beschränkbar. Mangels Grundrechtsstatus des nasciturus ist er nicht in der Lage, die Forschungsfreiheit einzuschränken. Merkel muss dazu das Konstrukt der Gattungswürde bemühen. Indem Merkel das Lebensinteresse an das Kriterium der Empfindungsfähigkeit knüpft, entstehen schließlich weitere problematische Fragen, die einer Antwort bedürfen. Zum einen stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich für den Umgang mit höher entwickelten Tieren ergeben, die grundsätzlich empfindungsfähig sind. Basiert das Lebensinteresse auf angenehmen Empfindungen, wie Merkel es vertritt, so stellt sich darüber hinaus die Frage, was passiert, wenn der nasciturus 260 261
Hillgruber/Goos, ZfL 2008, S. 46 f. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 150, 188.
B. Die Menschenwürde
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unangenehme Empfindungen hat. Ist ihm in diesen Fällen das Lebensinteresse abzusprechen?262 Diese Fragen bedürften einer Antwort. Unverständlich bleibt auch, warum Merkel geborenen vollständig erlebensunfähigen Menschen Menschenwürde und Lebensschutz zuspricht, dem nasciturus aber versagt. Als Grund für den Schutz aller geborenen Menschen nennt Merkel unter anderem die Humanität. Es drängt sich die Frage auf, warum der Würdeund Lebensschutz aus Gründen der Humanität nur dem geborenen Menschen zukommen soll und nicht dem nasciturus. Wie Stern könnte man den Würde- und Lebensschutz gerade aus Gründen der Humanität auch für den nasciturus für erforderlich halten.263 Das Anknüpfen an die Spezieszugehörigkeit lehnt Merkel als biologistischnaturalistischen Fehlschluss ab. Dass allein aus einem biologischen Faktum keine normative Schlussfolgerung gezogen werden darf, ist unbestritten. Allerdings stellt das Abstellen auf beispielsweise das Bewusstsein oder die Gehirnentwicklung selbst eine normative Folgerung aus biologischen Fakten dar, so dass sich die Konzeption Merkels selbst dem Vorwurf eines biologistisch-naturalistischen Fehlschlusses ausgesetzt sieht. Bei näherem Hinsehen erweist sich Merkels Auffassung daher im Ergebnis als nicht schlüssig. bb) Überlebensinteresse Hoerster billigt in Anlehnung an den australischen Philosophen Peter Singer dem Menschen erst dann einen Rechtsstatus und subjektive Rechte und damit Menschenwürde und Lebensrecht zu, wenn er ein eigenes Überlebensinteresse hat.264 Dieses spezifisch menschliche Überlebensinteresse fehle nicht nur jedem Tier, sondern auch dem Fötus, so dass dieser ebenfalls kein Lebensrecht und keine Menschenwürde haben könne.265 Hoerster bestreitet nicht, dass der nasciturus von Anfang an zur Spezies homo sapiens gehöre und das Potential besitze, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln. Wie Singer lehnt er jedoch dieses Argument in Anlehnung an die Begriffe Rassismus und Sexismus, die ebenfalls nur an biologische Eigenschaften anknüpfen, als unzulässigen Speziesismus ab. Allein die Zugehörigkeit zu einer 262 263 264
265
Hoerster, JuS 2003, S. 531. Stern, Staatsrecht III/1, S. 1056. Hoerster, ZfL 2006, S. 46; ders., JuS 2003, S. 532; ders., Abtreibung im säkularen Staat, S. 69 ff. Hoerster bezeichnet seine Auffassung selbst als utilitaristisch. Utilitarismus kann definiert werden als jene ethische Auffassung, die im Nützlichen die Grundlage des sittlichen Verhaltens sieht und sittliche Normen nur anerkennt, sofern sie sich im Laufe der Zeit für die Interessen der einzelnen als nützlich erwiesen und bewährt haben. Für den Utilitarismus gibt es somit keine objektiven Normen und damit kein Gut und Böse, so dass sich alles aus dem Konsens von subjektiven Interessen ergibt. Vgl. Lohner, Personalität und Menschenwürde, S. 26 f. Hoerster konzentriert sich in seinen Ausführungen vorwiegend auf das Lebensrecht. Gleichwohl versagt er bei seiner Argumentation durch die Differenzierung von vorpersonalen und personalen Wesen dem Nasciturus implizit zugleich die Menschenwürde. So auch Schreiber, MedR 2003, S. 369
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
bestimmten biologischen Kategorie könne keine ethischen Konsequenzen haben.266 Dazu seien bestimmte relevante Eigenschaften erforderlich. Nur wer ein Lebensinteresse habe, könne auch ein Lebensrecht und dadurch auch Menschenwürde haben. Voraussetzung für ein Lebensinteresse sei aber der aufgeklärte Wunsch nach Überleben. Mangels Ich-Bewusstseins könne der Fötus einen solchen Wunsch nicht haben.267 Wie Singer differenziert Hoerster zwischen bloßem Mensch- und Personsein. Das Personsein gehe über rein biologische Fakten hinaus und erfordere IchBewusstsein.268 Die Leibesfrucht sei daher nur Vorläufer einer Person.269 Mangels Überlebensinteresse leide der nasciturus unter seiner Tötung ebenso wenig wie die noch unbefruchtete Keimzelle.270 Es werde auch kein Überlebensinteresse einer sich aus dem Fötus entwickelnden Person verletzt, da bereits die Entstehung einer Person verhindert werde.271 Konsequenterweise müsste sonst auch die Nichtbefruchtung das Überlebensinteresse beeinträchtigen.272 Mangels Ich-Bewusstsein und dem dadurch fehlenden Überlebensinteresse komme dem nasciturus folglich weder Würde noch Lebensrecht zu. Aus Sicherheitserwägungen nimmt Hoerster ein Überlebensinteresse ab Geburt an und billigt sowohl dem Neugeborenen als auch dem geistig schwer Behinderten Lebensrecht und Menschenwürde zu, um eine klare Grenzziehung zu ermöglichen. Darüber hinaus vertritt er, dass bei irreversibel Komatösen und Altersdementen bereits ein Überlebensinteresse bestanden habe. Dieses erstrecke sich wie eine Brücke auf die nun kommende Phase.273 In dieser Konsequenz unterscheidet sich die Ansicht Hoersters von der Auffassung Singers. Singer geht davon aus, dass ein eigentliches Lebensrecht erst im zweiten Lebensjahr bestehe. Vorsichtshalber spricht er dem Kind aber bereits nach einem Lebensmonat das Lebensrecht zu. Zuvor könnten behinderte und unerwünschte Kinder auch nach der Geburt getötet werden, denn entsprechend der Entwicklung des Nervensystems habe das Leben eines Neugeborenen weniger Wert als das Leben eines Schweins, eines Hundes oder eines Schimpansen.274 Auch der irreversibel Komatöse hat nach Singer kein Lebensrecht. Euthanasie bei 266 267 268
269 270 271 272 273 274
Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, S. 64 f.; ders., JuS 1989, S. 174. Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, S. 69 ff.; ders., JuS 1989, S. 172. Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, S. 74 ff.; Singer fordert in seinem Werk Praktische Ethik auf S. 118 „Selbstbewußtsein, Selbstkontrolle, Sinn für Zukunft, Sinn für Vergangenheit, die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüpfen, sich um andere zu kümmern, Kommunikation und Neugier.“ Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, S. 75. Hoerster, JuS 1989, S. 176. Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, S. 100. Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, S. 102. Hoerster, ZfL 2006, S. 46. Singer, Praktische Ethik, S. 169. Singer nimmt als Anknüpfungspunkt für seine Thesen das von Ernst Haeckel (1834-1919) entwickelte Biogenetische Grundgesetz, nach dem der Mensch während seiner Entwicklung im Mutterleib (Ontogenese) die Entwicklung der Stammesgeschichte (Phylogenese) durchläuft. Wie bereits oben gezeigt, ist die Auffassung von Haeckel nicht mehr haltbar. Vgl. 1. Kapitel A.
B. Die Menschenwürde
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älteren Menschen, denen die Fähigkeit zum Bewusstsein fehlt, lehnt Singer mit der Begründung ab, dass dieses Verfahren bei den bewussten Menschen Ängste auslösen könnte, selbst einmal so getötet zu werden.275 Hinsichtlich der Tötung fordert Singer, dass sie so schmerzfrei wie möglich geschehen müsse, auch bei Spätschwangerschaftsabbrüchen.276 Nach Hoerster ist der nasciturus aber nicht gänzlich schutzlos gestellt. Aus dem Gattungsinteresse, die menschliche Spezies zu erhalten und dem Beschützerinstinkt gegenüber dem nasciturus als Angehöriger der eigenen Gattung leitet er einen „schlichten Lebensschutz“ ab, der allerdings in gestufter Form vorstellbar sei. Eine Abwägung zwischen den Interessen der Frau und dem nasciturus wird dadurch möglich. Daraus folgt, dass Abtreibungen grundsätzlich zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft zulässig sind.277 Ob eine solche Argumentation wirklich mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 GG vereinbar wäre, soll erst im Rahmen der Auslegung überprüft werden. Auch hier beschränkt sich die kritische Würdigung auf die Schlüssigkeit der Argumentation. Im Ergebnis kann diese Auffassung nicht überzeugen. Problematisch ist zunächst, dass Hoerster, wohl um geborene Menschen ohne Überlebensinteresse nicht aus der Würdegarantie auszuklammern und dadurch ein mit der Verfassung nicht in Einklang zu bringendes Ergebnis zu vermeiden, ab Geburt ein Überlebensinteresse fingiert. Damit setzt er sich in Widerspruch zu seiner gesamten Argumentation, nach der für die Zubilligung von Personalität, Ichbewusstsein und Rationalität erforderlich sind. Die klare Grenzziehung, die er mit dieser Fristsetzung anstrebt, ist im Übrigen nicht nur durch das Abstellen auf den Zeitpunkt der Geburt möglich, sondern könnte auch erreicht werden, indem beispielsweise an den Beginn des 2. Lebensjahres oder des 5. Schwangerschaftsmonats angeknüpft würde. Inkonsistent ist auch die von ihm bemühte Brückenkonstruktion, die den Rechtsstatus des geborenen Menschen auch bei Verlust eines Überlebensinteresses sichern soll. Fordert man wie Hoerster ein aktuelles Überlebensinteresse, so müssen konsequenterweise sowohl Embryonen als auch schwerst geistig Behinderte aus dem Garantiebereich der Menschenwürde herausfallen. Es überzeugt nicht, ein vergangenes Überlebensinteresse für ausreichend zu erachten und dem zukünftigen Überlebensinteresse keine Relevanz zuzubilligen.278 Wie bereits ausgeführt, stellt es nach Hoerster einen biologistischnaturalistischen Fehlschluss dar, Menschenwürde und Lebensrecht mit der Spezieszugehörigkeit zu begründen. Eine solche Begründung hält er im Übrigen für willkürlich. Zu fragen ist, was willkürlich an einer Auffassung sein soll, die allen Angehörigen der menschlichen Spezies Menschenwürde und Lebensrecht zubilligt. Willkürlich erscheint vielmehr, den Zuspruch dieser Rechte von vagen Eigenschaften abhängig zu machen. Willkürlich ist darüber hinaus auch, dass man die 275 276 277 278
Singer, Praktische Ethik, S. 246. Singer, Praktische Ethik, S. 197 f. Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, S. 111, 113. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 167.
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mit Befruchtung entstandenen Fähigkeiten des nasciturus, Ich-Bewusstsein zu erlangen, nur bei Ungeborenen nicht berücksichtigt, bei Schlafenden und Bewusstlosen aber akzeptiert.279 Folgt man Hoersters Sichtweise, so fordert man für den Zuspruch von Menschenwürde und Lebensrecht des nasciturus das Vorliegen einer bestimmten Eigenschaft, nämlich ein Überlebensinteresse. Demgegenüber erachtet man für den Zuspruch von Menschenwürde und Lebensrecht des geborenen Menschen die Gattungszugehörigkeit für ausreichend. Ein Überlebensinteresse ist gerade nicht erforderlich. Damit beinhaltet die Argumentation Hoersters aber bezüglich des geborenen Lebens selbst einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss und wurde zutreffend als „Geburtsspeziesismus“280 bezeichnet.281 Auch Hoersters Auffassung ist folglich ernstzunehmenden Einwänden ausgesetzt und kann im Ergebnis nicht überzeugen. cc) Ichbewusstsein, Vernunft und Selbstbestimmung Im Gegensatz zu Merkel und Hoerster billigt Dreier dem nasciturus das durch Art. 2 Abs. 2 GG garantierte Lebensrecht zu, spricht sich aber zugleich gegen eine Einbeziehung des nasciturus in den Gewährleistungsbereich der Menschenwürde aus. Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts hält er ebenfalls für inkonsistent und nicht überzeugend.282 Die Einschlägigkeit der Menschenwürdegarantie hätte zur weitgehenden Verfassungswidrigkeit der Abtreibungsregelungen führen müssen. Allenfalls könnte eine enge medizinische Indikation für zulässig gehalten werden, wobei aber auch hier fraglich sei, weshalb der Konflikt immer zu Lasten des Kindes ausgehen solle.283 Darüber hinaus nimmt Dreier Bezug auf die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch, in der das Gericht ausführte, dass der Gesetzgeber nicht verpflichtet sei, die gleichen Maßnahmen zum Schutz von ungeborenem und geborenem Leben zu treffen. Die Existenz der §§ 218 ff. StGB neben den §§ 211 ff. StGB zeige, dass der nasciturus im Strafrecht nicht als Mensch angesehen werde, sondern in der Geburt ein fundamentaler Einschnitt liege.284 Nur indem man den nasciturus aus der Würdegarantie ausklammere, könne man Wertungswidersprüche vermeiden.285 Dreier weist ausdrücklich darauf hin, dass man allein aus der Tatsache, dass der nasciturus im biologisch-naturwissenschaftlichen Sinne lebe, nicht schließen könne, dass er in den Gewährleistungsbereich der Menschenwürde einzubeziehen sei. Eine solche Schlussfolgerung stelle vielmehr einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss dar.286 279 280 281 282 283 284 285 286
Tröndle, NJW 1991, S. 2542. Tröndle, NJW 1991, S. 2543. Tröndle, NJW 1991, S. 2543; Tröndle, GA 1995, S. 253. Dreier, DÖV 1995, S. 1039 f.; Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 69. Dreier, DÖV 1995, S. 1040. Dreier, ZRP 2002, S. 379. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 70. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 66.
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Auch die im nasciturus angelegten potentiellen Fähigkeiten genügten nicht, um eine Würdeträgerschaft zu begründen. Bei einer solchen Argumentation müsste eine „Würdeverletzung pro futuro“ konstruiert werden.287 Gemäß ihrer Entstehungsgeschichte und ihrem Zweck solle die Menschenwürdegarantie eine konkrete Schutzgarantie für konkrete Subjekte sein, um deren Personenhaftigkeit, Integrität und Identität zu wahren. Ein Abstellen auf die Potentialität würde zu einer Inflationierung des Menschenwürdesatzes und damit zu seiner Entwertung führen.288 Dreier verweist darüber hinaus auf den Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG, der von Würde „des Menschen“ und nicht von „jeder“ wie Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG spreche. Leben sei zwar conditio sine qua non, aber nicht zugleich conditio per quam.289 Das bedeute, dass das Leben zwar kausale Voraussetzung für das Vorliegen der Menschenwürde sei. Allerdings heiße dies nicht zugleich, dass jedem Leben Menschenwürde zukomme. Menschenwürde und Lebensschutz seien daher grundsätzlich zu entkoppeln. Eine solche Auffassung sei auch mit anderen rechtlichen Wertungen kompatibel wie beispielsweise § 1 BGB, der die Rechtsfähigkeit des Menschen an die Geburt knüpft. Bei § 1923 Abs. 2 BGB müsse die Rechtsfähigkeit fingiert werden.290 Träger der Menschenwürde kann nach Dreier nur der geborene Mensch mit seiner prinzipiellen (nicht aktuellen) Fähigkeit zur vernünftigen Selbstbestimmung sein, nicht aber der nasciturus, da diesem Ich-Bewusstsein, Vernunft und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung fehlen.291 Dreiers Begründung ist vielfachen Bedenken ausgesetzt. Zunächst schließt er vom einfachgesetzlichen Recht auf die Verfassung, indem er aus den strafrechtlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch und den Regelungen im Bürgerlichen Gesetzbuch folgert, dass die Geburt ein fundamentaler Einschnitt sei. Der Verweis auf den Beginn der Rechtsfähigkeit nach dem BGB ist schon allein deshalb nicht aussagekräftig, weil jedes Gesetz für sich selbst festlegt, wann die Rechtssubjektivität beginnt.292 Wie in der Kritik zu Merkel bereits dargestellt, ist das einfache Recht im Hinblick auf das Verfassungsrecht und nicht das Verfassungsrecht anhand des einfachen Rechts zu interpretieren. Eine solche Schlussfolgerung ist daher verfehlt, da sie die Normenhierarchie quasi auf den Kopf stellt.293 Sofern Dreier die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch als widersprüchlich kritisiert, berücksichtigt er nicht die Komplexität des Schwangerschaftsabbruchs. Er zieht nicht in Betracht, dass Wertungswidersprüche möglicherweise unvermeidbar sind, um einer solchen Extremsituation gerecht zu werden. Eine ergebnisorientierte Argumentation, die den nasciturus aus
287 288 289 290 291 292 293
Dreier, DÖV 1995, S. 1039. Dreier, DÖV 1995, S. 1039. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 67. Dreier, ZRP 2002, S. 378. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 64. Tornow, Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht, S. 77. So auch: Tornow, Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht, S. 77.
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der Menschenwürdegarantie ausklammern will, um Wertungswidersprüche zu vermeiden, kann jedenfalls nicht überzeugen. Darüber hinaus ist nicht schlüssig begründet, warum die Potentialität des nasciturus, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln, nicht zu einem Würdezuspruch führen soll. Eine mit der Ausweitung der Menschenwürdegarantie einhergehende Inflationierung und Entwertung ist nicht ersichtlich. Es werden auch sonst keine lebenden Personengruppen von der Würdegarantie ausgeklammert, nur um einer Entwertung der Menschenwürdegarantie entgegen zu wirken. Mit Befruchtung liegt bereits ein konkretes Subjekt vor, so dass eine Inflationierung nicht zu befürchten ist. Darüber hinaus kann einer Inflationierung auch durch ein enges Verständnis des materiellen Schutzbereichs der Menschenwürde entgegengewirkt werden. Eine Einengung des personellen Schutzbereichs ist nicht erforderlich. Richtig ist, dass Leben und Menschenwürde getrennt voneinander zu betrachten sind und dass das bloße Abstellen auf ein biologisches Faktum einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss darstellt. Ob das Abstellen auf ein biologisches Faktum aber möglicherweise aus teleologischen Gründen geboten ist, ist später noch zu prüfen.294 Ist dies der Fall, so wird ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss vermieden. dd) Soziale Erkennbarkeit Für Schmidt-Jortzig macht das spezifisch Menschliche nicht die Summe menschlicher Gene aus, sondern „die einzigartige Vernunftbegabung, die Gefühlsabhängigkeit, die Sozialität eines Geschöpfes“.295 Er beschreibt den Menschen als kulturelles Wesen mit Anlagen zu Musikalität und Sprache. Seine Bestimmung liege in Interaktion und Kommunikation mit seinesgleichen. Für den Zuspruch von Menschenwürde maßgeblich sei daher die soziale Erkennbarkeit.296 In seinen Ausführungen legt er sich nicht auf einen genauen Zeitpunkt fest, zu dem diese soziale Erkennbarkeit gegeben ist, sondern erwägt den Zeitpunkt der Nidation, da zu diesem Zeitpunkt eine Verbindung mit dem mütterlichen Organismus eintritt, den Zeitpunkt der 6. Schwangerschaftswoche, in der sich durch den Beginn der Herztätigkeit ein eigener Kreislauf des nasciturus herausbildet, die 12. Schwangerschaftswoche, da zu diesem Zeitpunkt atmungsähnliche Bewegungen feststellbar sind und das Gesicht menschliche Züge bekommt, die 13. Woche, da dann erste elektrische Hirnsignale ablaufen, die 22. Schwangerschaftswoche, da hier die extrauterine Lebensfähigkeit gegeben ist, und die Geburt, da ab diesem Zeitpunkt das Kind personell und individuell zweifellos zur Kenntnis genommen werde.297 Das Kriterium der Menschenerkennbarkeit, das Schmidt-Jortzig für erforderlich hält, eignet sich nicht für die Beantwortung der Frage, wann Menschenwürde be294 295 296
297
2. Kapitel B V 3 d). Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, S. 930. Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, S. 930; auch Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 1 u. 2, Rn. 51, vertritt die Auffassung, dass sich der Nasciturus dem Bild des Menschen wenigstens angenähert haben sollte. Schmidt-Jortzig, DÖV 1995, S. 930.
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ginnt. Schmidt-Jortzig selbst erwägt verschiedene Zeitpunkte. Folglich kann der Zuspruch von Menschenwürde nicht an dieses Kriterium anknüpfen. Generell ist es höchst problematisch, den Würdeschutz an Merkmale wie Vernunftbegabung, Musikalität oder Kommunikationsfähigkeit zu knüpfen, denn auch geborene Menschen, wie der Anenzephalus, der irreversibel Komatöse oder Demenzkranke besitzen diese Fähigkeiten nicht. Konsequenterweise müsste man auch diesen Personen die Würde absprechen. Gleichwohl wird diese Konsequenz von niemandem gezogen. ee) Einheit von Leib, Seele und Geist Podlech klammert den nasciturus aus dem Gewährleistungsbereich der Würdegarantie aus, bezieht ihn aber zugleich in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 GG ein. Die Existenz des Lebens durchläuft nach seiner Ansicht drei Lebensabschnitte: Das Stadium des nasciturus, das Stadium des Menschen in der Einheit von Leib, Seele und Geist und das Stadium als Mensch vom Hirntod bis zur Leichenwerdung.298 Erst mit der bezeichneten Einheit werde der Mensch zum Träger der Menschenwürde. Diese Einheit erlösche nicht mit dem Hirntod, so dass auch dem Verstorbenen Würde zukomme.299 Die Auffassung von Podlech entbehrt letztlich jeder Begründung. Offen bleibt, warum die Einheit von Leib, Seele und Geist erst ab Geburt und nicht bereits mit Befruchtung gegeben sein soll.300 Böckenförde spricht daher beispielsweise bereits ab Befruchtung von einer Leib-Geist-Seele Einheit, da zu diesem Zeitpunkt das biologische Fundament bereits vorhanden und darin die spätere geistige und psychische Entwicklung mit grundgelegt sei.301 Die Sichtweise Podlechs erinnert letztlich stark an die Sukzessivbeseelungslehre, die heute nicht mehr vertreten wird. Diese Auffassung kann folglich nicht überzeugen. ff) Zwischenergebnis Die dargestellten Auffassungen, die den Zuspruch von Menschenwürde von spezifisch menschlichen Eigenschaften oder einem Überlebensinteresse abhängig machen, sind in ihrer Argumentation nicht schlüssig und können daher nicht überzeugen. b) Objektiv-rechtlicher Begründungsansatz Die Vertreter eines objektiv-rechtlichen Begründungsansatzes sprechen dem nasciturus keinen subjektiv grundrechtlichen Status zu. Als Grundrechtssubjekt anerkennen sie nur den geborenen Menschen. Allerdings soll die Menschenwürde auf den pränatalen Bereich vorwirken, woraus ein objektiv-rechtlicher Schutz re-
298 299 300 301
Podlech, in: AK GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 57. Podlech, in: AK GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 57, 58a f. Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 93. Böckenförde, JZ 2003, S. 812.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
sultiere, dessen Intensität mit fortschreitender Entwicklung des nasciturus zunehme.302 Begründet wird die Vorwirkung auf verschiedene Art und Weise. aa) Vorwirkung der Menschenwürde in Parallele zum postmortalen Würdeschutz Ipsen, der einen objektiv-rechtlichen Begründungsansatz vertritt, beginnt seine Ausführungen mit einer umfassenden Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Man könne nicht einerseits ausdrücklich die Menschenwürdeträgerschaft des nasciturus postulieren und damit eine auf das einzelne Leben bezogene staatliche Schutzpflicht während der gesamten Dauer der Schwangerschaft bestätigen und auf der anderen Seite die Straflosigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen trotz Rechtswidrigkeit innerhalb der ersten zwölf Wochen aufgrund eines Beratungsmodells und nach zwölf Wochen unbegrenzt aufgrund des Indikationsmodells billigen.303 Grundrechtsdogmatisch gebe es nur zwei Möglichkeiten. Erstens: Der nasciturus sei als Träger der Menschenwürde anzusehen. Dann liege eine Menschenwürdeverletzung vor, da seine Existenz vollständig zur Disposition der Mutter stünde. Zweitens: Der nasciturus werde überhaupt nicht von der Menschenwürdegarantie erfasst oder sein Schutz sei aus der objektiven Geltung der Menschenwürdegarantie abzuleiten. Dann werde mit der Abtreibung kein Rechtssubjekt beseitigt. Es sei lediglich zu prüfen, ob der Gesetzgeber dem geschützten Rechtsgut einen hinreichenden Schutz gewähre.304 Im Ergebnis entscheidet sich Ipsen für einen bloß objektiven Schutz der Menschenwürde. Eine Erstreckung der Menschenwürde auf das pränatale Stadium im Sinne eines objektiv-rechtlichen Schutzes begründet er mit einem Vergleich zum postmortalen Würdeschutz,305 der seit der Mephisto-Entscheidung unstrittig anerkannt ist. Dort führte das Bundesverfassungsgericht aus: „Es würde mit dem verfassungsverbürgten Gebot der Unverletzlichkeit der Menschenwürde, das allen Grundrechten zugrunde liegt, unvereinbar sein, wenn der Mensch, dem Würde kraft seines Personseins zukommt, in diesem allgemeinen Achtungsanspruch auch nach seinem Tode herabgewürdigt oder erniedrigt werden dürfte. Dementsprechend endet die in 302
303 304 305
Ipsen, JZ 2001, S. 992; Denninger, KritV 2003, S. 207; Hartleb, DVBl 2006, S. 678; Kloepfer, JZ 2002, S. 420; Lorenz, ZfL 2001, S. 40; Anderheiden bejaht eine subjektive Grundrechtsberechtigung des nasciturus aus Art. 2 Abs. 2 GG erst ab Nidation und spricht dem nasciturus implizit auch ab diesem Zeitpunkt Menschenwürde zu. Für die prävitale Phase erwägt er einen prävitalen Schutz aus Art. 1 Abs. 1 GG in Parallele zum postmortalen Persönlichkeitsschutz. Vgl. Anderheiden, KritV 2001, S. 380; für einen objektiven pränidativen Lebensschutz aus den Vorwirkungen der Menschenwürde auch: Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 28; Taupitz, NJW 2001, 3437 f. Ipsen, DVBl 2004, S. 1384; ders., JZ 2001, S. 992. Ipsen, JZ 2001, S. 992. Ipsen, JZ 2001, S. 992; so auch: Taupitz, NJW 2001, 3438;
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Art. 1 Abs. 1 GG aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, nicht mit dem Tode.“306
Der Tote ist hierbei nicht Subjekt der Menschenwürde, vielmehr wird er von der Nach- oder Reflexwirkung der Menschenwürde erfasst, mit der Folge, dass der postmortale Würdeschutz abwägungsoffen ist.307 Im Sinne eines „Spiegelbildes“308 müsse in Analogie zu dem abwägungsoffenen postmortalen Würdeschutz ein abwägungsoffener pränataler Würdeschutz vorhanden sein und entsprechend einer Grundrechtsnachwirkung eine Grundrechtsvorwirkung existieren.309 Der nasciturus sei wie der Tote nicht Grundrechtsträger der Menschenwürde. Es bestehe aber eine rein objektive Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG.310 In Parallele zur sukzessiven Abnahme des postmortalen Würdeschutzes steige der Würdeschutz in der pränatalen Phase an. Ipsen begründet den zunehmenden Würdeschutz auch damit, dass Rechtssubjekt der geborene Mensch sei. Daher steige der Würdeschutz mit fortschreitender Entwicklung des nasciturus und zunehmender Menschenähnlichkeit an.311 Prima facie scheint eine Parallelisierung von postmortalem und pränatalem Würdeschutz logisch und geradezu geboten zu sein. Bei näherem Hinsehen entdeckt man jedoch gravierende Unterschiede, die eine vollständige Parallelisierung von postmortalem und pränatalem Würdeschutz verbieten. Der Tote hat zumindest einmal gelebt und ein Interesse an dem sorgsamen Umgang mit seinem Körper nach dem Tod entwickelt. Der postmortale Menschenwürdeschutz stellt also gleichsam eine Verlängerung der Würde derjenigen dar, die einmal gelebt haben. Eine solche Anbindung des Würdeschutzes an die früher lebende Person unternimmt auch das Bundesverfassungsgericht, wenn es formuliert: „Geschützt ist bei Verstorbenen zum einen der allgemeine Achtungsanspruch, der dem Menschen kraft seines Personseins zusteht…Schutz genießt aber auch der sittliche, personale und soziale Geltungswert, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben hat.“312
306 307
308 309
310 311 312
BVerfGE 30, 173 (194). Hartleb, DVBl 2006, S. 675; Ipsen, JZ 2001, S. 993; a.A. Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 15, der davon ausgeht, dass es sich bei dem Toten um ein Grundrechtssubjekt auf Zeit handelt. Dederer, AöR 2002, S. 13. Ipsen, JZ 2001, S. 993; Birnbacher, in: Kettner, Biomedizin und Menschenwürde, S. 259; so auch: Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 28; Lorenz, ZfL 2001, S. 40.; Rosenau, FS Schreiber, S. 761, 766 f; Taupitz, NJW 2001, 3438. Ipsen, JZ 2001, S. 991. Ipsen, JZ 2001, S. 994. Kammerbeschluss vom 5. 4. 2001, NJW 2001, S. 2959.
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Bei der Vorwirkung der Menschenwürde in das pränatale Stadium war ein Grundrechtssubjekt nie vorhanden. Es fehlt daher das Substrat, an das der Würdeschutz anknüpfen kann.313 Eine weitere Asymmetrie besteht darin, dass der nasciturus sich in der Entwicklung befindet, während bei einem Toten eine solche Entwicklung gerade nicht mehr stattfindet.314 Aufgrund der genannten Asymmetrien überzeugt es daher nicht, in Parallele zum postmortalen Würdeschutz einen pränatalen Würdeschutz zu begründen. Darüber hinaus stößt die Annahme von subjektlosen Grundrechten auf erhebliche Bedenken. Hartleb weist zu Recht darauf hin, dass Grundrechte durch eine dreigliedrige Struktur gekennzeichnet sind, nämlich Grundrechtsträger, -adressat und -inhalt.315 Im Ergebnis kann die Konstruktion von subjektlosen Grundrechten folglich nicht überzeugen. bb) Anwartschaftsrecht auf Menschenwürde Aufgrund der Tatsache, dass bereits die Zygote das Potential hat, sich zu einer menschlichen Persönlichkeit zu entwickeln, der jedenfalls mit Vollendung der Geburt Lebensrecht und Menschenwürde in vollem Maße zustehen, erscheint es Kloepfer angemessen, auch dem nasciturus den Schutz der Menschenwürde und des Lebensgrundrechts im Sinne einer Vorwirkung zuzusprechen.316 Da es sich letztlich um grundrechtliche Entstehungssicherung handle, die dem künftigen Menschen zur Sicherung seiner Geburt diene, spreche viel dafür, diesen Grundrechtsschutz als Schutz von Quasi-„Grundrechtsanwartschaften“ zu begreifen.317 Dieser Anwartschaftsschutz sei aber nicht so stark wie der Lebens- und Würdeschutz geborener Menschen. Die Intensität des Schutzes nehme mit fortschreitender Entwicklung des nasciturus zu, so dass der Lebens- und Würdeschutz des nasciturus kurz nach Befruchtung am geringsten und kurz vor Geburt am größten sei.318 Fraglich ist zunächst, ob die Übertragung der Idee des zivilrechtlichen Anwartschaftsrechts ins Verfassungsrecht überzeugen kann.319
313 314 315 316 317 318 319
Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Fn. 253; Hartleb, DVBl 2006, S. 675; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 338. Dederer, AöR 2002, S. 13; Hartleb, DVBl 2006, S. 675. Hartleb, DVBl 2006, S. 675. Kloepfer, JZ 2002, S. 420. Kloepfer, JZ 2002, S. 420. Kloepfer, JZ 2002, S. 420. Im Hinblick darauf, dass die Rechtsfähigkeit des Menschen im Zivilrecht gemäß § 1 BGB erst mit Vollendung der Geburt beginnt, der Nasciturus aber beispielsweise gemäß § 1923 Abs. 2 BGB erbrechtlich Begünstigter sein kann, stellte sich im Zivilrecht schon früh die Frage, wie man ein Recht einem noch nicht existenten Rechtsträger zuordnen kann. Erörtert wurden für die Zuordnung dieser subjektlosen Rechte die Idee einer Anwartschaft und einer schwebenden oder partiellen Rechtsfähigkeit. Vgl. Hohner, Subjektlose Rechte, S. 132 ff., 145. Heute ist man sich darüber einig, dass der Nasciturus bereits teilrechtsfähig ist. Vgl. Ellenberger, in: Palandt, §§ 1-6 Rn. 7.
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Eine Übertragung von zivilrechtlichen Konstruktionen wie das Anwartschaftsrecht auf das Verfassungsrecht erscheint problematisch, da es im Verfassungsrecht um wesentlich tiefgreifendere und existenzielle Fragen geht. Im Zivilrecht sichert ein Anwartschaftsrecht die Entstehung einer Rechtsposition und ist daher äußerst vorteilhaft für den Inhaber des Anwartschaftsrechts. Kloepfer nutzt das Anwartschaftsrecht hier zwar dazu, dem nasciturus einen objektiv-rechtlichen Schutz zuzubilligen. Gleichzeitig wird diese Rechtsfigur aber dazu verwendet, die Unantastbarkeit der Menschenwürde und damit ihren Absolutheitscharakter zu umgehen, weshalb das Anwartschaftsrecht hier auch nachteilig für den nasciturus ist. Die Menschenwürde ist unteilbar. Graduelle Stufungen, wie ein sich verdichtendes Anwartschaftsrechts auf Menschenwürde, sind undenkbar. Auch die Idee eines Menschenwürdeanwartschaftsrechts kann eine Vorwirkung der Menschenwürde folglich nicht schlüssig begründen. cc) Nicht-reziproke Schutzpflicht aufgrund der Potentialität Hartleb hält eine Vorwirkung der Menschenwürde in den pränatalen Bereich für erforderlich, da ansonsten der Schutz der menschlichen Würde unvollständig wäre, wenn er erst mit Existenz des Grundrechtsträgers einsetze und ein bereits vorhandenes Entwicklungspotential vollständig ignoriere.320 Diese Grundrechtsvorwirkung knüpft er allein an die Potentialität und bezeichnet sie als nicht-reziproke Schutzpflicht.321 Der so begründete Grundrechtsschutz soll parallel zur biologischen Entwicklung des nasciturus zunehmen.322 Zweifelhaft ist dieser Begründungsansatz zunächst deshalb, weil ein menschlicher Entwicklungsprozess in zwei grundrechtsdogmatisch unterschiedlich bewertete Phasen, nämlich Grundrechtsvorwirkung und Grundrechtsträgerschaft, aufgespalten wird.323 Problematisch erscheint darüber hinaus, dass alle objektiv-rechtlichen Begründungsansätze eine Schutzwirkung annehmen, ohne dass überhaupt ein Grundrechtssubjekt existiert. Die Vorstellung, dass durch Grundrechte etwas geschützt wird, das materiell nicht Grundrechtsträger ist, ist dogmatisch aber kaum nachzuvollziehen.324 Hartleb setzt sich mit diesem Problem selbst auseinander und bestreitet, dass grundrechtliche Schutzpflichten stets eines subjektiven Trägers bedürfen. Er verweist auf die Mephisto-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der die
320 321 322 323
324
Hartleb, DVBl 2006, S. 677; aus der Potentialität leiten auch Geiger/von Lampe, Jura 1994, S. 23 eine Vorwirkung der Menschenwürde ab. Hartleb, DVBl 2006, S. 678; zugeneigt wohl Hoerster, ZfL 2006, S. 46. Hartleb, DVBl 2006, S. 679. Hartleb setzt sich in: DVBl 2006, S. 679 mit diesem Gegenargument selbst auseinander, hält aber eine unterschiedliche normative Behandlung verschiedener Entwicklungsphasen des Menschen für geboten. Heun, JZ 2002, S. 519; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 67; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 31; Hoerster, ZfL 2006, S. 45; Merkel, FS Müller-Dietz, S. 497; Müller-Terpitz, der Schutz des pränatalen Lebens, S. 338; ders., ZfL 2006, S. 35 f.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Schutzwürdigkeit des Toten aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet wurde.325 Wie oben bereits ausgeführt, hinkt ein solcher Vergleich insofern, als der Tote im Gegensatz zum nasciturus bereits zu seinen Lebzeiten ein Interesse am Würdeschutz nach seinem Tod entwickeln konnte und einmal Würdeträger war. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt im Übrigen eher die Sichtweise, dass einer Schutzwirkung eine Grundrechtsträgerschaft korrespondiert. Im ersten Abtreibungsurteil326 ließ das Bundesverfassungsgericht zwar offen, ob der Schutz des nasciturus nur aus den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten resultiert oder ob der nasciturus zugleich Grundrechtsträger ist. Im LüthUrteil führte das Bundesverfassungsgericht aber aus, dass die objektiven Grundrechtsgehalte dazu dienten, die Geltungskraft der Grundrechte in ihrer subjektivabwehrrechtlichen Dimension zu verstärken und zu ergänzen.327 Seine bisherige Rechtsprechung zu den objektiven Gewährleistungsgehalten der Grundrechte lässt daher darauf schließen, dass der materiale Geltungsbereich nicht vom personalen Geltungsbereich abstrahiert werden sollte.328 Eine andere Sichtweise würde im Übrigen die verfassungspositivierten Grenzen überschreiten, denn Art. 1 Abs. 1 GG schützt nicht die Würde der Menschheit im Allgemeinen, sondern die Würde des Menschen.329 Nur wer den nasciturus als Mensch im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG begreift, kann eine Schutzwirkung, und sei sie nur objektiv-rechtlicher Natur, herleiten. „Der objektiv-rechtliche Gehalt eines Grundrechts umfasst das durch es verbürgte, von einem konkreten Rechtsträger und damit einem konkreten Rechtsanspruch (Achtung und Schutz) abstrahierte Rechtsgut in seinem personalen wie materialen Zuschnitt.“330 Es wäre ein „logischer Bruch“, Vorstufen des menschlichen Lebens den Würdeanspruch abzusprechen und dennoch eine Schutzpflicht des Staates mit der Menschenwürde zu begründen.331 Nicht erörtert wurde bislang, ob eine Stufung des Würdeschutzes orientiert an der Entwicklung des nasciturus überhaupt möglich wäre. Darauf wird später zurückzukommen sein.332 dd) Zwischenergebnis Die objektiv-rechtlichen Begründungsansätze können im Ergebnis nicht überzeugen.
325 326 327 328 329 330 331 332
BVerfGE 30, 173. BVerfGE 39, 1. BVerfGE 7, 198 (205); bestätigt durch das Mitbestimmungsurteil: 50, 290 (337). So aber Ipsen, JZ 2001, S. 992. Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 106. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 153. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 31; Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 106. 2. Kapitel B VI 2.
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c) Menschenwürdeträgerschaft des nasciturus ab einer bestimmten entwicklungsbiologisch bedeutsamen Zäsur aa) Vorüberlegung Der Beginn des Menschenwürde- und Lebensschutzes wird häufig mit Hilfe eines Verweises auf eine bestimmte biologische Entwicklungsstufe des nasciturus bestimmt. Zu beachten ist, dass der Begriff „Mensch“ im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG ein normativer Begriff ist, der nicht notwendigerweise von naturwissenschaftlichen Gegebenheiten abhängt. Dennoch darf eine rechtliche Zäsur nicht willkürlich ausfallen. Eine Orientierung an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen liegt daher nahe. Es wird daher vielfach versucht, an Zäsuren innerhalb des Entwicklungsprozesses anzuknüpfen, die es auch unter normativen Gesichtspunkten gestatten, von einem Menschen im Rechtssinne zu sprechen. Als einschneidende Zäsuren in der Entwicklung werden dabei Befruchtung, Nidation, Individuation, extrauterine Überlebensfähigkeit und die Geburt gewertet. Befruchtung, Nidation und Individuation liegen zeitlich weit vor dem hier relevanten Zeitpunkt der extrauterinen Lebensfähigkeit. Dennoch sollen diese verschiedenen Anknüpfungspunkte im Folgenden zumindest kurz erörtert werden, da sich daraus zum einen generell Argumente für die Ausdehnung der Menschenwürde in den pränatalen Zeitraum gewinnen lassen, zum anderen aber auch die Bedeutung der einzelnen Zäsuren in der Entwicklung des nasciturus aufgezeigt werden kann. Darauf wird später im Rahmen des abgestuften Schutzkonzepts noch einmal eingegangen.333 bb) Menschenwürde bereits mit Befruchtung Der wohl überwiegende Teil des juristischen Schrifttums sieht den nasciturus bereits ab der Zellkernverschmelzung von Ei- und Samenzelle als Träger der Menschenwürde an und folgt in seiner Argumentation in etwa den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts.334 Gestützt wird diese Ansicht zunächst auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse und auf rechtsethische Erwägungen. Da die Zygote bereits zur Spezies Mensch gehöre, müsse ihr dementsprechend Menschenwürde zukommen.335 Darüber hinaus wird darauf verwiesen, dass bereits in der Zygote ein bestimmter Chromosomensatz fixiert und das genetische Programm fertig vorhanden sei. Die individuelle DNA kennzeichne das menschliche Lebewesen in einer unverwechselbaren Art und Weise. Zygote und der später 333 334
335
2. Kapitel B VI 2. Vgl. nur: Böckenförde, JZ 2003, S. 812 f.; Classen, DVBl 2002, S. 143; Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. 1 Rn. 65; Herdegen, GS Heinze, S. 358; Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 3-4; Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 51; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 11 f.; Kloepfer, JZ 2002, S. 420; Müller-Terpitz, ZfL 2006, S. 38 f.; ders., Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 345; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 18. Kluth, in: Das zumutbare Kind, S. 103; Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 3.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
geborene Mensch seien dadurch identisch.336 Bereits mit Befruchtung bilde sich ein neues, eigenständiges menschliches Leben. Argumentiert wird auch mit dem bereits in der befruchteten Eizelle vorhandenen Potential, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln.337 Der Embryo entwickle sich daher genau genommen als Mensch und nicht zum Menschen. Nach der Befruchtung entfalte sich der Embryo von innen nach Maßgabe einer eigenen Organisation. Die Entwicklung verlaufe selbstgesteuert. Gerade dies präge den menschlichen Organismus, „geprägte Form, die lebend sich entwickelt.“338 Entwicklung und Wachstum des nasciturus verliefen kontinuierlich, ohne einschneidende Zäsuren in der Entwicklung.339 Die Vertreter dieser Ansicht sehen in der Befruchtung folglich die zentrale Weichenstellung der menschlichen Ontogenese und halten keine nachfolgende Entwicklungsstufe für so bedeutend wie die Befruchtung. Die Anknüpfung des Menschseins an Zäsuren nach diesem Zeitpunkt wird vielmehr als willkürlich verworfen.340 Für den Würdeschutz ab Befruchtung wird außerdem angeführt, dass im Zweifelsfall diejenige Auslegung zu wählen sei, welche die juristische Wirkungskraft der Grundrechte am stärksten entfalte. Ein umfassender Schutz werde nur dann gewährleistet, wenn man ihn ab Befruchtung beginnen lasse.341 Außerdem wird befürchtet, dass bei einer Verschiebung des Beginns der Menschenwürde auf einen späteren Zeitpunkt ein „Dammbruch“ drohe. Lasse man Eingriffe zum Zeitpunkt des Beginns der Menschenwürde zu, so setze sich dieser Aufweichungsprozess in Zukunft fort und führe zu einer weiteren Entwertung der Menschenwürdegarantie.342 Die aufgeführten Argumente sollen im Folgenden auf ihre Schlüssigkeit überprüft werden. Die hier verwendeten so genannten SKIP-Argumente sind keine klassischen juristischen Argumente, sondern stammen aus dem bioethischen Diskurs. Die juristische Argumentation zum Beginn des Würde- und Lebensschutzes wird aber mit diesen ethischen Aspekten angereichert und vermischt. Nachdem diese Argumente in der bisherigen Darstellung lediglich angeklungen sind, sollen sie im Folgenden näher betrachtet werden. 336 337 338 339
340 341 342
Böckenförde, JZ 2003, S. 812; Fassbender, MedR 2003, S. 281; Hiersche, FS Tröndle, 1989, S. 670. Lehmann, DRiZ 2002, S. 194; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 18. Böckenförde, JZ 2003, S. 812; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 216. Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 4; Lehmann, DRiZ 2002, S. 194; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 19; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 216. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 11; Lehmann, DRiZ 2002, S. 195. Schwarz, KritV 2001, S. 195. Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik, S. 12; Classen, DVBl 2002, S. 146.
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Hinsichtlich des Speziesarguments rügt Merkel zunächst völlig zu Recht, dass es einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss bedeute, wenn das Menschsein allein an das Faktum Spezieszugehörigkeit geknüpft werde. Ein solcher Fehlschluss kann aber vermieden werden, wenn die Spezieszugehörigkeit des nasciturus lediglich im Rahmen einer teleologischen und historischen Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG Berücksichtigung findet.343 Das Kontinuitätsargument wird als klassischer Fehlschluss, als SôritêsParadoxon (sorôs = Haufen) verworfen. Veranschaulicht wird die Kritik durch folgendes Beispiel: Ein Sandkorn für sich allein bilde noch keinen Haufen. Ein Sandkorn und ein weiteres ebenfalls nicht. Drei oder vier Sandkörner bildeten auch noch keinen Haufen. Eine Million Sandkörner bildeten aber schließlich einen Sandhaufen.344 Bestritten wird mit dieser Argumentation nicht die Kontinuität der menschlichen Entwicklung. Bestritten wird vielmehr die Behauptung, die Rechtsordnung könnte wegen dieser Kontinuität keine Zäsuren festlegen.345 Eine parallele Betrachtung von Sandhaufenbildung und menschlicher Entwicklung erscheint zunächst problematisch. Die Entwicklung des nasciturus verläuft von sich aus kontinuierlich. Sandkörner müssen durch äußeren Einfluss zugegeben werden. Dennoch gerät die Schlüssigkeit des Kontinuumsarguments durch dieses Beispiel ins Wanken. Die Rechtsordnung kann in der Tat zwischen zwei Endzuständen einer Entwicklung eine klare Zäsur setzen. So kann auch die Menschenwürdeträgerschaft durch die Rechtsordnung an eine bestimmte Entwicklungszäsur geknüpft werden. Das Kontinuumsargument ist folglich für sich allein nicht geeignet, die Menschenwürdeträgerschaft des nasciturus von Befruchtung an schlüssig zu begründen. Gegen das Identitätsargument wird vielfach eingewandt, dass die Identität zwischen einem Vielzeller und einem geborenen Menschen lediglich in seiner DNA gesehen werden könne.346 Die Anknüpfung an ein biologisches Faktum begründe aber einen naturalistischen Fehlschluss. Das spezifisch Menschliche liege vielmehr in Vernunft, Gefühlsabhängigkeit und Sozialität, die bei einer Zygote noch nicht vorhanden seien.347 Vor allem innerhalb der ersten zwei Wochen nach Befruchtung werden Bedenken gegen dieses Argument erhoben, da zu diesem Zeitpunkt noch Mehrlingsbildungen möglich sind.348 Doch wie kann die Verdopplung der menschlichen Identität zum Wegfall der Menschenwürde führen? Ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss wird im Übrigen auch hier durch eine Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG vermieden.349 343 344 345
346 347 348 349
Vgl. dazu 2. Kapitel B V 3 b), d). Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 85. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 516; ders., Forschungsobjekt Embryo, S. 157 ff.; Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 85; Hilgendorf, NJW 1996, S. 761; Hoerster, JuS 1989, S. 173. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 518. Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, S. 930. Coester-Waltjen, FamRZ 1984, S. 235; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 9 Vgl. dazu 2. Kapitel B V 3.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Gegen das Potentialitätsargument wird eingewandt, dass man aus einer später eintretenden Rechtsposition nicht zugleich schließen könne, dass sie bereits in einem früheren Stadium vollständig bestehe. Veranschaulicht wird dies durch folgenden Vergleich: Der Thronfolger ist potentieller König, ihm stehen aber dennoch nicht dieselben Rechte zu wie dem König. Aus der Tatsache, dass der nasciturus geboren und dadurch Menschenwürde- und Lebensrechtsträger werde, könne nicht geschlossen werden, dass ihm bereits im pränatalen Stadium die gleichen Rechte zukämen.350 Merkel und Seelmann entgegnen diesem Argument zu Recht, dass solche Rechte nicht in Frage stünden. Es gehe lediglich darum, dass dem nasciturus die Möglichkeit der weiteren Entfaltung offen stehen solle und ihm daher die Chance der Potentialität offen bleibe.351 Gegen das Potentialitätsargument wird außerdem geltend gemacht, dass bei einer Abtreibung die Weiterexistenz des menschlichen Wesens verhindert werde und damit auch die Entwicklungsmöglichkeit, also gerade die Potentialität entfalle.352 Dadurch habe nie ein potentieller Rechtsinhaber existiert. Allerdings ist auch dieser Einwand nicht haltbar. Durch die Tötung des potentiellen Rechtsinhabers würde man sich, diesem Einwand folgend, moralische Legitimität verschaffen. Dass dies nicht sein kann, wird durch die Rechtsfigur der außerordentlichen Zurechnung deutlich.353 Danach erfolgt die Zurechnung auch dann, wenn man sich selbst verantwortlich einem Zurechnungskriterium entzieht.354 Als weiterer Einwand gegen das Potentialitätsargument wird die Gefahr einer reductio ad absurdum angeführt. Unter Umständen müsste man auch der unbefruchteten Eizelle und einem Spermium Potentialität zusprechen. Diesem Einwand kann man aber damit begegnen, dass weder Spermium noch Eizelle mit dem späteren personalen Wesen identisch sind.355 Erst wenn der Chromosomensatz festliegt, kann die Identität und aktive Potentialität bejaht werden. Letztlich zeigt sich, dass ethische Erwägungen unterstützend für die Würdeträgerschaft der Zygote ins Feld geführt werden können, solange man einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss vermeidet. Die hilfsweise angeführte Argumentation, dass in Zweifelsfällen die Auslegung zu wählen ist, welche die juristische Wirkungskraft der Grundrechte am stärksten entfaltet, ist nicht geeignet, die Menschenwürdeträgerschaft des nasciturus ab Befruchtung zu begründen. Voraussetzung einer wirkungsstarken Auslegung ist zunächst einmal die Existenz eines Grundrechts und die Existenz eines Rechtsinhabers, auf den es angewendet werden kann. Dies ist aber gerade fraglich, so dass
350 351 352 353 354 355
Hoerster, JuS 1989, S. 176; Joerden, ZStW 2008, S. 14 f. Seelmann, in: Kettner, Biomedizin und Menschenwürde, S. 72. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 171. Seelmann, in: Kettner, Biomedizin und Menschenwürde, S. 73. Seelmann, in: Kettner, Biomedizin und Menschenwürde, S. 73. Seelmann, in: Kettner, Biomedizin und Menschenwürde, S. 73.
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das Argument der „wirkungsstärksten Auslegung“ den Grundrechtsstatus nicht begründen kann.356 Gleiches gilt für die Vertreter der so genannten Dammbruchtheorie, da ein Dammbruch nur dann drohen kann, wenn eine bestimmte Handlung wirklich den Anfang einer Würdeverletzung darstellt.357 Im Ergebnis stützen ethische Erwägungen und biologische Aspekte die Ausdehnung des Würdeschutzes auf den Zeitpunkt der Befruchtung. Anders läge der Fall allerdings dann, wenn sich aus den nachfolgenden Entwicklungsstufen Prozesse auffinden ließen, die innerhalb der Ontogenese ebenfalls so entscheidend sind wie die Befruchtung. cc) Menschenwürde ab Nidation Der Beginn der Menschenwürde wird zum Teil auf den Zeitpunkt der Nidation datiert.358 Für diese Sichtweise wird angeführt, dass die Natur selbst vor Nidation mit dem Embryo verschwenderisch umginge. Vor Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter stürben zwischen 50-75 %359 der Zygoten ab, wohingegen sich nach Abschluss der Nidation die Abortrate innerhalb des ersten Trimenons auf 10 % verringere. Achte die Natur das Leben des pränidativen Embryos gering, so könne für die rechtliche Entscheidung nichts anderes gelten.360 Darüber hinaus komme es erst mit Nidation zu einer Anbindung des nasciturus an den mütterlichen Organismus. Zu vermuten sei, dass diese Verbindung zur Gebärmutter für die Körperachsendetermination des Embryos erforderlich sei, denn die Körperachsendetermination entstehe erst nach Implantation des Embryos in die Gebärmutter und sei somit wahrscheinlich von ihr abhängig. Die Nidation sei wie die Befruchtung auch conditio sine qua non für die Entstehung des Menschen, ohne die der kontinuierliche Entwicklungsprozess nicht stattfinden könne. Ohne die Symbiose zwischen Mutter und nasciturus sei eine Entwicklung des Embryos nicht möglich.361 Vertreter dieser Auffassung stellen ausdrücklich klar, dass sie sich bewusst sind, dass die Entwicklung des Lebens ein kontinuierlicher Vorgang sei. Allerdings gebe es immer Stationen, an die das Recht anknüpfen müsse, wie die Geburt für die Tötungsdelikte nach §§ 211 ff. StGB.362 Die Nidation weise die für eine Zäsion erforderliche Prägnanz und Festigkeit auf. Vor der Nidation gebe es mehrere ganz entscheidende Entwicklungsschritte. Nach Nidation sei aber kein ver-
356 357 358 359 360 361 362
Geiger/Lampe, Jura 1994, S. 22; Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 33; Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 77. Taupitz, NJW 2001, S. 3436. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 24 f.; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG Kommentar, Art 1 Rn. 9. 50%-75 % bei Jerouschek, JZ 1989, S. 281. Lüttger, JR 1969, S. 450; Jerouschek, JZ 1989, S. 281. Schäuble, FAZ vom 21. Mai 2001, S. 49, in diese Richtung auch: Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 25. Lüttger, JR 1969, S. 450.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
gleichbarer entscheidender Entwicklungsschritt in der menschlichen Entwicklung mehr festzustellen.363 Die angeführten Argumente können nicht überzeugen. Zum einen kann aus der Tatsache, dass viele Zygoten nicht zur Einnistung gelangen, nicht zugleich auf die Schutzunwürdigkeit aller Zygoten geschlossen werden. Dass die Natur verschwenderisch mit befruchteten Eizellen umgeht, bedeutet nicht zugleich, dass der Mensch die befruchtete Eizelle gering achten darf. Böckenförde-Wunderlich formuliert diesbezüglich zu Recht: „Denn die Natur muß sich nicht verantworten, sie ist weder rechtfertigungsfähig, noch rechtfertigungsbedürftig, eine Entscheidung über den rechtlich relevanten Lebensbeginn dagegen schon.“364 Nach medizinischer Ethik ist es daher erforderlich, auch die befruchtete Eizelle mit allen Mitteln zu erhalten.365 Unbestreitbar ist, dass die Entwicklung des nasciturus von einer Interaktion mit den mütterlichen Gebärmutterzellen abhängig ist. Gleichwohl wird das embryonale Entwicklungspotential dadurch nicht ergänzt. Die Nidation dient lediglich als Umgebungsbedingung der Realisierung dieses Entwicklungspotentials.366 Die bloße Abhängigkeit des nasciturus von seiner Mutter reicht darüber hinaus nicht aus, um ihm eigenständige Schutzpositionen zu versagen. Auch nach der Geburt ist das Neugeborene weiterhin von seiner Mutter im Hinblick auf Nahrung und Versorgung abhängig. Gleichwohl werden ihm aus diesem Grund keine Grundrechte abgesprochen. Die Nidation ist für die Entwicklung des nasciturus zwar unabdingbar. Dies sind aber alle weiteren biologischen Entwicklungsstufen auch. Im Vergleich zur Befruchtung, mit der die genetische Identität des Menschen festgelegt wird, erweist sich die Nidation nicht als ebenso einschneidende Zäsur, die es rechtfertigen würde, den Beginn des Menschseins auf diesen Zeitpunkt zu datieren. dd) Menschenwürde ab Individuation Als biologisch einschneidende Zäsur wird zum Teil auch die Individuation gesehen, die zeitlich eng mit dem Abschluss der Nidation zusammenfällt. Die Individuation kennzeichnet den Zeitpunkt, zu dem die Bildung eineiiger Mehrlinge nicht mehr stattfinden kann. Erst ab diesem Zeitpunkt, so wird argumentiert, könne von einem konkret personalen Lebewesen gesprochen werden, dem individuelle Grundrechte zustehen können.367 Diese Auffassung kann nicht überzeugen. Im Zeitpunkt der Befruchtung steht jedenfalls fest, dass sich ein neues Individuum entwickelt. Gewiss ist nur noch nicht, ob sich ein weiteres einzigartiges Wesen entwickeln wird. Auch geborenen Mehrlingen steht unbestritten trotz ihrer genetischen Identität Menschenwürde 363 364 365 366 367
Knoepffler, in: Schweidler, Neumann, Brysch, Menschenleben-Menschenwürde, S. 250. Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik, S. 176. Jerouschek, JZ 1989, S. 281. Böckenförde, JZ 2003, S. 812; Müller-Terpitz, ZfL 2006, S. 36. Coester-Waltjen, FamRZ 1984, S. 235; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 9.
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zu.368 Daher kann die Verdopplung der menschlichen Identität nicht zum Verlust der Menschenwürde führen. ee) Menschenwürde ab Überlebensfähigkeit Zu erwägen ist auch, ob der Zeitpunkt der extrauterinen Überlebensfähigkeit des nasciturus eine entscheidende Zäsur in der Entwicklung des nasciturus darstellt, die es rechtfertigt, ihn erst ab diesem Zeitpunkt in die Würdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG miteinzubeziehen. Im deutschen juristischen Schrifttum findet eine solche Sichtweise bislang, soweit ersichtlich, keine Stütze. Auch das Bundesverfassungsgericht hat einer solchen Auffassung in der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch eine Absage erteilt.369 Demgegenüber knüpft der U.S. Supreme Court an die extrauterine Lebensfähigkeit des nasciturus weitreichende Folgen. Am 22. Januar 1973 hatte der U.S. Supreme Court in Sachen Roe versus Waden darüber zu entscheiden, ob das im Staat Texas bestehende grundsätzliche Abtreibungsverbot, das nur in Fällen der Lebensgefahr für die Schwangere aufgehoben war, mit ihrem „right of privacy“370 vereinbar war, das auch ein Grundrecht auf Abtreibung verbürge.371 Der U.S. Supreme Court vertrat die Ansicht, dass der nasciturus keine Person im Sinne des 14. Zusatzartikels, der das Verfahren für staatliche Zugriffe in Leben und Freiheit regelt, sei. Er begründete seine Auffassung damit, dass die Vorschriften der Verfassung das Wort „Person“ meist nur in einem Zusammenhang verwendeten, der auf geborene Personen zugeschnitten sei.372 Auf den nasciturus ließen sich diese Vorschriften nicht sinnvoll anwenden. Der U.S. Supreme Court billigte dem nasciturus aber den Status einer potentiellen Person zu und zog daraus die Konsequenz, dass die Bundesstaaten ein grundsätzliches Abtreibungsverbot im dritten Trimester ab extrauteriner Überlebensfähigkeit des nasciturus regeln könnten, da zu diesem Zeitpunkt der Fötus zu einem „sinnvollen Leben“ fähig sei.373 In den Fällen der Gesundheits- und Lebensgefahr für die Schwangere sei dieses Abtreibungsverbot aber aufzuheben.374 Der Zeit-
368 369 370 371 372 373
374
Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 64. BVerfGE 39, 1 (37). Dieses entspricht dem deutschen Persönlichkeits- und Selbstbestimmungsrecht. 410 U.S. 113 (153). 410 U.S. 113 (157 f.). Wörtlich heißt es in der Entscheidung 410 U.S. 113 (163): “With respect to the State’s important and legitimate interest in potential life, the >compelling< point is at viability. This is so because the fetus then presumably has the capability of meaningful life outside the mothers’s womb.” 410 U.S. 113 (163 f.). In der Parallelentscheidung Doe versus Bolton, 410 U.S. 179 (191 f.) wurde der Gesundheitsbegriff auch auf das emotionale, psychologische, familiäre und altersbezogene Befinden der Frau erstreckt. Dadurch sind weitergehende Beschränkungen des Abtreibungsrechts auch innerhalb des zweiten Trimesters der Schwangerschaft möglich.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
punkt der extrauterinen Lebensfähigkeit wird frühestens auf die 24. Schwangerschaftswoche p.c. datiert.375 Im zweiten Trimester der Schwangerschaft wird eine Regelung der Abtreibung wegen zwingender Interessen des Staates am Gesundheitsschutz der Schwangeren in einer Weise befürwortet, die sich an der Gesundheit der Schwangeren orientiert. Beispielsweise dürfen Qualifikationsanforderungen an die behandelnden Personen oder an Art und Qualität der Abtreibungseinrichtung gestellt werden. In späteren Entscheidungen wurde vor allem hinsichtlich abtreibungswilliger Minderjähriger gebilligt, dass bei Abtreibungen im ersten Trimester der Schwangerschaft bestimmte Verfahrensregeln eingehalten werden und die öffentliche Förderung von Beratungsstellen an die Bedingung geknüpft wird, dass sie nicht zur Abtreibung raten.376 In der Folgezeit wurde auch weiterhin die weitgehende Entscheidungsfreiheit der Schwangeren proklamiert. Die starre Abstufung gesetzlich zulässiger Maßnahmen orientiert an den Schwangerschaftstrimestern wurde demgegenüber aufgegeben. Schutzmaßnahmen wie die Einführung einer Beratungspflicht der Schwangeren können nun auch innerhalb des ersten Schwangerschaftstrimesters getroffen werden, ohne allerdings das Letztentscheidungsrecht der Schwangeren anzutasten.377 Die entscheidende Bedeutung der extrauterinen Lebensfähigkeit wird damit begründet, dass der nasciturus zu diesem Zeitpunkt vom mütterlichen Organismus biologisch unabhängig werde. Zu diesem Zeitpunkt sei er zwar noch nicht tatsächliches Mitglied der Gesellschaft, verfüge aber über eine aktuale Potentialität.378 Probleme bereitet diese Sichtweise schon in praktischer Hinsicht. Aufgrund der Fortschritte in der Medizin ist die zeitliche Grenze der Überlebensfähigkeit keinesfalls statisch bestimmbar, sondern vom Stand der Technik abhängig. Es ist zu erwarten, dass sich der Zeitpunkt der Überlebensfähigkeit in Zukunft immer weiter nach vorn verschieben wird, je mehr es der Hightech- Medizin gelingt, die Aufgaben des mütterlichen Organismus zu übernehmen. Vielleicht gelingt irgendwann sogar eine komplette in-vitro-Gestation. Dass die Schutzwürdigkeit des nasciturus von den wandelnden Möglichkeiten der pränatalen Intensivmedizin abhängen soll, ist äußerst bedenklich.379 Darüber hinaus ist auch im Hinblick darauf, dass der nasciturus von Befruchtung an zwar eng mit dem mütterlichen Organismus verbunden, aber immer eine eigenständig abgrenzbare biologische Entität ist, fraglich, ob die extrauterine Lebensfähigkeit tatsächlich ein solch qualitativer Sprung in der biologischen Entwicklung des nasciturus darstellt, der es rechtfertigt, die grundrechtliche Schutzwürdigkeit erst ab diesem Zeitpunkt beginnen zu lassen. Mutter und Kind haben 375 376 377 378 379
410 US 113 (160). Walther, EuGRZ 1992, S. 46 f. 492 US 490 (1989); 505 US 833 (1992). Vgl. dazu: Brugger, JZ 1992, S. 912; Walther, EuGRZ 1992, S. 45 ff. Schwarz, Menschenwürde, S. 65. So auch: Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik, S. 175; Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 71; Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde nach Art. 1 GG, S. 91.
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von Anfang an einen getrennten Blutkreislauf, gegebenenfalls unterschiedliche Blutgruppen und einen getrennten Stoffwechsel.380 Darüber hinaus kann es vorkommen, dass die Mutter stirbt, der nasciturus aber überlebt und umgekehrt, dass der nasciturus im Mutterleib verstirbt und die Mutter überlebt. Die Argumentation des U.S. Supreme Court, dass ab dieser Zäsur ein sinnvolles Leben außerhalb des Mutterleibs möglich sei, ist zudem problematisch. Ob ein Individuum ein sinnvolles oder sinnloses Leben führt, entzieht sich externer Bewertungsmöglichkeiten und kann nur von dem jeweiligen Individuum selbst entschieden werden.381 In entwicklungsbiologischer Hinsicht stellt die extrauterine Überlebensfähigkeit folglich keine ebenso einschneidende Zäsur dar wie die Befruchtung. ff) Menschenwürdeträgerschaft des nasciturus ab Geburt Der Geburt wird in der Entwicklung des nasciturus ebenfalls eine entscheidende Bedeutung zugemessen. Argumentiert wird, dass die Sauerstoff- und Nahrungsaufnahme sowie die Abgabe der Exkrete nicht mehr über den Körper der Mutter sondern unabhängig von ihm erfolge.382 Schon allein die Abnabelung demonstriere eine Selbständigkeit, die intrauterin nicht möglich gewesen sei. Darüber hinaus erfolge mit Geburt eine Aufnahme in die Gemeinschaft. Erst jetzt bestünde die Möglichkeit, soziale Beziehungen zu knüpfen.383 Es ist zweifelhaft, ob die Geburt eine einschneidende Zäsur in der biologischen Entwicklung des nasciturus darstellt. Der Fötus unmittelbar vor Geburt gleicht dem Neugeborenen. Schon vor seiner Geburt ist er unabhängig von seiner Mutter lebensfähig und weist dieselben individuellen Gesichtszüge auf. Die kognitiven und sensorischen Fähigkeiten des kurz vor seiner Entbindung stehenden nasciturus sind mit denen des Neugeborenen identisch. Auch für die Gehirn- und Herzentwicklung ist die Geburt eine völlig unbedeutende Zäsur.384 Kurz vor seiner Geburt ist ein Fötus im Vergleich zu einem Frühgeborenen weiter entwickelt, so dass die Geburt keine entscheidende Zäsur in der biologischen Entwicklung des nasciturus darstellt.385 Folglich kann es in der rechtlichen Bewertung keinen Unterschied machen, ob sich das Kind in oder außerhalb des Mutterleibs befindet. Eine gewisse Selbständigkeit ist von Beginn der Embryonalentwicklung an gegeben, da der nasciturus nie nur Teil des mütterlichen Organismus ist, sondern immer eine klar abgrenzbare Entität darstellt. Die Geburt bietet zwar den Vorteil, dass ihr Zeitpunkt zweifelsfrei feststellbar ist. Dieser Zeitpunkt ist aber variabel, steht dadurch ärztlichen Manipulationen offen und ist somit als Anknüpfungspunkt für die Statuszuschreibung nicht geeig-
380 381 382 383 384 385
So auch: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 178, 174 f. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 179. Nüsslein-Volhard, Werden des Lebens, S. 190. In diese Richtung Rüpke, ZRP 1974, S. 74; Frommel, ZRP 1990, 352. Singer, Praktische Ethik, S. 181 f. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 173 f.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
net.386 Soziale Kontakte bestehen im Übrigen schon im Mutterleib, indem das Kind durch Bewegungen auf die Mutter reagiert. Allein die Abnabelung des Kindes von seiner Mutter stellt in entwicklungsbiologischer Hinsicht folglich keine so einschneidende Zäsur dar, dass sie als Anknüpfungspunkt für den Beginn der Menschenwürde einleuchtend erscheint. gg) Zwischenergebnis Die Befruchtung ist die zentrale Weichenstellung in der menschlichen Ontogenese. Eine ebenso bedeutsame Zäsur in der weiteren Entwicklung findet sich nicht. d) Zwischenresümee Es wurde gezeigt, dass es bislang nicht gelungen ist, schlüssig zu begründen, warum der Zuspruch von Menschenwürde vom Vorliegen bestimmter für den Menschen typischer Eigenschaften abhängen soll. Auch der Zuspruch einer rein objektiv-rechtlichen Schutzpflicht zugunsten des ungeborenen Lebens konnte nicht überzeugen. Die Ausführungen zeigen, dass einzig die Befruchtung in entwicklungsbiologischer Hinsicht als Anknüpfungspunkt für den Beginn der Menschenwürde schlüssig ist. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, dass der nasciturus ab diesem Zeitpunkt als Menschenwürdeträger anzusehen ist. Eine Ansicht, die allein auf ein biologisches Merkmal wie die Befruchtung abstellt, sieht sich dem Einwand eines biologistisch-naturalistischen Fehlschlusses ausgesetzt. Um einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss zu vermeiden, wird dieses Ergebnis im Rahmen der folgenden Stellungnahme mittels der klassischen Auslegungsmethoden überprüft. 3. Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG a) Grammatikalische Auslegung Ausgangspunkt jeder Norminterpretation ist zunächst eine Analyse des Normtextes. Dabei soll, soweit nicht spezifisch juristische Begriffe verwendet werden, durch Zugrundelegung eines durchschnittlichen Sprachverständnisses der Bedeutungsgehalt der Norm ermittelt werden.387 Das umgangssprachliche Verständnis und das allgemeine Sprachgefühl können aber auch nicht allein entscheidend sein. Ebenso wenig können die Naturwissenschaften die Bedeutung des Begriffs festlegen.388 Vielmehr wird die Begrifflichkeit normativ verwendet, so dass sich ihre Bedeutung vom allgemeinen Verständnis unterscheiden kann.389 Der ausgehend vom Wortlaut der Norm ermittelte mögliche Sinngehalt bildet die Grenze der Gesetzesauslegung.390
386 387 388 389 390
Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 174. Larenz, Methodenlehre, S. 320. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 26. Larenz, Methodenlehre, S. 320; Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 27. Larenz, Methodenlehre, S. 322.
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Ausgehend vom Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt, ist zu prüfen, ob unter den Begriff „Mensch“ auch der nasciturus zu subsumieren ist. Im allgemeinen Sprachgebrauch besteht die Tendenz, den Begriff Mensch mit einem geborenen Menschen zu assoziieren.391 Man ist geneigt, einen Menschen spontan mit rational und selbstbewusst handelnden Personen gleichzusetzen und damit das Geborensein vorauszusetzen. Einer befruchteten Eizelle würde bei einer Meinungsumfrage wohl kaum dieselbe Würde zugesprochen werden wie einem Bundesverfassungsrichter.392 Durch die Verwendung von Begriffen wie Fötus, Leibesfrucht oder Embryo wird auch sprachlich eine Zäsur zwischen Geborensein und Ungeborensein markiert. Plakativ wird behauptet: Genauso wenig wie ein Ei ein Huhn und eine Raupe ein Schmetterling ist, ist der nasciturus ein Mensch.393 Dieser Vergleich zeigt aber lediglich, dass es für verschiedene Entwicklungsstadien unterschiedliche fachliche Begrifflichkeiten gibt. Dass der nasciturus aber kein Mensch im Rechtssinne sein kann, ist damit noch nicht gesagt.394 Im Übrigen ist die Umgangssprache auch nicht ganz konsequent. So nennt man den nasciturus auch einen ungeborenen Menschen und spricht beispielsweise davon, ein Kind auszutragen oder auch ein Kind abzutreiben. Den Begriff „Kind“ kann man aber synonym für einen geborenen jungen Menschen verwenden. Auch die Rechtssprache scheint auf den ersten Blick den Begriff Mensch für den geborenen Menschen zu verwenden. § 1 BGB regelt beispielsweise ausdrücklich, dass die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Vollendung seiner Geburt beginnt. Nach dem StGB können Mord und Totschlag gemäß §§ 211 Abs. 2, 212 Abs. 1 nur an geborenen Menschen bzw. nach Beginn der Eröffnungswehen begangen werden. Vor diesem Zeitpunkt sind die Regelungen über den Schwangerschaftsabbruch anzuwenden. Das StGB nennt den Fötus nicht Mensch, sondern vielmehr „Ungeborenes“ (vgl. § 219) und das Embryonenschutzgesetz spricht vom „Embryo“. In diesen Fällen auf der Ebene des einfachen Gesetzes ist ein Ungeborenes folglich klar als solches gekennzeichnet. Andererseits erweist sich auch die Rechtssprache nicht als konsequent und spricht in § 219 Abs. 1 StGB von der Austragung eines Kindes. Die Bezeichnung als Kind findet sich ebenfalls in § 3 Abs. 1 MuSchG, § 1915o und § 1912 Abs. 2 BGB. Im Übrigen kann die Ebene des einfachen Gesetzesrechts nicht entscheidend für die Ebene des Verfassungsrechts sein. Zum einen geht das Verfassungsrecht dem einfachgesetzlichen Recht im Rang vor. Zum anderen wäre auch die Überprüfung einer Norm anhand des Verfassungsrechts durch das Bundesverfassungsgericht nicht möglich, wenn die Verfassung selbst erst durch einfaches Gesetz ausgelegt werden müsste. Das Verfassungsrecht als Fundament der gesamten Rechtsordnung kann daher dem Begriff „Mensch“ eine weitere Bedeutung zuer-
391 392 393 394
Wille, Die Rechtsstellung des Nasciturus, S. 87; Dederer, AöR 2002, S. 10. Hilgendorf, NJW 1996, S. 761; in diese Richtung auch: Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 1 u. 2, Rn. 51. Lübbe, KritV 1993, S. 315. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 228.
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kennen, insbesondere könnte es die Grundrechtsfähigkeit vorverlagern und an einen anderen Entstehungstatbestand als die Geburt anknüpfen.395 Der Begriff des „geborenen Menschen“ findet sich in der Verfassung nicht. Daraus folgt, dass der Wortlaut durchaus einer Interpretation zugänglich ist, die auch den nasciturus als Zugehörigen der Spezies Homo sapiens sapiens als Mensch qualifiziert.396 Ohne Verstoß gegen sprachliche Konventionen wird daher der nasciturus vom möglichen Wortsinn des Art. 1 Abs. 1 GG erfasst.397 Ob der personale Schutzbereich des Art.1 Abs. 1 GG aber nun tatsächlich für das Ungeborene eröffnet ist, ist durch die weitergehenden Auslegungsmethoden zu überprüfen. b) Historische Auslegung Sind nach dem Wortlaut mehrere Deutungen möglich, so ist als nächstes zu fragen, welche Deutung der Regelungsabsicht des Gesetzgebers oder seiner eigenen Normvorstellung am besten entspricht.398 Das Protokoll des Parlamentarischen Rates gibt keine Auskunft darüber, ob Art. 1 Abs. 1 GG auch auf den nasciturus anwendbar sein soll. Im Gegensatz zu den detaillierten Debatten im Parlamentarischen Rat über die Frage, ob der nasciturus als Träger des Lebensgrundrechts ausdrücklich im Verfassungstext verankert werden soll, fand eine solche Diskussion zu Art. 1 Abs. 1 GG nicht statt.399 Die Formulierungsvorschläge von Carlo Schmid, der eine Schutzpflicht des Staates für „die Würde menschlichen Lebens“ verankern wollte und von Theodor Heuß, der „die Würde des menschlichen Wesens“ dem Schutz des Staates unterstellen wollte, legen die Einbeziehung des nasciturus zwar nahe, fanden aber keine Mehrheit.400 Die mangelnde Auseinandersetzung mit diesem Aspekt lässt sich wohl damit erklären, dass die Frage nach der Menschenwürde des Ungeborenen 1948 nicht dieselbe Brisanz hatte wie in der heutigen Zeit. Abgesehen von der Frage der Zulässigkeit der Abtreibung, die auch schon zur damaligen Zeit relevant war, hat die Menschenwürde durch die Fortschritte in der Medizin, die beispielsweise die Forschung an embryonalen Stammzellen, das reproduktive Klonen und die In-vitroFertilisation ermöglichen, eine neue Dimension erlangt.401 Für die Einbeziehung des nasciturus in die Menschenwürdegarantie spricht auf den ersten Blick § 10 Abs. 1 S. 1 des Preußischen Allgemeinen Landrechts, in 395 396 397 398 399
400 401
Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 27; Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 115; Ipsen, JZ 2001, S. 991. Wille, Die Rechtsstellung des Nasciturus, S. 88. So auch Hillgruber/Goos, ZfL 2008, S. 43. Larenz, Methodenlehre, S. 328. Beckmann will allerdings aus den Diskussionen über den Einbezug des Nasciturus in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Rückschlüsse auf den Einbezug des Nasciturus in den Schutzbereich der Menschenwürde ziehen. Vgl. Beckmann, Der Staat 2008, S. 571. Zitiert nach: JöR n.f. Bd. 1 (1951), S. 49. Diese Mutmaßung stellt auch Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde nach Art. 1 GG?, S. 110.
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dem es hieß: „Die allgemeinen Rechte der Menschheit gebühren auch den noch ungeborenen Kindern schon vor der Zeit ihrer Empfängniß.“402 Jerouschek entlarvt diesen Satz allerdings als Farce, indem er darauf verweist, dass der federführende Redaktor des strafrechtlichen ALR-Teils Ernst Ferdinand Klein das im Vergleich zur Kindstötung stark herabgesetzte Strafmaß der Abtreibung damit begründete, dass die abgetriebene Leibesfrucht möglicherweise nicht lebend zur Welt gekommen wäre. Den ungeborenen Kindern wurden daher doch nicht die gleichen Rechte der Menschheit zugebilligt wie den geborenen. Der Schutz ungeborener Kinder wurde vielmehr garantiert, um später existente Steuerzahler und Armeediener zu sichern.403 Im Ergebnis führt auch diese Auslegungsmethode zu keinem eindeutigen Ergebnis. c) Systematische Auslegung Ob der nasciturus ab Befruchtung in den Gewährleistungsbereich der Menschenwürde einzubeziehen ist, soll nun mithilfe der systematischen Auslegung überprüft werden. Bei der systematischen Auslegung wird die Einordnung der Norm in den formalen und sachlichen Zusammenhang der Normen genauer betrachtet, um daraus Rückschlüsse auf ihren Normgehalt zu gewinnen.404 Art. 1 Abs. 1 GG, dessen Grundrechtsqualität bereits oben bejaht wurde, steht im Zusammenhang mit weiteren Grundrechten. Meistens setzen die Grundrechte den Status des Geborenseins voraus. Das gilt vor allem für die so genannten Kommunikationsgrundrechte der Art. 5, 8, 9 GG, sowie für die Grundrechte der Glaubens- und Gewissensfreiheit des Art. 4 GG, der Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, der Bewegungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und der in Art. 12 GG gewährleisteten Berufsfreiheit. Diese beispielhaft angeführten Grundrechtsverbürgungen sind auf geborene Menschen zugeschnitten und sprechen zunächst gegen eine Extension der Menschenwürdegarantie auf den nasciturus.405 Im Gegensatz zu diesen Grundrechten ist aber der sachliche Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG auf den nasciturus anwendbar, da dadurch ein Status gesichert wird.406 Auch andere Grundrechte sind in ihrem materialen Gewährleistungsgehalt sinnvoll auf das ungeborene Leben anwendbar, wie beispielsweise der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG und das Diskriminierungsverbot gemäß Art. 3 Abs. 3 GG. Ein Schwerstbehinderter kann unter Umständen ebenfalls weder seine Meinung kundtun, noch an Versammlungen teilnehmen oder sich auf seine Berufsfreiheit berufen, trotzdem spricht man ihm Würde zu. Allein aus der Tatsache, dass der Großteil der Grundrechte auf geborene Menschen zugeschnitten ist, kann nicht gefolgert werden, dass Art. 1 GG ebenfalls nur auf geborene Menschen angewandt werden kann, denn die Schutzbe402 403 404 405 406
Stern, Staatsrecht III/1, S. 1047. Jerouschek, JZ 1989, S. 283; Wille, Die Rechtsstellung des Nasciturus, S. 94. Larenz, Methodenlehre, S. 324 ff. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 28; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 229. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 339.
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reiche der einzelnen Grundrechte unterscheiden sich thematisch stark voneinander.407 Zu bedenken ist außerdem, dass Art. 1 Abs. 1 GG der Ewigkeitsgarantie nach Art. 79 Abs. 3 GG unterliegt. Der Sinn von Art. 79 Abs. 3 GG, Änderungen bei besonders wichtigen Regelungen zu verhindern, würde nicht erreicht, wenn eine zu enge Auslegung die Anwendbarkeit des Art. 79 Abs. 3 GG verhinderte. 408 Teilweise wird, wie oben bereits erwähnt, aus § 1 BGB geschlossen, dass die Würde des Art. 1 Abs. 1 GG nur geborenen Menschen zukomme. Wie oben bereits erläutert, kann aber das einfachgesetzliche Recht nicht für die verfassungsrechtliche Auslegung maßgebend sein.409 Ein Schluss von § 1 BGB auf Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG scheidet darüber hinaus auch deshalb aus, weil die jeweiligen Rechtsbereiche unterschiedliche Ziele verfolgen. § 1 BGB muss eine präzise Regelung über den Zeitpunkt der Rechtsfähigkeit treffen, da mit diesem Zeitpunkt privatrechtliche Ansprüche und Pflichten beginnen. Rechtsklarheit wird dadurch erreicht, dass auf den am leichtesten erkennbaren Zustand des Geborenseins abgestellt wird. Ziel der Grundrechte ist demgegenüber der Schutz des Menschen im Allgemeinen.410 Im Übrigen ist der nasciturus auch im Zivilrecht nicht rechtlos gestellt, wie beispielsweise § 1923 Abs. 2 BGB, der den nasciturus als Erben in Betracht zieht, und § 823 BGB, der den nasciturus als „anderen“ betrachtet, zeigen. Auch die systematische Auslegung führt zu keinem eindeutigen Ergebnis. Eine Extension der Menschenwürde auf das pränatale Leben erscheint aber weiterhin möglich. d) Teleologische Auslegung Als letzte Auslegungsmethode bleibt schließlich die teleologische Interpretation, bei der Sinn und Zweck der Norm ermittelt werden.411 Gegen diese Auslegungsmethode werden Bedenken erhoben. Laut Merkel bietet diese Interpretationsweise die Möglichkeit, ergebnisorientiert zu argumentieren und den eigenen Telos in die Norm hineinzulesen. Hält man den Embryo für besonders schutzbedürftig, wird man sagen, er sei auch von Art. 1 Abs. 1 GG erfasst. Ist man anderer Auffassung, wird man ihn aus Art. 1 Abs. 1 GG herauslesen. Da für die Auslegung bereits etwas vorausgesetzt werde, was erst bewiesen werden solle, handle es sich um eine „maskierte petitio principii“.412 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass sich der Zweck zum einen aus den Begründungen der Gesetzesvorlagen, Protokollen der Gesetzesberatungen und Ausschussberichten ergibt. Zum anderen steht diese Interpretationsmethode in engem Zusammenhang mit der systematischen und grammatischen Auslegung. Sie allein 407 408 409 410 411 412
So auch: Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 117; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 229 f.. Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 117 f. Tornow, Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht, S. 80. Wille, Die Rechtsstellung des Nasciturus, S. 89. Larenz, Methodenlehre, S. 333. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 28.
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kann ein Auslegungsergebnis nicht stützen.413 Durch die Anbindung an normgenetische, systematische und grammatikalische Gesichtspunkte wird eine Beliebigkeit bei der Interpretation verhindert. Art. 1 Abs. 1 GG wurde als Reaktion auf die nationalsozialistischen Gräueltaten als Leitprinzip an die Spitze der Verfassung gestellt. Dadurch wurde der damaligen Staatsideologie eine radikale Absage erteilt, die die Wertigkeit des menschlichen Lebens an der Rassenzugehörigkeit, Religionszugehörigkeit, körperlichen und geistigen Verfasstheit maß, lebenswertes und lebensunwertes Leben unterschied und letzteres vernichtete.414 Vor dem Hintergrund der Menschenversuche, der Tötung von Geisteskranken und der Vernichtung angeblich geistig und moralisch minderwertiger Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus ist offensichtlich, dass Würde niemals auf denjenigen beschränkt werden kann, der sie selbst herzustellen vermag.415 Als Leitmotiv an der Spitze der Verfassung verdeutlicht die Menschenwürdegarantie vielmehr, dass ausnahmslos jedem Menschen ein von der staatlichen Ordnung zu respektierender Wert- und Achtungsanspruch zukommt.416 Sinn und Zweck der Menschenwürdegarantie ist es zu verhindern, dass Menschen sich anmaßen, nach eigenmächtig festgesetzten Kriterien einzelne Menschen als minderwertig zu qualifizieren. Art. 1 Abs. 1 GG enthält damit ein streng formales Differenzierungsverbot. Die Gleichwertigkeit aller Menschen lässt sich nur dann erreichen, wenn der Zuspruch der Würdegarantie allein von der Zugehörigkeit zur Spezies Mensch abhängig gemacht wird. Unabhängig von bestimmten Eigenschaften, Merkmalen oder aktuellen Fähigkeiten kommt Würde damit jedem zu, der zur Spezies Mensch gehört.417 Die Menschenwürdegarantie erfordert für den Zuspruch der Menschenwürde daher gerade nicht mehr die Erfüllung von Voraussetzungen, die über das bloße Menschsein bzw. über die bloße biologische Existenz hinausgehen, wie IchBewusstsein, Überlebensinteresse, Vernunft, Selbstbestimmung oder Kommunikationsfähigkeit. Eine Differenzierung zwischen Person- und Menschsein ist mit dem Telos des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Konsequenterweise wird im deutschen juristischen Schrifttum und der Rechtsprechung daher auch solchen geborenen Menschen Würde zugebilligt, die zu vernünftigem Handeln nicht fähig sind und über Selbstbestimmung und IchBewusstsein nicht verfügen, wie beispielsweise dem irreversibel Komatösen, dem Neugeborenen, dem anencephalen Kind und auch so genannten Missgeburten, die vom äußeren Erscheinungsbild her einem Menschen kaum ähneln, sowie dem geistig Schwerstbehinderten.418 413 414
415 416 417 418
Stern, Staatsrecht III/2, S. 1663. Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagonstik, S. 166; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 340, 242; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 10; Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 112. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 24. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 340. v. Dewitz, ZfL 2009, S. 74; Böckenförde, JZ 2003, S. 811. Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 22.
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Soll die Menschenwürde aber jedem Menschen aufgrund seiner Spezieszugehörigkeit zustehen, so muss sie ihm von Anfang an zustehen und damit aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ab Befruchtung. Bereits zu diesem Zeitpunkt existiert ein individuelles menschliches Leben, das das Potential besitzt, sich kontinuierlich zum geborenen Menschen zu entwickeln. Die oben bereits erörterten weiteren Zäsuren waren als Anknüpfungspunkte für den Beginn der Menschenwürde nicht überzeugend. Eine Differenzierung nach gewissen Entwicklungsstadien ist mit dem Telos des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar.419 Schließlich maßt sich derjenige, der das Menschsein an bestimmte Eigenschaften, wie Ich-Bewusstsein, Vernunft, Selbstbestimmung und Überlebensinteresse oder Entwicklungsstadien, wie die Nidation, Individuation, Überlebensfähigkeit oder Geburt knüpft, an, menschliches Dasein zu bewerten, was durch Art. 1 Abs. 1 GG gerade verhindert werden sollte. Wie Starck es zutreffend formuliert, ist die Anknüpfung an den Zeitpunkt der Fertilisation nicht ein biologistischnaturalistischer Fehlschluss, „sondern beruht auf einer Bescheidung des Menschen, dessen Amt es nicht ist, per definitionem Würde zu versagen“.420 e) Ergebnis Die vorstehende Untersuchung hat gezeigt, dass der nasciturus ab Befruchtung als Träger der Menschenwürde anzusehen ist. Dieses Ergebnis ist nicht nur in entwicklungsbiologischer Hinsicht einleuchtend, sondern entspricht auch Sinn und Zweck des Art. 1 Abs. 1 GG.
VI. Rechtswirkungen der Menschenwürde 1. Unantastbarkeit der Menschenwürde Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar. Anders als bei Eingriffen in Freiheitsgrundrechte, die unter einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt stehen oder durch verfassungsimmanente Schranken begrenzt werden können und damit einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zugänglich sind, stellt jeder Eingriff in die Menschenwürde auch eine Verletzung derselben dar.421 Die Menschenwürde kann mit keinem Einzelgrundrecht oder sonstigem Verfassungswert abgewogen werden.422 Teilweise wird versucht, die Unantastbarkeit einzuschränken. Herdegen vertrat beispielsweise in seiner Kommentierung von Art. 1 Abs. 1 GG im Jahr 2003, dass die Menschenwürde in einen Kern- und einen Randbereich unterteilt werden könne. Nur im Kernbereich sei eine Abwägung mit anderen Grundrechten ausge-
419 420 421 422
Böckenförde, JZ 2003, S. 811. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 18. Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar, Art. 1 I Rn. 44; Hufen, JuS 2010, S. 9; Poscher, JZ 2004, S. 760. BVerfGE 93, 266 (293); BVerfG, JZ 2003, 622 (623); Hufen, JuS 2010, S. 9; Poscher, JZ 2004, S. 760.
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schlossen.423 Relativierend führt er neuerdings aus, dass sich der Achtungsanspruch überhaupt erst aus einer bilanzierenden Gesamtwürdigung ergebe.424 Ansonsten sei der Schutz der Menschenwürde auf ein zu schmales Feld von kategorial umrissenen Misshandlungen beschränkt oder das strikte Verbot jedes würderelevanten Eingriffs ersticke die Handlungsfähigkeit staatlicher Organe.425 Zu Recht wurde diese Auffassung als unzutreffende Einschränkung des absoluten Schutzes der Menschenwürde durch die Verfassung kritisiert.426 Die Unantastbarkeitsklausel schließt außerdem auch die Übertragung von Schranken anderer Grundrechte auf die Menschenwürde aus. Der Ansicht von Kloepfer, der das durch Gesetz einschränkbare Rechtsgut Leben als höchstes Verfassungsgut qualifiziert und die extrem enge Auslegung der Menschenwürde bei deren Uneinschränkbarkeit vermeiden und die Schranken des Lebensrechts auf die Menschenwürde übertragen will, kann daher nicht gefolgt werden.427 Nicht von vornherein abgelehnt werden kann eine Abwägungsmöglichkeit lediglich dann, wenn unter Berufung auf die Würde eines anderen die Würde eines Rechtsträgers angetastet werden soll.428 2. Stufung des pränatalen Würdeschutzes Es gibt auch Versuche, das Unantastbarkeitpostulat der Würde in der pränatalen Phase zu relativieren und das „Alles oder Nichts Prinzip“429 der verfassungsrechtlichen Statusdebatte zu vermeiden. Vertreten wird ein an der Entwicklung des nasciturus orientiertes gestuftes Würdekonzept.430 Ein gestuftes Schutzkonzept nehmen, wie bereits gezeigt, die Vertreter eines objektiv-rechtlichen Begründungsansatzes an.431 Auch Merkel und Hoerster, die einen schlichten Lebensschutz des nasciturus aus dem Prinzip der Gattungssolidarität ableiten, vertreten ein gestuftes Schutzkonzept.432 Diese Auffassungen wurden bereits näher beleuchtet und für nicht schlüssig befunden. Herdegen billigt im Gegensatz zu den vorgenannten Konzepten dem nasciturus ab dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle einen subjektiv
423 424 425 426 427 428 429 430 431 432
Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 20, 22, 26 (Stand 2003). Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 47 (Stand 2009) und Rn. 45 (Stand 2006). Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 47. v. Dewitz, ZfL 2009, S. 75. Kloepfer, FS 50 Jahre BVerfG, S. 77 ff. Für eine Abwägung in dieser Situation: Di Fabio, JZ 2004, S. 5 f.; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 73. Herdegen, JZ 2001, S. 775. Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 69-71; ders., JZ 2001, S. 774 f.; Schlink, Aktuelle Fragen des pränatalen Lebensschutzes, S. 15. Vgl. 2. Kapitel B V 2 b). Vgl. 2. Kapitel B V 2 a) aa), bb).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
grundrechtlichen Würdestatus zu,433 vertritt aber zugleich ein an der Entwicklung des nasciturus orientiertes gestuftes Würdekonzept.434 Ein gestufter pränataler Menschenwürdeschutz sei nicht durch die besondere Einschränkbarkeit oder Abwägungsoffenheit mit anderen Verfassungsgütern gekennzeichnet, sondern ziele schlicht auf einen Achtungs- und Schutzanspruch, welcher der jeweiligen Entwicklungsstufe des pränatalen Lebens angemessen sei.435 Der große Vorteil eines gestuften Würdeschutzes von Anfang an liege darin, dass die schwierige Setzung ontogenetischer Zäsuren erspart bleibe.436 Herdegen verweist darauf, dass eine gleich bleibende Intensität des Würdeschutzes während der pränatalen Phase der europäischen Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte völlig fremd sei.437 Das Recht habe schon immer nach dem Entwicklungsstand des Opfers differenziert. Deutlich werde dies auch an den geltenden Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch: § 218a Abs. 1 StGB erklärt einen Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten 12 Wochen p.c. für tatbestandslos,438 wenn er auf Verlangen der Schwangeren von einem Arzt durchgeführt wird und die Schwangere sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen. § 218a Abs. 3 StGB rechtfertigt einen Abbruch bei Vorliegen einer kriminologischen Indikation ebenfalls innerhalb der ersten 12 Wochen p.c..439
433 434 435
436 437 438
439
Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 65. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 69; ders., JZ 2001, S. 774; ders., GS Heinze, S. 363. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 71; ders., JZ 2001, S. 774; so auch Lorenz, ZfL 2001, S. 45, der die Menschenwürde zwar für absolut geltend und unabwägbar hält, den Gehalt der Menschenwürde aber situationsbedingt bestimmen will. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 65. Herdegen, GS Heinze, S. 363. Der Schwangerschaftsabbruch bleibt aber rechtswidrig. Das ergibt sich aus der Gesetzgebungsgeschichte der Norm. Das Bundesverfassungsgericht erklärte in seinem zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch die Fristenregelung des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes als mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG unvereinbar, weil der beratene Schwangerschaftsabbruch als „nicht rechtswidrig“ qualifiziert wurde, ohne dass ein überwiegendes kollidierendes Interesse der Schwangeren für erforderlich gehalten wurde. Vgl. BVerfGE 88, 203 (204 f. Ls. 15) Als Reaktion des Gesetzgebers auf dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist § 218a I StGB daher als Tatbestandsausschluss zu verstehen, wobei die Rechtswidrigkeit weiter besteht. Grund für die 12-Wochen-Frist ist nicht etwa eine besondere Entwicklungszäsur des nasciturus. In der Praxis ist sie vielmehr deshalb tauglich, weil zu diesem Zeitpunkt eine Schwangerschaft subjektiv und objektiv feststellbar ist und relativ schonende Abbruchmethoden wie in der Regel die Ausschabung angewendet werden können. Vgl. Riha, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 50. Rein zahlenmäßig kommt diesen Fällen allerdings nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Im Jahr 2008 wurden 21 Schwangerschaftsabbrüche auf der Grundlage der kriminologischen Indikation vorgenommen. Vgl. dazu: Statistisches Bundesamt, Schwangerschaftsabbrüche 2008.
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§ 218a Abs. 4 S. 1 StGB enthält einen persönlichen Strafausschließungsgrund zugunsten der Schwangeren. Nach Beratung bleibt sie straffrei, wenn sie innerhalb der ersten 22 Wochen den Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt durchführen lässt. In zeitlicher Hinsicht unbefristet erlaubt lediglich § 218a Abs. 2 StGB einen Schwangerschaftsabbruch bei Vorliegen einer medizinisch-sozialen Indikation. Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die die Abtreibung im bestehenden Maße ermögliche, lasse sich im Übrigen nur bei Annahme eines in modo entwicklungsabhängigen Würdeschutzes konsistent darstellen.440 Ein gestufter Würdeschutz sei auch durch den aktuellen Diskurs über die Würdeschranken der modernen Biotechnologie indiziert, da in diesem Diskurs Behandlungsformen und Zweckbestimmungen im Mittelpunkt stünden, die beim geborenen Menschen als Würdeverletzung angesehen würden. Ein gestufter Würdeschutz erspare letztlich die ständige Errichtung und spätere Aufgabe von Tabus.441 Auf Rechtsfolgenebene, bei der es um das „Wie“ des Schutzes geht, könne daher zwischen den jeweiligen Erscheinungsformen des ungeborenen Lebens differenziert werden. Der Schutz der Menschenwürde vor Implantation einer befruchteten Eizelle in den mütterlichen Uterus reiche weniger weit als beim Embryo nach Nidation oder beim geborenen Menschen.442 Einer aus der in-vitro-Fertilisation hervorgegangenen Blastozyste komme ein stärkerer Schutz zu, als einer daraus entnommenen Zelle, die zwar totipotent, aber nicht zur eigenständigen Ausreifung bestimmt sei.443 Herdegen stellt für die Frühphase darüber hinaus fest, dass die Verpflichtung zur Achtung der Würde auf das Subjekt zwischenmenschlicher Beziehungen gerichtet sei und in einem Stadium, in dem solche Beziehungen konkret schwer erlebbar seien, bei der Annahme von Würdeverletzungen Zurückhaltung geübt werden müsse.444 Im Ergebnis müsste nach Herdegens Konzept der Schutz des extrauterin lebensfähigen nasciturus intensiver gestaltet sein als der Schutz des zwölf Wochen alten nasciturus. Herdegens gestuftes Würdekonzept kann allerdings nicht überzeugen. Zunächst bestehen rein praktische Schwierigkeiten. Die Setzung ontogenetischer Zäsuren bezüglich des „Ob“ des Würdeschutzes bleibt zwar erspart. Gleichwohl stellen sich damit zwei weitere ebenso problematische Fragen, nämlich welche Entwicklungsstufen es rechtfertigen, ein anderes Schutzniveau anzuwenden, und wie stark sich die Schutzintensität dann jeweils gestaltet. Es ist natürlich möglich, die pränatale Entwicklung mit Schlink in vier verschiedene zeitliche Entwicklungsabschnitte einzuteilen. Die erste Phase ist nach Schlink die Zeit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle bis zur Nidation, da das Verhältnis der Zweiheit in Einheit von Mutter und Kind noch fehlt, die zweite 440 441 442 443 444
Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 70; ders., JZ 2001, S. 775; mit der geltenden Rechtslage argumentiert auch Schreiber, MedR 2003, S. 370. Herdegen, JZ 2001, S. 773. Herdegen, JZ 2001, S. 774. Herdegen, JZ 2001, S. 774. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 70.
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Phase umfasst die ersten zwölf Wochen nach der Nidation, in der die Zweiheit in Einheit bereits besteht und der nasciturus dem mütterlichen Schutz gänzlich anvertraut und existentiell von ihr abhängig ist. Nach diesen zwölf Wochen kommt es zu spürbaren Kindsbewegungen oder das Kind wird per Ultraschall visuell wahrgenommen. Durch diese Wahrnehmung wird das Ungeborene in dieser dritten Phase zur Person. Die vierte Phase beginnt schließlich mit der Überlebensfähigkeit des nasciturus. Der nasciturus ist zwar noch ungeborenes Leben, aber zugleich auch gebärbares Leben.445 Die Nidation scheint für Herdegen ebenfalls eine einschneidende Stufe in der Entwicklung des nasciturus zu sein.446 Weitere Stufen benennt er aber nicht. Grundsätzlich problematisch an einem solchen Stufenmodell erscheint aber, dass die Zäsursetzung geradezu willkürlich ist. Man kann wie Schlink von diesen vier Stufen ausgehen, kann aber beispielsweise auch an verschiedene Phasen der Gehirnentwicklung anknüpfen. Die biologische Entwicklung des nasciturus erfolgt wie gezeigt kontinuierlich. Die Befruchtung stellt die entscheidende Zäsur in der menschlichen Entwicklung dar. Weder die Zeitpunkte der Nidation noch der extrauterinen Lebensfähigkeit, die von Schlink genannt werden, sind von solch entscheidender Bedeutung in der menschlichen Ontogenese, dass es überzeugend wäre, sie als Schutzstufen zu etablieren.447 Noch problematischer als die Setzung solcher Zäsuren ist die Beantwortung der Frage, welche konkrete Schutzintensität in der jeweiligen Phase besteht und welche Schutzmaßnahmen erforderlich sind. Als vorteilhaft gestaltet sich eine solche Konzeption daher gerade nicht. Sofern zur Begründung eines gestuften Würdeschutzkonzepts auf die europäische Geistesgeschichte Bezug genommen wird, entpuppt sich dies als äußerst schwaches Argument. Die geistesgeschichtliche Entwicklung knüpfte zunächst an völlig falsche naturwissenschaftliche Annahmen an, wie beispielsweise an das biogenetische Grundgesetz von Ernst Haeckel, zum anderen war sie auch von einem Wechsel von Sukzessiv- und Simultanbeseelungslehre geprägt, so dass ihre Aussagekraft äußerst fraglich erscheint. Auch die unterstützende Bezugnahme auf die strafrechtlichen Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs ist verfehlt. Die Ausgestaltung des einfachen Gesetzesrechts wird hier abermals als Begründung für die verfassungsrechtliche Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG herangezogen. Wie oben bereits erörtert, stellt der Schluss von einer einfachgesetzlichen Regelung auf die Verfassungsinterpretation die Normenhierarchie auf den Kopf. Die Verfassung sagt zwar nicht ausdrücklich etwas über den Würdeschutz des nasciturus aus. In diesem Fall muss aber anhand der verschiedenen Auslegungsmethoden versucht werden, eine Lösung zu finden. Darüber hinaus ist der einfachgesetzliche Lebens- und Würdeschutz auch nicht konsequent orientiert an der Entwicklung des nasciturus gestuft. Hinsichtlich der 445 446 447
Schlink, Fragen des pränatalen Lebensschutzes, S. 14. Eine Differenzierung des Schutzes vor und nach Nidation befürwortet auch Taupitz, NJW 2001, S. 3438. Vgl. dazu 2. Kapitel B V 2 c) cc), ee).
B. Die Menschenwürde
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Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch, die mit Fortschreiten der Schwangerschaft höhere Anforderungen an einen Schwangerschaftsabbruch vorsehen, mag eine konsequente Stufung vorliegen. Die Regelungen des Embryonenschutzgesetzes widersprechen jedoch einem gestuften Schutz in der Rechtsordnung, da sie bereits in einer frühen Phase der menschlichen Entwicklung einen starken Schutz gewähren.448 Es gibt noch einen weiteren Grund, aus dem es problematisch ist, die verfassungsrechtlichen Stufungen auf das Abtreibungsstrafrecht zu stützen. Der Schwangerschaftsabbruch ist ein hochkomplexes und heikles Thema, das die Menschheit schon seit Jahrtausenden beschäftigt. Der Versuch, die Interessen der Schwangeren und des nasciturus ausreichend zu gewährleisten, ist immer eine Kompromisslösung unter Berücksichtigung der Probleme einer Schwangerschaft, die nie alle zu befriedigen vermag. Auch die momentan geltende Fassung der §§ 218 ff. StGB ist eine solche Kompromisslösung, so dass ein Verweis auf die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch nicht überzeugend zu dem Schluss eines gestuften Menschenwürdeschutzes führen kann.449 Es ist unbestritten, dass Abtreibungen schon immer milder geahndet wurden als die Tötung geborener Menschen. Allerdings kann man daraus nicht zugleich auf einen geringeren Schutzanspruch des nasciturus schließen. Für die Bemessung des Strafrahmens ist nicht nur entscheidend, dass es um eine Tötung geht. Vielmehr werden andere Aspekte miteinbezogen, wie die Abschreckungsfunktion einer Strafandrohung, der soziale Unwertgehalt der Tat und das Tatmotiv sowie die Schuld. Nicht nur die Abtreibung wird geringer bestraft als der Totschlag gemäß § 212 StGB, sondern auch die fahrlässige Tötung nach § 222 StGB weist demgegenüber ein geringeres Strafmaß auf. Dies zeigt, dass aus einer geringeren Bestrafung nicht zugleich auf einen geringeren Schutz des Rechtsguts geschlossen werden kann. Ein solches Würdekonzept ist auch nicht vom Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG gedeckt. Aus dem Wortlaut der Verfassung kann man zwar zunächst in der Tat nicht eindeutig die Frage beantworten, ob der nasciturus in den Schutzbereich des Art.1 Abs. 1 GG mit einzubeziehen ist. Daraus kann man aber nicht schließen, dass dem nasciturus Würde nur in einer abgeschwächten Form zukommt, die im Laufe seiner Entwicklung ansteigt. In der Verfassung findet sich nirgends ein Anhaltspunkt für einen gestuften Würdeschutz. Art. 1 Abs. 1 GG lautet vielmehr „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und gewährt damit jedem, der ein menschliches Wesen ist, eine gleich bleibende Würde.450 Die Unantastbarkeitsformel würde zur Leerformel, wenn nur ein gestufter Schutz für erforderlich gehalten wird.451 Durch eine solche Stufung wird die einzige nicht abwägungsoffene
448 449 450
451
Vgl. Schumann, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen , S. 9 f. So im Ergebnis auch: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 288. Die Gegenargumente, die Hoerster gegen einen gestuften Lebensschutz anführt, eignen sich auch als Gegenargumente für ein Konzept des gestuften Menschenwürdeschutzes. Vgl. Hoerster, JuS 2003, S. 530; Hoerster, NJW 1997, S. 774. Hörnle, ARSP 2003, S. 320.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Schutzposition des Individuums im Grundgesetz aufgegeben und der Sinn der Menschenwürdegarantie neben den sonstigen Grundrechten in Frage gestellt.452 Ist man bei der Subsumtion im Zweifel, ob der nasciturus Menschenwürdeträger ist oder nicht, so kann man diesen Zweifelsfall nicht dadurch lösen, dass man die Subsumtion bejaht, zugleich aber gewissermaßen als Ausgleich die Rechtsfolgen abschwächt. Diese Vorgehensweise ist im Rahmen der juristischen Auslegung unüblich.453 Hoerster veranschaulicht dies durch folgendes Beispiel. Wäre man sich unsicher, ob an bestimmten Fachhochschulen Wissenschaft betrieben wird oder nicht, so käme man nicht auf die Idee, Art. 5 Abs. 3 GG zu bejahen, den Hochschullehrern aber zugleich nur eine eingeschränkte Wissenschaftsfreiheit zuzusprechen.454 Ein gestufter Würdeschutz bedeutet nicht nur einen gesteigerten Schutz gegen Ende der Schwangerschaft, sondern auch einen sehr schwachen Schutz in der Frühphase. Herdegen stellt für die Frühphase fest, dass die Verpflichtung zur Achtung der Würde auf das Subjekt zwischenmenschlicher Beziehungen gerichtet sei, und in einem Stadium, in dem solche Beziehungen konkret schwer erlebbar seien, müsse bei der Annahme von Würdeverletzungen Zurückhaltung geübt werden.455 Bei der Frage, ob der nasciturus Träger der Menschenwürde ist, wurde bereits erläutert, dass es auf Kriterien wie die Erlebbarkeit nicht ankommt, sondern dass ab Befruchtung dem nasciturus Menschenwürde kraft seines Menschseins zuzusprechen ist. Wird also die Erheblichkeit solcher Kriterien bei der Bestimmung des personellen Schutzbereichs verneint, so können sie nicht bezüglich des „wie“ des Schutzes entscheidend sein.456 Spricht man folglich jedem Mitglied der Spezies Mensch unabhängig von seiner biologischen Entwicklung nur aufgrund seines Menschseins Menschenwürde zu, so kann man konsequenterweise eine prozesshafte Stufung des Würdeschutzes nicht vertreten. Unterschiedliche Stufen des Menschseins gibt es dann nicht.457 Eine solche Stufung würde zu einer Differenzierung zwischen Grundrechten erster Klasse bezüglich geborener Menschen und Grundrechten zweiter Klasse für den nasciturus führen, die es nicht gibt. Der Schutz der Menschenwürde ist somit nicht orientiert an den Entwicklungen des nasciturus gestuft, sondern zu jedem Zeitpunkt gleich. 3. Ergebnis Bereits ab Befruchtung ist der nasciturus als Träger der Menschenwürde anzusehen und vom Staat vor Menschenwürdeverletzungen Privater zu schützen. Die Schutzintensität orientiert sich nicht an verschiedenen Entwicklungsstufen der menschlichen Ontogenese, sondern ist zu jedem Zeitpunkt gleich. Auch die extra-
452 453 454 455 456 457
Classen, DVBl 2002, S. 144. Hoerster, JuS 2003, S. 530. Hoerster, JuS 2003, S. 530. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 70. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 352. Dederer, AöR 2002, S. 13.
C. Das Recht auf Leben
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uterine Lebensfähigkeit des Fötus führt nicht dazu, dass ihm im Vergleich zum Embryo ein erhöhter Schutz zu gewährleisten ist.
C. Das Recht auf Leben I. Der materiale Schutzbereich Das Recht auf Leben schützt in materialer Hinsicht das körperliche Dasein des Menschen im Sinne einer lebenden, biologisch-physischen Existenz.458 Durch jede Tötung wird dieses Recht irreversibel zerstört. Jeder Schwangerschaftsabbruch stellt eine Tötung des nasciturus dar. Ist der nasciturus Grundrechtsträger des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, so wird durch einen Schwangerschaftsabbruch in dessen Recht auf Leben eingegriffen.
II. Der personale Schutzbereich Umstritten ist allerdings auch hinsichtlich des Lebensrechts, ob der nasciturus in den personalen Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mit einzubeziehen ist. Die Argumentation verläuft weitgehend parallel zu dem Streitstand, ob der nasciturus als Träger der Menschenwürde anzusehen ist. 1. Lebensrecht ab Erlebensfähigkeit oder Überlebensinteresse Die Ansichten von Merkel und Hoerster, die für den Zuspruch von Menschenwürde und Lebensrecht das Vorliegen von Erlebensfähigkeit oder Überlebensinteresse fordern, wurden oben bereits eingehend erörtert und abgelehnt. Eine erneute Diskussion erübrigt sich daher an dieser Stelle.459 2. Objektiv-rechtliche Begründung Ein objektiv-rechtlicher Begründungsansatz wird nicht nur bezüglich der Menschenwürde, sondern auch bezüglich des Lebensrechts vertreten. Der Mensch wird erst ab Geburt als Grundrechtsträger des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG anerkannt. Ein subjektiv grundrechtlicher Status des nasciturus ergebe sich weder aus dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG460, aus Sinn und Zweck der Norm noch aus der Entstehungsgeschichte.461 Aufgrund der Potentialität der befruchteten Eizelle, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln, und der im 458 459 460
461
Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 2 II Rn. 25; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 192. Vgl. dazu 2. Kapitel B V 2 a) aa), bb). Frommel, ZRP 1990, S. 352; Geiger/von Lampe, Jura 1994, S. 22; Kloepfer, JZ 2002, S. 420, demzufolge zumindest unmittelbar nach Befruchtung nicht von einem Menschen gesprochen werden kann. Geiger/von Lampe, Jura 1994, S. 22.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Lebensgrundrecht verkörperten objektiven Wertentscheidung müsse der Schutz durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG allerdings objektiv-rechtlich vorwirken462 oder ausstrahlen463. Kloepfer spricht insofern von einem Grundrechtsschutz im Sinne eines Grundrechtsanwartschaftsrechts.464 Die Intensität des so gewährten Lebensschutzes steige mit dem Heranwachsen des werdenden menschlichen Lebens an.465 Wie das objektiv-rechtliche Begründungskonzept der Menschenwürde gegen die verfassungspositivierten Grenzen des Art. 1 Abs. 1 GG verstößt466, beinhaltet auch das objektiv-rechtliche Begründungskonzept des Lebensschutzes einen solchen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gewährleistet jedem ein Lebensrecht. Damit ist ein konkretes Subjekt im Verfassungstext fixiert, auf das sich das Lebensrecht bezieht. Der objektiv-rechtliche Gehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kann daher nicht losgelöst von einem konkreten Subjekt existieren.467 Wie bereits ausführlich dargestellt, hat der objektiv-rechtliche Gewährleistungsgehalt der Grundrechte außerdem den Zweck, die Geltungskraft derselben zu verstärken.468 Der Grundrechtsschutz setzt damit stets einen individuellen Träger voraus. Ein rein objektiv-rechtlicher Schutz losgelöst von einem konkreten Subjekt ist daher gerade nicht denkbar.469 Eine objektiv-rechtliche Begründung des Lebensrechts kann folglich nicht überzeugen. 3. Der nasciturus als Träger des Lebensrechts ab einer bestimmten entwicklungsbiologisch bedeutsamen Zäsur Die Frage nach dem Beginn des Lebensrechts wird kontrovers beurteilt. In Parallele zu der oben dargestellten Diskussion zum Beginn der Menschenwürde wird auch der Beginn des Lebensrechts an biologisch-physiologisch relevante Zäsuren, wie Befruchtung,470 Nidation,471 Individuation472, extrauterine Überlebensfähigkeit473 und Geburt474 geknüpft. 462 463 464
465 466 467 468 469 470
Dederer, AöR 2002, S. 18; Frommel, ZRP 1990, S. 352; Geiger/von Lampe, Jura 1994, S. 23 f.; Hartleb, DVBl 2006, S. 677 f.; Ipsen, DVBl 2004, S. 1386. Jerouschek, JZ 1989, S. 284 f. Kloepfer, JZ 2002, S. 420. Auch Coester-Waltjen, in: FamRZ 1984, S. 235, Dederer, in: AöR 2002, S. 17-20 und Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 28 konstruieren einen rein objektiv-rechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens, allerdings nur bis zum Zeitpunkt der Nidation, da es bis zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Omnipotenz der Zelle an der erforderlichen Individualisierung fehle. Ab Nidation sprechen sie dem Nasciturus einen subjektiv grundrechtlichen Lebensschutz zu. Vor Nidation wird daher eine Abwägung des Lebensrechts des Nasciturus mit anderen Rechtsgütern, wie beispielsweise auch mit dem Recht eines Patienten auf Gesundheit, der sich durch das therapeutische Klonen Heilung erhofft, für möglich gehalten. Geiger/von Lampe, Jura 1994, S. 22; Ipsen, DVBl 2004, S. 1386. Vgl. dazu 2. Kapitel B V 2 b) cc). Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 153; ders., ZfL 2006, S. 36. BVerfGE 7, 198, (205); 50, 290 (337); Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 66 ff.; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 155. Heun, JZ 2002, S. 519; Hoerster, ZfL 2006, S. 46. Beckmann, ZRP 2003, S. 99 f.; Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik, S. 178 f.; Classen, DVBl 2002, S. 143; Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 77 f.;
C. Das Recht auf Leben
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Von Sass wurde außerdem vorgeschlagen, den Beginn des Lebens am „Hirnleben“ zu orientieren. Ausgehend vom Hirntod als der maßgeblichen Bestimmung für das Lebensende, sei der Beginn des Hirnlebens das analoge Moment für den Beginn menschlichen Lebens.475 Auch die Setzung dieser Zäsur überzeugt nicht. Die Parallele von Hirntod und Hirnleben ist zum einen schon deshalb problematisch, weil mit dem Eintritt des Hirntods die Gehirntätigkeit irreversibel erlischt, die befruchtete Eizelle aber noch das Potential zur Gehirnentwicklung hat.476 In praktischer Hinsicht problematisch ist es außerdem, festzulegen, wann das Hirnleben beginnt. Man könnte beispielsweise daran anknüpfen, dass mit der dritten Schwangerschaftswoche p.c. die Entwicklung des Gehirns beginnt oder darauf abstellen, dass sich die freien Nervenendigungen ab der 14. Woche entwickeln. Darüber hinaus könnte man auch für relevant erachten, dass der Thalamus in der 20. Woche seine Funktion aufnimmt. Die Möglichkeiten sind vielfältig. Zum anderen ist es bislang ungeklärt, in welchem Verhältnis die Nervenzellen des Gehirns und Geist zueinander stehen.477 Wie oben bereits ausführlich erörtert, ist die Befruchtung die zentrale Weichenstellung der menschlichen Ontogenese. Von diesem Zeitpunkt an existiert ein sich selbst organisierendes System, das über das Potential verfügt, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln. Diese Entwicklung verläuft ohne weitere ebenso einschneidende Zäsuren. Es liegt daher nahe, den nasciturus ab Befruchtung als Träger des Lebensrechts anzusehen. Um einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss zu vermeiden, muss aber auch hier mittels der vier klassischen Auslegungsmethoden untersucht werden, ob der nasciturus bereits ab Befruchtung Träger des Lebensrechts sein soll. 4. Auslegung des Art. 2 Abs. 2 GG a) Grammatikalische Auslegung Der nasciturus wird als Zuordnungssubjekt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 1. Alt. GG nicht ausdrücklich erwähnt. Nach dieser Norm hat „jeder“ ein Recht auf Leben. „Jeder“
471
472 473 474 475 476
477
Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 49; Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, S. 926 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 2 II Rn. 29, 39 f.; Schwarz, KritV 2001, S. 194 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 192; Stern, Staatsrecht III/1, S. 1057. Anderheiden, KritV 2001, S. 378 f.; Dederer, AöR 2002, S. 17; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 25; Murswiek, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 145 b; Rosenau, in: FS Schreiber, S. 772. Coester-Waltjen, FamRZ 1984, S. 235; Taupitz, NJW 2001, S. 3438; Schreiber, MedR 2003, S. 369. 410 US 113 (163 f.). Merkel, FS Müller-Dietz, S. 511; Hoerster, JuS 1989, S. 178; Hoerster, Abtreibung, S. 132 f. Sass, in: Flöhl, Genforschung, S. 38 ff.; zugeneigt auch Joerden, ZStW 2008, S. 16 f. So auch: Schlingensiepen=Brysch, ZRP 1992, S. 420; Schwarz, KritV 2001, S. 195; Silva Sánchez, ZStW 2008, S. 23; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 18. Schlingensiepen=Brysch, ZRP 1992, S. 422.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
steht im Kontext des Grundgesetzes immer für „jeder Mensch“.478 Insofern ist die Frage, wer unter „jeder“ zu verstehen ist, identisch mit der Frage, wer „Mensch“ im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG ist. Vom Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gedeckt ist zum einen ein Verständnis, das unter den Begriff „jeder“ lediglich jeden geborenen Menschen subsumiert.479 Hoerster vermutet insofern, dass weite Teile der Bevölkerung den Begriff „jeder“ auf diese Weise interpretieren würden.480 Andererseits ist es auch möglich, unter „jeder“ jedes menschliche Leben und damit auch die Leibesfrucht zu subsumieren.481 Der Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG führt daher zu keinem eindeutigen Ergebnis.482 b) Historische Auslegung Nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts legt die Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG den Einbezug des nasciturus in den Schutzbereich des Lebensrechts nahe.483 Das Bundesverfassungsgericht nimmt in seinen Ausführungen Bezug auf die im Folgenden darzustellende Debatte im Parlamentarischen Rat, die sich mit der Frage befasste, ob auch das „keimende Leben“ vom Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG erfasst werde.484 Am 19. November 1948 stellte die DP-Fraktion einen schriftlichen Antrag, um zu erreichen, dass das BGG um die folgende Bestimmung ergänzt wurde:>Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das keimende Leben wird geschützt…< Nachdem dieser Antrag zurückgestellt worden war, wiederholte die DP den Antrag nahezu wortgleich. In der 2. Lesung des Hauptausschusses über die Grundrechte erklärte der DPAbgeordnete Seebohm, dass das Recht auf Leben nicht zweifelsohne das keimende Leben erfasse. Daher müsse zur Klarstellung das „keimende Leben“ in den Wortlaut des Art. 2 GG aufgenommen oder zumindest ein Vermerk im Protokoll auf den Einbezug des nasciturus in den Schutzbereich des Lebensrechts gemacht werden. Nachdem die Abgeordneten Weber (CDU/CSU) und Heuß (FDP) dargestellt hatten, dass nach ihrem Begriffsverständnis Leben auch das ungeborene Leben umfasse und daher ein ausdrücklicher Einbezug des nasciturus in den Verfas-
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483 484
Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 63; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 225; ders., ZfL 2006, S. 37; Murswiek, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 145a. Murswiek, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 145a vertritt diesbezüglich, dass ein solches Verständnis dem allgemeinen und juristischen Sprachgebrauch widersprechen würde. Hoerster, JR 1995, S. 51. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 203; Weiß, JR 1995, S. 53, die der Auffassung sind, dass unter „jeder“ schon dem Wortlaut nach eindeutig auch die Leibesfrucht zu subsumieren ist. So auch: Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 63; Hillgruber/Goos, ZfL 2008, S. 43; Hoerster, JR 1995, S. 51; ders., JuS 1989, S. 173. Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 47. BVerfGE 39, 1 (38 ff.). BVerfGE 39, 1 (38 ff.).
C. Das Recht auf Leben
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sungstext nicht erforderlich sei, wollte der Abgeordnete Seebohm seinen Antrag zurückziehen.485 Der SPD Abgeordnete Greve stellte daraufhin für sich und einige seiner Fraktionskollegen fest, dass unter dem Recht auf Leben nicht zugleich das Recht auf das keimende Leben zu verstehen sei, woraufhin der Abgeordnete Seebohm den Antrag der DP-Fraktion wieder aufnahm. In der Abstimmung des Hauptausschusses wurde der Antrag auf Aufnahme des Satzes:>Auch das keimende Leben ist geschützt