Wieweit können wir dem trauen, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen? Diese Frage, der die Philosophie seit Jahrtausend...
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Wieweit können wir dem trauen, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen? Diese Frage, der die Philosophie seit Jahrtausenden nachgeht, fasziniert ungebrochen auch viele Zeitgenossen außerhalb der Welt der Wissenschaft. Das mächtige Echo von Matrix, der Mutter aller Realitätsfilme, ist dafür nur ein Beispiel. Jim Baggott spielt das Thema auf höchst lebendige Weise nach sozialen, philosophischen und physikalischen Kriterien durch. Dabei macht er seine Argumentation immer wieder an Alltagserfahrungen fest und bezieht die Botschaften einschlägiger Kultfilme mit ein. Und er kommt zu dem Schluss, dass die Naturwissenschaften in den vergangenen Jahrhunderten deshalb so erfolgreich waren, weil sie uns Schritt für Schritt der Wahrheit über die Wirklichkeit näher gebracht haben. Jim Baggott ist Physiker und ein renommierter Wissenschaftsautor. Über sein jüngstes Buch «Beyond Measure. Modern Physics, Philosophy and the Meaning of Quantum Theory» schrieb die Zeitschrift «Science»: «Die klare Beschreibung liefert einen vorzüglichen Einstieg für alle, die die seltsame Welt der Quantenmechanik verstehen möchten.»
Jim Baggott
Matrix oder Wie wirklich ist die Wirklichkeit Deutsch von Hainer Kober Rowohlt Taschenbuch Verlag
rororo science Lektorat Ludwig Moos Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel «A Beginner’s Guide to Reality» bei Penguin Books, London Deutsche Erstausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2007 Copyright © 2007 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «A Beginner’s Guide to Reality» © 2005 by Jim Baggott Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt (Illustration: Jane Sterrett/picture press; Daniel Judge/CORBIS) Innengestaltung Daniel Sauthoff Satz Proforma PostScript (InDesign) bei Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 978 3 499 62169 7
Für Mum, im Gedenken an Dad
Vorwort
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Prolog: Folgen Sie dem weißen Kaninchen Teil eins
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Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich? 1 Hyperreal
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2 In einer materiellen Welt leben 3 Ich, mir ... wir Teil zwei
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Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich? 4 Der Gefangene
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5 Descartes’ Dämon 6 Gehirne im Tank
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7 Sind Sie erfahren? 8 Doppelgänger Teil drei
119 167
189
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Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich? 9 Fester Grund?
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10 Aufstieg der dänischen Priesterschaft
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11 To Whom the Bell Tolls oder Eine Ungleichung, die es in sich hat 12 Wirklichkeit in Schleifen und Strings
Epilog: Die hartnäckige Illusion
317
Bibliographie und Filmographie
335
Register
345
393
265
Vorwort
Wo befinden Sie sich in diesem Augenblick? Vielleicht stehen Sie in einer Buchhandlung und blättern die Seiten dieses Buchs durch. Vielleicht sitzen Sie in einem Zug oder in einer Flughafenlounge und schlagen die Zeit tot. Vielleicht sitzen Sie aufrecht im Bett und lesen diese Zeilen, um ein bisschen abzuschalten, bevor Sie die Nachttischlampe ausmachen. Woher wissen Sie, dass irgendeiner dieser Vorgänge wirklich ist? Wir nehmen die Wirklichkeit unserer Welt im Großen und Ganzen als gegeben hin. Warum auch nicht? Die Wirklichkeit hat nun einmal die Angewohnheit, immer da zu sein, wenn wir morgens aufwachen. Den ganzen Tag über bleibt sie ziemlich vorhersagbar und ist auch noch bei uns, wenn wir abends einschlafen. Diese Wirklichkeit besitzt eine soziale Dimension – wir leben und arbeiten neben anderen Menschen; wir verdienen Geld, geben Geld aus (in Buchhandlungen beispielsweise). Wir heiraten. Wir geben unsere Stimmen bei Wahlen ab. Diese Wirklichkeit hat auch physische Dimensionen – wir leben in einer Welt, die physische Objekte enthält, etwa Bücher, Häuser, Autos, Züge, Berge, Flüsse und Bäume. Diese Gegenstände rufen Empfindungen in uns hervor: wir sehen, schmecken, riechen, hören und fühlen sie. Unterhalb dieser Oberfläche soll es eine Vielzahl winziger, nicht zu beobachtender physikalischer Objekte geben, aus denen, wie die Naturwissenschaftler uns versichern, die größeren Gegenstände bestehen, die wir sehen und mit denen wir umgehen. Diese winzigen physikalischen Dinge sind Moleküle, Atome, Protonen,
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Vorwort
Neutronen, Elektronen, Photonen und noch viele andere Teilchen, die alle auf der Bühne des dreidimensionalen Raums zur Melodie der eindimensionalen Zeit tanzen. Das vorliegende Buch ist eine Erkundung der Wirklichkeit, die von der sozialen zur sensorischen zur physikalischen Ebene fortschreitet. Ich möchte Sie von einer Ebene zur nächsten führen, immer auf der Suche nach etwas, das wir dingfest machen, an dem wir unseren Hut aufhängen können, um zu sagen: Das ist wirklich. Überraschenderweise sind die Antworten keineswegs selbstverständlich und in vielen Fällen sogar ziemlich beunruhigend. Bei jedem Schritt untersucht das Buch einiges von dem, was die bedeutendsten Denker der Welt über die Wirklichkeit gesagt haben – beginnend mit den Philosophen des antiken Griechenland bis hin zu den modernen Naturwissenschaftlern und Sozialwissenschaftlern –, wobei aber alles streng in den Grenzen der Allgemeinverständlichkeit bleibt. Sie haben ein Buch vor sich, das vor allem philosophischer Natur ist. Es beginnt mit Aspekten der Sozialtheorie und Gesellschaftsphilosophie und endet mit dem, was ich gern Naturphilosophie nenne, was andere aber wohl eher als Physik bezeichnen würden. Wenn Sie nicht in den Sozialwissenschaften, der Philosophie oder den Naturwissenschaften bewandert sind, seien Sie nicht besorgt – es ist nicht nötig. Die Philosophie ist eine vollkommen natürliche menschliche Betätigung. Philosophische Spekulationen über das Wesen unserer Wirklichkeit stellen wir praktisch jeden Tag an. Wenn wir uns ein bisschen bemühen, können wir diese Spekulationen in einer Weise analysieren und deuten, die uns hilft, erstens die Probleme zu erkennen, die möglicherweise durch unser Alltagsverständnis von Wirklichkeit aufgeworfen werden, und zweitens eine Vorstellung davon zu bekommen, wo Lösungen zu finden sind. Vor allem aber können wir uns eine eigene Meinung bilden, wenn wir genügend Einsicht in
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Vorwort
die Probleme und ihre möglichen Lösungen gewinnen. Dieses Buch ist also für alle, die sich schon einmal gefragt haben, was wirklich ist und woher wir es wissen. Mein Dank gilt allen, mit denen ich die Idee zu diesem Buch und seinen Inhalt erörtert habe, insbesondere Peter Atkins, John Blackman, Marsha Filion, Les Naylor und Marga Vega. Ferner möchte ich all jenen danken, die mir erlaubt haben, aus ihren Werken oder Songtexten zu zitieren: Andy und Larry Wachowski, Peter Gabriel, Roger Waters, Macmillan Ltd., der University of Michigan Press und Warner Brothers. Besonders verpflichtet bin ich Jon Turney, meinem Lektor bei Penguin Books, weil er mich aufgefordert hat, das Buch zu übersetzen. Wie gewöhnlich gehen alle Fehler und Irrtümer auf meine Kappe. Es versteht sich von selbst, dass dieses Buch nicht möglich gewesen wäre ohne die Liebe und Unterstützung meiner Familie.
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Prolog
Folgen Sie dem weißen Kaninchen
... Da war Alice mit einem Satz auf den Beinen, denn mit einem Mal war ihr klargeworden, dass sie noch nie zuvor ein Kaninchen mit einer Westentasche gesehen hatte, am allerwenigsten eines mit einer Uhr darin; und außer sich vor Neugier rannte sie ihm, so schnell sie konnte, über den Acker nach, wo sie es zum Glück noch gerade unter die Hecke in einen großen Kaninchenbau hineinspringen sah. Im Nu war ihm Alice nachgesaust, ohne auch nur von fem daran zu denken, wie in aller Welt sie wohl wieder herauskäme. LEWIS CARROLL, ALICE IM WUNDERLAND
Alle langen Reisen, so heißt es, beginnen mit dem ersten Schritt. Unseren Ausgangspunkt bildet die übliche Auffassung dessen, was unsere Alltagswirklichkeit ausmacht. Halten Sie einen Augenblick inne und überlegen Sie. Wenn Sie die entscheidenden Merkmale Ihrer Wirklichkeit aufschreiben und einem Freund oder Kollegen beschreiben müssten, was würden Sie sagen? Denken Sie an grünes Gras, einen murmelnden Bach, einen blauen Himmel und eine strahlend gelbe Sonne, die über dem fernen Horizont aufsteigt. Denken Sie an einen typischen Tag in Ihrem Leben. Denken Sie daran, wie Sie am Morgen aufstehen, zur Arbeit gehen, sich bemühen, genügend Geld zu verdienen, um die Dinge
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Prolog
zu bezahlen, die das Leben lebenswert machen: ein hübsches Heim, ein Auto, Freizeit, einen Urlaub.1 Möglicherweise sind Sie etwas verwirrt. Vielleicht schleicht sich das Gefühl ein, Sie seien durch ungeschriebene Gesetze gebunden, durch unsichtbare Konventionen eingeschränkt, die für Sie vollkommen real sind, die Sie aber, wie flüssiges Quecksilber, nicht recht fassen können. Vielleicht haben Sie das Gefühl, Sie hätten die Wirklichkeit in der Vergangenheit allzu selbstverständlich hingenommen. Sie hätten es mit einer Wirklichkeit zu tun, die Sie nicht selbst entworfen und gemacht hätten, in der Sie nun darum kämpfen müssten, Ihren freien Willen auszuüben. Erstens können wir uns wohl darauf einigen, dass Wirklichkeit von Menschen unabhängig sein muss. Die Wirklichkeit dürfte sicherlich unabhängig von unserer Fähigkeit sein, sie zu erfassen und Theorien über sie zu bilden. Die Tatsache, dass die Menschheit sich bis zu einem Punkt entwickelt hat, wo sie komplizierte Theorien über die Wirklichkeit ersinnen kann, sollte keine Bedeutung für die Existenz dieser Wirklichkeit haben. Wie könnte die Wirklichkeit auch davon abhängen, dass es jemanden gibt, der schlau genug ist, um sie wahrzunehmen und zu begreifen? Musste die Wirklichkeit, wie wir sie kennen, auf einen Schlaukopf warten, der hinreichend qualifiziert war? Jemanden mit einem Doktortitel? Die Sonne geht auf, und Sie stehen auf. Sie fahren zur Arbeit, einem Ort voller Menschen, die offensichtlich unabhängig von ihrer Fähigkeit, sich dorthin zu begeben, existieren. Sie arbeiten den ganzen Tag und fahren nach Hause. Sie sehen sich die Nachrichten im Fernsehen an, das Ihnen Bilder von Ereignissen zeigt, die sich in ver1 Vergessen Sie dabei nicht, dass man mit Geld kein Glück kaufen kann (obwohl es das Elend unter Umständen etwas erträglicher macht).
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Prolog
schiedenen Teilen der Welt zugetragen haben, an Orten, von denen Sie glauben, dass sie existieren, obwohl Sie nie dort gewesen sind und wahrscheinlich auch nie dorthin fahren möchten.2 Die Sonne geht unter und Sie zu Bett, fest davon überzeugt, dass die Sonne morgen wieder aufgehen wird. Es scheint ziemlich offenkundig zu sein, dass Menschen und Objekte weiterhin «in der Wirklichkeit» vorhanden sind, auch wenn Sie sie nicht betrachten oder an sie denken. Zweitens können wir uns darauf einigen, dass die Wirklichkeit, was immer sie sein mag, innerhalb bestimmter anerkannter Grenzen vorhersagbar ist. Wirklichkeit scheint logisch schlüssig zu sein. Eine Welt ohne Regeln ist kaum vorstellbar, eine Welt, in der alles möglich ist, wo die Dinge ohne Grund geschehen, wo die Sonne morgen vielleicht nicht aufgeht. Nach mehreren Jahrhunderten Philosophie und Naturwissenschaft haben wir eine große Zahl von «Naturgesetzen» entdeckt und können diese Gesetze mit Hilfe von Theorien unterschiedlicher Komplexität verstehen und erklären. Vermutlich haben Sie schon von Newtons Bewegungsgesetzen und Einsteins Relativitätstheorie gehört. Einer der wichtigsten Begriffe, die dieser logischen Schlüssigkeit zugrunde liegen, ist das Konzept von Ursache und Wirkung. Die Sonne wird morgen aufgehen, weil sich die Erde um ihre Achse dreht, während sie die Sonne umkreist. Die Erde dreht sich um ihre Achse, weil ... und so fort, und so fort. Möglicherweise sind die Naturwissenschaften während der letzten Jahrhunderte so erfolgreich gewesen, weil wissenschaftliche Theorien die Eigenart haben, uns immer näher an die Wahrheit über die Wirklichkeit, wie sie «wirklich ist», heranzuführen. Naturwissenschaftliche Theorien sind in vielerlei Hinsicht unvollkommen, besitzen aber nach allgemeinem Dafürhalten die Eigenschaft, plausibel, «wahrheitsähnlich», zu sein – eine Eigenschaft, die sich 2 Irgendjemand, der nach Kabul will?
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Prolog
mit jeder neuen Generation wissenschaftlicher Entwicklungen verstärkt. Vielleicht können wissenschaftliche Theorien niemals absolut wahr sein, wohl aber unterschiedliche Grade einer Wahrheitsähnlichkeit besitzen, die im Laufe der Zeit dem Absoluten immer näher kommt. Wissenschaftler verfeinern und verbessern ihre Theorien fortwährend, sodass wir – da es sinnlos wäre, neue Theorien zu entwickeln, die weniger nützlich sind als ihre Vorgänger – zu der Annahme verleitet sein könnten, dass sich diese Theorien einer wie auch immer definierten «Wahrheit» stetig annähern. So glauben wir nicht mehr, dass Sonne und Sterne um eine stationäre Erde kreisen, wie die alten Griechen meinten, da wir herausgefunden haben, dass es nicht wahr ist. Wir halten es für wahrer, wenn wir sagen, dass die Erde um die Sonne kreist, da dies die Wirklichkeit besser beschreibt. Schließlich müssen wir uns noch mit der Frage beschäftigen, was es bedeutet, dass die Wirklichkeit aus Objekten besteht, die wir nicht sehen können, so zum Beispiel aus Molekülen und Atomen. Doch das wirft keine besonderen Probleme auf. Schließlich lässt sich schwer vorstellen, wie unsere Welt überhaupt funktionieren sollte, gäbe es nicht die unsichtbaren Mikrostrukturen im Inneren aller Materie (einschließlich unser selbst) und allen Lichts. Die moderne Technik wäre unmöglich, würden wir nicht die Existenz dieser Mikrostrukturen zur Kenntnis nehmen. Wir sind nicht so leicht davon zu überzeugen, dass sie, nur weil wir sie nicht sehen, nicht wirklich sind. Nein, diese winzigen Materieteilchen sind vorhanden, ganz ohne Zweifel. Nicht zu beobachtende Objekte sind wirklich vorhanden und haben wirkliche Effekte. Sie spielen in naturwissenschaftlichen Theorien eine Rolle, weil sie Aspekte unserer Wirklichkeit erklären und folglich so real sind wie Bäume, Bananen oder Sandkörner. Nun schauen Sie sich noch einmal diese alltäglichen Schlussfolgerungen bezüglich der Wirklichkeit an. Denken Sie an die Erfahrungen Ihres eigenen Lebens. Unser Ausgangspunkt ist die Auffassung,
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Prolog
dass Wirklichkeit unabhängig von uns ist – von unserer Fähigkeit, sie zu erfassen und Theorien über sie zu bilden. Die Wirklichkeit wird bestimmt von Regelmäßigkeiten, die sich aus den natürlichen Kausalbeziehungen ergeben. Die Naturwissenschaft bringt uns der Wahrheit über die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist, fortwährend näher, und unbeobachtbare Objekte wie Moleküle und Atome existieren wirklich und haben reale Effekte, auch wenn wir sie nicht sehen können. Einverstanden? Wenn Sie sich nicht längere Zeit den Kopf über die Spitzfindigkeiten von Philosophen zerbrochen haben, ist es wahrscheinlich, dass Sie dies alles nicht nur sehr vernünftig, sondern auch ziemlich trivial finden. Mit dieser Auffassung stehen Sie gewiss nicht allein. Wenn Sie schon einmal in die trüben Tiefen philosophischer Texte eingetaucht sind oder von den seltsamen Schlussfolgerungen der Quantenphysik gehört haben, dann haben Sie etwas Geduld. Wir kommen noch dahin. Bevor wir wirklich anfangen können, müssen wir uns mit ein paar grundsätzlichen Fragen beschäftigen. Etwa zwei Drittel dieses Buches beschäftigen sich mit Wirklichkeitsebenen, die eng mit der Arbeitsweise des menschlichen Geistes verflochten sind. Daher wird es vielleicht manchmal so scheinen, als habe sich das Buch auf das Gebiet der geistigen Prozesse und geistigen Zustände verirrt und unseren Gegenstand aus den Augen verloren. Ich will hier keine unnötigen Abschweifungen des Verfassers entschuldigen, aber Wirklichkeit und menschlicher Geist stehen in sehr enger Beziehung, daher sollten wir uns zur Vorbereitung ein wenig mit der Philosophie des Geistes beschäftigen. Theorien des Geistes gibt es in zwei Spielarten. Einerseits haben wir den Dualismus, die Theorie, dass der Geist sich grundsätzlich von materiellen Stoffen wie Wasser und Steinen, Körpern und Gehirnen unterscheidet. Andererseits gibt es verschiedene Formen des Materia-
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Prolog
lismus, nach dem unsere geistigen Zustände (etwa Gedanken, Vorstellungen oder Erinnerungen) aus den physikalischen und chemischen Prozessen entstehen, die sich in unserem Gehirn vollziehen. Ich will kein Hehl daraus machen, dass ich mich selbst für einen Materialisten halte. Dualistische Theorien gehen auf das 17. Jahrhundert zurück und gelten heute bei gelernten Philosophen als weitgehend überholt (obwohl es auch einige moderne Vertreter dieser Auffassung gibt). Das Problem des Dualismus liegt darin, dass er einen ziemlich geheimnisvollen, nichtphysikalischen «Geiststoff» postuliert, der in vielerlei Hinsicht dem theologischen Begriff der Seele entspricht. Nach dieser Auffassung ist unser Geist ein «Gespenst» in der materiellen Maschine, die wir unseren Körper nennen. Die Schwierigkeit erwächst daraus, dass dieses Gespenst in irgendeiner Weise mit der materiellen Welt wechselwirken muss, wenn der Geist dafür verantwortlich sein soll, dass Dinge geschehen. Falls Ihnen nicht klar ist, warum das ein Problem sein soll, führen Sie das folgende kleine Experiment aus. Legen Sie dieses Buch vor sich auf den Tisch. Nun heben Sie es, ohne es zu berühren, nur mit der Kraft Ihres Geistes auf. Haben Sie Schwierigkeiten? Wenn Sie das Buch nun mit den Fingern aufheben, können wir diese körperliche Handlung über die Hand, die Muskeln, das Nervensystem und das Rückenmark zu Signalen zurückverfolgen, die von einer bestimmten Region Ihres Gehirns, dem sogenannten motorischen Kortex, ausgehen. Diese ganze Aktivität findet in der materiellen Welt statt und ist auf Materieteilchen und elektrische Signale angewiesen. Unter diesen Umständen müssen wir aber erklären, wie ein Gedanke, der in einem immateriellen Geist auftritt, Signale in einem materiellen Gehirn auslöst, die zu einer Handlung, einer Körperbewegung, führen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es keine physikalischen Gesetze, mit denen wir eine solche Wechselwirkung
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Prolog
erklären könnten. Wie das geschehen soll, wie der nichtphysikalische, gespenstische Geiststoff die Dinge veranlasst, in der physikalischen Welt zu geschehen – bleibt in den dualistischen Theorien des Geistes äußerst rätselhaft. Das ist der Grund, warum der Philosoph Daniel Dennett gesagt hat, den Dualismus zu akzeptieren heiße aufzugeben. Denken Sie an die Geschichte des Films Ghost – Nachricht von Sam aus dem Jahr 1990, in dem Patrick Swayze, Demi Moore und Whoopie Goldberg die Hauptrollen spielten. Die Geschichte in Kürze: Sam Wheat (Swayze) wird während eines Raubüberfalls ermordet. Nachdem er zunächst dem weißen Licht folgen will, das ihm den Weg der Auferstehung vorzeichnet, besinnt er sich und bleibt als Geist auf der Erde, um seine junge Freundin (Moore) vor einem Unheil zu bewahren, das er noch nicht versteht. Er muss sich dabei mit dem Umstand auseinandersetzen, dass er als Geist zwar unsichtbar durch Wände und Türen gehen3, aber mit seiner Umwelt physisch nicht wechselwirken und sich daher auch mit seiner Partnerin nicht direkt verständigen kann. Schließlich lernt er von einem anderen Geist, wie es geht: Durch Kanalisierung seiner Emotionen und Fokussierung seines körperlosen, gespenstischen Geistes auf materielle Objekte gelingt es ihm, mit ihnen wechselzuwirken. Das, was er gelernt hat (der Film sagt uns nicht, was), ist genau das, was der Geist der dualistischen Theorien braucht, um direkten Einfluss auf die materielle Welt auszuüben. Trotzdem wäre die Annahme falsch, der Dualismus ließe sich so einfach abschütteln. Tatsächlich ist er von tückischer Hartnäckigkeit. Jede Theorie des Geistes, die versucht, den Akt des Denkens in irgendeiner Steuerzentrale des Gehirns zu installieren, wo Wahrneh3 Wir wollen die Frage außer Acht lassen, wie es ihm eigentlich gelingt, auf dem Fußboden zu gehen.
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Prolog
mungen interpretiert, Entscheidungen getroffen und mechanische Hebel betätigt werden, fällt einer schleichenden Form des Dualismus zum Opfer. Wer übernimmt in einem solchen Kontrollzentrum des Geistes die Beobachtungsfunktion? Materialisten vertreten die Auffassung, geistige Zustände seien das unmittelbare Ergebnis physikalischer und chemischer Ereignisse im Gehirn und der sich daraus ergebenden spezifischen Gehirnzustände. Nervenzellen (Neuronen) feuern in Gehirnregionen, die verschiedenen geistigen Funktionen entsprechen: sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen, der Verarbeitung dieses sensorischen Inputs im Arbeitsgedächtnis, dem Abruf von Inhalten aus dem Langzeitgedächtnis, der Auslösung sowohl rationaler wie emotionaler Reaktionen und der Koordination von Körperbewegungen. Die Beziehung zwischen Gehirnchemie und geistigen Zuständen scheint sehr eng zu sein. Ungleichgewichte in der empfindlichen chemischen Zusammensetzung des Gehirns können zu einer Vielzahl geistiger Störungen führen, etwa zu Parkinson-, Huntington- und Alzheimerkrankheit, zu Schizophrenie, Angststörungen, Depression und Manie. Doch auch hier stoßen wir auf schwierige Rätsel. Wir können annehmen, dass es nichts als Physik und Chemie gibt, dass geistige Zustände nicht wirklich existieren (keine Gedanken, keine Überzeugungen, keine Wünsche, keine Erinnerungen) und dass es nur Gehirnzustände gibt – unterschiedliche Kombinationen neuronaler Interaktion, die wir als geistige Aktivität interpretieren. Das ist eine Form des Materialismus, die man allgemein als Eliminativen Materialismus bezeichnet. Danach existiert ein Gedanke nur als spezifisches Muster neuronaler Aktivität, und wir erfinden das Konzept der geistigen Zustände lediglich, um Verhalten zu erklären (unseres und das der anderen). Eine Alternative wäre, geistige Zustände als Ergebnis irgendwelcher emergenter, das heißt Neues schaffender Eigenschaften von
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Prolog
hochkomplexen Gehirnaktivitäten, zu verstehen. Danach reicht ein Muster neuronaler Aktivitäten nicht aus, um einen Gedanken zu konstituieren. Ein Gedanke ist vielmehr eine Eigenschaft höherer Ordnung von Aktivitätsmustern – etwa so, wie man sich die Eigenschaften von Wasser (friert zu einem durchsichtigen festen Körper bei 0°C, verkocht zu Dampf bei 100°C) als Eigenschaften höherer Ordnung der subatomaren Teilchen (Protonen, Neutronen und Elektronen) vorstellen kann, aus denen die Wasserstoff- und Sauerstoffatome bestehen. Wie es uns sehr schwerfiele, die allgemeinen Eigenschaften des Wassers allein anhand unseres Wissens von den Eigenschaften der Protonen, Neutronen und Elektronen vorherzusagen, so hätten wir wohl auch große Mühe, die Eigenschaften geistiger Zustände aus den Aktivitätsmustern einzelner Neuronen im Gehirn vorherzusagen. Wenn wir in der Lage wären, ein Gebilde mit den Funktionen und der Komplexität des Gehirns zu konstruieren (100 Milliarden Neuronen, miteinander verbunden und in einer grauen Substanz verpackt, welche die Konsistenz kalter Hafergrütze besitzt und ungefähr drei Pfund wiegt), dann könnten wir nach dieser Auffassung erwarten, dass sich in diesem Gebilde auch Bewusstsein, Selbstsinn und Geist auf natürliche Weise entwickelten.4 Tatsächlich haben wir verschiedene Auffassungen, aber noch keine ganz schlüssige wissenschaftliche Theorie des Geistes. Nun fürchten Sie möglicherweise, dass das unsere Fähigkeit, die Wirklichkeit geeignet zu erkunden, beeinträchtigen könnte. Sie können beruhigt sein. Das ist nicht der Fall.
4 Das scheint den Gedanken nahezu-
menschlichen Gehirns nachahmen
legen, dass ein künstliches Gehirn,
könnte, ganz von allein bewusst und
wenn wir jemals imstande wären, eines
seiner selbst gewärtig würde.
zu bauen, das alle Operationen des
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Prolog
Der zweite Punkt von grundsätzlicher Bedeutung lässt sich am besten anhand eines Hollywood-Blockbusters erläutern. Die Rede ist natürlich von Matrix, der Mutter aller Filme über die Wirklichkeit. Der Streifen, mit Keanu Reeves, Laurence Fishburne und Carrie-Anne Moss in den Hauptrollen, kam am 31. März 1999 – dem Osterwochenende – in die Kinos. Er kostete 65 Millionen Dollar, spielte weltweit mehr als 450 Millionen Dollar ein und wurde zu einem sensationellen Ereignis auf DVD, einer Technologie, die für Filme wie diesen wie geschaffen ist. Ihm folgten 2003 zwei weitere Filme – Matrix Reloaded und Matrix Revolutions. Später wird noch einiges über diese Folgen zu sagen sein, doch im Augenblick möchte ich mich auf das Original aus dem Jahr 1999 konzentrieren. Es gibt bereits etliche ausgezeichnete Bücher über die Philosophie und Interpretation der wichtigsten Themen aus Matrix. Das vorliegende Buch ist nicht einfach ein weiteres Exemplar aus dieser Reihe, sondern bemüht sich um eine vollständigere Erforschung der Wirklichkeit und unserer Kenntnis von ihr, wobei es sich der Themen aus Matrix nur zu Illustrationszwecken bedient, zumindest soweit es um die gesellschaftliche und die Wahrnehmungsebene geht. Der Film teilt uns wenig über das wissenschaftliche Verständnis der materiellen Wirklichkeit mit. Man muss den Film nicht gesehen haben, um meinen Ausführungen folgen zu können, sollte aber schon mit seiner Geschichte vertraut sein. Hier also ein denkbar kurzer Abriss: Thomas Anderson arbeitet als Softwareentwickler für ein angesehenes Unternehmen. Das heißt tagsüber. Nachts ist er ein Computerhacker mit dem Webnamen Neo. Morpheus und Trinity, zwei andere berühmte Hacker, nehmen Kontakt zu ihm auf. Er «folgt dem weißen Kaninchen» und trifft Trinity in einem Nachtklub. In früheren Szenen haben wir Trinity bereits bei einigen unmöglichen Kung-Fu-Stunts (in unmöglich engem Latex-Outfit) bewundert. Sie will Neo helfen, die eine Frage zu verstehen, die ihn umtreibt: Was ist die Matrix?
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Prolog
Doch bevor Neo irgendetwas unternehmen kann, wird er von Männern, die FBI-Agenten zu sein scheinen, verhaftet und verhört. Einer von ihnen, Agent Smith, verdiente unsere Aufmerksamkeit. Smith offenbart, dass sie (wer immer diese «sie» sind) alles über Neos verbotene Aktivitäten wissen, und bietet ihm einen Handel an: Sie werden alle strafbaren Handlungen aus seinem Register streichen, wenn er sie zu Morpheus führt, den sie als Computerterroristen diffamieren. Als Neo sich weigert, stoßen ihm einige Dinge zu, die in der wirklichen Welt einfach nicht passieren können. Er wacht auf und glaubt, er habe einen besonders eindringlichen Albtraum gehabt. Am folgenden Tag wird er erneut von Trinity kontaktiert, und ihm stoßen weitere unmögliche Dinge zu, woraufhin sie ihn zu Morpheus führt. Dieser bietet ihm die Wahl zwischen zwei Kapseln von unterschiedlicher Farbe an:
«Dies ist deine letzte Chance. Danach gibt es kein Zurück. Schluckst du die blaue Kapsel, ist alles aus. Du wachst in deinem Bett auf und glaubst an das, was du glauben willst. Schluckst du die rote Kapsel, bleibst du im Wunderland, und ich führe dich in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus.» Neo nimmt die rote Pille und entdeckt, dass sein ganzes Leben und das Leben aller Menschen, die er je gekannt hat, eine Illusion ist. In Wirklichkeit ist sein Körper in einer Kapsel mit einer zähflüssigen rosa Nährflüssigkeit gefangen. Ein Kabel leitet elektrische Signale zu seiner Schädelbasis und von dort ins Gehirn. Alles, was er jemals erlebt hat, ist Virtuelle Realität, eine Simulation, die als Matrix5 5 Diese Bezeichnung für die Virtuelle
Entstehung der «Cyberpunk»-Gattung
Realität hat der Schriftsteller William
beigetragen hat. Viele Themen, die in
Gibson geprägt, der 1984 mit seinem
Matrix behandelt werden, finden sich
Roman Neuromancer entscheidend zur
bereits in Gibsons Roman.
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Prolog
bezeichnet und seinem Geist durch eine aggressive Maschinenintelligenz eingespeist wird. Diese ist ursprünglich von Menschen erschaffen worden, hat sich nun aber gegen sie gewandt und verwendet menschliche Körper als Energiequelle. Die Matrix dient dazu, das Bewusstsein und damit auch die Körper praktisch der ganzen Menschheit ruhigzustellen. Da Neo aus der Matrix erwacht ist, hat er seine Nützlichkeit als Energiequelle eingebüßt und wird aus der Kapsel der Maschine über ein Abflussrohr in die Kanalisation gespült. In einem sehr realen Sinne kommt Neo also zur Welt. Er wird von dem realen Morpheus und der realen Trinity in Empfang genommen und an Bord ihres Luftkissenfahrzeugs, der Nebuchadnezzar, gebracht. In der wirklichen Welt gehören sie den Resten der letzten menschlichen Widerstandsbewegung an, die ihren Stützpunkt im Erdkern hat. Diese Widerstandskämpfer hacken sich regelmäßig in die Matrix ein, wo sie gelernt haben, die Programmregeln zu verändern – daher die «unmöglichen» Kung-Fu-Stunts.6 Die Agenten sind in Wirklichkeit fühlende und denkende Programme, die von der Maschine entwickelt worden sind, um die Widerstandsbewegung aufzuspüren und zu vernichten. Wie sich herausstellt, ist Neo von großer potenzieller Bedeutung. Morpheus glaubt, dass er «Der Eine» ist – eine Christus-Gestalt7, welche die Regeln der Matrix beliebig manipulieren und ihrem Willen unterwerfen kann, um so am Ende den Sieg im Krieg gegen die Maschinen zu erzwingen. Neo ist skeptisch. Wieder in der Matrix, sucht er das Orakel auf, eine freundliche Frau mit prophetischen Fähigkeiten, welche die Rückkehr «Des Einen» prophezeit hat. Doch 6 Bei dieser Gelegenheit erfahren wir leider auch, dass Trinitys unmöglich enge Latex-Bekleidung ebenfalls nicht real ist.
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7 Eigentlich würde Buddha-Gestalt besser passen.
Prolog
bevor sie zu weiteren Offenbarungen in der Lage ist, wird die ganze Besatzung von einer Judas-Gestalt, dem Besatzungsmitglied Cypher, an die Agenten verraten. Cypher ist des Lebens in der wirklichen Welt überdrüssig und möchte, dass sein Geist wieder in die Matrix zurückkehrt, als «... jemand Bedeutendes, zum Beispiel ein Schauspieler». Morpheus gerät in Gefangenschaft. Als Kommandant der Nebuchadnezzar kennt er die Zugangscodes zum Zentralcomputer der Widerstandsbewegung. Mit diesen Codes können die Maschinen die letzten Überreste der menschlichen Widerstandsbewegung vollständig vernichten. In einem langen kinematographischen Adrenalinrausch befreien Neo und Trinity ihren Gefährten Morpheus aus einem Gebäude der Sicherheitskräfte in der Matrix, und Neo erkennt, dass er tatsächlich «Der Eine» ist. Wenn Sie den Film gesehen haben, dann werden Sie bemerkt haben, dass ich viele Ausschmückungen, Nebenhandlungen und Anspielungen auf den Buddhismus unterschlagen habe. Ich habe mich auf die Schlüsselelemente beschränkt, die im Rahmen meines Buches von Interesse sind. Die Brüder Wachowski hatten sich vorgenommen, einen «intellektuellen Actionfilm» zu drehen. Egal, ob ihnen das gelungen ist oder nicht, ihr Film hat es auf jeden Fall zu Kultstatus gebracht und lebhafte Diskussionen ausgelöst, etwas, was der durchschnittliche Hollywood-Blockbuster normalerweise nicht schafft. Über die Interpretationen der Fortsetzungen – Matrix Reloaded und Matrix Revolutions – wird im Internet lebhaft diskutiert. Diese Fortsetzungen beschäftigen sich allerdings weit weniger mit unserer Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit. Stattdessen setzen sie sich mit anderen philosophischen Problemen auseinander wie dem freien Willen und dem Wesen der menschlichen Liebe und entwickeln Handlungsstränge, die wie der erste Film religiöse Mythologien des
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Prolog
Westens und des Ostens miteinander verschmelzen. Eine vollständige Interpretation der ganzen Trilogie wäre der Gegenstand eines gesonderten Buches.8 Beschäftigen wir uns also mit der Matrix, wie sie uns im ersten Film begegnet. Wohin ist das Kaninchen gelaufen?
8 Matt Lawrence, Like a Splinter in Your Mind, Blackwell, Maiden, MA, 2004, ist ein ausgezeichnetes Beispiel.
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Teil eins
Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich? Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
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Kapitel eins – Hyperreal
Hyperreal Früher sagte man, wir sind, was wir essen. Dann sagten die Leute, vielleicht ein bisschen modebewusster: Nein, du bist, was du trägst. Oder: du bist, was du liest. Doch wir sind in diesem Jahrtausend: Du bist, was du siehst. PETER GABRIEL, GROWING UP LIVE
Leben Sie in einer Traumwelt? Nein, erwidern Sie, vielleicht ein bisschen ungehalten. Sie sind fest davon überzeugt, dass Sie Träume von der Wirklichkeit unterscheiden können. Sie haben nicht den geringsten Zweifel. Sie sind kein Träumer. Und doch gibt es ein schlüssiges Argument dafür, dass Sie keineswegs in einer wirklichen Welt leben. Sie leben in einer Welt, die fast vollkommen von der modernen Konsumgesellschaft geschaffen worden ist, zu der Sie gehören. Sie arbeiten hart und verdienen Geld, nur um einem Traum in einer Welt nachzujagen, die fast vollständig das Produkt Ihrer fruchtbaren Phantasie ist, unterstützt durch ein pausenloses Bombardement mit den Bildern jener Medien, in denen man nicht mehr zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Stil und Substanz unterscheiden kann. Manch einer wird wohl die Meinung vertreten, dass diese Welt bereits eine Simulation ist, in der jeder Kontakt mit der «wirklichen» Wirklichkeit, jeder Verweis auf sie längst verlorengegangen ist. Eine Welt, in der laut dem postmodernen Sozialtheo-
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
retiker Jean Baudrillard die Bilder und die Ersatzobjekte wirklicher geworden sind als die Wirklichkeit selbst: Sie sind hyperreal. Wir haben das erste Etappenziel unserer Reise auf den Spuren des Kaninchens erreicht. Gewiss, wir haben es hier immer noch mit einer Welt materieller Dinge zu tun, mit Häusern und Autos, Flugzeugen und Kreditkarten. Doch diese materiellen Dingen sind viel unwichtiger geworden als die Bilder, die sie erzeugen, oder die Botschaften, die sie vermitteln. Daher beziehen wir kein Haus, sondern ein Zuhause, das unserer Zukunft gegeben wird, wir fahren kein Auto, sondern schätzen den Vorsprung durch Technik und die Tatsache, das nichts unmöglich ist. Wir buchen bei einer bestimmten Fluggesellschaft, weil There’s no better way to fly, und suchen nach dem Duft am Mann oder dem, der Frauen provoziert. Wir trinken Bier, das etwas teurer ist, weil es das einzig Wahre ist, und bringen uns um vor (K)Aufregung. Wir genießen den feinen Unterschied, gönnen ihn uns zwar nicht immer, aber immer öfter, und packen den Tiger in den Tank, weil es schon immer etwas teurer war, einen besonderen Geschmack zu haben. Sie werden mir empört entgegenhalten, dass Sie sehr wohl zu unterscheiden wissen zwischen der Wirklichkeit und den Bildern, welche die Marketingstrategen, die Werbefachleute, die staatlichen Meinungsmacher und die Nachrichtenmedien fabrizieren. Es stimmt aber nicht.1 In jedem Fall erhalten Sie die unvollkommene Repräsentation einer Wirklichkeitssimulation, die mehr oder weni-
1 Hier ist eine interessante Tatsache: In
der Nachrichtenbeiträge unbearbeitete
den US-amerikanischen Werbeunterneh-
und unverfälschte Werbebotschaften
men sind mehr Menschen beschäftigt,
sind. Mit freundlicher Genehmigung von:
als es Journalisten gibt. Nun könnte
John Strauber und Sheldon Rampton,
man meinen, das sei keine besonders
Toxic Sludge in Food for You!, Common
wichtige Information; bedenken Sie aber,
Courage Press, Monroe, 1995.
dass ein großer (und wachsender) Anteil
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Kapitel eins – Hyperreal
ger entstellt ist, je nachdem, was verkauft wird oder wie dreist die Lüge ist. Baudrillard vertritt die Auffassung, dass die Repräsentation in der Hyperrealität mit nichts mehr Ähnlichkeit hat, was man sonst als wirklich akzeptieren würde. Die moderne Konsumgesellschaft funktioniert nach einem einfachen Prinzip. Wir werden mit einer Illusion jener Welt gefüttert, die wir gerne hätten: einer Welt, in der wir schöner sind, schlanker, erfolgreicher, geachteter, klüger, reicher, glücklicher. Wir lassen uns davon überzeugen, dass wir diese Welt verwirklichen können, wenn wir dieses Auto kaufen, dieses Haus besitzen, diese Stereoanlage haben, dieses Handy benutzen, dieses Buch lesen, diese Lebensmittel essen, dieses Bier trinken, diese Kreditkarte benutzen, mit dieser Fluggesellschaft fliegen. Der Wunsch nach dieser Welt macht uns zu Lohnsklaven, lässt uns als perfekte Konsumeinheiten funktionieren – so perfekt, dass es nicht mehr notwendig ist, uns mit den Illusionen zu füttern: Wir sind die Illusionen. Nicht umsonst spricht man vom amerikanischen Traum. Im einundzwanzigsten Jahrhundert ist der Traum unsere Wirklichkeit geworden. Wir leben in einer Traumwelt. Das erinnert mich an einen Witz: Der Seniorpartner einer weltweit operierenden Unternehmensberatung, der unter Überarbeitung, Stress und nervöser Erschöpfung leidet, beschließt, sich einen längeren Urlaub zu gönnen. Er quartiert sich in einem winzigen mexikanischen Fischerdorf ein, das weit von allen Touristenzentren entfernt liegt. Am Spätnachmittag kommt er mit einem einheimischen Fischer ins Gespräch. Er fragt ihn, wie er so lebt. «Na ja», sagt der Fischer in stockendem Englisch, «ich schlaf lange, hole das Boot am frühen Nachmittag raus und fange genug Fische, um meine Familie zu ernähren, und noch ein paar mehr, die ich verkauf, sodass ich Geld hab, um anderes Essen und ein bisschen Wein
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
zu kaufen. Wenn die Sonne untergeht, setze ich mich mit meinen Freunden in der Bodega zusammen, wo wir trinken und reden. Dann geh ich schlafen.» Der Unternehmensberater ist verblüfft. «Warum stehen Sie nicht früher auf, bleiben ein bisschen länger mit Ihrem Boot draußen und fangen mehr Fische, die Sie verkaufen können?», fragt er. «Warum sollte ich?», erwidert der Fischer. «Sie könnten das zusätzliche Geld sparen und sich ein weiteres Boot kaufen, andere Fischer einstellen und noch mehr Fische fangen.» «Was würde ich dann tun?» «Nun, mit dem zusätzlichen Geld könnten Sie noch mehr Boote kaufen – vielleicht ein oder zwei Trawler – und weitere Fischer einstellen. Über kurz oder lang hätten Sie Ihre eigene Fischereiflotte.» «Und dann?» «Dann hätten Sie eine gesunde Bilanz und könnten zu einer Bank oder einer Investmentgesellschaft gehen und Geld aufnehmen, um noch mehr Fischereiflotten zu kaufen. Sie könnten mit Ihrem Unternehmen an die Börse gehen und mit Ihren Aktien handeln. So hätten Sie die Möglichkeit, ein Fischereiimperium aufzubauen. Nach einiger Zeit könnten Sie an Diversifizierung denken, vielleicht im weiteren landwirtschaftlichen Bereich, in der Freizeitindustrie oder irgendwo anders. Sie würden zu den 500 größten Unternehmen der Vereinigten Staaten gehören, und Ihr Bild erschiene auf der Titelseite der Zeitschrift ‹Forbes›.» «Und dann?» «Und dann, Mann, dann könnten Sie das Ganze verkaufen. Sie hätten Ihr persönliches Vermögen und könnten das Leben führen, von dem Sie immer geträumt haben. Sie könnten sich in irgendeinem kleinen Dorf zur Ruhe setzen, lange schlafen, sich vielleicht ein kleines Boot anschaffen, um ein bisschen zu fischen, und am Abend mit Freunden in der Bodega sitzen ...»
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Kapitel eins – Hyperreal
Der Witz macht deutlich, wie absurd einige Aspekte unserer modernen Konsumkultur sind. Wir sind bemüht, uns einen Weg durch die Wirklichkeit unserer komplexen sozialen Existenz zu bahnen, bestrebt, genügend Geld zu verdienen, um Dinge zu kaufen, die wir nicht brauchen, die Hypothek abzubezahlen, Rechnungen zu begleichen, das Schulgeld aufzubringen, uns die teuren Urlaube zu leisten und so die Welt unserer Phantasie zu verwirklichen, unseren Traum von einem einfacheren Dasein. In unserem komplexen Leben ist Einfachheit offenbar nur um einen hohen Preis zu haben. Warum? Was hat es mit uns und der Gesellschaft, in der wir leben, auf sich, dass diese Art von Wirklichkeit entsteht? Fangen wir ganz vorne an. Die Evolution lässt sich etwas vereinfacht als «Überleben des Tauglichsten» interpretieren, was wir wie folgt verstehen wollen: Die lebenden Organismen, die am besten an ihre Umwelt angepasst sind, haben eine größere Chance, sich fortzupflanzen und ihre Gene an nachfolgende Generationen weiterzureichen. Bei einem entsprechenden Selektionsdruck können Anpassungsprozesse, die aus Zufallsmutationen des genetischen Materials resultieren, besser angepasste Organismen hervorbringen, die in der Folgezeit eine bestimmte ökologische Nische beherrschen. Manche Forscher vertreten die Auffassung, dass Homo sapiens die erfolgreichste höherentwickelte Art auf unserem Planeten ist. Egal, ob Sie damit einverstanden sind oder nicht, die Tatsache, dass sich die Menschheit von ihrem Entstehungsgebiet in den Savannen Afrikas praktisch über alle bewohnbaren Teile des Globus ausgebreitet hat, lässt auf eine außerordentlich erfolgreiche Anpassung schließen. Diesen Erfolg verdanken wir ganz allein den Fähigkeiten unseres Gehirns und seinem Vermögen – egal, wie es zustande kam –, ein außerordentlich komplexes geistiges Leben zu erzeugen. Alle anfänglichen evolutionären Vorteile der Zufallsadaptionen,
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
die zu einem größeren Gehirn führten, wurden meiner Meinung nach durch die Kapazität und Regsamkeit der daraus entstehenden Verstandeskräfte weit in den Schatten gestellt. Unser Geist braucht bei weitem nicht jenes Maß an Komplexität, über das er heute verfügt, um uns in die Lage zu versetzen, in unserer Umwelt zu überleben oder sie sogar zu beherrschen. Wir sind nicht auf das Rüstzeug unserer hochentwickelten geistigen Funktionen angewiesen, um zu überleben. So gesehen, könnte die Vielseitigkeit unseres geistigen Lebens durchaus ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt sein. Alle Evolution ist zufällig, doch unser Geist könnte der größte Zufall überhaupt sein. Ein Großteil dieser geistigen Vielfalt beziehen wir aus der Außenwelt, sowohl der Welt, die wir vorfinden, wie der Welt, die wir uns selbst schaffen. Die Wirklichkeit prägt sich unserem Geist in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit auf: schroffe, schneebedeckte Berggipfel, leise plätschernde Bäche, hohe Bäume, weiche braune Erde. Doch offenbar ist unser geistiges Leben mehr als nur der passive Eindruck einer äußeren Wirklichkeit, der sich aus unserer Beobachtungsfähigkeit ergibt. Darin liegt das Geheimnis. Zu unseren hochentwickelten geistigen Funktionen gehört auch das Vorstellungsvermögen. Dank dieses Vermögens können wir Dinge sehen, die es noch gar nicht gibt. Wir können uns eine Zukunft ausmalen, die erst eintreten soll. Wir können planen. Unsere Fähigkeit, uns die Dinge zu denken, wie sie sein könnten, statt sie zu nehmen, wie sie sind, findet durch einen Rückkopplungsprozess wieder Eingang in unsere äußere Wirklichkeit. Seit ungefähr 1,4 Millionen Jahren verwenden Menschen diese Rückkopplung, um Tiere zu jagen, Fische zu fangen, Wurzeln, Beeren und andere Pflanzenteile zu sammeln und nomadische Gruppen von höchstens fünfzig Mitgliedern zu bilden. Der Übergang von einer Jäger-undSammler- zu einer bäuerlichen Kultur führte zur Gründung größerer Gesellschaften und verurteilte die kleinen Gruppen, die es vorzogen,
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Kapitel eins – Hyperreal
der alten Lebensweise treu zu bleiben, zu einem Dasein am Rande der Gesellschaft. Menschen sind soziale Tiere, vielleicht mit einem angeborenen biologischen Drang zu sozialer Interaktion. Wir leben nicht einfach in Gesellschaft, sondern erfinden Gesellschaft, um zu leben.2 Die ersten Städte entstanden vor rund zehntausend Jahren. Mit der Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Industrie während der letzten Jahrhunderte ergab sich die Möglichkeit, Gesellschaften von riesiger Ausdehnung zu bilden, mit dem Erfolg, dass unsere äußere Wirklichkeit heute geprägt ist von Großstädten, die sich am Fuße von Gebirgen ausbreiten, Brücken, die über Flüsse führen, gepflegten Parks, in denen hohe Bäume stehen, und weicher brauner Erde. Innerhalb dieser materiellen Strukturen entfalten sich atemberaubend komplexe soziale Strukturen. Diese Strukturen gründen sich auf eine Vielzahl von Institutionen, die angeblich fertige Lösungen für die meisten unserer alltäglichen Probleme liefern. Menschen entwickeln die Gesellschaft, und die Gesellschaft entwickelt eine Infrastruktur, um Bildung, medizinische Versorgung, wirtschaftliche Strukturen, ein Rechtssystem, organisierte Religion, Verteidigung gegen andere Gesellschaften, politische Führung und persönliche Unterstützung für Individuen und Familien zur Verfügung zu stellen. Diese Infrastruktur entfaltet ihre Wirkung mittels einer Reihe von sozialen Institutionen, wie Geld, Ehe, Politik und Krieg, die sich zu einem fast unsichtbaren Netz verflechten. Man hat ausgerechnet, dass ein Jäger und Sammler in der Regel ungefähr eine Kalorie an menschlicher Energie aufbringen muss, um sich drei Kalorien Nahrungsenergie zu verschaffen. In einer Jäger-und-Sammler-Gesellschaft ist der Mensch, was er isst. Mit der Entwicklung einer Lebensmittelproduktion auf industriellem Ni2 Vgl. Maurice Godelier, The Mental and the Material, London, Verso, 1986.
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veau lässt sich mit der Aufwendung einer Kalorie an menschlicher Energie eine Nahrungsenergie in der Größenordnung von 5000 Kalorien beschaffen. Nachdem die äußere Umwelt weitgehend erobert worden ist und keine Notwendigkeit mehr besteht, viel Zeit und Mühe in die Suche nach Dingen zu investieren, die der Mensch braucht, um sich am Leben zu erhalten, kann sich sein außerordentlich hochentwickelter Geist anderen Bedürfnissen zuwenden. In einem ganz anderen, doch sehr realen Sinn sind wir noch immer das, was wir essen, wie die unaufhaltsame Zunahme der Übergewichtigkeit in vielen Ländern beweist. Doch da wird nicht gegessen, um zu überleben, da wird gegessen, um emotionale Bedürfnisse zu befriedigen oder weil man sich für einen bestimmten Lebensstil entschieden hat. Vorstellungen, die sich mit Gefühlen verbinden, nähren das Verlangen. Das kann ein biologisch gespeistes Verlangen nach bestimmten Dingen sein: um Hunger zu stillen, Durst zu löschen, Sex zu haben. Es kann auch ein gesellschaftlich gespeistes Verlangen sein: um dazuzugehören, an Selbstachtung zu gewinnen, Status und Prestige zu vermehren, von anderen geachtet zu werden.3 Außerdem benutzen wir unser Vorstellungsvermögen, um die heimtückischste Form der Folter abzuwehren, die den höherentwickelten Geist bedroht, die Langeweile. Uns verlangt es nicht mehr nach Nahrung für unseren Körper, sondern nach Nahrung für unseren Geist. Wir brauchen An3 In seinem Buch Status Anxiety definiert
gesellschaftlichen Rang ein oder seien
Alain de Botton dieses Bedürfnis wie
im Begriff, auf einen niedrigeren zurück-
folgt: «... eine Sorge, die so quälend sein
zufallen ... Aus Misserfolg erwächst
kann, dass sie unter Umständen große
Demütigung: das nagende Bewusstsein,
Teile unseres Lebens verdirbt – die
dass wir nicht in der Lage waren, die
Sorge, wir könnten den Erfolgsidealen,
Welt von unserem Wert zu überzeugen,
die unsere Gesellschaft vorgibt, nicht
und dass wir daher dazu verurteilt sind,
gerecht werden und verlören infolgedes-
die Erfolgreichen mit Bitterkeit und uns
sen Würde und Ansehen; die Sorge, wir
selbst mit Scham zu betrachten.»
nähmen gegenwärtig einen zu geringen
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Kapitel eins – Hyperreal
regung und Unterhaltung, um uns zu zerstreuen. Wir werden, was wir tragen oder was wir lesen oder was wir sehen. Diese Fähigkeit, emotional oder sozial gespeiste Wünsche zu empfinden, die durch eine ungeheuer fruchtbare Vorstellungskraft zu höchster Intensität angefacht werden, führte zur Entstehung unserer Konsumgesellschaft. Heute leben wir in einer Wirklichkeit, die ganz und gar eine Erfindung unserer postmodern-städtischen Industriegesellschaft und Medienkultur geworden ist. Für manch einen ist sie zu einer Traumwelt, einer Hyperrealität geworden, die sich auf nichts mehr gründet, das als wirklich erkennbar ist. Denken Sie an die amerikanische Gesellschaft der fünfziger Jahre. Damals und dort erfuhr die Entwicklung unserer Konsumkultur eine ungeheure Beschleunigung. Es wurde so lukrativ, Waren und Dienstleistungen auf einem riesigen amerikanischen Markt an immer anspruchsvollere Konsumenten zu verkaufen, dass viele Unternehmen erhebliche Mühen und Kosten in den Versuch investierten, diese Vorgänge zu verstehen. So entstanden die eigenständigen Bereiche des Marketings und der Konsumentenwerbung. Diese Unternehmen erkannten, dass Konsumenten alle Verstandeskräfte und emotionalen Bedürfnisse in ihre Kaufentscheidungen einfließen ließen. Gewiss, Konsumartikel mussten ihren materiellen Funktionen genügen, doch in dem Augenblick, wo diese funktionalen Erfordernisse erfüllt waren, wollte auch ein ganzes Bündel emotionaler Wünsche befriedigt werden. Wenn es gelang, diesen emotionalen Bedürfnissen dauerhaft gerecht zu werden, ließen sich außerordentlich erfolgreiche Marken kreieren, gegen die alle Konkurrenten so gut wie chancenlos waren. Es war das Zeitalter, in dem die Supermarken geboren wurden: Levi-Jeans, Marlboro-Zigaretten und Coca-Cola. Diese Marken waren in der Lage, Verbrauchern ein positiveres Selbstbild zu vermitteln, den Eindruck von Status und Prestige her-
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
vorzurufen oder ihnen mehr Achtung zu verschaffen. Denken Sie an die Formgebung der riesigen amerikanischen Straßenkreuzer dieser Zeit, die «Benzinfresser». Viele hatten abenteuerliche Schwanzflossen, die kompletter aerodynamischer Unsinn waren. Funktional riefen diese Flossen mehr Luftwiderstand hervor, sodass sie das Fahrzeug in Wahrheit langsamer machten. Doch sie vermittelten die Illusion von Geschwindigkeit, sie gaukelten dem Verbraucher eine Geschwindigkeit vor, die reiner oder absoluter war, weil sie nicht durch die physikalischen Gesetze der wirklichen Welt verdorben oder begrenzt wurde, und das war der entscheidende Aspekt für die Konsumenten. Der Stil triumphierte über die Substanz. Alle Zweifel, die noch an der Macht einer Supermarke bestehen mochten, wurden in den achtziger Jahren zerstreut, als Coca-Cola, eines der erfolgreichsten multinationalen Unternehmen4, einen Fehler beging, der fast in einer Katastrophe geendet hätte. Angesichts rückläufiger Absatzzahlen und höchst beunruhigt durch die Ergebnisse von Blindversuchen, die zeigten, dass der Erzrivale Pepsi-Cola das bessere Produkt hatte (die Pepsi-Challenge), gelangte die Coca-Cola Company zu der Überzeugung, dass es an der Zeit sei, das Produktrezept zu verändern, das seit mehr als achtzig Jahren unverändert in einem Tresor ruhte. Man entwickelte ein neues, etwas schlechteres Rezept und brachte das veränderte Produkt unter ungeheurem Werbeaufwand als New Coke auf den Markt. Es war ein totaler Fehlschlag. Das Unternehmen hatte die Tatsache außer Acht gelassen, dass die meisten Konsumenten das Produkt schon lange nicht mehr nur 4 Noch eine interessante Tatsache:
ren, dass es sich um eine «Tradition»
Jeden, dem das traditionelle Bild vom
handelt, die lediglich bis in die dreißiger
Weihnachtsmann – dem fröhlichen, di-
Jahre zurückreicht, nämlich bis zu einem
cken Gesellen mit dem wallenden weißen
Werbefeldzug von Coca-Cola (gehören
Bart und dem rotweißen Gewand – ans
doch die Farben Rot und Weiß ganz we-
Herz gewachsen ist, dürfte interessie-
sentlich zum Image des Unternehmens).
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Kapitel eins – Hyperreal
wegen des Geschmacks kauften. Sie wählten es, weil es ein wichtiges Element der kulturellen Identität Amerikas geworden war, weil es tief in der amerikanischen Psyche verwurzelt war. Dieses Produkt zu verändern war schlicht und einfach antiamerikanisch. Wenige Wochen nach der Markteinführung von New Coke begannen Konsumenten einen Feldzug mit dem Ziel, das Unternehmen zu zwingen, wieder die alte Coca-Cola zu produzieren, ihnen das «Original» zurückzugeben. Sie hatten Erfolg. Obwohl die empörten Konsumenten den Geschmack von New Coke kritisierten, ging es in ihrer Kampagne nicht um Geschmack. Das Unternehmen hatte die Ergebnisse seiner Blindversuche durchaus nicht missverstanden. Wenn die Verbraucher nicht wussten, welche Marke sie vor sich hatten, wählten sie Pepsi, weil es besser schmeckte. Doch das Unternehmen hatte etwas ganz anderes nicht verstanden: die Tatsache nämlich, dass die Verbraucher Coca-Cola nicht wegen des Geschmacks kauften, sondern weil es sich um CocaCola handelte, ein Gesamtpaket aus materiellem Geschmack, Vorstellungsinhalten und emotionaler Befriedigung. Wenn man einen dieser Faktoren veränderte, war es nicht mehr Coca-Cola. Den Geschmack zu verändern, das hieß, den Verbrauchern die Marke fortzunehmen. Das Unternehmen gestand seinen Fehler ein, machte einen Rückzieher und vertrieb wieder das Original unter der Bezeichnung Classic Coke (womit es übrigens seinen Marktanteil nicht nur zurückeroberte, sondern noch erhöhte). Da unsere Aufmerksamkeit in solchem Maße auf Marken fixiert ist, hat die Vielschichtigkeit der Massenproduktion zur Folge, dass wir völlig aus dem Blick verloren haben, in welcher Beziehung die modernen Konsumgüter zur wirklichen Welt stehen. Wir kaufen das Paket in Hinblick auf materielle Funktionalität und emotionale Befriedigung, ohne uns weiter zu fragen, woher das materielle Produkt kommt, woraus es besteht und wie es hergestellt worden ist.
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Wir haben weitgehend aufgehört, Produkte zu kaufen, weil wir schätzen, wie man sie verwenden kann. Wir kaufen Produkte, weil sie Botschaften transportieren – Botschaften an uns und an andere. Denken Sie nur an die Sammlung unglaublich nützlicher und arbeitsparender moderner Geräte, die Sie besitzen und die so nützlich sind, dass Sie sie kaum jemals verwenden. Wir kaufen den Stil, nicht die Substanz, die Marke, nicht das Produkt. Wir konstruieren eine Wirklichkeit nach Modellen, die zeigen, wie wir die Wirklichkeit gerne hätten, nicht, wie sie wirklich ist. Der Aufstieg der Konsumgesellschaft löste eine explosionsartige Entwicklung der Massenmedien aus. Es war von entscheidender Bedeutung, seine Botschaft in einem immer überfüllteren «Informationsraum» an den Mann (oder die Frau) zu bringen, nicht nur für Anbieter auf dem Konsummarkt, sondern für jeden, der sich um die Aufmerksamkeit der Konsumenten bemühte, also auch Politiker, Wohlfahrtsorganisationen und Interessengruppen. Man schätzt, dass heute jeder von uns täglich der Adressat von kaum vorstellbaren 1500 Werbebotschaften ist. Und wir sind sicherlich noch nicht an die Grenzen menschlicher Erfindungsgabe gestoßen, wenn es darum geht, neue Wege zu ersinnen, um solche Botschaften an den Konsumenten zu bringen. In Steven Spielbergs Film Minority Report, der in einer fünfzig Jahre entfernten Zukunft spielt, werden die Menschen beim Betreten eines Einkaufszentrums am Eingang individuell anhand ihres Netzhautmusters identifiziert und dann, während sie umherschlendern, fortwährend mit Werbebotschaften bombardiert, die sie namentlich ansprechen und direkt auf sie abgestellt sind. Die Grundlagen für die Nutzung der Massenmedien wurden bereits in den 1930er Jahren gelegt, unter anderem durch Edward Bernays, den «Vater der Werbung» oder «Vater der Meinungsmache», einen Neffen von Sigmund Freud. Bernays war ein überaus erfolg-
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reicher Publizist, der erste, der sich psychologische und sozialwissenschaftliche Theorien zunutze machte, um wirksame Werbefeldzüge zu organisieren, eine Methode, die er als «Herstellung von Konsens» bezeichnete. Er hat sich auch als Erster die Unterstützung führender Meinungsbildner und Fachleute für seine Kampagnen gesichert – häufig ohne deren Wissen. Der Pakt zwischen Prominenten, die nach lukrativen Werbeverträgen und dem «Sauerstoff der Popularität» hungern, und Marketingstrategen oder Werbefachleuten, die um prominente Unterstützung für ihre Produkte bemüht sind, ist auch im modernen Marketing noch von fundamentaler Bedeutung.5 In seinem einflussreichsten Werk Propaganda schrieb Bernays:
Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Masse ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft. Die Menschen, die diesen unsichtbaren Gesellschaftsmechanismus manipulieren, bilden eine unsichtbare Regierung, welche die eigentliche Herrschaft in unserem Land ausübt ... Wir werden regiert, unsere Gedanken werden zurechtgestutzt, unsere Geschmäcke geformt, unsere Ideen vorgefertigt, und das weitgehend durch Menschen, von denen wir noch nie gehört haben. Zweifellos hat Bernays praktiziert, was er predigte. 1929 marschierten eine Anzahl Debütantinnen die Fifth Avenue in New York hinunter und stellten offen die sozialen Konventionen der Zeit in Frage, indem sie in der Öffentlichkeit Zigaretten rauchten. Man nannte sie die «Fackeln der Freiheit». Heute sind wir vielleicht versucht, die5 Sogar Bob Dylan, der Liedermacher, der
war, lässt jetzt das Modeunternehmen
als Erzfeind des Establishments gilt und
Victoria’s Secret mit seinem Namen für
einst das Gewissen seiner Generation
Unterwäsche werben.
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
sem frühen Ausdruck weiblicher Emanzipation Beifall zu spenden, dieser mutigen Aktion gegen eine männlich beherrschte Gesellschaft, die heimtückisch die Gleichstellung durch gesellschaftliche Tabus von genau dieser Art verhinderte. Zumindest so lange, bis wir erfahren, dass der Marsch von Bernays im Auftrag der American Tobacco Company organisiert (und bezahlt) worden war. Nach diesem Geniestreich wurde das Rauchen in der Öffentlichkeit rasch zu einer akzeptierten Form sozialen Verhaltens für Frauen, und die Absatzzahlen für Lucky Strike gingen sprunghaft in die Höhe. Natürlich bleibt die Manipulation der öffentlichen Meinung nicht nur den Werbe- und Marketingfachleuten vorbehalten, sondern kann auch für üble Zwecke genutzt werden, wie Bernays selbst Ende der dreißiger fahre erfahren musste: Joseph Goebbels zog Bernays’ Befunde und Erkenntnisse für einen Propagandakrieg gegen die deutschen Juden heran.6 Während die Prinzipien der Manipulation organisierter Gesellschaften von Bernays und seinen Zeitgenossen entwickelt wurden, hat der Kanadier Marshall McLuhan rund dreißig Jahre später das Wesen und den Einfluss der Massenmedien bestimmt. McLuhan vertrat die Auffassung, jedes Massenmedium hätte seine besondere Wirkung und unverwechselbare Botschaft, unabhängig von allen Inhalten, die das Medium transportiere. Die Botschaft eines jeden Mediums (oder einer jeden Technologie) sei die Veränderung des gesellschaftlichen Maßstabs (oder Musters), der aus der Verwendung des Mediums resultiere. Die Einführung neuer Verkehrsmittel wie etwa der Eisenbahn oder des Automobils habe nicht einfach die Geschwindigkeit und den Umfang des Personenverkehrs erhöht, 6 Propaganda war beileibe nicht Bernays’
rung») des römisch-katholischen
Erfindung. Tatsächlich wurde der Begriff
Glaubens in nichtchristlichen Ländern
1622 durch ein Kardinalskolleg geprägt,
kümmern sollte.
das sich um die Verbreitung («Propagie-
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Kapitel eins – Hyperreal
sondern auch die Gesellschaften verwandelt und die Art und Weise verändert, wie die Menschen in ihnen lebten und arbeiteten. Genau solche Veränderungen, so McLuhan, hätte die Einführung von Druckerpresse, Radio, Film und terrestrischem Fernsehen hervorgerufen (wir könnten heute noch Satelliten- und Digitalfernsehen, Mobiltelefone, Video und DVD, E-Mail und Internet hinzufügen). McLuhan schrieb: «Das Medium prägt und steuert den Maßstab und die Formen menschlicher Zusammenschlüsse und Handlungen.» Das Medium ist die Botschaft.7 Wie sich das bewahrheitete, zeigt die unaufhaltsame Erfolgsgeschichte des Realityfernsehens. Am Donnerstag, dem 11. Januar 1973, fand ein Ereignis statt, das unsere Beziehung zum Medium Fernsehen verändern sollte – vermutlich für immer. An diesem Tag wurde die erste Folge einer Serie mit dem Titel An American Family ausgestrahlt. Die Serie berichtete über das alltägliche Leben von Bill und Pat Loud und ihren fünf Kindern, einer typischen amerikanischen Mittelschichtfamilie, die im kalifornischen Santa Barbara lebte. Es war das erste Beispiel einer neuen Art von TV-Voyeurismus (bald folgten in Großbritannien The Family und in Australien Sylvania Waters).
Live im Fernsehen ging die Ehe der Louds kaputt und endete mit einer Scheidung. Der älteste Sohn bekannte sich zu seiner Homosexualität. Nach und nach entwickelte sich ein großer Appetit auf die voyeuristische Teilhabe am Leben durchschnittlicher Menschen, auf dieses TV-Format, das den Zuschauern ermöglichte, einerseits auf Tuchfühlung zu gehen, andererseits aber eine fast klinische Distanz zu wahren. Dieses Bedürfnis bediente das Fernsehen auf ideale Weise. 7 Das ist einer der berühmten «McLuha-
Mannes», «Schlamm schafft manchmal
nismen». Zu meinen Favoriten gehören:
die Illusionen von Tiefe» und «Ich mag
«Geld ist die Kreditkarte des armen
mich irren, habe aber nie einen Zweifel».
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
Die Entwicklung hat dann zu Big Brother und seinen vielen Ablegern geführt. Heute werden wir eingeladen, eine Gruppe «wirklicher» Menschen (manchmal Prominenter) bei dem Versuch zu beobachten, sich in einer schwer überschaubaren Situation aus absurden Aufgaben, gruppeninterner Rivalität und sozialen Spannungen zu behaupten – ganz so, als hätten wir Laborratten vor Augen, die sich einen Weg durch ein Labyrinth suchen. Das ist Fernsehen, aber keine Reality, keine Wirklichkeit. Während Realityfernsehen als leichte Unterhaltung gedacht ist, eine Art Kaugummi für den Verstand, ist Michael Moores Film Bowling for Columbine (zumindest in Teilen) eine nachdenkliche und nachdenklich stimmende Studie über die dunkleren Einflüsse des Mediums Fernsehen. Der Film untersucht die Waffengesetze und die Waffenkultur in den Vereinigten Staaten und ihre Beziehung zum Massaker in der Columbine High School. Er beschäftigt sich mit den geltenden Waffengesetzen und dem verfassungsmäßigen Recht amerikanischer Bürger auf das Tragen von Waffen. Allerdings scheint dieser Aspekt für die Häufigkeit von Todesfällen durch Schusswaffengebrauch weit weniger wichtig zu sein als eine Kultur von Furcht und Vorteil, die unablässig von gewaltfixierten Massenmedien bedient wird: 1f it bleeds, it leads («Blut zieht immer»). Obwohl in Großbritannien die Zahl der Gewaltverbrechen sinkt, ist der einhellige Eindruck in der öffentlichen Meinung, dass das Leben in der britischen Gesellschaft gefährlicher sei als je zuvor. Werden die Befragten aufgefordert, diese Wahrnehmung zu begründen, führen viele Leute Dinge an, die sie im Fernsehen gesehen haben, und vergessen offensichtlich, dass es sich um fiktive Ereignisse handelte. Sie haben den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion aus den Augen verloren. Halten die Medien der modernen Gesellschaft und ihrer Kultur einen Spiegel vor, der ihr Bild objektiv zurückwirft? Oder handelt es sich eher um eine Zerrlinse, welche die Fiktion einer Hyperrealität,
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Kapitel eins – Hyperreal
einer nicht mehr in der wirklichen Welt verankerten Virtuellen Realität, verstärkt und vergröbert? In Matrix sehen wir Neo zum ersten Male spätabends allein in seiner Wohnung. Es ist die Wohnung eines Computerfreaks, vollgestopft mit dem Schrott der modernen Informationstechnologie. Er ist vor seinem Computer eingeschlafen, obwohl laute Musik in seinen Kopfhörern dröhnt. Als auf dem Bildschirm Botschaften erscheinen, wird er wach. Er versucht, den Zustrom der eintrudelnden Nachrichten zu unterbrechen, doch es zeigt sich, dass er nicht mehr Herr über seinen Computer ist. Der Bildschirm teilt ihm mit: «Folge dem weißen Kaninchen», dann: «Klopf, Klopf, Neo.» Es klopft an der Tür, und der Bildschirm wird leer. Nicht sicher, ob das Erlebnis real oder Bestandteil eines Traums war, öffnet Neo die Tür und erblickt Choi und einige von dessen Freunden. Choi ist gekommen, um ein illegales Computerprogramm zu kaufen. Neo greift nach einem Buch – Simulacra and Simulation (Simulacres et simulation) von Jean Baudrillard. Das Buch ist tatsächlich eine Simulation, nichts anderes als ein ausgehöhltes Versteck. Darin bewahrt Neo eine Sammlung von CD-ROMs auf, von denen wir annehmen müssen, dass sie illegale Programme enthalten. Neo reicht Choi eine Scheibe. Nur wenige der Zuschauer, die sich Matrix angesehen haben, werden schon einmal von Baudrillard oder dem Postmodernismus gehört haben. Das Buch selbst erscheint so kurz auf der Leinwand, dass es kaum zu erkennen ist.8 Und doch ist es Andy und Larry Wachowski, den Drehbuchautoren und Regisseuren, hier offenbar um 8 Zu den Vorzügen der DVD-Technik gehört die Möglichkeit, ein bestimmtes Bild
Buch ist viel kürzer als die Fälschung (und bietet daher auch nicht Platz für
einzufrieren. Wenn Neo das Buch in der
einen so großen verborgenen Hohlraum),
Mitte öffnet, um die CD-ROM herauszu-
außerdem steht das Kapitel am Ende
nehmen, erscheint der Hohlraum in dem
und nicht in der Mitte.
Kapitel «On Nihilism». Das wirkliche
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eine versteckte Anspielung zu tun. Neben einem monatelangen Kung-Fu-Training musste Keanu Reeves zur Vorbereitung auf die Rolle des Neo auch Simulacres and Simulation durcharbeiten. Als Neo schließlich von Morpheus mit der «wirklichen» Welt vertraut gemacht wird, den verkohlten Überresten einer unter einen tristen Himmel geduckten Skyline, die von fern an das 20. Jahrhundert erinnert, bezeichnet Morpheus sie als «Wüste des Realen» – ein Ausdruck, der von Baudrillard stammt. Deutlicher ist die Anspielung auf Baudrillard in der ersten Fassung des Drehbuchs. Dort sagt Morpheus einmal: «Du hast in einer Traumwelt gelebt, Neo. Nach Baudrillards Ansicht hast du dein ganzes Leben auf einer Karte, nicht im Territorium selbst verbracht.» Diese Anspielung gelangte aus dem ersten Drehbuchentwurf nicht in die Kino- oder DVD-Fassung. Also, wer ist Baudrillard? Was kann er uns über die Wirklichkeit mitteilen, was so wichtig ist, dass es den Wachowski-Brüdern diese Anspielungen wert war? Wir messen den Erfolg einer Simulation daran, inwieweit sie der von ihr simulierten Realität ähnelt, inwieweit wir zwischen Realität und Simulation unterscheiden können. Laut Baudrillard liefert eine Simulation erster Ordnung nur eine unvollständige Repräsentation. Stellen Sie sich beispielsweise einen Roman vor, der den Lesern eine geistige Welt vorführen möchte, welche die wirkliche Welt repräsentiert oder widerspiegelt, aber allzu viel der Interpretation oder Phantasie überlässt. Es könnte auch ein Gemälde sein, das bei aller künstlerischen Vollendung doch die zweidimensionale Wiedergabe eines realen dreidimensionalen Geschehens bleibt. Oder denken Sie an eine Landkarte, die uns zeigt, wo sich alles im richtigen Verhältnis zu allem anderen befindet, aber trotzdem darunter leidet, dass es eine zweidimensionale (maßstäbliche) Darstellung einer Kugelfläche ist.
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Eine Simulation zweiter Ordnung ähnelt der Wirklichkeit in so hohem Maße, dass sie mit dieser selbst verwechselt werden könnte. Ausgangspunkt für Baudrillards Essay «Die Präzession der Simulakra», ist eine Fabel des argentinischen Dichters und Philosophen Jorge Luis Borges. In dieser Geschichte – Von der Strenge der Wissenschaft – geht es um ein Imperium, dessen Kartographen nach Vollkommenheit streben:
Mit der Zeit befriedigten diese übermäßig großen Karten nicht länger, und die Kollegs der Kartographen erstellten eine Karte des Reichs, die genau die Größe des Reiches hatte und sich mit ihm in jedem Punkt deckte. Die Kartographen schufen eine Karte in natürlicher Größe vom Gebiet des Imperiums, die so genau war, dass man nicht mehr zwischen den Gebieten und der Karte, zwischen dem Realen und der Simulation unterscheiden konnte. Im Fortgang berichtet die Fabel über weitere Generationen von Kartographen, welche die Nützlichkeit dieser Karte bestritten. Sie warfen sie fort und ließen sie in den «Wüsten des Westens» und ihren zerfallenen Ruinen verkommen. Eine Simulation dritter Ordnung schließlich hat keine Grundlage mehr in irgendeiner Realität. Das ist die Hyperrealität, die virtuelle Realität ohne Bezug zur Realität, eine Karte, für die es kein Gebiet mehr gibt. Und Baudrillard versichert, dies sei, was die moderne Konsumgesellschaft geworden sei, in der wir unser Leben verbringen. Gesellschaft sei eine Abstraktion, eine virtuelle Realität ohne Bezug, eine Hyperrealität ohne eine Basis, die wir noch als real erkennen könnten.
Vielmehr bedient sie sich verschiedener Modelle zu Generierung eines Realen ohne Ursprung oder Realität, d. h. eines Hyperrealen. Das Territorium ist der Karte nicht mehr vorgelagert,
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auch überlebt es sie nicht mehr ... Die Karte ist dem Territorium vorgelagert, ja sie bringt es hervor ... Nicht die Karte, sondern die Spuren des Realen leben hier und da in den Wüsten weiter, nicht in den Wüsten des REICHES, sondern in unserer Wüste,
der Wüste des Realen selbst. Um das Wesen der Hyperrealität näher zu beleuchten, verwendet Baudrillard zwei Beispiele aus der neueren amerikanischen Populärkultur und Zeitgeschichte: Disneyland und den Watergate-Skandal. Disneyland in Kalifornien (oder Disneyland in Paris, Tokio und Florida) ist eine in sich geschlossene kindliche Phantasiewelt, die höchste Entwicklungsstufe der Vergnügungs- oder Themenparks, der «glückseligste Ort auf der Erde», der seine Themen und Figuren teilweise aus Kindermärchen bezieht, aber diese so interpretiert und modifiziert, dass sie dem modernen Geschmack entsprechen. Es ist ein Ort, der zur Unterhaltung von Kindern gedacht ist, obwohl er von vielen Erwachsenen besucht wird, die keine Kinder zu ihrer Entschuldigung im Schlepptau haben. Disneyland ist in vielerlei Hinsicht nicht real. Am offenkundigsten sind die Gebäude – etwa das Märchenschloss – Übertreibungen wirklicher Bauwerke und in dieser Form sicherlich nicht in der realen Welt anzutreffen. Die meisten Erwachsenen, die diese Attraktionen besuchen, sprechen von Disneylands traumartigem Charakter und seiner wunderbaren Liebe zum Detail. Sorgfältig wird darauf geachtet, dass keine praktischen Aspekte der Wirklichkeit eindringen und das Bild trüben. Eine durchgebrannte elektrische Birne beispielsweise wird der Besucher nie erblicken. Entweder ersetzt man sie, bevor sie ihren Geist aufgibt, oder sie wird augenblicklich erneuert, um die Illusionen einer vollkommenen Welt zu vermitteln. Auch Müll gibt es nicht. Falls ein Besucher Abfall hinterlässt, wird er augenblicklich durch ein Heer von Disney-Angestellten mit langstieligen Kehrrichtschaufeln entfernt. Das Dienstleistungsniveau im Inneren von Dis-
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neyland genügt höchsten Ansprüchen, sodass die meisten erwachsenen Besucher von dem ausgezeichneten Service schwärmen. Doch Baudrillard geht es nicht um die Irrealität von Disneyland. Vielmehr soll Disneylands Bilderbuch-Irrealität, so der französische Philosoph, die Tatsache verschleiern, dass Amerika selbst hyperreal ist.9
Disneyland existiert, um das «reale» Land, das «reale» Amerika, das selbst ein Disneyland ist, zu kaschieren ... Disneyland wird als Imaginäres hingestellt, um den Anschein zu erwecken, alles Übrige sei real. Los Angeles und ganz Amerika, die es umgeben, sind bereits nicht mehr real, sondern gehören der Ordnung des Hyperrealen und der Simulation an. Für ein ähnliches Argument wählt Baudrillard das Beispiel Watergate. Während des Präsidentschaftswahlkampfes 1972 waren Repräsentanten des Komitees zur Wiederwahl des Präsidenten mittelbar an einem Einbruch in das Hauptquartier der Demokratischen Partei im Watergate-Gebäude in Washington beteiligt. Daraufhin traten zahlreiche Regierungsvertreter zurück, von denen einige später wegen der versuchten Vertuschung einer Straftat verurteilt wurden. Der amtierende Präsident Richard M. Nixon leugnete jegliche Beteiligung, wurde aber später durch ein Tonband überführt, das seinen Versuch belegte, die Untersuchung zu behindern. Nixon trat im August 1974 zurück, um einem Amtsenthebungsverfahren zuvorzukommen, das so gut wie sicher war. Diese offenkundigen Beweise für Korruption in der Nixon-Ad9 Natürlich gibt es Disneyland-Themen-
intelligente Franzose erklären wird)
parks mittlerweile auch in Europa und
kommt darin vor allem Amerikas kultu-
Japan, und ein weiterer ist in Hongkong
relle Hegemonie zum Ausdruck.
geplant, doch (wie Ihnen jeder halbwegs
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
ministration sind laut Baudrillard nicht der eigentliche Watergate-Skandal. Der Skandal liege darin, dass Regierungen völlig prinzipienlos und unmoralisch seien. Watergate habe die Aufgabe, an einem Beispiel zu zeigen, wie seltene und untypische moralische Verfehlungen einer gewählten Regierung aufgedeckt und die Schuldigen bestraft würden, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass moralische und juristische Verfehlungen einer Regierung tatsächlich selten und untypisch seien. Nixons Rücktritt – angeblich dazu bestimmt, einen «Heilungsprozess» in die Wege zu leiten – gestattete der amerikanischen Öffentlichkeit, einen Schlussstrich unter den Skandal zu ziehen und den Glauben an die moralischen Grundsätze ihrer demokratisch gewählten Repräsentanten wiederzugewinnen (und damit auch den Glauben an die moralischen Prinzipien der Gesellschaft, die von solchen Männern repräsentiert wird). Wie Disneyland soll die angebliche «Irrealität» von Watergate die Tatsache verschleiern, dass es in der Hyperrealität keine solchen moralischen Grundsätze gibt. Ohne ein Territorium, auf das sich die Karte bezieht, schafft sie sich ihre eigenen Orientierungspunkte. Das also ist ein Subtext der Matrix und des Verrats von Cypher. Die Simulation der Matrix, ihre Virtuelle Realität, ist eine Metapher für die Hyperrealität der modernen amerikanischen Gesellschaft (und, allgemeiner, der modernen Konsumgesellschaft überhaupt). Unsere Wahrnehmung gesellschaftlicher Existenz orientiert sich an Modellen – oder Karten –, nicht an der wirklichen Welt selbst. Neo nimmt die rote Pille und wird aus seiner bislang unbewussten Existenz im Gefängnis seines Geistes «befreit». Er wird aus dem amerikanischen Traum geweckt. Es ist kein Zufall, dass das Leben in der wirklichen Welt an Bord der Nebuchadnezzar kalt, rau und brutal ist. Die Wirklichkeit ist unwirtlich. Diese Interpretation der Matrix sollte man meiner Meinung nach
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Kapitel eins – Hyperreal
nicht zu wörtlich nehmen, weshalb ich es vorziehe, von einem Subtext zu sprechen. Denken Sie an Baudrillards Definition, dass eine Simulation dritter Ordnung keine Basis in irgendeiner Realität habe. Das Aufwachen aus der Hyperrealität kann nicht bedeuten, in etwas zu erwachen, das als realer gelten könnte, da es überhaupt keine Realität gibt. Es kann keine rote Pille geben, die uns von Baudrillards Vision befreit. Doch in dem Film Matrix wird – sowohl durch das Drehbuch wie durch kinematographische Mittel, etwa durch die Verwendung verschiedener Beleuchtungseffekte und Filter – klar zwischen der realen Welt und der virtuellen Realität der Simulation unterschieden. Aus der Matrix aufzuwachen bedeutet hier, in der wirklichen Welt aufzuwachen. Einige Kritiker haben vorgebracht, dass sich die direkte Gleichsetzung von Matrix und Hyperrealität nicht aufrechterhalten lässt, weil die Gesellschaft sich, bewusst oder nicht, ihre eigene Hyperrealität schafft, während den Menschen, die in der Matrix gefangen sind, die virtuelle Realität aufgezwungen wird. Dieser Widerspruch wird in Matrix Reloaded aufgelöst, als sich zeigt, dass die Menschen auf einer «fast unbewussten Ebene» doch eine Wahl haben. Weit schwerer wiegt der Einwand, die Wachowski-Brüder hätten versucht, das Bewusstsein für Baudrillards ziemlich pessimistische postmoderne Kritik an der Konsumgesellschaft durch die Verwendung eines Vehikels zu schärfen – eines Kassenschlagers Marke Hollywood, prall gefüllt mit Gewaltszenen und Computereffekten –, das untrennbar zur Konsumgesellschaft gehöre. Die Actionfilme (und die Computerspiele, Zeichentrickfilme usw.) richten sich direkt an junge Verbraucher, die auf der Suche nach dem ultimativen Kick sind. Doch können Sie andererseits, wenn Sie den Menschen einige interessante Ideen über die moderne Gesellschaft und das Wesen unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit näherbringen wollen, ein geeigneteres Mittel finden als einen Film, der dazu bestimmt ist, ein
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
Millionenpublikum zu erreichen? Die Botschaft wird durch ein Medium der Populärkultur transportiert, weil man die Menschen nur auf diesem Weg erreicht.10 Vielleicht haben die Wachowski-Brüder ja auch nichts anderes im Sinn, als uns zum Denken herauszufordern. Als Cypher einen Handel mit Agent Smith schließt, verlangt er, man möge seinen Körper wieder in eine Kapsel des Kraftwerks stecken, sein Gedächtnis löschen und seinen Geist erneut in die Matrix eingeben – und zwar als bedeutende Person, Schauspieler zum Beispiel. Trinity erinnert ihn daran, dass die Matrix nicht real sei, doch Cypher widerspricht ihr. Er glaubt, die Matrix könne wirklicher sein als die wirkliche Welt: «Ich lege mich wieder schlafen, und wenn ich aufwache, bin ich fett und reich und erinnere mich an keine verdammte Einzelheit mehr. Das ist der amerikanische Traum.»11 Cypher ist zu dem Schluss gelangt, dass ihm nicht an der materiellen Welt gelegen ist, sondern an der geistigen. Mit Vergnügen wird er seinen Körper den Maschinen opfern, um ein geistiges Leben zu führen, von dem er sich größere Erfüllung erhofft. Cyphers Verhalten hat in zahlreichen Philosophiekursen lebhafte Debatten über das Glück der Unwissenheit ausgelöst. Hätten Sie die freie Wahl, was würden Sie tun? In dem kalten, unbarmherzigen Kunstlicht der realen Welt leben und «jeden Tag das gleiche verdammte Zeugs in sich hineinstopfen»? Oder es wie Cypher vorziehen, sich bar aller Erinnerung an die wirkliche Welt wieder schlafen zu legen, reich und berühmt zu sein und das Promileben Ihrer Träume zu führen? Denken Sie sorgfältig nach, bevor Sie antworten. 10 Diese Gedanken verdanke ich William
11 Das Zitat stammt aus dem ursprüng-
Irwin, dem Herausgeber von The
lichen Drehbuch. In der Kino- und
Matrix and Philosophy, Open Court,
DVD-Fassung macht Cypher keine An-
2002.
spielung mehr auf den amerikanischen Traum.
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Kapitel eins – Hyperreal
Einerseits ist Baudrillards ziemlich pessimistische Sichtweise eine Sackgasse. Wir können wohl ohne Schwierigkeiten erkennen, dass diese Hyperrealität die Situation ist, in der viele von uns leben und arbeiten. Wer nur ein wenig Zeit in der Atmosphäre eines Großunternehmens, einer akademischen Institution oder im Umfeld von Prominenten verbracht hat, dürfte eine ziemlich klare Vorstellung von einer wahrhaft hyperrealen Existenz gewonnen haben. Andererseits ist Baudrillard ein postmoderner Kritiker, kein Philosoph im traditionellen Sinne. Seine Aufgabe besteht darin, uns bestimmte Aspekte der modernen Gesellschaft bewusstzumachen und sie zu kritisieren, um uns so dazu zu bringen, einige der Dinge, die wir als selbstverständlich hinnehmen, in einem neuen Licht zu betrachten. Hyperrealität ist eine Art sozialer Konditionierung, die uns die Fähigkeit nimmt, irgendetwas jenseits der Modelle und Landkarten wahrzunehmen. Sie ist nicht notwendigerweise mit dem befasst, was existiert oder nicht existiert. Wir könnten zu der Überzeugung gelangen, dass es wie eh und je eine materielle Welt aus Bergen und Bächen, Bäumen und Erde gibt. Wir könnten auch zu dem Schluss kommen, dass es nach wie vor eine soziale Welt gibt mit Menschen, Städten, Geld, Ehe, Politik und Krieg. In Baudrillards Schriften gibt es nichts, was uns an unserer ursprünglichen Überzeugung zweifeln lassen könnte, der zufolge es eine Wirklichkeit gibt, unabhängig von unserer Fähigkeit, sie zu erfassen und Theorien über sie zu entwickeln. Denken Sie wieder an Ihr eigenes Leben. Daran, wie es manchmal, besonders wenn Sie sich ein bisschen down fühlen, den Anschein hat, als säßen Sie in der Falle. Die Gesellschaft ist ein Gebilde, das uns trägt, aber auch gefangen hält. Sie mögen ein gut bezahltes, kartenbestücktes Mitglied der Gesellschaft sein und können trotzdem das Gefühl haben, dass große Teile Ihres Lebens Ihrem Einfluss entzogen sind. Weniger die wirklich bedeutenden Dinge wie Politik oder
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
Recht. Die meisten Durchschnittsbürger nehmen nicht so leidenschaftlich Anteil an der Regierungspolitik oder an vermeintlicher Ungerechtigkeit, dass sie sich in diesen Bereichen aktiv engagieren (was wohl auch nicht erforderlich ist). Vermutlich sind Sie kein «Aktivist» einer politischen Partei oder einer Protestgruppe. Sie haben nie demonstriert oder als Wahlhelfer gearbeitet. Nein, dieses Gefühl der Ohnmacht betrifft weit eher die kleinen Dinge, die unwichtigen, alltäglichen Angelegenheiten. Möglicherweise können Sie sie noch nicht einmal richtig benennen. Denken Sie an die sozialen Mikrostrukturen, die einen Tag in Ihrem Leben ermöglichen. Ohne die Idee und die Regeln des Autofahrens wären Sie vielleicht nicht in der Lage, zur Arbeit zu kommen. Ohne die Idee des Kaufens und Verkaufens gäbe es kein Unternehmen oder Büro, in das Sie gehen, keine Fabrik, in der Sie arbeiten könnten. Ohne die Idee des Geldes hätte es für Sie überhaupt keinen Sinn, zur Arbeit zu gehen. Keine dieser Ideen könnte ihre Funktion ausüben, wenn sich nicht sehr viele Menschen auf sie einigen oder an sie glauben würden. Für ihre Wirksamkeit sind die Ideen auf ein erstaunliches Maß an Kooperation angewiesen. Doch Sie sind zu keinem Zeitpunkt Ihres Lebens gefragt worden, ob Sie mit der Idee des Geldes einverstanden sind, ob Sie an sie glauben oder ob Sie bereit sind, bei seinem Gebrauch zu kooperieren. In Großbritannien gibt es eine endlose Währungsdebatte über die Frage, ob der Staat das Pfund zugunsten des Euros aufgeben soll, doch das ist etwas anderes. Da geht es um Wirtschaftspolitik und um die Erscheinungsform des Geldes, nicht die Idee des Geldes selbst. Wie kann es dann in der Gesellschaft einen Konsens über soziale Institutionen wie das Geld geben, ohne dass irgendjemand sein Einverständnis gegeben hat? Es scheint doch ganz von allein zu passieren. Aber wie passiert es? Welcher Art sind diese sozialen Institutionen, und wie funktionieren sie?
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Kapitel zwei
In einer materiellen Welt leben Geld, so sagen sie, ist heute die Wurzel allen Übels. Doch wenn du sie um eine Gehaltserhöhung bittest, bist du nicht überrascht, dass sie nichts rausrücken ... PINK FLOYD, DARK SIDE OF THE MOON
In Matrix gibt es eine Szene, die damit beginnt, dass Agent Smith aus einem Bürofenster blickt. Er fordert den Gefangenen Morpheus auf, die Schönheit und Brillanz der Matrix zu bewundern: «Milliarden Menschen leben einfach vor sich hin und haben keine Ahnung.» Die Stadt vor dem Fenster ist Sydney1, doch die meisten topographischen Anspielungen des Films gelten Chicago, der Heimatstadt der Wachowski-Brüder. Es spielt keine Rolle. Stellen Sie sich als stiller Betrachter während der Hauptverkehrszeit in eine beliebige Großstadt – London, Paris, New York, Rio de Janeiro, Kuala Lumpur – und beobachten Sie das Gedränge der Menschen, die zur Arbeit hasten, den zäh kriechenden Verkehr. Nehmen Sie die Bilder, Geräusche und Gerüche auf und staunen Sie, wie Agent Smith vorschlägt, über die Schönheit und Komplexität unserer menschlichen Sozialstrukturen. 1 Tatsächlich handelte es sich um eine
Hafenbrücke, deren Wiedererkennungs-
riesige Fotografie von Sydney, ein so-
wert durch andere, unbekannte Gebäude
genanntes Translite, mit charakteristi-
überlagert wird.
sehen Orientierungspunkten wie der
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
Wir gehen zur Arbeit. Wir verdienen Geld. Wir geben dieses Geld für die notwendigen und die überflüssigen Dinge des Lebens aus. Wir heiraten. Wir bekommen Kinder. Wir wählen Politiker, die uns in der Regierung vertreten. Die gewählten Regierungen verabschieden Gesetze. Für die Einhaltung der Gesetze sorgen Polizei und Justiz. Regierungen erklären Kriege. Und so fort und so fort. Wenn Sie sich eine Welt vorstellen, in der Sie noch nie existiert haben (und Sie ein Mensch sind, der, wie ich, bislang noch keinen besonderen Einfluss auf den Gang des Weltgeschehens gehabt hat), dann dürfte Ihnen die Überzeugung nicht schwerfallen, dass diese sozialen Strukturen im Großen und Ganzen ohne Sie genauso gut wie mit Ihnen funktionieren. Gäbe es Sie persönlich nicht, gingen die Menschen trotzdem zur Arbeit. Sie würden heiraten und Regierungen wählen, die leider auch weiterhin Kriege erklärten. Das lässt glaubhaft erscheinen, dass diese Elemente der sozialen Wirklichkeit tatsächlich einem Gebilde angehören, das unabhängig von Ihnen oder mir ist. Gesellschaften bestehen aus Millionen und Abermillionen von Individuen, die ihr Leben genauso verbringen, wie Agent Smith es beschreibt. Man entferne ein Individuum, und wenig scheint sich zu ändern. Oder doch? Egal, was Gesellschaften sein mögen, sie bestehen in jedem Falle aus Individuen. Diese Individuen sind keine unbelebten Objekte, die rohen statistischen Gesetzen gehorchen.2 Individuen haben einen Geist, und es liegt in der Natur dieses Geistes, dass er 2 Science-Fiction-Fans erinnern sich vielleicht an Isaac Asimows Foundation-
schaften ihrer mikroskopischen Bestandteile, das heißt ihrer Atome
Trilogie, die auf der Idee beruht, das
und Moleküle, prognostizieren lässt. Die
Verhalten einer künftigen Gesellschaft
Vorstellung einer «Gesellschaftsphysik»
von galaktischen Ausmaßen sei weitge-
wird gegenwärtig durchaus ernst genom-
hend in der gleichen Weise vorhersagbar,
men; siehe beispielsweise: Philip Ball,
wie sich das Verhalten makroskopi-
Critical Mass, London, Heinemann,
scher Stoffe aus den statistischen Eigen-
2004.
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Kapitel zwei – In einer materiellen Welt leben
ein außerordentlich privater, persönlicher Raum ist. Oberflächlich betrachtet, scheint mein Geist in erster Linie nur mich selbst anzugehen. Meine Gedanken gehören mir allein. Alle Eindrücke von der Stadt und ihren größeren Sozialstrukturen mögen noch so wunderbar sein, sie bleiben trotzdem Eindrücke, die in meinem Geist erzeugt werden und in gewisser Hinsicht ohne ihn zu existieren aufhören. In seinem Buch Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit entwirft der amerikanische Philosoph John Searle eine Theorie gesellschaftlicher Institutionen, die sich aus drei grundlegenden Bausteinen zusammensetzt. Der erste ist der Umstand, dass sich die Gesellschaft materieller Gegenstände (natürlicher oder künstlicher) für soziale Funktionen bedient. Wir nehmen jedes beliebige materielle Objekt, das wir finden oder herstellen können, und weisen ihm eine soziale Funktion zu. Ein Fluss wird zur Grenze zwischen Staatsgebieten, ein Streifen Edelmetall zum Ehering, ein rechteckiges Stück Papier aus Baumwollfasern zu Geld (etwa einer Dollarnote).3 Da diesen materiellen Objekten eine soziale Funktion zugewiesen wird, erwerben sie einen gewissen Status in der Gesellschaft. Searle unterscheidet ausdrücklich zwischen Objekten, denen eine gewisse Statusfunktion zugeschrieben wird, die nicht unmittelbar aus ihrer materiellen Beschaffenheit und Erscheinung hervorgeht, und anderen Objekten (wie etwa einem Schraubendreher oder Stuhl), deren soziale Funktionen deutlicher zu erkennen sind. Wir werden auf diesen Punkt noch zurückkommen. Der zweite Baustein ist die Entwicklung und Verwendung eines Regelsystems, das ermöglicht, was Searle als institutionelle «Tatsachen» bezeichnet – Tatsachen, die aus diesen Statusfunktionen ab3 Tatsächlich bestehen Dollarnoten zu
einen Sicherheitsfaden aus Polyester. Ich
ungefähr drei Teilen aus Baumwollfasern
sage Ihnen das nur für den Fall, dass Sie
und einem Teil Leinen und besitzen
interessiert sind.
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
geleitet werden. Der Fluss gilt als Grenze zwischen Staatsgebieten, wenn die geographischen Verhältnisse der Gebiete definiert, auf einer Karte verzeichnet und formelle Grenzkontrollen eingerichtet sind. Ein Streifen Edelmetall gilt als Ehering bei einer Hochzeitszeremonie, wenn diese Zeremonie von jemandem geleitet wird, dem die Gesellschaft die Qualifikation zur Durchführung von Hochzeitszeremonien zubilligt, und wenn die rituellen Worte gesprochen werden: «Mit diesem Ring ...» Das rechteckige Papierstück gilt als Dollarnote, mit dem Sie Ihren Morgenkaffee und Ihre Tageszeitung kaufen können, sofern es die richtigen Druckzeichen trägt und auf Veranlassung des US-Schatzamtes ausgegeben wurde. Der dritte Baustein ist der Mechanismus, aus dem die kollektive Anerkennung und Akzeptanz der Statusfunktion und ihrer Regeln erwachsen. Der Fluss gilt als Grenze, wenn die Menschen auf beiden Seiten ihn als Grenze anerkennen und die Regeln beachten, welche die Grenzkontrollen betreffen. Der Streifen Edelmetall gilt als Ehering, wenn Sie, Ihr Ehepartner und der Rest der Gesellschaft anerkennen, dass Sie verheiratet sind, und akzeptieren, dass Sie die Eheregeln befolgen. Das hübsch bedruckte Stück Papier gilt als Dollarnote, wenn Sie und die Kellnerin in der Cafeteria die Statusfunktion und die Regeln seiner Verwendung anerkennen. Sind alle sozialen Funktionen durch materielle Objekte untermauert? Es lassen sich kaum welche denken, die es nicht sind. Geld wird durch hübsch bedruckte Papierstücke bezeichnet, die Ehe durch Edelmetallstreifen und durch Tintenmuster auf einem Bogen Papier, den wir Hochzeitsurkunde nennen. Natürlich weist die gesellschaftliche Institution der Ehe weit mehr Eigenschaften auf als nur die materiellen Objekte und die ihnen zugewiesenen Funktionen. Die Ehe verlangt auch die Ausführung bestimmter Handlungen: Wir müssen sagen «Ja, ich will» und bestimmte Eheregeln befolgen. Sogar ein Sprechakt hat ein materielles Ergebnis in Form von Kompressionen und Verdünnungen – Schallwellen – in der Luft. Ich kann in
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Kapitel zwei – In einer materiellen Welt leben
Gedanken eine Hochzeitszeremonie absolvieren und mir vorstellen, ich wäre mit Jennifer Aniston verheiratet, doch die Wahrheit ist, dass ich es nicht bin. Hinter jeder zugewiesenen Funktion, egal welcher Art, erwarten wir Stofflichkeit in der einen oder anderen Form. Nun ist ziemlich offenkundig, dass einige materielle Objekte ihre sozialen Funktionen in erster Linie dank ihrer materiellen Beschaffenheit erfüllen. Sie funktionieren gemäß unseren Bedürfnissen, weil sie so und nicht anders beschaffen sind. Der Fluss, der als Grenze fungiert, könnte breit, tief und reißend sein und dadurch eine Grenzüberschreitung erschweren, die nicht den Regeln entspricht. Die Grenze könnte aber auch ein schmaler Bach sein, der einen mühelosen Übergang von einem Staatsgebiet auf das andere ermöglicht. Es wäre auch denkbar, dass sie nur aus einer Reihe von Markierungen besteht. Ihre Funktion als Grenze hängt dann ganz von den Regeln ab, die für die Grenze gelten (vielleicht dürfen die Menschen sie in beide Richtungen nur an festgelegten Grenzübergängen passieren), und von der Anerkennung und Akzeptanz als Grenze. Viele soziale Funktionen werden erfüllt, indem man Objekte verwendet, die keine materielle Beziehung zu den wahrgenommenen Funktionen aufweisen. Ich weiß nicht genau, welchen tatsächlichen Wert ein rechteckiges Stück Papier aus Baumwollfasern hat, aber ich kann Ihnen garantieren, dass es keine zwanzig Dollar wert ist. Wieso akzeptieren wir dann seinen Wert von zwanzig Dollar? Die historische Entwicklung des Geldes zeigt an einer Fülle von Beispielen, dass die Zuweisung einer Statusfunktion auf viele verschiedene Arten möglich ist.4 Der Tausch entstand als natürliche 4 Diese kurze Geschichte des Geldes stützt sich weitgehend auf das ausgezeichnete Buch: Jack Weatherford, Eine kurze Geschichte des Geldes, Zürich, Conzett, 1999.
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
und wichtige Form des Handels, sobald die Menschen primitive soziale Fertigkeiten entwickelten und erkannten, dass sie Dinge, die sie sich wünschten, von anderen Menschen bekommen konnten, indem sie diesen mittels eines gerechten Tauschaktes Dinge gaben, die sie selbst nicht wünschten oder brauchten. Komplexere Formen des Handels entwickelten sich mit der Entstehung der ersten Zivilisationen und der ersten Kaufleute. Unsere Sprache ist mit Hinweisen auf diese Art des Handels gespickt. Das Wort Salär geht auf das lateinische Wort für Salz zurück. Der englische Begriff impecunious (mittellos, arm) leitet sich von einem lateinischen Wort her, das «reich an Vieh» bedeutet. Buck, das amerikanische Slangwort für «Dollar», hat seinen Ursprung in dem Handel mit Häuten des nordamerikanischen Rotwilds. Zwar erwies sich der Tauschhandel als sehr erfolgreich, hatte aber auch seine Nachteile. Man kann den Frust des französischen Opernsängers nachfühlen, der im 19. Jahrhundert für den Auftritt auf einigen winzigen Inseln Französisch-Polynesiens eine Gage erhielt, die aus drei Schweinen, 23 Truthähnen, 44 Hühnern, 5000 Kokosnüssen und unzähligen Früchten bestand. Jeder, der mit Gütern handelt, kommt nach Abschluss allen Feilschens an einem Problem nicht vorbei: Der Wert verschiedener Waren lässt sich nicht immer in ganzzahligen Vielfachen gegeneinander aufrechnen. Ich könnte finden, dass mein wunderschön gearbeiteter Bogen mehr wert ist als Ihre drei Schweine, und Sie sind wahrscheinlich nicht bereit, einem vierten ein Bein abzuhacken, um den Unterschied wettzumachen. Die Azteken lösten das Problem, indem sie die Wertdifferenz eines Tauschhandels mit Kakaobohnen aufwogen. Diese Bohnen waren eine primitive Form des Warengeldes. Andere Beispiele dafür sind Bernstein, Glasperlen, Kaurischnecken, Trommeln, Eier, Federn, Gongs, Hacken, Elfenbein, Jade, Kessel, Leder, Matten, Nägel, Ochsen, Schweine, Quarz, Reis, Salz, Fingerhüte, Umiaks, Wodka, Wampums, Garnrollen und Zappozats.5 Es wäre falsch, wenn wir mein-
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Kapitel zwei – In einer materiellen Welt leben
ten, wir wären in «zivilisierten» Gesellschaften nicht mehr auf diese Geldform angewiesen. In Zeiten großer politischer und wirtschaftlicher Unsicherheit kommt das Warengeld wieder zu Ehren, wie sich Anfang der neunziger Jahre in der Sowjetunion zeigte, als Levi-Jeans und Marlboro-Zigaretten zu begehrten Zahlungsmitteln wurden. Warengeld hat offenkundige Vorteile und Nachteile. Wenn Sie die Anhäufung von Warengeld nicht glücklich macht, können Sie es immer noch anders nutzen oder aufessen. Doch die Einheiten des Warengeldes waren nicht immer einheitlich und dauerhaft. Als Krösus, der König von Lydia in der heutigen Türkei, um 640 vor Christus Silber- und Goldmünzen prägen ließ, revolutionierte er damit den Handel, bahnte den Weg für den ersten Einzelhandelsmarkt, häufte ein ungeheures Vermögen an und entdeckte so die Möglichkeit des Prestigekonsums. Geld wurde das Medium und die Botschaft. Es verwandelte die frühen Gesellschaften des Mittelmeerraums von Grund auf, zunächst in Griechenland und dann in Rom. Silbermünzen, die 269 vor Christus von den Römern geprägt wurden, trugen das Bild und den Namen der Göttin Juno Moneta, uns noch geläufig in dem scherzhaften Ausdruck Moneten. Die Neuerung war nicht von Dauer. Nero hat nicht nur musiziert, als Rom brannte, sondern auch die Größe und den Silbergehalt seiner Münzen manipuliert, um eine Währungskrise abzuwenden, die durch ein massives Handelsdefizit hervorgerufen wurde. Als das Römische Reich um 476 nach Christus zusammenbrach, versank Europa im Feudalismus, woraufhin Münzen an Bedeutung verloren. Während des Mittelalters, wie wir diese Zeit heute nennen, kehrte die Gesellschaft zu primitiveren Wirtschaftsformen zurück. Die Stabilität, die für die Wiedereinführung von Münzen erforderlich 5 Schlagen Sie es nach. Ich musste es auch. Die Liste ist übernommen aus: Glyn Davies, A History of Money, Cardiff, University of Wales Press, 1994.
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
war, wurde durch die Entstehung der ersten großen Banksysteme geschaffen, zunächst durch die Tempelritter im 12. Jahrhundert, dann durch die großen norditalienischen Familien im 14. Jahrhundert. Um nicht den Anschein zu erwecken, vom Geldverleih zu profitieren (was von der Kirchenhierarchie immer noch scharf verurteilt wurde), führten die italienischen Banken Wechsel ein, die zu einer Art Papiergeld wurden. Statt mit großen und unbequemen Beuteln voller Goldmünzen zu handeln, brachten die Kaufleute die Münzen auf die Bank und verwendeten an ihrer Stelle die erhaltenen Wechsel. Auf diese Weise erhöhten die Banken auch die Geldmenge, die sonst durch den Silber- und Goldbestand begrenzt gewesen wäre. Papiergeld wurde ab dem 1. oder 2. Jahrhundert nach Christus in China verwendet, doch im 15. Jahrhundert wieder aufgegeben. Verschiedene Versuche im 18. Jahrhundert, Papiergeld in Europa und Amerika einzuführen – häufig, um entweder außenpolitische Abenteuer zu finanzieren oder schwerwiegende innenpolitische Probleme zu lösen –, scheiterten an Habgier und Misswirtschaft. Es wurde mehr Papiergeld ausgegeben, als durch die Reserven an Edelmetallen gedeckt war, wodurch das Geld letztlich wertlos wurde. So musste die Einführung des Papiergelds auf die relative Stabilität warten, die das Britische Empire während der Regierungszeit von Königin Victoria erreichte. Das Geld, das die Bank von England ausgab, wurde durch einen 1717 eingeführten «Goldstandard» gedeckt. Die Geldscheine, welche die Bank von England seit 1883 ausgibt, tragen das Versprechen, dass dem Überbringer der Wert der Banknote ausgezahlt wird. Ursprünglich sollte die Auszahlung in Gold erfolgen.6 Gold war praktisch die Weltwährung. Doch auch das war nicht von Dauer. Die Vorliebe der europäischen 6 Der Wortlaut «I promise to pay the
gen die Summe von ... zu zahlen») wurde
bearer on demand the sum of ...» («Ich
auf englischen Banknoten erstmals
verspreche, dem Überbringer auf Verlan-
1855 abgedruckt und ist bis auf den
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Kapitel zwei – In einer materiellen Welt leben
Herrscher für außenpolitische Abenteuer führte am Ende in den Ersten Weltkrieg.7 Die europäischen Staaten hatten keine Möglichkeit, einen Krieg dieser Größenordnung mit den Geldmengen zu finanzieren, die ihren Goldreserven entsprachen. Also druckten sie einfach mehr Geld, setzten seinen Wert beliebig fest und koppelten ihre Währung vom Goldstandard ab. Franklin Roosevelt beschritt diesen Weg bei einem anderen Problem. Er löste den US-Dollar 1933 vom Goldstandard, um die Wirtschaft nach dem Wallstreet-Crash vier Jahre zuvor wieder in Schwung zu bringen. 1937 war der Goldstandard Geschichte. Die Inflation, unter dem Goldstandard praktisch unbekannt, schickte sich an, die ökonomische Krankheit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu werden. Die Konsequenzen der Deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und die bitteren Reparationen, die dem Verlierer auferlegt wurden, förderten das soziale Klima, das den Zweiten Weltkrieg nur zwanzig Jahre später ermöglichte. Kurz nach der Landung der Alliierten im Juni 1944 kamen die Vertreter von 44 Nationen in New Hampshire zusammen, um das Finanzsystem der Nachkriegszeit zu ordnen. Im Abkommen von Bretton Woods8, das 1946 ratifiziert wurde, banden heutigen Tag unverändert geblieben.
genheit zu nutzen, um seinen Einfluss
Doch wenn Sie versuchen, der Bank
auf dem Balkan zu stärken. Ein regel-
von England einen Geldschein zurück-
rechtes Spinnennetz von Verträgen und
zugeben, bekommen Sie im Austausch
Bündnissen zwischen den europäischen
lediglich andere Banknoten. Ich habe
Nationen und Japan hatte zur Folge,
persönlich mit der Bank von England tele-
dass ein Konflikt, der ein begrenzter
foniert, um mich davon zu überzeugen.
Krieg zwischen Nachbarstaaten hätte
7 Am 28. Juni 1914 ermordeten serbische Nationalisten in Sarajevo Erzherzog Franz
bleiben können, zum Weltbrand wurde. 8 Bretton Woods war der Name des Ho-
Ferdinand. Obwohl Kaiser Franz Joseph
tels, in dem die Konferenz stattfand. Ich
seinen Thronerben nicht sonderlich
glaube, die Delegierten hätten besser
schätzte, beschloss Österreich-Ungarn,
daran getan, ihr Abkommen nach dem
die serbische Regierung für das Attentat
Wahrzeichen dieser Gegend zu benen-
verantwortlich zu machen und die Gele-
nen, dem Mount Deception, dem Berg der Täuschung.
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
alle Teilnehmer ihre Währungen fest an den US-Dollar und damit an den Goldwert. Gleichzeitig wurden die Weltbank und der Internationale Währungsfonds ins Leben gerufen. Bei diesem Abkommen wurden die Wechselkurse nicht dauerhaft fixiert, sondern gelegentliche Abwertungen erlaubt, sodass einzelne Staaten ihre Zahlungsbilanzprobleme lösen konnten. Die daraus erwachsende Stabilität schuf in den fünfziger und sechziger Jahren ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Doch als Amerika 1971 durch sein außenpolitisches Abenteuer in Vietnam in eine Finanzierungskrise geriet, hob Richard Nixon schließlich die Bindung an das Gold auf und ließ den US-Dollar gegenüber dem Goldpreis und anderen Währungen frei floaten. Man versuchte, die Wechselkursschwankungen auf einen schmalen Bereich einzuschränken, doch eine zweite Abwertung des Dollars im Jahr 1973 setzte allen diesen Bemühungen ein Ende. Fortan ließ man alle Währungen frei floaten. Das Geld erreichte ein neues Abstraktionsniveau, auf dem die Wechselkurse ebenso von emotionalen Faktoren wie von rationalen ökonomischen Fakten bestimmt wurden. Demokratisch gewählte Regierungen konnten ihre Bürger bei Laune halten, indem sie, wie einst Kaiser Nero, mehr Geld in Umlauf brachten, um ihre Handelsdefizite zu finanzieren, was allerdings gewöhnlich den Wert ihrer Währung verringerte. Heute ist der Devisenmarkt der größte Markt der Welt. Noch eine weitere Abstraktion vollzog sich. Der Diners Club führte 1950 eine Charge Card ein, American Express folgte 1958. Etwa zur gleichen Zeit brachte die Bank of America eine Kreditkarte auf den Markt (woraus 1977 die Visa-Karte wurde). 1966 folgte Barclaycard, und 1967 führte die City Bank von New York eine Kreditkarte ein, die schließlich als MasterCard berühmt werden sollte. Die Plastikkreditkarten ermöglichten ein enormes Wachstum der Geldmenge. Im Grunde genommen liehen sich die Menschen Geld von der Zu-
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Kapitel zwei – In einer materiellen Welt leben
kunft, um die Dinge zu kaufen, die sie heute haben wollten. Das löste eine ungeheure Nachfrage nach Konsumgütern aus, förderte aber auch Privatschulden von bis dahin unbekannter Höhe, besonders in den Vereinigten Staaten und später in Großbritannien. Die Einführung elektronischer Zahlungssysteme Mitte der siebziger Jahre beschleunigte die Entwicklung einer praktisch bargeldlosen Gesellschaft. Abgesehen von dem Kleingeld, das ich für geringfügige Geschäfte brauche (etwa um meinen Morgenkaffee und meine Tageszeitung in der Cafeteria an der Ecke zu bezahlen), ist Geld nur noch das Verzeichnis der Dollarbeträge, die ich entweder habe oder schulde. Baudrillard könnte sagen, das Geld sei hyperreal geworden. Die steigende Nachfrage nach sicheren Zahlungsmethoden im Internet könnte eine neue, nur im Cyberspace existente Form des Geldes schaffen. Diese ziemlich vereinfachte Geschichte des Geldes schildert in Wahrheit, wie materielle Objekte verwendet werden, um eine Statusfunktion zu erfüllen. Beim Übergang von Kaurimuscheln und Zappozats zu Gold und Silber ging es einfach darum, praktischere und bequemere Tauschmittel zu bekommen. Gold diente mehr als zweieinhalbtausend fahre lang als Grundlage des Geldes, wie das Geld selbst letztlich den Wert des Goldes bestimmte. Nun könnte man meinen, dass die Einführung von Fiatgeld (Papiergeld ohne Edelmetalldeckung), der Aufstieg der Plastikkarte und die Ausbreitung elektronischer Transaktionen die Möglichkeit von Geldformen schuf, deren Existenz nicht mehr von der materiellen Welt abhängt. Falsch. Es gibt noch immer Magnetstreifen auf den rechteckigen Plastikkarten, phosphoreszierende Muster auf den Computerbildschirmen oder Tintenmuster auf den Papieren, die Ihnen Ihre Bank oder Ihre Kreditkartengesellschaft zuschickt. Würde diese materielle Verwirklichung oder Manifestation des Geldes nicht existieren, gäbe es nichts, was mich hinderte, mir einzubilden, ich sei nicht nur mit
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Jennifer Aniston verheiratet, sondern auch reich wie Krösus (oder Bill Gates). Leider wird keine noch so intensive Gedankenarbeit meinerseits etwas an der gesellschaftlichen Tatsache meines Kontostandes ändern. Wenn wir die Auffassung vertreten, die materielle Welt existiere unabhängig von uns, könnte uns diese Abhängigkeit von irgendeiner Form materieller Gegenständlichkeit, Verwirklichung oder Manifestation zu der Annahme verführen, dass die zugewiesenen Funktionen ebenfalls eine von unseren Gedanken unabhängige Existenz hätten. Doch auch das ist ganz offensichtlich falsch. Geld hört auf, Geld zu sein, wenn es kein Bewusstsein gibt, das es als Geld wahrnimmt. Alles, was wir dann noch haben, sind hübsch bedruckte Papierstücke oder bedeutungslose Magnetstreifen auf rechteckigen Plastikkarten. Denken Sie an Un-Erde. Sie wäre der Zustand unseres Planeten ohne den evolutionären Zufall, der Menschen mit der Fähigkeit zu bewusstem Denken, Ich-Bewusstsein und komplexen sozialen Interaktionen entstehen ließ. Un-Erde ist einerseits ein schöner, vollkommen natürlicher Planet, gänzlich unberührt von den Eingriffen, der Verschwendung und Vergeudung des Menschen, andererseits aber dann doch nicht schön, weil es keine Geschöpfe auf ihm gibt, die sich seine Schönheit bewusstmachen können. Und die besitzt er im Überfluss mit seinen hohen schneebedeckten Gebirgen, sanften Bächen, hohen Bäumen und fruchtbaren Böden. Eine Welt der Flüsse, Felsen und Metalle (wenn auch nicht der Edelmetalle, weil es niemanden gibt, der sie als solche bewerten könnte). Ohne Menschen mit Verstand und Bewusstsein gibt es keine Grenzen, keine Eheringe und kein Geld. Hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen Objekten in der materiellen Welt – Bergen, Bächen, Flüssen, Bäumen und Erde – und Objekten, denen wir Statusfunktion zuweisen. Ohne bewusste, denkende Wesen auf Un-Erde, die einen Berg betrachten und über
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Kapitel zwei – In einer materiellen Welt leben
ihn nachdenken, bleibt ein Berg trotzdem ein Berg. Natürlich gibt es niemanden, der ihn einen Berg nennen könnte, doch das scheint im Hinblick auf die materielle Tatsache seiner Existenz und Beschaffenheit keinen Einfluss zu haben. Doch eine Dollarnote ist nur noch ein hübsch bedrucktes Stück Papier, wenn es keinen Verstand gibt, der sie im Kontext von Kaufen, Verkaufen oder Sparen als Dollarnote denkt. Wir weisen den Objekten Funktionen und Zwecke fast unbewusst zu. Das gilt für viele Objekte der natürlichen Welt, aber auch für die natürlichen und künstlichen Objekte, die uns zur Erfüllung sozialer Funktionen dienen. Eigentlich sollten wir bei vielen natürlichen Objekten, wie etwa einem Berg, einem Baum oder einem Stein, keinen Zweck erwarten, aber wir sind von der Idee so besessen, dass wir manchmal fälschlicherweise nach einem Zweck suchen, wo es ihn ganz offensichtlich nicht geben kann. Die moderne Naturwissenschaft geht von dem Grundsatz aus, dass es in der Natur einige fundamentale Kausalbeziehungen gibt, die wir mit Hilfe von Naturgesetzen verstehen können. Wenn das eine geschieht, muss das andere gleich darauf eintreten, weshalb wir sagen, dass das eine die Ursache für das andere ist. Doch darin lässt sich weder Funktion noch Zweck erkennen. Beispielsweise ist die Gravitation eine physikalische Anziehungskraft zwischen materiellen Körpern und hat als solche keinen Zweck. Das erscheint Ihnen vielleicht nicht sehr bemerkenswert, versuchen wir daher, den Gedanken etwas klarer zu fassen. Ihr Herz besteht aus zwei Vorhöfen (Atria), zwei Kammern (Ventrikeln) und vier Herzklappen: der Trikuspidal-, Pulmonal-, Mitral- und Aortenklappe. Die Muskeln ziehen sich zusammen und erschlaffen, die Herzklappen öffnen und schließen sich, das Blut wird durch den Körper gepumpt. Doch Ihr Herz hat weder Funktion noch Zweck. Es ist eine mechanische Konstruktion aus lebendem Gewebe, welche das Blut ver-
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anlasst, in bestimmter Weise durch den Körper zu fließen. Wenn wir anfangen, der Gravitation eine Funktion oder einen Zweck zuzuschreiben (nützlich, um Ihre Füße auf dem Boden zu halten, oder um deutlich zu machen, wo oben ist) beziehungsweise Ihrem Herzen (zweckdienlich, um Sie am Leben zu erhalten), stülpen wir der natürlichen Welt unsere spezifisch menschlichen Wertvorstellungen über, um Urteile über Nützlichkeit oder Zweckdienlichkeit zu fällen. Wir tappen in die Falle der Teleologie, der Idee, dass diese natürlichen Objekte irgendeinem Urplan entsprechen, der möglicherweise von dem Großen Architekten der Natur entworfen wurde. Auf derartige Annahmen kann die Natur prinzipiell verzichten. Wenn wir natürlichen Objekten solche Funktionen zuweisen, beschreiben wir laut Searle lediglich Kausalbeziehungen. Doch der Gedanke an Funktion und Zweck ist so tief in unseren Wahrnehmungen, Gedanken und Sprachstrukturen verwurzelt, dass wir außerordentliche Schwierigkeiten haben, uns vor Schlussfolgerungen zu hüten wie: «Das Herz hat die Funktion, Blut zu pumpen.» Sobald wir einen solchen Schluss ziehen, ergeben sich eine Vielzahl von Konsequenzen. In Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit
schreibt Searle:
Das zeigt sich an der Tatsache, dass jetzt ein ganzes Vokabular von Erfolg und Versagen angemessen ist, das den einfachen rohen Tatsachen der Natur nicht angemessen ist. Deshalb können wir von «Dysfunktion», «Herzversagen» und besseren und schlechteren Herzen sprechen. Wir sprechen nicht von besseren und schlechteren Steinen, außer natürlich wir haben dem Stein eine Funktion zugewiesen. Searle will darauf hinaus, dass die Zuweisung jeglicher Funktion, egal, ob natürlicher oder gesellschaftlicher Art, von der Existenz eines Bewusstseins abhängt, das in der Lage ist, den Wert eines Objek-
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Kapitel zwei – In einer materiellen Welt leben
tes relativ zu einer Tätigkeit zu beurteilen – eines Bewusstseins, das Erfolg oder Misserfolg, Zweckdienlichkeit oder Unzweckmäßigkeit beurteilen kann. Wenn wir das Bewusstsein ausklammern, verschwindet
alle Funktion. Trotz aller Schwierigkeiten und Enttäuschungen, die auf eine Reihe vergeblicher Anläufe zurückgingen, ist die Entstehung und Akzeptanz des Papiergeldes ein anschauliches Beispiel für Searles zweiten Baustein der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Regeln, welche die Ausführung eines sozialen Aktes auf der Grundlage einer Statusfunktion (etwa der Bezahlung einer Sache mit Geld) ermöglichen, konstituieren die Institution. Gemessen an ihrer materiellen Beschaffenheit ist eine Zwanzig-Dollar-Note ganz gewiss keine zwanzig Dollar wert. Um ihr ihren Status zuzuweisen – die Repräsentation eines Wertes von zwanzig Dollar –, ist zunächst erforderlich, dass sie auf eine sehr spezifische Weise auf einem sehr spezifischen Papier von der «Geldfabrik», dem American Bureau of Engraving and Printing, gedruckt wird. Doch ein besonderes Stück Papier, das auf ganz besondere Weise von der Geldfabrik bedruckt wird, reicht als solches noch nicht aus, um Geld zu konstituieren. Geld von einem bestimmten Wert kann es nur sein, wenn es von der amerikanischen Regierung indossiert, von der Stärke der amerikanischen Wirtschaft getragen und kollektiv von all den Menschen, die es als Geld verwenden wollen, erkannt und akzeptiert wird. Mit anderen Worten, es muss als gesetzliches Zahlungsmittel gelten, das in einem Tauschgeschäft einen gewissen Wert darstellt. Die Regeln sind konstitutiv und nicht einfach konventionell. Hingegen verändert sich gegenwärtig das konventionelle Aussehen der amerikanischen Währung. Im Rahmen eines Programms, das «die neue Farbe des Geldes» heißt und die herkömmlichen Hintergrundfarben Grün und Schwarz durch eine neue Farbgebung ersetzt, wurde im Oktober 2003 eine neue Zwanzig-Dollar-Note einge-
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
führte Eine neue Fünfzig-Dollar-Note gab man im September 2004 aus und eine neue Zehn-Dollar-Note ein Jahr später. Das Aussehen der Geldscheine ist bloße Konvention, doch die Zuweisung ihres Status als Geld beruht auf Regeln. Searle verdeutlicht das durch einen Vergleich mit dem Schachspiel. Die Schachregeln legen fest, wie man die Figuren bewegt, und jeder, der sie nicht in Übereinstimmung mit den Regeln zieht, spielt nicht Schach; die Formgebung und das Aussehen der Schachfiguren dagegen sind eine Frage der Konvention. Regeln, so heißt es, sind dazu da, um gebrochen zu werden; dass es sich um gesellschaftliche Regeln und nicht um gesellschaftliche Konventionen handelt, zeigt die Tatsache, dass sie gebrochen werden können.10 Die Veränderungen am Erscheinungsbild der amerikanischen Währung sind in erster Linie vorgenommen worden, um die überhandnehmenden digitalen Fälschungen zu bekämpfen. Die neuen Geldscheine haben ein Wasserzeichen, einen Sicherheitsfaden und Druckfarben, die sich verändern, wenn man sie schräg unters Licht hält. Searle nennt noch eine wichtige Eigenschaft konstitutiver Regeln: Ihre Anwendung verlangt abstrakten Symbolismus, und zwar fast gänzlich in Form von Sprache. Einige Objekte, denen eine gesellschaftliche Funktion zugewiesen wird, offenbaren diese Funktion unmittelbar in ihrer materiellen Beschaffenheit und Erscheinung. Betrachten wir beispielsweise einen Stuhl. Wenn Sie noch nie zuvor einen Stuhl gesehen hätten und niemand zugegen wäre, der Ihnen sagen könnte, was ein Stuhl ist oder wozu er dient, wäre es Ihnen trotzdem möglich, sich seine Funktion ohne Rückgriff auf die Spra9 Die alten Scheine werden auch weiterhin ein legales Zahlungsmittel bleiben. 10 Im Gegensatz zu den Regeln, die als Kausalbeziehungen in Naturgesetzen zum Ausdruck kommen und die nach
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allgemeiner Auffassung erst gebrochen werden können, wenn empirische Daten vorliegen, die eine Revision dieser Regeln erforderlich machen,
Kapitel zwei – In einer materiellen Welt leben
che auszumalen. Wenn Sie lange genug mit einem Stuhl spielen, besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Sie am Ende herausfinden werden, dass der Stuhl dazu da ist, um darauf zu sitzen. Doch wenn Ihnen der Begriff des Geldes völlig fremd ist, hätten Sie keine Chance, auf den Status und die Funktion zu kommen, die eine Dollarnote in der Gesellschaft innehat. Spielen Sie mit einer Dollarnote und einem großen fettarmen Latte Macchiato herum, solange Sie wollen – Sie werden es nie herausfinden. Searle schreibt:
Angenommen, ich richte meinen Hund darauf ab, Dollarscheine zu jagen und sie mir im Austausch gegen Nahrung zu bringen. Dann kauft er die Nahrung immer noch nicht, und die Scheine sind für ihn kein Geld. Warum nicht? Weil er sich die deontischen [der Logik des Sollens gehorchenden] Phänomene nicht selbst repräsentieren kann. Vielleicht ist er noch fähig zu denken «wenn ich ihm dies gebe, gibt er mir die Nahrung». Aber er kann zum Beispiel nicht denken, jetzt habe ich das Recht, Dinge zu kaufen ... Erinnern wir uns noch einmal an den Fluss, der als Grenze dient. Nehmen wir an, er sei leicht zu überqueren. Infolge einer Art Konditionierung, die in einer langen Tradition von Generation zu Generation weitergereicht wurde, haben die Menschen zu beiden Seiten möglicherweise akzeptiert, dass sie den Fluss nie überqueren können. Möglicherweise wissen sie gar nicht, dass sie ihn nicht überqueren dürfen, sie tun es einfach nicht, weil ihre Väter es nie taten, deren Väter es nie taten und so fort. Doch der Fluss fungiert jetzt als eine ganz andere Art von Grenze. Er ist jetzt fast eine materielle Grenze geworden, eine Grenze, die sich nicht überqueren lässt, weil die Menschen es einfach nicht tun, sich nicht so verhalten. Als eine Grenze im gesellschaftlichen Sinn fungiert er, wenn die Menschen meinen, dass das Überqueren der Grenze eine Frage von Rechten
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
und Verpflichtungen ist, die auf gegenseitiger Anerkennung und Übereinstimmung mit den Nachbarn beruhen. Dazu ist Sprache in irgendeiner Form erforderlich. Jeder Zweifel hinsichtlich dieses letzten Punktes sollte sich durch eine weitere Geschichte zerstreuen lassen. Drei Affen werden in einem Käfig gehalten. Eines Tages erwachen die Affen und entdecken, dass man eine kleine Plattform in ihrem Käfig aufgestellt und eine Banane einen oder anderthalb Meter über der Plattform aufgehängt hat. Einer der Affen erkennt augenblicklich, dass er die Banane erreichen kann, wenn er auf die Plattform klettert. Als er das tut, werden die anderen beiden mit eiskaltem Wasser bespritzt. Den Affen wird klar, dass die anderen eine höchst unangenehme Behandlung über sich ergehen lassen müssen, wenn einer von ihnen versucht, die Banane zu erreichen. Durch gegenseitiges Einvernehmen oder durch Gewalt lernen die Affen kollektiv, nicht nach der Banane zu greifen. Als klar ist, dass die Affen diese neue Regel über das Greifen nach der Banane gelernt haben, wird einer von ihnen durch einen anderen Affen ersetzt. Der Neuankömmling hat keine Ahnung von der Regel und versucht sofort, nach der Banane zu greifen. Völlig überrascht, sieht er sich von den anderen Käfiginsassen angegriffen. Ohne den Grund zu verstehen und ohne jemals der Eiswasserbehandlung unterzogen worden zu sein, gelangt der neue Affe rasch zu der Einsicht, dass er nicht nach der Banane greifen darf. Nach und nach werden die drei ursprünglichen Affen ersetzt. Jetzt hat keiner der Affen jemals die Eiswassertortur erlebt, trotzdem haben sie alle begriffen, dass sie nicht nach der Banane greifen dürfen. Ursprünglich sollte die Geschichte zeigen, wie die Kultur eines Großunternehmens funktioniert. Zu dem Zeitpunkt, da alle drei Affen durch neue ersetzt worden sind, ist die Regel über das Greifen nach der Banane durch eine gesellschaftlich vermittelte Konditionierung erworben worden. Für die
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Kapitel zwei – In einer materiellen Welt leben
Übernahme dieser Regeln war weder Sprache noch das Verständnis für die Rechte und Pflichten gegenüber der Banane erforderlich. Die Schlussfolgerung dürfte auf der Hand liegen. Eine gesellschaftliche Institution wie das Geld ist das Produkt einer Menschengesellschaft. Sie stützt sich auf Objekte, die in der materiellen Welt entdeckt oder hergestellt werden, aber sie funktioniert, weil Menschen diesen Objekten den Status von Geld zuweisen, weil (sprachbasierte) Regeln entwickelt werden, dank deren wir diese Objekte als Geld begreifen, und weil ein bestimmter Mechanismus dafür sorgt, dass diese Objekte auch tatsächlich als Geld erkannt und akzeptiert werden (wir werden auf diesen letzten Baustein im nächsten Kapitel zurückkommen). Auf Un-Erde – ohne Menschen und Gesellschaften – gibt es keine Statusfunktionen (genau genommen, überhaupt keine Funktionen), keine Sprache, keine konstitutiven Regeln und daher auch kein Geld. Ohne bewussten Geist ist Geld nicht wirklich, zumindest nicht in dem Sinne, in dem wir zu Beginn des Buches unsere alltägliche Wirklichkeit definiert haben. Na und? Der triviale Umstand, dass es kein Geld gibt, wo keine Menschen zugegen sind, ändert doch nichts an der naheliegenden Ansicht, Geld könne auch unabhängig vom Menschen existieren. Vielleicht müssen wir unsere erste Annahme abschwächen, der zufolge Wirklichkeit unabhängig von allen Menschen ist, die in der Lage sind, sie zu erfassen und Theorien über sie zu bilden, doch dann können wir nicht wirklich die Überzeugung vertreten, diese Hypothese lasse sich auch auf gesellschaftliche Institutionen wie das Geld anwenden. Oder? Vielleicht ziehen Sie die Auffassung vor, Sie glaubten an die Wirklichkeit des Geldes, weil alle daran glauben, und Ihre Überzeugung sei abhängig von derjenigen aller anderen. Wenn sich morgen jeder, dem Sie begegneten, weigern würde, Ihre Dollarnote zu akzeptieren,
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
weil er, aus was für Gründen auch immer, der Meinung wäre, es handle sich nicht um Geld, dann würden Sie sich vielleicht erstaunt fragen, was um Himmels willen denn passiert sei, doch nach einer Weile würden Sie es für sinnlos halten, sich zu wehren. Auch Sie kämen zu der Überzeugung, dass es sich nicht um Geld handle. Sie könnten einwenden, dass viele Individuen, alle mit eigenem Bewusstsein und Verstand, erforderlich sind, um eine Gesellschaft zu bilden. Nun denken Individuen aber ihre eigenen, privaten Gedanken, die in erster Linie um «ich, mir und mich» kreisen. Doch in der Gesellschaft geht es um das «Wir». Gesellschaftliche Institutionen wie Geld, Ehe, Politik und Krieg sind aus der Interaktion vieler individueller Gedanken erwachsen. Da können sie doch nicht alle nur in Ihrem Kopf sein? O doch, sie können – und sie sind es!
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Kapitel drei
Ich, mir ... wir Große Geister denken gleich. ANONYM
Der dritte Baustein gesellschaftlicher Wirklichkeit ist die kollektive Anerkennung und Akzeptanz jener Verwendung von Objekten, die für Statusfunktionen und Verwendungsregeln sorgt. Leider ist absolut nicht klar, wie solche kollektive Anerkennung und Akzeptanz entsteht. Doch sie findet routinemäßig, unbewusst und mühelos statt. Wenn wir verstehen, wie das geschehen kann, werden wir letztlich auch erkennen, wie gesellschaftliche Wirklichkeit so konstruiert wird, dass sie nur in Ihrem Kopf existiert. Um zu verstehen, dass wir es hier überhaupt mit einem Problem zu tun haben, stellen Sie sich die folgende Szene vor, die sich in jeder beliebigen Firma in jeder beliebigen Stadt an jedem beliebigen Arbeitstag zutragen könnte:
Alice hielt zum ersten Mal seit ungefähr zwanzig Minuten inne. Sie hatte die Zusammenfassung beendet, an der sie am Vortag bis spät in die Nacht gearbeitet hatte. Sie hatte nichts mehr zu sagen. Bob rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er hatte die ganze Zeit geschwiegen. Alice hatte rasch bemerkt, dass er ihre Ausführungen diesmal nicht mit zustimmendem
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
Nicken begleitet hatte. Außerdem hatte er es vermieden, sie anzublicken. «Hör zu!», sagte Alice. «Ich weiß, was du denkst.» Das ist natürlich offenkundig falsch. Es mag eine vertraute Szene und sogar eine vertraute Äußerung sein, aber natürlich gibt es keine Umstände, unter denen Alice wirklich wissen könnte, was Bob denkt. Es gibt im wirklichen Leben keine Nick Marshalls oder Miles Muldoons.1 Berufsmäßige «Gedankenleser» können ebenso wenig Gedanken lesen, wie berufsmäßige Zauberer zaubern können. Doch ohne Genaueres zu wissen, sind wir mühelos in der Lage, die Geschichte zu ergänzen. Egal, was es ist, Alice schlägt etwas vor, was Bob nicht gefällt. Sie scheint schon vorher gewusst zu haben, dass es ihm nicht gefallen würde, und diese Ahnung wird ihr jetzt durch die Zurückhaltung seiner Körpersprache bestätigt. Offenbar haben sie in der Vergangenheit eng zusammengearbeitet, daher ist sie auf Bobs Einwände gefasst. Vermutlich hat sie sich ihre Antworten bereits zurechtgelegt, als sie die Zusammenfassung aufsetzte. Obwohl sie nicht wirklich wissen kann, was in Bobs Kopf vorgeht, weiß sie in einem sehr realen Sinn tatsächlich, was er denkt. Diese Art sozialer Interaktion ist ein grundlegender Teil unseres alltäglichen Lebens – unserer «gelebten Wirklichkeit» – und ein wesentlicher Baustein sozialer Institutionen wie Geld und Ehe. Meine Fähigkeit, einem hübsch bedruckten Stück Papier (wie einer Dollarnote) Wert und gesellschaftliche Funktion zuzuweisen, scheint in meinem Kopf, und in diesem allein, eine Assoziation hervorzurufen. 1 Nick Marshall ist die von Mel Gibson
Komödie I Know What You’re Thinking –
dargestellte Figur in Nancy Mayers Film
ein phobischer Fremdenführer bei den
Was Frauen wollen. Nach einem Unfall
Vereinten Nationen, der nach einer
besitzt Marshall die Fähigkeit, die Gedan-
Bewusstlosigkeit, die eintritt, als man
ken von Frauen zu lesen. Miles Muldoon
ihn mit Melonen bewirft, ebenfalls die
ist der Protagonist der musikalischen
Fähigkeit entwickelt, Gedanken zu lesen.
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Kapitel drei – Ich, mir, … wir
Offenbar muss diese selbe Assoziation in den Köpfen aller Mitglieder der Gesellschaft erzeugt werden, wenn die Idee des Papiergeldes ihre Aufgabe erfüllen, das heißt, wenn das Geld ein Bestandteil der gesellschaftlichen Wirklichkeit sein soll. Der Umstand, dass ich glaube, dieses Stück Papier sei zwanzig Dollar wert, nützt mir gar nichts, solange nicht auch Sie glauben, es sei zwanzig Dollar wert. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass dies nicht nur geschieht, sondern offenbar auch geschieht, ohne dass wir es bemerken. Wie das? Wie kann «Ich» zum «Wir» werden, wenn ich keinen Zugang zu den Gedanken anderer habe und wenn niemand Zugang zu meinen Gedanken hat? Hier ist endlich ein Hoffnungsschimmer. Die gesellschaftliche Wirklichkeit gründet sich auf geistige Inhalte, nicht auf geistige Prozesse an sich, daher hängt das Verständnis, wie diese Wirklichkeit in unseren Köpfen entsteht, nicht davon ab, dass uns eine vollständig ausgearbeitete Theorie des Geistes zur Verfügung steht. Wir können unsere Aufmerksamkeit auf die Frage beschränken, woran wir denken, und müssen nicht unbedingt wissen, wie sich dieses Denken vollzieht. Wenn Sie aufhören, daran zu denken, kommen Sie rasch darauf, dass Denken immer Denken an etwas ist. Von Ihrem ersten wachen Augenblick bis zu dem Augenblick, wo Sie in der Bewusstlosigkeit des Tiefschlafs versinken, ist Ihr Geist mit Gedanken beschäftigt, die sich immer mit irgendwelchen Dingen beschäftigen. Diese Dinge können Objekte der materiellen Welt sein: Berge, Bäche, Seen, Bäume, Häuser, Autos. Sie können Menschen sein: Ihre Frau, Ihr Mann, Kinder, Arbeitskollegen, der Chef, Untergebene, der Ministerpräsident, der Präsident, der Diktator, der Terrorist. Es kann sich auch um vollkommen imaginäre Dinge handeln: Zauberer, Elfen, Zwerge, Hobbits, Einhörner, Terminatoren, Replikanten, Agenten. Oder um Sachverhalte: Das Haus gehört mir, das Auto ist billig, der Chef ist
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dämlich, Gandalf ist mächtig. Versuchen Sie, sich einen Gedanken vorzustellen, der sich mit nichts beschäftigt. Dieser Aspekt – der geistige Inhalt, das «mit etwas BeschäftigtSein» – heißt bei Philosophen Intentionalität. Wir können diesen Begriff weit über die einfache Aktivität des Denkens passiver Gedanken ausdehnen, sodass er auch aktive Zustände wie Ansichten und Verlangen einschließt. Ich hege bestimmte Ansichten über Dinge. Ich empfinde Verlangen nach Dingen. Außerdem habe ich Emotionen – Liebe, Freude, Glück, Hoffnung, Trauer, Wut, Furcht, Verzweiflung –, die sich auf Dinge richten oder mit ihnen in Zusammenhang stehen.2 Intentionalität bedeutet mehr, als lediglich Dinge zu beabsichtigen, so wie ich beispielsweise beabsichtige, ein Haus zu bauen, oder Sie beabsichtigen, ein Auto zu klauen. Intentionalität ist die Fähigkeit eines bewussten Geistes, sich materielle Objekte, Menschen und (reale oder imaginäre) Sachverhalte vorzustellen. Doch es geht hier nach wie vor nur um mich und meine Gedanken. Das mag ein guter Ausgangspunkt sein, aber wir sind noch immer weit von jeglichem Verständnis entfernt, wie man vom «Ich» zum «Wir» gelangt: wie individuelle Intentionalität zu der kollektiven Intentionalität wird, die erforderlich ist, um gesellschaftliche Wirklichkeit zu konstruieren. Das ist eine entscheidende Brücke von den Dingen, die nur in meinem Kopf geschehen, zur Gemeinsamkeit der Dinge, die sich immer dann in unseren Köpfen vollziehen, wenn wir an einem sozialen Akt teilnehmen, etwa eine Zeitung kaufen oder heiraten. Ohne diese Brücke kann es keine Gesellschaft geben. 2 Obwohl man annimmt, dass auch emotionale Zustände möglich sind, die nicht in dieser Weise gerichtet sind, etwa ein allgemeines und unbestimmtes Angstgefühl.
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Kapitel drei – Ich, mir, … wir
Eine mögliche Lösung besteht darin, alles auf individuelle Intentionalität zurückzuführen. Da es keine echten Gedankenleser gibt, scheint die Annahme vernünftig, dass meine Ansichten und Wünsche nur die meinen sind. Niemals kann ich Ihre Ansichten und Wünsche kennen, da ich Ihre Gedanken nicht zu lesen vermag. Es wird Zeit, zu Alice und Bob zurückzukehren. Wir erinnern uns: Alice glaubt, Bob gefalle nicht, was sie in ihrer Zusammenfassung geschrieben hat, obwohl Bob in Wahrheit nichts gesagt hat. Bobs Geistesverfassung ist allein ihm selbst bekannt, das heißt für jeden Menschen außer ihm nicht zu beobachten und nicht zu erkennen, also müssen wir uns fragen, woher Alice diese Überzeugung hat. Nach einer flüchtigen Analyse ihrer Situation würden wir sagen, dass Alice diese Überzeugung aus ihrer Empathie für Bob gewinnt, das heißt ihrer Fähigkeit, sich Bobs Gedanken und Gefühle mit Hilfe einer Art «Alltagspsychologie» vorzustellen. Diese Empathie kann auf zwei Arten entstehen. Entweder hat sie aufgrund der Beobachtungen während ihrer beider langen Zusammenarbeit eine eigene Theorie darüber entwickelt, wie Bobs Geist arbeitet, oder sie hat sich ihrer angeborenen geistigen Prozesse bedient, um sich in Bobs Lage zu versetzen und «die Welt mit seinen Augen zu sehen». Die erste der beiden Möglichkeiten bezeichnet man gewöhnlich als Theorie-Theorie. Die Theorie, die sich Alice über Bobs Geist zurechtgelegt hat, ist keine vollständige wissenschaftliche Theorie, die es, wie wir oben erfahren haben, noch gar nicht gibt. Trotzdem ist es eine Theorie auf einer pseudowissenschaftlichen Grundlage. Die Theorie-Theorie besagt, dass Alice eine eigene Theorie über die Umstände entwickelt, die in der Vergangenheit für bestimmte Gemütsverfassungen von Bob verantwortlich waren – Freude, Glück, Traurigkeit, Wut. Diese Gemütsverfassungen brachte Bob durch bestimmte körperliche Verhaltensweisen zum Ausdruck:
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
Womöglich stößt er Freudenschreie aus oder lächelt, wenn er glücklich ist, lässt den Kopf hängen, wenn er traurig ist, bekommt einen roten Kopf, wenn er wütend ist. Mit Hilfe ihrer Theorie verknüpft Alice Umstände mit Verhaltensweisen, und Bobs unbeobachtbare Gemütszustände überbrücken die Lücke zwischen beiden. Wenn dies geschieht, tut Bob in der Regel das. Wie eine konventionelle wissenschaftliche Theorie hat sie ihre Theorie nach einer langen Reihe von Beobachtungen an Bob entwickelt und verfeinert, weshalb sie nun vorhersagen kann, wie er in Zukunft unter neuen Umständen reagieren wird. Die zweite Möglichkeit bezeichnet man als Simulationstheorie. In dieser Theorie orientiert sich Alice am Verständnis des eigenen Selbst, während sie die Gemütszustände simuliert, die sich vermutlich in Bobs Geist entwickeln. Sie tut buchstäblich so, als wäre sie er, indem sie sich innerlich in die Umstände versetzt, denen er sich gegenübersieht, dann eine Reihe von Überzeugungen und Wünschen erzeugt, von denen sie meint, Bob besitze sie, und diese schließlich von den eigenen geistigen Prozessen verarbeiten lässt, um zu verstehen, wie er wahrscheinlich reagieren wird. Dann kann sie interpretieren, warum bestimmte Umstände Bob veranlassen, Freudenschreie auszustoßen oder vor Wut einen roten Kopf zu bekommen, weiß sie doch selbst, wie sie unter diesen unterschiedlichen Umständen reagieren würde und was es heißt, Freude oder Wut zu empfinden. Wenn dies geschieht, tut sie in der Regel das, und nimmt (möglicherweise mit angemessenen Abänderungen) an, dass Bob sich im Wesentlichen genauso verhält. Sie haben Zweifel? Machen Sie den folgenden Test. Nehmen Sie an, Alice und Bob hätten das Büro verlassen und seien auf dem Weg zum Flughafen. Sie haben die Absicht, zu verschiedenen Reisezielen zu fliegen, doch ihre Flugzeuge starten etwa zur gleichen Zeit. Daher haben sie beschlossen, sich ein Taxi zu teilen. Es ist früher Abend. Das Taxi bleibt im dichten Verkehr stecken, daher
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Kapitel drei – Ich, mir, … wir
treffen sie dreißig Minuten zu spät am Flughafen ein. Bei ihrer Ankunft erfährt Alice, dass ihre Maschine pünktlich abgeflogen ist, mit anderen Worten, dass sie viel zu spät gekommen ist. Bei Bob stellt sich heraus, dass sich sein Flug verzögert hat, dass die Abfertigung wenige Augenblicke zuvor beendet wurde und dass er nicht mehr an Bord gehen kann. Wer ärgert sich mehr – Alice oder Bob? Wenn Sie, wie 96 Prozent der Versuchspersonen, die diesem Test unterzogen wurden, der Meinung sind, Bob sei ärgerlicher, fragen Sie sich bitte, warum. Wahrscheinlich sind Sie der Meinung, Bob sei ärgerlicher, weil Sie wissen, dass Sie es an seiner Stelle wären. Die Theorie-Theorie ist objektiv und rational und scheint, um erfolgreich angewendet werden zu können, auf eine lange Bekanntschaft mit der Zielperson, in diesem Fall mit Bob, angewiesen zu sein. Je mehr Erfahrungen Alice unter möglichst vielfältigen Umständen mit Bobs Verhalten sammeln konnte, desto exakter ist ihre Theorie vermutlich und desto genauere Vorhersagen kann sie über sein künftiges Verhalten machen. Dagegen scheint die Simulationstheorie instinktiver zu sein. Sie brauchen keine lange Bekanntschaft mit Bob, um anzunehmen, dass er auf die Mitteilung, er habe sein Flugzeug um wenige Augenblicke verpasst, wahrscheinlich ärgerlicher reagieren wird. Dazu brauchen Sie lediglich die Fähigkeit, sich in die gleiche Lage zu versetzen, oder können sich sogar an Ihre persönliche Erfahrung halten, wenn Sie schon einmal eine Maschine knapp verpasst haben. In der Simulationstheorie benötigen Sie lediglich die Geschichte Ihrer eigenen Erfahrungen und persönlichen Intentionalität nebst der Annahme, dass Bobs Geist in vielerlei Hinsicht genauso arbeitet wie der Ihre. Sie wenden die Simulation auf jemanden an, dem Sie noch nie begegnet sind. Sie können sie sogar bei fiktionalen Personen einsetzen. So verfahren Sie jedes Mal, wenn Sie einen Roman lesen. Noch vor kurzem war es nicht möglich, zu entscheiden, welche dieser beiden Theorien menschlicher Empathie die richtige war.
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
Vielleicht denken Sie sogar, es wäre gänzlich unmöglich, diese Vorgänge zu verstehen. Doch Ende der neunziger Jahren entdeckte eine Arbeitsgruppe italienischer Neurowissenschaftler im Gehirn von Makaken Beweise für die Existenz von Nervenzellen, die wir heute als Spiegelneuronen bezeichnen. In der Folge wurde nachgewiesen, dass auch der Mensch Spiegelneuronen besitzt. Diese Neuronen feuern, wenn wir jemanden bei der Ausführung einer Tätigkeit beobachten, wobei sie die neuronale Aktivität im Gehirn der Zielperson buchstäblich widerspiegeln. Beispielsweise wurden in einem der jüngsten Experimente sieben Männern und vier Frauen Bilder menschlicher Gesichter dargeboten, auf denen sich verschiedene Emotionen ausdrückten – Glück, Traurigkeit, Mut, Überraschung, Ekel und Furcht –, während ihre Gehirnprozesse gleichzeitig durch bildgebende Verfahren dargestellt wurden. Die Scans zeigten, dass ihre emotionalen Zentren weit aktiver waren, wenn sie aufgefordert wurden, innere Repräsentationen der abgebildeten Emotionen hervorzurufen, als wenn man sie aufforderte, sie einfach zu beobachten. Sich das Glück anderer vorzustellen verlangt die Aktivierung von Neuronen, welche die im Gehirn des glücklichen Menschen aktiven Neuronen spiegeln. Durch Empathie ahmen wir eine beobachtete Aktivität unterbewusst in unserem Gehirn nach, ohne sie tatsächlich auszuführen. Die Versuchspersonen in dem erwähnten Experiment wurden nicht aufgefordert, die Gesichtsausdrücke auf dem eigenen Gesicht zu reproduzieren, sondern nur, sich diese Ausdrücke vorzustellen. Man hat einen Mechanismus entdeckt, der die für Körperbewegungen verantwortlichen Neuronen hemmt, wodurch verhindert wird, dass wir uns am Ende lächerlich machen, indem wir die beobachteten Personen nachäffen (obwohl ich niemandem abnehme, er könne sich die Zahnfolter in Schlesingers Film Marathon Man ansehen, ohne hörbar zu wimmern). Unsere Fähigkeit, uns in die Lage einer beobachteten Person zu versetzen, ist in unserem Gehirn fest ver-
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Kapitel drei – Ich, mir, … wir
drahtet. Das sind offenbar unbestreitbare Belege für die Simulationstheorie. Die Entstehung und Entwicklung der Spiegelneuronen lässt sich evolutionär erklären. Es kann kaum Zweifel an den Überlebensvorteilen eines Gehirnsystems geben, das einer Art gestattet, die Reaktionen von Artgenossen zu antizipieren. Je genauer wir uns die Gemütsverfassungen vorstellen können, die wir sichtbar im Verhalten anderer porträtiert sehen, desto besser sind wir in der Lage, unsere eigenen Reaktionen auf das anzunehmende künftige Verhalten anderer abzustimmen. Das bewegt uns unter Umständen, die Freude oder das Glück eines anderen Menschen zu teilen, ihm in seiner Trauer tiefempfundenen Trost zu spenden oder uns sogar gegen seinen Zorn zu wappnen. Das ist keine biologische Aktivität, die unserem Einfluss gänzlich entzogen ist. Wenn wir erkennen, wie andere möglicherweise Empathie für uns empfinden, können wir uns bemühen, absichtlich erwünschte Gemütszustände in anderen zu erzeugen, indem wir unsere Interaktionen mit ihnen entsprechend manipulieren. Vielleicht war eines der besten Beispiele dafür die Art und Weise, wie Clinton seine charakteristische Körpersprache, seine «Körpersignale» einsetzte, um den Eindruck zu erwecken, er habe aufrichtige Gewissensbisse und bedaure seine Verfehlungen in der Monica-Lewinsky-Affäre zutiefst.3 Die Wirkung war so groß, dass einige seiner Zuhörer in Tränen ausbrachen. Damit soll nicht gesagt sein, dass seine Reue nicht echt war, obwohl wir bei unserem Urteil vielleicht berücksichtigen sollten, dass Clinton ein Großmeister dieser Art nonverbaler Kommunikation und emotionaler Manipulation ist. 3 Vergleiche beispielsweise: Peter Collett, Ich sehe was, was du nicht sagst, Bergisch Gladbach, Ehrenwirth, 2004; Collett war psychologischer Berater der britischen Big-Brother-Produzenten.
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
Die Möglichkeit einer Empathie, die sich auf die Simulation geistiger Prozesse anderer Menschen stützt, ist ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg vom «Ich» zum «Wir», von der individuellen zur kollektiven Intentionalität. Doch reicht das? Empathie kann uns sicherlich helfen, unsere geistigen Zustände abzugleichen, sodass wir «gleich denken» oder «mit einem Verstand denken», doch hier geht es um mehr – um den Versuch, aus individueller Intentionalität eine kollektive Intentionalität zu konstruieren. Das scheint uns dazu zu zwingen, endlos Annahme auf Annahme zu häufen. Ich beginne mit meinen Annahmen. Dann wird es notwendig, dass ich Annahmen über Ihre Annahmen bilde. Sie beginnen mit Ihren Annahmen. Anschließend bilden Sie Annahmen über meine Annahmen. Um weiter zu kommen, muss ich nun Annahmen über die Annahmen bilden, die Sie über meine Annahmen anstellen, und so fort, bis zum Erbrechen. Das erinnert ein bisschen an die komischen Episoden, die auf Bluff und Gegenbluff beruhen: «Aber er weiß doch nicht, dass ich weiß, dass er weiß, dass ich weiß ...» Das bezeichnet man manchmal als Intentionalität höherer Ordnung, doch in seiner Theorie der gesellschaftlichen Institutionen verwirft Searle die Idee, dass sich kollektive Intentionalität auf individuelle Intentionalität plus Überzeugungen über andere Überzeugungen zurückführen lasse. Er glaubt, die kollektive Intentionalität habe biologische Wurzeln und sei ein Merkmal höherer Arten, unter anderem auch des Menschen. Die Existenz der Spiegelneuronen könnte als Beweis für eine solche biologisch verankerte Fähigkeit gelten, doch wenn Spiegelneuronen nicht mehr leisten, als uns Einblick in die geistigen Prozesse anderer Menschen zu geben, genügen sie Searles These nicht. Nach Searle sind intentionale Zustände, die das «Wir» betreffen, genauso ein Merkmal unseres Geistes wie intentionale Zustände, die das «Ich» betreffen. Wir sind soziale Tiere. Der Umstand, dass der In-
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halt meiner geistigen Prozesse ausschließlich der meine ist, bedeutet nicht unbedingt, dass er immer nur mich allein betreffen kann. Ich kann intentionale Zustände haben, in denen es um uns geht – «WirIntentionen», die uns, die wir etwas tun, betreffen –, und «Ich-Intentionen», die mich, der ich etwas tue, betreffen. Searle erwähnt die Rudeljagd von Hyänen als eines von vielen Beispielen für kooperatives Verhalten, das aus biologisch verankerter kollektiver Intentionalität erwächst.4 Das Rudel bringt ein Beutetier zur Strecke, das eine Hyäne allein kaum hätte reißen können. Jede Hyäne weiß, was sie als Teil eines Teams zu leisten hat, das auf eine kollektive Intention fokussiert ist, und diese Intentionalität ist ein Instinkt: Eine Hyäne hält nicht inne, um erst einmal über die Ansichten der anderen Hyänen im Rudel nachzusinnen, bevor sie sich der kollektiven Handlung eingliedert und ihre Rolle bei der Jagd übernimmt. Wenn sich kollektive Intentionalität nicht aus individueller Intentionalität plus Annahmen über die Annahmen anderer ableiten lässt und wir die These vermeiden wollen, dass unsere Gedanken und Gefühle in irgendeiner Weise zu einem Kollektivbewusstsein oder «Weltgeist» zusammengeschlossen sind (was vielleicht eine hübsche Idee ist, aber leider auch eine, für die es keinerlei Beweise gibt), dann wirft die These, dass Individuen Wir-Intentionen haben, immer noch die Frage auf, wie wir uns das zu erklären haben. Es gibt mindestens noch zwei weitere wesentliche Elemente. Sie sind eng miteinander verknüpft, doch werde ich sie aus Gründen 4 Es gibt einen Unterschied zwischen
der kooperativen Jagd relativ wenige
der Rudeljagd und der kooperativen
Tiere beteiligt sind, wobei in der Regel
Jagd. Die Rudeljagd setzt voraus,
nur eines die Beute reißt. Hyänen jagen
dass mehrere Mitglieder des Rudels im
zwar gelegentlich im Rudel, doch Wölfe
Team zusammenarbeiten, um die Beute
hätten vielleicht ein besseres Beispiel
zur Strecke zu bringen, während an
abgegeben.
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
der Klarheit gesondert behandeln. Das erste: Obwohl kollektive Intentionalität als biologisch verankert gilt, erwächst die Art und Weise, wie sie entwickelt und verwendet wird, ausschließlich aus Lernen und Erfahrung. Das zweite Element: Die geistigen Prozesse vieler Menschen verbinden sich innerhalb eines sozialen Netzwerks kollektiver Intentionen, das durch Kommunikation entsteht. Es scheint klar zu sein, dass Empathie und die Entwicklung einer Fähigkeit für kollektive Intentionalität schon in frühen Entwicklungsstadien ausgebildet und trainiert werden müssen. Die Jungen von Polarwölfen wissen nichts über die Feinheiten der Rudeljagd und verderben die Jagd häufig dadurch, dass sie direkt auf die Beute losstürzen. In ihrem ersten Sommer, im Alter von ungefähr acht Wochen, schließen sie sich der Jagd an und lernen die Grundtechniken, bis sie schließlich, alt genug geworden, ihren Platz im Rudel einnehmen können. Der Wunsch, «Wir»-Intentionen zu haben, mag in dem Welpen genetisch angelegt sein, doch die genaue Form dieser Intentionen muss erlernt werden, damit der Welpe einen angemessenen Platz in der Sozialordnung des Rudels finden kann. Ähnlich verhält es sich bei Kleinkindern, die, wie alle Eltern wissen, gerne glauben, sie wären der Mittelpunkt eines Universums, das zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse eingerichtet sei. Kinder beginnen ihr Leben instinktgesteuert als Prä-Kopernikaner. Ihre Welt ist überwiegend «ich, mir, mich». Das ist zweifellos ein Überlebensinstinkt in einem ansonsten vollkommen hilflosen Geschöpf. Mit etwa zwei Jahren ist diese Selbstbezogenheit praktisch grenzenlos. Das ist die Zeit der Wutanfälle und der ungeheuren Frustration, wenn die Kinder allmählich lernen, sich mit der Tatsache abzufinden, dass sie nicht alles haben können, was sie sich wünschen. Der Gedanke liegt nahe, dass der Kopf eines Kleinkinds fast vollständig mit «Ich»-intentionalen Zuständen angefüllt ist. Alles, was das Kind interessiert, ist die Frage, in welcher Beziehung alle diese in der Außenwelt befind-
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Kapitel drei – Ich, mir, … wir
liehen Objekte zu ihm, seinen Bedürfnissen und seinen Wünschen stehen. Der einflussreiche Schweizer Psychologe Jean Piaget gelangte zu dem Schluss, dass Kleinkinder unfähig zur Empathie sind, da ihnen die Fähigkeit fehlt, sich eine Situation aus einer Perspektive vorzustellen, die ganz anders als die ihre ist.5 Trotzdem scheint Empathie, wenn auch vielleicht von sehr primitiver Art, jedem Kleinkind angeboren zu sein. Unter Umständen kommt diese Empathie nur in den Reaktionen zum Ausdruck, die das Kind auf die erkennbare Freude oder Verstimmung seiner Bezugspersonen zeigt. Diese Fähigkeit entwickelt sich in dem Maße, wie sich das Kind seiner selbst und der Gesellschaft bewusst wird und wie Bezugspersonen das Kind lehren, sich schuldig zu fühlen, wenn es anderen Schmerz oder Leid zufügt, und solche Schuldgefühle zu vermeiden, indem es sich die Gefühle anderer Menschen bewusstmacht. Empathie ist nicht dasselbe wie kollektive Intentionalität, könnte aber ihre notwendige Vorbedingung sein. Anzumerken ist, dass diese geistigen Zustände nicht vorab in Worte gefasst werden müssen, da Intentionalität der Sprache vorausgeht. Ein Kind orientiert sich an den Eltern (besonders der Mutter), um Empathie und jene exakte Form kollektiver Intentionalität zu erwerben, die ihm fehlt. Wenn dem Kind geeignete Entwicklungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, lernt es im Laufe der Zeit, die Gefühle, Bedürfnisse, Wünsche und Ansichten anderer zu berück5 Das ist Piagets «Drei-Berge-Experi-
Nichtvorhandensein von Empathie.
ment». Man zeigt einem Kind das Bild
Später hat man gezeigt, dass diese
einer Bergkette und fordert es auf, den
Experimente Mängel haben. Wenn man
Anblick aus der Perspektive einer Puppe
Kleinkinder veranlasst, auf verschiedene
zu beschreiben, die auf der anderen Sei-
hypothetische soziale Situationen statt
te sitzt. Piaget wertete die Unfähigkeit
auf räumliche Verhältnisse zu reagieren,
des Kindes, sich in die Lage der Puppe
zeigen sich durchaus Anhaltspunkte für
zu versetzen, als Beweis für das
Empathie bei Kleinkindern.
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
sichtigen, bildet die richtige Form kollektiver intentionaler Zustände aus und findet als vollständig entwickeltes Individuum Eingang in die Gesellschaft.6 Diesen Übergang bringt die Figur Phoebe Buffay in einer Folge der amerikanischen Sitcom Friends auf eine knappe, anschauliche Formel7:
Ich mag die zweite Klasse. Sie ist besser als die erste, wo man noch nicht weiß, was los ist, und viel besser als die dritte mit ihren Intrigen und psychologischen Spielchen. In der dritten Klasse haben Kinder (wenn wir die Autoren von Friends beim Wort nehmen dürfen) genügend Alltagspsychologie gelernt, ihre unterbewussten Simulationstechniken hinreichend vervollkommnet und ihre Fähigkeit zu kollektiver Intentionalität ausreichend entwickelt, um an der geistigen Welt ihrer Gesellschaft vollständig teilnehmen zu können. Dabei wollen wir nicht zu sehr auf dem genauen Zeitpunkt herumreiten, sondern lediglich festhalten, dass diese Entwicklung stattfindet. Augenscheinlich kann ein Kind etwas über die gesellschaftliche Wirklichkeit lernen, indem es die Dinge, die dort stattfinden, passiv beobachtet. Erheblich mehr Einsicht erwirbt es jedoch, wenn es mit dieser Wirklichkeit konkret interagiert. Kleinkinder lernen, indem sie beispielsweise Gegenstände ergreifen und in den Mund stecken. Oder sie lassen Gegenstände fallen, um zu sehen, ob sie kaputtgehen oder hochspringen (und was ihre Eltern auf die Palme bringt). Doch 6 Die Natur – hier verstanden als das, was das Kind in Gestalt seiner genetisehen Anlagen mit auf die Welt bringt – darf jedoch nicht vernachlässigt werden. Es gibt die Hypothese, dass eine funktionale Beeinträchtigung der
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Spiegelneuronen für die soziale Isolation des Autismus verantwortlich sein könnte. 7 Friends, Staffel 8, Folge 6: die mit der Halloween-Party.
Kapitel drei – Ich, mir, … wir
wenn das Kind anfängt zu sprechen, werden die Möglichkeiten, durch Kommunikation zu lernen, praktisch unbegrenzt. Dann durchlaufen Kinder ein Stadium, in dem sie scheinbar endlos Fragen über die Welt um sie her stellen. Der menschliche Kommunikationsinstinkt ist wahrhaft bemerkenswert und geht der gesprochenen oder geschriebenen Sprache voraus. Kommunikation ist auch ohne Sprache möglich. Im letzten Kapitel seines Buches Das Leben auf unserer Erde schildert David Attenborough eine Begegnung zwischen einer Forschergruppe, die sich auf einer Expedition in ein unerforschtes Gebiet Neuguineas befindet, und Angehörigen eines bis dahin unbekannten, dort ansässigen Stammes. Attenborough:
Doch als wir eines Morgens aufwachten, standen sieben Männer wenige Meter von unserem Zelt entfernt im Busch ... Die Leute vom Fluss sprachen mit ihnen, aber die Biami verstanden nichts ... Wir mussten uns ausschließlich auf diejenigen Gesten verlassen, die ihnen und uns vertraut waren, und es stellte sich heraus, dass es viele waren. Allein durch Gesten, besonders ihr Mienenspiel, gelang es den beiden Gruppen, Willkommen und Freude zu übermitteln, und sie begannen sogar, Handel zu treiben. Sozialer Instinkt und Kommunikationsbedürfnis sind tief in der menschlichen Psyche verwurzelt. Denken Sie an Chuck Noland, den Troubleshooter des Unternehmens Federal Express in Robert Zemeckis Film Cast Away. In dem Versuch, bei Verstand zu bleiben, obwohl es ihn auf eine einsame Insel verschlagen hat, erschafft er sich selbst einen Freund, indem er ein Gesicht auf einen Volleyball malt und es Wilson nennt. Er spricht mit ihm und erzählt auf einer Höhlenwand seine Geschichte in Bildern, ganz so, wie es seine prähistorischen Vorfahren taten.
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
Mit Lernen, Erfahrung und der Entwicklung von Sprache und Kommunikation entwickelt sich, was Searle Hintergrund nennt. Das ist eine außerordentlich breite und vielfältige Folie, vor der wir mit der Wirklichkeit interagieren. Der Hintergrund umfasst alles, was wir durch Erfahrung lernen und was wir – gesellschaftlich und materiell – im täglichen Leben als gegeben hinnehmen. Hier finden wir Regelmäßigkeit und Kontinuität – die Erwartung, dass die Sonne morgen aufgehen wird, dass sich die Dinge noch dort befinden, wo wir sie hingelegt haben, dass Autos nicht aus eigenem Antrieb gegen Bäume fahren, dass Menschen, die heute Freunde sind, es morgen auch noch sein werden, dass diese Zwanzig-Dollar-Note zwanzig Dollar wert ist und dass die nächste Seite, die Sie aufschlagen, ebenfalls mit einem hochinteressanten Text und nicht mit Bildern oder Würstchen bedeckt ist. Gewöhnlich machen wir uns nicht die Mühe, über den Inhalt des Hintergrundes nachzudenken. Unsere Annahmen über ihn gehen dem Denken voraus (und werden daher prä-intentional genannt). Ohne den Hintergrund wären wir nicht in der Lage, die Welt zu verstehen. Unser Humor lebt großenteils davon, dass wir Regeln, die (sprachlich oder materiell) aus dem Hintergrund abgeleitet sind und über die wir schon lange nicht mehr nachdenken, entweder einer wörtlichen Interpretation oder einem unangemessenen Kontext aussetzen. Etwas, worauf sich der amerikanische Karikaturist Gary Larson unübertrefflich versteht. Im Hintergrund sammelt sich auch unsere menschliche Kultur: Sprache und Sprechen, Traditionen, Gewohnheiten, Geschichte, Moral, Verhaltensmaßstäbe, Humor, Politik und noch vieles mehr. Wenn Sie bislang gedacht haben, der Hintergrund sei eine einzige geschlossene Folie, vor der wir unsere Angelegenheiten regeln, dann bedenken Sie, wie außerordentlich vielfältig die menschlichen Kulturen sind.
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Kapitel drei – Ich, mir, … wir
Wo also existiert der Hintergrund? Er existiert nur in unseren Köpfen. Wenn Kinder lernen, konstruieren sie den Hintergrund Stück für Stück in ihrer Vorstellung und entwickeln eine Reihe von Fähigkeiten, mit deren Hilfe sie sich in ihrem Leben zurechtfinden können. Es gab eine Zeit in meiner Kindheit, als ich die Regeln und Besonderheiten der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch nicht kannte. Einige habe ich rasch gelernt, für andere brauchte ich etwas mehr Zeit. Wieder andere lerne ich noch immer. Welche Mechanismen unser Gehirn benutzt, um zu lernen und Erinnerungen anzulegen, hat der kanadische Psychologe Donald Hebb 1959 herausgefunden: Dazu werden bestimmte Verbindungen zwischen Neuronen verstärkt, sodass deutlich ausgebildete Bahnen in den neuronalen Netzen des Gehirns entstehen. Unsere langjährige Wirklichkeitserfahrung schlägt sich nieder in der Bildung von neuronalen Schnellstraßen, die unserem Gehirn und damit unserem Geist ihre individuelle Besonderheit verleihen. Die Wirklichkeit prägt sich unserem Geist in Kindheit und Erwachsensein ein wie Ausstechförmchen einem weichen Teig. So betrachtet, wird gesellschaftliche Wirklichkeit möglich durch die Ähnlichkeit dieser Eindrücke, die sich aus einer großen Menge gemeinsamer Erfahrungen ergeben, durch die Fähigkeit, die geistigen Zustände anderer zu simulieren, wenn wir mit ihnen interagieren, durch einen gemeinsamen Wissensbestand und durch kollektiv zugängliche Kommunikationsformen. Die Hintergründe, die individuell in unseren Köpfen existieren, sind sich häufig ähnlich und schaffen auf diese Weise die Voraussetzung für Interaktion. Ähnlich, aber nicht gleich. In meinem Geist befindet sich die soziale Wirklichkeit, mit der zu interagieren ich gelernt habe. Sie haben keinen Zugang zu dieser Wirklichkeit, weil Sie keinen Zugang zu meinem Geist haben. In Ihrem Geist ist die soziale Wirklichkeit, mit der zu interagieren Sie gelernt haben. Ich habe keinen Zugang zu dieser Wirklichkeit, weil ich keinen Zugang zu Ihrem Geist habe.
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
Meine Wirklichkeit ist nicht Ihre Wirklichkeit. Doch diese individuellen Wirklichkeiten besitzen viele gemeinsame Merkmale, etwa die Auffassung, dass eine Dollarnote Geld ist. Durch die außerordentliche Komplexität alltäglicher gesellschaftlicher Interaktion – mittels Körpersprache, Gesten, gesprochener und geschriebener Sprache, der Verwendung von Spiegelneuronen und einer Kombination von individuellen «Ich»-intentionalen und «Wir»-intentionalen Zuständen – nehmen wir diese gesonderten Wirklichkeiten als eine einzige wahr. Geld existiert also, wie alle anderen Elemente der gesellschaftlichen Wirklichkeit, nur so lange, wie wir kollektiv glauben, dass es existiert. Die Stücke hübsch bedruckten Papiers in meiner Brieftasche und die Aufstellung der Zahlen, die auf meinen monatlichen Bank- und Kreditkartenauszügen erscheinen, repräsentieren nur dann Geld, wenn alle sich einig sind, dass es sich um Geld handelt. Wenn keiner mehr daran glaubt, dass es Geld ist, stecke ich in großen Schwierigkeiten (obwohl es sehr angenehm wäre, wenn Sie alle selektiv dem Glauben an die Zahlen abschwören würden, die auf meinen Kreditkartenauszügen erscheinen). Das ist eine bemerkenswerte Schlussfolgerung für ein Phänomen, das einen so weitreichenden und häufig unerfreulichen Einfluss auf die meisten Aspekte des modernen Lebens hat.8 Dieser Glaube hat keinen Alles-oder-nichts-Charakter. Zwar wird man nur selten Mitgliedern unserer Gesellschaft begegnen, die nicht an Geld glauben, doch ist es durchaus möglich, welche zu finden, die 8 Das erinnert mich an einen Abschnitt
wurden viele Vorschläge gemacht, aber
ganz am Anfang von Douglas Adams*
sie drehten sich meistens um das Hin
Buch Per Anhalter durch die Galaxis:
und Her kleiner bedruckter Papierschein-
«Dieser Planet hat – oder besser
chen, und das ist einfach drollig, weil
gesagt, hatte – ein Problem: die meisten
es im Großen und Ganzen ja nicht die
seiner Bewohner waren fast immer
kleinen bedruckten Papierscheinchen
unglücklich. Zur Lösung dieses Problems
waren, die sich unglücklich fühlten.»
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Kapitel drei – Ich, mir, … wir
nicht an andere gesellschaftliche Institutionen wie die Ehe, das herrschende politische System oder den Krieg glauben. Der Umstand, dass abweichende Meinungen möglich sind, heißt, dass nicht alle Mitglieder einer Gesellschaft unbedingt alle ihre Einrichtungen gutheißen und akzeptieren müssen. Sogar die Fürsprecher einer Institution (etwa die Mitglieder einer politischen Partei) akzeptieren unter Umständen nicht alles, wofür die Institution steht. Zu den Beispielen aus der westlichen Welt gehören Ehe und organisierte Religion, die heute für die Gesellschaft nicht mehr die gleiche Bedeutung haben wie vielleicht noch vor fünfzig Jahren.9 Die vollständige Aufgabe eines Systems von Institutionen und seine Ersetzung durch ein anderes erfolgt häufig im Zusammenhang mit politischen Revolutionen. Gesellschaften bestehen aus Individuen mit «Wir»-intentionalen geistigen Zuständen. Doch die «Ich»-intentionalen Zustände sind deshalb nicht verschwunden. Jeder von uns stellt ein individuelles Gleichgewicht zwischen diesen Zuständen her, das heißt zwischen kooperativem Verhalten und Eigeninteresse. Einige Menschen sind, wie wir alle wissen, grundsätzlich kooperativer und «sozialer gesinnt» als andere. Sogar die Schaffung rationaler Motive für bestimmte Arten kooperativen Verhaltens in der Gesellschaft bedeuten nicht unbedingt, dass daraus auch automatisch kooperatives Verhalten resultiert. Das zeigt sehr anschaulich eine frühe und ziemlich berühmte Entdeckung der Spieltheorie durch die RAND10-Wissenschaftler Merrill Flood und Melvin Drescher. Stellen wir uns vor, Sie und ich rauben eine Bank aus. Wir haben uns mit den zehn Millionen Dollar schon fast aus dem Staub gemacht, doch statt nach Barbados zu entkommen, werden wir von 9 Einige Paare in Frankreich haben die
10 Eine gemeinnützige Organisation, die
Ehe beispielsweise durch den Pacte
Ende 1945 in den Vereinigten Staaten
Civile de Solidarite (PaCS) ersetzt, eine
gegründet wurde, um eine enge Bezie-
legale Alternative zur Ehe, die auch für
hung zwischen Spitzenforschung und
gleichgeschlechtliche Paare gilt.
Militär zu gewährleisten.
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
der Polizei unter dem Verdacht festgenommen, das Verbrechen begangen zu haben, und in getrennte Zellen gesteckt. Jedem von uns wird ein Deal vorgeschlagen. Wenn wir beide gesondert gestehen, erhalten wir beide eine Haftstrafe von sieben Jahren (es war bewaffneter Raub). Wenn ich gestehe und Sie den Mund halten, bekommen Sie zehn Jahre, und ich werde auf freien Fuß gesetzt. Wenn wir beide den Mund halten, erhalten wir beide höchstens ein Jahr für eine geringere Straftat. Das ist das Gefangenendilemma. Was tun Sie? Die vernünftigste Entscheidung wäre für uns, zu kooperieren und den Mund zu halten. Doch es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass Sie gestehen. Selbst wenn wir vorher Kenntnis von dem Deal gehabt hätten und uns darauf geeinigt hätten, zu kooperieren und den Mund zu halten, bevor wir in getrennte Zellen verbracht wurden, werden Sie sich vermutlich an Ihrem Hintergrundwissen über fundamentale menschliche Motivation orientieren und sich zu einem Geständnis entschließen. Wenn Sie mit Sicherheit wissen, dass ich schweige, haben Sie durch ein Geständnis die Möglichkeit, frei auszugehen. Wenn Sie nicht genau wissen ob ich den Mund halten werde, und glauben, Ihr Versprechen, den Mund zu halten, könnte mich in Versuchung führen, das Verbrechen zu gestehen, ist es besser, wenn Sie ebenfalls gestehen, weil Sie ansonsten zehn Jahre bekommen. In jedem Fall gestehen Sie also. In diesem Beispiel sind die Folgen für die Gesellschaft im Großen vermutlich minimal, doch das Dilemma gilt genauso für Staaten, die Abrüstungsgespräche führen. Das Gefangenendilemma spielte eine große Rolle in der Kernwaffenpolitik des Kalten Krieges, wo das Äquivalent eines Geständnisses der Befehl für einen nuklearen Erstschlag war. Die einzige Sicherheit gegen einen solchen Erstschlag war die Mutual Assured Destruction (MAD oder «wechselseitig gesicherte Zerstörung»). Glückliche Zeiten.
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Kapitel drei – Ich, mir, … wir
Unsere Schlussfolgerung, dass gesellschaftliche Institutionen wie Geld nur so lange fortbestehen, wie wir kollektiv an ihre Existenz glauben, sieht nach einer Zirkeldefinition aus. Wenn wir zwischen dem Geld als Begriff (oder als Typ) und den verschiedenen Formen unterscheiden, die das Geld annehmen kann (verschiedene Fälle oder Spielarten des Typs), so scheint unser Schluss zu lauten: Unser Glaube
an Geld als Typ eines Objekts gründet sich auf die einfache Tatsache, dass dieser Typ eines Objekts Geld ist. Wir müssen hier unbedingt zwischen Typen und Spielarten unterscheiden, da sich viele Beispiele denken lassen, in denen die Spielarten nie als Geld benutzt werden (stellen Sie sich eine Dollarnote vor, die in einen durchsichtigen, schweren Kunststoff gegossen und als Briefbeschwerer benutzt wird). Es gibt auch Fälle, wo wir fälschlicherweise glauben, es mit Geld zu tun zu haben (einer gefälschten Dollarnote zum Beispiel). In dem Versuch, die Zirkularität zu vermeiden, können wir die Definitionen von Geld als Typ erweitern, indem wir Aspekte wie Kaufen, Verkaufen und Wertakkumulation einbeziehen. Doch damit haben wir nur das Netz der gesellschaftlichen Begriffe ausgeweitet, mit deren Hilfe wir Geld definieren. Wir kommen an der Tatsache nicht vorbei, dass Geld als Typ selbstbezüglich ist und zu einem komplizierten Netzwerk von ähnlich selbstbezüglichen und wechselseitig abhängigen Begriffen beiträgt, die Elemente des Hintergrundes unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit sind. In seinem Buch Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit liefert Searle ein recht anschauliches Beispiel:
Wenn wir zum Beispiel eine große Cocktailparty geben und jedermann in Paris einladen und wenn uns die Dinge aus der Hand gleiten und sich herausstellt, dass die Rate der Todesopfer größer ist als in der Schlacht von Austerlitz – dann ist es trotzdem kein Krieg; es ist nur eine erstaunliche Cocktailparty. Teil einer Cock-
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Teil eins - Soziale Wirklichkeit oder Ist Geld wirklich?
tailparty ist die Überzeugung, dass es eine Cocktailparty ist; Teil eines Krieges ist der Glaube, dass es ein Krieg ist. M. C. Eschers Lithographie Tekenen oder Zeichnende Hände aus dem Jahr 1948 kann als visuelle Analogie dienen. Auf der linken Seite der Zeichnung sieht man eine rechte Hand die Manschette eines Hemds skizzieren. Aus dieser Manschette ragt eine linke Hand hervor. Die Zeichnung der Manschette ist nicht vollständig, aber die linke Hand ist detailliert genug, um sich von der Ebene des Papiers abzuheben. Sie skizziert die Manschette für die rechte Hand. Auch diese Manschette ist unvollständig. Eschers Zeichnung gibt das Wesen der Selbstbezüglichkeit wieder. Die linke Hand existiert, weil die rechte sie skizzierte. Die rechte Hand existiert, weil die linke sie skizzierte. Die Wirklichkeit jeder Hand hängt von der der anderen ab. Nach der Verwirrung der Hyperrealität haben wir uns um die Grundelemente der gesellschaftlichen Wirklichkeit bemüht – die gesellschaftlichen Institutionen, die zweifellos viel zum Erscheinungsbild unseres Alltags beitragen –, etwa Geld, Ehe, Politik und Krieg. Doch was vorher so real erschien, hat sich jetzt zu einem verschlungenen Netz miteinander verflochtener und einander bedingender Stränge herausgestellt, deren Existenz letztlich von unserem nachhaltigen kollektiven Glauben an sie abhängt und nur in unserem Geist verankert ist. Dies ist eine Wirklichkeit, die es lediglich in meinem Kopf und in ganz ähnlicher Form in Ihrem Kopf gibt. All das scheint doch recht flüchtiger Natur zu sein und kaum das feste Fundament zu liefern, auf dem sich eine vollkommen unabhängige Wirklichkeit errichten ließe. Wir stehen am Rande des Abgrunds. Höchste Zeit, einen Schritt zurückzutreten, bevor wir etwas tun, was wir bedauern würden. Offensichtlich kann die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht die Bedingungen unserer ersten Annahme über die Wirklichkeit erfüllen:
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Kapitel drei – Ich, mir, … wir
Sie hängt nicht von uns ab und ist nicht auf unsere Fähigkeit angewiesen, sie zu erfassen und Theorien über sie zu bilden. Wir kommen noch nicht einmal mit einer abgeschwächten Version dieser Annahme durch, wonach die Wirklichkeit zumindest unabhängig von mir – oder Ihnen – ist, weil wir alle unsere eigene gesellschaftliche Wirklichkeit in unseren Köpfen mit uns herumtragen. Diese Wirklichkeit wird unserem Geist von Kindheit an eingeprägt. Werde ich beseitigt, wird damit auch meine Wirklichkeit vollkommen beseitigt und ist daher kaum als unabhängig von mir anzusehen. Werden Sie beseitigt, wird auch Ihre Wirklichkeit vollkommen beseitigt. Es ließe sich wohl mit einiger Berechtigung sagen, dass ohne einen von uns beiden die Welt noch immer voller Menschen wäre, die ihre eigenen gesellschaftlichen Wirklichkeiten in ihren Köpfen mit sich herumtrügen, und man könnte vermuten, dass zwischen diesen Wirklichkeiten ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten vorläge, sodass es eine Illusion von Einheit gäbe. Doch das berechtigt uns sicherlich nicht dazu, an unserer ersten Annahme, selbst in ihrer abgeschwächten Form, festzuhalten. Wir scheinen keine andere Wahl zu haben, als anzuerkennen, dass die angenommene Unabhängigkeit der Wirklichkeit nicht für die gesellschaftliche Ebene gilt. Unsere Probleme ergeben sich daraus, dass die Gesellschaft ein Konstrukt des menschlichen Geistes ist und daher nicht ohne ihn existieren kann. Doch was unsere ansonsten individuellen, geistigen Leben zusammenschließt und die Gesellschaft möglich macht, ist der Umstand, dass materielle Objekte durch die Art ihrer Verwendung gesellschaftliche Funktionen erfüllen und dass diese Funktionen auf irgendeine Art materieller Verwirklichung, einen konkreten Ausdruck angewiesen sind. Wenn wir uns einig sind, dass dieses hübsch bedruckte Stück Papier Geld ist, dann verlassen wir uns auf materielle Manifestationen der einen oder anderen Art, um zu dieser Einigung zu gelangen, selbst wenn sie keine andere Grundlage als die Übertragung eines Musters von
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Hochgeschwindigkeitselektronen über meinen Breitband-Internetanschluss hat. Nur aus Gedanken kann die Gesellschaft nicht bestehen. Wir brauchen dazu Dinge, die materielle Konsequenzen haben, daher hat die gesellschaftliche Welt ein materielles Substrat. Es ist also an der Zeit, unsere Aufmerksamkeit der Wirklichkeit der materiellen Welt selbst zuzuwenden.
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Teil zwei
Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
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Kapitel vier
Der Gefangene Du wurdest wie alle in die Sklaverei geboren und lebst in einem Gefängnis, das du weder erfassen noch riechen kannst. Ein Gefängnis für deinen Verstand. MORPHEUS, MATRIX
Hier scheinen wir uns auf festerem Grund zu bewegen.1 Berge bleiben Berge, auch wenn niemand zugegen ist, sie zu betrachten. Bäche bleiben Bäche. Häuser bleiben Häuser. Bäume bleiben Bäume. Wenn wir friedvoll vor den statischen Objekten in unserer Umgebung stehen und sie betrachten, liegt der Gedanke nahe, dass sie in gewisser Weise unwandelbar sind. Zweifellos ist eine Aura von Dauer um Berge, Bäche, Bäume und sogar manchmal um einige der älteren Bauwerke in unserer unmittelbaren Umgebung wie etwa ein Oxford-College oder das Weiße Haus. Aber natürlich sind wir nicht so töricht, zu meinen, diese Aura von Dauer bedeute die Abwesenheit von Veränderung. Tatsächlich ist die einzige Sache, deren wir uns in unserer modernen Konsumwelt sicher sein können, der Umstand, dass nichts von Dauer ist, dass sich alles verändert. Veränderung ist ein Schlüsselwort der modernen Gesellschaft geworden. Es gibt Unternehmensberater und Wirtschaftszeitschriften, die sich auf Veränderungsmanagement spezialisiert haben. Jeder von 1 Kein Scherz beabsichtigt.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
uns kann sich bei einer Veränderung der Unternehmensstruktur, des Berufs, des Arbeitsplatzes, der Beziehungen, des Lebenspartners oder der Technologie – Entwicklungen, die sich in immer schnellerem Rhythmus vollziehen – von vielen Seiten Rat holen. James Gleicks Buch Schneller ist eine mit Galgenhumor verfasste Analyse unserer modernen Lebensverhältnisse, die uns zwingen, länger zu arbeiten, länger zu pendeln, länger einzukaufen und zwanzig Prozent weniger zu schlafen als unsere Vorfahren vor hundert Jahren. In unserer modernen Welt steht auf dem Fahrstuhlknopf, der durch ständigen Gebrauch am abgegriffensten ist, «Tür schließen». Die Spezialeffekte des modernen Films können uns eine Vorstellung davon vermitteln, wie es wohl wäre, sich in einer zum Stillstand gekommenen Welt, einer Welt, die sich nicht mehr verändert, frei bewegen zu können. Es gibt in Matrix eine Szene, wo sich Morpheus und Nero zusammen in einer Trainingssimulation befinden. Morpheus warnt Nero vor der Gefahr, die von den Agenten ausgeht, da sie sich als denkende Programme «in jede Software ein- und ausklinken können, die in ihrem System fest verdrahtet ist». Jeder, der in der «Wirklichkeit» der Matrix repräsentiert ist und tatsächlich, ohne es zu wissen, in seinem Tank mit Nährflüssigkeit im Kraftwerk liegt, ist ein potenzieller Agent. Morpheus weist das Trainingsprogramm an, stehenzubleiben. Die Menschen auf der Straße erstarren mitten im Gehen. Wir sehen eine Welt, in der alle Veränderung zum Stillstand gekommen ist. Eine ähnliche Szene gab es in X-Men 2. Das ist auch die Grundidee des Films Clockstoppers aus dem Jahr 2002. Missbrauch der Fähigkeit, die Zeit anzuhalten (und Frauen auszuziehen), ist das Thema des humoristischen Romans Die Fermate von Nicholson Baker. Unfähig, die Zeit wie in diesen Science-Fiction-Phantasien anzuhalten, scheint uns nichts anderes übrig zu bleiben, als uns mit einer Welt ständiger Veränderung abzufinden. Das entspricht in hohem Maße der Auffassung des altgriechischen Philosophen Hera-
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Kapitel vier – Der Gefangene
klit. 535 vor Christus in Ephesos geboren, entwickelte Heraklit eine Weltanschauung, die in gewisser Weise auch heute noch gilt. Einige zeitgenössische Philosophen vertreten die Ansicht, dass jede Entwicklung in der Natur-, Wirtschafts- oder Politikwissenschaft bis zu einem gewissen Grade der Philosophie des Heraklit verpflichtet ist. Doch seine Schriften sind berühmt für ihre Schwerverständlichkeit (und liegen uns nur in Fragmenten vor, in Form von etwas mehr als hundert unabhängigen Sätzen) – so schwer verständlich, dass er von seinen Zeitgenossen und Nachfolgern den Beinamen der «Dunkle» erhielt. Nach seinen Schriften zu urteilen, gebärdete er sich ziemlich anmaßend und selbstsicher und hatte kaum etwas anderes als Verachtung für seine intellektuellen Zeitgenossen übrig. Heraklit behauptete, es gebe eine Wirklichkeitserklärung – den Logos (Wort, Weltgesetz) –, die den Rhythmus der Natur beschreibe und erkläre, wie alle Gegenstände, Substanzen und Prozesse in der Welt zu einer einzigen Struktur zusammengefasst seien. Erst zwingt er uns, diese Erklärung anzuhören, um dann wenig hilfreich einzuräumen, dass Menschen in der Regel nicht fähig sind, sie zu verstehen:
Für dies Wort [Weltgesetz] aber, ob es gleich ewig ist, gewinnen die Menschen kein Verständnis, weder ehe sie es vernommen noch sobald sie es vernommen. Alles geschieht nach diesem Wort, und doch gebärden sie sich wie Unerprobte, sooft sie es probieren mit solchen Worten und Werken, wie ich sie künde, ein jegliches nach seiner Natur zerlegend und deutend, wie sich’s damit verhält. Die anderen Menschen wissen freilich nicht, was sie im Wachen tun, wie sie ja auch vergessen, was sie im Schlafe [tun]. Er verkündete eine Philosophie der Gegensätze und des ewigen Wandels. Wenn er auch gelegentlich den Zusammenprall der Gegensätze
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
als die Freisetzung produktiver Kräfte interpretiert, besteht doch kein Zweifel daran, dass für ihn alles durch die Spannung zwischen den Gegensätzen zusammengehalten wird. Die Welt ist eine Einheit von Gegensätzen (denken Sie an Tag und Nacht, Krieg und Frieden, positiv und negativ, gut und böse, Neo und Agent Smith). Möglicherweise infolge dieser Spannung zwischen Gegensätzen ist alles in der Welt ständigem Wandel unterworfen: «Alles fließt.» Berühmt ist auch ein anderer Ausspruch, der Heraklit zugeschrieben wird: «Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen», was heißen soll, dass zu dem Zeitpunkt, da wir zum zweiten Mal hineinsteigen, nicht nur das Wasser weiter geflossen und ersetzt worden ist, sondern dass auch wir selbst uns verändert haben. Wenn wir die blumige Sprache beiseitelassen, gibt es eine Menge in Heraklits Philosophie, was mit unserem heutigen Wissen in Einklang zu stehen scheint. Wir brauchen lediglich die Ergebnisse unserer Wahrnehmung zugrunde zu legen, um zu sehen, dass die Welt um uns her sich in einem Zustand ständiger Veränderung befindet. Niemand wird jünger. Die Dinge sind nicht mehr, was sie mal waren. Und hier stoßen wir auf eines der ältesten Rätsel der Philosophie: In welchem Maße dürfen wir unseren Sinnen trauen, dürfen wir uns darauf verlassen, dass sie uns ein verlässliches Bild der Welt um uns herum liefern? Heraklit ließ in diesem Punkt keinen Zweifel aufkommen: Wir können unseren Sinnen trauen, und unsere Sinne sagen uns, dass alles im Fluss ist. Doch nicht alle dachten so. Parmenides wurde als Spross einer wohlhabenden und angesehenen Familie um 510 vor Christus im süditalienischen Elea geboren. Heraklit und Parmenides waren der lebende Beweis für Heraklits Konzept einer Welteinheit, die aus der Spannung zwischen diametralen Gegensätzen erwächst, denn Parmenides behauptete, dass Heraklit vollkommen falschliege. Nach Parmenides leben wir nicht in einer
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Kapitel vier – Der Gefangene
Welt permanenten Wandels. Ganz im Gegenteil, nichts ändert sich jemals. Unser Eindruck von Veränderung in der Welt um uns herum ist eine Illusion, die unserem Geist durch unsere Wahrnehmung eingegeben wird. Woher kommt diese Vorstellung? Sie stammt aus der Vernunft.2 Und so entbrannte ein philosophisch-wissenschaftlicher Streit zwischen Vernunft und Erfahrung, der bis auf den heutigen Tag anhält und sicher auch in Zukunft fortbestehen wird. Laut Parmenides ist alles ewig und unwandelbar. Alles existiert von jeher und wird in Ewigkeit existieren. Wir nehmen eine veränderliche Welt wahr, weil unsere Sinne uns hinters Licht führen. Dieser Gedankengang wird womöglich am besten durch eine Reihe von Paradoxa illustriert, die der Philosoph Zenon, ein Schüler des Parmenides, ersann.3 Das berühmteste Paradoxon betrifft den Wettlauf zwischen dem griechischen Heros Achill und einer Schildkröte. Bekanntlich hat Achill einen ausgeprägten Sinn für Ehre und Fairness, daher gesteht er der Schildkröte einen Vorsprung zu, ohne deshalb an seinem Sieg zu zweifeln.4 Achill wartet also, bis die Schildkröte einen bestimmten Punkt erreicht hat – sagen wir, die Hälfte der Strecke –, bevor er selbst startet. Zu dem Zeitpunkt, da Achill diesen Punkt auf halber Strecke erreicht hat, hat die Schildkröte eine bestimmte zusätzliche Distanz zurückgelegt. Wenn Achill diese zusätzliche Distanz hinter sich gebracht hat, hat sich die Schildkröte inzwischen wieder weiter bewegt. Nachdem Achill auch an diesen Punkt gelangt ist, ist die Schildkröte abermals vorgerückt. Es hat den 2 Die Auffassung, die Vernunft sei der
von Platon und Aristoteles. Es ist nicht
einzige sichere Weg zum Wissen, wird
ganz klar, ob Zenon diese Paradoxa
gelegentlich auch als Rationalismus
ernst gemeint hat.
bezeichnet. 3 Keine von Zenons Originalschriften hat
4 Wenn es Ihrem Vorstellungsvermögen auf die Sprünge hilft, dann denken Sie
überlebt, daher kennen wir die Para-
an Brad Pitt in dem Film Troja aus dem
doxa, die wir Zenon zuschreiben, nur aus
Jahr 2004.
den Schriften von anderen, vor allem
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Anschein, als könnten wir diesen Gedanken endlos fortsetzen. Jedes Mal, wenn Achill dort ankommt, wo die Schildkröte war, ist diese schon wieder weiter gekrochen. Achill scheint die Schildkröte nie einholen zu können. Hören wir ein weiteres Paradox. Sie schießen einen Pfeil auf ein fernes Ziel ab. Der Pfeil fliegt durch die Luft, beschreibt einen flachen Bogen und trifft ins Schwarze.5 Was ist mit der Bewegung des Pfeils, während er fliegt? Nehmen wir an, ich nehme mit einer geeigneten Hochgeschwindigkeitskamera ein gestochen scharfes Foto von dem Pfeil auf. Was würde das Bild zeigen? Es würde den Pfeil mitten im Flug festhalten, in einem Augenblick der Zeit erstarrt, ganz so wie die beschriebenen Szenen in Matrix, X-Men 2 und Clockstoppers. Beim Betrachten dieses Fotos müssen wir zugeben, dass der Pfeil einen Raum einnimmt, der seiner Form und Größe entspricht, und dass er sich nicht zu bewegen scheint. Sind wir enttäuscht? Nein. Unser gesunder Menschenverstand sagt uns, dass wir den Pfeil, falls wir die Zeit an jedem Punkt seiner Bahn anhalten könnten, mitten im Flug erstarrt sehen würden. Wenn wir annehmen, was äußerst vernünftig erscheint, dass der Augenblick, den wir auf dem Foto festgehalten haben, während des Flugs des Pfeils für alle solche Augenblicke in der Zeit repräsentativ ist, dann sind wir offenbar zu der Schlussfolgerung gezwungen, dass sich der Pfeil nie bewegt. Zenon wollte mit seinen Paradoxa unsere fest verwurzelten Meinungen und Vorurteile über die alltägliche Welt unserer Wahrnehmung erschüttern. Natürlich ist uns völlig klar, dass Achill die Schildkröte überholen und dass der Pfeil sein Ziel erreichen wird. Aber die bloße Tatsache, dass wir zögern – und wenn auch nur einen Moment lang – um die Frage zu beantworten, wie solche Bewegung (und damit Veränderung) zustande kommt, lässt darauf schließen, dass wir die Herausforderung des Parmenides ernst nehmen sollten. 5 Glückwunsch!
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Kapitel vier – Der Gefangene
Ich denke, wir sollten diese Paradoxa nicht verlassen, ohne zu erörtern, welche Versuche zu ihrer Lösung unternommen wurden. Interessanterweise sind die allgemein anerkannten Lösungen auf mathematische Verfahren angewiesen, die noch mindestens 1500 Jahre auf sich warten ließen, was Zenons Rätsel mit zu den ältesten und hartnäckigsten in der menschlichen Geschichte machte. Lassen Sie uns aus Gründen der Einfachheit annehmen, dass die Schildkröte zu dem Zeitpunkt, da Achill mit dem Rennen beginnt, bereits die Hälfte der Strecke zurückgelegt hat (es spielt keine Rolle, was für Längenmaße wir wählen), dass sie zu dem Zeitpunkt, da Achill seinerseits die erste Hälfte der Strecke hinter sich hat, ein weiteres Viertel der Strecke, also jetzt insgesamt drei Viertel, hinter sich gebracht hat. Hat Achill drei Viertel zurückgelegt, ist die Schildkröte um ein weiteres Achtel der Strecke vorgerückt, sodass sie jetzt insgesamt sieben Achtel bewältigt hat. Was wir hier beschreiben, ist eine mathematische Reihe mit einer unendlichen Zahl von Schritten oder Termen, beginnend mit 1/2 plus 1/4 und so fort, bis wir zu Termen gelangen, die unendlich klein sind. Eine Eigenschaft solcher Reihen liegt darin, dass sie nicht «offen» sind, das heißt, sie summieren sich zu oder gehen gegen eine einzige Zahl, in diesem Fall die Zahl Eins. Es ist nicht unmittelbar einsichtig, dass eine Reihe mit unendlich vielen Termen gegen eine endliche Zahl gehen soll, aber es ist der Fall. Da der Lauf des Achill rascher gegen den gleichen Punkt geht wie der der Schildkröte, gelangen wir zu dem Schluss, dass Achill die Schildkröte überholen und das Rennen gewinnen wird. Entsprechend teilt uns das Foto des Pfeils nicht alles darüber mit, was in diesem Augenblick mit dem Pfeil geschieht. Das Foto sagt uns nicht, wo der Pfeil einen Augenblick vorher war oder wo er sich im nächsten Augenblick befinden wird – es liefert uns keinerlei Informationen über die Geschwindigkeit des Pfeils in der Luft. Wenn wir annehmen, dass der Pfeil sich überall auf seiner Bahn mit gleichblei-
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
bender Geschwindigkeit vorwärts bewegt, ist die Geschwindigkeit zu jedem beliebigen Augenblick ebendiese konstante Geschwindigkeit. Falls wir exakter sein und bestimmen wollen, wie die tatsächliche Geschwindigkeit des Pfeils in jedem gegebenen Augenblick seiner tatsächlichen Bahn ist, müssen wir die mathematischen Werkzeuge der Infinitesimalrechnung bemühen, die ihrerseits auf den Konvergenzeigenschaften unendlicher Reihen mit infinitesimalen Teilungen von Zeit und Raum beruhen. In jedem gegebenen Augenblick ist der Pfeil in Ruhe. Das heißt jedoch nicht, dass er sich nicht während einer Folge solcher Augenblicke bewegt. In jedem gegebenen Augenblick gibt es einen Unterschied zwischen einem Objekt in Ruhe und einem Objekt in Bewegung. Lassen Sie sich durch die obigen Lösungen nicht zu der Annahme verführen, wir könnten aus der Herausforderung des Parmenides und den Paradoxa des Zenon nichts mehr lernen, besonders wenn es um unser Verständnis von Zeit und Raum geht. Diese Lösungen beruhen auf der Annahme, dass Raum und Zeit ein Kontinuum bilden, einen unendlich teilbaren Hintergrund, vor dem wir zu dem Urteil gelangen, dass sich Dinge bewegen. Wenn Sie der Meinung sind, diese Anwendung der Mathematik des Unendlichen und der infinitesimalen Größen auf die wirkliche Welt sei frei von Widersprüchen, versuchen Sie doch einmal Ihr Glück mit der folgenden Aufgabe. Stellen Sie eine kleine Leselampe neben eine Uhr. Schalten Sie die Lampe zu einem beliebigen Zeitpunkt null an. Knipsen Sie sie nach einer Minute wieder aus und nach weiteren 30 Minuten abermals an. Schalten Sie sie 15 Minuten später wieder ab. Wiederholen Sie diesen Prozess, indem Sie das Intervall zwischen dem An- und Abschalten jeweils halbieren, genauso wie Achill in seinem Wettrennen den Abstand zur Schildkröte jeweils um die Hälfte verkürzt. In Achills Fall haben wir gerne anerkannt, dass er, indem er die Folge 1/2 plus 1/4 plus 1/8 zurückgelegte, eine unendliche Reihe von Ab-
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Kapitel vier – Der Gefangene
standsintervallen absolvierte, die auf der Ziellinie konvergierte. Folglich müssen wir zu dem Ergebnis kommen, dass Sie nach zwei Minuten die Lampe eine unendliche Zahl von Malen an- und abgeschaltet haben. Was ist mit der Lampe, nachdem Sie die Aufgabe erledigt haben, ist sie an oder aus? Einerseits kann sie nicht an sein, weil Sie sie jedes Mal, wenn Sie sie angeschaltet haben, gleich wieder ausgemacht haben. Andererseits kann sie nicht aus sein, weil Sie sie jedes Mal, wenn Sie sie ausgeschaltet haben, gleich wieder angemacht haben.6 Sie könnten dieses scheinbare Paradox mit dem Argument zurückweisen, dass Sie die Lampe in zwei Minuten aus rein physischen Gründen nicht eine unendliche Zahl von Malen an- und abschalten können. Und doch waren Sie noch einen Augenblick vorher bereit zu der Annahme, Achill könne eine unendliche Folge von Abstandsintervallen innerhalb einer endlichen Zeit zurücklegen. Diese Aufgabe lehrt uns, dass wir die vorgeschlagenen Lösungen für Zenons Paradox nicht unbedingt für das letzte Wort zu diesem Thema halten sollten. Wir kommen darauf zurück. Wir wenden uns nun Platon zu, einem Athener von aristokratischer Herkunft, der um 427 vor Christus geboren wurde, beste Beziehungen zu herrscherlichen Kreisen unterhielt und, wie wir aus unserer heutigen Sicht sagen würden, ziemlich antidemokratische politische Ansichten hegte. Offenbar war er in seiner Jugend mit seinem großen Lehrmeister Sokrates befreundet und verließ Athen voller Abscheu, als Sokrates 399 vor Christus hingerichtet wurde, weil er die Jugend verdorben hatte (was hieß, dass er sie ermutigt hatte, selbständig zu 6 Dies ist eine von einer Anzahl sogenannter unendlicher Super-Aufgaben. Die Lampen-Super-Aufgabe wurde 1954 von James Thompson ersonnen.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
denken). Platon kehrte rund zwölf Jahre später zurück und gründete die Akademie, eine Schule, die immerhin 900 Jahre Bestand hatte. Platon gab sich nicht mit dem akademischen Elfenbeinturm zufrieden. Er kämpfte im Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta und ist vermutlich in einem späteren Konflikt wegen Tapferkeit ausgezeichnet worden. Eine ausgiebige Reisetätigkeit brachte ihn mit politischen Führern in Athen und anderswo in Kontakt. Seine Enttäuschung über die Verhaltensmaßstäbe der Männer in öffentlichen Ämtern hatte ihn bewogen, auf eine politische Laufbahn zu verzichten, und so gründete er die Akademie in der Absicht, die Staatsmänner der Zukunft zu erziehen, indem er ihnen die Wertvorstellungen einimpfte, die er selber schätzte. Es heißt, niemand habe ihn jemals lachen sehen. Wie alle guten Philosophen zehrte Platon vom Werk seiner Vorgänger, vor allem dem des Heraklit und Parmenides. Er versöhnte ihre gegensätzlichen Philosophien, indem er anerkannte, dass beide in gewisser Weise recht hatten.7 Dann entwickelte er eine ganz eigene Erkenntnistheorie, die sich auf die Vorstellung gründete, dass die Dinge in der Welt als ewige und unveränderliche Urformen oder Ideen existieren. Was wir für die materielle Welt um uns herum halten, ist lediglich eine Welt der Erscheinungen oder der Erfahrung, und das Erscheinungsbild der Dinge ist nur eine Annäherung an das wahre Wesen ihrer Ideen. Diese Ideen sind Abstraktionen.8 Sie sind Ideale, die, auf vermutlieh sehr dunkle Weise, mit den uns zugänglichen Erscheinungen der Dinge in Beziehung stehen. In dem Versuch, zu erklären, was er meinte, entwickelte Platon ein berühmtes Gleichnis, das er in seine Schrift Der Staat aufnahm, ein Werk, in dem es in erster Linie nicht um Erfahrung, Wahrnehmung 7 Philosophen machen das oft. Es ist ein schlauer Trick. 8 Unter dem Einfluss von Pythagoras
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scheint Platon seine Ideen weitgehend mit mathematischen Begriffen wie etwa den Zahlen gleichgesetzt zu haben.
Kapitel vier – Der Gefangene
und Wirklichkeit geht, sondern um Moral und Politik. Platon versucht dort, die Frage zu beantworten, warum wir uns bemühen sollen, gut zu sein, wo doch schlechte Menschen so viel besser zurechtzukommen scheinen. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Gefangener in einer Höhle. Ihr ganzes Leben sind Sie schon gefangen, die Füße an den Boden und den Hals an die Wand gekettet, sodass Sie sich kaum bewegen und nur nach vorne blicken können. Nie haben Sie die Welt außerhalb der Höhle erlebt, nie das Sonnenlicht gesehen. Sie wissen noch nicht einmal von einer Welt jenseits Ihrer unmittelbaren Umgebung und sind sich nicht bewusst, dass Sie ein Gefangener sind und in einer Höhle festgehalten werden. Es ist dunkel in der Höhle, aber Sie sind nicht allein. Sie können Ihre Mitgefangenen nicht sehen, haben jedoch gelernt, sich mit ihnen zu verständigen. Deren Erfahrungsmöglichkeiten sind ebenso begrenzt wie die Ihren, doch Ihre Welt ist nicht vollkommen dunkel. Sie sehen Männer und Frauen sich auf der Mauer vor Ihnen vorbeibewegen und «allerlei Geräte tragen, die über die Mauer herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit». Einige unterhalten sich. Soweit es Sie und Ihre Mitgefangenen betrifft, stellen die Höhle sowie die Männer und Frauen, die Sie vor der fernen Mauer erblicken, Ihre Wirklichkeit dar. Das ist alles, was Sie jemals erlebt und erfahren haben. Doch Sie werden hinters Licht geführt. Ohne dass Sie und Ihre Mitgefangenen es wissen, brennt im Hintergrund der Höhle ständig ein Feuer und erfüllt die Höhle mit einem schwachen, düsteren Licht. Die Männer und Frauen, die Sie an der fernen Mauer sehen können, sind in Wirklichkeit die Schatten, die Sie und Ihre Mitgefangenen werfen. Wenn Sie sie sprechen hören, reden in Wahrheit Sie oder andere Gefangene, doch durch das besondere Echo der Höhle können Sie nicht erkennen, dass die Laute von Ihnen und nicht von den Schatten kommen. Ihre Welt ist eine Welt roher Erscheinungen von Objekten, die Sie fälschlicherweise für die
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Objekte selbst gehalten haben, «auf keine Weise ... etwas anderes ... als die Schatten jener Kunstwerke». Eines Tages befreit sich einer Ihrer Mitgefangenen von seinen Ketten und tritt, von Neugier überwältigt, aus der Höhle ins helle Tageslicht. Auf dem Weg dorthin kommt er am Feuer vorbei. Draußen wird er vorübergehend vom Sonnenlicht geblendet, sodass er sich eine Zeit lang nach den Schatten zurücksehnt, welche die Wirklichkeit konstituieren, die er versteht und der er sich zugehörig fühlt.9 Schließlich gewöhnen sich seine Augen an die neuen Lichtverhältnisse, und er staunt über den wunderbaren Anblick dreidimensionaler Formen und Gegenstände und ihre lebhaften Farben – Platons Welt der Ideen, eine Wirklichkeit, die durch die ewigen und unwandelbaren Dinge an sich gebildet wird. Sie ist unvergleichlich viel lebendiger als die ihm bekannte Wirklichkeit der Schatten und der Erscheinung der Dinge. Er klettert zurück in die Höhle, um Ihnen mitzuteilen, was er gesehen hat. Doch seine Beschreibungen sind unzulänglich. Wie soll er dreidimensionale Objekte Menschen beschreiben, die sie noch nie gesehen haben? Wie kann er Menschen, die nie etwas anderes kennengelernt haben als diese verschwommenen, dunkelgrauen Schatten an der Mauer, einen Eindruck davon vermitteln, wie es ist, Farben zu sehen – kräftige Grün- und Blautöne? Ihnen ist sofort klar, dass ihn diese «Flucht» aus der Höhle in den Wahnsinn getrieben hat. Rasch werden Sie seiner Ausführungen überdrüssig und bringen ihn um. So bewahren Sie sich die beruhigende Gewissheit, dass die Wirklichkeit das ist, was Sie wahrnehmen, und dass es außerhalb oder unterhalb ihrer nichts gibt. Hören wir noch einmal Platon: 9 Nachdem sich Neo an Bord der Nebuchadnezzar ein wenig erholt hat, fragt er: «Warum tun mir die Augen weh?» Morpheus antwortet: «Weil du sie nie benutzt hast.»
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Kapitel vier – Der Gefangene
Dieses Bild ... [ist] der durch das Gesicht uns erscheinenden Region der Wohnung im Gefängnisse ... und der Schein von dem Feuer darin der Kraft der Sonne [gleichzusetzen]; und wenn du nun das Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen Dinge setzt als den Aufschwung der Seele in die Region der Erkenntnis, so wird dir nicht entgehen, was mein Glaube ist. Platons Gleichnis sollte verdeutlichen, dass die Wirklichkeit, wie wir sie wahrnehmen, auf der Wirklichkeit der absoluten, ewigen, unwandelbaren und vollkommenen Ideen der Dinge an sich beruht. Deshalb spricht man seither von Platons Ideenlehre. Diese Ideen liegen außerhalb unseres Wahrnehmungshorizonts. Das sollte uns allerdings nicht zu dem Irrglauben verführen, Platons Ideen seien abstrakte, rein hypothetische Konstrukte. Für ihn sind die Ideen durchaus real. Tatsächlich ist die Welt der Ideen die Wirklichkeit. Leider können wir diese Wirklichkeit nie so wahrnehmen, wie sie ist, sondern müssen uns immer mit den Schatten begnügen. Wir tun Platon kein Unrecht, wenn wir feststellen, dass er sich nie genauer darüber geäußert hat, wie seine Ideen zu deuten seien. Einerseits könnten wir zu dem Schluss gelangen, dass die Ideen Eigenschaften sind, die wir bestimmten Dingen zuschreiben, etwa wenn wir sagen «Dieser Tag ist schön» oder «Dies ist eine verdammt gute Tasse Kaffee»10, wobei hier die Ideen «Schönheit» und «gut» wären. Doch an späterer Stelle spricht er in Der Staat über die Ideen eines Bettes und eines Tisches und meint dazu, dass wir, wenn wir diese Alltagsgegenstände wahrnehmen, nur verschwommene Schatten der wahren Ideen eines Bettes und eines Tisches sehen. Ich ziehe diese letztere Interpretation vor. 10 Für diesen Hinweis danke ich dem FBIAgenten Dale Cooper in David Lynchs Twin Peaks.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Wenn wir Platon richtig verstehen, würde das also bedeuten, dass unsere Wahrnehmung eines Alltagsobjektes wie etwa einer Zitrone ein bloßer Schatten der wahren Idee einer Zitrone wäre. Wenn wir eine zweite Zitrone aus dem Kühlschrank nehmen und sie genau untersuchen, gelangen wir zu dem Schluss, dass sie sich in Form und Größe etwas von der ersten unterscheidet. Diese Unterschiede stellen Unvollkommenheiten dar. Tatsächlich sind beide nur Schatten der einen wahren Urform oder Idee einer Zitrone. Ein außerirdischer Besucher, der, wie der aus der Höhle entkommene Gefangene, in der Lage wäre, eine platonische Idee wahrzunehmen, könnte sie uns noch nicht einmal ansatzweise beschreiben. Hier gibt es eine Analogie zu den Mäusen in Douglas Adams’ Buch Per Anhalter durch die Galaxis. Dort erfahren wir, dass die Erde in Wahrheit ein organischer Computer ist, der erbaut wurde, um die Idee des Lebens, des Universums und des ganzen Rests herauszufinden. Wie aus längst vorgenommenen Berechnungen hervorgeht, lautet die Antwort darauf zweiundvierzig. Die Geschöpfe, welche die Erde in Auftrag gaben und bezahlten, sind Mäuse. Die Mäuse sind jedoch durchaus nicht das, was sie zu sein scheinen: «Sie sind nur die Projektion unsagbar hyperintelligenter, pandimensionaler Wesen in unsere Dimension. Der ganze Quatsch mit dem Käse und dem Quieken ist bloß Tarnung.» Wenn wir Platons Ideenlehre zugrunde legen, könnten wir sagen, dass die Mäuse in Adams’ Fiktion nur die Schatten der Mäuse-Idee sind. Wie wir das wahre Wesen von Mäusen nicht erkennen können, weil wir nicht mehr als drei Dimensionen des Raumes und eine der Zeit wahrnehmen können, so sind wir auch nicht in der Lage, die Welt der Ideen zu erkennen. Tatsächlich will Platon sagen, dass wir nie darauf hoffen dürfen, das wahre Wesen der Wirklichkeit zu verstehen, weil wir in das Gefängnis unserer sterblichen Sinne eingesperrt sind. Wir sind Gefangene in der Höhle. Wie erwähnt, ist Der Staat ein Werk über Moral, Ethik und die
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Kapitel vier – Der Gefangene
politische Organisation der Gesellschaft. So findet Platon auch die höchste Idee des Guten in seiner Welt der Ideen:
... was ich wenigstens sehe, das sehe ich so, dass zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, dass sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend, und dass also diese sehen muss, wer vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder in öffentlichen Angelegenheiten. Einer der begabtesten Schüler des Platon war Aristoteles, der zuerst die Medizin erlernte, bevor er 367 vor Christus in die Akademie eintrat. Während der verbleibenden zwanzig Lebensjahre Platons studierte Aristoteles an der Akademie. In dieser Zeit gewann er die Überzeugung, dass Platon sich ein wenig in die Ideenlehre verrannt habe, und entwickelte daher eine etwas andere Wirklichkeitsbeschreibung, die er in einem eigenen Werk, der Metaphysik darlegte. Vor allem konnte Aristoteles nicht einsehen, wie Platons Ideen uns helfen sollten, das dynamische Wesen der Welt um uns her zu verstehen. Wir leben so offenkundig in einer Welt der Veränderung, und wenn alle die Objekte, die wir sehen, nur Schattenprojektionen wahrer Ideen und diese Ideen ewig und unwandelbar sind, dann ist nur schwer einzusehen, wie überhaupt irgendwelche Veränderungen geschehen oder, vor allem, wie neue Objekte mit neuen Ideen oder Formen jemals entstehen können. Daher, so Aristoteles, müsse Wirklichkeit Materie und Form sein. Gegenstände bestehen aus konkretem Stoff – Materie –, und diese Materie verfügt über das Potenzial für die Wirklichkeit der Form (oder Struktur, Gestalt und Eigenschaften wie Farbe, Geschmack
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
und so fort). Ein Block Marmor ist ein Block Marmor, Stoff mit dem Potenzial für die Form einer Statue des Platon. Woher kommt die Statue? War sie schon immer im Marmor? Oder wartete sie auf den Bildhauer, der die Idee einer Statue des Platon im Kopf trug? Ein Samenkorn ist ein kleines Stück Materie mit dem Potenzial für die Form einer blühenden Pflanze. Woher kam die Pflanze? Wir würden heute sagen, dass die Idee oder Form der Pflanze im genetischen Material codiert ist, welches der Same enthält. Material und Form sind logische Bestandteile, aber keine wirklichen, separierbaren Bestandteile eines Objektes. Wenn ich die Statue von Platon zerschlage, habe ich zwar noch die Materie, aber nicht mehr die Form, abgesehen von einer Idee oder einer Vorstellung im Geist. Im Wesentlichen führt Aristoteles die Objekte zurück in die Welt der Erfahrung. Platon hatte alle Erfahrungen verworfen, die uns durch unsere Sinne übermittelt werden, und uns aufgefordert, mit der Kraft unseres Verstandes die wahren Formen der Dinge zu begreifen, die in der Welt der Abstraktionen oder Ideen existieren. Für Platon sind die Formen oder Ideen das Primäre und die Wahrnehmung ihrer Erscheinungen (ihrer Schatten) nachgeordnet. Wenn die Form eines Objekts nicht zunächst in der Welt der Ideen existiere, so Platon, könnten wir seinen Schatten in der Welt unserer Wahrnehmung nicht sinnlich erfahren. Aristoteles war überzeugt, dass Platon das Pferd beim Schwanz aufgezäumt habe. Er vertrat die Ansicht, dass wir zunächst die Objekte in der natürlichen Welt wahrnehmen und erst dann in unserem Bewusstsein Abstraktionen oder Ideen von ihnen bilden. In der aristotelischen Philosophie ist die Form eines Dings lediglich die Summe seiner besonderen Eigenschaften. In Platons Ideenlehre ist eine Zitrone gelb, weil sie die Idee oder Form des Gelbseins mit anderen gelben Formen oder Ideen teilt. Die Idee des Gelbseins geht der Erscheinung einer gelben Zitrone logisch voraus. Nach Aristoteles dagegen gehen gelbe Zitronen unserer Idee des Gelbseins logisch voraus. Wir stellen
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Kapitel vier – Der Gefangene
uns die abstrakte Form einer Zitrone anhand einer bestimmten Gestalt, Größe, Farbe und Geschmacksrichtung vor (schließen Sie die Augen und vergegenwärtigen Sie sie sich jetzt in Ihrer Vorstellung). Wir sind dazu in der Lage, weil wir die Wirkung vieler Zitronen auf unsere Sinne erfahren haben. Wir haben keine angeborene Idee von einer Zitrone, bevor wir nicht eine erlebt haben. Platon versuchte, aus der Höhle zu entfliehen, aus der oft brutalen Welt der unmittelbaren Erfahrung in die unendlich viel reinere Welt des Geistes, der Ideen und der Formen. Platons Wirklichkeit war die des Denkens und der Vernunft, eine Wirklichkeit, die wie Douglas Adams’ Mäuse eine Projektion in unsere Welt der Wahrnehmung ist. Aristoteles brachte all das auf den Boden der Tatsachen zurück. Seine Wirklichkeit war der Wahrnehmung und der Erfahrung verpflichtet. Unsere Vorstellung von der Form oder der Idee der Dinge, die wir wahrnehmen, wird laut Aristoteles von unserer Fähigkeit bestimmt, unsere Erfahrungen zu klassifizieren und zu katalogisieren. Dank Aristoteles gewann die Erfahrung im Streit mit der Vernunft die Oberhand. Und dabei blieb es rund zweitausend Jahre. Zwar kamen auch nach Aristoteles noch Philosophen, aber die waren mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Außerdem wurde die westliche Welt einige hundert Jahre nach dem Tod des Aristoteles von weitreichenden und umwälzenden Ereignissen erschüttert. Ein Großteil der Bildung und des Wissens, das die blühende griechische und römische Kultur zusammengetragen hatten, ging verloren, als Europa im Obskurantismus des Mittelalters versank. Man nimmt an, dass Aristoteles etwa 170 Werke verfasste, von denen jedoch nur knapp fünfzig erhalten blieben. Thomas von Aquin bemühte sich im 13. Jahrhundert nachdrücklich um die Wiederherstellung der aristotelischen Philosophie und Wissenschaft. Doch Thomas war ein Gelehrter der römischkatholischen Kirche.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Die Kirche verlieh dem Aristotelismus den Status einer religiösen Lehre. Aristoteles war ein eingefleischter Sammler und Klassifizierer und wurde der größte Wissenschaftler seiner Zeit (sein Einfluss auf die Biologie und Zoologie ist noch heute spürbar). Als sich die Kirchenautoritäten den Aristotelismus zu eigen machten, beanspruchten sie damit das letzte Wort nicht nur in Fragen der Religion, sondern auch der Wissenschaft. Wer diesen Ansichten widersprach, brachte sich in höchste Gefahr. Erstmals ernsthaft in Frage gestellt wurde diese Orthodoxie im 16. Jahrhundert, unter anderem von Nikolaus Kopernikus. Doch der eigentliche Durchbruch erfolgte im 17. Jahrhundert, als man begann, die Philosophie aus der Umklammerung der Theologie zu lösen und formale wissenschaftliche Prinzipien und Methoden zu entwickeln. Das geschah noch immer mit Zittern und Zagen, dennoch wurde es wieder möglich, Fragen über das Wesen unserer Wirklichkeit zu stellen, ohne dass einem sogleich religiöse Antworten aufgezwungen wurden. Der Streit zwischen Vernunft und Erfahrung war wieder eröffnet. Und es zeigte sich rasch, dass unser Begriff einer vom menschlichen Geist unabhängigen Wirklichkeit mit Erfolg um sein Überleben kämpfte.
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Kapitel fünf
Descartes’ Dämon Mr. Prosser hatte das Gefühl, sein ganzes Leben sei so etwas wie ein Traum, und manchmal fragte er sich, wer ihn gerade träume und ob der Träumer sich wohl amüsiere. DOUGLAS ADAMS, PER ANHALTER DURCH DIE GALAXIS
Wenn Sie wie ich die westliche «Fortschrittsidee» akzeptieren, werden Sie zugeben, dass ein Großteil dieses Fortschritts dadurch erzielt wurde, dass wir unser Verständnis der materiellen Welt systematisch verbessert haben. Diese Verbesserung erfolgte wiederum durch die Anwendung strenger wissenschaftlicher Disziplinen. Wir werden uns später etwas eingehender mit diesen Disziplinen beschäftigen, doch im Augenblick wollen wir uns mit der Feststellung begnügen, dass eines der wichtigsten Merkmale der Naturwissenschaft war, die Welt so zu erklären, dass wir darin nicht mehr vorkommen. Ich meine natürlich nicht, dass wir physisch aus ihr entfernt wurden, sondern dass das wissenschaftliche Denken ein Denken ist, dass unsere persönliche, subjektive Perspektive ausklammert. Je weiter wir uns von unserem spezifisch menschlichen, persönlichen Standpunkt entfernen können, desto stärker wird der objektive Charakter des daraus resultierenden Verständnisses. Die Menschheit begann ihre Geschichte mit der Überzeugung, sie lebe auf einem Gebilde, das sich im Mittelpunkt des Universums befinde, beschützt und heimgesucht von Göttern, denen ver-
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schiedene Aspekte der Natur Untertan seien. Heute haben wir dieses anthropozentrische Weltbild weitgehend aufgegeben – das heißt, die Auffassung, dass wir im Mittelpunkt eines Universums leben, das zu unserem Nutzen geschaffen wurde, und dass höhere Wesen nichts Besseres zu tun hätten, als sich in unsere Angelegenheiten einzumischen. Diesen Glauben haben wir durch eine objektivere Weltsicht ersetzt, und so befinden wir uns jetzt auf einem ziemlich bedeutungslosen Planeten (einem «blassblauen Fleck») auf einer Kreisbahn um einen eher bedeutungslosen Stern einer ansonsten vollkommen durchschnittlichen Galaxie in einem das menschliche Fassungsvermögen weit übersteigenden Universum. Manch einer mag beklagen, dass wir für diesen Fortschritt einen hohen emotionalen und spirituellen Preis bezahlt haben. Doch wir haben auch davon profitiert: So haben wir mit unseren Vorurteilen aufgeräumt, uns von den gefühlsmäßigen Vorstellungen befreit, die uns sagten, wie die Dinge sein sollten, eine grundsätzliche Skepsis gegenüber allem entwickelt, was andere darüber in der Vergangenheit gesagt hatten, und auf diese Weise die Fähigkeit erworben, die materielle Welt weit besser zu verstehen (man könnte auch sagen, die Welt so zu verstehen, wie sie wirklich ist). Infolgedessen konnten wir unsere Welt so gestalten und kontrollieren, dass sie im Allgemeinen für uns von großem Nutzen war – wenn auch nicht immer für andere Lebewesen, mit denen wir unseren Planeten teilen. Es gibt auch philosophische Disziplinen, die wie die Naturwissenschaften auf strenge, logische Weise zwischen einerseits der privaten inneren Welt unserer persönlichen Perspektiven, Erfahrungen und inneren geistigen Prozesse und andererseits der äußeren Welt der materiellen Dinge unterscheiden und die Frage untersuchen, wie sich diese beiden Bereiche verbinden und wie wir die Außenwelt erkennen können. Es gibt die Ansicht, Naturwissenschaft und Philosophie seien prinzipiell unterschiedliche Disziplinen, die mit je anderen Problemen befasst seien. Ich gebe gerne zu, dass eine Untersuchung der
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Kapitel fünf – Descartes’ Dämon
menschlichen Moral und Ethik nicht in den Grenzen der traditionellen Physik vorgenommen werden kann. Andererseits glaube ich aber auch, dass Probleme, die das Wesen der Wirklichkeit und unserer Erkenntnis dieser Wirklichkeit betreffen, legitime Gegenstände sowohl der Naturwissenschaft als auch der Philosophie sind. Heute, in den ersten Jahren unseres konsumbestimmten, technologisch beherrschten 21. Jahrhunderts, können wir uns kaum noch eine menschliche Kultur vorstellen, die sich auf etwas anderes als rationale, wissenschaftliche Prinzipien gründet. Doch die Schaffung dieser Grundlagen, der Weg von einem Weltbild, das von Göttern und Teufeln beherrscht wurde, zu einer Anschauung, die von Beweisen und Vernunft lebt, dauerte viele Jahrhunderte und forderte manch schweres persönliches Opfer. Im 17. Jahrhundert war es möglich geworden, den Lehren der Kirche zu widersprechen, vorausgesetzt, dies geschah sehr, sehr vorsichtig. In dem Bemühen, die Philosophie als separate und legitime Disziplin neben der Theologie zu etablieren, musste der französische Philosoph Rene Descartes immer noch dafür Sorge tragen, dass er nicht zu Schlussfolgerungen gelangte, die im Widerspruch zu religiösen Dogmen standen. So hatte er sich das Ziel gesetzt, mit der Kraft der Vernunft und den Methoden der logischen Analyse zu bereits bestehenden «Wahrheiten» zu gelangen. Zu Recht gilt Descartes heute als Vater der modernen Philosophie. 1596 geboren und von Jesuiten erzogen, hatte er keinen Grund, an den Lehren der religiösen Autoritäten zu zweifeln. Doch er prüfte diese Dogmen mit den Mitteln einer strengen und logischen Analyse, weil er die Absicht hatte, ihre Richtigkeit durch ein Verfahren zu beweisen, das sich nicht einfach auf blinden Glauben verließ. Obwohl viele seiner Schlussfolgerungen inzwischen von den Philosophen, die nach ihm kamen, verworfen wurden, bedeutete seine Methode einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
In seiner erstmals 1637 erschienenen Abhandlung über die Methode entwarf er ein vollkommen neues philosophisches Verfahren, das nicht den geringsten Zweifel an der absoluten Wahrheit seiner Schlussfolgerungen zuließ. Von absoluter Wahrheit, so Descartes, gelange man zu sicherer Erkenntnis. Doch um zu absoluter Wahrheit zu gelangen, habe man keine andere Wahl, als alles, an dem man den geringsten Grund für Zweifel entdecken könne, als absolut falsch abzulehnen. Das hieß für ihn, alle Informationen über die Welt zurückzuweisen, die er über seine Sinne empfing. Descartes nannte drei Gründe dafür, dass er seinen Sinneswahrnehmungen und den aus ihnen resultierenden Erfahrungen nicht trauen könne: Erstens kann er die Möglichkeit nicht völlig ausschließen, dass ihn seine Sinne von Zeit zu Zeit täuschen. Wie eine optische Täuschung den Eindruck hervorruft, dass eine von zwei in ihren Ausmaßen identische Figuren größer als die andere ist, so können ihn auch alle seine Sinne hinters Licht führen. Zweitens kann er nicht sicher sein, dass seine Wahrnehmungen und Erfahrungen nicht Teil eines kunstvollen Traumes sind.1 Drittens weiß er nicht, ob er nicht das Opfer eines verschlagenen oder bösen Geistes ist, der seine Sinneseindrücke so manipuliert, dass sie einen vollkommen falschen Eindruck von der Welt um ihn her hervorrufen. Allerdings glaubte Descartes, sich zumindest einer Sache sicher sein zu können. Er ging mit Gewissheit davon aus, ein Wesen mit Verstand zu sein. Die Ansicht, er könne als denkendes Wesen nicht existieren, erschien ihm widersprüchlich. Daher war auch seine Existenz etwas, dessen er sich sicher sein konnte. Cogito ergo sum, lautete sein Schluss. Ich denke, also bin ich. 1 Kurz nachdem Neo in der Matrix die
Neo? Wie würdest du den Unterschied
rote Pille genommen hat, fragt Mor-
zwischen der Traumwelt und der wirk-
pheus: «Was wäre, wenn du aus diesem
liehen Welt erkennen?»
Traum nicht aufwachen könntest,
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Kapitel fünf – Descartes’ Dämon
Es scheint ein großer Schritt zu sein, von der Existenz als denkendes Wesen auf die Existenz materieller Objekte in einer materiellen Welt zu schließen. Vergessen wir nicht, dass Descartes’ Philosophie ein Produkt seiner Zeit und seines Ortes war. Nach dem Beweis der eigenen Existenz legte Descartes eine Reihe von Beweisen für die Existenz Gottes vor, eines vollkommenen Wesens, das, wie er durch logische Argumente bewies, ein Wesen von ewiger Kraft sein müsse und diese Kraft nutze, um für die Grundlagen unserer Wirklichkeit zu sorgen. Er selbst, so Descartes, sei von Gott erschaffen worden und habe Ideen von Objekten, die in der Welt existieren. Diese Ideen könnten von ihm selbst, von Gott, von Descartes’ Dämon oder von den tatsächlich in einer äußeren Wirklichkeit existierenden Objekten stammen. Wenn seine Ideen Täuschungen aus einem der ersten drei möglichen Gründe wären, hieße das, dass Gott ihn täusche und zulasse, dass man ihn täusche, was der Idee Gottes als eines absolut vollkommenen Wesens widerspräche (Täuschung gilt hier als Unvollkommenheit eines guten Gottes). Descartes gelangte daher zu dem Schluss, dass seine Vorstellungen von materiellen Objekten direkt durch die Existenz dieser Objekte in der Wirklichkeit hervorgerufen werde, und stimmte folglich mit Aristoteles überein. Doch uns interessiert hier weniger, zu welchen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Wirklichkeit Descartes letztlich gelangte. Vielmehr ist der Ausgangspunkt seiner Philosophie von größerem Interesse für uns. Am Anfang lehnte er die Idee ab, er könne die Wirklichkeit zuverlässig erkennen, indem er sich auf die Informationen seiner Sinnesorgane verlasse. Ist das tatsächlich vernünftig? Wir können der Logik dieses Experiments folgen, indem wir einen einfachen Versuch durchführen. Sie können das Folgende entweder lesen und sich an Ihr Vorstellungsvermögen halten – mit anderen Worten, das Folgende als Gedankenexperiment behandeln – oder,
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
wenn Sie denken, dass es hilft, das Experiment tatsächlich durchführen. Die erforderlichen Dinge sind leicht erhältlich und kosten wenig. Zunächst einmal müssen Sie sich eine Zeit suchen, in der Sie unbehelligt vom Stress des modernen Lebens sind, eine Zeit, in der Sie sich allein und ohne Unterbrechung ein paar philosophischen Gedanken überlassen können. Wenn Sie einige Stunden vor sich haben, die Sie der Kontemplation widmen können, nehmen Sie zwei Zitronen aus dem Kühlschrank und halbieren Sie sie. Schneiden Sie eine dünne Scheibe von einer der Hälften ab. Legen Sie die ganze Zitrone vor sich auf den Tisch. Zünden Sie eine Kerze mit Zitronenduft an. Suchen Sie sich das zu Unrecht kaum beachtete Album Zooropa von U2 aus Ihrer CD-Sammlung und spielen Sie das vierte Stück (es heißt «Lemon»). Drehen Sie die Lautstärke so hoch, wie es mit Rücksicht auf Ihre Nachbarn möglich ist. Während Bonos extrem hohe Stimme das Zimmer erfüllt, setzen Sie sich an den Tisch. Streifen Sie die Schuhe ab und machen Sie es sich so bequem wie möglich. Halten Sie die eine Hälfte der Zitrone in Ihrer Linken und schieben Sie sich mit der anderen Hand die dünne Scheibe in den Mund. Versuchen Sie, sich nicht zu komisch vorzukommen (schließlich sind Sie ja allein). Richten Sie den Blick auf die Zitrone auf dem Tisch und tränken Sie Ihr Bewusstsein mit der Gelbheit der Frucht. Lassen Sie Ihre Zunge über die Scheibe in Ihrem Mund wandern und schmecken Sie die herbe Säure der Frucht, ihre delikate Schärfe. Fahren Sie mit Daumen und Fingerspitzen über die Zitronenhälfte in Ihrer linken Hand und ertasten Sie deren weiche, glatte und doch unebene Oberfläche. Und hören Sie, wie Bono singt:
She wore lemon To colour the cold grey night She had heaven And she held on so tight
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Kapitel fünf – Descartes’ Dämon
Erleben Sie, auf diese Weise mit allen fünf Sinnen in der Erfahrung verankert, das innerste Wesen der Zitronenhaftigkeit. Ist das wirklich? Ist das, was Sie erleben, das gemeinsame Ergebnis der Zitrone, der Kerze und des Songs, die alle wirklich in der Form existieren, in der Sie sie wahrnehmen? Was ist, wenn Sie die Zitronenhälfte aus der Hand legen, die Scheibe aus dem Mund nehmen und das Zimmer verlassen (sodass Sie die Kerze nicht mehr riechen und die Musik nicht mehr hören können)? Hört die Zitrone auf, gelb zu sein? Hat sie ihren scharfen Geschmack verloren? Ihre weiche, glatte Unebenheit? Ist die Kerze jetzt geruchlos? Wird es still im Zimmer? Ihre erste Reaktion besteht vielleicht darin, diese Fragen als lächerlich abzutun. Natürlich ist die Zitrone noch immer gelb, sauer, weich, glatt und uneben, die Luft vom Kerzenduft erfüllt und der Raum voller Geräusche. Das alles sind materielle Eigenschaften der Zitrone, der Kerze und der Kombination von CD, Stereoanlage und der Luft, welche die Schallwellen trägt. Alle diese Dinge gibt es offenkundig auch weiterhin, obwohl niemand mehr im Zimmer ist, der sie wahrnehmen kann. Wenn Sie eine Weile warten und dann in das Zimmer zurückkehren, wissen Sie, dass die Zitrone noch immer gelb, sauer und weich, glatt und uneben sein wird. Die Kerze wird ein bisschen heruntergebrannt und die CD in der Stereoanlage wird vielleicht schon beim nächsten Song sein. Kehren Sie in das Zimmer zurück und suchen Sie sich eine bequeme Sitzgelegenheit. Wir müssen uns zwingen, das Experiment noch einmal durchzuführen, wobei wir unsere persönliche, subjektive Perspektive so weit wie möglich aus unserer Analyse ausklammern wollen. Dabei werden wir feststellen, dass alle diese Erfahrungen, die Wahrnehmung der Farbe, des Geschmacks, des Geruchs, das Ertasten eines Gegenstands und das Hören von Geräuschen aus dem erwachsen, was Philosophen sekundäre Qualitäten nennen. Insofern lässt sich die Auffassung vertreten, dass keine von ihnen wirklich ist.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Beginnen wir mit den Farben. Die Gelbheit der Zitrone erscheint so offensichtlich, so unmittelbar, so wirklich, dass sich kaum Umstände vorstellen lassen, unter denen wir an ihrer Wirklichkeit zweifeln könnten. Doch wenn wir strikt an der Definition von Wirklichkeit festhalten, die uns zu Anfang so vernünftig erschien – dass Wirklichkeit zu definieren ist als unabhängig von uns und unserer Fähigkeit, sie zu erfassen und Theorien über sie zu bilden –, gelangen wir rasch zu dem Schluss, dass es so etwas wie Farben «in Wirklichkeit» nicht geben kann. Dieser Schluss drängt sich uns auf, weil wir einsehen müssen, dass der Begriff und die Erfahrung von Farbe nur in unserem Geist existiert. Die Eigenschaften an der Oberfläche der Zitrone lassen sich in keiner Weise mit unserem Begriff und unserer Erfahrung der Farbe Gelb verknüpfen. Erinnern wir uns daran, dass wir bei unserer Erörterung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu dem Ergebnis kamen, dass es Elemente dieser Wirklichkeit, wie etwa Geld, nicht geben kann auf Un-Erde, unserer Version des Planeten Erde, von dem alle Wesen mit geistigen Funktionen (Menschen und Tiere) entfernt worden sind. Klar doch, sagten wir, es bleiben hübsch bedruckte Papierstücke oder rechteckige Plastikteile mit Magnetstreifen übrig, doch ohne ein geistiges Wesen, das in der Lage wäre, die auf oder in diesen materiellen Objekten vorhandenen Informationen zu interpretieren; ohne geistige Geschöpfe, die ihnen eine gesellschaftliche Funktion zuweisen, kann es keinen Geldbegriff geben und damit auch keinen Begriff von irgendeinem zugrundeliegenden Wert, den das Geld repräsentiert. Das macht uns nicht viel aus, weil Geld zwar ein wichtiger Teil unserer gelebten Wirklichkeit ist, wir aber einsehen können, dass es ein absolut kollektiver, von Menschen geschaffener Begriff ist, der sich über viele tausend Jahre entwickelt hat, um bestimmte Aspekte der gesellschaftlichen Interaktionen zu erleichtern. Doch jetzt scheinen wir Farbe und andere Sinneswahrnehmungen in die gleiche Kategorie einzuordnen. Wie soll das möglich sein? Die Farbe ist doch
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ganz gewiss kein erfundener Begriff, kein Produkt des menschlichen Geistes. Wirklich nicht? Die Zitrone, so könnten Sie vorbringen, besitzt bestimmte chemische und physikalische Eigenschaften, die bewirken, dass von ihrer Oberfläche gelbes Licht reflektiert wird. Wir nehmen Gelb wahr, weil die Zitrone gelb gefärbt ist und weil Gelbheit eine Eigenschaft ist, die alle Zitronen (jedenfalls alle reifen Zitronen) von Natur aus besitzen. Also gut, folgen wir dieser Argumentation und schauen wir, wohin sie uns führt. Die Zitronenschale besitzt eine natürliche Pigmentation, die bestimmte Teile des sichtbaren Lichtspektrums reflektiert. Diese Eigenschaft lässt sich durch künstliche Pigmente reproduzieren, die erstmals in denen 1830er Jahren auf den Markt kamen. Zur Herstellung von modernem Zitronenpigment verwendet man winzig kleine rautenförmige Teilchen aus Lösungen der chemischen Substanz Bariumchlorid. Natürlich sorgen die physikalischen Eigenschaften der natürlichen Zitronenpigmente oder der rautenförmigen Bariumchloridteilchen in irgendeiner Weise für diese besondere Lichtreflexion. Egal, worum es sich dabei handelt und welcher physikalische Mechanismus diesen Vorgängen zugrunde liegt – die betreffenden Eigenschaften existieren zweifellos unabhängig von unserer Fähigkeit, sie wahrzunehmen. Oder? Wir können aus naturwissenschaftlicher Sicht einräumen, dass Oberflächen, die mit solchen Pigmenten beschichtet sind, Photonen – winzige Teilchen der Lichtenergie – reflektieren, und zwar mit Wellenlängen einer bestimmten Region des sichtbaren Spektrums. Möglicherweise sind Sie versucht, diese Region des Spektrums augenblicklich mit der Farbe Gelb gleichzusetzen, das heißt mit dem Teil des Farbspektrums, der zwischen Orange und Grün liegt, doch Geduld! Bleiben wir zunächst bei der wissenschaftlichen Tatsache, dass Photonen mit einer gewissen Energie und Wellenlänge reflek-
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
tiert werden. Diese Photonen gelangen in Ihre Augen, wo sie auf die Netzhäute prallen und ein Bild der Zitrone erzeugen, das sowohl auf dem Kopf steht als auch seitenverkehrt ist. Um die Ausführungen ein wenig zu vereinfachen, spreche ich im Folgenden nur noch von einem Auge und einer Netzhaut. Die Netzhaut besteht aus einer Ansammlung von zwei verschiedenen lichtempfindlichen Zellarten, den Stäbchen und den Zapfen. Die Stäbchen sind außerordentlich empfindlich, sprechen aber nur auf die relative Intensität oder Helligkeit des Lichts an – Schwarz und Weiß und die Grauschattierunen dazwischen. Die weniger empfindlichen Zapfen reagieren auf unterschiedliche Wellenlängen (wir wollen nicht von Farben reden – zumindest noch nicht). Es gibt drei verschiedene Arten von Zapfen, die auf verschiedene Wellenlängen des Lichtes ansprechen, und zwar dergestalt, dass sie, wenn sie gemeinsam aktiviert werden, kollektiv auf das gesamte sichtbare Spektrum antworten. Diese Rezeptoren reagieren auf die Anzahl der Photonen (die Intensität des Lichtes) und auf ihre verschiedenen Wellenlängen. Die dadurch ausgelösten chemischen Veränderungen in den Sinneszellen erzeugen elektrische Signale, die über den Sehnerv ins Gehirn gelangen. Die Naturwissenschaft hat eine einleuchtende Erklärung für jeden Schritt dieser Kausalkette physikalischer Ereignisse – von der Reflexion der Photonen bestimmter Wellenlängen an der Oberfläche der Zitrone über die Absorption dieser Photonen durch Rezeptoren in der Netzhaut und die spezifischen Einzelheiten der dadurch ausgelösten chemischen Veränderungen bis hin zur Erzeugung von Signalen, die auf den visuellen Kortex des Gehirns übertragen werden. Das Gehirn ist ziemlich eigenartig verdrahtet. Signale von der linken Seite der Netzhäute in unserem linken und rechten Auge (mit anderen Worten Informationen, die wir in unserem rechten Gesichtsfeld sammeln) werden an den visuellen Kortex übertragen, der sich im hinteren linken Bereich unseres Gehirns befindet. Signale von
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Kapitel fünf – Descartes’ Dämon
der rechten Seite unserer Netzhäute (Informationen aus unserem linken Gesichtsfeld) werden an den visuellen Kortex übertragen, der sich hinten rechts in unserem Gehirn befindet. Die Architektur und die Funktionen des visuellen Kortex sind komplex, trotzdem haben wir heute eine ziemlich genaue Vorstellung von seiner Arbeitsweise. Manche Gruppen von Neuronen scheinen nur auf Stimulationen zu reagieren, die durch verschiedene Wellenlängen des in der Netzhaut absorbierten Lichts hervorgerufen werden. In gewissem Sinne stimuliert das von der Zitrone zurückgeworfene Licht Teile unseres visuellen Kortex in einer ganz besonderen Weise (es lässt diese Teile «aufleuchten», wie es im Fachjargon heißt). Und nun? Wir sind in der Lage, den Weg einer Reihe von physikalischen und chemischen Ereignissen zu verfolgen: Von dem Augenblick an, da Photonen mit bestimmten Wellenlängen von der Zitrone reflektiert werden, bis hin zur Stimulation genau umschriebener Teile unseres visuellen Kortex. Doch damit sitzen wir fest. Egal, wie genau wir nachschauen, wir werden die Erfahrung der Farbe Gelb in keinem dieser Vorgänge entdecken. Gelb ist keine physikalische Eigenschaft der Photonen selbst, die in dieser Hinsicht als vollkommen «farblos» gelten müssen, sind sie doch nur winzige Energieteilchen mit Wellenlängen, die in unmittelbarer Beziehung zu ihrem Energiebetrag stehen. Die Zapfen in Ihrer Netzhaut sprechen auf verschiedene Bereiche des sichtbaren Spektrums an, doch alles, was wir hier haben, ist eine Selektivität für Photonen verschiedener Wellenlängen (und daher auch Energien). Die von der Zitrone reflektierten Photonen aktivieren die Zapfen in einer bestimmten Kombination, doch das bleibt noch immer Physik und Chemie. Wir können die chemischen Rezeptoren und ihre für das Sehen verantwortlichen Proteine isolieren und sie in einen Glasbecher mit Nährlösung geben. Wenn wir diesen Becher nun mit Licht bestrahlen, das hinsichtlich seiner Wellenlänge dem von der Zitrone reflektierten Licht gleicht, können wir exakt die physikalischen und
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
chemischen Prozesse reproduzieren, die in den ersten Stadien des menschlichen Sehens stattfinden. Gelb aber werden wir in keinem dieser Vorgänge antreffen. Elektrische Signale, die Nervenfasern entlangwandern, sind natürlich auch nur elektrische Signale und sonst nichts. Die Aktivierung von Neuronen in Ihrem visuellen Kortex ist eine physikalische Reaktion auf physikalische oder chemische Reize. Die Tatsache, dass Ihr visueller Kortex unter dem Einfluss des von der Zitrone stammenden Lichtes auf bestimmte Weise «aufleuchtet», ist von entscheidender Bedeutung für Ihre Wahrnehmung der Zitrone, liefert uns aber noch immer kein Gelb. Erinnern Sie sich an die Figur, die Arnold Schwarzenegger in den drei Terminator-Filmen gespielt hat? Der Terminator ist ein mit künstlicher Intelligenz ausgestatteter Cyborg aus der Zukunft.2 Er hat mechanische Augen, die nach dem Vorbild menschlicher Augen gefertigt sind. Einer Art «Kopf-Display» senden sie Bilder, die sich uns, dem Kinopublikum (sehr hilfreich für meine Argumentation), in verschiedenen Rotschattierungen darstellen.3 Wenn der Terminator eine Zitrone in seinem Gesichtsfeld «sieht», schicken die mechanischen Augen Signale an den kleinen, aber außerordentlich leistungsfähigen Computer, der sich vermutlich (aber nicht notwendigerweise) in seinem Kopf befindet. Der Computer speichert ein Muster in seiner Festplatte, dessen Größe und Form der Zitrone entspricht, und zeichnet auf, welche Wellenlänge das Licht hat, das von der Frucht reflektiert wird. Er vergleicht diese Aufzeichnung mit anderen in seiner Objekt-Datenbank gespeicherten Mustern, lässt seine Mustererkennungs-Software laufen, aktiviert sein künst2 Cyberdine-Systeme, Modell T-1O1: leben-
nur für das Publikum, da es im Zentral-
des Gewebe über einem Endoskelett aus
prozessor des Terminators nichts und
Metall.
niemanden gibt, der oder das auf ein
3 Dieses «Kopf-Display» existiert natürlich
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solches Display blicken könnte.
Kapitel fünf – Descartes’ Dämon
liches Sprachmodul und sagt (mit seinem unnachahmlichen Sprachgestus): «Zitrone. Gelb.» Natürlich ist der Terminator ein technisches Produkt, was zur Folge hat, dass wir bei bestimmten Inputs bestimmte Outputs erhalten. Doch diese Technologie scheint sich auf menschliche Erfahrung und Erkenntnis sekundärer Eigenschaften von Zitronen zu gründen. Hat der Terminator bei der Verarbeitung der Inputs und der Ausgabe seiner programmgemäßen Outputs die Farbe Gelb nun tatsächlich in der Weise erfahren, wie wir es tun? Es sollte inzwischen klar geworden sein, dass Sie erst dann, wenn Sie die von Ihrem visuellen Kortex verarbeiteten Informationen in Ihrem bewussten Geist zusammenfassen und auswerten, die Empfindung einer gelben Zitrone erleben.4 Ich nehme an, Sie wissen, was jetzt kommt. In der chemischen Zusammensetzung des Fruchtfleisches einer Zitrone gibt es nichts, was wir für ihren besonderen Geschmack verantwortlich machen könnten. Gewiss, da sind natürliche Säuren in der Zitrone, die bestimmte Atomgruppen besitzen, und diese Gruppen wechselwirken in vorhersagbarer Weise mit den chemischen Substanzen in Ihren Geschmacksknospen, was wiederum zur Übermittlung elektrischer Signale an Ihr Gehirn führt. Doch erst wenn Sie diese Informationen in Ihrem bewussten Geist interpretieren, werden Sie sich des scharfen Geschmacks der Zitrone bewusst. Das gleiche Argument gilt für den Duft der Zitronenkerze (chemische Stoffe wechselwirken mit Ihrem olfaktorischen Nerv, der daraufhin Signale erzeugt und an Ihr Gehirn übermittelt), die Berührung der Zitronenoberfläche (Signale 4 Einige Philosophen verwenden den
im Zentrum des Geist-Körper-Problems
Begriff Qualia zur Bezeichnung geistiger
und sind daher Gegenstand lebhafter
Zustände, die durch externe Phänomene
Debatten zwischen zeitgenössischen
hervorgerufen werden, aber nur inner-
Philosophen und Kognitionswissenschaft-
lich zugänglich sind. Qualia befinden sich
lern.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Ihrer Tastrezeptoren in den Fingerspitzen, die über das Rückenmark in den somatosensorischen Kortex Ihres Gehirns geleitet werden) und sogar die Töne von U2s «Lemon Song» (Kompressionen und Verbindungen der Luft, die mit Ihrem Trommelfell wechselwirken, woraufhin ein komplizierter Mechanismus wiederum Signale hervorruft und an Ihren auditorischen Kortex sendet). Was haben Sie ohne Ihren Geist? Photonen unterschiedlicher Energie und Wellenlänge, chemische Stoffe, die unterschiedliche Atomgruppen aufweisen, materielle Objekte mit bestimmten Oberflächeneigenschaften und Kompressionen und Verbindungen der Luft. Alle diese Dinge rufen unterschiedliche Muster elektrischer Reizung in Ihrem Gehirn hervor. In keinem dieser physikalischen und chemischen Vorgänge können wir jedoch Farbe, Geschmack, Duft, Weichheit oder Melodie finden. Alle sind sekundäre Qualitäten, die in Ihrem Geist erzeugt werden. Vergessen wir nicht, unser Ausgangspunkt ist die Definition, auf die wir uns geeinigt haben: Wirklichkeit ist unabhängig von uns und unserer Fähigkeit, sie zu erfassen und Theorien über sie zu bilden. Das ist notwendigerweise eine Wirklichkeit, deren Existenz nicht von dem menschlichen Geist abhängt. Ohne unseren Geist können diese sekundären Qualitäten aber nicht wirklich sein. Die unendliche Schönheit auf Un-Erde – die Farbe ihres Himmels, der Duft einer Rose, der Geschmack einer klaren Gebirgsquelle, das Seufzen der Bäume im Wind, die Oberflächenbeschaffenheit einer Baumrinde – hat einfach aufgehört zu existieren. Sie ist nur noch eine Welt voller materieller Objekte, die physikalische und chemische Eigenschaften besitzen. Bislang mag die Erörterung ziemlich mechanisch oder materialistisch erscheinen. Vielleicht erweckt sie den Eindruck, die Unwirklichkeit von sekundären Qualitäten hänge nur davon ab, wie wir versuchen, die Beziehung zwischen Körper und Geist zu verstehen.
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Kapitel fünf – Descartes’ Dämon
Doch ich würde meinen, dass sich unsere Resultate nicht danach richten, ob wir das Geist-Körper-Problem materialistisch oder dualistisch auffassen. Bekanntlich resultieren nach Ansicht der Materialisten geistige Zustände unmittelbar aus materiellen Ereignissen im Gehirn und aus der Entwicklung spezifischer Hirnzustände (etwa jener, die einen bestimmten Teil Ihres visuellen Kortex zum «Aufleuchten» brachten). Die geistigen Zustände sind entweder das Ergebnis irgendwelcher emergenter Eigenschaften hochkomplexer Aktivitäten im Gehirn, oder es gibt sie nicht wirklich, und sie sind lediglich Gehirnzustände. Nach Ansicht der Dualisten dagegen sind geistige Zustände das Ergebnis eines geheimnisvollen ätherischen «Geiststoffs», der separat vom materiellen Gehirn existiert, aber trotzdem intrinsisch mit ihm verbunden ist. Ich glaube, es spielt keine Rolle, wie geistige Zustände hervorgerufen werden, wenn sie überhaupt hervorgerufen werden. Fest steht, dass die Aktivität, die im materiellen Gehirn erzeugt wird, irgendwie die Erfahrung der sekundären Qualitäten hervorruft. Diese Erfahrung ist außerordentlich persönlich und privat. Auf jeden Fall können wir die Erfahrung des Gelbs außerhalb unseres Geistes nirgendwo finden, und doch glauben wir, dass unser Geist einwandfrei arbeitet. Descartes war der bedeutendste Dualist in der Geschichte der Philosophie (sein Ansatz wird häufig als kartesianischer Dualismus bezeichnet). Bereitwillig übernahm er die Vorstellung, dass die sekundären Qualitäten von Objekten nur in unserem Geist existieren. Weiter vertrat er die Auffassung, dass Veränderungen, die wir in diesen sekundären Qualitäten wahrnehmen, in irgendeiner Weise zu entsprechenden Modifikationen in den Objekten selbst in Beziehung stehen müssen, wenngleich wir unter Umständen nie in der Lage sein werden, den tatsächlichen Charakter dieser Beziehung zu entdecken.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
So vernünftig und realistisch Aristoteles auch erschienen sein mochte, wir sind wieder in Platons Höhle gefangen. Der Pragmatiker in Ihnen ist vielleicht noch nicht zufriedengestellt. Der menschliche Geist, sagen Sie, ist das Ergebnis einer Jahrmillionen währenden natürlichen Selektion, eines evolutionären Prozesses, der zu uns, dem Homo sapiens, geführt hat. Ist unter diesen Umständen die Hypothese vernünftig, dass sich der menschliche Geist auf der Grundlage eines Gehirns entwickelt hat, dessen Sinnesapparat – sehen, schmecken, riechen, tasten und hören – nicht vollständig auf die materielle Wirklichkeit abgestimmt ist? Anders gesagt, wäre ein Organismus lebensfähig, der die Welt um sich her ganz anders wahrnähme, als sie ist? Sie können akzeptieren, dass der Begriff des Gelbs nur in Ihrem Geist existiert, um dann vorzubringen, dass diese Erfahrung sich unmittelbar aus den Eigenschaften materieller Objekte in der realen Welt mit realen primären Qualitäten wie Größe, Gestalt, Dichte, Bewegung und Zahl ergebe. Eine Zitrone hat eine reale physikalische Ausdehnung im dreidimensionalen Raum. Wenn Sie sie ins Licht halten, wird das Licht von ihrer Oberfläche reflektiert. Die Zapfen in Ihrer Netzhaut – das dürfen wir jetzt verraten – sprechen auf Wellenlängen des Lichts an, die wir mit den Primärfarben Rot, Grün und Blau assoziieren. Im visuellen Kortex gibt es Neuronengruppen, die auf gegensätzliche Farbsignale reagieren. Eine Gruppe wird von Rot aktiviert, aber von Grün gehemmt. Eine andere reagiert auf Grün und stellt ihre Aktivität bei Rot ein. Wieder eine andere spricht auf Gelb an und wird von Blau gehemmt. Eine vierte feuert bei Blau und verstummt bei Gelb. Viele Daten lassen daraufschließen, dass unsere Fähigkeit, Primärfarben zu erkennen und zu erinnern, nicht erlernt ist. Sie hängt nicht von der Namensgebung und der Sprache ab. Kleinkinder können Farben identifizieren, lange bevor sie ihre Bezeichnungen kennen.
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Kapitel fünf – Descartes’ Dämon
Anthropologen wissen von Eingeborenenstämmen, die alle drei Primärfarben erkennen können, obwohl ihre Sprache nur Wörter für zwei aufweist. Wir erkennen die Primärfarben, weil das menschliche Auge im Zuge der Evolution drei verschiedene Zapfenarten erworben hat. Diese Fähigkeit ist ein direktes Ergebnis unserer Erbanlage und damit das Resultat eines Selektionsdruckes. Warum sollte diese Fähigkeit selektiert worden sein, wenn sie keinen evolutionären Vorteil gehabt hätte? Warum sollten wir Farben wahrnehmen, wenn Farben nicht Teil einer äußeren Wirklichkeit wären, in der wir überleben müssen? Das Gleiche gilt für andere Elemente der menschlichen Wahrnehmung. Farben erfüllen unsere Welt mit Leben und ermöglichen uns zu sehen.5 Der Geschmack hilft uns bei der Entscheidung, welche Nahrung genießbar, ungenießbar oder giftig ist. Tasten, Riechen und Hören ermöglichen uns, uns in der materiellen Welt zu bewegen und mit ihr zu interagieren, Beute- oder Raubtiere zu entdecken, eine Situation als harmlos oder gefährlich einzustufen. Hängt also unser Überleben nicht unzweifelhaft von unserem Sinnesapparat ab, der unserem Geist Nachrichten über die Wirklichkeit sendet, wie sie wirklich ist? Das ist ein überzeugendes Argument, aber letztlich nicht aufrechtzuerhalten. Um zu erkennen, warum, wollen wir betrachten, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Als wir oben die gesellschaftliche Wirklichkeit erörterten, haben wir erkannt, dass ein Großteil unserer alltäglichen sozialen Interaktion mit anderen Menschen dazu führt, dass wir fortwährend Theorien 5 Dabei geht es nicht darum, die ganze Vielfalt des sichtbaren Spektrums wahr-
Dabei handelt es sich jedoch noch immer um Farben. Eine Welt vollkommen ohne
zunehmen. Menschen, die farbenblind
Farbe irgendeiner Art wäre für uns
sind, nehmen Objekte in Grautönen und
unsichtbar. In einer vollkommen farb-
Abstufungen anderer Farben wahr.
losen Welt wären wir blind.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
entwickeln, um herauszufinden, was in ihren Gedanken vor sich geht, und Vermutungen darüber anzustellen, wie sie die Welt wahrnehmen und was für Theorien sie selber entwerfen. Wenn ich die Farbe Gelb wahrnehme, die Oberfläche der Zitrone ertaste, sie schmecke, die mit Zitronenduft erfüllte Luft rieche und die Musik von U2 höre, scheint die Annahme durchaus vernünftig, dass Sie, falls Sie im Vollbesitz Ihrer Fähigkeiten sind, ähnliche, wenn nicht sogar identische Erfahrungen an meiner Stelle machten. Ihre Reaktionen sind vielleicht anders: Vielleicht mögen Sie den Zitronengeschmack nicht, finden den Geruch zu aufdringlich oder hören lieber Led Zeppelin als U2,6 doch obwohl ich natürlich nie erleben kann, was Sie erleben, scheint doch die Annahme berechtigt, dass Ihre Erfahrungen den meinen ähneln. Erfahrungen sind persönlich und subjektiv, können aber, zumindest in diesem Sinne, geteilt werden. Akzeptieren wir also einen Moment lang die Vorstellung, dass nicht nur wir, sondern auch andere Menschen geistige Funktionen haben und dass sie dank dieser Funktionen ähnliche Erfahrungen machen, wenn ihnen bestimmte äußere Reize dargeboten werden. Sie könnten vorbringen, damit sei bewiesen, dass diese geistigen Funktionen auf die realen Eigenschaften einer realen Außenwelt fokussiert sein müssen. Der Umstand, dass wir alle die Farbe Gelb erkennen können, muss doch bedeuten, dass Gelb als eine reale Eigenschaft einer Zitrone existiert. Diesem Argument könnte ich begegnen, indem ich Sie zu dem Eingeständnis zwänge, dass Ihr Begriff der Farbe Gelb durchaus anders sein könnte als der meine (mein Gelb könnte beispielsweise Ihr Grün sein), aber mir hat dieser Einwand nie besonders gefallen. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit stattdessen lieber auf jenes frühere Stadium lenken, in dem wir sagten, wir hielten es für wenig wahr6 Das dritte Stück auf Led Zeppelin II heißt «The Lemon Song».
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Kapitel fünf – Descartes’ Dämon
scheinlich, dass die Evolution eine erfolgreiche Art hervorbringen könne, welche ihre Umwelt anders wahrnähme, als sie wirklich sei. 1974 veröffentlichte der Philosoph Thomas Nagel in der Zeitschrift The Philosophical Review einen höchst anregenden Artikel mit dem Titel «What is it like to be a bat?» («Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?»). Wie Sie vermutlich wissen, sind Fledermäuse die einzigen fliegenden Säugetiere und weisen insgesamt 950 verschiedene Arten auf, die größten mit einer furchterregenden Spannweite von fast zwei Metern. Sie ernähren sich von Insekten, Fischen, Fröschen, Obst und Nektar, und einige (die Vampire) trinken das Blut anderer Säugetiere. Die kleineren Microchiroptera jagen bei Nacht Insekten. Da sie im Dunkeln relativ schlecht sehen, bedienen sie sich eines hochentwickelten Sonars oder Echolots. Sie erzeugen hochfrequente Laute, die überwiegend oberhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle liegen. Diese Schallwellen werden von Gegenständen in ihrer Umgebung zurückgeworfen und bilden so Echos, welche die Tiere auffangen können. Das ist beileibe keine stille Aktivität. Lägen die Rufe der Fledermäuse im Bereich menschlichen Hörens, könnten wir sie in der Nachtluft mit der Lautstärke von Rauchmeldern kreischen hören. Mit Hilfe der Echos verschafft sich die Fledermaus Informationen über die Gegenstände in ihrer Umgebung – über ihre Größe, Gestalt, Richtung, Entfernung und Bewegung. Es ist ein genau abgestimmter Sinnesapparat. Fledermäuse haben keine Schwierigkeit, winzige Insekten, etwa Mücken, zu orten und Objekte von der Dicke eines menschlichen Haares zu erkennen. Sie sind merkwürdige kleine Geschöpfe oder, wie Nagel sagt: «Wer jemals einige Zeit mit einer aufgeregten Fledermaus in einem abgeschlossenen Raum verbracht hat, weiß, auch ohne philosophische Überlegungen zu bemühen, was es heißt, einer fundamental fremden Lebensform zu begegnen.» Als Nagel fragte, wie es sei, eine Fledermaus zu sein, meinte er damit nicht, dass wir uns überlegen sollten, wie es wohl wäre, fleder-
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
mausartige Erfahrungen zu haben, im Dunkeln herumzufliegen und Insekten zu fangen. Vielmehr fordert er uns auf, uns vorzustellen, wie es für eine Fledermaus sei, eine Fledermaus zu sein. Wie sieht die Welt vom Standpunkt der Fledermaus aus, was ist für sie Wirklichkeit? Die Fledermaus ist ein hochentwickeltes Säugetier, das sich in seiner ökologischen Nische erfolgreich behauptet. Was würde eine Fledermaus antworten, wenn wir wie Doktor Doolittle mit ihr sprechen könnten und sie auffordern würden, uns ihre äußere Wirklichkeit zu beschreiben? Menschen stoßen keine hochfrequenten Laute aus, um mit Hilfe der Echos Informationen über ihre Umgebung zu sammeln. Wir können uns unmöglich ausmalen, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein, weil wir nicht über den Sinnesapparat der Fledermaus verfügen, genauso wie wir jemandem, der von Geburt an blind ist, keine Farben beschreiben können. Ich weiß natürlich nicht, was mir eine sprechende Fledermaus erzählen würde, aber ich nehme an, ich würde mich bemühen, ihre Beschreibung der Wirklichkeit zu verstehen. Und doch bewohnen die Fledermaus und ich (und Sie) vermutlich dieselbe Wirklichkeit, die – Sie erinnern sich – unabhängig von meiner Fähigkeit (oder derjenigen der Fledermaus) existiert, sie zu erfassen. Dass ich nicht verstehen kann, wie die Wirklichkeit für eine Fledermaus ist, bedeutet nicht, dass die Art, wie die Fledermaus diese Wirklichkeit wahrnimmt und erfährt, in irgendeiner Weise weniger legitim ist als meine Art. Daraus folgt, dass der Evolutionsdruck zur Selektion eines Sinnesapparates führt, der eine fein abgestimmte Repräsentation der Wirklichkeit liefert. Wie die Repräsentation ausfällt, hängt von der Beschaffenheit der ökologischen Nische ab, um welche die Art konkurriert. Wichtig ist allein, dass es sich um eine Repräsentation handelt, die Überlebensvorteile verschafft. Es gibt keinen Evolutionsdruck, geistige Funktionen zu selektieren, welche die Wirklichkeit repräsentieren, wie sie wirklich ist.
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Kapitel fünf – Descartes’ Dämon
Wir sind in Platons Welt der Erscheinungen eingesperrt. Kein Weg führt an der Tatsache vorbei, dass die Wirklichkeit, wie sie von Menschen wahrgenommen und erfahren wird, dadurch zustande kommt, dass eine Unzahl physikalischer und chemischer Ereignisse, die sich in ihr vollziehen, gesammelt, zusammengefasst und interpretiert werden. Die Erzeugung sekundärer Qualitäten wie Farbe, Geschmack, Geruch, Weichheit und Melodie ist das Resultat dieser Interpretation in unserem Geist. Durch Interpretation entsteht eine an den sekundären Qualitäten orientierte Vorstellung von der Wirklichkeit. Das können Qualitäten sein, über die wir uns einigen und die wir einander daher mitteilen können, ein Mensch dem anderen. Doch da es andere Möglichkeiten gibt, Wirklichkeit wahrzunehmen und zu erfahren, die uns unzugänglich sind, müssen wir einräumen, dass wir keinen Beweis für das Argument haben, unsere Vorstellung der Wirklichkeit – unsere Wirklichkeit der Erscheinungen – sei identisch mit der Wirklichkeit an sich. Vielleicht sind Sie nicht sonderlich bekümmert. Ihnen erscheint es relativ leicht, den Unterschied zwischen primären und sekundären Qualitäten zu erkennen. Wenn Sie eine Zitrone betrachten, sehen Sie etwas – was immer es sein mag –, das die Sinneserfahrung einer gelben Zitrone hervorruft. Sie glauben zu verstehen, warum die Gestalt eine intrinsische Eigenschaft, eine primäre Qualität, der wirklichen Zitrone sein könnte, die dem von Ihnen wahrgenommenen Erscheinungsbild der Frucht zugrunde liegt. Sie können auch verstehen, dass jeder Versuch, mit der Zitrone zu interagieren, sie anzusehen, zu schmecken oder zu berühren, Ihnen Sinneseindrücke vermitteln würde, die nicht unbedingt das wahre Wesen der Zitrone widerspiegeln müssen. Doch jetzt meldet sich möglicherweise ein nagender Zweifel in Ihrem Hinterkopf. Vielleicht ist er sogar mit ein bisschen Furcht vermischt. Wenn die Logik verlangt, dass Sie die Wirklichkeit der sekundären
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Qualitäten materieller Objekte bestreiten, dann müssen Sie gewiss auch die Wirklichkeit der primären Qualitäten in Frage stellen. Denn wenn Sie sich anschicken, diejenigen Informationen über die materielle Welt abzulehnen, die Ihrem Geist von den Sinnesorganen übermittelt werden, so bedeutet das mit Sicherheit, dass Sie alles ablehnen, da Ihre Sinnesorgane Ihre einzige Möglichkeit darstellen, Informationen über die materielle Welt zu gewinnen. Jetzt fühlen Sie sich möglicherweise wirklich wie Lewis Carrolls Alice, die in den Kaninchenbau hineinspringt und an seinen glatten Wänden verzweifelt nach Halt sucht. Es wird sehr dunkel ...
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Kapitel sechs
Gehirne im Tank Was ist wirklich? Wie definieren wir wirklich? Wenn du berichtest, was du fühlen, riechen, was du schmecken und sehen kannst, bedeutet «wirklich» einfach elektrische Signale, die dein Gehirn interpretiert. MORPHEUS, MATRIX
Der erste Philosoph, der die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten ernsthaft in Frage stellte, war George Berkeley. Berkeley wurde am 12. März 1685 in Disert Castle bei Thomastown in Irland geboren, 35 Jahre nachdem Descartes an den Unbilden eines schwedischen Winters gestorben war. Er promovierte am Trinity College in Dublin und veröffentlichte 1710, mit 25 Jahren, das Werk, mit dem er der Nachwelt vor allem in Erinnerung geblieben ist.1 Es war die Schrift Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen
Erkenntnis. Laut Descartes und anderen, die ihm nacheiferten (vor allem der britische Philosoph John Locke), besitzen materielle Objekte primä1 Der Ort Berkeley bei San Francisco
sich Ella Fitzgerald und Louis Armstrong
verdankt seinen Namen George Berke-
über die Ausspracheunterschiede des
ley, obwohl die Amerikaner eine eigene
Englischen und Amerikanischen lustig
Aussprache entwickelt haben. You say
machen.]
tomato, I say tomato! [Ein Song, in dem
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
re Qualitäten wie Ausdehnung im Raum, Form, Bewegung, Dichte, Zahl und so fort, die alle auf dem Begriff der körperlichen Substanz beruhen. Diese Dinge sind stofflich, und der Stoff existiert unabhängig von uns. Sekundäre Qualitäten wie Farbe gibt es nur in unserem Geist, weshalb von ihnen nicht gesagt werden kann, dass sie unabhängig existierende reale Qualitäten materieller Objekte sind. Diese philosophische Position wird im Allgemeinen als Rationalismus bezeichnet. Sosehr sich Berkeley auch bemühte, er konnte den Unterschied nicht erkennen:
Ich bitte jedermann, durch eigenes Nachdenken zu prüfen, ob er sich durch irgendeine gedankliche Abstraktion die Ausdehnung und Bewegung eines Körpers ohne alle anderen Sinnesqualitäten vorstellen kann. Ich meinerseits sehe deutlich, dass es nicht in meiner Macht steht, die Idee eines ausgedehnten und bewegten Körpers zu bilden, ohne dass ich ihm zugleich eine Farbe oder eine andere Sinnesqualität beilege, die zugegebenermaßen nur im Geist existiert. Kurzum, Ausdehnung, Gestalt und Bewegung sind unvorstellbar, wenn sie von allen anderen Qualitäten abstrahiert werden. Berkeley behauptete, es sei unmöglich, primäre und sekundäre Qualitäten zu trennen: Wir können uns keine Objekte vorstellen, die Qualitäten der einen, aber nicht der anderen Art haben, die beispielsweise eine Form besitzen, aber keine Farbe. Unsere Gedanken und Vorstellungen über primäre Qualitäten von Objekten sind genau das – Gedanken und Vorstellungen – und daher im Prinzip nicht zu unterscheiden von den Gedanken und Vorstellungen, die wir von sekundären Qualitäten haben. Wenn diese sekundären Qualitäten nur in unserem Geist existieren, dann gilt das für alle Qualitäten. Daher gibt es keinen Grund, an der Vorstellung festzuhalten, dass wir über
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Kapitel sechs – Gehirne im Tank
irgendetwas, was jenseits unserer Wahrnehmung liegt, Gewissheit erlangen können. Berkeleys Logik ist unbarmherzig, aber zwingend. Wir können an der Vorstellung festhalten, dass es eine unabhängig existierende körperliche Substanz gibt, doch müssen wir dann akzeptieren, dass wir ihr keine unabhängigen realen Eigenschaften zuweisen können und dass wir nicht darauf hoffen dürfen, jemals erklären zu können, wie diese Substanz die Wahrnehmungen hervorruft, in denen sie uns erscheint. Bei naturwissenschaftlichen Überlegungen wird ein solcher sinnentleerter theoretischer Begriff häufig mit Hilfe von Ockhams Rasiermesser2 als nutzloses Anhängsel abgetrennt. Oberflächlich betrachtet, wird dadurch ein unausweichliches Problem aufgeworfen. Was veranlasst mich, die Wahrnehmungen zu haben, die ich habe? Bin ich auf die Schlussfolgerung zurückgeworfen, dass das Einzige, was existiert, mein Geist ist? Das wollte Berkeley nicht. Vielmehr lautete für ihn die einzige evidente Schlussfolgerung, dass unsere ganze Welt aus Wahrnehmung konstruiert ist und dass daher unsere Wahrnehmungen das Einzige sind, was sich unserer Erkenntnis wirklich erschließt. Die Wahrnehmung sei unsere Wirklichkeit, sagte er: Es sei uns unmöglich, jemals eine Wirklichkeit zu erkennen, die wir nicht wahrnehmen können, daher sei es sinnlos, über die Existenz einer solchen unabhängigen Wirklichkeit zu spekulieren: esse est percipi, Essenz ist Wahrnehmung oder «zu sein ist, wahrgenommen zu werden». Berkeley war der erste Philosoph, der die Auffassung vertrat, dass empirische Erkenntnis, also Erkenntnis, die allein durch Erfahrung (und nicht 2 Benannt nach dem Franziskanermönch
vermehrt werden. Obwohl sich in seinen
William von Ockham aus dem 14. Jahr-
Schriften kein Hinweis auf den Wort-
hundert. Häufig wird ihm der Satz zuge-
laut dieser Äußerung findet, gibt sie
schrieben: entia non sunt multiplicanda
doch den Geist seiner Ansicht exakt
praeter necessitatem – Entitäten dürfen
wieder,
nicht über das Notwendige hinaus
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
durch abstraktes Denken oder Theoretisieren) erworben wird, die einzig gültige Form der Erkenntnis ist. Einen Moment. Folgt daraus, dass alles in dem Zimmer – dem mit der Zitrone, der Duftkerze und U2 in der Stereoanlage – aufhört zu existieren, wenn Sie es verlassen, weil Sie es nicht mehr erfahren? Ist es wie in dem alten Limerick mit dem Baum und dem Hof?3 Folgt daraus, dass die Wörter, die Sie in diesem Moment auf dieser Seite lesen, nicht mehr existieren, wenn Sie die Augen schließen? Nein. Berkeley beweist zunächst die einfache Wahrheit, dass Sie immer nur erkennen können, was Sie wahrnehmen. Doch daraus schließt er nicht, dass Ihre ganze Welt daher notgedrungen eine Illusion oder Halluzination sein muss. Ganz im Gegenteil. Er räumt ein, dass es etwas außerhalb Ihres Geistes (ja, jedes Geistes) geben muss, das uns veranlasst, die Wahrnehmungen zu haben, die wir haben. Er ist nur nicht überzeugt davon, dass diese Ursache die körperliche Substanz ist, von der wir meinen, sie sei die Grundlage der primären Qualitäten eines Objektes. 1721 empfing Berkeley die Priesterweihe und promovierte in Theologie. 1734 wurde er Bischof von Cloyne in Irland. Für ihn lag die Ursache aller unserer Wahrnehmungen auf der Hand: Sie war Gott. Und dabei argumentierte er wie folgt: Wir haben Gedanken und Vorstellungen über Objekte in der materiellen Welt, aber wir haben keine Beweise für die Existenz dieser Dinge, abgesehen von den Informationen unserer Sinnesorgane. Wahrnehmung ist Wirklichkeit, und diese Dinge existieren in der Form, in der wir sie wahrnehmen, nur als Gedanken und Vorstellungen in unserem Geist. 3 There once was a man who said: «God
(Es war einmal ein Mann, der sagte:
Must think it exceedingly odd
«Gott / Muss es für außerordentlich
If he finds that this tree
merkwürdig halten / Wenn er feststellt,
Continues to be
dass dieser Baum / fortfährt zu sein /
When there’s no one about in the quad.
Auch wenn niemand im Hof ist.)
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Kapitel sechs – Gehirne im Tank
Unser Geist ist deshalb notwendig, um diese Wirklichkeit zu erzeugen und zu erhalten. Doch diese Wirklichkeit bewegt sich nicht ständig zwischen Existenz und Nichtexistenz hin und her, wie es die Launen unserer begrenzten Aufmerksamkeitsspanne diktieren. Die Wirklichkeit wird erzeugt und erhalten, weil sie fortwährend im Geist eines allgegenwärtigen Gottes lebendig ist. Die Berge, Bäche und Bäume der Un-Erde existieren aber noch weiter, wenn kein Geist eines Sterblichen zugegen ist, weil diese Objekte Gedanken und Vorstellungen im Geist Gottes sind. Das ist übrigens auch die Schlussfolgerung der anonymen Erwiderung auf den berühmten Limerick.4 Heute sind wir nicht ganz so zufrieden mit der Antwort. Doch Berkeleys Logik ist absolut unangreifbar. Unsere Erkenntnis der Wirklichkeit erwächst ausschließlich aus Wahrnehmungen, die Gedanken und Vorstellungen in unserem Geist hervorrufen. An sich ist das nicht besonders rätselhaft. Gedanken und Vorstellungen stammen von uns selbst. Sie kommen von «innen heraus». Das können Gedanken und Vorstellungen über «wirkliche» Dinge sein, aber auch über imaginäre Dinge wie Einhörner, Zombies oder Gandalf. Diese imaginären Dinge haben unter Umständen keinen anderen Ursprung als unseren Geist.5 Anders gesagt, unser Geist ist der einzige 4 Dear Sir, Your astonishment’s odd; I am always about in the quad
Einhörner, Zombies und Gandalf der Tatsache zu verdanken sind, dass ich sie
And that’s why the tree
in Büchern und Filmen wahrgenommen
Will continue to be
habe. Was mich aber nicht hindert,
Since observed by Yours faithfully God.
imaginäre Dinge in meiner Vorstellung
(Bester Herr, Ihr Erstaunen ist merk-
zu erschaffen, für die ich keine Wahr-
würdig / Ich bin immer zugegen im Hof /
nehmungen als Vorlage habe. Schauen
Deshalb wird der Baum / Fortdauern zu
Sie, ich habe gerade an etwas gedacht,
sein / Da er beobachtet wird von Ihrem
für das ich keinen Namen habe. Ich
hochachtungsvoll verbleibenden Gott. 5 Gut, ich gebe zu, dass meine Gedanken über literarische Schöpfungen wie
habe keine Ahnung, was es ist, aber es besitzt drei Köpfe und einen Körper, der einem ziemlich großen Pudding gleicht.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Ort, wo solche Dinge existieren können. Unsere Wahrnehmungen erfolgen von «außen nach innen». Was veranlasst uns, diese Wahrnehmungen zu haben? Woher sollten sie kommen, wenn nicht von einem anderen Geist ganz ähnlich dem unseren, der jedoch die ganze Welt als Gedanken enthielte? Berkeleys Argument ist frustrierend schwer zu widerlegen. Einen bemerkenswerten Versuch machte Samuel Johnson, der im 18. Jahrhundert das erste Wörterbuch der englischen Sprache zusammenstellte.6 Hören wir Johnsons Biographen James Boswell:
Als wir aus der Kirche kamen, standen wir noch eine Weile beisammen und sprachen über den geistreichen Sophismus, mit dem Bischof Berkeley beweist, dass Materie nicht existiert und dass alles im Universum rein ideal ist. Ich meinte, obwohl wir überzeugt seien, dass seine Lehre nicht der Wahrheit entspreche, sei es doch unmöglich, sie zu widerlegen. Ich werde nie vergessen, mit welcher Heftigkeit Johnson antwortete, indem er so wütend gegen einen Stein trat, dass sein Fuß von ihm zurückprallte – «Ich widerlege es so». Doch das klappt nicht. Johnson hat möglicherweise die visuellen Wahrnehmungen mit der allgemeinen Wahrnehmung verwechselt und gemeint, Berkeleys Schlussfolgerung esse est percipi müsse ausgelegt werden als «zu sein ist, gesehen zu werden». Wäre das wirklich Berkeleys Schlussfolgerung gewesen, könnte man sie in der Tat leicht durch die Erzeugung einer beliebigen anderen Sinneswahrnehmung widerlegen, etwa durch einen Tritt gegen einen Stein – einen Vorgang, den man durch den Schmerz eines geprellten Zehs wahrneh6 Fans der britischen Fernsehserie
behalten, in der er von dem Schauspieler
Blackadder werden Johnson immer in
und Comedian Robbie Coltrane porträ-
der denkwürdigen Form in Erinnerung
tiert wurde.
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Kapitel sechs – Gehirne im Tank
men oder erfahren würde. Doch Berkeleys Schlussfolgerung bezieht sich auf alle Arten von Sinneswahrnehmungen. Alles, was wir jemals wissen können, entstammt unserer Wahrnehmung. Ex definitione haben wir keinen Zugang zu irgendwelchen Belegen für eine unabhängige materielle Wirklichkeit, die uns veranlasst, diese Wahrnehmungen zu haben. Wenn wir die These ablehnen, nach der es sich um Gedanken im Geist Gottes handelt, was bleibt uns dann noch? Nehmen wir an, es gibt einen bösen Wissenschaftler, der in der Lage ist, Ihr Gehirn aus dem Schädel zu entfernen und es in einem Tank mit Nährstoffen am Leben zu halten (Ihren Körper entsorgt er leider). Ferner gelingt ihm die Erhaltung Ihres Sehnervs, Riechnervs, der Geschmacksnerven und der Nerven, die in Ihren somatosensorischen und auditorischen Kortex führen.7 Alle diese Nervenendigungen wären normalerweise mit den Sinnesorganen Ihres Körpers verbunden, doch unser böser Wissenschaftler schließt sie stattdessen an die Output-Terminals eines riesigen Computers an. Die Nervenendigungen Ihrer motorischen Kortexfelder sind entsprechend mit den Input-Terminals des Computers verbunden. Alle Nervenbahnen Ihres Gehirns und alle Inhalte Ihres Kurz- und Langzeitgedächtnisses bleiben erhalten, genauso wie Ihr Identitätsgefühl und Ihr Selbstsinn. Also täuschen Sie sich nicht, das Gehirn im Tank ist das Ihre. 7 Geschmack und Geruch sind eng
Forscher streiten gegenwärtig über eine
miteinander verbunden. Unsere
mögliche fünfte Richtung). Außerdem
alltäglichen Geschmacksempfindungen
stützen wir uns noch auf eine Wahrneh-
bestehen tatsächlich zu drei Vierteln aus
mungsform, die man als allgemeinen
Geruchseindrücken. Die Geschmacks-
chemischen Sinn bezeichnet – Tausende
knospen können nur vier verschiedene
von freien Nervenendigungen in den
Geschmacksrichtungen unterscheiden
Schleimhäuten von Augen, Nase, Mund
– süß, sauer, salzig und bitter (die
und Rachen.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Der Computer ist so programmiert, dass er eine VR-Simulation (VR steht für Virtuelle Realität) der Ihnen vertrauten Welt ablaufen lässt. Die Output-Signale, welche die Simulation erzeugt, gleichen den Nervenreizungen aufs Haar, die erforderlich sind, um diese Welt in Ihrem Gehirn und damit in Ihrem Geist zu reproduzieren. Die elektrischen Signale werden in Ihr Gehirn eingespeist, das in Wirklichkeit entspannt in einem Tank ruht. Doch Sie interpretieren diese Signale in Ihrem Geist als reale Umgebung. Die Computersimulation ist vollkommen interaktiv. Wenn Sie denken, dass Sie die Hand heben wollen, werden Signale Ihres motorischen Kortex vom Computer interpretiert, in die erforderlichen Simulationen übersetzt und dann wieder in Ihr Gehirn eingegeben. Ihr Geist nimmt wahr, dass Sie die Hand gehoben haben. Obwohl Sie weder Hand noch Gesicht oder Augen haben, empfangen Sie Signale, die Sie als Hand vor Ihrem Gesicht interpretieren. Wenn Sie gegen einen großen Stein treten, übersetzt der Computer die Signale aus Ihrem motorischen Kortex und liefert die erforderlichen Signale an Ihren visuellen und somatosensorischen Kortex sowie Ihre Schmerzzentren. Sie sehen Ihren Fuß vorschnellen und empfinden den Schmerz. Der böse Wissenschaftler hat aus Ihrem Gedächtnis alle Erinnerungen an die durchgeführten Operationen gelöscht. Soweit es Sie betrifft, ist nichts Ungewöhnliches passiert. Ihr Leben geht weiter wie bisher. Dieses teuflische Gehirn-im-Tank-Szenario ist eine philosophische Erfindung und wird im Allgemeinen mit dem zeitgenössischen Philosophen Hilary Putnam in Zusammenhang gebracht. Er schrieb in
Vernunft, Wahrheit und Geschichte: Es kann dem Opfer auch so vorkommen, als säße es im Sessel und läse diese Worte über die amüsante, aber ziemlich absurde Annahme, es gäbe einen bösen Wissenschaftler, der das Gehirn
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Kapitel sechs – Gehirne im Tank
von Menschen aus ihrem Körper entferne und es in einen Tank mit Nährflüssigkeit lege, um es am Leben zu erhalten. Obwohl das ziemlich weit hergeholt klingen mag, ist dieses Szenario bei weitem nicht so fiktiv, wie es Ihnen vielleicht erscheint. In den 1950er Jahren operierte der kanadische Neurochirurg Wilder Penfield über tausend Patienten, die an einer bestimmten Hirnschädigung litten.8 Um die geschädigten Regionen zu finden, legten Penfield und seine Mitarbeiter die Oberfläche des Gehirns frei und stimulierten sie mit Elektroden. Da es keine Schmerzrezeptoren im Gehirn gibt (was sollten sie dort auch?), ließ sich diese ganze Prozedur unter örtlicher Betäubung durchführen. Die Patienten blieben bei Bewusstsein und berichteten den Chirurgen, was sie fühlten. Mit Hilfe dieser Methode war Penfield in der Lage, die Oberfläche des somatosensorischen und motorischen Kortex zu kartieren und zu ermitteln, welche Teile des Gehirns für die Verarbeitung des sensorischen Inputs und welche für die motorischen Reaktionen verantwortlich sind. Diese Karten befinden sich heute in jedem Lehrbuch der Neurowissenschaft und werden häufig beschrieben als Projektion eines Homunkulus («Menschleins») auf die Oberfläche beider Hälften der Großhirnrinde, wobei die Form so verzerrt ist, dass sie die Stärke der hervorgerufenen Empfindung oder Reaktion wiedergibt. Solche Abbildungen zeigen, welche relative Bedeutung die Empfindungen und Bewegungen der Hände (speziell der Finger und des Daumens), des Gesichts (speziell der Lippen) und der Zunge habend Manchmal berichteten Patienten bei der Reizung bestimmter 8 Unter anderem auch seine eigene Schwester. 9 Die Karten sind fast spiegelbildlich,
ganz sauber. Der motorische Kortex empfängt auch ein gewisses Maß an sensorischen Inputs, und Reizungen
doch die Scheidung in sensorische und
des somatosensorischen Kortex können
motorische Reaktionen ist nicht
gelegentlich Bewegungen hervorrufen.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Regionen von Empfindungen, und manchmal führten sie unwillkürliche Bewegungen aus. Wenn Teile des rechten und des linken Temporallappens stimuliert wurden, gaben einige an, sie sähen und hörten Dinge (manchmal getrennt, manchmal zusammen). Teilweise berichteten sie auch von Gedanken, Gedächtnisabrufen und visuellen Flashbacks. Einige erzählten von traumartigen Erfahrungen. Könnten Sie also ein Gehirn im Tank sein? Wenn alles Wissen über die materielle Welt um Sie her aus Ihrer Wahrnehmung stammt und wenn Ihre Wahrnehmungen so manipuliert werden, dass sie Ihnen den Eindruck von Wirklichkeit vermitteln, wie sollten Sie es dann merken? Wenn wir dieses Szenario zu einer Situation erweitern (wie Putnam es tut), in der alle Menschen nur Gehirne im Tank sind, befinden wir uns wieder mitten im Reich von Matrix. Statt nur die herausgelösten Gehirne legt die Maschinenintelligenz im Film ganze Menschen in einzelne Tanks mit Nährflüssigkeit, um so ihr Kraftwerk zu betreiben, und versorgt die Körper über Kabel, die an ihre Gehirne angeschlossen sind, mit einer VR-Simulation. Die Simulation (die Matrix) ist so lebendig, dass sich selbst für die Mitglieder der menschlichen Widerstandsbewegung, die sich in die Matrix begeben, aus ihren geistigen Erfahrungen körperliche Konsequenzen ergeben können, obwohl sie doch wissen, dass die Matrix nicht real ist. Als Neo der Sprung zwischen zwei hohen Gebäuden im «Jump-Programm» misslingt, einer Matrix-artigen Simulation, die vom Widerstand für Trainingszwecke entwickelt wurde, fällt Neo zu Boden. Bei der Rückkehr in die wirkliche Welt stellt er fest, dass er infolge des Sturzes aus dem Mund blutet. «Ich dachte, es sei nicht wirklich», sagt er. «Dein Geist macht es real», erwidert Morpheus. Wie sich herausstellt, sterben die Menschen, wenn sie in der Matrix getötet werden, auch in der wirklichen Welt: «Der Körper kann nicht ohne den Geist leben.»
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Kapitel sechs – Gehirne im Tank
Es ließe sich darüber streiten, ob das Drehbuch der WachowskiBrüder logisch schlüssig ist oder nicht,10 doch die Fortschritte der VR-Simulationen, die, weitgehend unter dem Einfluss der Computerspielindustrie, von der wachsenden Leistungsfähigkeit der Rechner vorangetrieben wurden, sind nicht zu leugnen (vergleichen Sie nur die ersten Pingpongspiele der siebziger Jahre mit heutigen interaktiven Online-Multiplayerspielen wie Counterstrike oder Medal of Honour). Ist es wirklich so schwer, sich eine VR-Simulation vorzustellen, die so vollkommen ist, dass sie von der «wirklichen» Welt praktisch nicht mehr zu unterscheiden ist? Wenn Ihre Phantasie so weit reicht, wie können Sie dann sicher sein, dass Sie nicht bereits in dieser Virtuellen Realität leben? Es gibt endlose Variationen über dieses Thema. In seiner Untersuchung über die Rechte des Einzelnen in der Gesellschaft Anarchie, Staat, Utopie beschreibt der zeitgenössische amerikanische Philosoph Robert Nozick ein Gerät, das er Erfahrungsmaschine nennt. Fans von Steven Spielbergs Film Minority Report dürfte diese Erfindung bekannt vorkommen. Ein gesetzlicher Handel mit Erfahrungen, die direkt an der Großhirnrinde der Menschen abgegriffen werden, ist die zentrale Idee des Films Strange Days aus dem Jahr 1995 mit Ralph Fiennes in der Hauptrolle. Wenn wir uns in Nozicks Erfahrungsmaschine einklinken lassen, können wir uns jede angenehme Erfahrung verschaffen, nach der uns der Sinn steht, und sie wird in unserem Geist so lebhaft erzeugt, dass wir sie für die Wirklichkeit halten. Egal, was es ist, sagt Nozick: Sie können auf diese Weise einen großen Roman schreiben, Freunde 10 In dem Zitat aus dem Drehbuch, das
nicht zu Fürsprechern des Eliminativen
am Anfang dieses Kapitels steht,
Materialismus machen wollten, hätten
vergaßen die Wachowski-Brüder das
sie lieber «Geist» anstelle von «Gehirn»
Hören zu erwähnen, und wenn sie sich
sagen sollen.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
finden oder ein interessantes Buch lesen.11 Oder wir können uns in einer Bibliothek die Erfahrungen anderer Menschen ausleihen. Wir können erleben, wie es für jemanden vom anderen Geschlecht ist, Sex zu haben. Wir können erfahren, wie es ist, als Britney Spears oder Madonna auf einer Preisverleihung Küsschen zu geben. Wir können herausfinden, wie es ist, Präsident George W. Bush, Bill Gates oder Arnold Schwarzenegger zu sein. Abgesehen davon, dass die Erfahrungsmaschine nicht die Entnahme unseres Gehirns erforderlich macht, liegt der entscheidende Unterschied zwischen diesem Szenario und dem Gehirn im Tank darin, dass das Einklinken in die Erfahrungsmaschine vollkommen freiwillig erfolgt, zumindest in der Form, in der sie Nozick konzipiert hat. Insofern bringt sie alle Probleme der Moral und der Willensfreiheit mit sich, auch den Unterschied zwischen aktivem Handeln und passiver Erfahrung, der bereits im Zusammenhang mit Cyphers Verrat in Matrix erwähnt wurde. Nozick vertritt die Auffassung, das Einklinken sei wie Selbstmord. In der Maschine seien wir nur noch Klumpen aus menschlichem Fleisch, Blut und Knochen, unbeschriebene Blätter, auf denen sich die künstliche Wirklichkeit einschreibe. Nozick glaubt, wir würden es vorziehen, uns nicht einzuklinken, sondern lieber wir selbst zu sein, um selbst zu erleben und selbst zu handeln. Ich bin mir da nicht so sicher. Wenn sich klar und eindeutig beweisen ließe, dass eine Erfahrungsmaschine vollkommen sicher und ohne unangenehme Nebeneffekte arbeitet, dann würde sie sich, vermute ich, größter Beliebtheit erfreuen. In gewissem Sinne lassen sich chemische Drogen, die Halluzinationen oder Wachträume erzeugen, als begrenzte Erfahrungsmaschinen betrachten. Stanislaw Lems Buch The Futurological Congress ist eine ziemlich düstere Spielart des Themas Gehirn-im-Tank. Als 11 Aber das tun Sie ja bereits.
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Kapitel sechs – Gehirne im Tank
der Protagonist Ijon Tichy aus dem Kälteschlaf erwacht, befindet er sich in einer utopischen Gesellschaft der Zukunft. In Wahrheit wird diese utopische Gesellschaft durch wahrnehmungsverändernde Drogen im Geist ihrer Bürger erzeugt. Es ist eine «Pharmakokratie». «Wir verdanken unsere Befreiung der Chemie», sagt Tichys Kollege Symington, «denn alle Wahrnehmung ist nur eine Veränderung der Konzentration von Wasserstoffionen an der Oberfläche von Gehirnzellen.» Ohne moralische Einschränkungen leben viele Menschen ihre schlimmsten Phantasien aus – Folter, Vergewaltigung und Mord. Egal, ob gut oder böse, alles ist ja nur eine falsche Wirklichkeit. Drogen, die in die Luft gepumpt werden (sogenannte Mascons), sollen die Gesellschaft passiv und blind für die Tatsache machen, dass ein abgewirtschafteter Planet mit 95 Milliarden Menschen kurz vor seiner Vernichtung steht. Eine andere, nicht weniger faszinierende Variation wird in Peter Weirs Film Die Truman Show durchgespielt. Truman Burbank (von Jim Carrey dargestellt) lebt in Seahaven, der Nachbildung einer amerikanischen Kleinstadt. Obwohl keine Computer beteiligt sind, handelt es sich trotzdem um eine Simulation. Alle seine Wahrnehmungen sagen ihm, dass er ein normaler Bürger ist, der ein normales Leben führt. Tatsächlich aber hat er sein ganzes Leben im Inneren eines riesigen, abgeschlossenen Fernsehstudios verbracht, das künstlich den Wechsel von Tag und Nacht und sogar Wettersysteme erzeugt, von 5000 verborgenen Kameras beobachtet wird und mit Schauspielern unter der Regie von Christof bevölkert ist. Doch sosehr sich das Fernsehteam auch bemüht, es kann die wirkliche Welt nicht unbegrenzt ausschließen, sodass Truman schließlich äußerst misstrauisch wird, als ihn eine Reihe unwahrscheinlicher Zufälle daran hindert, seine Traumreise auf die Fidschi-Inseln anzutreten. Der unbestrittene Meister der Geschichten, die sich mit unseren
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Begriffen von Identität, Wahrnehmung und Wirklichkeit befassen, ist der Science-Fiction-Autor Philip K. Dick. Obwohl sein Werk zu seinen Lebzeiten (er starb 1982 mit 53 Jahren) vorwiegend von Science-Fiction-Fans gelesen wurde, haben Dicks Kurzgeschichten und Romane den Regisseuren des Unterhaltungskinos doch vielfach als Vorlagen gedient. Seine Storys liegen vielen populären englischsprachigen Filmen zugrunde, unter anderem Blade Runner (nach seinem Roman Träumen Roboter von elektrischen Schafen?, 1971), Total Recall (nach der Kurzgeschichte «We Can Remember It For You Wholesale»), Minority Report (nach der gleichnamigen Kurzgeschichte aus dem Jahr 1956), Screamers – Tödliche Schreie (nach der Kurzgeschichte «Second Variety», 1953), Impostor (nach der gleichnamigen Kurzgeschichte aus dem Jahr 1953) und zuletzt Die Abrechnung (nach der Kurzgeschichte «Paycheck», 1953). Dick schrieb mehr als 120 Kurzgeschichten und 44 Romane, daher dürfen wir uns sicherlich noch auf viele Filme gefasst machen.12 Eine der außergewöhnlichsten Spielarten des Gehirn-im-Tank-Themas stammt von dem Oxforder Philosophen Nick Bostrom. In einem Artikel, den er 2003 in der Zeitschrift Philosophical Quarterly veröffentlichte, untersuchte er die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens einer der folgenden Sätze wahr ist: (I) Wir Menschen werden aussterben, bevor wir ein «posthumanes» Zivilisationsstadium entwickeln können;13 (II) Jede solche posthumane Zivilisation wird über so ungeheure Computerkapazitäten verfügen, dass Zeitreisen mit Hilfe computererzeugter Simulationen der Vergangenheit (sogenannter 12 Hoffen wir, dass sie besser als Die Abrechnung sind. 13 Das ist nicht gerade sehr klar defi-
Ausstattung physiologisch, neurophysiologisch und neurochemisch so gut im Griff haben, dass es, physisch wie
niert, bedeutet aber im Grunde genom-
emotional betrachtet, sinnlos wäre,
men ein Stadium unserer Entwicklung,
uns weiterhin als Homo sapiens zu
in dem wir unsere genetische
bezeichnen.
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Kapitel sechs – Gehirne im Tank
Ahnen-Simulationen) zur Routine geworden sein werden; (III) Wir leben schon fast in einer Ahnen-Simulation. Bostrom stützt seine Überlegung auf die Beobachtung, dass die Rechenleistung in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein exponentielles Wachstum erlebt hat. Einige Zukunftsforscher haben dieses Wachstum in die Zukunft projiziert. Beispielsweise sagt der Erfinder Ray Kurzweil, die Rechenleistung eines modernen PCs für 1000 Dollar sei irgendwo zwischen Insekt und Maus angesiedelt. Er schätzt, dass ein PC für 1000 Dollar im Jahr 2020 die Rechenkapazität eines menschlichen Gehirns und im Jahr 2050 die von einer Million menschlicher Gehirne besitzen wird. Befürchtete technische Hindernisse (weitgehend von den Grenzen der Halbleiterphysik abgeleitet) hält er für irrelevant. Die Grenzen werden seiner Meinung nach durch die Erfindung vollkommen neuer Technologien überwunden werden. Tatsächlich könnte die erforderliche Technologie bereits bekannt sein. Computer, die auf der Quantenebene operieren, stecken zwar noch in den Kinderschuhen, könnten aber in Zukunft für eine enorm gesteigerte Rechenleistung sorgen. Es scheint kaum einen Anlass zu geben, die Behauptung zu bezweifeln, dass es in einigen hunderttausend oder Millionen Jahren möglich sein müsste, über eine Rechenleistung zu verfügen, die alle unsere heutigen Vorstellungen weit übersteigt und den Eintritt in ein posthumanes Stadium erlaubt. Bleibt noch ein letzter Schritt in der Kette dieser Überlegungen: Wenn die Simulationen hinreichend detailliert sind, spricht nichts gegen die Annahme, dass die dergestalt simulierten Menschen (Sie und ich) tatsächlich bewusst wären.14 Ein wichtiger Schritt in Bo14 Wenn Sie jemals das Computerspiel Die Sims gespielt haben, werden Sie sicherlich ein wenig nachdenklich werden.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
stroms Argumentation, der auf der Annahme beruht, dass Bewusstsein substratunabhängig ist. Das heißt, dass alle hinreichend komplexen komputationalen Strukturen und Prozesse, die geeignet sind, Hirnaktivität auf der Ebene einzelner Neuronen zu simulieren, als bewusst angesehen werden können, auch wenn diese Strukturen und Prozesse möglicherweise kristallines Silizium statt organische, kohlenstoffbasierte Materie als Grundlage haben. Im Grunde genommen ist Bostroms Argument 1999 durch den Film The Thirteenth Floor («Abwärts in die Zukunft»), nach dem Buch Simulacron-drei von Daniel Galouye, bereits vorweggenommen worden: In der Gegenwart (oder in der nahen Zukunft) haben Informatiker ein Computersystem entwickelt, das sich (nach amerikanischer Zählweise) im 13. Stock eines Bürohochhauses im Stadtzentrum von Los Angeles befindet und in der Lage ist, eine detaillierte Simulation des Los Angeles von 1937 zu erzeugen. Die Simulation ist mit computergenerierten Menschen bevölkert, von denen einige nach dem Vorbild der Wissenschaftler selbst geschaffen wurden, zumindest, was ihr körperliches Erscheinungsbild angeht. Wenn die Simulation läuft, führen die computergenerierten Menschen darin ein Leben als vollkommen bewusste Wesen. Die Simulationen soll Menschen der Gegenwart Gelegenheit geben, in die simulierte Welt Eingang zu finden, indem sie ihr Bewusstsein in eine entsprechende Zielfigur übertragen oder «herunterladen». Die Zielpersonen selbst empfinden ein gewisses Unbehagen, weil ihr Bewusstsein auf diese Weise verdrängt wird und weil sie häufig an ungewöhnlichen Plätzen aufwachen, ohne sich erinnern zu können, wie sie dorthin gelangt sind oder was ihnen zugestoßen ist. Sobald sich die Wissenschaftler im Inneren der Simulation befinden, erleben sie die Wirklichkeit des Jahres 1937 in Los Angeles. Schwierigkeiten tauchen auf, als der leitende Wissenschaftler, von Armin Müller-Stahl gespielt, eine verblüffende Entdeckung macht. Er hat die Simulation benutzt, um seiner Schwäche für Showgirls
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Kapitel sechs – Gehirne im Tank
zu frönen. Für seinen Kollegen Douglas Hall, von Craig Bierko gespielt, hinterlässt er eine Nachricht in der Simulation und kehrt in die Gegenwart zurück, wo er brutal ermordet wird. Hall hat ganz offensichtlich etwas mit dem Mord zu tun, leidet aber unter gelegentlichen Gedächtnislücken und wacht häufig an ungewöhnlichen Plätzen auf, ohne sich erinnern zu können, wie er dorthin gelangt oder was ihm zugestoßen ist. Die Lösung kommt nicht unbedingt überraschend: Die Gegenwart ist in Wahrheit eine Ahnen-Simulation, die für Menschen des Jahres 2024 geschaffen wurde. Diese sind beunruhigt darüber, dass computergenerierte Menschen innerhalb einer Simulation die Fähigkeit entwickelt haben, eine eigene Simulation laufen zu lassen, und sind mit einem ungeschickten Versuch gescheitert, diese zu beenden. Wenn Sie in der Gegenwart Zugang zu einer Maschine hätten, die Sie in die Vergangenheit transportieren könnte, sodass Sie Geschichte live beobachten könnten, würden Sie sie benutzen? Hätten Sie vielleicht Lust, Platon in seiner Akademie sprechen zu hören? Die bolschewistische Revolution im zaristischen Russland zu beobachten? Zuzuschauen, wie England die Fußballweltmeisterschaft im Wembley-Stadion gewinnt? Mitzuerleben, wie Ihre Mutter und Ihr Vater sich ineinander verlieben? Herauszufinden, wer JFK wirklich ermordet hat? Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum die Bürger einer posthumanen Zivilisation von ihrer Vergangenheit weniger fasziniert sein sollten. Bei Zugang zu hinreichender Computerkapazität dürfte es auch keinen vernünftigen Grund für die Annahme geben, dass sie nicht in der Lage wären, Geschichte so exakt zu simulieren, dass die real erschiene. Bostrom schließt mit der Überlegung, dass wir, wenn wir jetzt nicht in einer Simulation leben, unsere posthumanen Nachkommen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie Ahnen-Simulationen entwickeln werden. Das lässt sich leicht umkehren. Wenn die Menschheit alle denkbaren Untergangsszenarien überlebt und
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
unsere posthumanen Nachkommen Ahnen-Simulationen auf ihren ungeheuer leistungsfähigen Computern laufen lassen, leben wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in einer solchen:
Wenn wir in einer Simulation leben, ist der Kosmos, den wir beobachten, nur ein winziger Teil der gesamten physikalischen Existenz. Die Physik in dem Universum, in dem sich der für die Simulation verantwortliche Computer befindet, kann der Physik der von uns beobachteten Welt gleichen oder auch nicht. Zwar ist die Welt, die wir sehen, in gewissem Sinne «wirklich», befindet sich aber nicht auf der fundamentalen Wirklichkeitsebene. Alle diese Variationen über das Thema Das-Gehirn-im-Tank haben eine Gemeinsamkeit. Egal, ob es sich um böse Wissenschaftler, aggressive Maschinenintelligenzen, Operatoren von Erfahrungsmaschinen, Lems «Pharmadiktatur», Regisseure raffinierter Reality-Sendungen oder posthumane Zivilisationen handelt, immer ist jemand oder etwas in der Rolle von Berkeleys Gott. Alle Szenarien setzen God’s Eye view – die göttliche Perspektive – voraus, eine fundamentale Wirklichkeitsebene, wie Bostrom sagt, von der die unglücklichen Opfer beobachtet werden können, wie sie hilflos in ihren geistigen Gefängnissen agieren. Werden die Probleme, die das Gehim-im-Tank-Szenario aufwirft, fiktional abgehandelt, finden sie ihre Lösung gewöhnlich dadurch, dass Menschen aus ihrer illusorischen Wirklichkeit ausbrechen und die «wirkliche» Wirklichkeit entdecken. Doch wenn wir tatsächlich nur amputierte Gehirne in Tanks wären, gäbe es ein solches Entkommen nicht. Wie können wir dann jemals hoffen, unsere wahren Verhältnisse zu erkennen? Putnam bedient sich in seinem Buch Vernunft, Wahrheit und Geschichte des Gehirn-im-Tank-Szenarios, um zu behaupten, dass das Szenario praktisch unmöglich ist. Er begründet es wie folgt: Wenn
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Kapitel sechs – Gehirne im Tank
wir wirklich Gehirne im Tank sind, dann stammen alle unsere geistigen Inhalte aus einer Halluzination, die das Computerprogramm eines bösen Wissenschaftlers erzeugt. Wenn wir Berge, Bäche, Häuser, Bäume und Erde wahrnehmen, haben wir diese Vorstellungen, egal, wie real sie erscheinen, auf der Grundlage von künstlichen Erfahrungen gebildet, die keine Beziehung zu «wirklichen» Bergen, Bächen etc. haben. Tatsächlich ist alles, was wir wahrnehmen, und daher auch alles, was wir darüber denken, nicht wirklich, wenn wir darunter verstehen, dass es sich um eine Wirklichkeit außerhalb unseres Geistes handelt (oder um die Wirklichkeit, in der sich der böse Wissenschaftler vermeintlich befindet). An diesem Punkt lenkt Putnam unsere Aufmerksamkeit auf einen sogenannten selbstwiderlegenden Satz. Ein Beispiel dafür wäre: «Alle allgemeinen Aussagen sind falsch.» Wir können rasch erkennen, dass dies eine allgemeine Aussage ist, die, wenn sie wahr ist, sich selbst widerlegt, weil sie erklärt, dass alle solche Aussagen falsch sind. Daher muss sie falsch sein. Betrachten wir jetzt die Aussage: «Wir sind alle Gehirne in Tanks.» Das sei, so Putnam, ein ähnlich selbstwiderlegender Satz. Wenn ich im normalen Leben (und nicht in einem Science-Fiction-Plot) an einen Baum denke, bilde ich mir Vorstellungen auf der Grundlage meiner Erfahrungen mit Bäumen in der wirklichen Welt. Meine Vorstellung von einem Baum ist kausal mit der Existenz wirklicher Bäume verknüpft. Wäre ich nur ein Gehirn im Tank, wäre meine Vorstellung von einem Baum nicht mehr kausal mit der Existenz eines wirklichen Baums verknüpft, da die elektrischen Signale, mit deren Hilfe die visuelle Sinneswahrnehmung eines Baums in meinem Geist erzeugt wird, nicht mehr von dem Baum, sondern aus einem Computerprogramm stammen würden. Ich könnte einen Baum wahrnehmen, meine «Hand» heben und «sagen»: «Schau – ein Baum!» Doch meine Vorstellung bezöge sich nicht mehr auf einen wirklichen Baum. Tatsächlich bezöge sich keine meiner Vorstellungen noch auf
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
irgendetwas, von dem anzunehmen wäre, dass es in der wirklichen Welt existierte, egal, worum es ginge – Gehirne, Tanks, Gehirne in Tanks im Allgemeinen und mein Gehirn im Tank im Besonderen. Nichts, was wir im Tank erfahren oder denken, weist irgendeine Beziehung zu irgendetwas auf, das legitimerweise als wirklich anzusehen wäre, selbst wenn es real aussehen sollte. Daher hätte der Gedanke, dass wir Gehirne in Tanks sind, ebenfalls keine Beziehung zu irgendetwas Wirklichem. Wenn wir tatsächlich Gehirne in Tanks sind, dann ist der Satz «Wir sind Gehirne in Tanks» selbstwiderlegend. Der Satz ist falsch, und folglich sind wir keine Gehirne in Tanks. Wenn Sie in einer Welt leben, die ganz und gar auf Täuschung beruht, gibt es keinen Bezugspunkt, von dem aus Ihnen eine andere Wahrnehmung möglich ist. Um in irgendeiner sinnvollen Weise zu erkennen, dass Sie tatsächlich ein Gehirn im Tank sind, müssten Sie wahrnehmen können, dass Sie ein Gehirn im Tank sind. Ihre Sinne müssten kausal mit Ihrem wirklichen Gehirn in einem wirklichen Tank in einer wirklichen Welt verknüpft sein. Wenn Sie eine solche Kausalbeziehung herstellen könnten, wären Sie offenkundig nicht im Tank. Sind Sie aber ein wirkliches Gehirn in einem Tank, können Sie die Kausalbeziehung nicht herstellen. Die fiktionalen Variationen auf das Gehirn-im-Tank-Thema liefern alle einen Bezugspunkt, eine God’s eye view wie die «wirkliche» Wirklichkeit in Matrix oder die Welt außerhalb des riesigen Fernsehstudios in Die Truman Show. In dem formalen Gehirn-im-Tank-Szenario ist kein solcher Bezugspunkt möglich. Wenn wir Berkeleys Schlussfolgerung aus dem 18. Jahrhundert für das computerkundige 21. Jahrhundert aktualisieren würden, könnten wir sagen, dass wir Simulationen im Geist Gottes sind. Die Anwendung von Putnams Argument würde uns zu dem Schluss führen, dass dies eine selbstwiderlegende Aussage ist, obwohl ich nicht recht weiß, wie überzeugend das für jemanden wäre, der aufrichtig
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Kapitel sechs – Gehirne im Tank
an Gott glaubt. Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass Gott, wenn es ihn denn gäbe, dafür sorgen würde, dass wir ihn erkennen, indem er uns geeignete Gedanken eingäbe. Wäre andererseits der böse Wissenschaftler wirklich von Grund auf böse, würde er dann nicht den Wunsch verspüren, uns zu quälen, indem er uns die Idee einpflanzte, dass wir möglicherweise Gehirne in Tanks sind? Dieses Referenzproblem wird in Matrix offen angesprochen. Kurz nach Neos Befreiung aus dem Kraftwerk gibt es eine Szene an Bord der Nebuchadnezzar, in der die Mannschaft über das grauenhafte Essen diskutiert, das man ihr vorsetzt.15 Ein Mannschaftsmitglied behauptet, es schmecke wie Tastee Wheat, ein Fertigmüsli, das sie gekostet haben, als sie sich in der Virtuellen Realität der Matrix aufhielten. Darauf folgt eine Debatte über die Frage, wie die Maschinenintelligenz wissen könne, wie Tastee Wheat oder irgendein anderes Nahrungsmittel schmecke:
Vielleicht machen sie sie falsch! Vielleicht schmeckt das, was ich mir unter Sex-Crispies vorstelle, in Wirklichkeit nach Hafer oder Thunfisch. Das gibt einem echt tierisch zu denken! Denk an Hühnchen zum Beispiel, vielleicht konnten sie sich da auf keinen Geschmack einigen, deshalb schmeckt ein Hühnchen ja auch nach tausend anderen Sachen. Ich bin allerdings nicht so ganz überzeugt von Putnams Argument. Um zu sehen, warum, wollen wir einen weiteren kleinen Abstecher ins Reich der Science-Fiction machen. Nehmen Sie an, Sie sind bereit, an einem äußerst komplizierten Experiment teilzunehmen. Denken wir uns, Sie leiden an irgendeiner tödlichen Herzerkrankung, und um Ihr Leben zu verlängern, 15 Das übrigens in einem Tank gezüchtet wird.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
erklären Sie sich bereit, als Versuchskaninchen in einem bahnbrechend neuen chirurgischen Verfahren zu dienen. Ein hervorragender Neurochirurg will Ihr Gehirn dem Schädel entnehmen und es in den Kopf eines geeigneten Körperspenders einpflanzen, eines Spenders, dessen eigenes Gehirn gestorben, dessen Körper aber für diesen Zweck am Leben erhalten worden ist. Der Spender wurde sorgfältig nach Rasse, Geschlecht und allgemeinem körperlichen Erscheinungsbild ausgewählt, um das Risiko der «psychologischen Abstoßung» zu minimieren. Der Eingriff ist absolut erfolgreich. Sie bleiben Sie, aber Sie wachen in einem anderen Körper auf. Die Sinnesorgane Ihres neuen Körpers scheinen alle hervorragend zu arbeiten (tatsächlich besser als in Ihrem alten Körper). Sie erholen sich von der Operation, indem Sie lange Spaziergänge auf dem Krankenhausgelände machen, die wunderbar reine Luft atmen, von der Sie meinten, sie würde nie wieder Ihre Lungen füllen. Ihre neuen Augen wandern über eine Eiche, an die Sie sich aus der Zeit vor Ihrer Operation erinnern, einen Baum, von dem Sie meinten, Sie würden ihn nie wieder sehen. Abermals staunen Sie ergriffen über die wunderbare Vielfalt der Natur und genießen aus tiefstem Herzen das Empfinden, sich lebendig in einer Welt zu befinden, die Ihnen jetzt wirklicher erscheint, als Sie es in jener Zeit war, da Sie Ihren Platz in ihr noch als selbstverständlich hingenommen hatten. Während Sie so auf die Eiche blicken, sind Sie kausal mit einem wirklichen Baum in der wirklichen Welt verknüpft. Dabei ist das Gehirn in Ihrem neuen Schädel nur ein Gehirn in einem komplexen «Tank», das von Ihrem neuen Sinnesorgan mit elektrischen Signalen versorgt wird, die Sie als Wahrnehmungen Ihrer Umgebung interpretieren. Doch im Unterschied zum Gehirn-im-Tank-Szenario haben Sie keinen Grund, daran zu zweifeln, dass Sie durch Ihren neuen Sinnesapparat kausal mit wirklichen Objekten in der wirklichen Welt verknüpft sind. Alles ist so, wie Sie es erinnern. Sie haben kei-
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nen Anlass für die Annahme, dass dies alles eine Illusion sei. Daher gelangen Sie zu dem Schluss, dass die Aussage «Ich bin das Gehirn in meinem Kopf» nicht selbstwiderlegend ist. Obwohl Ihr Kopf zufällig nicht mehr derjenige ist, mit dem Sie geboren wurden. So weit, so gut. Doch nun bemerken Sie, dass das Krankenhausgebäude einen Flügel hat, den Sie offenbar nicht betreten sollen. Niemand hat Ihnen gesagt, dass es Ihnen verboten ist, sich in diesen Teil des Krankenhauses zu begeben, aber Sie werden unauffällig vom Krankenhauspersonal daran gehindert. Aus dem Fenster Ihrer Privatstation erhaschen Sie gelegentlich einen Blick auf Menschen, die diesen Flügel betreten und verlassen. Diese Leute sind nicht wie Krankenhauspersonal gekleidet. Interessiert – und inzwischen erholt genug, um nach ein bisschen Aufregung zu verlangen – schleichen Sie sich mitten in der Nacht zu dem geheimnisvollen Gebäudeteil und betreten ihn unbeobachtet. Sie entdecken, dass der ganze Flügel ein riesiges Labor ist. An der Konsole einer Maschine, die ein riesiger Computer zu sein scheint, sitzt ein Techniker. Er wendet Ihnen den Rücken zu, die Füße auf dem Schreibtisch, und ist in ein Buch vertieft. (Es handelt sich um das vorliegende Buch, aber das ist nur ein Zufall.) Plötzlich blickt er auf einen großen Flachbildschirm auf der Konsole vor ihm. Schockiert sieht er, dass er selbst auf dem Bildschirm ist. Er murmelt einen Fluch und dreht sich zu Ihnen um, aber er blickt Sie nicht an. Tatsächlich scheint er Sie überhaupt nicht zu sehen. Stattdessen blickt er über Ihre Schulter hinweg. Was Sie bislang für Ihr Herz gehalten haben, schlägt rascher, als Sie sich langsam umwenden. Direkt hinter Ihnen, in einer Ecke des Labors, steht ein großer, dickwandiger Glastank, der mit einer blassen Flüssigkeit von der Farbe verdünnten Blutes gefüllt ist. Im Inneren des Tanks können Sie verschwommen ein Gehirn erkennen, das an jedem Punkt seiner Oberfläche mit unzähligen dünnen Kupferdräh-
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ten verbunden ist, die sich in alle Richtungen ausbreiten, bevor sie sich zu einem einzigen Kabel zusammenschließen. Neben dem Tank befindet sich eine Schalttafel, auf der eine verwirrende Vielzahl von Lichtern blinken. Zahllose winzige Leuchtdioden in allen Farben gehen in scheinbar zufälligen Rhythmen ständig an und aus. Ihnen wird klar, dass Sie auf Ihre eigenen Gedanken schauen. In dem Tank ist Ihr Gehirn. Sie waren das Versuchskaninchen für ein Experiment ganz anderer Art ... Entscheidend an dieser Science-Fiction-Horrorgeschichte ist der Umstand, dass das Gehirn in Ihrem Kopf in Wirklichkeit nur ein Gehirn in einem Tank ist. Putnams Argument beruht auf der Annahme, dass das Gehirn in Ihrem Kopf üblicherweise in einer kausalen Beziehung mit wirklichen Objekten in der wirklichen Welt steht, eine Beziehung, die durch Ihre Sinnesorgane vermittelt wird. Diese Kausalbeziehung hindert uns laut Putnam daran, den Schluss zu ziehen, dass die Aussage «Ich bin das Gehirn in meinem Kopf» selbstwiderlegend ist. Das mag eine absolut naheliegende Annahme sein, trotzdem bleibt es eine Annahme. Wie steht es mit der Transplantation Ihres Gehirns in einen anderen Kopf? Könnte das diese Annahme außer Kraft setzen? Wenn wir annehmen, dass die Sinnesorgane aller Menschen weitgehend gleich arbeiten, sodass sie weitgehend gleiche Sinneswahrnehmungen liefern, ist kaum einzusehen, wie das die Annahme außer Kraft setzen könnte. Doch wie diese Geschichte zeigt, können Sie sich, nachdem Sie sich einer solchen Operation unterzogen haben, nicht mehr darauf verlassen, dass diese Wahrnehmungen Ihre tatsächlichen Lebensverhältnisse widerspiegeln. Damit sind Sie wieder bei der Frage angelangt, ob Sie sich auf die Wahrnehmung, die Sie in diesem Augenblick haben, verlassen können oder nicht. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Wir können uns immer neue Methoden ausdenken, die einem bösen Wissenschaftler oder
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einer Maschinenintelligenz ermöglichen würden, jede denkbare Erfahrung, die Menschen haben können, bevor man sie (ganz oder als amputierte Gehirne) in einen Tank legt, zu erfassen und in elektrische Signale zu übersetzen. Doch das ist schon lange nicht mehr der entscheidende Punkt. Wir könnten alle diese Szenarien für logisch oder sogar wissenschaftlich möglich halten und sogar so weit gehen, sie für äußerst wahrscheinlich zu erachten. Doch das heißt nicht, dass sie tatsächlich eintreten oder eintreten werden oder dass wir irgendeines dieser Szenarien in diesem Augenblick erleben. Tatsache ist, dass wir ganz einfach nicht wissen, was zu diesen Wahrnehmungen führt. Sie können annehmen, dass das Gehirn in Ihrem Kopf in kausaler Verbindung zu wirklichen Objekten steht, aber Sie können dessen niemals gewiss sein. Wenn wir die Ansicht vertreten, dass die einzige Gewissheit, die wir haben, unsere Wahrnehmungen sind, dann ist, wie Berkeley behauptete, die Wahrnehmung identisch mit der Wirklichkeit. Da Wahrnehmung und Erfahrung nur in unserem Geist stattfinden, haben wir offenbar keine andere Wahl, als unsere erste Annahme über das Wesen der Wirklichkeit aufzugeben – die Annahme, dass die Wirklichkeit unabhängig von uns und unserer Fähigkeit, sie zu erfassen und Theorien über sie zu bilden, existiert. Die einzige Gewissheit, die wir haben, ist die Tatsache, dass wir als denkende Wesen existieren, die Wahrnehmungen und Erfahrungen haben. Wenn wir jetzt gezwungen sind, unsere erste Annahme aufzugeben, was ist dann mit dem Rest? Können wir wenigstens einen gewissen Trost aus dem Umstand ziehen, dass das, was «da draußen» ist und unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen hervorruft – egal, was es ist –, zumindest logisch schlüssig und in Übereinstimmung mit den Gesetzen ist, die wir aus unseren Erfahrungen bilden konnten? Nicht wirklich.
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Kapitel sieben
Sind Sie erfahren? Erfahrung ist nicht das, was einem Menschen zustößt, sondern das, was ein Mensch anfängt mit dem, was ihm zustößt. ALDOUS HUXLEY, TEXTS AND PRETEXTS
Durch Berkeley gewann die Erfahrung abermals die Oberhand in ihrem Streit mit der Vernunft. Berkeley vertrat die Auffassung, Wahrnehmung und Erfahrung seien alles, und durch die Kräfte des Verstandes könne man nicht mehr über das Wesen der Wirklichkeit in Erfahrung bringen. Seine Argumente führten ihn zu einer philosophischen Position, die man gemeinhin als Idealismus bezeichnet. Dort ist jedes Objekt, das die wahrgenommene Wirklichkeit ausmacht, lediglich eine Idee im Geist Gottes. Sollten Sie jetzt das Gefühl haben, dass uns die Wirklichkeit allmählich entgleitet, dann machen Sie sich auf etwas gefasst. Als sich im 18. Jahrhundert der schottische Philosoph David Hume mit diesen Dingen befasste, wurden sie plötzlich noch komplizierter. Hume wurde 1711 bei Edinburgh geboren. In einer wohlhabenden Familie streng calvinistischer Observanz erzogen, begann er die religiöse Lehre in Frage zu stellen, als er mit 15 Jahren die University of Edinburgh verließ, um seine Ausbildung privat in Schottland und Frankreich zu vollenden. Nachdem er anfänglich an eine Laufbahn in der Justiz gedacht hatte, wandte er sich der Philosophie zu und
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suchte zehn Jahre lang nach Gründen, mit denen sich religiöse Argumente für die Existenz Gottes stützen ließen. «Zweifel schlichen sich ein», schrieb er, «zerstreuten sich, kehrten wieder, wurden abermals zerstreut, kehrten abermals wieder.» Das Ergebnis dieser Mühen war der Traktat über die menschliche Natur, den er um 1739/40 erstmals in zwei Folgen anonym veröffentlichte. Hume selbst sagte, das Buch sei «totgeboren aus der Druckerpresse gefallen», waren doch die wenigen Stimmen, die sich dazu äußerten, überwiegend kritisch. Erst viele Jahre später, als sich Hume einen Ruf als Historiker erworben hatte, wurde der Traktat als Beitrag von grundsätzlicher Bedeutung für die moderne Philosophie anerkannt. In seiner meisterlichen Zusammenfassung der Werke klassischer moderner Philosophen von Rene Descartes bis Immanuel Kant sagt Richard Schacht, von allen Philosophen dieser Periode sei Hume vermutlich der unterhaltsamste gewesen. Fast alle Schriften von Hume lösten bei ihrer Veröffentlichung religiöse Kontroversen aus. Die Titelseite zur ersten Ausgabe des Traktats enthält ein lateinisches Zitat, dessen Übersetzung in etwa lautet: «Selten sind die Menschen mit Zeiten gesegnet, in denen sie denken dürfen, was sie möchten, und sagen, was sie denken.» Auf den Rat von Freunden, die ihn etwas aus der Schusslinie der öffentlichen Zensur herausnehmen wollten, verfügte Hume, dass seine kritische Analyse der Religion und des Wesens Gottes – die Schrift Dialoge über eine natürliche Religion – erst nach seinem Tod veröffentlicht werden sollte. Hume war ein ehrlicher, nüchterner Skeptiker. Wie Berkeley glaubte er, dass wir niemals etwas anderes wahrnehmen könnten als unsere eigenen Vorstellungen und daher nicht in der Lage seien, eine Wirklichkeit außerhalb unseres Geistes zu erkennen. Nicht einverstanden war Hume allerdings mit der Auffassung, daraus folge, dass überhaupt nichts außerhalb unseres Geistes existiere (abgesehen von den Erfahrungen, die uns Gott liefere, wie Berkeley hinzugefügt
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hätte). Für Hume ergab sich daraus einfach der Schluss, dass wir keine Möglichkeit hätten zu erkennen, was, wenn überhaupt, außerhalb unser existiere. Daher hielt er die Frage für prinzipiell bedeutungslos. Es mag ja eine Wirklichkeit «dort draußen» geben, welche die unmittelbare Ursache all unserer Erfahrungen ist – der hohen Berge, Bäche, Häuser und Bäume, die wir wahrnehmen –, und diese Dinge mögen durchaus unabhängig von unserer Fähigkeit existieren, sie wahrzunehmen und uns Vorstellungen von ihnen zu machen. Doch für Hume ist die Erfahrung alles und nicht transzendierbar. Wir können die Dinge erkennen, die wir erfahren, wissen aber absolut nichts über die Ursachen dieser Erfahrungen (ob es sich nun um wirkliche Objekte in einer wirklichen Welt, böse Wissenschaftler, Dämonen, TV-Programmdirektoren, Wesen aus einer posthumanen Zukunft oder Gott handelt). Es mag eine unabhängige Wirklichkeit geben, aber wir haben keine Chance, ihre Existenz zu beweisen. Folglich tun wir gut daran, uns mit dem zu beschäftigen, was wir erkennen können, um nicht zu lange bei dem zu verweilen, was uns nicht zugänglich ist.1 Humes Strategie bestand darin, alle Spekulationen über das Wesen der Wirklichkeit einem Zweig der Philosophie zuzuweisen, den man als Metaphysik bezeichnet (wörtlich: was hinter der Physik steht), und aller Erkenntnis, die durch metaphysische Überlegungen und Spekulationen gewonnen wird, die Berechtigung abzusprechen. Auf diese Weise begründete er eine philosophische Tradition, die wir heute als Empirismus bezeichnen, wobei das Wort «empirisch» hier so viel bedeutet wie: auf Erfahrung beruhend. Wissen über die Welt, das nicht durch unmittelbare Erfahrung gewonnen 1 Diesen Gedanken griff viele Jahre später
tus logico-philosophicus mit den Worten
der österreichische Philosoph Ludwig
schloss: «Wovon man nicht sprechen
Wittgenstein auf, als er seinen Tracta-
kann, darüber muss man schweigen.»
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wird, verfällt dem Verdikt, spekulative Metaphysik zu sein. Daraus folgt nicht unbedingt, dass es so etwas wie Wirklichkeit nicht gibt, sondern nur, dass wir unsere Erwartungen dämpfen müssen. Bestenfalls wird uns die Erkenntnis einer empirischen Wirklichkeit zuteil – der Wirklichkeit, die als direkt erfahrene Wirkung manifest ist. Aber niemand erwarte, so Hume, dass er über diese empirische Ebene hinausgehen könne. Wer das versucht, gibt sich sinnloser Spekulation hin. Halten wir kurz inne. Wenn Sie schon einmal in Prag waren, dürften Sie mit Sicherheit einige Zeit die astronomische Uhr bestaunt haben, die sich an einer Seite des Altstädter Rathauses befindet. Sie wurde 1410 von dem Uhrmacher Mikuläs von Kadaö mit Hilfe des Astronomen und Mathematikers Jan Sindel erbaut und gibt die genauen Positionen von Sonne und Sternen relativ zur Position der Erde an. Ursprünglich sollte die Uhr nur astronomische Informationen anzeigen, wurde aber 1590 von dem Uhrmachermeister Hanus mit prachtvollen Skulpturen geschmückt und im 17. und 19. Jahrhundert durch unterhaltsame mechanische Figuren ergänzt. Die einheimische Legende will, dass Hanus nach Vollendung seiner Arbeiten an der Uhr von den Stadtvätern mit einem glühenden Schüreisen geblendet wurde, damit er seine Arbeit für keine andere Stadt wiederholen könne. Aus Rache erkletterte er den Turm und machte die Uhr unbrauchbar. So blieb sie fünfzig Jahre stumm. Diese Legende wurde zur Metapher für die erstickte Kreativität während der Zeit kommunistischer Unterdrückung in der ehemaligen Tschechoslowakei. Die Uhr weist drei Teile auf: oben die Prozession der Apostel, in der Mitte das Zifferblatt und unten das Kalendarium. Zur vollen Stunde zieht der Tod, durch ein Skelett dargestellt, am Glockenstrang. Kleine Fenster öffnen sich links und rechts, und die Apostel marschieren
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vorbei. Die Fenster schließen sich, ein Hahn kräht und der Stundenschlag erklingt. Das Ganze wird begleitet von einem Türken, der den Kopf schüttelt, einem Geizhals, der sein Goldsäckel betrachtet, und der Eitelkeit, die sich in einem Spiegel bewundert. Die Uhr hat drei Zeiger, je einen für die Sonne, den Mond und den Tierkreis. Ihre Bewegung wird durch drei große, koaxiale Zahnräder bewirkt, die von einem Ritzel angetrieben werden. Das erste Rad enthält 365 Zähne und sorgt pro Sterntag2 für eine Umdrehung des Tierkreises, das zweite besitzt 366 Zähne und dreht die Sonne während eines durchschnittlichen Sonnentages einmal um sich selbst, und das dritte weist 379 Zähne auf und dreht den Mond relativ zur mittleren scheinbaren Bewegung des wirklichen Mondes. Das Zifferblatt in der Mitte zeigt astronomische Phänomene wie Sonnenaufgang, Sonnenuntergang und die Bewegungen von Sonne, Mond und Sternen. Eine Kugel, halb silberfarben und halb schwarz, dreht sich während jedes Mondmonats einmal um sich selbst, um die Mondphasen anzuzeigen. Selbst wenn Sie die astronomische Uhr nie gesehen haben, können Sie sich ihre mechanische Funktion und ihr Aussehen vorstellen. Sie ist ein Denkmal für unseren Begriff vom «Uhrwerk-Universum». Einmal in Bewegung gesetzt, sind seine Bewegung vollkommen vorhersagbar. Wenn die volle Stunde naht, versammeln sich die Touristen unten auf dem Platz in der Erwartung, dass sie sehen und hören werden, wie der Tod die Glocke läutet und die Apostel vorbeiziehen – ein Ergebnis des unaufhaltsamen Ganges ineinandergreifender Zahnräder. Stellen wir uns dazu und beobachten wir, wie die Sekunden verstreichen: Schauen wir, wie die Ursache unaufhaltsam zur Wirkung führt. 2 Ein Sterntag ist die Zeit, welche die Erde
Im Durchschnitt ist der Sterntag rund
für eine vollständige Umdrehung von
4 Minuten kürzer als der vertrautere
360° relativ zu den Fixsternen benötigt.
Sonnentag.
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Nicht doch, sagt David Hume. Laut Hume ist die einzige Sache, deren wir sicher sein können, unsere Erfahrung, daher müssen wir grundsätzlich allem mit Skepsis begegnen, von dem wir meinen, wir könnten davon durch Dinge Kenntnis erhalten, die unserer Erfahrung nicht unmittelbar zugänglich sind. Daraus folgt, dass wir, egal, wie oft wir beobachten, dass die astronomische Uhr die Stunde schlägt, daraus nicht schließen können, dass das Schlagen der Uhr notwendigerweise aus der Drehung der Räder im Uhrmechanismus resultiert. In seinem Buch Untersuchung über den menschlichen Verstand, das Hume 1748 veröffentlichte und das eine verständlichere Version von Teil eins des Traktats ist, schrieb er:
[Wir sind] nimmer imstande, auch mir in einem Falle irgendeine Kraft oder notwendige Verknüpfung zu entdecken, irgendeine Eigenschaft, die die Wirkung an die Ursache bände und die eine zur unfehlbaren Folge der anderen machte. Wir finden lediglich, dass das eine wirklich, tatsächlich auf das andere folgt. Die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung ist so tief in unserem Weltbild verwurzelt, dass uns Humes Angriff darauf kaum glaubhaft erscheint. Tatsächlich aber fordert uns Hume lediglich auf, einmal zu überprüfen, was wir tatsächlich wahrnehmen, wenn wir sehen, wie etwas bewirkt, dass etwas anderes geschieht. Wir sehen nämlich, dass, wenn dies geschieht, dann das geschieht. Es gibt ganz offenkundig keine geheimnisvolle Substanz, auf die wir zeigen und sagen können, schau, dies ist die Ursache. Wenn wir verkünden, etwas verursache etwas anderes, überschreiten wir laut Hume die Grenzen unserer Wahrnehmung und beginnen über etwas zu spekulieren, was wir nicht unmittelbar erfahren können. Und das ist etwas, was wir nicht erkennen können.
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Wenn wir etwas sehen, wie es etwas anderes verursacht, nehmen wir laut Hume tatsächlich nichts anderes wahr als die «ständige Verbindung» von Ereignissen, die bestimmte Wahrnehmungsgegenstände betreffen. Die Erfahrung offenbart nur ein Ereignis, auf das ein anderes folgt. Je häufiger wir die ständige Verbindung bestimmter Arten von Ereignissen beobachten, desto größer wird unsere Überzeugung, dass das eine die Ursache des anderen ist. Hume fragt, was im Geist eines Menschen vor sich geht, der wiederholt Folgen von Ereignissen beobachtet hat, bei denen das eine stets dem anderen folgte.
Welche Veränderung ist vor sich gegangen, um diese neue Idee der Verknüpfung zu wecken? Keine andere, als dass er jetzt fühlt, wie jene Vorgänge in seiner Einbildung verknüpft sind und wie er sogleich das Dasein des einen aus der Erscheinung des anderen voraussagen kann. Sagen wir also, ein Gegenstand sei mit einem anderen verknüpft, so meinen wir bloß, sie haben in unserem Denken eine Verknüpfung gewonnen und veranlassen diese Folgerung, durch die sie zu Beweisen ihrer gegenseitigen Existenz werden: ein Schluss, einigermaßen sonderbar, doch es scheint, durch genügende Beweiskraft begründet. Wenn wir in der Menge der Touristen stehen und darauf warten, dass uns die astronomische Uhr einmal mehr unterhält, gründet sich unsere Erwartung auf die Überzeugung, die Rotation der Zahnräder in dem Uhrmechanismus werde schließlich bewirken, dass der Tod den Glockenstrang zieht. Weiterhin nehmen wir an, dass die Zukunft der Vergangenheit gleichen wird. Hume verlangt von uns die Einsicht, dass sich diese Annahme auf der Grundlage unserer Erfahrung rational nicht rechtfertigen lässt. Viele Jahre später führte uns der englische Philosoph Bertrand Russell diesen Gedanken sehr drastisch vor Augen: «Der Mann, der das Huhn schon während dessen ganzem
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Leben jeden Tag gefüttert hat und ihm zuletzt den Hals umdreht, beweist, dass dem Huhn eine etwas differenzierte Sicht auf die Gleichförmigkeit der Natur von Nutzen gewesen wäre.» Hume zieht kräftig an dem Teppich unter unseren Füßen. Was immer es ist, was die Wahrnehmungen und Erfahrungen von der Welt hervorruft (wenn es denn überhaupt etwas ist), es entzieht sich unserer Kenntnis. Wir können nicht erkennen, wie die Gegenstände unserer Sinneswahrnehmungen wirklich sind, und wir können auch nicht feststellen, wie die Verbindungen zwischen ihnen beschaffen sind, die einen so wesentlichen Teil unseres Verständnisses der materiellen Welt bilden. Ursache und Wirkung gibt es nur in unserem Geist, im Hintergrund, die dort durch die Gewohnheit eingebracht und verstärkt wurden – von frühester Kindheit an, seit wir mit den Gegenständen zu experimentieren begannen, die wir in der Welt um uns her wahrnahmen. Jetzt stecken wir wirklich in Schwierigkeiten. Es hat nicht nur den Anschein, als müssten wir unsere erste Annahme über das Wesen der Wirklichkeit aufgeben, sondern auch unsere zweite Annahme bezüglich der logischen Schlüssigkeit dieser Wirklichkeit ist in Gefahr. Gibt es irgendeine Alternative zu Humes Skepsis? Die Antwort lautet ja, aber ich glaube kaum, dass Ihnen gefallen wird, wohin sie uns führt. Unter Humes Einfluss wurde die Philosophie des 18. Jahrhunderts extrem polarisiert und teilte sich in zwei Lager: Rationalismus und Empirismus, Vernunft und Erfahrung. Im Wesentlichen behaupteten die Rationalisten das Vorhandensein einer Wirklichkeit, die sich auf materielle Substanz und primäre Qualitäten gründete und die, wenn sie vielleicht auch nicht die naive Wirklichkeit des gesunden Menschenverstandes war, trotzdem unabhängig vom menschlichen Geist existierte. Im Prinzip gewinnen wir die Erkenntnis dieser Wirklichkeit aus dem Wesen der unabhängig in ihr existierenden Objek-
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te. Die mit dem Namen Humes verknüpfte empiristische Auffassung behauptet, dass wir nicht erkennen können, was wirklich existiert (oder was nicht existiert), sondern dass wir immer nur zur Erkenntnis unserer Wahrnehmungen und Erfahrungen fähig sind. Diese Polarisierung dürfte ein unmittelbares Ergebnis einer ausgeprägt internalistischen Auffassung des Geistes gewesen sein. Mein Geist ist ein Produkt meines Gehirns, damit fest in diesem verankert und außerordentlich persönlich und privat. Folglich gibt es eine klare Grenze zwischen der Innenwelt meiner Gedanken und Vorstellungen und einer Außenwelt, die mich möglicherweise veranlasst (oder auch nicht), diese und keine anderen Wahrnehmungen und Erfahrungen zu haben. Die Existenz dieser Grenze wirft auf, was einige Philosophen als Zuordnungsproblem (matching problem) bezeichnen: Wie
lässt sich meine Fähigkeit, Erkenntnis über die Welt zu gewinnen, einer Welt zuordnen, die wahrscheinlich in der Lage ist, Erkenntnis zu liefern? Der Rationalist behauptet, durch Vernunft gewönnen wir eine qualifizierte Form der Erkenntnis über Dinge, die unabhängig von uns existierten. Der Empirist behauptet, wir könnten immer nur unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen erkennen. Die Lösung des Zuordnungsproblems war eines der Hauptanliegen des deutschen Philosophen Immanuel Kant, den viele für den bedeutendsten Philosophen der Neuzeit halten. Kant wurde 1724 in Königsberg geboren (damals zu Preußen gehörig, heute das russische Kaliningrad). Mit seinem Leben und Werk unterschied er sich deutlich von seinen Zeitgenossen und Vorgängern. Seine Familie war nicht sehr wohlhabend, trotzdem erhielt er eine gute Ausbildung an der Universität Königsberg, an der er später Dozent wurde. Anders als Berkeley und Hume, die ihre bedeutendsten Beiträge zur Philosophie leisteten, bevor sie dreißig waren, schrieb Kant seine größten Werke erst nach seinem fünfzigsten Geburtstag. Einen besonderen Rang nimmt dabei die Kritik der reinen Vernunft ein, die 1781 erschien, als er sechsundfünfzig Jahre alt war.
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Kant war stark von Humes Werk beeinflusst, lehnte aber letztlich dessen Schlussfolgerung ab, der zufolge es unmöglich ist, Wissen durch etwas anderes als Erfahrung zu erwerben. Die Trennung zwischen Wahrnehmung und Erfahrung auf der einen Seite und den letzten Ursachen für diese auf der anderen Seite war jedoch klar und unwiderleglich. Daher unterscheidet Kant zwischen dem, was er Noumena nennt, den Objekten oder Dingen an sich, und den Phänomena, den Dingen als Erscheinung, so wie wir sie wahrnehmen und erfahren. Noumena können unabhängig von unserer Fähigkeit existieren, sie wahrzunehmen oder Vorstellungen von ihnen zu bilden, während den Phänomena das natürlich verwehrt ist. Der Gedanke liegt nahe, dass wir auf dem besten Weg sind, unsere erste Annahme wieder zu bestätigen, aber Kant bestand auf einer ziemlich gewichtigen Einschränkung. Unter keinen Umständen können wir die Noumena, die Dinge an sich, erkennen, weil sie jenseits unserer Erfahrung liegen. Hume hätte gesagt, die Noumena seien daher metaphysisch und bedeutungslos, doch Kant vertrat die Ansicht, durch die Phänomena prägten sich die Noumena unserem Geist ein, weil dieser habe, was Kant sinnliche Anschauungen nannte. Wir erwerben geistige Fähigkeiten, mit deren Hilfe wir die Welt verstehen, was uns wiederum zu intuitiver (anschaulicher) Erkenntnis befähigt. Die Ausbildung dieser Fähigkeiten ermöglicht überhaupt erst Wahrnehmung und Erfahrung, mit anderen Worten, diese Fähigkeiten bestimmen, welche Art von Wahrnehmung und Erfahrung wir haben können. Die Form der Erfahrung geht dem Inhalt der Erfahrung voraus. Wir können also fragen: Wenn der Inhalt von den Phänomena abgeleitet ist und wenn das Ergebnis der Sinneseindrücke letztlich durch die Noumena verursacht wird, wovon wird dann die Form der Erfahrung abgeleitet? Aus reiner Anschauung, sagt Kant. Diese reine Anschauung umfasst nach Kant auch unseren Begriff von Raum und Zeit. Er schrieb:
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Was sind nun Raum und Zeit? Sind es wirkliche Wesen? Sind es zwar nur Bestimmungen, oder auch Verhältnisse der Dinge, aber doch solche, welche ihnen auch an sich zukommen würden, wenn sie auch nicht angeschaut würden, oder sind sie solche, die nur an der Form der Anschauung allein haften, und mithin an der subjektiven Beschaffenheit unseres Gemüts, ohne welche diese Prädikate gar keinem Dinge beigelegt werden können? Unsere erste Annahme, die vom Alltagscharakter der Wirklichkeit ausging, würde Raum und Zeit reale Existenz zubilligen, das heißt sie als eine Art unabhängigen «Behälter» ansehen, in dem Objekte existieren und Ereignisse geschehen können. Würden wir den Behälter vollkommen leeren, sodass darin weder Objekte wären noch Ereignisse stattfänden, kämen wir wahrscheinlich zu dem Schluss, dass Raum und Zeit trotzdem existieren. Einige Philosophen vertraten die Ansicht, es könne keinen absoluten Raum und keine absolute Zeit geben. Unser Begriff von Raum und Zeit komme dadurch zustande, dass Objekte in bestimmten Beziehungen zueinander angeordnet seien und Ereignisse, die diese Objekte betreffen, in bestimmter Beziehung zueinander stattfänden. Nach ihrer Ansicht gibt es keinen Behälter. Man nehme das Objekt fort, und es gibt keinen Raum und keine Zeit mehr. Doch diese Philosophen behaupteten auch, solche Beziehungen seien reale Beziehungen realer Objekte. Kant verwarf beide Ansätze zum Verständnis von Raum und Zeit. Raum und Zeit sind nach seiner Ansicht Anschauungen unseres Geistes, die uns ermöglichen, die Erscheinung von Objekten und Ereignissen zu erfahren. Treten Sie einen Schritt zurück. Lösen Sie den Blick von diesen Worten und schauen Sie sich um. Was sehen Sie? Sie nehmen Objekte in Ihrer unmittelbaren Umgebung wahr (vielleicht Stühle, Tische, Mit-
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reisende in der Eisenbahn oder was auch immer). Einige dieser Objekte befinden sich in größerer Nähe zu Ihnen und erscheinen größer, andere sind weiter entfernt und erscheinen kleiner. Ihr Gehirn organisiert diese Informationen so, dass Sie nicht notwendigerweise zu dem Urteil gelangen, die Objekte wären größer oder kleiner, sondern Sie urteilen, dass die Objekte in bestimmten räumlichen Beziehungen zueinander stehen. Dieses Objekt ist näher, das dort ist weiter entfernt. Sie gelangen zu dem Schluss, dass es sich um Objekte im Raum handelt. Dazu aufgefordert, könnten Sie sogar die Entfernung zwischen ihnen schätzen und sie so auf ein Stück Papier zeichnen, dass ihre räumlichen Beziehungen zu Ihnen deutlich würden. Doch wo genau soll dieser Raum sein? Können Sie ihn sehen? Können Sie ihn berühren? Vielleicht denken Sie, diese Fragen seien ein bisschen absurd. Doch sosehr Sie sich auch bemühen, Sie werden keinen Raum finden. Der Raum ist nichts, was wir wahrnehmen. Wir nehmen wahr, dass Objekte bestimmte Beziehungen zueinander haben, doch die Beziehungen selbst gehören nicht zum Inhalt unserer unmittelbaren Erfahrung. Die Beziehungen sind das Ergebnis einer bestimmten Synthese von Sinneseindrücken in unserem Gehirn, die von unserem Geist übersetzt werden, mit dem Ergebnis, dass wir Objekte in einem dreidimensionalen Raum wahrnehmen. Auch von den modernen Wissenschaften des Geistes – der Neuround der Kognitionswissenschaft – ist kein Trost zu erwarten. Begeben Sie sich in Gedanken zurück zur astronomischen Uhr auf dem Altstädter Markt in Prag. Gehen Sie dort ein wenig nach links, dann nach rechts und halten Sie dabei die Augen unverwandt auf das Zifferblatt gerichtet. Was geschieht? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen. Sie bewegen sich in Beziehung zur festen Position der Uhr, das heißt, Sie verändern Ihre räumliche Beziehung zu ihr: Mal sind Sie näher, mal weiter entfernt, mal in diesem Winkel zu ihr, mal in jenem. Die Uhr und der Raum in ihrer Umgebung stellen für Sie ein bestimmtes «Bezugssystem» dar, mittels dessen Sie die räumlichen
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Beziehungen der Uhr, Ihrer eigenen Person und Ihrer Mittouristen beurteilen. Wo existiert dieses Bezugssystem? Naheliegend ist der Gedanke an Ihr Auge. Aus Gründen der Einfachheit wollen wir unsere Aufmerksamkeit wieder auf ein einziges Auge beschränken. Wenn Sie auf das Zifferblatt schauen, fällt das von dessen Oberfläche reflektierte Licht in Ihr Auge und formt ein Bild auf Ihrer Netzhaut. Nach den Forschungsergebnissen der Kognitionswissenschaft werden diese Informationen dergestalt im Gehirn verarbeitet und im Geist zusammengefügt, dass eine augenzentrierte Karte des Raumes entsteht. Schließen Sie die Augen. Noch immer können Sie angeben, wo sich das Zifferblatt vor Ihnen befindet. Lassen Sie die Augen geschlossen, während Sie jetzt nach links oder nach rechts, vorwärts oder rückwärts gehen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Ihr Urteil, wenn Sie jetzt in die Richtung zeigen, in der sich Ihrer Meinung nach das Zifferblatt befindet, und dann die Augen öffnen, weitgehend richtig ist. Die augenzentrierte Karte befindet sich nicht in Ihrer Netzhaut, sondern in jenen Teilen Ihres Gehirns, in denen visuelle Informationen verarbeitet werden und, natürlich, im Kurzzeitgedächtnis Ihres Geistes. Außerdem ist sie eine dynamische Karte, die Ihre Position ständig berücksichtigt. Patienten mit einer Schädigung im Parietallappen des Gehirns leiden gelegentlich unter optischer Ataxie. Sie sind unfähig, ein geeignetes Bezugssystem in ihrer Vorstellung zu bilden, und haben daher große Schwierigkeiten, Objekte relativ zum eigenen Körper zu lokalisieren. Wenn wir jetzt die beiden Augen zusammen betrachten und die beiden augenzentrierten Karten kombinieren, ist das Ergebnis eine sphärische Karte, die zwischen Ihren Augen liegt. Ihre Augen bewegen sich ständig umher. Während Sie diese Wörter lesen, empfinden Sie Ihre Augenbewegungen als kontinuierlich, während sie von einem Wort zum nächsten übergehen, von einer
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Zeile zur anderen. Tatsächlich sind Ihre Augenbewegungen jedoch sehr sprunghaft, sogenannte Sakkaden. Wenn Sie in den Spiegel blicken, um sie zu sehen, werden Sie sie nicht bemerken. Schauen Sie sich hingegen die Augen eines anderen Menschen im Spiegel an, fallen sie Ihnen sofort auf. Zweifellos kämen wir mit einer augenzentrierten Raumkarte, die entsprechend unseren ruckartigen Augenbewegungen ständig hin und her spränge, nur schwer zurecht. Das Gehirn kompensiert diese Bewegung und erzeugt den mentalen Eindruck eines ruhenden Bezugssystems, mit dessen Hilfe wir die räumlichen Beziehungen der Objekte um uns her beurteilen können. All das scheint nicht besonders bemerkenswert zu sein. Das Gehirn organisiert unsere visuellen Sinneseindrücke, um in unserem Geist ein ruhendes Bezugssystem zu erzeugen, das den realen Raum der Wirklichkeit widerspiegelt – den Raum, in dem wir uns bewegen und in dem wir Objekte wahrnehmen. Doch halt! Dieses ruhende Bezugssystem ist weitgehend eine Intuition, eine Anschauung, wie Kant vorgebracht hätte. Zwar ist das Sehen der wichtigste Sinn, mit dessen Hilfe wir uns relativ zu den Objekten um uns her lokalisieren, aber nicht der einzige, den wir dazu nutzen. Unser Gehirn verwendet auch Informationen vom somatosensorischen Kortex, vom Tastsinn. Es verwendet Informationen vom auditorischen Kortex, von unserem linken und rechten Ohr, um akustische Karten zu erzeugen. Außerdem verarbeitet es fortwährend Informationen über unsere Körperbewegungen. Neuere Forschungsergebnisse lassen auf die Existenz mehrerer Bezugssysteme im Gehirn und daher auch mehrerer «Räume» schließen, jeder mit einer anderen Handlung oder einer anderen Raumregion verknüpft. Hinweise auf den Ursprung dieser multiplen Bezugssysteme liefern die Untersuchungen von Patienten mit Schädigungen verschiedener Regionen des Parietallappens und die Ergebnisse direkter Experimente. Neuronen in einer bestimmten Region des Parietallap-
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pens, dem ventralen intraparietalen Areal, reagieren intensiv auf visuelle Sinneseindrücke, aber auch auf Tastwahrnehmungen. Die visuellen Wahrnehmungen sind sowohl augen- wie kopfzentriert und scheinen auf Objekte fokussiert zu sein, die sich in Richtung unseres Mundes bewegen. Neuronen im medialen intraparietalen Areal reagieren offenbar auf Objekte in Reichweite. Neuronen im interioren intraparietalen Areal sind auf die Form unserer Hand ausgerichtet, wenn wir sie ausstrecken, um ein Objekt zu ergreifen. Diejenigen im lateralen intraparietalen Areal verfolgen Reize, die aus unseren Augenbewegungen resultieren, und empfangen Informationen über Entfernung und Richtung von Reizen, die auf unsere Netzhaut treffen. Automatisch kompensiert das Gehirn in unseren Vorstellungsbildern von der Welt die häufigen raschen Veränderungen der Augenposition. Alle diese Aktivitäten im Parietallappen bewirken keine Handlungen in Gestalt von Körperbewegungen, sondern tragen zu unserem räumlichen Gedächtnis bei und lenken unsere Aufmerksamkeit auf Objekte und Ereignisse, die sich im Raum befinden beziehungsweise in ihm stattfinden. So bleibt nur der Schluss, dass im Gehirn nicht ein einziges, allein zuständiges Bezugssystem erzeugt wird. Ein solches Bezugssystem ist das Ergebnis einer in unserem Geist stattfindenden Synthese, die den Eindruck von Einzigartigkeit hervorruft, und der führt zur Anschauung des Raumes. Nun könnte dieser Eindruck das Ergebnis eines wirklichen, einmaligen Raumes sein, in dem eine Welt aus Bergen, Bächen, Häusern und Bäumen wirklich existiert. Wenn wir diese Ansicht vertreten, dann sagen wir damit, dass unsere Erkenntnis der Objekte des Raumes, in dem sie existieren, den Objekten und dem Raum selbst entsprechen muss. Doch diese Behauptung verfällt dem Verdikt von Empiristen wie Hume, die erklären, dass Erkenntnis, die über die unmittelbare sinnliche Erfahrung hinausgeht, nicht möglich sei. Daher stellte Kant dieses Argument auf den Kopf. Er behauptete stattdessen, die Objekte unserer Erfahrung entsprächen
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unserer Erkenntnis von ihnen und die Anschauung des Raumes sei notwendig, damit uns überhaupt irgendwelche Erkenntnis möglich sei. Durch den Raum, so könnten wir sagen, verhindert der Geist, dass sich alles am gleichen Platz befindet. Was ist mit der Zeit? Schauen Sie noch einmal von dem Buch hoch und betrachten Sie die Objekte in Ihrer Umgebung. Vielleicht sehen Sie eine Uhr, die unbarmherzig Ihr Leben forttickt. Vor dem Fenster sehen Sie möglicherweise Autos vorbeifahren oder Fabriken, Häuser, Bäume, Felder dahinrasen, wenn Sie im Zug sitzen. Doch genauso wenig wie im Falle des Raumes sind Sie jetzt in der Lage, die Hand auszustrecken und die Zeit zu berühren. Die Zeit ist kein greifbares Objekt. Die Zeit hat sich möglicherweise aus der Beobachtung entwickelt, dass Objekte ihre Lage verändern oder sich von einer Art in die andere, einer Kategorie in die andere verwandeln. Doch selbst das sei ein falscher Eindruck, erklärt Kant. Die Zeit ist wie der Raum eine Anschauung. In Kants Philosophie gibt es feine Unterschiede zwischen Raum und Zeit. Der Raum ist laut Kant eine Form des äußeren Sinns, worunter zu verstehen ist, dass er eine Anschauungsform ist, die der Erfahrung der Objekte außerhalb unserer selbst vorangeht. Die Anschauung des Raumes macht die Erfahrung äußerer Objekte möglich. Im Gegensatz dazu ist die Zeit eine Form des inneren Sinns, was heißen soll, dass sie eine Anschauungsform ist, die das Ordnen (sogar den Besitz) von geistigen Zuständen möglich macht. Hätten wir keine geistigen Zustände in der Zeit, wären wir nicht in der Lage, äußere Objekte als in der Zeit befindlich zu erfahren. Das verankert die Zeit tief in unserer geistigen Welt. Kehren wir noch einmal (ein letztes Mal, versprochen) zur astronomischen Uhr zurück. Wir haben uns auf dem Altstädter Markt um zehn vor eins versammelt und warten darauf, dass der unaufhaltsame Gang der Zahnräder den Tod veranlasst, am Glockenstrang
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zu ziehen, und die Prozession der Apostel in Bewegung setzt. Wie können wir verstehen, was vor sich geht? In der Regel interpretieren wir das Geschehen so, dass die Zeit immer in eine Richtung fließt, mit dem Ergebnis, dass bestimmte Ereignisse entweder in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft liegen. Um genau ein Uhr zieht der Tod am Glockenstrang. Wir sagen, das Ereignis, das darin besteht, dass der Tod am Glockenstrang zieht, geschieht jetzt: Es findet in der Gegenwart statt. Wir sind alle gebührend beeindruckt und amüsiert von der Darbietung, die folgt. Zehn Minuten später ist sie vorbei, und die Menge der Touristen, die sich vor der Uhr versammelt hat, beginnt sich zu zerstreuen. Wir sagen, das Ereignis, bei dem der Tod am Glockenstrang gezogen hat, liegt in der Vergangenheit. So weit, so gut. Wir wenden uns jetzt dem Werk des englischen Philosophen John McTaggart Ellis McTaggart zu. Er wurde 1866 als John McTaggart Ellis in London geboren. Seine Familie nahm den Nachnamen McTaggart an, das Erbe eines Großonkels mütterlicherseits, und so wurde er John McTaggart Ellis McTaggart. Er studierte Philosophie in Cambridge und wurde ein Freund des Romanciers Thomas Hardy. In seinem philosophischen Hauptwerk The Nature of Existence, das 1921 und 1927 in zwei Bänden veröffentlicht wurde, leugnete McTaggart die Wirklichkeit von Raum, Zeit und materiellen Objekten und erklärte, alle Substanz sei spirituell. Die Wirklichkeit sei nicht materiell, sondern spirituell, und nur die individuellen Seelen, einander in Liebe verbunden, könnten als real angesehen werden.3 McTaggart bezeichnete die Zeitreihe, die durch die Bestimmungen «in der Vergangenheit», «in der Gegenwart» und «in der Zukunft» bezeichnet wird, als A-Reihe. Diese Bestimmungen schließen sich offenkundig gegenseitig aus. Ein Ereignis, das in der Vergangenheit 3 Hmm ...
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liegt, kann sich nicht in der Gegenwart oder in der Zukunft befinden, und so fort für alle anderen möglichen Permutationen. Offenkundig vielleicht, aber in einer Hinsicht auch widersprüchlich. Erinnern Sie sich an unsere Erfahrung vor der astronomischen Uhr. In der obigen Beschreibung war das Ereignis, wo der Tod am Glockenstrang zieht, in der Zukunft, in der Gegenwart und in der Vergangenheit. Tatsächlich erfüllt jedes Ereignis alle Bestimmungen der A-Reihe, obwohl sie sich offenkundig gegenseitig ausschließen. Das ist das McTaggart-
Paradox. «Ach was», höre ich Sie sagen, «das ist doch Quatsch.» Natürlich erfüllt das Ereignis, wo der Tod den Glockenstrang zieht, all die verschiedenen Bestimmungen der A-Reihe, aber das geschieht zu verschiedenen Zeiten, um zehn Minuten vor eins, ein Uhr und zehn Minuten nach eins. In Ordnung, versuchen wir es damit. Um genau ein Uhr könnten wir sagen, dass das Ereignis, wo der Tod am Glockenstrang zieht, in der Gegenwart gegenwärtig ist. Dasselbe Ereignis ist auch vergangen in der Zukunft, und es ist zukünftig in der Vergangenheit. Diese Aussagen sind miteinander vereinbar, also gibt es kein Paradox. Doch halt! Um zehn Minuten vor eins ist das Ereignis in der Gegenwart zukünftig, um ein Uhr ist dasselbe Ereignis in der Gegenwart gegenwärtig, und um zehn Minuten nach eins ist das Ereignis in der Gegenwart vergangen. Diese Aussagen sind offenkundig nicht miteinander vereinbar, daher ist unser Versuch gescheitert, auf eine zweite Ebene von Bestimmungen in der Zeit-Reihe auszuweichen. Es sollte mittlerweile deutlich geworden sein, dass uns auch eine dritte Ebene nicht weiterhelfen würde. Uns scheint also nichts anderes übrig zu bleiben, als auf das zu rekurrieren, was McTaggart die B-Reihe nennt. In dieser Reihe geschehen Ereignisse früher als, gleichzeitig mit oder später als andere Ereignisse. Daher ist das Ereignis, wo der Tod am Glockenstrang zieht, früher als ein anderes Ereignis, wo Sie um zehn nach eins auf die Uhr
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blicken, gleichzeitig mit dem Ereignis, wo Sie um Punkt eins auf die Uhr blicken, und später als das Ereignis, wo Sie um zehn vor eins auf die Uhr blicken. Daher vertrat McTaggart die Ansicht, die A-Reihe, unser Gefühl für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sei nicht wirklich. Das Paradox können wir nur lösen, indem wir zu einem neuen System von Bedingungen übergehen, die im Gegensatz zur A-Reihe zu jedem Zeitpunkt individuell wahr sind. Beispielsweise ist die Behauptung, der Tod habe den Glockenstrang gezogen, offensichtlich nicht wahr für jeden Zeitpunkt, der vor oder während des tatsächlichen Ereignisses liegt, wo der Tod am Strang gezogen hat, während die Behauptung, der Tod habe an ihm zu irgendeinem Zeitpunkt nach zehn vor eins gezogen, unter allen Umständen wahr ist. Als wir zur B-Reihe übergingen, haben wir unser Konzept des Tempus (tense) aufgegeben, das, wie McTaggart vorbringt, von grundsätzlicher Bedeutung für unseren Zeitbegriff ist. Er schrieb:
Die Wirklichkeit der A-Reihe führte zu einem Widerspruch und muss verworfen werden. Und da wir gesehen haben, dass Veränderung und Zeit die A-Reihe verlangen, muss die Wirklichkeit von Zeit und Veränderung verworfen werden. Nichts ist wirklich gegenwärtig, vergangen oder zukünftig. Nichts ist wirklich früher oder später als irgendetwas anderes oder gleichzeitig mit ihm. Nichts verändert sich wirklich. Und nichts ist wirklich in der Zeit. Immer wenn wir etwas in der Zeit wahrnehmen – was nach unserer gegenwärtigen Erfahrung die einzige Art ist, Dinge wahrzunehmen –, nehmen wir es mehr oder weniger wahr, wie es in Wirklichkeit nicht ist. Egal, ob wir McTaggarts Argumente akzeptieren oder nicht, Überlegungen dieser Art machen deutlich, wie schwer es ist, das Wesen der Zeit aus dem Blickwinkel unserer Wahrnehmungen und Erfahrun-
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gen der Außenwelt zu begreifen. Kant wäre von dieser Schwierigkeit nicht überrascht gewesen. Zeit ist für ihn eine Form der Anschauung, ein innerer Sinn, der unserem Geist entspringt und uns ermöglicht, Ereignisse und Objekte als in der Zeit befindlich zu erleben. Durch die Zeit, so könnten wir sagen, verhindert der Geist, dass alles gleichzeitig passiert. 1534 hatte Nikolaus Kopernikus die Welt schockiert, weil er behauptet hatte, das bisherige Weltbild mit der Erde als Mittelpunkt sei falsch. Astronomische Daten ließen sich viel einfacher und leichter interpretieren, und die Vorhersage astronomischer Ereignisse war erheblich zuverlässiger, wenn man von der Annahme ausging, dass sich die Sonne im Mittelpunkt des Universums befinde und dass die Erde die Sonne einmal pro Jahr umkreise. Raum und Zeit in den Kontext reiner Anschauung zu stellen und dadurch die Möglichkeit zu schaffen, Phänomene in Beziehung zu den Gegenständen der Sinneserfahrung wahrzunehmen, war für das philosophische Denken, so Kant, keine geringere Revolution als das heliozentrische Universum des Kopernikus für die Kosmologie. Ich habe hier Kants zentrale philosophische Argumente folgendermaßen dargestellt: Die Anschauungen von Raum und Zeit (und damit von Ursache und Wirkung) sowie die Wahrnehmung und Erfahrung von Phänomenen durch unseren Geist werden den Objekten in der noumenalen Welt übergestülpt Kants Schriften sind berüchtigt dafür, dass sie schwer zu verstehen und zu interpretieren sind. Doch dies ist eine gängige Interpretation, ohne die einige seiner Beweise nicht zu verstehen sind. Also, wo stehen wir? Einerseits scheint Kant wie Hume davon überzeugt zu sein, dass uns die Erkenntnis der noumenalen Welt verschlossen ist, die Welt der Dinge an sich, weil die Noumena jenseits unserer Erfahrungsmöglichkeiten liegen. Bei der Wirklichkeit, die anzuerkennen Kant bereit ist, handelt es sich um die rein empirische
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Wirklichkeit der direkten Erfahrung der Phänomene, die Wirklichkeit, die uns durch die geistige Anschauung von Raum und Zeit ermöglicht wird. Auf der anderen Seite gelangt Kant aus ganz anderen Gründen als Hume zu seinen Schlussfolgerungen. Hume meint, die Wirklichkeit sei empirisch, weil wir nicht sicher sein können, dass eine Welt unabhängig von unserer Fähigkeit existiert, sie wahrzunehmen und zu erfahren. Daher sind für ihn Fragen nach der Möglichkeit einer unabhängigen Wirklichkeit sinnlose metaphysische Fragen. Für Kant geht es nicht um Ungewissheit, nicht darum, dass wir nichts über Dinge wissen können, die wir nicht direkt erfahren. Kant ist sich sicher, dass wir nie etwas über die noumenale Welt wissen können. Egal, wie wir es betrachten, von unseren Alltagsvermutungen über das Wesen der Wirklichkeit ist nichts übriggeblieben. Raum und Zeit, Ursache und Wirkung, die Erscheinung der Dinge in der Welt um uns her – sie alle sind Produkte unseres Geistes. Wenn wir versuchen, uns vorzustellen, wie es denn auf einer Kant’schen Un-Erde wäre, wo wir keinen Geist hätten, der uns mit Wahrnehmungen, Erfahrungen und Ideen versorgte, stellen wir fest, dass wir dazu nicht in der Lage sind. Es ist uns unmöglich, uns eine Welt ohne Raum und Zeit vorzustellen. Das sollte uns eigentlich nicht überraschen: Unsere Vorstellung muss sich mit unseren Anschauungen decken, und unsere Anschauungen geben uns Raum und Zeit als Bezugssystem vor, in das wir unsere Gedanken und Vorstellungsbilder einordnen. Offenbar stecken wir in einer echten Zwickmühle. Alle unsere Versuche, einen Sinn in der äußeren Wirklichkeit zu entdecken – von der Ebene der gesellschaftlichen Wirklichkeit bis zur materiellen Wirklichkeit, die ihre Grundlage bildet, sind an den Klippen der Innenwelt unseres Geistes zerschellt. Wir sitzen in der Falle, eingeschlossen in einem geistigen Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Erst jetzt, so scheint es, verstehen wir die wirkliche
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Aussage des platonischen Höhlengleichnisses, besonders, wenn wir es so erweitern, dass es Kants Anschauungen von Zeit und Raum einschließt. Gibt es einen Weg hinaus?
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Kapitel acht
Doppelgänger Ich muss an eine Welt außerhalb meines Bewusstseins glauben. Ich muss glauben, dass meine Handlungen immer noch eine Bedeutung haben, selbst wenn ich mich nicht an sie erinnern kann. Ich muss glauben, dass die Welt noch da ist, wenn ich die Augen schließe. Glaube ich, dass die Welt noch da ist? Ist sie noch dort draußen ... Ja. Wir brauchen alle Spiegel, um uns zu erinnern, wer wir sind. Mir geht es nicht anders. LEONARD SHELBY, MEMENTO
Unsere letzte Hoffnung liegt in der Erkenntnis, dass praktisch alles, was wir bislang über die Beziehung zwischen unserem Geist und der Welt betrachtet haben, auf einer impliziten Annahme beruhte. Es handelt sich um eine Annahme der schlimmsten, heimtückischsten Art. Schlimm, weil kaum erkennbar ist, dass es sich überhaupt um eine Annahme handelt. Alles, was wir bisher erörtert haben, gründet sich auf die Annahme, dass es eine eindeutige Grenze zwischen der Innenwelt des Geistes und einer wie auch immer zu beschreibenden Außenwelt gibt, egal, ob es sich um eine unabhängige Wirklichkeit (noumenal oder anders) oder um das Machwerk einer höheren Macht, eines Dämons, eines bösen Wissenschaftlers oder posthumaner Wesen aus der Zukunft handelt. Descartes wird im Allgemeinen seine Grundannahme zum Vor-
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
wurf gemacht, nicht ganz gerecht, wie ich finde. Seine dualistischen Vorstellungen über einen rätselhaften Geiststoff spielen heute kaum noch eine Rolle, aber seiner Philosophie implizit war eine klare Unterscheidung zwischen dem Geist auf der einen Seite und der materiellen Welt auf der anderen. Ich würde meinen, dass diese Annahme vollkommen natürlich ist und aus vertrauten Sinneserfahrungen erwächst. Unser Geist ist eine Sache, die wir in unserem Kopf mit uns herumtragen. Die materielle Welt ist etwas, das wir außerhalb unser selbst ergreifen, sehen, hören, ertasten, schmecken oder riechen. Was könnte natürlicher als diese Unterscheidung sein? Der erste Schritt, um herauszufinden, ob es sich dabei um eine zu rechtfertigende Annahme handelt oder nicht, ist die Feststellung, dass es sich tatsächlich um eine Annahme handelt. Der zweite Schritt besteht darin, ihren Inhalt und ihre Implikationen zu untersuchen. Um diese Aufgabe ein bisschen zu vereinfachen, werde ich mich auf ein Modell beschränken, das meinen eigenen materialistischen Vorlieben entspricht. Aus materialistischer Sicht ist geistige Aktivität eine emergente Eigenschaft höherer Ordnung von elektrischen Vorgängen im Gehirn. Ich wäre allerdings der Erste, der zugeben würde, dass sich das zwar auf dem Papier sehr schön ausnimmt, aber natürlich überhaupt keine Erklärung ist. Das erinnert mich an eine Karikatur, die der Philosoph Daniel Dennett in seinem Buch Philosophie des menschlichen Bewusstseins verwendet.1 Die Karikatur zeigt zwei Wissenschaftler, die über eine mathematische Ableitung auf einer Wandtafel sprechen. Der zweite Schritt der Ableitung lautet: «Dann geschieht ein Wunder.» Einer der Wissenschaftler sagt zum anderen: «Ich denke, Sie sollten den zwei1 Die betreffende Karikatur wurde ur-
deutschen Ausgabe (Hamburg, Hoff-
sprünglich in der Zeitschrift American
mann und Campe, 1994) auf Seite 59
Scientist veröffentlicht und ist in der
abgedruckt.
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Kapitel acht – Doppelgänger
ten Schritt doch etwas deutlicher machen.» Die Aussage, der Geist sei eine emergente Eigenschaft höherer Ordnung des Gehirns, ist nur eine andere Formulierung für «Dann geschieht ein Wunder» – eine Formulierung, die das Wunderbare des Vorgangs etwas verschleiert. Und doch ist es wohl das Beste, was wir in den Grenzen unseres heutigen wissenschaftlichen Verständnisses des Bewusstseins und des Geistes zu leisten vermögen. Die materialistische Perspektive hat zwei Konsequenzen. Erstens sind meine geistigen Aktivitäten – Gedanken, Überzeugungen, Wünsche, Erinnerungen und so fort – räumlich in meinem Kopf lokalisiert. Was soll daran so erschütternd sein, mögen Sie denken. Wenn wir einmal alle volks- und pseudowissenschaftlichen Annahmen über die Fähigkeit des Geistes beiseitelassen, direkten Einfluss auf die Objekte in der materiellen Welt auszuüben (auch bekannt unter dem Stichwort mind over matter, «Der Geist beherrscht die Materie»), können wir uns unter Umständen mit der Vorstellung anfreunden, dass unsere Gedanken permanent in unserem Kopf eingeschlossen sind und keine Möglichkeit haben, in der Außenwelt umherzuvagabundieren. Die zweite Konsequenz ist, dass der Inhalt meines Geistes, die Dinge, die meine Gedanken, Überzeugungen, Wünsche, Erinnerungen und so fort konstituieren, mein Besitz sind, meiner ganz allein, und nicht von irgendwelchen Eigenschaften der Außenwelt abhängen. Das entspricht meiner wiederholt geäußerten Annahme, dass der Geist ein außerordentlich persönlicher, privater Ort ist. Wir müssen sorgfältig unterscheiden zwischen der Art und Weise, wie wir diesen geistigen Inhalt erwerben, und dem Wesen des Inhaltes selbst. Hier beschäftigen wir uns mit dem zweiten Aspekt. Egal, wie ich in den Besitz der Gedanken gekommen bin, es sind meine Gedanken, die nicht von Eigenschaften der Außenwelt abhängen. Es handelt sich um zwei ganz verschiedene Konsequenzen. Ich kann behaupten, meinen gesamten geistigen Inhalt ganz unabhän-
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
gig von der Frage zu besitzen, wo er lokalisiert ist. Es ist ein Gemeinplatz, dass Männer gelegentlich mit einem Teil ihrer Anatomie denken, der sich nicht in ihrem Kopf befindet, was unter Umständen verheerende Konsequenzen hat. Besitz bedeutet nicht Lokalisierung. Entsprechend könnte dieser Inhalt in meinem Kopf lokalisiert sein, ist aber – in einer Weise, auf die ich unten noch eingehen werde – nicht unbedingt vollkommen unabhängig von der materiellen Außenwelt. Lokalisierung bedeutet nicht notwendig Besitz. Nachdem wir uns die Konsequenzen der Annahme einer klaren Grenze zwischen Geist und Welt vor Augen geführt haben, können wir sie überprüfen, um zu sehen, ob sie wirklich gerechtfertigt ist. Vergessen wir einen Augenblick die Lektionen aus den vorherigen Kapiteln – was wir an unseren Sinnesinformationen als selbstverständlich hinnehmen dürfen und was nicht. Wir stecken in einer Zwickmühle, weil wir offenbar nicht in der Lage sind, Erkenntnisse über eine unabhängige Wirklichkeit zu gewinnen, die außerhalb unserer geistigen Welt existiert. Die Existenz der Grenze zwischen unserem Geist und der materiellen Außenwelt würde bedeuten, dass wir einfach nichts als selbstverständlich hinnehmen können, was (wenn überhaupt) durch diese Grenze hindurchdringt. Wir können nicht sicher sein, dass sich unsere Gedanken nicht auf entscheidende Weise von der wahren Natur der Außenwelt gelöst haben, und zwar so gründlich, dass sogar Raum und Zeit Produkte unseres Geistes werden. Die Annahme einer Grenze bedeutet, dass wir unseren Geist von der Außenwelt losgelöst haben. Hier also die Frage: Was wäre, wenn wir ein Blatt aus Kants Buch nähmen und sein Argument auf den Kopf stellten? Was wäre, wenn wir uns folgende Frage stellten: Ist Denken irgendwelcher Art prinzipiell möglich ohne die Außenwelt? Können wir uns von der Existenz der Wirklichkeit durch den Umstand überzeugen, dass wir überhaupt Gedanken haben können? Descartes hat den Geist ziemlich radikal in den Mittelpunkt gestellt, weil er
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Kapitel acht – Doppelgänger
das Einzige war, dessen er sich absolut sicher war. Kants «kopernikanische Wende» sog das innerste Wesen von Raum und Zeit über die Grenze in den menschlichen Geist hinein und stellte sie damit in den Mittelpunkt. In beiden Fällen ist die Welt, die wir wahrnehmen, oder die phänomenale Welt der Erscheinung ein Produkt unserer geistigen Fähigkeiten und Anschauungen. Was wir hier vorschlagen, ist eine kopernikanische Wende etwas anderer Art. Wir versuchen, die materielle Welt in den Mittelpunkt zu rücken und den Geist zu einem Produkt der Welt selbst zu machen. Sie erinnern sich: Un-Erde ist ein Planet ohne Geist und Bewusstsein. Wir hatten schon Mühe, uns diesen Ort aus Kant’scher Sicht ohne Raum und ohne Zeit vorzustellen. Mit dem Geist im Mittelpunkt wird Un-Erde absolut unverständlich. Wie wäre es also, ein Geist zu sein ohne eine Welt, die sich erfahren lässt? Anti-Erde ist ein Ort, den zu beschreiben ich gar nicht erst versuchen will. Während Un-Erde zumindest den Anschein erweckt, eine materielle Basis in Bergen, Bächen, Häusern, Bäumen und weicher brauner Erde zu haben, besitzt Anti-Erde keine materielle Basis gleich welcher Art. Sie ist ohne Erscheinung. Es gibt überhaupt keine Objekte auf Anti-Erde – weder noumenale noch andere –, die man erfahren könnte. Es gibt keine Erfahrungen. Keine Wahrnehmungen, keine Sinnesempfindungen. In gewissem Umfang wissen wir, was mit einem Geist geschieht, dem jeglicher sensorischer Input entzogen wird. Sogar mein Fitnesscenter um die Ecke bietet sensorische Deprivation (Reizentzug) im Isolationstank an. Einige Leute zahlen gutes Geld für die Möglichkeit, sich in dem konzentrierten Salzwasser einer solchen Einrichtung zu entspannen. Doch solche Sitzungen sind notgedrungen kurz. Längerer Reizentzug kann zu schweren psychischen Störungen führen. Die Opfer berichten von Angst, Depression, Halluzinationen und antisozialem Verhalten.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Zwischen den fünfziger und siebziger Jahren interessierte man sich verstärkt für die Folgen längerer sensorischer Deprivation – vor allem das Militär sowohl in den westlichen Demokratien wie in den kommunistischen Staaten.2 Dabei war das westliche Interesse vorwiegend defensiver Natur, aus der Besorgnis geboren, die totalitären Regime könnten sensorische Deprivation und andere Techniken dazu benutzen, ihre Gefangenen einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Auf dramatische Weise wurde diese Furcht 1962 in fohn Frankenheimers Film Botschafter der Angst (The Manchurian Candidate) zum Ausdruck gebracht (wenn auch die Gehirnwäschetechniken der Koreaner in dem Film drogeninduziert waren und nicht auf sensorischer Deprivation beruhten). Doch auch das westliche Militär war durchaus nicht abgeneigt, diese Techniken offensiver (und illegal) einzusetzen. In seinem Buch The Guineapigs schreibt John McGuffin über die Erlebnisse von vierzehn irischen politischen Gefangenen, die 1971 Reizentzugsexperimenten der britischen Armee unterzogen wurden, woraufhin Großbritannien vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verurteilt wurde. In einem Kapitel über die Geschichte einschlägiger Experimente beschreibt McGuffin, wie der Psychologe Donald Hebb 1958 solche Experimente an studentischen Versuchspersonen vornahm:
Zunächst einmal schliefen die Teilnehmer vermehrt, doch bald stellten sie fest, dass sie zunehmend Schwierigkeiten hatten, sich zu konzentrieren, und sie entwickelten ein ausgeprägtes Verlangen nach jeder Art von Stimulation, um die Eintönigkeit zu 2 Leichte Formen sensorischer Deprivation
3 2004 kam ein Remake unter der Regie
verwendet man auch weiterhin in Ver-
von Jonathan Demme in die Kinos. Die
hören, wie die berüchtigten Fotografien
Handlung war aktualisiert: Es ging nicht
der Häftlinge im Abu-Ghuraib-Gefängnis,
mehr um den Korea-, sondern um den
westlich von Bagdad, zeigen.
Golfkrieg.
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Kapitel acht – Doppelgänger
unterbrechen. Viele begannen verblüffende visuelle und akustische Halluzinationen zu erleben und waren nach einiger Zeit nicht mehr in der Lage, Wachen und Schlafen zu unterscheiden. Obwohl sie gut dafür bezahlt wurden, untätig auf dem Rücken zu liegen, hielten die meisten nicht mehr als zwei Tage aus, und der absolute Rekord beschränkte sich auf fünf Tage. Nach Beendigung des Experiments wurden sie einfachen psychologischen Tests unterzogen, die zeigten, dass ihre Wahrnehmung stark beeinträchtigt war – die Gegenstände waren verschwommen und unscharf. Wichtiger aus Sicht des Versuchsleiters war die Tatsache, dass sie, solange sie unter [Reizentzug] standen, sehr viel empfänglicher für Propaganda waren ... Offenbar wurden Hebbs Experimente an der McGill University in Montreal vom kanadischen Verteidigungsausschuss finanziert, um herauszufinden, welche potenziellen Gefahren die Gehirnwäschetechniken für amerikanische Kriegsgefangene in Korea darstellten. Das Ergebnis längerer sensorischer Deprivation sind psychische Störungen, die psychotische Ausmaße annehmen können. Unser Geist kann einfach nicht angemessen arbeiten, wenn er nicht ständigen sensorischen Kontakt zu seiner Umgebung unterhält. Einige Jahre später litten einige der Männer, die von den britischen Streitkräften Reizentzugsexperimenten unterzogen worden waren, noch immer unter psychischen Störungen verschiedenen Ausmaßes, von Albträumen und Kopfschmerzen bis hin zu Konzentrationsverlust und Depression. Eines der Opfer musste wiederholt stationär behandelt werden. Was wäre wohl zu erwarten, wenn wir Gehirn und Geist eines jungen Menschen, bevor sie noch richtig entwickelt wären, einer solchen sensorischen Deprivation aussetzten? Wir können die Antwort nur vermuten. 1959 stellten die Neurowissenschaftler David Hubel und Torsten Wiesel fest, dass sich der visuelle Kortex eines jungen
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Kätzchens, wenn sie eines seiner Augen längere Zeit bedeckten, nicht richtig entwickelte und das Kätzchen auf dem Auge blind wurde. Obwohl Hubel und Wiesel dafür 1981 den Nobelpreis bekamen, war der Mechanismus, der für die Fehlentwicklung des visuellen Kortex verantwortlich ist, bis vor kurzem unbekannt. 2003 entdeckten Neurowissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology, dass sich dieser Umstand nicht einfach auf einen Mangel an visueller Reizung der Netzhaut zurückführen lässt. Tatsächlich handelt es sich um einen chemischen Mechanismus. Sensorische Deprivation bewirkt buchstäblich die Auflösung jener Verbindungen zwischen Neuronen, die für die Übertragung und Verarbeitung von Signalen und damit letztlich für die Wahrnehmungen unseres Geistes verantwortlich sind. Das Gehirn «kappt» ganz einfach die Verbindungen zu dem Auge, von dem keine nützlichen Informationen mehr kommen. Deshalb ist es so wichtig, Augenprobleme schon bei Kleinkindern zu korrigieren. Wenn solche Sehfehler nicht behoben werden, besteht die Gefahr, dass das junge Gehirn falsch verdrahtet wird und es keine Möglichkeit gibt, das Problem jemals abzustellen. Die Experimente zur sensorischen Deprivation zeigen sehr deutlich, dass das Gehirn und damit der Geist in hohem Maße Produkte unserer Erfahrungen mit der uns umgebenden Welt sind. Mir gefällt der Vergleich zwischen dem Gehirn und einer bestimmten Art von Information oder Software, die fest in den Computerspeicher eingebaut ist. Bestimmte Computerprogramme kann man in den sogenannten Read-Only-Speicher (ROM) «einbrennen», wie der Vorgang technisch heißt. Den gleichen Ausdruck verwenden wir, wenn wir davon sprechen, dass wir Musikstücke oder einen Film auf eine CD oder einen DVD-Träger brennen. Die Information der Musikstücke oder des Films wird kodiert und dauerhaft in dem Medium gespeichert. Das Gehirn scheint ungefähr analog zu arbeiten, nur müssen die gespeicherten Informationen ständig aufgefrischt oder
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Kapitel acht – Doppelgänger
zumindest die in das Gehirn «eingebrannten» Bahnen fortwährend verwendet werden, damit sie einwandfrei funktionieren. Doch heißt das notwendigerweise, dass meine Gedanken, sobald meine neuronalen Bahnen einmal angelegt worden sind, ganz allein die meinen sind, unabhängig von allen Merkmalen der Welt um mich her? Jede andere Annahme würde bedeuten, dass meine geistigen Inhalte nicht nur innerlich, nicht nur in meinem Kopf wären. Und das wiederum würde bedeuten, dass geistige Inhalte in sehr bedeutsamer Hinsicht auch extern – außerhalb meines Kopfes – wären. Wie kann das sein? Beginnen wir damit, dass wir uns noch einmal der Intentionalität zuwenden. Wir erinnern uns, Intentionalität heißt einfach, dass unsere Gedanken immer auf Dinge gerichtet sind. Die Annahme liegt nahe, dass es sich dabei um die Objekte handelt, die den Inhalt unserer Gedanken «von außen nach innen» bestimmen – in der Richtung von der Welt zum Geist. Mit anderen Worten, die Objekte sind «dort draußen», was immer unter dem «draußen» zu verstehen ist, und veranlassen uns, die Gedanken zu haben, die wir haben. Wenn ich also an Wasser denke, bezieht sich mein Gedanke auf ein externes, materielles Gewässer, einen Fluss, einen See oder ein Glas Wasser. Wenn ich in diesem Fall an Wasser denke, meine ich den externen materiellen Stoff, den wir zufällig Wasser nennen. Das heißt nicht, dass sich mein Gedanke auf Wörter oder Namen stützen muss. Ich könnte ein vollkommen sensorisches Bild meinen, eine Reihe visueller, somatosensorischer, auditorischer und gustatorischer Signale, die ich in meinem Geist in das Vorstellungsbild eines nassen, spritzenden Stoffes übersetze, den man trinken kann und der hart wird, wenn es kalt ist. Das unterscheidet sich von der Situation, in welcher der Inhalt meiner Gedanken innerlich produziert wird, von «innen nach außen», vom Geist zur Welt. Wenn ich in diesem Fall an Wasser denke,
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
ist der Inhalt dieses Gedankens nach außen gerichtet, und alle Hinweise und Bedeutungen sind nur in meinem Kopf. Nehmen wir an, auf der anderen Seite der Sonne befindet sich auf genau derselben Umlaufbahn, aber diametral entgegengesetzt, ein Duplikat der Erde, das wir Zwillingserde nennen wollen. Dieser Planet teilt nicht nur die Umlaufbahn der Erde um die Sonne, sondern dreht sich auch in genau derselben Weise um seine Achse, sodass seine Tage, Jahreszeiten und Jahre denen auf unserer Erde aufs Haar gleichen. Auch der Zwillingsmond fehlt nicht, ein absolutes Ebenbild unseres Mondes. Von einem Erdobservatorium aus können wir die Zwillingserde nie sehen, weil diese, egal, wo sich unsere Erde auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne befände, immer genau auf der anderen Seite wäre. Nehmen wir weiter an, auf der Zwillingserde lebten exakte Duplikate von uns allen – mir, Ihnen, dem Papst –, die alle ihr Doppelgängerleben führen würden. Genau in diesem Augenblick säße auf der Zwillingserde ein exaktes Duplikat von Ihnen dort, wo Sie sich gerade befinden, und läse haargenau die gleichen Worte. Wenn nun alle Gedanken über Objekte hier auf der Erde innerlich erzeugt würden, dann wären sie in gewisser Weise alle von Ihnen, Ihrem Gehirn und Ihrem Geist abhängig. Dann müssten wir davon ausgehen, dass Ihr Doppelgänger auf der Zwillingserde, der – Sie erinnern sich – Ihr exakter Zwilling ist, auch die gleichen geistigen Inhalte hat, weil diese von «innen nach außen» bestimmt würden. Er oder sie dächte genau die gleichen Gedanken. Würde dagegen der Inhalt Ihrer Gedanken von «außen nach innen» abgeleitet, von der Existenz externer materieller Objekte wie Bergen, Bächen, Häusern und Bäumen in Ihrer unmittelbaren Umgebung, zu denen Sie eine unmittelbare Kausalbeziehung hergestellt hätten, dann wäre zu erwarten, dass Ihr Doppelgänger auf der Zwillingserde, der genau dergleichen Bergen, Bächen, Häusern und Bäumen ausgesetzt wäre, exakt die gleichen Gedanken hätte. Bei
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Kapitel acht – Doppelgänger
dieser Definition von Zwillingserde hätten wir keine Möglichkeit, zwischen den verschiedenen Ursprüngen des Inhalts dieser Gedanken zu unterscheiden. Zumindest war das der Fall, bis Chemiker wie Louis Gay-Lussac in Frankreich und John Dalton in England über die Auslegung des GayLussac-Gesetzes bei der Verbindung verschiedener Gase stritten. Am Ende stand die Erkenntnis, dass ein Molekül Wasser aus einem Atom Sauerstoff und zwei Atomen Wasserstoff besteht, deren Verbindung wir heute durch die Formel H2O bezeichnen. An sich ist das nicht weiter bemerkenswert. Bemerkenswert aber war, dass auf der Zwillingserde am Ende die Erkenntnis stand, dass ein Wassermolekül eine ganz andere Zusammensetzung hat, was in der Formel XYZ zum Ausdruck kommt. Sonst ist Zwillingswasser in jeder Hinsicht mit Wasser identisch. Es besitzt die gleichen physikalischen Eigenschaften (nasser Stoff, lässt sich trinken, friert bei null Grad, kocht bei hundert) und hat die gleiche Erscheinung – sieht gleich aus, hört sich gleich an und schmeckt gleich. Es heißt sogar «Wasser» auf der Zwillingserde. Aber es ist nicht dasselbe. Es ist XYZ. Folglich ist die Zwillingserde kein exaktes Duplikat der Erde. Auf der Zwillingserde sind die Meere, Seen, Flüsse und Bäche (auch die Wolken, Speicher und damit die menschlichen Körper) mit Zwillingswasser und nicht mit Wasser gefüllt, obwohl alle Menschen auf der Zwillingserde es «Wasser» nennen. Wenn Sie hier auf der Erde an Wasser denken, haben Sie intentionale Zustände, die vom Begriff des Wassers und seiner Erweiterung H2O abgeleitet sind.4 Wenn Ihr Doppelgänger auf der Zwillingserde an Wasser denkt, hat er intentionale Zustände in Bezug auf den Begriff des Zwillingswassers und 4 Das Wort «Erweiterung» bedeutet hier
gen – impliziert: nasser Stoff, lässt sich
einfach, dass das Wort «Wasser» eine
trinken, friert bei null Grad, kocht bei
Fülle anderer Dinge – oder Erweiterun-
hundert, besteht aus H2O-Molekülen.
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
seine Erweiterung XYZ. Wenn Sie an Wasser denken, meinen Sie, egal, ob Sie mit seiner chemischen Zusammensetzung vertraut sind oder nicht, H2O. Wenn Ihr Doppelgänger an Wasser denkt, meint er, egal, ob er mit der chemischen Zusammensetzung vertraut ist oder nicht, XYZ. Obwohl Sie in jeder Hinsicht mit Ihrem Doppelgänger identisch sind (abgesehen von dem Umstand, dass Ihr Körper voller Wasser und nicht Zwillingswasser ist), hat es den Anschein, als wären Ihre Gedanken nicht ganz identisch. Vielleicht sind Sie nicht in der Lage, sie auseinanderzuhalten, aber die Gedanken, die Sie und Ihr Doppelgänger haben, beziehen sich auf verschiedene Dinge. Heißt das also, dass alle Referenz und Bedeutung, die in Ihren Gedanken bezüglich materieller Objekte enthalten ist, nur durch die Existenz dieser Ihrem Geist äußerlichen Objekte bestimmt wird? Heißt das, dass Sie sich der Gedanken, die Sie denken, nicht mehr sicher sein können? Der zeitgenössische Philosoph Hilary Putnam (berühmt für sein Gehirn-im-Tank-Szenario) vertrat diese Ansicht; ihm wird auch das oben geschilderte Gedankenexperiment über die Zwillingserde zugeschrieben. Auf der Grundlage dieses Gedankenexperiments vertrat Putnam die Auffassung, dass «Bedeutungen nicht einfach im Kopf sind». Die Meinung, die in unseren Gedanken enthalten ist, hängt von den Dingen ab, mit denen wir interagieren oder mit denen wir Kausalbeziehungen herstellen. Sie haben Gedanken über Wasser, weil Sie mit Wasser interagieren. Ihr Doppelgänger hat Gedanken über Zwillingswasser, weil er damit interagiert. Intentionalität hängt vom Kontext ab – davon, dass Sie Beziehungen zwischen dem Inhalt Ihrer Gedanken und den Dingen herstellen, die jene verursachen. Putnams Argumente haben in philosophischen Zeitschriften und Büchern beträchtliche Debatten ausgelöst. Dabei hat sich, soweit ich das beurteilen kann, die These, dass sich der Inhalt meines Geistes
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Kapitel acht – Doppelgänger
nicht nur in meinem Kopf befindet, sehr gut geschlagen. Laut Putnam befindet sich mein mentaler Inhalt nicht ausschließlich im Besitz meines Geistes, sondern kann nur existieren, wenn sich mein Geist in einer Außenwelt befindet. Doch was ist mit der Lokalisation dieses Inhalts? Folgt aus Putnams Argument, dass meine Gedanken auf irgendeine obskure Weise in der Welt um mich her geschehen, dass externe Objekte irgendwie das Denken für mich erledigen? Nein. Die Behauptung, dass unbelebte Objekte in der Welt um Sie her in der Lage wären, Ihre Gedanken zu haben, ginge viel zu weit. Gemeint ist vielmehr, dass der Inhalt dieser Gedanken ebenso sehr aus der Außenwelt wie aus Ihrer inneren geistigen Welt stammt. Wenn ich Ihnen die Außenwelt fortnehme, indem ich Ihnen über einen längeren Zeitraum allen sensorischen Input entziehe, kann Ihr Geist nicht mehr angemessen arbeiten – Sie verlieren den Kontakt mit einer Welt, die zumindest teilweise für den Inhalt Ihrer Gedanken verantwortlich ist. Das Gedankenexperiment über die Zwillingserde sagt nichts darüber aus, wo Ihr geistiger Inhalt lokalisiert sein könnte, doch seit Putnam sind viele Argumente vorgebracht worden, die besagen, dass Ihr geistiger Inhalt zumindest teilweise auch in der Außenwelt lokalisiert ist. Besonders überzeugend ist eines, das von den Philosophen Andy Clark und David Chalmers vertreten und unter der Bezeichnung Paritätsprinzip geführt wird. Das Argument der beiden läuft auf Folgendes hinaus: Ein Großteil unseres geistigen Inhalts erwächst aus dem Umgang mit Objekten, die uns mit Information versorgen. Wir neigen dazu, uns auf die Handhabung dieser Objekte und auf die Informationsverarbeitung in unserem Geist zu konzentrieren. Alice verabredet sich mit Bob am Mittwoch um ein Uhr mittags auf der Straße vor der Firma. Daher hat Alice diese Verabredung als einen Inhalt in ihrem Gedächtnis. Tatsächlich ist es aber noch fast eine Woche hin bis Mittwoch, und sie hat ein schlechtes Gedächtnis,
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
daher trägt sie die Verabredung in ihren Microsoft-Outlook-Kalender auf ihrem Laptop ein. Wo befindet sich Ihr geistiger Inhalt jetzt? Freunde des Films Memento aus dem Jahr 2000 werden dieses Problem wiedererkennen. Der Versicherungsdetektiv Leonard Shelby (von Guy Fearce gespielt5) hat eine Kopfverletzung erlitten und dadurch seine Gedächtnisfähigkeit verloren. Um sich überhaupt an etwas zu erinnern, muss er Notizen für sich selbst hinterlassen und Polaroidfotos aufnehmen. Aber das reicht nicht. Notizen und Fotografien können leicht verlorengehen. In einer Notiz schreibt er:
Es ist schwer. Ich weiß, es ist schwer. Aber du bist doch ein kluger Junge, Leonard. Du musst dir was einfallen lassen, um auf die richtige Spur zu kommen. Mit den kleinen Notizen geht das nicht. Nicht bei den wichtigen Sachen. Du musst eine dauerhaftere Methode finden, die Dinge festzuhalten. Er beschließt, sich einige der wichtigeren Tatsachen, die er über sein Leben und seine Verhältnisse herausgefunden hat, auf den Körper tätowieren zu lassen. Der Film führt in die Vergangenheit zurück, als Shelby versucht, das Rätsel zu lösen, das den Mord an seiner Frau umgibt (und auch die Umstände, die während des Mordes zu seiner Verletzung geführt haben). Shelby manipuliert die Informationen, die er in Erfahrung bringt, indem er Objekte in der Außenwelt manipuliert, um seine geistigen Ausfälle zu kompensieren. Aus ganz ähnlichen, wenn auch bei weitem nicht so schwerwiegenden Gründen verwendet Alice ihren Kalender. In Shelbys Fall können wir in Gestalt seiner zahllosen 5 Außerdem spielen noch Carrie-Anne Moss und Joe Pantoliano mit, daher wird der Film auch den eingefleischten Fans von Matrix in Erinnerung sein.
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Tätowierungen buchstäblich sehen, was als Inhalt seines Gedächtnisses gelten kann. Die Annahme, wir würden in unserem Kopf ein perfekt aufgezeichnetes, detailliertes Bild der Welt mit uns herumtragen, ist sicherlich falsch. Ganz im Gegenteil. Stattdessen haben wir gelernt, uns auf die Außenwelt als Speicher für einen Großteil dessen zu verlassen, was als unser geistiger Inhalt gilt. Stellen Sie sich einen Augenblick vor, Sie würden auf der Straße von einem Fremden angehalten, der Sie nach dem Weg fragt. Woran erinnern Sie sich, kurz nachdem Sie ihm den Weg beschrieben haben? Können Sie den Fremden in allen Einzelheiten beschreiben? In einer Reihe von Experimenten wurden studentische Versuchspersonen auf einem Campus angehalten und nach dem Weg gefragt. Während sie Auskunft gaben, gingen zwei Männer, die eine Tür trugen, zwischen ihnen und dem Fremden vorbei – ein Vorgang, der verbarg, dass der Fremde durch einen anderen ausgetauscht wurde. In vielen Fällen setzten die Studenten ihre Erläuterungen fort, ohne zu bemerken, dass sie jetzt mit einer völlig anderen Person sprachen. Die Argumente, die von Clark und Chalmers vorgebracht werden, berücksichtigen alle Aspekte, die beim Erwerb unseres geistigen Inhalts eine Rolle spielen – Wahrnehmung, Denken und Gedächtnis. Bewusst oder unbewusst interagieren wir mit unserer Umwelt, manipulieren sie und benutzen sie, um Dinge so zu repräsentieren, dass wir uns die Mühe sparen können, sie direkt in unserem Geist aufzubewahren. Im Endeffekt bedeutet das, dass unser geistiger Inhalt nicht nur in unserem Kopf lokalisiert ist. An diesem Punkt wird der Materialist in mir etwas nervös. Um zu sehen, warum, wollen wir Putnams Science-Fiction-Szenario ein bisschen fortführen. Wir erinnern uns, die Zwillingserde bleibt von der Erde aus immer unsichtbar, sodass wir von ihrer Existenz nichts wissen können. Nun stellen Sie sich vor, eine überlegene außerirdische
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
Intelligenz hätte ein Teleportationsgerät gebaut und wollte es nun erproben, indem es den Erdlingen und den Zwillingserdlingen einen bösen Streich spielte. Die Außerirdischen wählen ausgerechnet Sie aus. Von Ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort – Sie sitzen im Zug und lesen dieses Buch – werden Sie augenblicklich zur Zwillingserde gebeamt, während man Ihren Doppelgänger gleichzeitig zur Erde teleportiert. Im Handumdrehen befinden Sie sich auf Zwillingserde. Soweit es Sie betrifft, hat sich nichts verändert. Sie sitzen noch immer im selben Zug und lesen exakt dasselbe Buch. Nach kurzer Zeit und aus Gründen, die Sie selbst am besten kennen, verlassen Sie den Zug, springen in einen See, plaiischen umher und verkünden: «Das ist Wasser.» Zwar ziehen Sie damit ein paar verwunderte Blicke auf sich, aber niemand widerspricht Ihnen. Gehen wir das Schritt für Schritt durch. Das Zwillingswasser im See hat in Ihnen bestimmte visuelle, taktile und akustische Erlebnisse hervorgerufen. Sie sehen Zwillingswasser, fühlen das nasse Element und erzeugen planschende Geräusche. Doch Sie orientieren sich an Ihren bisherigen Erfahrungen mit dem Wasser auf der Erde, das, wie John Searle sagen würde, Teil Ihres geistigen Hintergrundes ist, und gelangen daher zu dem Schluss, es handle sich um Wasser, obwohl es in Wirklichkeit Zwillingswasser ist. Trotzdem denken Sie, es sei Wasser. Warum sollten Sie auch etwas anderes denken? Einen Unterschied können Sie beim besten Willen nicht entdecken. Putnam würde sagen, dass Sie jetzt an Zwillingswasser denken, was seiner Meinung nach bewiese, dass wir uns unserer Gedanken nicht sicher sein können. Doch in dieser Phase gibt es keine Spur von Unsicherheit in Ihrem Geist. Soweit es Sie betrifft, gelten Ihre Gedanken Wasser (und seiner Erweiterung H2O). Diese Gedanken haben laut Searle bestimmte «Erfüllungsbedingungen». Während Ihre Wahrnehmungen durch Objekte in der materiellen Welt verursacht werden, von außen nach innen, also in Richtung Welt-zum-Geist, gehen Ihre Gedanken nach
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außen, in Richtung Geist-zur-Welt. Sie mögen fälschlicherweise der Meinung sein, dass allen Erfüllungsbedingungen Ihrer Gedanken an Wasser Genüge getan ist, doch das ist nicht der Fall. Entgegen allem Anschein ist dieser Stoff kein Wasser. Im Gegensatz zu Putnam vertritt Searle in seinem Buch Intentionalität die Auffassung, dass Bedeutungen im Kopf und nur dort sind. Diese Bedeutungen werden aus unseren Erfahrungen mit der materiellen Welt um uns her abgeleitet, die wiederum aus unseren sensorischen Inputs abgeleitet sind – Sehen, Tasten, Schmecken, Riechen und Hören. Diese Erfahrungen schließen auch alles ein, was man uns jemals erzählt hat, alles, was wir jemals gelesen haben, alles, was sich jemals durch die Bildung bestimmter neuronaler Bahnen unserem Gehirn eingeprägt hat und unserem geistigen Hintergrund eingegliedert wurde. Nehmen Sie an, Sie arbeiten in einem Labor und können mit einem Gerät umgehen, das man als Massenspektrometer bezeichnet (ich bitte um Nachsicht). Mit diesem Instrument kann man die chemischen Bestandteile von Stoffen wie Wasser bestimmen. Nach dem Zwischenfall im See nehmen Sie eine Wasserprobe und untersuchen sie mit Ihrem Massenspektrometer. Sie stellen fest, dass es sich nicht um Wasser, sondern um XYZ handelt. Dass genügt den Erfüllungsbedingungen Ihrer Gedanken bezüglich Wasser nicht. Verblüfft überzeugen Sie sich davon, dass das Gerät einwandfrei arbeitet. Sie führen Tests mit Proben von Sauerstoff- und Wasserstoffgas durch, um sicherzugehen, dass die Arbeitsweise des Instruments Ihren Erwartungen entspricht. Anschließend analysieren Sie überall entnommene Wasserproben. Die Ergebnisse bringen Sie völlig aus der Fassung. Alles, was Sie bisher über die Beschaffenheit von Wasser wussten, angefangen bei den ersten Lektionen des naturkundlichen Unterrichts, wird hier auf den Kopf gestellt. Sie untersuchen noch mehr Proben und verwenden andere Instrumente. Langsam werden Sie paranoid. Alles Wasser der Welt hat sich plötzlich
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in XYZ verwandelt. Sie fragen Ihre Kollegen, was geschehen ist, und die schauen Sie an, als seien Sie völlig übergeschnappt. Wie können Sie glauben, Wasser wäre H2O? Freundlich erklären sie Ihnen, Sie hätten in letzter Zeit viel Stress gehabt und sollten sich ein paar Tage Urlaub nehmen. Schließlich gelangen Sie zu dem Schluss, dass Sie entweder verrückt geworden oder das Opfer einer unglaublichen Verschwörung sind ... Searle meint, Bedeutungen gebe es nur im Geist, weil sie nur dort existieren könnten. Nichts bedeutet irgendetwas auf Un-Erde, wo es keinen Geist gibt. Diese Bedeutungen werden «von innen nach außen» projiziert, in Richtung Geist-zur-Welt. Unsere Gedanken werden innerlich aus unserem geistigen Hintergrund abgeleitet und unter wechselnden Erfüllungsbedingungen in die Welt transportiert. Wenn wir diese Auffassung vertreten, leugnen wir damit nicht, dass der Geist sich auch in Abwesenheit sensorischer Inputs bemühen wird, seine Tätigkeit fortzusetzen. Die Reizentzugsexperimente scheinen den Schluss nahezulegen, dass der Hintergrund nicht etwas ist, was sich in der Kindheit entwickelt und später im Leben als endgültig ausgebildet oder vollständig gelten kann. Der Hintergrund wird nicht in das Gehirn «gebrannt» wie Musikstücke auf eine CD. Unser Leben lang lernen wir neue Dinge – legen wir neue neuronale Bahnen an. Dass dies mit fortschreitendem Alter schwieriger wird, bedeutet nicht, dass es nicht geschieht. Nicht nur Hänschen, sondern auch Hans kann noch etwas lernen, wenn er sich entsprechend bemüht. Es sollte uns nicht überraschen, dass die neuronalen Bahnen beeinträchtigt werden, sogar «zuwachsen», wenn sie nicht verwendet werden, weil sie dann unter Reizentzug leiden. Geistiger Inhalt ist genau dies: geistig. Es mag durchaus sein, dass Leonard Shelby seine Tätowierungen als Erinnerung an wichtige Tatsachen verwendet, aber wenn er erwacht, muss er sie zunächst einmal in seinen Kopf bekommen, indem er sie liest. Alice wird ihre Verabredung mit Bob vergessen, wenn sie nicht vor dem besagten
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Kapitel acht – Doppelgänger
Mittwoch ihren Kalender zurate zieht. Dabei spielt es keine Rolle, dass der Kalender für sie eine in der Außenwelt geschaffene Erinnerung an die Verabredung darstellt. Wenn es Alice nicht gelingt, die Notiz im Kalender wieder in ihren Kopf zu befördern, büßt diese ihre Funktion als Erinnerung ein. Der Umstand, dass wir keine detaillierte Repräsentation der Welt im Kopf mit uns herumtragen, erklärt sich einfach daraus, dass wir es nicht nötig haben. Wir gehen sparsam mit unseren geistigen Fähigkeiten um (oder, wenn es Ihnen lieber ist, wir sind faul). Die Studenten bemerken nicht, dass der Fremde, dem sie den Weg erklären, ersetzt worden ist, weil sie nicht darauf achten. Vieles ereignet sich in der Welt um uns her, das wir nicht bemerken und später nicht erinnern, weil wir ihm keine Aufmerksamkeit schenken. Manchmal fahren wir mit dem Auto zu einem Bestimmungsort und treffen dort ein, ohne die geringste Erinnerung an die Fahrt zu haben. Sind wir gefährlich gefahren? Nein, vermutlich sind wir vollkommen sicher gefahren, aber die Aufmerksamkeit, die wir dem Akt des Fahrens geschenkt haben, war nicht von jener Art, die dauerhafte Spuren im Gedächtnis hinterlässt. Mit diesem Argument scheinen wir wieder an unserem Ausgangspunkt angelangt zu sein: Die Grenze zwischen Geist und Welt ist zuverlässig und intakt. Bei intakter Grenze ist es vielleicht schwierig, sich gegen Platons Höhle, Descartes’ Dämon oder Kants Anschauungen zu wehren. Egal, ob Sie glauben, dass es eine ernstzunehmende Grenze zwischen Geist und Welt gibt, es scheint völlig klar zu sein, dass unser geistiger Hintergrund durch alle Erfahrungen gebildet worden ist, die wir jemals gemacht haben – durch alles, was wir gesehen, getastet, geschmeckt, gerochen und gehört haben. Durch alles, was man uns erzählt hat und was wir gelesen haben. Die Richtung unserer Wahrnehmungserlebnisse scheint eindeutig «von außen nach innen», von der Welt zum Geist, zu verlaufen. Die Reizentzugsexperi-
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Teil zwei – Die Pforten der Wahrnehmung oder Sind Farben wirklich?
mente führen uns dramatisch vor Augen, dass der Geist nicht ohne die Welt arbeiten kann, dass er ein Produkt der Welt ist und nicht umgekehrt. Vielleicht glauben Sie jetzt, Sie hätten den Boden des Kaninchenbaus erreicht. Alles um Sie herum ist völlig dunkel und still. Und ich fürchte, Sie haben mittlerweile die Nase voll von Philosophen. Vielleicht finden Sie etwas Trost in der Tatsache, dass Sie gerade zweieinhalbtausend Jahre Philosophie absolviert haben. Möglicherweise aber haben Sie trotz der zurückgelegten Wegstrecke das Gefühl, dass Sie es noch immer mit mehr Fragen als Antworten zu tun haben und dass Sie jetzt vor allem Antworten brauchen. Gegen die Argumente, die wir so sorgfältig untersucht und um deren Verständnis wir uns so intensiv bemüht haben, lässt sich wenig einwenden. Natürlich ist es richtig, dass wir nur die Dinge erkennen, die wir erfahren oder intuitiv erfassen können, genauso wie es richtig ist, dass wir unser Wirklichkeitsverständnis nicht von der Arbeitsweise unseres Geistes trennen können. Trotz allem können wir aber recht glücklich mit der Annahme leben, dass die Welt um uns herum durchaus wirklich und völlig unabhängig von unserer Fähigkeit ist, sie zu erfassen und Theorien über sie zu bilden. Schauen Sie sich aber um und betrachten Sie die Konsumgüter, die Sie sich angeschafft haben – da kommt sicherlich einiges zusammen: Flachbildschirmfernseher, DVD-Player, Stereogerät, Kühlschrank, Spülmaschine, Espressomaschine, Mikrowellengerät und so fort. Alle diese Geräte sind Produkte einer Technik, die auf einem wissenschaftlichen Verständnis beruht – einem Verständnis also, das von der Prämisse einer unabhängigen Wirklichkeit ausgeht, die sich im Dienst menschlicher Wünsche und Zwecke manipulieren lässt. Einer Wirklichkeit, die sich auf Naturgesetze gründet, auf Ursache und Wirkung, auf eine progressive Entwicklung zu einer Wahrheit über die Welt, wie sie wirklich ist. Einer Wirklichkeit unbeobacht-
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Kapitel acht – Doppelgänger
barer Dinge wie Elektronen, die über das Breitbandkabel in unseren Computer schießen und ihn mittels seiner vielen Transistoren, Widerstände, Kondensatoren, Mikrochips und unzähligen anderen elektrischen Komponenten zum Arbeiten bringen. Wie könnte das nicht wirklich sein? Vielleicht verspüren Sie das Bedürfnis nach einem Gegenmittel gegen all diese Philosophie von Heraklits Welt im Fluss über Platons Gefangene bis hin zu Kants Anschauungen und Putnams Zwillingserde-Experiment. Höchste Zeit, Tröstung in der Gewissheit der Naturwissenschaften zu suchen. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen beibringen soll. Machen Sie sich nicht zu viel Hoffnung! Sie sind noch weit vom Boden des Kaninchenbaus entfernt. Sie haben noch ein gutes Stück freien Fall vor sich.
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Teil drei
Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
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Kapitel neun
Fester Grund? All my life, I worshipped her Her golden voice, her beauty’s beat How she made us feel How she made me real And the ground beneath her feet. U2, ALL THAT YOU CAN’T LEAVE BEHIND
Philosophen reden sich gerne die Köpfe heiß über die Frage, was wir erkennen können und was nicht. Wie gesehen, wurde die Schlacht zwischen Vernunft und Erfahrung vor rund zweieinhalbtausend fahren zwischen Heraklit und Parmenides eröffnet und liefert den Philosophen seither reichlich Stoff für munteren Streit. Zwar glauben wir heute, eine Menge mehr über die Beschaffenheit unserer Welt zu wissen, trotzdem lässt sich möglicherweise noch immer nicht entscheiden, wer diesen besonderen philosophischen Krieg gewinnen wird. Kants Behauptung, unsere Wahrnehmung von Raum, Zeit, Ursache und Wirkung sei ebenso sehr ein Produkt unseres Geistes wie das Resultat realer Eigenschaften der Außenwelt, mag ja ihre Anhänger gefunden haben, doch Naturwissenschaftler sind in der Regel pragmatische Gesellen. Naturwissenschaftler befassen sich mit der
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
Welt, wie sie sie vorfinden, und die meisten von ihnen haben nicht viel Zeit, sich Gedanken über komplizierte philosophische Probleme zu machen, die sich offenbar nicht lösen lassen. Abgesehen davon würde sicherlich jeder, der die geringste Erfahrung mit einer Welt aus Objekten hat, die sich durch Zeit und Raum bewegen (mit anderen Worten, jeder von uns), zu dem Schluss gelangen, dass sie das Merkmal einer Welt sind, die gleichförmig und vorhersagbar ist und unabhängig von unserem Geist existiert. Wissenschaftler befassen sich mit einer Welt der Erfahrung, einer Welt, die manipuliert und durch direkte Beobachtungen und Experimente einer gründlichen Prüfung unterzogen werden kann. Sogar theoretische Physiker werden durch die Notwendigkeit, ihre Theorien auf beobachtbare oder messbare Eigenschaften zu beziehen, wieder auf den Boden der Tatsachen gebracht. Wissenschaftler würden behaupten, dass sie in ihrem Denken genauso streng sind wie Philosophen, doch im Unterschied zu diesen sind sie in der Regel bereit, bestimmte Dinge als gegeben hinzunehmen. Das wissenschaftliche Denken ist in höherem Maße mit der Konsistenz und Überprüfbarkeit (und, wenn auch nicht immer eingestandenermaßen, mit der Schönheit und Einfachheit) theoretischer Konstrukte befasst, um die Welt zu beschreiben und zu erklären, wie sie wahrgenommen und erfahren wird. Die meisten Experimentalwissenschaftler gehen von der Annahme aus, dass die Dinge, mit denen sie täglich in ihren Observatorien oder Laboratorien umgehen, nicht nur wirklich, sondern auch unabhängig von ihnen selbst wirklich sind. Sollten Sie sie fragen, ob sie der Meinung seien, dass ihre Untersuchungsgegenstände wirklich seien, würden sie, nehme ich an, ziemlich komisch dreinblicken. Schließlich könnte kaum jemand die geschätzten zweieinhalb Milliarden Dollar rechtfertigen, die gegenwärtig für den Bau des Protonenspeicherrings LHC der CERN (Europäische Organisation für Kernforschung) ausgegeben werden, wenn er nicht an die Wirklich-
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Kapitel neun – Fester Grund?
keit der Teilchen glauben würde, die dort entdeckt und untersucht werden sollen.1 Willkommen auf festem Boden. Nun, wir wollen nicht zu viel verlangen. Wir erwarten nicht, dass uns die Wissenschaft mit der letzten Antwort auf «das Leben, das Universum und den ganzen Rest» versorgen kann. Wir erwarten von der Naturwissenschaft lediglich, dass sie uns vier grundlegende Fragen hinsichtlich der Beschaffenheit unserer physikalischen Wirklichkeit beantwortet. Was ist Raum? Was ist Zeit? Was ist Materie? Was ist Licht? Es ist kaum vorstellbar, dass wir angesichts des Niveaus, das unsere technische Entwicklung inzwischen erreicht hat, nicht in der Lage sein sollten, diese einfachen Fragen zu beantworten. Wir wollen alle restlichen Sorgen beiseitelassen, die wir möglicherweise noch bezüglich der Beziehungen zwischen unserem Geist und der Welt um uns herum hegen, und uns stattdessen auf das konzentrieren, was uns die Naturwissenschaft mitzuteilen hat. Hier zumindest dürfen wir doch wohl einige Antworten erwarten und nicht noch mehr philosophische Rätsel. Raum und Zeit sind eng miteinander verflochten. Unser Zeitempfinden hängt unmittelbar davon ab, wie wir die Bewegungen von Sternen, Sonne, Mond und Planeten im Raum wahrnehmen. Die Erde dreht sich um ihre Achse, und aus Tag wird Nacht. Die Mondphase verändert sich, und aus Februar wird März. Die Erde trudelt auf ihrer Sonnenbahn vorwärts, schlingert um ihre Achse, und aus 1 Ein Kollege berichtet, er sei einmal bei einem Routinebesuch von einem Physiker
schweigend vorwärtsmarschierten, fragte mein Kollege den Physiker, ob ihm
durch den Tunnel eines Teilchenbeschleu-
nie in den Sinn gekommen sei, dass das
nigers geführt worden. Der Physiker
ganze Unternehmen etwas verrückt sein
wies ihn darauf hin, dass während der
könnte. Der Physiker dachte einen Au-
nächsten Kilometer nichts Interessantes
genblick nach und sagte dann: «Nein.»
zu sehen sein werde. Während sie
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
Winter wird Frühling. Mit jeder Umlaufbahn vergeht ein Jahr, sind wir ein Jahr älter, sehen die Polizisten jünger aus und ist es ein bisschen schwieriger geworden, der Popmusik etwas abzugewinnen. Wenn wir nach einer Universaluhr suchen, brauchen wir nur in den Himmel zu blicken. Die Vorstellung, das Universum sei ein Uhrwerk, hat etwas ungemein Tröstliches. Mit der verwirrenden Unvorhersagbarkeit unseres gesellschaftlichen Lebens konfrontiert, ist der Gedanke ermutigend, dass die physikalischen Grundlagen, auf denen unser Leben ruht, solide, verlässlich und vorhersagbar sind. Es gibt Leute,2 welche die Auffassung vertreten, diese Art von Unvorhersagbarkeit lasse keinen Raum für den freien Willen, doch wir wollen beim Thema bleiben. Ich für meinen Teil finde es ungeheuer tröstlich, wenn die Sonne zu Beginn eines neuen Tages aufgeht. Für mich ist es außerordentlich hilfreich, wenn ich die Dinge dort wiederfinden kann, wo ich sie hingelegt habe. Ohne ein hohes Maß an Gewissheit und Vorhersagbarkeit in der materiellen Welt, die uns umgibt, wären wir zweifellos nicht in der Lage zu leben. Um ehrlich zu sein, eröffnet die Tatsache, dass wir unser Zeitmaß von unseren unmittelbaren Nachbarn im Universum abhängig machen, ein ganzes Spektrum von Wahlmöglichkeiten, weil unsere Nachbarn unterschiedliche Entfernungen zur Erde aufweisen. Wir haben uns für die Sonne entschieden, nicht zuletzt weil sie dieses große gelbe Ding am Himmel ist, das unsere Welt mit Licht erfüllt. Ein Sonnentag ist der Zeitraum, den die Sonne braucht, um zweimal den Meridian zu durchqueren – ein zeitliches Intervall, das wir (aus historischen Gründen) in 24 Stunden unterteilen. Das wäre schön und gut, wäre da nicht die Tatsache, dass sich die Erde nicht nur um ihre eigene Achse dreht, sondern auch um die Sonne bewegt. Daraus folgt, dass sich die Erde an jedem Sonnentag um 2 Natürlich wieder Philosophen!
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Kapitel neun – Fester Grund?
etwas mehr als 360° drehen muss. Da die Fixsterne sehr viel weiter von der Erde entfernt sind, wäre es eigentlich sinnvoller, unser Zeitmaß von der Erdrotation relativ zu den Sternen abhängig zu machen. Wie in Kapitel sieben erwähnt, ist ein Sterntag die Zeit, die eine vollständige 360-Grad-Rotation der Erde relativ zu den Sternen braucht, ein Zeitraum, der im Durchschnitt rund vier Minuten kürzer als ein Sonnentag ist. Spielt das eine Rolle? Durchaus, wenn Sie versuchen, den genauen Zeitpunkt der nächsten Sonnenfinsternis vorauszusagen. Astronomen konnten schon immer ihren Status in der Gesellschaft und ihre Bedeutung in den eigenen Augen aufbessern, wenn sie in der Lage waren, Verfinsterungen vorherzusagen. Erinnern Sie sich, wie sich der Held in Mark Twains Ein Yankee am Hof des Königs Artus vor dem Scheiterhaufen bewahrt, indem er vorgibt, einen mächtigeren Zauber als Merlin ausüben zu können? Da er weiß, dass am 21. Juni des Jahres 528 nach Christus um 12:03 Uhr eine Sonnenfinsternis bevorsteht, gibt er vor, über die Macht zu verfügen, das Sonnenlicht durch Zauberkraft vorübergehend zum Erlöschen bringen zu können. Der Trick hätte nicht annähernd so gut funktioniert, wenn er sich auch nur um wenige Minuten vertan hätte. Von dem Bedürfnis nach einer besseren Zeitnahme getrieben, entwickelten die Astronomen unser heutiges Verständnis des Uhrwerk-Universums durch immer genauere Beobachtungen der Sternbewegungen. Das ist ein exemplarisches Beispiel für den Triumph des wissenschaftlichen Denkens und daher wert, erzählt zu werden; ich werde mich jedoch um Kürze bemühen. Die Philosophen im alten Griechenland hatten ein Bild des Universums entwickelt, das die Erde in seinen Mittelpunkt stellte. Ein wesentliches Element dieses Bildes war das aristotelische Ideal des vollkommenen Kreises, und die Bewegungen der Sterne um die Erde schienen diesem Ideal in jeder Hinsicht zu genügen. Wenn wir sie
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
lange genug beobachten und ihren Bewegungen durch den Nachthimmel folgen, scheinen sich ferne Sterne in Kreisen um die Erde zu bewegen. Doch von der Erde aus betrachtet, sind die Bewegungen der Planeten (der «Wandelsterne») keinesfalls kreisförmig. Um 150 nach Christus versuchte der griechische Philosoph Claudius Ptolemäus, die Bewegungen der Planeten um die Erde dadurch zu erklären, dass er eine komplizierte Theorie entwickelte, die sich auf Epizyklen (und einiges mehr) gründete. Die Epizyklen waren Kombinationen von Kreisen, die zumindest das Ideal der kreisförmigen Bewegung bewahrten. Ptolemäus hatte damit zwar einen gewissen Erfolg, doch in dem Maße, wie die astronomischen Beobachtungen genauer wurden, musste man sein Modell immer komplizierter machen. Als man dem König von Spanien das ptolemäische Modell rund elfhundert Jahre später zeigte, meinte er, wenn Gott ihn vor Beginn seines Schöpfungsprozesses um Rat gefragt hätte, hätte er ihm etwas Einfacheres vorgeschlagen. Die Wissenschaft fand die einfachere Antwort. 1543 verlegte Nikolaus Kopernikus die Erde in eine Umlaufbahn um die Sonne und stellte diese in den Mittelpunkt des Universums, eine Maßnahme, die alle Schwierigkeiten und Anomalien des ptolemäischen Modells augenblicklich beseitigte. Obwohl es noch immer sehr gefährlich war, der aristotelischen Lehre zu widersprechen, die mittlerweile in den Rang eines religiösen Dogmas erhoben worden war, konnte man immerhin die Ansicht vertreten, das Universum verhalte sich, «als ob» die Sonne sich im Mittelpunkt befände. Hilfreich war, dass die Umlaufbahnen bei Kopernikus noch immer kreisförmig waren. Während seines Studiums an der Universität Kopenhagen beobachtete der exzentrische Däne Tycho Brahe im Jahr 1560 eine Teilverfinsterung der Sonne. Tief beeindruckt von der Tatsache, dass diese Sonnenfinsternis von der Astronomie vorhergesagt worden war, beschloss er auf der Stelle, sich den Rest seines Lebens mit der
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Kapitel neun – Fester Grund?
Kunst exakter astronomischer Beobachtungen zu beschäftigen.3 Fast vierzig Jahre verbrachte Brahe damit, ein gewaltiges Kompendium zusammenzutragen, das die genauesten Beobachtungen enthielt, die jemals über die Positionen der Planeten und der sichtbaren Sterne vorgenommen worden waren. Die Daten, die Brahe über die Bewegung des Planeten Mars um die Sonne gesammelt hatte, ließen im Großen und Ganzen den Schluss auf eine kreisförmige Umlaufbahn zu. Es gab nur die winzige Abweichung von acht Bogenminuten, und es ist das Verdienst von Kepler, dass er das nicht für gut genug hielt. Brahes Beobachtungen waren genauer als die Vorhersagen, und daher konnte, so Kepler, die Bewegung nicht kreisförmig sein. Das Ergebnis von rund 25 Jahren unglaublich harter Arbeit auf der Grundlage von Brahes Daten waren bekanntlich die drei Kepler’schen Gesetze der Planetenbewegung. Die Planeten bewegen sich nicht in kreisförmigen Bahnen um die Sonne, sondern in Ellipsen, mit der Sonne in einem der beiden Brennpunkte. Das heißt, jeder gegebene Planet steht in Teilen seiner Umlaufbahn der Sonne näher als in anderen Bahnabschnitten. Außerdem bemerkte Kepler ein Gleichgewicht zwischen der Entfernung des Planeten von der Sonne und seiner Bahngeschwindigkeit. Ein Planet bewegt sich rascher in dem Teil seiner Bahn, der ihn näher an die Sonne heranführt, und langsamer in dem Teil, der ihn von der Sonne entfernt, mit dem Erfolg, dass eine Verbindungslinie zwischen der Sonne und dem Planeten in gleicher Zeit gleiche Flächen überstreicht. Schließlich entdeckte Kepler noch eine Beziehung zwischen dem mittleren Radius einer Planetenbahn und der Zeit, die ein Planet für 3 Brahe trug auch ein Duell mit einem
nicht genau, wer gewann, auf jeden Fall
Kommilitonen (seinem Vetter dritten
aber wurde Brahe ein Teil seiner Nase
Grades Manderup Parsberg) aus, in dem
abgeschlagen. Den Rest seines Lebens
es um die Frage ging, wer von ihnen der
trug er eine falsche Nase aus Silber
bessere Mathematiker sei. Wir wissen
und Gold.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
eine Umrundung der Sonne braucht (die Umlaufzeit). Er stellte fest, dass das Verhältnis zwischen den Kuben der mittleren Radien und den Quadraten der Umlaufzeiten für alle Planeten im Sonnensystem annähernd konstant ist.4 In den Kepler’schen Gesetzen ist nichts, was auf eine Erklärung oder Theorie schließen ließe, der wir entnehmen könnten, warum die Planeten die Sonne so und nicht anders umkreisen. Die Gesetze sind einfach Verallgemeinerungen vieler tausend astronomischen Beobachtungen. Allerdings lieferten die Kepler’schen Gesetze Hinweise auf grundlegende physikalische Verhältnisse der Planetenbewegung, die Ansätze zu einer Erklärung dieser Bewegungen boten. Die Theorie, die ihnen zugrunde lag und Sinn verlieh, waren Isaac Newtons Bewegungsgesetze und seine Gravitationstheorie, die er erstmals 1687 veröffentlichte. Newtons zweites Bewegungsgesetz verknüpft die Beschleunigung eines Körpers mit seiner Masse und der Kraft, die auf ihn einwirkt. Je stärker ich einen Körper anstoße, desto größer seine Beschleunigung. Newtons Gravitationsgesetz verknüpft die Kraft, die auf zwei Körper einwirkt, mit ihren Massen und dem Kehrwert des Quadrates der Entfernung zwischen ihnen. Wenn wir diese Gesetze kombinieren5, finden wir sofort eine Beziehung zwischen dem Kubus des mittleren Radius der Umlaufbahn und dem Quadrat der Umlaufzeit – Keplers drittes Gesetz. Wir sehen hier also einen natürlichen Fortschritt von den ptolemäischen Epizyklen über das heliozentrische Modell des Kopernikus 4 Beispielsweise beträgt der mittlere Ra-
Kubus des mittleren Radius zum Qua-
dius der Erdumlaufbahn rund 150 Millio-
drat der Umlaufzeit 25,3 Trillionen
nen Kilometer, während eine Umrundung
Kubikkilometer pro Quadrattag, für den
etwas mehr als 365 Tage dauert. Für Mars lauten die entsprechenden Zahlen
Mars 25,4. 5 Was leicht ist bei kreisförmigen Umlauf-
229 Millionen Kilometer und 687 Tage.
bahnen, jedoch etwas schwieriger bei
Für die Erde beträgt das Verhältnis des
elliptischen.
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Kapitel neun – Fester Grund?
und Keplers empirische Gesetze hin zu Newtons Bewegungs- und Gravitationsgesetz. Diese Feststellung wird auch durch die Tatsache nicht beeinträchtigt, dass die Gesetze nicht so rasch vom Himmel fielen, wie man aufgrund dieser kurzen Zusammenfassung glauben könnte. Hier haben wir zweifellos ein Beispiel dafür, wie uns die Wissenschaft unaufhörlich näher an die Wirklichkeit heranführt, wie sie wirklich ist: ein mechanisches Uhrwerk in einem Bezugssystem, das durch absolute Zeit und absoluten Raum definiert ist und dem daher ewige Dauer beschieden ist. Newtons Physik war eine Physik absoluter Größen. Er hatte sogar eine Antwort für die Leute, die ihn mit philosophischen Fragen belästigten, etwa der nach dem Ort des absoluten Raums. Gehen Sie in den Garten hinaus. Befestigen Sie ein Ende eines Seils am Handgriff eines Eimers und binden Sie das andere Ende an einem waagerechten Baumast fest, sodass der Eimer in der Luft hängt. Füllen Sie den Eimer zu drei Vierteln mit Wasser. Lassen Sie den Eimer nun so rotieren, dass sich das Seil immer stärker verdrillt. Wenn Sie spüren, dass Sie den Eimer nicht weiterdrehen können, lassen Sie ihn los und beobachten Sie, was passiert. Der Eimer wird herumwirbeln, während sich das Seil entdrillt. Zunächst bleibt das Wasser im Eimer ruhig. Doch in dem Maße, wie der Eimer an Geschwindigkeit zunimmt, beginnt auch das Wasser zu rotieren, und seine anfänglich flache Oberfläche wird konkav – das Wasser wird von der Rotationskraft an den Innenwänden des Eimers nach oben geschoben. Schließlich holt das rotierende Wasser den rotierenden Eimer ein, und beide drehen sich mit der gleichen Geschwindigkeit. Newton schaut Ihnen über die Schulter und lächelt. «Sehen Sie», sagt er, «absoluter Raum. Können Sie ihn sehen?» Newton begründet das wie folgt: Die Oberfläche des Wassers wird konkav, weil sich der Wasserkörper bewegt. Diese Bewegung ist entweder absolut oder relativ. Doch das Wasser bleibt konkav, während
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
sich die Rotationsgeschwindigkeit relativ zum Eimer verändert, und ist auch dann noch konkav, wenn Wasser und Eimer mit der gleichen Geschwindigkeit rotieren. Folglich kann die konkave Oberfläche nicht durch die Bewegung des Wassers relativ zum Eimer verursacht werden. Die Ursache muss vielmehr die absolute Bewegung des Wassers sein. Also gibt es absolute Bewegung. Absolute Bewegung kann nur im absoluten Raum existieren. Es gibt absoluten Raum. Q. e. d. So weit zu Raum und Zeit. Was ist mit Materie und Licht? Für Newton war Materie einfach eine Frage von Gewicht und Quantität materieller Substanz, die mit der Verfeinerung des Massebegriffs sehr viel greifbarer wurde. Newton befreite materielle Objekte von der Relativität der Gravitationsanziehung, die bestimmt, was ein Körper wiegt, und bewies, dass Körper eine Eigenmasse haben, die mit ihrer Trägheit zu tun hat, einem Maß für ihren Widerstand gegen Beschleunigung. Wenn ein Astronaut, der sich damit vergnügt, «Hasensprünge» auf dem Mond zu machen, plötzlich versucht, seine Bewegungsrichtung zu ändern, wird er rasch entdecken, dass er auf dem Mond zwar weniger wiegt, trotzdem aber seine ganze Masse behält. Der Film For All Mankind, Ausschnitte der Mondlandungen aus dem Zeitraum von 1968 bis 1972, zeigt zahlreiche Astronauten, die durch den folgenreichen Unterschied zwischen ihrem Gewicht und ihrer Masse in Schwierigkeiten kommen – ein Unterschied, der im Widerspruch zu allen ihren bisherigen Erfahrungen mit der irdischen Physik steht. Das Ergebnis ist ein verblüffender visueller Tribut an die Newton’sche Mechanik. Ferner erweiterte Newton den Geltungsbereich seiner Mechanik, indem er mit ihr auch die Eigenschaften des Lichtes erklärte und zu dem Schluss gelangte, das Licht bestehe aus winzigen Teilchen, sogenannten Korpuskeln, die im Prinzip denselben Bewegungsgesetzen unterworfen sein müssten wie gewöhnliche physikalische Körper. Bei dieser Schlussfolgerung blieb er, obwohl mehrere Zeitgenossen
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Kapitel neun – Fester Grund?
schlüssige Lichttheorien auf der Grundlage von Wellenbewegungen vorgeschlagen hatten. Gegensätzlichere Beschreibungen des Lichts ließen sich kaum denken. Eine visuelle Metapher für Newtons Lichtkorpuskeln wären unendlich kleine Kugeln aus einem gummiähnlichen Stoff, die geräuschlos und geradlinig durch den Raum fließen und von Körpern in alle Richtungen abprallen wie winzige elastische Kügelchen. Stellen Sie sich im Gegensatz dazu die kleinen Wellen auf der Oberfläche eines ansonsten stillen Teiches vor, welche die Stelle markieren, an der Sie einen Stein hineingeworfen haben. Die Wellen sind Störungen im Wasser, und es ist die Störung, nicht das Wasser, die sich nach außen bewegt. Die kleinen Wellen bewegen sich nach außen, weil das Wasser in gleichförmiger Sequenz leichte Auf- und Abbewegungen ausführt. In der Zeit nach Newtons Tod im Jahre 1727 häuften sich die experimentellen Beweise für die Wellentheorie des Lichtes. Besonders ein Experiment erwies sich als sehr überzeugend. Stellen Sie sich eine Versuchsanordnung vor, die aus einer dünnen geschwärzten Metallplatte mit zwei schmalen Spalten und einem Stück fotografischem Film besteht, den man hinter den Spalten angebracht hat. Mit Licht bestimmter Wellenlängen (oder Farben) bestrahlen wir den Schirm, der die Spalte aufweist. Das Licht durchquert die Spalte, und wir halten das Ergebnis auf dem fotografischen Film fest. Auf dem Film bildet sich ein Muster, das aus einer Folge von abwechselnd hellen und dunklen Streifen besteht, sogenannten Interferenzstreifen. Dieses Ergebnis können wir interpretieren, indem wir uns auf die Welleneigenschaften des Lichtes berufen. So betrachtet, besteht das Licht aus Wellen, die gezwungen werden, sich durch die enge Spalte zu quetschen, um sich dahinter wie die kleinen Wellen auf der Oberfläche des Teichs auszubreiten. Die Wellen aus den beiden Spalten überlagern sich, und dort, wo Wellenberg auf Wellenberg trifft, ist das Ergebnis ein noch größerer Berg. Wo Wellenberg auf Wellental
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
trifft, heben sie sich auf: Das Ergebnis ist Stille und Unbewegtheit. Diese konstruktive und destruktive Interferenz der Wellen ruft das Streifenmuster hervor. Ähnliche Interferenzeffekte manifestieren sich in den bunten Farberscheinungen in flachen Wasserpfützen, auf deren Oberfläche Öl schwimmt, oder an der Außenseite einer Seifenblase. Das Farbspiel wird durch die Interferenz des Lichtes hervorgerufen, das von der oberen und unteren Fläche des dünnen Ölfilms auf dem Wasser oder von der inneren und äußeren Fläche der Seifenblase reflektiert wird. Am Ende erwies sich die Wellentheorie des Lichtes als unwiderstehlich. Mit dieser Modifikation gab es wenige Aspekte der Welt, die sich nicht durch Newtons großartige Theorie des mechanischen Wechselspiels von physikalischen Kräften, materiellen Teilchen und Wellenerscheinungen in jenem Behälter erklären ließen, dessen Wände durch den absoluten Raum gebildet und dessen Geschehnisse durch das universelle Uhrwerk der absoluten Zeit bestimmt wurden. Newtons Gesetze bedeuteten allgemeine, grundlegende physikalische Prinzipien, die das Verhalten aller Objekte, aller Massen, aller Bewegungen im gesamten Universum bestimmten. Diese Gesetze waren gewiss. Es gab nicht den geringsten Zweifel an ihnen. Mochten sich die Philosophen mit den Problemen herumschlagen, die sie sich selbst eingebrockt hatten, doch an dem, was uns Newtons Physik über die wirkliche Welt mitteilte, gab es wenig Zweifel. Ende des 19. Jahrhunderts hätte ein Physiker wie einst Alexander weinen können, weil es den Anschein hatte, als gäbe es keine Welt mehr zu erobern. Allerdings zeigten sich einige Risse im Verputz von Newtons großem Bauwerk. Seine Gravitationskraft erwies sich bei näherem Hinsehen als ein bisschen rätselhaft. In seiner gesamten Mechanik ist Kraft eine physikalische Erscheinung, die durch den Kontakt zwischen
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Kapitel neun – Fester Grund?
zwei Körpern ausgeübt wird, so wie eine Billardkugel die Bewegung einer anderen verursacht, indem sie mit ihr zusammenstößt und auf diese Weise Energie auf die zweite Kugel überträgt. Die Gravitation dagegen schien ein Einfluss zu sein, der sich durch gegenseitige Fernwirkung zwischen Körpern bemerkbar machte, und das instantan, also augenblicklich, obwohl nichts als leerer Raum zwischen den Körpern war. Werfen Sie einen Apfel (oder, wenn es Ihnen lieber ist, eine Zitrone) hoch in die Luft. Was bewirkt, dass er (oder sie) zurückfällt? Die Gravitation (oder Schwerkraft) natürlich. Einige Physiker erfanden eine hypothetische, alles durchdringende, zähe Form der Materie, die sie Äther nannten und von der sie annahmen, sie erfülle den Raum zwischen den Körpern und trage die Gravitationskraft von einem zum anderen. Eine sehr ähnliche Lösung versuchte man für ein ganz anderes Problem zu finden. Wie die Wellen an der Oberfläche des Teiches Wellen im Wasser und Schallwellen Kompressionen und Verdünnungen in der Luft sind, so, glaubte man, sei jede Wellenbewegung auf ein Trägermedium angewiesen. Wellen mussten Wellen in etwas sein. Worin aber konnten Lichtwellen Wellen sein? Auch hier lautete die Antwort: im Äther. Lichtwellen, so nahm man an, seien Wellen in einem ruhenden Äther, der den ganzen Raum erfülle. Doch wenn der Raum mit Äther gefüllt war, durfte man bestimmte physikalische Konsequenzen erwarten. Die Bewegung der Erde durch einen ruhenden Äther musste nach Erwartung der Physiker einen Mitführungseffekt hervorrufen. Das hätte bedeutet, dass es, je nach der Richtung des Lichts relativ zur Erde, messbare Unterschiede in der Lichtgeschwindigkeit gegeben hätte. In exakten Experimenten, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchgeführt wurden, konnte kein solcher Effekt entdeckt werden. Und dann gab es noch dieses kleine Problem mit der Lichtgeschwindigkeit selbst.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
Beim Durchqueren eines belebten Flughafens haben Sie sicherlich schon einmal auf einem Laufband gestanden. Stellen Sie sich also vor, Sie stehen auf diesem Laufband und lassen sich mit einer Geschwindigkeit von, sagen wir, fünf Kilometern in der Stunde vorwärtstragen. Sie können auch auf dem Lauf band vorwärtsgehen, wie es Geschäftsleute, meist das Handy am Ohr, so gerne tun. Wenn Sie mit fünf Kilometern pro Stunde auf einem Lauf band gehen, das sich mit fünf Kilometern pro Stunde vorwärtsbewegt, kommen Sie nach Adam Riese mit einer Gesamtgeschwindigkeit von zehn Kilometern pro Stunde voran. Vielleicht erinnern Sie sich an die Geschichte des Films Stirb langsam 2, in dem Bruce Willis noch einmal in die Rolle des New Yorker Polizisten John McClane schlüpfte. Nehmen wir an, McClane betritt das leere, halbfertige Flughafengebäude, weil er nach einem Kommunikationsterminal sucht, um einen dringenden Notruf abzusetzen. Es ist dunkel, aber er hält eine Taschenlampe in der Hand. Während er sich mit fünf Kilometern in der Stunde vorwärtsbewegt, strömt ihm das Licht aus seiner Taschenlampe voraus und fällt auf einen Bösewicht, der dort auf der Lauer liegt. McClane feuert sein M4Sturmgewehr ab, das ein tödliches Geschoss mit einer Mündungsgeschwindigkeit von 3259 Stundenkilometern auf die Reise schickt. Er betritt ein Laufband, ohne im Gehen innezuhalten. Jetzt bewegt er sich mit zehn Stundenkilometern vorwärts. Abermals feuert er sein Gewehr ab. Welche Geschwindigkeit hat das Geschoss dieses Mal? Und welche Geschwindigkeit hat das Licht aus seiner Taschenlampe? Wenn Sie zu dem Schluss gelangen, dass die Kugel das Gewehr nun mit einer Gesamtgeschwindigkeit von 3264 Stundenkilometern verlässt, relativ zu einem Gangster in Ruhe gemessen, haben Sie recht. Mutig geworden, erklären Sie nun vielleicht, auch zur Lichtgeschwindigkeit müsse man nun – wie immer sie war, als McClane auf festem Boden ging – fünf Kilometer pro Stunde hinzurechnen,
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Kapitel neun – Fester Grund?
die Geschwindigkeit des Laufbands. Doch jetzt lägen Sie falsch. Die Lichtgeschwindigkeit verändert sich nie. Unabhängig von der Geschwindigkeit der Lichtquelle, bleibt sie immer konstant. Nun ist die Geschwindigkeit des Lichts im Vergleich zu der des Laufbands so hoch, dass es Sie vielleicht nicht weiter kümmert. Doch wenn wir uns vorstellen, dass sich das Laufband sehr viel schneller bewegen könnte, sagen wir, mit rund einer Milliarde Kilometer pro Stunde (rund 90 Prozent der Lichtgeschwindigkeit), bleibt es trotzdem dabei, dass sich die Lichtgeschwindigkeit nicht ändert. McClane jagt auf diesem Laufband dahin, nie mehr als einige Schritte hinter der Front des Lichtstrahls. Würde er sich noch schneller bewegen, würde er sie einholen. Verhielte sich die Kugel genauso, könnte er sie ein kurzes Stück vor der Mündung des Gewehrs schweben sehen. Und so kommen wir schließlich zu einem jungen Mann, der im Jahr 1905 Experte dritter Klasse beim Berner Patentamt war. Albert Einstein rang darum, die misslungenen Versuche, Beweise für den Äther zu finden, und die scheinbar universelle, von der relativen Bewegung der Quelle unabhängige Lichtgeschwindigkeit mit Newtons Interpretation von Raum und Zeit in Einklang zu bringen. Schließlich stellte er diese Bemühungen ein und schickte sich, keineswegs entmutigt, an, das Problem auf den Kopf zu stellen. Er fragte einfach, was für eine Theorie man erhielte, wenn man diese unleugbaren Experimentaldaten beim Wort nähme. Was geschieht, wenn wir annehmen, dass jeder Beobachter im Universum – ruhend oder in gleichförmiger Bewegung – in seinem eigenen speziellen Bezugs- oder Inertialsystem die physikalischen Gesetze stets als gleich wahrnimmt? Was geschieht, wenn wir annehmen, dass die Lichtgeschwindigkeit eine universelle Konstante ist? Das Ergebnis war Einsteins spezielle Relativitätstheorie. Die Konsequenzen sind bizarr. Wenn die Lichtgeschwindigkeit konstant ist, dann müssen zwei Lichtquellen, die sich mit unter-
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
schiedlichen Geschwindigkeiten bewegen, verschiedene Zeitmaße haben. Die Sekunden, Minuten und Stunden sind für die eine Quelle anders als für die andere Quelle. Diese Eigenschaft ist nicht auf Lichtquellen beschränkt. Die Zeit verlangsamt sich umso mehr, je schneller sich ein Objekt bewegt. John McClane kann die Front des Lichtstrahls nie ganz einholen, weil sich die Zeit fast zum völligen Stillstand verlangsamt, je näher er der Front kommt.6 Nehmen wir an, Alice und Bob sind Zwillinge im 25. Jahrhundert. Alice klettert an Bord eines Raumschiffs, beschleunigt es so, dass es der Erdanziehung entkommt, und begibt sich auf die lange Reise nach Proxima Centauri, einem winzigen roten Zwergstern, der zu einem Dreifachsternsystem im Sternbild Zentaur gehört und zufällig der nächste Nachbarstern unserer Sonne ist. Alice reist mit einer konstanten Geschwindigkeit von 90 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Als sie ihren Bestimmungsort erreicht, bremst sie ab, vollführt eine Wende um 180 Grad und kehrt mit der gleichen konstanten Reisegeschwindigkeit zur Erde zurück. Wieder auf der Erde, unterzieht Bob sie einer eingehenden Untersuchung. Soweit es ihn betrifft, hat ihre Rundreise insgesamt knapp neuneinhalb Jahre gedauert. Doch aus Alice’ Sicht war die Reise noch nicht einmal halb so lang – etwas mehr als vier Jahre. Ihr Zwillingsbruder ist jetzt mehr als fünf Jahre älter.7 6 Ich sage fast wegen der einfachen Tatsache, dass er die Lichtgeschwindig-
ist. Einige Physiker bestritten, dass es einen Altersunterschied zwischen Alice
keit nie ganz erreichen kann. Je stärker
und Bob geben würde, weil Bob, relativ
er beschleunigt und je näher er dieser
gesprochen, die gleichen Erfahrungen
absoluten Geschwindigkeitsbegrenzung
an relativer Bewegung gehabt hätte
kommt, desto mehr geht seine Masse
wie Alice. Doch Alice hat als Einzige von
(oder, wenn Sie wollen, sein Widerstand
ihnen beiden durch die Reise im Raum-
gegen weitere Beschleunigung) gegen
schiff Beschleunigung erfahren, und das
unendlich.
zerstört die Symmetrie zwischen ihren
7 Das ist das berühmte Zwillings-Paradox, das in Wahrheit gar kein Paradox
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Bedingungen.
Kapitel neun – Fester Grund?
Damit noch nicht genug der Seltsamkeiten. Auch Entfernungsmessungen werden zu einer Frage der relativen Geschwindigkeit. Alice’ schnittiges Raumschiff erlebt bei 90 Prozent der Lichtgeschwindigkeit eine Kontraktion, die es auf die Hälfte seiner ursprünglichen (ruhenden) Länge verkürzt. Das wird gewöhnlich nicht als physikalische Kontraktion interpretiert, bei der die Atome, aus denen das Raumschiff und alle in ihm befindlichen Dinge bestehen, näher zusammenrücken, sondern als eine Kontraktion des Raumes selbst. Bei Geschwindigkeiten nahe der des Lichtes ist ein Meter nicht mehr gleich dem Meter, der relativ zu einem ruhenden Beobachter mit einem Metermaß gemessen wird. Man wäre versucht, diese abenteuerlichen Behauptungen zurückzuweisen, wären sie nicht alle in vollem Umfang durch Experimente bestätigt worden. Die ganze Bedeutung der Einstein’schen Entdeckung wurde erst einige Jahre nach der Veröffentlichung seines ersten Aufsatzes über die Relativitätstheorie im Jahr 1905 erkannt. Der Mathematiker Hermann Minkowski wies nach, dass Raum und Zeit ihre unabhängige Bedeutung verloren hatten. Man sah sich gezwungen, Newtons Konzept eines dreidimensionalen Behälters aufzugeben, der mit absolutem Raum gefüllt war und in dem eine universelle Uhr die absolute Zeit vorgab. Fortan konnte man nicht mehr sagen, ein Ereignis habe an einem bestimmten Punkt im Raum und zu einem bestimmten Zeitpunkt stattgefunden. Wohl aber war es möglich, Raum und Zeit nach einem bestimmten Rezept zu vereinen und zu sagen, ein Ereignis finde an einem bestimmten Punkt in der Raumzeit statt. Mit Einsteins Relativitätstheorie wurde die physikalische Welt vierdimensional, da Raum und Zeit miteinander verschmolzen. Ohne absoluten Raum und absolute Zeit wird Veränderung – als etwas, das sich in einem objektiven Zeitintervall ereignet – zur Illusion, wie es Parmenides, Kant und McTaggart zu ihrer Zeit alle be-
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
hauptet hatten. Es gibt nur mein subjektives «Jetzt», von dem aus ich alles als vergangen, gegenwärtig oder zukünftig beurteile. Einstein war noch nicht ganz fertig. Seine Relativitätstheorie war aus dem einfachen Grund «speziell», weil sie nur Bezugssysteme behandeln konnte, die in Ruhe waren oder sich mit konstanten Geschwindigkeiten bewegten. Diese Theorie hatte zwar mit absoluten Entfernungen und absoluten Zeitintervallen aufgeräumt, aber die absolute Beschleunigung unangetastet gelassen. Die allgemeine Relativitätstheorie, die Einstein elf Jahre später veröffentlichte, machte damit Schluss und erklärte bei dieser Gelegenheit auch, wie die Gravitation ihre Wirkung entfaltet. Heute sind wir alle mit der visuellen Metapher für die Raumzeit vertraut: ein straff gespanntes, zweidimensionales Gummituch, das von massereichen Körpern wie Sternen und Planeten in einer dritten Dimension verformt wird, das heißt unter dem Einfluss solcher Körper tiefe Dellen erleidet. Kleinere Körper auf der Oberfläche des Tuches, die einer dieser Vertiefungen zu nahe kommen, rollen hinein; mit anderen Worten, Objekte, die dem Gravitationsfeld eines Planeten zu nahe kommen, werden von diesem durch seine Gravitationskraft angezogen. In Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie wird die Fernwirkung, die sich aus Newtons Gravitationstheorie ergibt, durch eine gekrümmte Raumzeit ersetzt. Raum und Zeit waren jetzt nicht nur miteinander verschmolzen, sondern hatten auch eine Geometrie angenommen, die je nach der Anwesenheit von Materie flach oder gekrümmt sein konnte. Die Argumente, die Newton im Zusammenhang mit seinem Eimer verwendet hatte, enthielten möglicherweise noch eine dieser typischen Annahmen – Annahmen jener Art, die sich nicht auf den ersten Blick zu erkennen geben. Newton hatte angenommen, dass man nur die Bewegung des Wassers relativ zum Eimer berücksichtigen müsse, wenn man von relativer Bewegung spreche. Warum sollte
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Kapitel neun – Fester Grund?
man irgendwelche anderen Objekte einbeziehen? Wie konnte die konkave Oberfläche des Wassers dem Vorhandensein des Baumes, des Erdbodens, Ihres Hauses, Ihrer Person oder Proxima Centauris, 40 000 Milliarden Kilometer entfernt, zu verdanken sein? Einstein meinte, das rotierende Wasser werde nicht absolut, sondern relativ zu aller Materie im Universum beschleunigt. Befände sich das Wasser in Ruhe und alle Materie des Universums in Rotation, würde die Wasseroberfläche ebenfalls konkav sein, weil sich die Raumzeit in der Umgebung einer rotierenden Masse verformt – ein Vorgang, den man später Frame Dragging (Mitführung der Inertialsysteme) nannte. Wir sollten uns allerdings hüten, über Newtons Schlussfolgerung zu spotten. Wenn es uns irgendwie gelänge, alle Objekte im Universum zu entfernen, sodass nur der rotierende Eimer übrig bliebe, hätten wir trotzdem allen Grund zu der Annahme, dass die Oberfläche des Wassers nach wie vor konkav wäre. Raum und Zeit mögen für sich genommen nicht absolut sein, die Raumzeit aber könnte es durchaus sein. Am 20. April 2004 brachten die Vereinigten Staaten die Raumsonde Gravity Probe B in eine Umlaufbahn um die Erde. Der Satellit ist ein beeindruckendes technisches Meisterstück des 21. Jahrhunderts. Er hat die Aufgabe, nach Beweisen für das Frame Dragging der rotierenden Erde zu suchen.8 Auf jeden Fall verabschiedeten sich Newtons absoluter Raum und absolute Zeit wohl für immer, als Einsteins Relativitätstheorie begann, das physikalische Geschehen zu bestimmen. Und es sollten noch verstörendere Enthüllungen folgen. 8 Den Fortgang des Experiments können Sie im Internet verfolgen. Die Website der Raumsonde Gravity Probe B finden Sie unter http://einstein.stanford.edu/.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
Die Quantenrevolution begann an einem Oktobertag des Jahres 1900. An diesem Tag legte der deutsche Physiker Max Planck Feuer an eine langsam glimmende Zündschnur, die fast dreißig fahre später die tiefste Erschütterung unseres Weltbilds auslösen sollte – unserer Vorstellung von Materie, Licht und physikalischer Wirklichkeit. Um ein eher zweitrangiges Problem zu lösen, sah sich Planck zu seinem Schrecken zu der Behauptung gezwungen, dass die Lichtenergie nicht kontinuierlich von einem materiellen Objekt zum nächsten fließt, wie man bis dahin angenommen hatte. Stattdessen musste er postulieren, dass Licht in separaten Paketen auftritt, sogenannten Quanten. Planck wusste nicht so recht, was er mit dieser Schlussfolgerung anfangen sollte, dafür aber Einstein. Der nahm in seinem unvorstellbar produktiven Jahr 1905 die Idee der Lichtquanten (die man viele Jahre später Photonen nennen sollte) nicht nur als gegeben hin, sondern erklärte mit dem Konzept auch andere verwirrende Phänomene und machte Vorhersagen, die sich experimentell überprüfen ließen. Rund zehn Jahre später wurden seine Vorhersagen experimentell bestätigt.9 Das Ergebnis war die Quantentheorie. Was ging da vor sich? Stellte sich nun doch heraus, dass das Licht aus «Energieteilchen» bestand, nachdem so viele Physiker so hart gekämpft hatten, um die Wellentheorie des Lichtes zu beweisen? Die Antwort lautete ja. Und nein. Man leugnete die Welleneigenschaften des Lichtes nicht. Die Interferenz und ihre Erklärung durch Wellenphänomene wurden nicht in Frage gestellt. Andererseits 9 Den Nobelpreis für Physik erhielt Einstein 1921 für diese Arbeit und nicht für die Entdeckung der Relativitätstheorie.
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Kapitel neun – Fester Grund?
leugnete man aber auch nicht die Teilcheneigenschaften des Lichtes. Auf eine vollkommen schleierhafte Weise hatte das Licht sowohl Wellen- als auch Teilchencharakter. Doch wenn Lichtwellen zugleich Lichtteilchen sein konnten, stellte sich die Frage, ob andere, größere Teilchen möglicherweise auch Wellen waren. Das war die Frage, die sich der französische Physiker Herzog Louis de Broglie10 stellte. 1923 verband de Broglie seine Arbeit über Radiowellen und sein Interesse an Kammermusik mit dem Atommodell, das zehn Jahre zuvor von dem Neuseeländer Ernest Rutherford und dem dänischen Physiker Niels Bohr entwickelt worden war. Es handelte sich um das vertraute Planetenmodell des Atoms, das damals den besten Versuch darstellte, die fundamentalen Bestandteile der Materie zu verstehen. Nach diesem Entwurf stellte man sich einen kleinen positiv geladenen Kern vor, der aus Protonen und Neutronen besteht und dafür sorgt, dass sich die Masse des Atoms größtenteils im Mittelpunkt konzentriert. Ganz ähnlich wie die Sonne von ihren Planeten wird dieser Kern von Elektronen mit negativer elektrischer Ladung umkreist. Anstelle von Elektronen auf ihren Bahnen stellte sich de Broglie eine Art Musikinstrument vor. Wie musikalische Töne durch sogenannte stehende Wellen in den Saiten oder Röhren von Musikinstrumenten hervorgerufen werden, so dachte sich de Broglie die Elektronenbahnen als stehende Elektronenwellen. Nicht alle Physiker waren damit einverstanden. Einige nannten seine Idee la Comédie Française. Doch da war es schon zu spät. De Broglie und nach ihm der österreichische Physiker Erwin Schrödinger verwandelten das Bild eines winzigen, in sich abgeschlossenen und negativ geladenen Teilchens, das den Kern umkreist, in das einer wellenförmigen, negativ geladenen «Elektronenwolke» von 10 «de Broy» ausgesprochen.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
wechselnder Amplitude, die den Kern umgibt.11 Wo bleibt das Elektron in diesem Bild? Es hat seine Definition verloren, ist ein Phantom geworden. In den Grenzen seiner Wolke ist es überall zugleich und nirgends. Gemeint war, dass die Amplitude der Wolke in einer bestimmten Raumregion Auskunft über die Wahrscheinlichkeit gibt, mit der das Elektron an diesem Ort anzutreffen ist. Mit anderen Worten, die Elektronenwolke stellt unser Wissen über den Zustand des Elektrons im Atom dar. Wenn wir eine Messung vornehmen, besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass das Elektron «hier» gefunden wird, nahe dem Kern, doch es liegt auch eine endliche Wahrscheinlichkeit vor, dass es sich «dort» befindet, weiter vom Kern entfernt. Nach dieser Interpretation lässt sich absolut nicht entscheiden, welche Angabe richtig ist, bevor man nicht nachschaut. Damit schien alles dem Zufall überlassen zu bleiben. Viele Physiker fanden diese Interpretation unannehmbar. Obwohl Einstein selbst an den Grundlagen für die Entwicklung der Quantentheorie mitgewirkt hatte, lehnte er diese Form der Wahrscheinlichkeitsinterpretation ab, was zu seiner wohl berühmtesten Äußerung führte: «Gott würfelt nicht.» Das war der Stand der Dinge, als Niels Bohr und der junge deutsche Physiker Werner Heisenberg entschieden, noch einmal ganz zum 11 Wenn Sie mit dem Begriff der Amplituden von Wolken wenig anfangen
in der Quantenphysik sind die beiden Eigenschaften eng miteinander ver-
können, hilft es Ihnen vielleicht, wenn
wandt. Mehr noch, wenn wir uns die
Sie sich den Unterschied zwischen
Dichte der Wolke als die Wahrscheinlich-
hellen Sommerwolken (niedrige Am-
keit vorstellen, dass es regnen wird,
plitude) und dunklen, regenschweren
dann bekommen wir einen Eindruck vom
Winterwolken (hohe Amplitude) vor-
Zusammenhang zwischen Amplitude
stellen. Allerdings ist der Begriff der
und Wahrscheinlichkeit in der Quanten-
Amplitude nicht direkt austauschbar
theorie.
mit dem der Dichte einer Wolke, doch
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Kapitel neun – Fester Grund?
Anfang zurückzugehen. Innerhalb der Elektronenwolke schienen die Physiker die Spur des Elektrons verloren zu haben. Sie konnten nicht angeben, welche Position, Geschwindigkeit und Richtung es hatte, während es den Kern umkreiste. Daher begannen sie sehr gründliche, prinzipielle Fragen zu stellen, zum Beispiel: Was meinen wir eigentlich damit, wenn wir über den Aufenthaltsort eines Elektrons im Raum sprechen? Nehmen wir an, Sie möchten den Weg eines Elektrons verfolgen – seinen Aufenthaltsort und seine Geschwindigkeit, während es sich durch den Raum (oder die Raumzeit) bewegt. Die direkteste Methode dazu wäre die Verwendung eines sehr leistungsfähigen Mikroskops. Doch laut Heisenberg stoßen wir dabei sofort auf ein Problem. Unser Instrument arbeitet mit Photonen, die unter Energieaspekten genauso «groß» sind wie der Untersuchungsgegenstand. Jedes Mal, wenn ein Photon von einem Elektron abprallt, erhält dieses einen heftigen Stoß. Infolgedessen wird Richtung und Geschwindigkeit des Elektrons auf unvorhersehbare Weise verändert. Obwohl wir möglicherweise in der Lage sind, den augenblicklichen Aufenthaltsort des Elektrons zu bestimmen, bedeutet die beträchtliche Wechselwirkung des Elektrons mit dem Gerät, das wir verwenden, um seine Position zu messen, dass wir überhaupt nichts über die Geschwindigkeit oder die Richtung aussagen können, die das Elektron einschlägt. Um dieses Problem zu vermeiden, könnten wir zur Geschwindigkeits- und Richtungsmessung des Elektrons sehr viel energieärmere Photonen verwenden, doch das Mikroskop würde dann an Auflösung verlieren, und es bestünde keine Hoffnung mehr, den Aufenthaltsort des Elektrons zu messen. Heisenberg schloss daraus, dass sich der exakte Aufenthaltsort des Elektrons einerseits und seine Geschwindigkeit und Richtung andererseits nicht gleichzeitig messen lassen. Um diese Größen zu bestimmen, braucht man zwei ganz verschiedene Messarten, und die
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
exakte Messung einer Eigenschaft schließt die gleichzeitige Messung der anderen mit Gewissheit aus. Das ist Heisenbergs berühmte Unschärferelation. Sie lässt sich an den wellen- und teilchenartigen Eigenschaften fundamentaler Materiebestandteile wie Elektronen nachweisen. Ursprünglich interpretierte Heisenberg seine Unschärferelation, wie ich sie soeben geschildert habe. Er war der Überzeugung, dieses Prinzip erlege unseren Möglichkeiten, die Dinge zu messen, fundamentale Grenzen auf. Danach war das Elektron nur deshalb zu einem Phantom in der Wahrscheinlichkeitswolke geworden, weil es physikalisch unmöglich war, seine Bewegung durch den Raum im Inneren des Atoms genauer zu verfolgen. Bohr widersprach Heisenberg heftig, und sie stritten erbittert miteinander. Bohr glaubte, die Quantentheorie teile uns nicht mit, was wir messen können, sondern was wir erkennen können. Obwohl Wellenverhalten und Teilchenverhalten sich gegenseitig ausschlössen, stünden sie, so Bohr, in Wahrheit nicht im Widerspruch zueinander, sondern seien einander ergänzende Verhaltensweisen der fundamentalen Bausteine von Materie und Licht. Laut Bohr können wir die «wahren» Eigenschaften von Photonen oder Elektronen nie erkennen. Wohl aber können wir ihre komplementären wellenartigen und teilchenartigen Verhaltensweisen zum Vorschein bringen, indem wir entscheiden, was für ein Experiment wir ausführen wollen. Wir können nur das komplementäre Verhalten, nicht das eigentliche erkennen, daher ist hier dem, was wir jemals über die physikalische Wirklichkeit in Erfahrung bringen können, eine fundamentale Grenze gezogen. Häufig wird angenommen, Heisenbergs Unschärferelation bedeute, dass wir uns niemals irgendeiner Sache sicher sein könnten, oder zumindest, dass wir uns nicht auf die Werte der physikalischen Größe verlassen dürften, die wir messen. Das ist ein Irrtum. Die Gewissheit, mit der wir irgendeine physikalische Größe messen können, die
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Kapitel neun – Fester Grund?
in den Zuständigkeitsbereich der Unschärferelation fällt, ist prinzipiell unbeschränkt. Wohl aber sagt das Prinzip aus, dass es physikalische Größen gibt, die miteinander verknüpft sind (manchmal bezeichnet man sie auch als konjugiert), das heißt, wenn wir eine Größe mit absoluter Gewissheit messen, folgt daraus, dass mit der anderen eine unendliche Unbestimmtheit assoziiert ist. Wenn wir also den Aufenthaltsort eines Elektrons mit absoluter Gewissheit messen (wir könnten sagten, dass wir dadurch den Aufenthaltsort zu einer «realen» Eigenschaft des Elektrons gemacht haben), ist mit seiner Geschwindigkeit und Richtung eine unendliche Unbestimmtheit assoziiert (so betrachtet, sind diese Eigenschaften nicht «real»). Nachdem wir jahrhundertelang wissenschaftliche Forschung betrieben und vom Aufbau der Welt eine Schicht um die andere abgetragen haben, was finden wir? Wir haben in Erfahrung gebracht, dass die materielle Welt um uns her (einschließlich unser selbst) aus Atomen und chemischen Verbindungen zusammengesetzt ist, die auf dem Zusammenschluss verschiedener Atome beruhen. Als wir noch ein bisschen tiefer gruben, entdeckten wir, dass die Atome selbst aus kleineren, fundamentaleren Objekten bestehen – Protonen, Neutronen und Elektronen – und dass Licht aus Energiepaketen besteht, die wir Photonen nennen. Jeder Schritt führte uns weiter und weiter fort von der Welt direkter Erfahrung. Doch wir lebten in der Erwartung, dass wir mit verbesserten und empfindlicheren Instrumenten unseren Erkenntnis- und Erfahrungshorizont erweitern und immer kleinere und fundamentalere Spielarten der Objekte unserer unmittelbaren Wahrnehmung entdecken könnten. Wir hätten vorhersehen müssen, dass wir nicht ewig so fortfahren konnten – dass wir nicht erwarten durften, ad infinitum immer kleinere und fundamentalere Materieteilchen zu entdecken. Wir hätten
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
damit rechnen müssen, dass unsere Versuche irgendwann an einer Mauer enden mussten – dass wir irgendwann auf etwas Winziges und Unteilbares, auf ein Letztes stoßen würden. Doch Bohr teilte uns mit, wir seien stattdessen auf eine sehr viel fundamentalere Grenze gestoßen, nämlich die Grenze unserer Fähigkeit, die «wahre» Natur der physikalischen Wirklichkeit zu erkennen, eine Grenze, die nichts mit den Beschränkungen unserer Erfindungskraft zu tun hat, sondern ausschließlich mit der Art und Weise, wie die Natur auf der Quantenebene beschaffen ist. Auf dieser Ebene werden die Wellen und Teilchen zu den Schatten in Platons Höhle und zu Kants Phänomena. Unter keinen Umständen können wir aus der Höhle in die Welt des Lichts entkommen oder einen Blick auf die Welt der Noumena werfen. Wir können die Wellenschatten und die Teilchenschatten sehen, aber nie die Dinge erblicken, die jene hervorrufen. Oberflächlich betrachtet, hat das nicht das Geringste mit der Existenz einer Grenze zwischen Geist und Welt zu tun. Man kann das natürlich so verstehen, dass die Wellen- und Teilchenschatten in gewisser Weise die Grenzen unseres Geistes repräsentieren, die Natur wahrzunehmen und zu verstehen, doch Bohr legte großen Wert darauf, dass sein Begriff der Welle-Teilchen-Komplementarität als ein fundamentales Konzept der physikalischen Welt und nicht unserer geistigen Welt verstanden würde. Raum und Zeit waren wieder zu Illusionen geworden. Und hier, im innersten Aufbau von Materie und Licht, fangen wir wieder an, uns die Köpfe heiß zu reden über die Frage, was wir von der Wirklichkeit wissen können und was nicht. Waren wir naiv, als wir meinten, von der Naturwissenschaft Antworten erwarten zu dürfen?
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Kapitel zehn
Aufstieg der dänischen Priesterschaft Daher wiederholen wir es, genauso, nur dass wir jetzt nicht schauen, wohin die Kugeln gehen; und das Wellenmuster ist wieder da. Also wiederholen wir es abermals und schauen hin, und wir erhalten Teilchenmuster. Jedes Mal, wenn wir hinschauen, um Wellenmuster zu erblicken, erhalten wir Teilchenmuster. Der Beobachtungsakt bestimmt die Wirklichkeit. TOM STOPPARD, HAPGOOD
Vielleicht sind wir im Begriff, etwas vom Wege abzukommen. Schließlich treten die seltsamen Effekte von Einsteins Relativitätstheorie erst auf, wenn Körper mit Geschwindigkeiten nahe der des Lichts unterwegs sind. Darüber müssen wir uns kaum Gedanken machen, bedenkt man, mit welch bescheidenen Geschwindigkeiten wir uns über die Oberfläche des Planeten Erde bewegen. Die Probleme, die wir haben, wenn wir uns bemühen, die fundamentalen Bestandteile von Licht und Materie zu verstehen, sind etwas beunruhigender, doch dessen ungeachtet haben wir sicherlich keinen Grund, an der Wirklichkeit von Bergen, Bächen, Bäumen, Häusern und weicher brauner Erde zu zweifeln. Berge zeigen keine Interferenzerscheinungen. Wenn ich durch einen Wald mit dicht stehenden Bäumen laufe, breitet sich meine physikalische Existenz nicht wie eine Lichtwelle
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
aus, mit dem Erfolg, dass ich plötzlich auf der anderen Seite erscheine. Also, Elektronen und Photonen sind sowohl Wellen wie Teilchen. Ist das etwas, worüber wir uns Sorgen machen müssten? Ob das eine Rolle spielt oder nicht, hängt von Ihrem Standpunkt ab. Bohr und Heisenberg glaubten, dass wir die «wahre» Natur der Wirklichkeit nie erkennen könnten, und meinten (ganz im Sinne Humes), dass jedwede Spekulation darüber Zeitverschwendung sei. Sie vertraten die Ansicht, wir sollten uns mit den Wirkungen und Sinneswahrnehmungen beschäftigen, die wir hervorrufen, indem wir physikalische Objekte mit Laborinstrumenten manipulieren und sie beobachten. Mit anderen Worten, wenn wir dies mit jenem Objekt unter diesen Umständen anstellen, können wir erwarten, dieses Ergebnis zu erhalten. Mehr gibt es darüber nicht zu sagen. Nächtelang debattierten Bohr, Heisenberg und der österreichische Physiker Wolfgang Pauli an Bohrs Institut in Kopenhagen über das Interpretationsproblem. Schließlich gelangten sie zu einem Kompromiss. Sie entwickelten eine Interpretation der Beziehung zwischen Quantentheorie und physikalischer Wirklichkeit, die als Kopenhagener Deutung bezeichnet wurde. Diese Interpretation leugnet kategorisch, dass die Annahme, wir könnten jemals das Wesen physikalischer Dinge entdecken, «wie sie wirklich sind», irgendeinen Nutzen habe. Stattdessen stellt sie die Beziehung zwischen physikalischen Objekten und den Instrumenten, mit denen wir deren Eigenschaften und Verhaltensweisen messen, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Diese Interpretation scheint uns wieder ganz an den Anfang zurückzuführen. Die Kopenhagener Deutung geht davon aus, dass die Eigenschaften von fundamentalen Objekten wie Photonen oder Elektronen nicht existieren, bevor diese nicht mit Dingen in Berührung kommen, mit denen sie wechselwirken können – etwa einem Messgerät. In gewissem Sinne haben solche Objekte überhaupt keine unabhängigen, realen Eigenschaften. Ihre Eigenschaften werden erst dann
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Kapitel zehn – Aufstieg der dänischen Priesterschaft
real, wenn sie in die richtige Art von Wechselwirkungen einbezogen werden. Und das ist keine Frage der philosophischen Interpretation oder der Semantik. Wenn wir an die Photonen oder Elektronen denken, die diese Eigenschaften unabhängig von jeder Wechselwirkung besitzen, dann haben wir im besten Fall eine irrige Vorstellung, im schlimmsten Fall liegen wir völlig falsch. Dieser Punkt Iässt sich am besten im Zusammenhang mit dem Doppelspaltexperiment beschreiben, von dem im letzten Kapitel die Rede war. Sie erinnern sich, dass wir die Interferenzstreifen als das Ergebnis einer Überlagerung von Wellen deuteten, die sich hinter den Spalten ausbreiten. Konstruktive und destruktive Interferenz der Wellen produziert ein Muster, das sich auf dem fotografischen Film in Gestalt einer Reihe heller und dunkler Streifen abzeichnet, sobald wir ihn entwickeln. Doch nun erinnern wir uns daran, dass laut Planck und Einstein Licht aus separaten Energiepaketen besteht, die als Photonen bezeichnet werden. De Broglie ergänzte diese Erkenntnis durch die These, dass Licht und Materie auf fundamentaler Ebene einen WelleTeilchen-Dualismus erkennen lassen. Verringern wir die Helligkeit des Lichtes also so sehr, dass im Durchschnitt nur noch ein Photon zurzeit durch unsere Versuchsanordnung gelangt. Was geschieht nun? Wenn ein Photon auf den Film trifft, wechselwirkt es mit den Chemikalien in der fotografischen Emulsion und löst eine Reihe chemischer Veränderungen aus, die zur Verstärkung des Ereignisses beitragen. Nachdem wir den Film entwickelt haben,1 ist das Ergebnis 1 Erklärung für Foto-Interessierte: Die
seiner Nachbarn) zerfällt und hinterlässt
fotografische Emulsion besteht aus
einen schwarzen Silberniederschlag. Mit
Millionen winziger Silberhalogenidkristal-
Hilfe von Entwicklungschemikalien zerle-
len. Das Photon wechselwirkt mit einem
gen wir noch weitere Kristalle, wodurch
solchen Kristall, dieses (und einige
wir den ursprünglichen Niederschlag so
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
ein winziger weißer Punkt, der anzeigt: «Hier traf ein Photon.» Das verträgt sich wunderbar mit der Idee, dass das Photon ein separates Teilchen ist, ein Quantum oder «Atom» der Lichtenergie. Wenn nachfolgende Photonen einzeln durch die Spalte gelangen, werden sie eins ums andere als winzige Punkte auf dem Film registriert. Warten wir nun lange genug, um sicherzugehen, dass wir eine hinreichend große Zahl solcher Ereignisse nacheinander aufgezeichnet haben, entdecken wir, dass die Punkte sich zu einer Reihe heller und dunkler Streifen anordnen. Wir sind wieder beim Interferenzmuster gelandet. Obwohl wir das Interferenzmuster nur sehen können, wenn wir eine große Zahl von Photonen nacheinander aufgezeichnet haben, muss jedes Ereignis auch schon vorher von Welleninterferenz bestimmt sein. Verhielte es sich anders, unterläge nicht jedes Photon Einschränkungen hinsichtlich des Auftreffortes, und es gäbe am Ende ein zufällig gestreutes Punktmuster. Der Umstand, dass wir überhaupt dunkle Streifen sehen, muss bedeuten, dass es Stellen auf dem Film (und folglich in den Raumregionen vor dem Film) geben muss, wo die Photonen niemals anzutreffen sind. Sie entsprechen Raumregionen, in denen wir destruktive Interferenz haben. Es gibt keine andere Interpretation. Wenn das Interferenzmuster nach unserem Verständnis aus der Aufreihung von Bergen und Tälern in einer Reihe von einander überlagernden Wellen entsteht, muss genau das jedem einzelnen Photon zustoßen, das durch die Spalte dringt. Wir könnten versuchen, das Geschehen zu verstehen, indem wir annehmen, dass einzelne Photonen nur den einen oder den anderen verstärken, dass er ein sichtbares Bild
seine Lichtempfindlichkeit verliert. Das
liefert. Dann behandeln wir den Film mit
ist das Negativ. Anschließend lassen wir
weiteren chemischen Stoffen, um alle
Licht durch das Negativ auf lichtemp-
verbleibenden Silberhalogenide in farblo-
findliches Papier fallen und erzeugen so
se Salze umzuwandeln, damit der Film
das Positiv.
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Kapitel zehn – Aufstieg der dänischen Priesterschaft
Spalt durchqueren, bevor sie auf den Film einwirken. Wenn dies tatsächlich der Fall wäre, verschwände, wie sich ziemlich einfach zeigen lässt, das Interferenzmuster. Das Photon kann sich nicht in zwei Hälften aufteilen und eine Hälfte durch den ersten und die andere durch den zweiten Spalt schicken. Spaltete es sich auf, würde sich auf jeden Fall seine Energie halbieren und folglich seine Wellenlänge (und damit auch seine Farbe) verändern. Wir können uns aber mühelos davon überzeugen, dass die Photonen, die unsere Versuchsanordnung passieren, noch dieselbe Farbe haben, mit der sie ihren Weg begannen. Folglich kommen wir an der Schlussfolgerung nicht vorbei, dass jedes individuelle Photon auf irgendeine seltsame Weise durch beide Spalte gleichzeitig drang und mit sich selbst interferierte, bevor es mit der fotografischen Emulsion wechselwirkte. Aber wie kann das sein? Wie kann ein fundamentales, unteilbares Teilchen an zwei (sogar an vielen) verschiedenen Orten zugleich sein? Ihrer Natur nach breiten sich Wellen im Raum aus. Sie sind delokalisiert. Das heißt, sie sind Störungen, die zu jedem beliebigen Zeitpunkt viele Punkte im Raum passieren (erinnern Sie sich noch einmal an die kleinen Wellen auf dem Teich). Teilchen dagegen sind definitionsgemäß lokalisiert. Teilchen sind entweder «hier» oder «dort». Egal, ob wir uns die Teilchen als winzige Energiepakete, Materieteilchen oder infinitesimal kleine Gummikügelchen vorstellen, der Umstand, dass sie Teilchen sind, verleiht ihnen ex definitione die Eigenschaft, im Raum lokalisiert zu sein. Dass wir ein Problem haben, das Doppelspaltexperiment mit einzelnen Photonen zu erklären, liegt daran, dass wir lokalisierte, einzelne Teilchen nicht gleichzeitig durch zwei im Raum getrennte Spalte treiben können. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Idee fallenzulassen, dass Photonen lokalisierte Energiepakete sind, und sie stattdessen unter dem Blickwinkel von Welleneigenschaften zu betrachten. Wir gelangen zu dem Schluss, dass die Photonenwelle einem einzigen Photon
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
entspricht, das beide Spalte durchdringt, sich jenseits dieser Spalte ausbreitet und mit sich selbst interferiert. Die Photonenwelle, welche den fotografischen Film erreicht, weist daher starke Schwankungen in ihrer «Helligkeit» oder Amplitude (der Höhe der resultierenden Welle) auf. In einigen Raumregionen ist die Amplitude durch konstruktive Interferenz verstärkt, in anderen Regionen durch destruktive Interferenz geschwächt worden. Die Amplitude der Photonenwelle in einer bestimmten Raumregion steht in Zusammenhang mit der Wahrscheinlichkeit, das Photon an diesem Ort zu beobachten. Die Photonenwelle repräsentiert eine «Wahrscheinlichkeitswolke», die sanft gegen den Film treibt, so wie die im letzten Kapitel erwähnte Wolke die Wahrscheinlichkeit repräsentiert, das Elektron an verschiedenen Punkten im Raum zu finden. Es besteht eine weit größere Chance, das Photon schließlich als Teilchen in einer Raumregion zu beobachten, wo die Amplitude seiner Wahrscheinlichkeitswelle oder -wölke groß ist. Daher besitzt die Photonenwelle eine höhere Wahrscheinlichkeit, mit der fotografischen Emulsion in Regionen zu wechselwirken, wo sie eine hohe Amplitude hat. Nachdem viele Photonen aufgezeichnet wurden, ist das Ergebnis ein Muster aus hellen und dunklen Streifen, die das Amplitudenmuster der Welle eines einzigen Photons widerspiegeln. Das mag bis hierher alles ganz vernünftig klingen, aber wir sind noch nicht fertig. Die Amplitude der Photonenwelle, die auf den fotografischen Film einwirkt, teilt uns mit, wo der Punkt auftreten könnte, sagt aber nicht exakt, wo er sich tatsächlich bilden wird. Anfang der dreißiger Jahre erkannte der Mathematiker John von Neumann, dass solche Messungen auf zwei Prozessen ganz verschiedener Art beruhen. Bis zu dem Augenblick, wo das Photon mit dem fotografischen Film wechselwirkt, können wir mit Hilfe der mathematischen Gleichungen der Quantentheorie beschreiben, was mit der Photonenwelle geschieht. Die Theorie teilt uns mit, dass sich
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Kapitel zehn – Aufstieg der dänischen Priesterschaft
die Welle gleichförmig in Raum und Zeit entwickelt – ganz wie die kleinen Wellen auf dem Teich –, die beiden Spalte durchquert, sich ausbreitet und interferiert, sodass das Amplitudenmuster entsteht, das wir am Ende als Interferenzstreifen erkennen. Doch im Augenblick der Wechselwirkung, im Augenblick der Messung, geschieht etwas ganz anderes. Die Photonenwelle erfährt eine augenblickliche Veränderung: Aus ihrem delokalisierten Zustand vor der Messung wechselt sie in den lokalisierten Zustand nach der Messung über. Vor dieser Veränderung besteht die Wahrscheinlichkeit einer Wechselwirkung an einem von sehr vielen Punkten auf dem Film, charakteristisch für die delokalisierte Natur der Photonenwelle. Nach der Veränderung sind diese vielen Möglichkeiten auf eine einzige Realität zusammengeschrumpft – das Photon ist «hier» und nirgendwo anders nachgewiesen worden. Heute bezeichnet man diese Veränderung im Allgemeinen als Kollaps der Wellenfunktion. Irgendwie fällt die Wahrscheinlichkeitswolke in sich zusammen und schafft an einem und nur einem Ort auf dem Film Gewissheit. Das Photon wird erst lokalisiert und dann von der fotografischen Emulsion absorbiert, wo es eine Reihe von chemischen Veränderungen hervorruft, die schließlich einen winzigen weißen Punkt hervorrufen. Damit sind wir an ein Paradox gelangt. Ein Quantenobjekt wie ein Photon verhält sich als Welle oder als Teilchen, je nachdem, für welche Art Messung wir uns entscheiden. Wenn wir versuchen, das Zustandekommen des Welleninterferenzmusters dadurch zu ermitteln, dass wir den individuellen Wegen der Photonen durch die Versuchsanordnung folgen, erhalten wir lediglich ein zufälliges Teilchenmuster – ein Streumuster von Punkten. Wenn wir nicht untersuchen, wie wir das Wellenmuster bekommen, erhalten wir das Wellenmuster. Rasch entdecken wir, dass wir nicht beides gleichzeitig tun können. Wir können das Wellenmuster mit einzelnen Photonen nur erhalten, wenn wir nicht überprüfen, wie wir es be-
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
kommen. Nun könnte man meinen, das läge daran, dass es uns an dem nötigen Einfallsreichtum fehlt, um eine Versuchsanordnung zu ersinnen, die beide Verhaltenweisen gleichzeitig nachweisen könnte. Laut der Kopenhagener Deutung ist das jedoch etwas, was wir nicht leisten können, weil eine solche Versuchsanordnung einfach undenkbar ist. Unter Bohrs energischem und beherrschendem Einfluss wurde die Kopenhagener Deutung rasch zur einzigen gültigen Interpretation der Quantentheorie: Sie wurde zum Dogma. Die Physiker der «Kopenhagener Schule» etablierten sich als die neuen Hohepriester der Quantentheorie und daher auch als Hohepriester der physikalischen Wirklichkeit überhaupt. Doch es gab auch Ketzer. Die bekanntesten Dissidenten in der Gruppe jener Physiker, die an der vordersten Front der Quantentheorie forschten, waren Einstein und Schrödinger. Beide Physiker hatten ihren eigenen Kopf und waren nicht so leicht einzuschüchtern. Der wissenschaftliche Streit zwischen Einstein und Bohr, der auf zahlreichen internationalen Physiktagungen Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre ausgetragen wurde, entwickelte sich zu einer der berühmtesten Debatten der gesamten Wissenschaftsgeschichte. Einstein glaubte, der Kollaps der Wellenfunktion lasse auf eine eigenartige, «spukhafte» Fernwirkung schließen. Dabei ging er von folgender Überlegung aus: Vor der Messung ist ein einzelnes Photon im Doppelspaltexperiment delokalisiert – seine Wahrscheinlichkeitswolke ist über eine größere Raumregion ausgebreitet. Im Augenblick der Messung kollabiert die Wellenfunktion, und das Photon wird augenblicklich lokalisiert. Eindeutig erscheint es «hier» und damit eindeutig nicht «dort». Wenn «hier» und «dort» weit voneinander enfernt sind, scheint der Messakt in großer Entfernung von dem Punkt, wo die Messung tatsächlich vorgenommen wird, den
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Kapitel zehn – Aufstieg der dänischen Priesterschaft
physikalischen Zustand des Photons zu ändern (von delokalisiert zu lokalisiert). Einstein glaubte, diese Art der Fernwirkung verletze eines der wichtigsten Prinzipien seiner speziellen Relativitätstheorie, das Prinzip, nach dem die Lichtgeschwindigkeit eine Geschwindigkeitsbegrenzung ist, die nicht überschritten werde könne.2 Vielleicht verursacht Ihnen das kein allzu großes Unbehagen. Schließlich könnte man sagen, dass Photonen ziemlich merkwürdige Objekte sind. Sie sind ziemlich kurzlebig. Sie sind masselose kleine Pakete aus reiner Energie, daher ist es vielleicht nicht gar so überraschend, dass sie vor einer Messung wie Irrlichter sowohl «hier» als auch «dort» sein können – und dann plötzlich nur «hier», wenn eine Messung vorgenommen wird. Doch wie gezeigt, hat de Broglie mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass sich der Welle-Teilchen-Dualismus auf alle Quantenobjekte erstreckt, auch Materieteilchen mit Masse. Im Labor hat man an Elektronen, Neutronen und Molekülen mit bis zu sechzig Atomen Interferenzeffekte beobachtet. Das finde ich dann doch ein bisschen beunruhigend. Instinktiv unterstellen wir Materieteilchen mit Masse Teilchencharakter: Sie können nur an einem Ort zurzeit sein. Die Beobachtung von Interferenzeffekten beweist, dass sich auch ziemlich große Bestandteile der Materie wie delokalisierte Wellen verhalten können. Wo ist die Masse einer solchen Welle? Wie gelangt sie von dem Irgendwo, an dem sie eine hohe Wahrscheinlichkeit hat, gefunden zu werden, genau zu dem «Hier», wo sie tatsächlich gefunden wird? Das ist zweifellos spukhaft. Einige haben dieses Argument als ziemlich verwirrend empfunden, daher lohnt sich vielleicht ein kleiner Exkurs, um zu ver2 Vergessen wir nicht, dass es in Einsteins
beseitigen. Daher reagierte er beson-
allgemeiner Relativitätstheorie vor allem
ders empfindlich, als die Quantentheorie
darum geht, die von Newtons Gravita-
eine andere Form der Fernwirkung
tionstheorie implizierte Fernwirkung zu
nahelegte.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
stehen, warum. Kehren wir zu Alice zurück, der wagemutigen Astronautin aus dem 20. Jahrhundert. Sie führte die erste Mission zu Proxima Centauri durch, einem Stern, der rund tausend Milliarden Kilometer von der Erde entfernt ist. Bei ihrer Ankunft erwartet sie eine schreckliche Nachricht. Ihr Mann Bob, der auf der Erde zurückgeblieben ist, kam bei einem Unfall ums Leben.3 Alice weiß das noch nicht, weil es vier Jahre gedauert hätte, ihr diese Nachricht per Funk zu übermitteln. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie mit dem Todeszeitpunkt ihres Mannes augenblicklich zur Witwe wurde, oder? Liegt diesem instantanen Statuswechsel Alice’ von der Ehefrau zur Witwe das gleiche Prinzip zugrunde wie dem Statuswechsel des Photons von einer Wahrscheinlichkeitswolke, in der es hier oder dort sein kann, zum tatsächlichen Photon, das hier und nirgendwo sonst ist? Wäre das wirklich der Fall, könnte man es kaum als spukhaft bezeichnen. Doch nein, es ist nicht dasselbe. Die Denker, die diese Ansicht vertreten, verwechseln ein Element der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit einem Element der materiellen Wirklichkeit. Wie wir in Teil eins gesehen haben, ist die Institution der Ehe und der gesellschaftliche Status einer Frau, deren Mann stirbt, nur wirklich, solange es Menschen gibt, die sich der Institution bewusst sind, an sie glauben und sie auf diese Weise kollektiv wirklich werden lassen. Wenn Bob stirbt, wird auf Alice’ Geist keine physische Wirkung ausgeübt. Die gesellschaftliche Wirklichkeit von Alice’ Witwenschaft manifestiert sich materiell in Gestalt einer Sterbeurkunde oder einer Todesanzeige, aber nur an Orten, wo die Urkunde oder Anzeige unmittelbaren physischen Einfluss auf andere Geister haben kann. Alice stieß nicht 3 Tut mir leid, falls ich Sie verwirrt habe. Bob war das letzte Mal ihr Zwillingsbruder, aber ich brauche ihn dieses Mal als Ehemann.
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Kapitel zehn – Aufstieg der dänischen Priesterschaft
das Geringste zu, bis sie mit vierjähriger Verspätung vom Tod ihres Mannes hörte. Witwe war Alice vorher nur in der Vorstellung der Menschen auf der Erde, die von Bobs Tod erfahren hatten. In der eigenen Vorstellung wird Alice erst vier Jahre später zur Witwe. Das ist kaum instantan und natürlich keine Verletzung des Prinzips der speziellen Relativitätstheorie, da die Nachricht von Bobs Tod erst von der Erde zu Alice gelangen muss, und das bestenfalls mit Lichtgeschwindigkeit. Einstein glaubte, die Quantentheorie sei auf eine nicht näher zu bestimmende Weise unvollständig. Anfänglich vertrat er die Auffassung, dass Quantenobjekte wie Photonen und Elektronen in Wirklichkeit lokalisierte Teilchen sind, die irgendwie auf verschiedenen Bahnen entlanggeführt werden, und zwar so, dass statistisch der Eindruck eines wellenartigen Verhaltens entsteht. Die Quantentheorie sei unvollständig, meinte Einstein, weil die Theorie überhaupt nichts über die «realen» Quantenobjekte mitzuteilen habe – wie sie geführt würden und wie ihre statistischen Eigenschaften entstünden. Er stellte die Kopenhagener Deutung mit einer Reihe von physikalischen Rätseln in Frage, die beweisen sollten, dass die Theorie unvollständig ist. Doch jedes Mal, wenn Einstein glaubte, die Kopenhagener Deutung ad absurdum geführt zu haben, schlug Bohr mit einer intelligenten Lösung zurück. Einmal führte Bohr sogar die allgemeine Relativitätstheorie gegen Einstein ins Feld. Starrsinnig verharrte Einstein auf seiner Auffassung. Zwar räumte er ein, dass Bohrs Lösungen seiner Rätsel befriedigend erschienen, doch nach seiner Ansicht war die Theorie noch nicht «der wahre Jakob». Gezwungen, die Kopenhagener Deutung gegen Einsteins Einwände zu verteidigen, hatte Bohr in der Tat auf das Argument zurückgegriffen, dass das Problem durch die unvermeidliche und erhebliche Störung des beobachteten Systems verursacht werde. Nehmen wir beispielsweise an, wir versuchten zu beweisen, dass
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
ein Photon im Doppelspaltexperiment wirklich nur einen Spalt zurzeit durchquert, sogar in Situationen, wo wir Interferenzeffekte beobachten. Wir könnten ein einfallsreiches Gerät entwickeln, welches das Photon unmittelbar hinter einem der Spalte «sehen» könnte, ohne dessen Bahn in irgendeiner Weise zu stören, das heißt, ohne es vom Kurs abzubringen. Doch Bohr meinte, schon beim Versuch, dieses Instrument zu benutzen, würden wir entdecken, dass auch ein solches Gerät die Welleneigenschaften des Photons störte und die Anordnung der Wellenberge und -täler durcheinanderbrächte – und zwar so, dass es unter Garantie das Interferenzmuster aufhöbe. So sah Bohr selbst sich gezwungen, die Auffassung zu vertreten, dass die Störung unserer Fähigkeit, Erkenntnisse über die Quantenwelt zu gewinnen, eine fundamentale Grenze setze. Das war natürlich Heisenbergs ursprüngliche Interpretation seiner eigenen Unschärferelation und Gegenstand einer heftigen Debatte mit Bohr. Noch heute ist diese Deutung weit verbreitet.4 Danach ist die einzige Einschränkung für unsere Fähigkeit, Erkenntnisse auf der Quantenebene zu gewinnen, die dafür erforderliche Stärke (Energie) der Wechselwirkung im Verhältnis zur Größe der untersuchten Objekte. Nach dieser Auffassung können wir Quantenobjekte nicht «betrachten», ohne sie fundamental zu verändern, weil unsere Instrumente einfach zu «plump» sind. Daraus folgt, dass die Grenze unserer Wirklichkeitserkenntnis durch eine fundamentale Grenze bedingt ist, die unserem Einfallsreichtum bei der Entwicklung von Messinstrumenten gesetzt ist. Auf den ersten Blick scheint kein Weg an diesem Argument vorbeizuführen. Doch genau dazu sah sich Einstein gezwungen. Er musste ein Gedankenexperiment ersinnen, das die Möglichkeit eröffnete, zumindest einige Informationen über den Zustand eines Quanten4 Wie wir sehen werden, ist auch sie falsch.
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Kapitel zehn – Aufstieg der dänischen Priesterschaft
Objekts in Erfahrung zu bringen, ohne es in irgendeiner Weise zu stören, um so zu beweisen, dass Quantenobjekte tatsächlich die ganze Zeit über messbare Eigenschaften besitzen, und gleichzeitig Bohr den Ausweg über das «Plumpheits-Argument» zu verlegen. In dieser Debatte ging es um nicht weniger als die Frage, wie wir das Wesen physikalischer Wirklichkeit zu verstehen haben. Neben ihrem wellenartigen und teilchenartigen Verhalten besitzen Quantenobjekte noch viele andere Eigenschaften. Um uns die schwierigen Verästelungen der Quantenphysik zu ersparen, möchte ich den folgenden Abschnitt mit einer visuellen Metapher vereinfachen. Wie alle Metaphern ist auch diese in mancherlei Hinsicht unvollkommen, und ich werde mich bemühen, im Fortgang auf ihre Unzulänglichkeiten hinzuweisen. Leser, die sich etwas näher mit der Materie beschäftigen möchten, seien auf die Bücher über Quantenphysik verwiesen, die in der Bibliographie genannt werden – unter anderem mein eigenes. Ich habe keine Ahnung, wie die Wahrscheinlichkeitswolke aussieht, die einer Photonenwelle entspricht, aber nehmen wir an, sie sieht wie ein schimmernder, geisterhafter Dampf aus, wie ein billiger Spezialeffekt einer Folge von Raumschiff’Enterprise.5 Wir können nicht in das Innere der Wolke blicken, um zu erkennen, was für Eigenschaften das Photon hat, bis wir eine Messung an ihm vornehmen. Doch wir können vermuten, dass irgendwo im Inneren dieser Wolke das Potenzial für eine bestimmte Eigenschaft des Photons vorhanden ist. Dabei spielt es keine Rolle, wie diese Eigenschaft im Einzelnen beschaffen ist. Hier genügt die Feststellung, dass es sich um 5 Ich denke an die «Wesen aus reiner Energie», die von Zeit zu Zeit auftauchten, wenn der Produktionsfirma das Geld ausgegangen war, um ordentliche Kostüme für Außerirdische anzuschaffen.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
eine Eigenschaft handelt, die sich als Richtung manifestiert. Wenn wir im Augenblick der Messung eine beliebige Referenzrichtung zugrunde legen, wird sich zeigen, dass das Photon entweder eine vertikale Richtung v oder eine horizontale Richtung h besitzt. Aus Gründen der Einfachheit wollen wir uns vorstellen, dass wir unsere Messung durchführen, indem wir das Photon einfach fragen, welche Richtung es relativ zu unserer Referenzrichtung hat.6 Diese Referenzrichtung können wir beliebig festlegen. Nun kommt also ein Photon mit seiner schimmernden Wahrscheinlichkeitswolke angeflogen. «Wie ist deine Richtung relativ zum Norden?», fragen wir. In dem Augenblick, da wir diese Frage stellen, da wir eine Messung vornehmen, fällt die Wolke augenblicklich zu einer von zwei möglichen Antworten in sich zusammen. Entweder wir erhalten die Antwort v oder die Antwort h. Die Wolke hat eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent, zur v-Antwort zu kollabieren, und eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent, zur h-Antwort zu kollabieren, so wie das Werfen einer Münze die Antwort Kopf oder Zahl liefert. Bevor sie kollabiert, kann man sich vorstellen, dass sich das Photon in einer obskuren Kombination der beiden Zustände befindet – einer Superposition, wie Physiker sagen –, einer Mischung aus dem vertikalen und dem horizontalen Zustand, in der beide Antworten gleich wahrscheinlich sind. Obwohl wir immer nur die eine oder die andere Antwort bekommen, ist die Referenzrichtung, die wir verwenden, von ziemlicher Bedeutung. Wenn ich das Photon frage, wie seine Richtung relativ 6 Falls Ihnen das zu starker Tobak ist, folgt hier eine kurze Zusammenfassung
les» Photon entspricht dem Nachweis eines horizontal polarisierten Photons,
dessen, was tatsächlich geschieht. Die
Das Photon zu fragen ist also gleichbe-
«vertikale» Richtung entspricht dem
deutend mit einer Polarisationsmessung,
Nachweis eines vertikal polarisierten
bei der wir ein Photon durch einen
Photons, relativ zu einer beliebigen
Polarisationsanalysator schicken und es
Laborachse gemessen. Ein «horizonta-
nachweisen.
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Kapitel zehn – Aufstieg der dänischen Priesterschaft
zum Norden ist, dann habe ich bei diesem besonderen Photon die Möglichkeit zu irgendeiner Messung – irgendeiner Frage – relativ zu einer anderen Himmelsrichtung (etwa Osten) verspielt. Ich kann jeweils nur eine Frage stellen, in der ich mich auf eine Richtung festlege. Nun könnte das daran liegen, dass es mir an dem Einfallsreichtum fehlt, ein Instrument zu ersinnen, das mir Fragen gestatten würde wie: «Wie ist deine Richtung relativ zur nördlichen und östlichen Richtung?» Es könnte aber auch auf den Umstand zurückzuführen sein, dass die Natur einfach nicht so beschaffen ist, dass das Photon nicht gleichzeitig mehr als eine Richtung haben kann und dass die Frage daher bedeutungslos ist. Die Tatsache, dass ich zu einem gegebenen Zeitpunkt keine Messung relativ zu mehr als einer Referenzrichtung vornehmen kann, ist gleichbedeutend mit der Feststellung, dass die Eigenschaften vertikal und horizontal, gemessen an einer Referenzrichtung (etwa Norden), komplementär sind zu den Eigenschaften vertikal und horizontal, gemessen an einer anderen Richtung (Osten), so wie wellenartiges und teilchenartiges Verhalten komplementäre Eigenschaften aller Quantenobjekte sind. Mit anderen Worten, wenn ich eine Messung relativ zu einer Referenzrichtung vornehme und die Antwort v oder h erhalte, schließe ich daraus, dass bezüglich der Antwort absolute Gewissheit herrscht (ich könnte auch sagen, dass die Eigenschaft v oder h «real» für diese Referenzrichtung ist). Weiterhin muss ich nach der Heisenberg’schen Unschärferelation akzeptieren, dass jetzt eine unendliche Unbestimmtheit mit den Antworten h und v assoziiert ist, die relativ zu irgendeiner anderen Referenzrichtung gemessen werden: Diese Antworten können nicht «real» sein. Folglich hängen die realen Eigenschaften des Photons von meiner Wahl der Referenzrichtung ab. Jetzt nehmen wir Messungen an einer Reihe von identischen Photonen vor. Stellen wir uns die Photonen vor, wie sie still durch den
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
Raum auf uns zuströmen und einen Strahl bilden. Zufällig wählen wir einige Photonen aus dem Strahl aus und fragen sie nach ihrer Richtung relativ zu einer Referenzrichtung (bleiben wir im Moment beim Norden). Nachdem wir viele solcher Messungen vorgenommen haben, liegen uns gleiche Zahlen von v- und h-Antworten vor. Wir wissen, dass wir von jeder Antwort die gleiche Anzahl erhalten müssen, aber wir können nicht sagen, welche Antwort ein einzelnes Photon geben wird, bis wir es fragen. Die Antworten sind nicht prädeterminiert. Kann das richtig sein? Schließlich bekommen wir immer nur v- oder h-Antworten. Empfiehlt es sich hier nicht, Ockhams Rasiermesser anzusetzen und anzunehmen, dass jede einzelne Photonenwolke einen Mechanismus enthält, der schon die ganze Zeit die Eigenschaften vertikal oder horizontal vorherbestimmt? Könnte die Wolke nicht in Wirklichkeit eine v- oder h-Wolke sein, mit dem Erfolg, dass die Messung – die Frage – nur in Erfahrung bringt, was von beidem sie ist, so wie uns der Blick auf die Münze zeigt, ob wir Kopf oder Zahl haben? Können wir den ganzen Superpositions-Unfug nicht einfach vergessen? Der Strahl identischer Photonen bestünde dann aus einer paritätischen Mischung von v- und h-Wolken. Das ist absolut konsistent mit den Antworten, die wir erhalten, und viel einfacher zu verstehen. Laut der Kopenhagener Deutung ist die Antwort auf diese Frage ein entschiedenes Nein. Die Eigenschaften der Quantenobjekte sind nicht real, bis sie gemessen worden sind. Das sind keine v- oder h-Wolken, sondern nur Wolken mit Wahrscheinlichkeiten für jedes mögliche Ergebnis, und die Messung lässt die Wolke zum einen oder anderen Resultat kollabieren. Komplementäre Eigenschaften von Photonen wie vertikal oder horizontal, relativ zu verschiedenen Referenzrichtungen gemessen, können nicht gleichzeitig real sein. Was ich als Ergebnisse erhalte, hängt von der Referenzrichtung ab, die ich verwende, und ich habe immer nur mit den Wahrscheinlich-
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Kapitel zehn – Aufstieg der dänischen Priesterschaft
keiten für bestimmte Antworten zu tun, nie mit Gewissheiten.7 In Zusammenarbeit mit Boris Podolsky und Nathan Rosen entwickelte Einstein 1935 ein Problem, das die größte Herausforderung für die Kopenhagener Deutung werden sollte, eine Herausforderung, welche die Interpretation der Quantentheorie in ihren Grundfesten erschütterte. Das Einstein-Podolsky-Rosen-Gedankenexperiment (das ich von nun an als EPR-Experiment abkürzen werde) geht von Messungen an zwei Quantenobjekten aus, die zunächst wechselwirkten und sich nun voneinander entfernen. Wir wollen uns sogleich einer Version des EPR-Experimentes zuwenden, die uns erlaubt, unsere Metapher zu verwenden. Jetzt haben wir zwei Photonen und brauchen daher einen Ansatzpunkt, sie zu unterscheiden. Wir wollen sie «Grün» und «Blau» nennen.8 Da sie miteinander wechselwirkten, sind ihre gemeinsamen Eigenschaften durch die Physik ihrer Wechselwirkung auf das engste miteinander verknüpft. Nehmen wir an, ihre Eigenschaften sind durch die physikalischen Gesetze eingeengt, die ihre Wechselwirkung bestimmen, mit dem Ergebnis, dass die Antwort für das blaue Photon, wenn die Antwort für das grüne Photon «vertikal zu einer Referenzrichtung» lautet, ebenfalls «vertikal zu dieser Referenzrichtung» lauten muss. Entsprechend gilt, wenn die Antwort 7 Wenn dieses Argument Sie nicht zu
und horizontal erzeugen. Was für
überzeugen vermag, muss ich darauf
Eigenschaften werden wir finden? Das
hinweisen, dass die Merkmale ver-
hängt davon ab, welche Messung wir
tikal und horizontal nicht die einzigen
vornehmen. Und ich kann Ihnen immer
Eigenschaften sind, die ein Photon haben
nur die Wahrscheinlichkeiten liefern, die
kann. Man kann Photonen auch so
verschiedenen möglichen Ergebnisse zu
messen, dass sie die Eigenschaften ImUhrzeigersinn und Gegen-den-Uhrzeiger-
erhalten. 8 Das ist keine willkürliche Wahl. Einige
sinn offenbaren. Sowohl die Eigenschaft
der erfolgreichsten praktischen Umset-
Im-Uhrzeigersinn als auch diejenige
zungen des EPR-Experiments sind mit
Gegen-den-Uhrzeigersinn können wir da-
Photonen durchgeführt worden, deren
durch nachweisen, dass wir spezifische
Wellenlängen Grün und Blau entspra-
Formen der Überlagerung von vertikal
chen.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
für das grüne Photon horizontal ist, muss die Antwort für das blaue Photon ebenfalls horizontal lauten. Diese Einschränkung verlangt die Physik der Wechselwirkung (wir können sie uns als das «Gesetz der gleichgerichteten Photonen») vorstellen.9 Abermals können wir beim besten Willen nicht erkennen, wie die tatsächliche Antwort lautet, bis wir eine Referenzrichtung festlegen, die Frage stellen und die Wolke zum Kollaps bringen. Alice und Bob helfen Ihnen bei der Durchführung dieses Experiments. Sie haben eine Apparatur entwickelt, in der die Wechselwirkung stattfinden kann, allerdings soll das in einem Weltraumlabor genau auf halber Strecke zwischen der Erde und Proxima Centauri stattfinden. Daher ist die Raumstation rund 20 000 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt. Die auf diese Weise erzeugten Photonenpaare streuen in alle Richtungen. Nachdem Alice einige Jahre gewartet hat, bis die Photonen den Weg zu Proxima Centauri beziehungsweise zur Erde zurückgelegt haben, befragt Alice ein einzelnes grünes Photon auf Proxima Centauri und Bob dessen blauen Photonenpartner auf der Erde. Die Photonen sind jetzt durch eine Entfernung von 40 000 Milliarden Kilometer getrennt. Alice fragt ihr grünes Photon, welche Richtung es relativ zum Norden hat. Bob verfährt mit seinem blauen Photon genauso. Wir erwarten, dass die Antworten perfekt korrelieren. Wenn Alice eine v-Antwort (oder eine h-Antwort) erhält, dann erwarten wir, dass auch Bob eine v-Antwort (oder eine h-Antwort) bekommt. Nehmen wir uns einen Augenblick Zeit zum Nachdenken. Stellen wir uns vor, Alice und Bob hätten sich darauf geeinigt, stets den Norden als Referenzrichtung zu wählen. Nehmen wir weiter an, Alice hätte eine v-Antwort bekommen. Mit Bobs blauem Photon 9 Für Leser, die an Zwei-Photonen-Expe-
hier der Hinweis, dass das «Gesetz der
rimenten mit Kaskadenemission durch
ausgerichteten Photonen» in Wirklichkeit
angeregte Atome interessiert sind,
der Drehimpulserhaltungssatz ist.
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Kapitel zehn – Aufstieg der dänischen Priesterschaft
ist keine Unbestimmtheit mehr assoziiert. Es steht absolut fest, dass das blaue Photon eine v-Antwort geben muss. Für diese besondere Referenzrichtung ist die senkrechte Richtung jetzt eine «reale» Eigenschaft des blauen Photons, auch wenn Bob es noch nicht gemessen hat. Auf das blaue Photon angewendet, verlangt die Heisenberg’sche Unschärferelation, dass jetzt eine unendliche Unbestimmtheit mit den Antworten v und h für jede andere Referenzrichtung assoziiert ist. Vielleicht beginnen Sie jetzt zu ahnen, was für eine raffinierte Falle Einstein, Podolksy und Rosen aufgestellt hatten. Nehmen wir an, Bob hält sich nicht an die Abmachung. Bevor er sich von Alice trennte, könnte er mit ihr vereinbart haben, stets den Norden als Referenzrichtung zu verwenden, doch was ist, wenn er jetzt stattdessen den Osten wählt? Tatsache ist, dass er eine Antwort – v oder h – erhält, egal, für welche Referenzrichtung er sich entscheidet. Nehmen wir nun an, Bob wählt den Osten und bekommt eine h-Antwort. Als Alice und er schließlich wieder zusammenkommen und ihre Versuchsaufzeichnungen vergleichen, stellen sie fest, dass für Bobs blaues Photon die Eigenschaften v und h bei der Referenzrichtung Norden wie Osten «real» – also absolut bestimmt – waren. Heisenbergs Unschärferelation und die Kopenhagener Deutung schließen das entschieden aus. Wir sind oben zu dem Schluss gelangt, dass die Eigenschaften vertikal und horizontal für verschiedene Referenzrichtungen komplementär sind, weil wir einem Photon jeweils nur eine Frage zu einer Richtung stellen können. Diese Auffassung wird durch das EPR-Experiment auf raffinierte Weise ausgehebelt. Jetzt können Alice und Bob einem Paar korrelierter Photonen gleichzeitig Fragen über zwei verschiedene Richtungen stellen. Wir scheinen eine Situation hergestellt zu haben, in der wir durch eine Messung, die Alice an einem anderen Photon in 40 000 Milliarden Kilometern Entfernung vornimmt, nachweisen können, welche Eigenschaften das blaue Photon
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
hat. Das Argument der «plumpen Versuchsinstrumente» scheint hier nicht zu ziehen. Also sind diese verschiedenen Eigenschaften des blauen Photons offenbar real – irgendwie im Inneren der Wahrscheinlichkeitswolke verborgen – und doch gibt es absolut keinen Hinweis in der Quantentheorie, der uns mitteilt, wie sie beschaffen und wie sie zustande gekommen sind. Einstein, Podolsky und Rosen schlossen daraus einfach, dass die Quantentheorie unvollständig sei. Als sie ihren Aufsatz veröffentlichten, schlug er ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Alle Pioniere der Quantentheorie waren in hellster Aufregung; einige behaupteten sogar, sie müssten von vorne anfangen, weil Einstein bewiesen habe, dass die Theorie nicht funktioniere. Bohrs Antwort kurze Zeit darauf war im Grunde eine Wiederholung des Komplementaritätsprinzips. EPR hatten angenommen, jede Messung, die Alice am grünen Photon vornehme, wirke sich nicht auf eine nachfolgende Messung am blauen Photon aus. Bohr vertrat die gegenteilige Auffassung. Egal, wie merkwürdig es erscheine, wenn Alice sich entschlösse, die Eigenschaften des grünen Photons relativ zu einer bestimmten Referenzrichtung zu messen, wirke sich das unmittelbar auf die Eigenschaften aus, die das blaue Photon haben könne, unabhängig davon, wie weit es von seinem grünen Gegenstück entfernt sei. Die Realität der Eigenschaften des blauen Photons wird laut Bohr tatsächlich durch die Messungen bestimmt, die Alice beschließt, am grünen Photon vorzunehmen, daher ist EPRs Annahme ungültig! Das geschieht, so Bohr, instantan, ungeachtet der Tatsache, dass ein konventionelles Signal, das sich mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegt, mehr als vier Jahre braucht, um von Proxima Centauri zur Erde zu gelangen. Bob vertritt nachdrücklich die Ansicht, dass das Messinstrument selbst die Elemente der Wirklichkeit definiere, die wir beobachten könnten, oder, um bei unserer Metapher zu bleiben, dass die Beschaf-
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Kapitel zehn – Aufstieg der dänischen Priesterschaft
fenheit der Fragen, die wir stellen, die Wirklichkeit bestimme. In Matrix sagt Morpheus: «Dein Geist macht sie wirklich.» Bohr war der Auffassung, unsere Messungen würden sie wirklich machen. Ohne Messung gebe es nichts als Wahrscheinlichkeitswolken. Doch für Bohrs Beharren auf der Richtigkeit der Kopenhagener Deutung müssen wir einen hohen Preis bezahlen. In ihrem Gedankenexperiment hatten EPR ein Paar Quantenobjekte geschaffen, die in der Raumzeit «verschränkt» waren. Diese Verschränkung ermöglicht Korrelationen zwischen den Partnern des Paars über potenziell riesige Entfernungen. Daran führt kein Weg vorbei. Wenn Bohr recht hat, bewirkt eine Messung an einem der Partner den Kollaps der Wellenfunktion, was den einen augenblicklich mit dem anderen verbindet. Dieser Vorgang impliziert eine spukhafte Fernwirkung, die ein Grundprinzip von Einsteins spezieller Relativitätstheorie zu verletzen scheint. Irgendetwas scheint hier irgendwo schrecklich schiefzulaufen. EPRs Annahme, es müsse möglich sein, Messungen am grünen Photon vorzunehmen, ohne das blaue Photon in irgendeiner Weise zu stören, wird häufig als Einstein-Separabilität des Photons bezeichnet. Gelegentlich nennt man die Wirklichkeit, die durch diese Separabilität definiert wird, lokale Realität, was heißen soll, dass sich die Photonen, wenn sie sich nach ihrer Wechselwirkung trennen, wie separate, selbständige Objekte verhalten, mit Eigenschaften, die ihre Besonderheit ausmachen und vom jeweils anderen Photon unabhängig sind.10 Im Gegensatz dazu besagt die Kopenhagener Deutung, dass die Photonen nicht trennbar im Sinne der Einstein-Separabilität und daher auch nicht lokal-realistisch sind. Durch die Wechselwirkung 10 Lokale Realität bedeutet nicht, dass Photonen immer im Raum lokalisiert wären.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
haben wir ein Photonenpaar geschaffen, das jetzt unauflöslich miteinander verschränkt ist. Bis zu diesem Augenblick haben wir uns die Photonen als individuelle Wahrscheinlichkeitswolken vorzustellen, deren jede ihre möglichen Messungsergebnisse selbst bestimmt, ihre eigenen Antworten gibt. Das ist der Punkt, an dem die Metapher ihren Geist aufgibt. Sobald sie verschränkt sind, kann es keine individuellen Wahrscheinlichkeitswolken mehr geben. Es gibt nur noch eine Wolke, die dem verschränkten Paar entspricht. Auf eine ziemlich rätselhafte Weise erstreckt sich die Wolke über eine Entfernung von 40 000 Milliarden Kilometern. Sobald Alice auf Proxima Centauri eine Messung vornimmt, kollabiert die Wolke, und unsere Astronautin erhält eine v-Antwort (oder eine h-Antwort). Augenblicklich erhält auch Bob auf der Erde eine v-Antwort (oder h-Antwort). Frei nach Akte-X sind die Eigenschaften der Photonen vor der Messung «dort draußen», irgendwo, und wir scheinen erhebliche Macht über die Wirklichkeit ausüben zu können, indem wir entscheiden, was für eine Frage wir stellen. Doch an welchem Punkt während des Messprozesses soll dieser Kollaps stattfinden? Naiv könnte man meinen, in dem Augenblick, da ein Quantenobjekt mit einem Messgerät wechselwirkt, aber ist diese Annahme gerechtfertigt? Schließlich besteht auch ein Messgerät aus Quantenobjekten – Elektronen, Protonen, Neutronen, Atomen und Molekülen. Warum sollten wir annehmen, dass die Wechselwirkung auf Quantenebene stattfindet? Das Problem besteht darin, dass sich der Kollaps selbst nirgendwo im mathematischen System der Quantentheorie niederschlägt. Die Theorie selbst liefert uns nicht den geringsten Hinweis. 1935 versuchte Schrödinger, ausgehend von einem ausführlichen Briefwechsel, den er mit Einstein geführt hatte, die vermeintliche Absurdität dieser Situation zu beweisen. Er verlagerte den Blickpunkt der Diskussion von der mikroskopischen Welt der subatomaren
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Kapitel zehn – Aufstieg der dänischen Priesterschaft
Quantenobjekte auf die makroskopischen Verhältnisse des Alltags. Das Ergebnis war das Paradox der Schrödinger’schen Katze. Denken wir uns eine Stahlkammer mit einem Apparat, der die vertikalen und horizontalen Eigenschaften eines Photons misst. Wie oben gibt es zwei mögliche Antworten. Ursprünglich liegt das Photon als Wahrscheinlichkeitswolke vor, die eine Superposition dieser beiden Antworten darstellt, sodass sie eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit hat, eine v-Antwort zu geben, und eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit, eine h-Antwort zu geben. Das Messgerät ist mit einer Phiole verbunden, die ein tödliches Gift enthält. Wenn das Gerät eine h-Antwort ermittelt, wird das Gift freigesetzt. Erfolgt eine h-Antwort, bleibt das Gift unschädlich in der Phiole. Wir setzen Schrödingers Katze in die Kammer und schließen die Stahltür. Durch ein kleines Fenster in der Wand schicken wir das Photon hinein, das sich in seinem Superpositionszustand befindet. Nun schließen wir das Fenster, damit es keine weiteren Wechselwirkungen mit der Außenwelt geben kann. Das hindert uns auch am Spionieren. Erinnern wir uns, in der Quantentheorie können wir nur die Wahrscheinlichkeit, vertikale oder horizontale Antworten zu bekommen, in Erfahrung bringen. Wir haben keine Möglichkeit, im Voraus festzustellen, welche dieser Antworten wir tatsächlich erhalten werden. Was geschieht nun? Betrachten wir die verschiedenen Stadien des Gedankenexperiments. Das Photon gelangt in die Kammer. In diesem Stadium wäre die Wahrscheinlichkeitswolke als eine Superposition von vertikalen und horizontalen Antworten zu beschreiben. Das Photon wechselwirkt mit dem Gerät. Wir können zu der Feststellung versucht sein, dass die Wahrscheinlichkeitswolke in diesem Stadium kollabiert, um eine vertikale oder horizontale Antwort zu geben. Wenn sie zu einer v-Antwort kollabiert, ist die Katze zum Tode verurteilt. Wenn die Wolke zu einer h-Antwort kollabiert, überlebt die Katze. Doch wie Schrödinger deutlich gemacht hat, haben wir absolut
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keinen Hinweis, an welchem Punkt der Ereigniskette der Kollaps stattfinden soll. Nichts hindert uns an der Annahme, das Gerät selbst trete bei der Wechselwirkung mit dem Photon in einen Superpositionszustand ein, in eine paritätische Mischung seiner Reaktionen auf die vertikale und die horizontale Antwort. Daraus würde folgen, dass auch die Giftphiole einen Superpositionszustand annimmt, eine Mischung aus den Zuständen, die der Freisetzung und die der sicheren Verwahrung des Gifts entsprechen. Schließlich nimmt auch die Katze selbst einen Superpositionszustand an, eine paritätische Mischung aus der toten und der lebendigen Katze. Was geschieht, wenn wir die Tür der Kammer öffnen? Lösen wir damit den Kollaps der Wellenfunktion aus? Entscheidet unser Entschluss, die Tür zu öffnen (oder nicht) über das Schicksal der Katze? Schrödinger erwartete nicht von uns, dass wir sein Gedankenexperiment allzu ernst nehmen. Trotzdem warf das Paradox einige wichtige Fragen auf. Laut der Kopenhagener Deutung dürfen wir nicht der Versuchung nachgeben, nach den physikalischen Eigenschaften eines Quantenobjekts (oder einer Katze) zu fragen, bevor wir nicht eine Messung an ihm (oder ihr) vorgenommen haben, weil eine solche Frage völlig bedeutungslos ist. Soweit es die Kopenhagener Deutung betrifft, ist Schrödingers arme Katze tatsächlich in einem unbestimmten Zustand gefangen, in einem Schwebezustand zwischen Tod und Leben, weil es eben einfach sinnlos ist, andere Vermutungen anzustellen, bevor wir die Tür öffnen und nachschauen. Warum sollen wir uns darüber Gedanken machen? Schließlich mag ja dieses ganze Zeugs über Welle-Teilchen-Dualismus, Spiele mit senkrechten und horizontalen Photonen und sadistische Tierversuche interessant sein, ist aber doch letztlich Haarspalterei. Einige der klügsten Köpfe des 20. Jahrhunderts haben sich mit einer anregenden Debatte über Gedankenexperimente amüsiert, die niemand jemals ausführen würde. Na und?
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Kapitel zehn – Aufstieg der dänischen Priesterschaft
Wir könnten uns darüber Gedanken machen, weil die Quantentheorie die erfolgreichste physikalische Theorie ist, die jemals entwickelt wurde, und wenn wir hier, am Boden des Kaninchenbaus, wie es scheint, die Wirklichkeit nicht finden können, dann müssen wir uns vielleicht woanders um sie bemühen. Alles hängt von der Vollständigkeit der Theorie selbst ab. Wenn die Theorie nicht vollständig ist, dann besteht vielleicht noch Hoffnung für die Wirklichkeit. Einstein und Schrödinger hatten die Vollständigkeit der Quantentheorie und die Schlüssigkeit der Kopenhagener Deutung in Frage gestellt. Bohr hatte sie verteidigt. Am Ende setzten sich die Auffassungen der Kopenhagener Schule durch, wenn auch nur dank der Trägheit vieler Beteiligter, welche den Streit als brotlose Philosophiererei abtaten. In den vierziger und fünfziger Jahren erschien die Frage, ob man an eine unabhängige Wirklichkeit glaubte oder nicht, ziemlich nebensächlich gegenüber der einfachen Tatsache, dass die Quantentheorie so wunderbar erfolgreich war. Die Kopenhagener Deutung wurde so selbstverständlich, so verbreitet, dass man sie gar nicht mehr als Auffassung begriff, die ernsthafte Konkurrenten haben könnte. Anfang der sechziger Jahre war die Herrschaft der dänischen Priesterschaft fest etabliert. Niemand glaubte, dass man diese Theorien eines Tages im Labor überprüfen könnte.
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Kapitel elf
To Whom the Bell Tolls oder Eine Ungleichung, die es in sich hat Es ist ein sehr wichtiges Experiment, und vielleicht markiert es den Punkt, an dem wir eine Zeit lang innehalten und nachdenken sollten, aber ich hoffe doch zuversichtlich, dass es nicht das Ende bedeutet. Ich denke, die Suche nach der Bedeutung der Quantenmechanik muss weitergehen, und sie wird weitergehen, egal, ob wir finden, dass es sich lohnt oder nicht, weil viele Menschen von ihr so fasziniert und verwirrt sind, dass sie die Arbeit einfach fortsetzen werden. JOHN BELL, THE GHOST IN THE ATOM Eine Ungleichung, die es in sich hat
Die Kopenhagener Deutung beharrt auf der Ansicht, dass die Wirklichkeit auf der Quantenebene äußerst seltsam ist. Um es ganz klar zu sagen: Wenn diese Interpretation die einzig richtige und gültige ist, können wir alle Hoffnung aufgeben, jemals das Wesen der Wirklichkeit von Materie und Licht auf dieser grundlegenden physikalischen Ebene zu verstehen. Dann werden wir ewig in Platons Höhle gefangen bleiben und nur die Wellen- und Teilchenschatten beobachten können. Daher ist die Herausforderung, die das EPR-Experiment darstellt, von fundamentaler Bedeutung. Wenn die Quantentheorie in der Tat unvollständig ist, dann könnte uns ihre Vervollständigung Gelegenheit geben, die Schatten zu durchdringen und die wirkliche Welt auf einer vielleicht noch grundlegenderen Ebene zu betrachten. 265
Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
Geben Sie die Hoffnung nicht auf. Wir sind noch immer nicht auf dem Boden des Kaninchenbaus. Wenn die Quantentheorie unvollständig ist, wie könnte dann eine vollständige Theorie aussehen? Einstein hatte eine alternative statistische Interpretation skizziert, in der Quantenwahrscheinlichkeiten und Quantenunbestimmtheit durch statistische Wahrscheinlichkeiten und durch die Unbestimmtheit schlichter, altmodischer FeldWald-und-Wiesen-Unwissenheit ersetzt wird. Nehmen wir an, Sie werfen eine Münze. Was für ein Ergebnis bekommen Sie? Kopf oder Zahl? Natürlich wissen Sie es nicht, bevor die Münze auf dem Fußboden zur Ruhe kommt. Aber Sie wissen, dass eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit besteht, als Ergebnis Kopf, und eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit, als Ergebnis Zahl zu erhalten. Augenscheinlich können Sie das Ergebnis nicht kennen, bevor Sie nachschauen, aber diesen Umstand empfinden Sie weder als rätsel- noch als spukhaft. Sie geben sich mit Wahrscheinlichkeiten zufrieden, weil Sie wissen, dass das tatsächliche Ergebnis von einer großen Zahl von Variablen abhängt, etwa der Kraft, mit der Sie die Münze in die Luft werfen, der Rotation, die sie ihr geben, der Kraft und der Richtung, mit der sie auf den Boden trifft und so fort. Trotzdem besteht kein Zweifel daran, dass das Ergebnis, das Sie erhalten, unmittelbar auf alle diese verschiedenen Variablen zurückgeht, die von dem Augenblick, wo Sie die Münze in die Luft werfen, bis zu dem Augenblick, wo sie auf dem Boden zur Ruhe kommt, ihren Einfluss entfalten. Sie halten sich an Wahrscheinlichkeiten, weil Sie nicht genau wissen, wie sich alle diese Variablen auf das Ergebnis auswirken.1 Sie wissen 1 Wenn Sie auf irgendeine Weise in Erfah-
könnten Sie mit Bestimmtheit (hundert-
rung bringen könnten, wie alle diese
prozentiger Wahrscheinlichkeit) vorher-
Variablen das Ergebnis beeinflussen,
sagen, ob Sie Kopf oder Zahl bekommen.
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Kapitel elf – To Whom the Bell Tolls oder Eine Ungleichung, die es in sich hat
nichts über diese vielen Variablen, weil Sie sie nicht kontrollieren. Aber Sie zweifeln nicht daran, dass das Ergebnis des Münzwurfs von ihnen – wie immer sie beschaffen sein mögen – vorherbestimmt wird.2 Wenn wir annähmen, dass sich ein Photon in Superposition vertikaler und horizontaler Zustände genau wie eine gerade geworfene Münze verhält, würden wir die Quantentheorie auf sehr spezifische Weise erweitern. Implizit gingen wir von der Annahme aus, dass sich die quantenmechanische Wahrscheinlichkeitswolke nicht von einer statistischen Wahrscheinlichkeit unterscheidet, die wir verwenden, weil wir all die verschiedenen Variablen nicht kennen, welche die Antwort vorherbestimmen könnten. Das können wir ein bisschen vereinfachen, indem wir alle diese Variablen zusammenfassen und auf eine einzige reduzieren, welche die Physik der Wechselwirkung repräsentiert – von dem Augenblick, wo das Photon entsteht, bis zu dem Augenblick, wo es gemessen wird, wo wir die Frage stellen. Wie wir nicht alle Variablen kennen, die das Ergebnis bestimmen, wenn wir eine Münze werfen, so kennen wir die Variable nicht, die bestimmt, ob wir bei Messung des Photons eine v-Antwort oder eine h-Antwort bekommen. Mit anderen Worten, die Variable ist «verborgen», trotzdem könnten wir sie als physikalisch real betrachten-3 Wenn es Ihnen gelänge, diese Fähigkeit
und den Wert an einen Hochgeschwin-
auf andere Glücksspiele auszudehnen,
digkeitscomputer übertragen zu haben,
könnten Sie sich ein paar wirklich schö-
der daraufhin berechnet habe, wo die
ne Stunden im Casino machen ...
Kugel landen würde. Damit engten sie
2 Im März 2004 berichteten die Zeitungen, eine schöne ungarische Blondine und zwei serbische Spieler würden
das Spektrum unbekannter Variablen erheblich ein. 3 Hier müssen wir ein bisschen vorsichtig
beschuldigt, mit einer Hightech-Laser-
sein. Einstein vertrat die Ansicht, die
ausrüstung im Casino des Londoner
Quantentheorie sei unvollständig, und
Ritz-Hotels die Geschwindigkeit der
favorisierte eine andere statistische
Kugel auf einem Rouletterad gemessen
Interpretation der Quantenwahrschein-
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
Kehren wir zum EPR-Experiment zurück und betrachten wir, was solch eine Theorie einer lokalen verborgenen Variablen für dieses Experiment bedeuten würde. Aus Gründen der Einfachheit werde ich annehmen, dass die verborgene Variable durch einen winzigen Zeiger und ein Zifferblatt repräsentiert wird, die sich im «Inneren» des Photons befinden und durch die Wahrscheinlichkeitswolke verborgen oder verschleiert werden. Dieses innere Zifferblatt teilt uns mit, in welche Richtung der Photonenzustand tatsächlich schon die ganze Zeit zeigt, wobei wir uns vorstellen wollen, dass auf ihm Norden, Süden, Osten und Westen verzeichnet sind. Die Frage zu stellen ist jetzt ein bisschen so, als ob wir einen Brief aufgäben. Der Zeiger auf dem inneren Zifferblatt weist in eine bestimmte Richtung, und die wird durch die Physik der Wechselwirkung festgelegt, die das Photon erzeugt hat, aber wir wissen nicht, welche Richtung das ist. Leider können wir nicht einfach auf das Zifferblatt schauen, um die Richtung abzulesen. Wir müssen viel raffinierter zu Werke gehen. Wir wählen eine externe Referenzrichtung und vergleichen sie mit der inneren Zeigerrichtung. Wenn wir die beiden Richtungen zufällig in Einklang bringen, wie wir die Ränder eines Briefes so ausrichten, dass er durch den Schlitz des Briefkastens passt, haben wir die Garantie, dass wir eine v-Antwort erhalten. Wenn sich die Richtungen nicht in Einklang befinden (wenn wir die Ränder des Briefs in einem falschen Winkel halten, sodass er nicht in den Schlitz passt), haben wir die Garantie, dass wir eine h-Antwort bekommen. Wir gestehen dem System ein bisschen Spielraum zu. Wenn die innere Zeigerrichtung und die Referenzrichtung eine Übereinstimlichkeit, hatte aber keine besondere
Großen Vereinheitlichten Theorie, der
Vorliebe für die Theorien der verborge-
«Theorie von allem» oder der «Welt-
nen Variablen. Offenbar glaubte er, dass
formel», lösen würden. Mehr davon im
sich alle diese Probleme in der erhofften
nächsten Kapitel.
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Kapitel elf – To Whom the Bell Tolls oder Eine Ungleichung, die es in sich hat
mung ± 45 oder ± 135 Grad aufweisen, dürfen wir eine v-Antwort erwarten. Das ist gleichbedeutend mit der Feststellung, dass der Briefkasten einen breiten Schlitz hat, sodass ein Brief, der in einem schrägen Winkel von bis zu 45 Grad gehalten wird, noch hindurchgeht und abgeschickt werden kann. Jeder Winkel jenseits dieser Bandbreite liefert eine h-Antwort (der Brief passt nicht durch den Schlitz und kann nicht eingeworfen werden). Um zu überprüfen, was unter diesen Umständen geschehen wird, wollen wir einfach einige Beispiele betrachten. Nehmen wir an, der innere Zeiger ist genau nach Norden gerichtet. Falls wir Norden als Referenzrichtung wählen, stimmen die beiden Richtungen natürlich überein, und wir erhalten mit Bestimmtheit eine u-Antwort. Der Brief ist eingeworfen. Wenn wir uns stattdessen für die Referenzrichtung Nordost entscheiden, weicht sie genau um 45 Grad von dem inneren Zeiger ab, sodass wir mit einer weiteren v-Antwort rechnen dürfen, und zwar ebenfalls mit Bestimmtheit: Auch dieser Brief lässt sich noch einwerfen (gerade so eben). Jede Referenzrichtung zwischen diesen beiden, etwa Nordnordost, liefert entsprechend eine u-Antwort. Eine Referenzrichtung außerhalb dieses Bereichs (etwa Osten) ergibt eine h-Antwort (der Brief wird nicht eingeworfen). So weit, so gut. Daran ist nichts besonders Geheimnisvolles. Jetzt möchte ich Sie bitten, mir auch beim nächsten Schritt zu folgen, weil die Ergebnisse sehr verwirrend, aber durchaus ein bisschen Anstrengung wert sind. Wir sind jetzt in der Lage, diese Logik auf alle denkbaren Richtungen des inneren Zeigers zu verallgemeinern. Wenn der innere Zeiger nach Norden weist, liefern alle oben erwähnten Referenzrichtungen – Norden, Nordnordost und Nordost – v-Antworten. Wir kürzen diese Antwortsequenz als v-v-v für die drei Vergleichsrichtungen in der genannten Reihenfolge ab. Wir dürfen erwarten, diese selbe Kombination von Antworten für alle Richtungen des
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
inneren Zeigers von Nord bis Nordost zu erhalten. Doch wenn sich der innere Zeiger im Uhrzeigersinn über Nordost hinausbewegt, gerät er zunächst aus dem Bereich der Referenzrichtung Nord, dann aus der Referenzrichtung Nordnordost und schließlich auch Nordost hinaus. Beim Wandel der Zeigerrichtung verändert sich das Muster möglicher Antworten von v-v-v zu h-v-v und schließlich zu h-h-h. An diesem Punkt erreicht sie die ± 135-Grad-Grenze der Referenzrichtung Nord und wird wieder als h-Antwort gelesen, so wie der Brief wieder durch den Schlitz passt, wenn Sie ihn um 180 Grad drehen. Wir bekommen eine v-Antwort erst in Richtung Nord, dann in Richtung Nordnordost und schließlich in Richtung Nordost. Das Muster verändert sich von h-h-h zu v-h-h, v-v-h und schließlich wieder zu v-v-v.
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Kapitel elf – To Whom the Bell Tolls oder Eine Ungleichung, die es in sich hat
Ein Blick auf diese Tabelle zeigt rasch, dass wir hier in Wirklichkeit die Überlagerung zwischen den Bereichen skizzieren, die von den verschiedenen Bereichen der Zeigerrichtungen abgedeckt werden und die «Sanduhrform» darstellen, die durch unsere Wahl der Referenzrichtung bestimmt wird. Wo sich die Bereiche überlagern, erhalten wir eine v-Antwort. Wo sie sich nicht überlagern, erhalten wir eine h-Antwort. Die Tabelle fasst auch die statistischen Wahrscheinlichkeiten für die verschiedenen Antworten zusammen. Diese errechnen sich einfach aus der Zahl der Male, in denen jede Kombination von Antworten zu erwarten ist, vorausgesetzt, die Zeigerrichtungen sind gleichförmig (und statistisch) von Nord nach Süd verteilt.4 Das meinte Einstein, als er von statistischen Wahrscheinlichkeiten sprach. Das Muster wiederholt sich für die Zeigerrichtungen von Süd zurück nach Nord, das heißt, wenn wir den vollständigen 360-Grad-Bereich möglicher Zeigerrichtungen betrachten, bleibt der Prozentsatz der Wahrscheinlichkeiten gleich. Aus einem Grund, der weiter unten hoffentlich klar wird, möchte ich jetzt einige einfache Beziehungen zwischen den Ergebnissen betrachten. Nehmen wir an, wir führen Experimente an einer Stichprobe von 1000 Photonen durch, die wir einem Strahl zufällig entnommen haben. Von wie vielen dürfen wir eine v-Antwort bei der Referenzrichtung Nord und eine h-Antwort bei der Referenzrichtung Nordnordost erwarten (wir wollen das N-v /NNO-h abkürzen)? Wenn wir annehmen, dass die inneren Zeiger der Photonen unserer Stichprobe gleichförmig über alle Richtungen des inneren Zifferblatts verteilt sind, können wir das Ergebnis einfach unserer 4 Die Prozentsätze entsprechen folglich
Zeigerrichtungen abgedeckt werden, und
einfach dem Verhältnis zwischen den
dem Bereich des Halbkreises, der sich
verschiedenen Bereichen, die von den
von Nord nach Süd erstreckt.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
Tabelle entnehmen. Es gibt nur einen Eintrag mit v in der NordSpalte und h in der Nordnordost-Spalte, und zwar für eine Zeigerrichtung von Südost bis Südsüdost, daher lautet die Antwort 12,5 Prozent. In einer Stichprobe von 1000 Photonen wären das 125. Mit anderen Worten, in einer zufällig ausgewählten Stichprobe von 1000 Photonen, deren innere Zeiger gleichmäßig über alle denkbaren Richtungen verteilt sind, dürfen wir 125 Photonen erwarten, die Zeigerrichtungen im Bereich von Südost bis Südsüdost aufweisen. Diese Photonen besitzen mit Bestimmtheit die Messkombinationen N-v /NNO-h. Wie viele Photonen dürften, statistisch betrachtet, eine u-Antwort bei der Referenzrichtung Nordnordost und eine h-Antwort bei der Referenzrichtung Nordost liefern (also: NNO-v/NO-h)? Diese Kombination ist nur bei Zeigerrichtungen von Südsüdost bis Südost möglich, daher lautet die Antwort abermals 12,5 Prozent von 1000 oder 125. Die Summe dieser beiden – N-v /NNO-h plus NNO-v/NO-h – beträgt 25 Prozent oder 250 Photonen. Offensichtlich ist es kein Zufall, dass dies der Gesamtzahl von Photonen entspricht, die bei der Referenzrichtung Nord eine v-Antwort und bei der Referenzrichtung Nordost eine h-Antwort geben – N-v/NO-h. Halten wir inne und überlegen wir einen Augenblick. Tatsächlich sagen wir damit Folgendes: Die Zahl der Photonen mit Zeigerrichtungen im Bereich Südost bis Südsüdost ergibt, wenn man sie zur Zahl der Photonen mit Zeigerrichtungen im Bereich Südsüdost bis Süd addiert, die Zahl der Photonen mit Zeigerrichtungen im kombinierten Bereich Südost bis Süd. Wenn Sie finden, dass es sich um eine absolut triviale Feststellung handelt, kann ich Sie beruhigen. Sie haben recht. Das mag ja alles ganz interessant sein, wie Sie vielleicht auch meinen, aber es bringt uns herzlich wenig. Denken Sie daran, wir können bei jedem Photon immer nur eine einzige Frage stellen, nur eine Referenzrichtung festlegen. Daher können wir unmöglich zeigen,
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Kapitel elf – To Whom the Bell Tolls oder Eine Ungleichung, die es in sich hat
dass ein Photon gleichzeitig in Richtung Nord eine v-Antwort und in Richtung Nordost eine h-Antwort geben würde. Hier kommt nun das EPR-Experiment zum Tragen. Kehren wir zu Alice und Bob zurück, die auf Proxima Centauri beziehungsweise auf der Erde Messungen an dem grünen und dem blauen Photon vornehmen. Wenn Alice mit der Referenzrichtung Nord eine Messung an einem grünen Photon vornimmt und eine v-Antwort erhält, kann Bob sich an das Gesetz der gleichgerichteten Photonen halten und den Schluss ziehen, dass das blaue Photon eine v-Antwort gegeben hätte, wenn er diese Referenzrichtung genommen hätte. Stattdessen wählt er aber die Nordnordost-Richtung, und so zählen Alice und Bob gemeinsam, wie viele Photonenpaare das kombinierte Ergebnis N-v /NNO-h aufweisen, wobei der erste Eintrag, N-v, das grüne Photon und der zweite, NNO-h, das blaue Photon betrifft. Das steht ihnen frei, vorausgesetzt, sie gehen von der Annahme aus, dass eine Messung, die Alice 40 000 Milliarden Kilometer entfernt an dem grünen Photon vornimmt, keinerlei Auswirkungen auf die Antwort hat, die Bob von dem blauen Photon erhält. Ihre Annahme lautet, die Photonen sind trennbar im Sinne der Einstein-Separabilität und lokal-realistisch. Daraus können wir schließen, dass sich in einer zufällig ausgewählten Stichprobe von 1000 Paaren korrelierter grüner und blauer Photonen die Zahl der grünen Photonen, die bei der Referenzrichtung Nord eine y-Antwort liefern, und der blauen Photonen die bei Nordnordost eine ft-Antwort geben, gemäß unserer obigen Überlegungen 12,5 Prozent oder 125 Photonenpaare beträgt. Entsprechend ist die Zahl der Paare, die NNO-v/NO-h-Antworten liefern, ebenfalls 12,5 Prozent oder 125. Die Summe beider ist gleich der Zahl, die N-v /NO-h-Antworten gibt, also 25 Prozent oder 250. Wir dürfen vermuten, dass die Natur ein bisschen raffinierter ist, als es die einfache Theorie mit lokalen verborgenen Variablen zulässt. Aus der Tabelle geht hervor, dass wir nicht erwarten können,
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
für die drei gewählten Referenzrichtungen Kombinationen wie v-h-v oder h-v-h zu erhalten. Doch lässt sich ohne weiteres eine kompliziertere Theorie mit lokalen verborgenen Variablen denken, die solche Kombinationen gestattete. Wenn diese Kombinationen möglich wären, könnten sie die Zahl der Photonenpaare erhöhen, die N-v /NNO-h-Antworten ergäben, und ihre Summe würde mehr als 25 Prozent betragen. Dann müssten wir unsere Schlussfolgerung modifizieren, etwa durch die Aussage, dass die Summe der Photonen, die N-v /NNO-h- und NNO-v/NO-h ergeben, größer oder gleich der Zahl ist, die N-v/NO-h-Antworten produzieren. Diese Schlussfolgerung, die für alle denkbaren Theorien mit lokalen verborgenen Variablen gilt, wird als Bells Ungleichung bezeichnet, die der irische Physiker John Bell erstmals in einem Aufsatz aus dem Jahr 1966 vorgestellt hat. Wir sind im Begriff, die Früchte unserer Mühen zu ernten. All das Zeug über innere Zeiger, Referenzrichtungen und so fort ist ziemlich schlicht, wenn auch eine bisschen ungewöhnlich. Man kann das nur schwer mit dem, was wirklich «im Inneren» eines Photons vor sich geht, in Zusammenhang bringen. Wir haben angenommen, ein Photon sei ein bisschen wie ein Brief, eine Messung ein bisschen wie der Versuch, den Brief durch den Schlitz eines Briefkastens zu werfen. Anders als in einem herkömmlichen Briefkasten kann dieser Schlitz in jede denkbare Richtung gedreht werden, und die Briefe kommen auch in jeder denkbaren Ausrichtung bei uns an. Wir sind trotzdem von einigen einfachen Annahmen hinsichtlich der Frage ausgegangen, wie viele Briefe bei drei verschiedenen Ausrichtungen des Schlitzes in den Briefkasten gehen (u-Antworten) und wie viele nicht (h-Antworten). Dann haben wir diese Verhältnisse auf eine Situation erweitert, in der wir zwei korrelierte Briefe und zwei Schlitze haben, einen auf Proxima Centauri und einen auf der Erde. Indem wir der Natur eine gewisse Raffinesse zugestanden, gelangten wir zu dem Schluss, dass die Zahl der Briefe, die eine bestimmte Kombination
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Kapitel elf – To Whom the Bell Tolls oder Eine Ungleichung, die es in sich hat
von Ergebnissen ergab, zur Zahl der Briefe addiert, die eine zweite Kombination ergab, größer oder gleich der Zahl sein musste, die eine dritte Kombination von Antworten lieferte. Diese Schlussfolgerung ist für Theorien mit lokalen verborgenen Variablen aller Art gültig. Was sagt die Quantentheorie also voraus? Die Quantentheorie sagt voraus, dass die Zahl der Photonenpaare, die N-v /NNO-h-Antworten geben, plus der Zahl, die NNO-v/NO-h-Antworten liefern, rund 14,6 Prozent beträgt. Das heißt, in einer zufällig ausgewählten Stichprobe von 1000 Photonenpaaren ergibt das eine Gesamtzahl von 146. Die Zahl, die N-v/NO-h-Antworten gibt, ist 25 Prozent, genauso, wie wir sie in unserem Beispiel für eine lokale verborgene Variable ermittelten, was 250 entspricht. Daraus schließen wir, dass 146 größer oder gleich 250 ist. Bleiben Sie ruhig. Sie sollten zwar besorgt sein, aber in dieser Phase ist es wichtig, sich über die richtigen Dinge zu sorgen. Als Erstes müssen Sie sich klarmachen, dass Sie keinen Rechenfehler begangen haben. Natürlich ist 146 nicht größer oder gleich 250, insofern dürfen Sie also beruhigt sein. Es bedeutet aber, dass die Quantentheorie Vorhersagen macht, welche die Regel von Bells Ungleichung brechen. Der Grund dafür geht ziemlich deutlich aus unserer früheren Diskussion hervor. Laut der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie sind die Photonen im EPR-Experiment nicht im Sinne der Einstein-Separabilität zu trennen. Es gibt keine inneren Zeiger. Zumindest gibt es keine inneren Zeiger, die für jedes Photon unabhängig von den anderen zuständig wären. Eine Möglichkeit, sich die Vorhersage der Quantentheorie zu erklären, besteht in der Überlegung, dass die beiden Photonen im Paar interferieren. Wie die destruktive Interferenz im Doppelspaltexperiment verringert auch diese Interferenz der beiden Photonen in jedem Paar die Zahl der Photonen, sodass bestimmte Antwortkombinationen unterhalb der Werte bleiben, die bei der Annahme, die
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Photonen seien unabhängig real, vorhergesagt werden. Die beiden Photonen interferieren miteinander, obwohl sie durch eine Entfernung von 40 000 Milliarden Kilometern getrennt sind, und wenn Alice eine Messung an dem grünen Photon vornimmt, wirkt sich dies auf die Antwort aus, die Bob von einer beliebigen späteren Messung am blauen Photon erhält. In diesem Punkt lässt die Quantentheorie keinen Zweifel aufkommen. Die Frage lautet jetzt: Ist das richtig? Ja. Als die Experimentalphysiker Bells Ungleichung nicht lange nach deren Veröffentlichung aufgriffen, entwickelten und verbesserten sie die Experimentaltechniken zu ihrer Überprüfung. Seit den siebziger Jahren führt man immer ausgeklügeltere Experimente aus, die ziemlich eindeutig beweisen, dass Photonen in einem EPR-Experiment tatsächlich die Regel der Bell’schen Ungleichung brechen. Das bekannteste dieser Experimente haben der französische Physiker Alain Aspect und seine Kollegen Mitte der achtziger Jahre durchgeführt. Inzwischen haben weitere Experimente Verschränkungen zwischen Photonen nachgewiesen, die an Beobachtungsstationen in Bellevue und Bernex gemessen wurden, zwei schweizerischen Dörfern vor den Toren Genfs, die fast elf Kilometer auseinanderliegen. Nicht ganz die 40 000 Milliarden Kilometer zwischen Proxima Centauri und der Erde, aber weit genug, um überzeugende Daten zu liefern. In Experimenten, die nicht von der Bell’schen Ungleichung ausgingen, hat man Verschränkungen zwischen drei und vier Photonen hergestellt, um die Theorie der verborgenen Variablen zu widerlegen. Die Schlussfolgerungen sind heute so gut wie unausweichlich.5 Die Quantentheorie ist in allen Versuchen bestätigt worden, und alle nur denkbaren Theorien mit versteckten Variablen sind gescheitert. 5 Ich jedenfalls bin überzeugt.
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Zwar gibt es noch ein paar Schlupflöcher, doch in verschiedenen Experimenten gelang es, diese Löcher einzeln zu schließen. Es müsste schon eine großangelegte Verschwörung aufseiten der Natur vorliegen, die sich mehrere Schlupflöcher gleichzeitig zunutze machte, um den Theorien mit versteckten Variablen eine Chance auf Rehabilitation zu geben. Einstein dürfte recht gehabt haben, als er sagte: «Raffiniert ist der Herrgott, aber boshaft ist er nicht.» Egal, wie die Wirklichkeit sein mag, jedenfalls ist sie auf der Quantenebene nicht lokal. Zeit für eine Bestandsaufnahme. Die Wirklichkeit ist nicht lokal, aber es ist keineswegs klar, was das bedeutet. Bevor wir uns jetzt überlegen, wie wir weiter verfahren können, müssen wir uns mit dem grundlegenden Widerspruch zwischen zwei der erfolgreichsten Theorien des 20. Jahrhunderts beschäftigen – zwischen der Quantentheorie und der speziellen Relativitätstheorie. Die Quantentheorie erklärt unmissverständlich, dass die Wirklichkeit nicht lokal ist und dass die Schicksale zweier Quantenobjekte, die irgendwann in der Vergangenheit wechselgewirkt haben, fortan auf äußerst rätselhafte Weise miteinander verbunden bleiben, egal, wie weit sie sich voneinander entfernen. Oberflächlich betrachtet, scheint diese rätselhafte Verbindung eine Kommunikation mit Überlichtgeschwindigkeit zwischen den beiden weit entfernten Objekten vorauszusetzen, eine Möglichkeit, welche die spezielle Relativitätstheorie kategorisch verbietet. Wir scheinen uns zwischen Skylla und Charybdis zu befinden, zwischen einer unmissverständlichen Quantentheorie und einer kompromisslosen speziellen Relativitätstheorie. Wir sind in einer Sackgasse gelandet. Um zu verstehen, wie die Physiker sich gegenwärtig einen Weg in dieser Sackgasse suchen, lohnt es sich, einen Blick auf die «praktische» Nutzung der Quantenverschränkung an der vordersten Front der modernen physikalischen Forschung zu werfen.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
Der Umstand, dass es ernsthafte Überlegungen über die praktische Anwendung der Verschränkung gibt, beweist, über welch erstaunliche Widerstandskraft Physiker verfügen. Wir mögen uns den Kopf darüber zerbrechen, was Verschränkung und der Verstoß gegen die Regeln der Bell’schen Ungleichung für unser Verständnis der physikalischen Wirklichkeit bedeutet, doch die Physiker (besonders die Experimentalphysiker) beschäftigen sich mit den Fakten, die sie vorfinden, und machen sich nicht viele Gedanken über die Frage, was diese Fakten wohl auf philosophischer Ebene bedeuten könnten. Sie stellen sich lieber eine ganz andere Frage: Was können wir mit der Verschränkung anfangen, wenn sie ein Experimentaldatum ist? In der modernen Forschung gibt es zwei Bereiche, die eine Rolle für unsere Diskussion hier spielen. Der erste betrifft die Verwendung verschränkter Photonen, um eine sichere Form der Verschlüsselung für vertrauliche Nachrichten zu gewährleisten. Nehmen wir an, Alice möchte Bob eine geheime Nachricht schicken. Es steht ihr eine ungeheure Zahl von Methoden zur Verfügung, einschließlich der modernen Kryptographie, die auf den mathematischen Eigenschaften sogenannter Modulfunktionen beruht – eines Verfahrens, das für die meisten wirtschaftlichen Transaktionen im Internet verwendet wird. Alle diese Codes sind jedoch potenziell zu knacken. Doch bevor Sie nun wegen des letzten Kaufs, den Sie übers Internet getätigt haben, die Panik kriegen, sollten Sie sich klarmachen, dass Einbrüche in modern verschlüsselte Nachrichten (etwa diejenigen, die Ihre Kreditkarteneinzelheiten tragen) eine Rechenleistung verlangt, welche die Kapazität heutiger Computer übersteigt. Doch für künftige Rechner könnten diese Nachrichten verwundbar sein. Alice ist mit keiner der verfügbaren Verschlüsselungstechniken zufrieden, daher wendet sie sich der Quantenphysik zu (es handelt sich um eine besonders vertrauliche und sensible Nachricht). Sie richtet eine zentrale Quelle für verschränkte Photonenpaare ein, behält die grünen bei sich und schickt die blauen an Bob. Beide messen die Ei-
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Kapitel elf – To Whom the Bell Tolls oder Eine Ungleichung, die es in sich hat
genschaften ihrer Photonen, indem sie jedes Photon nacheinander mit zufällig gewählten Referenzrichtungen befragen. So wählt Alice vielleicht die Folge Nordost, Süd, Ostnordost, Nordwest, Nord, West, Südwestsüd ... Bob entscheidet sich möglicherweise für die Folge Südwest, Süd, Westsüdwest, Südost, Nord, Nord, Südwestsüd... Beide zeichnen weiterhin bei jeder Messung auf, ob sie eine v-Antwort oder eine h-Antwort bekommen haben. Sie verschlüsseln eine v-Antwort durch die binäre Ziffer 1 und eine h-Antwort durch die binäre Ziffer 0. Dann tauschen sie öffentlich Informationen über die Reihenfolge der verwendeten Referenzrichtungen aus, ohne indessen mitzuteilen, welche Antworten sie erhalten haben. Bei den Messungen in der Sequenz, in denen sie beide ein Photon entdeckten und die gleiche Referenzrichtung verwendeten, wissen beide, dass die Antworten (wegen des Gesetzes der gleichgerichteten Photonen) korrelieren müssen. Durch den Vergleich ihrer Listen mit Referenzrichtungen und die Nichtberücksichtigung von Messungen, für welche die Richtungen nicht gleich waren, kommen sie beide zu einer identischen Sequenz binärer Ziffern (etwa ..., 0, ..., ..., 1, 1, ..., 0, ..., 1 etc.), die nur Alice und Bob bekannt ist. Das Ergebnis ist eine vollkommen zufällige Folge binärer Ziffern (Bits). Aber es ist eine vollkommen zufällige Sequenz, die sowohl Alice wie Bob und nur diesen beiden bekannt ist. Sie können diese Bit-Sequenz jetzt als Codierungsschlüssel verwenden,6 mit dem Erfolg, dass sie konventionellere Methoden verwenden können, um einander in der sicheren 6 Ein Codierungsschlüssel ist eine Vor-
eine 1 einen Buchstaben in der Nach-
schrift zur Verschlüsselung einer Nach-
rieht durch den im Alphabet nachfolgen-
richt. Es folgt ein einfaches Beispiel.
den Buchstaben codiert («e» wird «f»).
Wir könnten eine 0 in der Bit-Sequenz
Folglich codiert die Bit-Sequenz 01101
zur Codierung eines Buchstabens in
die Nachricht «Alice» als «Zmjbf». Wir
der Botschaft durch den im Alphabet
decodieren die Nachricht dann, indem
vorausgehenden Buchstaben verwenden
wir den Codierungsschlüssel umgekehrt
(beispielsweise: «e» wird «d»), während
anwenden.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
Gewissheit, dass nur sie selbst den Schlüssel kennen, vertrauliche Nachrichten zu senden. Wie können sie so gewiss sein, dass der Schlüssel sicher ist? Nehmen wir an, jemand hört sie ab (in der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema traditionell als Eve bezeichnet, nach englisch eavesdropper – Lauscher oder Horcher) und ist irgendwie in der Lage, die verschränkten Photonen abzuhören, bevor sie Alice oder Bob erreichen, und bringt auf diese Weise die Sequenz und den Codierungsschlüssel in Erfahrung. Eve müsste die Photonen nicht nur abfangen und jedes nach seiner Richtung relativ zu ihrer eigenen Referenzrichtung befragen, sie müsste außerdem dafür sorgen, dass die Photonen (oder deren Duplikate) an Alice oder Bob weitergeschickt würden, damit diese keinen Verdacht schöpfen. Doch nun hat Eve ein Problem. Da sie Messungen an den Photonen vornehmen musste, um die Sequenz in Erfahrung zu bringen, sind die Wellenfunktionen der Photonenpaare bereits kollabiert. Alle Photonen, die anschließend an Alice oder Bob weitergeschickt werden, können nicht mehr in dem Ausmaß korrelieren, wie es von der Quantentheorie vorhergesagt wird. Alice und Bob können in regelmäßigen Abständen überprüfen, ob es einen Angriff auf ihr Codierungssystem gibt, indem sie einfach Tests zur Bell’schen Ungleichung durchführen. Wenn die Photonen die Regel der Bell’schen Ungleichung nicht mehr brechen, wissen die beiden augenblicklich, dass ihre Photonen von einem Angreifer abgefangen worden sind, und können den Codeschlüssel als unsicher aufgeben. Jedes Element in der Bit-Sequenz, die als Codierungsschlüssel dient, gelangt Alice und Bob, während sie die Messungen vornehmen, augenblicklich zur Kenntnis. Doch, so könnte man vorbringen, es ist nur eine Sequenz zufällig erzeugter Bits, keine codierte Nachricht, die «bedeutungsvolle» Informationen – oder nützliche Mitteilungen – trägt. Einsteins spezielle Relativitätstheorie beruht auf dem
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Prinzip, dass bedeutungsvolle Informationen (beispielsweise, dieses Objekt befindet sich hier, bewegt sich mit dieser Geschwindigkeit in jene Richtung) nicht mit Überlichtgeschwindigkeiten übermittelt werden können. Wenn Alice und Bob einander bedeutungsvolle oder nützliche Informationen zukommen lassen wollen (und nicht nur eine bedeutungslose, zufällige Bit-Sequenz), müssen sie zunächst öffentlich Informationen über die verwendeten Referenzrichtungen austauschen. Solch ein öffentlicher Informationsaustausch ist auf einen konventionellen Kommunikationsweg angewiesen, der keine Nachrichtenübertragung erlaubt, die schneller als das Licht vonstatten geht. Das ist der Taschenspielertrick, mit dem Physiker zu beweisen suchen, dass die scheinbare Kommunikation mit Überlichtgeschwindigkeit mittels verschränkter Quantenobjekte in Wirklichkeit nicht im Widerspruch zur speziellen Relativitätstheorie steht. Wenn wir dieses Argument akzeptieren, müssen wir uns fragen, was für eine Art von Information übermittelt wird, wenn eine Messung vorgenommen wird und die Wellenfunktion kollabiert, und ob überhaupt eine Information übermittelt wird. Das zweite vielbeachtete Forschungsfeld ist die Teleportation. Nehmen wir an, Alice auf Proxima Centauri möchte Bob auf der Erde ein Photon schicken. Sie könnte natürlich einfach einen Lichtstrahl in Richtung Erde schicken und etwas mehr als vier Jahre warten, bis er zu Bob gelangt ist, aber Alice ist ziemlich ungeduldig. Stattdessen entwickelt sie eine Versuchsanordnung, die ihr ermöglicht, eines ihrer grünen Photonen mit einem anderen blauen Photon zu verschränken, das unabhängig von den Photonenpaaren, mit denen sie und Bob experimentiert haben, auf Proxima Centauri erzeugt worden ist. Sie braucht über den Zustand dieses zweiten Photons nichts anderes zu wissen, als dass es exakt die gleiche Farbe hat wie Bobs Photonen. Nun nimmt Alice Messungen an beiden Photonen vor, die dabei
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
ausgelöscht werden. Eine solche Messung hat zur Folge, dass die Wellenfunktion, die Bobs blaues Photon auf der Erde bestimmt, zu dem Zustand kollabiert, den das blaue Photon auf Proxima Centauri hatte, bevor Alice ihr grünes Photon mit ihm verschränkte. Nun ist es eine Grundtatsache der Quantentheorie, dass Photonen mit identischen Merkmalen (etwa Farben oder Eigenschaften wie der v- oder h-Ausrichtung) ununterscheidbar sind. Im Endeffekt hat Alice also das blaue Photon instantan von Proxima Centauri zur Erde gesandt. Das ist kaum damit zu vergleichen, dass man Captain James T. Kirk von der Oberfläche eines feindseligen Planeten an Bord der Enterprise beamt. Teleportation ist Science-Fakt und nicht Science-Fiction. Dabei ist Teleportation dieser Art nicht auf einzelne Photonen beschränkt. Es gibt Berichte, nach denen Laserstrahlen, die aus Milliarden von Photonen bestanden, durch Labors teleportiert wurden. In jüngster Zeit haben Physiker sogar geladene Atome erfolgreich teleportiert. Allerdings hat die Sache einen Haken, der wiederum mit einem Kunstgriff der Physiker zu tun hat. Nicht all die verschiedenen Arten von Messungen, die Alice vornehmen kann, werden Bobs Photonen notwendigerweise in ein teleportiertes Photon verwandeln. Damit Bob sein Photon als teleportiertes Photon erkennt, muss Alice ihm vorab mitteilen, welche Referenzrichtung sie verwendet und, vor allem, welche Antwort sie bekommen hat.7 Wenn sie ihm mitteilt, welche Ergebnisse sie bei den Messungen an einer Reihe von Photonen erzielt hat, kann Bob mit Hilfe dieser Informationen alle seine blauen Photonen in teleportierte Photonen verwandeln. Aber7 Den Anhängern von Raumschiff Enter-
hat. Das verlangt eine konventionelle
prise ist natürlich klar, dass Scotty
Kommunikation – eben die Aufforderung
wissen muss, wer an Bord gebeamt wird
«Beam me up, Scotty».
und welche Koordinaten seine Position
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mals erscheint der Akt der Teleportation selbst instantan, doch die bedeutungsvolle Information, die ein teleportiertes Photon trägt, lässt sich nur durch konventionelle Kommunikation abrufen. Und traditionelle Kommunikation kann die Lichtgeschwindigkeit nicht überschreiten. Einige Physiker haben sich vielleicht mit dem scheinbaren Widerspruch zwischen Quantentheorie und spezieller Relativitätstheorie arrangiert, doch das Problem verbreitet auch weiterhin Unbehagen. Gerechterweise muss man sagen, dass es der Natur selbst herzlich gleichgültig ist, ob wir irgendwelche Probleme mit unseren Theorien haben, und so fährt sie stumm mit ihrer unergründlichen Arbeit fort. Trotzdem, die inhärenten Widersprüche der Theorie, verbunden mit der entschlossenen Weigerung, die unbegrenzte Gefangenschaft in Platons Höhle zu erdulden, haben einige Theoretiker veranlasst, Alternativen zur Kopenhagener Deutung zu entwickeln. Ich muss bekennen, dass ich kein begeisterter Anhänger der Kopenhagener Deutung bin. Mir gefällt der Gedanke nicht sonderlich, dass unserer Fähigkeit, die physikalische Welt zu erkennen und zu verstehen, fundamentale Grenzen gezogen sind. Doch seien Sie gewarnt. Auf den Pfaden alternativer Interpretationen zu wandeln ist nichts für Kleinmütige. Es spricht für die ungewöhnliche Natur und die Ausmaße der Probleme, auf die wir bei unserem Versuch stoßen, die Wirklichkeit auf der Quantenebene zu verstehen, dass die meisten Alternativen noch bizarrer sind als die orthodoxe Interpretation. Solche Alternativen kommen in den verschiedensten Spielarten vor, doch wir können diese Interpretationen zwei grundlegenden Kategorien zuordnen. Es gibt die einen Interpretationen, die den Kollaps der Wellenfunktion als reales physikalisches Phänomen betrachten, und die anderen, die bestrebt sind, ihn vollkommen aus der Theorie zu entfernen.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
Wenn Sie sich umsehen, erblicken Sie sicherlich keinen Gegenstand, der sich in einem Superpositionszustand befindet, einer Überlagerung gegensätzlicher Eigenschaften wie oben-unten, links – rechts, tot – lebendig und so fort. Weiterhin kann ich Ihnen versichern, dass Sie ein Objekt in solcher Superposition nie gesehen haben und auch niemals sehen werden. Warum? Superpositionen von Objekten sind auf der Quantenebene, auf der mikroskopischen Ebene von Photonen, Elektronen, Atomen und kleinen Molekülen, ziemlich häufig. Warum gilt das nicht für die Ebene makroskopischer Objekte wie Autos, Menschen, Bäume und Häuser? Vielleicht ist die einfache Tatsache, dass wir makroskopische Objekte nie in Superpositionszuständen erblicken, bereits ein Hinweis. Obwohl ziemlich häufig, sind Superpositionszustände (unter denen verschränkte Zustände eine besondere Spielart darstellen) sehr empfindlich und können leicht zerstört werden. Damit meine ich, dass wir die Bedingungen, unter denen wir eine Superposition aufrechterhalten können, sorgfältig herstellen und bewahren müssen, um die Eigenschaften der Superposition messen zu können. Jeder Experimentalparameter, der Berge und Täler der Quantenwellen verschiebt, zerstört die Superposition. Das liefert uns ein weiteres potenzielles Indiz. In einer alternativen Interpretation wird die Quantentheorie durch die Einführung einer Art Reibungskraft, der Dekohärenz, erweitert, die rasch eine Versetzung der Quantenwellen und damit die Zerstörung der Superposition bewirkt. Diese Kraft entsteht durch das Vorliegen vieler Quantenzustände anderer Objekte, mit denen das Objekt im Superpositionszustand wechselwirken kann. Wenn wir also eine Superposition hervorrufen und sie in den intergalaktischen Weltraum bringen, wo sie mit nichts anderem wechselwirken kann, hat sie unter Umständen lange Bestand. Bringen wir das Objekt jedoch beispielsweise in ein Laborvakuum, führt die Wechsel-
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Kapitel elf – To Whom the Bell Tolls oder Eine Ungleichung, die es in sich hat
wirkung auch mit den wenigen Atomen oder Molekülen, die in einem solchen Vakuum erhalten bleiben, in einem Zeitraum von einer hundertstel millionstel milliardstel Sekunde zur Versetzung und zum Kollaps der Wellenfunktion. Das ist nicht instantan, aber doch sehr rasch. Es versteht sich von selbst, dass alles, was makroskopische Dimensionen aufweist, etwa ein fotografischer Film oder eine Katze, die Wellenfunktion noch viel schneller zum Kollaps bringt. Daher sehen wir in unserer makroskopischen Welt direkter Erfahrung nie eine Superposition. Diese Erweiterung der Quantentheorie ist intuitiv überzeugend (wenn auch vielleicht ärgerlich für Science-Fiction-Autoren). In gewissem Umfang hat sie Eingang in die herrschende Lehrmeinung gefunden und scheint von den meisten Physikern anerkannt worden zu sein, denen die Schnittstelle zwischen der mikroskopischen Welt der Quantenobjekte einerseits und unserer makroskopischen Welt der Katzen und der in der Beobachterrolle auftretenden Menschen andererseits Kopfzerbrechen bereitet. Doch diese Interpretation liefert noch nicht ganz die vollständige Antwort auf alle unsere Probleme. Dekohärenz kann zwar erklären, warum wir nie eine Superposition sehen, nicht aber, warum wir eine Antwort anstelle einer anderen erhalten. Wir stellen eine Frage und erhalten eine v-Antwort und keine h-Antwort. Die DekohärenzTheorie sagt uns, warum wir das eine oder das andere und nicht eine verschwommene Mischung beider beobachten, sie teilt uns aber nicht mit, warum wir v und nicht h bei dieser besonderen Messung erhalten. Und Dekohärenz befreit uns nicht von der Notwendigkeit, eine Art spukhafter Fernwirkung anzunehmen. Obwohl John von Neumann selbst offenbar nie von dem «Kollaps der Wellenfunktion» gesprochen hat, stammt die Idee trotzdem aus der mathematischen Behandlung der Quantenmessung in seinem
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
Buch The Mathematical Foundations of Quantum Mechanics, das erstmals 1932 erschien. Was hatte Neumann also herausgefunden? Er vertrat die Auffassung, dass die gesamte Physik eines Tages auf die Quantenphysik zurückzuführen sein werde, und sah keinen Grund für die Annahme, dass makroskopische Objekte kein Quantenverhalten an den Tag legen sollten. Auf die Frage, warum wir nie Superpositionen makroskopischer Objekte sähen, hatte er eine einfache, wenn auch ziemlich verblüffende Antwort. Stellen Sie sich ein Photon in einem Superpositionszustand vor, eine paritätische Mischung aus v- und h-Orientierungen. Das Photon wechselwirkt mit irgendeinem makroskopischen Messgerät. Nehmen wir an, das Gerät sendet einen roten Lichtstrahl aus, wenn eine v-Antwort aufgezeichnet wird, und ein blaues Licht, wenn es sich um eine h-Antwort handelt. Von Neumann fand, man könne durchaus annehmen, dass auch das Messgerät unter diesen Umständen in einen Superpositionszustand eintreten sollte, in dem es rote und blaue «Mischstrahlen» aussandte. Das Gemisch aus rotem und blauem Licht fällt in Ihre Augen und wirkt auf Ihre Netzhaut ein, die daraufhin auch einen Superpositionszustand einnimmt. Die Signale werden über Ihren Sehnerv ans Gehirn weitergeleitet, das ebenfalls einen Superpositionszustand annimmt. Und was geschieht dann? Sie kennen die Antwort schon. Von Neumann vertritt die Auffassung, dass die Wellenfunktion kollabiert, wenn sie auf ein Bewusstsein trifft. Wie in Kapitel fünf gesehen, gibt es in dem Prozess von der Aufnahme des Lichts durch die Augen bis zur Übermittlung der Signale an das Gehirn nichts, was anhand wissenschaftlicher Prinzipien nicht vollkommen vorhersagbar und verstanden wäre. Wenn Ihnen einleuchtend erscheint, dass das Messgerät in einen Superpositionszustand gerät, haben Sie allen Grund zu der Annahme, dass auch Ihr Gehirn einen solchen Zustand annimmt. Doch die Superpositionszustände makroskopischer Objekte kommen Ihnen nie zu Bewusstsein, folglich muss sich zwischen dem Zeitpunkt, wo Ihr
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Kapitel elf – To Whom the Bell Tolls oder Eine Ungleichung, die es in sich hat
Gehirn in eine Superposition gerät, und dem Augenblick, wo Ihr Bewusstsein das Ergebnis registriert, irgendetwas verändern. Die Veränderung ist der Kollaps der Wellenfunktion.8 Unter diesen Umständen müssten wir annehmen, dass es nur eines bewussten Geistes bedarf, um die Wellenfunktion zum Kollaps zu bringen, sonst wäre es nämlich möglich, dass einige unserer Mitmenschen wie Zombies umherwandern, in Schwebezuständen zwischen Leben und Tod, und darauf warten, dass ihr Bewusstsein kollabiert. Sind Katzen bewusste Wesen? Wenn sie es sind, bleibt Schrödingers Katze zumindest der missliche Zustand erspart, gleichzeitig halb tot und halb lebendig zu sein. Eine Zeit lang war Einstein sehr angetan von einer anderen möglichen Alternative. Was wäre, wenn Bohr die Situation vollkommen missverstanden hätte? Wenn die physikalische Wirklichkeit nicht aus Wellen oder Teilchen bestünde, wie es Bohrs Prinzip der Komplementarität verlangte, sondern aus Wellen und Teilchen? Nach dieser Auffassung sind Quantenobjekte reale Teilchen, deren Eigenschaften – wie v- und h-Orientierung – durch eine physikalische Wechselwirkung vollständig festgelegt werden und die vorherbestimmten Bahnen durch den Raum folgen. Der Unterschied liegt darin, dass solche Objekte nicht den geradlinigen Bahnen folgen würden, die nach der Newton’schen Physik zu erwarten wären, sondern den Wegen, die ihnen durch ihre assoziierten Wellen vorgegeben werden. Das sind «Pilotwellen». Wenn ein einzelnes Photon eine Doppelspalt-Versuchsanordnung durchquert, ist es die Pilotwelle, die durch beide Spalte dringt, sich dahinter ausbreitet und sich selbst über8 Leser mit einer Neigung zu Teufels-
und mit dem zirkulären Lesen fortfah-
kreisen könnten an diesem Punkt zum
ren, bis sie in ihrer eigenen Wahrschein-
Anfang von Kapitel fünf zurückkehren
lichkeitswolke verschwinden.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
lagert, mit konstruktiver und destruktiver Interferenz wie bei einer konventionellen Welle. Das Photon selbst durchquert dann nur einen der Spalte (es ist immer lokalisiert), folgt aber dahinter einer Bahn, die vom Amplitudenmuster der Pilotwelle vorgegeben wird. Das Photon wird von den Spalten bis zum fotografischen Film, wo es nachgewiesen wird, auf einer Bahn geführt, die einer hohen Amplitude entspricht. Wenn viele Photonen nacheinander durch die beiden Spalte gedrungen sind, ergibt sich ein Interferenzmuster, welches die Pilotwellen der Photonen und ihr Amplitudenmuster widerspiegelt. Allerdings liebäugelte Einstein nicht sehr lange mit diesem Ansatz. Zwar hatte er de Broglie ermutigt, diese Argumentation weiter zu verfolgen, doch seine eigene Begeisterung verflüchtigte sich rasch. Als seine Interpretation in den fünfziger Jahren von dem amerikanischen Physiker David Böhm wieder aufgegriffen wurde, erhielt sie die Bezeichnung de-Broglie-Bohm-Theorie. Einstein selbst hielt sie für «zu billig». Die Pilotwellentheorie ist ein Beispiel für eine Theorie mit einer nichtlokalen verborgenen Variablen. Insofern wird sie – im Gegensatz zu Theorien mit lokalen verborgenen Variablen – durch die Ergebnisse der Experimente zum Test der Bell’schen Ungleichung nicht widerlegt. Es gibt in dieser Theorie keinen Kollaps der Wellenfunktion, aber sie ist nichtlokal, daher bleibt die ganze spukhafte Fernwirkung erhalten. Heute hat die Theorie noch einige leidenschaftliche Verfechter, die aber deutlich in der Minderzahl sind. Die letzte Alternative, die wir betrachten wollen, ist vielleicht die merkwürdigste von allen. Wir könnten fragen, welche Beweise wir haben, dass der Kollaps der Wellenfunktion tatsächlich stattfindet, und müssten zugeben, dass wir keinen haben. Physiker benutzen das Konzept des Kollapses zur Begründung der Beziehung zwischen einem Photon vor der Messung, das alle denkbaren Antworten mit
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Kapitel elf – To Whom the Bell Tolls oder Eine Ungleichung, die es in sich hat
einer gewissen Wahrscheinlichkeit geben könnte, und demselben Photon nach der Messung, das eine und nur eine Antwort gegeben hat. Ach ja, höre ich Sie sagen, es liefert nur eine Antwort in diesem Universum, und was ist mit all den anderen? In der Viele-Welten-Interpretation der Quantentheorie gibt es keinen Kollaps. Wir erhalten alle Antworten, die möglich sind. Allerdings bekommen wir sie nicht alle im selben Universum. Diese Interpretation setzt voraus, dass es eine atemberaubende Zahl von «Paralleluniversen» gibt (kollektiv als «Multiversum» bezeichnet), denen unterschiedliche Raumzeiten zugeordnet sind. Danach ist ein Interferenzmuster die Manifestation der Interferenz zwischen Paralleluniversen. Ein Photon gibt eine u-Antwort, und Sie notieren sie in Ihrem Laborbuch. Im selben Augenblick der Messung gibt das gleiche Photon in einem Paralleluniversum ebenfalls eine h-Antwort. Ihr Parallel-Ich trägt das in Ihr Parallel-Laborbuch ein. Kein Wunder, dass die Viele-Welten-Interpretation als eine Extremform der Schizophrenie bezeichnet wurde. Aus vielen Aspekten der modernen Quantenphysik lassen sich keine guten Filmgeschichten gewinnen, doch die Viele-Welten-Interpretation mit ihrer Beschwörung von Paralleluniversen hat als Vorbild für einige Filme gedient. In James Wongs Der Eine (2001) sind nicht nur Reisen zwischen diesen Paralleluniversen möglich, sondern dort kann man auch verschiedene Parallelversionen seiner selbst umbringen und dadurch das «Man», das übrig bleibt, stärker und mächtiger machen. Der Film ist im Wesentlichen eine Plattform für den Kampfsport-Star Jet Li und ein Produkt verschiedener Anleihen bei Matrix. Der Film Cube 2 – Hypercube aus dem Jahr 2002 berücksichtigt die Quantenphysik in etwas stärkerem Maße – mit höherdimensionalen Räumen und Zeitverschiebungen –, verlässt sich aber allzu sehr auf das Lieblingskind aller Konspirationstheoretiker, den bedrohlichen
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
und mächtigen militärisch-industriellen Komplex, und kommt nie über das Niveau absurder Phantasien hinaus. Offenbar muss das wirklich überzeugende Drehbuch, das Drehbuch, das die Konsequenzen der modernen Quantentheorien darlegt und umsetzt, noch geschrieben werden. Möglicherweise ist Ihre Geduld jetzt zu Ende. Das ist ja alles höchst interessant, höre ich Sie ausrufen, aber was sind Photonen, Elektronen und andere Quantenobjekte nun wirklich? Um die Wahrheit zu sagen, das weiß niemand. Die konventionelle Kopenhagener Deutung der Quantentheorie behauptet sogar, das könnten wir niemals in Erfahrung bringen. Unter unterschiedlichen Umständen und in unterschiedlichen Experimenten werden wir unterschiedliche Verhaltensweisen beobachten. Das Verhalten – die Phenomena – sind alles, was wir jemals erkennen werden. Wir haben ein hochentwickeltes theoretisches System, mit dessen Hilfe wir die verschiedenen Wahrscheinlichkeit, für alle denkbaren Antworten vorhersagen können, von dem wir aber nicht erwarten können, dass es uns Gewissheiten liefert oder uns Auskunft über das Wie und Warum der Ereignisse gibt. Sollte Ihnen das Unbehagen bereiten, suchen Sie sich eine der alternativen Interpretationen. In dem Abschnitt der Physikgeschichte, in dem Sie sich befinden, haben Sie noch die freie Wahl. Es ist uns nicht gelungen, die Wirklichkeit auf der fundamentalsten physikalischen Ebene dingfest zu machen. Offenbar ist unserer Erkenntnis verschlossen, was Photonen, Elektronen, Protonen oder Neutronen wirklich sind. Die Objekte, aus denen alles besteht, was wir sehen und was wir sind, scheinen sich geheimnisvoll allen unseren Zugriffen zu entziehen. Jetzt sind wir dem Grund des Kaninchenbaus schon sehr nahe, aber noch müssen wir ein kleines Stück fallen. Wenn wir die Wirklichkeit auf unserer gegenwärtigen Ebene des Verständnisses der
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Kapitel elf – To Whom the Bell Tolls oder Eine Ungleichung, die es in sich hat
physikalischen Welt nicht finden können, besteht dann irgendwelche Hoffnung, dass wir ihr möglicherweise in künftigen Theorien begegnen? Werden wir in das lächelnde Antlitz der unabhängigen Wirklichkeit blicken, wenn wir eines Tages die endgültige, wahre Theorie von allem, die Weltformel, finden?
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Kapitel zwölf
Wirklichkeit in Schleifen und Strings Interessanterweise ist nach Ansicht der modernen Astronomen der Raum endlich. Das ist ein sehr tröstlicher Gedanke – besonders für Menschen, die sich nie erinnern können, wo sie ihre Sachen hingelegt haben. WOODY ALLEN
Zeit ist eine Eigenschaft der Natur, die verhindert, dass alle Ereignisse gleichzeitig geschehen. In letzter Zeit scheint das nicht mehr zu klappen. ANONYM
In J. R. R. Tolkiens Die Rückkehr des Königs warten Pippin und Gandalf gespannt auf die bevorstehende Schlacht mit den Kriegern von Mordor vor den Toren von Minas Tirith, eine Schlacht, die über das Schicksal von Mittelerde entscheiden wird. Pippin fragt sich, was aus Frodo geworden ist, und möchte wissen, ob es noch Hoffnung gibt. Gandalf erwidert: «Eine törichte Hoffnung, wie man mir gesagt hat.» Mehr bleibt auch uns nicht. Es ist uns nicht gelungen, der Wirklichkeit in den fundamentalen, quantenphysikalischen Bausteinen der Materie und des Lichts habhaft zu werden. Doch noch ist das Ende der Physik nicht erreicht. Eine der letzten verbleibenden Hürden ist die Vereinigung von Quanten- und allgemeiner Relativitätstheorie, die in einer einheitlichen Quantentheorie der Gravitation oder der Weltformel zusammengebracht werden müssen.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
Das ist jedoch nicht so ganz einfach. Die Quantentheorie und die allgemeine Relativitätstheorie sind wie zwei subkritische Plutoniummassen. Sie sind ungefährlich und arbeiten störungsfrei, wenn man sie getrennt hält, neigen aber dazu, einem um die Ohren zu fliegen, wenn man sie zusammenbringt. Vielleicht hat ja die Weltformel etwas anderes über Raum und Zeit mitzuteilen, vielleicht sogar – wer weiß – über Materie und Licht. Nur eine törichte Hoffnung, wie man mir gesagt hat. Sich selbst überlassen und in Verbindung mit den Fortschritten in der Teilchenphysik, die immer leistungsfähigeren Teilchenbeschleunigern zu verdanken sind, hat die Quantentheorie während der letzten siebzig Jahre ihre Gestalt mehrfach verändert, ohne grundlegend Neues über die physikalische Wirklichkeit mitzuteilen. Der englische Physiker Paul Dirac hat als Erster einen erfolgreichen Versuch unternommen, die Quantentheorie und die spezielle Relativitätstheorie zusammenzubringen, wobei er gewissermaßen beiläufig die Antimaterie entdeckte.1 Kurz darauf erkannte man, dass die Quantentheorie keine Teilchentheorie sein konnte,2 sondern dass es sich um eine Theorie von Feldern handeln musste, wie sie für die Kräfte zwischen Teilchen charakteristisch sind. Zunächst entwickelte man eine quantentheoretische Version der klassischen elektromagnetischen Feldkraft zwischen zwei elektrisch geladenen Teilchen, wie sie beispielsweise zwischen einem positiv geladenen Proton und einem negativ geladenen Elektron herrscht.3 1 Allerdings löst Diracs Theorie nicht das
es sich, streng genommen, stets um
scheinbare Problem der überlichtschnel-
quantenphysikalische Wellenteilchen
len Signalübertragung beim Kollaps der
handelt.
Wellenfunktion. 2 Aus Gründen der Einfachheit werde ich
3 Das Urbild aller unserer Vorstellungen über Kraftfelder stammt aus einem
im Fortgang auch weiterhin den Aus-
Experiment, das Sie vermutlich aus dem
druck «Teilchen» verwenden, obwohl
physikalischen Anfangsunterricht Ihrer
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Kapitel zwölf – Wirklichkeit in Schleifen und Strings
Eine angemessene quantenphysikalische Feldbeschreibung fördert weitere Teilchen zutage, etwa die Feldquanten, die dafür verantwortlich sind, die elektromagnetische Kraft zwischen den geladenen Teilchen zu befördern oder zu übertragen. Diese Teilchen transportieren die «Wirkung» der Kraft von einer Stelle zur anderen, von einem Teilchen zum anderen und tragen Gewähr dafür, dass eine solche Wirkung auf einen ganz und gar physikalischen Mechanismus zurückzuführen ist und mit Geschwindigkeiten übertragen wird, welche die des Lichtes nicht überschreiten. Damals war klar, dass das Photon das Quant des elektromagnetischen Feldes ist, das erzeugt und vernichtet wird, wenn geladene Teilchen wechselwirken. Doch viele Jahre außerordentlich harter Arbeit waren erforderlich, um eine theoretische Beschreibung zu entwickeln, die dieser Art von Erzeugung und Vernichtung gerecht werden konnte. Als sie schließlich entwickelt war, erwies sich die Theorie, die Quantenelektrodynamik als außerordentlich exakt und stimmig. Betrachten wir den g-Faktor des Elektrons, eine das Elektron charakterisierende physikalische Konstante, die seine Wechselwirkung mit einem magnetischen Feld bestimmt. Frühe Quantentheorien sagten einen g-Faktor von genau 2 voraus. Doch in der Quantenelektrodynamik wird die Wechselwirkung etwas differenzierter wahrgenommen; danach beruht sie auf der Erzeugung und Vernichtung sogenannter virtueller Teilchen, welche die Wechselwirkung eines Elektrons mit seinem eigenen elektromagnetischen Feld repräsentieren.4 Unter Einbeziehung dieser Wechselwirkungen ergibt sich Schulzeit erinnern. Sie wissen schon,
Nord- und Südpol des Magneten erstre-
der Versuch, bei dem man Eisenfeilspäne
cken, und machen das sonst unsicht-
auf ein Stück Papier schüttet und dieses dann über einen Stabmagneten hält. Die
bare magnetische Kraftfeld sichtbar, 4 Der Umstand, dass die Teilchen als
Späne verteilen sich rasch entlang der
«virtuell» bezeichnet werden, sollte nicht
«Kraftlinien», die sich zwischen dem
dahingehend verstanden werden, dass
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
für das Elektron ein g-Faktor von 2,00231930476, dem ein Experimentalwert von 2,00231930482 gegenübersteht. Der amerikanische Physiker Richard Feynman verglich diesen Genauigkeitsgrad mit der Fähigkeit, die Entfernung zwischen Los Angeles und New York mit einer maximalen Abweichung von der Dicke eines Haars zu ermitteln. Im Wesentlichen tragen virtuelle Photonen, die im Zuge der Wechselwirkung erzeugt und vernichtet werden, etwas von der Masse des Elektrons davon, lassen aber seine elektrische Ladung unangetastet. Diese Verzerrung des Verhältnisses zwischen der Ladung des Elektrons und seiner Masse erhöht seinen g-Faktor. Der Elektromagnetismus ist eine von zwei physikalischen Kräften, die uns aus dem Alltag vertraut sind. Die andere ist die Gravitation. Die erste Generation der Teilchenbeschleuniger offenbarte die Existenz zweier weiterer Kräfte, die auf der Ebene der Atomkerne wirken und uns daher weniger vertraut sind. Es handelt sich um die sogenannte schwache und starke Kernkraft. Diese vier «Naturkräfte» sind durch ihre unterschiedlichen Stärken und Reichweiten gekennzeichnet. Die Gravitation ist bei weitem die schwächste, besitzt aber eine gewaltige Reichweite und sorgt dafür, dass Ihre Füße fest auf dem Boden bleiben. Der Elektromagnetismus ist weitaus stärker und wirkt auf der Ebene der Atome. Er hält die Atome und Moleküle zusammen und ermöglicht die Entstehung von makroskopischen Objekten – von Ihnen und allem um Sie herum. Die schwache Kernkraft, die sich in einer speziellen Form der Radioaktivität manifestiert, dem sogenannten Betazerfall, wirkt im Inneren von Atomkernen und ist viel schwächer als die elektromagnetische Kraft, aber weitaus stärker als die Gravitation. Die sie nicht real sind, zumindest nicht in
(siehe unten), aber ihre Wirkungen
dem Sinn, dass sie keine realen Aus-
sind durchaus real, wenn auch äußerst
Wirkungen haben können. Die Teilchen
schwach.
sind virtuell, weil sie sehr kurzlebig sind
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Kapitel zwölf – Wirklichkeit in Schleifen und Strings
starke Kernkraft schließlich ist die stärkste Kraft von allen. Sie hält die Atomkerne zusammen und macht die Entstehung von Atomen möglich. Nach heutigem Verständnis wirken diese Kräfte zwischen zwei Arten von fundamentalen Teilchen, den Leptonen5 und Quarks, und werden von «Botenteilchen» übertragen oder befördert, welche die Teilchen untereinander austauschen. Die schwache Kernkraft wirkt zwischen Leptonen und Quarks und wird durch Teilchen übertragen, die man als intermediäre Vektorbosonen bezeichnet. Die starke Kraft ist zwischen Quarks wirksam und wird durch Gluonen übertragen. Protonen und Neutronen gelten nicht mehr als fundamentale Teilchen, denn sie bestehen aus Quarks. Wie sieht ein Quark aus? Das weiß niemand, denn nach den Vorhersagen der Teilchenphysik sind sie immer in ihren größeren Wirtsgebilden eingeschlossen. Es gibt viele verschiedene Quarkarten. Ein Proton besteht aus zwei «upQuarks» und einem «down-Quark», ein Neutron dagegen aus zwei down- und einem up-Quark. Die Eigenschaften up und down und weitere Eigenschaften, die man als «strange», «charm», «top» und «bottom» bezeichnet, werden als Flavors bezeichnet. Während der sechziger und siebziger Jahre entwickelten die theoretischen Physiker Sheldon Glashow, Steven Weinberg und Abdus Salam eine Form der Quantentheorie, welche die elektromagnetische Kraft und die schwache Kernkraft vereinigt, das heißt diese beiden Kräfte eigentlich auf eine einzige Kraft, die «elektroschwache Kraft», reduziert. Der Mechanismus des Betazerfalls beruht auf der Verwandlung eines down-Quarks in einem Neutron in ein up-Quark, wodurch das Neutron zu einem Proton wird. Das downQuark tauscht ein intermediäres Vektorboson (ein W-Teilchen) gegen ein anderes Teilchen, ein Neutrino, aus, wodurch das down5 Die Familie der Leptonen enthält unter anderem das vertraute Elektron.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
Quark in ein up-Quark und das Neutrino in ein hochenergetisches Elektron (ein Betateilchen) verwandelt wird. Diese vereinigte elektroschwache Theorie bezeichnet man gelegentlich als Quantenflavordynamik (QFD). Belege für all die neuen Teilchen, die von der QFD vorhergesagt werden, wurden anschließend in Beschleunigerexperimenten gefunden. Doch die Methoden zur Verschmelzung des Elektromagnetismus und der schwachen Kernkraft kamen nicht ohne eine Prise raffinierter Zauberei aus. Photonen, die Träger der elektromagnetischen Kraft, haben keine Masse, weshalb sie im Universum in so großen Mengen vorkommen. Bei frühen Versuchen zur Vereinigung des Elektromagnetismus und der schwachen Kernkraft ging man von der Annahme aus, auch die intermediären Vektorbosonen hätten, wie die Photonen, keine Masse. Das würde aber bedeuten, dass die Teilchen ebenso reichlich vorhanden sein müssten wie die Photonen, was offensichtlich nicht der Fall ist. Diese intermediären Vektorbosonen mussten sich von irgendwoher Masse besorgen. Die Theoretiker versuchten es mit einem Mechanismus, den der britische Physiker Peter Higgs entwickelt hatte. Der Mechanismus geht von einem Universum aus, das mit einem Meer von sogenannten Higgs-Teilchen gefüllt ist (und insofern fast eine moderne Neuauflage der Äther-Theorie ist). Die intermediären Vektorbosonen erwerben Masse, indem sie Higgs-Teilchen absorbieren. Tatsächlich hat man die Hypothese vorgeschlagen, dass alle fundamentalen Teilchen ihre Masse, sofern sie welche haben, auf diese Weise erhalten. Die entscheidende Symmetrie zwischen dem Elektromagnetismus und der schwachen Kernkraft wird durch den Umstand verschleiert, dass Photonen durch das Higgs-Meer zischen, als ob es gar nicht vorhanden wäre, während die intermediären Vektorbosonen wie durch Sirup waten und bei dieser Gelegenheit Masse aufnehmen. Die Verwendung dieses Mechanismus löste die Probleme der Quantenflavordynamik und ermöglichte ihre triumphalen Vorher-
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sagen. Doch das Meer von Higgs-Teilchen bleibt rein hypothetisch. Der neue Protonenspeicherring LHC am CERN in Genf hat vor allem die Aufgabe, nach Anhaltspunkten für Higgs-Teilchen zu suchen. Quarks haben noch eine Eigenschaft, die als Color oder Farbe bezeichnet wird und die Spielarten «rot», «grün» und «blau» kennt. Die starke Kernkraft gilt lediglich als ein Nebenprodukt der sehr viel stärkeren «Farbkraft», die verschiedenfarbige Quarks und ihre Botenteilchen, die Gluonen, zusammenbindet. Die Quantentheorie der farbigen Quarks und Gluonen bezeichnet man als Quantenchro-
modynamik. Die Theorie der Teilchen und Kräfte, die durch die Quantenchromodynamik und die Quantenflavordynamik beschrieben werden, wird zusammenfassend «Standardmodell» genannt. Diese Theorie war außerordentlich erfolgreich, brachte sie doch drei der vier fundamentalen physikalischen Kräfte zusammen. Doch das Standardmodell verlangt eine sehr große Anzahl von «fundamentalen» Teilchen, insgesamt sechzig, wenn wir alle Antiteilchen mitzählen. Das hypothetische Higgs-Teilchen hinzugenommen, kommen wir sogar auf einundsechzig. Die Theorie ist weiterhin auf eine erhebliche Zahl beliebiger Konstanten angewiesen, um die Masse aller dieser Teilchen zu spezifizieren. Auch wenn das Standardmodell außerordentlich erfolgreich war, so ist es sicherlich noch nicht das letzte Wort in Sachen Theorie. Sie werden bemerkt haben, dass im Standardmodell kein Platz für die Gravitation ist. Man nimmt an, dass die Gravitationskraft zwischen allen Teilchen6 wirkt und von Gravitonen getragen wird. Wir 6 Die Gravitation müsste auf alle Teilchen wirken, nicht nur auf diejenigen mit Masse, da Masse und Energie, wie wir aus Einsteins spezieller Relativitätstheorie wissen, äquivalent sind.
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wissen, was für Eigenschaften die Gravitonen haben müssten, aber sie werden nirgendwo im Standardmodell vorhergesagt. Wenn wir versuchen wollen, die Gravitationskraft zu verstehen, müssen wir uns gegenwärtig an eine gänzlich andere Theorie halten, die sich mit dem entgegengesetzten Ende der Größenskala beschäftigt. In der allgemeinen Relativitätstheorie geht es um die großräumigen Verhältnisse der Planeten, Sterne, Galaxien und des Universums, die in eine vierdimensionale Raumzeit eingebettet sind. Es geht um das Universum und seine riesenhaften Ausmaße.7 Diese Strukturen werden durch eine Reihe komplexer mathematischer Gleichungen beschrieben, die Einstein’schen Gravitationsfeldgleichungen. Sie sind komplex, weil die Masse, die sie behandeln, die Raumzeit in ihrer Umgebung verformt und weil die Raumzeit in ihrer Umgebung bestimmt, wie sich die Masse durch die Raumzeit bewegt. Als Einstein die Feldgleichungen 1915 entwickelte, hielt er sie für zu komplex, um sie lösen zu können. Doch bereits ein Jahr später hatte Karl Schwarzschild eine Lösung gefunden (die er entdeckte, als er im deutschen Heer an der russischen Front Dienst tat). Schwarzschilds Lösungen sagten vorher, dass ein besonders massereicher Körper die Raumzeit in seiner Umgebung so krümmen würde, dass nichts, noch nicht einmal das Licht, von seiner Oberfläche entweichen könnte. Die Idee des Schwarzen Lochs war geboren. Die frühen Vorhersagen, die Einstein aufgrund der allgemeinen Relativitätstheorie machte, sind allgemein bekannt. Dank seiner Theorie ließ sich eine Schlingerbewegung in der Umlaufbahn des Planeten Merkur erklären, eine Unregelmäßigkeit, für die Newtons 7 «Der Weltraum», schrieb Douglas Adams in Per Anhalter durch die
der Weltraum ist. Du glaubst vielleicht, die Straße runter bis zur Drogerie ist
Galaxis, «ist groß. Verdammt groß. Du
es eine ganz schöne Ecke, aber das ist
kannst dir einfach nicht vorstellen, wie
einfach ein Klacks, verglichen mit dem
groß, gigantisch, wahnsinnig riesenhaft
Weltraum.»
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Kapitel zwölf – Wirklichkeit in Schleifen und Strings
Gravitationstheorie keine Erklärung gefunden hatte. Weiter sagte Einstein vorher, dass das Licht eines fernen Sterns, das dicht an der Sonne vorbeistreiche, von der Krümmung der Raumzeit in der Umgebung der Sonne in seiner Bahn abgelenkt werde. Eine derartige Ablenkung des Sternlichts wurde durch Beobachtungen während einer Sonnenfinsternis nachgewiesen und trug dazu bei, dass Einstein eine Kulturikone des 20. Jahrhunderts wurde. Heute sind viele tausend Lösungen der Feldgleichungen bekannt, die viele verschiedene Arten von hypothetischen Universen beschreiben. Viele dieser Lösungen entwerfen ein expandierendes Universum.8 Anfangs wehrte sich Einstein gegen die Idee eines expandierenden Universums und frisierte seine Gleichungen, um statische Lösungen zu erhalten. Doch dann belegten die Beobachtungsdaten des Astronomen Edwin Hubble im Jahr 1929, dass sich alle fernen Sterne von der Erde mit Geschwindigkeiten entfernen, die mit ihrer Distanz zunehmen – so wie sich zwei Punkte, die man auf einen luftleeren Ballon zeichnet, voneinander entfernen, wenn man den Ballon aufbläst. Wenn das Universum heute expandiert, so folgt daraus, dass es zu irgendeinem Zeitpunkt ein unendlich kleiner, unendlich heißer «Urknall» gewesen sein muss. Die anschließende Expansion und Abkühlung hat dann zu dem Universum geführt, das wir kennen. Dass unser Universum expandiert steht außer Zweifel, seit 1965 durch Zufall die sogenannte Mikrowellen-Hintergrundstrahlung entdeckt wurde. Das ist eine Strahlung, die buchstäblich vom Urknall übrig geblieben ist, durch Expansion auf eine Temperatur von knapp drei Grad über dem absoluten Nullpunkt abkühlte und heute in der Form von Mikrowellen in Erscheinung tritt. Neuere Satellitenbeobachtungen dieser Hintergrundstrahlung lassen darauf schließen, 8 Zu beachten ist, dass in diesen Modellen die Raumzeit expandiert.
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
dass der Ursprung des Universums rund 13,7 Milliarden Jahre zurückliegt – plus/minus einige hundert Millionen Jahre. Wir haben also zwei Theorien – die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie in Form des Standardmodells der Teilchenphysik –, beide äußerst erhellend für unser Verständnis der großskaligen Struktur des Universums beziehungsweise der kleinskaligen Struktur seiner fundamentalen Bausteine, doch dazu verurteilt, nur noch unsinnige Ergebnisse zu produzieren, sobald man sie zusammenbringt. Woran liegt das? Einer der Gründe für diese Schwierigkeit hat mit der Unschärferelation zu tun. Aus unserer bisherigen Erörterung geht hervor, dass wir versucht sind, die Unschärferelation in einem etwas negativen Licht zu sehen. Sie scheint unseren Horizont einzuengen, weil sie uns daran hindert, jene detaillierten Kenntnisse über Quantenobjekte zu erwerben, die wir uns wünschen. Doch das Heisenberg’sche Prinzip hat auch eine andere Seite. Bei der Entwicklung der Quantenelektrodynamik zeigte sich, dass die Unschärferelation eine Vielzahl von Ereignissen ermöglicht, die auf den ersten Blick unmöglich erscheinen. Stellen Sie sich die Unschärferelation als eine Art doppelter Buchführung vor. Eine Version des Prinzips betrifft die Unschärfe oder Unbestimmtheit der Energie und die Unbestimmtheit des Zeitintervalls. Je weniger Zeit wir haben, die Energie eines Quantenobjekts zu messen, desto unbestimmter ist die Energie. Nun stellen Sie das auf den Kopf. Energie kann buchstäblich aus dem Nichts erzeugt werden (Haben), vorausgesetzt, sie wird innerhalb des kurzen Zeitintervalls, das die Unschärferelation gewährt, wieder zurückgegeben (Soll). Damit stößt die Unschärferelation die Tür zum Chaos auf, buchstäblich zur Teilchenerzeugung aus dem Nichts mit Hilfe geborgter Energie, vorausgesetzt, diese Teilchen werden innerhalb der erlaubten Zeit vernichtet und die Energiebeträge rückerstattet. Diese Objekte sind die virtuellen Teilchen, von denen oben die Rede war.
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Kapitel zwölf – Wirklichkeit in Schleifen und Strings
Die Unschärferelation verändert unsere Vorstellung vom «leeren» Raum, denn er ist keineswegs leer, sondern mit virtuellen Teilchen gefüllt, die für den Bruchteil eines Augenblicks auftauchen und wieder verschwinden (in diesem Zusammenhang spricht man gerne von «Sieden»). Wenn Sie denken, es handle sich um eine Art von Wahnvorstellung, denken Sie falsch. Dem Umstand, dass die Quantenelektrodynamik die Wechselwirkungen zwischen einem Elektron und einer Vielzahl virtueller Teilchen berücksichtigt, verdankt sie die Genauigkeit ihrer Vorhersagen. Außerdem lässt sich der Effekt der Erzeugung und Vernichtung dieser virtuellen Teilchen im leeren Raum (Vakuum) durch den sogenannten Casimir-Effekt, der nach dem holländischen Physiker Hendrik Casimir benannt wurde, im Labor nachweisen. Zwei durch einen geringen Abstand getrennte Metallplatten werden noch näher zusammengedrückt, weil der Druck der virtuellen Photonen in der Lücke zwischen den Platten dem Druck der virtuellen Photonen außerhalb der Lücke nicht standhalten kann. Natürlich ist es ein kleiner Effekt, der in jüngerer Zeit mit Metallplatten ermittelt wird, die nicht weiter als ein tausendstel Millimeter auseinander sind, aber er ist, wie diese Versuche zeigen, durchaus messbar. Die allgemeine Relativitätstheorie ist keine Quantentheorie. Daher gestattet sie uns, an die Raumzeit auch weiterhin zu denken, als wäre sie bestimmt und nicht den charakteristischen Wahrscheinlichkeitsgesetzen der Quantentheorie unterworfen. Bei der allgemeinen Relativitätstheorie können wir sicher sein, dass die Raumzeit «hier» oder «dort» ist und sich auf diese oder auf jene Weise, so oder so stark krümmt. Doch was ist, wenn wir jetzt die Logik der Quantenunschärfe auf das Gefüge der Raumzeit selbst anwenden? Dann ersetzen wir das Bild einer flachen oder sanft gekrümmten Raumzeit durch das Chaos der Unbestimmtheit und der Quantenfluktuationen. Die Topologie der Raumzeit verdreht und verwirft sich und ist übersät mit Dellen, Beulen und Tunneln – «Wurmlöchern», die einen Teil der
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Raumzeit mit einem anderen verbinden. Der amerikanische Physiker John Wheeler, nie verlegen um eine griffige Formulierung9, sprach in diesem Zusammenhang vom Quanten- oder Raumzeit-Schaum. Würde das großräumig geschehen, wäre unsere gelebte Wirklichkeit ein gutes Stück merkwürdiger als gegenwärtig. Es gäbe keine Garantie dafür, dass wir unsere Sachen dort wiederfänden, wo wir sie hingelegt hatten, keine Garantie, dass wir morgen nieder zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufwachten. Tatsächlich jedoch treten diese Fluktuationen in der Raumzeit nur bei extrem kleinen Abständen auf, in der Größenordnung von einem millionstel milliardstel milliardstel milliardstel Zentimeter (10–33 Zentimeter, eine Distanz, die man als Planck-Länge bezeichnet), und bei extrem kleinen Zeitintervallen, in der Größenordnung von einer zehntel millionstel trillionstel trillionstel Sekunde. Tatsächlich verlieren auf diesen Größenskalen die Begriffe Entfernung und Zeitintervall jede Bedeutung. Es gibt keinen Abstand, der kleiner als die Planck-Länge, kein Zeitintervall, das kürzer als die Planck-Länge wäre. Die prinzipielle «Körnigkeit», Unschärfe und Unbestimmtheit, die für die Quantentheorie charakteristisch sind, befinden sich in krassem Widerspruch zur glatten Kontinuität und Bestimmtheit, dem Determinismus der allgemeinen Relativitätstheorie. Aber kaum bringen wir sie zusammen, ist die Hölle los.10 Doch der Natur ist es, wie oben erwähnt, herzlich gleichgültig, ob uns unsere Theorien Kopfzerbrechen bereiten oder nicht. Wir mögen es zwar sehr schwierig finden, alle Naturkräfte in einer einzigen 9 Von Wheeler stammt auch der Begriff «Schwarzes Loch». 10 Es ist natürlich nur eine mathematische Hölle, die sich durch das Auftre-
wären. Ein moderner Taschenrechner reagiert auf diese Hölle, indem er ein solches Ergebnis durch ein stumpfsinniges «E» wiedergibt. Die Tabellenkalkula-
ten von Unendlichkeiten manifestiert,
tion Excel von Microsoft wirft in diesen
wo endliche Größen weit hilfreicher
Fällen #DIV/c aus!
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Theorie zu versammeln, das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Natur das mühelos hinkriegt. Wenn wir akzeptieren, was die allgemeine Relativitätstheorie über die großräumige Beschaffenheit des Universums mitzuteilen hat, dann folgt daraus, dass dieses Universum einmal sehr klein gewesen ist. Kurz nach dem Urknall hatte das Universum Quantendimensionen und unterlag damit den Unwägbarkeiten der Quantendynamik mit ihrer ganzen Körnigkeit, Unscharfe und Unbestimmtheit. Die Beschreibung dieses frühen Stadiums in der Geschichte des Universums ist die Aufgabe der
Quantenkosmologie. Streng genommen war der Urknall-Ursprung des Universums gar kein Ursprung, da dieses Wort den Beginn zu einem Zeitpunkt null voraussetzt. Es kann jedoch keinen Zeitpunkt null geben, weil es in der Quantentheorie völlig sinnlos ist, einem Objekt oder Ereignis eine Zeit zuzuordnen, die kürzer als die Planck-Zeit ist. Gegenwärtig nimmt man an, dass das Universum, das wir bewohnen, das Ergebnis einer Quantenfluktuation ist, buchstäblich einer Art kosmischen Rülpsens, das einem Zufall der Quantenunschärfe gestattete, alles, was wir sehen, und alles, was wir sind, aus dem Nichts zu erschaffen. Doch wenn es im leeren Raum fortwährend zu solchen Quantenfluktuationen kommt, was verlieh dann dieser speziellen Fluktuation die Besonderheit, das ganze Universum erzeugen zu können? Die Physik scheint diese Frage noch nicht vollständig beantworten zu können (und wird möglicherweise niemals dazu imstande sein), hat aber, so unwahrscheinlich es auch erscheint, einen wichtigen Teil dieser Antwort. Die Fluktuation, die zur Entstehung des Universums führte, war insofern eine Besonderheit, als sie die Bedingung einer hohen potenziellen Energie in einem Quantenfeld bestimmter Art (einer Form des Higgs-Feldes) schuf. Sie können es sich so ähnlich vorstellen wie den armen Pottwal (in Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis),
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der spontan (und zufällig) durch den Unendlichen Unwahrscheinlichkeitsdrive erzeugt wird. Leider wird der Wal nicht in einem warmen Meer hervorgebracht, sondern in einer gewissen Höhe (und damit mit einer gewissen potenziellen Energie) über der Oberfläche des Planeten Magrathea. Als der Wal anfängt, über den Sinn seines Daseins nachzugrübeln und ihn zu erahnen beginnt, verwandelt sich seine potenzielle Energie rasch in kinetische Energie, und das Ganze endet, wie es enden muss: mit «einem plötzlichen und sehr feuchten Aufprall». Als das Inflatonfeld seine potenzielle Energie aufgab, wurde sie in eine unglaublich starke und abstoßende Form von Gravitation verwandelt, mit dem Erfolg, dass jeder. Teil des Raums von jedem anderen Teil fortgedrängt wurde. Dadurch verdoppelte das Universum seine Größe jede millionstel milliardstel milliardstel milliardstel Sekunde. Verdoppelung klingt recht bescheiden: Wenn wir an Alltagsobjekte denken, die ihre Größe verdoppeln, scheint das keine große Affäre zu sein – wir müssen unsere Vorstellungskraft nicht besonders anstrengen. Einen besseren Eindruck von der Leistungsfähigkeit der Verdoppelung erhalten Sie, wenn Sie an ein Schachbrett denken. Legen Sie zwei Münzen auf das Feld oben links, vier Münzen auf das Feld rechts daneben und acht Münzen auf das anschließende Feld und so fort, bis Sie alle 64 Felder mit Münzen bedeckt haben. Wie hoch ist die Münzsäule auf dem 64. Feld? Höher, als Sie wahrscheinlich vermuten. Sie reicht fast bis zu Alice auf Proxima Centauri. Das Inflatonfeld pumpte so viel Energie in die Inflation des frühen Universums, dass dieses in einem unglaublich kleinen Zeitraum von der Planck-Skala auf die Größe einer kleinen Pampelmuse anwuchs. Diesem Feld verdanken wir eine Menge. Eine relativ kleine Anfangsenergie, die durch das Inflatonfeld außerordentlich verstärkt wird – mehr bedarf es nicht, um einen pampelmusengroßen Feuerball zu erzeugen, der bereits alle Energie des heutigen Universums enthält.
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Während sich die einzelnen Naturkräfte nacheinander zu trennen begannen, setzte das Universum unter dem Einfluss der eigenen Energie, gemäßigt durch die vertrautere Anziehungskraft der Gravitation, seine Expansion fort. Diese Inflationsepisode hatte zur Folge, dass die meisten «Falten» geglättet wurden, sodass wir heute eine im Wesentlichen «flache» Raumzeit haben. Die meisten, aber nicht alle. Der Abdruck der Quantenfluktuationen, die während der Inflationsphase stattfanden, sind heute in der Mikrowellen-Hintergrundstrahlung erstarrt und manifestieren sich als winzige Temperaturschwankungen dieser kosmischen Strahlung in verschiedenen Raumregionen – Schwankungen, die von der Inflationstheorie vorhergesagt und von Raumsonden nachgewiesen werden. Die Übereinstimmung von Theorie und Beobachtung ist wahrhaft erstaunlich. Von den Positionen in ihren Erdumlaufbahnen sind diese Satelliten in der Lage, die Handschrift der Quantenunbestimmtheit im Geburtsvorgang unseres Universums zu erkennen, Schriftzeichen, die vor 13,7 Milliarden Jahren entstanden. Diese jüngsten Triumphe der Inflationstheorie sind der Anwendung der Quantentheorie auf die frühen Stadien des Urknalls zu verdanken. Das ging folgendermaßen vonstatten: Bestimmte Lösungen für die Gravitationsfeldgleichungen der Einstein’schen allgemeinen Relativitätstheorie lassen die Möglichkeit einer Expansion des Universums zu. Unser Universum scheint ein expandierendes Universum zu sein. Daraus folgt, dass unser Universum irgendwann in der Vergangenheit heiß und dicht war und ungefähr die Größe eines Quantenobjekts hatte, daher übernahmen die theoretischen Physiker Konzepte aus dem (quantentheoretischen) Standardmodell der Teilchenphysik. Die Ergebnisse waren außerordentlich faszinierend. Allerdings verdanken wir diese Ergebnisse nicht einer vollständig ausgearbeiteten Theorie der Quantengravitation oder der Weltfor-
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
mel. Der Umgang mit diesem Flickenteppich aus unverträglichen Theorien ist im Laufe der Zeit immer frustrierender geworden. Es ist an der Zeit, den Stier bei den Hörnern zu packen. Es gibt zahlreiche verschiedene Ansätze zu einer Theorie der Quantengravitation. Der Versuch, die Regeln der Energiequantelung auf die allgemeine Relativitätstheorie anzuwenden (ein Ansatz, den Einstein immer für «kindisch» hielt), führt, wie erwähnt, sofort zum Konflikt. Doch der Konflikt ist in seiner Wirkung vielleicht tiefer und grundsätzlicher als der Einfluss der quantenmechanischen «Körnigkeit», Unschärfe und Unbestimmtheit auf die ruhige Teichoberfläche der allgemeinen Relativitätstheorie. Es gibt mindestens zwei Konfrontationsfelder. Das erste ergibt sich aus dem Thema des letzten Kapitels – Quantenmessung und das eigenartige Konzept, das man Kollaps der Wellenfunktion nennt. Das zweite Konfrontationsfeld ist der Status der Zeit. Wie Newtons klassische Physik verlangt die Quantentheorie auf Skalen, die größer als die Planck-Zeit sind, eine eindeutig bestimmte Zeit, in der die Quantenereignisse stattfinden können. Die allgemeine Relativitätstheorie bestreitet diese eindeutig definierte Zeit. Das erste Konfliktfeld ist rasch zusammengefasst. Wenn Quantenzustände nicht eindeutig bestimmt sind, bevor die Quantenobjekte in eine Wechselwirkung wie etwa einen Messvorgang verwickelt werden, wie soll dann der Quantenzustand des Universums bestimmt werden? Wie die Quantentheorie eine eindeutige Zeit verlangt, so verlangt sie auch etwas «Externes», mit dem sie wechselwirken kann. Doch wenn alles, was ist, im Universum ist, kann es nichts außerhalb des Universums geben, mit dem es wechselwirken könnte. Außerhalb des Universums existiert nichts, was dessen Wellenfunktion zum Kollaps bringen könnte. Wenn wir nicht theologisch werden wollen, gibt es keinen «Beobachter» außerhalb des Universums, der das Universum real werden lassen könnte. Daher gelangten die Quantenkosmologen zu der Überzeugung,
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Kapitel zwölf – Wirklichkeit in Schleifen und Strings
ihnen bleibe keine andere Möglichkeit, als sich an die Viele-WeltenInterpretation der Quantentheorie zu halten, denn die braucht keine externe Instanz, um die Wellenfunktion zum Kollaps zu bringen. Fairerweise ist anzumerken, dass es sich um eine modifizierte Form der Viele-Welten-Interpretation handelt, die einen Großteil der inhärenten Schizophrenie vermeidet. Statt die existierenden Spielarten von mir, Ihnen und dem Rest der Welt ins Unermessliche zu vervielfältigen, arbeitet man die Interpretation in eine von vielen dekohärenten «Geschichten» um, die alle eine unterschiedliche Wahrscheinlichkeit haben. Nun löst diese Interpretation zwar einige Probleme, die mit der Viele-Welten-Deutung verknüpft sind, wirft aber ihrerseits wieder neue Probleme auf. Nach dieser Interpretation kann es keine «korrekte» Geschichte geben, die sich aus irgendeinem Naturgesetz ergibt. Die Theorie ist gezwungen, alle Geschichten, die möglich sind, als gleich real zu behandeln. Wörtlich genommen folgt aus der Interpretation, dass wir heute aus dem Vorhandensein von Fossilien nicht auf die Existenz von Dinosauriern vor hundert Millionen Jahren schließen können. Welche der verschiedenen Geschichten wir wählen, hängt von den Fragen ab, die wir stellen wollen. Das bringt uns in eine beträchtliche Kontextabhängigkeit, in der unsere Fähigkeit, der Theorie einen Sinn abzugewinnen, davon abhängt, dass wir die «richtigen» Fragen stellen. Wie der Supercomputer Deep Thought in dem Buch Per Anhalter durch die Galaxis, der gebaut wurde, um die letzten Fragen zum «Leben, dem Universum und dem ganzen Rest» zu beantworten, erhalten wir die Antwort, können aber nur etwas mit ihr anfangen, wenn wir die Frage genauer spezifizieren. Jetzt kommen wir zum Problem der Zeit. Wie sich herausstellte, war die Quantelung der Gravitation nur möglich, wenn man zunächst die Struktur der Raumzeit auflöste, die von Einstein und Minkowski so sorgfältig konstruiert worden war. Die berüchtigte
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Wheeler-deWitt-Gleichung, die Ende der sechziger Jahre entwickelt wurde, war eine Gleichung mit nur drei räumlichen Dimensionen. Die Zeit verschwand einfach aus dieser Gleichung. Verschiedene Lösungen der Gleichung lassen sich als verschiedene Konfigurationen des Universums zu verschiedenen Zeitpunkten vorstellen. Nach diesem Verfahren, das auch unter der Bezeichnung kanonische Quantengravitation bekannt ist, erscheint die Zeit als eine Illusion, die Erscheinung der Zeit als das Ergebnis eines Möbelrückens im Universum – ein bisschen so, als hätte man die Liegestühle auf der Titanic umgeräumt. Die Zeit ist zur emergenten Eigenschaft eines räumlichen Universums geworden. In einer Spielart dieses Ansatzes, der Schleifen-Quantengravitation, resultieren Raum und Zeit daraus, dass fundamentale Quanten oder «Atome» des Raums miteinander verflochten werden. Nach dieser Theorie werden die quantengeometrischen Objekte als «Schleifen» begriffen, welche die Lösungen der Gleichungen der Quantengravitation darstellen. In der Theorie geht es nur um Schleifen und darum, wie sie «verwunden, verschlungen und verbunden» sind. Der Raum entsteht dadurch, dass diese Schleifen zu einer Art Gewebe zusammengefügt werden. Die Schleifen selbst sind keine Schleifen im Raum (oder in der Zeit), sondern Vorläufer des Raums, fundamentale Einheiten der Fläche und des Volumens – die kleinsten das Quadrat oder der Kubus der Planck-Länge. Sie können sich diese Einheiten als kosmische Legosteine vorstellen. Jede Fläche und jedes Raumvolumen besteht aus einer ganzen Zahl von Legosteinen. Raum ist die Beziehung zwischen Schleifen. Die Zeit ist die Beziehung zwischen verschiedenen Konfigurationen des Universums, verschiedenen Anordnungen der Legosteine. Wir könnten sogar sagen, dass die Zeit das Ergebnis unserer Wahrnehmung von Veränderung in einem räumlichen Universum ist. Kant wäre beeindruckt gewesen.
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Doch es gibt mehr als eine Möglichkeit, Schrödingers Katze das Fell über die Ohren zu ziehen. Wir können die fundamentale Unverträglichkeit zwischen Quantentheorie und allgemeiner Relativitätstheorie noch auf eine andere Weise betrachten. Dabei orientieren wir uns an der Art und Weise, wie das Standardmodell die Teilchen behandelt. Selbst wenn wir uns die Leptonen und Quarks – die fundamentalen Teilchen des Standardmodells – als quantenphysikalische Wellenteilchen vorstellen, treten sie in den quantentheoretischen Gleichungen als Punktteilchen auf, deren gesamte Masse in einem dimensionslosen Punkt konzentriert ist. Wenn Sie nun meinen, dass nichts mit solcher Sicherheit zu Problemen in der Mathematik führen müsste wie infinitesimal kleine Punktteilchen, dann haben Sie völlig recht. Die Methode zur «Umgehung» des Punktteilchen-Problems besteht jedoch nicht darin, den Teilchen einfach irgendwelche Dimensionen zu verleihen. Vielmehr begreift man die Teilchen als das Ergebnis verschiedener möglicher Schwingungsmuster in fundamentalen eindimensionalen Energiefäden, die man als Strings (Saiten) bezeichnet. Das würde bedeuten, dass es nichts besonders Fundamentales an den fundamentalen Teilchen gibt. Sie sind einfach die energieärmsten Schwingungsmuster, die einige wenige Elemente einer potenziell riesigen Menge konstituieren. Überflüssig zu erwähnen, dass wir diese Strings nie sehen können. Falls sie überhaupt existieren, dann vermutlich nur auf der Planck-Skala. Die Strings haben Längen in der Größenordnung der Planck-Länge (davon gleich mehr). Die Stringtheorie wäre vielleicht nie mehr als eine interessante Fußnote zur modernen Physik geworden, wäre da nicht eine einfache Tatsache. Die Familie der im Standardmodell enthaltenen fundamentalen Teilchen als verschiedene Arten von Schwingungsmustern auf diesen Strings aufzufassen wäre einfach ein neues Verfahren zu ihrer Katalogisierung und insofern ziemlich unwichtig gewesen. Doch die Stringtheorie lässt hoffen, dass sie eines Tages die Masse der Teilchen aus diesen Schwingungsmustern vorhersagen kann, etwas,
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wozu das Standardmodell nicht in der Lage ist. Vor allem aber sagt die Stringtheorie ein Teilchen mit Eigenschaften voraus, die für das Graviton charakteristisch sind, dem vermeintlichen Träger der Gravitationskraft. Als diese Entdeckung gemacht wurde, hatte sie die Bedeutung einer Offenbarung. Die Fähigkeit, die Klassifizierung der bekannten fundamentalen Teilchen in ihre Familien zu reproduzieren, war eine Sache, aber die Gravitation in dieses Bild zu integrieren, war etwas ganz anderes. Plötzlich war die Stringtheorie eine Theorie der Quantengravitation und eine potenzielle Weltformel. Doch in der Physik gibt es, wie im Leben, nichts umsonst. Die Stringtheorie verlangt nicht nur drei Dimensionen des Raums und eine der Zeit. Sie setzt darüber hinaus noch weitere sechs räumliche Dimensionen voraus, die so eng aufgewickelt sind, dass wir sie nicht sehen können; trotzdem sind sie in der Lage, einen starken Einfluss auf die Schwingungsmuster des Strings und damit auf die Eigenschaften der fundamentalen Teilchen auszuüben. Etwas beunruhigend war allerdings der Umstand, dass man nicht nur eine Spielart der Stringtheorie fand, sondern deren fünf, die alle die sechs Extradimensionen verlangten, aber ansonsten die Strings alle ganz unterschiedlich behandelten. Doch hier gibt es wenigstens teilweise ein Happy End. Die fünf Varianten der Stringtheorie sind kürzlich zu einer einzigen übergreifenden Version, der M-Theorie, zusammengefasst worden, die sieben räumliche Zusatzdimensionen braucht. Diese siebte Dimension ist in den vorangegangenen Versionen der Theorie übersehen worden, weil sie viel kleiner als die übrigen Extradimensionen ist. Was das M in der M-Theorie bedeutet, ist bislang noch nicht geklärt. Weiter hat sich gezeigt, dass die M-Theorie nicht einfach eine Theorie eindimensionaler Strings in einer elfdimensionalen Raumzeit ist. Sie umfasst auch höherdimensionale Objekte, die Membranen. Zweidimensionale Membranen bezeichnet man als Zwei-
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Branen, dreidimensionale als Drei-Branen und so fort. Das mögliche Vorhandensein von Drei-Branen hat zu einer faszinierenden neuen Betrachtungsweise unseres Universums geführt. Die Strings selbst können zwei Formen annehmen. Bei offenen Strings schwingen die Enden frei umher. Bei geschlossenen Strings sind die Enden miteinander verbunden, sodass sich eine geschlossene Schleife ergibt. Offene Strings haben Eigenschaften, die sie veranlassen, an einer Membran zu «kleben». Sie können sich ziemlich frei überall auf der Membran umherbewegen, aber sie können sie nicht verlassen. Geschlossene Strings sind weniger eingeschränkt, sie können sich beliebig bewegen. Die Teilchen des Standardmodells, die für die Kraftübertragung verantwortlich sind – Photonen, intermediäre Vektorbosonen und Gluonen –, werden in der M-Theorie alle durch offene Strings beschrieben. Betrachten wir also das erwähnte Szenario: Wenn unser Universum eine gigantische Drei-Bran ist, dann sind alle Teilchen, die für die Übermittlung der starken Kernkraft und der elektroschwachen Kraft zuständig sind, darauf festgelegt, sich nur in diesen drei Dimensionen zu bewegen. Vor allem ist aber für unsere Wahrnehmungen von Bedeutung, dass das Licht selbst nur die drei Dimensionen der Drei-Bran erkunden kann. Die anderen sieben räumlichen Dimensionen der M-Theorie sind nach diesem Szenario nicht unbedingt deshalb verborgen, weil sie klein sind, sondern weil die für die Kraftübermittlung verantwortlichen Teilchen (wofür wir «Information» einsetzen können) sie nicht erkunden können. Soweit wir wissen, sind wir von diesen Extradimensionen umgeben, doch wir können sie einfach nicht sehen.11 11 Natürlich kann es andere Drei-Branen
die unser Universum konstituiert. Auch
geben, die andere Dimensionen haben.
die M-Theorie hat ihre spukhaften
Daher existieren möglicherweise ande-
Elemente.
re Universen neben der Drei-Bran,
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Es gibt eine interessante Ausnahme. Gravitonen werden in der M-Theorie durch geschlossene Schleifen beschrieben. Wenn es diese Teilchen gibt, können sie alle elf Dimensionen erkunden. Das eröffnet die Möglichkeit, dass wir eines Tages Belege für alle Extradimensionen finden könnten, indem wir die Gravitation sorgfältig untersuchen. Gegenwärtig haben alle Experimente Newtons quadratisches Abstandsgesetz der Gravitation bis zu Abständen von einem zehntel Millimeter betätigt. Daraus können wir also schließen, dass die von der M-Theorie vorhergesagten Extradimensionen, sollte ihre Existenz eines Tages bestätigt werden, nicht größer als ein zehntel Millimeter sein können. Das ist sicherlich klein, aber immer noch um viele Größenordnungen länger als die Planck-Skala. In seinem Buch Der Stoß aus dem der Kosmos ist schrieb Brian Greene:
Nur die Gravitation kann Aufschluss über das Wesen der Zusatzdimensionen geben. Bis heute könnten die Extradimensionen so dick wie ein menschliches Haar und trotzdem selbst für unsere empfindlichsten Instrumente vollkommen unsichtbar sein. Die M-Theorie gilt heute als aussichtsreichster Kandidat für eine Quantentheorie der Gravitation und die Weltformel. Trotzdem bleiben noch viele Probleme. Zum einen setzt die M-Theorie, anders als die Schleifen-Quantengravitation, die Präexistenz von Raum und Zeit voraus. Die Strings müssen Strings im Raum sein. Sie müssen in der Zeit schwingen. Man spricht von einer «Hintergrund-Abhängigkeit» der Theorie: Sie nimmt an, dass Raum und Zeit bereits den Hintergrund bilden und nicht als eine fundamentale Eigenschaft der Strings selbst entstehen. Wie gesehen, gilt die Schleifen-Quantengravitation als hintergrundunabhängig. Raum und Zeit entstehen, wenn die quantengeometrischen Objekte zusammengefügt werden. Die Theoretiker selbst jedoch ficht das nicht an. Sie rechnen zuversichtlich damit,
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dass diese Theorien irgendwann alle in einer einzigen, gänzlich hintergrundunabhängigen Theorie zusammenkommen werden. Und was bedeutet das alles für uns? Erinnern wir uns, dass wir der Philosophen überdrüssig wurden und uns der Naturwissenschaft zuwandten, um Antworten auf unsere Fragen nach der Wirklichkeit von Materie und Licht, Raum und Zeit zu erhalten. Was haben wir bekommen? Wir haben Wellenschatten und Teilchenschatten. Wir haben spukhafte Fernwirkung zwischen verschränkten Quantenobjekten. Wir haben Raum, der aus hypothetischen Schleifen in einem Universum ohne Zeit geflochten wird. Wir haben hypothetische schwingende Strings in einer elfdimensionalen Raumzeit. Wir haben ein Universum, das eine dreidimensionale Membran mit sieben Extradimensionen ist, die in einem Ihrer Haare versteckt sein könnten. Einige dieser Dinge sind Experimental- oder Beobachtungsdaten. Andere sind theoretische Spekulationen. Also, was ist wirklich? Wir müssen zugeben, dass wir es nicht wissen. Wir haben den Boden des Kaninchenbaus erreicht. Trotzdem scheint uns nichts anderes übrig zu bleiben, als dem weißen Kaninchen zu folgen:
Der Aufprall hatte Alice überhaupt nichts ausgemacht, und sie war sogleich wieder auf den Beinen; sie sah hinauf, aber droben war alles dunkel, dafür führte auch von hier wieder ein gerader Gang weiter, und auch das Weiße Kaninchen war wieder zu sehen; gerade eilte es durch den Gang davon. Nun kam es auf jeden Augenblick an! Wie der Wind war Alice hinter ihm her und hörte es, bevor es um die Ecke bog, eben noch sagen: «Ohren und Bommelschwanz, so spät schon!»
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Epilog
Die hartnäckige Illusion Wirklichkeit ist bloß eine Illusion, wenn auch eine sehr hartnäckige. ALBERT EINSTEIN
Wirklichkeit ist das, was nicht verschwindet, wenn du aufhörst, daran zu glauben. PHILIP K. DICK
Wir sind an einen Punkt gelangt, an dem wir uns vergegenwärtigen sollten, wo wir angefangen haben. Ausgegangen sind wir von einigen Alltagsannahmen, die uns mitteilen sollten, wie Wirklichkeit zu sein habe. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass die Wirklichkeit unabhängig sein müsse von uns und unserer Fähigkeit, sie zu erfassen und Theorien über sie zu bilden. Ferner meinten wir, die Wirklichkeit müsse logisch schlüssig und in Einklang mit den Naturgesetzen sein, denen das Konzept von Ursache und Wirkung zugrunde liege. Es erschien vernünftig, den Erfolg der Naturwissenschaft der einfachen Tatsache zuzuschreiben, dass die Verbesserung unserer wissenschaftlichen Theorien uns immer näher an die Wahrheit der Wirklichkeit, wie sie wirklich ist, heranführe. Schließlich kam noch ein Aspekt des Vertrauens hinzu. Wir akzeptierten, dass die Wirklichkeit aus Dingen besteht, die wir nicht sehen können, etwa Molekülen und Atomen, aber wir akzeptierten auch, dass diese unbeobachtbaren Objekte tatsächlich existieren und reale Effekte haben.
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Nun müssen wir eine Einstellung zu der Tatsache finden, dass es nirgendwo in der Geschichte des menschlichen Denkens einen unwiderleglichen Beweis für diese Alltagswirklichkeit gibt. Es existiert einfach nichts, worauf wir zeigen, unseren Hut daran hängen und sagen könnten: Das ist wirklich. Wir haben angefangen mit dem Versuch, den Sinn der Alltagswirklichkeit unserer gesellschaftlichen Existenz zu erfassen. Wir machten uns die Mühe, die Hyperrealität der modernen Konsumgesellschaft genauer unter die Lupe zu nehmen, um hinter den Schleier aus Luxusgütern, Mega-Marken und Reklame zu schauen. Laut Baudrillard beruht die wahrgenommene Realität der Existenz in der Gesellschaft auf Modellen oder Landkarten, nicht auf der wirklichen Welt selbst. Wir beschäftigten uns mit Baudrillards postmoderner Kritik an den Institutionen, welche die Grundlage der Gesellschaft selbst bilden – Institutionen wie Geld, Ehe, Politik und Krieg. Dann wandten wir uns John Searles Theorie der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu, die sich auf drei grundlegende Bausteine gründet: die Verwendung materieller Objekte zur Erfüllung sozialer Funktionen, ein System von Regeln, die gesellschaftliche oder institutionelle Fakten konstituieren, und die kollektive Intentionalität, die erst die Verwendung materieller Objekte, die Regeln und Fakten ermöglicht. Searles Theorie erhellt die Bedeutung gesellschaftlicher Strukturen, und wir gelangten zu dem Schluss, dass diese Strukturen unserem Geist von frühester Kindheit an eingeprägt werden. Ermöglicht wird die gesellschaftliche Wirklichkeit durch die Ähnlichkeit dieser geistigen Eindrücke. In meinem Geist befindet sich die gesellschaftliche Wirklichkeit, mit der zu interagieren ich gelernt habe. Meine Wirklichkeit ist nicht Ihre Wirklichkeit. Doch diese Wirklichkeiten besitzen viele gemeinsame Merkmale, unter anderem, dass wir unsere separaten Wirklichkeiten als eine einzige wahrnehmen.
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Epilog – Die hartnäckige Illusion
Daher ist es wenig überraschend, dass gesellschaftliche Wirklichkeit nicht möglich ist ohne fühlende und denkende Menschen. Wir beschäftigten uns folglich mit unserer Wahrnehmung der materiellen Welt. Wir lernten die ewige Dichotomie zwischen Erfahrung und Vernunft kennen. Die Erfahrung sagt uns, dass alles im Fluss ist. Die Vernunft teilt uns mit, dass Veränderung eine Illusion ist. Vielleicht ist das, was wir erfahren, real genug, aber es ist nur eine schattenhafte Projektion der wahren Idee der Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die wir nie wahrnehmen können, weil wir im Kerker unserer Sinne in Ketten liegen. Vielleicht leben wir ja in Descartes’ Traumwelt. Wenn wir nur unseren Sinnen trauen, dann sagt uns die Vernunft, dass unsere Wahrnehmungen der Farben, Geschmäcke, Gerüche, Tasterlebnisse und Geräusche von unserem Geist erschaffen werden und daher nicht als real anzusehen sind. Berkeley stellte die Unterscheidung zwischen solchen sekundären Qualitäten und den primären Qualitäten der Objekte in Frage und erklärte die Wahrnehmung zur Wirklichkeit. Mit dem Fortfall dieses Unterschieds mussten wir zugeben, dass unsere Wahrnehmungen einer Vielzahl verschiedenster Quellen zu verdanken sein könnten – etwa Gott, einem bösen Wissenschaftler, einer aggressiven Maschinenintelligenz, dem Bedienungspersonal von Erfahrungsmaschinen, einer Pharmadiktatur, dem Regisseur einer raffinierten Realityshow, der Ahnen-Simulation einer posthumanen Zivilisation. Natürlich könnten unsere Wahrnehmungen auch noch immer aus der Wirklichkeit abgeleitet sein. Wenn Wahrnehmung und Erfahrung wirklich alles sei, wovon wir ausgehen könnten, dann, so meinte Hume, müssten wir auch die Grundlage unseres Verständnisses für Ursache und Wirkung in Zweifel ziehen. Kant gelangte zu dem Schluss, dass Raum und Zeit lediglich Anschauungen seien. Der Raum wird zu dem Mittel, durch das der Geist verhindert, dass sich alles am selben Ort befindet, die Zeit zu dem Mittel, durch das der Geist verhindert, dass alles gleich-
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zeitig geschieht. Ohne den Geist hören nach dieser Auffassung Raum, Zeit und Kausalität auf zu existieren. Danach müsste es eigentlich eine klare Grenze zwischen Geist und Welt geben. Die Welt wird zum Produkt unserer geistigen Fähigkeiten und Anschauungen. Es gibt jedoch Indizien dafür, dass der Geist in hohem Maße ein Produkt der Welt um uns herum ist. Unser geistiger Hintergrund hat sich aus all den Erfahrungen gebildet, die wir jemals gemacht haben, all den Dingen, die man uns erzählt und von denen wir gelesen haben. Die Richtung unserer Wahrnehmungserfahrung scheint eindeutig «von außen nach innen» zu verlaufen, von der Welt zum Geist, und wir erkennen, dass der Geist nicht ohne die Welt arbeiten kann. Dass der Geist ein Produkt der Welt ist, hilft in mancherlei Hinsicht, sagt aber nichts über die Beziehung zwischen dem Produkt – unseren Wahrnehmungen und Erfahrungen – und der Wirklichkeit aus, die für dieses Produkt verantwortlich sein könnte (oder auch nicht). Sie bietet keinen Schutz vor Descartes’ Dämon oder Kants Anschauung. Schließlich wandten wir uns auf der Suche nach brauchbaren Antworten der Naturwissenschaft zu. Doch die wissenschaftlichen Antworten zeichneten sich durch eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den philosophischen Antworten aus. Der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie entnahmen wir, dass wir auf ewig Gefangene in Piatons Höhle bleiben werden, allenfalls in der Lage, die schattenhaften wellenartigen oder teilchenartigen Projektionen einer Wirklichkeit zu erkennen, die es vielleicht jenseits unserer Wahrnehmungsfähigkeit gibt. Wie Kants Noumena liegt die physikalische Wirklichkeit einfach außerhalb unserer Wahrnehmung. Unsere Messungen offenbaren nicht die Wirklichkeit selbst, sondern die Wirklichkeit, die sich unserer Fragemethode darbietet. Die Quantentheorie zeigt uns eine spukhafte Fernwirkung zwischen verschränkten Quantenobjekten, die wir noch nicht einmal ansatzweise verstehen. Neuere Theorien der Quantengravitation und Kandidaten für
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Epilog – Die hartnäckige Illusion
die Weltformel helfen uns nicht wirklich weiter. Sie berichten von einem Raum, der möglicherweise in einem Universum ohne Zeit aus quantengeometrischen Objekten konstruiert wird. Wir hören von schwingenden Energiefäden in einer elfdimensionalen Raumzeit. Gespannt erwarten wir das Ende dieser Geschichten, aber wohl eher, weil von solchen Geschichten immer neue Einsichten über die Beschaffenheit unseres Universums zu erwarten sind, und weniger, weil wir erwarten, dass dadurch unsere Fragen nach der fundamentalen Wirklichkeit von Materie, Licht, Raum und Zeit endgültige Antworten fänden. Naturwissenschaftler hören es in der Regel nicht sehr gern, wenn man sie der Philosophie bezichtigt. Ende des 20. Jahrhunderts zeichneten sich die jungen theoretischen Physiker dadurch aus, dass sie von der Unfehlbarkeit der Naturwissenschaften überzeugt waren und fest daran glaubten, dass die Lösung – die einzige wahre Theorie von allem, die Weltformel – nur noch wenige Schritte entfernt sei. In ihren späteren Jahren haben Theoretiker wie Stephen Hawking eine etwas bescheidenere Haltung angenommen, denn die Lösung blieb hartnäckig ein paar Schritte entfernt und gerade außer Reichweite. Damit soll nicht gesagt sein, dass junge Theoretiker unrecht haben, schließlich werden bahnbrechende Entdeckungen häufig in einem Umfeld bedingungsloser Gewissheit und vor dem Hintergrund einer mitleidigen Herablassung für alles Bisherige gemacht (Ich mag mich irren, um McLuhan zu zitieren, bin aber nie im Zweifel). Doch wir müssen uns jetzt fragen, ob wir von der Naturwissenschaft wirklich Antworten auf prinzipiell philosophische Fragen erwarten dürfen. Warum sage ich das? Schließlich betreffen alle Äußerungen der Physiker – egal, ob in Forschungsberichten oder populärwissenschaftlichen Büchern – die fundamentale Beschaffenheit der physikalischen oder materiellen Wirklichkeit. Jedenfalls behaupten sie das. Was diesen Erklärungen häufig fehlt, ist die Offenlegung ihrer phi-
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losophischen Position. Ihren Worten liegt nämlich stillschweigend die Annahme ebenjener Art von unabhängiger Wirklichkeit zugrunde, nach der wir vergeblich gesucht haben. Da die Naturwissenschaft stets von der Annahme dieser Wirklichkeit ausgeht, ist es vielleicht kein Wunder, dass sie bisher nicht in der Lage war, ihre Existenz zu beweisen. Ich möchte erklären, was ich meine, indem ich drei verschiedene philosophische Positionen beschreibe und erläutere, was sie über die Wirklichkeit zu sagen haben. Es handelt sich um den Empirismus, den sozialen Konstruktivismus und den wissenschaftlichen Realismus. Die Wahl der Position entscheidet darüber, was wir aus den Fortschritten in unserem Verständnis der gesellschaftlichen und materiellen Wirklichkeit machen. Doch geben wir uns keinem Irrtum hin: Keine Wahl zu treffen heißt, durch Unterlassung zu wählen. Was zu glauben wir uns entscheiden, setzt die Wahl einer philosophischen Position voraus. Wenn wir nicht zunächst eine solche Wahl treffen, müssen wir uns auf Annahmen, Intuitionen, ein beeinträchtigtes Wirklichkeitsbild verlassen. Beginnen wir mit dem Empirismus. Wie wir uns erinnern, war David Hume ein nüchterner Skeptiker. Soweit es ihn betrifft, sind unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen alles, was wir jemals erkennen können. Daher ist die Spekulation über Dinge, die wir nicht erkennen können, eine vollkommen nutzlose Übung. In seiner 1748 veröffentlichten Schrift Untersuchung über den menschlichen Verstand schrieb Hume:
Sehen wir von diesen Grundsätzen aus die Bibliotheken durch – welche Verwüstung müssten wir darin anrichten! Nehmen wir irgendeinen Band in die Hand, beispielsweise aus dem Gebiete der Gottesgelehrtheit oder Schulmetaphysik, so brauchten wir nur zu fragen: Enthält er irgendein abstraktes Urteil über Größe oder Zahl? Nein. Enthält er ein erfahrungsmäßiges Urteil über
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Epilog – Die hartnäckige Illusion
eine Tatsache und Existenz? Nein. – Dann ins Feuer damit: denn er kann nichts anderes enthalten als Spitzfindigkeiten und Täuschung. Humes Schrift richtete sich vor allem gegen die organisierte Religion, doch seine Werke sind die Quelle der Vorstellung, dass von der Metaphysik keine Erkenntnis zu gewinnen sei. Von dort ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Schlussfolgerung, dass die Naturwissenschaft die einzige sichere Form der Erkenntnis sei und dass die Naturwissenschaft daher von allen metaphysischen Elementen «gereinigt» werden müsse. Das hat durchaus Ähnlichkeit mit dem Bestreben, die aristotelische Philosophie von allen heidnischen Elementen zu befreien, um sie zu einer akzeptablen Grundlage der katholischen Theologie zu machen. Dieser Weg führte zu einer philosophischen Position, die als Positivismus bezeichnet wird. Nach positivistischer Tradition befasst sich ernsthafte naturwissenschaftliche Forschung nicht mit der Suche nach letzten Ursachen, die außerhalb des wissenschaftlichen Bezugssystems liegen könnten (wie Wirklichkeit oder Gott). Das sind Fragen, welche die Naturwissenschaft ganz offensichtlich nicht beantworten kann. Die Naturwissenschaft muss sich vielmehr damit begnügen, Beziehungen zwischen Fakten zu untersuchen, die dem Experiment oder der Beobachtung unmittelbar zugänglich sind. Die Naturwissenschaft muss sich mit empirischen Fakten befassen und nicht mit nutzloser Metaphysik, mit Sophisterei und Illusionen. Ein früher Anhänger dieser Ansicht war der österreichische Physiker Ernst Mach im 19. Jahrhundert. Für Mach bestand die Aufgabe der Naturwissenschaft darin, eine möglichst sparsame Form für die Zusammenfassung von Erfahrung zu finden. Danach geht es in der Wissenschaft darum, Erfahrungen zu katalogisieren und Beziehungen zwischen ihnen zu entdecken – ein Vorgang, der ein bisschen an das Sammeln und Katalogisieren von Briefmarken erinnert. Wissen-
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schaftliche Gesetze sind exakt solche sparsamen Zusammenfassungen und haben keine andere Funktion, als die Ergebnisse einer Art von Beobachtungen zu denen einer anderen Art in Beziehung zu setzen. Der Versuch, eine Wirklichkeit jenseits unserer unmittelbaren Sinneserfahrung zu beschreiben, ist einfach zwecklos. Stattdessen sollte sich unser Urteil an unserer Fähigkeit orientieren, die Vorhersagen einer wissenschaftlichen Theorie zu verifizieren (stimmt die Theorie mit unseren Versuchsergebnissen oder Beobachtungen überein?) und nach der Einfachheit der Theorie zu fragen (ist es die einfachste Theorie, die mit unseren Versuchsergebnissen oder Beobachtungen übereinstimmt?). Die positivistische Lehre ist utilitaristisch. Etwas vereinfacht lässt sie sich als die Maxime «Sehen ist glauben» beschreiben. Wenn wir es nicht mit unseren eigenen Sinnen wahrnehmen (wenn wir es nicht direkt erfahren) können, haben wir keinen Grund, es zu glauben. Wenn sich unsere Theorien auf Konzepte oder Objekte berufen, die selbst nicht direkt beobachtbar (und daher empirisch nicht verifizierbar) sind, haben wir nicht den geringsten Anlass, an die Existenz dieser Konzepte oder Objekte zu glauben. Dieses kompromisslose Bestreben, alle Metaphysik aus dem wissenschaftlichen Denken zu eliminieren, veranlasste Mach, die Begriffe des absoluten Raums und der absoluten Zeit abzulehnen und auch die Realität der Atome zu bestreiten.1 Wendete man heute diesen Grundsatz an, müsste man wohl als bedeutungslos alles ablehnen, was über fundamentale Teilchen wie Leptonen und Quarks, quantengeometrische Objekte, Strings und die elfdimensionale Raumzeit gesagt wurde. 1 Bedenken Sie, dass Mach die Realität der Atome zu einem Zeitpunkt bestritt, als Atome rein hypothetische Objekte waren. Heute haben wir weit mehr Anhaltspunkte für die Existenz von Atomen.
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Epilog – Die hartnäckige Illusion
Machs Ansichten hatten enormen Einfluss auf die Entwicklung einer neuen Denkschule, die Anfang der zwanziger Jahre unter Führung des österreichischen Philosophen Moritz Schlick bei wissenschaftlich ausgerichteten Philosophen in Wien entstand. Der sogenannte Wiener Kreis vertiefte seinen positivistischen Ansatz durch die Verwendung der mathematischen Logik. Die Grundlagen dieser Philosophie, gelegentlich auch als logischer Positivismus bezeichnet, waren logische Analyse, die strikte Anwendung des Kriteriums der Verifizierbarkeit und eine unerbittliche Haltung gegenüber der Metaphysik. Wissenschaftliche Theorien wurden zu Instrumenten, um Verbindungen zwischen Beobachtungen oder Versuchsergebnissen auf möglichst sparsame Weise herzustellen. Die Wirklichkeit wurde zu einer rein empirischen Wirklichkeit – manifest in Wirkungen, die wir direkt wahrnehmen, erfahren und damit verifizieren können –, wobei jeder Versuch, darüber hinaus zu einer Art unabhängiger Wirklichkeit vorzudringen, als sinnlos und unwissenschaftlich verworfen wurde. Hier erwartet uns unsere erste Entscheidung. Wir können die Wirklichkeit als rein empirisch deuten und auf jeden Versuch verzichten, jenseits dieser Grenze zu forschen. Was wir sehen, ist im Wesentlichen das, was wir bekommen, und mehr gibt es darüber nicht zu sagen. Wir sehen, dass die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie einen starken positivistischen Einschlag hat, wenn ihre Vertreter verkünden, das, was wir als Wellen- und Teilchenschatten sähen, sei alles, was es gebe, und es sei sinnlos, darüber zu spekulieren, was diese Schatten dazu bringen könnte, so und nicht anders zu erscheinen. Bohr und (insbesondere) Heisenberg waren sich durchaus bewusst, welche Implikationen die Kopenhagener Deutung für die Philosophie hatte. Zwei Jahre lang korrespondierte Schlick mit Heisenberg, um von diesem zu erfahren, welche Konsequenz die Kopenhagener Deutung für die Kausalität und die Erkenntnisphilosophie hat. Bevor Sie eine Entscheidung treffen, sollten Sie das Ende dieser
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Geschichte abwarten. Der logische Positivismus beherrschte die Wissenschaftsphilosophie Mitte des 20. Jahrhunderts, geriet dann aber in Verruf. Es zeigte sich, dass das Kriterium der Verifizierbarkeit äußerst problematisch ist, und es bestand kein Zweifel daran, dass es praktisch unmöglich ist, metaphysische Aussagen aus der Wissenschaft auszuklammern. Sogar reine Beobachtungen oder Experimente brauchten einen theoretischen Rahmen, nicht nur, um Interpretationen zu ermöglichen, sondern auch, um die Beobachtungen oder Experimente überhaupt durchführen zu können. Diese Theorien enthalten oft genau jene Konzepte oder Objekte, welche die Positivisten als bedeutungslos eliminieren wollten. Ohne den Begriff des Elektrons ist es beispielsweise fast unmöglich, Experimente in der Elektrizität zu planen und durchzuführen. Der Wiener Kreis hatte umfangreichen Gebrauch von der mathematischen Struktur der Logik gemacht, doch 1931 wies der österreichische Mathematiker Kurt Gödel nach, dass jedes formale System der Logik die Möglichkeit zulässt, Sätze zu bilden, die sich nicht mit den Regeln oder Axiomen des Systems beweisen lassen. Man nennt solche Sätze formal unentscheidbar. Das ist Gödels berühmter Unvollständigkeitssatz, der zeigte, dass sich die innere logische Widerspruchsfreiheit einer großen Klasse von Systemen, darunter auch die elementare Arithmetik, nicht beweisen lässt. Das Scheitern des logisch-positivistischen Programms führte zu einer nachsichtigeren Haltung gegenüber der Metaphysik, was den Philosophen Alfred J. Ayer, das britische Sprachrohr des Wiener Kreises, zu der Bemerkung veranlasste, man müsse den Metaphysiker nicht mehr als «Verbrecher, sondern als Patienten» behandeln. Trotz aller Misserfolge ist die empiristische Tradition noch sehr lebendig, wenn auch in verwässerter Form. Der moderne Empirismus übernimmt die negative Einstellung zur Metaphysik und leugnet, dass sich wissenschaftliche Theorien zur exakten Repräsentation irgendeiner unabhängigen Wirklichkeit entwickeln. Der Zweck
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Epilog – Die hartnäckige Illusion
der Wissenschaft besteht nach dieser Auffassung vielmehr darin, uns Theorien zu liefern, die empirisch angemessen oder akzeptabel für die Aufgabe sind, Fakten untereinander in Beziehung zu setzen. Wir sollen als wahr anerkennen, was Theorien über Dinge zu sagen haben, die wir selbst sehen können. Doch wir sollen nicht glauben, dass unbeobachtbare Objekte real sind und dass die Theorien selbst in jedem Punkt wahr sind. Stephen Hawking ist bekennender Positivist. Seit die Menschheit die Fähigkeit zur Kommunikation besitzt, erzählt sie sich Geschichten. Viele dieser Geschichten beschäftigen sich mit der Frage, woher wir kommen, wie die Welt um uns herum beschaffen ist und warum wir leben. Einige haben versucht, uns mit dem Bewusstsein unserer Sterblichkeit zu versöhnen. Viele dieser Geschichten sind Mythen geworden und berichten von Sagen. Diese Geschichten sind offenkundig soziokulturelle Konstrukte, die entwickelt wurden, um ein grundlegendes emotionales Bedürfnis des Menschen zu befriedigen, indem sie ein Empfinden von Identität, Zugehörigkeit und Moral weckten und eine Erklärung für den Ursprung und die Bestimmung des Menschen lieferten. Von der Warte unserer westlich-wissenschaftlichen Kultur aus betrachtet, erscheinen uns diese Geschichten meist als Manifestationen eines seltsamen Aberglaubens, der nicht wörtlich zu nehmen ist. So betrachtet, spiegelt sich in den drei lebenspendenden Pflanzen, die aus dem Leib der Tochter der Himmelsfrau sprießen, die Bedeutung wider, welche die Landwirtschaft für die Irokesen im Nordwesten Amerikas hatte, nicht der wirkliche Ursprung der Pflanzen in der Natur. Doch was wäre, wenn die Konzepte und Objekte unserer westlich-wissenschaftlichen Kultur auch nur Teile einer großen gesellschaftlich konstruierten Geschichte wären? Wir könnten versuchen, erhebliches Unbehagen (und wütenden Streit) zu vermeiden, indem wir einräumen, dass eine Geschichte, die von der Genetik und
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
Evolution erzählt, vermutlich eine zuverlässigere Erklärung für den Ursprung der Pflanzen liefert als die Geschichte von der Tochter der Himmelsfrau – was den zusätzlichen Vorteil hätte, dass wir auf diese Weise den Fallen des Kulturrelativismus auswichen. Trotzdem bliebe der Einwand, dass auch unsere theoretischen Beschreibungen, ihre Interpretation und ihre Anerkennung als «die Wahrheit» nur Konventionen sein könnten, die von den verschiedenen Generationen der wissenschaftlichen Gemeinschaft konstruiert wurden. Diese philosophische Position trägt im Allgemeinen die Bezeichnung Sozialer Konstruktivismus. Ein prominenter Vertreter dieser Position war der amerikanische Historiker und Philosoph Thomas Kuhn, der sie in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen darlegte.2 Dort unterscheidet Kuhn zwischen zwei Arten oder Weisen wissenschaftlicher Tätigkeit. Laut Kuhn ist «normale» Wissenschaft das alltägliche Rätsellösen, dem Wissenschaftler im Rahmen jener Konzepte, Beschreibungen, Bedeutungen und Interpretationen nachgehen, welche die herrschende Lehrmeinung darstellen. Es ist der Wissensbestand, der Studenten der betreffenden naturwissenschaftlichen Disziplin vermittelt wird. Man lehrt sie sogar, dieses Wissen – meist fraglos – als die «Wahrheit» zu akzeptieren. Es liegt mir fern, dies als besonders konspirativ oder machiavellistisch hinzustellen. Die Naturwissenschaft erzielt ihre Fortschritte, weil sie auf bereits gelegten Fundamenten aufbaut – weil sie auf den Schultern von Riesen steht. Wissenschaftliche Fortschritte wären nicht möglich, wenn jede Generation von Forschern wieder erfinden oder beweisen müsste, was als Bestand an gesichertem Wissen gilt. Diesen Rahmen nannte Kuhn ein Paradigma. Dabei verwendete 2 Kuhns Buch ist auch bekannt dafür, dass
eines komplexen Arguments, von der
es sich auf viele verschiedene Arten
ich nicht behaupten möchte, dass sie
interpretieren lässt, meist wie es dem
unbedingt der von Kuhn beabsichtigten
Leser in den Kram passt. Im Folgenden
Deutung entspricht (wenn es auch eine
liefere ich eine grobe Vereinfachung
sehr verbreitete Interpretation ist).
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Epilog – Die hartnäckige Illusion
er das Wort in mindestens zwei verschiedenen Bedeutungen. Einer soziologischen: Das Paradigma repräsentiert den gesamten Ansatz der Rätsellösung, die Überzeugungen und Wertsysteme der wissenschaftlichen Gemeinschaft, ihr «Weltbild». Die andere Bedeutung ist exemplarisch: Das Paradigma ist die Beobachtung, das Experiment oder das Modell, das die Regeln und Formen der wissenschaftlichen Rätsellösung in den Grenzen normaler Wissenschaft definiert. Im Gegensatz zur normalen Wissenschaft findet «revolutionäre» Wissenschaft statt, wenn ein wachsender Bestand an Daten immer stärkeren Zweifel an der Richtigkeit des existierenden Paradigmas sät. Das Ergebnis kann eine Krise der Wissenschaft sein, die dazu führt, dass ein Paradigma durch ein anderes ersetzt wird. Das vorhandene Paradigma wird nicht notwendigerweise ersetzt, weil es von den Untersuchungsdaten falsifiziert wurde oder weil das neue Paradigma verifiziert werden konnte. Zum Paradigmenwechsel kann es auch kommen, weil eine ausreichend große Zahl von Mitgliedern der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu der Überzeugung gelangt ist, das neue Paradigma sei sehr viel besser als das alte. Der Prozess ist nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine soziokulturelle Revolution und als solche häufig durch heftigen Streit gekennzeichnet, da die die Gemeinschaft in feindliche Lager zerfällt.3 Kuhn erkannte durchaus Parallelen zu politischen Revolutionen. Er schrieb:
Bei der politischen und wissenschaftlichen Entwicklung ist das Gefühl eines Nichtfunktionierens, das zu einer Krise führen kann, eine Voraussetzung für die Revolution. Darüber hinaus 3 Wenn das geschieht, so Kuhn, verhalten sich die Mitglieder der Gemeinschaft,
unterschiedliche Bedeutungen angenommen. Die Wörter sind inkommensurabel.
als ob sie verschiedene (soziale) Welten
Die Welten haben keine gemeinsamen
bewohnten. Obwohl sie möglicherweise
Maßstäbe mehr, mit denen sie eindeutig
dieselbe Sprache verwenden, haben viele
verglichen werden könnten.
Wörter in diesen verschiedenen Welten
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Teil drei – Physikalische Wirklichkeit oder Sind Photonen wirklich?
gilt diese Parallelität, mag dies auch die Metapher überfordern, nicht nur für die großen Paradigmenwechsel, welche Kopernikus oder Lavoisier zuzuschreiben sind, sondern auch für die viel kleineren, die mit der Assimilierung eines neuen Phänomens... verbunden sind. Wir leben noch immer in den Nachwehen einer der radikalsten wissenschaftlichen Revolutionen – jener Entwicklung, die im Jahr 1900 mit Planck begann und zur Quantentheorie führte. Was ist mit der Wirklichkeit? Laut der sozialkonstruktivistischen Position ist die materielle Wirklichkeit das, was wir jeweils zu dem Zeitpunkt, den wir gerade in der historischen Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens erreicht haben, aus ihr machen. Das sollte nicht so verstanden werden, dass die Wirklichkeit stets das ist, was sie nach unserem Willen sein soll. Unsere wissenschaftlichen Theorien beschreiben Konzepte und Objekte, die so real sind, wie sie nur sein können. Elektronen, Quarks, quantengeometrische Objekte und die elfdimensionale Raumzeit können den gleichen Wirklichkeitscharakter wie Geld, Ehe, Politik oder Krieg besitzen. Das heißt jedoch nicht, dass es keinen Unterschied zwischen gesellschaftlicher und materieller Wirklichkeit gibt. Ein hoher Prozentsatz der Gesellschaft kann die gesellschaftliche Institution der Ehe, der Religion oder die Legitimität einer bestimmten politischen Partei beziehungsweise ihrer Führung ablehnen. Diese Mitglieder der Gesellschaft werden Gründe anführen, die sie für ausreichend halten, um ihre Position zu rechtfertigen: Die Ehe ist ein überholtes Konzept, die Religion nicht in der Lage, sich den Bedürfnissen der Menschen in einer modernen Gesellschaft anzupassen, die politischen Parteien sind durch und durch korrupt und halten das System für einen Selbstbedienungsladen. Doch egal, wie sich die Mitglieder der Gesellschaft in der Frage entscheiden, was sie in Bezug auf die materielle Wirklichkeit glauben
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Epilog – Die hartnäckige Illusion
wollen, bestimmte Aspekte der Wirklichkeit lassen sich nicht so leicht verwerfen. Ich mag vielleicht nicht an die Religion glauben, aber es ist sinnlos, nicht an die Gravitation oder Schwerkraft zu glauben. Verändern können sich die Konzepte, die der materiellen Erscheinung zugrunde liegen und durch welche die Wissenschaftler versuchen, die Wirklichkeit zu verstehen. Die Gravitation ist eine rohe empirische Tatsache, doch Gravitationstheorien sind gesellschaftliche Konstruktionen. Vorausgesetzt, ich kann angemessene Gründe vorbringen, steht es mir frei, jede wissenschaftliche Theorie abzulehnen. Was nun den Anspruch der Wissenschaft angeht, uns allmählich immer näher an eine Art letzter Wahrheit der Wirklichkeit, wie sie wirklich ist, heranzuführen, so vertritt Kuhn die Auffassung, dass Paradigmenwechsel keine wirkliche Entwicklung der Theorien in Richtung einer endgültigen Wahrheit brächten. Beispielsweise sah er einen Fortschritt der Theorien von Aristoteles über Newton bis Einstein, doch nur als Instrumente der Problemlösung im Rahmen normaler Wissenschaft. Daran gemessen, was ihre Theorien tatsächlich über die Wirklichkeit zu sagen hatten, schien ihm Einsteins allgemeine Relativitätstheorie näher an Aristoteles als diese beiden an Newton zu sein. Das ist unsere zweite Wahl. Nun wenden wir uns unserer dritten und letzten Wahl zu. Diese Wahl findet eigentlich genau dort statt, wo wir begannen.4 Der Glaube an eine materielle Wirklichkeit, unabhängig vom menschlichen Geist, eine Wirklichkeit, unabhängig von der Fähigkeit irgendeines 4 Vielleicht befürchten Sie, dass sich hier
keit als selbstverständlich hinnehmen,
der Kreis schließt und alles von vorne
ohne sich zu fragen, warum Sie das
beginnt. Sie brauchen nicht das Gefühl
glauben, sind Sie das, was die Philoso-
zu haben, an der Nase herumgeführt
phen einen «naiven Realisten» nennen,
worden zu sein. Wenn Sie die Wirklich-
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Menschen, sie zu erfassen und Theorien über sie zu bilden, ist eine vollkommen legitime philosophische Position, die wir als wissenschaftlichen Realismus bezeichnen. Wir können noch einen Schritt weiter gehen. Die Behauptung, die Wirklichkeit sei logisch widerspruchsfrei und entspreche den auf dem Kausalitätsprinzip beruhenden Naturgesetzen, ist vollkommen legitim. Legitim sind auch die Behauptungen, dass die Verbesserung unserer wissenschaftlichen Theorien uns schrittweise an die Wahrheit über die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist, heranführe, dass die Wirklichkeit aus Dingen bestehe, die wir nicht sehen können, und dass diese unbeobachtbaren Objekte wirklich vorhanden sind und reale Auswirkungen haben. Wo ist die Rechtfertigung für diese Position? Es gibt keine. Jedenfalls keine Rechtfertigung, die einen überprüfbare Beweise verlangenden Wissenschaftler zufriedenstellen würden, obwohl es möglicherweise Argumente gibt, die einen Philosophen überzeugen könnten. Sie können sich entweder entscheiden, an eine solche unabhängige Wirklichkeit zu glauben, oder sie zugunsten einer empirischen oder gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit zu verwerfen. Die Rechtfertigung des Realismus verlangt nichts weniger als die Berufung auf einen Glaubensakt oder, wie Einstein es formulierte, das «Vertrauen in die vernünftige und die der menschlichen Vernunft wenigstens einigermaßen zugängliche Beschaffenheit der Realität». Der wissenschaftliche Realismus ist gerechtfertigt, weil er für die meisten in der Forschung tätigen Naturwissenschaftler die natürlichste Position ist – die Position, die sich von selbst ergibt. Der Philosoph Ian Hacking erzählt die Geschichte eines Freundes, der ihm von den Einzelheiten eines Experiments berichtet, an dem er arbeitete. Der Freund versuchte Beweise für die gebrochenzahligen elektrischen Ladungen von Quarks zu entdecken. Das Experiment war eine moderne Spielart des klassischen Öltropfenexperiments, bei dem die Ladung eines Elektrons dadurch bestimmt wird, dass Öltröpfchen durch ein Gleichgewicht des gravitativen und des elektro-
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Epilog – Die hartnäckige Illusion
magnetischen Feldes in einen Schwebezustand versetzt werden. In diesem Versuch wurden Öltropfen durch extrem unterkühlte Niobkügelchen ersetzt. In seinem Buch Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften fragte Hacking seinen Freund, wie er die Ladung der Niobkugel verändert habe:
«In dieser Phase», hat mir mein Freund erzählt, «besprühen wir sie mit Positronen, um die Ladung zu erhöhen, oder mit Elektronen, um die Ladung zu vermindern.» Von diesem Tage an vertrete ich den wissenschaftlichen Realismus. Was mich betrifft, gilt: Wenn man sie versprühen kann, sind sie real. Der wissenschaftliche Realismus ist gerechtfertigt als die Position mit der größten Wahrscheinlichkeit, Fortschritte für das wissenschaftliche Verständnis zu erzielen. Ist die Kopenhagener Deutung wirklich das letzte Wort zu unserer Fähigkeit, die Wirklichkeit auf der Quantenebene zu verstehen? Müssen wir akzeptieren, dass wir mit dieser Interpretation am Ende des Weges angelangt sind? Dürfen wir jemals erwarten, zu einer wahren Theorie von allem, zur Weltformel, zu gelangen? Vielleicht sind wir wirklich zum Ende des Weges gelangt, zur einzig wahren Theorie von allem, das auf immer unserem Zugriff entzogen sein wird. Doch wie können wir dessen sicher sein? Was ist, wenn wir etwas übersehen haben? Können wir es uns wirklich leisten, die Wissenschaft bei unserer Suche nach einer Wirklichkeit, die sich immer wieder entzieht, auf scheinbar «bedeutungslosen» Pfaden weiter und weiter zu treiben? Was wäre, wenn es etwas mehr an der Wirklichkeit zu entdecken gäbe, falls es uns gelänge, die richtigen Fragen zu stellen? Egal, wie wir persönlich zu diesen Fragen stehen, wir sollten zugeben, dass es der menschlichen Natur gegen den Strich ginge, es nicht zu versuchen. Ich jedenfalls glaube, dass wir noch sehr weit vom Ende der Phy-
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sik entfernt sind. Es gibt sicherlich noch viel mehr über das Wesen unserer Wirklichkeit zu entdecken, und nach meiner Überzeugung ist der beste Weg, neue Erkenntnisse zu gewinnen, die Annahme, dass diese Wirklichkeit unabhängig von unserem Geist und unseren Messungen existiert. Wenn Sie mich auffordern, diese Annahme zu verteidigen, sehen Sie mich in Schwierigkeiten, denn mir fällt nichts Besseres ein, als meinen Glauben an die Existenz einer unabhängigen wirklichen Welt zu beteuern. Erinnern wir uns an Trinity, die zu Neo sagt: «... du bist schon da gewesen, Neo. Du kennst diesen Weg. Du weißt genau, wo er endet.» Wir sind am Ende unseres Weges, am Grund des Kaninchenbaus. Was Sie als Nächstes tun, bleibt Ihnen überlassen. Wenn Sie genau hinschauen, können Sie das weiße Kaninchen gerade noch um die Ecke flitzen sehen. Sie können sich mit dem Gedanken abfinden, dass Sie dieses scheue Geschöpf nie erwischen werden, oder sich, wie Alice, mit Windeseile an seine Verfolgung machen. Sie haben die Wahl. Wo befinden Sie sich in diesem Augenblick? Was ist wirklich? Woher wissen Sie es? Die Antworten sind da, aber um sie zu verstehen, müssen Sie sich zuerst entscheiden, was Sie glauben wollen.
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Bibliographie und Filmographie
Bücher Adams, Douglas, Per Anhalter durch die Galaxis, Heyne, 2004. Das Buch, das aus einem Hörspiel der BBC entstand, ist ein herrlich komischer Roman und ein erfrischendes Mittel gegen PhilosophieMissbrauch. Baggott, Jim, Beyond Measure: Modern Physics, Philosophy and the Meaning of Quantum Theory, Oxford University Press, 2004. Ein absolut unentbehrliches, schlechthin ultimatives Buch über die Geschichte und Philosophie der Quantentheorie. Behandelt neueste Experimente und berücksichtigt alternative Erklärungen. Barbour, Julian, The End of Time, Phoenix, 1999. Gewichtige Argumente eines zeitgenössischen Physikers für die These, dass Zeit eine Illusion ist. Baudrillard, Jean, Simulacra and Simulation, trans. Sheila Faria Glaser, University of Michigan Press, 1994. Eine Sammlung von Baudrillards postmodernen Essays und die Vorlage für den Film
Matrix. Baudrillard, Jean, «Die Präzession der Simulakra», in: ders., Agonie des Realen, Merve, 1978. (Aus diesem Aufsatz stammen die deutschen Zitate.) Beller, Mara, Quantum Dialogue, University of Chicago Press, 1999. Eine historische und philosophische Arbeit über die Entstehung der Kopenhagener Deutung. Für Studenten der Naturwissenschaften und Philosophie. Butler, Rex, Jean Baudrillard: The Defence of the Real, Sage Publications,
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Bibliographie und Filmographie
1999. Eine Interpretation von Baudrillards Werk, falls Sie das Original nicht verstehen ... Chalmers, David J. (Hg.), The Philosophy of Mind, Oxford University Press, 2002. Eine Anthologie der wichtigsten Beiträge zur Philosophie des Geistes, von Descartes bis Putnam. Für Philosophiestudenten. Clark, Michael, Paradoxes from A to Z, Routledge, 2002. Ein ausgezeichnetes kleines Kompendium aller philosophischen Rätsel einschließlich des Gefangenendilemmas, Zenons Paradoxa und vieler anderer. Cushing, James T., Quantum Mechanks: Historical Contingency and the Copenhagen Hegemony, University of Chicago Press, 1994. Überlegungen zu der Frage, welchen anderen Weg die Entwicklung genommen haben könnte, wenn sich die Pilotwellentheorie von de Broglie-Bohm durchgesetzt hätte. Für Studenten der Naturwissenschaften und Philosophie. Davies, Glyn, A History of Money, 3. Aufl., University of Wales Press, 2002. It’s a rich man’s world. (Abba) Davies, P. C. W, und Brown, J. R. (Hg.), Der Geist im Atom. Eine Diskussion der Geheimnisse der Quantenphysik, Birkhäuser, 1988. Basiert auf einer Reihe von Radiointerviews mit führenden Quantenphysikern, darunter Alain Aspect, John Bell, John Wheeler, Rudolf Peierls, David Deutsch, John Taylor, David Böhm und Basil Hiley. Feynman, Richard R, QED – die seltsame Theorie des Lichts und der Materie, Piper, 1985. Die Entwicklung der Quantenelektrodynamik, erzählt von einem, der dabei war. Fotion, Nick, John Searle, Acumen, 2000. Eine Interpretation der Philosophie von John Searle. Für studierte Philosophen. Gaarder, Jostein, Sophies Welt, München, Hanser, 1993. Eine Geschichte der abendländischen Philosophie, als Fiktion verkleidet. Zu Recht ein Bestseller. Gamow, George, Thirtp Years That Shook Physics, Dover, 1966. Ein
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Bücher
außerordentlich unterhaltsamer und subjektiver Bericht über die historische Entwicklung der Quantentheorie. Gardner, Martin (Hg.), The Annotated Alice, von Lewis Carroll, Penguin, 1965. Folgen Sie dem weißen Kaninchen. Nicht nur ein Kinderbuch ... Gardner, Sebastian, Kant and the Critique of Pure Reason, Routledge, 1999. Eine der wenigen Kant-Interpretationen, die seine Philosophie auch dem Nichteingeweihten zugänglich macht. Gillies, Donald, Philosophy of Science in the Twentieth Century, Blackwell, 1993. Eines meiner Lieblingsbücher über Wissenschaftsphilosophie. Greene, Brian, Der Stoff, aus dem der Kosmos ist. Raum, Zeit und die Beschaffenheit der Wirklichkeit, Siedler, 2004. Praktisch alles, was Sie schon immer über Relativität, Quantentheorie, Stringtheorie und vieles mehr wissen wollten. Gribbin, John, Q is for Quantum: Particle Physics from A to Z, Weidenfeld & Nicolson, 1998. Ein Nachschlagewerk von einem der besten populärwissenschaftlichen Autoren. Was Sie hier nicht finden, brauchen Sie vermutlich nicht zu wissen. Haber, Karen (Hg.), Das Geheimnis der Matrix, Heyne, 2003. Noch mehr Stellungnahmen zu den Themen der Matrix von ScienceFiction-Autoren. Hacking, Ian, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart, Reclam, 1996. Eine Verteidigung des wissenschaftlichen Realismus. Für Studenten und studierte Naturwissenschaftler und Philosophen. Heil, John, Philosophy of Mind, Routledge, 1998. Eine umfassende Einführung in die Philosophie des Geistes für Philosophiestudenten. Heisenberg, Werner, Physik und Philosophie, Hirzel, 1959. Eine klassische Untersuchung über die philosophische Bedeutung der Quanten- und der Relativitätstheorie von einem, der sich im Auge des Sturms befunden hat.
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Bibliographie und Filmographie
Irwin, William (Hg.), The Matrix and Philosophy, Open Court, 2002. Eine Reihe von Büchern, in denen zeitgenössische Philosophen philosophische Fragen mit Hilfe der Popkultur erläutern. Frühere Titel lauteten Seinfeld and Philosophy und The Simpsons and Philosophy. Künftige Titel werden sein Buffy the Vampire Slayer, The Lord of the Rings und Woody Allen. Ich kann es kaum abwarten. Jammer, Max, The Philosophy of Quantum Mechanics, Wiley, 1974. Eine grundlegende Studie und das Buch, das mein Interesse an diesem Gegenstand weckte. Aber mit Sicherheit nur für studierte Naturwissenschaftler und Philosophen. Kennedy, J. B., Space, Time and Einstein, Acumen, 2003. Ein ausgezeichneter Überblick über die philosophischen Probleme, die durch Raum, Zeit und Einsteins Relativitätstheorie aufgeworfen werden. Koepsell, David, und Moss, Laurence S., John Searle’s Ideas about Social Reality, Blackwell, 2003. Eine Anthologie von Artikeln aus dem American Journal of Economics and Sociology, in denen John Searles Theorie der gesellschaftlichen Wirklichkeit kritisiert und ergänzt wird. Für studierte Philosophen. Koestler, Arthur, Die Nachtwandler. Die Entstehungsgeschichte unserer Welterkenntnis, Scherz, 1963. Noch immer einer der besten Berichte über die historische Entwicklung der klassischen Kosmologie. Kuhn, Thomas S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp, 1967. Kuhns Buch, das zu Recht als Meilenstein der Geistesgeschichte gepriesen wird, gelang es, die Auffassung zu korrigieren, dass der wissenschaftliche Fortschritt sich in einer Reihe kleiner, unvermeidlicher und einander ergänzender Schritte zu einer wie auch immer gearteten Wahrheit vollziehe. Für Philosophen vom Fach, obwohl das Buch auch weithin von Laien gelesen wurde. Lane, Richard J., Jean Baudrillard, Routledge, 2000. Eine weitere Baudrillard-Interpretation, falls Sie eine brauchen ... Lawrence, Matt, Like a Splinter in Your Mind, Blackwell, 2004. Unter-
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Bücher
sucht alle philosophischen Ideen, die der Matrix-Trilogie zugrunde liegen. Lern, Stanislaw, Der Futurologische Kongress, Suhrkamp, 2004. Lem, der vor allem wegen eines anderen Science-Fiction-Buchs bekannt ist – Solaris –, schildert hier eine pharmakologisch erzeugte Wirklichkeit, die eine hellsichtige Vorwegnahme unserer modernen Prozac-Kultur ist. Morgan, Michael, The Space between Our Ears, Weidenfeld & Nicolson, 2003. Eine populärwissenschaftliche Darstellung neuerer kognitiver Theorien, die erklären, wie unser Gehirn interpretiert, was wir sehen. Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, Moderne Verlags GmbH, 1974. Argumente für die Begrenzung staatlicher Macht. Die Erfahrungsmaschine tritt in Kapitel sechs auf. Omnes, Roland, Quantum Philosoph];: Understanding and Interpreting Contemporary Science, Princeton University Press, 1999. Ein faszinierender Überblick für ein breiteres Publikum. Putnam, Hilary, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Suhrkamp, 1982. Eine Untersuchung über das Wesen von Wahrheit, Erkenntnis und Rationalität. Für studierte Philosophen. Rae, Alastair, Quantum Physics: Illusion or Reality?, Cambridge University Press, 1986. Eine ausgezeichnete kurze Arbeit über die Konsequenzen der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie für die Wirklichkeit. Ordnet sich im Schwierigkeitsgrad etwa in der Mitte zwischen dem vorliegenden Buch und meinem anderen Buch, Beyond Measure, ein. Rose, Stephen, The Making of Memory, Bantam, 1992. Die chemischen Grundlagen des Gedächtnisses und der Prozesse, durch die Erinnerungen angelegt werden. Rowlands, Mark, Externalism, Acumen, 2003. Eine wunderbar klare Verteidigung des Externalismus. Für Studenten und studierte Philosophen.
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Bibliographie und Filmographie
Rowlands, Mark, The 21rst-Century Brain, Jonathan Cape, 2005. Eine hervorragende Untersuchung über die Evolution unseres Gehirns, von den Anfängen des Lebens bis zur modernen Konsumgesellschaft, und von der befruchteten Eizelle bis zum Erwachsenen. Rowlands, Mark, The Philosopher at the End of the Universe, Random House, 2003. Eine unterhaltsame Sichtung der wichtigsten philosophischen Themen, die in modernen Science-Fiction-Filmen abgehandelt werden wie Aliens, Blade Runner, Frankenstein, Der
unsichtbare Mann, Independence Day, Minority Report, Star Wars, Terminator I und II, Matrix, The Sixth Day und Total Recall. Schacht, Richard, Classical Modern Philosophers, Routledge, 1984. Ein ausgezeichneter Überblick über die Werke der wichtigsten Vertreter der klassischen Epoche – von Descartes bis Kant. Searle, John R., Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Rowohlt, 1997. Searles ursprüngliche Zusammenfassung seiner Theorie der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Außerordentlich klar und schlüssig. Searle, John R., Intentionalität, Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes, Suhrkamp, 1987. Searles Philosophie des Geistes und Intentionalitätstheorien. Für studierte Philosophen. Smolin, Lee, Three Roads to Quantum Gravity, Phoenix, 2000. Eine verständliche Darstellung neuerer Versuche, eine Theorie der Quantengravitation zu finden. Stroud, Barry, The Quest for Reality, Subjectivism and the Metaphysics of Colour, Oxford University Press, 2000. Ein zeitgenössischer Bericht über die Suche nach Wirklichkeit in der Farbwahrnehmung. Für studierte Philosophen. Swain, Harriet (Hg.), Big Questions in Science, Vintage, 2003. Enthält kurze, aber erhellende Kapitel über die Ursprünge von Universum, Zeit, Bewusstsein, Gedanken und Träumen. Van Fraassen, Bas C, The Scientific Image, Oxford University Press,
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Filme
1980. Eine zeitgenössische Verteidigung des Empirismus. Für studierte Philosophen. Wachowski, Larry und Andy, The Matrix: The Shooting Script Newmarket Press, 2001. Enthält Abschnitte, die in der endgültigen Fassung gestrichen sind. Mit einem Vorwort von William Gibson und Szenenanmerkungen von Phil Oosterhouse (Mitproduzent der Folgen). Weatherford, Jack, Eine kurze Geschichte des Geldes und der Währungen. Von den Anfangen bis in die Gegenwart. Es gilt noch immer: Money
makes the world go round ... Yeffeth, Glenn (Hg.), Taking the Red Pill, Summersdale, 2003. Sehr gut lesbarer Überblick über die Themen von Matrix, von einer bunten Mischung aus Science-Fiction-Autoren, Erfindern, Präsidentenberatern sowie Professoren für Wirtschaftswissenschaft, Englisch, Medienwissenschaft, Philosophie, Psychologie und Religion. Wer hat gesagt, es wäre nur ein Film?
Filme Cube 2: Hypercube (2002). Regie Andrzej Sekula, Idee von Sean Hood und Buch von Sean Hood, Ernie Barbarash and Lauren McLaughlin. Willkommen in einer neuen Dimension des Schreckens. Meines Wissens der erste quantenphysikalische Horrorfilm. Dark City (1998). Regie Alex Proyas, Idee Alex Proyas, Buch Alex Provas, Lern Dobbs und David S. Goyer. Eine Welt, in der die Nacht nie endet. In der der Mensch keine Vergangenheit hat und die Menschheit keine Zukunft. Die düstere Geschichte einer Identitätskrise in einer Wirklichkeit, die von mysteriösen «Fremden» kontrolliert wird. Eine, Der (2002). Regie James Wong, Buch Glen Morgan und James Wong. Stiehl dir die Macht des Universums von einem nach dem anderen. Oder (alternativ) zu Hause im Multiversum.
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Bibliographie und Filmographie
eXistenZ (1999). Buch und Regie David Cronenberg. Wo hört die Wirklichkeit auf ... und fängt das Spiel an? Eine Top-Spieledesignerin testet ihr neues VR-Spiel. Fight Club (1999). Regie David Fincher, Buch Jim Uhls nach dem Roman von Chuck Palahniuk. Krawall. Schwere Körperverletzung. Soap. Nicht über die Wirklichkeit als solche, sondern über die Fähigkeit des Geistes, falsche Wirklichkeiten zu erzeugen. Ghost – Nachrichten von Sam (1990). Regie Jerry Zucker, Buch Bruce Joel Rubin. Bevor Sam ermordet wurde, versprach er Molly, sie ewig zu lieben und zu beschützen. Teilweise eine interessante Meditation über das Geist-Körper-Problem. Identität (2003). Regie James Mangold, Buch Michael Cooney. The secret lies within. Noch ein Film über mental erzeugte Wirlichkeit. Matrix, The (1999). Buch und Regie Andy und Larry Wachowski. Wirklichkeit ist Vergangenheit. Der Urahn aller Filme, die mit der Wirklichkeit spielen. 2003 kamen die Folgen Matrix Reloaded und Matrix Revolutions in die Kinos. Die Folgen konnten nicht ganz den Erwartungen gerecht werden, die durch den ersten Film geweckt wurden, waren aber ebenfalls zum Nachdenken anregende Filme ganz besonderer Art. Memento (2000). Regie Christopher Nolan, Buch Christopher and James Nolan. Einige Erinnerungen sollte man lieber vergessen. Eine eindrucksvolle Illustration des Externalismus und der Kunst des Tätowierens. Minority Report (2002). Regie Steven Spielberg, Buch Scott Frank und Jon Cohen nach einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick. Was würden Sie tun, wenn man Sie eines Mordes anklagte, den Sie – noch nicht – begangen haben? Bemerkenswert in seinen futurologischen Aspekten einschließlich der Erfahrungsmaschinen. Sixth Sense, The (1999). Buch und Regie M. Night Shyamalan. Ich sehe Tote. Falsche Wirklichkeit, erzeugt von einem Geist, der noch nicht weiß, dass sein Körper tot ist.
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Filme
Strange Days (1995). Regie Kathryn Bigelow, Idee James Cameron, Buch James Cameron and Jay Cocks. Mit extremem WirklichkeitsAppeal. Der Film, der in den letzten Tagen des Jahres 1999 spielt, behandelt den unerlaubten Handel mit aufgezeichneten Erinnerungen. Terminator (1984). Regie James Cameron, Buch James Cameron, Gale Anne Hurd, Harlan Ellison und William Wisher, Jr. Ihre Zukunft liegt in seiner Hand. Ein anderer Blick auf das Geist-Körper-Problem. Fortgesetzt mit einer Meditation über Schicksal und freien Willen in Terminator 2: Tag der Abrechnung (1991) und Terminator 3: Rebellion der Maschinen (2003). Sie leben (1988). Regie John Carpenter, Buch John Carpenter nach einer Kurzgeschichte von Ray Nelson. Sie begegnen ihnen auf der Straße. Sie sehen sie im Fernsehen. Sie denken, es sind Menschen wie Sie. Sie befinden sich im Irrtum. In einem tödlichen Irrtum. Das finstere Gegenstück zur rosaroten Brille offenbart eine Wirklichkeit, in der die Gedanken und Gefühle der Menschen mittels der Werbung von Außerirdischen kontrolliert werden. Thirteenth Floor – Abwärts in die Zukunft (1999). Regie Josef Rusnak, frei nach dem Buch Simulacron-drei von Daniel Galouye. Testen Sie die Wirklichkeit: Sie können dorthin gehen, selbst wenn es das «Dorthin» nicht gibt. Ein Spiel mit Ahnen-Simulationen in Ahnen-Simulationen. Truman Show, Die (1998). Regie Peter Weir, Buch Andrew Niccol. Eine Lebensgeschichte. Der Ort Seahaven ist nicht das, was er scheint.
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Register Abstandsintervalle 108 f.
Achill und die Schildkröte 105-108 Adams, Douglas 92,114,117,119, 300,305 Agent Smith 23, 52, 55 f., 104 Ahnen-Simulation 155,157f., 319 (•−› Simulation) allgemeine Relativitätstheorie 15,230,247, 249. 300, 305, 307f., 331 – deterministische 304 – keine Quantentheorie 303 Alltagswirklichkeit 318 (•−› Wirklichkeit) Annahmen 84,97,165,174,177,322 – implizite 189 – prä-intentionale 90 (• −› Intentionalität) Anschauung 182,186,207, 209,320 (•−› Kant, Immanuel) – der Zeit 186 – des Geistes 177 – des Raumes 181f. – reine 176,188 – sinnliche 176 Anti-Erde 193 (• −› Un-Erde) Antimaterie 294 A-Reihe 183-185 Aristoteles 105,115-117,123,134,217f., 331 Aristotelismus 118,323 Asimow, Isaac 56 Aspect, Alain 276 astronomische Uhr 170-173,178,182 f. Ataxie, optische 179 Äther 225 Atome 9,17,56,237,284,317,324 Atomkern 233,296 (• −› Kernkraft) Attenborough, David 89 auditorischer Kortex 132,157,180 (•−› Gehirn) Augenbewegungen 17 9-181 Autismus 88 Ayer,Alfred J. 326
Baker, Nicholson 102
Ball, Philip 56 Baudrillard, Jean 3of., 45-51. 53.65, 318 Bell, John 265 Bell’sche Ungleichung 274-276,278,280, 288
Berkeley, George 141-143.145-147,158,160, 165,1671,175 Bernays, Edward 40-42 Betazerfall 296 f. Bewegungsgesetze, Newton’sche 14,220 Bewusstsein 21 – substratunabhängiges 156 – Welt außerhalb 189 Bezugssysteme 179,181 – multiple 180 Böhm, David 288 Bohr, Niels 234,236,238, 240, 246, 249-251, 258f.,287,322,325 Borges, Jorge Luis 47 Bostrom.Nick 154-158 Boswell, James 146 Botenteilchen 297 Botton, Alain de 36 Brahe.Tycho 218 f. B-Reihe 184! Broglie, Louis de 233,241, 247,288 Broglie-Bohm-Theorie 288 Buffay, Phoebe 88 Bush, George W. 152
Carroll, Lewis 13
Casimir, Henrik 303 Casimir-Effekt 303 CERN 214,298 Chalmers, David 201,203 Clark, David 201,203 Clinton, Bill 83 Clockstoppers 102,106 Coca-Cola 38! Codierungsschlüssel 2 7 9 f. Colett, Peter 83 Computer – für Simulationen verantwortlicher 158 – mit Gehirn verbundener 147-149 Cyberpunk 23
DaltonJohn 199
Dekohärenz 284 f., 309 Delokalisierung 243,245-247
345
Register
Demme, Jonathan 194 Denken an nichts 78 (•−› Gedanken) Denken ohne Außenwelt 192 Dennet, Daniel 19,190 deontische Phänomene 71 Deprivation, sensorische 193-196, 201 Descartes, Rene 121-123,133,141,168,189, 192,207,320 Dick, Philip K. 154,317 Die Truman Show 153,160 Dinge an sich 176 Dirac, Paul 294 Disneyland 48 f. Dollarnote 57f., 67,69-71, 76t, 90,95,128 (•−› Geld) Doppelspaltexperiment 241, 243, 246, 250, 275. 287 Drei-Berge-Experiment 87 Drescher, Melvin 93 Dualismus 17-20 (*-» Welle-TeilchenDualismus) – cartesianischer 133 (•−› Descartes, René) Dylan, Bob 41
Echolot 137 f.
Ehe 35.58,74,76,93.96,3i8.33o Ehering 57 f., 66 Einstein, Albert 15, 227, 234,239, 241, 246f., 249f., 259, 263, 267, 277, 280, 287f., 299, 301, 308f., 317, 331f. Einstein-Separabilität 259, 273,275 elektromagnetisches Feld 294 f. Elektromagnetismus 296,298 Elektronen 10, 21, 236f., 240f., 284, 290, 303, 330 – Aufenthaltsort 234f., 237 – g-Faktor 295 f. – lokalisierte 249 – mit Messgerät wechselwirkendes 235 – «wahre» Eigenschaften 236 Elektronenbahnen 233 Elektronenwolke 233–235 (•−› Wahrscheinlichkeitswolke) emergente Eigenschaften 133,190 emotionale Bedürfnisse 3 6 f. emotionale Befriedigung 39 emotionale Manipulation 83 emotionale Zustände 78,80,83 Empathie 79,811,84,86 – Kleinkinder und 87 Empirismus 143,169,174!, 181, 322, 326f. (•−› Wirklichkeit – empirische) – auf Erfahrung beruhender 169 Energie, aus dem Nichts erzeugte 302
346
Erdumlaufbahn 16,215 f. Erfahrung 139,143,169,172-176,178, 181,185 f., 193, 205, 214 (•−› Vernunft und Erfahrung) – außerhalb des Geistes 13 2 f. – in unserem Geist stattfindende 165 – nicht transzendierbare 169 – unmittelbare 169,187,237 – von anderen ausgeliehene 152 Erfahrungsmaschine 152 Erkenntnis 122,144,172,175,182 (•−› Wirklichkeitserkenntnis) – Objekte des Raums 181 – über unabhängig von uns existierende Dinge 175 ERP-Experiment 255, 257-259, 265, 268, 273, 275f. Erscheinungen 110 f., 139,176 f. Escher, M.C. 96 esse est percipi 143,146 Evolution 33 f. Evolutionsdruck 138 (•−› Selektionsdruck)
Falsifizierung 329 (•−› Positivismus)
Farberkennung 136 – nur im Gehirn existierende 126 f. Farblosigkeit 135 Feldgleichungen 301 Feldquanten 295 Fernsehen 43 f. Fernwirkung, «spukhafte» 246-248, 259, 285, 288,315,320 Feynman, Richard 296 Fishburne, Laurence 22 Fledermaus 13 5,13 7 f. Flood, Merrill 93 Fluss als Grenze 57-59,66,71 Frankenheimer, John 194 Franz Ferdinand, österreichischer Thronfolger 63 Franz Joseph, Kaiser von Österreich 63 Freud, Sigmund 40
Gabriel, Peter 29
Galouye, Daniel 156 Gates, Bill 66,152 Gay-Lussac, Louis 199 Gedanken 187,192,197, 200, 204 – Erfüllungsbedingungen 204 f. – Inhalt 201 – und Außenwelt 191 f., 201 – von außen nach innen 198 – von innen nach außen 20 f.
Register
Gedankenleser 76,78 Gefangenendilemma 94 Gegensätzlichkeit 103 f. Gehirn 18,34,83,128,149,178 f., 190 – amputiertes 158, i65(•−› Gehirn im Tank) – eingebrannte Bahnen 197 – emergente Eigenschaften 190 f. – im Superpositionszustand 286 f. (•−› Superposition) – künstliches 21 – Softwarevergleich 196 – verdrahtetes 128,196 Gehirn im Tank 147-150,152,154,158-164, 200 Gehirntransplantation 161-164 Gehirnwäsche 194 f. Gehirnzustände 20f., 133 Geist, menschlicher 17,34,131 – emergente Eigenschaft des Gehirns 134, 190 f. – internalistische Auffassung 175 – Produkt unserer Erfahrungen 196 – und Welt 1891,192t, 197,201,207 – Wechselwirkung mit der Materie 18 f. Geist, wissenschaftliche Theorien 17,19, 21 geistige Zustände 17 f., 20,133 geistiger Inhalt 200-203 – Besitz 191 f. Geist-Körper-Problem 131,133 Geiststoff 18 f. Gelbheit i26f.,i3i,i34(•−› Zitrone) Geld 14,35,54,61,66,74,92,95-97,126, 318,330 – Abstraktionsniveau 64 – Bindung an Gold 65 – Geschichte 59-65 – gesellschaftliche Institution 73f.,76,95 – hyperreales 65 (•−› Hyperrealität) – konstituiertes 69 – «Kreditkarte des armen Mannes» 43 – selbstbezügliches 95 Geschmacksknospen 131,147 Gesellschaft, menschliche 35, 97 (•−› Institutionen, gesellschaftliche) – Konstrukt des menschlichen Geistes 97 – manipulierte 41 f. Gesellschaftsphysik 56 Gesichtsfeld 128 f. Gibson, William 23 Glashow, Sheldon 297 Gleick, James 102 Gluonen 297 God’s eye view 158,160 Gödel,Kurt 325
Goebbels, Joseph 42 Goldstandard 62-65 Gott 158,161,169,318 – allgegenwärtiger 145 – als Ursache der Wahrnehmung 144 – Gedanken in Gottes Geist 147,160,167 Gottesbeweis 123,168 graue Substanz 21 (•−› Gehirn) Gravitation 67f., 230,296,299f., 312,330 – Quantelung der 308f. Gravitationsanziehung 222 Gravitationsfeldgleichungen 300,307 Gravitationstheorie, Newton’sche 220 f., 224 f., 247, 300 f. – Fernwirkung 225,247 – quadratisches Abstandsgesetz 314 Graviton 299 f., 312,314 Gravity Probe B 231 Greene, Brian 314 Große Vereinheitlichte Theorie 268
Hackling,Ian 332f.
Halluzinationen 152,195
h-Antwort 252 f., 256, 260-262, 267, 279,
285-287,289 – Brief-Analogie 268-274 Hardy, Thomas 183 Hawking, Stephen 321,327 Hebb, Donald 91,194 f. Heisenberg, Werner 234-236,240,250,253, 257 (•−› Unscharferelation) heliozentrisches Universum 186,220 Heraklit 102-104,110,208,213 Higgs, Peter 298 Higgs-Feld 305 Higgs-Teilchen 298 f. Hintergrund 90 f., 206 Hintergrund-Abhängigkeit 314 Höhlengleichnis 110-113,134,207,238,265, 283 – Mäuse 114,117 Homunkulus 149 Hubble, Edwin 301 Hubel, David 195 f. Hume, David 167-169,172,174-176,181,187, 240, 323 Huxley, Aldous 167 Hyänen, jagende 85 Hyperrealität 30f., 37, 44, 47f., 53, 96, 318 (•−› virtuelle Realität) – amerikanische Gesellschaft 49 f. – Kants Anschauungen von Raum und Zeit 186 – soziale Konditionierung 53
347
Register
«Ich»-Intentionen 86,92 f. (•−› Inten-
tionalität) Idealismus 167 Ideen, platonische 110,112-116 – als •−› Wirklichkeit 113 Inertialsystem 227, 231 Infinitesimalrechnung 108 Inflation des Universum 306 f. Inflatonfeld 306 Informationsverarbeitung 131,179,201 Institutionen, gesellschaftliche 54,73 f., 76, 84,93,95 f., 126 Intentionalität 84f. – als Instinkt 85 – der Sprache vorausgehende 87 – individuelle 78f., 81, 84 – kollektive 78, 84-88, 318 Interferenz 223, 232, 239, 241 f., 247, 250, 288 – destruktive 224, 241f., 275, 288 – konstruktive 224, 241, 244, 288 Irwin, William 52 Isolationstank 193
J
äger-und-Sammler-Gesellschaft 34 f. Johnson, Samuel 146
Kadaò, Mikuláš 170
Kant, Immanuel 168,175-177,180,182,186f., 192, 207,209,229, 238,310,320 – «kopernikanische Wende» 193 Karte und Territorium 46-48, 50,318 Kausalbeziehungen 17,67,320,325,332 (•−› Ursache und Wirkung) – in Naturgesetzen 70 Kepler, Johannes 219 Kepler’sche Gesetze 219-2 21 Kernkraft – schwache 296-298 – starke 296f., 299, 313 Kognitionswissenschaft 131,17 8 f. Kollektivbewusstsein 85 Kommunikation 88-91 (•−› Überlichtgeschwindigkeit) – nonverbale 83 Kommunikationsinstinkt 89 Komplementaritätsprinzip 258,287 Konditionierung, gesellschaftliche 72f. Konstruktivismus, sozialer 322, 328 Konsumartikel 65 – Botschaften transportierende 40 – Selbstbildvermittlung 3 7f. Konsumentenwerbung 37, 40 Konsumgesellschaft, moderne 29, 31, 37, 40, 318
348
– als •−› Hyperrealität 47 – postmoderne Kritik an der 51 Konsumkultur 33 – beschleunigte 3 7 f. Kooperation 85,93 t Kopenhagener Deutung (der Quantentheorie) 240, 246, 249. 254f-. 257, 259, 262, 265, 275, 283,320,325,333 Kopernikus, Nikolaus 118, i86, 218,220,330 «Kopf-Display» 13 körperliche Substanz 143 f. Kreditkarten 43,64 Krieg 35.74,93.96,318,330 Kryptographie 278 Kuhn, Thomas 328^,331 Kulturrelativismus 326 Kurzweil, Ray 155 Kurzzeitgedächtnis 179
L
ampen-Paradox 108 f. Lern, Stanislaw 152,158 Lemon Song 132,136 (•−› Zitrone) Leptonen 297,324 Licht 134, 222 (• −› Photonen) – absorbiertes 129 – Energiepakete 237 – innerer Aufbau 238! – sichtbares Spektrum 128 – Teilcheneigenschaften 232f. – Wellentheorie 2 2 3 f., 2 3 2 f. Lichtablenkung 301 Lichtgeschwindigkeit 225-227, 247, 249, 258, 283 (•−› Überlichtgeschwindigkeit) – 90 Prozent 227-229 – konstante 227 – unterschiedliche 225 Lichtkorpuskel 223 Lichtquanten 232 Locke, John 141 Logik 143.145 Logos 103 lokale Realität 259 Lokalisierung 192, 201,203,243 (•−› Delokalisierung) Lynch, David 113
M
ach, Ernst 323-325 Markenfixierung 3 8 f. Marketing 41 f. Maschinenintelligenz 158,161,165, 318 Massenmedien 40,42 Materialismus 17f., 20,133, 190f. – eliminativer 20,151
Register
Materie 222, 232 (•−› Welt, materielle) – innerer Aufbau 238 f. – und •−› Wirklichkeit 115 Matrix 22-26,45, 50f., 55,101f., 106,122,141, 150, 152, 160f., 202, 259, 289 Mayer, Nancy 76 McGuffin, John 194 McLuhan, Marshall 43,321 McTaggart, John 183-185,229 McTaggart-Paradox 184 Medium als Botschaft 42f. Meinung, manipulierte 42 Metaphysik 169f.,323-326 Mikrostrukturen 16, 54 Mikrowellen-Hintergrundstrahlung 301,307 Minkowski, Hermann 229,309 Mitführungseffekt 225,231 Moleküle 9,17,56,296,317 Morpheus 22-25, 46, 55, 101f., 112, 122, 141, 150, 259 Moss, Carrie-Anne 22,202 motorischer Kortex 18,147-149 M-Theorie 312,314 – sieben Zusatzdimensionen 312,314 f. Münzwurf 266 f. Mutual Assured Destruction (wechselseitig gesicherte Zerstörung) 94
Nagel, Thomas 137
Naturgesetze 15,208 Naturkräfte 296, 307 Naturwissenschaft 120f., 213,215, 321 – Gewissheit der 209 Nebuchadnezzar 24f., 112,161 Neo 22-25,45, 50,104,112,122,150,161,334 Netzhaut i28f., 132,179,181,196, 286 Neumann, John von 244,285 f. neuronale Bahnen 197, 205 f. neuronale Interaktion 20,82 Neuronen 20,129 f. (• −› Gehirn) – Verbindungen zwischen 91,196 Neurowissenschaft 178 Neutrino 297 Neutronen 10,21,233,237 NewCoke 3 8 f. Newton, Isaac 15,22of., 231,247, 331 Nixon, Richard M. 49 f., 64 Noumena 176,186,189,193,238,320 Nozick, Robert 151 f. Nullpunkt, absoluter 301
O
ckham, William von 143 Ockhams Rasiermesser 143, 254
P
acte Civile de Solidarité (PaCS) 93 (•−› Ehe) Paradigma 328f. Paradigmenwechsel 329-331 Paradoxa 105-109 Paralleluniversen 289 Parietallappen 179 – geschädigter 181f. Parmenides 104-106,108,110,213,229 Pauli, Wolf gang 240 Penfield, Wilder 149 Pfeil-Paradox 106-108 Phänomena 176,238,290 Philosophie 120-123,131 Photonen 10,127f., 132,235,240-243,248, 250, 267, 284, 288, 290, 313 (•−› Doppelspaltexperiment; Licht) – als «Atome» der Lichtenergie 242 – farblose 128 – gemessene 245,251,253,261,267,281, 289 – Grün und Blau 255-258,273,276,278, 281f. – lokalisierte 246^,249 – masselose 298 – mit Elektronen wechselwirkende 235 – mit sich selbst interferierende 243 – Referenzrichtung 252-257, 268-274,279, 281f. (•−› h-Antwort; v-Antwort) – teleportierte 282f. – verschlüsselte 277f. – virtuelle 296, 303 – «wahre» Eigenschaften 236 – Zeiger und Zifferblatt 268-270, 282 Photonenpaar, verschränktes 260, 274-276, 278, 280 – Interferenz 275 f. Photonenwelle 243-245, 251 – delokalisierte 245! – Messung 245 Photonenwolke 252, 254 (•−› Wahrscheinlicheitswolke) Piaget, Jean 87 Pilotwellen 287 f. Planck, Max 241 Planck-Länge 304,310 f. Planck-Skala 311 Planck-Zeit 305,308 Planetenbahnen 215 f., 218 f., 3 00 Platon 105,109-117,207 (•−› Ideen, platonische) – Statue 116 Podolsky, Boris 255 Politik 35,74,96,318,330 Positivismus 323^,327 – logischer 325
349
Register
posthumane Zivilisation 154f., 157f., 169, 189, 319 Postmoderne 37,51,53 Primärfarben 134 f. Propaganda 41 f. Protonen 9,21,233,237 Proxima Centauri 228,231, 248, 256, 258,260, 273 f., 281 f., 306 Ptolemäus, Claudius 218 Punktteilchen 311 Putnam, Hilary 148, 150, 158-160, 200f., 203-205, 209 Pythagoras 110
Q
ualia 131 Qualitäten, primäre 139-142,144 Qualitäten, sekundäre 125,132,139f., 142 Quantenchromodynamik 299 Quantencomputer 155 Quantenelektrodynamik 295, 302f. Quantenfeld 305 Quantenfeldgleichungen 307 Quantenflavordynamik 298f. Quantenfluktuationen 303-305, 307 Quantengravitation 293, 307f., 312, 320 – kanonische 310 Quantenkosmologie 305,308 Quantenobjekte 245, 251,253 f., 290 – gemessene 255,259f. (•−› Wellenfunktion, Kollaps) – gestörte 250 – reale Teilchen 287 – verschränkte 259,281,315,320 Quantenschaum 304 Quantentheorie 17,232, 234,244,246, 261, 265,277,320 •−› allgemeine Relativitätstheorie 293 f., 311 – erfolgreichste physikalische Theorie 263 – erweiterte 267 – keine Teilchentheorie 294 •−› spezielle Relativitätstheorie 281-283 – unvollständige 249, 258,263,266f. – Vorhersagen 275 Quantenunbestimmtheit 265,307 Quantenunschärfe 303, 305 (• −› Unschärferelation) Quantenverschränkung 277f., 284 (•−› Photonenpaar; Quantenobjekte) Quanten Wahrscheinlichkeit 266 (•−› Wahrscheinlichkeitswolke) – statistische Interpretation 267 f. Quantenwellen 284 Quarks 297,324,330,332
350
R
adioaktivität 296 Rationalismus 142, r74 Raum 108,181 f., 187, 215,227 – absoluter 177, 221 f., 224, 229,324 – Anschauungsform 182 – augenzentrierte Karte 179 f. – Form des äußeren Seins 182 – Kontraktion 229 – leerer 225 – Produkt des menschlichen Geistes 192 Raumzeit, vierdimensionale 229, 235, 300, 304,309 – absolute 231 – elfdimensionale 324,330 – flache 307 – gekrümmte 230,301,303 – Gummituch-Metapher 230 Realismus, wissenschaftlicher 322, 332f. Realityfernsehen 43f. Reaves. Keanu 22 Reihe, unendliche 107 Reizentzugsexperimente 206-208 (•−› sensorische Deprivation) Relativitätstheorie 229,239 Repräsentation (der Wirklichkeit) 3r, 138, 207 – unvollständige 46 Roosevelt, Franklin 63 Rosen, Nathan 255 Russell, Bertrand 173
Sakkaden 180
Salam.Abdus 297 Schacht, Richard 168 Schleifen-Quantengravitation 31 o, 314 Schlick, Moritz 325 Schrödinger, Erwin 233, 246, 260-263 Schrödingers Katze 261 f., 287, 311 Schwarzenegger, Arnold 130,15 2 Schwarzes Loch 300 Schwarzschild, Karl 300 Searle, John 57,68,84 f., 90,204-206,318 selbstwiderlegender Satz 15 9 f., 16 3 f. Selektionsdruck 33,135,138 Simulation 29,49,81 – dritter Ordnung 47, 51 – erster Ordnung 46 – geistiger Prozesse 84,91 (•−› Spiegelneuronen) – Trainingssimulation im Film Matrix 102, 150 – von Menschen 155-157 – zweiter Ordnung 47 Simulationstechnik, unterbewusste 88
Register
Simulationstheorie 80f., 83 (•−› Baudrillard, Jean) Sindel, Jan 170 Sinnesapparat 13 4,13 7 f. Sinnestäuschung 122 Sinneswahrnehmung 122,147,157,159,186, 193, 240 (•−› Wahrnehmung) Sokrates 109 somatosensorischer Kortex 132,147,149,180 (•−› Gehirn) Sonne 15f. Sonnenfinsternis 217 Sonnentag 171,216 soziale Funktion 57-59 (•−› Institutionen, gesellschaftliche) soziale Interaktion 35,66,76 soziales Netzwerk 86 Sozialstruktur, menschliche 5 5 f. spezielle Relativitätstheorie 227, 230, 249, 259, 277, 280f., 299 Spiegelneuronen 82-84,88,92 Spielberg, Steven 40,151 spirituelle Substanz 183 Stäbchen 128 Standardmodell der Teilchenphysik 299, 302, 311, 313 Statusfunktion, zugewiesene 57-59,66,73, 75 – sozialer Akt 68f. •−› Geld 70 Sternenbewegung 218 Sterntag 171,217 Stoppard, Tom 239 Stringtheorie 311-313,315,324 – potenzielle •−› Weltformel 312 Superposition 252,254,261 f., 267,284-286
Tauschhandel 59 f.
Teilchenbeschleuniger 215,296,298 Teilchenphysik 294 Teleologie 68 Teleportation 281-283 Temporallappen 150 Theorie, wissenschaftliche 15,80 – verifizierte 324 – wahrheitsähnliche 15f. Theorie-Theorie 79,81 Thomas von Aquin 117 Thompsonjames 109 Transite 55 Traum, amerikanischer 31, 50, 52 Traumwelt 31,37 Trinity 22-24, 52,334 Twain, Mark 217
U
2 132, 136, 213 Überleben 83, 86, 135, 138 Überlichtgeschwindigkeit 277, 281 (•−› Lichtgeschwindigkeit) Unendliches 108 Un-Erde 66, 73, 126, 132, 145, 206 – Kant’sche 187, 193 Universum – als Uhrwerk 216 f. – Erde im Mittelpunkt 119 f. – expandierendes 301, 307 – Ursprung 302, 305 Unschärferelation 236f., 250, 253, 257, 302 Unvollständigkeitssatz 326 Urformen 110 Urknall 301,305 Ursache und Wirkung 15,172,186, 208 (•−› Kausalbeziehungen)
V-Antwort 252f., 256, 260-262, 267, 279,
285-287, 289 – Brief-Analogie 268-274 Variable, verborgene 266-268, 273, 276!, 288 Vektorbosonen, intermediäre 297 f., 313 Veränderungsmanagement 101 Verifizierbarkeit 3 2 4-3 2 6 (•−› Positivismus) Vernunft und Erfahrung 105, 117f., 174, 213 Viele-Welten-Interpretation 289,309 Victoria, Königin von England 62 virtuelle Realität 23, 45, 47, 50f., 148 virtuelle Teilchen 295f., 302f. visueller Kortex 128-130, 133f., 195f. VR-Simulationen 148, 150f. (• −› Simulationen)
W
achowski, Brüder 2 5,45 f., 51 f., 5 5,151 Wachträume 152 Wahrheit, absolute 122 Wahrheitsähnlichkeit 15 f. Wahrnehmung, menschliche 14,117,135, 139,143-145,147,150, i74f., 181,188,193 – Erkenntnis durch 143 f. – Grenzen 172 – in unserem Geist stattfindende 165 – mit der • −› Wirklichkeit identische 117, 165 – unabhängige Eigenschaften 127 – visuelle 181 – von «außen nach innen» erfolgende 146, 204, 207, 320 Wahrscheinlichkeit und Amplitude 234 Wahrscheinlichkeit, statistische 266f., 270f. Wahrscheinlichkeitswolke 236, 244-246, 248, 251f., 258-261, 267, 287
351
Register
Währungen 62-64 Wandel, ewiger 103f. Warengeld 60f.(•−› Geld) Wasser, beschleunigtes 230 f. Wasser, Erweiterung 199 f., 205 f. Watergate-Skandal 48-50 Weatherford, Jack 59 Wechselwirkung 255-257,259,261f, 267f., 285, 295f., 303, 308 Weinberg, Steven 297 Weir, Peter 153 Wellen, assoziierte 287 Wellen, delokalisierte 243,247 Wellen, stehende 233 Wellenfunktion,Kollaps 2 4 5 f., 2 5 9 f., 2 6 2, 281, 283, 285-288, 308f. – unnötiger 289 Welleninterferenz 242, 245 (•−› Interferenz) Wellenlänge 128f., 132, 134, 243 Welle-Teilchen-Dualismus 241, 247, 262 Welt, materielle 123,205 – Vorhersagbarkeit 216 Weltformel 291, 293, 307, 314, 321 Weltgeist 85 Weltwährung 62 Werbebotschaften, tägliche 40 Werbefachleute 30, 41 f. Werbeunternehmen 30 Werbung 40 – Herstellung von Konsens 41 Wheeler, John 304 Wheeler-DeWitt-Gleichungen 310 Wiener Kreis 325f. (•−› Positivismus) Wiesel, Torsten 195f. Wille, freier 14, 25, 216 «Wir» 74, 77 «Wir»-Intentionen 85f., 92f. (•−› «Ich»-Intentionalität; Intentionalität) Wirklichkeit 9f., 13, 112, 120f., 138, 145, 165, 185, 263, 318f., 331, 334 (•−› Erfahrung) – empirische 143,170,187,325 (•−› Empirismus) – in Einklang mit den Naturgesetzen 317 – individuelle 92 – jenseits der Sinneserfahrung 324 – konstruierte 40 (• −› Hyperrealität) – logisch schlüssige 15,174,317 – nicht lokale 277 – separate 318 – unbeobachteter Dinge 16,209
352
– von Menschen unabhängige 14, 17, 97, 119, 126, 132, 159, 165, 168 f., 189, 334 – «wirkliche» 29,158 (• −› Simulation) Wirklichkeit, gesellschaftliche 69,75,88,92, 97, 248 – konstruierte 75,95 Wirklichkeit, materielle 98,147, 248 Wirklichkeit,physikalische 215,238,283, 287, 290 – und Quantentheorie 240 – von Materie und Licht 265 Wirklichkeit, Wesen der •−› Annahmen 165,174,177 Wirklichkeitserkenntnis 123,143 – auf Quantenebene 238,265 – Grenze 250 – sinnliche 123 (•−› Sinnes-...) – wahre Natur 240 Wirklichkeitserklärung 103 – Theorienbildung 132 Wirklichkeitssimulation 30 (•−› Simulation) Wirklichkeitsverständnis 208 Wissenschaftler, böser 164,169,189,319 Wittgenstein, Ludwig 169 Woods, Bretton 63 Wurmlöcher 303 Wüste des Realen 46,48
X-Men 2 102,106 Z
apfen 128 f., 134 f. Zeit 108, i82f., 187, 215, 227, 229 – absolute 177,221,224,324 – Form des inneren Sinns 182,186 – gleichzeitiges Geschehen 186 – Produkt des menschlichen Geistes 192 – unbestimmbare 308 – Veränderung im Raum 185,310 Zeitintervall 302,304 Zeitmaß 216 Zeitreihe 183-185 Zeitreisen 154,157 Zemecki, Robert 89 Zenon 105-109 Zitrone 129-131,134,136,139 Zitronenexperiment 124-128 Zuordnungsproblem 175 Zwillingserde 198-201,203 f., 309 Zwillingswasser 200, 204