Die zweite Wirklichkeit � von Timothy Stahl
Sydney, Australien? Als Lilith erwachte, hatte sie das bedrückende Gefühl,...
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Die zweite Wirklichkeit � von Timothy Stahl
Sydney, Australien? Als Lilith erwachte, hatte sie das bedrückende Gefühl, ein ganzes Leben geträumt zu haben – ein anderes Leben; das Leben einer anderen … Vertraute Gerüche und Geräusche hießen sie jedoch in ihrem eigenen willkommen: Kaffeeduft zog von der Küche herauf, von irgendwoher drangen leise die Stimmen ihrer Eltern, und warmes Sonnenlicht fiel durch das Fenster und umschmeichelte ihr Gesicht. Ein Morgen wie jeder andere. Und doch empfand Lilith etwas als störend in der gewohnten Harmonie. Die eigenartige Gewißheit beispielsweise, daß ihre Eltern seit vielen Jahren – tot waren …!
Was bisher geschah � Alle Vampiroberhäupter rund um den Globus werden von einer schrecklichen Seuche befallen, die sie auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – können ihren Durst nach Blut nicht mehr stillen und altern rapide. Gleichzeitig wird in einem Kloster in Maine, USA, ein Knabe geboren, der sich der Kraft und Erfahrung der todgeweihten Vampire bedient, um schnell heranzuwachsen. Die Epidemie macht auch vor dem Häuptling eines Stammes von Vampir-Indianern nicht halt, die sich vom Bösen abgewandt haben, indem sie geistigen Kontakt zu ihren Totemtieren, den Adlern, halten. Makootemane kämpft mit dem Traumbild der Seuche – einem Purpurdrachen – und drängt ihn zurück. Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Kindes erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Rund um den Erdball reagieren para-sensible Menschen, träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer. Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Rafael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie aus einer Traumwelt, in der die Vampire die Erde beherrschen, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der den Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens sind mysteriös, scheinen aber eng an ein Tor gebunden, das er in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom bewacht. Gabriel, das Kind, wird auf das Tor – und die Mächte dahinter – aufmerksam. Er sucht das Kloster auf und erkundet die Lage. Gleichzeitig ruft er Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet … In der Zwischenzeit führt die Seuche einen zweiten Schlag gegen den Stamm der Vampir-Indianer. Hidden Moon, Makootemanes
Schüler, macht sich auf, um Lilith Eden um Hilfe zu bitten. Sie steht den Arapaho gegen die Seuche bei, die jedoch alle Adler und letztlich – durch Lilith – auch Makootemane tötet. So zerstreut sich der Stamm auf der Suche nach neuen Totemtieren, und Hidden Moon schließt sich Lilith an. Das wird beiden beinahe zum Verhängnis. Denn Lilith tötete unter dem Einfluß der Seuche Hidden Moons Totemadler, und nun »staut« sich das Böse in dem Arapaho. Fast zu spät erkennt er, daß Lilith die Rolle seines Totemtieres übernommen hat und er nur in ihrer Nähe dem Bösen widerstehen kann. Doch als seine angestauten Energien auf Lilith übergehen, verändert dies ihr Gleichgewicht: Liliths böse, vampirische Seite gewinnt die Oberhand! Und das ausgerechnet in einem Kampf gegen einen wahnsinnig gewordenen Vampir! Nur mit knapper Not können Lilith und Hidden Moon ihre wahre Natur wiederfinden und gegen den Vampir bestehen …
Für einen flüchtigen Moment verwandelte sich der Rest wohliger Morgenmüdigkeit in etwas, das wie schmelzendes Eis dicht unter Liliths Haut dahinfloß und unangenehm kribbelnde Schauer vagen Entsetzens darüberkriechen ließ. Dann war es vorbei; in dem Augenblick, da Lilith die erschreckende Ahnung, ihre Eltern wären tot, als das abtat, was sie nur sein konnte: als Überbleibsel ihres beängstigenden Traums. Ein Rest davon, der sich noch zäh und klebrig am Rand jenes Abgrundes aus Vergessen und Schwärze verfangen hatte, in den böse Träume nach dem Erwachen hinabgeschlürft wurden, als lauerte auf seinem Grund ein gefräßiger Moloch, der sich allein von düsteren Gedanken und Empfindungen nährte. »Meine Güte«, wunderte sich Lilith über ihre merkwürdigen Gedankengänge und sprang so hastig aus dem Bett, als wollte sie vor etwas fliehen, das ihrer nur darin habhaft werden konnte. Aber das seltsame Gefühl von Beklemmung hing ihr auch dann noch an, als sie inmitten ihres Zimmers stand. Und es nahm sogar um eine Winzigkeit zu, als sie einen kurzen Blick aus dem Fenster hinaus auf die Paddington Street warf, an der ihr Elternhaus als Nummer 333 lag. Zur Straße hin war es durch einen üppig wuchernden Garten mit riesigen Bäumen, die immerwährenden Schatten spendeten, und eine hohe, moosbewachsene Mauer abgegrenzt, so daß nichts von dem zu sehen war, was sich jenseits davon befand. Weil dort nichts mehr lag … Weil das Haus im Erdboden versunken war, nachdem … Wieder fröstelte Lilith und versuchte die lautlos wispernde Stimme zu ignorieren, die die furchteinflößenden Gespinste ihres kruden Traumes von neuem heraufbeschwor und zur Erinnerung an etwas tatsächlich Geschehenes machen wollte. An etwas, das in einem anderen Leben geschehen war. In einem Leben, das in einer anderen Welt stattfand. In einer Welt, die von anderen Wesen aus dem Verborgenen beherrscht und regiert wurde. Nicht von Menschen. Sondern von …
… Vampiren! Ein Splitter aus arktischer Kälte senkte sich in Liliths Herz! Der Blick in den Spiegel über der Frisierkommode weckte neues Entsetzen in ihr. Weil ihr Ebenbild darin ebensogut das einer anderen sein konnte! Allein das wogende Schwarz des Haares ließ erahnen, daß sie es war, die sich darin spiegelte. Alles andere war verschwommen, durchscheinend, als betrachtete man sich in der Oberfläche eines Teiches, dessen Wasser nicht ganz still stand. Sie besaß kein Spiegelbild! So wie die Vampire! Lilith schrie auf, spitz, aber nicht sehr laut, weil sie den Schrei erstickte, indem sie hastig die Schneidezähne in ihre Unterlippe grub. So fest, daß eine schimmernde Perle aus der kleinen Wunde quoll. Lilith strich mit dem Finger darüber – und erschrak von neuem. Denn der Tropfen war nicht blutrot, sondern von der Farbe eines Rubins; viel dunkler, als menschliches Blut es war. Dunkler, als es immer gewesen war – vor diesem Traum … Eine Täuschung! Lilith klammerte sich an den Gedanken, daß dies alles nicht mehr war als ein Streich ihrer Phantasie, die der Traum in einen kochenden Pfuhl verwandelt hatte, in dem Widersinniges neben Unmöglichem brodelte. Dennoch vermied sie es, ein weiteres Mal zum Spiegel auch nur hinzusehen, geschweige denn hinein, als sie fast fluchtartig aus ihrem Zimmer lief und die Tür hinter sich förmlich ins Schloß riß. »Nicht darüber nachdenken«, mahnte Lilith sich mit halb erhobenen Händen, während sie langsam ein paar Schritte den düsteren Korridor im Obergeschoß des Hauses hinablief. »Einfach nichts denken, an gar nichts.« Doch das war einfacher gesagt denn getan. Zumal es mit einemmal merkwürdig ruhig um sie her war – als wäre sie nicht länger Teil dieser Wirklichkeit. Die Stille war von sonderbar absoluter Art. Totenstille? Lilith schluckte hart, lauschte angespannt und mit angehaltenem
Atem. Kein Klappern von Geschirr oder sonst irgendein Geräusch drang von unten herauf. Die Stimmen ihrer Eltern, die sie im Bett liegend noch leise vernommen und jetzt doch eigentlich viel lauter hätte hören müssen, waren verstummt. Oder waren sie nie wirklich dagewesen? Weil ihre Eltern am Ende doch tot …? Lilith straffte sich – nicht halb so energisch, wie sie es sich zur Festigung ihrer Selbstsicherheit gewünscht hätte – und lief weiter den Flur hinab. Licht gelangte nur durch ein nicht sonderlich großes Buntglasfenster am Ende des Korridors in diesen Teil des großen Hauses. Die verschieden farbigen Teile ergaben ein sinnverwirrendes Muster, dessen Bedeutung sich Lilith nie erschlossen hatte. Heute morgen jedoch fiel ihr etwas daran auf, dem sie nie besondere Beachtung geschenkt hatte – Rot war darin die vorherrschende Farbe, in verschiedenen Schattierungen, doch nur eines davon war so dunkel wie ihr eigenes Blut … Sie schaffte es, das Frösteln zu unterdrücken, kaum daß es in ihrem Nacken begonnen hatte. »Verdammt«, zischte sie, »was ist nur mit mir los?« Nicht mir dir, meldete sich jene tonlose und doch so boshafte Stimme zwischen ihren Gedanken wieder. Die Frage muß heißen: Was ist mit deiner Umgebung los – mit deiner Welt, deiner Wirklichkeit? »Halt die Klappe!« fauchte Lilith, beseelt von einer Art Wut, die allein Jugendliche zu empfinden in der Lage waren – wenn sie meinten, die Welt selbst hätte sich gegen sie verschworen … Sie erreichte die letzte Tür auf der rechten Flurseite, faßte nach der Klinke und zögerte noch einen winzigen Moment, ehe sie sie dann doch reichlich ungestüm aufriß. Das geräumige Zimmer dahinter war leer. Das breite Doppelbett mit dem (blut)roten Baldachin darüber schien unbenutzt … Ein Anblick, wie Lilith ihn seit eh und je kannte. Wenn ihre Mutter die Betten machte und das Schlafzimmer am
Morgen in Ordnung brachte, sah es hinterher stets aus wie auf einem Bild in einem Möbelhauskatalog. Sie schloß die Tür und ging zurück. Einen Augenblick lang wollte Lilith direkt zur Treppe und hinuntergehen, nur um wirkliche Gewißheit zu haben, daß tatsächlich alles in Ordnung war. Doch sie blieb eisern und tat es nicht, weil sie dem bösen Stimmchen damit nur in die Hände gespielt hätte – denn es hätte nur gezeigt, daß sie eben doch nicht hundertprozentig überzeugt war. Und das war sie! Weil sie es sein wollte! Alles war in bester Ordnung. Dies war ein Morgen wie jeder andere, dem ein Tag wie jeder andere folgen würde. Und mit jeder einzelnen Minute dieses Tages würde der böse Traum ein bißchen mehr verblassen – und an Macht verlieren? »Er hat keine Macht über mich!« Trotzig öffnete Lilith die Tür zum Badezimmer – wie sie es jeden Morgen tat. Und wie jeden Morgen würde sie sich jetzt die Zähne putzen (Vor allem die Eckzähne, kicherte das Stimmchen), und … Lilith verharrte erschrocken. Nebel füllte den Raum, warm und stickig. Und hinter dem Grau bewegte sich etwas. Wasser tropfte. Dann klang ein anderes Geräusch auf. Ein dumpfes Rumpeln, ganz kurz nur, gefolgt von feuchten Schritten. Jemand trat aus dem Nebel auf Lilith zu. Entsetzt aus einem Grund, den sie nicht kannte, und wie gelähmt starrte sie der Gestalt entgegen. »Guten Morgen, mein Schatz«, sagte ihr Vater. Und dann: »Hast du schlecht geträumt?«
* Daß sich der Tonfall ihres Vaters verändert hatte, wurde Lilith erst � bewußt, als sie seinen sorgenvollen Blick wie eine zärtliche Berüh-
rung spürte. Im allerersten Moment hatte sie den Eindruck gehabt, er hätte im selben gutgelaunten Ton, in dem er ihr einen guten Morgen gewünscht hatte, auch gefragt, ob sie schlecht geträumt hatte – als würde er sich darüber freuen, wenn es so gewesen wäre … »Wie kommst du darauf?« fragte sie verwirrt. Sean Lancaster war ein Mann, nach dem Frauen sich schon einmal umdrehten: groß, kräftig, aber nicht übertrieben muskulös, eher sehnig. Sein sorgsam gestutzter Vollbart unterstrich noch die markanten Züge seines Gesichtes. Selbst seine Tochter hatte ihn stets für einen gutaussehenden Mann gehalten – bis heute, bis zu diesem Moment, da er aus der Duschkabine hervorgetreten war und auf sie zukam. Dabei hatte er sich nicht wirklich verändert, sah man von seinem nassen Haar und den Wasserperlen ab, die glitzernde Spuren über seine nackte Haut zogen. Aber irgend etwas war anders, meinte Lilith – etwas, das ihn unsichtbar umflorte, wie eine Aura aus Kälte und etwas anderem, für das sie nicht das rechte Wort fand. Einen Schritt vor ihr blieb er stehen, sie um Haupteslänge überragend. Er streckte die Hand vor, und Lilith erschauerte unter der bloßen Erwartung seiner Berührung. Kalt würde sie sein, eisig kalt, wie das, was ihren Vater umgab, und die Kälte würde auf sie übergreifen, sie durchfließen und … … und dann war es vorbei. Warm und sanft war die Berührung seiner Hand; wie eine laue Sommerbrise strich sie über ihre Wange und drängte die unangenehme Kälte, die allein in ihr war (und sonst nirgends!) ein Stück zurück, dorthin, wo sie Lilith nichts mehr anhaben konnte. Sie faßte nach seinen Fingern, hielt sie fest, küßte behutsam seinen Handballen. »Danke«, flüsterte sie. »Wofür denn?« stutzte Sean Lancaster. Lilith schloß die Augen. »Dafür, daß du da bist.«
Sie schlang ihre Arme um seinen Oberkörper und drückte sich gegen ihn, so fest, als wollte sie sich in ihm verkriechen, weil er ihr Schutz bieten würde vor allem Übel. Und ein kleines bißchen war es auch so. Das Gefühl seiner Nähe half ihr zu vergessen – und zurückzufinden in die Wirklichkeit, in die tatsächliche Welt, fort von der, die ihr der böse Traum vorgegaukelt hatte. Weg von diesem anderen, diesem furchtbaren Leben, das sie im Schlaf hatte durchmachen müssen. »Das werde ich immer sein«, sagte ihr Vater. »Ich weiß«, erwiderte sie. »Ist wirklich alles in Ordnung?« fragte er. »Alles in Ordnung«, antwortete Lilith. Wie immer, ergänzte sie, jedoch nur im stillen. »Nun gut«, meinte er und drängte seine Tochter sanft von sich. »Dann beeil dich. Deine Mutter wartet mit dem Frühstück auf uns.« »Ja, das tu ich.« Sie hauchte ihrem Vater einen Kuß aufs bärtige Kinn und schlüpfte unter die Dusche. Obwohl sie eben noch versprochen hatte, sich zu beeilen, ließ sie sich an diesem Morgen besonders viel Zeit. Weil sie den eigentümlichen Zwang verspürte, ihren Körper ganz besonders gründlich säubern zu müssen. Weil sie glaubte, etwas läge auf ihrer Haut – hauteng im wahrsten Sinne des Wortes und hauchdünn, aber ungemein hartnäckig, wie etwas Klebriges. Unter dem heißen Wasser stehend, rubbelte Lilith so heftig über ihre Haut, als litte sie unter juckendem Ausschlag, doch das seltsame Etwas ließ sich nicht abwaschen. Es war … … als würden sich unzählige winzige, mit Widerhaken besetzte Zähne hineinbeißen … … und es tat – weh! Trotzdem war es ein seltsam vertrauter Schmerz, der seine einstige Stärke über die Jahre verloren hatte … Dann verebbte er wieder, so blitzartig, wie er gekommen war. In
dem Moment, da Lilith ihn als weiteren Teil des bösen Traumes entlarvte. Das Gefühl, daß da etwas auf ihrer Haut lag, wich jedoch nicht. Lilith beeilte sich nun doch mit der Morgentoilette, schon um sich durch die selbst auferlegte Hetze abzulenken. In ihrem Zimmer suchte sie dann rasch (und wieder ohne in den Spiegel zu sehen!) Kleidung aus dem Schrank heraus, zog sich an und stürmte hinab ins Erdgeschoß, durch die kleine Halle und ins Speisezimmer, wo ihre Eltern mit dem Frühstück schon begonnen hatten. »Sorry«, grinste ihr Vater kauend, »ich wäre sonst verhungert.« »Schon gut«, lächelte sie, hauchte ihrer Mutter im Vorübereilen einen Kuß auf die Wange und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. »Du hast schlecht geträumt?« fragte ihre Mutter, Creanna Lancaster, über den Tisch hinweg. »Wie kommst du denn darauf?« fragte Lilith. »Dein Vater hat …« Lilith sah zu Sean hin. »Wie kommst du denn darauf? Ich habe doch gar nichts gesagt …« Er lächelte. »Es gibt nicht nur weibliche Intuition«, belehrte er sie. Ihre Mutter erhob sich, nahm eine kleine Porzellankanne von einem Stövchen und trat neben ihre Tochter. »Hier, ich habe dir den Tee gemacht, den du so gerne magst. Danach wird es dir gleich besser gehen, mein Kind.« Sie kippte die Kanne ein wenig. Der Tee floß in Liliths Tasse. Er schien ihr eigenartig dickflüssig. Und er war rot. Blutrot!
*
»Lilith!« Der erschrockene Ruf ihres Vaters mischte sich noch in das Klirren und Scheppern, mit dem das Porzellan auf dem Boden zersprang. Mit einer Armbewegung, geboren aus Schrecken und Entsetzen, hatte Lilith ihr Gedeck vom Tisch gefegt und ihrer Mutter die Teekanne aus der Hand geschlagen. Jetzt zerlief der Tee zu ihren Füßen in einer Pfütze – wässrig und farblos; nicht dickflüssig und schon gar nicht blutrot. Ihre Mutter stand wie zur Salzsäule erstarrt inmitten der Scherben. Im Blick ihres Vaters wechselten Erschrecken und Zorn einander ab wie ein Blitzgewitter. »Verdammt, was ist in dich gefahren?« stieß er hervor. »Ich …«, stammelte sie, viel tiefer auf ganz andere Art erschrocken als ihre Eltern, »… ich weiß nicht … der Tee …« »Was ist damit?« »Laß gut sein«, sagte Creanna ruhig. »Das Kind ist durcheinander. Es ist ja auch nicht so schlimm.« Sie wies auf die Bescherung zu ihren Füßen, und sie tat es sogar mit einem kleinen Lächeln, das jedoch nicht über ihre Sorge hinwegzutäuschen vermochte. »Ich räume das rasch weg«, sagte Lilith leise und stand auf. »Tut mir leid, Mutter, wirklich.« »Schon gut, mein Kind.« In der Küche blieb Lilith für ein paar Sekunden stehen, versuchte tief und ruhig zu atmen und vor allem Ordnung in das Chaos hinter ihrer Stirn zu bringen. Was war nur mit ihr los? Wie konnte ein simpler Traum – und mochte er auch noch so alptraumhaft gewesen sein – ihr gesamtes Denken und Empfinden, ihr ganzes Tun, ja, ihr Leben dermaßen durcheinanderbringen? Er konnte es nicht. Wenn sie es nicht zuließ! Und sie war entschlossen, es nicht zuzulassen. Jeden Gedanken,
der der Normalität zuwiderlief, der nie Geschehenes zu Tatsächlichem machen wollte, würde sie konsequent kappen, einfach nicht zu Ende denken. »So einfach ist das«, dachte sie laut, während sie aus einem Wandschrank einen Putzlappen sowie Besen und Kehrichtschaufel nahm. Damit wollte sie zurück ins Speisezimmer gehen, doch sie verhielt hinter der Ecke – und lauschte. »Ich mache mir Sorgen, Creanna«, hörte sie die Stimme ihres Vaters. »Ja, ich auch«, antwortete ihre Mutter. »Vielleicht ist sie krank – oder sie brütet etwas aus?« meinte Sean Lancaster. »Das glaube ich nicht«, sagte Creanna langsam. »Vielmehr scheint mir, daß – psychisch etwas nicht mit ihr stimmt …« »Ja, könnte sein«, erwiderte ihr Vater. »Was hältst du davon, wenn ich Brian zum Abendessen einlade? Möglicherweise erkennt er die Ursache für Liliths merkwürdiges Verhalten eher als wir?« »Brian Secada?« fragte Creanna. Lilith konnte das unwirsche Stirnrunzeln ihrer Mutter fast hören. »Er ist Parapsychologe«, fuhr sie dann fort. »Wie sollte er …?« »Er dürfte sich auch auf ›normale‹ Psychologie verstehen«, meinte Sean Lancaster. »Zumindest mehr als wir.« »Aber Lilith ist unsere Tochter, und niemand sollte sich besser in sie einfühlen können als wir.« »Mag sein«, entgegnete ihr Vater. »Andererseits kann es auch nicht schaden, wenn er sie sich einmal unauffällig ansieht, oder?« »Nun, das wohl nicht«, stimmte Creanna zu. »Ich bin nicht verrückt!« Lilith stürmte das Speisezimmer förmlich, aufgebracht und zugleich verletzt durch die Unterhaltung, deren Zeugin sie geworden war. »Kindchen, das behauptet doch auch niemand«, sagte ihre Mutter
und lief ihr mit halb ausgebreiteten Armen entgegen. Lilith ließ sich jedoch nicht von ihr umarmen, sondern trat demonstrativ einen Schritt zurück. »Aber ihr glaubt es«, erwiderte sie hart. »Und nenn mich bitte nicht Kindchen, Mutter. Ich bin …« … über hundert Jahre alt! Lilith sprach die Worte nicht aus. Zum einen, weil sie ihr einfach nicht über die Lippen kamen, obwohl sie fast spürbar und wie ein übler Geschmack auf der Zunge lagen; zum anderen, weil ihr das Entsetzen die Stimme versagen ließ – Entsetzen darüber, daß die alberne Altersbehauptung wie etwas völlig Selbstverständliches in ihrem Bewußtsein war, abrufbereit. Creanna lächelte milde. »Sieben oder siebzehn Jahre, was macht das schon für einen Unterschied? Meine Tochter wirst du immer bleiben, Lilith – mein ›Kindchen‹ eben.« Lilith senkte den Blick. »Ich hab’s nicht so gemeint, entschuldige. Aber – ich bin nicht verrückt, das müßt ihr mir glauben.« Ihren Worten fehlte die rechte Überzeugungskraft, weil Lilith in sich selbst nicht genügend davon fand. Nur Zweifel waren da … »Natürlich glauben wir dir.« Sean Lancaster trat zu ihnen und zog sie beide in seine Arme. »Aber vielleicht kann unser Freund Brian dir helfen, besser zu verarbeiten, was dich bedrückt«, meinte er. »Ich lege mich nicht auf die Couch eines Psycho-Docs«, erklärte Lilith trotzig. »Das verlangt doch auch niemand von dir«, erwiderte Creanna. »Vielleicht würde es ja schon genügen, wenn du uns erzähltest, was mit dir los ist?« Lilith löste sich aus dem Griff ihres Vaters. Vor dem Fenster blieb sie stehen, sah hinaus in den üppig grünen Garten, in die goldgesprenkelten Schatten der Baumkronen, in denen Vögel zirpten und turtelten – in eine Welt, wie sie heiler nicht sein konnte. Dem Anschein nach. Denn zum ersten Mal in ihren Leben kam es
Lilith vor, als wäre alles, was sie sah, nicht mehr als eine Maske; etwas wie eine dünne Schicht, auf die all diese Bilder nur aufgemalt waren. Dahinter mochte sich etwas ganz anderes verbergen; all das, was eigentlich in diese Welt gehört hätte, aber aus ihr verbannt worden war, weil es die perfekte Harmonie gestört hätte. Hinter dieser Wirklichkeit lag vielleicht eine andere – und Lilith war fast sicher, daß es sich dabei um jene handelte, in die ihr Traum sie geführt hatte. Sie zwinkerte zwei-, dreimal, als müßte sie den Schlaf aus ihren Augen blinzeln – und die scheinbare Künstlichkeit der Welt da draußen verschwand. Übergangslos stellte sich jene Natürlichkeit an, die Lilith seit jeher kannte. Und jeder Gedanke, daß es anders sein könnte, erschien ihr mit einemmal lächerlich. So lächerlich wie ihr Traum … »Es ist … albern«, sagte sie und wandte sich wieder zu ihren Eltern um, ein zaghaftes Lächeln auf den Lippen. »Erzähl’s trotzdem«, verlangte ihr Vater freundlich. »Es ist … Ich habe in der Tat schlecht geträumt«, sagte sie. »Wovon?« wollte ihre Mutter wissen. Lilith zögerte zwei oder drei Sekunden, suchte nach den richtigen Worten. »Von einer anderen Welt«, antwortete sie dann. »Von einem anderen Leben.« Sean Lancasters linke Braue wanderte eine Winzigkeit nach oben. Ein feines Lächeln kräuselte seine Lippen und ließ seinen dunklen Bart kaum hörbar knistern. »Was war das für ein Leben?« fragte er, und für einen flüchtigen Moment meinte Lilith wieder jene fremde Aura um ihn zu spüren, wie vorhin schon oben im Badezimmer. Das hieß, sie spürte sie nicht einmal wirklich. Lediglich die Gänsehaut, die über ihre Arme rieselte, machte sie darauf aufmerksam – oder weckte zumindest die unangenehme Erinnerung daran.
»Es war …«, setzte Lilith mit einem grimassenhaften Lächeln an, »… meine Güte, es ist so lächerlich.« Und sie war sicher, daß es richtig peinlich werden würde, sobald sie die Worte erst einmal ausgesprochen hatte! Der Blick ihrer Mutter signalisierte ihr, daß sie unbesorgt sein konnte. Weder sie noch ihr Vater würden es albern finden. Aber sie hatte ja auch keine Ahnung, was ihre Tochter ihnen mitzuteilen im Begriff war … »Es war eine Welt, in der Vampire über die Menschen herrschten«, stieß sie dann endlich hervor. So hastig, als würde sie die Worte regelrecht ausspucken. »Und sie haben mich gejagt, überall auf der Welt«, sprudelte es weiter aus ihr hervor. »Weil es meine Aufgabe war, sie …« Lilith zögerte von neuem. »Ja?« ermunterte Creanna sie. »… sie auszurotten.« Sekundenlang sprach niemand ein Wort. Die Stille senkte sich wie ein tatsächliches Gewicht über sie, lastend, drückend. »Bescheuert, oder?« Lilith versuchte zu grinsen, doch es wurde nur ein kläglicher Zug um ihre Lippen daraus. Creanna nahm sie in den Arm. »Nein, es muß fürchterlich gewesen sein«, sagte sie voller ehrlichem Mitleid. »Aber es ist vorbei, es war nur ein Traum, Kindchen.« »Ja«, flüsterte auch Sean. »Nur ein Traum …« Die Wärme der Umarmung ihrer Mutter konnte nicht verhindern, daß ein neuerlicher Schauer Lilith überlief. Etwas wie ein jenseitiger Hauch streifte sie, auf völlig andere und unnennbare Weise kälter, als Eis und Frost es waren. Die Stimme ihres Vaters hatte nicht anteilnehmend geklungen, sondern auf seltsame Art zufrieden, wissend – und vor allem unsagbar fremd. Und seine Augen – für den Bruchteil einer Sekunde hatte Liliths Blick sich mit dem seinen vereinigt – schienen für eben diese Zeit-
spanne nicht die seinen gewesen zu sein. Sondern die eines … … Tieres?
* Zur selben Zeit, nicht weit entfernt … Der junge Mann erwachte aus Träumen, die ihm verboten waren. Doch die Bilder – und vor allem, was sie bewirkten – vergingen, kaum daß er die Augen geöffnet hatte und die karge Einrichtung seiner Unterkunft wahrnahm. Das Kribbeln in seinen Lenden verebbte, und das dort gestaute Blut floß zurück. Soweit hatte er die Sache also schon im Griff. Doch das Zölibat, das ihm das angestrebte Amt abverlangte, war nicht sein eigentliches Problem. Im Grunde war es das geringste von allen. Zwar hatte er schon amouröse Erlebnisse hinter sich, aber irgendwie war jedes davon enttäuschend gewesen – nicht so aufregend jedenfalls, wie er es sich vorher in seiner Phantasie ausgemalt hatte. Und so hatte er Sex nie zu den Dingen gezählt, die einen festen Platz im Leben haben mußten – nicht in seinem zumindest. Sex war für ihn etwas, das ihm zweifelsohne Befriedigung verschafft hatte – doch das gleiche Gefühl konnte er für sich auch in anderen Dingen erlangen, die sicher auch eine Menge mit Liebe zu tun hatten, nur eben nicht körperlicher. Nein, seine Zweifel an der Richtigkeit seiner Entscheidung, Priester zu werden, gründeten auf anderen Dingen. Darauf zum Beispiel, ob diese Welt überhaupt noch mehr Männer in Soutanen brauchte, die das Wort Gottes verkündeten und den Menschen predigten, Gutes zu tun. Das taten sie doch ohnehin, und was die Bibel »das Böse« nannte, existierte augenscheinlich nur auf den Seiten dieses Buches der Bücher …
Wozu sollte er sich also in den Dienst einer Sache stellen, die auch ohne sein Zutun funktionierte? Weil es nicht so bleiben muß, hörte er in Gedanken einmal mehr jene Stimme, die nicht seine eigene war, die sich aber immer dann meldete, wenn er stumme Zwiesprache mit sich selbst hielt – oder wortlos zu monologisieren glaubte. Denn, wie gesagt, war ihm jene Stimme zum einen fremd (wenn auch seltsam vertraut), und zum anderen widersprach sie oft genug seinen eigenen Gedanken und Überzeugungen. Irgendwann, dachte er, durch die andere Stimme in eine bestimmte Richtung bewegt, könnte »das Böse«, von dem bislang nur die Rede war, in Erscheinung treten – aufweiche Weise auch immer –, und dann bedurfte es Menschen, die gewappnet waren und ihm Paroli boten. Der Vergleich mit der Feuerwehr schien ihm nahezuliegen. Auch sie wurde nicht gebraucht, solange es nicht brannte. Aber wenn der Fall der Fälle eintrat, mußte sie eingreifen. Und die Menschen waren beruhigt der bloßen Tatsache wegen, daß dieser Notdienst bei Fuße stand, um im Bedarfsfall zu ihrem Wohle aktiv zu werden. Einen recht ähnlichen Zweck mochte die Priesterschaft erfüllen. Lächelnd, weil er mit sich im reinen war, stand der junge Mann auf. Und verharrte in halb gebückter Haltung, die einem zufälligen Beobachter grotesk vorgekommen wäre! Doch er war allein. Oder zumindest war niemand da, der sich über sein seltsames Verhalten hätte wundern können. Denn etwas war da … Nicht körperlich und nicht zu sehen, aber spürbar. Eine Art Impuls, ein Signal, mehr noch: ein Locken, dem sich der junge PriesterAspirant nicht widersetzen konnte. Wohl auch deshalb, weil er es nicht wollte. Denn es ging nichts Schlimmes aus von dem, was ihn da rief, wenn auch ohne Worte und selbst ohne Stimme. Dennoch schien ihm dieser Vergleich noch am passendsten: Etwas (nicht einmal je-
mand, das wußte und spürte er) rief nach ihm, auf eine Weise, die sich allein schon dem Versuch des Verstehenwollens entzog. Und es war etwas wie ein Hilferuf, der ihn da ereilte – und zugleich ein Befehl. Der junge Mann folgte der »Spur«, ohne sie wirklich suchen zu müssen. Wie an einem unsichtbaren Band gezogen, fand er seinen Weg. Er führte ihn durch die Küche, die er gemeinsam mit Pater Lorrimer, dem Vorstand dieser Pfarrei, nutzte. Dann den schmalen Gang zur Sakristei entlang, auch dort hindurch und schließlich durch die niedrige Tür in den Altarraum der kleinen Kirche am Trumper Park. Leer und verlassen lag das schmale und nicht sonderlich auffallend geschmückte Kirchenschiff vor ihm. Das Licht, das durch die Buntglasfenster von draußen einfiel, schuf mehr Schatten, als daß es das Gotteshaus erhellt hätte. Trotzdem genügten dem jungen Mann die Sichtverhältnisse, um erkennen zu lassen, daß sich außer ihm niemand hier befand. Er erinnerte sich, daß der Pater gestern gesagt hatte, heute morgen einige Krankenbesuche absolvieren zu wollen. Und Adele, die Haushälterin, kam nur noch zweimal in der Woche vorbei, seitdem er hier lebte und im Auftrag Pater Lorrimers einen Teil der Hausarbeit übernommen hatte. Atemlose, mehr als nur andächtige Stille herrschte. Dem jungen Priesteranwärter kam sie vor wie die Ruhe vor dem Sturm … Ein seltsam kieksender Laut wehte durch die Kirche. Der junge Mann schrak zusammen, weil ihm gar nicht bewußt war, daß er selbst das Geräusch ausgestoßen hatte. Eine Folge des merkwürdigen Gedankens, der hinter seiner Stirn entstanden war. Ruhe vor dem Sturm … Was sollte das für ein Sturm sein, der dieser Ruhe folgen konnte? fragte er sich. Und was war mit dem Ruf, der ihn hierher geleitet hatte? Mit dem
Betreten des Altarraumes war er wie abgerissen verstummt. Bis jetzt … Doch nun, da er den Impuls wieder verspürte, war er anders. Unsichtbare Hände schienen sich um sein Gesicht zu legen und sanft, ohne wirklichen Druck, seinen Blick in eine bestimmte Richtung zu lenken. Andere Hände schoben ihn behutsam voran, so daß er automatisch einen Fuß vor den anderen setzte. Bis er unter dem gewaltigen Kruzifix stehenblieb, das die Stirnseite des Altarraumes zierte. Eine lebensgroße Heilandfigur hing daran, von der die Farbe längst abgeblättert war. Der Blick der hölzernen Augen war leer und tot – bei flüchtigem Hinsehen. Nur wer länger hinaufblickte, erkannte etwas darin. Und vielleicht konnte auch das nicht jeder. Der junge Mann jedenfalls glaubte, Leid und Zuversicht zugleich in den blanken Holzaugen dort oben zu sehen. Schon etliche Stunden hatte er in der Vergangenheit hier zugebracht, Zwiesprache mit dem Erlöser gesucht und zumindest einen geduldigen Zuhörer gefunden. Heute jedoch war etwas anders. Die Dornenkrone schien – zu glühen? Nicht unter Hitze allerdings, sondern in einem kalten Licht, das heller, strahlender war als alles, was der junge Nachwuchspriester je zuvor geschaut hatte. Er schluckte hart und trocken, denn es war noch nicht vorbei. Obwohl das Licht in seinen Augen schmerzte und sie längst tränen ließ, wandte er den Blick nicht ab. Zu sehr faszinierte ihn, was dort geschah – aber … geschah es überhaupt? Löste sich tatsächlich etwas wie eine funkelnde Perle aus dem umkränzten Haupt – ein Blutstropfen etwa? Und fiel er wirklich herab, nicht blutrot, sondern purpurfarben gleißend? Größer und größer schien er zu werden, je näher er dem Gesicht des jungen Mannes kam, und noch immer glaubte er sich zu täuschen, weil es nicht anders sein konnte. Diese kleine Kirche war nicht
der Ort für ein Wunder – oder wie immer man nennen würde, was hier zu passieren schien. Der Tropfen traf auf seine Stirn, beißend kalt. Der junge Priesteranwärter stöhnte auf, darauf wartend, daß die Kälte sich über sein Gesicht verteilen würde, weil der Tropfen auseinanderlaufen mußte. Doch das geschah nicht. Die Kälte drang durch seine Haut, durch den Schädelknochen – und verschwand. Einen Moment lang hatte er den Eindruck, seine Umgebung wie durch einen Purpur-Filter wahrzunehmen, dann verging auch das, so rasch, daß es eine Täuschung sein konnte. Aber der junge Mann wußte, daß nichts von all dem eine Täuschung gewesen war. Wenn ihm auch der wahre Sinn verwehrt blieb. Noch … Er spürte, daß etwas ihn erleuchtet hatte und wissen ließ, daß seine Entscheidung, sich in den Dienst der Kirche zu stellen, richtig gewesen war. Denn seine »Bewährungsprobe«, sein ganz persönlicher »Fall der Fälle«, stand bevor. Weil etwas geschah. Nicht weit entfernt …
* Lilith hatte es geschafft. Seit Minuten lag sie nun schon auf ihrem Bett – und dachte an nichts. Fast jedenfalls … Zumindest aber hatte sie eine Methode gefunden, wie sie dem, was wieder und wieder tief aus ihrem Innersten aufsteigen wollte, Herr werden konnte. Wann immer sie spürte, daß etwas nach ihren Gedanken griff, um sie zu verändern, zu fälschen, dachte sie an etwas völlig Belangloses. Daran, wie sie als Kind die Vögel draußen in den Bäumen beim
Nestbau beobachtet hatte; wie sie mit ihrer Mutter zum Einkaufen ging; wie sie in der Schule ihre Mathematiknote mittels einer halbgeöffneten Bluse verbessert hatte; wie sie und Harold zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten … Trotzdem schien ihr selbst an diesen Gedanken irgend etwas falsch. Sie waren da, in ihrem Kopf, waren Teil ihrer Erinnerung. Und doch schien es Lilith auf seltsame Weise, als ob sie diese Dinge doch nie selbst wirklich erlebt hatte – sondern nur … geträumt? Auch diesen Gedanken bekämpfte Lilith, indem sie ihm einen anderen entgegensetzte, und sie hatte Erfolg damit. Das Gefühl, sich zu täuschen, verging – oder zog sich vielmehr zurück, legte sich auf die Lauer, um sich wenig später von neuem in ihr Denken zu stehlen. Doch Lilith wurde nicht müde, dagegen anzugehen. Wie sie überhaupt nicht müde werden durfte, weil sie fürchtete, der Traum könne wiederkehren – oder gar eine Fortsetzung finden. Mit offenen, fast schon aufgerissenen Augen starrte sie zur Decke hoch – und dachte daran, wie sie ihrem Vater geholfen hatte, sie zu weißeln. Wie lange war das her? überlegte sie. Zwei, allerhöchstens drei Monate. Eine feine Nase wie die ihre konnte sogar jetzt noch den Geruch der frischen Farbe wahrnehmen. Sie hatten eine Menge Spaß gehabt bei ihrer kleinen Zimmerrenovierung … Lilith lächelte. Nicht in der Erinnerung an die Aktion, sondern weil sie merkte, daß die falschen Gedanken ein weiteres Mal verwehten … Sie hörte, wie die Tür geöffnet wurde, und wandte den Kopf. Kupferfarben leuchtete das Haar ihrer Mutter im Türspalt, ihr Lächeln empfand Lilith wie eine Woge von Wärme, doch der Ausdruck von Sorge in Creannas schönen Augen beunruhigte sie. Offenbar hatten ihre Eltern – oder zumindest ihre Mutter – die Angelegenheit nach ihrem Gespräch im Speisezimmer doch nicht so leicht abgetan, wie sie sich den Anschein gegeben hatten.
»Hast du geschlafen, mein Mädchen?« fragte Creanna. »Nein«, sagte Lilith und fügte in Gedanken hinzu: Ich werde mich hüten …! »Geht es dir besser?« Lilith nickte lächelnd. »Ja, alles in Ordnung, Mutter.« Creanna trat nun ganz ins Zimmer und wies mit einem Lächeln, aus dem die Sorge um ihre Tochter zu verschwinden begann, zum Fenster hin. Dahinter tauchte die Sonne die Welt in warme Goldtöne. »Du solltest einen so schönen Tag nicht als Stubenhockerin zubringen«, meinte Creanna. »Warum unternimmst du nicht etwas, hm? Geh doch rüber zu deiner Freundin Marsha …« Lilith sah ihre Mutter verwundert, beinahe schon entsetzt an. »Was redest du da, Mutter? Marsha ist doch tot …!«
* »Was?« Creanna starrte ihre Tochter an wie einen Geist – gelinde ausgedrückt. Was Lilith tatsächlich im bestürzten Blick ihrer Mutter sah, kündete von etwas anderem: vom Zweifel, den sie an der geistigen Unversehrtheit ihrer Tochter hegte. Die wenigen Sekunden, in denen Lilith durch das kurze Gespräch mit ihrer Mutter abgelenkt gewesen war, hatte dem, was sie als »die Macht des Traumes« bezeichnete, genügt, um ihr Denken ein weiteres Mal zu durchsetzen, zu vergiften. Aber, und Lilith erkannte es mit sprunghaft wachsendem Entsetzen, es war im Grunde noch schlimmer: Denn so wie sie sich beim Aufwachen heute morgen des Todes ihrer Eltern gewiß gewesen war, wußte sie nun auch, daß Marsha, ihre beste Freundin von frühester Kindheit an, gestorben war, denn … … sie selbst war ja dabei gewesen!
Als uralte Greisin hatte Marsha schließlich den Tod gefunden, war an nichts anderem als Altersschwäche gestorben – zwei Jahre vor der Zeit … Vor der Zeit? stolperte Lilith über die eigenen (nein, nicht die eigenen – über die fremden, die falschen) Gedanken. Vor welcher Zeit …? Und – Marsha eine »uralte Greisin«? Das war unmöglich! FALSCH! Marsha war kaum älter als sie selbst – siebzehn Jahre jung! Der Tod und jeder Gedanke ans Sterben lagen ihr mindestens so weit fern wie der Mond … … in dessen Silberlicht es sich so wunderbar baden ließ; es regenerierte die Kraft des Körpers, – weckte neue Energien – und Lust auf … »Nein!« Lilith schrie auf, richtete sich wie von einer stählernen Feder getrieben im Bett auf, preßte sich die Hände gegen die Schläfen, als könnte sie damit unterdrücken, was dahinter ohne ihr eigenes Zutun vorging! Und es half. Ein bißchen wenigstens. Die falschen Bilder verblaßten, verloren ihre Farbe wie alte Fotografien. Andere – die richtigen! – schoben sich darüber, so daß Lilith ihre Erinnerungen für ein paar Augenblicke wie Doppelbelichtungen vorkamen. Dann war es vorbei. Zumindest die Bilder waren verschwunden. Die Angst indes blieb. Die Angst davor, daß es – was immer es auch sein mochte – jederzeit von neuem beginnen konnte, und daß sie ihm hilflos ausgeliefert sein könnte. »Ich muß hier raus«, flüsterte Lilith heiser. Sie schwang sich vom Bett. »Warum?« rief Creanna. Sie breitete die Arme aus, um ihre Tochter aufzuhalten, doch Lilith schlüpfte an ihr vorbei. »Wo willst du hin?« rief ihr die Mutter nach. »Zu Marsha«, erwiderte Lilith laut, doch sie änderte ihre Pläne
noch in derselben Sekunde. Nein, sie würde nicht zu Marsha laufen (denn Marsha war tot, tot, TOT!). »Nein, das ist sie nicht«, knirschte Lilith, während sie schon die Treppe hinunterstürmte. Aber Marsha war jetzt nicht die Gesellschaft, die sie brauchte. Die Freundin würde ihr nicht die Ablenkung geben können, nach der ihr verlangte. Lilith sehnte sich nach jemandem, der ihr den Himmel auf Erden bereiten konnte. Damit sie der Hölle entrinnen konnte … »Harold«, stieß sie hervor, als sie über den Plattenweg durch den wuchernden Garten hinab zum schmiedeeisernen Tor rannte, »bitte sei zu Hause. Bitte, bitte …« Sie riß das Tor auf, taumelte hindurch – und prallte zurück! Der junge Mann, mit dem sie in ihrer Eile zusammengestoßen war, hatte mehr Pech. Er stürzte durch Liliths Wucht und fiel auf den Hosenboden. Trotzdem lag ein jungenhaftes Lächeln auf seinem aparten Gesicht, als er zu ihr hochsah. In einer anderen Situation hätte sie es vielleicht sogar mehr als nur anziehend gefunden. »Tut mir leid«, sagte sie schnell. Sie reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen. Er griff zwar danach, erhob sich aber dennoch aus eigener Kraft. Doch die Berührung genügte, um etwas in Lilith auszulösen. Etwas zu wecken, heraufzubeschwören … Ein weiteres Bild. Eines, das ein Dutzend verschiedener Emotionen mit sich brachte, keine davon greifbar, weil sie durcheinanderwirbelten wie von einem Tornado erfaßt. Dennoch blieb jedes einzelne davon zutiefst vertraut (wie dieses Gesicht), und Schmerz war jenes darunter, das Lilith zu erkennen vermochte … Der junge Mann klopfte sich den Staub von seiner dunklen Hose. »Nein«, sagte er währenddessen, »ich muß mich entschuldigen. Schließlich war ich es, der Ihnen im Wege stand.« Mit einer linkischen Geste wies er zwischen sich, dem Tor und Lilith hin und her.
»Mein Name ist …«, setzte er dann an. Lilith nickte lahm. »Ich weiß.« Das Gesicht des jungen Mannes mutierte zum Fragezeichen. Verwirrt strich er sich Strähnen seines blonden Haares aus der Stirn. »Sie wissen, wie ich heiße?« hakte er verwundert nach. Wieder nickte Lilith. Ihr Gesichtsausdruck hatte etwas Trancehaftes. »Ja, Duncan … Duncan Luther.« Ein Lächeln erhellte die Züge ihres Gegenübers. »Oh, ich verstehe. Sie besuchen sicher die Kirche drüben am Trumper Park. Ich bin Priesteranwärter unter der Obhut von Pater Lorrimer. Er hat mich im Gottesdienst vorgestellt, läßt mich manchmal schon Teile davon übernehmen. Von dort müssen Sie mich wohl kennen.« »Nein«, sagte Lilith leise, »nicht von dort.« »Nicht?« »Ich muß gehen«, sagte sie hastig und ließ den »Fremden« einfach stehen. Den jungen Mann, der in ihrem Traum heute nacht gestorben war – wie so viele andere. Aber er war den vielleicht schmerzhaftesten Tod gestorben. Am schmerzhaftesten – für Lilith selbst …
* Einen Gedanken weit entfernt … Italien, am Fuße der Abruzzen Wie verlassen lag der abgeschiedene Bauernhof im Schatten des steil aufragenden Berghanges. Aber der Eindruck täuschte. Es war sehr wohl Leben auf dem Hof. Auch wenn es von anderer Art war als noch vor wenigen Tagen … Der Junge stand am Fenster seiner Kammer und sah hinaus. Dorthin, wo der uralte Greis hockte, neben einem länglichen Hügel aus
frisch aufgeworfener Erde. Seine dürren Hände mühten sich, ungeschickt wegen ihres Alters, ein schlichtes Holzkreuz mittels eines Schnitzmessers zu verzieren. Doch er hatte es in all den Stunden noch nicht einmal geschafft, den Namen zur Gänze in das Holz einzuschneiden. Livia Maz stand darauf bisher nur zu lesen. Giuseppe Mazzanos gequältes Schluchzen wehte bis zu dem Fenster herüber, hinter dem der Junge stand. Angewidert vernahm er es, dann erstickten die Laute. Weil das Kind es wollte. Manchmal weidete er sich an Mazzanos Schwäche und Schmerz über den Tod seiner an Jahren noch jungen Frau; manchmal jedoch ekelte ihn auch davor. Wie jetzt eben. Der Junge, Gabriel mit Namen, seufzte tief, als er auf Wegen, die sich menschlichem Begreifen entzogen, nach der Energie des Mannes dort unten tastete. Giuseppe Mazzano war nicht sehr viel älter, als seine Frau es gewesen war. Trotzdem sah er aus wie deren Urgroßvater. Er hatte die Jahre hin ins Greisenalter in Tagen übersprungen, weil Gabriel ihm die Kraft, die sein Leib für diese Zeit zurückgehalten hatte, entzogen hatte. Im Traum raubte der Junge ihm, den er manchmal »Vater« nannte, die Energie, Stück für Stück. Und wie Gabriel jetzt feststellen mußte, hatte er Mazzanos Ressourcen beinahe schon bis zur Neige ausgeschöpft. Es war an der Zeit, das neue Opfer den Weg hierher finden zu lassen. Es war schon unterwegs.* Doch noch konnte das Kind es nicht zulassen, daß der andere sein Ziel erreichte. Noch hielten ihn, Gabriel, andere Dinge davon ab, sich gebührend mit jenem zu befassen, den sein Volk Landru nannte. Nach so langer Zeit würden sie einander wieder begegnen, unter anderen Vorzeichen diesmal, und Landrus gewaltiges Energiepotential würde dem *siehe VAMPIRA T13: »Der Hüter und das Kind« �
Kind genügen, endlich jene Reife zu erlangen, die es von Geburt an anstrebte. Um das zu tun, weshalb es allein geboren worden war von einer jungfräulichen Nonne namens Mariah.* Wie sinnig, dachte Gabriel, diabolisch amüsiert. In den wenigen Monaten, die seither vergangen waren, hatte Gabriel sich von den Energien verschiedener Menschen genährt und war zur körperlichen Größe eines acht- oder neunjährigen Jungen herangewachsen. Sein Geist indes reifte nach anderen Maßstäben. Er war nicht einmal zu Anfang wirklich der eines Kindes gewesen, und er war jetzt nicht der eines Erwachsenen – nicht einmal der eines Menschen. Denn jeder Mensch wäre unweigerlich zerbrochen an jener Art von Wissen, das sich in Gabriel staute, zum Teil noch verborgen, zum Teil schon offenliegend wie ein aufgeschlagenes Buch. Daß Wissen in der Tat Macht war, wußte vielleicht niemand besser als dieses Kind – nicht in dieser Welt und in keiner anderen … Vielleicht … Unweigerlich glitt Gabriels Blick in die Höhe. Dorthin, wo Wolken den Berggipfel fast verhüllten. Dennoch war das, was wie ein steinernes Geschwür dort oben aus der Felsflanke wuchs, deutlich zu sehen. Ein Kloster. Monte Cargano. Gabriels eigentliches Ziel. Das Wissen darum hatte sich ihm einfach offenbart, und so war er den Weg hierher gegangen, ohne jedoch zu wissen, weshalb das nahezu unerreichbare Kloster sein Ziel war. Etwas wartete dort auf ihn – eine noch geheimnisvolle Aufgabe, die er erst dann erfahren würde, wenn er reif dafür war. Landrus Energie würde dafür sorgen. Aber noch war es nicht an der Zeit dafür. Erst galt es etwas aus dem Weg zu räumen, das Gabriel möglicherweise zum Hindernis *siehe VAMPIRA T03: »Die Auserwählte«
auf seinem Weg zum endgültigen Ziel werden konnte. Vielleicht jedoch konnte er dieses potentielle Hindernis auch anderweitig nutzen, für seine Zwecke einspannen. Dazu jedoch mußte er erst einmal mehr erfahren über dieses Wesen namens – – Lilith Eden! Er kannte sie, nicht allein von ihren jüngsten Begegnungen her. Der Grund ihrer uralten Bekanntschaft hing mit Landru zusammen, wenn auch auf eine Weise, die sich dem Jungen noch nicht erschlossen hatte. Und er wußte – oder ahnte zumindest –, daß Lilith Eden ihm gefährlich werden konnte. Den Grund dafür war Gabriel im Begriff zu erkunden. Lächelnd zog er sich von seinem Platz am Fenster zurück und legte sich auf das schmale Bett seiner Kammer. Er schloß die Augen und ließ sich in jenen Traum fallen, den er schon die ganze Zeit über auf einer tieferen Ebene seines Bewußtseins träumte. Ein Traum, der zwar nicht sein eigener war, den er sich jedoch nutzbar machen konnte. Allein das Wissen darum, daß es diesen Traum einmal gegeben hatte, versetzte ihn in die Lage, es zu tun. Mit einem unseligen Lächeln auf den schmalen Lippen schlief der Junge ein. »Wissen ist Macht«, murmelte er. Selbst im Reich der Träume …
* Sydney, Australien? Lilith fühlte sich wie nach einem Sprint quer durch die ganze Stadt – ausgepumpt, verschwitzt, am Ende ihrer Kräfte. Dabei lag das Haus, in dem Harold mit seinen Eltern lebte, gerade mal drei Querstraßen von ihrem Zuhause entfernt.
Aber sie wußte, daß ihre Erschöpfung nur zum allerkleinsten Teil vom schnellen Lauf herrührte. Die eigentlichen Ursachen waren tausend andere Dinge – böse Gedanken und falsche Erinnerungen … Sie stieg die drei Stufen zum windgeschützten Eingang des Hauses empor und wäre fast gegen die Tür gestürzt, weil ihre Knie zitterten und sie kaum mehr zu tragen vermochten. Eher zufällig denn wirklich bewußt landete ihre Hand auf dem Klingelknopf. Melodiöse Glockenschläge wurden jenseits des Holzes laut, dann Schritte. Die Tür wurde geöffnet, und Lilith konnte sich gerade noch am Rahmen abstützen, ehe sie im wahrsten Sinne des Wortes mit der Tür ins Haus fiel. Ihre Hände rutschten ab; starke Arme fingen sie auf. »Lilith? Gütiger Himmel, was ist mit dir los?« Der Klang von Harolds Stimme wirkte wie ein Beruhigungsmittel auf Lilith. Sie war so – wirklich, so echt … Nichts Falsches oder Verfälschtes war darin. Kräfte, die nicht wirklich verschwunden gewesen waren, standen ihr wieder zur Verfügung, und Lilith richtete sich im Griff ihres Freundes auf. Ihre Blicke tasteten über die Linien seines fast schon männlich-markanten Gesichtes. Etwas in ihr labte sich an der Vertrautheit seiner Züge. Ihre Hände glitten über seinen Rücken hoch bis zu seinem Nacken und weiter, als müßte sie sich davon überzeugen, daß er nicht nur eine Täuschung war, hervorgerufen wodurch auch immer und zu welchem Zweck auch immer. »Geht’s dir nicht gut?« fragte Harold. Sein Tonfall balancierte auf dem schmalen Grat zwischen Verwunderung und Erschrecken. »Schon besser«, flüsterte Lilith, »es geht mir schon viel besser.« Harold schob sie behutsam ein klein wenig von sich. »Was ist denn geschehen?« wollte er wissen. Doch Lilith schüttelte nur den Kopf. »Nicht reden«, sagte sie, hastig schluckend. »Bist du … sind deine Eltern zu Hause?« »Nein, sie besuchen Granny.«
»Granny besuchen« – das war in Harolds Familie die Umschreibung für einen Besuch auf dem Friedhof. Und das hieß, daß seine Eltern nicht allzu lange wegbleiben würden. »Dann laß uns keine Zeit verlieren«, drängte Lilith, ein kleines bißchen erschrocken über sich selbst. Es war nicht ihre Art, selbst die Initiative zu ergreifen, wenn es um Sex ging – zumindest nicht auf diese plumpe, aufdringliche Weise. Doch heute war es ihr egal. Heute wollte sie es – brauchte sie es. Sie sehnte sich nach Harolds Wärme, seiner Nähe. Sie wollte ihn spüren, überall, und sie wünschte sich nichts mehr, als daß sie gemeinsam in jenen Rausch fallen würden, in dem keine Gedanken und Empfindungen existieren konnten, die nicht Lust und Leidenschaft waren … Ihre Lippen fuhren bebend über das Gesicht ihres Freundes, während sie schon mit hektischen Bewegungen sein T-Shirt hochzerrte. »Jesus!« keuchte Harold überrascht. »Was ist denn in dich gefahren? Ich meine, es ist ja nicht so, daß es mir nicht gefallen würde, aber …« Ungestüm schob sie ihn weiter ins Haus, versetzte der Tür einen Tritt, daß sie zufiel, und drängte Harold durch die kleine Eingangshalle zur Treppe und die Stufen hinauf. Er erwiderte ihre Leidenschaft, wenn auch noch etwas zaghaft ob ihrer Plötzlichkeit, und schließlich faßte er Liliths Hand und zog sie nach oben in sein Zimmer. Die Tür war hinter ihnen kaum ins Schloß geklappt, als sie auch schon auf Harolds Bett lagen, Sinnlosigkeiten stöhnend und aneinander geklammert. Irgendwie brachten sie in dieser Umschlingung das Kunststück fertig, sich gegenseitig die Kleider vom Leib zu streifen. Liliths blasse Haut fühlte sich heiß, fast fiebrig an, wie Harold bemerkte, während er sie mit Küssen bedeckte. »Ja …«, gurrte Lilith, und dieser Laut ließ Harold die letzte Hemmschwelle überwinden, vor der ihn seine Verwunderung über ihr merkwürdiges Gebaren noch zurückgehalten hatte.
Er liebkoste ihre Brüste mit Händen und Mund, bis sich die Warzen verhärteten und sich wie verlangend zwischen seine Lippen drängten. Dann glitt er mit dem Gesicht tiefer – aber Lilith hielt ihn auf. Mit einer raschen Bewegung drehte sie Harold auf den Rücken und glitt ihrerseits über ihn, ging mit ihren Lippen »auf Tauchstation«, während sie seine Finger spürte, die sich in ihre Pobacken gruben. Ein elektrisierendes Kribbeln begann sich in ihrem Unterleib aufzubauen. Zugleich spürte Lilith das heftige Pochen seines Blutes zwischen ihren Lippen – – und etwas begann. � Oder wollte beginnen … � Doch die Empfindung ging unter in jenem Brodeln, das Harolds � Zärtlichkeiten in ihr entfachte. Für den Moment zumindest … Denn mit irgendeiner Faser ihres Denkens merkte Lilith, daß es – was immer es auch sein mochte – noch da war, unter dieser kochenden Oberfläche lauerte … Harolds gedämpftes Stöhnen lenkte sie ab. Sein Körper verkrampfte ein wenig unter ihr. Rasch hielt sie inne, rutschte von ihm herab und kam neben ihn zu liegen. Ihre Haut glühte und fröstelte in einem. Jetzt nur nicht aufhören, ging es ihr durch den Sinn. Keinen anderen Gedanken, kein anderes Gefühl zulassen … Lilith wollte Harold zu sich ziehen, doch er schien ihren Wunsch zu spüren. Bevor sie irgend etwas tun mußte oder konnte, drehte er sich, kam er über sie. Wie von selbst glitten ihre Schenkel auseinander, schlangen sich ihre Beine um Harolds Becken und versetzten ihm jenen Schub, den er brauchte, um in sie zu dringen. Mit ihren eigenen Bewegungen gab sie den Rhythmus vor. »Wie ist es für dich?« schnaufte er. »Es ist …«, preßte sie hervor, »… herrlich.« »Beschreibe es mir, bitte«, stöhnte Harold. Winzige Schweißtröpf-
chen glitzerten auf seinem Gesicht. Lilith lächelte zu ihm auf. Und stutzte. Einen Moment lang hatte sie den Eindruck, etwas würde sich zwischen sie und Harold schieben – eine Wand aus dickem Glas oder Wasser. Harolds Gesicht verzerrte sich dahinter – oder schien es nur so? Nicht ablenken lassen, befahl sie sich im stillen. Durch nichts … Sie schloß die Augen, ließ ihre Hände »sehen«. Ihre Finger wanderten über Harolds Rücken, hinauf zu seinem Nacken. Sein Atem wehte ihr ins Gesicht, heiß und … stinkend? Ihre Hände berührten sein Haar, das … borstig und hart war? Einen Moment lang zwang sie sich noch, die Lider fest aufeinander zu pressen. Dann öffnete sie sie doch, wie unter fremdem Willen. Und schrie auf! Harolds Gesicht war nicht länger Harolds Gesicht! Eine Fratze hing über ihr, große, glasige Augen starrten auf sie herab. Eine langgestreckte Schnauze berührte fast ihre Lippen, übler Brodem quoll aus geblähten Nüstern, und eine hornige Zunge leckte über ihr Gesicht. Und oben aus dem mutierten Schädel ragte ein Paar gewundener – Widderhörner! Am schlimmsten jedoch war die Stimme. Fremd, rauh, und sie hatte nicht das Geringste mit Harolds gemein. Die Worte fielen förmlich auf Lilith herab, schwer, stinkend, schmerzend. »Wer bist du, Lilith Eden?« Dabei hielt der Widderköpfige nicht inne, sein Becken weiter zu bewegen. Vor, zurück, vor … »Was bist du, Lilith Eden?« Lilith Lancaster kam nicht dazu, sich über den Namen zu wundern, mit den er sie ansprach. Sie spürte, wie etwas in ihr hochbrandete, glutflüssiger Lava gleich. Im allerersten Augenblick hielt sie es
für einen Schrei, der sich in unvorstellbarer Lautstärke Bahn brechen mußte. Aber es war etwas ganz anderes …
* Erinnerung wurde wach in Lilith. Die Erinnerung daran, wie sie zum ersten Mal mit Harold geschlafen hatte. Und sie wußte noch im gleichen Moment, daß etwas daran falsch war. Es war hier in diesem Haus gewesen, im Schlafzimmer von Harolds Eltern, die an jenem Abend eine Theaterveranstaltung besucht hatten. Und es war wunderschön gewesen – bis auf das Ende. Und eben dieses Ende konnte nicht so gewesen sein, wie es in Liliths Erinnerung auftauchte! Etwas in ihr war damals erwacht – Gier, Begierde, angefacht durch das erregte Pulsieren von Harolds … Blut? Sie hatte sich schier danach verzehrt – und sich verwandelt. In eine Bestie, deren einziger Lebenszweck es war, zu töten. In einen mörderischen Wolf …* »Nein!« Lilith schrie auf, als Traum und Wirklichkeit einmal mehr eins wurden und sich zu etwas völlig Irrsinnigem vereinten. So konnte es nicht gewesen sein! Das war – Wahnsinn! War es das? War das der Grund für alles? Wurde sie – wahnsinnig? Und doch schien sich zu wiederholen, was damals (vielleicht?) geschehen war. Lilith mutierte – oder glaubte sie nur, es zu tun? Der blutige Schleier, der sich vor ihren Blick gelegt und sie blind für jede Wahrnehmung von außen gemacht hatte, zerriß. Im gleichen Moment schloß sie die Augen, wie in einer Schutzreaktion. *siehe VAMPIRA H01: »Das Erwachen«
Wenn sie sie wieder öffnete, würde Harold wieder Harold sein, kein Widderschädel würde auf sie herabstarren … Stinkender Atem ließ Lilith würgen. »Rede, Lilith Eden!« schnaufte der Widderköpfige. Seltsamerweise hatte er für Lilith einen kleinen Teil seines Schreckens verloren – weil auch er Teil jenes Alptraumes aus einer anderen Welt, einem anderen Leben gewesen war? Der Gedanke erstarb, weil andere ihn vernichteten. Dunkle Gedanken, die wie aus einem lichtlosen Pfuhl tief in ihr emporbrodelten, Emotionen mit sich brachten, die sie tausendmal mehr erschreckten als der Anblick des Widderköpfigen. Und sie schienen Dinge in Gang zu setzen, veranlaßten ihren Leib, sich zu verändern, wie Initialzündungen, die vor langer Zeit in ihr verankert worden waren. Lilith glaubte zu hören, wie sich ihre Muskeln und ihr Fleisch verformten, wie Knochen knirschten, als sie der erwachten Kraft gehorchten und transformierten. Doch das war nicht die einzige Veränderung, die mit ihr vorging. Und noch nicht einmal die schlimmste. Viel schlimmer war der Durst. Die Gier nach dem, was seinem Äußeren zum Trotz unverändert unter Harolds Haut rauschte. Blut … Es war wie damals. Wie beim ersten Mal. NEIN! Lilith wollte das Wort hinausbrüllen, doch es war ein Laut animalischer Wut, der ihre Kehle verließ. Weil diese Kehle nicht geschaffen war für Worte der menschlichen Sprache. Weit holte sie mit den Armen aus und drosch zu. Im letzten Moment ballte sie Fäuste, weil sie Harold mit den Klauen, zu denen ihre Nägel geworden waren, nicht verletzen wollte. Denn Harold – war wieder Harold! Wenn auch nicht mehr jener
Harold, der Lilith in höchste Verzückung versetzt hatte. Jetzt war der junge Mann ein angstschlotterndes Etwas, das sich nur noch wie zufällig auf ihr hielt, vielleicht weil sein Körper ihm angesichts des Entsetzlichen nicht mehr gehorchte. Liliths Schläge ließen ihn aufheulen. Mit einer kräftigen Bewegung warf sie ihn ab. Er nutzte den Schwung des Sturzes, rollte weiter. Erst die Wand stoppte ihn. Aus Schreckensweiten Augen starrte er seine Freundin an. Sie wußte nicht, was er sah, weil ihr der Blick auf sich selbst auf seltsame Weise verwehrt war. Aber irgendwie schien es ihr, als sähe Harold nicht jenes Monster, in das sie sich verwandelt zu haben glaubte … »Was ist denn in dich gefahren?« wiederholte er die Frage, die er vor Beginn ihres Zusammenseins schon einmal in ähnlicher Weise gestellt hatte – wenn auch aus ganz anderem Anlaß. Laß mich! Verschwinde! Wieder meinte Lilith, nur unverständliches Gebrüll zustande zu bringen. Sie wußte nicht, ob Harold sie verstanden hatte. In jedem Fall tat er nicht, was sie von ihm verlangte. Statt dessen erhob er sich, kam näher, wie zum Sprung geduckt und auf unübersehbar wackligen Beinen. »Nein«, flüsterte er zitternd, »ich helfe dir, Lilith. Sei ganz ruhig, okay?« Er sprach mit ihr wie mit einem wütenden Tier, das es zu beruhigen galt. Lilith sog witternd die Luft ein, suchte nach einem Rest des Gestankes, den der Widderköpfige verströmt hatte. Und wurde fündig! Geifernd stürzte sie sich auf Harold, dessen Gesicht nicht mehr sein konnte als eine Larve, die der andere sich aufgesetzt hatte, um sie zu täuschen. Aber sie war nicht zu täuschen – nicht jetzt, da diese Kraft in ihr das Kommando führte.
Lilith packte Harold, riß ihn vom Boden hoch. Er schrie auf, erschrocken über die gewaltige Kraft, über die Lilith plötzlich verfügte – und vor allem über das, was sie zu tun im Begriff war … … denn sie holte Schwung, um ihn aus dem Fenster zu schleudern! »Nein, Lilith!« schrie er entsetzt. »Tu’s nicht! Bitte!« Lilith stieß ihn von sich. Auf die Tür zu. Das Holz knirschte und splitterte unter dem Anprall. Benommen und stöhnend sank Harold daran entlang zu Boden. Ein Blick aus dunklen Augen traf ihn, voller Trauer und Schmerz. Und eine kehlige Stimme sprach zu ihm: »Kreuze nie mehr meinen Weg. Niemand sollte das in Zukunft mehr tun …« Dann verschwand Lilith. Inmitten eines flirrenden und klirrenden Splitterregens sprang sie durchs Fenster hinaus. Landete meterweit darunter. Unverletzt. Wie damals. Im Traum …
* Wie ein Tier hetzte Lilith durch die Straßen, immer weiter, irgendwohin. Sie fühlte sich vorangetrieben von der Kraft eines Tieres und beseelt von den Trieben eines Tieres – zumindest war dies die Version, die Lilith für sich selbst bereitgelegt hatte für das, was in ihr vorging. Sie wußte, daß es Lüge war – oder wenigstens doch nicht die ganze Wahrheit. Denn jene Kraft und Triebe gemahnten sie eigentlich an etwas anderes als ein Tier – an etwas ungleich Schlimmeres, das sie nicht einmal in Gedanken benennen wollte. Lilith ließ das Wohnviertel, in dem sowohl ihr als auch Harolds El-
ternhaus lagen, hinter sich, erreichte geschäftigere Bereiche der Stadt. Passanten kreuzten ihren Weg, Autoreifen radierten quietschend über Asphalt, wenn sie blindlings über Straßen rannte. Sie spürte die fremden Blicke in ihrem Rücken, doch es waren weder Erschrecken noch Entsetzen darin, sondern nur Verwunderung und bisweilen Verärgerung. Sah denn niemand, was mit ihr los war? Wozu sie geworden war? Aber vielleicht verbarg sich dieses Andere ja noch unter ihrem Mädchengesicht, hinter ihrer anmutigen Gestalt, die sie ein klein wenig älter aussehen ließ als siebzehn Jahre. Lilith war versucht, in eines der Schaufenster zu sehen, an denen sie vorübereilte, um im Glas zu überprüfen, welchen Anblick sie bot. Aber sie tat es nicht. Weil sie fürchtete, der Anblick könnte zu grauenhaft sein – oder der Spiegel könnte sich »weigern«, sie abzubilden. Eine Möglichkeit schien ihr so unerträglich wie die andere. Weiter lief sie und weiter, und mit jedem Schritt, den sie tiefer ins Herz von Sydney vordrang, schien es zu wachsen: dieses Gefühl, brennend und verzehrend … Hunger! Oder mehr noch: Durst! Durst nach etwas, das sie anekelte. Und doch sehnte sie sich nach dem Elixier wie nach nichts anderem auf der Welt. Lilith fühlte sich innerlich zerrissen, schmerzhaft zerrissen, und selbst dieser Schmerz schien noch Öl ins Feuer ihrer Begierde zu sein, fachte sie an zu einer Größe, daß es nur noch eine Chance geben konnte, ihrer Herr zu werden: Indem Lilith ihr nachgab, sie befriedigte und tat, was ihr gestern noch unvorstellbar erschienen wäre. Aber sie würde es tun müssen. Nur so konnte sie dem drohenden Wahnsinn entgehen. Für eine Weile zumindest … Und noch etwas trieb Lilith dazu; etwas, das ihren Weg begleitete und mit jeder Sekunde lauter zu werden schien. Etwas wie der dumpfe Schlag Tausender Trommeln, arhythmisch und irrema-
chend. Lilith erkannte nicht gleich, woher das Dröhnen rührte. Niemand außer ihr schien es zu vernehmen, wie flüchtige Blicke in die vorbeifliegenden Gesichter zeigten. Kein Wunder – niemand, der nicht war wie sie, konnte den Herzschlag anderer hören. Sie jedoch war verdammt dazu. Das Schlagen der Herzen sämtlicher Menschen dieser Stadt brandete gegen Liliths Ohren, wummernd und feucht, und nicht eines schlug genau im Takt eines anderen. Ein sinnezerfetzender Wirbel, den Lilith stoppen mußte, wenn sie nicht daran zerbrechen wollte. Vielleicht würde es besser werden, erträglicher, wenn sie wenigstens eines dieser Herzen zum Schweigen brachte. Lilith war verzweifelt entschlossen, es auf den Versuch ankommen zu lassen.
* »Beth, ich hasse es, mich zu wiederholen, aber du zwingst mich dazu: Laß mich in Ruhe!« Seven van Kees’ Tonfall troff fast hörbar zischend vor Gift. Und Beth MacKinsay ertappte sich einmal mehr bei der stillen Frage, was um alles in der Welt sie nur an diesem biestigen Weib dermaßen faszinierte, daß sie die Finger nicht von Seven lassen konnte. »Für eine Weile wenigstens, okay?« Nur wer Sevens enggesteckte Emotionsskala kannte, konnte erkennen, daß ihre Stimme jetzt um einen Deut ruhiger und versöhnlicher klang. Beth nahm die maisblonde Tochter holländischer Auswanderer sanft am Arm und zog sie ein wenig fort von dem verglasten Eingang des Sydney Morning Herald-Verlagsgebäudes, in dem sie beide arbeiteten: Beth MacKinsay als Redakteurin, Seven van Kees im Sekretariat.
»Vielleicht sollten wir unsere Probleme nicht unbedingt hier diskutieren, wo unsere Kollegen ein- und ausgehen, hm?« meinte sie lächelnd. Hinter der heute rubinroten Iris ihrer Augen – einer ihrer Ticks waren gefärbte Kontaktlinsen – blitzte es verhalten amüsiert. »Schließlich liegt es dir am Herzen, daß niemand hier von unseren Neigungen erfährt, oder?« Seven stöhnte auf. »Ich möchte überhaupt nicht diskutieren! Verstehst du das denn nicht? Ich brauche ein wenig Zeit, um mit mir ins Reine zu kommen.« »Das heißt, du bist dir nicht sicher, ob wir …«, begann Beth, doch ihre Lebensgefährtin (war sie das noch?) fiel ihr ins Wort: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dazu geschaffen bin, eine Frau zu lieben. Das ist es.« »Es ist keine Frage des Geschaffenseins«, meinte Beth leise. »Du liebst mich, oder du liebst mich nicht – nur um diese Frage geht es.« »Dann laß mich eine Antwort darauf finden«, bat Seven aggressiv und riß sich los. Hastig richtete sie ihre perfekt gestylte Aufmachung mit den Händen nach, dann entfernte sie sich eilends vom Sydney Morning Herald und damit von Beth. Den bitteren Blick der Freundin konnte sie jedoch noch spüren, als sie längst Teil der Menschenmenge der Sydneyer City geworden war. Dem Impuls, umzukehren, zu Beth zurückzulaufen und ihr in die Arme zu fallen, widerstand sie trotzdem. Wenn auch mit einem steinschweren Seufzen, das ihr zwei, drei fragende Blicke anderer Passanten eintrug. Seit etwas über einem Jahr währte ihre Beziehung zu Beth MacKinsay nun schon, und von Anfang an war es eine Art Haßliebe gewesen. Warum sie die Sache nicht trotzdem längst beendet hatten (und es wohl auch diesmal nicht tun würden …), wußten sie beide nicht so recht, obwohl es zu Szenen wie diesen eben mindestens einmal wöchentlich kam. Mal war Beth es, die die Flucht ergriff, mal verließ sie selbst zornschnaubend das kleine City-Apartment, in dem sie (unter Ausschluß der kollegialen Öffentlichkeit) zusammen-
lebten. Gestern war »die Reihe« wieder einmal an Seven gewesen. Und heute sie hatte den Beginn ihres vorgezogenen Feierabends bewußt so gelegt, daß sie Beth beim Verlassen des Verlagshauses treffen mußte … nur um ihr dann eine Szene zu machen? Seven van Kees lachte traurig auf. Sie waren verrückt. Auf einander. Darin lag des Übels Wurzel. Und darin vielleicht, daß sie selbst noch immer Probleme hatte, ihre gleichgeschlechtliche Veranlagung einzugestehen – auch sich selbst gegenüber. Einerseits hatte nie zuvor ein Mann solche Leidenschaft in ihr entfacht (und solche Dinge mit ihr angestellt!) wie Beth MacKinsay; andererseits hatte sie manchmal immer noch das Gefühl, etwas »Verbotenes« zu tun. Etwas wunderbar Sündiges … Aber im Fahrwasser dieser Gedanken tauchte wie immer unweigerlich jene Frage auf, ob sich das Zusammenleben zweier Menschen darin erschöpfen durfte. Mußte Gemeinsamkeit nicht mehr sein als Harmonie im Bett? Manchmal war ihre Beziehung zu »Macbeth«, wie sie wegen ihrer Vorliebe für Macintosh-Computern genannt wurde, ja mehr – aber eben nur manchmal … Aber all diese Zweifel änderten nichts daran, daß Seven van Kees’ Herz ein paar Takte heftiger schlug, als sie an all jene Dinge dachte, in denen Beth und sie so gut zusammenpaßten. Vielleicht war es Zufall, daß es gerade jetzt geschah. Vielleicht auch nicht … Seven hatte inzwischen einen jener kleinen Parks erreicht, die wie grüne Inseln im Häusermeer der Sydneyer City lagen. Es herrschte kaum Betrieb; die Zeit, in der Berufstätige die Mittagspause nutzten, um hier ein wenig halbwegs sauerstoffangereicherte Luft zu atmen, war vorüber. Seven war zumindest auf diesem buschgesäumten Weg allein … … als das Grün neben ihr zu explodieren schien!
Eine Gestalt stürzte furiengleich aus dem Buschwerk hervor, so schnell, daß Seven kaum Gelegenheit fand, sie wirklich zu sehen. Das änderte sich erst, als die andere sie raubtierhaft ansprang und zu Boden riß. Wie schwarzes Feuer wogte das Haar um das verzerrte Gesicht der anderen, den Mund hatte sie weit aufgerissen, und in den grünen Augen des Mädchens funkelte etwas, das allenfalls noch einen Hauch vom Wahnsinn entfernt lag. Dann stieß die Fremde den Kopf ruckartig nieder. Biß zu! Und Seven van Kees schrie kreischend auf, als ihr Hals mit einemmal in Flammen zu stehen schien.
* Sie wußte nicht, wie lange der Schmerz währte. Es konnten Sekunden sein, ebensogut aber auch eine ganze Minute oder länger. Seven van Kees fühlte sich wie aus der Zeit herausgelöst und dafür gefangen in einer Zwischenzone, in der nichts gab außer Schmerz und Wahnsinn. Dann war es vorbei. So schnell, wie es begonnen hatte. Das neuerliche Rascheln in den Büschen seitlich des Weges, die hastigen Schritte, das keuchende Atmen und die erschrockenen Stimmen drangen wie zeitverzögert zu ihr durch. Sie nahm sie erst dann wahr, als sie in der Wirklichkeit längst vorüber waren und jemand die Furie gepackt und von ihr fortgezerrt hatte. Als Seven es schaffte, den Schmerz am Hals zumindest halbwegs zu verdrängen und den Kopf etwas anzuheben, glaubte sie sich in das Szenario eines schlechten Horrorfilms versetzt. Ein junger blonder Mann stand dem schwarzhaarigen Mädchen gegenüber, das sich gerade fauchend wie eine gereizte Katze auf alle Viere erhob.
Daran war noch nichts wirklich Absurdes. Grotesk wurde die Situation durch das, was der Fremde in der Hand hielt und der anderen entgegenreckte. Ein Kruzifix, klein und fast unscheinbar. Aber beeindruckend in dem, was es bewirkte. Das Mädchen fixierte das kleine Kreuz flackernden Blickes und wich zurück, auf Händen und Knien kriechend, während der junge Mann die Distanz gleichhielt, indem er ihr Schritt um Schritt folgte. »Weiche«, flüsterte er, »weiche …« Dann beging er einen Fehler. Er riskierte einen kurzen Blick in Seven van Kees’ Richtung. Und das schwarzhaarige Mädchen nutzte diesen Bruchteil einer Sekunde! Mit einem pantherhaften Satz überwand es die Strecke zu dem jungen Mann hin, prallte gegen ihn. Er stürzte, das Kruzifix rutschte ihm aus den Fingern. Doch irgendwie schaffte er es, die Knie anzuwinkeln. Dadurch verhinderte er, daß die andere ihm im wahrsten Sinne des Wortes an die Kehle gehen konnte. Aber ihre Blicke begegneten sich; nicht länger beeinträchtigt von dem, was das Kreuz zwischen sie gelegt hatte. Schweigend und reglos sahen sie einander an. »Duncan …«, flüsterte Lilith. Er erwiderte nichts. »Wir sollten uns nie begegnen«, sagte sie leise und wie von tiefer Trauer erfüllt. Dann ließ sie übergangslos von ihm ab, sprang auf und flüchtete, von einer gänzlich anderen Panik angetrieben als jener, die das Kruzifix in ihr entfacht zu haben schien … Grollender Donner ließ den Erdboden sacht vibrieren, und unsichtbare Blitze rasten für eine Sekunde knisternd über den strahlendblauen Himmel über Sydney … »Meine Güte, was war das? Und vor allem: Wer war das?«
Die heisere Stimme riß den jungen Priesteranwärter aus einem Zustand, der einer Trance sehr nahe kam. Ein klein wenig mochte auch Erschöpfung dabei eine Rolle spielen, denn die Verfolgung des Mädchens durch beinahe die halbe Stadt hatte an seinen Kräften gezehrt. Sie hatte beinahe das Tempo eines fliehenden Känguruhs an den Tag gelegt. Warum er Lilith Lancaster jedoch gefolgt war, wußte er indes nicht zu sagen. Irgendwie war ihm keine Wahl geblieben, hatte sein Denken nichts anderes zugelassen, als es einfach zu tun. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er am Mittag das Haus 333 an der Paddington Street aufgesucht hatte. Seit heute morgen schien alles anders zu sein. Reduziert auf eine Sache, die er auf fremdes Geheiß hin zu der seinen machen sollte. Und irgendwie hatte er die vage Ahnung, daß etwas wie eine Lebensaufgabe daraus werden konnte … Der junge Mann ging hinüber zu Seven van Kees und beugte sich zu ihr hinab. »Geht es Ihnen gut? Alles in Ordnung?« fragte er besorgt, aber doch mit jenem Lächeln, das Frauenherzen höherschlagen ließ. Unübersehbar auch das dieser blonden Schönheit. Daß er zugleich etwas wie bittere Selbstzweifel in ihrem perfekt geschminkten Gesicht entdeckte, konnte er sich jedoch nicht erklären … »Ja, ich glaube schon«, erwiderte sie schließlich. Sie fuhr sich mit der Hand über den Hals und verzog das Gesicht. »Lassen Sie mal sehen«, bat der junge Priester-Aspirant und hob behutsam ihr Kinn an. »Nur ein Bluterguß«, meinte er, nachdem er sich die »Bißstelle« besehen hatte. »Kennen Sie diese – Wahnsinnige?« fragte Seven. Mit dem Kinn wies sie in jene Richtung, in der Lilith verschwunden war. Duncan lächelte, ein bißchen kläglich. »Ja und nein. Ich sollte eigentlich – auf sie aufpassen«, erklärte er zögernd, selbst nicht recht wissend, warum er glaubte, was er da von
sich gab. »Dann sollten Sie Ihren Job ein kleines bißchen sorgfältiger tun«, zischte Seven van Kees. »Ja, das sollte ich wohl.« Seven erhob sich. »Trotzdem – danke.« Sie sah an sich hinab. Ihr Kostüm war schmutzig und an einigen Stellen zerrissen. »Verdammt!« entfuhr es ihr. Aber der Ärger um die ruinierten Klamotten war im Augenblick nicht ihr größtes Problem. Viel schwerer wog ein anderes. Sie fuhr sich erneut über den Hals und die schmerzende Stelle über der Schlagader. Wie, um alles in der Welt, sollte sie Beth MacKinsay diesen gewaltigen »Knutschfleck« plausibel erklären? Sollte sie ihr sagen, sie wäre von einer Wahnsinnigen angegriffen worden, die sich offenbar für eine Vampirin gehalten hatte? Beth würde sich totlachen! Oder Seven die Augen auskratzen …
* Zwischenspiel Blitz und Donner erschütterten für die Dauer eines wütenden Gedankens die Traumwelt. Etwas lief nicht so, wie Gabriel es sich gewünscht und vorgestellt hatte. Etwas funkte ihm dazwischen. Eine Macht, die ihm auf unangenehme Weise vertraut vorkam. Und er hätte sie vielleicht erkannt, wenn sich nicht etwas gänzlich Fremdes ihrer bedient hätte. Etwas Leuchtendes, gleißend Helles, ein überirdisch strahlendes LICHT … Doch das Kind hatte seinen Zorn rasch wieder unter Kontrolle. Er stand noch ganz am Anfang des Spiels. Und es gab noch eine Vielzahl von Figuren, derer er sich bedienen konnte. Ihm standen
die Begegnungen eines ganzen Lebens zur Verfügung. Er mußte nur in sie fahren. Gabriel träumte weiter. Jenen Traum, der nicht der seine war, den er aber für sich zu nutzen wußte.
* Sydney, Australien? »Ich mache mir Sorgen.« »Das mußt du nicht.« »Sie ist schon so lange weg. Und sie schien so – verwirrt.« »Du wirst sehen, sie kommt bald zurück.« »Wenn ihr nun etwas passiert ist?« »Dann hätten wir sicher schon davon erfahren.« »Oh, Sean, wir müssen doch irgend etwas tun können!« »Was sollen wir denn tun?« »Creanna, Sean – beruhigt euch. Lilith wird …« Lilith vernahm die Stimmen ihrer Eltern wie Echos aus einer anderen Welt, in der kein Platz war für Entsetzen, für Böses, für Wahnsinn. Die Stimmen ihrer Eltern und jene andere, die ihr vertraut vorkam, zu der ihr aber im Augenblick weder das zugehörige Gesicht noch der Name einfallen wollten. Es grenzte im Grunde schon fast ein Wunder, daß sie die ihrer Eltern erkannte. Ebenso wie die Tatsache, daß sie offenbar irgendwie den Weg nach Hause gefunden hatte … »Was war das?« Creannas Stimme klang erschrocken und fiel in jenen dumpfen Laut, der draußen in der Eingangshalle entstanden war. Als wäre etwas Schweres auf den Boden gefallen.
Licht flammte auf, schmerzte in Liliths Augen, ließ sie tränen. Stöhnend preßte sie die Lider aufeinander. Nichts sehen, nichts mehr sehen, war einer ihrer Wünsche. Schritte, schnell und hart, Stimmen, entsetzt und laut. Lilith versuchte die Ohren mit den Händen zu verschließen. Nichts hören, nichts mehr hören, war ihr zweiter Wunsch. Der allerdings nicht in Erfüllung ging. »Lilith! Bei den Hohen, was ist mit dir?« vernahm sie die Stimme ihrer Mutter. Bei den Hohen …? »Brian, hilf mir«, hörte sie die Stimme ihres Vaters. »Wir bringen sie nach oben in ihr Zimmer.« Lilith fühlte sich von Händen berührt, dann schwebend, fliegend. Höher hinauf, schnell und doch behutsam vorangetrieben, bis sie wie auf Wolken landete, weich und duftend. Der vertraute Geruch ihres Zimmers, ihres Bettes. Sie fühlte sich besser – ein winziges bißchen nur, aber in ihrer momentanen Verfassung war sie selbst dafür dankbar. »Wir müssen einen Arzt rufen«, sagte Creanna aufgeregt. »ich weiß nicht …«, meinte Sean Lancaster. »Nein«, erklärte der Mann, den ihr Vater vorhin Brian genannt hatte. Sein Gesicht tauchte aus den rotierenden blutroten Nebeln in Liliths Kopf auf, verschwommen und mehr zu ahnen denn wirklich zu erkennen. Nur schien ihr die Stimme … mit einemmal weniger vertraut als noch vor kaum einer Minute. Als würde eine andere, fremde sie durchsetzen. »Was hast du vor?« flüsterte Creanna fast atemlos. »Laßt mich mit Lilith allein, hm?« bat der Mann, der Brian sein mußte. »Ich werde mich mit ihr unterhalten. Vielleicht verrät sie mir, was mit ihr los ist, okay?« »Na gut«, meinte Sean, »versuch dein Glück. Ich … wir vertrauen dir.« »Aber …«, setzte Creanna an.
Liliths Vater gab einen beruhigenden Ton von sich. Leise Schritte entfernten sich. Ein Tür fiel kaum hörbar ins Schloß. »Lilith?« Sie schwieg, hielt die Augen geschlossen. Was immer jenseits ihrer Lider war, mochte es auf den allerersten Blick auch noch so harmlos erscheinen, würde früher oder später etwas Schreckliches gebären – etwas, das nur für sie allein bestimmt war. Sie wollte nichts mehr sehen – nichts mehr sehen und empfinden müssen. »Ich bin’s«, sprach der andere weiter. Sie konnte spüren, daß er sich auf die Kante ihres Bettes gesetzt hatte. Die Matratze federte ein wenig nach. »Brian Secada. Du kennst mich doch?« Sie nickte, gegen ihren Willen. Ja, sie kannte ihn. Brian Secada war ein Bekannter ihrer Eltern. Ein Wissenschaftler, der sich mit der Parapsychologie befaßte im Auftrag irgendeines ominösen Instituts. Aber man sah ihm seine »spinnerte« Profession nicht an; er war nicht verschroben oder gar freakig, wie man ihn sich vielleicht vorgestellt hätte. Ein unauffälliger 45jähriger, eine gepflegte Erscheinung. Seine Stimme klang ruhig, fast lahm. Irgend etwas darin erinnerte Lilith an einen träge dahinfließenden Bach, der sich durch eine sattgrüne und herrlich blühende Idylle wand, sanft murmelnd, beruhigend … »Entspanne dich, Lilith«, redete er auf sie ein. »Versuche an nichts zu denken. Alle Gedanken verschwinden, treiben fort, weit fort, bis du sie nicht mehr siehst und spürst. Ruhe fließt in dich, tiefe Ruhe. Deine Arme werden schwer, und du fühlst dich wohl. Laß dich sinken und fallen, nichts kann dir geschehen …« Lilith genoß es, genau das zu tun, was Brian Secada ihr hieß. Für eine Weile. Dann stieß seine Stimme – oder etwas darin – wie gegen eine unsichtbare Mauer, die weit jenseits ihres eigentlichen Gehörs zu liegen schien. Etwas, das seine Worte nicht durchdringen konnten, von dem sie abprallten wie Meeresbrandung an steilen, hoch-
aufragenden Klippen. Das damit einhergehende Gefühl seltsamer, nicht willentlich geleiteter Verweigerung ließ ein Alarmglöckchen in ihr schrillen – – und ihre Augenlider aufspringen! Es war nicht Brian Secada, der neben ihr saß und auf sie herabstarrte. Nicht der Brian Secada jedenfalls, den sie kannte! Sein Gesicht war das eines Besessenen, sein stierer und funkelnder Blick der eines Fanatikers. Etwas in seinem Atem weckte Übelkeit und Schmerz in Lilith. Und der aufgeklappten Ledertasche an seiner Seite entströmten Dinge, die wie Gluthitze über ihre Haut strichen. Allein das seltsame, unsichtbare Etwas, das noch immer wie eine zweite Haut darüber lag, schien sie davor zu schützen. Andernfalls wäre sie vielleicht – verbrannt? Vom Staub bist du genommen, zu Staub sollst zu werden … Der eigenartige Gedanke verflog. Weil »Secada« zu ihr sprach. »Wer bist du, Lilith Eden?« Wieder dieser Name – Eden –, den sie nicht einordnen konnte, der aber auf unterschwellige Art wichtig – und richtig – zu sein schien. »Was bist du, Lilith Eden?« Sie wollte es ihm nicht sagen, konnte es nicht. Und doch mußte sie es tun. Weil seine »Argumente« sehr überzeugend waren!
* Die Berührung hätte überhaupt nicht weh tun dürfen. Nach menschlichem Ermessen. Doch Lilith glaubte dem Schmerz kaum gewachsen zu sein! Dabei saß die Spitze des Holzpfahls, den »Secada« in der Faust hielt, nur auf ihrer Kleidung auf, eine Fingerbreite unterhalb ihrer linken Brust. Mit der anderen Hand hielt der Mann einen mächtigen Hammer umklammert, zum Schlag erhoben.
Und jetzt endlich erkannte Lilith auch, woran sein stinkender Atem sie erinnerte. An Knoblauch! Sie würgte, kämpfte gegen den quälenden Brechreiz an – und schaffte es nicht. Ein übelriechender Schwall spritzte förmlich aus ihrem Mund hervor, traf »Secada«, doch er schien es nicht einmal wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Statt dessen rief er mit Stentorstimme: »Sprich endlich, Lilith Eden! Verrate mir dein Geheimnis!« Sie wollte es tun, vielleicht war die winzige Bewegung seiner Faust, in der er den Hammer hielt, der Grund dafür; aber sie tat es nicht. Sie zögerte, stockte. Vergaß die Worte, die ihr selbst dann noch fremd gewesen waren, als sie ihr schon auf der Zunge gelegen hatten – – denn etwas veränderte sich. Wurde vertraut. Und zutiefst erschreckend! Todesangst schürend … Lilith sah sich mit einemmal nicht mehr in ihrem Zimmer. Kahle Wände ragten rings um sie auf, aus rauhem Bruchstein gemauert. Feuchte Kälte nistete in dem Raum, legte sich klamm auf sie, kühlte den Schweiß auf ihrer Haut. Und auch »Secada« veränderte sich. Vollkommen. Er alterte binnen eines Lidschlages, wurde zu einem weißhaarigen alten Mann in dunkler Soutane. Ein – Priester? Irgend etwas war falsch an dem Anblick, stellte Lilith fest. Sie wußte nicht, woran es lag, aber das Bild des Paters schien ihr auf unbeschreibliche Weise eine Verhöhnung aller Geistlichkeit. Das Kreuz, das er um den Hals trug, hing verkehrt herum. Und das »Weihwasser«, das er aus einem Gefäß in dem zweifelsohne unterirdischen Gewölbe versprengte, zischte auf, wenn es Wände und Boden berührte – wie Säure. Und es stank nach – Schwefel? »Hör auf, dich dagegen zu wehren!« sagte der Mann in der Souta-
ne. Dunkler (?) Schweiß perlte auf seiner Stirn. »Es schadet dir nur. Sprich, Lilith Eden, sprich!« Lilith versuchte einem der umherspritzenden Tropfen auszuweichen. Erst jetzt, da es ihr nicht gelang, merkte sie, daß sie lang ausgestreckt auf einer derben Holzbank lag, Arme und Beine mit Eisenbändern gefesselt, und auch um ihren Hals schloß sich ein metallener Ring, den eine Kette mit der hölzernen Unterlage verband. Wie damals …? Sie kannte die Situation, hatte sie schon einmal erlebt und war ihr entronnen!* Und doch war es diesmal anders – falsch, unmöglich! Der Säuretropfen traf sie an der Hüfte, und beißender Schmerz lief wie in ringförmiger Wellenbewegung durch ihren ganzen Körper. Schwach nahm sie den Geruch verbrannten Fleisches war. »Ich werde herausfinden, was du bist«, sprach der »Pater« weiter. Lorrimer … Der Name wehte aus finsterer Tiefe herauf und durch Liliths erschüttertes Bewußtsein. War es ein Name? Egal, was zählte es schon? »Ich weiß es selbst nicht«, flehte Lilith. »Du täuschst mich nicht«, zischte »Lorrimer«. »Ich werde dich erlösen von deinem Geheimnis, glaube mir.« »Was – haben Sie vor?« fragte Lilith. Worte und Stimme schienen ihr gleichermaßen lange verklungen – wie alles, was hier geschah. Auf unbegreifliche Weise anders als damals, doch beinahe identisch … »Hammer und Pflock.« Wie hingezaubert erschien beides in seinen Händen. »Lorrimer« trat zu ihr, setzte das zugespitzte Holz auf ihre Brust. Er schien zu schaudern. Vor Wonne … Ein animalisches Funkeln trat in seine Augen. Die Faust mit dem Hammer hob sich. Fuhr nieder. *siehe VAMPIRA H03: »Besessen«
Wie damals … Und auch, was im gleichen Augenblick geschah, war wie damals … Der Hammer erreichte nicht das stumpfe Ende des Pflocks. Der Pater wurde von hinten angefallen. »Lorrimer« schrie auf, taumelte nach hinten weg. Er ließ Hammer und Pfahl fahren, griff mit beiden Händen nach seinem Kopf, als müßte er etwas von seinem Gesicht zerren, das sich unsichtbar darüber gelegt hatte. Sein Kampf war bizarr. Und er unterlag. Lilith konnte sehen, wie sich der Teil seines Gesichtes ab der Höhe der Augen veränderte. Blut schien dort aus jeder Pore seiner Haut zu quellen, und auch die Augenhöhlen selbst füllten sich mit Röte. Dann bedeckte »Lorrimer« sein Gesicht mit den Händen, so daß sie nicht weiterverfolgen konnte, was geschah. Sie war einerseits auch nicht erpicht darauf, wenngleich das quellende Rot … Angewidert von sich selbst wandte sie den Blick ab. Sah hin zur Wand, die – – plötzlich nicht mehr kahl und kalt war, sondern weiß und strukturiert … wie die Wand ihres Zimmers! Hastig riß sie den Kopf herum, sah dorthin, wo »Lorrimer« gerade noch … gewesen war! Jetzt saß Brian Secada auf ihrer Bettkante. Mit jenem Gesicht, das sie von Kindesbeinen an kannte. »Möchtest du mir erzählen, was dich bedrückt, Lilith?« fragte er mit seiner ruhigen, sanften Stimme. Sie wollte nicken, antworten. Doch sie spie ihm ganz andere Worte entgegen: »Fick mich, Brian!«
* »Was dauert da nur so lange?« fragte Creanna besorgt. Sean legte seinen Arm um sie, zog sie an sich, wollte sich mit ihr in die Polster der Couch zurücksinken lassen. Doch sie saß wie verstei-
nert da. »Vielleicht hypnotisiert er Lilith«, meinte er. »So etwas kann sehr lange dauern.« »Ich weiß nicht. Wir hätten Doc Brown benachrichtigen sollen. Er kennt Lilith seit ihrer Geburt …« »Das tut Brian auch«, wandte ihr Mann ein. »Aber er ist kein Arzt, er ist …«, Creanna stockte. »Ein Spinner?« »Nein«, lächelte sie. »Du weißt, daß ich Brian mag, und ich finde interessant, womit er sich beschäftigt. Ich glaube ja selbst, daß es mehr Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt. Aber …« »Aber?« »Er ist kein Arzt«, wiederholte Creanna. »Ich glaube nicht, daß unserer Tochter körperlich etwas fehlt. Um ihr zu helfen, scheint mir Brian nicht die falscheste Wahl«, sagte Sean. »Er …« Draußen wurden Schritte auf der Treppe laut. Creanna erhob sich, ging hinaus, Sean folgte ihr. Brian Secada stürmte förmlich die Stufen herab und wäre fast an Liliths Eltern vorbeigerannt in Richtung Haustür, wenn Sean ihn nicht am Ärmel zurückgehalten hätte. Er riß sich los. Secada wirkte gehetzt, erschrocken, beinahe entsetzt. Sein Atem ging heftig, und in seinen Augen lag etwas, das Abscheu ausdrückte. »Brian?« fragte Sean Lancaster. »Was ist los? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen …« »Was ist mit Lilith?« wollte Creanna wissen. Ihre Stimme bebte. Secada räusperte sich übertrieben heftig. »Vielleicht«, erwiderte er, »wäre eurer Tochter schon geholfen, wenn ihr etwas mehr Anstand beigebracht würde.« »Bitte?« machte Creanna.
»Schönen Abend wünsche ich noch«, sagte Brian Secada. »Den werdet ihr nämlich bestimmt haben mit diesem –«, sein Blick glitt abfällig die Treppe hoch, »– Früchtchen!« Ohne die beiden noch eines Blickes zu würdigen, ging er zur Tür und hinaus. Creanna und Sean sahen sich eine Sekunde lang verwirrt an, dann liefen sie die Treppe hinauf, stürmten in Liliths Zimmer. Blaß, aber lächelnd lag sie auf ihrem Bett. »Lilith! Was um alles in der Welt …«, begann Sean. Doch die Hand seiner Frau auf seinem Arm ließ ihn verstummen, wenn auch widerwillig. Creanna kniete neben ihrer Tochter nieder. »Was war denn?« fragte sie sanft. Lilith schüttelte den Kopf. »Nichts«, antwortete sie. »Brian machte so seltsame Andeutungen«, fuhr ihre Mutter fort. »Er …«, sie zögerte und sagte dann etwas, das sie selbst viel mehr erschreckte als ihre Eltern, »… er hat mich angefaßt.« »Sag, daß das nicht wahr ist!« rief ihr Vater entsetzt. Sie nickte nur. »Den kauf ich mir«, knurrte Sean Lancaster und wandte sich zum Gehen. Draußen heulte der Motor eines Wagens auf, der sich noch in derselben Sekunde mit quietschenden Reifen entfernte. »Laß es sein«, bat Creanna ihren Mann. »Wir können später mit Brian darüber reden, hm? Jetzt ist Lilith wichtiger.« »Natürlich«, nickte Sean. »Du hast recht.« Er trat ans Bett seiner Tochter. »Können wir irgend etwas für dich tun, Kindchen?« fragte Creanna fürsorglich. »Ich möchte …, daß Marsha heute bei mir schläft«, sagte sie. »Ja, das verstehe ich«, erwiderte Creanna. »Möchtest du sie selbst anrufen?«
Lilith nickte wieder. »Ja. Und laßt mich bitte allein, ja?« »Aber …«, setzte Sean an. Doch Creanna nahm ihn behutsam am Arm und dirigierte ihn aus dem Zimmer. »Das Kind braucht Ruhe, Sean«, sagte sie, als sie die Tür hinter sich schloß. Mit dem Klacken des Schlosses wurden ihre Körper durchscheinend und verschwanden schließlich – als hätte jemand den Schalter eines Projektors umgelegt … Drinnen atmete Lilith auf. Ihre Eltern – sie waren ihr mit einemmal unheimlich vorgekommen. Sie schienen sich verändert zu haben. Ihre Haut hatte seltsam grau ausgesehen, welk – wie die jüngst Verstorbener … Lilith griff zum Telefonhörer und wählte Marshas Nummer. Ihre beste Freundin erschien ihr wie das letzte Fünkchen Hoffnung, diesem ganzen Wahnsinn (den Lügen! dem Traum!) entrinnen zu können. Alle anderen Menschen, die sie kannte, schienen sich gegen sie verschworen, schienen sich verändert zu haben- oder war sie selbst es, die sich in ihrer Gegenwart veränderte? Am anderen Ende wurde abgenommen. Marsha selbst meldete sich. »Hallo?« »Hi, Marsha. Hier ist Lilith. Stell keine Fragen, ich erkläre dir später alles, okay? Kannst du heute nacht bei mir schlafen?« »Ja, sicher«, antwortete Marsha langsam, »aber …« »Frag nicht«, erwiderte Lilith. »Ich brauche deine Hilfe.« »Worum geht es denn?« fragte ihre Freundin trotzdem. »Du mußt mir helfen«, antwortete sie, »heute nacht nicht einzuschlafen …«
* Anderswo … … erwachte Hidden Moon aus traumlosem Schlaf.
Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, aber er wußte, daß es sehr lange gewesen war. Und es war mehr gewesen als jener Schlaf, den Menschen kannten. Natürlich schliefen auch die Menschen, um zu entspannen und vor allem Kräfte zu regenerieren. Bei Vampiren indes, so war es dem Arapaho jedenfalls stets vorgekommen, schien es vielmehr so zu sein, daß sie wirklich neue Kräfte gewannen. Aus einer Art Reservoir, aus dem es allein ihrer Rasse vorbehalten war zu schöpfen und das ihnen nur in jenem Zustand zugänglich war, den der beinahe komatöse Schlaf auf Heimaterde bedeutete. Die Ereignisse in Osceola hatten die Energien des indianischen Vampirs nahezu aufgezehrt.* Richtig bewußt war ihm das erst geworden, als er sich nach ihrer »Flucht« aus der Stadt, die seit Jahrhunderten unter der Knute eines entarteten, möglicherweise auch wahnsinnig gewordenen Vampirs gestanden hatte, an Liliths Seite zur Ruhe gelegt hatte. Nur allzu bereit hatte er sich, nachdem er die mitgeführten Krumen seines Heimatbodens auf seinem Lager verstreut hatte, in jene Schwärze sinken lassen, die frische Kräfte verhieß. Als Hidden Moon nun seine Augen öffnete, sah er nur im allerersten Moment die kahlen Wände des billigen Motelzimmers, in dem sie sich vor Stunden niedergelegt hatten; zu erschöpft, selbst um einander noch das Einschlafen zu versüßen. Sofort hellwach, wandte der Arapaho gleich den Kopf zur Seite, um sie anzusehen. Lilith Eden. Die ihm in kurzer Zeit mehr als nur Gefährtin geworden war. Und die zugleich sein seit Jahrhunderten gemächlich wie der mächtige Missouri dahinfließendes Leben in einen reißenden Fluß verwandelt hatte, dessen Stromschnellen nur allmählich wieder ausliefen. Mit geschlossenen Augen lag sie neben ihm auf dem einfachen Bett. Mochte sein, daß sie zwischenzeitlich einmal wach gewesen war. Denn er war sicher, daß sie seine Art von Schlaf nicht teilte, *siehe VAMPIRA T14: »Hidden Moon« �
weil sie darin nicht das Gleiche fand wie er. Lilith brauchte anderes, um ihre Kräfte aufzufrischen. Vampirblut. Schwarz wie das seine … Eigentlich hätten sie Feinde sein müssen. Doch das Schicksal hatte es anders gewollt und sie aneinandergekettet, zu einer Symbiose gezwungen, um deren Beschaffenheit zumindest Hidden Moon wußte. Ob Lilith es auch schon erkannt hatte, war ihm nicht ganz klar. Sicher aber ahnte sie, weshalb er ihr Nähe brauchte. Seine Gedanken wanderten zurück, tief hinein in die Vergangenheit, hin zu jener Nacht, in welcher der Hüter des Lilienkelchs den Stamm Hidden Moons, dessen indianischer Name Wyando lautete, in der Neuen Welt aufgesucht – oder heimgesucht hatte.* Einen von ihnen, Makootemane, hatte der Hüter, von dem Wyando heute wußte, daß sein Name Landru war, sein eigenes schwarzes Blut aus dem Kelch trinken lassen. Makootemane war daran gestorben, aber er war zurückgekehrt aus den Ewigen Jagdgründen – nunmehr selbst mit nachtfarbenem Blut in den Adern. Davon hatte er dann seinerseits in den Kelch gegeben, und dreizehn vom Hüter auserkorene Kinder des Stammes hatten den dunklen Trunk nehmen müssen, um hernach das Schicksal ihres Blutvaters Makootemane zu teilen. Der aber hatte heimlich ein klein wenig von dem schwarzen Blut abgezweigt und dem Totemtier des Stammes, einem Adler, davon zu trinken gegeben. In der Folge hatten sich die Arapaho-Vampire anders entwickelt, als es ihnen eigentlich vorbestimmt gewesen wäre. Makootemane hatte es als erster erkannt. Er schaffte es, den dunklen Trieben in sich zu widerstehen – weil der Stammesadler alles Böse aus ihm herauszufiltern vermochte. Und so hatte Makootemane den Angehörigen seiner Sippe aufgetragen, sich ebenfalls *siehe VAMPIRA T06: »Der Atem Manitous«
mit Adlern zu verbinden, auf daß die reinen Tierseelen alles Dunkle aus ihren vampirischen Herrn absorbierten. So hatte es sich ergeben, daß die Arapaho nicht blutgierig umherzogen, sondern in Symbiose mit ihren menschlich gebliebenen Brüdern und Schwestern leben konnten. In der Nähe ihres Heimatdorfes gründeten diese die Stadt New Jericho, und seit unendlich vielen Jahren versorgten ihre Bürger die Vampire mit dem, was sie zum Existieren brauchten. Und die Blutsauger nahmen ihren »Spendern« immer nur soviel von dem Elixier, wie sie unbedingt benötigten. So war es gewesen, bis die Seuche, die die Vampirsippen überall auf der Welt dahinraffte und nur deren Oberhäupter verschonte, auch nach den Arapaho griff. Der Untergang hatte drohend auch über ihrem Stamm gehangen, doch gemeinsam war es Makootemane, Wyando und Lilith gelungen, das Ende abzuwenden. Der Alte hatte für das Überleben seiner Kinder mit dem Tod bezahlt, und Lilith hatte in den Wirren der Ereignisse, selbst unter dem Einfluß des Keimes stehend, Wyandos Totemadler getötet. Seine Versuche, sich ein neues Tier heranzuziehen, waren gescheitert. Und schließlich hatte er herausgefunden, weshalb es ihm nicht möglich gewesen war – weil er längst einen neuen »Seelenverwandten« gefunden hatte. Oder besser: eine »Seelenverwandte«. Als Lilith den Adler umgebracht hatte, mußte das, was ihn mit seinem indianischen Herrn verband, auf sie übergegangen sein. Beweis dafür war die Tatsache, daß Lilith seither den Seelennamen Wyandos kannte, den allein das Tier gewußt hatte. Creeaa. Und so übernahm nun also Lilith, vielleicht noch unwissentlich, die Aufgabe, die einst jene des Adlers gewesen war: Sie war der »Blitzableiter« für Wyandos dunkle Begierde, sorgte mit ihrer Gegenwart und dem, was sich in ihr verbarg, dafür, daß der Arapaho nicht zu einem Vampir jener Art wurde, die Menschen nur als Opfer
ansah und sich nach dunkler Herzenslust an ihnen gütlich tat. Wie zum Ausgleich für diesen Dienst würde er ihr helfen, ihrer Bestimmung gerecht zu werden: Er würde an Liliths Seite die überlebenden Vampire aufspüren, auf daß sie sich an ihrem Blut laben konnte, ehe sie deren Dasein ein für allemal beendete. Denn das war es, was ihr von höchster Stelle aufgetragen worden war: Tod den Vampiren! Eine Aufgabe, die von Anfang vor allem eines für Lilith bedeutet hatte: Fluch … Hidden Moons Gedanken glitten zurück ins Hier und Jetzt. Lächelnd stützte er sich auf den linken Ellbogen, um Lilith zu beobachten. Ihr Anblick genügte, um eine Glut in ihm zu schüren, die in ihrer Gegenwart nie wirklich vergehen konnte. Heiß flammte es in seinen Lenden auf, und nichts hätte er lieber getan, als Lilith jetzt zu wecken, um jenes Feuer gemeinsam mit ihr zu löschen. Aber er bezähmte sich. Genoß den süßen Schmerz, den die Selbstbeherrschung ihm bereitete. Seine Finger zeichneten die weichen Linien ihres betörend schönen Gesichtes nach, ohne ihre Haut zu berühren; Millimeter davon entfernt fuhren sie darüber. Gleiches tat er mit den Rundungen ihres begehrenswerten Körpers, von dem das Laken gerutscht war. Gazeartige Schwärze umflorte ihren bleichen Leib, wie ein Nachtgewand, das nicht von dieser Welt und nur für sie allein geschaffen war: der Symbiont, den sie niemals ablegen konnte, weil er sie nicht nur kleidete, sondern sich auch von ihrem Blut ernährte. Dann hielt es den Arapaho doch nicht länger. Behutsam ließ er sein Gesicht dem ihren entgegensinken, verharrte kaum eine Fingerbreite über ihren Lippen, um sich allein schon zu berauschen an ihrem Atem. Mild wie eine laue Sommerbrise mußte er sein Gesicht streifen … Doch er tat es nicht. Nichts geschah. Weil Lilith – nicht atmete?
Von einem Sekundenbruchteil zum nächsten spannte sich der rotbraune Leib des Arapaho. Alarmiert sah er seine Gefährtin an, zögerte nicht länger, sie nun wirklich zu berühren. Er forschte nach ihrem Atem, ihrem Puls und fand – – nichts. � Wie tot lag Lilith neben ihm. � Wirklich nur wie tot …? �
* Sydney, Australien? Lilith glaubte den Telefonhörer kaum aufgelegt zu haben, als es auch schon an der Tür ihres Zimmers klopfte und Marsha eintrat, ohne auf ein »Herein!« zu warten. Einen Moment lang sah Lilith verwirrt drein, doch dann gelangte sie zu der Überzeugung, daß sie wohl nur in Gedanken versunken gewesen war in den letzten Minuten und deshalb nicht gemerkt hatte, daß die Zeit vergangen war. »Lilith …«, sagte Marsha. Sie war ein wenig kleiner als ihre Freundin, und die Natur hatte bei ihr im Vergleich zu Lilith noch einiges aufzuholen. Was nicht hieß, daß Marsha keine Schönheit gewesen wäre. Im Gegenteil, manchmal hätte Lilith gerne mit ihr getauscht, weil Marsha von einer mädchenhafteren Grazie war als sie. Und in dieser Nacht hätte sie es gerne noch aus einem ganz anderen Grund getan … »Ich bin so froh, daß du da bist.« Lilith flog der Freundin fast entgegen und schlang die Arme wie eine Ertrinkende um sie. Marsha ließ sie ein paar Sekunden gewähren, dann drückte sie Lilith sanft von sich, sah ihr fest ins Gesicht – und erschrak ein klein wenig: Die Linien darin schienen fortwährend zu zucken wie bei ei-
nem Nervenleiden, und der Glanz ihrer Augen rührte sicher nicht allein von den darinstehenden Tränen her. Zunächst schweigend zog Marsha ihre Freundin aufs Bett, nahm neben ihr Platz, ohne sie loszulassen. Erst dann sagte sie: »So, und nun erzähle.« Und Lilith erzählte. Alles, was geschehen war, und alles, was scheinbar geschehen war seit heute morgen – oder eigentlich schon seit gestern abend, als sie die Augen geschlossen und zu träumen begonnen hatte. Sie sprach lange, und Marsha unterbrach sie mit keinem Wort. Nur hinter den Zügen der Freundin breitete sich etwas aus, das wie eine Maske durch ihr wirkliches Gesicht hindurchschimmerte – eine Maske, die Grauen und Entsetzen ausdrückte. Und ganz leise Zweifel … »Du glaubst mir nicht, stimmt’s?« Marsha schrak zusammen. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß die Freundin schon seit gut einer Minute schwieg. Eine Minute, in der Lilith in ihrem Gesicht vermutlich tausend Dinge gelesen hatte. »Doch, schon«, erwiderte Marsha lahm. »Es ist nur …« »Das alles klingt wie die Geschichte einer Wahnsinnigen, nicht wahr?« Marsha zuckte unbehaglich die Schultern, wand sich, verzog die Lippen. »Nun …« »Was?« »Ja«, seufzte Marsha. »Ich hab’s befürchtet«, ächzte Lilith resignierend. Ihre Freundin hob beschwörend die Hände: »Lilith, ich möchte dir ja glauben. Und ich tue es auch – irgendwie. Du mußt mir nur zugestehen, daß das nicht so ganz einfach ist.« Lilith schluchzte trocken. »Ich weiß ja selbst nicht, ob ich meinen eigenen Worten glauben darf – und meinen Gedanken und Erinnerungen. Ich kann nicht mehr unterscheiden zwischen Traum und Wirklichkeit. Beides
scheint mir echt. Und irgendwie weiß ich trotzdem, daß beides falsch sein muß – der Eindruck ändert sich mit jeder Sekunde. Oh, Marsha, es ist so grauenvoll!« Das Mädchen warf sich weinend zurück und vergrub ihr Gesicht im Kissen. Marsha wartete eine kleine Weile, dann berührte sie Lilith an der Schulter und bedeutete ihr, aufzusehen. »Wie glaubst du, daß ich dir helfen könnte, Lilith?« »Ich habe Angst, daß der Traum weitergehen könnte. Oder vielleicht auch nur von neuem beginnt und noch wirklicher wird«, antwortete sie mit zitternder Stimme. »Und du möchtest deshalb nicht einschlafen?« Lilith nickte. »Ich bitte dich, mir zu helfen, wachzubleiben.« Marsha lächelte aufmunternd. »Okay, laß es uns versuchen.« Die beiden Mädchen suchten nach Möglichkeiten, sich abzulenken. Sie spielten Scrabble, lagen auf Liliths Bett und redeten über hundert Dinge, über Jungs, über wahrgewordene Phantasien und solche, die es noch werden mochten. Gleichzeitig schliefen sie schließlich ein. Marsha erwachte als erste.
* Marsha fuhr hoch, als schreckte sie aus einem leichten Dösen auf. Doch sie wußte, daß sie geschlafen hatte, tief und fest. So wie Lilith es neben ihr noch immer tat. Der Gedanke, daß genau das eingetreten war, was sie hatten verhindern wollen, beunruhigte Marsha allenfalls eine Sekunde lang. Dann war er schon fort, wie weggeblasen – von dem, was sie geweckt hatte … Ein schauerliches Stöhnen geisterte durch die Dunkelheit. Marsha konnte sich nicht erinnern, das Licht gelöscht zu haben. Vielleicht hatten Liliths Eltern es getan. Es war egal. Etwas anderes war um
vieles wichtiger. Erregt leckte Marsha sich die Lippen. Ihre Zunge kam ihr anders vor, rauh, fast hornig. Dann verging der Eindruck. Alles schien wieder beim alten. Aber sie wußte, daß es nur so schien. Spätestens in dem Moment, da sie auf Lilith hinabsah, beobachtete, wie die Freundin sich auf dem Laken wand und stöhnte, leise und jämmerlich. »Gut so«, grinste Marsha. Dann wandte sie sich ab. Sie war nicht erwacht, um Lilith beim Träumen zuzusehen. Auf sie wartete eine andere Aufgabe. Nicht einmal sonderlich vorsichtig schwang sie die Beine aus dem Bett, lief in das silberne Rechteck, in dem sich das Mondlicht, das durchs Fenster hereinfiel, auf dem Fußboden sammelte. Neben der Scheibe verhielt Marsha, schob den Vorhang eine Winzigkeit zur Seite und sah hinaus. Eine milchige Aura lag dort unten im Garten über allem. Die Schatten verloren im wie flüssig wirkenden Licht des Mondes ihre Tiefe, so daß nichts und niemand sich darin verbergen konnte. Marsha sah ihn sofort, obwohl er sich nicht bewegte. Wie eine Statue, die Teil des Gartens hätte sein können, stand er dort unten in der vermeintlichen Deckung eines Strauches. Sein Gesicht war für Marsha über die Entfernung nur eine graue Fläche, dennoch spürte sie, daß er heraufsah – und sie nahm seine Spannung wahr. Als würde er auf etwas warten. Oder auf jemanden … Marsha lächelte maliziös. Seine Geduld würde belohnt werden. Reich belohnt. Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.
* Kurz nach Einbruch der Dunkelheit hatte der junge Mann die hohe Mauer überklettert, die das Grundstück 333 an der Paddington Street einfriedete.
Seither wartete er, ohne zu wissen, worauf. Er würde es wissen in dem Moment, da es geschah. Was auch immer es war. Wie er so viele Dinge in den vergangenen Stunden einfach gewußt hatte, wenn es vonnöten gewesen war, während andere, die zuvor einmal wichtig gewesen waren, kurzerhand dem Vergessen anheimgefallen waren. Dinge wie Pflichtbewußtsein und Verantwortung beispielsweise. Er hatte nie geglaubt, daß ihm irgendwann einmal irgend etwas wichtiger sein konnte als diese. Es war einfach geschehen. Und er nahm es hin. Weil ihm keine Wahl blieb. Die Bedeutung des Begriffs »Berufung« definierte sich ihm seit dem Morgen in anderer, neuer Weise. Der junge Priesteranwärter wußte nicht, wie viele Stunden er nun schon hier im Schutz eines Strauches ausharrte. Er machte sich auch nicht die Mühe, auf die Uhr zu sehen. Als könnte ihn selbst dieser winzige Moment der Unaufmerksamkeit von etwas ungleich Wichtigerem ablenken. Statt dessen sah er unverwandt zu jenem Fenster auf, hinter dem er sie wußte – einfach wußte. Wenngleich er über sie selbst nichts wußte. Nur, daß sie eines jener Mädchen war, für die er zumindest darüber hätte nachdenken können, seine Entscheidung für das Priesteramt zu revidieren. Wenn die Situation eine andere gewesen wäre; wenn sie selbst eine andere gewesen wäre. Er verbannte die müßigen, fruchtlosen Gedanken aus seinem Kopf, versuchte sich von neuem in jenen Zustand zu versenken, der an Trance erinnerte, seine Aufmerksamkeit aber selbst für die geringste Veränderung um ihn her unangetastet ließ. Doch so ganz gelang es ihm nicht, das Bild des schwarzhaarigen Mädchens aus seinem Kopf zu tilgen. »In einem anderen Leben vielleicht …«, bemühte er traurig lächelnd eine uralte Floskel. Dann spannten sich sein Körper und sein Geist innerhalb eines einzigen Sekundenbruchteils als Reaktion auf eine – Bewegung?
Ja! Aber sie war nicht dort oben am Fenster entstanden, das er die ganze Nacht über nicht aus den Augen gelassen hatte. Dort drüben beim Haus bewegte sich etwas, schattenhaft und doch hell, beinahe bleich. Gras raschelte unter leichtfüßigen Schritten. Und dann sah er sie. Lilith … Ein passender Name. Denn sie war schön wie die Sünde. Schön und nackt. So kam sie auf ihn zu. Mit wiegenden Hüften, jede Bewegung ihres herrlich proportionierten Körpers eine Verlockung. Ihr schwarzes Haar schien im leichten Nachtwind ein betörendes Eigenleben zu entwickeln. Und Duncan glaubte selbst über die Entfernung den süßen Duft ihrer milchigen Haut zu riechen. Drei oder vier Schritte vor ihm blieb sie stehen, die Hände flach an die Hüften gelegt, den Kopf ein kleines bißchen schief haltend. Ihre Zunge tanzte für die Dauer eines Lidschlags über dunkle Lippen und legte einen silbrigen Schimmer darauf, der sich im Nachtwind verflüchtigte. Der junge Priester-Aspirant konnte nichts anderes tun, als sie ansehen. Er konnte förmlich spüren, wie eine unsichtbare Mauer in ihm zu bröckeln begann. Das Mädchen erschien ihm in diesem zeitlosen Moment schlicht – anbetungswürdig. Und sie sprach zu ihm: »Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.« Duncan fiel nieder …
* Lilith erwachte – und fuhr erschrocken auf! »Marsha?« Ihre Augen brauchten ein, zwei Sekunden, um sich mit dem Mondlicht begnügen zu können. Suchend sah sie sich um. Keine Spur von Marsha. Lilith war allein. Wieder rief sie nach der Freun-
din, ein wenig lauter diesmal, doch abermals erhielt sie keine Antwort. Vielleicht war Marsha in die Küche hinuntergegangen, um sich etwas zu trinken zu holen. Sie kannte sich aus in diesem Haus, es war beinahe ihre zweite Heimat, so viel Zeit verbrachte sie hier. Lilith lief zur Tür, öffnete sie, streckte den Kopf durch den Spalt. »Marsha?« flüsterte sie noch einmal. Nichts. »Aaahhh!« Jemand hatte Lilith angestoßen. Oder war es nicht eher ein Sog gewesen, der sie erfaßt und zur Tür hinausgezerrt hatte? Sie war nicht sicher, aber sie dachte auch nicht länger darüber nach, denn ihre Umgebung beanspruchte jedes Quentchen ihrer Aufmerksamkeit. Weil es nicht der Flur im Obergeschoß ihres Elternhauses war, in den Lilith hineingerissen worden war, sondern etwas – – ganz anderes! Etwas Fremdes, Unheimliches, Sinnverwirrendes, Wahnsinnigmachendes! Verwinkeltes Mauerwerk, das in Farbe und Konsistenz an faulendes Fleisch erinnerte, dabei wie unter innerer Glut pulsierend. Treppen, die in schwindelerregenden Winkeln in alle möglichen und alle unmöglichen Richtungen führten. Dunkel klaffende Öffnungen, die ins Nirgendwo oder auf unerklärliche Weise hierher zurückzuführen schienen. Lilith keuchte entsetzt auf. Der bloße Anblick dieses bizarren Labyrinths genügte, um ihren Verstand in wildem Galopp auf einen Abgrund zuzutreiben, aus dem es keine Wiederkehr geben konnte – nicht in die Normalität jedenfalls. Sie preßte die Augenlider zusammen, drehte sich um, griff blindlings nach der Klinke ihrer Zimmertür. Doch ihre Finger fuhren nur
über kahles, feuchtes Mauerwerk, in dem etwas rumorte wie der Schlag eines gigantischen Herzens. Er vereinigte sich mit dem ihren, wollte ihn sich angleichen … Lilith schrie auf, riß die Hand zurück, öffnete die Lider. Die Tür in ihr Zimmer war verschwunden. Vielleicht hatte es sie auch nie gegeben – wie jede andere Tür, die von diesem Flur, der ebenfalls nie existiert haben mochte, abzweigte. Alles mochte nur ein Traum sein – oder gewesen sein. Vielleicht war dies die Wirklichkeit, vielleicht war die Normalität ein Alptraum … Vielleicht, vielleicht, VIELLEICHT! Lilith schloß erneut die Augen, sammelte ihre zerstobenen Gedanken, atmete tief und gleichmäßig. Ruhe stieg in ihr auf, warm und angenehm. Sie ließ sie wirken, sich von ihr erfüllen. Erst dann wagte sie es, ihre Umgebung wieder zu sehen. Nichts hatte sich verändert. Augenscheinlich zumindest. Möglicherweise hatten sich manche Winkel verändert, führte die eine oder andere Stiege in eine neue Richtung. Egal, dachte Lilith. Nicht darüber nachdenken, einfach hinnehmen … Sich selbst Normalität suggerierend, ging Lilith vorwärts, Schritt um Schritt. Es hatte einen Weg hier herein gegeben, also mußte auch einer hinausführen. Sie stieg Stufen empor, die abwärts zu führen schienen, bog um Ecken, wo keine waren. Dann erreichte sie das erste dunkle Tor im Mauerwerk. Einen Moment zögerte sie, versuchte die Schwärze dahinter mit Blicken zu durchdringen, doch es gelang ihr nicht. Dann trat sie hindurch, blind hinein in die Finsternis – – und fand sich unvermittelt in einem Raum wieder, der an eine Grabkammer erinnerte. Für eine Sekunde zumindest … Dann löste die Kammer sich auf, und der Boden zu ihren Füßen gehörte nunmehr zu einem Korridor, der breit wie ein Eisenbahntunnel war. Seine Wände waren glatt und bestanden aus (geronnener Zeit?)
In jene Richtung, in der kein Ende des Korridors abzusehen war, neigte er sich leicht, und in seinen Wänden waren dunkle Öffnungen zu erahnen (Ausgänge in ferne Zeitepochen?) Und Lilith wußte mit einemmal, wie selbstverständlich, wohin dieser Tunnel führte: zum Anfang der Zeit! Sie war nicht allein hier. Sie sah, hörte, spürte sie kommen – die Toten. All jene, die ihren Keim in sich trugen. Sie passierten ihre Herrin, liefen tiefer in den Korridor hinein, verschwanden. Nun waren sie nur noch zu zweit. Lilith Eden und – – Beth MacKinsay. Lilith verspürte einen zutiefst schmerzhaften Stich in der Brust beim Anblick der Lebensgefährtin. Weil sie wußte, was kommen würde – und weil sie wußte, daß es nichts gab, was sie dagegen tun konnte. Sie war nur Zuschauerin, gefangen im Labyrinth ihrer eigenen Erinnerungen, mochten es nun falsche oder wahre sein. Sie hörte sich mit Beth sprechen und verstand doch kein Wort. Nicht jetzt, nicht hier. Aber sie kannte jedes Wort, das sie wechselten. Wie oft hatte sie dieses Grauen wieder und wieder durchleben müssen, nachdem es einmal geschehen war? Nur – war es wirklich geschehen? »… es würde dir helfen«, hörte Lilith sich mit erzwungener Kälte sagen. »Wobei?« erwiderte Beth und sprach weiter. Lilith unterbrach sie. Die Zeit drängte, sie mußte fort von diesem Ort, einen Ausweg finden. Doch erst mußte sie tun, was sie doch längst getan hatte … »… beim Sterben – vielleicht«, sagte sie und nahm Beth’ Gesicht in die Hände, drehte es auf den Rücken. Beth starb mit einem Staunen. Und Lilith glaubte, mit ihr zu sterben. Sie wünschte sich, es zu tun. Doch so leicht war es nicht, dem
Wahnsinn zu entkommen … Der Tunnel um sie her erlosch, Schwärze verschlang ihn, verschmähte jedoch Lilith und spie sie aus, hinaus in das Labyrinth. Nach zeitloser Wanderung erreichte sie das nächste Tor. Diesmal trat sie kaum zögernd hindurch. Alles Zaudern änderte nichts. Sie mußte den Weg suchen, ihn in jede Richtung gehen, bis sie den richtigen fand. Kaum hatte sie den ersten Schritt über die imaginäre Schwelle getan, fühlte sie sich von harten Fäusten gepackt und vorangestoßen. Hinein in einen winzigen Raum mit kahlen Betonwänden. Ein schlichter Tisch und ein Stuhl stellten das komplette Mobiliar dar. Jemand drückte Lilith auf den Stuhl nieder, dann trat der bislang Unsichtbare um sie herum und lehnte sich jenseits des Tisches gegen die Wand. Hinter ihr fiel eine Tür mit hallendem Krachen ins Schloß. »Nun, was haben Sie mir zu erzählen?« fragte Detective Jeff Warner. Lilith schluckte trocken; ihr Blick flackerte. »Was soll ich Ihnen zu erzählen haben?« fragte sie. »Etwas über eine mysteriöse Serie von Genickbruch-Morden beispielsweise?« schlug der Polizist vor. Sein Lächeln war freudlos, nicht einmal freundlich. »Was sollte ich darüber wissen?« »Daß Sie dahinterstecken!« antwortete Warner und wies in eine Ecke der Verhörkammer. Lilith war sicher, daß der Winkel eben noch leer gewesen war. Jetzt war er es nicht mehr. Aus dem Nichts war etwas dort aufgetaucht – eine Leiche. Beth MacKinsay, die mit unnatürlich abgewinkeltem Kopf am Boden lag und Lilith aus glanzlosen Augen anstierte. »Das …«, setzte Lilith an. »Wollen Sie mir erzählen, daß Sie das nicht gewesen sind?«
knirschte Jeff Warner und beugte sich über den Tisch zu Lilith hin, während er mit der rechten Hand anklagend in Beth’ Richtung wies. »Doch, aber …«, erwiderte sie bebend. »Fein«, sagte Warner. »Erzählen Sie mir, wer Sie sind, was Sie sind. Und es wird sich strafmildernd auswirken.« Seine Stimme – sie klang mit einemmal anders … »Was?« fragte Lilith verwirrt. Warner griff nach der Schreibtischlampe, die auf dem Tisch stand (woher kam sie plötzlich? Eben war der Tisch noch leer gewesen? Lilith verschwendete keinen weiteren Gedanken daran …), und richtete den Lichtkegel gegen die Delinquentin. »Rede, Lilith Eden!« donnerte Warner. Sein Gesicht verzerrte sich, veränderte seine Form, wurde zu … Lilith erkannte nicht, was daraus wurde. Das Licht nahm ihr die Sicht. Es strahlte, war gleißend hell, tausendfach blendender, als es eigentlich hätte sein dürfen. Es war – nicht irdisch … Aber vertraut. Lilith zwang sich, die Augen offenzuhalten. Ließ das Licht eindringen. Etwas mengte sich in das schmerzende Weiß, ein anderer Farbton. Purpur … Der Boden unter ihren Füßen begann zu beben, als würde etwas von unten dagegen stoßen. Dann brach der Beton, knirschend und krachend, als etwas sich hindurchschob und in den Raum wuchs. Ein … Baum? Lilith beobachtete stumm und starr, was weiter geschah. In der Tat sproß ein Baum aus dem Boden, wucherte in unmöglicher Geschwindigkeit, trug Früchte – Äpfel … Jeff Warner griff nach einem davon, führte ihn zum Mund – und schob ihn zur Gänze hinein! Lilith konnte hören, wie seine Kiefer brachen, konnte sehen, wie er sich die Frucht regelrecht in den Hals schob. Er mußte daran ersticken, aber er wurde durchscheinend und …
… weiter bekam sie es nicht mehr mit. Äste und Zweige des Baumes schnellten in ihre Richtungen, trafen sie schmerzhaft und peitschten sie förmlich hinaus aus der Kammer, die hinter ihr in Schwärze versank. Lilith setzte ihren Weg durch das Labyrinth fort. Wieder langte sie bei einem Durchgang an. Diesmal versuchte sie, nur den Kopf unter dem Mauersturz hindurchzustrecken – – und sah eine Treppe. Keine von der Art, wie sie ringsum überall und nirgends hinführten. Diese Stufen führten hinab in eine leicht muffig riechende Tiefe, in einen Keller. In den Keller? In den Keller ihres Elternhauses? Ein eigentümliche Gefühl überkam Lilith. Ein Gefühl der Sicherheit, der Überzeugung, daß dies die richtige Tür war. Jene, die aus allem hinausführen konnte. Der Keller mochte der Ort sein, an dem der Wahnsinn enden konnte. Weil dort – alles begonnen hatte? Sie verstand den eigenen Gedanken nicht. Er war in ihr, als gehörte er seit Anbeginn dorthin, doch sein Sinn blieb ihr verwehrt. Noch. Sie würde ihn finden, wenn sie nur dort hinunterstieg. Lilith schritt durch die Maueröffnung. � Und erwachte. �
* Duncan kniete nicht nieder, weil das nackte Mädchen es ihm geheißen hatte. Vielmehr war es so, daß seine Beine ihn nicht länger trugen. Sie bebten wie Espenlaub und knickten einfach unter ihm weg. Gesenkten Hauptes kauerte er vor ihr. Sie lachte, kehlig, dunkel, unangenehm. Der junge Mann fror unter dem bloßen Geräusch. Und er erschauerte, als sie nähertrat. Unmittelbar vor ihm blieb sie stehen, ihre
Scham auf einer Höhe mit seinem Kopf. Wie unter fremdem Willen hob er das Gesicht, sah sich ihrem nur spärlich behaarten Venushügel gegenüber. Ihr zarter Duft ließ Hitze in ihm aufschießen wie ein Geysir. »Nimm mich«, gurrte sie. Er spürte ihre Hände in seinem Haar. Sanft, aber doch mit Nachdruck versuchte sie sein Gesicht ihrem Unterleib entgegenzudrücken. Seine Lippen öffneten sich, seine Zungenspitze glitt hervor, bereit zu tun, was sie von ihm erwartete. Fast konnte er sie schon schmecken … Aufschreiend warf er sich zurück! Auf dem Rücken liegend sah er zu ihr auf, kroch rückwärts fort von ihr, weil ihr Anblick ihn nicht länger verzückte – sondern nur noch erschreckte! Ihr Gesicht war nicht mehr schön und anmutig. Einen Moment lang glaubte er, auf ihren Schultern etwas gänzlich Anderes, Fremdes, Nichtmenschliches zu sehen. Dann verging der Eindruck, doch ihr Gesicht war jetzt ein verzerrtes Etwas, in das Haß und Zorn ihre Spuren gegraben hatten. »Du!« geiferte sie. »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen!« rief er ihr mit fester Stimme entgegen. Seine Hand glitt in eine Tasche seiner Jacke, zerrte etwas an einer Kette hervor. Beschwörend reckte er ihr das Kruzifix entgegen. Sie schrie auf, wandte den Blick. Duncan nutzte die Chance. Er sprang hoch. Mit zwei Sätzen war er bei ihr. Was er zu tun beabsichtigte, würde ihn mehr schmerzen als sie. Trotzdem tat er es. Er hob die Faust – und schlug zu. Ein Seufzen entfloh ihren Lippen, als sie niedersank. Bevor sie zu Boden fiel, griff Duncan zu und fing sie auf. Mit einem Ruck lud er sich das bewußtlose Mädchen über die Schulter. Dann verließ er das
Grundstück an der Paddington Street mit seiner Last. Nur weg von diesem Ort, dachte er. Dorthin, wo nicht wirken kann, was dieses Haus und alle darin in seinem finsteren Bann hält. Hin zum LICHT …
* Zwischenspiel Gabriel fluchte, wie kein Kind dieser Welt es je vermocht hätte. Die Schwierigkeiten, die ihm erwuchsen, waren ärger, als er es erwartet hatte. Aber sie waren nicht unüberwindlich. Diese Lilith Eden mußte wahrhaft ein ganz besonderes Wesen sein. Nie zuvor war ihm eines wie sie begegnet – wohl, weil sie das einzige ihrer Art war. Die Kräfte, die ihr innewohnten, waren alle Mühen wert, die es kosten mochte, sie zu erkunden. Dann konnte er über Möglichkeiten nachsinnen, sie für sich wirksam werden zu lassen. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg. Gabriel seufzte. Dann erträumte er einen neuen Plan. Einen, der mit Donner und Blitz begann.
* Sydney, Australien? »Um Gottes willen, was war denn das?« Nick Parker schrie die Worte, während er krampfhaft am Lenkrad kurbelte, um das Taxi auf der Straße zu halten. Zum Glück herrschte
zu dieser frühen Stunde noch kaum Verkehr, sonst wäre alles zu spät gewesen. Der Wagen schleuderte quer zur Fahrtrichtung, und schließlich brachte Nick ihn in entgegengesetzter Richtung zum Stehen. Keuchend hing er über dem Volant, während sein Blick im Rückspiegel das Gesicht seines Fahrgastes suchte. Im ersten Moment fürchtete er, der Mann könnte den Zwischenfall nicht überlebt haben. Totenbleich und stocksteif hockte er auf dem Rücksitz. Nur auf seiner Wange pulsierte etwas wie ein rotes Mal … Dann bewegte er sich doch. Seine Lippen formten unhörbare Worte. Vielleicht betete er ja … »Alles in Ordnung?« fragte Nick. Der Mann im dunklen Anzug hinter ihm nickte. »Ja, ja. Ja«, stammelte er. Er schluckte einige Male, ehe er weitersprach: »War das ein – Blitz?« »Scheint so.« Nick sah durch die Windschutzscheibe schräg nach oben. Kein Wölkchen trübte den blaßblauen Morgenhimmel über Sydney. Wie konnte da ein Blitz niedergefahren sein? Und wie konnte er das Taxi getroffen haben, wo sich doch zu beiden Seiten der Straße Bäume reihten, die allesamt dutzendfach höher waren als der Wagen? Wenn er schon akzeptierte, daß ein Blitz aus dem Nichts entstanden war, so war das noch keine Erklärung dafür, warum er nicht in einen der Bäume eingeschlagen hatte. »Wie ist das möglich?« hörte er seinen Fahrgast, den er vom Sydneyer Flughafen abgeholt hatte, fragen. »Keine Ahnung«, murmelte Nick Parker. »Vielleicht sollten wir das Ganze einfach vergessen.« »Ja, vielleicht …« Nick wendete das Taxi auf der Straße und fuhr weiter in die ursprüngliche Richtung. Daß seine Blicke dabei immer wieder nervös nach oben wanderten, konnte er allerdings nicht verhindern …
Das Taxi erreichte eine ruhige Wohngegend fast an der Peripherie der australischen Millionen-Metropole. Große Häuser auf großen Grundstücken bestimmten hier das Bild, zu den Nachbarn und den Straßen hin durch hohe Bäume und Mauern abgeschottet. »Hier ist es«, sagte der Mann im Fond. Nick stoppte den Wagen vor einem doppelflügeligen Gittertor, über dem ein schmiedeeiserner Bogen verlief. Darin eingebettet war ein stilisiertes Familienwappen, umrankt von allerlei metallenem Durcheinander, das wohl Kunst sein mußte. Er öffnete seinem Fahrgast den Schlag und lud dann das Gepäck aus dem Kofferraum. Der Mann bezahlte den Fahrpreis und gab Nick noch ein ordentliches Trinkgeld. »Dankeschön«, sagte der Fahrer. Beim Einsteigen hielt er noch einmal inne, sah eine Sekunde lang zu dem anderen hin: »Und – bis bald.« Der Mann im Anzug nickte. Nachdenklich, fast verwirrt. Aber auch er sagte: »Ja, bis bald.« Dann öffnete er eine kleine Seitenpforte in der Mauer neben dem Tor und verschwand, während Nick Parker davonfuhr.
* Hector Landers schloß die Pforte hinter sich, lief ein paar Schritte die kiesbestreute Zufahrt zum Haus hinauf und blieb dann doch erst einmal stehen. Tief atmete er die würzige Luft ein, die den riesigen Garten erfüllte, und lächelte zufrieden. So roch nur Heimaterde … Endlich war er wieder zu Hause. Lange war er fortgewesen. Wichtige Geschäfte und Angelegenheiten hatten ihn um die ganze Welt geführt. Vieles hatte er in Ordnung oder wenigstens doch auf den Weg bringen können. Dennoch war seine Heimkehr nicht ganz frei von Bitternis. Denn
das, was er gesucht hatte – was er seit sehr langer Zeit schon suchte –, hatte er nicht gefunden. Wieder einmal nicht … Nun, vielleicht beim nächsten Mal. Es würde ihn nicht lange hier halten. Er war ein Reisender, nicht dazu geboren, sein Leben an einem Ort zu fristen. Nicht einmal an jenem, wo seine Familie auf ihn wartete … Seine Familie … Er lächelte düster, während er weiterging. O ja, sie würden sich freuen über seine Rückkehr. Aber ebenso gewiß war er sich, daß sie nicht böse sein würden, wenn er sie nach einer Weile wieder verließ. Er konnte spüren, daß ihnen seine Gegenwart nach einer Weile auf unbestimmte Weise unangenehm zu werden schien. Als wäre etwas um ihn her, einer dunklen Aura gleich, die Distanz schuf, wenn sie lange genug wirken konnte. Ein bitterer Geschmack legte sich auf seine Zunge. Nein, nicht allein das Reisen schien ihm im Blut zu liegen. Sondern auch etwas, das er damit wohl nur zu kaschieren versuchte – der Fluch der Einsamkeit … Nichtsdestotrotz schlug sein Herz ein klein wenig schneller, als er die Stufen zur Tür des großen Hauses im viktorianischen Baustil hinauflief und eintrat. Sie erwarteten ihn und traten aus den Schatten, die wie ewiger Nebel in der geräumigen Eingangshalle lagen. Seine Frau, seine Kinder … »Hora! Herak!« rief er lächelnd. Die beiden Jungs flogen ihm in die Arme. Er fing sie auf, drehte sich mit ihnen und setzte sie dann wieder ab, um sich ihr zuzuwenden. Der bloße Gedanke an sie ließ seine Leidenschaft selbst in weiter Ferne entflammen. Wenn er ihr nahe war, glaubte er, in unsichtbarem Feuer verbrennen zu müssen. Aber es war ein Schmerz, den er gerne ertrug. Weil sie ihm nahe und immer willens war, um die Flammen zu löschen …
Mit jedem Mal, da er von einer seiner Reisen zurückkehrte, schien sie ihm schöner noch als zuvor. Er legte seine kräftigen Arme um sie, zog sie fest an sich, vergrub sein Gesicht in ihrem nach Wildheit duftenden Haar, flüsterte ihren Namen … »Nona …« Ihre Erwiderung bestand in einem dumpfen Knurren, tief aus der Brust grollend – wie das eines Wolfes. Seine Hände fuhren begehrlich über ihre geschmeidigen Formen, doch sie entwand sich ihm mit kokettem Zwinkern. »Den Nachtisch gibt es erst nach dem Frühstück.« Gemeinsam gingen sie hinüber in den Speisesalon, wo die Familie schon den Tisch gedeckt hatte, nachdem er vom Flughafen aus telefonisch seine Ankunft avisiert hatte. Herrliche Düfte vereinigten sich in dem Raum, dennoch war Hector, zu seinem eigenen Erstaunen fast, nicht wirklich zufrieden. Irgend etwas fehlte in dem Konglomerat von Gerüchen, etwas, das er selbst nicht benennen konnte. Er vermißte es nur – irgendwie und auf einer tieferen Ebene seines Bewußtseins. Sie nahmen Platz und bedienten sich am reich gedeckten Tisch. Aus versteckten Lautsprechern drang leise klassische Musik. Alles war perfekt, harmonisch – – bis es sich wiederholte! � Rumpelnder Donner ließ das Haus sachte beben. � Hector Landers sah von einem zum anderen. Niemand schien sich � daran zu stören – oder hatte niemand außer ihm etwas bemerkt? Er fragte danach. Nona sah ihn erstaunt an: »Nein, du mußt dich geirrt haben. Es hat nicht geblitzt. Oder habt ihr etwas gesehen, Kinder?« Beide schüttelten einvernehmlich den Kopf. »Vielleicht bist du ein wenig erschöpft von der langen Reise«, meinte sie. »Du …« Sie stockte. Eine Sekunde lang starrte sie ihren
Mann nur an. Dann begann sie zu zittern, als bebe nun der Boden allein unter ihr. »Hector, was geschieht mit dir …?« Er hatte sich zusammengekrümmt, als hätte ein unsichtbarer Blitz ihn getroffen. Aufstöhnend faßte er nach seinem Kopf, barg sein Gesicht in den Händen. Und als er sie wegnahm – »Grundgütiger, was ist mit deinem Gesicht?« entfuhr es Nona. »Was soll damit sein?« grollte er. »Es ist – es hat sich verändert!« »Unsinn!« schrie er sie an, obgleich er spürte, daß sie recht hatte. Doch der Eindruck verging, alles schien wieder normal – er selbst schien wieder normal. Doch alles um ihn her … Die Idylle eines trauten Heims war verblichen. Etwas hatte sich darüber gelegt wie Alterspatina, schmutzig und stinkend. Sein Heim, seine Familie – alles verdorben, schlecht … Aus Weiß war Schwarz geworden, aus Gut Böse. Es wurde Zeit, daß hier jemand für Ordnung sorgte. Er tat es. Aus tiefen Kerkern krochen Dinge in ihm empor, die nie zuvor losgelassen worden waren. Weil diese Welt nicht für Dinge ihrer Art geschaffen war. Das hatte sich geändert. Die Zeit war reif. Und die Dinge wurden entfesselt. Hector Landers wurde zum Berserker. »Was hast du vor …?« schrie Nona. Es waren ihre letzten Worte, doch sie erfuhr die Antwort auf ihre Frage noch. Schmerzhaft war sie zuerst, dann tödlich. Die beiden Söhne teilten das Schicksal ihrer Mutter. Als Hector Landers sein mörderisches Werk beendet hatte, sog er tief die Luft ein. Noch immer hing der Frühstücksduft in der Luft. Aber nun mengte sich eben das mit hinein, was er vorhin aus ihm
selbst unerklärlichen Gründen vermißt hatte. Den Geruch nach Blut … Doch er nahm sich nicht die Zeit, sich daran zu berauschen. Er wechselte die verschmierte Kleidung gegen frische, dann verließ er das Haus. Hector Landers erwartete jemanden. Und er mußte nicht lange auf ihn warten.
* »Ist diese Stadt nicht wunderschön?« Eva Metters kuschelte sich im Fond des Taxis eng an ihren Mann Peter. »Ja, das ist sie«, erwiderte der. Australien war für das junge Ehepaar aus Deutschland eine Etappe ihrer Flitterwochen-Reise. Drei Tage wollten sie hier verbringen, dann sollte es mit dem Geländewagen ins Outback des fünften Kontinents gehen. Schlafen im Zelt, unter freiem Himmel. Herrlich romantisch würde das werden. Dachten sie … »Könnten Sie uns noch an der berühmten Oper vorbeifahren?« fragte Peter Metters den jungen Fahrer auf Englisch. »Klar«, kam die Antwort. »Kann ich alles. Kostet aber ‘ne Kleinigkeit extra. Ist ‘ne ziemliche Strecke dahin.« »Ach, was soll’s?« lachte Eva. »Wer weiß, ob wir je wieder hierherkommen, hm?« Sie befanden sich auf dem Weg vom Flughafen zu ihrem Hotel in der City. »Weißt du, wir sind kaum eine Stunde auf australischem Boden, und schon könnte ich mir vorstellen, hier zu leben«, meinte Peter. Eva stupste ihn neckisch an. »Oh, du Quatschkopf.« »Nein, es ist mein Ernst. Warum sollten wir das nicht?« »Weil wir schon ein Zuhause haben«, erwiderte sie aufgesetzt
sachlich. »In Deutschland sind unsere Familien, unsere Freunde, unsere Jobs.« »Freunde und Jobs könnten wir hier neue finden«, sagte Peter Metters. »Und unsere Familien können wir besuchen – oder sie uns. Warum nicht ein ganz neues Leben anfangen? Wir sind jung und …« Eva zuckte zusammen, so heftig, daß es auch ihn ruckartig durchlief. »Was ist?« fragte er erschrocken. Sie deutete stumm nach vorne, in Richtung des Innenspiegels. Dann brachte sie mühsam hervor: »Ich … Sieh hin! Siehst du das?« »Was?« machte er und folgte ihrer Blickrichtung. Das Blut schien ihm in den Adern zu gefrieren. Für einen Moment – gerade so lange, wie auch er es sah … oder zu sehen glaubte. Wo eigentlich das Spiegelbild vom Gesicht des Fahrers sein sollte, sah er eine – Unmöglichkeit! Ein Tierschädel, der Kopf eines Widders mit gewundenen Hörnern, hatte sich über den des Fahrers gestülpt, durchscheinend, so daß das echte Gesicht noch hindurch schimmerte. Dann war es vorüber. Und ging doch erst richtig los! Der Motor des Taxis heulte auf, als der Fahrer das Gaspedal bis zum Bodenblech durchtrat. Das junge Ehepaar fühlte sich tief in die Polster gepreßt, während der Wagen schneller und schneller wurde. In halsbrecherischen Manövern pflügte der Fahrer durch den Verkehrsstrom. Hinter ihnen quietschten Reifen, krachte und splitterte es, wenn andere Fahrzeuge auswichen und kollidierten. »Sind Sie verrückt geworden?« schrie Peter Metters, mehr entsetzt denn energisch. »Schnauze!« fuhr ihn der junge Bursche an. »Halten Sie an, bitte!« kreischte Eva. Sie wollte über die Sitzlehne nach dem Fahrer greifen, doch der zog das Taxi gerade in eine enge
Kurve, und die junge Frau wurde von der Fliehkraft regelrecht gegen Tür und Fenster geschleudert. Irgendwie mußte sie dabei unglücklich gegen die Verriegelung gestoßen sein. Die Tür schwang auf, und Eva wurde förmlich aus dem im Höllentempo dahinrasenden Fahrzeug gerissen. Hinter ihnen jaulten abrupt bremsende Reifen. Peter Metters wußte, daß es unmöglich war. Trotzdem hörte er das dumpfe Geräusch – knirschend, feucht – mit dem ein nachfolgendes Auto über Eva hinwegrollte … Sekundenlang war er unfähig, irgend etwas zu sagen, geschweige denn zu tun. Dann endlich kehrte das Leben in ihn zurück. »Stopp!« brüllte er. Gleichzeitig warf er sich vor, glitt irgendwie mit dem Oberkörper über die Sitzlehne vor ihm hinweg und versuchte dem Fahrer ins Steuer zu greifen. »Halten Sie an, Sie Irrer! Sofort!« Eine Hand wühlte sich in Peter Metters Haar, zog ihn unbarmherzig noch weiter vor, bis sein Kopf fast die Ablage vor dem Beifahrersitz berührte. Dann riß der Fahrer den Kopf des anderen hoch, drosch ihn wieder nach unten. Und wieder. Und wieder … Peter Metters hatte längst aufgehört zu schreien, als der Taxifahrer ihn losließ. Mit der Hand wischte er notdürftig die roten Spritzer von der Innenseite der Frontscheibe. »Verdammte Sauerei«, knurrte er angewidert. Aber es war nicht die Zeit, sich mit solcherlei Bagatellen aufzuhalten. Er wurde erwartet. Wenig später stoppte er den Wagen bei der Adresse, die er an diesem Morgen schon einmal angefahren hatte. Hector Landers stieg ein, nachdem er den Toten achtlos vom Beifahrersitz gezerrt hatte. »Ich nehme an, Sie kennen unser Ziel?« fragte er. Nick Parker nickte und fuhr los.
»333, Paddington Street.« �
* New Jericho, South Dakota Hidden Moon wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Sie hatte in seinem Leben nie eine wirkliche Rolle gespielt, und sie tat es auch jetzt nicht. Obwohl das Entsetzen tief in ihm saß, rumorte und wütete, ließ er sein Tun nicht von Hektik bestimmen. Zumindest äußerlich ruhig und gelassen hatte er seine Untersuchungen an Lilith ein ums andere Mal wiederholt. Hatte er gewissenhaft nach Lebenszeichen geforscht, denn sie mochten vage und für einen Menschen nur schwer zu erkennen sein. Und er hatte sich nicht allein darauf beschränkt, Liliths Körper zu erkunden. Makootemane hatte ihn vieles gelehrt in den Jahrhunderten; mehr als die anderen Kinder seines Blutes. Er war in gewisser Weise seit jeher der Lieblingssohn des Alten gewesen. Vielleicht hatte es daran gelegen, daß der Mond sich bei Hidden Moons Kelchtaufe verdunkelt hatte und er deshalb zu etwas Besonderem unter seinen Brüdern und Schwestern geworden war. Vielleicht waren es Gründe, die er nie mehr erfahren würde, nun da sein Vater tot war … In jedem Fall aber hatte Makootemane Wyando vieles gelehrt über die Magie und Kräfte seines Volkes, wenn auch längst nicht alles. Ein Leben mochte nicht reichen, alles Wissen darüber zu erfahren – nicht einmal, wenn dieses Leben so lange währte wie das ihre. Aber Hidden Moon wußte genug, um Leben und Tod dort zu erforschen, wo es sich verbarg – jenseits von Haut und Fleisch, tief im Leib eines Lebewesens. Dorthin vermochte der Arapaho vorzudringen, und so hatte er es auch bei Lilith getan. Doch er hatte nur Leere vorgefunden. Verlassenheit, bar allen Geistes, auf nicht körperlich spürbare Weise kalt.
Tot … Lilith lebte nicht mehr. Den Grund ihres Todes kannte Hidden Moon nicht. Und es schien ihm müßig, danach zu suchen. Zumal er die ihm verbleibende Zeit nicht dafür verwenden durfte. Sie mochte knapp genug sein. Die Trauer, die ihn erfüllte, galt nicht nur Lilith. Ein Teil von ihm trauerte auch um seinetwillen. Denn Liliths Tod mußte auch den seinen bedeuten. Was vom Adler auf Lilith übergegangen war, war mit ihr gestorben. Und so war Hidden Moon dazu verdammt, sich all jenem hingeben zu müssen, dem sein Stamm über die Jahrhunderte abgeschworen hatte. Die dunklen Triebe würden sein Tun und Denken bestimmen, Tod und Verderben würde er hinaustragen und über die Menschen bringen, die seinen Weg kreuzten. Wenn er es nur soweit kommen ließ … Aber das hatte der Arapaho nicht vor. Sein Lebensweg sollte enden, ehe er zum Leidensweg anderer wurde. Nicht hier jedoch, sondern an einem Ort, der seines Todes würdig war. Wo alles begonnen hatte, sollte es auch enden. Hidden Moon nahm Liliths Leichnam auf beide Arme und verließ das Motel, lief mit seiner toten Last durch die Straßen New Jerichos, wo die Männer, die ihm begegneten, ehrfürchtig ihre Hüte abnahmen und die Frauen betroffen den Blick senkten. Im Angesicht des nahenden Todes eines ihrer Herren.
* Sydney, Australien? Enttäuscht schloß Lilith die Augen, kaum daß sie sie geöffnet hatte. Sie wußte, spürte, daß sie ganz nahe dran gewesen war. Daß die Lösung oder womöglich sogar das Ende dieses Wahnsinns fast vor
ihr gelegen hatte, als sie urplötzlich aufgewacht war. Oder etwas, jemand sie geweckt hatte … Wie im Traum (war es wirklich ein Traum gewesen – von Anfang an?) war Marsha verschwunden, als Lilith nun abermals die Augen aufschlug. Ihr Zimmer war leer; Morgenlicht fiel golden durchs Fenster; sie vernahm leises Vogelgezwitscher … Alles hätte in bester Ordnung sein können. Aber das war es nicht. Würde es vielleicht nie mehr sein. Doch Lilith hatte das sichere Gefühl, daß sie etwas tun konnte, um alles zu ändern – um die Dinge wieder in die richtige Spur zu bringen. Ob sie dadurch auch besser würden, stand auf einem anderen Blatt. Es war nicht wirklich wichtig. Die Hauptsache war, daß Normalität einkehrte – oder vielmehr sie selbst in die Normalität zurückkehrte. Lilith stand auf, erfüllt von Zuversicht und Entschlossenheit. Beides hielt ein paar Sekunden lang. So lange, wie sie brauchte, um das Schlafzimmer ihrer Eltern zu erreichen. Sie wußte selbst nicht, weshalb sie die Tür überhaupt öffnete. Es war, als leite etwas Fremdes ihre Hand – etwas, das sie zutiefst entsetzen wollte, um all ihren Widerstand im Sturm zu brechen. Aufschreiend fiel Lilith unter der offenen Tür in die Knie. Dann kroch sie auf das breite Doppelbett zu. Hin zu ihren toten Eltern, deren Körper binnen eines Traumes in Verwesung übergegangen waren. Mühsam zog sie sich an der Bettumrandung hoch – und schrak abermals zusammen. Denn das Bett war leer. Die Bettwäsche alt und grau, staubbedeckt und mottenzerfressen. Wie auch das Schlafzimmer um sie herum mit einemmal den Eindruck machte, als wäre es Teil eines Hauses, das seit Jahren oder gar Jahrzehnten keines Menschen Fuß mehr betreten hatte. Lilith taumelte zurück zur Tür und stürzte hinaus auf den Korri-
dor. Der Boden gab unter ihren Füßen nach! Als wolle das Haus sie verschlingen! So schien es ihr zumindest. Tatsächlich war nur eines der Dielenbretter zerbrochen. Stöhnend befreite Lilith ihren verletzten Knöchel aus dem schartigen Loch. Ein Holzsplitter hatte sich tief in ihr Fleisch gebohrt. Mit spitzen Fingern zog sie ihn heraus – und beobachtete erstaunt, wie das dunkle Blut verschwand und die Wunde sich schloß. »Nein«, entfuhr es ihr wimmernd, »ich bin kein … Ich will keiner von ihnen sein!« Sie wollte losrennen, aber sie besann sich, ging vorsichtig weiter. Denn auch hier draußen hatte der Zahn der Zeit innerhalb kürzester Zeit Wirkungen gezeigt, für die es normalerweise Jahrzehnte und länger bedurft hätte. Lilith hielt sich dicht an der Wand, als sie zur Treppe ging, und auf ihrem Weg hinunter trat sie nur auf die äußeren Kanten der Stufen. Dennoch ächzte und bebte die Konstruktion unter ihrem Leichtgewicht. In der Halle lag der Staub fingerdick über allem. Die Möbel erweckten den Eindruck kantiger Gespenster. Wo Teppiche den Boden bedeckt hatten, quollen unter Liliths Schritten regelrechte Wolken auf. Die Tür zum Keller lag unterhalb der Treppe. Mit heftig pochendem Herzen blieb Lilith davor stehen. Dann zog sie sie auf. Trat hindurch, bereit, einen Fuß vor den anderen zu setzen, um die Stufen hinabzulaufen. Sie stolperte. Weil sie nicht auf eine Treppe trat, sondern auf ebenen Boden. Als sie sich aufrappelte, stellte sie fest, daß sie sich wieder in ihrem Zimmer befand. Doch der Schrecken darüber wurde von einem anderen noch überboten: Das Zimmer war nicht mehr leer wie zuvor. Sie wurde erwartet. Von zwei Männern. Lilith kannte sie beide. Aus einem Leben, von dem sie nicht längst
mehr sicher war, daß es nicht ihr eigenes war.
* Duncan erwachte im Angesicht des Herrn. Als er die Augen öffnete, sah er die Heilandfigur am Kreuz, das über dem Kopfende seines Bettes an der Wand hing. Er selbst lag jedoch nicht in seinem Bett, sondern auf dem Fußboden daneben. Denn sein Bett hatte er in dieser Nacht anderweitig zur Verfügung gestellt … Pater Lorrimer würde ihn zum Teufel jagen, wenn er herausfand, daß sein junger Schützling die Nacht Seite an Seite mit einem Mädchen verbracht hatte. Daß Duncan es in gewisser Weise nicht freiwillig getan hatte, würde Lorrimer nicht interessieren. Zumal der junge Mann es ja nicht einmal selbst verstand. Wobei ihm allerdings zum Vorteil gereichte, daß er der Frage nach dem Warum und Weshalb nicht nachgehen mußte. Er hatte die Dinge so zu nehmen, wie sie waren. Trotzdem mußte er sich überlegen, wie er das Mädchen vor einer Entdeckung durch den Pater schützen konnte. Vielleicht würde es nicht schlecht sein, sie ganz offiziell Pater Lorrimer vorzustellen. Als eine Schutzbedürftige, die Hilfe brauchte. Dagegen würde er nichts einzuwenden haben. Doch zu diesem Zweck wäre es vielleicht angeraten, dem Mädchen erst einmal etwas anzuziehen. Duncan öffnete seinen kleinen Kleiderschrank und suchte ein Hemd und eine Hose heraus, die ihm mittlerweile etwas knapp geworden waren. Ihr mußten sie passen, einigermaßen wenigstens. Ein Paar Turnschuhe hatte er auch rasch zur Hand. Dann trat er an das Bett heran. Nur der dunkle Schopf des Mädchens war zu sehen, der Rest verschwand unter der Zudecke, das Gesicht war der Wand zugedreht. Behutsam berührte er die junge
Frau an der Schulter. »Guten Morgen«, flüsterte er halblaut. »Wachen Sie auf.« Sie murmelte etwas Unverständliches, grub sich noch tiefer in die Decke ein – und erstarrte dann unvermittelt. Duncan konnte sich in etwa vorstellen, was in ihr vorging. Vermutlich hatte sie gerade die Augen aufgeschlagen und fragte sich … »Wo bin ich denn hier?« Mit einem Ruck setzte sie sich auf, und als sie des jungen Mannes ansichtig wurde, der neben ihr stand, schrie sie spitz auf. »Wer sind Sie denn?« fragte sie erschrocken. Duncan starrte sie an. »Dasselbe wollte ich Sie auch gerade fragen.« Denn sie war ganz offensichtlich nicht Lilith Lancaster, die er in der Nacht aus der Paddington Street fortgebracht hatte.
* Marsha klammerte sich an den heißen Kaffeebecher, als wäre er der letzte Halt für sie in dieser Welt. Duncan saß ihr stumm gegenüber und konnte kaum den Blick von ihr wenden. Er war getäuscht worden. Etwas hatte ihn dieses Mädchen in der Nacht mit falschen Augen sehen lassen. Hatte ihn dazu gebracht, es für jene zu halten, für deren Schutz er verantwortlich war. Und er war darauf hereingefallen, hatte sich blenden lassen von der Larve des Bösen, die erst hier, im Hause des Herrn und auf geweihtem Boden, von Marsha abgefallen sein mußte – nachdem Duncan eingeschlafen war … »Was Sie da von sich geben, klingt verdammt irre«, sagte Marsha über den Rand ihres Bechers hinweg. Sie sah verloren aus in der zu weiten Kleidung, die Duncan ihr gegeben hatte. Er nickte lahm. »Ich weiß.« »Aber es paßt zu dem, was Lilith mir erzählt hat«, fuhr Marsha
fort. Der junge Priesteranwärter wußte kaum noch, was er dem Mädchen im einzelnen berichtet, wie er ihre Anwesenheit hier zu erklären versucht hatte. Er wußte nur, daß er einen Haufen wirres Zeug dahergeredet haben mußte. Wenn sie einen Sinn darin sah – um so besser. »Was hat sie denn erzählt?« fragte er. »Na ja …«, begann Marsha, und dann bemühte sie sich, halbwegs detailgetreu wiederzugeben, was Lilith ihr am vorigen Abend gesagt hatte. Es fiel ihr schwer, sich an alles zu erinnern. Alles schien so irreal, daß es sich oft kaum in Worte fassen ließ. »Verstehen Sie das?« fragte sie Duncan schließlich. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich fürchte, ich kenne den Grund, weshalb man mich mit dir abgelenkt hat«, erklärte er tonlos. »Warum?« »Damit jene Macht, die hinter all dem steckt, ungehindert ihrem Tun nachgehen konnte. Aber vielleicht ist es ja noch nicht zu spät.« Duncan stand auf. »Wo gehen Sie hin?« fragte Marsha. »Na, wohin wohl?« erwiderte Duncan Luther. »Zurück in die Paddington Street.« »Können Sie Hilfe brauchen?« Duncan zuckte die Schultern und lächelte verunglückt. »Jede, die ich kriegen kann.«
* »Wie kommt ihr hierher? Und was wollt ihr?« Lilith sah von einem zum anderen. Von Nick Parker zu Landru … Sie kannte beide. Und wußte, daß sie nicht hierher gehörten. Nicht
in diese Wirklichkeit, nicht in dieses Leben. Sie waren Teil des Traumes, der längst mehr war als nur ein Schatten, der aus jener anderen Welt herüber in diese fiel. Nick Parker war Liliths erstes Blutopfer gewesen, nachdem sie in ihrem Traum erwacht war … Was für ein Unsinn! dachte Lilith. Wie kann man in einem Traum erwachen? Doch sie verfolgte den Gedanken nicht weiter, hatte ihn im nächsten Moment sogar vergessen. Und Landru … Er war dort in der Traumwelt ihr ärgster Feind gewesen. Ihr Jäger, der Mächtigste der Alten Rasse. Sein Haß hatte sie um die ganze Welt verfolgt, um ihre Bestimmung zu verhindern. Aber er hatte versagt in jener anderen Wirklichkeit, war selbst zum Todesboten für sein Volk geworden, hatte eine vernichtende Seuche über sie gebracht … Lilith schauderte, weil sie die Ereignisse des Traums wie wahre Erinnerungen Revue passieren ließ … »Mit dir reden, Lilith Eden«, antwortete Nick Parker auf ihre Frage. »Ich heiße nicht –«, begehrte Lilith auf, doch Landers (Landru!) unterbrach sie mit einer unwirschen Handbewegung. »Namen sind Schall und Rauch«, sagte er. Irgendwie ähnelte seine Stimme der von Nick Parker – beinahe wie eine zweite Stimme, die sich hinter seiner echten verbarg. »Worüber?« wollte Lilith wissen. »Das weißt du doch«, erklärte Landers in dem Tonfall, in dem man ein kleines Kind belehrte. Stumm schüttelte sie den Kopf. »Wir wollen wissen, wer du bist, Lilith Eden«, sagte Nick. »Was du bist …« »Ich weiß es nicht!« schrie Lilith verzweifelt. »Ich wünschte, ich wüßte es!« »Dann werden wir dir helfen, es in Erfahrung zu bringen«, bot Hector Landers an.
»Komm mit uns«, forderte Nick Parker sie mit fast derselben Stimme auf. »Nein!« Lilith kreiselte herum, stürmte aus dem Zimmer. Der Flur draußen war noch immer alt, alles morsch. Irgendwie schaffte sie es, sicher zur Treppe zu gelangen und hinunterzurennen. Wie von selbst führten ihre Schritte sie erneut zur Kellertür – – wo sie bereits erwartet wurde. Hector Landers und Nick Parker flankierten die Tür wie Wachsoldaten. »Wir wußten, daß du vernünftig werden würdest«, sagte Landers. »Tritt ein«, ergänzte Parker. Er öffnete die Tür. Lilith konnte sehen, was dahinterlag. Keine Treppe, die in die Tiefe führte, kein wahnsinnweckendes Labyrinth, und auch nicht ihr eigenes Zimmer wie vorhin noch. Sondern ein – – düsterer Raum ohne sichtbare Wände. Vollgestopft mit allen möglichen Dingen, eines erschreckender als das andere. Überladene Regale verwehrten Lilith den Blick und machten selbst eine Schätzung der Größe des Raumes unmöglich. Aber er stank zum Gotterbarmen! Wie der faulige Brodem einer Gruft quoll der Gestank aus der offenen Tür herüber. »Nun zier dich nicht«, sagte Nick Parker. »Denn die Geduld unseres Herrn ist nicht grenzenlos«, fügte Landers hinzu. Sie traten vor, packten Lilith und schleuderten sie durch die Tür. Dann folgten sie ihr.
* Oberer Missourilauf, South Dakota Der Brandgeruch hing noch immer über der Lichtung wie eine unsichtbare Glocke, obgleich die Feuer längst niedergebrannt waren. �
Wer es nicht wußte, hätte nie erkannt, daß hier bis vor Tagen die Tipis eines Indianerstammes gestanden hatten. Die Asche war inzwischen in alle Winde verweht, und die kärglichen Überreste ließen keine Rückschlüsse darauf zu, was sie einmal dargestellt hatten. Leer und tot lag der Flecken Erde vor Hidden Moon. Er selbst hatte ihn in Brand gesetzt, nachdem seine verbliebenen Stammesbrüder und -schwestern fortgegangen waren. Ein guter Ort zum Sterben. Der einzig richtige. Vorsichtig, als könnte er ihr selbst jetzt noch wehtun, legte der Vampir Liliths Leichnam im Zentrum des früheren Arapaho-Dorfes nieder. Lange ließ er seinen Blick auf ihr ruhen, als hoffte er, es könnte noch etwas von dem, was sein Seelenheil aufrechterhielt, in ihr sein, auf daß er noch einmal davon zehren und es nutzen konnte. Nur solange, bis er getan hatte, was zu tun war, bis er die Vorbereitungen getroffen hatte. Dann verschwand er im nahen Wald. Nach einer Weile kehrte er zurück, beladen mit Holz und Astwerk. Ohne Werkzeuge zur Hand zu haben, errichtete er in stundenlanger Arbeit ein hölzernes Gerüst, das er mit Pflanzenwerk und Keilen stabilisierte. Darunter schichtete er Äste, Zweige und trockene Gräser auf, in jener Weise, die Makootemane ihn einst gelehrt hatte – für den Fall der Fälle, der, so hatte selbst der Alte geglaubt, wohl nie eintreten würde … Er hatte sich geirrt. So vieles war anders geworden. Und alles fand ein Ende. Schließlich hob Hidden Moon seine tote Gefährtin auf und bettete sie vorsichtig oben auf das Gerüst. Mit Pflanzensäften und Erde zeichnete er schlicht aussehende Symbole auf ihren Körper, ehe er in gleicher Weise mit seiner rötlichfarbenen Haut verfuhr. Aus Steinen schlug er Funken, setzte ein Grasbüschel in Brand. Damit wiederum entzündete er das Material unter dem Gerüst. In jeder Himmelsrichtung legte er ein Feuer. Am Kopfende blieb der Arapaho schließlich stehen. Er senkte den
Kopf, schloß die Augen, ließ Gesänge aus den abgründigsten Tiefen seiner Erinnerung aufsteigen. Sie sollten den Weg ebnen, die unsichtbaren Tore öffnen hinüber in jene andere Welt. Und sie taten es. Es war nicht zu sehen, nicht einmal wirklich zu spüren. Allein der eisige Hauch, von dem Hidden Moon sich gestreift glaubte, mochte ein Hinweis darauf sein, daß die Dinge wurden, wie sie werden sollten. Vor ihm fraßen sich die Flammen knisternd durch Reisig und Holz. Vereinzelt züngelten sie schon hoch genug, um den Leichnam zu berühren. Es wurde Zeit … Hidden Moon trat vor, faßte nach dem Gerüst, um sich daran hochzuziehen – – und hielt inne! � »Wyando.« � Die Stimme klang nicht einmal laut, und für eines Menschen Ohr � wäre sie vielleicht im Prasseln des Feuers untergegangen. Der Arapaho jedoch fühlte sie wie die Berührung einer totenkalten Hand, die ihn an der Schulter zurückhielt. Schnell drehte er sich um. Und erstarrte von neuem. »Vater?« entfuhr es ihm. Der Mann, der ihm nur wenige Schritte entfernt gegenüberstand, nickte. Er war uralt, sein Gesicht ein Meer von Falten. Seine Gestalt hager und so dürr, daß der geringste Wind genügen mußte, ihn zu Boden stürzen zu lassen. Aber Wind konnte ihm nichts anhaben. Er ging durch ihn hindurch, als wäre er nicht Teil dieser Welt. »Folge mir, Wyando«, sagte Makootemane und wandte sich um. Wie in Trance tat Hidden Moon, was der Alte (der Tote!) ihm geheißen hatte. Bis an den Rand des einstigen Dorfes gingen sie, Makootemane immer ein paar Schritte voran, und Hidden Moon schaffte es allen Bemühungen zum Trotz nicht, die Distanz zu überbrücken.
Unvermittelt blieb Makootemane stehen. An einer Stelle, von der kaum einen Schritt entfernt die Luft seltsam flimmerte. Ein bißchen wie bei großer Sonnenhitze – und doch anders. Als wäre die Wirklichkeit an dieser etwa mannshohen Stelle verwischt. Wie einladend wies der Alte auf diese Stelle. »Was …?« begann Wyando, unterbrach sich aber, als etwas in dem Flimmern entstand. Als eine Gestalt darin erschien, kleiner noch als Makootemane und von dunkler Hautfarbe, wie der Arapaho erkannte, obwohl der andere in ähnlicher Weise durchscheinend wirkte wie sein toter Vater. Das Gesicht der Gestalt wirkte fremd, auf schwer zu beschreibende Weise »urtümlich«. Wyando hatte das Land seiner Ahnen nie verlassen. Dennoch wußte er um die anderen Völker dieser Welt. Dieser Fremde erinnerte ihn an Bilder, die er von australischen Ureinwohnern gesehen hatte. Aborigines … »Geh mit ihm«, sagte Makootemane und zeigte auf den Fremden. »Wer ist er?« fragte Wyando. »Niemandes Freund«, erwiderte der Alte. »Aber er wird dir helfen, dich auf Pfade führen, die mir verwehrt sind.« »Wobei helfen?« wollte der Arapaho wissen. »Hast du soviel Zeit, daß du sie mit Fragen vertun kannst?« fragte Makootemane lächelnd. »Nein«, antwortete Wyando. Er trat vor. Der Aborigine reichte ihm die Hand und zog ihn in das Flimmern hinein. Und Hidden Moon verließ die Wirklichkeit. Um mit einer anderen zu verschmelzen.
* Sydney, Australien?
»Wollen wir ihnen nach?« flüsterte Marsha. »Natürlich«, erwiderte Duncan. Gerade noch hatte er das Mädchen in die Schatten neben der Eingangstür zerren können, kurz nachdem sie das Haus 333, Paddington Street betreten hatten, das unbewohnt und verfallen wirkte. Von oben hatten sich hastige Schritte genähert, in den Schatten unterhalb der Treppe war Bewegung entstanden. Aber obwohl sie kein wirklich sicheres Versteck gefunden hatten in der Eile, war niemand auf sie aufmerksam geworden. Als wären sie nicht Teil dieser Wirklichkeit – oder als läge etwas um sie wie ein tarnender Mantel. Die Tür, von der Marsha wußte, daß sie in den Keller führte, schloß sich. »Los!« gab Duncan das Zeichen und huschte durch die Eingangshalle. »Was sich in ein paar Stunden doch für Dreck ansammeln kann«, murmelte Marsha hinter ihm, während sie den Blick schweifen ließ. »Liliths Mutter sollte wieder mal den Staubwedel schwingen.« »Vielleicht liegen ihre Stärken nicht unbedingt im hausfraulichen Bereich«, grinste Duncan. Sie langten bei der Tür an. »Auf drei«, sagte er über die Schulter. »Eins, zwei …« Marsha faßte an ihm vorbei nach der Türklinke. »Drei!« rief sie und riß die Tür auf. Muffige Dunkelheit gähnte jenseits der Schwelle. Das vage Licht, das die Halle erfüllte, reichte aus, um die ersten Stufen einer abwärts führenden Treppe erkennen zu lassen. »Hat das vorhin nicht irgendwie anders ausgesehen?« wunderte sich Marsha. »Ja«, sagte Duncan zerknirscht. »Richtige Tür, falscher Weg.« Die Stimme klang hinter ihnen auf. Synchron drehten sie sich um.
Das Lächeln des wie aus dem Nichts aufgetauchten Aborigines (war er tatsächlich ein Eingeborener? Sein flaches Gesicht wirkte seltsam maskenhaft, als befände sich noch ein anderes darunter …) sah aus wie aufgemalt, schien bar aller Emotion. »Was soll das heißen?« entfuhr es Duncan erstaunt. »Wer sind Sie?« fragte Marsha erschrocken. Anstelle einer Antwort trat der kleine Mann auf sie zu, streckte ihnen die Hände entgegen. »Ich kenne den Ort, an den sie gegangen sind«, sagte er. Und nahm sie mit sich dorthin.
* Wieder wußte Lilith etwas, das sie nie gewußt zu haben glaubte. Und doch empfand sie eine unumstößliche Gewißheit. Der Raum, in den sie getreten waren, war Teil eines Antiquitätengeschäftes, das in der Market Street lag. Das hieß, »Geschäft« war nicht die richtige Bezeichnung. Denn der Inhaber verkaufte seine Waren nicht, er tauschte sie gegen andere ein. Esben Storm war sein Name, und er zählte angeblich zu den wenigen Aborigines, die den Wechsel in die »Zivilisation« geschafft hatten. Zugleich galt er selbst innerhalb seines eigenen Volkes als wohl intimster Kenner des Traumzeit-Mythos. Lilith wußte noch viele Dinge über Esben Storm, die weit über diese profanen Kenntnisse hinausgingen. Sie kannte sein Geheimnis, wußte, weshalb er in all den Jahren wieder und wieder in der Nähe ihres Elternhauses aufgetaucht war – während sie ihrer Bestimmung entgegengeträumt hatte …? »Nein«, flüsterte sie, schüttelte heftig den Kopf. »Nein, so ist es nicht. So kann es nicht sein!« »Was kann nicht sein?« fragte Nick Parker. »Nichts«, antwortete sie schnell. Sie ahnte, daß sie den Antworten,
die die beiden Männer erwarteten, sehr nahe war – zu nahe, als sie selbst es wollte. »Was habt ihr jetzt vor?« fragte sie zögernd. Ihre Blicke wanderten über die Regale, die den Laden Esben Storms in ein Labyrinth verwandelten. Dinge standen darin, die sich jeder Beschreibung entzogen, unheimlich anmutend, manche fast, als wären sie nicht von dieser Welt und hätten nie hierher gelangen dürfen. Und den meisten von ihnen entströmten Gerüche, die in ihrer Gesamtheit jenen Gestank ergaben, von dem Lilith schon vor der Tür übel geworden war. Vordergründig war es der Geruch von Alter, von Tod vielleicht. Aber darunter haftete ihm etwas Verdorbenes, Verbotenes an … »Wir wollen uns unterhalten«, erklärte Hector Landers wieder. Dabei ging er an den Regalen entlang, als wollte er sich über Storms Angebotspalette kundig machen. Oder als hielte er nach etwas ganz Bestimmtem Ausschau … »Du könntest dir viel Ärger ersparen, wenn du uns ein wenig entgegenkommen würdest«, sagte Nick Parker. Auch er lief an den Regalen vorüber, berührte mal hier, mal da etwas, verzog angewidert das Gesicht oder grinste einfach nur. Seine Vorgehensweise unterschied sich grundsätzlich von der seines »Kumpans«. Er tat nicht mehr, als sich die Zeit zu vertreiben. Lilith war darüber nicht unglücklich. Immerhin hätte ihm auch eine andere Möglichkeit des Zeittotschlagens einfallen können. Und sie war sicher, daß Landru ihn nicht daran gehindert hätte. »Das würde ich, wenn ich es könnte«, erwiderte sie endlich. Landers schnaubte abfällig. »Was soll’s?« meinte er. »Ich bin sicher, ich finde ein Mittel, um dich zum Reden zu bringen, mein Täubchen.« »Vielleicht wüßte ich auch eines«, warf Parker ein. Ein gieriges Funkeln trat in seinen Blick, als er Lilith anzüglich musterte. Kaum vergangene Befürchtungen entflammten neu in ihr.
»Ich kenne mit Sicherheit ein besseres«, sagte Landers. »Man bringt einen anderen dann am ehesten in Plauderstimmung, wenn man ihn so trifft, daß er den Mund allein schon öffnet, um zu schreien.« Er verhielt einen quälend langen Augenblick im Schritt und starrte herüber zu Lilith. Die Vertrautheit seines abseitigen Grinsens weckte weitere Erinnerungen in ihr, ließ sie förmlich emporschießen aus dunklen Abgründen. Jede einzelne ihrer Begegnungen schien ihr plötzlich gegenwärtig. »Man muß nur die eine Sache finden, die im anderen die größte Angst weckt«, sprach Landers weiter und setzte seine Wanderung entlang der Regale fort. »Was könnte das in deinem Fall sein, Lilith Eden?« Sie kannte die Antwort nicht wirklich. Aber sie spürte sie in sich aufsteigen. Einem bitteren Geschmack gleich legte sie sich ihr auf die Zunge. Sie wollte nichts anderes als sie ausspucken! »Ah!« machte Landru erfreut. Seine Hand glitt bis zum Ellbogen in die Schatten eines der Regale. »Nun?« forderte er sie währenddessen noch einmal auf. »Ist dir eine Antwort eingefallen?« Seine Hand kam wieder zum Vorschein. Sie war nicht mehr leer. »Dieses … Ding scheint mir das passende Mittel zu sein«, sagte er. Seine Betonung des Wortes Ding war zutiefst ehrfürchtig, fast demutsvoll. Er faßte den Gegenstand am Stiel und hielt es Lilith hin, als wollte er ihr eine Blume überreichen. Und ähnlich wie eine solche war das »Ding« auch geformt. Endlich spie Lilith aus, was gallig und widerwärtig ihren Mund füllte. »Der Lilienkelch!«
*
»Ich habe, so scheint es mir, die rechte Wahl getroffen.« Landru nickte zufrieden. Sein Blick ruhte für einen zeitlosen Moment auf dem Kelch, der in seiner Form einer Lilienblüte nachempfunden und aus einem nicht definierbaren Material gefertigt war. Dabei wirkte er nicht wie aus einem Guß oder einem Stück, sondern wie aus unzähligen Splittern zusammengefügt. Der Anblick des Gefäßes schien etwas tief in ihm anzurühren. Etwas, das er selbst nicht verstehen mochte. Jedenfalls glaubte Lilith das in seinen Zügen zu sehen. Sie verstand es nicht. Landru mußte den Kelch, das Unheiligtum der Vampire, doch erkennen! Als Hüter dieses Grals war er 1000 Jahre lang von Sippe zu Sippe gezogen, um daraus neuen vampirischen Nachwuchs zu schenken … Aber – woher wußte sie all diese Dinge? »Weil es wahr ist«, flüsterte Lilith, erschrocken, daß sie ihre Gedanken laut aussprach. »Weil alles wahr ist …! Und das hier … ist Lüge!« Landers lupfte die linke Braue. »Es wirkt schon, nicht wahr?« Lilith schluckte hastig. Wovor hatte sie die größte Angst? Was war es, an das sie stets nur hatte denken müssen, um Furcht und Schrecken zu empfinden? Ihr Blick klebte förmlich am Lilienkelch … Sie durfte nicht daran denken, unter keinen Umständen! Allein der Gedanke an den Grund ihrer Urangst würde sie verraten …! Aber es war längst zu spät. Landers nickte gönnerhaft. »So ist das also«, murmelte er. »Nun, so sei es …« Er stellte den Kelch auf einem freien Flecken neben der altmodischen Registrierkasse ab. Der Nagel seines rechten Zeigefingers wuchs im Zeitraffertempo, wurde zur Klaue. Die setzte er sich über die Pulsader seines linken Handgelenks und durchtrennte die Haut, das Fleisch darunter, die Aderwand. Dabei verzog er das Gesicht, als wäre ihm selbst solcher Schmerz nicht mehr fremd.
»So mädchenhaft?« konnte Lilith sich nicht verkneifen zu bemerken. Dabei ließ sie den Blick nicht von seinem Arm. Dunkel rann es aus der Schnittwunde – dunkel, aber nicht schwarz. Der erste Schwall verfehlte die Kelchöffnung. Landers dirigierte den pulsierenden Strom, bis er in das Gefäß floß. Nach einer Weile preßte er mit dem Daumen der rechten Hand die Ader ab. Unter Zuhilfenahme seiner Zähne knotete er ein Taschentuch um die Wunde. Lilith beobachtete es verwundert. Was war mit seinen Selbstheilungskräften? Landers nahm den Kelch auf, trat zu ihr, hielt ihn ihr in Mundhöhe. »Auf das Wohl unseres Herrn«, sagte er. »Euer Herr?« fragte Lilith. »Wer soll das sein?« »Du wirst es erfahren, wenn du uns alles erzählt hast«, erklärte Landers. »Trink.« »Einen Teufel werd’ ich …«, zischte sie. »Du sollst den Namen des Herrn nicht mißbrauchen!« fuhr Landers auf. »Denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht!« Lilith erschauerte unter dem nichtirdischen Donnerhall seiner Worte. »Sauf, verfluchtes Weib!« brüllte er. Sie wich zurück. »Pack sie!« befahl Landers seinem Begleiter. Wie ein Schatten trat Nick Parker hinter Lilith. Wie Stahlklammern legten sich seine Fäuste um ihre Arme, bogen sie zurück. Hart trieb er ihr das Knie ins Kreuz. Lilith schrie auf. Und Landers setzte den Kelch an ihre weit aufgerissenen Lippen!
* Kalt und klebrig rann etwas über Liliths Kinn.
Aber nicht über ihre Lippen. Landers hatte aufgeschrien, war von ihr weggetaumelt. Überrascht von der plötzlichen Wendung hatte Parker seinen Griff gelockert, und Lilith befreite sich daraus, versetzte dem anderen dabei noch einen Stoß, der ihr selbst für eine Sekunde Luft verschaffen mußte. Eine Sekunde, die sie nutzte, um zu Landers hinzusehen. Zu Landers – und all den anderen … Duncan Luther. Marsha. Und – Esben Storm? Etwas an ihm erschien ihr falsch – aber nicht fremd. Sein Gesicht war maskenhaft. Und darunter lag jenes – Vertraute … Landers hielt sich die rechte Wange. Nach verbranntem Fleisch stinkender Rauch kräuselte sich zwischen seinen Fingern hindurch. Duncan stand ihm mit ausgestrecktem Arm gegenüber, in seiner Hand jene Waffe, mit der er Landru verletzt hatte. Ein Kreuz … »Was tut ihr hier?« entfuhr es Lilith. Ihre Stimme wankte bebend hin und her zwischen Erschrecken, Erstaunen und Freude. »Wie kommt ihr hierher?« Wie zufällig fing sie gerade in diesem Moment Esben Storms dunklen Blick auf, jenes Mannes, der Pfade kannte, die durch eine Welt führten, die jedem Weißen verschlossen bleiben mußte – die Traumzeit. »Vorsicht, Lilith!« Marsha hatte ihr die Warnung zugerufen. Lilith reagierte reflexartig. Sie duckte sich und spürte den Luftzug, in dem Nick Parkers Schlag über sie hinwegging. Aus der gebückten Stellung ließ Lilith den rechten Fuß nach hinten schnellen. Nick taumelte keuchend zurück, die Hände im Schritt verkrallt. Währenddessen hielt Duncan den gebrandmarkten Landers auf Distanz. Jedesmal, wenn der andere vorstoßen wollte, reckte er ihm das Kruzifix entgegen.
»Wir sollten von hier verschwinden«, sagte Esben Storm ruhig und gelassen. Als hätte in seinen Worten etwas wie eine unterschwellige Aufforderung gelegen, traten Marsha und Duncan zu ihm – und wurden eins mit ihm! Die Stimmen aller drei (nur drei? War da nicht noch eine vierte?) sprachen zu Lilith, und mit jedem Wort sah sie in ein anderes Gesicht: Esben, Duncan, Marsha … Sie waren zur Dreiheit geworden. »Folge uns, Lilith.« Sie griff nach der ausgestreckten Hand der Dreiheit und ließ sich führen. Daß die andere Hand im allerletzten Moment, ehe sie den Traumzeitpfad betraten, nach dem Lilienkelch griff, sah sie nicht. Ihre Sinne hatten mit anderen Eindrücken zu tun. Wie schon einmal, als sie sich Esben Storms Führung anvertraut hatte. In ihrem wirklichen Leben. Nur im Augenblick ihres Verschwindens vermeinte sie noch etwas zu hören. Einen Schrei. Den Schrei – eines wütenden Kindes?
* »Wie komme ich zurück? Ich meine, in jene Welt, in der ich –«, Lilith zögerte einen kurzen Moment, »– zu Hause bin?« Sie waren im Haus 333, Paddington Street angelangt, nach einer Wanderung, die Ewigkeiten gedauert – oder zeitlos gewesen sein mochte. »Noch nicht«, erwiderte Esben Storm. »Was heißt das?« »Es ist noch nicht vorbei«, sagte Marsha. »Aber ich muß zurück«, beharrte Lilith.
»Wenn du getan hast, was noch zu tun ist«, erklärte Duncan Luther. »Du mußt dir deine Welt erst schaffen«, ergänzte Storm. Das Gesicht der Dreiheit veränderte sich wie in einem MorphingEffekt. »Ich muß mir meine Welt erst schaffen?« echote Lilith. »Wie kann ich das?« Stumm wies Marsha an ihr vorbei. Lilith drehte sich um und folgte dem Fingerzeig. Duncan deutete auf die Tür zum Keller ihres Elternhauses. Dann ging Storm an ihr vorüber, und Marsha öffnete die Tür. »Komm mit«, sagte Duncan. Lilith bemühte sich, nicht mehr zu der Gestalt hinzusehen. Ihr wurde fast schwindlig. Leicht abgewandten Blickes trat sie an der Dreiheit vorbei und durch die Tür. Dunkelheit lag jenseits der Schwelle wie flüssiger Teer. Lilith meinte, in etwas Zähes hineinzuwaten, kam aber doch voran. Ihre Füße fanden trittsicher auf Stufen Halt, ihre Hand ertastete ein Geländer, das auf eine nach unten führende Wendeltreppe schließen ließ. Schritt um Schritt ging sie tiefer, gefolgt von der Dreiheit. Nach einer Weile wich die Finsternis einem rötlichen Schein. Lilith atmete auf. Die Sichtweise war ihr vertraut. Und allein dieses Gefühl bescherte ihr ein wenig Beruhigung. Die Treppe schien endlos. Die Luft wurde stickiger. Und … Es war wie damals. Genauso … Und eine vage, noch nicht in Worte zu fassende Ahnung dämmerte in ihr. Du mußt dir deine Welt erst schaffen, hatte die Dreiheit gesagt. Lief am Ende alles – auf den Anfang hinaus? Endlich kam das Ende der Stufen in Sicht. Lilith ließ den Blick durch das unterirdische Gewölbe schweifen. Schmutzstarrend war er und uralt. Erstarrt wirkende Spinnweben klebten zwischen mor-
schem Gebälk. Grob behauene Pfeiler stützten die niedrige Decke, die sie fast mit den Händen berühren konnte. Eisenketten und anderes Gerät, von dem sie nicht wußte, welchem Zweck es dienen mochte, hingen herab. Im Hintergrund machte sie eine seltsam anmutende Konstruktion aus, die ein klein wenig an eine Gerätschaft aus Dr. Frankensteins Labor erinnerte. Sie wußte, worum es sich dabei handelte. Damit waren die Bluttransfusionen durchgeführt worden. Sie wich all den im Weg stehenden und hängenden Dingen mit traumwandlerischer Sicherheit aus, während sie tiefer in das Gewölbe vordrang. Die Dreiheit hing ihr wie ein Schatten an. Lilith kannte ihr Ziel. Es lag in der Kellermitte. Auf einem kniehohen steinernen Podest ruhte es. Ein Holzsarg. Schwarzlackiert. Alt. 98 Jahre alt, wie Lilith wußte. Sie zuckte nicht einmal zusammen, als sie ihren Vornamen auf dem ansonsten schlichten, zierlosen Deckel las. Sie ging davor auf die Knie. Ihre Finger tasteten über die erhabene Schrift. Dann legte sie die Hände um die Ränder des Deckels. Sie wußte, was sie darin finden würde. Wen sie darin finden würde. Und was sie damit auslösen würde. Einen Moment lang spielte sie ganz ernsthaft mit dem Gedanken, es nicht zu tun. Den Sarg nicht zu öffnen. Nicht geschehen zu lassen, was danach geschehen mußte. Sie würde sich so vieles damit ersparen. Aber gleichzeitig würde sie sich auch zu einem Leben in dieser zweiten, falschen Wirklichkeit verdammen. Und das mochte schlimmer sein als jenes andere Leben. Denn es würde vor allem eines sein: endlos … Lilith öffnete den Deckel. Lautlos schwang er in den Scharnieren nach oben. Und Lilith sah sich selbst –
– erwachen! �
* � Der Anblick war ihr nur für einen Sekundenbruchteil vergönnt. Dann wandte sie wie unter fremdem Zwang den Kopf, trat zurück. Die Dreiheit war verschwunden. Aber neben den Spuren, die sie auf dem Weg hierher im Staub am Boden hinterlassen hatten, führte eine weitere Spur zurück. Lilith folgte der Fährte, doch auf halbem Wege machte sie noch einmal Halt, widersetzte sich dem vagen Zwang, der sie zur Treppe hinführen wollte. Es gab noch etwas, das sie tun wollte hier unten. Weil es das letzte Mal war, daß sie es tun konnte. Hinter einem der Steinpfeiler wurde Lilith fündig. Ein aufgeworfener Erdhügel türmte sich dort. Ein Grab. An einem der Enden steckte ein steinernes Mal in der Erde, das der Form einer Lilie nachempfunden war. Darauf stand: Wenn Liebe könnte Wunder tun und Tränen Tote wecken dann würde dich gewiß nicht hier die kühle Erde decken. Sean Lilith kniete nieder, legte die Hände auf den Grabhügel. Tränen trübten für einen Moment ihren Blick. »Bye, Mom«, nahm sie ein allerletztes Mal Abschied von ihrer Mutter. Dann erhob sie sich und folgte weiter der Spur im Staub. Aber es hätte dieser Fährte nicht einmal bedurft. Lilith wußte, wohin sie führen würde. Wie sie auch alles andere wußte. Und als Wahrheit erkannte.
* � Lilith Eden war ein Kind zweier Welten: ihre Mutter eine Vampirin, ihr Vater ein Mensch. Die Geburt eines solchen Kindes war nur möglich, wenn wahre Liebe zwischen den Partnern der beiden so unterschiedlichen Rassen bestand – und bei Creanna und Sean Lancaster war es so gewesen. Wenn auch nur deshalb, weil Creanna schon bei ihrer Vampirwerdung von einer geheimnisvollen Macht dafür konditioniert worden war. Die Alte Rasse strafte den Verrat einer der ihren mit Verfolgung und Tod. Doch Liliths Eltern waren den Vampiren entkommen. In Sydney hatten sie im Jahre 1896 vorübergehend Sicherheit gefunden. Creanna war bei Liliths Geburt im selben Jahr gestorben. Doch ihr Vater hatte alle Weisungen seiner Geliebten befolgt und das Haus, in dem sie gelebt hatten, zu einer magisch gesicherten Festung »ausgebaut«. Lilith selbst sollte schlafend 100 Jahre dort zubringen. Erst dann würde sie reif sein für ihre »Bestimmung«. Sean Lancaster wußte nicht, worin diese Bestimmung bestand, daß auch sie bereits vorbestimmt war, ja daß ihrer beider Liebe und die Geburt des Kindes von Anfang an geplant worden waren von einer höheren – oder vielmehr tieferen – Macht. Die Vampire benötigten dagegen nur wenige Jahre, um herauszufinden, wo das Hurenbalg, wie sie Lilith nannten, sich verborgen hielt. Doch sie konnten ihrer nicht habhaft werden, weil sie nicht in das Haus einzudringen vermochten. Sean Lancaster indes, der über Schlaf und Traum seiner Tochter wachte, war der Schwachpunkt in Creannas Plan. Ab und an mußte er das Haus verlassen; schließlich war er ein Mensch und mußte gelegentlich zumindest Lebensmittel besorgen. Wenn die vampirischen Häscher ihn erwischt hätten … Um für diesen Fall Vorsorge zu treffen, hatte Sean ein Mädchen
namens Marsha aus einem Waisenheim in das Haus an der Paddington Street geholt – und gut daran getan! Denn bei einem seiner »Ausflüge« überwältigten ihn die draußen lauernden Vampire. Landru selbst schlug ihm den Kopf ab … Fortan war Marsha für Liliths Wohl zuständig. Ein magisches Pulver, das Creanna hinterlassen hatte, ließ sie langsamer altern, als die Natur es gefordert hätte, und ab und an führte sie Lilith, die im Keller in einem Sarg ruhte und ein Leben träumte, das sie nie wirklich erlebt hatte, von ihrem eigenen Blut zu. Bis Lilith an ihrem 100. Geburtstag erwachen würde, sollte Marsha dafür Sorge tragen, daß nichts das Kind zweier Welten störte. Im 98. Jahr seit Liliths Geburt erhielt Marsha jedoch Besuch …
* »Du?« Die Stimme der uralten Frau, die vor Lilith im Bett lag, ging fast unter in dem erschrockenen Krächzen, das ihren mageren Körper erschütterte. Ein quälender Hustenanfall folgte, und Lilith fürchtete, daß Marsha daran sterben würde. Obwohl sie es besser wußte. Sie hatten noch viel miteinander gesprochen. Damals, vor etwa zweieinhalb Jahren … Lilith nickte. »Ja, ich.« »Es ist zu früh«, seufzte Marsha mit brüchiger Stimme. »Du hättest noch nicht erwachen dürfen.« »Ich mußte«, erwiderte Lilith. »Du bist noch nicht reif für deine Bestimmung«, beharrte die Alte. Beschwörend reckte sie Lilith die Arme entgegen. Dunkle Punkte zeichneten sich auf der fast steinfarbenen Haut ab. Einstichstellen von den Bluttransfusionen … »Ich werde alles erfahren, was nötig ist«, sagte Lilith. »Du darfst noch nicht hinaus«, krächzte Marsha. »Sie werden dich töten. Sie warten nur darauf …«
»Ich werde mich zu wehren lernen.« »Du weißt nicht, was du redest. Du hast keine Ahnung von der Gefahr, die sie darstellen.« Lilith lächelte sanft und voller Wehmut: »O doch, das weiß ich, Marsha.« Eine andere Stimme erreichte Lilith. »Komm. Der Weg ist bereit. Und die Zeit drängt.« Sie wandte sich um. Esben Storm stand hinter ihr in der Tür. Das Gesicht wechselte nicht mehr. Die Dreiheit schien nicht mehr zu existieren. Dennoch war etwas hinter Storms Gesicht, das sie irritierte – und zugleich ein Gefühl der Wärme in ihr weckte. Ein zärtliches Sehnen … Lilith trat aus dem Zimmer. Ein Schatten schien an ihr vorüber und hinein zu huschen. Ein gestaltgewordenes Déjà-vu. »Du bist zurückgekommen, Lilith!« hörte sie Marshas Stimme. »Ich dachte schon …« Den Rest ihrer Worte vernahm Lilith schon nicht mehr. Storm nahm ihre Hand und führte sie fort. Auf Traumzeitpfaden. Und zugleich wie auf – – Adlerschwingen?
* Oberer Missourilauf, South Dakota Hidden Moon stürzte aus einem Riß in der Wirklichkeit, fiel in den rußigen Staub jenes Ortes, an dem er ein Leben verbracht hatte. Benommen blieb er liegen. Seine Gedanken schienen ihm seltsam zersplittert, als hätte eine fremde Macht sie zertrümmert und mit ihren eigenen durchsetzt. Der Arapaho wußte, daß es so war, und er wußte, weshalb es hatte
geschehen müssen. Er verstand Dinge, die er nie erlebt hatte. Fremdes Wissen hatte ihm das Verständnis darum vermittelt. Das Wissen um die Geburt, das Leben und Schicksal von – – Lilith Eden! � Und jetzt wurde er Zeuge ihres Sterbens! � Liliths Todesschrei gellte in seinen Ohren. � Mühelos übertönte er das Prasseln der Flammen, die nach ihrem � Leib griffen, um ihn zu verzehren!
* Lilith erwachte. Und spürte die Gegenwart des Todes. Heiß griff er nach ihr, grub sich feurig in sie. Sie roch den Gestank ihres eigenen verbrannten Fleisches. Der Schmerz raubte ihr die Besinnung. Nur für einen Gedanken blieb ihr noch Zeit im allerletzten Moment, ehe ihr Denken verbrannte. Schütze mich!
* Hidden Moon hatte versucht, das Feuer zu löschen, in dem er Liliths vermeintlichen Leichnam und sich selbst hatte verbrennen wollen. Doch er war gescheitert. Irgendwann brannten die Flammen von selbst nieder, als ihnen die Nahrung fehlte. Fast übergangslos geschah es, und selbst die Glut in dem verkohlten Astwerk und Reisig verglomm binnen weniger Sekunden. Hidden Moon stand stumm und starr. Unfähig, etwas anderes zu tun, als das anzustarren, was von Lilith übriggeblieben war.
Schwarz verkohlt und beinahe formlos lag es da. Erst nach einer ganzen Weile fand er Kraft und Willen, näherzutreten. Er stapfte durch die Reste des Feuers und griff nach dem öligen Ding, das einmal Lilith gewesen war. Doch dann – zerfloß die Schwärze unter seinen Händen. Bleiche Haut wurde sichtbar. Ein Gesicht, unversehrt und so schön wie eh und je. Der Symbiont kleidete Lilith in jenen zerrissenen Catsuit, der sein bevorzugtes »Modell« zu sein schien. Die Halbvampirin richtete sich auf und lächelte Hidden Moon an – erschöpft, aber glücklich. »Ich schätze, du schuldest mir eine Erklärung«, meinte Lilith und wies auf die verkohlten Überreste ringsum. »Ein Glück, daß dieses Ding –«, sie strich über ihr Mimikrykleid, »– wenigstens noch feuerfest ist.« »Ich glaube, wir haben uns gegenseitig sehr vieles zu erklären«, erwiderte der Arapaho. Er nahm Liliths Hand und half ihr auf. Dann hob er sie auf seine Arme und trug sie fort. »Sag mal, kennst du einen gewissen Esben Storm?« konnte man Lilith von fern fragen hören. »Ist er klein, schwarz und hat eine breite Nase?« entgegnete Hidden Moon. »Ja.« »Ich habe ihn flüchtig getroffen – wie in einem Traum.« Sie hatten in der Tat vieles zu besprechen in der folgenden Nacht. Und manches nachzuholen …
* Epilog Gabriel erwachte aus dem fremden Traum, über den seine Macht �
nicht länger verfügen konnte, nachdem dort alles wieder ins rechte, ins ursprüngliche Lot gerückt worden war. Lange blieb er noch liegen und starrte düster ins Nirgendwo. Er hatte Lilith Eden unterschätzt. Aber er schrieb es dem zu, was in ihm das Pendant zu »kindlichem Leichtsinn« sein mochte. Daß sie ihm entkommen war, bedeutete nicht, daß sie ihm überlegen war. Sie war es auch damals nicht gewesen … Damals …? Er wußte den Gedanken nicht richtig einzuordnen. Noch nicht … Gabriel schnaubte abfällig. Kein Mensch oder auch nur halbmenschliches Wesen konnte ihm gewachsen sein! Wenn er erst zu alter Macht zurückgefunden hatte. Und neue hinzugewonnen hatte. Der Zeitpunkt war nicht mehr fern. Wie von selbst glitt der Blick des Kindes zum Fenster hinaus und wanderte höher, dorthin, wo sein Ziel lag. Hinauf zu dem Kloster, dessen Geheimnis es in naher Zukunft lüften würde. Und dann … Gabriel grinste. Nicht die Spur kindlich. Sondern nur – diabolisch.
Glossar � In diesem Band tauchen viele von Liliths Bekanntschaften aus den Anfängen der Serie auf, die ich hier kurz aufführen möchte, auch wenn sie im vorliegenden Roman teils andere Rollen spielen: Harold – Liliths Boyfriend in der Traumwelt, in der sie die ersten 98 Jahre ihrer Existenz schlafend verbrachte. Mit ihm teilte sie ihre ersten sexuellen (und traumatischen) Erfahrungen. Hora/Herak – Zwei Oberhäupter der Vampirsippe in Sydney. Als Hora von Lilith getötet wurde, übernahm Herak dessen Amt und begann mit dem Projekt »Gen-Vampir«, das der Alten Rasse ein Überleben sichern sollte, nachdem der Lilienkelch verschollen blieb. Lancaster, Sean und Creanna – Liliths Eltern in Traumwelt und Wirklichkeit. In letzterer allerdings lernte sie Creanna nie kennen, weil diese als Vampirin bei Liliths Geburt sterben mußte. Sean wurde Jahre später von Vampiren hingerichtet, als er das magisch gesicherte Haus an der Paddington Street kurz verließ. Landers, Hector/Landru – Kelchhüter und -jäger, Sohn der Ur-Lilith, Liliths Erzfeind, mächtigster Blutsauger auf Erden … Landru, der unter dem Tarn-Namen Hector Landers auftritt, hat in seinem äonenalten Leben viele Rollen gespielt. In Liliths Traumwelt ist es eine ganz besondere … Luther, Duncan – Liliths Mitstreiter über lange Zeit, früher Priesteranwärter in Sydney. Sein Leben änderte sich vollkommen nach der Begegnung mit Lilith – und endete letztlich auch durch sie im Garten Eden am Anfang der Zeit, wohin ihr besonderer Keim ihn führte, nachdem er in New Delhi von Vampiren ermordet wurde. Marsha – Liliths Freundin aus der Traumwelt, in der die Halbvampirin unbeschwert aufwachsen sollte. In der Wirklichkeit pflegte Marsha nach Sean Lancasters Tod die schlafende Lilith und gab
ihr immer wieder durch Transfusionen ihr Blut, bis sie schließlich an Altersschwäche starb. Mckinsay, Beth – Reporterin beim Sydney Morning Herald und Liliths gleichgeschlechtliche Freundin in der Wirklichkeit. Lilith tötete sie beim Korridor durch die Zeit, nachdem sie aus dem Lilienkelch getrunken und ihre menschliche Seite abgelegt hatte. Nona – Werwölfin und Landrus Gespielin. Auch ihre kurze Rolle in Liliths Träumen ist eine gänzlich andere als in der Wirklichkeit … Parker, Nick – Der Taxifahrer, der Lilith vom Friedhof, auf dem am Anfang ihres Weges erwachte, zum Haus 333 in der Paddington Street brachte – und ihr erstes »Biß-Opfer«. Auch ihn – wie alle Menschen, in die Lilith ihren Keim pflanzte – zog es nach seinem Ableben nach Uruk, um den Korridor durch die Zeit freizulegen. Pater Lorrimer – Der Vorstand der kleinen Kiche am Trumper Park, der den Priester-Aspiranten Duncan Luther unter seine Fittiche nahm. Damals floh Lilith von den Sydney-Vampiren in sein Gotteshaus. Lorrimer erkannte die böse Seite in ihr und nahm einen Exorzismus vor. Dabei verlor er durch den Symbionten sein Augenlicht, während Lilith mit Duncan Luther entkam. Secada, Brian – Ein Parapsychologe, der damals selbstsicher in das Haus in der Paddington Street eindrang – und ein Opfer der dortigen Mächte wurde. Um Jahrzehnte gealtert, endete er in einer Nervenklinik. Storm, Esben (Niemandes Freund) – Ein alter Aborigine-Schamane, ein Ureinwohner Australiens, der – wie viele, die Lilith beistanden – ums Leben kam und seither auf Traumzeitpfaden wandelt. Einer der mysteriösesten Charaktere der Serie; nicht wirklich Liliths Freund, sondern niemandem verpflichtet. Storm hielt Kontakt zu seinen Urgöttern, den Wondjinas, die ihm ein »Weiterleben« in der Traumzeit ermöglichten. Van Kees, Seven – Ex-Gefährtin von Beth MacKinsay, die von Lilith abgelöst wurde.
Warner, Jeff – Ein Polizist, der auf das Treiben der Vampire in Sydney aufmerksam wurde und sich auf Liliths Fährte setzte. Nachdem das LICHT ihn übernommen hatte, wurde er zu dessen Bote und Liliths geheimnisvollem Helfer. So erlöste er den Polizeichef Virgil Codd von dessen Existenz als Dienerkreatur und machte ihn zu einem Vasallen des LICHTs. Warner war es auch, der Liliths Opfer, die sie nach dem Vampirbiß verschonte, nachträglich tötete und damit Liliths Keim aktivierte. ENDE
Die Zeit des Bösen � von Manfred Weinland Sie erwacht ohne Erinnerung im Prag des Jahres 1618. Ganz Europa steht an der Schwelle zu einem verheerenden Krieg, und überall brennen die Scheiterhaufen, wütet die Pest. Männern, Frauen und Kindern, sogar Tieren wird der Prozeß gemacht – im Namen der Heiligen Inquisition. Im Namen Gottes … der dazu schweigt. Die Frau ohne Erinnerung macht sich auf den Weg, um herauszufinden, wer sie ist und woher sie kommt. Doch statt der eigenen Identität findet sie die Spur dessen, der hinter der aufgehenden Saat aus Chaos, Terror und Leid steckt. Die Spur der Bestie in einer Zeit des Bösen …