Ernst Munk / Nicole Essiger Masterplan zur Sanierung der Weltwirtschaft
Ernst Munk Nicole Essiger
Masterplan zur Sanierung der Weltwirtschaft Praxishandbuch zur Insolvenzprophylaxe von Staat und Wirtschaft
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1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Ulrike M. Vetter Gabler ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-2041-6
VORWORT
Vorwort Warum wir die Fortsetzung zur Insolvenzprophylaxe I (2004) schreiben mussten Das Worldwide Economic Disaster und die Euro-Schadensdimension in der Zehnerpotenz 10 hoch 12, die das Insolvenzvirus weltweit und in der deutschen Wirtschaft verursacht hat, lassen sich – wie die Zwischenbilanz zum III. Quartal 2009 jetzt zeigt und nur von Träumern geleugnet werden könnte – nicht mit den Mitteln moderner PR bekämpfen wie etwa ein schlechtes Produktimage: Ausblenden, ablenken, beschönigen, – das funktioniert bei kleinen ökonomischen Problemen, vielleicht noch bei mittleren Betriebsunfällen der globalen Wirtschaft, aber nicht mehr bei dem Szenario 2008/2009 einer weltweiten Implosion der Finanzmärkte. Seit 1998 hatten wir regelmäßig und zum Schluss unablässig darauf hingewiesen, dass sich katastrophalen Folgen für die deutsche Wirtschaft ergeben werden. Jetzt ist die Apokalypse eingetreten und lässt sich nicht mehr aussitzen. Deshalb mussten wir, nachdem die Aussagen und Maßnahmenvorschläge in der Insolvenzprophylaxe I (2004) zwar allerorten wahrgenommen und gelobt, aber von unserer Regierung nicht umgesetzt worden waren, auf der Grundlage der aktuellen Wirtschafts- und Finanzdaten die Fortsetzung schreiben. Unser Buch soll den Kontrapunkt bilden zu den Illusionen, die Regierungen und Parlamente weltweit als Problemlösungen bislang projiziert haben, und will der hochgefährlichen Mischung aus Halb- und Scheinwissen entgegenwirken, die zu der Verniedlichung der Gefahren geführt haben: Mit dieser globalen Wirtschafts- und Finanzkatastrophe können wir nicht leben; wir können sie höchstens überleben – dann dürfen wir uns aber unter keinen Umständen mit der Krise arrangieren, und häuslich einrichten können wir uns dann darin erst recht nicht. Wie also überleben die deutsche Wirtschaft und unser Staat die Schockwellen der Superrezession? Die Antwort hierauf ist unser konzertierter Masterplan zur Sanierung der Weltwirtschaft.
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VORWORT
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Warum die Insolvenzprophylaxe II Pflichtlektüre ist – für die Regierung und für das deutsche Staatsvolk Ohne eine radikale Kehrtwendung in der internationalen Wirtschafts-, Finanz- und Ordnungspolitik und ohne eine neue Qualität der Vernetzung in internationalen Partnerschaften ist der Niedergang der Weltwirtschaft nicht mehr zu stoppen. Es ist deshalb niederschmetternd sehen zu müssen, dass nun ein Jahr ohne wirkliche Fortschritte in der Bekämpfung der Great Depression verstrichen ist: Weder in Washington noch in London, Paris oder Berlin wurden die richtigen Weichenstellungen vorgenommen. Unser Buch soll deshalb eine parteiübergreifende Kampfschrift für alle Demokraten sein, die sich mit der trotzigen Unbelehrbarkeit der Regierenden, ihrem Realitätsverlust und der kaltschnäuzigen Volksverhöhnung nicht abfinden wollen, und Mut machen, sich gegen die daraus resultierende Politik- und Parteiverdrossenheit zu stellen. Um diesen Tiefpunkt in unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik zu überwinden, haben wir die Fortsetzung zur Insolvenzprophylaxe I (2004) geschrieben: Masterplan zur Sanierung der Weltwirtschaft (Insolvenzprophylaxe II 2010). Gegen die hemmungslosen staatlichen Bankenrettungspläne unserer Bundesregierung, deren Absurdität kein Vorbild in der deutschen Geschichte hat, kann nur noch eine Schocktherapie wirken, die beinhaltet, nach der detaillierten Anamnese des ökonomischen, fiskalischen und politischen Zustandes dem deutschen Volk die Wahrheit zu sagen: Wie der Masterplan wirklich funktioniert, was wie ineinander greifen und verzahnt werden muss und wie der Staatsbankrott der westlichen Demokratien noch verhindert werden kann, beschreibt dieses Buch. Die Befreiung des Staatsbürgers aus der Rolle des duldenden Steuerzahlers und seine Erstarkung zum politischen Souverän setzt spezifisches Wissen und den politischen Willen zum Wandel voraus. Dieses Wissen zu schaffen und die Motivation zu entfachen, die in politische Aktion mündet, und auf diese Weise die Kraft in unserem Volk hierzu aufzubauen, sich mit kühlen Kopf und kämpferischem Herz auf das Sanierungsziel auszurichten – diese Aufgabe haben wir uns als Autorengemeinschaft gesetzt. Dubai/Zürich, im November 2009 Ernst Munk und Dr. Nicole Essiger geb. Munk
INHALT
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Inhalt Vorwort _______________________________________________________ 5 Vorbemerkungen ______________________________________________ 18 ERSTES KAPITEL Die Superrezession und ihre Eckdaten _____________________________ I. Die Auswahl und Begrenzung der Themen sowie Ausblick auf die weiteren Kapitel___________________________________ II. Ein erster Überblick zur Ausgangslage für Deutschland und die Welt von 1999 bis 2009: Ein Jahrzehnt absoluten Stillstandes in der Insolvenzprophylaxe________________________________ A. Tausend verpasste Chancen bedeuten für das deutsche Volk: Eine Billion Euro Schaden – im Mindestmaß__________________ B. Die gespielte Ahnungslosigkeit von Volksvertretern und Wirtschaftsweisen kostet Deutschland bis jetzt weit über eine Billion Euro ________________________________________ III. Die Mixtur der Gegengifte aus dem Medizinschrank der Großen Koalition bringt die Wirtschaft noch um ______________ A. Für Deutschland beginnt ein schmerzhafter Lernprozess ________ B. Die Bail-Outs von Barack Obama und der Bad-Bank-Plan der Bundesregierung führen die amerikanische und die deutsche Nation in den Staatsbankrott ______________________________ C. Deutschland muss Katalysator des weltweiten Sanierungsprozesses werden_______________________________ IV. Werden die USA, Europa und Deutschland die großen Verlierer des 21. Jahrhunderts? _____________________________ A. Die Funktion des Euro als Weltreservewährung steht auf dem Spiel _____________________________________________ B. Ohne die Bewahrung des US-Dollar als Welt-Leitwährung wird die US-Wirtschaft bedeutungslos _______________________ C. Chinas Finanzkraft ist ein unverzichtbarer Faktor bei der Wiedergesundung der Weltwirtschaft _______________________ D. Keine nobelpreisgekrönte Wirtschaftstheorie und keine der weltweit etablierten Eliteuniversitäten kann das Problem lösen ____ V. Am kollektiven Kassensturz kommt niemand mehr vorbei – oder: Die Götterdämmerung für Finanzvorstände und den Bundesfinanzminister ____________________________________
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Deutschland hat es versäumt, für das Worldwide Economic Disaster eine Kriegskasse aufzubauen _______________________ B. Bis heute fehlt klares Daten- und Zahlenmaterial ______________ C. Ein Schulden-Offenlegungsgesetz ist dringend erforderlich ______ VI. Das Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz (ZAG) stellt die alte Frage nach der privaten Haftung und den Haftungsgrundsätzen neu ____ A. Deutsche Sparer genießen keinerlei effektiven stressgetesteten Schutz ___________________________________ B. Vorfahrt für die Existenzsicherung der Banken ________________ VII. Die Frage nach der Mittelbereitstellung für die Sanierung muss sofort beantwortet werden ____________________________ VIII. Die merkwürdige Zurückhaltung der Politik bei den Rettungspaketen für die Realwirtschaft, von der wir alle leben _________________________________________________ A. Klotzen statt Kleckern als Handlungsmaxime muss in erster Linie für die Produktionswirtschaft gelten _______________ B. Aus der Krise gestärkt hervorgehen: Ohne Masterplan eine Utopie. Mit dem Willen zum Wandel eine Aufgabe für Deutschland ________________________________________ IX. Deutschland und der Wirtschafts- und Währungskrieg__________ A. Mit der Wahl Obamas haben die USA eine historische Weichenstellung vorgenommen! Und Deutschland? ____________ B. Technologieförderung, Rohstoff- und Engergieversorgungssicherheit bedürfen in Deutschland und Europa einer neuen Qualität _________________________________________ X. Eine totale Verarmung oder der Bankrott Deutschlands wäre das Ende der deutschen Demokratie ____________________ A. Das Gerechtigkeitsdefizit in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Deutschlands __________________________________________ B. Die Wiederherstellung von Vertrauen zwischen Regierung und Volk und eine direkte Beteiligung des Volkes an Regierungsentscheidungen ________________________________
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ZWEITES KAPITEL Wieso wir mitten in der Finanzkatastrophe stehen __________________ 99 Erster Abschnitt Ein verlorenes Jahrzehnt – die teuerste Zeit- und Geldverschwendung aller Zeiten in Deutschland _______________________________________ 99 I. Die historische Dimension des Worldwide Economic Disaster: Schlimmer als die Große Depression 1929 ff. __________________ 99
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II.
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C. III.
A.
B. C. D.
IV.
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Was allgemeiner Wissensstand aller Staatspolitiker, Wirtschaftsweisen und der Wirtschaftswissenschaft hätte sein müssen___________________________________________ Von Ludwig Erhards Wirtschaftswunder zum Sanierungsfall: Deutschland im Abstiegskampf als Industrienation – uns droht eine Massenarmut! _____________________________________ Das abgestumpfte öffentliche politische Gewissen lässt sich auch heute nicht aufrütteln: Was muss noch alles passieren, damit wir aufwachen? ___________________________________ Versicherungen sollen durch Regierung vor Insolvenz gerettet werden! _______________________________________ Altersarmut, Insolvenzgefahr beim Staat, bei der gesetzlichen Rente, bei den Banken und Lebens- sowie Krankenversicherungen schon lange in Sicht ________________ Die Wirtschaftskatastrophe wurde schon 1999 erkennbar, aber die Wirtschaftsweisen und unsere Staatspolitiker reagierten nicht ________________________________________ Der sogenannte „Epochenwandel“: Wir brauchen eine Wachstumsexplosion in den neuen Technologien _____________ Schon seit Ende der 1990er Jahre gilt: Das deutsche Parteienkartell kann keine Lösung bieten____________________ Unter dem Deckmantel der Liberalisierung der Aktienmärkte wurde die größte Plünderung des deutschen Volksvermögens organisiert ____________________________________________ Klare Haftungsstatuten und der Kampf gegen die sechs schlimmsten Verstöße gegen die Soziale Marktwirtschaft _______
Zweiter Abschnitt Unsere alten Eliten wollen nichts sehen, nichts hören, nichts wissen, nichts denken, nicht haften ______________________________________ I. Die einsamen Rufer in der Wüste mit der unbequemen Meinung – oder der Prophet gilt im eigenen Lande nichts ______ A. Deutschlands Banken und Versicherungen befinden sich schon seit vielen Jahren in der Existenzkrise _________________ B. Es gibt keine Lorbeeren der Vergangenheit, auf denen sich Deutschland ausruhen kann ______________________________ C. Deutschland muss sich auf seine Tugenden rückbesinnen und sich als Hochtechnologie- und Forschungsnation neu erfinden: Mit Arbeitswillen und Pioniergeist wieder an die Weltspitze _____ II. Die Selbstgefälligkeit unserer Führungsschicht gefährdet den staatlichen Sanierungsprozess auf allen Ebenen ___________
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A. B. III. A.
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Das Versagen der Kontrolleure: Der größte Aderlass, den die deutsche Volkswirtschaft jemals zu verkraften hatte _____ Die „alte Garde“ ist immer noch unverändert in Amt und Würden __________________________________________ Der Club der einsamen Rufer _____________________________ 200 Billionen US-Dollar in Terminkontrakten, 131 Billionen US-Dollar in SWAPS: Das konnte nur in der „New Great Depression“ enden ___________________________ Die Crash-Vorzeichen aus dem Wachsen der Immobilienund Aktienblasen sind nicht mehr zu übersehen – die Glaubwürdigkeit der Wirtschaftswissenschaft steht auf dem Prüfstand _____________________________________ Paul Krugmans Vorarbeiten zur Asienkrise 1999 und die Transponierung auf die Immobilien- und Aktienblasen von 2008 _____________________________________________ Nouriel Roubinis Warnung auf dem Weltwirtschaftsforum Davos 2007: „Schwarzmalerei“ oder Realitätsbewusstsein? _______________________________ Max Ottes Warnruf „Der Crash kommt“ verhallt ebenfalls ohne große Resonanz ___________________________________ Der Vorwurf der angeblichen „Self-Fulfilling-Prophecy“ fällt auf die realitätsblinden „Fachleute“ der Finanzwirtschaft zurück ____
Dritter Abschnitt Die Lethargie unserer Staats- und Wirtschaftslenker lähmt den Sanierungsprozess seit 2004 _____________________________________ I. Der „Interbank-Handel“ ist immer noch nicht in Gang gekommen ______________________________________ II. Die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik liegt in Trümmern _________________________________________ A. Warum es zu dem weltweiten Zusammenbruch des Finanzmarktsystems 2008/2009 kommen musste _____________ B. Wo Deutschland und die Welt in Sachen Staatsverschuldung wirklich stehen ________________________________________ C. Masteralarm ist ausgelöst – mit monatelanger Verspätung: Massenarbeitslosigkeit und staatliche Haushaltssperren sind vorprogrammiert – ebenso wie massive Steuererhöhungen, vor allen Dingen über den Mehrwertsteuersatz _______________ D. Das Volumen der globalen Kapitalvernichtung: Vorläufig geschätzte 30 Billionen Euro oder 40 bis 57 Billionen US-Dollar __
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Zusammenfassung zum zweiten Kapitel ____________________________ 175 DRITTES KAPITEL Der Schwarze Oktober 2008 und seine Auswirkungen auf die Wirtschaft _____________________________________________ 178 Erster Abschnitt Das Phänomen der Superrezession ________________________________ 178 I. Der weltweite Einbruch: Umsätze, Auftragseingänge, Ausfuhren, Projektfinanzierungen und vieles mehr ____________ 178 II. Der Ausblick in die Zukunft Deutschlands ohne konzertierten Masterplan: Der Staat wird mächtiger, aber unbeweglicher, der Protektionismus siegt, der Handel stagniert _________________ 179 Zweiter Abschnitt Keine der Lehrmeinungen der Makroökonomie kann das Entstehen des Worldwide Economic Disaster erklären oder den Rettungsweg entwickeln _____________________________________ I. Die weltweite Hilflosigkeit der Wirtschaftswissenschaften _______ II. Die klassische Wirtschaftswissenschaft entlarvt sich als Scheinwissenschaft _____________________________________ III. Das Ende des Machbarkeitswahns _________________________ Dritter Abschnitt Warum über die Existenzberechtigung des Sachverständigenrates nachgedacht und entschieden werden muss _________________________ I. Sechs Wirtschaftsforschungsinstitute – wie sechs Fehlbeurteilungen pro Jahr zustande kommen _______________ II. Die Entwicklungsmöglichkeiten in der Ökotechnik mittels Kooperationsvereinbarungen mit Afrika, Arabien, China, Indien, Russland u. a. wurden von unseren Wirtschaftsweisen völlig übersehen _______________________________________ A. Deutschland muss die Ökotechnik zur Fortsetzung seiner Erfolgsgeschichte machen________________________________ B. Die völlig falschen Schwerpunkte der Bundesregierung kosten das deutsche Volk den in einem halben Jahrhundert aufgebauten Wohlstand _________________________________ III. Die Förderung unserer technischen Universitäten und anderen Hochschulen, die Unterstützung von Forschung und Entwicklung werden als „big points“ einer neuen und erfolgreichen Wirtschaftspolitik immer noch nicht erkannt ________________
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A.
B. IV. A.
B.
C.
Was steht in den Jahresgutachten und Berichten der Konjunkturexperten über Finanzblasen, Bilanzmanipulationen und Kapitalwertvernichtung? ____________________________ Die Arbeitsplätze für unsere Jugend können nicht mehr nur in Deutschland geschaffen werden _________________________ Keinerlei Analyse der Wirtschaftsweisen über Negativfaktoren im Getriebe der deutschen Volkswirtschaft ___________ Der Mittelständler und Nischenspezialist gilt in Deutschland nichts: Als Steuerzahler und Arbeitgeber ist er aber unentbehrlich _________________________________________ Die wirklichen Vertreter des „Made in Germany“ und ihr Entwicklungspotenzial werden von der Wirtschaftspolitik nicht wahrgenommen ___________________________________ Forschung und Entwicklung und ihre Vernetzung mit der Produktion: Die staatlichen Förderungsimpulse bleiben immer noch zu schwach und wirken zu kurz _________________
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Vierter Abschnitt Warum die verschiedenen Lehren der Nationalökonomie kein Frühwarnsystem gegen das Worldwide Economic Disaster aufbauen konnten ______________________________________________ 211 I. Das Manko aller wirtschaftswissenschaftlichen Theorien: kein Frühwarnsystem und die Beschränkung des Sichtfeldes auf nationale Einzelvolkswirtschaften ______________________ 211 II. Der Liberalismus nach Friedman und Hayek meldet sich ab; der reine Keynesianismus hat ebenfalls ausgedient ____________ 212 Fünfter Abschnitt Der deutsche Staat kann das marode Banksystem nicht retten __________ 216 I. Die Landesbanken haben ihre Daseinsberechtigung verloren und müssen überwiegend aufgelöst oder mit spartanischer Disziplin reformiert und von Sanierungsexperten geführt werden ________ 216 II. Die geplante Funktionsweise der Bad Banks: Eine sinnlose, nicht abschaltbare Geldvernichtungsmaschine _______________ 218 III. Der Jahresbericht 2008 der BaFin: Ein Abgesang auf die verpassten Chancen und eine Bestätigung, wie wichtig Insolvenzprophylaxe, Sanierung und Masterplan geworden sind ___________________ 222 IV. Die Mit- und Hauptschuld der großen internationalen Beratungsgesellschaften an der Finanzkatastrophe ____________ 225 Zusammenfassung zum ersten bis fünften Abschnitt des dritten Kapitels _ 231
INHALT
Sechster Abschnitt Zu der Bedeutung der Zukunftsinvestitionen für die Zukunftsfähigkeit der deutschen Industrie _________________________________________ I. Energieversorgung und Kraftwerkstechnologie _______________ II. Transportwesen: Schiene, Straße, Elektroantriebe, Frachtluftverkehr und vieles mehr _________________________ III. Was gehört noch zu der Zukunftsfähigkeit und zur Innovationskraft der deutschen Wirtschaft? __________________ IV. Wachstum kann in neuen Sparten und neuen Technologien und durch die Optimierung des Welthandels in den Bereichen der old economy entstehen ______________________
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Zusammenfassung zum sechsten Abschnitt des dritten Kapitels _________ 244 VIERTES KAPITEL Warum das Finanzmarktstabilisierungsgesetz vom 17.10.2008 geändert und durch andere Regelungen ersetzt werden muss _______ 246 Erster Abschnitt Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz: Der Deutsche Bundestag entmachtet das Volk und sich selbst _______________________________ I. Parlaments- und Regierungsentscheidungen zum Schutz und zur Rettung der Banken im Zeitraffertempo _________________ II. Für das Volk soll es nur „Brot und Butter“ geben? _____________ III. Die Bundesregierung will uns beibringen: Die Bankvorstände der Geschäftsbanken und Landesbanken haben eine Pokerrunde verloren – Ruhe ist jetzt die erste Bürgerpflicht, zahlen die zweite _______________________________________________ IV. Die deutsche Schuldzuweisung an die USA und an Großbritannien: Nur die halbe Wahrheit ____________________ V. Wen und was haben Steinbrück und der BaFin-Präsident in den letzten fünf Jahren kontrolliert? ___________________________
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Zweiter Abschnitt Das große Versagen: Das Bundesministerium der Finanzen und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht reagieren trotz aller Warnzeichen seit 2004 nicht auf den Abschreibungs- und Wertberichtigungsbedarf in Billionenhöhe bei Banken und Versicherungen _____ 265 Die Verflechtung von Kontrolleuren, Kontrollierten und Berufsversagern und ihr organisierter Schutz sind die Achillesferse der deutschen Volkswirtschaft _____________________________265
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B. C.
Die Beschönigung durch den Gesetzestext: Der scheinbare Gesetzeszweck ist die Überwindung von Liquiditätsengpässen: In Wahrheit aber die Rettung schwer insolventer Banken, Versicherungen und Pensionsfonds durch das künftige Steueraufkommen der Bürger ____________________________ 265 Art. 1 FStFG § 8 – Risikoübernahme _______________________ 266 Art. 2 – Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung des Erwerbes von Anteilen an sowie Risikopositionen von Unternehmen des Finanzsektors durch den Fonds „Finanzmarktstabilisierungsfonds – FMS“ ___________________ 267
Dritter Abschnitt Die „Chancen“ aus dem Worldwide Economic Disaster? _______________ 267 Vierter Abschnitt Die Hauptbegriffe des Masterplans: Sanierung und Sanierungsexperten und die private Haftung der Schadensverursacher ___________________ 271 Zusammenfassung zum dritten und vierten Abschnitt des vierten Kapitels ________________________________________________ 272 Fünfter Abschnitt Keine Diffamierung unserer befreundeten Nachbarn, Schweiz, Österreich und Luxemburg, sondern Zusammenarbeit mit allen Partnern__________ 273 Zusammenfassung zum fünften Abschnitt des vierten Kapitels__________ 276 Sechster Abschnitt Der Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses vom 25.03.2009 ________________________________________________ I. Oppositionspolitiker zwingen die Große Koalition zur Offenlegung von Verantwortlichkeiten______________________ II. Fragen zur Geschäftspolitik der WestLB_____________________ III. Fragen zur Geschäftspolitik der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank AG und der Hypo Real Estate __________________
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FÜNFTES KAPITEL Die Mittelbereitstellung für die Sanierung _________________________ 283 I. Wer und was ist förderungswürdig? _______________________ 283 II. Unternehmen und Branchen, die förderungswürdig sind _______ 288 Zusammenfassung zum dritten, vierten und fünften Kapitel ___________ 290
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SECHSTES KAPITEL Wie wir aus dem Worldwide Economic Disaster wieder herauskommen _______________________________________________ 296 Erster Abschnitt Die neue Chance der Deutschen: Die Förderung der jungen Generation _____________________________________________ 296 I. Die freie Marktwirtschaft angloamerikanischer Prägung scheint die historisch bestätigte richtige globale Wirtschaftsform zu sein – das war der größte Trugschluss ____________________ 297 II. Der Absturz Deutschlands in den Staatsbankrott kann nur vermieden werden, wenn wir unsere Jugend fit für die Globalisierung machen __________________________________ 297 Zweiter Abschnitt Am Ende der 1990er Jahre: Die Finanzkatastrophe und der Finanzkollaps der Staatsfinanzen kommen in Sicht, aber es findet keine Gegenwehr statt __________________________________________ 299 Dritter Abschnitt Wir brauchen einen UN-Sicherheitsrat für die Weltökonomie __________ 306 Vierter Abschnitt Die Mittelverwendung beim Deutschland-Fonds – das Organigramm der Entscheidungswege _________________________________________ 307 Zusammenfassung zum sechsten Kapitel ___________________________ 313 SIEBTES KAPITEL Der Maßnahmenkatalog des konzertierten Masterplans _____________ 314 Erster Abschnitt Das Ergebnis der Analyse zur Lage der nationalen Volkswirtschaft ______ 314 Zweiter Abschnitt Zu den Ursachen des Worldwide Economic Disaster __________________ 315 Dritter Abschnitt Zu der Frage, welche Nation die größten Ursachen für das Worldwide Economic Disaster verschuldet hat ________________________________ 317 Vierter Abschnitt Maßnahmen des konzertierten Masterplans ________________________ 318
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ACHTES KAPITEL Was können wir aus der Geschichte lernen?________________________ 328 Erster Abschnitt Eine geistig-moralische Erneuerung in den Industrienationen ist unverzichtbar _________________________________________________ 328 Zweiter Abschnitt Die Sanierung Deutschlands darf kein Wahlkampfthema werden________ 329 Dritter Abschnitt Die Massenflucht der Eliten und der Bürger in eine ökonomische Scheinwelt muss gestoppt werden ______________________ 330 Vierter Abschnitt Wider den massenpsychologischen Effekt: Das Worldwide Economic Disaster findet in den Köpfen der gesamten Menschheit gleichzeitig statt _______________________________________________ 331 RESÜMEE ____________________________________________________ 340 I. Das Insolvenzvirus ist seit mehr als einem Jahrzehnt bekannt _____340 II. Dieser Glücksspielwahnsinn hatte gerade in Deutschland Methode: Der Koalitionsvertrag 2005 der Großen Koalition beinhaltete eine abenteuerliche Bedienungsanleitung zum verantwortungslosen Glücksspiel __________________________344 III. Unabhängige Sanierungsexperten sind gefragt ________________349 IV. Der Fragenkatalog für die Sanierungsexperten ________________352 V. Wie schaffen wir sinnvolles Wachstum und Vollbeschäftigung? ___353 VI. Die Erpressung des deutschen Staates durch das Bankensystem muss aufhören__________________________________________355 VII. Die verpassten Chancen, Wachstum zu schaffen und Vollbeschäftigung zu erreichen. Mit dieser Sorglosigkeit der Regierung muss Schluss sein ___________________________356 VIII. Was Volkssouveränität und unmittelbare Demokratie bedeuten! Die Mittelverwendung und ihre Kontrolle nur noch durch Volksentscheid ________________________________________ 357 IX. Eine Banken-Schufa und eine Wirtschaftsprüferhaftung für Fehlbewertungen müssen installiert werden – eine Bundesbehörde für Rating und Ranking ist unverzichtbar _______360 X. Zeigen wir unseren Vabanque-Spielern in den Landesbanken und Wirtschaftsforschungsinstituten endlich die Rote Karte ______361
INHALT
XI.
Die ökonomische Zwischenbilanz III/2009 der Bundesregierung: Nichts erreicht und keine Perspektive auf wirkliche Besserung __________________________________365 XII. Arbeit, Forschung und Bildung bleiben die Überlebensthemen Deutschlands ___________________________366 NACHTRAG Das Fazit ein Jahr nach Lehman Brothers __________________________ 368 Eine ernüchternde Zwischenbilanz mit katastrophalem Ergebnis ________ 368 A. Keinem der Industriestaaten gelingen Erfolge im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und gegen die Staatsverschuldung __________368 B. Was aus der „Bankenrettung“ geworden ist: Wieder eine verpasste Chance, statt den Arbeitsmarkt zu retten und internationale Kooperationen in Zukunftsprojekte zu fördern ____376 C. Die Finanzkatastrophe wird weiterhin wider besseres Wissen kleingeredet _____________________________________380 D. Die Exportmöglichkeiten der Vergangenheit für die ExportChampions China und Deutschland kommen niemals wieder ____382 E. Die Steuermittelverschwendung muss ein konkret ausformulierter Straftatbestand werden wie die Steuerhinterziehung – mit einem Strafverfolgungsapparat, der von politischer Einflussnahme des Parteienkartells freigehalten werden muss _________________________________384 F. Die Krise zwingt zu neuen Kooperationen und kann Katalysator für eine Renaissance ökonomischer Allianzen sein ____388 Literaturverzeichnis ___________________________________________ 389 Abbildungsverzeichnis _________________________________________ 397 Abkürzungsverzeichnis ________________________________________ 400 Die Autoren __________________________________________________ 404
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Vorbemerkungen Mit dem Thema der Kapitalvernichtung an den globalen Finanzmärkten durch Staaten und die sogenannten „global banking player“ sowie der Sanierung von Staatshaushalten und Unternehmen beschäftigen wir uns seit vielen Jahrzehnten, geprägt auch durch ein privates Unternehmertum, das bis in die dritte Generation zurückreicht. So stieß ich, Nicole Essiger, im Laufe meiner wissenschaftlichen und praktischen Ausbildung zur Wirtschaftsjuristin immer wieder auf das Thema, wie die Wertschöpfungsketten in der Produktion, im Handel und die Geldmengensteuerung an den Finanzmärkten aufgebaut und untereinander vernetzt sind. Deshalb wuchs schon in jungen Jahren mein Interesse an allem, was mit der Frage zusammenhängt: Wie funktionieren die Finanzmärkte, die Börsen, die Staatsfinanzierungen – und was sind die Ursachen für deren Fehlfunktionen, die in der Geschichte immer wieder zu großen Insolvenzwellen, zu Inflationen, zu Einbrüchen des Welthandels, zu Deflationen oder Stagflationen bis hin zu Staatsbankrotten und leider auch Kriegen geführt haben? I.
II. Während meines Studiums der Rechtswissenschaften in Bayreuth, Frank-
furt am Main und Münster und meinem Engagement auf kommunalpolitischer Ebene in meiner Heimatstadt Bad Nauheim standen die Folgen der fortschreitenden Staatsverschuldung, des grenzenlosen Sharebrandings der „Emissionsindustrie“ und das stetige und schließlich rasante Anwachsen der globalen Geldmengen im Mittelpunkt meiner Betrachtungen. In meiner Heimatzeitung schrieb ich in zahlreichen Beiträgen, dass der Aktienmarkt für den Bürger zu gefährlich ist und wie die Rente der Bürger sicher gemacht werden könnte. „Die T-Aktie ist keine Altersversorgung“, so lautete meine Analyse, während die Bürger noch an den wohlwollenden Staat und die Redlichkeit großer halbstaatlicher Konzerne glaubten. Anfang des Neuen Jahrtausends veröffentlichte ich mehrere verschiedene einzelne Aufsätze zu den Themen des mangelhaften Kapitalanlegerschutzes für Kleinaktionäre und des Überbewertungssyndroms der Gutachtergilde, die für den Verlust des Realitätsbewusstseins bei der Bewertung von Aktien und des Anlagevermögens der Gesellschaften und Unternehmen in hohem Maße verantwortlich waren. Das war in der Zeit der großen Aktien-Emissionen, etwa bei der Telekom und auf dem sogenannten „Neuen Markt“. Deshalb habe ich auch über die T-Aktie promoviert. Die Dissertation, die von Prof. Dr. Rainer Frey, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, angenommen worden war, erschien unter dem Titel „Die T-Aktie als Mar-
VORBEMERKUNGEN
ke“ – Staatliche und private Einflussnahme zur Kurspflege einer „Volksaktie“ – 2. Aufl. (2003) – in der Gabler Edition Wissenschaft. Außerdem rief ich das Wissenschaftsforum für Sanierung und Insolvenzmanagement ins Leben, das sich seither mit den Themen der Insolvenz und der Sanierung der Staats- und Unternehmensfinanzen befasst. III. Die Konsequenzen traten schneller als erwartet ein. Redliche und fleißige
Bürger, die ihre Altersversorgung in Wertpapieren und Aktien oder in dem staatlichen Rentensystem gesichert wähnten, wurden für ihre zu große Vertrauensseligkeit abgestraft. Die Trugschlüsse der Vergangenheit kommen jetzt teuer zu stehen. Immer häufiger ist der Preis für das Vertrauen in die Versprechungen der Banken und Spitzenpolitiker der Totalverlust des mit jahrzehntelanger Arbeit geschaffenen Vermögens. Heute gehen bei der Mehrzahl unserer Bürger die Lebensplanungen deswegen nicht mehr auf. Immer mehr Menschen müssen sich am Ende ihres Arbeitslebens mit der grausamen Wahrheit abfinden: Umsonst gearbeitet – umsonst gespart. Die Aktien „im Keller“, die staatliche Rente ohne permanente Staatssubventionen wertlos, das eigene Häuschen in der „Immobilienwertefalle“, der Arbeitsplatz, die Krankenversicherung und die Betriebsrente gefährdet, für die Jungen kaum noch Arbeitsplätze u. v. m. Deutschland leidet schon länger unter seinen Zukunftsängsten, doch erstmals erfasst dieses Trauma das obere Drittel unserer Gesellschaft. Jetzt hat auch die Politik das Problem wahrgenommen. Denn die Steuereinnahmen brechen in einem Maße ein, wie dies noch in keiner Krise in Deutschland der Fall war, auch nicht während der ersten und zweiten Ölkrise. Ohne konstante Steuereinnahmen auf höchstem Niveau ist der deutsche Sozialstaat aber nicht überlebensfähig. Die ständige Umverteilung, mit der sich die Regierungskreise zuerst selbst bedachten und sich dann die soziale Ruhe auf Kosten des Mittelstandes und der Arbeitnehmerschaft erkauften, ist am Anschlag angelangt. Das heißt im Klartext: Die Renten werden sinken – um 50 % bis 70 %, nicht auf 50 % bis 70 %. Gleiches wird auch für die Leistungen aus der Arbeitslosen- und aus der Krankenversicherung u. v. m. gelten. IV. Die Gleichgültigkeit des deutschen Meinungsbildungskartells zu der Ver-
nichtung von Staats- und Volksvermögen in den drei T-Aktien-Emissionen veranlasste mich 2004 zu der Veröffentlichung meines Werkes „Insolvenzprophylaxe für Deutschland“, das ebenfalls im Gabler Verlag erschienen ist. Gegenstände der Untersuchung waren dort insbesondere die verschiedenen Altersversorgungs- und Kapitalansparsysteme in Deutschland und damit vornehmlich die Kapitalausstattungen und Deckungsstöcke der Banken und Versicherun-
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VORBEMERKUNGEN
gen. Wer wie wir das Anlagevermögen dieser Institutionen objektiv analysierte, musste erschrecken: „Liquiditätsknappheit“, „Werteeinbruch“, „Insolvenzgefahr“, „Überbewertung des Anlagevermögens“, „nicht gedeckte Pensionszusagen“ und vieles mehr waren die Begriffe, die immer öfter bei der Zustandsbeschreibung verwendet werden mussten. Inzwischen war erkennbar geworden, dass der Wohlstand unseres Volkes generell in Gefahr und hoffentlich noch nicht ganz verspielt ist – und das nicht nur wegen einiger Aktienemissionen wie etwa bei der Telekom, sondern wegen der planmäßig betriebenen, bewussten und arglistigen Überbewertung von Anlagevermögen und einer generellen uferlosen Geldmengenausweitung, insbesondere auf der „virtuellen Ebene“, die von den Währungsökonomen „Geldmenge M 3“ genannt wird. Die Aufmerksamkeit der Politik und der Wirtschaft hatte ich nun zwar gewonnen – der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages empfahl mein Buch in seiner Literaturauswahl ausdrücklich als Lektüre für die Diskussion der Wirtschaftslage Deutschlands. Risk News – Fachmagazin für Risikomanagement – gab im Oktober/November 2004 in Heft 05/2004 ein klares Statement ab, das bedauerlicherweise von keinem unserer Spitzenpolitiker ernst genommen wurde. Diese Rezension der Insolvenzprophylaxe für Deutschland gelangte zu dem Ergebnis, dass den dort formulierten Handlungsanleitungen gefolgt werden solle. Auch viele Manager und andere herausragende Persönlichkeiten aus der Wirtschaft stimmten meinen Forderungen nach einer umfassenden Insolvenzprophylaxe für Deutschland zu. Aber geändert hat sich bis heute dennoch nichts. Die Umsetzung meines Sofortprogramms hätte zu viele Eingriffe in die Pfründe von Verbänden und Branchen und die Versorgungsapparate ganzer privilegierter Berufsgruppen – Bankvorstände, Minister, hohe Beamte, Abgeordnete, Gewerkschaftsführer u. v. m. – bedeutet. V. Heute, nachdem nicht nur Lehman Brothers, sondern auch viele andere Repräsentanten des Casinokapitalismus die ganze Welt mit dem Insolvenzvirus infiziert haben und innerhalb weniger Wochen geschätzte 40 bis 57 Billionen Euro Wertpapierkapitalisierung weltweit vernichtet wurden, finden sich die Menschen in Deutschland plötzlich in einem Existenzkampf um ihre Arbeitsplätze und ihre Altersversorgung, und das in einem Ausmaß und einer Intensität, die bis vor kurzem nicht für möglich gehalten wurde. Im Kampf der Giganten der globalen Finanzoligarchie sind sie unter die Räder gekommen. Jetzt kocht die Volksseele vor Wut, denn inzwischen haben die Bürger begriffen: Die Rente ist schon lange nicht mehr sicher. Man muss sich nur vorstellen, wie viele hunderte Milliarden, eher eine Billion Euro oder noch mehr,
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an Altersversorgungskapital und Sparvermögen dem deutschen Volk hätte erhalten bleiben können, wenn wir Deutsche ab 2004 oder besser noch früher, um die Jahrtausendwende, als die Argumente gegen die unbegrenzte virtuelle Geldwertschöpfung unwiderlegbar geblieben waren, die politische Kraft aufgebracht hätten, das Ruder herumzureißen: Ähnlich wie beim Umweltschutz hätte eine Volksbewegung zum Schutz des Staats- und Bürgervermögens ins Leben gerufen werden müssen. Wie gut würde Deutschland heute dastehen, wenn wir schon ab 2004 damit begonnen hätten, die Altersversorgung des deutschen Volkes Schritt für Schritt von dem antiquierten Umlaufsystem auf ein solides Deckungsstocksystem umzustellen? Wenn wir es rechtzeitig fertiggebracht hätten, uns die schrecklichen Auswirkungen der verfehlten Wirtschafts- und Verschuldungspolitik vor Augen zu halten? Wenn wir es geschafft hätten, das Kapital, an dem es in Deutschland auch heute nicht mangelt, direkt in den Arbeitsmarkt zu lenken? Wo waren unsere Wirtschaftsweisen und wo waren die obersten Hüter unseres Rechtsstaates sowie die Präsidenten der obersten Kontrollbehörden für das Banken-, Versicherungs- und Wertpapierwesen, als es galt, Schaden vom deutschen Volke abzuwehren und seinen Nutzen zu mehren? Hätte nicht von Professor Sinn als dem Präsidenten des Ifo-Institutes, München, und den exponierten Vertretern der sechs Wirtschaftsweisen ein Veto ausgesprochen werden müssen, statt die alljährliche Übergabe des Sachverständigengutachtens an die Bundesregierung wie eine rituelle Zeremonie mit Kultstatus zu inszenieren? Warum galt für alle Jahresgutachten zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Lage Deutschlands, wie man heute konstatieren muss, die Note „ungenügend“ – „Thema verfehlt“ und warum zogen sich unsere Wirtschaftswissenschaftler in ihren Elfenbeinturm zurück, statt sich mit der Realität auseinanderzusetzen? Warum wurde in den nächtlichen geheimen Krisensitzungen der rot-grünen Koalition, z. B. am 16.02.2003 in Berlin im Bundeskanzleramt, zwar fieberhaft darüber diskutiert, wie die Insolvenz bei drei deutschen Großbanken noch vermieden werden könnte, aber kein nationaler Rettungsplan aufgestellt? Auch die US-amerikanischen Nobelpreisträger, der Think tank von Paul Krugman, Edmund Phelps, Josef Stiglitz oder Robert J. Shiller, waren mit ihren warnenden Stimmen auf internationaler Ebene und für den US-amerikanischen Raum viel zu zaghaft, andere waren dagegen überhaupt nicht für diese Themen sensibilisiert, die gerade diejenigen, die noch vor kurzem ahnungslos waren oder die Ahnungslosen spielten, heute so abhandeln, als seien dies Standardprobleme, in denen man sich schon seit Jahrzehnten auskennen würde wie in der eigenen Westentasche? Die Wis-
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sensträger und Entscheider auf der ganzen Welt hätten sich dazu durchringen müssen, ihren Völkern die Wahrheit zu sagen. In den westlichen Demokratien konnten die Menschen diese Ehrlichkeit und Offenheit von ihren gewählten Vertretern auch verlangen. Denn die Daten und Fakten zur Insolvenzgefährdung waren bereits in Die T-Aktie als Marke im Jahr 2003 publiziert und wurden in der Insolvenzprophylaxe für Deutschland (2004) vollends nachgewiesen. Heute kann sich also niemand, kein Minister, kein Behördenpräsident und kein Gewerkschaftschef darauf berufen, nichts gewusst zu haben. VI. Die Weltwirtschaft geriet also nicht unverschuldet in eine Krise, sondern
in eine billigend in Kauf genommene Superrezession. Seither befindet sich der Welthandel im unkontrollierten Sturzflug. Regierungen rund um den Erdball kämpfen vergebens um ihre Glaubwürdigkeit und um das verspielte Vertrauen ihrer Völker. Kein aufgeklärtes Staatsvolk, ob West, ob Ost, ob Nord oder Süd, hält seine Regierung, seine Notenbanker oder seine Wirtschaftsführer noch in irgendeiner Weise für befähigt, den Weg aus der Existenznot zu finden. Diese Desillusionierung hat aber auch etwas Gutes. Umfragen in Deutschland und in anderen Ländern zeigen es: Die meisten Bürger wissen, dass sie sich nur selbst helfen können und deshalb selbst kämpfen müssen. Fun and entertainment gibt es nicht mehr – die Party ist vorbei. Deshalb erübrigt sich auch die Antwort auf die wirtschaftspolitische Überzeugungsfrage, ob die Great Depression von 1929 schlimmer gewesen sei als der Big Bang vom 15. Oktober 2008. Denn nach nur drei Quartalen seit Lehman Brothers steht fest: Der Einbruch 2008/2009 stellt schon heute die Verwerfungen der Great Depression von 1929 in den Schatten. In Japan beträgt der Einbruch der Exportwirtschaft 54 %, in China 25 %, in Deutschland jetzt 21 %. Langsam dämmert es unseren Wirtschaftslenkern: Von dem Erreichen der Talsohle Mitte 2009 kann keine Rede sein. Und das Schlimmste kommt noch: der Crash nach dem Crash. Deshalb ist die Vernichtung unvorstellbarer Kapitalsummen und daraus folgend die Verarmung vieler Bevölkerungsschichten oder sogar ganzer Nationen und Wirtschaftsblöcke noch nicht der Endpunkt der Katastrophe. VII. Auf mittelfristige Sicht steht der global erreichte technologische Stan-
dard und damit die heute noch als selbstverständlich verstandene Zivilisation auf dem Spiel. Denn die Errungenschaften des Technologie- und Informationszeitalters aufrechtzuerhalten, setzt einen riesigen Aufwand an Arbeitsleistung, Organisationsfähigkeit, Wissenschaft und Forschung voraus. Ohne ei-
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nen stetigen Kapitaleinsatz ist dies alles unmöglich. Ist die Menschheit zu der Entwicklung derjenigen ökonomischen und geistigen Kräfte überhaupt noch in der Lage, die für die Lösung der sogenannten Menschheitsfragen erforderlich sind? Das muss immer mehr bezweifelt werden. Die Weltwirtschaft ist ein unendlich verzweigtes Netzwerk geworden, das sich nicht ständig selbst und schon gar nicht kostenfrei immer wieder aufs Neue regenerieren und stabilisieren kann. Die Nachrichtenautobahnen, das Internet, die Transportwege, das Weltgesundheitswesen, das alles muss gewartet, repariert, organisiert und am Laufen gehalten werden, und deshalb darf das hierzu benötigte Kapital nicht, wie gerade ab Oktober 2008 geschehen, an den Börsen vernichtet und für Bankenrettungen verschwendet werden. Begreift man die Weltwirtschaft als einen riesigen sozioökonomischen Organismus, der heute internet- und satellitengesteuert ist, wird klar, dass die gefährlichsten negativen Auswirkungen auf anderen Gebieten liegen als dem Verlust von Renteneinkünften und Altersversorgungen zwecks Bewahrung eines ruhigen Lebensabends für die Privilegierten in den westlichen Industriestaaten, die sich immer mehr als eine globale Upper Class verstehen. Aus der Sicht des angloamerikanischen Westens scheint die Frage im Vordergrund zu stehen, ob der American way of life ungehindert für immer größere Weltbevölkerungsschichten fortgesetzt werden kann. Das ist aber nicht das wirkliche Problem, ganz abgesehen davon, dass dies aus mehreren Gründen nur dann möglich sein würde, wenn die Weltwirtschaft den Weg der Spezialisierung, Forschung, Entwicklung und Arbeitsteilung wie bisher weiter fortsetzen kann und ein Grundkonsens erhalten bleibt, der das Zusammenwirken der unterschiedlichen Volkswirtschaften bei den anstehenden Problemlösungen fördert. Das wird schlussendlich wesentlich mehr voraussetzen als die Bekämpfung des Worldwide Economic Disaster, sondern das Bewusstsein jeden Volkes und jeder Regierung, dass die wirklichen Menschheitsprobleme nur gemeinsam in internationalen Kooperationen und Projektarbeitsgemeinschaften gelöst werden können: eine internationale Friedensordnung, gemeinsame Forschung in allen Energiefragen, sauberes Trinkwasser und Nahrung für alle Menschen, ein weltweiter wirksamer Umweltschutz, hohe Gesundheitsstandards, die Förderung und der Ausbau der sogenannten Green-Tech-Sparte u. v. m. Das setzt das vernetzte Wirken vieler neuer Strategien und Projektentwicklungen voraus, von der sauberen Energiegewinnung bis zur globalen Seuchenbekämpfung.
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VIII. Wenn aber weltweit die Verknappung des Kapitals immer weiter fortschrei-
tet und keinerlei Vertrauen mehr zwischen Banken, Konzernen, Regierungen und Institutionen besteht, wird es nicht gelingen, den technologischen Standard von heute zu halten, geschweige denn die Lösung von Zukunftsaufgaben in Angriff zu nehmen. Der gesamten Menschheit droht dann ein Rückschritt in allen industriellen, technologischen und sozialen Bereichen, wenn wir nicht den Schlüssel zu der Lösung der Finanzkatastrophe finden. Die Fertigkeiten und Fähigkeiten aller Völker und alle ihrer Produktionskapazitäten sowie Kapital- und Rohstoffreserven auf diese Zukunftsaufgaben zu lenken, ist die einzige Chance der globalen Völkergemeinschaft, in zwei oder drei Jahrzehnten, wenn die Weltbevölkerung die Neun-Milliarden-Grenze überschritten haben wird, die globale Friedensordnung aufrechtzuerhalten und Nahrung und Trinkwasser für alle zu produzieren. Eine funktionierende Kapitalversorgung ist deshalb das unverzichtbare Fundament, auf dem nicht nur das Zusammenleben, sondern das Überleben der Menschheit aufbaut. Und um aus der Superrezession den Weg in einen geordneten Kapital- und Wachstumsmarkt wieder zu finden, ist der hier in diesem Buch vorgestellte konzertierte Masterplan der erste Schritt zu der Tür: Emergency exit. Andere Maßnahmen müssen zusätzlich folgen, wobei die internationale Abrüstung der Kriegswaffen sicherlich ein besonders wichtiger Baustein hierzu sein wird. Die Erfolge aus Abrüstungsgesprächen werden künftig nicht nur in den Zahlen verschrotteten Kriegsgerätes zu messen sein, sondern in der Größenordnung des für friedliche Zwecke der weltweiten Kooperation umgelenkten Kapitals. Hier sind die USA als Erstes aufgerufen, den Worten ihres Präsidenten Obama Taten folgen zu lassen. 680 Milliarden US-Dollar jedes Jahr geben allein die USA für Rüstung aus, mehr als eine Billion US-Dollar sind es weltweit. Die weltweit entstandenen Megabürokratien müssen ebenso global als Lean Management ausgestaltet werden. Hier sind Deutschland und Europa angehalten, Kapitalströme umzulenken und ein weltweites neues Kooperationsverständnis zu schaffen. IX. Wenn die Wirtschafts- und Finanzkrise auch etwas Gutes haben soll, dann
kann das nach unserer Überzeugung nur darin bestehen, dass der Druck auf die Regierungen so groß wird, um sie zu zwingen, ihre Kapitalaufwendungen dem Rüstungsbereich zu entziehen und in Sonnen- und Windkraft, in die friedliche Atomforschung für Fusionskraft, in die Ernährungswissenschaft und in Trinkwasserwerke weltweit zu investieren, statt noch länger untätig zu bleiben. Fortan benötigen wir Bürger, die ihr Schicksal mutig selbst in die Hand nehmen und die Weichenstellungen an dem Scheideweg „Wohl-
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stand statt Armut“ und „Bildung statt Unwissenheit“ nicht mehr der deutschen oder europäischen Bürokratie überlassen. Wir brauchen heute Arbeitsplatzbeschaffer auf allen Ebenen – insbesondere im Mittelstand und in der gesamten Zuliefererindustrie. Schlüsselbegriff wird aber auch die Umsatzverantwortung sein, die künftig in weitaus höherem Maße auf den Schultern von Unternehmern liegen muss, die sich ihrer gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verantwortung mehr bewusst sein müssen als bisher. Wir appellieren deshalb an die „schweigende Mehrheit“ in unserer Leistungsgesellschaft, die eigene Lähmung zu überwinden – an diejenigen, die in den letzten 60 Jahren den Wohlstand und die Werte geschaffen haben, von denen wir alle leben. Auf der Grundlage unseres demokratischen Rechtsstaates müssen sich die Bürger wieder „zum ersten Stand erklären“ und das Heft selbst in die Hand nehmen: eine friedliche, zukunftsausgerichtete Revolution demokratischer Bürger. Denn das Phänomen, das Worldwide Economic Disaster, „Superrezession“ oder die „Kernschmelze des Finanzmarktes“ genannt wird, ist auch und gerade die direkte Folge des Versagens der parlamentarischen Demokratien in fast allen westlichen Ländern und ihrer alten Eliten im Staat, bei den Finanzinstituten und in der Wirtschaft. X. Unser Masterplan für die Sanierung der Weltwirtschaft beginnt mit Maß-
nahmen zur Stabilisierung des deutschen Finanzmarktsystems und vor allem des Arbeitsmarktes in Deutschland. Die Lösungsvorschläge müssen sodann an den komplexen Anforderungen ausgerichtet werden, die die Weltwirtschaft an uns stellt. Damit gliedert sich der Masterplan in zwei Arbeitsblöcke: die Erledigung überfälliger Hausaufgaben für Deutschland und daran anschließend die Aufgabenstellung auf internationaler Ebene. Hier muss Deutschland Führungsaufgaben übernehmen und weit reichende Kooperationen mit vielen befreundeten Partnerstaaten eingehen. Dabei müssen wir Abschied von der Vorstellung nehmen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland genügend Arbeitsplätze für alle Deutsche im Sinne einer konstanten Vollbeschäftigung schaffen könnten. Wir müssen vielmehr lernen, dass wir künftig weitaus mehr als früher Gastarbeiter in anderen Ländern sein werden und Flexibilität heute bedeutet, der Arbeit rund um den Erdball nachzufolgen. Das wird die traditionellen Berufsbilder in unseren Köpfen gehörig durcheinander bringen. Auf welcher Rangordnungsstufe wir dabei stehen werden, hängt von uns selbst ab: nämlich der beruflichen Qualifikation der nächsten Generation. Also besser hunderttausend Ingenieure ausbilden als hundert marode Banken retten. Um diese Arbeitsplätze in allen Kontinenten für uns zu schaffen oder zu erobern,
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müssen wir jede Herausforderung annehmen und nach der alten Pfadfindertugend handeln: „Allzeit bereit“. Hierzu muss alles eingesetzt werden, was an Phantasie, Kreativität und Energie zur Erreichung dieses Ziels zur Verfügung steht und den Unwillen zu lernen wirkungsvoll bekämpft. Wenn wir nicht die billigsten Hilfsarbeiter von übermorgen sein wollen, müssen wir die besten Ingenieure von morgen bleiben und unsere Jugend dazu ausbilden. XI. Dieses Buch verstehen wir als Startschuss für den gebotenen Wandel. Aus
der Mitte unseres Volkes heraus müssen kluge Köpfe ihre Energien freisetzen, die wir jetzt brauchen, um diese Sanierungsaufgabe zu meistern und zu verhindern, dass zuerst unsere Arbeitsplätze, dann die Staatsfinanzierung und schließlich unser Staat selbst abgewrackt werden. Das Volk darf nicht vor der Inkompetenz seiner Regierung kapitulieren. Die Zeit ist reif für eine echte demokratische Wende. Die legendäre Anthropologin und Professorin Margaret Mead hat es so ausgedrückt: „Es ist einfach wahr. Auch ein paar wenige, aber engagierte und überzeugte Bürger können die Welt verändern.“ Stellen Sie deshalb in jeder Diskussionsrunde derjenigen Partei, der Sie Ihre Stimme geben wollen, egal ob links oder rechts, die Frage, ob diese dem Masterplan für Deutschland und für die Welt zustimmt und Ihnen die sofortige Umsetzung unterschreibt – ohne Wenn und Aber. Wenn nein: Treten Sie aus dieser Partei aus und wählen Sie sie nie wieder – Ihren Kindern und sich selbst zuliebe. Dass wir nicht nur wenige bleiben, sondern viele werden, die diesen Kampf in Berlin und Brüssel aufnehmen, und dass wir einen riesengroßen Schritt weg von den vorprogrammierten Insolvenz- und Zerschlagungslösungen hin zu der Sanierung, d. h. „Gesundung“ der deutschen Wirtschaft machen, zu einer Sicherung und einem Ausbau unserer Arbeitsplätze, zur Förderung von Bildung, Ausbildung, Forschung und Wissenschaft und internationaler Kooperation – das ist das Ziel, das sich alle Deutschen stecken müssen, und so verstehen wir unseren „Pakt für Deutschland“. Die Entscheider in Staat und Wirtschaft müssen deshalb zu aktiven Sanierungsexperten fortgebildet oder es müssen der Regierung Sanierungsprofis an die Seite gestellt werden, aber nicht wieder dieselben allseits bekannten und verbrauchten Berater, die seit Jahren an den Regierungsaufträgen wie die Kletten hängen und – mit großen Kapitänsallüren auf der Brücke stehend – den Eisberg mit voller Fahrt voraus gerammt haben. Heute muss Deutschland zusammen mit Frankreich als die Führungsnationen in der EU mit kompetenten Sanierungsexperten auf der Basis einer soliden nationalen Finanzpolitik mit den Wirtschaftsblöcken USA, Japan, Asien (China und Indien) und der arabischen Welt eine neue Welt-
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finanzarchitektur entwerfen. Kern dieser neuen Weltfinanzarchitektur, in der der Euro und der US-Dollar neben den künftig nicht wegzudenkenden Währungen der aufstrebenden Wirtschaftsriesen China und Indien und einer harten gold- und rohölgestützten arabischen Weltreservewährung langfristig Bestand haben können, wird eine Weltwährungspartnerschaft sein, die auf dauerhafter Kooperation, laufender Konsultation und voller Gleichberechtigung der Partner nach dem jeweiligen Gewicht ihrer Handelsvolumina aufbauen wird. Diese Weltwährungspartnerschaft wird künftig überragende politische Bedeutung erlangen und die Funktion einer Weltwirtschaftsregierung auf der Grundlage einer neuen Weltwirtschaftsordnung übernehmen oder diese zumindest vorbereiten, in der es keine Hegemonie der angloamerikanischen Währungsachse US-Dollar – Britisches Pfund mehr geben wird und die auch die besondere entwicklungspolitische Verantwortung gegenüber den Schwellen- und Entwicklungsländern wahrnehmen kann. Außerdem wird dies das Fundament für einen UN-Sicherheitsrat für die Weltökonomie bilden, dessen Konstituierung zu fördern ebenfalls Aufgabe der Bundesregierung in den beschriebenen partnerschaftlichen Strukturen ist. Wir werden ergänzend auch eine Weltbilanzpolizei und Weltbankenaufsicht benötigen sowie auf nationaler Ebene einen Krisenstab für Finanzen und Ökonomie, der am besten als Gemeinschaftseinrichtung des Auswärtigen Amtes und des Wirtschaftsministeriums zu schaffen wäre. XII. Künftig gilt es zu verhindern, dass sich Weltwirtschafts- und Finanzkri-
sen wie etwa 1929 und das Worldwide Economic Disaster 2009 wiederholen oder, wie sich jetzt herausgestellt hat, in ihren Wirkungen sogar noch übertreffen. Der konzertierte Masterplan soll damit auch den Weltfrieden sichern helfen. Denn wer nicht geschichtsblind ist, wird die Ursachenzusammenhänge zwischen Wirtschaftskrisen und Kriegsausbrüchen nicht verleugnen können. Wenn es uns Deutschen zusammen mit China, Indien und den künftigen Vereinigten Staaten von Arabien gelingt, in diesem Sinne der Fortschrittsmotor der Weltwirtschaft zu sein, auch auf diplomatischer Ebene, als Export- und Technologienation und als verlässlicher und weltweit geschätzter Partner, könnte sich der ahnungslose und hoffnungsfrohe Zweckoptimismus unserer Bundesregierung, Deutschland werde gestärkt aus der Krise hervorgehen, sogar noch erfüllen. Dann wird der deutsche Bundesadler nicht als „Pleitegeier“ enden, sondern wie Phönix aus der Asche neu erstehen. Wenn wir in fünf Jahren feststellen könnten, dass die Massenarbeitslosigkeit und die Kapitalverschwendung gebannt sind und die gegeneinander aufgestellten Wirtschafts-
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blöcke ihre Konfrontation langfristig und nachhaltig überwunden und zu einer echten Zusammenarbeit mit einer neuen Qualität gefunden haben würden, könnten wir der Apokalypse rückblickend dann etwas Gutes abgewinnen: die Verkrustung des alten Denkens aufgebrochen und Raum für Ideen und Visionen geschaffen zu haben. Wenn das gelingt, ohne die Realitäten aus dem Auge zu verlieren, haben die Insolvenzprophylaxe für Deutschland (2004) und unser Masterplan für die Weltwirtschaft (2010) ihren Zweck erfüllt. Ohne eine neue Begeisterung der Völker, diese Aufgaben zu lösen und ohne Vorbilder und charismatische Führungspersönlichkeiten wird dies nicht gelingen. Wir müssen die Maxime des Archimedes verinnerlichen: „Gebt mir einen Hebel, der groß genug ist, und ich bewege die Welt.“ Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik müssen sich das wieder zutrauen. Unser Masterplan für die Sanierung der Weltwirtschaft soll dieser Hebel sein. Also: Auf in den Kampf gegen die „Sofafraktion“. Noch ein Mal müssen alle Deutschen – in Ost und West – den Mut aufbringen, der Regierung zuzurufen: „Wir sind das Volk.“ Das wünschen wir uns für unser Vaterland.
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ERSTES KAPITEL Die Superrezession und ihre Eckdaten
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I. Die Auswahl und Begrenzung der Themen sowie Ausblick auf die weiteren Kapitel Das Worldwide Economic Disaster bzw. die „Superrezession“ verfügt über eine fast unübersehbare Zahl von Einzelthemen1 und besteht aus einer ebenso großen Vielfalt an Problemen, so dass eine Auswahl davon zu treffen unter dem Aspekt eines Masterplans zur Sanierung der Weltwirtschaft unumgänglich ist, um den Umfang der Untersuchung nicht in das Uferlose auszuweiten.2 Die Auswahl der Themen ist hier im Sinne einer praxisorientierten Dringlichkeitsreihenfolge zu verstehen: Welche staatlichen Maßnahmen müssen sofort ergriffen und welche Probleme sofort gelöst werden, um weitere Schäden von 1
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In der neuesten Wirtschaftspresse und den Breitenmedien stehen die spürbaren konkreten Sorgen der Bevölkerung um den Erhalt von Millionen von Arbeitsplätzen und der Arbeitseinkommen sowie um die Existenz der „Bundes-Wirtschaftsrepublik Deutschland“ im Vordergrund. Vgl. Arnsperger, Malte/Bognanni, Massimo/Dietrich, Angelika/Rittgerott, Mathias, Gefeuert – Das Märchen vom Kündigungsschutz – Warum Millionen um ihre Jobs fürchten müssen, in: Der Stern Nr. 19 vom 30.04.2009 – Titelgeschichte, S. 26; vgl. die Aussage des Bundeswirtschaftsministers Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg in Der Stern Nr. 19 vom 30.04.2009, S. 39: „Wir werden noch bittere Momente erleben. Auch sehr bekannte Firmen werden in die Insolvenz gehen.“ Vgl. auch „Fünf Millionen Arbeitlose 2010“, in: Die Welt vom 24.03.2009 S. 9 und Creutzburg, Dietrich, Der Personalabbau erreicht den Mittelstand, in: Handelsblatt Nr. 73 vom 16.04.2009, S. 3. Vgl. auch: Flaute wird zum Jobkiller, Düstere Prognose, in: Handelsblatt Nr. 58 vom 24.03.2009, S. 1. Die Faustformel lautet: 1 % rückläufiges Wirtschaftswachstum kostet 350.000 Arbeitsplätze. Symptomatisch: Nach monatelangem Tauziehen um die Rettung von Opel sollen die beiden Partner der interessierten Investorengemeinschaft Staatsbürgschaften über insgesamt mehr als 10 Milliarden Euro erhalten, aber dennoch werden 18.000 Arbeitsplätze nicht oder nur zum geringen Teil zu retten sein. Dazu korreliert das Thema der Kurzarbeit als versteckte Arbeitslosigkeit mit einer außergewöhnlich hohen Belastung der Bundesagentur für Arbeit. Vgl. dazu Grass, Siegfried, Kurzarbeit bei Bayer und BASF, in: Handelsblatt Nr. 73 vom 16.04.2009, S. 14. Ein weiterer bedeutsamer Themenkomplex ist die Frage, wie das System der Staatsfinanzierung Deutschlands gerettet werden kann: Vgl. dazu Wirtschaftswoche Nr. 10 vom 02.03.2009, S. 68 f.: „Warum der Staat die Hypo Real Estate nicht pleite gehen lassen kann – Welche Folgen ein Zusammenbruch der Bank für das Finanzsystem hätte.“ Auch die „Mittelstandsdiskussion“ wird unter negativem Vorzeichen weitergeführt: „Die ökonomische Lage ist schlecht und wird durch den Gesetzgeber schlechter“, so Arndt Kirchhoff, Automobilzulieferer und Vorsitzender des BDI-Mittelstandsausschusses im Interview mit der Wirtschaftswoche – Nr. 10 vom 02.03.2009, S. 21. Spiegelonline vom 05.05.2009: „Bund erwartet HRE-Übernahme ohne Enteignung“.
E. Munk, N, Essiger, Masterplan zur Sanierung der Weltwirtschaft, DOI 10.1007/978-3-8349-8832-4_1, © Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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den Volkswirtschaften, insbesondere der deutschen, abzuwenden?3 Welche Bereiche der deutschen und der globalen Wirtschaft müssen besonders eingehend betrachtet werden?4 Daran schließt sich die Frage an: Wo stehen die nationalen Volkswirtschaften mit ihren nationalen Krisenbekämpfungsmethoden (besser ausgedrückt: Katastrophenschutzmaßnahmen) und über welches Instrumentarium verfügt die deutsche Bundesregierung, um Gegenkräfte zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes sofort freizusetzen oder zu unterstützen? Muss mehr in die Infrastruktur oder mehr in junge Menschen investiert werden?5 Für die Autoren stellten sich deshalb vorab auch einige Fragen zur Methodik: 3
2007 gab es in Deutschland 29.150 Unternehmensinsolvenzen, 2008 waren es 29.800 Insolvenzverfahren. Für 2009 lauten die Schätzungen auf 22.000 bis 35.000 Verfahren. Vgl. dazu Lambrecht, Matthias, Die Pleite mit den Abwicklern, in: Capital 06/2009, S. 136, mit einer Detailanalyse zu dem Versagen der Insolvenzverwalter, die ihre Aufgabe allzu oft als „Resteverwerter“ verstünden. „Tausende von Arbeitsplätzen ließen sich retten, verstünden die Insolvenzverwalter ihren Job“, so Lambrecht. 4 Nach vielen Monaten betonharter Uneinsichtigkeit reifte auch bei der Bundesregierung nunmehr die Erkenntnis, dass die seit Jahrzehnten als Steuerzahler, Beitragszahler und Leistungsbringer ausgezehrte Produktionswirtschaft – „Realwirtschaft“ genannt – nicht vollends finanziell ausbluten darf: Deshalb soll die KfW staatliche Fördermaßnahmen (aus dem sogenannten „Konjunkturpaket II) umsetzen. Vgl. dazu die Werbeschrift der KfW „Konjunktur auf Tour“ – Beilage zur Welt am Sonntag Nr. 22 vom 31.05.2009 – Sonderveröffentlichung der KfW, die mit einem Bus auf Informationsveranstaltung durch Deutschland fährt und das Programm erläutert: 1,0 Milliarden Euro Zuschüsse für Investitionen von Unternehmen in Energieeffizienz und Innovation; 8,5 Milliarden Euro für energieeffizientes Sanieren von Gebäuden; 40 Milliarden Euro für Unternehmensfinanzierung – Betriebsmittel und Projektfinanzierung, 3 Milliarden Euro für Verbesserung der kommunalen Infrastruktur. Aber bei einer schrumpfenden Bevölkerung sind Investitionen in Beton im eigenen Land keine echte Alternative: Es muss vielmehr in Menschen und Neugründungen von Betrieben investiert werden. Dazu später. 5 Diese Frage ist zugegebenermaßen rhetorisch: Natürlich müssen wir Deutschen begreifen, dass wir in das sogenannte „Humankapital“ investieren müssen, d. h. in die Bildung und Ausbildung unserer Kinder. Das bedeutet auch: in die Einkommen von Lehrern, Hochschullehren, Berufsschullehrern und in die Berufsanfänge von Selbständigen, Firmengründern. Wir Deutschen sind in den letzten Jahrzehnten häufig dem Denkfehler unterlegen, dass die Schulgebäude wichtiger sind als die Schüler. Die Folge dieser mehr oder weniger instinkthaft getroffenen Investitionsentscheidungen in Beton und Stahl: Deutschland ist zugebaut. Viel mehr an Infrastruktur geht in Deutschland gar nicht. Betrachtet man z. B. den Basisinfrastrukturindex für Europa, so ist Deutschland auf Platz Nr. 1 mit 5,0 Bewertungspunkten, gefolgt von Frankreich mit 4,6; Österreich mit 3,6. Die EU im Schnitt: 2,6. Am Ende der Skala: Italien mit 1,0. Vgl. „Basteln gegen die Krise“, in: Focusmoney, Beilage zu Focus Nr. 23 vom 30.05.2009. Quelle: DIW econ. Das ist deckungsgleich mit den Daten der deutschen Bildungskrise: Bei dem Bildungsindex liegt Finnland auf Platz Nr. 1, Dänemark, Frankreich, Österreich und die EU im Schnitt vor Deutschland, Deutschland liegt auf Platz 6. Es wäre falsch, wenn wir fordern würden, alles zu unternehmen, um zu erreichen, dass Deutschland auf Platz Nr. 1 vorrückt. Richtig ist vielmehr, dass Deutschland mit Abstand wieder Platz 1 in der Bildung und
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• Wo mit der Anamnese anfangen und wo aufhören? • Was kann als Wissen vorausgesetzt und was muss erläutert werden? • Welche Daten, Fakten und Zahlenzusammenhänge sind nicht Allgemeinwissen und müssen dargestellt werden? • Welche historischen Abläufe sind bekannt und welche Vorkommnisse der Geschichte sind nicht so sehr in das kollektive Bewusstsein gelangt? • Welche Meinungen und Lösungsansätze aus Politik, Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft müssen analysiert werden?
Abbildung 1: Teuerster Tower in Frankfurt am Main: Das ganze Ausmaß der Kapitalvernichtung – Staats- und Bürgervermögen – kann der Bürger nur mit Galgenhumor ertragen. | Quelle: Journal Frankfurt Nr. 12/2009, S. 19. Ausbildung der jungen Generation einnehmen muss. Gleiches muss aber auch für die Kommunikationstechnologie gelten: Dort nimmt Deutschland, das Land der Erfinder des Telefons, des Telefax, des Farbfernsehens, der Glasfasertechnologie und des elektronischen Rechners, nur einen Mittelplatz nach Schweden, den Niederlanden und Großbritannien ein; vgl. „Basteln gegen die Krise“, a. a. O., S. 19.
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II. Ein erster Überblick zur Ausgangslage für Deutschland und die Welt von 1999 bis 2009: Ein Jahrzehnt absoluten Stillstandes in der Insolvenzprophylaxe
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A. Tausend verpasste Chancen bedeuten für das deutsche Volk: Eine Billion Euro Schaden – im Mindestmaß
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Um einen ersten Überblick über den Themenkomplex zu ermöglichen, beginnt das erste Kapitel mit einer von der Wirtschaftspolitik tunlichst vermiedenen Fragestellung: Warum stehen wir mitten in der Finanz- und Wirtschaftskatastrophe und wäre6 diese tatsächlich nicht voraussehbar oder vermeidbar gewesen? Die Antwort kann den aufmerksamen Beobachter des Zeitgeschehens nicht wirklich überraschen: Das Worldwide Economic Disaster7 hatte viele Vorboten. Das Ausmaß der Krise erinnert heute Zeitzeugen an die Lage nach dem Zweiten Weltkrieg.8 Lange vor September 20089 gab es genügend Warnzeichen. Das schulmeisterlich vorgetragene Argument von der angeblichen Trennung der virtuellen Kapitalwirtschaft von der realen Produktionswirtschaft war eine Verlegenheitsbeschwichtigung ratloser Bankvorstände und unwissender Regierungsvertreter.10 Ich selbst hatte in einer Vielzahl von 6
Dass sich jetzt Regierungschefs zu Rettern und Helden aufspielen, um die Krise zu bekämpfen, die es ohne die ständigen verfehlten Wirtschaftsinterventionen gar nicht geben würde: Norberg, Johan, Komplizen des Untergangs, in: Capital 05/2009, S. 52 – Politik – Essay. Norberg gilt als liberaler schwedischer Vordenker. Er gelangt zu ähnlichen Feststellungen, wie sie bereits in Munk, Nicole, Insolvenzprophylaxe für Deutschland, 2004 erfolgt waren. Seine Aussagen, z. B. „Der Staat hat die Spekulation angekurbelt“ (S. 52) oder aber seine Thesen zum Machtmissbrauch der Ratingagenturen (S. 54 f.) stimmen im Wesentlichen mit den Ausführungen in der Insolvenzprophylaxe für Deutschland überein. 7 Anfang 2008 betrug der Marktwert aller Aktien weltweit 61,5 Billionen US-Dollar; Anfang 2009 lag der Marktwert bei nur noch 29,5 Billionen US-Dollar: Die Kapitalvernichtung verschlang also den Gegenwert von 32 Billionen US-Dollar. Wie unsere Bundesregierung noch monatelang danach von der „robusten deutschen Finanz- und Realwirtschaft“ sprechen konnte, bleibt ein Rätsel. Vgl. „Geld + Börse“ in Wirtschaftswoche Nr. 10 vom 02.03.2009, S. 112 ff. 8 Ex-Thyssen-Chef Dieter Spethmann: „Die Krise erinnert an die Lage nach dem Krieg. Vgl. Goffart, Daniel, in: Handelsblatt Nr. 88 vom 08./09./10.05.2009, S. 9. 9 Nachdem der 11. September 2001 bereits in die Geschichte eingegangen ist, nennen Kapitalismuskritiker den 15. September 2008 bereits bedeutungsvoll „Nine/Fifteen“. Ökonomisch hat der Sturz von Lehman Brothers weit schlimmere Auswirkungen als die Anschläge auf das World Trade Center. 10 Das weltweite Abreißen der Geldverkehrsströme und die massiven Engpässe in der Kreditversorgung der Industrien stellen Regierungen, Notenbankpräsidenten und Vorstandschefs jetzt vor Aufgaben, die noch nie einen so hohen Schwierigkeitsgrad aufgewiesen hatten wie heute.
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Veröffentlichungen und Beiträgen sowie in meiner als Dissertation vorgelegten „T-Aktie als Marke“ (2003) und in der Insolvenzprophylaxe für Deutschland (2004), auf die später noch eingegangen werden soll, vor dem Insolvenzvirus gewarnt. Mit dem ins Leben gerufenen Wissenschaftsforum für Sanierung und Insolvenzmanagement wurden die theoretischen Grundlagen für den erforderlichen Umbau der Staats- und Unternehmensfinanzen weiterentwickelt und die Vernetzung mit der Sanierungspraxis herbeigeführt – doch in dem Konzert der klassischen wirtschaftswissenschaftlichen Institute gingen die Mahnungen vor den Konsequenzen der verantwortungslosen virtuellen Kapitalvermehrung unter. Mehr dazu ebenfalls in diesem Kapitel.
Abbildung 2: Haushaltssalden und Gesamtverschuldung in der EU 2009 Prognosen der Neuverschuldung in Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP). | Quelle: Eurostat in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 55 vom 06.03.2009, S. 16.
Das beruht in Deutschland einerseits auf den nicht erledigten Hausaufgaben, die im Zusammenhang mit der Agenda 2010 längst hätten abgearbeitet worden sein müssen. Andererseits wurde keinerlei Insolvenzprophylaxe betrieben. Die Folge hiervon ist, dass jetzt auch die Produktionswirtschaft in gleicher Weise gefährdet ist, durch die Finanzkatastrophe nicht nur in Mitleidenschaft gezogen zu werden, sondern einzubrechen, nicht unbedingt auf einen Schlag, sondern möglicherweise in mehreren Schüben. Dann allerdings kann sich daraus der Zusammenbruch der gesamten Weltwirtschaft ergeben. Dieses Risiko ist den Regierungen der Industriestaaten schlagartig klar geworden. Die nicht endende Serie von Hiobsbotschaften hat ihre Wirkung auf die Entscheidungsträger nicht verfehlt; diese erschütterten allerorten den Glauben an die natürliche Überlegenheit der Marktwirtschaft und an die politische Richtigkeit der Demokratisierung der Entscheidungsprozesse in den Unternehmen.
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ERSTES KAPITEL
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B. Die gespielte Ahnungslosigkeit von Volksvertretern und Wirtschaftsweisen kostet Deutschland bis jetzt weit über eine Billion Euro
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Das zweite Kapitel gibt in dem ersten und zweiten Abschnitt einen Rückblick auf die bedeutenden Ereignisse seit dem 15.09.2008 weltweit11 und setzt weitere Schwerpunkte auf verschiedene Darstellungen über die Volkswirtschaften Deutschlands, der Europäischen Union, der USA, Asiens und der arabischen Welt. Im dritten Abschnitt des zweiten Kapitels wird untersucht, warum die Wirtschaftsweisen Deutschlands in der Vergangenheit den an sie gestellten Anforderungen nicht gerecht werden konnten. Im vierten Abschnitt des dritten Kapitels soll der Frage nachgegangen werden, warum auch die Wirtschaftswissenschaften und die verschiedenen Lehren der Nationalökonomie kein Frühwarnsystem12 gegen das Worldwide Economic Disaster aufbauen konnten 11 Einer der Schwerpunkte der Betrachtung für Deutschland wird z. B. auf einer der maßgeblichen Schlüsselindustrien – dem Automobilbau – liegen: Um 10 Millionen Fahrzeuge pro Jahr wird der Bedarf weltweit sinken; vgl. Überleben in der Eiszeit, in: managermagazin 05/2009, S. 85 f.: „Wirtschaftskrise. Die Industrie, das Herz der deutschen Wirtschaft, steckt in massiven Problemen. Experten warnen: Das Schlimmste kommt noch.“ Dass damit Deutschland besonders betroffen ist, allen voran Baden-Württemberg und Bayern als Kfz-Produktionsstandorte mit überproportionalem Anteil an der Gesamtproduktion, liegt auf der Hand – das heißt: harte Zeiten für Horst Seehofer und den Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, vgl. die Produktions- und Absatzrückgänge in ausgewählten Sparten: Automobilbau: Minus 45 %, das Szenario: Insolvenzen bei Zulieferern und ggfs. Autobauern, gerade die deutschen Luxushersteller geraten besonders unter Druck. Die Umsatzgefährdung bis 2013 bei einer URezession: 10 bis 30 Milliarden Euro; bei einer L-Rezession 70 bis 130 Milliarden Euro. „U-Rezession“ bedeutet dabei Wachstum wieder ab 2011 und geringe Einbrüche in 2009 und 2010 (minus 1,5 % und minus 0,5 %); „L-Rezession“ bedeutet dagegen Wachstum erst wieder 2012 (plus 0,5 %). Beim Maschinenbau lauten die Prognosen: Beschäftigung minus 45 %; Umsatzgefährdung: Bei U-Rezession: 20 bis 25 Milliarden Euro; bei L-Rezession: 60 bis 80 Milliarden Euro. In der Chemie: Beschäftigung: minus 39 %, Umsatzgefährdung: Bei U-Rezession: bis 15 Milliarden Euro; bei L-Rezession: 25 bis 40 Milliarden Euro. Metallverarbeitung: Beschäftigung minus 32 %; Umsatzgefährdung: Bei U-Rezession: bis 20 Milliarden Euro; bei L-Rezession: 30 bis 45 Milliarden Euro. Zahlen bei managermagazin a. a. O., die Umsatzgefährdung wurde bis 2013/2015 gerechnet. 12 Zu einem effektiven Frühwarnsystem muss insbesondere auch ein objektiv nachprüfbares Ranking der Banken, der Konzerne und letztendlich jedes börsennotierten Unternehmens weltweit gehören. Im Bereich der Finanzmärkte und der Börsen müsste eine international installierte Banken- und Versicherungs-SCHUFA aufgebaut werden, deren oberstes Ziel die Schaffung tiefgreifender Transparenz ist. Weiteres wichtiges Kriterium ist sodann die Verschärfung der Eigenkapitalvorschriften. Dabei sollten sich Gesetzgebungsvorhaben des Bundes die Erfahrungen des Schweizer Nationalrates und der Schweizer Gesetzgebung zu eigen machen. Denn bei unseren Nachbarn muss die Erkenntnis von der Wichtigkeit einer soliden Eigenkapitalausstattung von Banken und Versicherungen nicht in solchem Maße erst betont werden wie in der deutschen Gesetzgebung. Künftig müssen Problemfälle wie bei der HRE
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und weder einen Fluchtweg aus der Katastrophe weisen noch Pionierarbeit bei der Ursachenbekämpfung und Überwindung leisten konnten. Die dadurch verursachten Vermögensschäden übertreffen die Zerstörungen, die zwei Weltkriege am deutschen Volksvermögen verursachten, um ein Zigfaches. Jetzt resultiert daraus die Gefahr der Retro-Ökonomie.13 Die Finanzlage der Länder vor der „Schuldenbremse“ der Föderalismusreform Geplante Hilfsgelder zur Haushaltskonsolidierung aus dem Föderalismusreformprogramm II Empfänger 2011 bis 2019 Millionen Euro
Bremen Saarland Berlin SachsenAnhalt SchleswigHolstein
Schuldenentwicklung 1970 bis 2007 (Euro je Einwohner) Bremen 2)
Berlin
Hamburg
SachsenAnhalt
8795
8269
(2007)
16634
15000
1970
260
2007
2007
Schleswig- Thüringen Holstein 7772 1970
6826
2007
2007
Brandenburg
Rheinland- NordrheinPfalz Westfalen
6798 2007
6348 1970
2007
6335 1970
2007
12282
80
10000
80 Insgesamt
800 Millionen Euro (400 vom Bund, 80 400 von den Ländern) 0
Saarland
21577
20000
300
Flächenländer (ohne kommunale Schulden)1)
Stadtstaaten
100
200
300
Niedersachsen
5000
6191
0 1970
2007
1970
2007
1970
2007
1970
2007
BadenWürttemberg
Mecklenb.- Hessen Vorp. 5971 2007
4937 1970
2007
3881 1970
2007
Sachsen
Bayern
2613 2007
1821 1970
2007
1) Stadtstaaten sind wegen Wahrnehmung kommunaler Aufgaben nur beschränkt mit Flächenländern vergleichbar. Flächenstaats-Gemeindeschulden sind hier nicht berücksichtigt, da die „Schuldenbremse“ der Föderalismusreform nur die Länder (und den Bund) betrifft. 2) Bundesländer in kursiver Schrift: Empfänger geplanter Hilfsgelder zur Haushaltskonsolidierung im Rahmen des Föderalismusreformprogrammes II.
Abbildung 3: Die Finanzlage der Länder – der Schuldenstand vor der Krise, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 55 F vom 06.03.2009, S. 2. | Quelle: Bundesministerium der Finanzen; Statistisches Bundesamt und F.A.Z.-Archiv. Danach beträgt die Schuldenlast beim Bund ca. 849 Milliarden Euro, bei den Ländern insgesamt: 581,6 Milliarden Euro (2008).
wegen des immensen Schadensvolumens vermieden werden. Die Schweizer Lösung mit festen Prozentsätzen wäre auch als Modell für Deutschland zu diskutieren. Dass dann ggfs. die Eigenkapitalrenditen der Banken wieder sinken könnten, wäre das kleinere Übel, gemessen an den volkswirtschaftlichen Schäden und den Belastungen der Steuerzahler, wie sie im Zuge des Worldwide Economic Disaster jetzt eingetreten sind. 13 Tichy, Roland, Retro-Ökonomie, in: Wirtschaftswoche Nr. 21 vom 18.05.2009, S. 3. Das bedeutet, dass sich immer mehr Nationen wieder in ihre nationalen Konjunktur-Pakete und Denkweisen zurückflüchten könnten – in die 1970er Jahre, was teure Sozialwohltaten einschließen und der kommenden Arbeitsgeneration zusätzliche Lasten aufbürden wird. Solche nationalen Lösungen werden wenig Wirkung haben. Deshalb ist die gleichgerichtete Erledigung nationaler wirtschaftspolitischer Hausaufgaben in den G20-Staaten eine wichtige Grundbedingung für das Gelingen eines konzertierten Masterplans. Vgl. dazu Gathmann, Florian/Kurbjuweit, Dirk/Nelles, Roland/Pfister, René/Reiermann, Christian, Agenda 2005, in: Der Spiegel Nr. 23 vom 30.05.2009, S. 24 f. Danach will vor allem die SPD zu der Zeitrechnung vor Gerhard Schröders Agenda 2010 zurück; der erfolglose Wahlkampf wurde überwiegend mit einem neoliberalen Feindbild bestritten.
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ERSTES KAPITEL
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III. Die Mixtur der Gegengifte aus dem Medizinschrank der Großen Koalition bringt die Wirtschaft noch um
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A. Für Deutschland beginnt ein schmerzhafter Lernprozess
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1. Nunmehr erzwingt die globale Finanz- und Wirtschaftskatastrophe14 das
überfällige radikale Umdenken auf allen Ebenen, hin zu einer nationalen Insolvenzprophylaxe nebst Sanierung, und auf internationaler Ebene zu einem konzertierten Masterplan.15 Viele Bürger können anscheinend immer noch nicht die Wahrheit vertragen oder schlimmer noch: kennen sie gar nicht.16 Auf den Geschäftsleitungen des deutschen Mittelstandes lastet ein psychisch kaum noch zu verkraftender Umsatzdruck: Die Verantwortlichkeit gegenüber den Mitarbeitern für die Erhaltung der jetzt als kostbar erkannten Arbeitsplätze.17 14 Es war eine Art von rasender Kettenreaktion, auf die niemand vorbereitet war: die Strategieberater der Konzerne nicht, und die Regierungsstellen in den G-20-Staaten erst recht nicht. Auch die Vertreter der Wirtschaftswissenschaft, etwa die Wirtschaftsweisen an den Universitäten und den Wirtschaftsforschungsinstituten, waren konsterniert: Der Volkswirtschaftslehre und den klassischen Wirtschaftstheorien war das Szenario eines gleichzeitigen Absturzes sowohl der Produktionswirtschaften als auch der Finanzmärkte, und das in allen Staaten gleichzeitig, das Einbrechen der Werte von Börsenpapieren und Immobilien, von Rohstoffund Technologiewerten, der gleichzeitige Eintritt von Insolvenzen bei Staaten und Unternehmen, selbst als theoretischer worst case völlig unbekannt. 15 Eigentlich müssen sich alle Regierungsorgane und die Spitzenverbände in Deutschland darüber einig sein. Wirklich? Nein – es ist kaum zu fassen, aber die nur auf persönlichen Machterhalt geeichten Berufsbürokraten in den Vorstandsetagen und Ministerien wollen immer noch die Wahrheit verdrängen. 16 Die Dimension des weltweiten Abschwungs wird immer noch unterschätzt. Deutsche Großunternehmen weigern sich aber inzwischen fast ausnahmslos, konkrete Geschäftsprognosen für 2009 abzugeben – das ist ein Novum und beredter Ausdruck der Ratlosigkeit von Vorständen und Aufsichtsräten. Vgl. Sommer, Ulf in: Handelsblatt Nr. 73 vom 16.04.2009, S. 2. Das „Pfeifen im Wald“ ist höchst gefährlich. Denn die Probleme lösen sich nicht nach dem Motto: „Stell Dir vor, es ist Finanzkrise, aber keiner geht hin und niemand redet mehr darüber.“ Wer über die Krise zwingend wird reden müssen, ist der Präsident der Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg. Denn die Bundesagentur für Arbeit braucht weitere Staatshilfen, um die Arbeitslosigkeit bekämpfen zu können. Die Reserve der Bundesagentur für Arbeit ist um 16,7 Milliarden Euro auf 1,9 Milliarden Euro gesunken, vgl. Handelsblatt Nr. 88 vom 08./09/10.05.2009, S. 1: Arbeitslosigkeit frisst Etat – die BA braucht mehr Bundeshilfe – bei wegbrechenden Steuereinnahmen. Zwar bestellen ausländische Unternehmen und Konsumenten wieder mehr deutsche Waren: Aber das ist keine Entwarnung und macht den konzertierten Masterplan für die Weltwirtschaft nicht überflüssig. 17 Die deutschen Ausfuhren liegen inzwischen wieder im Aufwind und die „Stimmung“ verbessert sich; vgl. Wirtschaftswoche Nr. 22 vom 08./09./10.05.2009, S. 41: Aber das ist mitnichten ein Grund zur Selbstzufriedenheit und schon gar nicht Veranlassung, den Masteralarm auszuschalten. Auch auf die Aufarbeitung der Ursachen, die zu dem Worldwide Economic Disas-
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Denn der deutsche Export umfasst mehr als die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes.18 Mit den unzureichenden Gegenmaßnahmen aus der antiquierten Wirtschaftstheorie19 oder von Teilen der Bundesregierung sowie zahlreichen Konferenzen und Summits20 wollen unsere Berufspolitiker als die selbst ernannten „Gralshüter der Marktwirtschaft“ das Worldwide Economic Disaster bekämpfen21 – und programmieren statt dessen mit den hastig beschlossenen und unüberlegten Maßnahmen bereits den künftigen endgültigen GAU der globalen Volkswirtschaft:22 nämlich für Deutschland die „Bundesschatz-
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ter geführt hatten und die zu einem gerüttelt Maß in der deutschen Innenwirtschaftspolitik begründet liegen, kann nicht verzichtet werden. Deshalb muss der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zu der sogenannten „HRE-Affäre“, nämlich der Vernichtung von Staats- und Volksvermögen in dreistelliger Milliarden-Euro-Größenordnung durch deutsche Spitzenpolitiker, zur Sachaufklärung führen. Für den Erhalt der deutschen Demokratie ist dies unverzichtbar; dazu mehr unten. Von den Nervenanspannungen, die die Führungskräfte unserer Export-Mittelstandsfirmen aushalten müssen („kommen Sie ja nicht ohne unterschriebenen Auftrag nach Hause, sonst können wir hier dicht machen“) machen sich Landesbankdirektoren und Spitzenpolitiker kein Bild. In Deutschland sind es (2008) 50,9 %; in China 36,3 %, in Großbritannien 27,5 %, in Japan 17,4 % und in den USA 13,0 %; vgl. Fischer, Malte, Weniger exportieren, Nein danke! in: Wirtschaftswoche Nr. 22 vom 25.05.2009, S. 40. Vgl. Eckert, Daniel/Zschäpitz, Holger, Auf die Anleger rollt ein Schulden-Tsunami zu, in: Welt am Sonntag Nr. 2 vom 11.01.2009, S. 40. Danach werden die USA Bankgarantien von 6,392 Billionen Euro gewähren und Konjunkturprogramme von 565 Milliarden Euro starten; in Großbritannien sind es staatliche Liquiditätshilfen von 1,731 Billionen Euro in Bankgarantien und Konjunkturprogramme von 25 Milliarden Euro. Deutschland gewährt für 1,889 Billionen Euro Bankgarantien und 81 bis 84 Milliarden Euro Konjunkturprogramme (inzwischen auf 100 bzw. 115 Milliarden Euro aufgestockt und mit dem Arbeitstitel „Wirtschaftsfonds Deutschland“ versehen – die Verteilung erfolgt über die KfW). In Frankreich sind es 1,33 Billionen Euro Bankgarantien und 19 Milliarden Euro Unterstützung für die Realwirtschaft. Spanien bringt Bankgarantien für 741 Milliarden Euro und 38 Milliarden Euro für die Realwirtschaft auf. Italien gewährt für 937 Milliarden Euro Bankkredite und 80 Milliarden Euro für Konjunkturprogramme. Insgesamt sind dies weltweit ca. 13 Billionen Euro für Bankgarantien und für 1,236 Billionen Euro Wirtschaftshilfen für die Realwirtschaft. Wann allerdings ein erster Belastungstest durchgeführt werden soll und wie dieser erfolgen müsste, ist bis heute fraglich. Dazu George Soros (Großinvestor und Multimilliardär): „Es ist ihnen (gemeint sind die Regierungschefs) tatsächlich gelungen, ein paar Hasen aus dem Hut zu zaubern“, vgl. Wirtschaftswoche Nr. 16 vom 11.04.2009, S. 122, als Kommentar zum Londoner G-20-Gipfel Anfang April 2009. Manche rühmen sich sogar, alles vorausgesehen zu haben, wie z. B. IG-Metall-Chef Berthold Huber im Interview mit der Stuttgarter Zeitung (vom 06.04.2009). Doch von einer Voraussicht kann keine Rede sein. Die Überkapazitäten in der Automobilindustrie und die mangelnden Anstrengungen für das Elektro-Auto lassen keinen Zweifel an der Feststellung, dass es keine Weitsicht und keinen Durchblick auf Seiten der Gewerkschaften gab. Bevor die „Kernschmelze“ der Finanzwirtschaft zu einer Great Depression analog 1929-1932 der Realwirtschaft führt, soll mit klassischen Konjunkturprogrammen gegengelenkt werden. So soll ein „Pakt für Deutschland“ unter Führung der Bundeskanzlerin gebildet werden – etwa
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briefkatastrophe“,23 die nach der Finanzkatastrophe vom Oktober 2008 eintreten kann und eintreten wird24, vielleicht mit einer weiteren Verzögerung von einem oder zwei Jahren, aber doch unabwendbar.25 14
2. Denn der Staatsinterventionismus führt zu einer Potenzierung der Staats-
verschuldung und dies wird für Deutschland bei einer typischen Überschuldungslage enden, wenn nicht die Gegenmaßnahmen gemäß dem hier vorgeschlagenen Masterplan effizient eingeleitet werden.26 Es sei denn, dass ein wirklicher „Pakt für Deutschland“ entsteht und die deutsche Wirtschaftspolitik ab sofort alles richtig macht. Sonst droht uns schon, wo das erste Worldwide Economic Disaster noch nicht überwunden ist, zusätzlich der nächste Zusam-
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nach dem Vorbild der früheren konzertierten Aktionen. Aber dieser Ansatz ist viel zu kurz: Es wird nicht mehr ausreichen, die Gewerkschaften auf geringe oder keine Lohnzuwächse einschwören zu wollen, denn die Weltwirtschaftskatastrophe ist nicht Ausdruck eines Verteilungskampfes zwischen Kapital und Arbeit, schon gar nicht in dem Sinne, dass Lohneinsparungen bei den heute vorliegenden Stückgutkosten Besserung oder Linderung verheißen könnten. Denn die Krise findet auch in Ländern statt, die über besonders niedrige Lohnkosten verfügen und auch in Branchen, die überhaupt nicht von Fertigungs-StücklohnkostenFaktoren abhängig sind. Im Übrigen findet zwischen der Regierung und den Verbänden und Ministerien schon lange der Austausch von Informationen über Netzwerke statt – der „Pakt“ soll Solidarität einfordern – aber zu was? Der Begriff „Pakt für Deutschland“ hat somit, wie früher auch, vor allem psychologische Bedeutung: Er soll Stärke durch Einigkeit suggerieren und kann echtes effizientes Handeln nicht ersetzen. Dass Anleihen von Industriekonzernen wegen steigender Insolvenzgefahr in wenigen Monaten drastisch herabgestuft worden sind, ist ein böses Omen für den Schatzbriefmarkt mit Staatsanleihen. „20 Prozent auf alles“, Wirtschaftswoche Nr. 19 vom 04.05.2009, S. 117. Bundesschatzbriefe verkörpern den Wert der künftigen Steuereinnahmen – deshalb ist die dringend erforderliche Absenkung aller Steuern kurzfristig faktisch unmöglich, ohne das Ranking zu beeinträchtigen. Sinken die künftigen Steuereinnahmen schnell, würde die Bundesrepublik Deutschland möglicherweise zahlungsunfähig. Doch auch dann, wenn die Steuersätze auf dem hohen Niveau beibehalten werden, ist das Ranking bei einer Rezession, die automatisch zu niedrigeren Steuereinnahmen führt, in Gefahr. Vgl. dazu Kremer, Dennis, EUWeia! in: Capital 05/2009, S. 120 f.: Danach haben die Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit mehrerer EU-Staaten drastisch herabgestuft. Kremer fragt provokativ: Wird der Pleitegeier das europäische Wappentier? Vgl. Gersemann, Olaf, Nie war Ackermann so wertvoll wie heute, in: Welt am Sonntag Nr. 23 vom 07.06.2009, S. 11: Nur Unternehmerpersönlichkeiten wie Ackermann können danach den schädlichen Staatsinterventionismus zurückdrängen. In beiden Aspekten ist Gersemann zuzustimmen: Das Umverteilungsprinzip und der Staatsinterventionismus sind die größten Gefahren des deutschen Wohlstandes. Vgl. dazu auch: Kaiser, Tobias/Wisdorff, Flora, Umverteilung mit wenig Sinn und Verstand, in: Welt am Sonntag Nr. 23 vom 07.06.2009, S. 25. Was das Ranking unter den Wohlfahrts- und Umverteilungsstaaten betrifft, steht Deutschland auf Platz 3 in der Welt: 30,8 % des Bruttosozialproduktes sind Nettosozialleistungen. Frankreich steht mit 32,2 % auf Platz 1, Schweden mit 30,9 % auf Platz 2. Auch die anderen westlichen Industrienationen leiden an dieser Umverteilung: Die USA mit 27,0 %, Japan mit 22,2 %. Zahlen und Daten bei Kaiser/Wisdorff, a. a. O.; Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft, Köln.
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menbruch des Casinobankenkapitalismus.27 „Deutschland war auch Weltmeister in riskanten Bankgeschäften. Nirgendwo auf der Welt, auch nicht in Amerika, haben sich Banken mit größerer Bereitschaft in unkalkulierbare Risiken gestürzt, allen voran die Landesbanken.“28 Aber die gesetzlichen Voraussetzungen für das Spekulieren mit Steuerzahlergeld sind massiv verbessert worden, die Rechtspositionen der Hasardeure wurden deutlich gestärkt und die letzten rechtlichen Haftungen verwässert oder ganz abgeschafft, d. h. die letzten psychologischen Hemmschwellen gegen die globale Spielsucht sind endgültig abgebaut worden.29 Die Versprechungen, unmittelbar nach dem Erlass des Finanzmarkt-Stabilisierungsgesetzes und dem Aufspannen des Bankenrettungsschirms für eine messerscharfe Finanzmarktaufsicht zu sorgen, hat die Bundesregierung – es war nichts Besseres zu erwarten – nicht erfüllt. Was aber unbedingt erforderlich wird, ist ein „Zock-Stopp“ für Banken und eine Banken-Schufa, die die Kreditwürdigkeit von Bankinstituten genau so ermittelt, wie dies für Unternehmen und Private gilt. Mit Sicherheit bedarf es auch einer staatlichen Ratingagentur, die auf nationaler oder auf EU-Ebene installiert werden muss. Auch dort müssen Sanierungsexperten die Leitung, Führung und Kontrolle übernehmen.
27 Denn entgegen allen falschen Bekundungen hat die Bundesregierung das Casino nicht geschlossen – im Gegenteil: Die Vertreter des Investmentbanking haben die Zeit der Verwirrung genutzt, um sich noch besser „aufzustellen“: Jetzt verfügen sie über Staatsgarantien für den nächsten Fall der „Kernschmelze“ des Wettsystems. Alle Erkenntnisse über die Fehler der Vergangenheit haben nichts genutzt: Die deutsche Bundesregierung: erpresst, gelenkt, beeinflusst und unfrei, um die Lebensinteressen des Volkes zu schützen. 28 EU-Industrie-Kommissar Günter Verheugen über den deutschen Casino-Kapitalismus. Was die Landesbanken betrifft, will die Bundesregierung die Institute schrumpfen; vgl. „Jeder Euro zählt“, in: managermagazin Nr. 6/2009 (39. Jg.), S. 24: Die Sparkassenorganisation weigert sich, für die Altlasten der Landesbanken einzustehen. Die Problemlösung bei den Landesbanken – zur Dimension der Vermögensschäden noch mehr unten – wird damit zu einer Machtfrage: Der Bund will die sogenannten „nicht strategischen Geschäftsbereiche“ in einer öffentlichen Anstalt zusammenfassen; die Länder wollen die Landesbanken selbst sanieren, ohne das Kapital dafür aufzubringen. Die Sparkassen sind der Auffassung, dass der Bund die finanziellen Lasten tragen muss. 29 Unabhängige Wirtschaftsjournalisten sprechen von der Rückkehr der Boni-Banker; vgl. die Titelgeschichte der Wirtschaftswoche Nr. 22 vom 22.05.2009: „und der Wahnsinn geht weiter.“ – S. 46 ff. „Nächste Party“. Hat die Branche aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt? Nein. Der ehemalige Londoner Staranalyst Geraint Anderson: „Auf gar keinen Fall.“ Vgl. Katzensteiner, Thomas/Welp, Cornelius/Esterhazy, Yvonne/Henry, Andrea, a. a. O., S. 49. Nichts dazugelernt, sondern weiterhin notorisch beratungsresistent: Die Große Koalition und das Bundesfinanzministerium.
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B. Die Bail-Outs von Barack Obama und der Bad-Bank-Plan der Bundesregierung führen die amerikanische und die deutsche Nation in den Staatsbankrott
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1. Niemand hat die Folgen aus der Gründung von Bad Banks bis zu Ende
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durchdacht: Wer soll in einem halben Jahr und dann für die nächsten fünf, acht oder zehn Jahre die Bundesschatzbriefe und die Staatsobligationen der ebenso emissionsfreudigen anderen Notenbanken abnehmen, die zur Gegenfinanzierung der Rettungsschirme ausgegeben und auf dem globalen Anleihemarkt verkauft und abgesetzt werden müssen, gerade dann, wenn weltweit zu allem Überfluss auch noch die meisten Konzerne zu deren Finanzierung ähnliche Papiere, nämlich Unternehmensanleihen, parallel auf den Markt werfen werden, und zwar in einer bis dahin nicht gekannten Höhe?30 Wer ist noch in der Lage, den Hauptausschalter zu betätigen, um diesen Selbstzerstörungsmechanismus der Staats- und Unternehmensfinanzierung zu stoppen?31 Regierungen und Notenbanken überbieten sich gegenseitig mit Superlativen von Rettungsschirmen und Bail-Outs.32 Den Spitzenplatz unter den subventio30 Wie hoch diese Summen sein werden, kann gegenwärtig noch niemand abschließend berechnen, zumal nicht feststeht, ob, und wenn ja, in welcher Höhe, die Bundesregierung aus Bankgarantien, die sie zur Stabilisierung des sogenannten „Interbankhandels“ abgegeben hat und auch künftig noch abgeben wird, in Anspruch genommen wird. Von den ca. 400 Milliarden Euro Garantien sollen angeblich 118 Milliarden Euro schon vergeben sein. Bei einer Nettoneuverschuldung des Bundes 2009 von jetzt geplanten 45 bis 50 Milliarden Euro und einer für 2010 erwarteten nochmaligen Rekordverschuldung von dann vielleicht realistischen 290 Milliarden Euro sowie aus der Gegenfinanzierung des sogenannten Konjunkturprogramms II ist mit einer dreistelligen Milliarden-Euro-Summe zu rechnen. Kritiker sprechen von einer Nettoneuverschuldung von 350 Milliarden Euro und sogar von einem Durchbrechen der 400-Milliarden-Euro-Grenze. Diese Situation wird noch vollends durch das Wegbrechen der Steuereinnahmen verschärft. 31 Für das Risiko aus den Staatsgarantien – vorerst 400 Milliarden Euro – werden angeblich (bestätigte Zahlen fehlen) gerade einmal 3,2 Milliarden Euro als Deckungsreserve in den Bundeshaushalt eingestellt (Grund: die kameralistische Buchführung). „Das ist ein Wahnsystem“, Interview mit Werner Marnette (CDU), geführt von Balzli, Beat/Hammerstein, Konstantin von/Latsch, Gunther, in: Der Spiegel, siehe FN 32. Wie das alles noch ausgehen mag, beantwortet selbst der forsche Bundesfinanzminister Peer Steinbrück in TV-Interviews inzwischen mit: „Ich weiß es nicht“. 32 Man spricht inzwischen geradezu von einem „Wettlauf um Wohltaten“, vgl. Kullmann, Kerstin u. a. in: Der Spiegel vom 11.04.2009, S. 20. Zu der Lage in den USA: Eckert, Daniel/Zschäpitz, Holger: Timothy Geithner präsentiert einen intelligenten „Billionenplan“ mit eingebautem Systemfehler, in: Die Welt am Sonntag Nr. 13 vom 29.03.2009, S. 28 und „US-Regierung verordnet weitere Billion als Gegengift“, in: Die Welt vom 24.03.2009, S. 9. Inzwischen beansprucht USPräsident Obama die Leadership bei einer weltweiten Bankenreform zur Stärkung der internationalen Bankenaufsicht. Vgl. http://Focus.de/finanzen/news/banken-obama-will-vorreiterrolle-bei-finanzreform_aid_
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nierten Unternehmen nimmt gerade derjenige Konzern ein, der nach Auffassung vieler Experten einer der wichtigsten Mitverursacher, ja sogar der Hauptverursacher des Wirtschafts- und Finanzzusammenbruchs war: 182 Milliarden US-Dollar haben die USA der AIG (American International Group) an Staatshilfen zur Verfügung gestellt. Mit diesem Kapital wurde die AIG, einer der weltgrößten Versicherungskonzerne, zu ca. 80 % verstaatlicht. Der Konzern war auf die Versicherung von Kreditrisiken spezialisiert. Für das Verständnis des Worldwide Economic Disaster ist das Geschäftsfeld der AIG symptomatisch. Die Ausfallrisiken der versicherten Kredite beliefen sich schließlich auf 562 Milliarden US-Dollar33. Heute wirken die Altlasten aus der Rettung der AIG durch den US-amerikanischen Staat für dessen Finanzwirtschaft wie eine Fußfessel. Wie die internationale Verbreitung des Insolvenzvirus funktionierte, kann an dem Beispiel der AIG demonstriert werden: Die AIG war deshalb erfolgreich in der Vermarktung und dem Vertrieb wertloser Kredit- und Versicherungsverbriefungen, weil gerade deutsche Banken, insbesondere die 409027.html vom 17.06.2009. Die USA wollen das größte Reformwerk zur Stärkung der Kontrolle der internationalen Finanzmärkte seit 70 Jahren auf den Weg bringen. National soll die US-Bundesregierung mit einem Übernahme- und Enteignungsrecht ausgerüstet werden – insbesondere bei Finanzunternehmen, die insolvenzbedroht sind. Die EU und Deutschland sind aber von dem Anspruch der USA auf die Führungsrolle nicht überzeugt. Denn die USA sind die Hauptverursacherin der Finanzkrise. Deutschland plant dagegen ein Gesetz zur Regelung der Bad Banks, dessen zentraler Bestandteil eine zwanzigjährige Staatsgarantie sein soll. Das von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück propagierte Gesetz soll die letzte Verantwortung für die finanziellen Schäden bei den Banken belassen. Es ist aber alles andere als sicher, dass die Risiken wirklich von den Bankinstituten oder deren Eigentümern oder Inhabern getragen werden. 33 Balzli, Beat/Brinkbäumer, Klaus/Fichtner, Ullrich/Goos, Hauke/Hüetlin, Thomas/Pauly, Christoph, Im Hauptquartier der Gier, in: Der Spiegel Nr. 29 vom 13.07.2009, S. 42, 44 f. Die AIG soll geordnet abgewickelt werden; ihre Rettung galt als unverzichtbar, weil eine Insolvenz der AIG sonst die Weltwirtschaft „in den Abgrund gerissen“ hätte. Der Fall der AIG ist ein Paradebeispiel dafür, zu welchen absurden Ergebnissen die sogenannte „virtuelle Geldwertschöpfung“ führen kann: In den 1990er Jahren lag der Börsenwert der AIG im einstelligen Milliarden-US-Dollar-Bereich. Dann begann ein unaufhaltsamer und rasanter Aufstieg des Börsenwertes. Der Kurs „schoss durch die Decke“, so dass am 08.12.2000 das Unternehmen 240 Milliarden US-Dollar wert war. Am 10.07.2009 lag der Wert bei 1,3 Milliarden US-Dollar, zzgl. der jetzt im Staatsbesitz befindlichen Aktien von 5,3 Milliarden US-Dollar. Das Geschäftsmodell der Subprime-Kreditverbriefungen und der Schattenbanksysteme gründeten auf Wahn, und die AIG wollte den Wahn auch noch versichern. Lange Zeit galt „AIG“ als Gütesiegel für geprüfte Finanz- und Versicherungsprodukte. Heute häufen sich die Vorwürfe: Vgl. Balzli u. a. a. a. O.: „Ein kleiner Kreis von Männern machte Geschäfte, die kein Computer der Welt verstand“; Schmiergeldaffären, fiktive Deals, gefälschte Bilanzen – die Ermittlung gleicht einer Autopsie (S. 46/47). Schlagzeilenmässig fasst Der Spiegel a. a. O. das Fazit als Titelgeschichte wie folgt zusammen: Die gefährlichste Firma der Welt – AIG – Wie ein Versicherungskonzern zum größten Risiko für die Weltwirtschaft wurde (S. 1).
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deutschen Genossenschaftsbanken, in dem großen Kreditverwertungsgeschäft mitspielen und mitverdienen wollten34. Keinem der deutschen Bankvorstände schien aufzufallen, dass viele dieser Geschäfte nicht nur virtuell, sondern auch virtuelle Veranstaltungen sind. Zweckgesellschaften und zwischengeschaltete Firmen ohne Büros, ohne Maschinen, ohne Mitarbeiter, also das, was man typischerweise als Postkastenfirma bezeichnet. Ähnlich groß wie in Deutschland ist die Wut der US-amerikanischen Steuerzahler: „Jail, not bail“35 . 18
2. Auch der erstaunte Bundesbürger fragt sich, woher bei seiner Bundesre-
gierung die dafür erforderlichen Geldsummen in Euro-Billionenhöhe eigentlich kommen sollen. Diese Heilslehren, die Regierungsvertreter in den letzten Monaten verkündeten, müssen jedem, der auch nur über etwas Basiswissen in den Wirtschaftswissenschaften und über einen Funken kaufmännischen Verstandes verfügt, und jedem Demokraten, dem es Ernst ist um die Verteidigung der Demokratie, das Blut in den Adern gefrieren lassen. Da sollen sogenannte „Bad Banks“ gegründet werden, die ausgegliederte „Giftpapiere“ in Billionenhöhe übernehmen werden36. Statt einer Bad Bank soll sogar eine Vielzahl von Bad Banks eingerichtet werden, so dass eine einheitliche Leitung und Kontrolle wieder einmal von vornherein unmöglich gemacht wird und in der Bürokratie erneut eine große Anzahl hoch dotierter, aber volkswirtschaftlich betrachtet, unproduktiver Arbeitsplätze entstehen dürfte.37 Doch kann es überhaupt 34 Balzli u. a. in: Der Spiegel 29/2009, S. 52: So kaufte z. B. die DZ Bank bei der AIG sogenannte CDOs für 1,3 Milliarden Euro für ihren irischen Ableger Coral Purchasing. CDOs sind Steigerung der CDS: Es werden eine Vielzahl von Kreditverbriefungen zusammengefasst, wodurch sich der Gewinn für die AIG potenzierte, aber auch das Ausfallrisiko für den Käufer. Das AIGVersicherungszertifikat wurde als „bombensicher“ qualifiziert, in der Fachsprache der Bankvorstände: angeblich ein „Rundum-Sorglos-Paket“. Die Rendite für die DZ-Bank-Anleger: gerade noch messbare 0,3 %, abzüglich der Versicherungsprämie für die AIG: Also tendierend gegen 0,1 % Rendite bei 100 % Verlustrisiko. Um das System am Laufen zu halten, wurden immer größere Vertragssummen erforderlich, Verträge mit tausenden Seiten und Laufzeiten bis in das Jahr 2080. Das Ende des Verbriefungswahns: Im IV. Quartal 2008 erwirtschaftete die AIG einen Rekordverlust von 61,7 Milliarden US-Dollar. 35 Frei übersetzt: Klagt sie vor Gericht an, statt sie herauszukaufen. Die Wut hat eine reale Ursache: Den AIG-Managern war es gelungen, aus amerikanischen Staatsbürgern Geiseln zu machen, vgl. Balzli u. a., a. a. O., S. 57 f. 36 Vgl. Sigmund, Thomas, Bund plant staatliche Kreditsicherung – privates Geschäft um 23 Milliarden Euro eingebrochen, in: Handelsblatt Nr. 74 vom 17/.18.19.04.2009, S. 4. Steinbrück verlangt hohe Gebühr für Absicherung von faulen Papieren. Vgl. Afhüppe, Sven/Riedel, Donata/ Andreas Rinke, in: Handelsblatt Nr. 74 vom 17./18./19.04.2009, S. 3. 37 Hoffentlich nicht für die bei den Geschäftsbanken inzwischen abgehalfterten Investmentbanker und ihre Aufsichtsräte oder die entlassenen Landesbankdirektoren, die auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz sind, um mit einem „weiter so wie bisher“ schon bald an den Katastrophenszenarien der Zukunft zu arbeiten.
ERSTES KAPITEL
die Aufgabe des Staates sein, ein Banken- und Versicherungssystem zu reanimieren, das – wirtschaftlich betrachtet – seine volkswirtschaftlichen Funktionen der Kreditversorgung und der Treuhandverwaltung von Vermögen für Unternehmen und Bürger weitestgehend nicht mehr erfüllt oder nicht mehr ernst nimmt? Dass die Banken die Funktion der Kreditversorgung gegenwärtig nicht nur mangelhaft erfüllen, sondern eine für die Industrieunternehmen gefährliche „Kreditklemme“ zu verantworten haben,38 zwingt die Bundesregierung zum Handeln.39 Kommt aber eine Reanimierung40 der Finanzwirtschaft überhaupt in Betracht, die noch mehr als die Automobilindustrie unter Überkapazitäten leidet? Warum sollen oder müssen Banken überhaupt in solchem
38 „Auch ifo-Institut besorgt“. Danach klagen insbesondere die Unternehmen der Elektrotechnik und Elektronik über die Zurückhaltung der Banken bei der Kreditvergabe. Aber das Problem betrifft nicht nur einzelne Sparten. Die Bundesregierung und das Bundesfinanzministerium haben erkennen müssen, dass die Banken die finanziellen Mittel des Staates aus dem Rettungsschirm der SoFFin in erster Linie dazu nutzen, zu eigene Bilanzschieflagen auszugleichen und das vom Staat bereitgestellte Kapital als Reserve für neue Finanzmarktgeschäfte zurückzuhalten, statt dieses Kapital als Darlehen für Unternehmen in den Geldkreislauf einzuspeisen. Die Banken verwenden, wie auch ifo-Präsident Hans-Werner Sinn konstatiert, das Geld aus dem staatlichen Rettungsschirm dazu, ihr Bilanzvolumen dem geschrumpften Eigenkapital anzupassen. Die Banken schrumpfen sich gesund, aber dabei geht die Wirtschaft vielleicht kaputt, so lautet die vorsichtig formulierte Prognose des ifo-Präsidenten. Dieser Schrumpfungsprozess bis hin zum Absterben wichtiger Industriezweige ist aber bereits in vollem Gange. 39 Zu drastischen Methoden greift Russlands Ministerpräsident Putin: Russlands Bankchefs wurden einer Urlaubssperre unterworfen: Kein Urlaub ohne Kreditvergabe an die russische Wirtschaft; vgl. Russian News & Information Agency NOVOSTI, http://de.rian.ru/ business/20090630/122167491-print.html 40 Wiebe, Frank, in: Handelsblatt Nr. 58 vom 24.03.2009, S. 9, will den Kapitalismus neu definieren, um zu einer Reanimierung des Bankensystems zu gelangen, aber schon diese Zielvorgabe ist problematisch. Der Staat darf schlecht wirtschaftenden Banken nicht helfen, er kann nur die „guten“ Banken unterstützen, die ihre wirtschaftspolitische Aufgabenstellung der Kreditversorgung der Betriebe und Unternehmen ernst nehmen und die Funktion der Treuhandverwaltung von Vermögen für das Volk und die Betriebe sorgfältig erfüllen. Deshalb kommt eine Unterstützung von Banken, die das Kredit- und Spareinlagengeschäft früher für wenig einträglich erklärt bzw. wegrationalisiert und sich bewusst ausschließlich für das Börsengeschäft, den Eigenhandel und für das Investmentbanking entschieden hatten, nicht in Betracht. Der Staat kann nicht zum Finanzier von High rollern werden. Vorrangig müssen wieder klare Leitlinien für das Bankgeschäft gelten: Wer mit Kundeneinlagen wie Hedge-Fonds agieren will, muss von jeder Staatshilfe ausgeschlossen werden. Auch in den USA wird erwogen, die folgenden alt bewährten Grundsätze anzuwenden: (1) Zurück zum „Narrow Banking“; (2) Deckungsstock-Prinzip bei den Versicherungen; (3) Fire-Wall-System zwischen Investmentbanking und Geschäftsbanken-Sparte; (4) Trennbankensystem; (5) Allbankensystem nur im geprüften Ausnahmefall und (6) keine Quersubventionierung in den Zinsen.
43
44
ERSTES KAPITEL
Umfange gerettet werden? Werden die durch die SoFFin41 und durch das „BadBank-Gesetz“ geretteten Banken und ihre Vorstände es dem Staat danken? Wohl eher kaum: Mit ihrer zögerlichen Kreditvergabe haben die Banken den Zorn des Bundesfinanzministers Peer Steinbrück auf sich gezogen. Er droht den kreditvergabeunwilligen Banken mit „noch nie da gewesenen Maßnahmen“, und der Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor von und zu Guttenberg bezeichnet das Verhalten der Banken für „unzumutbar“.42 Eine Reihe weiterer wichtiger Argumente spricht gegen die Rettung des gesamten Banksystems und aller seiner Mitglieder.
41 Die SoFFin besteht aus dem Leitungsausschuss und dem Lenkungsausschuss. Außerdem gibt es ein Kontrollgremium im Deutschen Bundestag. Die Strukturen der SoFFin sind ein Spiegelbild der politischen Macht und ihrer Verteilung in der Großen Koalition. 42 „Kreditklemme: Regierung droht Banken“. Gehen gesunde Unternehmen insolvent und werden Arbeitsplätze vernichtet, weil unfähige Bankvorstände das vom Staat zur Verfügung gestellte Kapital horten? SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier wollte ebenfalls über „weitere Schritte nachdenken“, wenn die Banken die Kreditversorgung der Wirtschaft nicht rasch sicherstellen – ein Nachdenken ohne Ergebnis. Was das heißt? Entweder werden gesetzlich Zwangskredite eingeführt oder aber die Bundesbank und die KfW vergeben Direktkredite an die Wirtschaft. In beiden Fällen würde das Banksystem in seiner heutigen Ausprägung und Gestaltung bald überflüssig. Zu dem Horten von Geld und Kapital vgl. auch Balzli, Beat/ Mahler, Armin/Reuter, Wolfgang, Viel Geld, wenig Kapital, in: Der Spiegel Nr. 27 vom 29.06.2009, S. 56 f. „ Die Notenbanken reichen den Kreditinstituten Rekordsummen zu, doch die geben die Milliarden nicht weiter.“ Werden die staatlichen Notenbanken als Kapitalgeber, d. h. als Zahlmeister für einen „free lunch“ der Geschäftsbanken missbraucht? Diese Frage ist gegenwärtig eindeutig zu bejahen und zeigt das Abhängigkeitsverhältnis, in der sich die Politik gegenüber dem Bankensystem befindet.
ERSTES KAPITEL
45
DAS KAPITAL - Stukturen des Finanzmarktstabilisierungsfonds (Soffin)
Bundesministerium der Finanzen
Finanzminister Peer Steinbrück
beaufsichtigt in Koordination mit der Bundesbank
informiert
Kontrollgremium zum
Soffin
Soffin im Bundestag
Sonderfonds-Finanzmarktstabilisierung Kapital 480 Milliarden Euro
MITGLIEDER
Leitungsausschuss
>
CDU/CSU Leo Dautzenberg Jochen-Konrad Fromme Albert Rupprecht (CSU)
> Hannes
Lenkungsausschuss
>
>
SPD Hans-Ulrich Krüger Carsten Schneider Ludwig Stiegler FPD Florian Toncar
> Gerhard
Stratthaus Pleister
Brigitte Zypries > Für die Länder
Kurt Biedenkopf >
Beteiligung Commerzbank
25,1%
> Für das Kanzleramt
Angela Merkel vertreten durch Jens Weidmann > Für das Wirtschaftsministerium
Michael Glos
> geplante
Beteiligung Hypo Real Estate
Linke Roland Claus Grüne Alexander Bonde
vertreten durch Axel Nawrath > Für das Justizministerium
vertreten durch Lutz Diwell
> 50% >
>
Peer Steinbrück
Rehm
> Christopher >
> Für das Finanzministerium
Garantien in Mrd. Euro Hypo Real Estate 80 Commerzbank 15,2 HSH Nordbank 30 IKB 5 Bayern LB 15
vertreten durch Walther Otremba > beratend
Axel Weber Bundesbank-Präsident bringt Entscheidungsvorschläge ein
Stand: Januar 2009; Foto: iStockphoto; Grafik: sueddeutsche.de
Abbildung 4: Wer Deutschland wirklich regiert: Strukturen des Finanzmarktstabilisierungsfonds (SoFFin). | Quelle: Süddeutsche.de (SDE).
19
Die BaFin43 spricht in unbestätigten Meldungen von weiteren noch schlummernden „Giftpapieren“ in deutschen Banken – Größenordnung angeblich: 816 Milliarden Euro.44 Allein bei den deutschen Landesbanken könnten es 355
20
43 Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht mit dem Sitz in Bonn. 44 Da die Milliardenverluste der deutschen Landesbanken in „toxischen Papieren“ außerordentlich karriereschädlich sein können, verstecken viele Landespolitiker, die in der Verantwortung für die Finanzen der Landesbanken stehen, die „Giftpapiere“ in Treuhandgesellschaften im Ausland, auch in Steueroasen. Vgl. dazu auch Dunkel, Monika/Müller, Leo, Landespolitiker verstecken Giftpapiere, in: Capital 06/2009, S. 16. Die Bad Banks der WestLB und der SachsenLB haben ihre Treuhänder in Dublin/Irland. Die Gesellschaften heißen: Sealink Funding Limited = Treuhänder der SachsenLB mit Geschäften im Buchwert von 17,3 Milliarden Euro. Bei der WestLB ist es die Phoenix Light SF Limited mit Geschäften im Buchwert von 23 Milliarden Euro. Wenn diese Buchwerte auf Euro NULL wertberichtigt werden müssen, ent-
ERSTES KAPITEL
46
Milliarden Euro „fragwürdiger“ Anleihen sein, davon „toxisch“: 180 Milliarden Euro,45 weshalb die politische Forderung nach einer „Holding für die deutschen Landesbanken“ unter Leitung des deutschen Bundesfinanzministers aufgeworfen worden ist. Die für die Bankenrettung erforderlichen Summen werden immer größer und überschreiten die Leistungsfähigkeit des deutschen Staates und der EZB.46 Die nächste Hiobsbotschaft: Bei der Hypo Real Estate sollte der Liquiditätsbedarf zum Ausgleich von Verlusten erst 2 dann 5 dann 30 und zum Schluss 102 Milliarden Euro betragen.47 Andere Banken sollen die Staaten als „Zombie“-Banken künstlich am Leben halten, indem sie sich daran beteiligen, und Garantien für „toxische Wertpapiere“ herauslegen, wieder in EuroBillionenhöhe: Für den Steuerzahler bedeutet dies eine Belastung für mehrere Jahrzehnte.48 Tatsache ist: Die Mehrzahl der deutschen Banken steht auch nach dem Aufspannen von Rettungsschirmen vor dem Aus.49 Die Bundesregierung will das in kollusivem Zusammenwirken mit diesen Banken vor der deutschen Öffentlichkeit geheim halten. Als die streng vertrauliche Aufstellung der BaFin mit den Informationen über die toxischen Papiere aufgrund eines „Datenlecks“ an die Öffentlichkeit gelangte, reagierte der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück gereizt: „Nicht witzig“, lautete sein Kommentar. Dass die Öffentlichkeit einen Anspruch auf Information und Transparenz hat, kümmert Peer Steinbrück wenig. Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz, auf das noch im Detail einzugehen sein wird, macht ihn bis zum 27.09.2009 zum „König von Deutschland“ – und Könige legten selten Wert darauf, ihren Unter-
45
46
47 48
49
spricht das Buchwertvolumen dem zu Lasten des deutschen Steuerzahlers verursachten Schaden. Treuhänder ist der Wilmington-Trust, der auf das Offshore-Geschäft in Sachen „Tax Holidays“ (Ferien von der Steuerlast) spezialisiert ist. Jetzt gehören nicht nur private internationale Kapitalgeber zu dem Kundenkreis, sondern auch deutsche Landesregierungen. Vgl. Der Spiegel Nr. 18 von 27.04.2009, S. 19: „Finanzkrise – Eine Holding für die Landesbanken“ und Nr. 15 vom 06.04.2009, S. 49, „Löcher über Löcher“: die SoFFin muss 30 Milliarden Euro Liquiditätsgarantien geben. Die EZB will sich an der Rettung der Bankensysteme der EU-Mitgliedstaaten beteiligen. Danach soll die EZB Wertpapiere im Nominalwert von 125 Milliarden Euro kaufen, um die Bilanzen der Banken zu entlasten; vgl. Fercher, Harald, in: Wirtschaftsblatt.at. Zu den Milliardenschäden im System der deutschen Landesbanken und im Geschäftsbankensystem mit vielen Details vgl. Dill, Alexander, Der große Raubzug (2009). Als Pragmatiker versucht sich Jean-Claude Juncker, luxemburgischer Premierminister: „Man kann Schulden nicht mit Schulden und Defizite nicht mit Defiziten bekämpfen. Irgendwann ist das Ende der Fahnenstange erreicht“. Ob seine EU-Kollegen das begriffen haben? Das muss leider bezweifelt werden. Denn die EU-Parlamentarier beschäftigen sich lieber mit der Rettung ihrer eigenen Zweitrente statt mit der Rettung der Weltwirtschaft: Vgl. Tillack, Hans Martin, Klage auf Luxus, in: Der Stern 21/2009, S. 38. Müller, Leo, Deutsche Banken vor dem Aus, in: Capital 03/2009, S. 152 f.
ERSTES KAPITEL
tanen die Wahrheit zu sagen. Typisch auch die Reaktion der BaFin: Es wurde Strafanzeige wegen „Datendiebstahls“ erstattet. Auf die Idee, wegen des hunderte von Milliarden Euro umfassenden Gesamtverlustes Strafanzeige wegen Untreue zu erstatten, ist weder der Bundesfinanzminister noch der BaFin-Präsident gekommen.50 Auch die Rede des BaFin-Präsidenten Jochen Sanio am 19.05.2009 in Bonn zur Jahrespressekonferenz verdeutlicht das Fortwirken der Schockstarre unserer alten Eliten und die Mechanik des unüberlegten Abspulens berufsoptimistischer Automatismen: Danach gebe der Wonnemonat Mai (2009) Anlass zur Hoffnung: „Mit verbesserten Aufsichtsstandards sollte es uns gelingen, die Märkte endgültig von ihren kollektiven Lähmungserscheinungen zu befreien.“51 Das wird bedauerlicherweise nicht ausreichen.52
50 Verlässliche Zahlen gibt es aufgrund der unterschiedlichen Meldungen und Dementis immer noch nicht. Nach den Daten aus diesem Bericht sollen bei der Commerzbank Wertpapiere und Kredite im Volumen von 101 Milliarden Euro von der Finanzkrise betroffen sein; davon 49 Milliarden Euro aus dem Bereich der übernommenen Dresdner Bank. Die betroffenen Banken allerdings dementieren: Sinngemäß erklären die Kreditinstitute, dass keine Kenntnis vorliegen würde, wer diese Zahlen zusammengestellt hat; die Zahlen sind nach Auffassung der Pressesprecher auch nicht nachvollziehbar. Was auf jeden Fall gelitten hat, ist das Vertrauen in das Funktionieren des Finanzmarktes. Dieses Vertrauen kann nur durch eine stringente Transparenz wieder hergestellt werden. Richtig ist die Aussage von Axel Weber, Präsident der Bundesbank: Mit den Zahlen darf nicht leichtfertig umgegangen werden. Das gilt aber auch für das Informationsinteresse der Allgemeinheit und des Steuerzahlers, der wenigstens wissen muss, wie hoch diese Verluste wirklich sind, die er bezahlen soll oder für die die Bundeskasse haftbar erklärt wird. Ob die sogenannten „nicht handelbaren“ Papiere, die ein Volumen von 175 Milliarden Euro aufweisen sollen und von den sogenannten „Giftpapieren“ im Wert von ca. 180 Milliarden Euro differenziert betrachtet werden, in ferner Zukunft wieder werthaltig werden, weiß niemand. 51 Aber auch Sanio musste einräumen: „Es passt ja auch viel besser zum Wonnemonat Mai, nach den ersten grünen Trieben der wirtschaftlichen Erholung, den ‚green shoots of economic recovery’, Ausschau zu halten … Das Grün ist offenbar so zart, dass es nur geübte Augen wahrnehmen. …‚ Ja, wo sprießen sie denn? ist man geneigt zu fragen. Hoffnung müsse man lernen, hat Ernst Bloch behauptet. Wenn wir seiner Anregung folgen, sollten wir uns aber auch auf die Folge-Lektion gefasst machen: die über enttäuschte Hoffnung. … Die gesamtwirtschaftlichen Daten sind so schlecht, dass man besser gar nicht über sie spricht.“ 52 Die Verkürzung der Gesamtproblematik auf das „fehlende Vertrauen der Märkte“ ist falsch. Wenn das die Hauptursache des Worldwide Economic Disaster wäre, würde sich deren Überwindung als reiner Fleißaufgabe von Marketingfachleuten darstellen, die ein paar Kampanien und road shows zu absolvieren hätten.
47
ERSTES KAPITEL
48
Abbildung 5: Flut des billigen Geldes. | Quelle: Der Spiegel 27/2009, S. 59 vom 29.06.2009.
22 21
C. Deutschland muss Katalysator des weltweiten Sanierungsprozesses werden
23
1. Deutsche Kreditinstitute mutieren zu „Zombie“-Banken. Sie verfügen ne-
ben dem Eigengeschäft über kein starkes zweites Standbein, etwa über ein Stammgeschäft mit Privat- und Geschäftskunden, 53 denn für diese Sparten waren sich viele Banken während des boomenden Investmentbanking-Geschäfts oft schon zu vornehm, weshalb diese Geschäftsfelder häufig sträflich vernachlässigt und mit Casinospielen kompensiert wurden. Diese wurden hochtrabend als „Investmentbanking“ bezeichnet. In Wahrheit waren es aber spekulative Handelsgeschäfte mit Wettcharakter, zum Beispiel mit synthetischen Finanzprodukten wie etwa mit Kreditversicherungen. Welche dieser Pläne schleunigst ad acta gelegt werden müssen, welche Banken der Staat „pleite gehen lassen muss“, damit nicht noch weiterer Schaden angerichtet wird: Im dritten Kapitel – fünfter Abschnitt – gilt es, auch die staatlichen Rettungsversuche zu betrachten, die die deutsche Banken- und Versicherungsbranche 53 Hierin liegt der Unterschied zu den Schweizer Banken, die zwar auch an dem Casinokapitalismus mitgewirkt hatten, aber über dieses zweite Standbein in der starken Treuhandverwaltung für Privatkunden verfügen.
ERSTES KAPITEL
49
vor der Masseninsolvenz bewahren sollen. Das Augenmerk wird dabei auch auf die „Bad Banks“ zu richten sein.
Abbildung 6: Die große Lüge. | Quelle: Handelsblatt GmbH, Wirtschaftswoche Nr. 29 vom 13.07.2009.
2. Berücksichtigt werden müssen dabei auch die aktuellen Schuldenstän-
de bei Bund, Ländern und Gemeinden. Deutschland ist von einem Netz von Schulden und Kreditsystemen überzogen. Der Schuldenturm Deutschlands hat heute die Höhe von 1,606 Billionen Euro erreicht. Würde man diese Summe in vier Säulen aus Hundert-Euro-Scheinen auftürmen, so würde dieser Turm 422 km in das Weltall hinaufreichen. Zum Vergleich: Das US-amerikanische Space-Shuttle operiert in 300 km Höhe.54 54 Vgl. auch Rickens, Christian/Schwarzer, Ursula, Die Zeitbombe tickt, in: managermagazin 5/2009, 39. Jg., S. 24. Danach beträgt die Gesamtbürgschaftssumme des Bundes wohl jetzt 869,56 Milliarden Euro. Vorsorge ist aber nur in Höhe von 2,4 Milliarden Euro getroffen wor-
24
50
25
ERSTES KAPITEL
Abbildung 7: Turmbau zu Berlin. Die Schulden wachsen schon lange nicht mehr in den Himmel, sondern in den Weltraum, in: Der Stern 20/2009, S. 23. | Quelle: Forsa Infografik.
den. Bundesfinanzminister Steinbrück rechnet im schlimmsten Falle mit Bürgschaftsinanspruchnahmen von nur 40 Milliarden Euro. Was passiert aber, wenn diese Schätzung falsch ist? Das Höchstrisiko hat der Bundesfinanzminister damit auf ca. 5 % geschätzt. Aber zwischen 5 % und 100 % ist noch viel Raum. Ein einziger Beurteilungsfehler in dieser Frage oder aber irgendein Missgeschick in der globalen Finanzwelt könnte die Apokalypse des Staatsbankrotts auslösen: Wenn Deutschland plötzlich vor die Aufgabe gestellt würde, außerplanmäßig sofort, d. h. innerhalb von drei Bankwerktagen z. B. 500 oder 800 Milliarden Euro zahlen zu müssen. Das wäre der Offenbarungseid für Deutschland. Bundesobligationen nicht mehr bei „AAA“, sondern bei „PK“: Papierkorb.
ERSTES KAPITEL
51
1. In dem sechsten Abschnitt des dritten Kapitels muss die Auseinander-
setzung mit der Frage erfolgen, worin die Zukunftsfähigkeit der deutschen Industrie und Nation als global technologic player56 liegt und welche Aufgabenstellungen sich für die Wirtschaftspolitik hieraus ergeben. Noch steht Deutschland mit einem Welthandelsanteil vom 20,4 % an Technologiegütern auf Rang 1 der Exporteurliste, gefolgt von den USA mit 13,2 % und Japan mit 10,7 %57. Doch der Kampf zwischen den Nationen um die Pole-Position in Sa55
55 Zu der Zukunftsfähigkeit des Technologiestandortes Deutschland vgl. den Zusammenfassenden Endbericht 2007 zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands des Bundesministeriums für Bildung und Forschung – Kurzfassung – (Autoren: Egeln, Jürgen/Gehrke, Birgit/ Legler, Harald/Licht, Georg/Rammer, Christian/Schmoch, Ulrich (2007). Die High-Tech-Strategie für Deutschland umfasst ein 6-Milliarden-Euro-Förderungsprogramm für Forschung und Entwicklung. Das ist Augenwischerei: Gemessen an den finanziellen Mitteln, die der Staat auf Kosten des Steuerzahlers für das Bad-Bank-Rettungssystem zum Schutz von Banken und Versicherungen vor der Zerschlagung und Insolvenz ausgibt, ist dies in einstelliger Prozentbetrag. Im Ringen mit den aufstrebenden Forschungsnationen China und Indien ist weitaus mehr erforderlich. Der Einzelhaushalt für Bildung, Forschung und Entwicklung muss zum größten Ressort-Einzelhaushalt des Bundes werden, weit vor dem Sozialhaushalt, dem Verteidigungshaushalt und dem Kostenblock der Subventionen für die sogenannte „Old economy“. Diese Umschichtung in der Ausgabenpolitik des Bundes muss mittel- und langfristig als Staatsziel definiert werden. 56 Vgl. Schulte, Heinz in Handelsblatt Nr. 73 vom 16.04.2009, S. 8: Ein interessanter Markt für deutsche Nischenspezialisten ist der Wachstumsmarkt für nicht militärische Sicherheitstechnik, der in 2008 20 Milliarden Euro Umsatz betrug. Deutsche Unternehmen sind hier Marktführer. Welche Förderprogramme der Bundesregierung gibt es für diese Industrie? Vielleicht Exportbürgschaften des Bundes oder Hermes-Bürgschaften für 20 Milliarden Euro pro Jahr? Wenn die „Rettung“ der Commerzbank dem Bund zwischen 14 und 18 Milliarden Euro wert ist? Was ist für Deutschland wichtiger: Die Behauptung einer Spitzenposition im Markt mit der Möglichkeit, Zukunftstechnologie zu entwickeln und damit Arbeitsplätze langfristig abzusichern, oder aber unter den hunderten insolventer oder insolvenzgefährdeter Banken weltweit eine weitere „Zombie“-Bank vor dem endgültigen Zusammenbruch zu bewahren? Es bedarf keiner so großer wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse, um beurteilen zu können, dass die Förderung von Industrieunternehmen, die sich ohne staatliche Unterstützung einen Platz auf einem hart umkämpften Weltmarkt gesichert haben, für die Volkswirtschaft und für den Steuerzahler mehr einbringen wird, insbesondere langfristig, als für Versorgungssicherheit rat- und sprachloser Bankvorstände zu sorgen. 57 Zusammenfasssender Endbericht 2007 zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands, S. 6. Herausgeber: Bundesministerium für Bildung und Forschung; Autoren: Egeln, Jürgen/ Gehrke, Birgit/Legler, Harald/Licht, Georg/Rammer, Christian/Schmoch, Ulrich, S. 9. Welche Anstrengungen unternimmt die Bundesregierung, den Vorsprung auszubauen oder wenigstens zu bewahren? Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass Deutschland zur Verfolgung und Erreichung dieses Ziels über keine politische Konzeption verfügt, weshalb es zu den deutschen Hausaufgaben gehören wird, ein reales, stabiles und umweltverträgliches Wachstum im Bereich der Herstellung von „FuE-intensiven“ Waren und der Erbringung der auf ihre Produktion und Vertrieb gerichteter Dienstleistungen zu schaffen. Betrachtet man die direkte und die steuerliche Förderung der FuE-Tätigkeit der Unternehmen durch den Staat, vgl. den
26
ERSTES KAPITEL
52
chen Forschung und Entwicklung wird mit immer höherer Geschwindigkeit ausgefochten. Deutschland war diejenige führende Technologienation, die im 20. Jahrhundert den vollgasfesten Verbrennungsmotor in die Serienreife brachte, aber unsere Wirtschafts- und Finanzpolitik ist alles andere als vollgasfest, und gerade in der Krise zeigen sich jetzt die Schwächen besonders deutlich: Deutschlands Wirtschafts- und Finanzpolitiker genießen nach wie vor die Langsamkeit ihrer Entscheidungswege, oder es wird möglichst jede Woche irgend ein neues Maßnahmegesetz konzipiert, weil dasjenige von vor einer Woche sein Versagertum schon unter Beweis gestellt hat. Handel mit Waren der Spitzentechnologie 2004 - Werte in Mrd. US-$ -
Handel mit Waren der gehobenen Gebrauchstechnologie 2004 - Werte in Mrd. US-$ -
53
3,1
Übrige Länder1
61
108
83
6
11
EU (15)
83
40
41 214
109
4,3
Übrige Länder1
153
62 125
60 21
EU (15)
55
28 124 48 2,0 2,5
21 27
64 79
EU-BL (10)2
1,2 3,5
57 67
EU-BL (10)2 2,6
0,2
Asien 67
0,5
0,9
3
3
Asien
155 63
Nordamerika4
21 31
73
Japan
1) Europa ohne EU (15) und ohne EU-BL (10), Australien, Neuseeland, Lateinamerika, Afrika, Nahost. 2) Die Estland, 10 EU-Beitrittsländer Lettland, Litauen,2004: Malta, Estland, Polen, Lettland, Slowenien, Litauen, Tschechien, Malta, Slowakei, Polen, Slowenien, Ungarn, Zypern.Tschechien, 3) Süd -, Südost - und Slowakei, Ungarn, Ostasien Zypern.ohne 3) Japan.Süd -,4)Südost USA, Kanada. - und Ostasien ohne Japan.- 4) USA, Kanada. Quelle: DIW-Außenhandelsdaten.
27
32
47
52
Nordamerika4
14 91
125
Japan
1) Europa ohne EU (15) und ohne EU-BL (10), Australien, Neuseeland, Lateinamerika, Afrika, Nahost. 2) Die Estland, 10 EU-Beitrittsländer Lettland, Litauen,2004: Malta, Estland, Polen, Lettland, Slowenien, Litauen, Tschechien, Malta, Slowakei, Polen, Slowenien, Ungarn, Tschechien, Zypern.- 3) Süd -, Südost - und Slowakei, Ungarn, Ostasien Zypern.ohne 3) Japan.Süd -,4)Südost USA, Kanada. - und Ostasien ohne Japan.- 4) USA, Kanada. Quelle: DIW-Außenhandelsdaten.
Abbildung 8: Internationale Handelsströme FuE-intensiver Güter 2004 (in Milliarden US-Dollar). Zusammenfasssender Endbericht 2007 zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands, S. 6. Herausgeber: Bundesministerium für Bildung und Forschung; Autoren: Egeln, Jürgen/Gehrke, Birgit/ Legler, Harald/Licht, Georg/Rammer, Christian/Schmoch, Ulrich. | Quelle: DIW-Außenhandelsdaten. zusammenfasssenden Endbericht 2007 zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands, S. 12 ( Herausgeber: Bundesministerium für Bildung und Forschung; Autoren: Egeln, Jürgen/ Gehrke, Birgit/Legler, Harald/Licht, Georg/Rammer, Christian/Schmoch, Ulrich), so ist augenfällig, dass Deutschland, gerade noch vor Finnland, an vorletzter Rangstelle steht: Gemessen an den Aufwendungen der Unternehmen selbst für Forschung und Entwicklung fallen die unter 5 % Staatsförderung kaum ins Gewicht. Eine steuerliche Förderung findet so gut wie überhaupt nicht statt. Gemessen am BIP bestätigt sich das Bild: Deutschland ist auch hier auf dem vorletzten Platz. Andere Staaten wie z. B. Österreich, Großbritannien, Kanada. Norwegen, USA, Frankreich u. a. geben zwei- oder drei Mal so viel für die Förderung von Forschung und Entwicklung aus.
ERSTES KAPITEL
53
Das vierte Kapitel – erster Abschnitt – ist dem zentralen Dreh- und Angelpunkt der Gefahrenabwehr in der Bundesrepublik Deutschland gewidmet: In einer beispiellosen konzertierten Aktion (des Bundestages, des Bundesministeriums der Finanzen, des Bundesrates und der Bundesregierung sowie des Bundespräsidialamtes) wurde – out of the blue – das Finanzmarktstabilisierungsgesetz (FMStG) vom 17.10.200858 geschaffen.
Abbildung 9: Die wichtigsten Außenhandelsgüter Deutschlands. | Quelle: Der Fischer Weltalmanach (2009), S. 115.
58 BGBl I 2008, S. 1892, vom 17.10.2008; letzte Änderung vom 07.04.2009, BGBl I 2009, S. 725, 732. Dieses Maßnahmegesetz ist seitdem die Basis für die Arbeit der Bundesregierung und hat den Bundesminister der Finanzen – im historischen Vergleich – mit einer Art von „Notverordnungsrecht“ ausgestattet – nämlich mit einer General-Einzelvollmacht über mindestens 480 Milliarden Euro, über das gegenwärtige Staatsvermögen der Bundesrepublik Deutschland und das künftige Steueraufkommen der deutschen Nation zu verfügen. Eine echte Kontrolle durch den Bundestag gibt es nicht – das werden die weiteren Darlegungen in den folgenden Kapiteln zeigen.
28
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ERSTES KAPITEL
29
Abbildung 10: Mittelschicht unter Druck – Die Finanzkrise zehrt das Vermögen auf. | Quelle: Goldman Sachs – Handelsblatt, Wirtschaftswoche Nr. 15 vom 06.04.2009, S. 91.
30
IV. Werden die USA, Europa und Deutschland die großen Verlierer des 21. Jahrhunderts?
31
A. Die Funktion des Euro als Weltreservewährung steht auf dem Spiel
32
Die Europäische Gemeinschaft könnte an den beschriebenen Problemen scheitern.59 Die Euro-Währungsunion steht heute in der konkreten Gefahr, auseinanderzubrechen.60 Der Euro könnte seine Bedeutung als zweite Weltleitwäh59 So bedrohen z. B. Kreditausfälle in Osteuropa das deutsche Bankensystem: Vgl. Welp, Cornelius, Zeit für Retter, in: Wirtschaftswoche Nr. 10 vom 02.03.2009, S. 63. 60 Bislang hatte der Euro für die Euro-Zone überwiegend Vorteile. Aufgrund der zunehmenden Verflechtung der Euro-Wirtschaft hatte die Gemeinschaftswährung einen Turboeffekt für die Wirtschaft und wirkte auch politisch stabilisierend; Vgl. „Vorteil Euro“, in: Wirtschaftswoche Nr. 10 vom 02.03.2009, S. 40. Island konnte den Staatsbankrott gerade noch mit Hilfe der EU und der EU-Währungsunion abwenden. Gleiches gilt für Griechenland; vgl. Ertel, Manfred, „Das nimmt uns die Luft“, in: Der Spiegel Nr. 15 vom 06.04.2009, S. 108 f. Dort betragen die Staatsschulden 20.479 Euro pro Kopf der Bevölkerung; Quelle: EU-Kommission, Eurostat.
ERSTES KAPITEL
rung einbüßen und in seiner Funktion als Weltreservewährung von anderen Währungen abgelöst werden, die in anderen Teilen der Welt, zum Beispiel in Asien und/oder den Vereinigten Arabischen Emiraten61 aufgebaut werden könnten. Beschwichtigungen aus dem Munde der alten Eliten funktionieren nicht mehr: Die Euro-Währungsunion ist eben kein „stabiler Club“62, sondern ein Zusammenschluss von Staatsbankrotteuren.63 Auch Ungarn benötigte die Hilfe der EU, sodann müssen die Staaten des Baltikums ebenfalls außerplanmäßig finanziell unterstützt werden. Die osteuropäischen Staaten werden unter der global economic crisis ebenfalls mehr leiden als die „Kernstaaten“ der EU. 61 Die Vereinigten Arabischen Emirate könnten die Leadership innerhalb der arabischen Welt übernehmen und einen Einigungsprozess in Gang setzen, ähnlich der europäischen Einigungsbewegung. Aus einer jetzt schon bedeutenden Region könnte damit ein Superschwergewicht der Weltökonomie werden, insbesondere, wenn sich z. B. andere Erdölförderungs-Staaten dieser Einigungsidee anschließen würden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass am Ende einer solchen Entwicklung eine Wirtschafts- und Währungsunion der „Vereinigten Staaten von Arabien“ stehen könnte. Denkbar wäre auch eine gemeinsame Währung, die in ein echtes Konkurrenzverhältnis zum US-Dollar und/oder Euro treten könnte. Was würde passieren, wenn die VAE einen „Gold-Dinar“ oder eine Währung mit der Bezeichnung Khaleeji einführen? Die vielleicht zur härtesten Währung der Welt wird? Im Goldhandel, im Frachtflugverkehr und bei der Forschung in Umwelttechnik haben sich die Vereinigten Arabischen Emirate einen respektablen Platz in den Weltranglisten erobert und sind dabei, sich sogar einen Vorsprung gegenüber Westeuropa zu erkämpfen. Dass solche Ziele aber nicht leicht zu erreichen sind, zeigt der Rückschlag, den die Währungsunion am Golf Ende Mai 2009 erlitten hat: Die Vereinigten Arabischen Emirate haben sich von dem Planvorhaben einer gemeinsamen Golfwährung zurückgezogen. Im Jahr 2001 hatten sechs Staaten des Golf-Kooperationsrats – Saudi-Arabien, die VAE, Katar, Kuwait, Bahrain und Oman nach dem Vorbild der EU-Gemeinschaftswährung vereinbart, die Voraussetzungen für eine Gemeinschaftswährung zu schaffen, die ggfs. „Chalidsch“ ( „Golf “ auf Arabisch) hätte heißen können. Ökonomische Grundlage wäre die Wirtschaftskraft des Gemeinschaftsraumes gewesen, die dann den fünftgrößten Wirtschaftsraum der Welt dargestellt hätte (mit ca. 725 Milliarden Euro BIP); vgl. Hecking, Claus, Währungsunion am Golf gescheitert, in: FTD.de. 62 So die grundlose Hoffnung von Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank AG, in: Wirtschaftswoche 51/2008 vom 15.12.2008, S. 46. 63 Entgegen Jörg Krämer stellt sich nicht die Frage, ob finanz- und produktionsschwache Mitgliedsstaaten wie Italien oder Griechenland aus der Euro-Währungsunion austreten könnten. Die entscheidende Frage ist vielmehr, ob diese Staaten die Euro-Währungsunion verlassen müssen, weil sie nicht mehr kapitaldienstfähig sind, und daran schließt sich die Frage an, ob es auf die Alternative Bleiben oder Austreten im Falle des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit richtigerweise gar nicht mehr ankommt – weil das niemanden mehr interessieren wird: Denn können die Staatsschuldverschreibungen nicht mehr eingelöst werden, bricht die Liquiditätsversorgung dieser Länder endgültig zusammen. Es können dann überhaupt keine öffentlichen Aufgaben erfüllt oder öffentliche Ausgaben getätigt werden. Deutschland ist zwar stark, aber nicht so stark, eine beliebige Zahl von schwachen Mitgliedsstaaten mitzufinanzieren. Die Euro-Währungsunion mag zwar zu einem stabilen Club schöngeredet werden, aber dieser Club sitzt auf einem Pulverfass. Diese Finanzpolitiker hoffen darauf, der Lehrsatz, den sich die Banken zurechtgelegt haben, würde auch für eine Staaten- und Währungsgemeinschaft gelten: Too big to fail.
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ERSTES KAPITEL
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Abbildung 11: „Milliarden im Feuer“ – Welche Verluste den Banken ausgewählter Länder durch Kreditausfälle in Osteuropa drohen, in: Wirtschaftswoche Nr. 10 vom 02.03.2009, S. 63. | Quelle: Goldman Sachs Global Research, Handelsblatt.
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B. Ohne die Bewahrung des US-Dollar als Welt-Leitwährung wird die US-Wirtschaft bedeutungslos
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1. Gleiches könnte auch dem US-Dollar widerfahren.64 Seinen Spitzenplatz
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sehen die Experten überwiegend als gefährdet an.65 Damit wären die USA neben Deutschland und den anderen europäischen Staaten die großen Verlierer66 des 21. Jahrhunderts – politisch wie ökonomisch.67 Dass dies alles keine Kas64 Die neue US-Administration hat bereits damit begonnen, einen strategischen politischen Plan zur Stabilisierung des US-Dollars durch die politische Aufwertung der USA in vielen Regionen der Welt umzusetzen: als Erstes mit dem TV-Friedensangebot an den Präsidenten des Iran, Mahmud Ahmadinedschad. Zweitens unterbreitete Obama Kuba ein Kooperationsangebot. Drittens ging ein Verhandlungsangebot an Russland zur Verringerung und Abschaffung von Atomwaffen und vieles mehr. Damit soll letztendlich das ramponierte Ansehen der USA im Außenhandel korrigiert werden, um die Exportmärkte und Einflusszonen des US-Dollars zu stärken. Endziel könnte ggfs. eine Gemeinschaftswährung für den nord- und südamerikanischen Raum sein, der nach dem Vorbild des Euro dann Amero heißen könnte. Die neue Ausrichtung der US-Außen- und Außenhandelspolitik ist aber auch ein Wendepunkt zu den Leitlinien des Amtsvorgängers George W. Bush: Mit militärischer oder politischer Konfrontation kann kein Nationalstaat mehr Positionen behaupten oder ausbauen – auch dann nicht, wenn man den Rang einer Supermacht hat. Vgl. dazu auch Fischer, Malte, Goodbye Dollar, in Wirtschaftswoche Nr. 26 vom 22.06.2009, S. 18 ff. Danach ist das auf den US-Dollar fixierte internationale Wechselkurssystem eine der Hauptursachen für die aktuelle Krise. In diesem Zusammenhang wird diskutiert, ob die sogenannten Sonderziehungsrechte den US-Dollar ersetzen könnten. Sonderziehungsrechte sind eine Kunstwährung für finanzielle Transaktionen zwischen Staaten und internationalen Einrichtungen; vgl. Malte a. a. O., S. 21. Dabei wird ein Währungskorb aus Euro, US-Dollar, Britisches Pfund Sterling und Yen zusammengestellt. Währungsexperten wollen diesen Währungskorb um die chinesische Währung (Yuan), um die russische Währung (Rubel) und um Rohstofftitel und Gold ergänzt wissen. 65 Krisengewinner Euro – so wichtig wie der Dollar, in: Capital 03/2009, S. 16. Nach einer Umfrage des Institutes für politische Demoskopie Allensbach (2009) unter Managern, Politikern und Behördenleitern sehen die Manager in der Zukunft den US-Dollar in einer starken Position, entweder stärker oder zumindest gleich stark wie den Euro, während nur noch eine Minderheit der Politiker daran glaubt, dass der US-Dollar die Leitwährung bleiben wird. China hat wohl deshalb seine Goldreserven heimlich aufgestockt; vgl. Doll, Frank, Neues Geld für die Welt, in: Wirtschaftswoche Nr. 26 vom 26.06.2009, S. 84 ff., 88. 66 Vgl. „Weltwährung wackelt“, in: Der Focus Nr. 23 vom 31.05.2009, S. 110: Das internationale Anlagepublikum vertraut inzwischen deutschen Staatsanleihen mehr als den US-Treasuries. Das zeigt auch der Verlauf des Wechselkurses: Nach einer Phase der vorübergehenden Erholung des US-Dollar legt der Euro wieder zu: Das ist Wasser auf die Mühlen der Chinesen, die umso mehr die Ablösung des US-Dollar als Weltankerwährung fordern. 67 In den USA beträgt die Pro-Kopf-Verschuldung der US-Bürger gegenwärtig (2009) ca. 200.000 US-Dollar – dagegen ist Deutschland mit einer Pro-Kopf-Verschuldung von ca. 11.000 Euro relativ „gering“ verschuldet. Zum Nachweis: Wirtschaftswoche Nr. 18 vom 27.04.2009 „Global warming Made in USA“, S. 20 f., 24. Der Governor der chinesischen Zentralbank, Zhou Xiaochuan, hat in diesem Kontext den IWF dazu aufgerufen, den US-Dollar als internationale Reserve-Währung zu ersetzen. Der US-Dollar war nicht immer die globale Reserve-Währung, im 19. Jahrhundert war es das Britische Pfund. China ist der Staat mit den größten US-DollarReserven weltweit. Der chinesische Premierminister meinte: „We have loaned a huge amount
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ERSTES KAPITEL
sandra-Rufe von Berufspessimisten sind, wird deutlich, wenn man sich das Rating von Kalifornien betrachtet. Kalifornien: Das war bislang der Standort für High-Tech jeder Art, das war Silicon Valley, der wirtschaftlich stärkste USBundesstaat mit den wichtigen Zentren der Elektronik-Industrie, Luft- und Raumfahrtechnik u. v. m., von Hollywood ganz zu schweigen. Heute macht Kalifornien negative Schlagzeilen: Die Ratingagentur Fitch hat langfristige Anleihen des US-Sonnenstaates auf „BBB“ abgewertet. Kalifornien hatte schon bei der Aufstellung seines Haushaltes Probleme, weil der republikanische Govenor Arnold Schwarzenegger und der demokratische Kongress sich nicht auf einen Haushalt einigen konnten. Das Haushaltsdefizit beläuft sich auf 26,3 Milliarden US-Dollar. Damit hat Kalifornien die schlechteste Bonitätsnote aller US-Bundesstaaten.68 Gewinner wären dann möglicherweise die Vereinigten Arabischen Emirate als die neue Schweiz in einer gewandelten Finanzwelt sowie China und Indien.69 Die weiteren Darlegungen unten werden zeigen, dass eine neue Weltfinanzarchitektur entworfen werden muss, die die geänderten ökonomischen Machtverhältnisse widerspiegeln wird.70 of money to the United States, of course, we are concerned about the safety of our assets“ and „call on the United States to honor its word and stay a credible nation and ensure the safety of Chinese assets.“ Eine Abwertung des US-Dollars wäre aus chinesischer Sicht katastrophal. Angesichts der letzten Billionen-Finanzspritze der Federal Reserve ist eine Abwertung des USDollars allerdings unumgänglich. Der Kooperationsrat der Vereinigten Arabischen Emirate hat einen Währungsrat gegründet, der sich um die Einführung der geplanten Golfwährung (Khaleeji) kümmern soll. Es sitzen also viele Nationen am Tisch beim großen Abendmahl mit den USA, das mit geliehenem Geld stattfindet. Die Frage ist, „wer zahlt am Ende die Rechnung“? 68 Vgl. FTD.de: Haushaltsdefizit-Fitch-senkt-Kaliforniens Rating vom 07.07.2009. 69 Diese newcomer unter den Weltwirtschaftsmächten mit ihren riesigen Bevölkerungs- und Wachstumspotentialen werden immer weniger bereit sein werden, die alte Weltwirtschaftsordnung zu akzeptieren, in der die Handelsbilanz- und Leistungsbilanzdefizite der USA ständig die weltweiten Überschuldungsprobleme mit verursachen oder verschärfen. Als Gegenmittel beabsichtigen die USA, den geographischen Bereich und das Volumen des US-Dollars dadurch auszuweiten, indem mit den südamerikanischen Staaten eine Währungsunion nach dem Vorbild der Europäischen Währungsunion geschaffen wird. Damit soll sich der Geltungsbereich der neuen Währung, der mit Rücksicht auf die besonderen politischen Empfindlichkeiten vor allem der südamerikanischen Staaten gegen den „Dollar-Imperialismus“ der USA im 19. und 20. Jahrhundert einen neuen Namen – AMERO – erhalten soll, von Alaska bis Feuerland erstrecken und mehr als 600 Millionen Einwohner umfassen. Mit der Bevölkerungszahl und dem Geldvolumen würde dieses Währungsgebiet dann wieder vor der Eurozone liegen. 70 Die Liquiditätsreserve Chinas beträgt gegenwärtig ca. 1,9 Billionen US-Dollars. Diese Ersparnisse Chinas ermöglichten die Immobilienblase in den USA. China wurde in die Rolle gedrängt, die Handelsbilanzdefizite der USA laufend zu finanzieren. „USA prasst, China spart“; die Exportwirtschaften Deutschlands und Japans haben jahrelang davon profitiert. Diese finanzökonomischen Automatismen, an die sich die USA und Deutschland seit Jahren gewöhnt haben, werden zukünftig nicht mehr so funktionieren. China will einen anderen Wechselkurs
ERSTES KAPITEL
2. Die USA sind nicht mehr der dominante Faktor in dem Zusammenspiel der
ökonomischen Kräfte innerhalb der Blöcke. China und Indien werden künftig ein so großes Potential darstellen – in der Produktion, als Motor der Weltwirtschaft, als Technologieträger71, als Nachfrager nach den Treasury bonds und anderen Staatsschuldverschreibungen und als Exportnationen -, dass sich hieraus ein neues Gleichgewicht auf den Geldmärkten bilden wird. Die offen vorgetragene Forderung Chinas nach der Ablösung des US-Dollars als Weltleitwährung ist nur der Auftakt zu einem Kräftemessen, für das die USA schlecht gerüstet sind. Neben China ist Indien lange Zeit unterschätzt worden. Einerseits wurden die Fortschritte in der Industrialisierung und auf dem Gebiet der Zukunftstechnologien nur sporadisch zur Kenntnis genommen, andererseits wird das Entwicklungspotential Indiens unterschätzt. Erst jetzt in der Krise fällt der Blick auch auf Indien: Könnte Indien den Weltwirtschaftsmotor zusammen mit China wieder neu starten?72 Schon allein diese Fragestellung lässt erkennen, wie viel Macht und Wirkung die US-amerikanische und die europäische Wirtschaft eingebüßt haben. Aber nach wie vor steckt China in der Zwickmühle des US-Dollar: Der chinesischen Wirtschaft fehlt es an Investitionsmöglichkeiten im In- und Ausland. Wegen der hohen Handelsbilanzüberschüsse, insbesondere im Verhältnis zu den USA, bleibt der chinesischen Zentralbank schlussendlich nur der weitere Ankauf von US-Staatsanleihen. Damit wird aber die von China angestrebte Abkopplung von dem US-Dollar immer schwieriger: Das Worldwide Economic Disaster scheint beide Volkswirtschaften noch enger aneinander zu ketten als bisher.73 Yuan zu US-Dollar und den US-Dollar durch die IWF-Sonderziehungsrechte Renminbi ersetzen. Vgl. Münchrath, Jens, „Abschied von Chimerika“, in: Handelsblatt Nr. 73 vom 16.04.2009, S. 8. „Unseliges Chimerika“ – Der Glaube an die ewige Versorgung mit zinsbilligem Kapital war der Irrglaube. 71 China wird z. B. eine eigene Satelliten-Navigation aufbauen, die in Konkurrenz zu dem USSystem GPS und zu dem europäischen System GALILEO treten wird, es wird COMPASS heißen. Vgl. Hoffbauer, Andreas/Fasse, Markus in: Handelsblatt Nr. 73 vom 16.04.2009, S. 7. 72 Indien kommt schneller auf den Erholungskurs als die westlichen Industriestaaten. Vgl. Hauschild, Helmut, Investoren sehen Indien auf Erholungskurs, in: Handelsblatt Nr. 88 vom 08./09./10.05.2009, S. 5. 73 Vgl. Spiegelonline vom 25.05.2009, http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518, druck-626730,00. html. Danach setzt China weiterhin auf den US-Dollar, aber nicht ganz freiwillig. 2000 Milliarden US-Dollar betragen gegenwärtig die Währungsreserven Chinas: Das ist unangefochten Platz 1 der Weltrangliste. Die Chinesen sprechen selbst davon, in die „Dollar-Falle“ hineingeraten zu sein, und man wird den Chinesen den politischen Willen und die ökonomischen Fähigkeiten zutrauen können, sich aus dieser Falle zu befreien. Als erste Maßnahme haben die Chinesen ihren Bestand an Britischen Pfund Sterling reduziert und bauen damit einer erwarteten Pfund-Schwäche vor. Gegenwärtig absorbieren die asiatischen Staaten China, Hongkong,
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3. Die US-Regierung will diesen ökonomischen, aber auch politischen Macht-
verlust bzw. den Verlust an Einfluss durch die Rückgewinnung politischer Kontrolle rückgängig machen. US-Präsident Obama hat dazu einen „FinanzMasterplan“ entwickelt. Eine Radikal-Reform der Bankenaufsicht der US-Regierung soll Finanzkrisen wie diejenige vom Oktober 2008 künftig unmöglich machen, die Federal Reserve soll zu einer Art „Supercop“ (Oberste Finanzpolizei) aufsteigen und Hedgefonds sollen an die Kandare genommen werden.74 Aber dieses Programm ist bei näherer Betrachtung nur schwer geeignet, wirklich echte Heilungskräfte zu entfachen: Der Finanz-Masterplan beinhaltet kaum etwas wirklich Neues. Die Federal Reserve zum Supercop zu erklären, ist eine bildliche Umschreibung, die ohne eine klare Fehleranalyse, warum die SEC versagt hat, kaum etwas taugt. Bislang sollte die SEC der „Supercop“ sein, aber dieser „Supercop“ hat kläglich versagt. Im Falle Madoff ebenso wie bei den Subprime-Paket-Geschäften.75 Bei der AIG genau so wie bei Lehman Brothers u. v. m. Obama hat bis heute die wahren Ursachen der Finanzkrise nicht erläutert: dass eine sehr hohe Überschuldung der US-Verbraucher vorliegt und eine hohe Staatsverschuldung, damit korrespondierend ein hohes Handelsbilanz- und Leistungsbilanzdefizit und dass die Credit-Default-SWAPS und andere Derivatgeschäfte76 nicht erst seit gestern als gefährliche Krisenverursacher Singapur mehr als die Hälfte der US-Auslandsverschuldung. Ein zu rascher Abverkauf USamerikanischer Staatsanleihen könnte den US-Dollar so unter Druck setzen, dass die USWirtschaft zusammenbrechen könnte: Dann wäre aber auch das chinesische Wirtschaftswunder in Gefahr. China kann den US-Dollar nicht abstürzen lassen, weil seine Wirtschaftsleistung des letzten Jahrzehnts sonst mit Spielgeld bezahlt worden wäre, so ein Kommentar in der französischen Zeitung „Le monde“. 74 Plitzke, Marc, So funktioniert Obamas Finanz-Masterplan, in: Spiegel-Online vom 18.06.2009, http://www.spiegel.de/wirtschaft0,1518,druck-631294,00.html 75 Vgl. Siddiquil, Sikandar/Seckelmann, Margrit, Der Subprime-Kollaps: Ursachen, Auswirkungen und Implikationen für staatliches Handeln, in: dms – der moderne Staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management, Heft 1/2009, S. 133 – 157. In der Schlussbemerkung wird von den Autoren zutreffend festgestellt: „Vor dem Hintergrund der hier angestellten Überlegungen erscheint es unangemessen, in regulatorischen Einschränkungen der privaten Vertragsfreiheit und staatlichen Stützungsmaßnahmen per se geeignete Mittel zur Prävention und Bewältigung ökonomischer Krisensituationen zu sehen. ‚Rettungspakete’ für insolvenzgefährdete Finanzinstitute drohen den Wettbewerb just zugunsten derjenigen Marktteilnehmer zu verzerren, deren Verhalten in der Vergangenheit durch den fahrlässigen Umgang mit entsprechenden Risiken gekennzeichnet war. Der Schlüssel zu einer wirksameren Prävention künftiger Finanzmarktkrisen liegt eher in der Vermeidung derart problematischer Anreizeffekte als in einer beliebigen Ausdehnung staatlicher Regelungen.“ 76 Vgl. dazu Bayer, Tobias/Mai, Christine, Absicherung gegen Staatspleiten boomt, in: Financial Times Deutschland, http://www.ftd.de/boersen_maerkte/derivate/: Neuer-Markt-Absicherung. Die steigende Staatsverschuldung weltweit führt zu einer neuen Anlageklasse: Versicherun-
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erkannt sind. Es ist deshalb wenig hilfreich, darüber zu diskutieren, ob künftig die Federal Reserve, die SEC, die OTS (US-amerikanische Sparkassenaufsicht) oder die US-Einlagenversicherung (FDIC), die US-Immobilien Finanzaufsicht (FHFA) künftig für eine effektive Kontrolle zuständig sein sollen. Genauso gut könnte in Deutschland darüber diskutiert werden, ob künftig die Bundesbank, das Finanzministerium, das Wirtschaftsministerium oder die BaFin zuständig sein sollte, um Kapitalvernichtungen der oben beschriebenen Art zu verhindern. Wenn dies aber so oder so dieselben politischen Systeme sind, mit denselben handelnden Akteuren, die sich selbst wechselseitig überwachen müssten, ändert sich gar nichts, schon gar nicht der Wirkungsgrad der Aufsicht und erst recht nicht die Effizienz in der Kontrolle. Die Einrichtung einer neuen Behörde zum Schutz der Finanzverbraucher ist nur dann ein Schritt in die richtige Richtung, wenn die Effizienz der Kontrolle sofort spürbar steigt.77
gen gegen Staatsbankrott. Dabei stehen nicht nur Schwellenländer im Blickpunkt, sondern auch Industrieländer. Das Interesse an CDS – Credit Default Swaps – auf Industriestaaten ist demnach seit 2008 rasant gestiegen: Ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Bankrott von Staaten, nicht nur in der Dritten Welt, von den Marktteilnehmern als ernsthafte Möglichkeit angesehen wird. Als besonders riskant werden die folgenden Staaten angesehen: die Ukraine, Venezuela, Lettland, Litauen, Kasachstan, Rumänien, Bulgarien und Kalifornien. Das CDSRegister DTCC weist gegenwärtig ein Volumen von 25,2 Billionen US-Dollar auf. Länder und Staaten machten bislang nur ca. 12 % des Volumens, d. h. 1,61 Billionen US-Dollar aus. Bislang konzentrierten sich diese Kreditrisiken auf einige wenige Länder: Italien mit 182 Milliarden US-Dollar; Brasilien mit 126 Milliarden US-Dollar, Spanien mit 49 Milliarden US-Dollar. Diese zunehmende Bedeutung der Kreditausfallversicherungen auf Staatsschuldverschreibungen offenbaren das Dilemma aus dem weltweiten Bankenrettungssystem: Wer soll das Risiko von Staatsbankrotten denn tragen, etwa die AIG? Oder die anderen geretteten Banken oder Versicherungskonzerne? Dass Kalifornien in einem Atemzug mit Bulgarien und Kasachstan genannt werden, verdeutlicht, dass die USA in besonderer Weise von der Finanzkrise betroffen sind, nämlich das Opfer des eigenen Finanzsystems geworden ist. Der globale Casinokapitalismus frisst seinen Erfinder. 77 Das Schaffen neuer Organisationsstrukturen ist wenig effizient, wenn der politische Wille zu effektiven Veränderung fehlt. Betrachtet man z. B. die Rede des Bundesbankpräsidenten Axel Weber vom 16.06.2009 vor der Jahresversammlung des Institutes für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln, so fällt auf, mit welcher Routine die Ursachen der Krise jetzt aufgelistet werden können. Diese Ursachen sind: (1) Die Verbriefung, Auslagerung und Umverpackung von Kreditforderungen, die noch vor wenigen Jahren als „innovative“ Finanzprodukte gefeiert wurden und deren Förderung und Verbreitung sogar Eingang in den Koalitionsvertrag 2005 und in diverse Regierungs- und Parteiprogramme gefunden hatte. (2) Die massive Ausweitung des sogenannten „Schattenbanksystems“, an dessen Installierung und Förderung der Staat und seine Organe und Behörden aber ebenfalls mitwirkten; (3) die expansive Geldpolitik, die eben nicht ganz so unbemerkt vonstatten gegangen war. Alle diese Ursachen waren schon vor dem Millennium bekannt.
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ERSTES KAPITEL
4. Hier bleibt dennoch die Frage bestehen, warum die so hoch gelobte SEC
diesen Schutz nicht schon vor Jahren gewährleisten konnte. Denn zu diesem Zweck war die SEC doch mit besonderen Eingriffs- und Kontrollbefugnissen ausgerüstet worden. Wenn die US-Regierung und wenn die SEC in der Vergangenheit nicht zum „Supercop“ getaugt hatten, worauf gründet sich dann heute der Optimismus, dass eine neue Behörde es schaffen könnte, den Finanzverbraucher vor Gefahren besser zu schützen als zuvor? Dieselbe Erwägung gilt auch für Deutschland: Wenn die Bundesregierung, das Bundesfinanzministerium, das Bundeswirtschaftsministerium, die BaFin und die Bundesbank allesamt trotz massiver gesetzlicher Eingriffsinstrumente nicht fähig waren, den Markt und die Bürger zu schützen, warum sollte dann eine weitere, neu installierte Behörde dazu fähig sein? Wenn die USA sodann auf „internationale Kooperation“ hoffen, müssen sich die USA sagen lassen, dass sie in den zurückliegenden Jahren genau diese Kooperation stets verhindert haben. Es waren die Federal Reserve und das US-Finanzministerium, die keine Zahlen zu der virtuellen Kapitalwertschöpfung „M3“ mehr veröffentlichten, den Hedgefonds freien Lauf ließen und den Vorschlag von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei dem G-8-Gipfel auf Heiligendamm nach mehr Kontrolle der internationalen Finanzmärkte zurückgewiesen hatten. Der Finanz-Masterplan des US-Präsidenten beinhaltet also genau betrachtet nichts Neues. Änderungen allein in der Organisation der Kontrollorgane werden nicht ausreichend sein, um zu einem wirklichen Neubeginn zu gelangen.78 39
C. Chinas Finanzkraft ist ein unverzichtbarer Faktor bei der Wiedergesundung der Weltwirtschaft
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Die Spannungsfelder, die dadurch zwischen den Wirtschaftsblöcken entstehen können, und die Frage, wie sich diese abbauen lassen, ergeben einen weiteren Untersuchungsgegenstand des Buches: Der Status quo und denkbare Entwick78 Diese Betrachtungen dürfen nicht den Blick auf die Tatsache verstellen, dass die USA und Europa noch immer das Kraftfeld der Weltwirtschaft bilden. Wann immer von den aufstrebenden Schwellenländern, von den Tigerstaaten und den Wachstumspotentialen Chinas und Indiens gesprochen wird, darf nicht aus dem Auge verloren gehen, dass die USA in Sachen Aktienkapitalisierung von weltweit 40,6 Billionen US-Dollar 43,4 % und Europa 28,4 % repräsentieren. Der Rest – 28,2 % entfällt auf alle anderen, d. h. auf Japan, China, Indien, Russland usw. Von dem weltweiten Exportvolumen von 10,1 Billionen entfallen auf die EU 39,4 %, auf die USA 8,9 %. Die übrige Welt: 51,7 %. Auch was den Absatzmarkt für Automobile betrifft, bilden USA und EU einen Block, der fast zwei Drittel des Weltmarktes ausmacht: USA 32,8 %, EU: 32,8 %, übrige Welt: 34,4 %. Quellen: World Federation of Exchanges; VDA, ACEA und WTO.
ERSTES KAPITEL
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lungen werden im vierten Kapitel – zweiter Abschnitt – beschrieben. Dabei wird sich der Blick auch auf die Banken Chinas richten, die die Dominanz der Angloamerikaner auf dem Geschäftsbankensektor endgültig gebrochen haben79. Aber wie stabil sind diese Strukturen, die faktisch aus dem Nichts entstanden sind? Und was bedeutet dies für Deutschland: Erst Exportweltmeister und jetzt der Abstieg eines Superstars?80 Oder gelingt es einem entbürokratisierten Deutschland mit den vereinten Kräften eines Paktes aller seiner gesellschaftlichen Kräfte, wie es unser Bundesminister der Finanzen erhofft, sogar noch gestärkt und mit dem Ausbau des Vorsprunges aus dem Desaster hervorzugehen – also zum Phönix aus der Asche zu werden? Auch dazu mehr im vierten Kapitel – dritter Abschnitt.
D. Keine nobelpreisgekrönte Wirtschaftstheorie und keine der weltweit etablierten Eliteuniversitäten kann das Problem lösen
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1. Mit den klassischen Wirtschaftstheorien aus der Vergangenheit, 81 die sich
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schon bei wesentlich geringeren Belastungsgraden als nicht tragfähig erwiesen hatten, braucht niemand mehr anzutreten – dies wäre vergeudete Zeit und nutzloser Aufwand. Denn wenn sich die deutsche wie die europäische Volkswirtschaft und erst recht die US-amerikanische in einem Epochenwandel be79 Financial Times Deutschland vom 24.03.2009: „Die Mächte aus dem Reich der Mitte“, S. 18. 80 Steingart, Gabor: Deutschland: Der Abstieg eines Superstars. Piper-Verlag (2005). 81 Auf die traditionellen Lehren der sogenannten Makroökonomie über den Zusammenhang von Wachstum, Sparquote, Investitionen, Löhnen, Zinsen, Kosten, Erwartungen und vieles mehr wird später noch zurückzukommen sein. Hier soll vorab ein Beispiel angeführt werden, welche zerstörerische Wirkung solche Theorien plötzlich entfalten können: Für die Risikoanfälligkeit sogenannter gebündelter Anlagewerte wie z. B. Subprime-Anleihen hatte der US-Finanzexperte David Li eine Formel entwickelt, die sogenannte „Li-Formel“. Die Formel berechnete das Risiko der Bank, in korrelierte Wertpapiere zu investieren. Die Formel wurde immer häufiger angewendet – als Standardkriterium für die Anlageentscheidungen bzw. die Risikobewertungen der Banken und Versicherungen. Schließlich verließen sich Geschäftsbanken rund um den Globus in immer größerem Umfange auf die Richtigkeit dieser Formel – die jahrelangen problemlosen Gewinne schienen die Bestätigung der Richtigkeit zu sein: erfolgreiche Verprobung im millionenfachen Massentagesgeschäft. Zum Schluss war das Vertrauen auf die Richtigkeit faktisch „blind“. Im Zusammenhang mit der Finanzkatastrophe stellt sich aber heraus, dass die Formel zwar grundsätzlich, aber nicht ausnahmslos funktioniert. Manche Eventualitäten konnte die Formel nicht erfassen, z. B. die Entwicklung, dass Millionen von US-amerikanischen Hauseigentümern gleichzeitig das Geld ausgehen könnte. Die US-Zeitschrift „Wired“ hält den starren Glauben der Banken an die „Li-Formel“ für eine Hauptursache der Finanzkrise – es hätte sicherheitshalber auch mit wesentlich sinkenden Löhnen, sinkenden Preisen oder Massenarbeitslosigkeit bei einem großen Prozentsatz gerechnet werden müssen, was genau der Situation heute entspricht.
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ERSTES KAPITEL
findet – teilweise wird von einem Paradigmenwechsel gesprochen, sogar von dem Kapitalismus am Abgrund82 und von der unheimlichen Parallele zu der Great Depression von 1929 – 1932 83 – dann ist einleuchtend, dass nicht mehr eine kosmetische Schönheitsbehandlung ansteht, sondern eine chirurgische Notoperation. 43
2. Warum sich die politische Welt nicht mehr in Liberalisten und Ordnungs-
politiker und die ökonomische Welt nicht mehr in Keynesianer und Friedmanianer aufteilen lässt und alle diese Kategorisierungen keine praktisch sinnvollen Erkenntnisse bringen, sondern der Schlüsselbegriff „Sanierung und Sanierungsexperte“ lauten muss:84 Mehr dazu im fünften Kapitel.
82 Vgl. Kurz, Robert, Schwarzbuch Kapitalismus (2009), Ullstein Verlag. Die Gegenposition vertritt Petzold, Andreas, in: Der Stern Extra – Die Macht des Geldes – Aufstieg und Krise des Kapitalismus – Nr. 3/2009, S. 3: Am Ende wird der Kapitalismus weiter bestehen. 83 Dettmer, Markus/Falksohn, Rüdiger/Jung, Alexander/Neubacher, Alexander/Schmitz, Gregor Peter/Stark, Holger/Steingart, Gabor, Unheimliche Parallelen – Geschichte wiederholt sich womöglich doch, in: Der Spiegel Nr. 18 vom 27.04.2009, S. 24 ff. 84 Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz hat zu einer Änderung/Einschränkung der Insolvenzantragsgründe geführt: Ohne diese Änderungen hätten bereits Hunderte von Banken, Versicherungen und andere Unternehmen zwingend Insolvenzantrag stellen müssen. Die Bundesregierung hat also durch eine kleine Änderung bei dem materiell wichtigen Überschuldungsbegriff Sorge dafür getragen, das Damoklesschwert der Strafbarkeit über den Köpfen von Vorständen und Aufsichtsräten zu entfernen: Art. 6 Abs. 3 führt zu einer Änderung der Insolvenzordnung: Eine Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt. Bei der Bewertung des Vermögens des Schuldners ist jedoch die Fortführung des Unternehmens zugrunde zu legen, wenn diese nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist. Auch die weiteren Änderungen im KWG weisen in dieselbe Richtung: Gemäß Art. 3 FMStG wird § 36 Abs. 1 lit a KWG geändert. Die dort vorgesehenen Haftungsbeschränkungen sind ein Freibrief für Unternehmensfortführungen ohne taugliches Sanierungskonzept. Dazu unten noch mehr.
ERSTES KAPITEL
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Finanzkrise: Die Banken mit den höchsten Abschreibungen 1. 1. 2007 – 1. 4. 2008, in Mrd. US-$ Unternehmen
Abschreibungen
Kreditausfälle
Gesamt
UBS
38,0
38,0
Merrill Lynch
25,1
25,1
Citigroup
21,4
2,5
23,9
3,0
9,4
12,4
HSBC
11,7
11,7
IKB Deutsche Industriebank
9,0
9,0
Bank of America
7,3
Deutsche Bank
7,4
7,4
Crédit Agricole
6,5
6,5
Crédit Suisse
6,3
6,3
Washington Mutual
0,3
5,5
5,8
JPMorgan Chase
2,9
2,1
5,0
Wachovia
2,9
2,0
4,9
Canadian Imperial (CIBC)
4,0
4,0
Société Générale
3,8
3,8
Morgan Stanley
0,9
8,2
Quelle: Bloomberg 2008 Abbildung 12: Handelsbilanz- und Leistungsbilanzdefizite der USA – Die Supermacht als Exportweltmeister von Liquiditätsproblemen. Unter den Banken mit den höchsten Abschreibungen stellen US-Amerikaner und Briten das Hauptkontingent. | Quelle: Fischer Weltalmanach (2009) S. 637.
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ERSTES KAPITEL
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Abbildung 13: Die Entwicklung der Staatsausgaben in den USA unter Präsident George W. Bush. | Quelle: Fischer Weltalmanach (2009) S. 509.
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V. Am kollektiven Kassensturz kommt niemand mehr vorbei – oder: Die Götterdämmerung für Finanzvorstände und den Bundesfinanzminister
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A. Deutschland hat es versäumt, für das Worldwide Economic Disaster eine Kriegskasse aufzubauen
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Um für die Detailarbeit an dem Masterplan eindeutige Daten und Fakten zu erlangen und vor allem eine präzise Risikobewertung vornehmen zu können, muss ein kollektiver Kassensturz erfolgen – bei der Bundesregierung, bei jeder
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Landesregierung, bei allen anderen öffentlichen Haushalten,85 bei den DaxAktiengesellschaften und bei jedem größeren Unternehmen.86 Für Deutschland muss ein Status aufgestellt werden, der die wichtigsten Eckdaten beinhaltet: Wie groß sind unsere Währungsreserven in US-Dollar und anderen Fremdwährungen? Die Antwort: Deutschland gehört schon lange nicht mehr zu den ersten Zehn, was die Währungsreserven betrifft. An der Spitze liegen China mit 1,442 Billionen US-Dollar (29 % des BIP), gefolgt von Japan mit 922 Milliarden US-Dollar. An dritter Stelle steht Russland mit 414 Milliarden USDollar, gefolgt von Taiwan mit 262,9 Milliarden US-Dollar. Es schließen sich an: Südkorea, Indien, Brasilien, Singapur, Hongkong, Algerien und andere mehr: Für Deutschland ist auf der Ranking-Tabelle gar kein Platz mehr.87 Was die Kreditwürdigkeit der Staaten nach Bonität betrifft, belegt Deutschland noch Platz 7 mit abnehmender Veränderungstendenz.88 Wo auch immer der Blick auf die Bonitäts-Eckdaten hinfällt, das „Triple A“ für deutsche Staatsschuldverschreibungen ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Außerdem hat Deutschland es versäumt, für Krisenzeiten und Katastrophenfälle eine Kriegskasse aufzubauen.
85 Eine rigorose Überprüfung der Personal- und Rentenaufwendungen für den gesamten Öffentlichen Dienst auf nationaler und EU-Ebene ist ebenfalls angesagt. Das hat nichts mit den völlig überflüssigen und fruchtlosen Neid-Diskussionen zu tun, die in Deutschland gerne geführt werden, wenn das Nachdenken über die echten Problemlösungen zu viel Kopfschmerzen auslöst. Deshalb werden wir in diesem Buch auch nur am Rande die Reizthemen der Managergehälter, Boni, Aktienoptionen u. a. streifen, denn diese Diskussionen werden im Fernsehen und in der Öffentlichkeit mit hoher subjektiver Emotionalität geführt und gehen meistens an den wichtigen Sachthemen vorbei. Andererseits haben diese Summen jetzt eine Größenordnung erreicht und hat die Verletzung des Leistungsprinzips so krasse Ausmaße angenommen, dass hierzu nicht einfach nur höflich geschwiegen werden kann. Einzelne Themen zum Tabu zu erklären, kann sich Deutschland auch nicht mehr leisten: Das gesamte Vergütungssystem in allen Berufen und Branchen muss aus der Sicht des Leistungsprinzips gerecht und nachvollziehbar sein. 86 Es müssen Zwischenbilanzen und detaillierte Sanierungskonzeptionen vorgelegt werden, und dieses Mal kann nicht wieder mit dem Spiel begonnen werden, hohe Risiken oder bereits eingetretene Verluste in „Derivat-Geschäften“ oder bei den „Schattenbanken“ zu verstecken. 87 Vgl. Fischer Weltalmanach (2009), S. 635. 88 Vgl. Fischer Weltalmanach (2009), S. 634.
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Abbildung 24:Welche Folgen der Konjunkturcrash hat. | Quelle: Handelsblatt GmbH, Wirtschaftswoche Nr. 14 vom 30.03.2009. Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, Arbeitsmarkt, Produktion und Preise.
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ZWEITES KAPITEL Wieso wir mitten in der Finanzkatastrophe stehen Erster Abschnitt Ein verlorenes Jahrzehnt – die teuerste Zeit- und Geldverschwendung aller Zeiten in Deutschland
1
2
I. Die historische Dimension des Worldwide Economic Disaster: Schlimmer als die Große Depression 1929 ff.
3
1. Die Finanzkatastrophe 2008/2009 und die damit verbundene Verschleu-
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derung öffentlicher und privater Finanzressourcen sprengt in jeglicher Hinsicht alles bisher Dagewesene.2 Inzwischen äußert sich jeder zu dem Thema, und das Internet verbreitet Ansichten und Argumente dazu in EMail-Geschwindigkeit. Spitzenpolitiker, Ökonomen und Medienvertreter überbieten sich wechselseitig mit Superlativen,3 wenn es gilt, den Zustand der Weltwirtschaft im I./II. Quartal 2009 zu beschreiben oder historisch in die Reihe anderer berühmter Börsen- und Wirtschaftskatastrophen einzuordnen: 1
1
Was alles schon an Daten und Fakten 2003 bekannt war: Vgl. Munk, Nicole, Die T-Aktie als Marke (2. Aufl. 2003), Staatliche und private Einflussnahme zur Kurspflege einer „Volksaktie“, S. 37: Die internationale Schuldenkrise und die Rückwirkungen auf die deutsche Bankenund Aktienlandschaft; S. 39: Weltwirtschaft, deutsche Volkswirtschaft und Banken in der „Liquiditäts- und Wertefalle“; S. 41: Die Banken- und Strukturkrise als Chance zum Neubeginn; S. 223: Selbstbedienungsmentalität und Vertrauensverlust; S. 235: Wege aus der Krise; S. 241 ff.: „Vierzehn Thesen zur deutschen Volks- und Finanzwirtschaft und zur Förderung der Stabilität des Euro“. 2 Dass die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Worldwide Economic Disaster zuletzt stirbt, ist menschlich: Vgl. „Ist das die Wende?“, in: Financial Times Deutschland vom 08.05.2009, S. 7 mit einer Gegenüberstellung der Optimisten und Pessimisten: Optimisten: Fehrenbach (Bosch); Liveris (Dow Chemical; Pessimisten: Jürgen Hambrecht (BASF), Peter Bettermann (Freudenberg) Peter Löscher (Siemens), Karl Gerhard Eick (Arcandor), Robert Friedman (Würth-Gruppe), Günther Fielmann (Fielmann Optik). 3 Die Bundestagswahl Ende September 2009 führte zu einem Wahlkampf der Firmenretter und war eine denkbar schlechte Basis für objektive und sinnvolle ökonomische Entscheidungen. Vgl. Hawranek, Dietmar/Reiermann, Christian/Reuter, Wolfgang/Tietz, Janko, Wahlkampf der Firmenretter, in: Der Spiegel Nr. 21 vom 18.05.2009, S. 22 f. Danach beläuft sich das Kreditund Bürgschaftsprogramm der Bundesregierung auf jetzt 115 Milliarden Euro (für die sogenannte „Realwirtschaft“), davon 75 Milliarden Euro Bürgschaften, 25 Milliarden Euro KfWKredite für größere Unternehmen und 15 Milliarden Euro KfW-Kredite für den Mittelstand.
E. Munk, N, Essiger, Masterplan zur Sanierung der Weltwirtschaft, DOI 10.1007/978-3-8349-8832-4_2, © Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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• Als z. B. genauso katastrophal oder noch schlimmer als die große Depression Anfang der 1930er Jahre in den USA müsse die Lage eingeschätzt werden, 4 • oder der Schwarze Freitag vom Oktober 1929 sei in den Wirkungen noch übertroffen worden, • oder noch pessimistischer: Die große Massenarbeitslosigkeit und der Zusammenbruch der Weltproduktion Inflationswelle wie diejenige von 1923 stünde der Welt erst noch bevor usw. 5
2. In Anspielung auf die japanische Rezession von 1994 wird von manchen Experten eine ein oder zwei Jahrzehnte andauernde Dauerdepression prognostiziert – oder besser gesagt prophezeit, denn mit einer mathematischen Erfassung von Daten und ihrer wissenschaftlichen Interpretation haben derartige Ausblicke in die Zukunft nichts mehr zu tun. Niemand kann heute ernsthaft bestreiten: Die „Superrezession“ hätte vermieden werden können. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundes- und Landesregierungen und der Parlamente seit den 1990er Jahren, ganz sicher seit 2000 kann unter der Überschrift zusammengefasst werden: Tausend verpasste Chancen.
4
Vgl. Jörges, Hans-Ulrich, Der Zwischenruf aus Berlin, „Das Monster schmatzt“, in: Der Stern Nr.22 vom 20.05.2009, S. 38. Danach ist die Macht des alten Finanzsystems ungebrochen. „Das Casino ist wieder eröffnet“, und bedauerlicherweise geben die Daten und Fakten Jörges Recht: Das Investmentbanking wird fortgesetzt, die alten Marktstrukturen und Mechanismen haben den Crash überdauert, die Regierungen haben ihr Versprechen, die Wiederholung des Worldwide Economic Disaster unmöglich zu machen, nicht eingelöst. Der nächste Feuersturm auf den Finanzmärkten ist vorprogrammiert. Ökonomie-US-Nobelpreisträger Josef Stiglitz urteilte soeben noch: „Der Fall der Wall Street ist für den Marktfundamentalismus das, was der Fall der Mauer für den Kommunismus war“, doch das dürfte einer der vielen Irrtümer des Think tanks sein. An der Wall Street wird bereits eine neue Hausse gefeiert, auch der Dax hat die 5000-Punkte-Marke durchbrochen. Die Arbeitslosigkeit und die roten Zahlen treiben paradoxerweise die Börse an. Doch nur ahnungslose Optimisten würden daraus den Schluss ziehen, dass die Krise damit abgesagt sei. Nach wie vor gilt: Das Geld des Steuerzahlers ist das Löschwasser für die Brandbekämpfung. Der Arbeitnehmer haftet mit seinem Job für die Kosten der Rettungsversuche der Regierung – und der Mittelständler mit seinem Betrieb und seinem Haus. Keines der Subprime-Derivate ist bislang verboten worden, „Knock-Out-Produkte“, „Hebel-Produkte“ und „Exotische Produkte“ haben an den Börsen Hochkonjunktur. Die Boni für Finanzjongleure bleiben in Kraft. Das alles macht deutlich, wie unaufschiebbar ein Masterplan zur Sanierung der Wirtschaft damit erst recht geworden ist. Jörges schließt seinen Zwischenruf mit der realistischen Einschätzung: „Horst Köhler nennt das Finanzsystem ein Monster. Das lebt. Und schmatzt. Es ist wieder hungrig.“
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3. Seit Ende der 1990er Jahre gab es Jahr für Jahr genügend Anlass, publizis-
6
tisch in einer Vielzahl von Veröffentlichungen die Strukturen einer von Grund auf verfehlten Industrie-, Wirtschafts- und Geldpolitik darzulegen und in dem damals noch im Wesentlichen auf das kommunale Umfeld beschränkten Wirkungsbereich auf schon bestehende und künftige Missstände der Börsen, der virtuellen Kapitalwertschöpfung und der Misswirtschaft5 in den Staatsfinanzen mahnend aufmerksam zu machen.6 Schon damals – mehrere Jahre vor der Veröffentlichung der T-Aktie als Marke (2003) und der Insolvenzprophylaxe für Deutschland (2004) – hatte ich
• Riesters Rentenfarce scharf kritisiert7 und
5
6
7
Vielleicht gibt es einen Zusammenhang zwischen der Lage der Staatsfinanzen und dem sonnigen Gemüt der Deutschen, das sich in Karnevalsliedern wie „Wer soll das bezahlen“ äußert. Vgl. hierzu auch „Wer soll das bezahlen?“ – Spiegel-Streitgespräch zwischen Thorsten Polleit, Barclays Capital, und Peter Bofinger, „Wirtschaftsweiser“, in: Der Spiegel Nr. 23 vom 30.05.2009, S. 68 f.: Was kommt: Inflation oder Deflation? Und was wäre schädlicher? Die Hoffnung von Bofinger lautet, dass die Notenbanken nur in solchem Umfang Liquidität bereitstellen, um den Interbankhandel wieder in Gang zu bringen; wenn das geschafft ist, würden die Notenbanken ihre Rettungsprogramme wieder zurückfahren und auf diese Weise wieder zu der Geldwertstabilität beitragen. Für ein nachhaltiges „gutes“ Geld, das durch Rohstoffe wie z. B. Gold, Platin, Silber usw. gedeckt und nicht als virtuelles Geld beliebig vermehrbar ist, spricht sich Polleit aus. Doch das ist allein niemals ausreichend: Liquidität muss zur Verfügung stehen, um nachhaltig Arbeitsplätze zu schaffen, in neue Technologien zu investieren, also weniger zu dem Zweck, Vertrauen zwischen den Banken zu schaffen. Gefahr droht dadurch, dass die Staaten bei der Öffnung der Schleusen der Notenbanken in einen Wettlauf geraten könnten: Wer druckt wie viel neues Geld am schnellsten – und hat die besten Verteilungssysteme. Gerade das darf nicht geschehen. Es würde weit über den hier für den Masterplan vorgesehenen Umfang hinausgehen, alle Artikel und Veröffentlichungen aufzuzählen. In der Gesamtschau ergibt sich aber, dass unseren Entscheidern der alten Eliten kein einziger größerer wirtschafts- und/oder finanzpolitischer Fehler hätte unterlaufen dürfen, wenn auch nur einige Grundaussagen gelesen, verstanden und beachtet worden wären. Z. B. über den Kampf der COBRA-Gruppe des Clemens Vedder gegen die Commerzbank – Bad Nauheimer Stadtzeitung vom 09.06.2000 – „COBRA – übernehmen Sie“ –; „Bad Nauheimerin im Clinch mit Wirtschaftsbossen“, in: Wetterauer Zeitung Nr. 138 vom 16.06.2000, S. 23; vgl. Großaktionär COBRA von Sondierungsgesprächen zwischen Commerzbank und Dresdner Bank ausgeschlossen – Commerzbank durch Munk-Gutachten in Alarmbereitschaft, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 460 vom 23.06.2000, S. 1. Munk, Nicole, Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 463 vom 14.07.2000, S. 2 mit Darlegungen über den Notstand des deutschen gesetzlichen Rentensystems, mit Mehrwertsteuererhöhungen (auf 16 %) die Finanzierung des sonst insolventen Altersversorgungssystems sicherzustellen. Ob Staatsverschuldung, ob Luftblasen oder die Täuschung der Wählerschaft: Alle Themen von damals stellen sich heute wieder, nur in einer Dimension, die jetzt wirklich als systemvernichtend erkannt worden ist.
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• auf die Notwendigkeit der Privatisierung öffentlicher Versorgungsbetriebe zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit aufmerksam gemacht.8 Dass die staatliche Aufsicht bei der Überprüfung staatlicher und privater Altersvorsorgesysteme gefordert, aber auch überfordert war9 – Überschrift meiner Veröffentlichung: „Ihre Rente muss sicher sein“ –, war schon Ende 2000 ein brennendes Thema. Die – vergeblichen – Bemühungen des Bundesrechnungshofes, die Verschwendungssucht der Bundesregierung einzudämmen,10 hatte ich ebenso behandelt wie den „faulen Zauber“ der Aktienemissionen und die sich im Sturzflug11 befindlichen Aktienkurse. Auch die Sicherheit der Privatvorsorge und die Bekämpfung der Altersarmut waren von Nicole Essiger als Diskussionspunkte aufgegriffen worden, die nicht erst 2009 aufgetaucht waren, sondern schon 2001 im Blickfeld besorgter Bürger12 standen. „Milliardenprofite für Banken und Versicherungen – Aufgepaßt, sonst sind wir Bürger wieder die Dummen“ – das war im Sommer 2001 der Titel eines weiteren von Nicole Essiger veröffentlichten Artikels,13 der heute wie ein déja vue in Bezug auf das Worldwide Economic Disaster 2009 erscheinen muss. Viele weitere Veröffentlichungen folgten zu Themen, die heute in den Talkshows der TV-Sendeanstalten so sehr die Gemüter erhitzen – aber das alles war schon lange als Problem da gewesen.14 Wenn wir heute Revue passieren lassen, was damals schon alles geschrieben, veröffent8 9 10 11
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14
Munk, Nicole „Stadtwerken hilft nur echte Privatisierung“, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 469 vom 15.09.2000, S. 2. Vgl. Munk, Nicole, „Aufgepaßt bei privater Altersversorgung“, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 474 vom 20.10.2000, S. 2. Munk, Nicole, „Die Renten wären Peanuts, würde der Staat nicht Milliarden verschwenden“, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 476 vom 03.11.2000, S. 2. Munk, Nicole, Der faule Zauber – Aktien im Sturzflug, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 478 vom 17.11.2000, S. 2 mit dem Untertitel: „Der Neue Markt ist mit Vorsicht zu genießen – Spekulationen mit warmer Luft“. Munk, Nicole, Durchbruch für die Privatvorsorge! Altersarmut in Deutschland?, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 502, vom 25.05.2001, S. 2. Munk, Nicole, Milliardenprofite für Banken und Versicherungen – Aufgepaßt, sonst sind wir Bürger wieder die Dummen, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 508 vom 27.07.2001, S. 2. Munk, Nicole, Kadavergehorsam oder unabhängiges Mandat, in: Wetterauer Zeitung Nr. 208 vom 07.09.2001, S. 37. Munk, Nicole, Schadensersatz – Können geschädigte Aktionäre hoffen?, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 517 vom 28.09.2001, S. 1. Als Beispiel für ein gescheitertes Aktien-Sharebranding: Munk, Nicole, Kurszerfall – HeydeAktie nur noch 47 Cent wert – Insolvenzgefahr – Millionenmauschelei, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 535 vom 15.02.2008, S. 1. Zum Versagen der Bankenaufsicht Haftung für marode Aktienemissionen Munk, Nicole, Was hat Bad Nauheim mit der Bundeskreditaufsicht zu tun? In: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 547 vom 10.05.2002, S. 2. Die Thesen zur Bekämpfung der Kapitalvernichtung: Das Netzwerk der Finanzschwindler offenlegen. Die Gontard & Metallbank AG, die Goldzack AG, Dietrich Walther und Heyde als Glücksritter des Neuen
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licht, vorgetragen, argumentiert und beschworen wurde,15 packt einen die blanke Wut, immer gerade dort Recht behalten zu haben, wo die Schlussfolgerungen besonders bitter für die arbeitende Bevölkerung und die vorausgesagten Vermögensverluste und Schädigungen besonders drastisch waren.16 Eine kurz gehaltene Abfolge von Schlagzeilen, Kolumnen, Aufsätzen usw.17 aus dem damaligen Bemühen Nicole Essigers um objektive Aufklärung und Schadenseindämmung soll hier endgültig aufräumen mit der Mär von der Unvermeidbarkeit der Katastrophe und soll den Massensuggestionen durch Sprache entgegenwirken, deren sich unsere Volksvertreter inzwischen bedienen. Niemand habe das erahnen können: Wirklich niemand? Nein: Alle konnten es wissen statt nur ahnen, und viele wussten es auch definitiv.18 Wir Deutsche haben andere Sprichwörter hierfür als Be-
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Marktes. Zehn Jahre persönliche Rückgriffshaftung. Vgl. auch Munk, Nicole, Insiderhandel – falsche Ad-hoc-Meldungen – vorgetäuschte Überzeichnungen und andere faule Tricks – in Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 548 vom 17.05.2002, S. 2. Siehe dazu auf Homepage www.drnicoleessiger.com eine Auswahl der von Nicole Essiger veröffentlichten Artikel, die eine Vorwegnahme der meisten heute so intensiv diskutierten Probleme beinhalteten. Munk, Nicole, Geheimbericht des Bundesrechnungshofes gibt Nicole Munk recht: Eröffnungsbilanz 1995 der Telekom war falsch – Wertberichtigung jetzt bei 5 Milliarden – Zorn, Wut und das Milliardenschuldenloch Bilanz-Affäre der Telekom und kein Ende, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 554 vom 28.06.2002, S. 2: Schwere Vorwürfe gegen Finanzminister und Telekom – Nepper, Schlepper, Bauernfänger. Munk, Nicole, Angst vor der Pleite! Sind wir die Dummen? – Geld in Lebensversicherungen schlecht geschützt, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 559 vom 16.08.2002, S. 1 mit den folgenden Fragen: (1) Wie sicher ist mein eingezahltes Geld? (2) Gibt es einen separaten Sicherungsfonds? (3) Wenn Ihre Gesellschaft in Insolvenz gehen würde, kann ich dann voll mit meinem eingezahlten Geld rechnen? (4) Wer kontrolliert bei Ihrer Gesellschaft die Vermögenswerte wie Immobilien, Aktien usw. (5) Sind diese in den letzten Jahren wertberichtigt worden? Munk, Nicole, Arbeit muss her – Die Wirtschaft baut Stellen ab – Mehr Investitionen braucht das Land, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 462 vom 06.09.2002, S. 3. So viel zu den falschen Wiederholungen unserer Staatspolitiker, unserer Eliten und unserer Wirtschaftsweisen, die eigentlich Waisenknaben der Volkswirtschaftslehre heißen müssten, dass man so großartig schnell auf die hereinbrechenden unvorhersehbaren Naturereignisse reagiert habe und sich die Wiederwahl Ende September 2009 verdient haben würde – das ist wohl die unterschwellige massenpsychologische Botschaft, die ständig an die schweigende Mehrheit gerichtet wird. Munk, Nicole, Was steckt eigentlich hinter dem Begriff der Generationengerechtigkeit, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 567 vom 11.10.2002, S. 2. Munk, Nicole, Millionen von TAktionären im Stich gelassen – Stiftung Warentest stellt sich selbst ins Abseits, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 569 vom 25.10.2002, S. 3. – Die geheuchelte Besorgnis der Stiftung für die Kleinaktionäre? Schützer des Bürgervermögens oder Kiebitz des Bundesfinanzministers. Seib, Toni: Nicole Munk mag am liebsten mächtige Gegner, in: Frankfurter Rundschau Nr. 252 vom 30.10.2002, S. 41: Nicole Munk legt sich zunächst mit der Telekom und dann mit der Stiftung Warentest an. Munk, Nicole, Alles geht raus? – Auch unsere Arbeitsplätze – Schläft
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griffe wie „Kernschmelze“ oder „Tsunami des Finanzmarktes. Z. B.: „Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht“ oder: „Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis tanzen“. Der Krug ist jetzt zerbrochen, und die auf dem Eis tanzenden Esel sind ausgerutscht. Es wäre ein unerklärbares Wunder gewesen, wenn es nicht so gekommen wäre. Und das Problem trifft auch keine Unschuldigen oder Unwissenden. 7
II. Was allgemeiner Wissensstand aller Staatspolitiker, Wirtschaftsweisen und der Wirtschaftswissenschaft hätte sein müssen
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A. Von Ludwig Erhards Wirtschaftswunder zum Sanierungsfall: Deutschland im Abstiegskampf als Industrienation – uns droht eine Massenarmut!
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Das war am 09.05.2003, vor mehr als sechs Jahren, die Schlagzeile zu einer meiner Veröffentlichungen. Zu reißerisch? Zu polemisch? Stellen Sie diese Frage den Zehntausenden von Sparern, die auf Empfehlung von Sparkassen und Volksbanken u. a. ihre Sparguthaben in todsichere Lehman-Brothers-Zertifikate oder in Sparguthaben der isländischen Kauthing-Bank umgetauscht haben und deren Vermögen zerstört worden ist. Oder den Autobauern auf dem Werkshof von Opel in Rüsselsheim oder Bochum. Wer sich im Detail dafür interessiert, kann die Thesen Nicole Essigers vom Mai 2003 auf www.drnicoleessiger.com im Wortlaut vollständig nachlesen.19 Dort hatte Nicole Essiger formuliert:
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„Was bedeutet AGENDA 2010? Den Versuch, die verkrusteten Strukturen in der Bundesrepublik Deutschland in Staat und Gesellschaft, bei der Altersversorgung, der Krankenversicherung, den Sozialsystemen und den Bildungs- und unsere Politik, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 626 vom 30.01.2004, S. 1 mit den Themen: Deutschlands Betriebsrentensystem – Vor dem Aus? Auch nur ein trojanisches Pferd? Eine gleichmäßige 20-prozentige Reduzierung des gesamten finanziellen Aufwandes für die Staats-, Länder- und Kommunalverwaltungen würde einen dreistelligen Milliardenbetrag einsparen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen: (1) Sofortige Reduzierung der Staatsquote von 45 % auf 35 %. (2) Reduzierung der sogenannten „Kosten der politischen Führung“ von ca. 8 Milliarden Euro auf ein Viertel (2 Milliarden Euro). (3) Reduzierung der Kosten für die sogenannten allgemeinen Dienste des Bundes von (2004) 45 Milliarden Euro jährlich auf mindestens die Hälfte. Vgl. Munk, Nicole, Milliardenschlacht – Wurden Telekom-Heyde-Aktionäre betrogen? – Blutrote Bilanzen – Die Bankenkrise lähmt die deutsche Volkswirtschaft, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 585 vom 28.02.2003, S. 1. Zu dem Machtmissbrauch der Gewerkschaften Munk, Nicole, Gewerkschaften haben Mehrheiten – Zwei Drittel der Regierungskoalition sind Gewerkschaftsfunktionäre. Warum wurde mit diesen Mehrheiten der Sozialstaat kaputtgemacht? in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 595 vom 09.05.2003, S. 2. Munk, Nicole, Uns droht eine Massenarmut, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 595 vom 09.05.2003, S. 1. 19 www.drnicoleessiger.com
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Wissenschaftseinrichtungen aufzubrechen und den Anschluss an die führenden Industriestaaten wiederzufinden, die ihre Reformvorhaben – von Deutschland fast unbemerkt – schon vor Jahren auf den Weg gebracht und uns gegenüber einen Wettbewerbsvorsprung herausgeholt haben.“ Altbundespräsident Roman Herzog und Bundespräsident Horst Köhler sprechen heute davon, dass die Weltwirtschaftskrise 2008 in unserem Staat habe alte Strukturen erkennen lassen, die aufgebrochen werden müssten und dass sich eine Kaste vom Managern der Finanzindustrie nicht nur aus dem Rechtsstaat, sondern aus unserer Gesellschaft abgemeldet haben würde. Beide denken auch darüber nach, wie der deutsche Sozialstaat gerettet werden könnte. Das alles ist aber nicht neu. Nicole Essiger hatte im Mai 2003 bereits das Problem und die Lösungen – siehe www.drnicoleessiger.com – genau beschrieben.20
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B. Das abgestumpfte öffentliche politische Gewissen lässt sich auch heute nicht aufrütteln: Was muss noch alles passieren, damit wir aufwachen?
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Es ist seit Jahren die abstumpfende Macht der Gewohnheit: Stell dir vor, die Haushalte des Bundes und mancher Länder sind verfassungswidrig, gesetzeswidrig, aber keinen interessiert das: die Finanzausschüsse der Parlamente nicht, das Bundesverfassungsgericht nicht, den Bundesrechnungshof nicht. Der deutsche Rechts- und Verfassungsstaat löst sich Schritt für Schritt selbst auf. Früher war der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit gleich einem Verbrechensvorwurf: Wer das nicht entkräften konnte, und zwar vollständig, war erledigt. Heute ist Verfassungsbruch, wenn er sich auf die Nichteinhaltung von Haushaltsgrundsätzen beschränkt, kein Imageproblem in der Öffentlichkeit. Im Gegenteil: Pleite gehen ist in Mode, Verfassungsbrüche machen interessant. So sieht es z. B.
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20 Das war und ist kein rabenschwarzer Pessimismus, sondern nichts anderes als die Schlussfolgerung aus dem objektiven Beobachten der Daten und Fakten und Ergebnis des Realitätsbewusstseins, die ich als Grundvoraussetzung jeden sinnvollen politischen Handelns vom Elternhaus gelernt hatte. Damals wurde man aber in die Ecke derjenigen gestellt, die immerzu aus Prinzip den Weltuntergang prophezeien würden. Haben denn alle anderen wirklich in so großem Maße Unrecht? Diese Frage wurde Nicole Essiger in öffentlichen Diskussionen oft gestellt. Heute weiß man: Ja, die anderen hatten allesamt unrecht. Können sich so viele Wirtschaftswissenschaftler gemeinsam irren – oder sich zu einem nichts sehen – nichts hören – nichts fühlen – verabreden? Ja, bedauerlicherweise können sich alle Wirtschaftsweisen gemeinsam irren und die tödliche Gefahr für die deutsche Volkswirtschaft übersehen – oder ihr Amt verstehen als Teil eines gewaltigen Schauspiels, in dem staatstragender Berufsoptimismus und Schmeichelei der Regierungen Grundvoraussetzungen für die Schauspielerkarriere sind. Diese brisante Mischung als Realitätsblindheit, Halbwissen, Obrigkeitsdenken und Opportunismus hat wesentlich zum Versagen des Systems beigetragen.
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der Bürgermeister von Berlin. Die Ursachen und Funktionszusammenhänge waren aber schon um die Jahrtausendwende bekannt. Kann eine Volkswirtschaft gesund sein, wenn der Staat, in den sie eingebettet ist, finanziell chronisch krank ist? Natürlich nicht. Damals bearbeitete Nicole Essiger eine Reihe von Themen,21 die sich heute im aktuellen Gewande wieder zeigen, aber dass wir sie lösen müssen, wissen wir schon seit Ende der 1990er Jahre.22 14
C. Versicherungen sollen durch Regierung vor Insolvenz gerettet werden!
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So lautete am 17.10.2003 die Schlagzeile zu einer weiteren Veröffentlichung, mit der Nicole Essiger auf die Gefährdung der privaten Altersversorgung in Deutschland aufmerksam gemacht hatte.23 Sie wissen schon, dass sich die Frage nach zu viel Polemik oder Demagogie verbietet. Oder wollen Sie darüber mit den Tausenden von Mannheimer Lebensversicherungskunden24 sprechen, die gerade noch einmal ihre Altersversorgung quasi von der deutschen Lebensversicherungswirtschaft „neu geschenkt“ erhielten? Von einer Versicherungswirtschaft, die sonst ihren kollektiven Untergang eingeläutet hätte? Die nicht das Risiko der Frage nach dem Warum eingehen konnte. Weil sich sonst herausgestellt hätte, dass mit den Versicherungskundengeldern auf den Börsen spekuliert worden war: Also alle als „High Roller“ zwischen New York und Tokio unterwegs? Nicole Essigers damals publizierte Aussage lautete:
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Die Krise der deutschen Lebensversicherer ist gravierender als bislang bekannt: Bis zu zehn Unternehmen stehen nach Angaben aus Koalitionskreisen vor der Insolvenz, falls die Steuergesetze für Versicherungen nicht geändert werden. Auch in der Wirtschaft wird auf die Gefahr von mehreren Pleiten hingewiesen.
21 Die damaligen Aussagen von Nicole Essiger, geb. Munk (1999 – 2003): Das internationale Standing der deutschen Großbanken hat sich besorgniserregend verschlechtert, Auch die deutsche Versicherungswirtschaft ist davon betroffen. Eine radikale Wende in Staat, Wirtschaft und Politik ist unumgänglich geworden. 22 Munk, Nicole, Arbeit muss her – Die Wirtschaft baut Stellen ab – Mehr Investitionen braucht das Land, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 462 vom 06.09.2002, S. 3. 23 Munk, Nicole, Versicherungen sollen durch Regierung vor der Pleite gerettet werden, in: Bad Nauheimer Stadtzeitung Nr. 614 vom 17.10.2003, S. 1. 24 Die für Monate in der Ungewissheit lebten, gänzlich ohne Altersversorgung der Sozialhilfe zur Last fallen zu müssen? Oder wollen Sie lieber warten, bis Sie diese Diskussion mit Versicherten der ersten insolvent gegangenen Lebensversicherung führen können, die niemand und keiner mehr auffängt: Nicht Protektor, kein Fusionspartner und auch nicht der Staat?
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Die SPD-Fraktion wollte deshalb ... auf einer Sondersitzung ein Hilfspaket verabschieden, von dem sich die Versicherungsunternehmen fünf Milliarden Euro Entlastung versprechen. Am Tag zuvor hatten die Abgeordneten eine Entscheidung nach turbulenter Debatte vertagt. In der SPD-Fraktion stieß das Hilfspaket jedoch auf heftigen Widerstand. Mehrere Abgeordnete kritisierten, dass die Versicherungen um fünf Milliarden Euro entlastet würden, während Sozialministerin Ulla Schmidt in der Rentenkasse zwei Milliarden Euro einsparen müsse. Millionen Versicherte betroffen Vertreter der Union kritisierten, dass die Regierung in aller Eile ein bereits eingebrachtes Steuergesetz noch ändern wolle: „Hier wird Gesetzgebung auf Zuruf von Interessenvertretern gemacht“, erklärte der haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dietrich Austermann. Die Koalition verteidigte die Pläne. „Es geht hier nicht darum, die Gewinninteressen der Versicherungsbranche zu bedienen, sondern wir handeln im Interesse von Millionen von Versicherten“, sagte SPD-Fraktionsvize Joachim Poß der Süddeutschen Zeitung. Lebensversicherer in ernster Gefahr Falls der Gesetzgeber jetzt nicht handle, stünden fünf bis zehn Lebensversicherungen vor der Pleite, darunter auch größere Anbieter; im schlimmsten Fall wären mehrere Millionen Versicherte betroffen. Dies hätten auch Untersuchungen der Finanzaufsicht BaFin gezeigt, hieß es ergänzend in Aufsichtskreisen. Mögliche Pleiten würden sowohl den Finanzplatz Deutschland beschädigen als auch das derzeit wichtigste Produkt der privaten Altersvorsorge. „Wir wollen in diesem Winter nicht weitere Mannheimer-Fälle erleben“, sagte SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler unter Verweis auf die Insolvenz der Mannheimer Leben im Frühjahr 2003. Auch Branchenvertreter mussten einräumen, dass ohne den geplanten Eingriff mehrere Versicherer bedroht seien; sie litten unter den Kursverlusten in Folge von Fehlspekulationen an der Börse. Schon 2001 war es absehbar Man kann sich nicht mehr vorstellen, dass unsere Regierung an zehn Versicherungsgesellschaften fünf Milliarden verschenken muss, weil die sonst konkursgefährdet sind! Hier darf die Frage erlaubt sein, wo die soziale Gerechtig-
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keit bleibt! Was das für Bürger, die Lebensversicherungen abgeschlossen haben, an Ängsten bringt, kann sich ein normaler Mensch kaum mehr vorstellen. Wir hatten am 29. Juli 2001 in der Stadtzeitung unter dem Titel „Milliardenprofite für Banken und Versicherungen – Aufgepasst, sonst sind wir Bürger die Dummen!“ – gewarnt, dass die Riesterrente nichts taugt, aber dass die Zustände so chaotisch sind, wollten selbst wir uns nicht vorstellen. Warum erfährt man jetzt erst die Wahrheit – und die auch nur scheibchenweise? Gefordert wurde von uns damals auch, im Rathaus eine Beratungsstelle für Nauheimer Bürger einzurichten, damit diese im Alter keine böse Überraschung erleben. Nichts ist seitdem geschehen. 17
An den Feststellungen Nicole Essigers von damals hat sich bis heute nichts geändert. Wenn die deutsche Versicherungswirtschaft 2009 deshalb verdeckte Werbung für Protektor unter dem Deckmantel der Öffentlichkeitsaufklärung betreiben muss, um die Besorgnis von 94 Millionen Lebensversicherungskunden zu zerstreuen, die in der Tat völlig berechtigt fragen: „Wer fängt uns auf?“, so ist die Feststellung gerechtfertigt: Es wäre sinnvoller gewesen, schon vor sechs Jahren mit der Entwicklung eines belastbaren Sicherheitsnetzes zu beginnen. Heute kann die Branche, wenn bei der Wahrheit geblieben wird, nur auf den Staat als letzten Retter verweisen,25 der dann aber schon die Commerzbank, die HRE, Opel, das gesamte Privatbankensystem und nebenbei auch die Landesbanken gerettet hat oder wegen all dieser Ret25 Vgl. Schulze, Elke, Wer steckt hinter der Protektor-AG? in: Der Stern Nr. 23 vom 28.05.2009, S. 90. Protektor-Vorstandschef Jörg Westphal muss einräumen: Sollte ein Finanz-Tsunami über die Versicherungswelt hereinbrechen, dann muss der Staat als letzte Instanz helfen; vgl. a. a. O., S. 91 a. E. Dass dieses System im Ernstfall nicht funktionieren kann, weiß letztendlich jeder: (1) Die wenigsten Lebensversicherer verfügen über Stille Reserven – diese Zeiten sind in den meisten Fällen vorbei. Im Gegenteil wurden Anlagevermögen immer häufiger nach oben bewertet: Bürogebäude mit Leerstand, Aktien im Keller u. v. m. (2) Fusionspartner für die Übernahme von Risiken und Verlusten finden sich immer weniger. Es gibt kaum noch Lebensversicherer, für die es vorteilhaft wäre, aus steuerlichen Gründen die Milliarden-EuroSchulden ihrer schlecht wirtschaftenden Konkurrenten aus Abschreibungsgründen zu übernehmen. Außerdem hat die Vergangenheit – siehe Dresdner Bank – Allianz – Commerzbank u. a. gezeigt, wie Fusionen enden können. (3) Protektor ist im Not- und Ernstfall einer Strukturkrise der gesamten Branche zu schwach. Die Gesellschaft verfügt über kein im Notfall ausreichendes eigenes sofort liquides Vermögen zur Glattstellung der dann riesengroßen Ausgleichssummen. (4) Der deutsche Staat kann unmöglich ein Policen-Volumen von 94 Millionen Verträgen stemmen: Das wären im Ernstfall Beträge zwischen 2 bis 3 Billionen Euro. Auf den Staat zu hoffen, wäre also illusorisch, zumal die Lebensversicherungskunden, um in der Begriffswelt der Regierung zu bleiben, nicht „systemrelevant“ sind. Mit den leer ausgehenden Lebensversicherungskunden hätte man im Zweifel auch wenig Mitleid: Ihre Bedeutung als Wählergruppe wäre zu gering.
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tungsaktionen selbst vor dem Bankrott steht.26 Letztendlich ist jedem klar: 94 Millionen Lebensversicherungsverträge konnte und kann die Bundesregierung und damit der deutsche Steuerzahler nicht auffangen.27 Ca. 373 Millionen Euro Gesamtschaden aus der Insolvenz der Mannheimer Versicherung war verkraftbar, aber was passiert, wenn die Sicherungseinzahlungsansprüche von Protektor nichts mehr wert sind, weil die Lebensversicherer nicht mehr so viel Geld einzahlen können, wie im Falle von Insolvenzen für die Übernahme von Vertragspaketen gebraucht wird? In den nächsten Jahren wirken zudem die Negativeffekte aus der „umgekehrten Alterspyramide“ auch zum Nachteil der Lebensversicherer.
III. Altersarmut, Insolvenzgefahr beim Staat, bei der gesetzlichen Rente, bei den Banken und Lebens- sowie Krankenversicherungen schon lange in Sicht A. Die Wirtschaftskatastrophe wurde schon 1999 erkennbar, aber die Wirtschaftsweisen und unsere Staatspolitiker reagierten nicht
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1. Ab dem Jahr 1999 verstärkten sich die Symptome, dass nichts, aber wirk-
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lich gar nichts in den Finanzsystemen Deutschlands in Ordnung war: Schon damals waren pro Jahr umgerechnet ca. 70 Milliarden Euro aus der Bundeskasse als Zuschuss notwendig, um die gesetzliche Rentenversicherung vor dem Kollaps zu bewahren. Die Mittel hierfür wurden über die Ökosteuererhöhung aufgebracht, statt diese Steuereinnahmen für den Aufbau einer Ökowirtschaft bei der Energieerzeugung und für die Sparte der sonstigen Ökotechnik zu verwenden. Die Finanzpolitiker auf Landes- und Kommunalebene ebenso wie die Vertreter der Bundesschuldenverwaltung mussten lernen, Staats26 Hoffentlich wissen die Kapitalanleger rund um den Erdball, warum sie künftig drei oder zehn Mal so viele Bundesobligationen kaufen müssen – uns zuliebe. Und hoffentlich halten sich die Notenbankchefs der USA, Japan und der Rest der Welt für die nächsten zwanzig Jahre mit der Emission eigener Staatsschuldverschreibungen einmal zurück, bis wir die private Altersversorgung wieder in Ordnung gebracht haben. Der Staat rettet alles und jeden? – aber die Rettungen sind keine Sanierungslösungen auf Dauer, sondern nehmen die Unternehmen nur auf Dauer an den Tropf der Staatszuschüsse. „Nach der Krise ist vor der Krise“, das wird für die meisten geretteten Unternehmen gelten. Vgl. Dalan, Marco/Seidlitz, Frank, Nach der Krise ist vor der Krise, in: Welt am Sonntag Nr. 23 vom 07.06.2009, S. 27. 27 Boeschen, Mark/Gerth, Martin/Schürmann, Christoph/Schwertfeger, Heike, Zu viel Schwund, in: Wirtschaftswoche Nr. 26 vom 22.06.2009, S. 94 ff.: Danach sind Lebensversicherer stärker bei Schrott-Papieren engagiert, als bisher verlautbart wurde. Fazit: „Die Gutschriften für die Kunden stehen deshalb auf dem Spiel“, vgl. Boeschen, Mark/Gerth, Martin/Schürmann, Christoph/Schwertfeger, Heike, a. a. O., S. 94, 95: Bei der Auswahl der Anlagepapiere daneben gegriffen.
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kredite uhrzeitgenau auf Buchungsschnittstunden zu ordern, da ihre jeweiligen sogenannten „Gangreserven“, d. h. Liquiditätsreserven nur noch wenige Tage/Stunden betrugen. Die Lebensversicherungsgesellschaften wussten nicht mehr, wie sie die fällig werdenden Policen bedienen sollten.28 Die Arbeitsabläufe in den mitbestimmten Unternehmen waren sodann zu sehr an die Bedürfnisse der Gewerkschaftsführer angepasst worden: Unterkapitalisierung und Kreditengpässe waren an der Tagesordnung. Es entstand eine riesige finanzpolitische Flickschusterei, ein virtuoses Löcherstopfsystem, das dem Volk nur noch, wie es auch Alan Greenspan formulierte, als wissenschaftlich fundierte Kunst verkauft werden musste. Und die Vertreter des Staates wiederum hatten sich sowieso angewöhnt, so wie die uneinsichtigen und beratungsresistenten Schuldner bei Peter Zwegat – „Raus aus den Schulden“ – zu reagieren:29 „Bei der Regierung sparen – was für eine Zumutung“ – muss man sich denn als Volksvertreter alles gefallen lassen? 20
2. Das alles ist nichts Neues, das eine besondere Höhe an Wissenschaftlich-
keit für sich in Anspruch nehmen könnte, aber wir Deutsche müssen weg von der Vorstellung, dass die Bekämpfung des Worldwide Economic Disaster Wirtschaftsweise, Nobelpreisträger, Denkfabriken und mathematische Genies in Batallionsstärke erfordern würde. Das Gegenteil ist der Fall.30 Bundesfinanzminister Peer Steinbrück z. B. hätte für sich, seine Parteifreunde, seine Berufskollegen, seine Kollegen im Deutschen Bundestag und für die gesamte Ministerialbürokratie anbieten können und müssen: Ein Sonderopfer für all diejenigen in unserem Staat, die immer noch glauben, ihre in jungen Jahren getroffene Entscheidung, Beamter oder Politiker werden zu wollen, war die 28 Wegen des Zusammenbruches bzw. des massiven Rückganges des Neugeschäftes konnte das Lebensversicherungsgeschäft, das angeblich weitestgehend deckungsstockgestützt war, in Wahrheit aber überwiegend auf das Neugeschäft gestütztes Umlaufsystem ist, nicht mehr als klassisches Schneeballsystem betrieben werden, was die Branche dazu verleitete, mit den Kundengeldern an den internationalen Börsen zu spekulieren. Die Verzinsung für den Lebensversicherungskunden war aber weiter rückläufig, und die Fehlbewertung von Risiken führte zu vielen Totalausfällen, was alle Lebensversicherer in große Schwierigkeiten brachte: Denn der deutsche Lebensversicherungskunde war es gewohnt, zu vertrauen und keine unangenehmen Fragen zu stellen. Das war jetzt plötzlich anders. 29 So wie die Schuldner an einem viel zu hohen Lebensstandard festhalten wollen, an dem zu großen Haus, an der zu großen Wohnung, an dem zu großen Auto, an den teuren Hobbys und den Fernurlaubsreisen. Obwohl die Einkommen zurückgegangen sind, reagieren auch unsere Staatspolitiker nicht. Der Begriff „den Rotstift ansetzen“ ist ihnen völlig unbekannt – oder er gilt nur für andere. „Sparen ja: Am besten beim Bürger, bei den sozial Schwachen, aber doch nicht bei uns“. 30 Das Sich-Dumm-Stellen im Aussitzen der Probleme gegenüber dem Wähler bei unseren sogenannten „Eliten“ wird immer größer.
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persönliche Sternstunde des Glücks und der Weisheit, weil damit jedem Arbeitsplatzrisiko, jedem Risiko eines Einkommensrückganges lebenslang gekonnt ausgewichen worden wäre.31 Einsparungen im gesamten Bereich der öffentlichen Dienste – seit mehr als zwanzig Jahren ist kein Millimeter Bewegung in die richtige Richtung zu vermelden. 32 Diese und viele weitere Themen habe ich seit 2001 immer wieder in das öffentliche Bewusstsein geschoben – aber diejenigen, die es hätte angehen müssen, z. B. die Arbeitnehmer mit mittlerem Einkommen, die Handwerker, Kleingewerbetreibende, blieben überwiegend sehr zurückhaltend, was letztendlich verständlich ist: Ein ganzes Leben lang umsonst eingezahlt und gespart, das kann doch gar nicht sein, weil es nicht sein darf. Hat sich das Volk wirklich in solchem Maße hereinlegen lassen? Ja. Gibt es denn in Staat und Politik gar niemanden, der wie ein Volkstribun die Rechte des kleinen Mannes wahrnimmt? Ja, es gibt gegenwärtig bedauerlicherweise keinen, wenngleich wir durchaus konstatieren wollen, dass mancher unserer Besten gerne wollen würde, aber die Konsequenzen scheut und die innere Überwindung wohl immer noch zu viel Kraft kostet.33
31 Minus 20 % Einkommens- und Gehaltsverzicht für alle Beamtengehälter, Wegfall aller Zulagen, 5 Wochenstunden Mehrarbeit ohne Lohnausgleich und für alle dieselbe Rente oder Pension: Es wird sich kein System aufrechterhalten lassen, das für den Beamtenapparat Pensionen vorsieht, die im Durchschnitt mindestens doppelt so hoch sind wie die Renten der Arbeitnehmer. Auch nicht, dass die Altersversorgung der Politiker und hohen Beamten im Schnitt das Fünffache der Rente eines Arbeitnehmers erreicht. 32 Das Vier-/Fünf-Parteien-Kartell in Berlin ist sich auch darüber einig, dass niemand dieses Thema aufgreift – auch die Opposition nicht. Denn schließlich kann auch von ihr in dieser Frage Solidarität erwartet werden – sind doch die Gehälter, Bezüge, Aufwandsentschädigungen, Vergünstigungen und Pensionen für Schwarze, Rote, Dunkelrote, Grüne und Gelbe gleich hoch. 33 Wer würde heute sein Amt und seine Reputation für das Ziel des Schutzes unseres Landes in gleicher Weise aufs Spiel setzen wie etwa Altbundeskanzler Helmut Kohl, der im Herbst 1989 vor dem Deutschen Bundestag seinen Fahrplan zur Deutschen Einheit bekannt gegeben hatte, ohne Freund oder Feind zu verständigen und ohne Rücksicht auf seine politische Karriere – nur geleitet von der Überzeugung, das Richtige zu tun und von dem Gefühl, das der Nation schuldig zu sein: Heute müsste wieder einer unserer führenden Repräsentanten zu solchem Mut und solcher Tatkraft fähig sein, um die Superrezession zu überwinden – aber Geschichte ist manchmal wie eine Lotterie, in der man nicht zwei Mal das große Los ziehen kann.
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B. Der sogenannte „Epochenwandel“: Wir brauchen eine Wachstumsexplosion in den neuen Technologien
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1. Die aus den Fugen geratene Weltwirtschaft deuten manche als einen Epo-
chenwandel in der Erfolgsgeschichte der Industrienationen, andere sehen darin einen Paradigmenwechsel34 und eine späte Bestätigung der Thesen des Clubs of Rome, der schon in den 1960/1970er Jahren ein Ende von Wachstum und Wohlstand in den USA und in Europa vorausgesagt hatte. Das sind die wirklichen Pessimisten, die sich nicht vorstellen können, dass eine von verantwortungsbewussten Eliten (die wir brauchen) geführte Volks- und Weltwirtschaft – in neuen Technologien den Umweltschutz bejahend und diesen fördernd – wachsen kann, und zwar in so großen Schüben, dass damit die Menschheitsprobleme angepackt werden können. Wir sind deshalb der Überzeugung, dass es der Diskussion nach der Einführung einer neuen Wirtschaftsideologie nicht bedarf, sondern dies sogar schädlich wäre. 23
2. Eine dritte Strömung stellt die Frage nach einem neuen Weltwirtschaftssys-
tem unter dem alten klassenkämpferischen Dualismus: Arbeit gegen Kapital. Doch das ist falsch: Heute stehen Arbeit und Kapital gemeinsam gegen eine neofeudale Gesellschaftsstruktur eines unkontrollierten Bank- und Geldsystems, was gerade die Auslöser und Ursachen der Superrezession in den USA gezeigt hatten: Als der vormalige US-Finanzminister Paulson der Bush-Administration den US-Kongress um Gesetzesentscheidungen und die Präsidenten der neun größten US-Banken um rasches Handeln bat, wollte kaum einer der hochrangigen Gesprächspartner seiner Analyse glauben, dass das Weltbankensystem vor dem Zusammenbruch stehen würde. In der Welt der Swaps und Subprime braucht es keinen Klassenkampf und keine Ausbeutung, um ein Finanzdesaster zu verursachen. Deshalb die Fragestellung: Haben Kapitalismus und Marktwirtschaft ausgedient? Wo bleibt der wissenschaftliche oder praktische Fortschritt? Der Gedanke von der Vergesellschaftung von Kapital und
34 Anderer Auffassung: Bofinger, Peter, Mehr Staat wagen!, in: Ist der Markt noch zu retten? Econ-Verlag (2009). Bofinger zählt zu den fünf bzw. sechs Wirtschaftsweisen. Seine Auffassung: Die Weltwirtschaft wird wieder Tritt fassen. Die Deutschen erhalten dann angeblich eine einmalige Chance – aber auf was? Auf einen starken Staat, der nicht der Feind des Bürgers ist, sondern sein Förderer und Beschützer? Die Thesen sind bei genauerer Prüfung nicht haltbar. Es war nicht ausreichend, vor der „Krise“, vor „zu viel Markt, und zu wenig Staat“ zu warnen. Falsch ist auch die Sichtweise, als seien die Banken durch den Staat bereits erfolgreich über Wasser gehalten worden und die Rettungsaktionen weitgehend abgeschlossen.
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Produktion feiert zwar fröhlich sein Dasein,35 aber merkwürdigerweise in politischen Lagern, denen man ein Bekenntnis zu einem starken, die Wirtschaft kontrollierenden oder gar ersetzenden Staat nicht zugetraut hätte. Also etwa zurück zu Marx und Lenin mit einer Renaissance des Sozialismus? Landen jetzt Marktwirtschaft und Liberalismus auf dem Müllhaufen der Geschichte? Wir sagen Nein. Es sind vielmehr gerade die mit dem allgemeinen Gerechtigkeitsgedanken nicht mehr zu vereinbarenden Fehlentwicklungen und Auswüchse im turbokapitalistischen System der internationalen Finanzmärkte, die in der working class und den Mittelschichten ein Ohnmachtsgefühl und das Verlangen nach einem Systemwechsel ausgelöst haben: Heute werden Arbeit, gleich ob es die Leistungen der Arbeitnehmer oder des mittelständischen Unternehmers ist, und Kapital, nämlich das Anlagevermögen des Sparers, des Rentners, des Unternehmers usw. gleichermaßen ausgebeutet. Für den deutschen Normalbürger zeigten sich die globalen Auswirkungen aus der Ausbreitung des Insolvenzvirus besonders drastisch bei ausländischen Geldanlagegeschäften, etwa dann, wenn Spareinlagen ausländischen Banken anvertraut wurden: Neben Lehman Brothers war auch die isländische Kauthing-Bank lange Zeit ein angeblicher „Geheimtipp“, aber nur bis zur Insolvenz. Diese Anleger erhalten ganz überwiegend keine Entschädigung.36 3. Betrachtet man die weltweit aufzustellende Bilanz, wer von der Superrezes-
sion als Geschädigter betroffen und wer als Gewinner der Krise zu betrachten ist, zeigt sich doch, dass es die alte klassische Einteilung in Arbeiter und Unternehmer, in Ausbeuter und Ausgebeutete, nicht mehr gibt: Geschädigt sind die Arbeiter bei Opel, die ihren Broterwerb verlieren werden, und zwar ganz besonders diejenigen, deren Arbeitsplatz wegrationalisiert werden wird, selbst wenn es gelingen wird, Opel zu retten. Denn dann haben es die Regierung, das Parlament und die Gewerkschaften nicht verstanden, Anpassungsprozesse und Änderungen in der Organisation so rechtzeitig auf den Weg zu bringen, dass Arbeitsplätze auf Dauer neu mit künftigen Umsätzen mit Leben ausgefüllt werden.37 Geschädigt sind die Millionen von Sparen und Aktiensparern, 35 Kurz, Robert, Schwarzbuch Kapitalismus (2009) mit einer „Generalabrechnung“ der Fehler des Kapitalismus. 36 Donovitz, Frank, Nie wieder über Kauthing klagen, in: Der Stern Nr. 23 vom 28.05.2009, S. 83. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass die Gier nach immer höheren Zinsen den Blick auf die Grundregel jedes Anlagegeschäftes verstellt hatte: Sichere Kapitalanlagen mit Höchstzinsen gibt es nicht. 37 Genau das ist aber die Aufgabe jeder Insolvenzprophylaxe: Die Leistung besteht darin, rechtzeitig Unternehmen, Betriebe, Daten, Fakten, Märkte, Umsätze, Produkte u. v. m. so schnell zu analysieren, um rasch neue Betriebsorganisationen zu schaffen, alte Machtstrukturen auf-
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ob dies die T-Aktionäre aus Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre waren oder die Geschädigten des Neuen Marktes oder die Lehman-Brothers- oder die Kauthing-Geschädigten, spielt letztlich keine Rolle. Geschädigt sind auch die 94 Millionen deutschen Lebensversicherungskunden, die gespart haben, die Rentner, die in ein Faß ohne Boden eingezahlt haben, der Mittelständler, der Arbeit geben soll, aber diese Funktion immer weniger erfüllen kann und der nicht einfach nur seinen eigenen „Arbeitsplatz“ verliert, wenn er nicht erfolgreich ist, sondern neben dem Verlust seines Betriebes auch noch sein Sparvermögen obendrein. 25
4. Wer profitiert also von der Krise? Ein weltweit operierendes, aufeinan-
der abgestimmtes, gut miteinander vernetztes System: Hohe Beamte in allen G-20-Staaten, für die die Superrezession keine Arbeitsplatzangst und keine Einkommensminderung bedeutet, privilegierte Unternehmer, die sich die Zuschüsse der Staates durch Lobbyistenarbeit sichern können, die „Führungskräfte“ in Staat und Industrie, denen es gelungen ist, ihr Einkommen von dem Wohlergehen ihrer Unternehmen und der Lage der Staatsfinanzen vollständig abzukoppeln. Der Masterplan zur Sanierung der Weltwirtschaft steht vor der schwierigen Aufgabe, dieser unverantwortlichen Oberschicht in allen G-20Staaten gemeinsam den Kampf anzusagen, was voraussetzt, dass in allen Staaten ein mutiges und engagiertes Bürgertum sich die politische Bevormundung durch parlamentarische Demokratien nicht mehr gefallen lässt: Überall muss ein System von Volksentscheiden eingeführt werden, um über die maßgeblichen wirtschaftspolitischen Grundlagen die Völker abstimmen zu lassen. 26
C. Schon seit Ende der 1990er Jahre gilt: Das deutsche Parteienkartell kann keine Lösung bieten
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1. Der deutsche demokratische Rechtsstaat kann, solange er sich in den Klau-
en des Vier/Fünf-Parteien-Kartells befindet, Kapitalvernichtung durch Aktienemissions- und Bilanzbetrug nicht verhindern.38 Er kann die Drahtzieher von Schneeballgeschäften nicht dingfest machen, die Scharlatane der Kapitaleinzubrechen, die bislang sachwidrig aus Eigennutz Innovationen verhindert hatten, Fortschritt blockierten, aus ideologischen oder sonstigen sachfremden Motiven heraus den richtigen Kurs leugnen oder die Sanierungskräfte lähmten. Ob Opel, Arcandor oder die Staatsfinanzen des Peer Steinbrück: Diese Ausgangslage ist immer die gleiche oder jedenfalls in den Strukturschwächen vergleichbar. 38 In ihrer Heimatstadt Bad Nauheim hatte sich Nicole Essiger zu verschiedenen Fehlentwicklungen bei den Aktienemissionen der Heyde AG geäußert, die zum „Lieblingskind“ der Befürworter des Neuen Marktes geworden war.
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werbung, die über das Land ziehen wie eine Plage, nicht bremsen und sieht einer Ausplünderung von Unternehmen durch eine Riege von Vorständen, Aufsichtsräten und Wirtschaftsprüfungsunternehmen ebenso wie der Passivität von Gewerkschaftsführern tatenlos zu, die jegliches Realitätsbewusstsein verloren haben. Dass Millionen von Kleinanlegern zu der Einrichtung und Auffüllung von Aktiendepots verleitet werden konnten, ließen die verschiedenen Bundesregierungen und auch die überwiegende Mehrzahl der Landesregierungen nicht nur zu, sondern unterstützten allesamt diese verhängnisvolle Entwicklung.39 Wegen dieser Komplizenschaft ist das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaates ebenso restlos verloren gegangen wie das Vertrauen in die Richtigkeit von Bilanzen.40 Ob als Verkäufer eines Betriebsgrundstückes oder als Verkäufer einer Gesellschaftsbeteiligung – auf ein Wirtschaftsprüfergutachten zur Untermauerung von Kaufpreisvorstellungen braucht sich heute 39 Anfang des neuen Jahrtausends hatte Nicole Essiger in Dutzenden von Zeitungsartikeln und anderen Publikationen zu den Themen des Insiderhandels und der falschen Ad-hoc-Meldungen Stellung genommen. Sie hatte vor der künstlich geschaffenen Goldgräberstimmung und den falschen Hoffnungen auf exorbitante Wertsteigerungserfolge gewarnt. Alle Hinweise darauf, dass der Aktienmarkt keine Geldvermehrungs-, sondern im Gegenteil eine Geldvernichtungsmaschine werden könnte, wurden von den sogenannten Experten belächelt oder einfach nicht wahrgenommen. Selbst die Stiftung Finanztest von Stiftung Warentest meinte, man könne Firmen und Aktien wie Zahnpasta und Bügeleisen testen und Noten vergeben, auf deren Richtigkeit sich ein breites und vor allen Dingen unerfahrenes Aktienpublikum zu verlassen begann. Kleinanleger ließen sich, verführt durch die Kursverläufe am sogenannten „Neuen Markt“, zu sehr hohen Investitionen verleiten – oft wurden Rücklagen, Erbschaften und das sprichwörtliche Häuschen in Aktiendepots umgeschichtet und auf diese Weise das Sparvermögen ganzer Generationen einem hohem Totalverlustrisiko ausgesetzt. Durch Hochglanzprospekte unterstützt und verleitet durch entsprechendes werbewirksames Auftreten der Emittenten wurden die Gemüter der Anleger auf steigende Aktienkurse eingeschworen. Wer anderer Auffassung war: Das konnten doch nur Hinterwäldler oder Angsthasen sein. Die Bundesregierungen waren an den Mittelzuflüssen ebenso interessiert wie die Finanzminister (aller Parteien). Keiner wollte den „Aufsprung auf den fahrenden Zug nach Fort Knox“ verpassen. Die ungebremste Euphorie ließ viele Anleger aber vergessen, dass die Aktienmärkte nicht nur steigende Kurse kennen. 40 Respektlosigkeit und Frechheit kennen ebenso keine Grenzen wie das Maß der Selbstbereicherung durch Aktienoptionen und Boni für Manager, die selbst dann noch in astronomischer Höhe aufrechterhalten bleiben sollen, wenn die Unternehmen Rekordverluste einfahren oder sich schon im Insolvenzstadium befinden. Dieses Phänomen tritt weltweit auf und hat zu dem Vergleich der Weltwirtschaft mit dem Turmbau zu Babylon geführt. In der Tat haben die Finanzmärkte eine Hybris entwickelt, die derjenigen der Turmbauer in Babylon nicht nachsteht. Mit der Schaffung eines virtuellen Geldvermögens in zigfacher Größe des Weltproduktionsvermögens wollten die Kapitalgesellschaften letztendlich das Gleiche wie die babylonischen Turmbauer. Wie der Turm sollte das Geld grenzenlos in den Himmel wachsen und wie die Turmbauer, die damit gottgleich zu werden hofften, wollten auch die Börsianer so etwas ähnliches wie gottgleich werden: nämlich eine Omnipotenz über alle Staaten und alle Völker erlangen.
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niemand mehr zu berufen. Inzwischen ist es gängige Auffassung der Marktteilnehmer, dass Wertgutachten und sonstige Expertisen als Entscheidungsgrundlage für Kaufpreisbemessungen absolut wertlos sind – je dicker die Gutachten und je bunter die Stempel und Siegel, desto mehr Misstrauen gegen die Richtigkeit der angeblich ermittelten Werte ist geboten. Weil dies so ist, sinken die Geldumlaufgeschwindigkeit und die Transaktionsvolumina. Enttäuschtes Vertrauen ist das Lähmungsgift im Blutkreislauf der Wirtschaft. 28
2. Dass sich Politiker, die Wirtschaftsweisen und solche, die sich dafür halten,
mit Lösungsvorschlägen und Ursachenforschung zu Wort melden und wechselseitig übertrumpfen, ist normal. Wie sehr das Thema aber den Bürger bis ins Mark getroffen hat, wird deutlich, wenn man die lange Liste der Beiträge und Meinungen betrachtet: Auch katholische und evangelische Bischöfe41 und viele Vertreter aus gänzlich anderen Berufssparten sind plötzlich präsent, Psychologen, Philosophen und jede Art von Weltverbesserern, auch Demagogen und Populisten. Das vereinfacht weder die Erfassung noch die Lösung der Probleme und darf den Blick nicht auf die fünf bis zehn Jahre der verlorenen Zeit verstellen, denn daraus resultiert die teuerste Geld- und Zeitverschwendung in Deutschland aller Zeiten: 29
2.1 Die Kapitalverschwendung zu Lasten des deutschen Aktiensparers betrug
bei den T-Aktien-Emissionen geschätzt ca. 200 Milliarden Euro;42 41 Vgl. das Spiegel-Interview mit dem Augsburger Bischof Walter Mixa mit den Spiegel-Redakteuren Jan Fleischhauer und Peter Wensierski, „Da beginnt für mich die Hölle“, in: Der Spiegel Nr. 23/2009, S. 46 f. Diese Ansätze führen aber nicht zu konkreten Lösungen: Allein die beschwörende Formel, dass sich Banken und Börsen nicht an die Stelle Gottes setzen dürfen, führt nicht weiter. Auch die katholische Soziallehre hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht als effektives Instrument zur Durchsetzung von Arbeitnehmerschutzrechten erwiesen. Die Kirchen sind von dem modernen Arbeitsleben organisatorisch und thematisch so weit entfernt, dass ihre Vertreter die Probleme gar nicht erfassen können. Diese immer größere Entfernung der Führungskräfte, seien es Manager, Gewerkschafter, Bischöfe, von den Themen, den Problemen und den Menschen, deren Interessen und Rechte sie wahrnehmen und schützen sollen, machen sie weitestgehend ungeeignet für die Systemlösungen, die jetzt anstehen. 42 Munk, Nicole, Die T-Aktie als Marke (2. Auflage 2003), S. 25 f. mit dem Hinweis darauf, dass die genaue Schadensermittlung größere Schwierigkeiten verursacht: Staatliche Bestandsaufnahmen zu der Gesamtschadenssumme aus den drei Emissionen fehlen, weil keines der großen wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute sich jemals mit dieser Frage beschäftigt hatte: Der Staat war „Komplize“ beim Aufbau des Schneeballsystems und Nutznießer der durch „Share-Branding“ geschaffenen Markt-Kapitalisierung. Die Verhältniszahl zwischen Marktkapitalisierung und Buchwert betrug bei der Telekom damals ca. 0,62 und wies damit ein ähnliches Bild auf wie andere große Dax-Konzerne, deren Marktkapitalisierung länger anhielt als bei der Telekom, die aber spätestens mit dem Worldwide Economic Disaster – 2008/2009 – ähnliche Abstürze ihrer Aktienkurse verschmerzen mussten. Die Marktkapitali-
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2.2 Die „toxischen“ US-Subprime u. a. im deutschen Bankenkreislauf belaufen
sich auf ca. 816 Milliarden Euro. 2.3 Der Verlust in „Aktienspekulationsblasen“ von 2000 bis heute – grob ge-
schätzt – beläuft sich in Deutschland auf gut drei Billionen Euro.
D. Unter dem Deckmantel der Liberalisierung der Aktienmärkte wurde die größte Plünderung des deutschen Volksvermögens organisiert
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1. Für diese teuerste Geld- und Zeitverschwendung in Deutschland fehlen
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statistische Erfassungen, die in den Zuständigkeits- und Aufgabenbereich der „Magnificent Six“ – unserer Wirtschaftsweisen – gehören würden. Dann ist es einerseits einfach, die Schutzbehauptung weiterhin aufrecht zu erhalten, man sei von dem „Big Bang“ überrascht worden; andererseits wird es um so schwieriger, im Detail ausgearbeitete Maßnahmen und Instrumente vorzuschlagen, wie künftig ein derartiger permanenter Aderlass im Geldkreislaufsystem Deutschlands vermieden wird. Die Chancen, einen Erfolg versprechenden Weg einzuschlagen und neue scharfe gesetzliche Rahmenbedingungen für die Abwehr von „Finanzblasen“43 zu schaffen, wurde von allen vertan: Regierung, Verbände und Gewerkschaften44 verfielen in eine kollektive Untätigkeit und verharren hierin heute noch. Heute muss die Frage aufgeworfen werden, warum niemand schon früher auf die absolute Sinnwidrigkeit der Liberalisierung der Aktienmärkte, des Börsenwesens, auf das Versagen der staatlichen Kontrollinstanzen und auf die Überflüssigkeit „neuer Finanzdienstleistungen“ sierung bei der Telekom betrug im Jahr 2003: ca. 41 Milliarden Euro, der Buchwert 66 Milliarden Euro; dies war die Folge des Kursabsturzes. Vgl. Munk, Nicole, a. a. O., S. 29 f. „2.2 Marktkapitalisierung der Dax-notierten Unternehmen“, Fn. 99, S. 32, Fn. 105: Mehr als 80 % Kapitalvernichtung bei den Aktiensparern. 43 Die Varianten der sogenannten neuen „Finanzprodukte“ und ihre Kunstnamen sind so mannigfaltig, dass ihre Auflistung und Darstellung hier aus Platzgründen unterbleiben muss: Alle diese Finanzprodukte enthalten die Loslösung von realen Grundgeschäften, häufig überwiegt ihr Schneeballsystemcharakter und ihre Hebelwirkungen, die im Falle des Nichteintritts der prognostizierten Kursentwicklung zu einer Potenzierungswirkung von Risiken und Kursverlusten führt. 44 Die Scheinheiligkeit der Gewerkschaften zu erörtern, würde den Rahmen dieser Untersuchung vollends sprengen. Tatsache ist, dass bei allen größeren mitbestimmten Unternehmen die Arbeitnehmervertreter häufig als Mitglieder des Aufsichtsrates und als Betriebsratsvorsitzende mit Insiderkenntnissen über die virtuellen Kapitalwertschöpfungen informiert waren. Wenn deshalb Gewerkschaftsführer heute ihren Mitgliedern vorspiegeln, nichts gewusst zu haben, so ist dies nur eine weitere irreführende Täuschung. Die Gewerkschaftsspitzen können die Verantwortung für die eingetretenen Entwicklungen des Worldwide Economic Disaster nicht abstreiten. Deshalb muss sich auch in den Gewerkschaften einiges ändern.
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hingewiesen hatte.45 Wo waren all jene Experten und die „sechs Wirtschaftsweisen“, als die Weichen auf die „Liberalisierung“ der Börsen gestellt wurden, was in Wahrheit aber das Abgreifen des Sparvermögens aus drei Jahrzehnten Rücklagenbildung des Volkes bedeutete – und dessen Vernichtung innerhalb kürzester Zeit? Warum war niemand bereit, sofort den Notausschalter zu betätigen?46 Die Bundesregierung und die Verbandswirtschaft haben 1.1 die Frage nach der Verantwortung in der Vergangenheit47
und 1.2 die Frage nach der Haftung in der Zukunft 45 Die Finanzkatastrophe nahm – wie allseits bekannt – ihren Ausgangspunkt bei den Subprime Mortgages der großen US-Hypothekenfinanzierer. Die Englisch-Sprachkenntnisse unserer Politiker und Bankvorstände hätten so weit reichen müssen, um sich den Sinngehalt dieser Bezeichnung selbst zu übersetzen: Prime Mortgages sind erstrangige Hypotheken; subprime Mortgages sind zweitrangige Hypotheken. Jeder Banklehrling weiß, dass zweitrangige Hypotheken sehr schlechte Sicherheiten sind – und seit der Schrottimmobilienkatastrophe in Deutschland ist auch klar, dass Subprime heute eigentlich überhaupt keine Banksicherheiten sind, sondern als Hoffnungswerte ohne echten Verkehrswert betrachtet werden müssen. Wenn also eine Bank alle diese zweit- und teilweise auch drittrangigen Sicherheiten in einer Sammelurkunde verbrieft, so würde jedem einleuchten, dass die Konzentration vieler schlechter Sicherheiten keine starke Sicherheit macht, und diejenigen mit humanistischer Bildung könnten Johann Wolfgang von Goethe zitieren: „Getretener Quark wird breit, nicht stark.“ Was das Rating der US-Hypothekenbankfinanzierer betrifft, hätte für die deutschen Bankvorstände und die Verwaltungsratschefs der Landesbanken die Frage nahe liegen müssen: Wenn diese Subprime-Sammelwertpapiere so wertvoll sind, warum verbieten dann US-Gesetze, diese Papiere an US-Amerikaner zu verkaufen? Wohl doch deshalb, weil der treusorgende US-amerikanische Staat verhindern will, dass US-Bürger betrogen und geschädigt werden. 46 Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat es 2007 wie folgt formuliert: „Genau so wie der globale See- und Luftverkehr strikten Sicherheits- und Verkehrsregeln unterliegt, bedarf der globale Kapitalverkehr der Regulierung, damit Katastrophen vermieden werden. Das ist ein Gebot vorsorgender Vernunft – von Anstand und Moral ganz zu schweigen“; zitiert bei Schäfer, Ulrich, Der Crash des Kapitalismus (2009), S. 259. 47 Nach unserer Rechtsauffassung war der Ankauf von Subprime durch Banken und Landesbanken Untreue i.S.d. § 266 Abs. 1 StGB in einem ganz besonders schweren Fall (§ 266 Abs. 3 StGB). Der Bundestag muss deshalb ein Maßnahmegesetz beschließen, das die Verfolgung dieser Straftaten sichert. Als erstes wäre an eine Änderung und Verlängerung der Verjährungsvorschriften zu denken, um sicherzustellen, dass nicht durch Zeitablauf Verjährung eintritt. Sodann müssten bei den Schwerpunktstaatsanwaltschaften besondere Abteilungen zur Aufklärung der Tatabläufe und der verursachten Vermögensschäden eingerichtet werden. Soweit handelnde Personen über Indemnität oder Immunität als Abgeordnete oder Regierungsmitglieder verfügen, müsste dieser Schutz durch die entsprechenden Parlamentsbeschlüsse aufgehoben werden. Die Möglichkeit, gegen die Täter, Mittäter und Mitwisser Schadensersatzansprüche des Bundes und der Länder mit Erfolg durchsetzen zu können, muss in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt werden. Die alten gesetzlichen Grundlagen des Strafgesetzbuches sind hierfür völlig ausreichend.
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sinngemäß mit der Begründung zurückgestellt, dass – so Peer Steinbrück – wenn das Haus brenne, gelöscht werden müsse, und zwar auch dann, wenn Brandstiftung vorliege. Doch die Ermittlungen, wer der Brandstifter war, sind bei der Schwere des Brandschadens sofort aufzunehmen, und die Verkehrskreise und Berufsgruppen, die ganz vorne in der Verantwortungskette stehen, sind keineswegs unbekannt. In den weiteren Ausführungen wird in besonderer Weise auf das Thema einzugehen sein, dass die Brandstifter von damals in der Zukunft nicht mehr Feuerwehrkommandant bleiben können.48 Die HRERettung, die den deutschen Steuerzahler in der unverantwortlichen Form, die die Bundesregierung und der Bundesfinanzminister festgelegt haben, mindestens 115 Milliarden Euro kosten wird, ist bereits Gegenstand des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages. Das Thema der Rettung der Landesbanken steht dort noch nicht auf der Tagesordnung, doch muss auch dieser Komplex in öffentlichen Anhörungen noch behandelt werden. Betrachtet man die Größenordnung des ausgelösten Schadens, wird möglicherweise verständlich, warum Ex-Bundesfinanzminister Peer Steinbrück bei jeder sich bietenden Gelegenheit diverse Schuldige an dem Worldwide Economic Disaster ausgemacht hat:
• Die US-Amerikaner und Briten mit ihren toxischen Papieren. Aber die Giftigkeit dieser Papiere war bekannt. • Die Hedgefonds mit ihren Leerverkäufen. Aber Leerverkäufe sind nicht der Auslöser oder die Ursache des Worldwide Economic Disaster, und Hedgefonds allein sind für die „Kernschmelze der Finanzmärkte“ ebenfalls nicht verantwortlich. 48 Denn Brandstifter waren auch diejenigen, die es bei den Landesbanken für opportun hielten, Regelungen zuzustimmen oder solche zu dulden, die besagten, statt des normalen Kreditgeschäftes mit der Ausleihung von Darlehen an die heimische Produktionsindustrie die vermeintlich lukrativeren Wertpapieranlagegeschäfte in Subprime-Verbriefungen der US-Hypothekenbanken durchzuführen – verbunden mit einem reellen Totalverlustrisiko. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück wird sich schon bald dazu viele für ihn unangenehme Fragen stellen lassen müssen – vor dem eröffneten Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages und nach dem Debakel der Bundestagswahl vom 27.09.2009. Im Mittelpunkt der Betrachtung werden Fragen im Zusammenhang mit der Abspaltung der HRE – Hypo Real Estate und ihrer Sanierung – stehen. Außerdem werden sich Fragen nach der Erfüllung von Aufsichtspflichten ergeben. Diese Pflichten hätten sowohl von dem Bundesfinanzminister als auch von dem Präsidenten der BaFin wahrgenommen werden müssen. Dass alle diese Pflichten objektiv verletzt worden sind, ist wohl unbestreitbar: Denn bei der Wahrnehmung aller Beobachtungs-, Unterrichtungs- und Meldepflichten und bei einem rechtzeitigen Einschreiten mittels des scharfen gesetzlichen Instrumentariums hätten alle Vermögensschäden im Zusammenhang mit der HRE und den Landesbanken vermieden werden können.
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2. Eine Situationsbeschreibung über die gegenwärtige Verfassung der Welt-
wirtschaft als „Katastrophe“ oder als „Zusammenbruch“ ist, historisch betrachtet, grundsätzlich nichts Neues: Es gab im Verlauf der Geschichte viele Epochen, die durch einen mehr oder weniger kollektiven ökonomischen Kollaps vieler Volkswirtschaften gekennzeichnet waren.49 Doch waren die Ursachen hierfür ausschließlich große Kriege und deren Nachwirkungen.50 Dass sich heute nach einer beispiellos langen Friedensphase51
• trotz freier Land- und Seehandelswege, • trotz der weitgehenden Freiheit des Kapitalverkehrs, • trotz weitgehender Reisefreiheit, • trotz eines relativen Patentschutzes und vor allem • trotz einer schon weit gediehenen internationalen diplomatischen und ökonomischen Kooperation in Hunderten internationaler Organisationen und vielen anderen Segnungen des Liberalismus in allen Volkswirtschaften rund um den Globus gleichzeitig das Horrorszenario des Zusammenbruches mit überall ähnlichen Auswirkungen entwickelt, konnte nur auf den ersten Blick überraschend sein, denn auf den zweiten Blick hätte einleuchten müssen, dass die Weltwirtschaft komplett und eben nicht nur in Teilen zusammenbrechen muss, wenn alle Staaten in den nationalen Entscheidungsbereichen mehr oder weniger dieselben Fehler im Gleichklang produzieren: 33
2.1 die niedrigen Eigenkapitalquoten der Unternehmen,
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2.2 die überbordende Verschuldung und Überschuldung der Staaten,
49 Nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg (1918 und 1945), nach den Napoleonischen Kriegen (1800 bis 1816). 50 Das 19. und das 20. Jahrhundert waren im Prinzip eine Phase des Dauerkriegszustandes, unterbrochen von kurzen Erholungsphasen des Friedens, zwecks Kraftschöpfung zur Vorbereitung neuer Kriege: 1800 bis 1815/16 die Napoleonischen Kriege – 1862 Deutsch-Dänischer Krieg – 1866 Preußisch-Österreichischer Krieg – 1871 Deutsch-Französischer Krieg – 1905 Russisch-Japanischer Krieg – 1914 bis 1918 Erster Weltkrieg – 1937 Japanisch-Chinesischer Krieg – 1939 bis 1945 Zweiter Weltkrieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es bis heute ca. 100 kleinere regionale Kriege, die aber nicht annähernd die verheerenden Wirkungen gegen die Zivilbevölkerung und die Vernichtung von Kapital und Produktionsmitteln zeigten. 51 Eine Friedensphase von mehr als 60 Jahren zwischen den Super- und Großmächten gab es in den letzten 300 Jahren nicht mehr.
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2.3 die Bürokratisierung und Lähmung der notwendigen politischen und öko-
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nomischen Entscheidungsprozesse, 2.4 das Ausufern gemeinschaftsschädlicher Verteilungskämpfe verschiedener
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gesellschaftlicher Gruppen und auch verschiedener Staaten gegeneinander um den immer größeren Anteil an Wohlstand und Einfluss, 2.5 die Auflösung der rechtlichen Grundordnungen zum Schutz von Inves-
37
titionskapital jeglicher Art u. v. m. Wenn nicht nur die Nachrichtenkommunikation über die elektronischen Medien und das Internet weltweit in Echtzeit und online erfolgt, sondern auch die Börsen und Finanzmärkte online vernetzt sind,52 brauchte es nicht viel Phantasie, um sich vorstellen zu können, dass sich der Virus der Überschuldung dann auch quasi in Echtzeit und online über die ganze Welt ausbreitet.
IV. Klare Haftungsstatuten und der Kampf gegen die sechs schlimmsten Verstöße gegen die Soziale Marktwirtschaft
38
Der Begriff des konzertierten Masterplans53 steht im Mittelpunkt der Betrachtung, weil zunächst von allen staatlichen Institutionen und allen gesellschaftsrechtlichen Kräften alles unternommen werden muss, um zu einer neuen sozialen Marktwirtschaft zu gelangen, aber auch zu einem neuen Demokratieverständnis und zu einer Wiederbelebung des Rechtsstaats.54 Zur Erreichung
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52 Zum Stand der internationalen Online-Vernetzung von Börsen, Investmentbanken, Geschäftsbanken u. a.: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 64 vom 17.03.2009, S. 11. Danach reicht die AIG 12 Milliarden US-Dollar US-amerikanische Staatshilfe an die Deutsche Bank AG weiter. 53 Der Vorläufer des Masterplans, bezogen auf das Deutschland des Jahres 2003, findet sich bereits in Munk, Nicole, Die T-Aktie als Marke, a. a. O., S. 241 ff.: Vierzehn Thesen zur Gesundung der deutschen Volks- und Finanzwirtschaft: (1) Schaffung eines verschärften deutschen und einheitlichen europäischen Bilanzierungsrechtes (nicht erledigt. Stattdessen: weitere Verwässerung der Rechtsregeln); (2) Aufbau einer effektiven staatlichen Behördenstruktur (Bilanzrecht und Börsen-/Wertpapierhandel) mit klaren Eingriffsmöglichkeiten (nicht erledigt). Stattdessen: bewegungs- und wirkungslose Superbehörde BaFin; (3) Errichtung einer Bilanzpolizei (nicht erledigt); (4) Beeidigungspflicht für Vorstände und Aufsichtsräte (nicht erledigt); (5) persönliche Haftung der Vorstände (nicht erledigt); (6) Direktansprüche für Geschädigte, insbesondere Aktionäre (nicht erledigt); (7) fachkompetente Aufsichtsräte (weitgehend nicht erledigt); (8) Transparenz bei Vorstands- und Aufsichtsratsbezügen (nicht erledigt); (9) Begrenzung der Abfindungsvergütungen (nicht erledigt); (10) Berufshaftungsgrundsätze (nicht erledigt); (11) ethische Unternehmensziele (nicht erledigt); (12) Einrichtung einer Bundesanstalt zur Zertifizierung von Aktien (und auch von anderen Wertpapieren) – (nicht erledigt); (13) Beschränkung des Kapitalvolumens staatlicher Börsengänge (nicht erledigt); (14) unabhängiges Gremium für den Verbraucher- und Aktionärsschutz (nicht erledigt). 54 Dann müssen die Haftungsansprüche des Bundes, der Aktionäre und der Träger der Kapitalansparsysteme aus dem Versagen in der Vergangenheit – in Euro-Billionenhöhe – geltend gemacht werden: Ross und Reiter sind zu benennen. Hunderte, wenn nicht Tausende in den
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dieses Ziels ist genau dieser Masterplan erforderlich. Konzertiert muss er sein, weil diese weltumspannende Aufgabenstellung so schwierig ist, dass ein einziges Land oder auch einzelnen miteinander handelnde Regierungen das Problem nicht werden lösen können. Aber auch innerhalb jedes Staates wird es der Bündelung aller Kräfte bedürfen. Wenn die von Bundespräsident Horst Köhler in seiner sogenannten „Berliner Rede“55 eingeforderte Selbstkritik bei den Bankvorständen erfolgen würde, egal ob hauptberuflich Manager oder Spitzenpolitiker, so wäre zunächst der objektive Tatbestand von mindestens sechs Verstößen gegen die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft festzustellen:56 40
▶ Verstoß Nr. 1 Die Inflationsbekämpfung wird von der Bundesregierung nicht ernst genommen – im Gegenteil scheint „etwas Inflation“ durchaus als Effekt gewollt zu sein.
41
Eine Soziale Marktwirtschaft darf das aus Arbeitseinkommen gebildete Sparvermögen der Bürger nicht durch Inflation entwerten. Ein Staat, der laufend hohe Schulden macht und weiß, dass die Steuereinnahmen nicht zur Tilgung eingesetzt, sondern in einem Prozess unkontrollierten Geldausgebens vergeudet werden, z. B. für eine Mega- und schließlich Gigabürokratie und für das Sponsoring parteinaher Institutionen und Industrien, etwa durch großzügige Subventionen, führt aber eine mittelbare Zwangstilgung durch Inflation ein, was automatisch zu der Entwertung der Sparvermögen führen muss. Der deutsche Staat und die Wirtschafts- und Bankenverbände haben in verstärktem Umfangen seit den 1970er Jahren diese Form der Sondertilgung auf Staatsschulden angewendet. Die Federal Reserve Bank of Amerika und die EZB haben diesen Grundsatz in der Vergangenheit sträflich vernachlässigt und ihre eigenen Statuten verletzt. Der ordnungspolitische Grundsatz „Inflation schadet der Volkswirtschaft“ verkam zu einer Sprechblase für Sonntagsreden.57 Vorstandsriegen und der Bürokratie waren und sind Mitwisser, Mittäter, Anstifter und Gehilfen dieser beispiellosen Kapitalvernichtung: Ein Thema, besser gesagt, ein „heißes Eisen“, das in Deutschland niemand anpacken will. 55 Horst Köhler, Bundespräsident: „Es waren Menschen, die diese Krise angerichtet haben. Also können Menschen auch Lehren aus ihr ziehen und sie lösen.“ Eine Verharmlosung der Krise wäre aber ein völlig verfehlter Ansatz. 56 Vgl. Financial Times Deutschland – Lehren aus der Krise – Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft – Anzeigenveröffentlichung. 57 Dabei wurde auch der Zusammenhang zwischen der Leitzinspolitik, den Immobilienpreisen und der Inflation laufend bestritten – tatsächlich besteht ein enger Zusammenhang, weshalb die Politik des billigen Geldes immer zu Krisengefahren führt, wenn das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Der ehemalige US-Notenbankpräsident Alan Greenspan verteidigte die Politik des billigenden Geldes lange Zeit – erst neuerdings gibt es auch in Teilen eine selbstkritische Betrachtung; vgl. Financial Times Deutschland – Lehren aus der Krise – Initiative Neue
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▶ Verstoß Nr. 2
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Der Staat fördert das Schuldenmachen zu Konsumzwecken statt der Bildung von Investitionskapital für Forschung und Entwicklung. Das Leben „auf Pump“ wurde in vielen westlichen Demokratien zur Selbstverständlichkeit. Das gilt vornehmlich in den USA, aber auch für Deutschland. Die Banken, die Bauwirtschaft, der Staat und die Kommunen bildeten eine unheilige Allianz. Dass die Bauwirtschaft Bauaufträge bejaht, ist klar. Der Staat profitiert von dem Bauboom über die höheren Umsatz- und Körperschaftsteuereinnahmen. Das waren jedes Jahr Milliarden von Euro. Die Kommunen konnten Bauland verkaufen und Erschließungsbauten zu Anschlussgebühren ummünzen – auch das waren ebenfalls Milliarden-Euro-Einnahmen pro Jahr. Die Banken verdienten Zinsen auf die Baudarlehen und, wenn Lebensversicherungen als Zusatzsicherheit abzuschließen waren, die LV-Prämien und Provisionen. Schließlich wurde jeder und alles finanziert: in den USA mit den „Ninja“-Krediten – „no income – no job or assets“ (also auch Kreditkunden ohne Arbeitseinkommen, ohne Beruf und ohne dingliche Kreditsicherheiten). Hierdurch wurde ein künstlicher Boom ausgelöst, der die Immobilienpreise in die Höhe treiben musste.58 Diese geldpolitischen Fehler verdeutlichen sich in Erhöhung der Geldmenge M3 (G3).59
Soziale Marktwirtschaft – Anzeigenveröffentlichung, S. 7. Hätte man nur auf Ludwig Erhard gehört: „Die Inflation kommt über uns nicht als Fluch oder als tragisches Geschick; sie wird immer durch eine leichtfertige oder sogar verbrecherische Politik hervorgerufen“; zitiert bei Financial Times Deuschland – Lehren aus der Krise – Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft – Anzeigenveröffentlichung, S. 7. Erhard hatte aber schon 1962 seinen Kollegen in das Stammbuch geschrieben: „Wir sollten uns nicht so gebärden, als ob das Erkennen volkswirtschaftlicher Zusammenhänge nur den Gralshütern vorbehalten bliebe, die auf der eine Seite wissenschaftlich, auf der anderen Seite demagogisch ihre verhärteten Standpunkte vortragen. Nein, jeder Bürger unseres Staates muss um die wirtschaftlichen Zusammenhänge wissen und zu einem Urteil befähigt sein, denn es handelt sich hier um Fragen unserer politischen Ordnung, deren Stabilität zu sichern uns aufgegeben worden ist.“ 58 Financial Times Deutschland, a. a. O., S. 11 f. Diese dann in Hypothekenverschreibungen zusammengefassten Werte überstiegen die wirklichen Verkehrswerte um ein Zig-Faches und begannen, rund um den Globus zu zirkulieren. Warum? Weil diese Verbriefungen mit höheren Zinsen ausgestattet waren – und deutsche Landesbankchefs es interessanter und spannender fanden, bei dem „Casinokapitalismus“ mitzumachen, als etwa den deutschen Mittelstand zu finanzieren. 59 Alan Greenspan zur Geldpolitik: „Geldpolitik ist keine angewandte Wissenschaft, sondern Kunst.“ Aber der Wortstamm „Kunst“ kommt von „Können“; käme es von „Wollen“, hieße es „Wulst“. Heute wird man Alan Greenspan mindestens als einen weltweit höchst umstrittenen Künstler betrachten müssen.
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▶ Verstoß Nr. 3 Die Banken erpressen den Staat – das muss aufhören.
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Eine Soziale Marktwirtschaft und der Staat, der sie mit trägt, dürfen nicht erpressbar sein. Aber Deutschland wurde es doch – und zwar über das Allbankensystem. Über die Größe, d. h. Höhe der Bilanzsummen, Zahl der Beschäftigten, Bedeutung als Kreditgeber anhand der Kreditvergabesummen u. v. m. schufen sich manche Banken den Nimbus der Unverzichtbarkeit im Sinne von Unersetzbarkeit. Heute glauben auch Mitglieder unserer Regierung, dass Größe vor dem Untergang schützen würde. Teilweise wird dieser Grundgedanke auch auf den Staat angewendet.60 Zurück zur Sozialen Marktwirtschaft bedeutet dies, das Erpressungspotenzial der Banken abzubauen und keine Gelegenheit mehr zu Erpressungsversuchen zu geben.61 Es muss deshalb ein globaler Ordnungsrahmen geschaffen werden, der solchen Erpressungen automatisch entgegenwirkt.62
46
▶ Verstoß Nr. 4 Die Bankvorstände gehen mit dem Spar- und Anlagevermögen des Volkes viel zu hohe Risiken ein.
47
Dass die Bankvorstände in den vergangenen Jahren viel zu hohe Risiken eingegangen waren, wird im Laufe der folgenden Untersuchung an verschiede60 „Too big to fail“ – so lautete bislang die Einschätzung der Analysten, die anscheinend auch Deutschland mit einem jährlichen Bruttoinlandsprodukt von ca. 2,5 Billionen Euro für sich in Anspruch nehmen wollte. Aber diese Aussage ist Sprücheweisheit der 1990er Jahre und gilt heute nicht mehr: Das Insolvenzrisiko wird nicht mehr allein durch die Größe des Konzerns, durch Umsatz, durch das Bilanzvolumen oder die Beschäftigtenzahl ausgeschlossen, sondern kann sich durch Rekordverluste und die Medienmacht von Hiobsbotschaften im Gegenteil viel eher zementieren. Die Standorte des Staatsfinanzierers Hypo Real Estate, der auch Weltmarktführer in der Finanzierung öffentlicher Verwaltungen ist: Depfa: Dublin, Nikosia auf Zypern, Luxemburg. Das sind keine vertrauensbildenden Maßnahmen, sondern diese Fakten verdeutlichen, auf welchen Abwegen sich der Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland bereits seit Jahren befindet. 61 Die USA haben die größten Probleme, sind aber auch in der Problembewältigung besonders weit vorangeschritten. Amerikanischen Banken droht deshalb die Aufspaltung. Die Aufsichtspolitik erwägt die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken im Sinne eines neuen Glass-Steagall-Act. Danach war seit Ende der 1930er Jahren die Trennung zwischen Geschäfts- und Investmentbanken vorgeschrieben. Außerdem soll die Größe der Banken beschränkt werden. Banken sollen nicht mehr so groß sein, um sie nicht in Insolvenz gehen lassen zu können; vgl. dazu Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 59 vom 11.03.2009, S. 20. 62 Hauff, Volker, Vorsitzender des Rates für nachhaltige Entwicklung: „Im Bankenbereich hat eine hohe Professionalisierung bei völlig sozialer Verantwortungslosigkeit und eiserner Habgier stattgefunden, doch genau diese Leute tun jetzt so, als hätten sie die Folgen nicht vorausgesehen“, zitiert bei Financial Times Deutschland a. a. O., S. 15.
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nen Stellen und mehreren Beispielen erläutert werden. Eine Soziale Marktwirtschaft verträgt es aber nicht, wenn die Mehrzahl von Marktteilnehmern hohe Risiken eingeht. Denn die Soziale Marktwirtschaft versteht sich als eine Ordnungsform einer Produktionsgemeinschaft. Die Finanzwirtschaft kann aber gar keine „Produkte“ hervorbringen, die innovativ und fortschrittlich sein könnten. Aus allen diesen Gründen darf es nicht zu der Umsetzung des Steinbrück’schen Rettungspaktes kommen. Nur die Verstaatlichungsdrohung im Allgemeininteresse kann gesetzmäßiges und bankkaufmännisch vernünftiges Handeln der Bankvorstände erzwingen. Das Rettungsszenario ist also die falsche Botschaft zur falschen Zeit. Es darf nicht die Situation entstehen, dass sich verantwortungslose Vorstände unbegrenzt auf den Staat verlassen können, weil die Bank immer gewinnt und der Steuerzahler immer verliert.63
▶ Verstoß Nr. 5
48
Falsche Leistungsanreize für Bankvertreter und Manager setzen Kräfte frei, die in die falsche Richtung wirken. Das Kapitaleinkommen war nicht mehr ein Teil der Produktionswertschöpfung, sondern Teil eines Nullsummenspiels geworden.64 Deshalb ist der „Casino-Kapitalismus“ auch keine Privatangelegenheit seiner Mitspieler, sondern betrifft mit kürzerer Verzögerung die Produktionswirtschaft und die dort tätigen Arbeitnehmer und Realunternehmer.65 Eine Soziale Marktwirtschaft muss allen diesen Tendenzen entgegentreten. Geschehen kann dies am besten mit anderen Leistungsanreizen, die die Arbeitskraft und die Intelligenz der Führungsstäbe der Banken und Unternehmen auf andere Ziele lenken.
63 Keine Bank darf sich darauf verlassen, dass sie automatisch vom Staat mit Steuergeldern gerettet wird und auch noch die Chance erhält, die staatliche Eigenkapitalzufuhr auf der Grundlage falscher Bilanzen auszuhandeln. Gegebenenfalls müssen Banken durch den Gesetzgeber so verkleinert werden, dass kein Erpressungspotential mehr gegen den Staat aufgebaut werden kann. Am besten ist es, über eine funktionierende Bankenaufsicht zu verfügen, doch das wird überwiegend für einen nicht erfüllbaren Wunschtraum gehalten. 64 Financial Times Deutschland, a. a. O., S. 24 ff. 65 Die global vorhandene Geldmenge betrug im Jahr 2000 ca. 35 Billionen US-Dollar. Im Jahr 2005 hatte sich diese Geldmenge verdoppelt und betrug mit 70 Billionen US-Dollar, was das Welt-Gesamt-BIP (2005) von 66 Billionen US-Dollar bereits überschritt. Der Anteil der Finanzanlagen am Weltbruttosozialprodukt betrug 2000 noch 109 %, im Jahr 2005 aber schon 140 Billionen = 315 %. Dieser „Tsunami aus Geld“ hat Banker und Banken weggeschwemmt. Zu den Daten: Financial Times Deutschland a. a. O., S. 25 ff.
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▶ Verstoß Nr. 6 Noch einen finanzpolitischen Amoklauf der deutschen Landesbanken und ihrer Organe darf es nicht mehr geben.
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In den weiteren Kapiteln werden die Folgen des finanzpolitischen Amoklaufes der Landesbanken genauer unter die Lupe genommen. Wer trägt hier konkret die Verantwortung? Vorstände, Verwaltungsräte und Aufsichtsräte ebenso wie die Bankenaufsicht hoffen darauf, sich für die Fehler in der Vergangenheit nicht rechtfertigen zu müssen.66 Eine Soziale Marktwirtschaft kann mit solchen Fehlern nicht existieren.67 Ein konzertierter Masterplan zur Sanierung der Weltwirtschaft muss aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, aber auch im Sinne einer Prävention durch Strafe und Schadensersatz dafür sorgen, dass die Furcht vor den Konsequenzen Wiederholungsfälle sicher ausschließt.
Zweiter Abschnitt Unsere alten Eliten wollen nichts sehen, nichts hören, nichts wissen, nichts denken, nicht haften
53
I. Die einsamen Rufer in der Wüste mit der unbequemen Meinung – oder der Prophet gilt im eigenen Lande nichts
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A. Deutschlands Banken und Versicherungen befinden sich schon seit vielen Jahren in der Existenzkrise Vor sechs Jahren, als die Insolvenzprophylaxe für Deutschland68 veröffentlicht
wurde, befanden sich die meisten Banken und Versicherungen der Deutsch66 Die ursprünglichen Aufgaben der Landesbanken als Spitzeninstitute des Sparkassenwesens und als Mittelstandsfinanzierer mit Regionalbindung wurden verfehlt und jeder politische Anstand über Bord geworfen. Das trading behavior entsprach demjenigen von Hedgefonds und Off-Shore-Gesellschaften. Wenn Bundeswirtschaftsminister Peer Steinbrück die effektive Bekämpfung solcher „Gebilde“ forderte, hätte er sogleich bei seinen Kollegen und teilweise auch Parteifreunden mit dem Ausmisten beginnen können. 67 Der römische Philosoph und Staatsmann Marcus Tullius Cicero (106 bis 43 vor Christus) wusste schon vor Christi Geburt: „Der Staatshaushalt muss ausgeglichen sein. Die öffentlichen Schulden müssen verringert werden. Die Arroganz der Behörden muss gemäßigt und kontrolliert werden. Die Zahlungen an ausländische Regierungen müssen reduziert werden, wenn der Staat nicht Bankrott gehen will.“ 68 Munk, Nicole, Insolvenzprophylaxe für Deutschland (2004), Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler.
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land AG bereits in einer dramatischen Existenzkrise.69 2004 war die Insolvenzgefährdung deutscher Kreditinstitute aber ein Tabuthema.70 Die öffentlichen Haushalte bei Bund, Ländern und Kommunen waren ebenfalls hoch verschuldet71. Die ganze Palette großer ökonomischer Fehler war bereits bekannt, ebenso die möglichen Gegenmaßnahmen. Regierung und Wirtschaftsführer in Deutschland waren aber handlungsunfähig und sind es heute noch. Die reale Gefahr, durch eine maßlose, ja sogar verfassungswidrige Steigerung
69 Heute ist das Allgemeinwissen, vgl. etwa die Berichterstattung zur Commerzbank AG, in: Der Spiegel Nr. 16 vom 11.04.2009, S. 64. Danach hat die Commerzbank AG 2009 Staatshilfen von 33,2 Milliarden Euro erhalten. Ihr Börsenwert betrug zum 08.04.2009 noch 3,7 Milliarden Euro, wesentlich weniger als allein der für 2008 ausgewiesene Jahresverlust von 5,1 Milliarden Euro – von den verdeckten Risiken aus der Übernahme der Dresdner Bank AG ganz zu schweigen. Vgl. die Zustandsbeschreibung zur Geschäftslage der deutschen Banken und Versicherungen 2004: Munk, Nicole, Insolvenzprophylaxe für Deutschland (2004), a. a. O.: Die Apokalypse der weltweiten Kapitalvernichtung, S. 1; die Kapitalknappheit als chronischer Dauerzustand, S. 61 ff.; die Gefahr einer zweiten Rezession des Arbeitsmarktes, S. 143 f.; die fünf grausamen Lügen zur deutschen gesetzlichen Altersversorgung, S. 163 ff.; die unmittelbare Insolvenzgefahr in der deutschen Versicherungswirtschaft, S. 217 ff.; Wett- und Spielsucht der Vorstandsriegen, S. 245; deutsche Industriekonzerne im Pensionsrückstellungs-Dilemma, S. 250 ff.; Luftbuchungen bei Banken, Lebensversicherungen, Pensionsfonds, S. 252 ff. Die damals bereits vorgeschlagenen Lösungswege: Die persönliche Haftung der Manager als Direktmaßnahme, S. 317; gläserne Taschen für Vorstände, Erfordernis unabhängiger Kontrolleure, S. 318; Vermeidung von Bilanzmanipulationen, S. 320 f.; Beeidigungspflicht für Vorstände und Aufsichtsräte, S. 332, persönliche Haftung der Vorstände und Aufsichtsräte für falsche Bilanzen, S. 333; verschärfte Berufshaftung für die Wirtschaftsprüfer, S. 348, u. v. m. 70 Das gilt auch heute noch. Hiobsbotschaften aus dem Bankenbereich sollen möglichst nicht die „öffentliche Meinung“ in Deutschland dominieren. Deutschlands Banken können es sich trotz aller zwingenden Berichtspflichten aus dem KWG und HGB u. a. immer noch leisten, Meldungen über Verluste mehr oder weniger nach Belieben zurückzuhalten oder, in „Sprachregelungen“ verpackt, tröpfchenweise bekanntzugeben. Auch die Informationen über das System der „Bad Banks“ fließen nur spärlich. Immerhin kann der Bürger der Presse entnehmen, dass in den USA und in Deutschland „Bad Banks“ als staatliche Institutionen gegründet werden sollen, deren Aufgabe es sein soll, den Banken wertlose Schuldverschreibungen, Subprime-Verbriefungen u. Ä. abzukaufen. Zahlen sollen die Bad Banks mit Staatsanleihen, denen der Markt – noch – ein höheres Ranking beimisst. Bundesschatzbriefe hätten z. B. noch ein Triple A – AAA –, aber die Frage lautet: Wie lange noch, wenn die Deutsche Bundesschuldenverwaltung gezwungen ist, Bundesobligationen eine dreistellige Milliarden-Euro-Volumen auf den Markt zu werfen? 71 Die Verschuldung der öffentlichen Hände belief sich 2007: Bund: 917,527 Milliarden Euro; Flächen-Bundesländer: 380,059 Milliarden Euro; Stadtstaaten: 92,569 Milliarden Euro; Kommunen: 79,239 Milliarden Euro. Dies ergibt eine öffentliche Gesamtverschuldung von 1,478 Billionen Euro. Quelle: Fischer Weltalmanach (2009), S. 127 und Statistisches Bundesamt. Vgl. auch Dill, Alexander, Der Große Raubzug – Wie im Windschatten der Weltfinanzkrise die Staatskassen geplündert werden, (2009).
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der Kreditaufnahme,72 wegen nicht mehr auffangbarer Bilanzschieflagen bei den Landesbanken73 und wegen den Liquiditäts- und Absatzkrisen bei den Konzernen74 die Zukunftsfähigkeit Deutschlands zu verspielen,75 die Kapital72 Die Art. 115 GG ff., die eine Begrenzung der Netto-Kreditaufnahme des Bundes auf die Investitionen vorschreiben, werden in den nächsten Jahren automatisch verletzt – die Bundesregierung muss zur Finanzierung der beschlossenen und mit dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz seit dem 17.10.2008 (BGBl I (2008), S. 1892, in Kraft getretenen Rettungspaketen eine Refinanzierung mit Bundesanleihen aufbauen, die fiskalpolitisch das Abschalten der verfassungsrechtlichen „Schuldenbremse“ bedeutet. Art. 115 Abs. 1 GG lautet: „(1) Die Aufnahme von Krediten sowie die Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen, die zu Ausgaben in künftigen Rechnungsjahren führen können, bedürfen einer der Höhe nach bestimmten oder bestimmbaren Ermächtigung durch Bundesgesetz. Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt.“ Deshalb bleibt auch dem Bundesverfassungsgericht nichts anderes übrig, als die Annahme der ersten Verfassungsbeschwerde einer Lehman Brothers-Geschädigten gegen das Finanzmarktstabilisierungsgesetz abzulehnen, um regierungskonform zu handeln; die Begründung, der Bürger müsse erst den einfachen Rechtsweg ausschöpfen, ist rechtlich falsch und unhaltbar. „Effektiv“ soll der Rechtsschutz sein – bei dem derartigen Instanzenweg ist dies unmöglich. 73 Zu den Bilanzunterdeckungen, Verlusten und Zuständen bei der BayernLB, WestLB u. a.: Dill, Alexander, Der große Raubzug, a. a. O., S. 27: „Geldempfänger II: Das bayerische Disaster“; S. 33: „Geldempfänger III: Die IKB “; S. 39: „Geldempfänger IV: Die WestLB“ S. 41. 74 Über den Umsatzeinbruch bei den Automobilherstellern als einer der Schlüsselindustrien Deutschlands fehlen verlässliche Angaben; es werden aber auch Daten geschönt. Experten sprechen von Rückgängen bis zu 75 % des Vorjahresabsatzes. Durchschnittlich dürften es 40 % sein. 75 Welche Maßnahmen unverzichtbar sind, um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands zu erhalten und neue dauerhafte Arbeitsplätze zu schaffen, ist in der deutschen Innenpolitik oft hart umstritten: Der Ausbau des Rhein-Main-Airports und die Weiterentwicklung des Luftfrachtverkehrs ist ein wichtiger Baustein, um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands zu bewahren. Darüber besteht aber nicht immer Einigkeit. Die Leitentscheidungen des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch zur Förderung und Entwicklung des Rhein-Main-Airports waren richtig. Rhein-Main musste den Stellenwert des größten Luftfahrtdrehkreuzes in Europa (neben Heathrow) verteidigen. Die Opposition hat noch nicht wahrgenommen, dass Dubai weltweit längst den Konkurrenzkampf aufgenommen hat: Dort wird das größte Luftverkehrsdrehkreuz der Welt gebaut. Auch andere Staaten führen in allen Finanz- und Wirtschaftsbereichen gegen unser Land und gegen die EU einen Wirtschaftskrieg, nicht nur um die Auslastung der Passagier- und Luftfrachtkapazitäten. Deutschland und Europa müssen darauf achten, den Rang im Luftverkehr und im internationalen Luftfrachtgeschäft nicht zu verlieren. Wer die Pläne Dubais in Bezug auf den Ausbau der Luftfrachtkapazitäten kennt, mit Blick auf die Wachstumsmärkte in China und Indien, muss wissen, dass in Dubai das Wort „Vision“ nicht ein Begriff für Träumereien ist, sondern ein Synonym für die Realität von morgen. Ministerpräsident Roland Koch hat dies richtig erkannt und sich Dubai als Vorbild genommen: Dort ist das weltweit größte Luftverkehrskreuz bereits im Entstehen – ohne jede Rücksicht auf die Superrezession: „Innovation is in progress – although the world stands still.“ Hessen und Deutschland können sich eine abwartende oder gar negative Haltung in dieser Frage nicht mehr leisten, sondern der Ausbau von Rhein-Main ist unsere Wachstumschance, die sich Hessen nicht entge-
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dienstfähigkeit zu verlieren und die Innovationskraft unseres Landes zu zerstören, konnten nur Ignoranten, Narren oder Träumer verleugnen.76 Bislang hatte sich die Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland allerdings als Erfolgsgeschichte präsentiert77 – und dies machte fast alle realitätsblind, in erster Linie unsere Regierung und deren Bürokratie, aber auch viele Bürger, die seit mehr als einem halben Jahrhundert ein konstantes und angenehmes Weltbild vor Augen haben: „Die Bundesrepublik Deutschland ist Spitze. Wir sind wieder wer.“
B. Es gibt keine Lorbeeren der Vergangenheit, auf denen sich Deutschland ausruhen kann
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Letzteres Lebensgefühl prägte die Aufbaustimmung der Nachkriegszeit. Die Soziale Marktwirtschaft war ein Erfolgsmodell, die Währung, gleich ob Deutsche Mark oder Euro, eine Erfolgswährung – und bleibt es hoffentlich auch. Deutsche Produkte waren – und sind – auf den Weltmärkten begehrt, ihr Besitz oft ein Statussymbol, und die deutschen Tugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit und Präzision sind geachtet und strahlen auf das Produktimage zurück. Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands ist Respekt einflößend, das ProKopf-Einkommen eines der höchsten der Welt78 und die Handelsbilanz- und Leistungsbilanzüberschüsse79 ein untrügliches Zeichen für die strikte Beach-
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hen lassen kann. Roland Koch setzt seine Politik zum Wohle unseres Landes, der Wirtschaft und der Sicherung der künftigen Beschäftigungslage durch. Noch besser wäre es, wenn Frankfurt am Main, Hessen und die Vereinigten Arabischen Emirate eine Kooperation im weltweiten Luftfrachtgeschäft eingehen würden, verbunden mit einer Zusammenarbeit im Flugzeugbau unter Einschluss von Airbus. Krugman, Paul, Die neue Weltwirtschaftskrise (2009) campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main – aktualisierte und um drei Kapitel erweiterte Neuauflage von „Die Große Rezession“ (1999) – Titel der Originalausgabe: The Return of Depression Economics, erschienen im Verlag W.W. Norton & Company, New York. Der Nobelpreisträger – Wirtschaft – (2008) geht mit der Bundesregierung und den deutschen Politikern hart ins Gericht (S. 8): „Frau Merkel und ihre Beamten glauben anscheinend noch immer, hier herrschten die normalen Regeln der Wirtschaft, jene Regeln, die dann gültig sind, wenn man mit Geldpolitik noch etwas ausrichten kann. Sie haben nicht begriffen, dass in Europa genau wie in den Vereinigten Staaten mittlerweile ein Depressionsklima eingezogen ist.“ Der Rekord im Export: Im Jahr 2008 wurde im Export die Eine-Billion-Euro-Grenze erreicht (994,9 Milliarden Euro Außenhandelswert mit 175,2 Milliarden Euro Handelsbilanzüberschuss; vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 64 vom 17.03.2009, S. 11. 36.810 US-Dollar, Fischer Weltalmanach (2009), S. 225. Die Leistungsdaten der deutschen Wirtschaft sind – immer noch – beeindruckend: (2006): Bruttoinlandsprodukt (BIP): 2,896 Billionen US-Dollar, das ist Platz 3 bzw. Platz 4 (zusammen mit China) in der Welt (generiert mit 82,375 Millionen Einwohnern). Auf Platz 1 die USA mit
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tung des Haushaltsgrundsatzes Nummer eins „Mehr schaffen als verbrauchen – mehr einnehmen als ausgeben“, so dachte man bisher. Das Volksvermögen in unserem Land hat sich seit der Währungsreform 1948 rasant nach oben entwickelt. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Erde.80 Wir erfolgsverwöhnten Deutschen wollten nicht wahrhaben, dass der Erfolg unseres Landes nicht nur auf der richtigen Wirtschaftsform, auf dem Fleiß seiner Bürger und dem Erfindungsreichtum seiner Ingenieure beruht, sondern viele Zufallsfaktoren den Wiederaufstieg Deutschlands zu einem ökonomischen Superschwergewicht nach dem Zweiten Weltkrieg begünstigt hatten. Auf die endlose Fortsetzung dieser Serie der glücklichen Zufälle haben wir Deutsche aber keinen Rechtsanspruch. Schon gar nicht hätten wir dem Irrglauben folgen dürfen, es ließe sich die Tugend der sparsamen Haushaltsführung durch irgendetwas ersetzen – und den Luxus einer wuchernden Bürokratie konnten wir uns schon früher nicht leisten, also heute erst recht nicht. Das müssen wir wieder neu lernen – diese Selbsterkenntnis wird der erste Schritt zur Besserung sein. 57
C. Deutschland muss sich auf seine Tugenden rückbesinnen und sich als Hochtechnologie- und Forschungsnation neu erfinden: Mit Arbeitswillen und Pioniergeist wieder an die Weltspitze
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1. Wir müssen uns hinsichtlich der Fragestellung, wie die Volkswirtschaft
Deutschlands und die Weltwirtschaft gesunden können, als Nächstes vergegeneinem BIP von 13,163 Billionen US-Dollar (299 Millionen Einwohner); auf Platz 2 steht Japan mit einem BIP von 4,368 Billionen US-Dollar (127,756 Millionen Einwohner). Im Vergleich: Großbritannien: BIP 2,376 Billionen US-Dollar (60,5 Millionen Einwohner); Frankreich BIP 2,24 Billionen US-Dollar (61,27 Millionen Einwohner); China – Volksrepublik – BIP: 2,644 Billionen US-Dollar (1,319 Milliarden Einwohner); Russland BIP 986,94 Milliarden US-Dollar (142,5 Millionen Einwohner); Indien BIP: 911,813 Milliarden US-Dollar (1,109 Milliarden Einwohner). Auch die Zahlen zu den Bruttoanlageinvestitionen überzeugen (noch): 2007: 449,6 Milliarden Euro. Der Handelsbilanzüberschuss belief sich in 2007 auf 196,5 Milliarden Euro; der Leistungsbilanzüberschuss betrug 184,2 Milliarden Euro. Zahlen und Daten: Fischer Weltalmanach (2009). Im Vergleich der Blöcke steht die EU (mit Deutschland an der Spitze) inzwischen vor den USA (Zahlen aus Januar 2009, Quelle: IWF; WTO und EIO, Basiswerte von 2007, alle Werte in Euro): Europäische Union: 14,765 Billionen; USA 11,02 Billionen, Japan 3,726 Billionen; Volksrepublik China – 3,248 Billionen. 80 Die Feststellung ist kein Grund, den Ernst der Lage zu verkennen. Zunächst die statistischen Werte: Das Bruttovermögen (vor Abzug von Schulden) betrug 2008 11,5 Billionen Euro (Stand 1948: umgerechnet 50 Milliarden Euro). Die Verteilung im Volk wurde fortschreitend immer ungleicher. Heute gehören 10 % des Volkes in der Spitze ca. 61,5 % des Gesamtvermögens. Das Finanzvermögen der Deutschen wird für 2008 auf ca. 4,5 Billionen Euro geschätzt. Grundstücke und Häuser sind auf ca. 5,4 Billionen Euro zu schätzen. Autos und Möbel ergeben ca. 1,1 Billionen Euro. Vgl. Beyerle, Hubert, Von null auf elf Billionen, in: Capital 5/2009, S. 59.
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wärtigen, welche Grundlagen der deutsche Erfolg in der Vergangenheit neben den „deutschen Tugenden“ hatte. Folgende Erfolgsfaktoren sind hervorzuheben:
• Der Marshall-Plan der USA (für Gesamteuropa und Deutschland), • der Wachstumsmarkt Westeuropas ab den 1950er Jahren, • die Nato- und Westeinbindung Deutschlands während der Teilung, • die jetzt sechs Jahrzehnte währende europäische Friedensordnung, • der Ausgleich mit den osteuropäischen Nachbarn, • die wirtschaftliche Kooperation mit Russland, • die gelungene nationale Einheit 1989/1990, • die neuen Exportwachstumsmärkte nach der Beendigung des Kalten Krieges und schließlich nicht zuletzt • die Chancen der Globalisierung, die Deutschland mehr als andere Nationen nutzen konnte und es in die Lage versetzten, das „Made in Germany“ in alle Welt hinauszutragen.81 2. Vielleicht hat sich gerade deshalb, weil diese Erfolgsfaktoren im kollektiven
Bewusstsein des Volkes und seiner Regierung nicht mehr voll präsent waren, der Gefahreninstinkt unserer Führungselite so weit zurückgebildet: Wenn alles gut oder zu gut läuft, wird die Aufmerksamkeit erfahrungsgemäß geringer, die Bequemlichkeit und die Selbstgerechtigkeit größer, das Wahrnehmungsempfinden ungenauer,82 die Kontrollen laxer und das Ausgabeverhalten generöser. Das kennzeichnet die psychische Ebene der Entscheidungsfindungen auf allen Führungsetagen in Deutschland in den letzten Jahrzehnten überall 81 Vgl. dazu Wehler, Hans-Ulrich, Historiker und Politikwissenschafter, im Interview mit Ginsburg, Hans Jacob, Serie „60 Jahre Bundesrepublik Deutschland“, in: Wirtschaftswoche Nr. 17 vom 20.04.2009, S. 26 f.: Das gab es vorher nie: Leistungsfanatismus wurde zum mentalen Treibstoff. Danach hat sich der NS-Sozialdarwinismus in einen ökonomischen Leistungsfanatismus umgemünzt, der erfolgreicher war als die Systeme anderer Staaten. 82 Im Zuge der unten noch näher erläuterten Asienkrise war zwar ein internationales Frühwarnsystem installiert worden. Nach der Asienkrise der 1990er Jahre wurde nämlich der Internationale Währungsfonds (IWF) aufgerüstet und das FSAP – „Financial Stability Assessment Program“ geschaffen. 185 Mitgliedsländer sind diesem Programm beigetreten, mit einer Ausnahme: Die USA hatten sich bislang geweigert, dem Abkommen beizutreten. Heute wird darüber gerätselt, ob die Krise vielleicht weniger verheerend ausgefallen wäre, wenn die USA beigetreten wären. Dabei hätte schon allein die Tatsache der Beitrittsverweigerung zu einer vorsichtigeren Bewertung aller US-Vorgänge führen müssen.
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dort, wo Fragen zu beurteilen waren, wie viel Geld für was ausgegeben wird – gleichgültig, ob dies etwa die Mitglieder des Haushaltsausschusses des Bundestages waren oder die Aufsichtsräte in den Aktiengesellschaften oder der Bürgermeister mit seinem Stadtkämmerer. Mit dem Beginn des neuen Jahrtausends häuften sich aber die „Stall Warnings“ in solchem Maß, dass sie von den Kapitänen am Steuerhorn unserer Volkswirtschaft eigentlich nicht überhört werden konnten.83 Warum Manager und Politiker dann trotzdem nicht zu einem „Gefahr erkannt – Gefahr gebannt“ in der Lage waren, ist nicht zu erklären – auch nicht von ihnen selbst.84 In einer Reihe diverser Aufsätze und Zeitungsartikel warnte ich immer wieder vor den Gefahren der ständigen Überbewertungen: Überbewertung der Aktienausgabekurse, Überbewertung von Immobilien bei Kreditbeleihungen und bei der Bewertung von Aktiengesellschaften, Überbewertung von Firmenvermögen, Geringbewertung von Geschäfts- und Haftungsrisiken u. v. m.
83 Die offizielle Darstellung der gesamtwirtschaftlichen Lage bis 2008 kann nur als blinder Zweckoptimismus charakterisiert werden: Vgl. Fischer Weltalmanach (2009): „der im Jahr 2005 begonnene Aufschwung erwies sich im Jahr 2007 als solide und robust.“ Ähnlich lauteten die Berichte der Sachverständigenkommission der Deutschen Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage (kurz: Gutachten der Wirtschaftsweisen genannt). 84 Ganz Wagemutige wollen selbst nach dem „Schwarzen Oktober“ die Krise oder die Zeitdauer ihrer Überwindung klein reden. Z. B. „Dax steigt wieder auf mehr als 4.000 Punkte“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.03.2009, S. 21. Auch das DIW tönte in seiner Studie: „Deutschland geht gestärkt aus der Krise“. Richtig dürfte dagegen die entgegengesetzte Beurteilung sein. Vgl. Krieger, Friederike, Von Erholung keine Spur, in: Financial Times Deutschland 09.04.2009, S. A 3. Denn die Produktionskapazitäten sind eindeutig unterausgelastet; die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes ist rapide gesunken. Eine kleine Aufwärtsbewegung an den Aktienmärkten ist deshalb kein Aufschwung und löst auch nicht die Probleme. Hier könnte von der Theorie der self fulfilling hope gesprochen werden. Dazu auch: Piper Nikolaus, Schlimmste Phase der Rezession in den USA vorbei? Süddeutsche Zeitung Nr. 80 vom 06.04.2009, S. 19. Auch für Deutschland wird die Hoffnung geäußert, der jüngste Kursaufschwung könnte mehr als nur ein Strohfeuer sein, in: Welt am Sonntag Nr. 23 vom 29.03.2009, S. 43. Solcher Zweckoptimismus hat dieselbe Inkompetenz als Basis wie die „Rettungspläne“, die ihn auslösen und spiegelt sich in Pressemeldungen wider wie z. B.: US-Regierung verordnet weitere Billion als Gegengift, siehe Die Welt vom 24.03.2009, S. 9. Fast könnte man an die krankhafte Gemütslage der Spekulanten denken: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Die Realität sieht anders aus: In Deutschland z. B. beträgt der Rückgang des Auftragseinganges von Februar 2008 bis Februar 2009 im produzierenden Gewerbe minus 37,6 %; der Einbruch bei den Exporten minus 23,3 %; siehe Financial Times Deutschland vom 09.03.2009, S. 16. Aufschwung sieht anders aus. Der Datenabgleich zeigt: Der Welthandel ist jetzt um 22 % rückläufig. Wie soll es dann möglich sein, ab dem III. Quartal 2009 gestärkt aus der Krise hervorzugehen? Das würde ein sofort wirksames Auftragsplus von ca. 30 % voraussetzen.
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II. Die Selbstgefälligkeit unserer Führungsschicht gefährdet den staatlichen Sanierungsprozess auf allen Ebenen
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A. Das Versagen der Kontrolleure: Der größte Aderlass, den die deutsche Volkswirtschaft jemals zu verkraften hatte
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1. Unsere Staats- und Wirtschaftslenker haben immer noch nicht erkannt, in
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welchen Existenzkampf sie das deutsche Volk mit der größten Geldverschwendung hineinmanövriert haben.85 Sie haben nicht den Weg gefunden, irgendetwas gegen die vorprogrammierte automatisierte Vernichtung der wirtschaftlichen Lebensgrundlagen des deutschen Volkes zu unternehmen. Manager wie Politiker sind auch nicht bereit, entsprechend der überdeutlichen Aufforderung des Herrn Bundespräsidenten, Horst Köhler, in dessen „Berlinrede“, sich zu der Verantwortung zu bekennen und Selbstkritik zu üben. Das Gegenteil ist der Fall: Alle diejenigen, die
• z. B. als Präsident der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ihre Aussichtspflichten gröblich vernachlässigt haben,86 • oder als Minister (Wirtschaft, Finanzen, Justiz, Inneres) die Methode des Sharebrandings von Aktien und die damit verbundene Vervielfachung des Marktkapitalwertes von Unternehmen kannten und • es dennoch unterließen, gegen die Straftaten, unerlaubten Handlungen, Bilanzmanipulationen und den Betrug oder die Untreue einzuschreiten, stehen jetzt als ungebetene Retter und vollmachtlose Berater Gewehr bei Fuß. 2. Sie alle wollen jetzt dem Bürger die Notwendigkeit der Gefahrenabwehr
und das Fehlen jeder Alternative zu dem Brotundbutter-Papier der Regierung, die Abläufe bei der Bankenrettung87 und vor allem seine Kostentragungs85 Tichy, Roland, die Wut der Bürger, in: Wirtschaftswoche Nr. 15 vom 06.04.2009, S. 5. 86 Die gesetzlichen Grundlagen sind das Kreditwesengesetz (KWG) und das Wertpapierhandelsgesetz (WPhG). 87 Wie gefährlich die Rettung der Banken als System für die Staaten sein kann, hat keiner der Akteure und Initiatoren des Rettungsschirms und des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes bedacht oder jedenfalls die Gefahren auf die leichte Schulter genommen. Nach wenigen Monaten zeigt sich, dass marode Banken nicht durch Staatsregierungen gerettet werden können, deren Finanzen genau so oder noch mehr marode sind wie die jenigen der Banken, zu deren Rettung diese Staaten angetreten sind. Es ist eigentlich einfach und banal: Ein Ertrinkender kann nicht von einem Nichtschwimmer gerettet werden, sondern nur von einem Rettungsschwimmer. Inzwischen kommen die Bankenretter selbst ins Rutschen. Vgl. Politik – Anzeige – 23.06.2009 – Siemens – Ratings – Bankenretter kommen ins Rutschen. Spanien hat sein Spit-
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pflicht für gerade diese staatlichen „Rettungseinsätze“ erklären, die niemals erforderlich geworden wären, wenn auch nur die Hälfte der in der Insolvenz– prophylaxe für Deutschland beschriebenen Maßnahmen umgesetzt worden wäre.88 Die neuesten Untersuchungsergebnisse besagen, dass die Bewältigung der Finanzkrise die EU-Staaten bis zu 1,8 Billionen Euro kosten kann. Das wären ca. 16,5 % des BIP der EU. Bislang haben die EU-Staaten ca. 36,5 % ihres BIP für die Bankenrettungsschirme reserviert; davon seien 11,1 % des BIP abgerufen worden. Die Ratingherabstufungen bedrohen die Sanierung der Volkswirtschaften Europas und der USA. Fachleute konstatieren einen „Herabstufungszyklus“ in den meisten EU-Ländern. Dem deutschen Spitzenrating „Triple-A“ = „AAA“ dagegen droht angeblich keine Gefahr. Frankreich, Kanada, Skandinavien und Deutschland werden vielmehr in den Club der „AAA“-Ländern eingeordnet. Anders dagegen Großbritannien: Noch gilt auch für Großbritannien das „AAA“, aber Standard & Poor’s verpasste den Briten Mitte 2009 einen negativen Ausblick, der auch für die USA gefährlich werden könnte. Seit Mai 2009 gilt das AAA für Großbritannien als ernsthaft gefährdet. Die Neuverschuldung der Briten wird 2009 175 Milliarden Pfund Sterling betragen, d. h. ca. 12 % des BIP. Ähnlich dramatisch könnte sich die Lage in den USA entwickeln. Dort geht die Furcht um, dass die Hauptgläubiger wie China, Japan oder Russland wegen des riesigen US-Haushaltsdefizits das Vertrauen in die Stabilität der US-Währung und US-Wirtschaft verlieren könnten. Die Gefahr einer nicht mehr verkraftbaren Schwemme von US-Staatsanleihen, steigenden Zinskosten und eines Auszehrens des US-Dollars ist nicht mehr abzuleugnen. Immer mehr wird die Funktion des US-Dollars als Weltleitwährung in Frage oder sogar in Abrede gestellt: Nicht nur von den Chinesen, sondern inzwischen
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zenrating verloren, ebenso Irland. Bis zu 1,8 Billionen Euro kann die EU-Staaten die Bankenrettung kosten. Irland gilt als das schwächste Glied, doch auch Großbritanniens Bonität gilt als ernsthaft gefährdet. Man fragt sich unwillkürlich: Wo waren denn alle diese Entscheider vor dem „Big Bang“? Wo waren zusätzlich die Präsidenten und Obleute der Bundesrechtsanwaltskammer und der Bundeswirtschaftsprüferkammer, die über mehr als ein Jahrzehnt die Missbräuche nicht zur Anzeige gebracht haben? Oder aber der Steuerberaterkammern, die Sachverständigen für Grundstücks- und Firmenbewertungen, die „Magnificent Six“, wo waren die Leitenden Oberstaatsanwälte, die tagtäglich aufs Neue aus jeder Tageszeitung den hinreichenden Tatverdacht von Dutzenden riesigen Bilanzbetrügereien, Kreditbetrügereien, Eingehungsbetrügereien sowie des unzulässigen Insiderhandels hätten entnehmen können? Warum wurde nicht wenigstens die erste oder allerspätestens die zweite T-Aktien-Emission zum Anlass genommen, die Ausplünderung der Bürger zu stoppen? Warum war niemand bereit, ein Machtwort zu sprechen, Zivilcourage zu zeigen, endlich zu sagen: „Achtung liebe Bürger – Der Aktienmarkt ist das Märchen von des Kaisers Neuen Kleidern, nur in moderner Verpackung“?
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auch von Frankreich. Nur Bundeskanzlerin Merkel hält an der Leitwährungsfunktion für den US-Dollar fest. In anderen Staaten wie Griechenland oder Ungarn grassiert dagegen die Angst vor dem Staatsbankrott. Noch können diese Staaten über Hilfspakete des IFW und der EU vor der Zahlungsunfähigkeit bewahrt werden, gegen besonders hohe Zinsen. Aber wie lange noch?
B. Die „alte Garde“ ist immer noch unverändert in Amt und Würden
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Wer von den Duldern damals ist heute noch in Amt und Würden? Wir müssen konstatieren: Alle oder mindestens die meisten. Sie wurden nicht zur Verantwortung gezogen, ja nicht einmal entlassen.89 Dass die alten Eliten versagt haben, kann niemand bestreiten. Es sind die verkrusteten Verbandsstrukturen, die realitätsblind gewordene Manager- und Funktionärskaste und unsere fachlich inkompetente Politbürokratie, die einen Schaden in Deutschland und in der Welt von sicherlich einer halben bis zu einer ganzen Billion Euro (1000 Milliarden Euro) in einem halben Jahrzehnt verursacht haben – und sich dennoch permanent, sogar noch nach der Krise, als die „Macher“ und die „Herren der Rettungsringe“, feiern lassen wollen.90 Diese „Führungselite“ bildet komplexe Netzwerke von Berufskarrierekartellen mit Selbstbedienungsmentalität und ist in fast allen Schaltstellen weltweit wiederzufinden: In Europa vornehmlich in Brüssel und Strasbourg, aber auch in Berlin. Rechtlich sind diese Oberschichten durch eine faktisch unumschränkte Haftungsfreistellung auch für gröbste Fahrlässigkeiten privilegiert. Verbunden mit dem Bezug höchster Einkommen und abgekoppelt vom Leistungsprinzip.
89 Röhrig Johannes/Reuter, Joachim, Bank über Bord – Ein Lehrstück über Dilettantismus und Größenwahn, in: Der Stern Nr. 17 vom 16.04.2009, S. 55 über die Vorgänge bei der HSH Nordbank AG. 90 Gillian Tett von der Financial Times zur fehlenden Fachkompetenz deutscher Führungskräfte in der Finanzmarktbranche: „Es ist eine eigenartige Ironie der deutschen Geschäftswelt, dass ein Land, während es Horden von raffinierten, supersmarten Ingenieuren hervorbringt, schwach darin ist, die Typen von raffinierten Bankern am Fließband hervorzubringen, die man braucht. Im Ergebnis sind viele Finanzinstitutionen Deutschlands kläglich schlecht ausgerüstet, um komplette Derivatrisiken, ja sogar Kapitalmarktrisiken insgesamt abzuschätzen.“; zitiert bei Dill, Alexander, Der Große Raubzug, a. a. O. (2009), S. 61.
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III. Der Club der einsamen Rufer Wie erwähnt, hatte der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages die Insolvenzprophylaxe für Deutschland als Lektüre empfohlen. Daneben gab auch der Risk News – Fachmagazin für Risikomanagement – im Oktober/November 2004 in Heft 05/2004 ein klares Statement ab, das bedauerlicherweise von keinem unserer Spitzenpolitiker ernst genommen wurde. Diese Rezension der Insolvenzprophylaxe für Deutschland ist so eindeutig bejahend, dass hier ein Auszug hieraus wiedergegeben werden soll: 66
Nach Ansicht von Nicole Munk ist die Weltwirtschaft gegenwärtig von drei gefährlichen Krankheitssymptomen gezeichnet: Von der weltweiten Rezession und Deflation als Folge einer globalen Kapitalvernichtung bislang unbekannten Ausmaßes, vom sogenannten Attentismus als einem kontraproduktiven Investor- und Konsumentenverhalten und von der Sogwirkung nationaler wie internationaler Insolvenzen auf der Staaten- und der Unternehmensebene. Mit ihrem aktuellen Buch „Insolvenzprophylaxe für Deutschland“ hält die Autorin der Politik, den Wirtschaftslenkern und den Gewerkschaften einen Spiegel vor und widmet sich acht wichtigen ökonomischen Fragestellungen:
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1. Wie kann das Risiko einer unkontrollierbaren Kapitalvernichtung auf den Aktien- und Wertpapierbörsen dauerhaft überwunden werden? 2. Welche Maßnahmen können zur Bekämpfung einer chronischen Dauerarbeitslosigkeit ergriffen werden? 3. Wie kann es gelingen, die Sozialversicherungs-, Lebensversicherungs-, Betriebsrenten- und Krankenversicherungssysteme wirkungsvoll zu sanieren? 4. Wie können Regierungen, Wirtschaftsorganisationen und Unternehmen die Insolvenzwelle wirksam bekämpfen? 5. Welche Maßnahmen müssen zur Bekämpfung der weltweit erkennbaren Deflationsgefahren ergriffen werden? 6. Wie können die Voraussetzungen für einen weltweiten Wirtschaftsaufschwung mit stetigem und kontrollierbarem Wachstum unter Einbeziehung der Interessen der Dritte-Welt-Staaten geschaffen werden?
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7. Welche Instrumente stehen zur Verfügung, um die Staatsfinanzen auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene zu sanieren und wie kann die Bundesrepublik Deutschland trotz der ungeordneten Haushalts-, Wirtschafts-, Sozial- und Reformpolitik das internationale AAA-Rating verteidigen? 8. Wie muss eine langfristig angelegte Stabilitätspolitik für den Euro und eine Wechselkurspolitik zum US-Dollar mittel- und langfristig beschaffen sein, um dem Risiko einer Deindustrialisierung durch Abwanderung und feindliche Übernahmen entgegenzuwirken? Die Autorin zeigt einen Weg, wie Staat und Wirtschaft grundlegend zu erneuern und das Vermächtnis Ludwig Erhards – Wohlstand für alle – zu bewahren sind. So skizziert die Autorin beispielsweise 14 Grundsätze, die geeignet wären, zu einer Wende auf dem Kapitalmarkt und in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik beizutragen. Als erste Sofortmaßnahme schlägt Nicole Essiger die Schaffung eines neuen verschärften deutschen und einheitlichen europäischen Bilanzierungsrechts zur Vermeidung von Bilanzmanipulationen vor. Des Weiteren fordert sie unter anderem eine angemessene Fachkompetenz als Grundvoraussetzung für die Wählbarkeit in den Aufsichtsrat, eine höhere Transparenz der Aufsichtsratstätigkeit sowie der Vorstands- und Aufsichtsratsbezüge, eine Begrenzung der Abfindungsvergütung beim Ausscheiden von Managern sowie eine verschärfte Berufshaftung und Kontrolle der Wirtschaftsprüfer. Die Ausrede von einer Naturkatastrophe kann deshalb nicht mehr gelten. Es ist eindeutig dargelegt, dass jeder einzelne unserer Verantwortlichen, unserer Volksvertreter und der Repräsentanten im Staat und in den börsennotierten Unternehmen sich in allen Einzelheiten mit den Fehlern der Vergangenheit – der 1980er und 1990er Jahre – hätte auseinandersetzen können und Vorschläge zur Fehlervermeidung auf allen Gebieten und für alle Sparten dargelegt worden waren, lange bevor die Sensoren anderer Wissenschaftler auf die Thematik überhaupt mit einem kleinen Ausschlag reagierten.
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A. 200 Billionen US-Dollar in Terminkontrakten, 131 Billionen US-Dollar in SWAPS: Das konnte nur in der „New Great Depression“ enden
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Die Strukturen und Mechanismen einer hemmungslosen virtuellen Kapitalwertschöpfung91 ohne realwirtschaftliche Grundlage am Paradebeispiel der Deutschen Telekom hätte ebenfalls schon 2003 dazu führen müssen, dem falschen Glauben endgültig abzuschwören und „Schaden vom deutschen Volke abzuwenden“. Dem war aber nicht so – im Gegenteil: Die Methoden der virtuellen Kapitalwertschöpfung, an deren Ende immer die Vernichtung konkreter Vermögenswerte steht, wurden immer dreister und die bewegten Kapitalsummen immer größer. Neben den Termingeschäften waren es insbesondere die SWAP-Geschäfte der US-Amerikaner, die ins Uferlose wuchsen und sich jeder Kontrolle durch Bank- und Börsenaufsichten entzogen.92 Gerade diese Entwicklung zeigte, dass der Staat sich von der Idee der Kontrolle des Bankund Börsenwesens komplett zurückgezogen hatte – es wurde nicht einmal der 91 Die USA sind der unanfechtbarer Weltmeister auf diesem Gebiet: So stieg das Volumen der Termingeschäfte weltweit innerhalb von zehn Jahren auf das Zehnfache. Ende 2008 führten die Banken weltweit ca. 200 Billionen (= 1012) US-Dollar in ihren Büchern. 96 % dieses Volumens entfielen auf die fünf größten US-amerikanischen Banken. Damit sind die USA der Hauptverursacher der Superrezession – und so gesehen ist die Forderung des chinesischen Notenbankchefs nach einer Wachablösung des US-Dollars auf internationaler Ebene verständlich. Ebenso kann das strategische Ziel der Chinesen nachvollzogen werden, die Vormachtstellung der Federal Reserve Bank of America zu brechen. Denn das Staatsdogma der Chinesen ist nach wie vor der Marxismus-Leninismus-Stalinismus und die Idee des „Stamokap“ – Staatsmonopolkapitalismus. Nach der Vorstellung Lenins und Stalins würde der Staatsmonopolkapitalismus einer starken kommunistischen Sowjetunion stärker sein als der private Kapitalismus der USA. Stalin formulierte das sinngemäß so, dass die Kapitalisten den Strick selbst liefern würden, an dem sie aufgeknüpft werden – und das Liefergeschäft auch noch vorfinanzieren. Die Chinesen haben diese Idee verinnerlicht: Sie warten darauf, dass sie die Stelle eines finanzschwachen Amerikas einnehmen können. Die Macht der großen Liquidität haben sie für diese Machtübernahme fast unbemerkt aufgebaut. Zurück zu Deutschland: Dies alles heißt nicht, dass Deutschland und die anderen EU-Staaten die Unschuldslämmer wären: Jede Nation folgte auf die eigene Weise und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten dem Beispiel der USA. Die deutschen Landesbanken waren nicht gezwungen, am großen Tisch des Casino-Kapitalismus Platz zu nehmen. Niemand musste sich in Deutschland die T-Aktienemissionen zum Zwecke der mittelbaren Staatsfinanzierung ausdenken. Die Schrottimmobilienfinanzierung war ebenfalls eine Sonderform der deutschen virtuellen Kapitalwertschöpfung. 92 Polleit, Thorsten, Gutes Geld, in: Focus-MONEY a. a. O., Beilage zu Focus Nr. 23 vom 30.05.2009, S. 42: Die SWAPS machen ca. zwei Drittel des gesamten Derivate-Handels der USA aus. Betrug das Handelsvolumen in SWAPS 1997 ca. 9,7 Billionen (1012) US-Dollar, waren es 2004 bereits 56,4 Billionen (1012) US-Dollar und 2008 die unvorstellbare Summe von 131, 7 Billionen (1012) US-Dollar. Seit März 2006 weist die Federal Reserve Bank of America die virtuelle Geldmenge M3 statistisch nicht mehr aus. Inoffiziell gilt als bewiesen, dass die M3-Geldmenge besonders stark gestiegen ist; vgl. Focus-MONEY a. a. O., S. 35.
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Versuch unternommen, auch nur die Existenz von Kontrollorganen oder aber von Gesetzeswerken vorzuspiegeln.
Abbildung 25: Ungeheure Summen – Werte aller Derivat-Kontrakte von US-Banken in Billionen (1012) US-Dollar. | Quelle: Focus-MONEY Nr.2/2009 S. 46, Beilage zu Focus Nr. 23 vom 30.05.2009, unter Hinweis auf US-Bankenaufsicht (OCC).
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Abbildung 26: Unkontrollierbare Billionen – Wert der SWAP-Kontrakte in Billionen (1012) US-Dollar. | Quelle: Focus-MONEY Nr.2/2009 S. 46, Beilage zu Focus Nr. 23 vom 30.05.2009, unter Hinweis auf US-Bankenaufsicht (OCC).
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B. Die Crash-Vorzeichen aus dem Wachsen der Immobilien- und Aktienblasen sind nicht mehr zu übersehen – die Glaubwürdigkeit der Wirtschaftswissenschaft steht auf dem Prüfstand
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1. Da die Methode der virtuellen Kapitalwertschöpfung ohne realwirtschaft-
liche Grundlage als bequeme Geldbeschaffungsmöglichkeit bei allen Staaten und Konzernen mehr oder weniger gleichartig und parallel angewendet wurde, in den USA sowie in Großbritannien sogar mit noch viel größeren Hebeln als in anderen Ländern,93 mussten sich die Experten dann doch mit den aus dem „Königsway of Life“94 resultierenden Gefahren auseinandersetzen. Schließlich kamen Jahre später einige wenige international namhafte Wirtschaftsprofessoren vornehmlich für den angloamerikanischen Bereich zu dem Schluss, dass die Weltkonjunktur unter dem Damoklesschwert einer „Great Depression“ stehe. Etwas konzilianter wurde dies so formuliert, dass ein „Big Bang“ auf den Finanzmärkten „nicht auszuschließen sei“. 75
2. Die internationale Vernetzung und damit der Verbreitungsmechanismus
waren bereits erkannt worden. Entsprechend konnten die in Billionen von US-Dollar zu messenden virtuellen Kapitalwertschöpfungen der Öffentlichkeit nicht mehr gänzlich verborgen bleiben. In den Verhaltensmustern ergab sich aber das gleiche Bild wie in Deutschland: Die Gefahr am besten ausblenden und keine Veranlassung geben, darüber nachzudenken oder etwas zu ändern, so lautete die Devise – bei den staatlichen Bankenaufsichten und bei den Aufsichtsräten, egal, ob diese Minister/Manager oder Gewerkschafter waren. Es wurde viel von Gläubiger- und Kapitalanlegerschutz gesprochen, aber in Wirklichkeit entstand ein Kapitalbetrügerschutz und ein rechtsfreier Raum,
93 Die Folgen dieser Überstrapazierung der Finanzmärkte bestehen darin, dass Anleger mit Anleihen selbst von Großkonzernen und Markenartikelunternehmen inzwischen hohe Verlustrisiken eingehen: vgl. Schuermann,
[email protected]: „20 Prozent auf alles“, in: Wirtschaftswoche Nr. 19 vom 04.05.2009, S. 117, 121: „Anleihen für Investoren mit starken Nerven, die Totalverluste verkraften können: u. a. Ford, Levi Strauss, Grohe, Hertz. Nur noch sechs Unternehmen haben weltweit das Spitzenrating „AAA“: Pfizer, Microsoft, Johnson & Johnson, Rabobank, Automatic Data Processing und Exxon Mobil. 94 Kirchhoff, Bodo, Unser aller Größenwahn, in: Der Spiegel Nr. 16 vom 11.04.2009, S. 144 f. Der Begriff ist eine Kombination aus „Königsweg“ auf Deutsch und Englisch und soll wohl die Vorstellung ausdrücken, mit dem angloamerikanischen Börsensystem permanenten Wohlstand ohne Arbeit zu schaffen – eine Irrlehre, wie sich jetzt herausgestellt hat.
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in dem in der Praxis so gut wie jede Haftung für Fehlentscheidungen aller Art außer Kraft gesetzt werden konnte.95 Viel zu spät kam dann doch noch Bewegung in die Diskussion, ausgelöst durch die US-Wirtschaftswissenschaftler.
95 Zu wie vielen größeren Verurteilungen war es denn wegen Insiderhandel, Aktienemissionsbetrug u. a. gekommen? In Deutschland, in den USA oder anderswo? Die Liste von Verurteilungen ist, gemessen am Geschäftsaufkommen, minimal. Tatsache ist, dass bei allen diesen Manipulationen keine große Gefahr für die Täter bestand, dingfest gemacht zu werden. Bei dem Schadensvolumen an den Börsen hätten es Hunderte von Verurteilungen sein müssen. In Wirklichkeit fehlte auch hier die Kontrolle, da die Emittenten sich selbst kontrollierten. Erst bei dem globalen Superschneeball- und Manipulationssystem des Bernard Madoff in New York hat die US-Justiz dann doch zugeschlagen: Untersuchungshaft wurde angeordnet; die Anklage der Staatsanwaltschaft führte zur Verhängung einer 150-jährigen Freiheitsstrafe gegen den Hauptbeschuldigten. Bei der Größenordnung des entstandenen Schadens – bis zu jetzt hochgerechneten 65 Milliarden US-Dollar – ist dies sicherlich ein Sonderfall. Vgl. dazu Hörig, Frank, Wahn und Wirklichkeit, in: Der Spiegel Nr. 1/2009 vom 29.12.2008, S. 48 f. und Wiechmann, Jan Christoph, Das Monster von der Wall Street, in: Der Stern Nr. 27 vom 25.06.2009, S. 89 ff. Interessant ist die Einlassung des Angeklagten Madoff vor dem US-Gericht: Er habe mit seinem Unternehmen nur die Rezession der frühen 1990er Jahre überleben wollen. Dazu mussten die Summen, die in dem Schneeballsystem bewegt wurden, immer größer werden. Die Einlassung Madoffs vor dem New Yorker Strafgericht zeigt aber, dass die weltweite Finanzkatastrophe, m. a. W. die Verbreitung des Insolvenzvirus, schon Anfang der 1990er Jahre ihren Anfang genommen hatte. Madoff hat seine Kunden im Gerichtssaal um Vergebung gebeten; seine Strafverteidiger plädieren für eine nach US-amerikanischen Rechtsgepflogenheiten „milde“ Strafe von 12 Jahren Haft. Die Geschädigten fordern dagegen die Höchststrafe: 150 Jahre Haft, ein eher symbolischer Gerichtsantrag, denn Madoff ist 71 Jahre alt. Aber das Gericht ist diesem Antrag gefolgt. Offenbar sollte ein Exempel statuiert werden. Der Fall Madoff ist ein Schulbeispiel dafür, wie die seit Jahrhunderten immer wieder von Glücksrittern und Betrügern aufgezogenen Schneeballsysteme im Zeitalter der Globalisierung und des Internets global aufgezogen werden: Von New York bis Florida, von Genf bis Singapur reichten die Investor Relationships. Doch auch die Machart ist immer wieder dieselbe: Die Kunden wurden mit sehr hohen Renditeversprechen geworben. Ehrlicherweise hätte sich so mancher der Anleger die kritische Frage stellen (lassen) müssen: Wie sollen denn diese hohen Zinsversprechen erwirtschaftet werden? Wie soll das vor allem auf die Dauer von Jahren oder Jahrzehnten möglich sein? Die Liste der Betrugsopfer liest sich wie der Who is Who: auch die UBS hat viel Geld verloren, außerdem zahlreiche Privatanleger, private Stiftungen: „Vertrauen war gut, blindes Vertrauen besser“. Die Folgen der Madoff-Insolvenz beschreibt Wiechmann, Jan, a. a. O.: Anlagenberater begingen Selbstmord, Kunden verloren ihre Existenz, Stiftungen schlossen, Hedgefonds-Manager tauchten unter aus Angst vor ihren russischen Kunden. Doch wie sieht es in Deutschland mit der Aufarbeitung der Finanzkrise durch die deutsche Justiz aus? In der Größenordnung des Schadens – 65 Milliarden US-Dollar – stehen manche deutsche Geschäftsbanken oder die Landesbanken insgesamt nicht oder nur wenig nach. Anklage ist bislang, soweit ersichtlich, noch gegen niemanden erhoben worden. Immerhin scheint im Falle der HRE von Aktionären über eine Schadensersatzklage nachgedacht zu werden.
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C. Paul Krugmans Vorarbeiten zur Asienkrise 1999 und die Transponierung auf die Immobilien- und Aktienblasen von 2008
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In die kleine Schar der Kritiker der virtuellen Kapitalwertschöpfung ohne realwirtschaftlichen Hintergrund reihte sich der bekannte US-amerikanische Nationalökonom und Nobelpreisträger (2008) Paul Krugman ein, der 1999 die Ursachen und Auswirkungen der Asienkrise auf die US-Wirtschaft untersucht hatte.96 Krugman warf auch die Frage auf, ob sich die Asienkrise als lokaler Sonderfall bewerten ließe97 oder aber ein globales Grundmuster der Rezession erkennbar geworden sei, was bedeuten würde, dass sich eine derartige Krise auch in anderen Regionen der Welt wiederholen oder dorthin ausbreiten und sogar verstärken könnte. Krugman ging von letzterer Variante als der wahrscheinlicheren aus.98 Heute gelangt Krugmans aktualisierte und erweiterte Analyse99 zu der Weltwirtschaftsrezession 2009 weitgehend zu ähnlichen Ergebnissen, wie sie in der Insolvenzprophylaxe für Deutschland dargelegt worden sind. Außerdem untersuchte Krugman das sogenannte „Schattenbanksystem“ in den USA, d. h. den Aufbau virtueller Geldkreisläufe bei Nichtbanken, die sich die besonderen Freiheiten außerhalb der gesetzlichen Einlagesicherungsverpflichtungen zunutze machten und neue „Finanzprodukte“ schufen, die aus staatsanwaltschaftlicher Sicht nichts anderes sind als betrügerische Schneeballsysteme.100 96 Krugman, Paul, Die große Rezession (1999), Neuauflage (mit drei erweiterten Kapiteln): 2009 mit dem Titel: „Die neue Weltwirtschaftskrise“. Diese Form der Auseinandersetzung unterschied sich von anderen Werken anderer Autoren, die Stabilität als den normalen Aggregatszustand einer Volkswirtschaft verstehen und Wohlstand in erster Linie als durch die Wirtschaftstheorie geschaffen sehen wollen, z. B. Schinasi, Garry J.:, Safeguarding Financial Stability; Theory and Praxis. International Monetary Fund (2005) und Smith, Adam: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Oxford University Press (2008). 97 Das wäre die „bequemere“ Erklärung gewesen, weil man sich nicht mit der Administration im Weißen Haus und den Börsen hätte in Widerspruch setzen müssen. 98 Heute urteilt Krugman auf die Frage, ob sich die Great Depression von 1929 2009 ff. wiederholen könnte: „Ich hoffe nein, aber wäre nicht überrascht, wenn ich unrecht hätte“; vgl. Dettmer, Markus/Falksohn, Rüdiger/Jung, Alexander/Neubacher, Alexander/Schmitz, Gregor Peter/Stark, Holger/Steingart, Gabor, Unheimliche Parallelen – Geschichte wiederholt sich womöglich doch, in: Der Spiegel Nr. 18 vom 27.04.2009, S. 24 ff., 27. 99 Neben dem Werk „Die große Rezession“ ist Krugman auch der Verfasser des Werkes: Der Große Ausverkauf: Wie die Bush-Regierung Amerika ruiniert (Campus-Verlag 2004) und des Buches: Nach Bush. Das Ende der Neokonservativen und die Stunde der Demokraten (CampusVerlag 2008). 100 Die Ähnlichkeit dieser „Schattenbanksysteme“ in den USA und den in Deutschland betriebenen Systemen der Schaffung und Verbreitung virtuellen Kapitals ist augenfällig. Deshalb waren auch die Abläufe in den einzelnen Staaten vergleichbar und sind entsprechend die Lösungsansätze im Wesentlichen identisch. In den modernen Volkswirtschaften kommt dem
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Abbildung 27: Mit staatlichen Konjunkturpaketen will die Staatengemeinschaft gegen das Worldwide Economic Disaster kämpfen, das die Staatengemeinschaft durch CDS-Geschäfte, subprime-Verbriefungen und Schattenbankensysteme selbst verursacht hat. | Quelle: Der Spiegel 24/2009, S. 23.
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sogenannten „Interbankhandel“, d. h. dem Handel zwischen Banken im Bereich des An- und Verkaufs von Schuldverschreibungen aller Art, insbesondere aber auch der Staatsschuldverschreibungen, große Bedeutung zu. Noch größer ist das Interesse der Staaten am reibungslosen Ablauf des Interbankhandels, weil dieser Handel der Vertriebsweg für den Verkauf von Staatsanleihen ist – in den USA die sogenannten Treasury Bonds, in Deutschland die Bundesschatzanweisungen und Bundesschatzbriefe. Ohne die Funktionsfähigkeit des Interbankhandels unterstehen also die Absatzmärkte für die Staatsanleihen nicht mehr dem Zugriff der Staaten. Den Staaten geht folglich schlichtweg das Geld aus. Dann verfügen die Staaten nur noch über die laufenden Steuereinnahmen. Wenn aber alte Staatsanleihen paketweise fällig werden, müssen auf den Tag genau sehr große Kapitalsummen zur Verfügung stehen, es sei denn, die Inhaber dieser Staatsanleihen prolongieren am Fälligkeitstag, d. h. sie ordern neue Staatsanleihen, die dann im Prinzip nur getauscht werden. Was aber, wenn an vielen hintereinander folgenden Fälligkeitstagen niemand mehr prolongieren, sondern jeder „Kasse machen will?“, weil man z. B. das Bargeld braucht, um Kursverluste an der Börse auszugleichen, oder weil man dem betreffenden Staat inzwischen nicht mehr das Vertrauen wie früher entgegenbringt? Dann kann nur aus den Einnahmen aus dem Neuverkauf von Staatspapieren die Barzahlungspflicht aus den alten Staatsanleihen erfüllt werden. Deshalb stehen die Staaten unter dem Druck, auf Biegen und Brechen, koste es, was es wolle, auch auf Kosten der Rente der Arbeitnehmer und notfalls des Sparbuchs des Bürgers, den Interbankhandel wieder zum Laufen zu bringen. Denn sonst könnten die Kurse der Staatsanleihe einstürzen. In der Regel liegt der Kurs guter Staatsanleihen bei 100 % bzw. bei guter Zinsausstattung sogar noch darüber: Dies ist Ausdruck des Vertrauens in die Zahlungsfähigkeit des Staates. Kommt der Interbankhandel zum Erliegen, könnte jeder am Fälligkeitstag „Kasse machen“ wollen: Ein „Turboeffekt“ nach unten käme in Gang. Am Ende: Zahlungseinstellung und Staatsbankrott. Unmöglich? – Nein: In der deutschen Geschichte kam es schon mehrfach, z. B. 1919 nach dem Ersten Weltkrieg, dazu, dass Staatsanleihen nur noch als schön eingerahmter Wandschmuck zu gebrauchen waren. Oder wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel wörtlich erklärt: „Es gibt das Gerücht, dass Staaten nicht bankrott gehen könnten. Es handelt sich hierbei wirklich nur um ein Gerücht.“
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D. Nouriel Roubinis Warnung auf dem Weltwirtschaftsforum Davos 2007: „Schwarzmalerei“ oder Realitätsbewusstsein?
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1. Zuvor – im Dezember 2007 – hatte Nouriel Roubini, Ökonomieprofessor
an der Stern School of Business, New York University, mit dem Spezialgebiet „Finanz- und Wirtschaftskrise in Schwellenländern“, auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos die anwesenden Regierungschefs vor der US-Immobilienblase und ihren Folgen gewarnt und ein düsteres Bild der Weltkonjunktur entworfen. Dafür wurde Roubini als „advocatus diaboli“ und als typischer „Schwarzmaler“ getadelt.101 Heute dagegen wollen ihn manche für den Nobelpreis nominiert sehen.102 Seine Ausführungen in Davos über die Folgen des bevorstehenden Crashs schockierten die Zuhörer. Nachdem er seinen Vortrag beendet hatte, witzelten die sogenannten „Experten“ „Jetzt brauchen wir erst einmal einen Drink“.103 81
2. Ein weiterer Kritiker des Marktfundamentalismus ist der US-Ökonom
Robert J. Shiller,104 der an der renommierten Yale-University, New Haven, Ökonomie lehrt. Auch Shiller hatte das Verantwortungsbewusstsein, seine Erkenntnisse über Spekulationsblasen105 und die damit verbundene Kapital101 Vgl. Mattauch, Christine, Roubini, Nouriel; Gestatten, Doctor Doom, in: Die Zeit Nr. 51 vom 11.12.2008 , S. 42. 102 Roubini befasste sich bereits in den 1990er Jahren im Zuge der sogenannten „Asienkrise“ ebenfalls mit einem damit zusammenhängenden Thema, nämlich der Früherkennung sogenannter „Spekulationsblasen“, vornehmlich auf dem Immobilienmarkt in den USA. 103 Vgl. dazu auch das neueste Interview mit Roubini in: Focusmoney, Das Ende der Marktwirtschaft, Beilage zu Focus Nr. 23 vom 30.05.2009, S. 28 ff.: kein schnelles Ende der Rezession in Sicht. „Es ist Nonsens zu meinen, das Schlimmste sei vorbei.“ Danach ist das Risiko einer LRezession, d. h. mehrjährigen Rezession, real. 104 US-Ökonom Robert Shiller ist Autor zahlreicher Werke und Bücher: Vgl. Shiller, Robert, Animal Spirits (2009); vgl. auch über den „Think tank“ – Edmund Phelps, Josef Stiglitz und Robert Shiller; Eberle, Matthias, Topökonomen fordern eine neue Finanzwelt, in: Handelsblatt Nr. 58 vom 24.03.2009, S. 3 und Handelsblatt Nr. 58 vom 24.03.2009, S. 1: Ökonom und Nobelpreisträger Edmund Phelps verlangt eine Eingrenzung der Macht der Banken durch strengere Aufsicht und eine Beschränkung auf ihre Kernaufgaben. Diese Reform des Bankensystems sieht vor, das Investment-Banking von den Geschäftsbanken abzutrennen oder Investmentbanken geschlossen werden. Mit milliardenschweren Finanzhilfen für Banken stoße man nicht zum Kern des Problems vor – man müsse Banken auch insolvent gehen lassen. Diese Auffassung findet sich im Ansatz bereits in der Insolvenzprophylaxe für Deutschland (2004) und wird auch hier vertreten. 105 Dass die nächste Aktien-, Gold- und Öl-Spekulationsblase bereits in der Entstehung begriffen ist und die Notenbanken gegebenenfalls die Ausweitung der virtuellen Geldmenge betreiben, ist bedauerlicherweise Teil der ökonomischen Realität: Vgl. Seibel, Karsten/Stocker, Frank, Die nächste Blase entsteht, in: Welt am Sonntag Nr. 23 vom 07.06.2009, S. 23.
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vernichtung zu publizieren – ohne Rücksicht darauf, ob dies auf Beifall oder Ablehnung stoßen würde.106 Gerade das Wechselspiel zwischen unberechtigt hohem Vertrauen und unberechtigt hohem Misstrauen sei der Ursprung der Kapitalvernichtung. Hieraus entwickelte sich die Theorie der Verhaltensökonomik der Finanzmärkte (behavioral finance).
E. Max Ottes Warnruf „Der Crash kommt“ verhallt ebenfalls ohne große Resonanz
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Zu den Unerschrockenen zählt man noch Max Otte, Professor an der Fachhochschule Worms und Leiter des von ihm gegründeten Instituts für Vermögensentwicklung (IFVE).107 Seine Aussagen bestätigen ebenfalls die Untersuchungsergebnisse in der „Insolvenzprophylaxe für Deutschland“ und die Sorgen sind ebenfalls ganz ähnlich:
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• Muss der Staat in vielen Bereichen – Krankenversorgung, Rentenversicherung, Schulen und Hochschulen – seine Leistungen einschränken, weil eine dauerhafte Liquiditätsverknappung vorliegt? • Könnte sich die Krise bei den US-amerikanischen Hypothekenbankkrediten108 in die deutschen Landesbanken verlagern, die zu Beginn des neuen Jahrtausends bedauerlicherweise damit begonnen hatten, riskante Pakete dieser „verbrieften Forderungen“ anzukaufen? • Konnten und durften die deutschen Landesbanken und andere Geschäftsbanken den „Rating-Beurteilungen der großen Ratingagenturen, vornehmlich aus den USA“, vertrauen, oder hätte angesichts der Größenordnung 106 Jenseits des Atlantiks bot sich dasselbe Bild: Die Mehrheit feierte die Börsenrallyes und sich selbst; Abweichler, die warnend ihre Stimme erhoben, gerieten leicht in den Verdacht, Spielverderber zu sein. So stieß Robert Shiller lange Zeit auf taube Ohren in Washington und Wall Street, wenn er begründete, dass die „Makroökonomie der letzten dreißig Jahre eine falsche Richtung eingeschlagen habe“ und dass ökonomische Ereignisse ohne die Beachtung psychologischer Motivationen nicht verstanden werden können. Nach Shiller ist deshalb die Wirtschaftskatastrophe mit den herkömmlichen Theorien nicht zu erklären. Grundvoraussetzung für ein stabiles Wachstum ist, dass es eine stabile Vertrauensgrundlage gibt, also nicht Phasen mit übermäßigem Vertrauen und Phasen mit massiv gesteigerten Misstrauen; vgl. Shiller, Robert, Animal Spirits (2009) und in vorangegangenen Veröffentlichungen. Vgl. auch Krisengewinner Euro – so wichtig wie der Dollar, in: Capital 03/2009, S. 16. 107 Otte, der in Princeton promoviert hatte, ist Autor mehrerer Bücher, darunter sein bekanntestes Werk: „Der Crash kommt“ (1. Aufl. 2006/14. Aufl. 2009 108 Vgl. dazu Shiller, Robert J., Die Subprime-Lösung – wie wir in die Finanzkrise hineingeraten sind und was wir jetzt tun sollten (2008).
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der durchgeführten Paketankäufe nicht unbedingt eine eigene, unabhängige, neutrale und sachverständige Überprüfung der Werthaltigkeit der „verbrieften Forderungen“ stattfinden müssen?
Abbildung 28: Die realen Immobilienpreisindizes im Großraum San Francisco nach Preiskategorien, monatlich von Januar 1987 bis März 2008. | Quelle: Shiller, Robert J., Die Subprime-Lösung, Börsenmedien AG, Kulmbach.
Abbildung 29: Reale Immobilienpreise im Großraum London und im Großraum Boston. | Quelle: Shiller, Robert J., Die Subprime-Lösung, Börsenmedien AG, Kulmbach.
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Heute weiß jeder, dass es sich bei den „Subprime“-Finanzkonstrukten um wertlose (oder so gut wie wertlose) Papiere gehandelt hatte. Doch auch schon ab dem Jahr 2000 konnte daran kein vernünftiger Zweifel bestehen.109 Andererseits war klar, dass sich der Crash nicht ausschließlich auf den US-amerikanischen Markt beschränken würde, zumal es noch andere Risiken als die „US-Hypothekenkreditblase“ gab: z. B. den Kollaps des US-Dollars und die „deutsche Aktienblase“.110 Es wirkte sodann noch die Entwicklung der Gold-/ Silber- und Rohölpreise ein und zusätzlich das Abdriften der USA als ehemals führende ökonomische Macht in das „Imperium der Schulden“111. Gerade aber die Explosion der Hypothekenschulden der US-Privathaushalte in den letzten 20 Jahren musste angesichts der Kapitaldimensionen jedermann deutlich vor Augen führen, dass es ein „weiter so wie bisher“ nicht geben konnte.
109 Denn diese „Subprime“ waren keine „Wertpapier-Pakete“, sondern richtigerweise „Pakete mit hohem Ausfallrisiko“. Dass bei der sogenannten „Immobilienblase“ in den USA, was die privaten Hauskäufe betrifft, noch wesentlich mehr Schindluder getrieben wurde als z. B. bei den sogenannten „Schrottimmobilien-Finanzierungen“ auf dem deutschen Markt, konnte nur denjenigen verborgen bleiben, die absichtlich nicht hinsehen wollten. Studien und Einschätzungen zum US-amerikanischen Immobilienmarkt und Hypothekenkreditmarkt hatten längst ergeben, dass nur ca. 35 % der Kreditvaluta ihren echten Gegenwert in Form von Häusern und Grundstücken fanden; die Übrigen 65 % waren von den Darlehensnehmern im Schnitt für die Ablösung von anderen Konsumentenkrediten, zur Bezahlung von Finanzamtsschulden und für Neukonsum reserviert. Betrachtet man die hohe Volatilität und den geringen Substanzwert derartiger Bauten, war von vornherein klar, dass der „Crash“, jedenfalls in den USA, stattfinden würde. 110 Es kam hinzu, dass der Prozentsatz derjenigen Länder, in denen deflationäre Tendenzen seit den 1990er Jahren zu beobachten sind, stark gestiegen war; in den Industriestaaten von ca. 2,5 % im Zeitraum 1991/1996 und auf 8,3 % im Zeitraum 2000/2002; bei den Entwicklungsländern in demselben Zeitraum von 0,3 % auf 16,3 %. Im arithmetischen Mittel in etwa eine Verachtfachung der deflationären Tendenz. 111 Otte, Max „Der Crash kommt“ (14. Aufl. 2009), S. 84.
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Abbildung 30: Die Hypothekenschulden der US-Haushalte sind in den letzten 20 Jahren explodiert. | Quelle: Max Otte, Der Crash kommt, 2009, S. 89, Econ Verlag in der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.
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Im Jahr 1984 überschritt der Hypothekenschuldenstand der privaten USHaushalte erstmals die Grenze von 1 Billion US-Dollar; 1988 waren es bereits 2 Billionen US-Dollar; 1992 3 Billionen US-Dollar; 2001 5 Billionen US-Dollar und 2004 8 Billionen US-Dollar mit einer „fast senkrechten“ Fortsetzung der Grafik-Kurve. In der gleichen Zeit vergrößerte sich die umlaufende Geldmenge M 3 = das „virtuelle Kapital“ ebenfalls überproportional, und zwar im Verhältnis zum preisbereinigten Bruttoinlandsprodukt von 1980 um mehr als das Doppelte.112 Dementsprechend gab es weitere Mahnungen: George Soros warnte 2006 ebenfalls vor einer Rezession (in den USA). Dass Deutschland ein ganz ähnliches Bild in demselben Zeitfenster abgab, wurde von unseren Wirtschaftsweisen – dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage in Deutschland – nicht gesehen und auch nicht problematisiert. Solche Begriffe wie die „Wertefalle“ – bezogen auf den Immobilienmarkt, über dem schon seit langem ein „schwarzer Schatten“ liegt,113 die 112 Otte, Max „Der Crash kommt“ (14. Aufl. 2009) S. 155 mit Schaubild, Quelle: www.federalreserve.gov, eigene Berechnungen von Otte, Max. 113 Gerth, Martin/Schwertfeger, Heike, Schwarze Schatten, in: Wirtschaftswoche Nr. 51 vom 15.12.2008, S. 99 f. Kollektive Kapitalflucht im Schwarzen Oktober – in Millionen Euro: SEB Immoinvest: 562, Hausinvest Europa: 525, CS Euroreal: 459, AXA Immoselect 380, KanAm Grundinvest 222. Manche Portfolios mussten „eingefroren“ werden. Schrumpfende Renditen und unübersehbare Risiken bedeuten: Die meisten deutschen Immobilienfonds sind heute Sorgenkinder und morgen Kandidaten für das Insolvenzverfahren. In vielen Fällen wird die Sanierung aussichtslos bleiben. Das läuft in der mittelbaren Zukunft auf eine große Zahl von
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„Liquiditätsfalle“114 und die „Deflationsgefahren“115 oder das Risiko einer „Stagflation“ wurden schlichtweg übersehen.116 Deshalb sind es sogleich drei Lawinen, die die deutsche Volkswirtschaft überrollen werden:
• Die staatliche Rente steht vor der Abwertung in 10 %-Schritten, die eine generelle Reduzierung der Binnenkaufkraft zur Folge haben wird; • die deutschen Lebensversicherer befinden sich in einer durchaus ähnlichen Lage des massiven Substanzwertverlustes, der künftig die 100 %-Auszahlung von LV-Policen äußerst erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen wird, • Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Immobilienfonds stehen vor der Insolvenz und müssen gegebenenfalls geschlossen werden.117 Notverkäufen hinaus. Aber auch die deutschen Banken, Sparkassen und Volksbanken stehen dann vor dem Problem der Wertberichtungen von Darlehenspaketen und Grundpfandbriefabschreibungen. Wie soll diese Blase, die erst noch vor dem Zerplatzen steht, bilanztechnisch überhaupt aufgefangen werden? 114 Zu den Begriffen Munk, Nicole, Die T-Aktie als Marke (2. Aufl. 2003), S. 39, mit der Darlegung der Konsequenzen für Banken und Versicherungen. 115 In der Deflationsbekämpfung fehlen den Regierungen und Notenbanken verlässliche Erfahrungswerte. Vgl. dazu Handelsblatt Nr. 73 vom 16.04.2009, S. 6: „Deflation wird zu realer Sorge – Verbraucherpreise in den USA sinken zum ersten Mal seit 54 Jahren.“ 116 Wie sich die „Marktkapitalisierungen“ der großen Dax-Unternehmen in Deutschland rasant entwickelten, ist in der Insolvenzprophylaxe für Deutschland (2004) Schritt für Schritt und für alle wichtigen Branchen nachzulesen. Dass die so ermittelten angeblichen echten Verkehrswerte für Unternehmen, Betriebe, Immobilien usw. niemals mehr mit der Realität übereinstimmen konnten und ein Vielfaches der echten Substanzwerte ausmachten, schien niemanden zu stören, obwohl inzwischen die Staatsfinanzierung, die Alterversorgung, die Krankenversorgung, die Investitionskraft in Zukunftsprojekte usw. letztendlich ausschließlich darauf gestützt wurden: ein virtuelles Fundament von Dax-Punkten. 117 Das Bundesfinanzministerium, die Bundesbank und die BaFin sehen die Brisanz dieses Themas, denn zwischen der Lebensversicherungswirtschaft, den Immobilienfonds und der Altersabsicherung von Millionen von Immobiliensparern besteht ein vernetzter Zusammenhang mit der Folge, dass die Schließung von Immobilienfonds auch die Banken und Lebensversicherer trifft, denn häufig sind Immobilienfondsbeteiligungen als Sicherheiten für Kredite hinterlegt, was bedeutet, dass die Darlehensforderungen der Banken realistischerweise wertberichtigt werden müssen: Das schlägt dann wieder auf den Aktienkurs der Kreditinstitute durch. Die Aktien sind aber Teil der Deckungsstöcke der Lebensversicherungen. Dies hat zur Folge, dass der Wert der Deckungsstöcke schmilzt und damit das für Altersversorgungszwecke bestimmte Vermögen der Bürger immer kleiner wird. Die Banken können dann aber auch dem Staat nicht mehr (so viele) Schuldverschreibungen abkaufen und der Staat kann infolgedessen auch nicht mehr so selbstverständlich wie bisher Zuschüsse zur staatlichen Rentenversicherung zahlen. Deshalb gehen die Überlegungen der Fonds-Geschäftsführungen wie auch der staatlichen Stellen dahin, die Schließung von Immobilienfonds so weit wie möglich zu vermeiden. Die US-Grundinvest der Investmentgesellschaft KanAm wurde z. B. Anfang des Jahres 2009 geschlossen. Bei anderen Investmentgesellschaften haben Kunden Hunderte
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F. Der Vorwurf der angeblichen „Self-Fulfilling-Prophecy“ fällt auf die realitätsblinden „Fachleute“ der Finanzwirtschaft zurück
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Diese Wissenschaftler jetzt allesamt als Auslöser einer „Self-Fulfilling-Prophecy“ zu kritisieren, wäre völlig falsch und unfair.118 Den Vorwurf können ganz bestimmt nicht diejenigen erheben, die mit gesetzlichen Kontroll- und Überwachungssachaufgaben im Auftrage des Bundes befasst waren.119 Sicherlich darf es in der Wirtschaftswissenschaft keinen Platz für Eitelkeiten geben, weil die Verantwortung für das persönliche Wohl von Milliarden Menschen dies verbietet. Das war hier aber gar nicht der Fall – sondern umgekehrt: Es war die Eitelkeit derer, die glaubten, die Wirtschaft und die öffentliche Meinung steuern zu müssen und dass sich eine virtuelle Kapitalwertschöpfung120 mit beliebig großen Zahlen auf ewig betreiben ließe, was aber im Gegenteil von Millionen Euro abgezogen. Vgl. die Mitteilung des Bundesfinanzministeriums vom 24.01.2009. Für Kapitalanleger gibt es keinen vernünftigen Grund, weiterhin an diesen überwiegend als Schneeballsysteme konzipierten Anlagemodellen teilzunehmen. Die Bundesbehörden versuchen, dem massiven Mittelabfluss mit Rhetorik entgegenzutreten. Sie behaupten, dass die offenen Immobilienfonds die „Bewährungsprobe“ bestehen würden. In Wirklichkeit sind die Chancen dafür denkbar schlecht: Oft sind es große Gewerbeimmobilien, die von Leerstand betroffen sind und deshalb als renditeschwach eingestuft werden müssen. In vielen Fällen wurden die Wirtschaftlichkeitsberechnungen auf Phantasiemieterwartungen gestützt, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten als illusorisch betrachtet werden müssen. Die Aussage der Bundesregierung, dass die Schließung einzelner Fonds nichts mit der Qualität der Produkte zu tun haben würde, ist nachweislich falsch: Weit mehr als die Hälfte aller Fondsimmobilien sind zu ertragsschwach, um die Zinslasten bedienen zu können. Auch die DeutscheBank-Fonds sind von der Krise betroffen. In der gesamten Branche besteht die Gefahr eines Crashs nach dem Crash. Die Frage muss deshalb gestellt werden: Gibt es überhaupt noch irgendeine Altersversorgung oder Kapitalanlageform, die wirklich funktioniert? Wenigstens mit der Erhaltung des eingesetzten Kapitals? 118 Für eine objektive Berichterstattung und Analyse, sei es im Journalismus, sei es in den Medien, sei es in den Wirtschaftswissenschaften, und gegen das vorschnelle Absegnen der staatlichen Rettungspakete spricht sich aus: Weischenberg, Siegfried, „Nah dran sein und dennoch Distanz wahren“, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 81, S. 19. 119 Das Eingeständnis der von Norberg als „Komplizen des Untergangs“ titulierten Staats- und Regierungschefs hätte unisono lauten müssen: „It happens during my watch“. Das müssten auch in unserem Staat alle einräumen: Der Präsident der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, der Bundesfinanzminister, auch die Bundeskanzlerin, der Bundeswirtschaftsminister, der Präsident der Bundeswirtschaftsprüferkammer die Vorstände und Verwaltungsratsvorsitzenden der Landesbanken u. v. m.: Jeder war in seinem Ressort dafür verantwortlich, so weit wie möglich den Ursachen entgegenzuwirken, damit nicht das Ergebnis der Absturz der Finanzmärkte sein würde. 120 Krugman, Paul, Die neue Weltwirtschaftskrise, a. a. O., S. 185 ff. Im Abschnitt „Das Schattenbanksystem“ ist beschrieben, wie das System der „Auction Rate Securities“, der „Tender Option Bonds“ und der „Variable Rate Demand Notes“ sowie das Unterlaufen der Bankeinlage-Sicher-
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schnurstracks ins Verderben führte. Liegt objektiv Gefahr im Verzug vor,121 ist der Vorwurf der „Schwarzmalerei“ fehl am Platz. Leichtfertigkeit im Sinne eines „es ist noch immer gut gegangen“ kann heute nicht mehr geduldet werden, weshalb Roubini mit seiner Mahnung 2007 in Davos völlig Recht hatte – und seine Kritiker Unrecht. Dass Roubini noch keinen „Silberstreif am Horizont“ ausgemacht hat und Krugman die Schattenwirtschaft des Bankwesens entlarvt,122 hätte spätestens auf dem G-20-Gipfel in London (02.04.2009) Anstoß zu weitreichenden Beschlüssen und Reformen geben müssen.123 Die G-20-Staaten haben sich am 02.04.2009 darauf verständigt, staatliche Konjunkturprogramme aufzulegen und umzusetzen, die eine Gesamtsumme von mehreren Billionen US-Dollar ausmachen werden.124 Warum dies ohne klare Definition der Mittelverwendung und ohne Einrichtung einer Mittelverwenheitsbestimmungen in den USA funktionierte und welche Volumina zum Schluss – Mitte 2008 – darin bewegt wurden: die fünf größten US-Bank-Holdinggesellschaften zusammen: US-Dollar 4 Billionen. Das gesamte US-Bankensystem: 10 Billionen US-Dollar. 121 Auf Gefahr im Verzug beruft sich selbst Bundeswirtschaftsminister Peer Steinbrück, vgl. das Interview mit Germis, Carsten/Mack, Georg, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 15 vom 12.04.2009, S. 31. Die Hauptaussage Steinbrücks lautet; „Ich kann die Eliten nur warnen“. Damit ist vorrangig das Thema der Kapitalflucht gemeint, nicht dagegen Haftungsfragen prominenter Vertreter dieser Eliten für eigene Versäumnisse bei der Abwehr der Finanzkatastrophe. Vgl. zu demselben Thema auch der Brotundbutterbrief des Bundesministeriums der Finanzen vom 29.10.2008. Ob sich das Finanzmarktstabilisierungsgesetz als Fluch oder Segen für Deutschland erweisen wird, hängt davon ab, ob die Politik zu der dringend erforderlichen Korrektur der Eingriffsinstrumente bereit sein wird und für die Umsetzung der Gesetzesziele endlich diejenige Fachkompetenz an den Tisch kommt, die die Aufgabenstellung erfordert. 122 Krugman, Paul, Die Neue Weltwirtschaftskrise (2009), Kapitel 8 – Die Schattenwirtschaft des Bankwesens, S. 181 f. 123 Nachdem die G-20-Konferenz am 02.04.2009 wieder einmal nur Absichtserklärungen im Schluss-Kommuniqué der Diplomaten hervorgebracht hat, gibt dies umso mehr Anlass zu größter Sorge: Die Kontrolle international tätiger Hedgefonds allein oder aber die Bekämpfung von „Steueroasen“ wird die Hauptursache der Finanzkatastrophe eben nicht beseitigen, sondern nur von den wirklichen Fehlerquellen ablenken. 124 Wegen der tagtäglichen Berichterstattung über immer neue Zusatzprogramme ist eine endgültig verlässliche Kalkulation der globalen Gesamtsumme wahrscheinlich erst ab Ende Herbst 2009 möglich. Überwiegend wird die „Rückkehr Keynes“ als richtiger Schritt begrüßt; vgl. Krugman, Paul, Die Neue Weltwirtschaftskrise (2009), Kapitel 12, S. 212 f.: „Keynes kehrt zurück“. Nach Krugman soll das internationale Krisenmanagement eine Art umgekehrte Kettenreaktion auslösen: Die Kreditvergabe muss sofort wieder in das Laufen gebracht werden, und die Nachfrage muss gestärkt werden, so Krugman. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen, aber mit zwei unverzichtbaren Einschränkungen: (1) Kreditvergabe nur zur Finanzierung oder Refinanzierung der Beschaffung von Investitionsgütern auf dem Gebiet von Zukunftstechnologien im Bereich von dauerhaften Wachstumsmärkten zwecks Stabilisierung des Arbeitsmarktes und (2) keine Kredite zur Stärkung der Nachfrage des Konsumgütermarktes.
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dungskontrolle125 der falsche Weg ist und sogar erst recht in die Katastrophe führen würde, soll unten noch im Detail dargelegt werden.126 Mit Volksweisheiten aus der Taschenbuchliteratur, etwa „die besten Entscheidungen sind die, die getroffen werden“, kann die Weltwirtschaft höchstens noch mit „Vollgas vollends gegen die Wand gefahren“ werden. Die Bundesregierung darf das nicht tun und auch nicht zulassen.127 89
Dritter Abschnitt Die Lethargie unserer Staats- und Wirtschaftslenker lähmt den Sanierungsprozess seit 2004
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I. Der „Interbank-Handel“ ist immer noch nicht in Gang gekommen
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1. Betrachtet man, wie schwer es Krugman und Roubini hatten, mit ihren Warnungen im Weißen Haus und bei den Regierungschefs der G 8/G 20128 Gehör zu finden, ist es nicht besonders erstaunlich, dass auch die Bundesregie-
125 Müller, Hendrik/Rickens, Christian, Die neue Macht der Hinterzimmer, in: managermagazin 6/2009, S. 100 ff.: Danach droht Deutschland eine „Klüngelwirtschaft“ – ein Ausstiegsszenario gibt es nicht. Die politisierte Ökonomie schafft danach ihre eigenen Probleme, die sie letztendlich nicht lösen kann. 126 Denn dieser Lösungsansatz – Steigerung der Staatsverschuldung – unterscheidet sich in keiner Weise von den in früheren Krisen bereits angewendeten Maßnahmen, aber mit einer Ausnahme: Dem Grad der Verschuldung. Heute stehen die Staaten weltweit, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit ihrem jeweiligen Verschuldungsgrad „am Anschlag“. In der Großen Depression 1930, als der US-amerikanische Präsident Theodore Roosevelt den „New-Deal“ verkündete, war z. B. der US-amerikanische Staatshaushalt dagegen praktisch ohne Schulden. Heute sind die USA in einem Ausmaß verschuldet, wie dies in keinem anderen Land und zu keiner anderen Epoche vorgelegen hatte. Das liegt in erster Linie in den hohen Staatsausgaben und ihrer permanenten Steigerung begründet: (2001): 1,8632 Billionen US-Dollar; (2005): 2,4722 Billionen US-Dollar; (2008): 2,9312 Billionen US-Dollar. Zahlen und Daten: Der Fischer Weltalmanach (2009), S. 509. 127 Die Bundeskanzlerin äußerte sich bislang optimistisch und kämpferisch: „Ich habe keine Alpträume“, Spiegel-Gespräch, in: Der Spiegel Nr. 23 vom 30.05.2009, S. 28 ff. 128 Zu den G-20-Staaten gehören nach den oben genannten 10 Staaten des Weiteren (BIP von 2006 in US-Dollar hinzugefügt ) u. a.: Argentinien (214,241 Milliarden), Südafrika, Saudi-Arabien (349,138 Milliarden); Indonesien (364,790 Milliarden mit 225 Millionen Einwohnern), Mexiko (39,182 Milliarden mit 104 Millionen Einwohnern), die Türkei (402,710 Milliarden mit 72 Millionen Einwohnern) und Südkorea (888,024 Milliarden bei 48 Millionen Einwohnern) sowie Kanada (1,271 Billionen bei 32 Millionen Einwohnern). Daneben ist die EU als Block auch neben ihren großen Mitgliedstaaten noch zusätzlich vertreten, wodurch auch die kleineren EUStaaten auf den G-20-Gipfeln vertreten sind.
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rung und unsere Wirtschaftsweisen129 ebenso nicht bereit waren, Fehlerquellen der Vergangenheit für den deutschen Bereich abzustellen. Dazu gehört eine grundlegende Schwerpunktbildung auf die Gesundung von Unternehmen, die sanierungswürdig sind,
• weil deren Produkte und Dienstleistungen nachhaltig nachgefragt werden, • weil sich diese Nachfrage gegebenenfalls noch steigern lässt, • weil Kostenstrukturen verbessert werden können, • weil Management-Fehler sich abstellen lassen, • weil sich die Grundlagen eines Unternehmens so stabilisieren lassen usw. 2. Das brennende Thema der Sanierung wurde aber – der Mensch neigt zur 130
Bequemlichkeit – geschoben. Es fand keine Auseinandersetzung mit den Wirkungsmechanismen des schrankenlosen Aktien-Sharebrandings und des internationalen Investmentbankings131 statt, die jetzt für die unvorstellbare Kapitalvernichtung rund um den Globus verantwortlich sind. Eine umsetzbare Gesamtkonzeption der Bundesregierung zur nationalen Sanierung bzw. zu einem mit innerhalb der G-8-Staaten abgestimmten Sanierungsprogramm liegt nicht vor – auch nicht im Ansatz. In den anderen Staaten zeigt sich das gleiche Bild: Es gibt keine Konzeption, sondern nur die gemeinsame Hoffnung der Regierungschefs, dass der internationale Finanzmarkt die riesigen Paket129 Der offizielle Arbeitstitel lautet: Sachverständigenrat der Deutschen Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage; Rechtsgrundlagen finden sich im Stabilitätsgesetz vom 08.06.1967, wonach die Bundesregierung verpflichtet ist, vier Gesetzesziele gleichzeitig zu verfolgen: (1) Geldwertstabilität; (2) Preisstabilität; (3) Vollbeschäftigung und (4) einen Handels- und Leistungsbilanzüberschuss (gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht). 130 Heute ist das Phänomen, das als „Finanzkrise“, „Finanzmarktkatastrophe“, „Depression“, als „Great Depression“ und „Rezession“, als „Crash des Kapitalismus“, als „Schuldenkatastrophe“, als Worldwide Economic Disaster u. v. m. beschrieben wird, weltweit das Thema Nr. 1. Vgl. Schumann, Harald/Grefe, Christiane, Der globale Countdown – Finanzcrash, Wirtschaftskollaps, Klimawandel – Wege aus der Wirtschaftskrise – Gerechtigkeit oder Selbstzerstörung – die Zukunft der Globalisierung, (2009) mit folgenden erwähnenswerten Kapiteln: „Das neue Zeitalter der globalen Interdependenz und die Warnung der Geschichte“, S. 9 f.; Pekings Erfolgsgeheimnis: Kapital aus dem Nichts, S. 36 f.; Das Versagen des Alan Greenspan, S. 91 f.; Plutokratenfilz statt Regierung, S. 116; Das Ende des amerikanischen Traums, S. 148; Die Verwundbarkeit der globalisierten Ökonomie, S. 398. Wie aber Sanierung in Theorie und Praxis funktionieren, ist immer noch weitgehend unerforscht. Das Schweigen der klassischen Wirtschaftstheorien ist Ausdruck dieser wissenschaftlichen Überforderung, zu deren Überwindung der TEIL II der Insolvenzprophylaxe für Deutschland – Masterplan zur Sanierung der Weltwirtschaft – beitragen soll. 131 „Wie lautet die Steigerungsformel beim Investmentbanking“, lautet heute eine Scherzfrage in Managerkreisen. Antwort: „Super, mega, giga, gaga“.
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mengen an Staatsanleihen, die in absehbarer Zeit auf den Markt geworfen werden müssen, aufnehmen kann. Das würde voraussetzen, dass Banken, Anlagegesellschaften, Pensionsfonds, Unternehmen und Private über freie Liquidität in dieser Größenordnung verfügen würden: also ab 5 Billionen Euro aufwärts. Und gerade das ist nicht sicher. Wann immer deshalb die Regierungschefs nach den Wanderzirkus-Gipfelveranstaltungen ihre Schlusskommuniqués bekannt geben und von den „beschlossenen“ Rettungspaketen sprechen, muss berücksichtigt werden, dass Regierungen alles beschließen können, dass aber diese Summen erst auf dem weltweit umspannenden Kapitalmarkt für Staatsanleihen gegenfinanziert werden müssen.132 93
3. Angesichts der Gesamtsumme aus den staatlichen Rettungspakten wird es
damit in den nächsten Jahren zu einem ungesunden Wettlauf bei dem Verkauf und der Vermarktung von Staatsanleihen kommen: Die unterschiedlichen Nationen werden um die nicht beliebig vermehrbare Liquidität der Käufer/Geldgeber konkurrieren.133 Außerdem werden auch Großkonzerne mit eigenen Inhaberschuldverschreibungen den Markt der Anleihen überschwemmen: Die Folge wird eine schwere Marktgängigkeit der Staatsschuldverschreibungen kleinerer Staaten sein, verbunden mit einer hohen Nervosität des gesamten Wertpapiermarktes. In einem derartigen Szenario ist es nicht ausgeschlossen, dass es zu Panikreaktionen des Marktes kommt. Wenn dies aber so einträte oder eintritt, dann kann aber der Gegenwert dieser deutschen Staatsschuldverschreibungen nicht für die Rettung maroder Banken verschwendet worden sein, denn sonst würde ein negativer Rückkoppelungseffekt entstehen.134 Die132 Die Schwierigkeit wird sein, Käufer zu finden, die 5 Billionen Euro oder mehr an Liquiditätsreserven bereithalten und keine anderen Ideen bevorzugen als die komplette künftige Investition dieser Reserven in diese Staatsschuldverschreibungen. Nur dann können Regierungen den Interbankhandel in Gang setzen. Ob das Vertrauen der Banken untereinander auf dem Markt hergestellt ist, muss sich zeigen. Ist der Interbankhandel trotz FMStG nicht in Gang gekommen, wird die faktische Wirkungslosigkeit der Regierungsmaßnahmen verdeutlicht. 133 Es ist sehr wahrscheinlich, dass Staaten ihre Schatzbriefe und Schuldverschreibungen nicht allesamt erfolgreich absetzen können. Dann werden diese Staaten, deren Staatsschuldverschreibungen zu „Ladenhütern“ werden, insolvent. Jeder Staat wird also darauf achten, in der Rangfolge der Bonitäten ganz vorne zu stehen. Dies bedeutet dann einen Verdrängungswettbewerb der Finanzminister der Nationen gegeneinander. Ohne die Erledigung interner Hausaufgaben wird es aber das begehrte „AAA“ für Deutschland nicht mehr geben, unabhängig davon, welche Rating-Agentur dann das internationale Vertrauen der Kapitalgeber für die Bewertung besitzt. 134 Die Käufer solcher Staatsanleihen müssten sich selbst die Frage beantworten, warum sie sicher sind, dass der deutsche Staat im Zeitpunkt der Fälligkeit zu der Einlösung der Obligationen 100 %ig in der Lage sein wird: Etwa deshalb, weil der deutsche Staat für Steuereinnahmen in der Zukunft gesorgt hat, also auch künftig liquide bleiben wird: Durch Investitionen in Zu-
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se Sichtweise zeigt, warum teure staatliche Rettungsaktionen für nicht lebensfähige Banken unterbleiben müssen. Bei den Autobauern wird die Frage der Überkapazitäten zu Recht gestellt – aber welche Überkapazitäten bestehen bei den Banken?135 Die Überkapazitäten sind dort noch weitaus größer als bei den Autobauern. Auch bei den Banken muss ein radikaler Schrumpfungsprozess eingeleitet werden.
Abbildung 31: Wahrscheinlichkeit eines Staatsbankrottes aus Sicht der Märkte. | Quelle: Berenberg Bank – HWWI: Strategie 2030 N. 8. kunftstechnologien in Wachstumsmärkten? Oder aber durch Investitionen in ein schon früher marodes Bank- und Versicherungssystem, das genauso marode geblieben ist, der Staat sich also Steuereinnahmen in der Zukunft zerstört hat? 135 Dort muss die Frage ebenfalls gestellt werden. Dort gibt es nicht nur Überkapazitäten, sondern darüber hinausgehend eine Vielzahl von Banken, die keine Existenzberechtigung mehr hat. Denn viele deutsche Banken hatten in der Vergangenheit so schlecht gewirtschaftet, dass sie selbst jetzt keine Kredite mehr vergeben können und selbst nicht mehr kreditwürdig sind: Der Zusammenbruch des Interbankhandels bedeutet nämlich, dass sich die Banken untereinander die Kreditwürdigkeit und Bonität wechselseitig absprechen.
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II. Die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik liegt in Trümmern
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A. Warum es zu dem weltweiten Zusammenbruch des Finanzmarktsystems 2008/2009 kommen musste
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1. Jetzt, im Mai 2009, fünf Jahre später, ist auch für den letzten Zweifler und
den letzten Bewunderer der Bankenwelt klar geworden, was vorauszusehen keinen besonderen Expertenblick erfordert hatte: Das vernetzte Finanzmarktsystem ist auf Null zusammengebrochen.136 Die Protagonisten des Systems, die Banken selbst, sind in den Aktienkursen zu Adressen auf Penny-Stock-Niveau137 geworden.138 Der Untergang des Finanzmarktes beruhte nicht auf einer Art von Naturkatastrophe, sondern war das zwingende Ergebnis einer globalen Misswirtschaft,139 die alle bekannten Superlative überbot: Noch nie zuvor in der Geschichte waren vorsätzlich und in Kenntnis der verursachten Vermö136 Die Finanzkrise in den USA begann mit dem Rettungspaket für die US-Investmentbank Bear Stearns – New York – 13./14.03.2008: Die US-Regierung bzw. Federal Reserve Bank of America musste 29 Milliarden US-Dollar als Überbrückungskredit aufbringen. Später (29.05.2008) kam es zur Übernahme von Bear Stearns durch die JP Morgan Chase. Die Krise ließ sich damit nicht aufhalten. Dann wurde die Schwäche der AIG deutlich, es ergaben sich bei den Hypothekenfinanzieren Fanny Mae und Freddy Mac Liquiditätsprobleme, weil Millionen ihrer Kunden (private Hauseigentümer) zahlungsschwach wurden. Als dann die US-Regierung beschloss, Lehman Brothers nicht mit Staatsgeldern aufzufangen und die Bank am 15.09.2008 in Insolvenz geriet, verbreitete sich von New York aus der Insolvenzvirus im gesamten Weltfinanzmarktsystem. 137 Hierzu zählen heute u. a. die Commerzbank AG, aber auch Schweizer Institute, die noch vor wenigen Monaten als Hort der Wertbeständigkeit galten. Denn auch die UBS und die Credit Suisse haben z. B. eine Achterbahnfahrt hinter sich, aber mit dem Aktienkurs nur nach unten: Die Kapitalwertvernichtung beläuft sich gerundet auf 90 %. 138 Jetzt wird auch die Strategie der Banken klar, wie im Falle riesiger Fehlspekulationen die Existenzsicherung strategisch von langer Hand im Voraus geplant worden war. Es sollte möglichst neben dem Emissionsgeschäft und dem Investmentbanking auch das Privateinlagen- und Sparkontengeschäft betrieben werden, um den Staat mit der Drohung der Bankenschließung um Staatshilfen bedrängen zu können. Außerdem sollten möglichst hohe Bilanzsummen und Umsatzgrößen erreicht werden, um so groß oder zu groß zu sein, als dass der Staat sich erlauben können würde, bei einer Insolvenz tatenlos zuzusehen. Schließlich wollten die Banken den Staat um Staatshilfe mit dem Argument ködern, dass sie für den Staat große Tranchen von Bundesobligationen handeln würden: Auf diese Weise wurde das Abhängigkeitsverhältnis immer größer. Mit dem Hinweis auf die angeblich unverzichtbare Funktion als „Schatzbriefvertreiber“ und damit auf die Funktion der künftigen Liquiditätsbeschaffung für den Staat wollten die Banken „unersetzlich“ werden. 139 Die Wirtschafts- und Finanzkatastrophe 2008/2009 unterscheidet sich von anderen Krisen bzw. Rezessionen des 20. Jahrhunderts in grundlegender Weise: Die Depressionen und Rezessionen im 20. Jahrhundert wurden fast ausschließlich durch die Knappheit von Rohstoffen bzw. von Investitions- und Konsumgütern usw. verursacht. Dies hat die Finanz- und Wirtschaftskatastrophe 2008/2009 aber nicht ausgelöst. Vielmehr liegt in den meisten Industrienationen
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gensschäden mehr Schneeballsysteme mit mehr virtuellem Kapital mit immer höheren Geschwindigkeiten gedreht worden. Noch nie waren diese virtuellen Kapitalverkehrsströme in solchem Maße miteinander verzahnt bzw. vernetzt worden. Noch nie haben weltweit die Notenbanken, Investmentbanken, Geschäftsbanken, Banken, Sparkassen, Versicherungen und Großunternehmen in solchem Maße die Geschäftspolitik der Vermehrung des virtuellen Geldes betrieben, ihre Eigenkapitalgrenzen überschritten und bei der Umgehung der Kontrollvorschriften sowie der Täuschung der Kunden und der staatlichen Aufsicht so viel Kreativität140 an den Tag gelegt. Es gab noch keine Situation in der jüngeren Geschichte, dass der dadurch virulente Insolvenzvirus alle öffentlichen und privaten Finanzinstitutionen in allen Ländern erfassen konnte. Damit war auch kein Gegengewicht von nennenswerter Größenordnung im Umsatzvolumen der Realwirtschaft mehr vorhanden. D. h. es wollte so gut wie niemand mehr als Kapitalgeber auftreten – oder konnte gar nicht mehr Kredite vergeben, wie die meisten deutschen Banken.141 Noch nie standen so viele Darlehensnehmer so wenigen Darlehensgebern gegenüber.142 Noch nie wurden die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung und der Bilanzrisikovorsorge so sträflich außer Acht gelassen wie bei den Subprime- und Derivatgeschäften – auch in Deutschland mit Pflichtverletzungen auf der Vorstandsebene deutscher Banken, Landesbanken und ihrer Verwaltungsräte.143 Noch nie wurde eine Überproduktion von Waren und Dienstleistungen vor. In allen Staaten kann aber ein sehr hohes Defizit an Vertrauen in die Märkte festgestellt werden, was die arbeitsteilige Spezialisierung zurückdrängen wird. 140 Röhrig, Johannes/Reuter, Joachim, Bank über Bord, in: Der Stern, Nr. 17 vom 16.04.2009, S. 54 zu den unhaltbaren Zuständen in der HSH Nordbank AG. Wie viele andere Landesbanken auch, ist das Geldhaus nur noch mit Steuer-Euro-Milliarden zu retten – ein Lehrstück über Dilettantismus und Größenwahn. Besonders brisant: Die Manager wogen ab, ob sie freiwerdende Milliarden Euro weiterhin in brandheißen Investmentpapieren stehen lassen oder stattdessen nicht wieder lieber das normale Kreditgeschäft betreiben sollten. Die Verantwortlichen entschieden sich für das Risiko. „Wir waren mehr oder weniger besoffen von der Idee, dass die HSH Nordbank als Global Player immer satte Gewinne einfährt,“ so die ehemalige Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Heide Simonis. Vgl. Jörges, Hans-Ulrich, Zeit zu gehen, Herr Ackermann, in: Der Stern Nr. 17 vom 16.04.2009, S. 44. 141 Diese Bilanzvorschriften und Eigenkapitalvorschriften sollen verhindern, dass Banken noch Geld verleihen können, wenn sie selbst nur noch mit weiterem Fremdkapital überlebensfähig sind. 142 Noch nie war es so bequem, Darlehensnehmer zu sein oder zu werden – noch nie war es so schwierig und gefährlich, als Kapitalgeber aufzutreten. Noch nie war die Gier nach dem schnellen Geld in beliebiger Höhe an so vielen Orten gleichzeitig zur selbstverständlichen Motivation volkswirtschaftlichen und staatlichen Handelns geworden – unter gleichzeitiger Geringschätzung der Schranken, die Ethik, Moral oder die Corporate Governance aufstellen. 143 Zu dem einstigen Lobgesang auf die strukturierten Finanzierungen und ihre fatalen Folgen; vgl. Dill, Alexander, Der Große Raubzug (2009), S. 41 ff. Dort beschreibt Dill das unglückliche Zusammenwirken „hauptamtlicher Geschichtenerzähler“ und ahnungsloser Politiker: Die
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aber auch von unseren Lenkern in Staat und Wirtschaft in solch unverantwortlicher Weise versucht, unter Missachtung aller guten Kaufmannssitten den sogenannten US-Casinokapitalismus nachzuahmen144 – die Börsenralleys, aber z. B. auch die Börsenemissionen der Bundesregierung bei der T-Aktie, waren ein solcher Sündenfall der deutschen Finanz- und Wirtschaftspolitik,145 der ständig weitergeführt wurde. 98
2. In Las Vegas gibt es die „Ehrenberufsbezeichnung“ des „High rollers“. Das
sind Spieler, die exorbitant hohe Summen setzen, gewinnen und verlieren. Diese High roller sind als Hotelgäste begehrt. Sie nehmen alle Leistungen kostenfrei in Anspruch: Den Rolls-Royce-Fahrdienst, die Hotelsuite, die ganze Verpflegung über Wochen. Allerdings wird auch erwartet, dass sie dann siebenstellige Dollarbeträge an den Spieltischen einsetzen. Gewinnt der High roller, kann er seinen Ruf festigen und wird überall hofiert; verliert er sein Spielkapital, bleiben nur noch zwei Alternativen: Aufhören oder Selbstmord. Man sollte meinen, diese Berufsgruppe könnte keine besseren Bedingungen finden als im Land der unbegrenzten Möglichkeiten – weit gefehlt: Deutschland hat auch seine High roller, aber die Wetteinsätze sind nicht sieben-, sondern fast wertlosen sogenannten strukturierten Finanzierungen = Subprime-Anleihen wurden aufgrund des angeblich erstklassigen Rankings für so wertvoll gehalten, dass damit die Bonität z. B. der WestLB sogar noch gesteigert werden sollte: Der Gipfel der Ahnungslosigkeit. Neben den sogenannten „ABS“ = Asset Back Securities war man sogar der Auffassung, im Rahmen von sogenannten PPP-Finanzierungen (Public Private Partnership) Autobahnprojekte u. a. in Deutschland finanzieren zu können. Der Anteil von PPP an den öffentlichen Finanzierungen sollte schrittweise auf 15 % erhöht werden. Heute will niemand mehr an die Irrtümer von damals erinnert werden, und richtig ist sicherlich, dass viele Ursachen dabei mitgewirkt hatten: ein viel zu leichtgläubiges Vertrauen in die Bewertungen von Rating-Agenturen und der Nachahmereffekt: Wenn andere Banken damit gute Zinsen verdienen, dann wir auch – mag mancher Landesbankchef geurteilt haben. Es hat auch für die Zukunft wenig Sinn, Fehleranalysen auf die Vergangenheit auszurichten. Andererseits muss jetzt per Gesetz festgeschrieben werden, dass und wie sich solche Mängel in der Zukunft nicht mehr wiederholen – definitiv. Für die Ausübung der 480 Milliarden-Euro-Vollmacht aus dem FMStG benötigt Bundesfinanzminister Steinbrück andere Beratergremien, als gegenwärtig installiert sind. Dazu werden im siebten Kapitel – vierter Abschnitt – die Maßregeln benannt werden. 144 Bundespräsident Horst Köhler hat in seiner „Berliner Rede“ zum Ausdruck gebracht, dass sich die Investmentbanken nicht nur von der Realwirtschaft abgekoppelt haben, sondern auch von der Gesellschaft. Das ist richtig, aber die Gefahren aus der virtuellen Geldwertschöpfung hätten gerade unserem Staatsoberhaupt aufgrund seiner Vorbefassung mit dem IWF bekannt sein müssen: Es wäre schon viel früher ein klares Wort des Bundespräsidenten angebracht gewesen. Sicherlich ist seine politische Macht nicht so groß, als dass es möglich gewesen wäre, gesetzliche Verbote durchzusetzen. Aber eine Signalwirkung hätte von dem Bundespräsidialamt schon früh ausgehen können und müssen. 145 Munk, Nicole, Die T-Aktie als Marke – Staatliche und private Einflussnahme zur Kurspflege einer „Volksaktie“, GUV Gabler Edition Wissenschaft, 2. Aufl. 2003.
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neun- und zehnstellig.146 Deutschland ist also das Land der intergalaktischen Gewinn- und Verlustmöglichkeiten für Spielsüchtige, die auf die Staatsbudgets als Wetteinsatz zurückgreifen können – und mit persönlicher Pensionsberechtigung. Zunahme der Insolvenzen in wichtigen Exportländern Deutschlands (gegenüber dem Vorjahr in %) 74,8
2008 2010 55,7
2009
53,8
44,7
31,4
45,2
30,7
29,7 25,6
24,9 18,0
14,8 10,1
15,0
15,0
15,3
15,2 13,0
10,9
9,4
10,4 7,0 5,0
0,7
0,3
-3,7
-10,4
Niederlande
Großbritannien
USA
Italien
Ungarn
Polen
Frankreich
Belgien
Österreich
Abbildung 32: Eine Pleitewelle rollt auf die Weltwirtschaft zu. | Quelle: Germany Trade & Invest, Grafik: Overhoff.
146 Sie heißen in Deutschland auch nicht High roller, sondern „Vorstandsvorsitzender“ oder „Verwaltungsratschef “. Aber es sind zwei gravierende Aspekte, die den wirklichen Unterschied ausmachen: Der High roller in den USA spielt mit eigenem Geld. Ist es verspielt, muss er aufhören. In Deutschland spielt der High roller mit dem Geld der Bürger. Ist dieses Geld verspielt, werden die Bürger gezwungen, neues Spielgeld zur Verfügung zu stellen: Diese Mittelaufstockung am Spieltisch heißt „Steuererhöhung“. Und gleich noch einen dritten Unterschied gibt es: Der deutsche High roller hat in der Regel einen unverfallbaren Pensionsanspruch auf Ministerniveau. Das sind die Unterschiede im sogenannten Casino-Kapitalismus. Der US-amerikanische High roller hat keine staatliche Altersversorgung. Armes Amerika.
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B. Wo Deutschland und die Welt in Sachen Staatsverschuldung wirklich stehen
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Betrachtet man die Staatsverschuldung in den westlichen Industriestaaten bzw. den G-8/G-20-Staaten, könnte man der Auffassung sein, dass das Problem andere Staaten weitaus härter trifft als Deutschland.147 Doch das ist nur auf den ersten Blick ein Grund zur Beruhigung der Gemüter. Denn Deutschland kann sich den Schuldendienst nur aus dem künftigen Steueraufkommen leisten. Es verfügt nicht über Rohstoffe oder andere Devisenquellen, um sich hierüber refinanzieren zu können. Noch zu jeder Epoche galt es als chic, Staatsbankrotte für theoretische Denkspiele gelangweilter Nationalökonomen zu halten148. Aber das wäre in dem jetzt vorliegenden Worldwide Economic Disaster ein vermessenes Hazardspiel, denn es gibt in der Vergangenheit genügend Beispiele dafür, dass Lord Thomas Babington Macaulay unrecht hatte: Gerade wurde der Beinahe-Bankrott Islands angewendet, und auch Griechenland und Irland waren auf besondere EU-Hilfen angewiesen. Die Gefahr von Staatsbankrotten ist deshalb sehr real, und auch hier könnte sich ein Domino-Effekt ergeben, etwa ganz ähnlich, wie die Insolvenz von Lehman Brothers zu einer Liquiditätsschwächung anderer Banken und Versicherungen weltweit geführt hatte. Es kann deshalb nicht sonderlich beruhigen, dass Deutschland in der Abbildung 31 (Seite 155), die die Wahrscheinlichkeit eines Staatsbank147 Luxemburg ist das einzige Land, das seit den 1990er Jahren bis heute keine Staatsschulden hat. Alle anderen EU-Staaten und die meisten der G-8/G-20-Länder befinden sich seit Jahrzehnten in Situationen, in denen ihre öffentlichen Finanzen mehr oder weniger sanierungsbedürftig sind. Die Defizitquote in den EU-Ländern lag trotz der Kautelen des Maastricht-Staatsvertrages bei durchschnittlich 5 % (erlaubt sind 3 %). Vgl. HWWI HamburgischesWeltwirtschaftsInstitut – Staatsverschuldung – Strategie 2030 – Vermögen und Leben in der nächsten Generation – Eine Initiative des HWWI und der Berenberg Bank, S. 12 f. In 2008 hatten die folgenden Länder eine geringere Staatsverschuldung als Deutschland: (1) Großbritannien mit 50,1 % (jeweils des BIP als Bezugsgröße), (2) Österreich mit 59,4 %, (3) Durchschnitt der EU-27 mit 60,6 % und (4) die USA mit 62,5 %. Mit 65,6 % des BIP nimmt Deutschland einen Mittelplatz in der Rangliste des Verschuldungsgrades ein. Höher als Deutschland verschuldet sind: (1) Frankreich mit 67,1 %, (2) Belgien mit 88,3 %, (3) Griechenland mit 94,0 %, (4) Italien mit 105,7 % und Japan mit 180,7 %. „Schuldenweltmeister“ ist damit Japan. Es kommt deshalb nicht von ungefähr, dass Japans Wirtschaft seit mehr als einem Jahrzehnt keinen Ausweg aus der Dauerrezession gefunden hat. Vgl. dazu HWWI – Strategie 2030. S. 14/15 f. 148 Ein besonders exponierter Vertreter dieser Lehrmeinung, den Staatsbankrott als praktisch nicht eintretenden Fall eines wirtschaftswissenschaftlichen Berufspessimismus zu halten, ist wohl der Brite Lord Thomas Babington Macaulay (1800-1859), dem folgender Ausspruch nachgesagt wird: „Noch zu jeder Zeit hat das Wachstum der Staatsschuld die Nationen in dasselbe Geschrei von Furcht und Verzweiflung ausbrechen lassen, und noch jedes Mal haben kluge Leute dazu geweisssagt, dass Bankrott und Ruin vor der Tür stünden. Die Staatsschuld wuchs weiter, und Bankrott und Ruin blieben wie immer aus.“ Vgl. HWWI, Staatsverschuldung – Strategie 2030, a. a. O., S. 3.
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rottes aus der Sicht des internationalen Marktes wiedergibt, einen der letzten Plätze belegt, nämlich Platz 63. Nur Finnland (Platz 64) und Malta (Platz 65) sieht der Markt noch besser gegen den Staatsbankrott aufgestellt als Deutschland.
C. Masteralarm ist ausgelöst – mit monatelanger Verspätung: Massenarbeitslosigkeit und staatliche Haushaltssperren sind vorprogrammiert – ebenso wie massive Steuererhöhungen, vor allen Dingen über den Mehrwertsteuersatz
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1. Immerhin gelang es unseren Politikern im I. Quartal 2009, Masteralarm
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auszulösen – fast widerwillig und mit großer Verspätung. Inzwischen hat sich aber allseits die gemeinsame Beurteilung durchgesetzt: „Alarmstufe Rot.“150 Ganz zu Beginn wollten allerdings die Bundesminister Michael Glos und Peer Steinbrück noch die alte Schablone mit den üblichen Sprechblasen in gewohnter Manier anwenden. Danach betreffe die Finanzkrise angeblich nur die un149 So mancher Bundesminister verwies am Anfang der Katastrophe auf die angebliche „Robustheit“ der heimischen Produktionsindustrie und war – zu Unrecht – der Auffassung, es handele sich überwiegend um ein Problem der US-Amerikaner und Briten. Angeblich sei – so die Begründung – in Deutschland keine virtuelle Kapitalwertschöpfung vergleichbaren Ausmaßes geschehen. Diese Regierungsmitglieder hatten nur übersehen, dass es zwischen den USamerikanischen Subprime-Krediten einerseits und den deutschen Schrottimmobilienfinanzierungen andererseits keinen großen Unterschied gegeben hatte. Außerdem wurde das Volk auch mit der Bemerkung beruhigt, es seien nur relativ wenige US-Subprime-Verbriefungen erworben worden. Auch das war falsch: Die Summe der faulen Wertpapiere wird nur ungern gebeichtet. Bei der Commerzbank AG sind es angeblich 51 bis 55 Milliarden Euro – bei einer Marktkapitalisierung aller Aktien von ca. 3 Milliarden Euro. Und einem Bundeszuschuss von 14 Milliarden Euro. Wohlgemerkt: Zuschuss, nicht Garantie. Was unter „relativ“ zu verstehen ist, ist eben auch relativ. Aus der Sicht des Bürgers betrachtet sind mehr als 51 Milliarden Euro verlorenes Investitionskapital eben „viel“. Für unsere Politiker ist dagegen eine Milliarde Euro die kleinste von ihnen noch wahrnehmbare oder messbare Rechen- und Währungseinheit. Für die 51 Milliarden Euro „toxische Papiere“ hätte man die Beteiligung von Abu Dhabi an Daimler 25 Mal kaufen können oder den Transrapid von München nach Hamburg und von dort nach Berlin und von dort nach Nürnberg bauen können. 150 Doch wer hatte Wachdienst auf der Brücke? In Wahrheit gibt es keine Wachmannschaft zum Schutz des deutschen Volksvermögens. Vgl. Dill, Alexander, Der Große Raubzug (2009), S. 71 ff.: „Warum es in Deutschland keine Finanzaufsicht mehr gibt – Neun Abgeordnete als letzte Alibi-Kontrollinstanz“. Dill beschreibt den sogenannten „geschlossenen Kontrollkreislauf“, insbesondere die Arbeitsweise und Zusammensetzung des sogenannten „Gremiums“ zum Finanzmarktstabilisierungsgesetz. Dazu mehr noch im dritten Kapitel – fünfter Abschnitt. Zu diesem Gremium schreibt Dill (S. 73/74 f.): „ … gilt unser Augenmerk insbesondere den sechs Abgeordneten von CDU und SPD. Welche Qualifikationen bringen sie mit, um sich in einer der komplexesten Finanzmaterien der Neuzeit über grundsätzliche und strategische Fragen der Finanzpolitik zu beraten?“ Auf das Problem der Qualifikation der Entscheider und Berater wird noch gesondert einzugehen sein.
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verantwortlichen US-Amerikaner, die die Subprime-Schuldverschreibungen151 leichtfertig mit unvertretbaren Überbewertungen in Umlauf gebracht hätten (so etwas gebe es in Deutschland überhaupt nicht);152 dagegen sei die robuste deutsche Wirtschaft153 dank der Umsetzung der Schröderschen Agenda 2010 gegen eine Infizierung mit dem Krisenvirus weitgehend immun.154 Bilanzkatastrophen gebe es bei den deutschen Banken und Versicherungen auch nicht – einige größere Wertberichtigungen bei wenigen „schwarzen Schafen“155 seien erkannt, schmerzhaft, aber nicht lebensbedrohlich.156 Die Immobilienbesitz-
151 Zu der Subprime-Krise Shiller, Robert J., Die Subprime Lösung – wie wir in die Finanzkrise hineingeraten sind – und was wir jetzt tun sollten (2008); Titel der Originalausgabe: The subprime solution: how today’s global finance crisis happened, and what to do about it. 152 Eben doch: Die deutschen Landesbanken waren dankbare Abnehmer dieser Giftpapiere und die Immobilienüberfinanzierung gehörte zum Geschäftsmuster fast jeder Bankorganisation in Deutschland. 153 Dass Deutschland in der Tat eine höhere Widerstandskraft gegen den Insolvenzvirus aufweisen wird, ist kein Grund dafür, in Triumphgeheul auszubrechen und gibt auch keine Veranlassung, auf die recht deutsche Art Schuldzuweisungen vorzunehmen: An die USA wegen der Subprime-Krise, an die Schweiz, die wenig diplomatisch von Peer Steinbrück als „Indianerstamm“ tituliert wird, dem man jetzt einen gehörigen Schrecken einjagen müsse. Solche Schuldzuweisungen sind ineffektiv und kontraproduktiv und können höchstens für kurze Zeit von eigenen Fehlern ablenken, die in der Vergangenheit praktisch in Serie produziert wurden. 154 Dass die deutsche Wirtschaft in der Vergangenheit mehr als andere zur Stärkung der Widerstandskraft gegen den Insolvenzvirus unternommen hat, ist richtig – allerdings müssen die Grenzen der Belastbarkeit doch im Auge behalten werden: Alle und jeden kann Deutschland nicht unterstützen. Innerhalb der EU ist es Deutschland, das für das wirtschaftliche Wohlergeben der EU-Mitglieder, gerade in Osteuropa, in eine faktische Mitverantwortung gedrängt wird, ob dies uns nun passt oder nicht. Deshalb müssen auch die EU-Mitglieder daran interessiert sein, die ökonomischen Möglichkeiten Deutschlands nicht zu sehr zu strapazieren. Innerhalb der EU muss sodann klar sein, auch wenn Frankreichs Präsident Sarkozy sich nur schwer damit abfinden kann: In der EU ist Deutschland die ökonomische Führungsmacht. Deutschland hat damit die Bürde der Lokomotivfunktion zu tragen, aber kann damit auch Gefolgschaft beanspruchen. Das gilt – trotz der Vorbelastungen aus den Geschehnissen im Zweiten Weltkrieg – auch mit Blick auf Osteuropa. 155 Nach nur wenigen Monaten ist jetzt allgemein klar, dass die deutsche Finanzkatastrophe nicht nur aus den heute lächerlich gering anmutenden Verlusten der IKB-Bank oder der KfW oder der Bayerischen Landesbank oder der HSH Nordbank besteht: Die weitaus größeren Verluste liegen z. B. bei der Postbank, bei der Commerzbank AG und vor allem bei der Hypo Real Estate. Da praktisch wöchentlich für alle diese Institute neue Zahlen gemeldet und alte angezweifelt werden, wird hier von einem Zahlennachweis abgesehen. 156 Es mag sein, dass die Regierung damit sechs Wochen vor Heiligabend (2008) dem Deutschen Einzelhandelsverband damit das Weihnachtsgeschäft gerettet hat, doch wäre es sinnvoller gewesen, über einen Masterplan zur Bekämpfung der Finanzkatastrophe und dessen multinationale Umsetzung nachzudenken.
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stände der deutschen Fonds seien werthaltig157 und die deutsche Industrie mit den Produkten Made in Germany gegenüber der Konkurrenz gut aufgestellt.158 Doch schon rasch wurden diese Ministerexpertisen als Unsinn entlarvt.159 Die Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten, nach denen die Weltfinanzwirtschaft wirklich funktioniert, sind eben doch wesentlich komplizierter, als jemals in den grob schemenhaften kybernetischen Modellen der Wirtschaftswissenschaften simuliert wurde. 2. Trotz der nicht mehr abzuleugnenden katastrophalen Lage der Staatsfi-
nanzen, der immer weiter gehenden Aushöhlung der Kapitalausstattung der Unternehmen der Deutschland AG160 sowie der Überschuldung der sozialen
157 Das Gegenteil ist der Fall, aber die Verflechtung zwischen Versicherungswirtschaft, Immobilienwirtschaft und Kreditwirtschaft ist so stark, dass Regierung, Parlament und Volk die Wahrheit über die wirkliche relative Wertlosigkeit des vornehmlich für die Altersversorgung gedachten Immobilienvermögens gar nicht vertragen können. Die objektive Marktlage ist wie folgt zu charakterisieren: Die Mehrheit der Immobilienfonds ist stark insolvenzgefährdet; die Werteinbrüche sind enorm, das Mietausfallrisiko noch höher als vor fünf Jahren. Die Banken müssen also um die Sicherheit ihrer Darlehen fürchten. Der Abschreibungsbedarf bei den Banken könnte sich deshalb in der Krise nochmals um ein Vielfaches erhöhen. Damit ist die Einschätzung von Nouriel Roubini richtig, die zusammengefasst sinngemäß Folgendes besagt: Wir haben nur das Vorbeben erlebt – der wirkliche Crash kommt erst noch. 158 Dementsprechend optimistisch fielen die ersten Schätzungen zum Rückgang des BIP aus: Für Deutschland wurde ein Minus von ca. 2 % vorausgesagt. Die damit verbundene Botschaft für den Konsumenten: Es wird schon nicht so schlimm. Niemand muss sparen. Und folgerichtig muss die Politik auch nicht so viel ändern und stellt sich die Frage nach etwaigen Versäumnissen in der Vergangenheit damit auch nicht. Heute ist klar: Der Rückgang des BIP in 2009 wird 7 – 10 % betragen. Bis zu 8 Millionen Arbeitslose sind denkbar. 2010 und 2011 ist ein weiterer Rückgang des BIP wahrscheinlich. 159 Das ständige Nachkorrigieren falscher Daten und Fakten durch Regierungsvertreter entbehrte nicht der Peinlichkeit. Aus der Bundespressestelle wurde Radio Eriwan. Die Grundanforderungen an Professionalität und Verlässlichkeit waren in keiner Weise gewahrt. 160 Die Zusammensetzung der sogenannten „Deutschland AG“, d. h. der Dax-Unternehmen, hat seit dem Ausbruch der Krise im III. Quartal 2008 Änderungen erfahren und wird sich künftig noch wesentlich ändern. Darin spiegelt sich die erhöhte Anpassungsgeschwindigkeit des Kapitalmarktes an die geänderten Machtverhältnisse an den Börsen wider.
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Sicherungssysteme161 bleiben die alten Eliten Deutschlands162 immer noch weitestgehend untätig: eine leichtfertige Sorglosigkeit, deren negative Auswirkungen für die Arbeitnehmerschaft und den Mittelstand163 in Deutschland bereits düstere Prophezeiungen ausgelöst hat.164 Der Bürger kann nur Stück um Stück begreifen, was vor sich geht. Die Politik hatte ihm in der Vergangenheit beigebracht, dass der Staat kein Geld hat: wegen des hohen Gesamtschuldenstandes von über 1,6 Billionen Euro. Auch der deutsche Unternehmer – Mittelständler, mag er Handwerker, Frisör, Autohaus, Bäcker, Metzger, Gastwirt oder Bauunternehmer sein – hat gelernt: Wenn man eine Finanzierung für betriebliche Zwecke benötigt, geben die Landesbanken dafür kein Geld. Die Landesbanken 161 Das gilt für die privaten wie die staatlichen Alters- und Krankenversorgungen. Hier zeigt sich ein noch düstereres Bild als bei Aufl. der Insolvenzprophylaxe für Deutschland (2004): Zum Zustand der privaten Lebensversicherer: S. 217 ff., 229 ff., 233 f., 242 ff. Zum Zustand der Rentenversicherungen: S. 163 ff. Die jetzt staatlicherseits aufgelegten sogenannten „Rettungspakete“ werden künftig die Kapitalmärkte bis an die Belastungsgrenze und darüber hinaus aussaugen und entziehen den Versorgungs-Umlaufsystemen die so dringend benötigte Liquidität. Der Zusammenbruch der Finanzierungs- und Währungssysteme ist damit letztendlich vorprogrammiert und kann nur durch das absichtliche parallel zwischen den Notenbanken abgestimmte Ingangsetzen einer globalen Hyperinflation noch aufgehalten werden. Diese Konsequenzen der sogenannten Rettungspakete, eine Inflation zu generieren und aufzuheizen, sind also keine Nebenwirkungen, die in Kauf genommen werden müssen, sondern bilden den Kern der gewollten „Heilungsmethode“: Entschuldung durch Geldentwertung. 162 Zu diesen alten Eliten zählen (1) die seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 gegründeten politischen Parteien, (2) die großen Wirtschafts- und Industrieverbände und (3) die Gewerkschaften, die schon vor ihrem ökonomisch-historischen Hintergrund und den personellen Verkrustungen kaum mehr in der Lage sind, sich aus der Erfahrungswelt der letzten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu verabschieden. Die Wirtschaftsfaktoren (1) der Vollbeschäftigung, (2) der faktisch unbegrenzten Nachfrage, (3) die relative Konkurrenzlosigkeit vieler Schlüsselindustrien auf dem Weltmarkt sowie (4) die einfache und sichere Kapitalzufuhr usw. sind heute nicht mehr vorhanden. Vielmehr liegt heute mehr oder weniger überall das Gegenteil dessen vor, was früher als Grundlage einer guten Volkswirtschaft verstanden wurde: (1) hohe Arbeitslosigkeit statt Vollbeschäftigung; (2) gedämpfte Nachfrage; (3) schärfste Konkurrenz auf allen Märkten und (4) ein unterbrochener Geldfluss. 163 Dass der Mittelstand durch die schlechte Zahlungsmoral und die sogenannte „Kreditklemme“, die von den Banken verursacht worden ist, in Existenznöte geraten ist und seine Aufgabe als wichtigster Nettozahler (Steuern, Sozialversicherungsabgaben usw.) nicht mehr erfüllen kann, veranlasst die EU-Kommission, über eine neue EU-Richtlinie zur Bekämpfung des Zahlungsverzuges nachzudenken. Die EU-Richtlinie 2000/35/EG – Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr – soll durch die Einführung von Strafzuschlägen und Mahngebühren die Zahlungsmoral verbessern. Doch das wird nicht helfen, solange nicht die Liquiditätssperren im Zahlungsverkehr beseitigt worden und die Geldkreislaufsysteme reanimiert worden sind. Vgl. dazu Ramthun, Christian/Hielscher, Hendrik, Cash is King, in: Wirtschaftswoche Nr. 30 vom 20.07.2009, S. 24. 164 Die Schlagzeilen der Wirtschaftspresse mit den Hiobsbotschaften haben seit Beginn der AGENDA 2010 nicht aufgehört: kein Geld für Schulen, kein Geld für Universitäten, kein Geld für Kindergärten, kein Geld für die Forschungseinrichtungen, kein Geld für Beteiligungsinvestitionen, kein Geld für die Ausrüstung der Bundeswehr, kein Geld für Steuersenkungen usw.
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sind nämlich vorsichtig. Nehmen wir an, der Unternehmer beantragt das Darlehen bei der Landesbank X und benötigt das Kapital für den Erweiterungsbau seiner Fabrikhalle. Die Investition ist sinnvoll, der Unternehmer schafft Arbeitsplätze mitten in Deutschland.165 3. Nach der Theorie von Keynes166 hätte dies die Schaffung von Arbeitsplätzen
und Innovationen bedeutet und das Steueraufkommen des Staates erhöht, kurz formuliert: Die Wirtschaft angekurbelt. Also hätte die Landesbank eher diesen Kredit vergeben können und müssen, statt Kreditverbriefungen anderer Banken zu erwerben, deren echte Substanz minderwertiger war. Aber dennoch erwarb in dem genannten Beispiel die HSH Nordbank AG lieber SubprimeKreditverbriefungen aus den USA, d. h. gebündelte Schrottimmobilienkreditfinanzierungen. Wo beginnt hier der Vorsatz und endet die grobe Fahrlässigkeit bei den Politikern?
165 D. h., dass der Staat Umsatzsteuer, Einkommensteuer, Lohnsteuer, Sozialversicherungsbeiträge, die Gemeinde z. B. Gewerbesteuer und Beiträge einnehmen würde. Der Unternehmer bietet als Sicherheit an: Grundschulden, Lebensversicherung, das Häuschen der Großmutter. Das Ergebnis: Keine Kreditzusage. Weil: Der Unternehmer ist immer in der falschen Branche tätig: Er ist z. B. Stahlgerüstbauer, Maschinenbauer, Handwerker, Arzt, Apotheker, Klinik- oder Altenheimbetreiber usw.: alles die falschen Berufe, zu hohes Risiko für die Bank. Die Sicherheiten: reichen niemals aus, immer zu geringwertig. Die Bilanzen des Kreditantragstellers: zu schwach. Die Zukunftschancen des Produktes: Zu schlecht. Die berechnete Rendite: zu niedrig. Im Vergleich dazu: die Subprime-Papiere: Das sind hunderttausend zusammengefasste Hypotheken auf Einfamilienhäuser in den USA, „tornadofest“ dank Holzleichtbauweise, gelegen in den „Bestlagen“, z. B. mit Arbeitslosenzahlen von 40 % in den Death-Towns der absterbenden Automobilindustrie und einem Weiterverkaufswert von 15 % der Nominalsumme, abgarantiert durch eine Bank, die auf das Bankgeschäft der Überfinanzierungen spezialisiert ist. Das Schrottimmobilienthema – anscheinend in Deutschland schon vergessen: Wir hatten auch nur ca. 1 Million Fälle. Für die Kreditvergabe gilt: And the winner is: nicht der deutsche Betrieb, nicht der deutsche Bauherr, sondern derjenige, der ein Zertifikat vorlegen kann, das niemand prüft, weil es sowieso wertlos ist. Wenn der Unternehmer z. B. einen Kredit von einer Million Euro beantragt hätte, dann hätte z. B. die HSH Nordbank AG noch an weitere 2799 Unternehmer einen gleich hohen Kredit vergeben können – diese Kreditsumme konzentriert allein auf Schleswig-Holstein. Wenn keiner dieser Unternehmer nur einen einzigen Euro zurückgezahlt hätte, also alle Sicherheiten gleichzeitig null Euro Wert gewesen wären: Dann wäre derselbe Schaden entstanden, wie er jetzt vorliegt. Also „besoffen gewesen?“ – Diese Entschuldigung reicht nicht aus. 166 Zu der sehr eingeschränkten Tauglichkeit von Wirtschaftstheorien ganz allgemein, um die komplexen Vorgänge um das Worldwide Economic Disaster erklären zu können: Vgl. drittes Kapitel, vierter Abschnitt.
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4. Nun droht allen G-20-Staaten eine große Massenarbeitslosigkeit. In
Deutschland könnte sie bald möglicherweise bis zu sieben Millionen Erwerbslose in den nächsten zwei Jahren167 betragen. Sodann ist das nächste Thema die wirtschaftliche Enteignung und Verarmung168 der Mittelschichten169 und eine erneute Vernichtung von Spar- und Anlagevermögen. Es schließt sich die Gefahr aus der von den Regierungen und den Notenbanken beschlossenen Neuverschuldung aller öffentlichen Haushalte rund um den Globus als nächstes Problem an. Dadurch könnte bewusst eine Hyperinflation170 und im schlimmsten Falle der Staatsbankrott ausgelöst werden. Denn die Notenbanken werden, um die Bürger mit Liquidität für die gestiegenen Lebensmittelpreise zu versorgen, dann die Gelddruckpressen anwerfen; andererseits will die Politik es trotzdem schaffen, dass das Volk an die Kaufkraft und Wertbeständigkeit des Geldes glaubt171 – in Zeiten der Informationsgesellschaft und des In167 Von einem Anstieg um gut eine Million weitere Arbeitslose auf bis zu 5 Millionen gehen die Bundesagentur für Arbeit und die zuständigen Bundesministerien inzwischen selbst aus. Doch ist auch hier zu befürchten, dass die Bürokratie die Krise 2009 als in einer Reihe stehend mit der Rezession 1966 oder der Ölkrise oder üblichen Konjunkturschwankungen betrachten will. Die Einmaligkeit aus der Kumulation von: (1) Staatsverschuldung weltweit; (2) Unternehmensüberschuldung weltweit sowie (3) Absatzkrise und Überproduktion weltweit wird nicht gesehen, und die Parteien der Großen Koalition (CDU und SPD) haben gerade vor der Bundestagswahl kein Interesse an der realistischen Einschätzung der Entlassungswelle, die in die deutsche Wirtschaft hineinschlagen wird. 168 Lohnabhängige Kleinaktionäre, Kleingewerbetreibende und der Mittelstand sind die Opfer. Nach Dill, Alexander, Der Große Raubzug – Wie im Windschatten der Weltfinanzkrise die Staatskassen geplündert werden, (2009), S. 21, ist die Mittelschicht nicht Opfer eines naturkatastrophenähnlichen Ereignisses, sondern Opfer eines „Raubzuges“. Dieser begann auf der Börsenebene mit der Volksaktie der Telekom und setzte sich mit dem „Big Bang“ am 12.10.2008 fort. Nach Dill war „Geldempfänger Nr. 1 auf Kosten des Staates und damit des Steuerzahlers die Hypo Real Estate: „2, äh, 5,5 äh 35 nein, 102 Milliarden, bitte“, S. 19. Zu den Besonderheiten der T-Aktien-Emissionen: Munk, Nicole, Die T-Aktie als Marke (2. Aufl. 2003) 169 Titelgeschichte in der Wirtschaftswoche Nr. 15 vom 06.04.2009: Die Enteignung der Mittelschicht – Wie die Finanzkrise weltweit Vermögen und Vorsorge zerstört. Boeschen, Mark/ Schnaas, Dieter/Esterhazy, Yvonne/Henry, Andreas, Reimer, Hauke, Umsonst gearbeitet, in: Wirtschaftswoche 15/2009, S. 88 ff., zum selben Thema: Tichy, Roland, Die Wut der Bürger, (Leitkommentar) in: Wirtschaftswoche a. a. O., S. 5. 170 Unter „Hyperinflation“ wird eine Inflation verstanden, die mehr als 50 % des Geldwertes p. a. vernichtet. 171 Und diejenigen Deutschen, die noch klassischen Deutschunterricht erhalten, kennen ihren Faust – Johann Wolfgang von Goethe, Zweiter Teil: Mephistos Manipulation – Ausgabe von Papiergeld, das angeblich durch verborgene Schätze gedeckt sei, die im Erdboden schlummern. Der Schatzmeister zum Kaiser: „In diesem Zeichen wird nun jeder selig, seht Eure Stadt, sonst im Tod halb verschimmelt, wie alles lebt und lustgenießend wimmelt“. Um das zu erreichen, musste der Schatzmeister aber den Bund mit dem Teufel schließen und das Volk durfte nicht wissen, dass es die Schätze im Erdboden gar nicht gab. Dem größten deutschen Dichter war also schon vor zwei Jahrhunderten bewusst, dass Währungen (oder heute Altersversor-
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ternets möglicherweise eine Illusion. Denn den informierten Bürger kann die Obrigkeit nicht in die Irre führen, und es gibt auch Bürger, die über geschichtliches Wissen verfügen oder dies von den Großeltern tradiert erhalten – z. B. den Unterschied zwischen Mark und Goldmark172. Die USA sind bei der Arbeitslosigkeit und der sozialen Frage noch stärker betroffen als Deutschland,173 da dort vergleichbare soziale Sicherungssysteme fehlen und die absolute Zahl der Arbeitslosen viel größer ist. In China ist ein Heer von bis zu 20 Millionen arbeitslosen Wanderarbeitern entstanden,174 weil die Produktionskapazitäten, die anhand des US-amerikanischen Nachfragevolumens bemessen worden gungen) selten deckungsstockgestützt oder mit Edelmetallreserven unterlegt sind. Was würde aber passieren, wenn andere Staaten eine Goldwährung schaffen würden? Dürfen wir es überhaupt zulassen, dass dem Euro eine solche Konkurrenz erwächst? Eine rhetorische Frage. Natürlich Nein. 172 Die Goldmark war eine mit massiven Goldwerten unterlegte Währung. Man sprach von der Flucht der Menschen in die Gold- oder Metallwährung. Der Besitz von Gold sollte das Universalmittel gegen Kapitalvernichtung sein. Johann Wolfgang von Goethe: „Am Golde hängt, zum Golde drängt doch alles“: Seit Jahrtausenden bis zu den ägyptischen Pharaonen zurück und in das Jahr 2009. Aber auch eine Ursache, die eine Rezession verschärfen und zu einer schweren Depression führen kann. Unter US-Präsident Franklin D. Roosevelt (1932) im Mutterland des Kapitalismus wurde Gold zu einer Frage des nationalen Existenzkampfes: Jeder US-Bürger war unter Strafandrohung verpflichtet, seinen privaten Goldbesitz dem Staat abzugeben, zur Stärkung von Fort Knox und der Federal Reserve Bank of America. Ähnlich Preußen in den napoleonischen Befreiungskriegen (ab 1804 ff.): Moralische Pflicht jedes Bürgers, sein privates Gold dem Staat abzugeben, um die preußische Befreiungsarmee gegen Napoleon zu finanzieren. Alle Eheringe wurden eingezogen und durch Eisenringe mit der Inschrift ersetzt: „Gold gab ich für Eisen“. Die Opferbereitschaft des Volkes für eine gerechte Sache und für einen guten Staat war grenzenlos. 1816 gab die so finanzierte preußische Armee bei Waterloo den Ausschlag. Freiherr vom Stein, Hardenberg u. a. waren aber auch anerkannte Vorbilder, weshalb wir wieder auf die besondere Wichtigkeit der Vorbildfunktion von Repräsentanten und Entscheidungsträgern zu sprechen kommen müssen: Schon zuvor hatte der Große Preußenkönig, Friedrich der Große (der II) die Messlatte hoch gehängt: „Ich bin der erste Diener des Staates.“ 173 Doch China bekämpft die Krise und ist sehr wohl zu einer Selbstanalyse fähig: In dem Sinne, die eigenen Schwächen zu erkennen und Schritt für Schritt abzustellen. In den zurückliegenden Zeiträumen wurde dem Wirtschaftswachstum der Vorrang vor (1) Umweltschutz und (2) vor dem Aufbau sozialer Sicherungssysteme gegeben. Dass aber beides ein stabilisierender Faktor in der Erfolgsrechnung einer Volkswirtschaft sein kann, haben die Chinesen erkannt: China wird deshalb ebenfalls ein Sozialsystem aufbauen – und wir Europäer sollten uns mit negativen Prognosen zurückhalten, etwa in dem Sinne, dass eine derartige Entwicklung viele Jahrzehnte oder sogar ein Jahrhundert dauern würde. China wird auch die Sparquote senken und einen privaten Konsum innerhalb des Volkes starten, um die Abhängigkeit von den Exportweltmärkten zu vermindern. 174 Das ist gegenwärtig sozialer Sprengstoff und fordert der Regierung sofortiges Handeln ab: Aber andererseits ist es den Chinesen eher als den westeuropäischen Staaten zuzutrauen, eben weil dort noch riesige Wachstumsmärkte im eigenen Land liegen, mit diesen Arbeitslosenzahlen fertig zu werden. Die Indices für die Stahlproduktion und die Bauwirtschaft sind im März
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waren, in der Krise viel zu hoch sind. Die chinesische Regierung muss also mit einem Problem in einer ganz anderen Dimension fertig werden. Gleichzeitig muss das riesige Land mit den negativen Auswirkungen des unbegrenzten und ungebremsten Wachstums auf die Umwelt und die Volksgesundheit fertig werden.175 Es kommt hinzu, dass viele Erdöl exportierende Länder in der jetzt enttäuschten Erwartung auf stetige Höchsteinnahmen aus dem Erdölexportgeschäft entsprechend hohe staatliche Haushalte aufgestellt hatten – in der Erwartung eines Erdölpreises von weit über 100 US-Dollar pro Barrel: Auch dort droht die Zahlungsunfähigkeit. 107
5. Nachdem der Rohölpreis auf 141 US-Dollar pro Barrel angestiegen war,
schienen diese Haushalts- und Wirtschaftspläne der Förderländer voll aufzugehen. Es entstanden dort, weil die Wirtschaftsordnungen dieser Staaten nicht wie die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland ausgeprägt sind, Unternehmerfamilien mit riesigen Barkapitalreserven und einem märchenhaften Reichtum, was verschiedentlich davon ablenkte, dass auch diese Staaten in ihren eigenen Ländern einen sehr großen Nachholbedarf an Infrastrukturinvestitionen aufweisen und auch deren Staatshaushalte keineswegs „in Ordnung“ sind. Der Absturz des Rohölpreises führte dann aber bei den meisten Erdöl exportierenden Staaten zu dem Erfordernis drastischer Haushaltskorrekturen und zu einem zusätzlichen Kreditbedarf.176 Und Deutschland? Was hat unser Staat mit seinen Kapitalreserven aus den Steuereinnahmen der letzten Jahrzehnte zustande gebracht? Immerhin sind die Steuereinnahmen Deutschlands höher als alle Erlöse Saudi-Arabiens aus dem Erdölverkauf. Über welche besonderen Fähigkeiten, über welche besonderen Institutionen muss man verfügen, um einen solchen Staat in die Insolvenzgefährdung zu drängen? Ist es möglich, so 2009 wieder stark steigend. Sollte es China gelingen, die Krise als erste große Wirtschaftsnation zu überwinden, und sollten die Bemühungen Obamas zur Bekämpfung der „Great Depression“ nicht greifen, wäre die USA als Wirtschaftsmacht Nr. 1 in wenigen Jahren endgültig abgelöst. 175 Experten schätzen die Gesamtinvestitionssumme, die China für diese Zwecke einplanen muss, auf weit über 100 Milliarden Euro. Allein die Ergänzungsinvestitionen in dem Drei-Schluchten-Staudamm (dem größten Wasserkraftwerk der Welt) werden bis zu 11 Milliarden Euro verschlingen. Aber China geht diese Herausforderungen mit einer kompetenten Wirtschaftspolitik und großem Sachverstand an. Wer gesehen hat, mit welcher Perfektion die Chinesen die größte und schönste Olympiade der Welt (2008) veranstaltet haben, kann sicher sein, dass China diese Probleme genauso zuverlässig lösen wird. 176 Daraus ergibt sich heute bei manchem an sich reichen Förderstaat eine hohe Auslandsverschuldung. Andere Erdölförderländer haben ihre Liquidität klug für die Weiterentwicklung ihrer eigenen Infrastruktur eingesetzt und ihre Stärken im Handel, im Tourismus sowie als Kapitalgeberländer weiter ausgebaut. Die Vereinigten Arabischen Emirate sind das Paradebeispiel für erfolgreiche Investitionsstrategie.
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viel Geld zu verbrennen? Ja, es sind unsere Bürokratie und die Manager, die das können.177 Wir Deutsche brauchen uns deshalb nicht ablenken, etwa mit dem Schicksal anderer europäischer Staaten, die sogar in noch höherem Maße insolvenzgefährdet sind als Deutschland: Island und Griechenland konnten den Staatsbankrott nur mit Hilfe der Europäischen Union abwenden. Die Liste der Staaten mit Problemen ließe sich auch noch verlängern. Selbst die Schweiz ist betroffen: Die dort ansässigen Geschäftsbanken haben bei dem schrankenlosen Investmentbanking ebenfalls in enormer Größenordnung mitgewirkt. Das reale Wachstum ist dort aber verschwindend gering, so dass die Schweiz in gleicher Weise betroffen ist – möglicherweise sogar noch härter als viele EUStaaten.178 Denn ein proportional übergroßer Anteil des Volkseinkommens wird über die Bankgeschäfte erwirtschaftet. Dort wird es immer schwieriger, die Verluste im Bereich der Subprime und anderen US-Verbriefungen auszugleichen. Auch die Schweizer Banken stehen vor Existenz bedrohenden Problemen: Sie sind von der US-Subprime-Blase schwerer betroffen als Deutschland und leiden genauso unter der „Wertefalle“.
177 Die Hybris der internationalen Finanzoligarchie und ihrer Protagonisten in den Investmentbanken. Die unerschütterliche Hoffnung an die niemals versiegende Wertschöpfungskraft aus Aktienemissionen und Derivatgeschäften korrespondierte mit dem Glauben an eine ebenso nicht versiegende Wertschöpfung im Produktionsprozess der Realwirtschaft. 178 Die Schweiz hat eines der höchsten Nationaleinkommen der Welt pro Kopf der Bevölkerung: 58.050 US-Dollar. 7,5 Millionen Schweizer erwirtschafteten 2006 ein BIP von 380,412 Milliarden US-Dollar. Das entspricht in etwa dem BIP von Saudi Arabien. Für ein Land ohne besondere Rohstoffvorkommen, das alle Rohstoffe auf dem Weltmarkt importieren muss, eine beeindruckende Leistung. In den Jahren 2004 bis 2007 wuchs die Schweizer Wirtschaft überdurchschnittlich: 2004: 2,5 %; 2005: 2,5 %; 2006: 3,5 % und 2007: 3,1 %. Zahlen und Daten: Der Fischer Weltalmanach (2009), S. 411. Der Haushalt 2007 schloss mit einem Plus von 4,127 Milliarden Schweizer Franken ab. Die Staatsquote der Schweizer (Bund) liegt mit ca. 11,0 % sehr niedrig und sinkt weiter. Die Schweiz ist ein Beispiel dafür, dass trotz vorbildgerechter Grundlagen in der Realwirtschaft Fehler im Finanzmarktsystem eine Volkswirtschaft in ihrer Existenz erschüttern können.
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D. Das Volumen der globalen Kapitalvernichtung: Vorläufig geschätzte 30 Billionen Euro oder 40 bis 57 Billionen US-Dollar 1.
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Der Vorbote des Unheils: Die Versicherungsprämien für den Interbank-Handel schnellen in die Höhe: Wie können Banken und Versicherungen beim Bürger um Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit werben, wenn unter den Banken größtes Misstrauen besteht?
Das Funktionieren der Realwirtschaft179 sah man als gesichert an, weil der Nachschub an Rohstoffen, Energie und Arbeitskräften in den benötigten Mengen angeblich unbegrenzt zur Verfügung stand.180 Deshalb wurde die sich immer weiter öffnende Schere zwischen realer Wertschöpfung und virtueller Kapitalbildung nicht so sehr ernst genommen. Ein Indiz der „Great Depression“ hätte aber auf jeden Fall beachtet werden müssen: Plötzlich schnellten die Versicherungsprämien, die für die Absicherung der Werthaltigkeit von Wertpapieren im Interbankhandel bzw. zur Absicherung der Bonität von Banken untereinander entrichtet werden müssen, um ein Zigfaches in die Höhe. Das bedeutete die Dokumentation des wechselseitigen Misstrauens der Banken weltweit untereinander.181 Aus den Geschäften mit den „verbrieften“ Forde179 Der Arbeitsmarkt ist eine von der Realwirtschaft untrennbare Funktion, und hier sind sich die Experten darüber einig, dass für die meisten Arbeitnehmer gelten wird, was Gewerkschafter und SPD seit langem aufhalten oder leugnen wollen: Für weniger Geld (mehr) arbeiten. Vgl. dazu Focus Nr. 23 vom 30.05.2009, S. 11: Dass die Superrezession dramatische Auswirkungen auf die Beschäftigungslage und die Lohnentwicklung in Deutschland haben wird, lässt sich nicht länger beschönigen. So rechnet das Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel damit, dass eine Vielzahl von Arbeitsplätzen nur gehalten werden kann, wenn die Arbeitnehmer auf Teile ihres Lohnes freiwillig verzichten. IfW-Konjunktur-Chef Joachim Scheide: den Ernst der Lage haben die meisten Bürger und viele Politiker noch gar nicht begriffen. Erst 2011 sei mit einer Besserung der Lage, wenn überhaupt, zu rechnen. Seine Befürchtung: Zusätzlich 1,5 Millionen Arbeitslose mehr – zu den schon 3,58 Millionen Arbeitslosen (die Kurzarbeiter und die versteckte Arbeitslosigkeit nicht mitgerechnet). 180 Dass das Buchgeld und die Staatsschuldverschreibungen nur virtuelles Vermögen darstellen, wenn niemand – kein Staat und keine Regierung und kein Konzern – diese Schuldverschreibungen einlösen kann, zeigte sich erst in der Krise, aber überraschend war das nicht. Die Krise begann damit, schon weit vor dem 15.09.2008 (Lehman-Brothers-Insolvenz) und weit vor Bear Stearns (März 2008), dass die Banken untereinander ihren Interbankhandel so lange einschränkten, bis dieser schließlich ganz zum Erliegen kam. Es ist klar, dass es kein Vertrauen mehr zwischen den Finanz-Giganten geben kann, wenn jeder dieser Handelspartner weiß, dass die Bilanzen des anderen Handelspartners durch Derivatgeschäfte und deren Risiken ein wirtschaftlich und finanziell völlig falsches Bild widerspiegeln. 181 Der Grund dafür war folgender: Die Banken untereinander wussten, dass die Papiere nichts wert waren, so dass keine Bank dafür echtes Geld ausgeben wollte – allenfalls kam in Betracht, für den Ankauf „fauler“ bzw. „toxischer“ Papiere von einer Kollegenbank, dieser Bank dann andere, genau so „faule“ oder „toxische“ Papiere als Zahlungsmittel im Tausch anzubieten. Es ist bemerkenswert, warum erst so spät der wirtschaftliche Unsinn derartiger virtueller Kapi-
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rungen entstand eine in der Wirtschaftsgeschichte einmalige Kapitalvernichtung quer durch alle G-20-Nationen.182 Dieser Domino-Effekt führte schließlich zu einer Kapitalvernichtung in der Größenordnung von geschätzten 30 Billionen Euro oder 40 Billionen US-Dollar weltweit. Doch das wird nicht reichen: Von den ca. 200 Billionen US-Dollar Terminkontrakten und ca. 131 Billionen US-Dollar in SWAPS wird nur ein ganz geringer Prozentsatz noch irgendeinen bilanzfähigen Wert aufweisen. Schätzen wir einmal 10 % (und das wäre schon hoch gegriffen): Dann würde sich die Summe des vernichteten Kapitals (bezogen auf die Geldmenge M3) auf mehr als 180 Billionen US-Dollar berechnen. Warum gab und gibt es in Deutschland kein Gesetz, das es den Landesbanken verbietet, gegebenenfalls aber auch den Geschäfts- und Allbanken oder den Sparkassen und Volksbanken, in derartige Kapitalflusssysteme Eigen- und Kundengelder zu investieren? Wo waren das Bundesfinanzministerium, der Präsident der BaFin, wo waren die Anlageberater, die Analysten, die Experten und die Wirtschaftsweisen? Ein Ergebnis aus deren Kollektivversagen steht für uns Deutsche heute schon fest: Der Abstieg aus dem Olymp der Wohlstandsstaaten hat bereits begonnen. Der Wohlstand für alle eines Ludwig Erhard ist vernichtet und auf lange Zeit unerreichbar geworden. Denn keine Landesbank und keine Sparkasse und keine Deutsche Bank AG werden jemals auch nur einen Cent des verspielen Kapitals zurückerlangen können, auch und erst recht nicht mit dem jetzt geschaffenen System der Bad Banks.
2. Arbeitsplätze, Arbeitseinkommen, Renten, aber auch Beamten- und Ministerpensionen: Nichts ist mehr sicher
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a. Es wird viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, dauern, um das Fundament ei-
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nes neuen Wohlstands für alle
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in Deutschland wieder aufzubauen, wenn dies
talgeschäfte hinterfragt wurde: Es gibt keinerlei Erklärung dafür, außer dass die Manager am Jahresende auf diese Geschäfte Boni nach den Nominalwerten oder Kurswerten der Papiere in Rechnung stellen konnten. Das zu dem angeblichen jahrelangen „Erfolg“ der Investmentabteilungen. 182 In nur wenigen Wochen wurden geschätzte 40 bis 57 Billionen US-Dollar pulverisiert. Das war eine Lektion für alle, die (1) den angeblichen Selbstheilungskräften des Marktes vertraut, (2) das Investment Banking wie etwa auch den Handel mit Kreditverbriefungen fern jedes Realitätsbezuges für den neuen Wirtschaftsmotor im postindustriellen Zeitalter ausgedeutet und (3) der weltweiten schrankenlosen Deregulierung der Aktienmärkte unter Ausblendung jedes Gefahreninstinktes befürwortet hatten. Gerade diese Protagonisten wollten sich konsequenterweise mit dem Thema einer Insolvenzprophylaxe nicht befassen. Das waren die meisten exponierten Vertreter der deutschen Nationalökonomie. 183 Erich, Roland (Hrsg.), 100 Jahre Ludwig Erhard, (1997). Erhard selbst wählte für sein Werk über die Soziale Marktwirtschaft den Titel: Wohlstand für Alle (1957).
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überhaupt noch möglich ist. Mitte 2009 steht die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik vor den Trümmern ihrer jahrzehntelangen kraft- und orientierungslosen Stabilitätsbemühungen und vor der größten Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland droht nämlich der Abstieg der Nation aus dem Olymp der Weltwirtschaftsmächte184 und der Verlust wichtiger Exportmärkte. Dies alles nicht als langwieriger Entwicklungsprozess eines gemächlichen, sozialpolitisch verkraftbaren Abstieges verstanden, sondern als ein unkontrollierter schneller Absturz. Denn dieses Mal ist nicht nur eine graduelle Rangänderung in der Abfolge der G-20-Staaten zu befürchten. Vielmehr treten die sogenannten Schwellenländer China und Indien als Wirtschaftsweltmächte in spe auf der Überholspur an und erweisen sich als widerstandsfähiger, flexibler und im Umgang mit den Fragestellungen als unkomplizierter als der Verbände- und Bürokratenstaat Deutschland.185 112
b. Längst geht es nicht mehr um die Frage, ob wir Deutsche oder die EU-Bürger etwas von dem Sparvermögen verlieren, ob das Arbeits- und das Zinseinkommen vielleicht etwas absinken und wir alle diese negativen Konsequenzen durch ein herzhaftes „Dann schnallen wir den Gürtel eben etwas enger“ werden abfedern können. Denn die aus den Fugen geratene Weltwirtschaft hält weitaus unangenehmere Fragen bereit, auf deren Beantwortung unsere Politik nicht vorbereitet ist und deren Antworten die europäischen Völker letztendlich auch gar nicht hören wollen. Die Wahrheit ist, dass ein überwiegender Teil des Spar- und Vorsorgevermögens der Deutschen wie der Europäer bereits unwiederbringlich vernichtet worden ist und nicht etwa durch normale Kurssteigerungen an den Börsen wieder in den ursprünglichen Wert hineinwachsen kann. Wahr ist auch, dass Deutschland und Europa ohne eine radikale Änderung der Wirtschaftspolitik nichts zum Guten oder Besseren ändern können. Was würde passieren, wenn es zu Schalterschließungen in den Banken kommt, wenn die Auszahlung von Lebensversicherungspolicen ausgesetzt werden muss, wenn Bargeld immer knapper wird, Benzin rationiert oder un184 Nach BIP (2006) geordnet – Angaben in Billionen US-Dollar: Platz 1: USA: 13,2; Platz 2: Japan: 4,36; Platz 3: Deutschland: 2,89; Platz 4: Volksrepublik China: 2,64; Platz 5: Großbritannien: 2,37; Platz 6: Frankreich: 2,24; Platz 7: Italien: 1,85; Platz 8: Kanada 1,27; Platz 9: Brasilien: 1,06; Platz 10: Russische Förderation: 0,987. 185 Dieses Mal könnte es also ein Sturz ins Bodenlose sein, und es kann auch nicht beruhigen, dass die anderen europäischen Staaten dann ebenfalls in den Strudel einer schweren Depression und Hyperinflation mit einer weitgehenden wertmäßigen Vernichtung von Kapital und Produktivvermögen geraten könnten – mit ganz ähnlichen, ebenso drastischen wirtschaftlichen Problemen und sozialen Spannungsfeldern wie bei uns.
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erschwinglich wird? Welcher mittelständische Unternehmer kann heute noch sagen, dass er auch noch in drei Monaten seine Kunden hat – in Zeiten, in denen Stornierungen in E-Mail-Geschwindigkeit erfolgen? c. Auch die Renten sind – in Deutschland, aber auch anderswo186 – eben nicht 187
mehr sicher. Das hat mehrere Gründe. Das Bismarck’sche Umlaufsystem war, wie schon die Klassifizierung erkennen lässt, kein kapitaldeckungsstockgestütztes System. Das Modell aus der Gründerzeit des Zweiten Deutschen Kaiserreiches ging versicherungsmathematisch davon aus, dass jeder Arbeitnehmer sein Ausscheiden aus dem aktiven Arbeitsprozess um durchschnittlich vier Monate überleben würde und die genügend neuen Beitragszahler in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse nachwachsen würden.188 186 Reichstein, Ruth, Die Rente ist unsicher, in: Handelsblatt Nr. 88 vom 08./09./10.05.2009, S. 12. Dass auch ein Deckungsstocksystem keine Patentlösung ist, zeigt der Blick auf das niederländische Rentensystem: Der Deckungsstock in dem „Mustersozialstaat“ wurde im Übermaß auf Aktien gegründet. Die Folge: Die Kursstürze haben das Anlagevermögen massiv geschmälert. Aktien sind eben keine Altersversorgung für den Normalbürger, der nur minimale Verluste verkraften kann. Auch hier zeigt sich die Richtigkeit der Thesen von Nicole Essiger von Anfang an, auch im Hinblick auf Insolvenzgefahren, wenn deutsche Lebensversicherer KapitalDeckungsstöcke nach dem Versicherungsaufsichtsgesetz in Aktien bilden. 187 Um den Schein der Rentensicherheit aufrechtzuerhalten, hat die Bundesregierung am 06.05.2009 eine „Rentengarantie“ beschlossen – die aber im Gegensatz zu anderen Garantien der Regierung bei den Bankenrettungsschirmen sofort echtes Geld kostet. Danach sollen die ca. 20 Millionen Rentner in Deutschland vor Rentenkürzungen verschont bleiben, und zwar auch dann, wenn die Reallöhne sinken würden. Von einem Sinken der Reallöhne geht die Bundesregierung selbst aus. Die Zuschüsse, die hierfür erforderlich werden, will die Bundesregierung vorfinanzieren und später mit Rentenerhöhungen verrechnen, die sich die Regierung nach der Krise bei einer Hochkonjunkturphase erhofft – gewissermaßen ab 2011. Das wird aber mit dem „Basteln gegen die Krise“ nicht zu erreichen sein; vgl. Focusmoney – Beilage zu Focus Nr. 23 vom 30.05.2009, S. 16 f. SPD-Bundesarbeitsminister Olaf Scholz wandelt damit auf den Spuren von CDU-Altbundesarbeitsminister Norbert Blüm, der den Wahlslogan „Die Renten sind sicher“ in den 1980er Jahren geprägt hatte und heute wegen des leeren Versprechens in der Kritik steht. Gegenwärtig beträgt der Bundeszuschuss zur Rentenkasse etwa 80 Milliarden Euro pro Jahr. Der Bund wird künftig Zuschüsse in dieser Größenordnung nicht mehr leisten können. Wolfgang Clement, vormals Bundesminister für Wirtschaft und in seiner Partei (SPD) nicht immer wohl gelittener Freidenker, hat es aber in einem Interview am 06.05.2009 auf den Punkt gebracht: Eine solche Garantie kann nicht eingehalten werden. Die Politik muss künftig Arbeitsplätze auch bei sinkenden Umsätzen und rückläufiger Konjunktur schaffen. 188 Heute überleben Deutschlands Rentner das Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess um durchschnittlich zwei Jahrzehnte, und für Vollbeschäftigung ist nicht mehr gesorgt, ebenso nicht für eine gleich bleibend hohe Zahl an Arbeitnehmern. Sodann ist es falsch anzunehmen, dass der Staat quasi automatisch jedes Jahr 80 Milliarden Euro und mehr als Zuschuss zur Rentenversicherung zur Verfügung stellen kann. Die Renten werden deshalb sinken – sie mögen sicher sein, aber auf einem wesentlich niedrigeren Niveau. Vielleicht ergeben sich Kürzungen von 20 %, 30 %, 40 % oder noch mehr Prozent.
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DRITTER ABSCHNITT | ZWEITES KAPITEL
Unser Rentensystem hat sich abhängig gemacht von den permanenten künftigen staatlichen Zuschüssen. Der Staat hat es sich aber für viele künftige Jahre unmöglich gemacht oder jedenfalls massiv erschwert, diese Zuschüsse leisten zu können, indem er die Kapitalvernichtung auf den Finanzmärkten jahrzehntelang geduldet hatte.189 114
d. Wenn wir Rentenkürzungen dieses Ausmaßes verhindern wollen und
Deutschland den Anforderungen genügen will, die der Markt selbst aber auch Europa und die Welt an Deutschland stellen, dann müssen zuerst die Hausaufgaben im eigenen Land erledigt sein – und zwar mit Bestnote und vollständig. Mit einem Ruck durch das Land im Sinne Roman Herzogs ist es nicht getan – es muss vielmehr ein radikales Umdenken bei den alten Eliten und im Volk selbst stattfinden. Wer dazu nicht mehr fähig ist, muss abtreten.190 Auch dafür brauchen wir die richtigen und rasch wirkenden Instrumentarien und eine neue Chance, durch diesen Sturm auf den Weltfinanzmärkten in ein ruhigeres Fahrwasser zu gelangen – aber mit frischen, leistungsfähigen, schnell denkenden und genauso schnell reagierenden Spitzenkräften, die sich zudem durch Fachkompetenz ausweisen. Diese Führungselite gibt es in Deutschland – hoch motiviert und bestens ausgebildet, aber häufig in schwerfälligen Parteiauswahlverfahren gefangen und in ihrer Effektivität blockiert.191 Wir können es uns nicht mehr leisten, dieses Wissen, diese Motivation, diese Schubkraft „links liegen zu lassen“, sondern müssen diese Potentiale nutzen. Das bislang nicht verstanden zu haben, ist einer der großen Systemmängel Deutschlands, der beseitigt werden muss. 189 Die von Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) gegebene Rentenzusage wird allein in den nächsten beiden Jahren den Verschuldungsgrad des Bundeshaushaltes um ca. 30 Milliarden Euro steigern. „Alle Banken und die Rentner gerettet, aber Deutschland pleite“: Das kann nicht sein, aber das ist die gegenwärtige Politik der Großen Koalition. 190 Welche Ergebnisse eine veraltete und geistig weitgehend unbewegliche Führungsschicht hervorbringt – der Untergang der alten Sowjetunion 1991 oder der Untergang der DDR 1989 sind klassische Beispiele hierfür. Damals waren das Politbüro der KPdSU und der SED mit „Greisen“ besetzt statt mit „Wirtschaftsweisen“. Heute verfügt Russland mit Putin und Medwedjew über eine vergleichbar jugendliche dynamische Führungsspitze. Die USA haben sich soeben den jüngsten Präsidenten ihrer über 230 Jahre alten Geschichte in das Weiße Haus gewählt, dem es an Tatkraft sicherlich nicht mangeln wird. Und Europa und Deutschland? Überwiegend wird die politische Macht von sogenannten „Spitzenpolitikern“ ausgeübt, die nur noch auf der Altersskala Spitze sind. Die wenigsten von ihnen könnten die Frage beantworten, warum sie sich zutrauen, die beruflichen Anforderungen zu erfüllen, die ihre Ämter mit sich bringen. 191 Die USA kennen das Vorwahlverfahren, d. h., nicht Parteigremien oder Parteivorstände entscheiden darüber, wer als Spitzenkandidat z. B. für die Präsidentschaftswahl aufgestellt wird, sondern das Volk stimmt hierüber ab und kann damit unmittelbar auf die Auswahl der Wahlkandidaten Einfluss nehmen.
ZWEITES KAPITEL | ZUM ZWEITEN KAPITEL
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Zusammenfassung zum zweiten Kapitel
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Die Ergebnisse aus der Betrachtung zu den Themen des zweiten Kapitels können für den weiteren Fortgang der Untersuchung wie folgt zusammengefasst werden:
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▶ Erstens:
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Es liegt keine Welt- oder Wirtschafts-„Krise“/„Krise“ der Finanzmärkte u. a. vor, sondern eine globale Wirtschafts- und Finanz-Katastrophe ungeahnten Ausmaßes, die das Leben jedes Bundesbürgers und jedes Weltbürgers nachhaltig negativ verändern wird.
▶ Zweitens: Die Vorboten des Economic Disaster waren spätestens Anfang der Jahrtausendwende überdeutlich sichtbar. In den großen Konzernen, bei der deutschen Bundesregierung und bei den Wirtschaftsweisen gingen die warnenden Stimmen unter oder wurden bewusst nicht gehört.
▶ Drittens: Dies bedeutet für uns Deutsche den endgültigen Abschied von dem Wohlstands- und Versorgungsstaat der alten Bundesrepublik Deutschland, der nicht nur auf der emotionalen Ebene gefühlt wird, weil z. B. besondere einprägsame Markenartikelunternehmen inzwischen definitiv insolvent sind: Märklin, Rosenthal, (hoffentlich nicht: Opel), sondern real ist. Es sei denn: Es gibt einen Pakt für Deutschland, in dem Einigkeit über folgende Vorgehensweise erzielt worden ist:
▶ Zu A: Es wird alles unternommen, um den Arbeitsmarkt zu stabilisieren:
▶ Zu B: Alle anderen Themen, also (1) die Rettung von Banken, (2) die Installierung von Bad Banks u. v. m., brauchen nicht einmal mehr diskutiert zu werden, bevor nicht Erfolgsmeldungen über das Stoppen der Arbeitslosigkeits- und der Insolvenzlawine vorliegen.
▶ Viertens: Weil die Ursache des Worldwide Economic Disaster teilweise vor mehreren Jahrzehnten gelegt wurde und mindestens ein ganzes Jahrzehnt lang die sogenannte virtuelle Kapitalwertschöpfung
ZUM ZWEITEN KAPITEL | ZWEITES KAPITEL
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übertrieben wurde, brauchen die Volkswirtschaften der G-20-Staaten mehr als einige Quartale an Verschnaufpause – ganz zu schweigen davon, dass die unten noch im Detail beschriebenen Sofortmaßnahmen Punkt für Punkt umgesetzt werden müssen.
▶ Fünftens: Das Aufwerfen der Schuldfrage bringt für den Lösungsansatz nichts: Die USA und Großbritannien haben den „Turbo-Kapitalismus“ und das „Investmentbanking“, das „Schattenbank-System“ und die Kreativität bei den „neuen Finanzprodukten“ („Derivaten“ und „Subprime Mortgages“) am meisten übertrieben; die Hebelwirkungen waren dort am größten. Aber „gelehrige Schüler“ fanden sich in allen anderen Volkswirtschaften auch. Wir Deutsche waren solche gelehrigen Schüler, denn unsere Verwaltungsratschefs in den Landesbanken wollten auch auf der internationalen Bühne des sogenannten „US-Casinokapitalismus“ erfolgreich sein. Aber auch in der deutschen Wirtschaft, dem Rechtswesen, dem Buchhaltungswesen, bei der Bilanzierung usw. fand eine „Amerikanisierung“ statt. Angeblich sollte alles „besser und genauer“ gemacht werden, aber in Wirklichkeit wurde das Gegenteil auslöst: Es kam zu 1. hypothekengesicherten Überfinanzierungen 2. branchentypischen Wertfehleinschätzungen, 3. dem Alibi-Gutachterwesen und 4. dem „Handel“ mit Bestätigungsvermerken. Folglich grassierte der Insolvenzvirus auch in Deutschland und hat die Zukunftsfähigkeit Deutschlands massiv gefährdet.
▶ Sechstens: Wenn ab sofort in den nächsten Jahren in Zukunftstechnologien massiv investiert werden muss, z. B. 1. in Elektro- und Wasserstoffantriebe für eine neue weltweit vorbildhafte Automobilindustrie 2. mit neuen, umweltfreundlichen, verbrauchsniedrigen und kostengünstigen Fahrzeugen, oder aber 3. bei der Produktion hocheffizienter, aber umweltfreundlicher Großkraftwerke etc., müssen sich der deutsche Staat und die deutsche Wirtschaft fragen lassen, wie die hierfür erforderlichen Kapitalsummen auf einem Kapitalmarkt künftig aufgebracht werden sollen.
ZWEITES KAPITEL | ZUM ZWEITEN KAPITEL
Denn dieser Markt wird unter dem Druck einer Lawine von Staatsschuldverschreibungen stehen. Der deutsche Staat darf dann nicht mit Folgeproblemen aus dem „Bad-Bank-Rettungssystem“ überlastet und an der Erfüllung der Staatsaufgabe Nr. 1., den Arbeitsmarkt gegen Massenarbeitslosigkeit zu verteidigen, gehindert sein. Auch die deutsche Wirtschaft muss für die neuen Investitionsaufgaben durch Sanierungsexperten vorbereitet werden.
▶ Siebtens: Nachdem obige Betrachtungen gezeigt hatten, wie schwierig es teilweise ist, genaues Daten- und Zahlenmaterial über das Ausmaß das Worldwide Economic Disaster zu erlangen, muss die
▶ Erste Maßnahme eines konzertierten Masterplanes zur Sanierung der deutschen und der Weltwirtschaft darin bestehen, 1. staatliche und private Unternehmen einer bestimmten Größenordnung zu verpflichten, 2. sämtliche Daten, Fakten, Zahlen und sonstigen Erkenntnisse über den Grad der Verschuldung und der Liquiditätsengpässe gegenüber einer Sonderbehörde offenzulegen, 3. die schnellstens einzurichten ist – auf der Ebene des Bundeskanzleramtes oder aber, im Falle einer neuen verfassungspolitischen Definition der Aufgaben und Befugnisse des Bundespräsidenten: im Bundespräsidialamt, 4. diese Ergänzung des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes bietet sich an, dort ein Kapitelgesetz über die Offenlegungspflichten einzufügen.
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ERSTER ABSCHNITT | DRITTES KAPITEL
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DRITTES KAPITEL Der Schwarze Oktober 2008 und seine Auswirkungen auf die Wirtschaft
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Erster Abschnitt Das Phänomen der Superrezession
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I. Der weltweite Einbruch: Umsätze, Auftragseingänge, Ausfuhren, Projektfinanzierungen und vieles mehr
4
Seit dem „Schwarzen Oktober 2008“ , als das bislang international renommierte Privatbankhaus Lehman Brothers in den USA insolvent wurde, herrscht bei den Regierungen in Washington, London, Paris und Berlin, an den Börsenplätzen und in den Vorstandsetagen und in den Aufsichtsräten der „Deutschland AG“ eine Atmosphäre, die von Ratlosigkeit und Panik bis hin zum blanken Entsetzen reicht.1 Denn als Folge hiervon kam es zu einem Einbruch des Welthandels wie nie zuvor.2 Für Deutschland ergeben sich negative Auswirkungen in allen Bereichen: Rückläufig sind
• das Bruttoinlandsprodukt, 1
2
Es darf allerdings nicht in Vergessenheit geraten, dass deutsche Banken und wohl auch Versicherungen schon seit Jahren die üppigen Betriebspensionen ihrer Vorstände und Aufsichtsräte mit einer Auslagerung und Separierung von Vermögen in Auffanggesellschaften bzw. in Idealvereinen gegen Insolvenzgefahren ihrer Arbeitgeberinstitute gesichert haben. Nach den Satzungen dieser Pensionssicherungsvereine ist deren Zweck, die Zahlungen von Vorstandspensionen auch dann sicherzustellen, wenn die Mutterbank insolvent gehen sollte. Als diese im Falle der Commerzbank in den Medien und der Presse vor Jahren erörtert wurde und Wirtschaftsjournalisten routinemäßig ihr Researching durchführten, staunten diese nicht schlecht über die Antworten der Bankmanager: Sinngemäß lauteten die Stellungnahmen, dass dies keine Besonderheit bei der Commerzbank sei, sondern alle anderen Institute und fast jedes deutsche Großunternehmen, also auch in anderen Sparten, aus Sicherheitsgründen über solche ausgelagerten Sondervermögen verfügen würde. Also „nichts gewusst?“ – diese Ausrede ist zu dünn. Der Rückgang wird nach Schätzungen der WTO weltweit 9 % betragen, in Deutschland werden es 7 % sein; vgl. Financial Times Deutschland vom 24.03.2009, S. 1 – wenn es bei diesen Rückgängen wirklich verbleibt. Inzwischen wird erkennbar, dass die Rückgänge stärker als bisher geschätzt ausfallen. Andererseits könnte China der Retter der Weltwirtschaft werden. Doch wann zieht China als Auftraggeber für Großprojekte den Investitionsgüterbau aus der Krise? Verlässliche Prognosen hierzu gibt es noch nicht.
E. Munk, N, Essiger, Masterplan zur Sanierung der Weltwirtschaft, DOI 10.1007/978-3-8349-8832-4_3, © Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
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• der private Konsum, • der Auftragseingang für Ausrüstungsinvestitionen (Dass staatliche Investitionen allein das Gegenmittel sind, ist fraglich. Keiner der großen Wirtschaftswissenschaftler und keiner der Wirtschaftsweisen hat jemals den Nachweis führen können, dass Staatsausgaben die Konjunktur wirklich beleben oder wiederbeleben können, sondern vielmehr nur eine von Sanierungsexperten vorgegebene zielgenaue Investitionsplanung eine Superrezession bekämpfen kann), • die Ausfuhren, insbesondere des Bereichs Neufahrzeuge, • die Industrieproduktion, • die Einzelhandelsumsätze und schließlich auch der Wirtschaftsklimaindex.3 Im Steigen begriffen sind nur die Arbeitslosenzahlen und der Staatsverbrauch. Ebenfalls auf Wachstumskurs sind die Zuschüsse zu den staatlichen Rentenversicherungen und zu den Sozialetats.
II. Der Ausblick in die Zukunft Deutschlands ohne konzertierten Masterplan: Der Staat wird mächtiger, aber unbeweglicher, der Protektionismus siegt, der Handel stagniert
5
1. Aus dem Rückblick auf die letzten neun Monate lässt sich ein Ausblick
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auf die nächsten zwölf Monate vornehmen. Aber ohne die Konzeption eines konzertierten Masterplans für Deutschland wird sich die Apathie der Wirtschaft nicht überwinden lassen. Das Zahlen- und Datenmaterial, das gegenwärtig ausgewertet wird, zeigt trübe Aussichten für die nächste Zukunft. Danach wird die Staatsquote nach einer relativ langen Phase des Abbaus wieder rasant ansteigen: Nach Schätzungen der Fachleute über die 50 %-Marke in den Jahren 2010 ff. Die sogenannte „Schulden- und Wertefalle“ wird für Staaten und Private gleichermaßen gelten. Protektionismus wird sich insbesondere im angloamerikanischen Raum breit machen, wo diese Form der Reaktion auf Wirtschaftskrisen eine gewisse Tradition hat: „British jobs for british workers“ oder „Buy american“ – das gab es schon einmal. Besonders gravierend für 3
Vgl. Focusmoney, Das Ende der Marktwirtschaft? – die Ursachen der Finanzkrise und die Lehren daraus – Beilage zu Focus Nr. 23 vom 30.05.2009, S. 19 ff. „infrastruktur“ – in: Basteln gegen die Krise, S. 16 f.
ERSTER ABSCHNITT | DRITTES KAPITEL
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Deutschland dürfte aber sein, dass ohne eine grundlegende Erneuerung der Wirtschafts- und Finanzpolitik die Entwicklung der Wachstumsrate eine für Jahrzehnte wirkende schleichende Rezession ankündigen wird.4 7
2. Nach heftigem Widerstand in den Lehrmeinungen und den veröffentlich-
ten Auffassungen der Bankenverbändewirtschaft scheint sich als Lehrsatz für die unmittelbare Zukunft inzwischen mehr und mehr die Erkenntnis durchzusetzen, dass Banken auch „pleite gehen können müssen“5. Die Bundesregierung und das Bundesfinanzministerium müssen deshalb so schnell wie möglich eine Task force aus Sanierungsexperten aufstellen, die in der Lage ist, mit Bankinsolvenzen umzugehen. Die Idee, dass die Bundesregierung und die Justiz in den Ländern einen Sicherheitskordon um die Banken legen und über Jahre aufrechterhalten können, gegen jede Form der Haftung für Falsch- und Fehlberatung, wird sich ebenso wenig verwirklichen lassen wie die Abschirmung der Politiker gegen Strafverfolgung und Haftungsinanspruchnahme mittels des verfassungsrechtlichen Schutzes, die die Immunität und Indemnität versprechen.6
4 5 6
Nach Studien der Wirtschaftswoche Nr. 29 vom 13.07.2009, S. 21 (Quelle: Comerzbank), berechnet mit Hodrick-Prescott-Filter (1600), wird das Produktionspotenzial kaum noch oberhalb der 1 %-Marke liegen. Vgl. dazu das Interview mit Theodor Weimer, Chef der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank, in Wirtschaftswoche Nr. 29 vom 13.07.2009,S. 46 ff.: „Banken müssen pleite gehen können“. Künftig werden sich Zivil-Schadensersatzprozesse häufen wie z. B. gegen die Privatbank Sal. Oppenheim; vgl. Hielscher, Henryk/Welp, Cornelius/Katzensteiner, Thomas, „Pleite nach Plan“, in: Wirtschaftswoche Nr. 29 vom 13.07.2009, S. 49 ff. Immer mehr Anleger werden sich mit den Erklärungen der Banken, warum die Vermögensschäden nicht vermeidbar waren, nicht zufrieden geben. Immer mehr bröckelt aber auch die in den Medien aufgebaute Front der angeblichen Gutgläubigkeit und der fehlenden Kenntnisse der Spitzenpolitiker, wenn es etwa um die Frage geht, wer eigentlich den sogenannten „Verbriefungsmarkt“ zugelassen und den rechtlichen Weg zu diesen gefährlichen Geschäften geebnet hat. Das gilt insbesondere für die TSI – True Sale International. Um diesen Markt anzukurbeln, hatten 13 deutsche Banken die TSI gegründet. Die Bedenken der Deutschen Bundesbank gegen diese Art der Auslagerung von Bilanzrisiken wurden von den Spitzenpolitikern im Bundesfinanzministerium bei Seite gewischt. Bereits im Jahr 2004 waren die Risiken bekannt. Analysten der IKB sprachen in 2005 von „the clock ist ticking“. Sogar den Mittelstand wollte die TSI in das Verbriefungsgeschäft hineinlotsen. Die Rechtsfrage, ob es sich bei der Auslagerung möglicherweise um eine unzulässige Gesetzesumgehung der Schutzvorschriften zur Eigenkapitalaufbringung und Eigenkapitalaufrechterhaltung und damit um einen Rechtsmissbrauch handelt, ist noch nicht beantwortet. Dieser Rechtsgrundsatz, der sich in § 42 AO findet, könnte gegebenenfalls zur Unwirksamkeit solcher Konstruktionen führen. Die Gerichte mussten sich mit dieser Frage noch nicht befassen. Das könnte sich künftig aber ändern. Fest steht schon heute, dass alle diese Risiken sehenden Auges eingegangen wurden.
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