Johannes Kramer Von der Papyrologie zur Romanistik
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Johannes Kramer Von der Papyrologie zur Romanistik
Archiv für Papyrusforschung und verwandte Gebiete Begründet von
Ulrich Wilcken Herausgegeben von
Jean-Luc Fournet Bärbel Kramer Wolfgang Luppe Herwig Maehler Brian McGing Günter Poethke Fabian Reiter Sebastian Richter
Beiheft 30
De Gruyter
Von der Papyrologie zur Romanistik von
Johannes Kramer
De Gruyter
ISBN 978-3-11-024702-2 e-ISBN 978-3-11-024703-9 ISSN 1868-9337 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
INHALTSVERZEICHNIS Zeichenerklärung ..............................................................................................VII I. Einleitung........................................................................................................ 1 1. Papyrologie und Romanistik...................................................................... 3 II. Die Papyrologie und die anderen Wissenschaften .................................... 13 2. Papyrologie: eine interdisziplinäre Altertumswissenschaft ....................... 15 3. Die Papyrologie als Erkenntnisquelle für die Romanistik......................... 27 4. Papyrusbelege für fünf germanische Wörter: ἀρµελαύσιον, βάνδον, βουρδών, βρακίον, σαφώνιον................................ 39 III. Der antike Sprachbund ............................................................................ 55 5. Der kaiserzeitliche griechisch-lateinische Sprachbund ............................. 57 IV. Die europäische Wortgeschichte von Papyrus ......................................... 81 6. Papyrus in den antiken und modernen Sprachen ...................................... 83 V. Papyrologische Indizien zur Aussprache des Lateinischen .................... 117 7. Die Aussprache des Lateinischen nach griechischen dokumentarischen Papyri ....................................................................... 119 8. Die Verwendung des Apex im P. Vindob. L 1 c = ChLA XLIII 1241c... 131 9. Zur Akzentuierung der Latinismen des Griechischen: Von der “lex Wackernagel” zur “lex Clarysse” ...................................... 139 VI. Wortgeschichten ...................................................................................... 151 10. ἀκακία, ἄκανθα / acacia, acantha.......................................................... 153 11. ἀλογία / alogia....................................................................................... 157 12. ἀπλίκιτον, ἄπλικτον / applic(i)tum......................................................... 165 13. ἀραβάρχης, ἀλαβάρχης / arabarches ..................................................... 175 14. βασκαύλης, βασκαύλιον, µασκαύλης / bascauda, mascauda.................. 185 15. κάµασον, καµάσιον, καµίσιον / camis(i)a .............................................. 195 16. καράκαλλος, καρακάλλιον / caracalla ................................................... 207 17. κοιµητήριον / coemeterium.................................................................... 219 18. κονδῖτος, κονδῖτον / condītus, condītum ................................................ 229 19. κράβατος / grabatus .............................................................................. 241 20. πέλµα / pelma, πῆγµα / pegma ............................................................... 253
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21. πουγγίον / punga ................................................................................... 269 22. ῥόγα / roga ............................................................................................ 279 23. σκάλα / scala......................................................................................... 287 24. σικάριος, σικάριον / sica, sicilis, sicarius............................................... 293 25. σπανέλαιον / oleum spanum................................................................... 301 26. συµφωνία / symphonia........................................................................... 307 27. τράγηµα / tragema................................................................................. 319 28. τριχία / trichia ....................................................................................... 341 29. φοσσᾶτον / fossatum.............................................................................. 353 VII. Editionsprinzipien.................................................................................. 365 30. Editionsprinzipien der Klassischen Philologie und Papyrologie und die Romanistik................................................................................ 367 VIII. Bibliographie......................................................................................... 385 31. Bibliographie der im Text zitierten Arbeiten.......................................... 387 32. Titel, Datum und Ort der Erstveröffentlichung....................................... 413 IX. Indices ...................................................................................................... 417 Index rerum................................................................................................. 419 Index personarum antiquitatis...................................................................... 421 Index personarum recentioris aevi ............................................................... 427 Index urbium............................................................................................... 435 Index Graecus ............................................................................................. 437 Index Latinus .............................................................................................. 445 Index Romanicus......................................................................................... 451
Zeichenerklärung Beim Abdruck von Papyri wird nach dem 1931 auf dem Internationalen Orientalistentag beschlossenen “Leidener Klammersystem” (vgl. Ulrich Wilcken, APF 10, 1932, 211–212) verfahren. Die verwendeten Klammern und Zeichen bedeuten: [ ] [̣̣̣̣ ] 〚 〛 < > ( ) `αβγ´ ̣̣̣̣̣̣ α̣β̣γ̣δ̣ |
Lücke durch Beschädigung des Papyrus vermutliche Anzahl der in der Lücke vermuteten Buchstaben Tilgung durch den Schreiber Ergänzung oder Änderung durch den Herausgeber Auflösung von Symbolen und Abkürzungen vom Schreiber über der Zeile nachgetragene Buchstaben nicht lesbare Buchstaben unsicher gelesene beschädigte Buchstaben Zeilenwechel
Einzelwörter und Wortverbindungen werden, wenn sie in lateinischer Schrift geboten sind, kursiviert, bei griechischen Wörtern wird recte geschrieben; die Bedeutung wird in einfache Anführungszeichen gesetzt: sensus ‘Bedeutung’.
I. EINLEITUNG
1. Papyrologie und Romanistik Abstract: This article is focussed on the different approaches of modern interdisciplinary research and traditional Altertumskunde, of which papyrology is an essential branch. In Greek papyri one can detect many elements essential for the reconstruction of Vulgar Latin, the starting point of Romance languages. Unfortunately, there are very few studies attempting to link papyrology and Romance studies. The aims of the present volume, which is intended to fill this gap, are sketched. Keywords: Interdiciplinary research and Altertumskunde, Vulgar Latin in Greek papyri, papyrology and Romance studies
1. Interdisziplinäre Forschergruppen, Altertumskunde, Papyrologie An der Schwelle vom 2. zum 3. Jahrtausend unserer Zeitrechnung ist die Forderung nach “Interdisziplinarität” in den Wissenschaften in aller Munde (Jungert/ Romfeld/Sukopp/Voigt 2010), wobei die Vorstellungen, die besonders bei Politikern und bei Wissenschaftsökonomen im Umlauf sind, in erster Linie von den Vorgehensweisen in Naturwissenschaften und in technischen Studien geprägt sind: Formulierung einer fächerübergreifenden Themenstellung möglichst allgemeinen Charakters, Zusammenstellung einer Arbeitsgruppe aus hochqualifizierten Fachleuten für die beteiligten Gebiete, Ausbildung von Spezialisten für die spezifischen Fragestellungen, lange Diskussionen und Praxisüberprüfungen der zu erzielenden Ergebnisse, Nutzbarmachung der fachübergreifenden Resultate innerhalb der einzelnen Fächer. Am Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts begann man, diesen Ansatz auf die Geisteswissenschaften zu übertragen, wobei man freilich von Anfang an auf das Grundproblem stieß, dass in den Geisteswissenschaften die Rolle des jeweiligen Bearbeiters einer Fragestellung viel ausgeprägter ist als in den Natur- oder Ingenieurwissenschaften: Wenn zwei Naturwissenschaftler über dasselbe Problem arbeiten, wird man erwarten, dass, wenn die methodischen und sachlichen Vorgehensweisen übereinstimmen, wie zu erwarten ist, auch ziemlich identische Resultate erzielt werden, bei denen die persönliche Formulierung des jeweiligen Forschungsgangs keine große Bedeutung hat und fallweise auch durch Formeln ersetzt werden kann. Wenn aber zwei Geisteswissenschaftler dieselbe Fragestellung angehen, bedeutet das noch lange nicht, dass notwendigerweise mehr oder weniger übereinstimmende Ergebnisse erzielt werden – wenn es zu einem Schriftsteller einen Kommentar gibt, heißt das noch lange nicht, dass ein zweiter oder auch dritter Kommentar nicht sinnvoll wäre, und wenn mehrere Personen Arbeiten unter demselben Thema über die Charaktere oder über die sprachliche Gestalt oder über die metrischen Feinheiten der Tragödien des Sophokles schreiben, bedeutet das noch lange nicht, dass
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Parallelwerke entstehen, die sich gegenseitig überflüssig machen. Obwohl das so ist (und auch jeder weiß, dass das so ist), hat sich das Modell der themengebundenen Arbeitsgruppen in den letzten zwei Jahrzehnten in Deutschland vielfach durchgesetzt, und es sind in derartigen Kontexten durchaus beachtliche Ergebnisse erzielt worden, obwohl – oder vielleicht gerade weil – die Themen häufig, gelinde gesagt, vage formuliert zu sein pflegen, und obwohl nicht selten beachtliche rhetorische Kunstgriffe erforderlich sind, um die Gemeinsamkeiten der Ansätze und der Ergebnisse oder ihre innovativen Impulse für die einzelnen beteiligten Wissenschaften herauszustellen. Normalerweise bleiben aber die teilnehmenden Forscher den Methoden und Vorgehensweisen ihrer jeweiligen Disziplin verpflichtet; ein Fortschritt ist vor allem darin zu sehen, dass eine fachübergreifende Diskussion aufkommt, die vor allem von den Resultaten, selten von den Einzelschritten ausgeht. Hier ist eine neue Diskurskultur im Entstehen, die im positiven Fall aus Mosaiksteinchen der einzelwissenschaftlichen Ansätze ein überraschendes Gesamtbild entstehen lässt, im negativen Fall aber exakte Ergebnisse der speziellen Forschungen zu einem verwertbaren Teil des Gesamtkonzepts verwässert und Lösungen für Probleme bietet, die vor Etablierung des Forschungbereiches nie jemand gehabt hatte. Eine ganz andere Herangehensweise liegt in der “Altertumswissenschaft” vor, die programmatisch 1807 von Friedrich August Wolf als umfassender Ansatz zur Erforschung der Antike in allen ihren Aspekten gefordert wurde: “Wolfs Hauptverdienst liegt in der von ihm entwickelten Konzeption einer umfassenden, alle auf die alte Welt bezüglichen Einzeldisziplinen zu einer Einheit zusammenschließenden Altertumswissenschaft” (Vogt 1997, 125), wobei die Mittel zur Erfassung der Antike in der umfassenden Sammlung, Auswertung und Gewichtung aller erreichbaren Quellen zu sehen sind. “Doch nicht nur genaue Kenntnis soll erlangt werden, eigentliches Ziel ist die Vergegenwärtigung, die Verlebendigung der vergangenen Realität” (Riemer/Weißenberger/Zimmermann 2000, 38). Wie bei dem modernen Konzept der Forschergruppen kann auch mit der Altertumswissenschaft im Wolfschen Sinne das gemeinsame Dach gemeint sein, unter dem verschiedene Spezialisten zusammenarbeiten und ihre Ergebnisse austauschen (die Einrichtung universitärer Institute für Altertumskunde ist in diesem Kontext zu sehen). Normalerweise aber sollen einzelne Individuen, die Altertumswissenschaftler eben, sich darauf verstehen, bei ihren Forschungen die umfassende Altertumswissenschaft heranzuziehen und nicht in den Grenzen ihrer jeweiligen Spezialgebiete gefangen zu bleiben: Der Textkritiker soll also beispielsweise sprachliche und literarische Parallelen, etymologische Überlegungen, archäologische Evidenz, historische Befunde, numismatische Anhaltspunkte, papyrologische Bausteine usw. in seine Überlegungen zur Gestaltung des korrekten Wortlautes einbeziehen. Auch in diesem Konzept ist es natürlich klar, dass nicht jeder alles können kann und dass die conditio humana dem Wissensumfang der Individuen Grenzen setzt, so dass man immer wieder auf kollegialen Rat und auf Hilfe von außen angewiesen ist, aber prinzipiell ist vorauszusetzen, dass man mit den Fragestellungen, den Vorgehensweisen und Hilfsmitteln der Einzeldisziplinen vertraut
1. Papyrologie und Romanistik
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ist, einschlägige Basiswerke kennt und in der Lage ist, sich ein abgesichertes eigenes Urteil zu bilden. Konkret heißt das im Idealfall, das man im Studium mit allen Aspekten der Altertumswissenschaft in Berührung gekommen sein muss, so dass man in allen Bereichen urteilsfähig ist und sich auch bei Fragen außerhalb der eigenen Spezialisierung ein eigenes Bild verschaffen kann. Wohl kein Gebiet der Altertumskunde ist so angewiesen auf die Einbeziehung von Ergebnissen benachbarter Disziplinen wie die Papyrologie. Wenn man vor einem neuen Papyrus sitzt, der zweitausend Jahre unberührt unter dem Sand der Wüste gelegen hat, weiß man natürlich nicht, was daraufsteht – ein bekannter literarischer Text, ein unbekannter literarischer Text, Literatur aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. oder Literatur aus dem 8. Jahrhundert n. Chr., ein Bibeltext, ein theologischer Kommentar, ein kommentierter oder unkommentierter Gesetzestext, ein subliterarischer Text, ob Kochrezept oder Wörterbuch, ein dokumentarischer Text mit der Bandbreite vom Kaiseredikt über Privatbriefe, Eheverträge, Bankbelege und Aufstellungen von Soldaten mit ihren Aufgaben bis hin zum Schriftverkehr von frühen Klöstern. All das und noch viel mehr kommt vor, und der Papyrologe kann nicht sagen: “Das ist nicht mein Spezialgebiet, damit gebe ich mich nicht ab”; es gilt vielmehr, sich einzuarbeiten, denn das antike Material, der Papyrus, gibt die Richtung vor, und der moderne Bearbeiter muss sich darauf einstellen, dass nicht er selbst seine Thematik wählt. Natürlich ist das weniger der Fall, wenn es nicht um die Edition von Papyri, sondern um ihre Benutzung in Abhandlungen geht, aber auch dabei gilt es, in den verschiedenen Bereichen der Altertumswissenschaft kompetent tätig zu sein. Dass im deutschen universitären Alltag die Papyrologie, je nach Studienort, der Klassischen Philologie, der Alten Geschichte oder der Rechtshistorie zugerechnet wird, belegt die Verankerung des Faches im Schnittpunkt verschiedener Zweige der Altertumswissenschaft eindrucksvoll. 2. Lateinische Papyri Das Griechische ist die Sprache, in der die meisten Papyri aus der Antike abgefasst sind, obwohl es natürlich auch Stücke in den verschiedenen Schriftformen des Ägyptischen, in Hebräisch und Aramäisch, in Persisch und in Arabisch gibt (Rupprecht 1994, 12–13). Am Anfang des Jahres 2010 waren nach dem Heidelberger Gesamtverzeichnis der griechischen Papyrusurkunden Ägyptens 58.097 griechische Urkunden publiziert, es kommen 8709 literarische Texte hinzu (Leuven Data Bank), und mehrere Zehntausende unpublizierter Papyri liegen noch in den verschiedenen Sammlungen (Rupprecht 1994, 24). Demgegenüber ist die Zahl der lateinischen Papyri recht überschaubar, denn Ägypten gehörte zur Osthälfte des Reiches, in der sich die Römer meist des Griechischen als Amts-, Verwaltungs- und Verkehrssprache bedienten (Adams 2003, 634–637): 1958 kam Robert Cavenaile in seinem Corpus Papyrorum Latinarum, in dem er die damals publizierten lateinischen Papyri zusammenfassen wollte, auf 345 Nummern (+ 28 “papyrus bilingues”), heute nennt das Heidelberger Gesamtverzeichnis 1007
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Urkunden1, und die Zahl der (heidnischen) literarischen Texte erreicht 54 (+ 23 juristische Texte, Warmoeskerken 2007, 11–19). Anders ausgedrückt: Es liegen uns ganz grob gerechnet hundertmal mehr griechische als lateinische Papyri vor. Traditionellerweise betreut die griechische Papyrologie auch die wenigen lateinischen Papyri, und die Arbeitsmittel gelten grosso modo für beide Sprachen. Einer der Bereiche, für den die Auswertung der Papyri wirklich einen großen Schritt nach vorn mit sich brachte, ist die Analyse der Alltagssprache (oder zumindest einer schriftlichen Form, die der gesprochenen Alltagssprache nahe steht). Für das Griechische sind Pionierarbeiten von Karl Dieterich, Adolf Deißmann, Wilhelm Crönert oder Albert Thumb, die vor dem Ersten Weltkrieg erschienen, zu nennen (Kramer 1994), dann ist für die Zwischenkriegszeit auf die monumentale Grammatik von Edwin Mayser zu verweisen, und in der Nachkriegszeit sind praktisch alle Ansätze der Sprachwissenschaft auf die Papyri angewendet worden. Leider ist von der Grammatik, die Maysers Arbeit für die römische und byzantische Epoche fortführen sollte (Gignac 1976/1981), die so wichtige Syntax nicht erschienen. Entsprechende Arbeiten über die Sprache der lateinischen Papyri ließen – angesichts der wesentlich geringeren Materialmenge verständlicherweise – länger auf sich warten. Zunächst einmal waren Einführungen und Zusammenstellungen der Texte wichtig (Calderini 1945; Cavenaile 1958). Erst die 1951 erfolgte Publikation des Briefwechsels zwischen Claudius Terentianus und seinem Vater Claudius Tiberianus (P. Mich. VIII 467–472) führte zu Diskussionen um das der Umgangssprache nahe stehende Latein dieser Dokumente (Zeilenkommentar von H. C. Youtie und J. G. Winter in der Erstausgabe; Calderini 1951; Pighi 1964), die im sprachlichen Kommentar von James Noel Adams (1977) ihren Höhepunkt fanden. Die seither über die Briefsprache erschienenen Arbeiten sind im Kommentarband des Corpus Epistularum Latinarum (CEL) von Paolo Cugusi (1992; 2002) angezeigt und kommentiert, und eine neue Dissertation aus Helsinki (Halla-aho 2009) widmet sich einzig der Analyse der Sprachform der lateinischen Briefe. Nicht nur Papyri, sondern auch Ostraka (beschriftete Tonscherben) zeigen die schriftliche Verwendung des Lateinischen. Lateinische Ostraka aus dem militärischen Milieu sind am Mons Claudianus und an der Myos-Hormos-Straße (Krokodilô, Maximianon, Persou = Wâdi Fawâkhir) gefunden worden, und außerhalb Ägyptens in Masada (Israel) und in Bu-Njem (Libyen). Die Sprache der MyosHormos-Texte (hauptsächlich Briefe und Namenlisten) und ihr “Sitz im Leben” wurden von Jean-Luc Fournet (2003, 430–446) untersucht. Schreibtäfelchen (tabulae) aus geglättetem, geweißtem oder wachsbeschichtetem Holz sind in Ägypten nicht besonders häufig: “L’Egitto ce ne ha conservato un certo numero (ben poche, s’intende, a paragone dei papiri) contenenti contratti, certificati, dichiarazioni, documenti vari. Sono abbastanza frequentemente usate _________ 1 In ihrer Liste der lateinischen Dokumente kamen G. Bartoletti und I. Pescini (1995) auf 538 Nummern, aber erstens ist die Liste unzuverlässig (Dorandi 1996), und zweitens fehlen die literarischen Texte. Vgl. auch Cavenaile 1992.
1. Papyrologie und Romanistik
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da cittadini romani, per cui una buona parte di esse è scritta in latino” (Montevecchi 1973, 23). In holzreicheren Gegenden als in Nordafrika waren natürlich solche Täfelchen viel verbreiteter. Zufälle der Erhaltungsgeschichte haben dazu geführt, dass wir Täfelchen aus Rumänien, aus Ungarn, aus der Schweiz (tabulae Vindonissae) und vor allem aus Großbritannien besitzen, wo 1973 im Lager Vindolanda an der Nordgrenze des Reiches Hunderte von Täfelchen gefunden wurden. Die mustergültige Ausgabe dieser Dokumente (Tab. Vindol. I–III) gibt ausführlich Auskunft über diesen Texttyp; die Sprache wurde von J. N. Adams (1995) untersucht. 3. Lateinische Elemente in griechischen Papyri Aus den auf Latein geschriebenen Papyri, Ostraka und Täfelchen lassen sich natürlich viele Erkenntnisse über die Sprachform gewinnen, die ihre Verfasser in eine Schriftform umsetzten, aber es gibt eine Erkenntnisquelle, die uns in mancher Hinsicht noch eindeutigere Informationen liefert: die lateinischen Elemente, die sich aus griechischen Dokumenten gewinnen lassen. Hier geht es ja normalerweise nicht um einen Konflikt zwischen einer der Norm entsprechenden korrekten Form, die man in der Schule gelernt hat, und einer näher am alltäglichen Sprachgebrauch stehenden Form, also nicht um so etwas wie den Gegensatz zwischen speculum und speclum oder zwischen mensa und mesa, sondern darum, dass Schreibnormen überhaupt nicht existieren: Die Zeitgenossen mussten vielmehr versuchen, ein lateinisches Wort, das sie oft nur hörten und nicht geschrieben vor sich sahen, mit den Mitteln der griechischen Orthographie einigermaßen wiederzugeben. Die Veränderungen der Aussprache, die von der Zeitenwende bis zum Beginn des Mittelalters vorgefallen sind, beispielsweise der Zusammenfall des kurzen i und des langen e in ein geschlossenes e, lassen sich oft in den griechischen Adaptationen lateinischer Wörter besser verfolgen als in lateinischen Originalbezeugungen, und so finden wir Zeugnisse für Lautungen des gesprochenen Lateins, die sich in den romanischen Sprachen fortsetzen, oft weit früher in griechischen Papyruszeugnissen als in lateinischen Dokumenten. Noch wichtiger sind aber die Bezeugungen von Wörtern aus der lateinischen Umgangssprache, die in den romanischen Sprachen ihre Fortsetzung finden, in griechischen Belegen. Vielfach hat ja die fixierte lateinische Literatursprache die Verschriftung umgangssprachlicher oder sondersprachlicher Wörter aufgehalten oder verhindert, aber bei der Übernahme ins Griechische gab es diesen normsprachlichen Druck natürlich nicht: So fand der neue Ausdruck applictum ‘Militärlager’, der zum Verb applicare ‘vorrücken, lagern’ gebildet worden war, keinen Eingang in die lateinische Schriftsprache, aber er war im Militärjargon der römischen Soldaten geläufig und fand von da aus Eingang in die griechische Umgangssprache, die uns in den Papyri belegt ist. Nicht selten hat sich bei der Übernahme von Wörtern aus fremden Sprachen, die sowohl ins Griechische als auch ins Lateinische eindrangen, die konservative Literatursprache gegen die neuen und also unklassischen Wörter gesperrt, während sie in alltagssprachlichen Belegen, wie sie in den Papyri vorliegen, Aufnah-
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me fanden. Die Berücksichtigung dieser Papyruszeugnisse kann oftmals helfen, die zeitliche Abfolge der Entlehnungen festzulegen und unterschiedliche Lehnwortstränge herauszustellen (z. B. καµάσιον / camisia oder σαφώνιον / sapo). Es gibt auch Fälle, in denen Wörter in griechischer Adaptation in Papyri belegt sind, die uns sonst nur in rekonstruierter Form, also als Rückprojektionen romanischer Wörter in ihre lateinische Ausgangsform, vorliegen. Das gilt beispielsweise für βασκαύλης, das die Vorgeschichte französischer regionalsprachlicher Wörter des Typs bachole zu erhellen vermag, oder für τριχία, das französisch tresse und italienisch treccia erklärt. Für das Auftreten neuer Bedeutungen bieten die Papyri oft die frühesten Zeugnisse oder treten zumindest anderen frühen Zeugnissen stützend zur Seite: Als Bestandteil der christlichen Sondersprache tritt κοιµητήριον für ‘Begräbnisstätte, Friedhof’ auf, φοσσᾶτον wird zum normalen Wort für ‘Lager’ und ‘Heer’, σκάλη bezeichnet die ‘Schiffsanlegestelle’. Es ist auch daran zu erinnern, dass Gegebenheiten des täglichen Lebens der Antike oft nur in ihren Spiegelungen in Papyrusbelegen greifbar werden. Die Notwendigkeit, die traditionelle Kleidung durch Neuerungen meist fremder Herkunft zu modernisieren, lässt sich an Wörtern wie καµάσιον oder καρακάλλιον erkennen, die Ess- und Trinkgewohnheiten haben sich in κονδῖτος, σπανέλαιον oder τράγηµα niedergeschlagen, und Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs wie ein κράβατος oder ein πουγγίον, sogar Musikinstrumente wie der συµφωνία benannte Dudelsack finden ihr Umfeld erst durch die Bezeugungen in den Papyri. In manchen Fällen sind ähnlich lautende lateinische und griechische Wörter in der Antike ein solches Amalgam eingegangen, dass man nur die konstituierenden Bestandteile zu beschreiben vermag, nicht aber wirklich eine Trennung in zwei getrennte Wortgeschichten vornehmen kann: Das gilt beispielsweise für sica, sicarius und σικάριος oder bei erogare und ῥόγα. 4. Papyri als Informationsquelle der Romanistik In der Geschichte der Romanistik hat man nur sehr selten auf die griechischen Papyri als Informationsquelle für Erscheinungsformen des Lateinischen zurückgegriffen, die für die Frühgeschichte der romanischen Idiome vor der Trennung in Einzelsprachen wichtig sein könnten. Als bemerkenswerte Ausnahme von dieser Grundtendenz sind hier einige Arbeiten von Renée und Henry Kahane zu nennen. Zweimal haben sie Aufsätze unter den klaren Titel “Egyptian Papyri as a Tool in Romance Etymology” gestellt (1979, 411–420; 577–594), einige ihrer Abhandlungen zum Weiterleben griechischer oder byzantinischer Wörter greifen ausführlich auf papyrologische Belege zurück, und in einem zusammenfassenden Beitrag haben sie die romanischen Wörter, für die sie auf papyrologische Bezeugungen zurückgreifen, unter dem Titel “The Role of the Papyri in Etymological Reconstruction” zusammengestellt (1979, 613–626). Hier seien die 20 Wörter kommentarlos genannt: torta ‘Torte’ < τουρτίον, bernicarium ‘Glasbehälter’ < βερ(ε)νικάριον, *golfus ‘Golf’ < κόλφος, Dardanus ‘Durendal (Rolands Schwert) < ξίφος Δαρδάνου, calamita ‘Magnet’ < κεραµίτης, pederotes ‘Halbedelstein’ < παιδέρως,
1. Papyrologie und Romanistik
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*cotrophium ‘Behälter’ < κότροφος < κρόταφος, *lanca ‘Flussbett’ < λάγκος, algalia ‘Katheter’ < ἀργαλεῖα (statt ἐργαλεῖα), sambatha < σάµβαθον, mozarab. feriwel ‘Mantel’ < περιβόλαιον, mozarab. corachón ‘Heilpflanze’ < κορίδιον, rom. turla ‘Turm, Kuppel’ < τοῦρλα < τροῦλλα, baneum ‘Bad’ zu βανιάτωρ, *calefactor ‘Heizer’ < καλαφάτης, calamarium ‘Federbehälter, Tintenfass’ < καλαµάριον, *codicum ‘Kodex, Buch’ < κώδικον, altfrz. Margariz ‘edler Sarazene’ < μαγαρίτης = arab. Muhādžirūn, frz. risque usw. ‘Risiko’ < ῥουζικόν, frz. amiral < ἀµιρᾶς. Natürlich kann man in dem einen oder anderen Fall abweichender Ansicht sein, und bei einigen Wörtern tragen die Papyrusbelege nur zur Stützung einer längst bekannten Etymologie bei – nicht das aber ist wichtig, sondern die methodologische Erkenntnis, dass die Gegebenheiten griechischer Papyri einen Baustein bei der Rekonstruktion der lateinischen Grundlage der romanischen Sprachen bilden. “The papyri can contribute in many and varied ways to etymological reconstruction. The total cultural background behind the papyri is, after all, far broader than the framework in which papyrological investigation usually operates. [...] Word histories illustrate the multiple benefits that can be derived from diachronic papyrological lexicology. [...] The papyri fulfill a methodological function in linguistic reconstruction since they reveal either the missing link in a grammatical chain or the underlying concept in a semantic string” (Kahane 1979, 613; 624). Die ersten Beiträge, in denen Renée und Henry Kahane die Nützlichkeit der griechischen Papyrologie für die romanische Etymologie unterstrichen haben, erschienen am Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Man kann freilich nicht behaupten, dass ihre Anregung auf einen besonders fruchtbaren Boden gefallen wäre: Weder in der Papyrologie noch in der Romanistik kam es zunächst zu weiteren Studien. Für die Romanisten blieb Papyrologie sozusagen ein Fremdwort, und die Papyrologen verstanden, getreu der Wortverwendung in juristischen Zusammenhängen, unter Romanistik zunächst einmal das Studium des römischen Rechts und nicht das Studium der aus dem Lateinischen erwachsenen Sprachen. Verständlich ist die geringe Resonanz der vom Ehepaar Kahane ausgehenden Initiative schon, denn um die Griechischkenntnisse der Romanisten war es noch nie wirklich gut bestellt, und die Papyrologen waren aus ihrer Fachtradition gewohnt, in ihren Forschungen nicht über die Zeitengrenze zwischen Antike und Mittelalter hinauszugehen. Zudem stellen in beiden Fächern die historische Lautlehre und die Wortgeschichte Spezialgebiete dar, die nach den sechziger Jahren kaum noch auf Jünger zählen durften. 5. Intentionen des vorliegenden Bandes Kommen wir zur Vorgeschichte des vorliegenden Bandes und zu seiner Zielsetzung! Anders als in vielen anderen Ländern gibt es in Deutschland kein EinFach-Studium, sondern man widmet sich mindestens zwei Fächern, die nicht notwendigerweise einen engen inneren Zusammenhang haben. So habe auch ich in den späten sechziger Jahren Klassische Philologie als Neigungsfach und Romanische Philologie als notwendiges Ergänzungsfach studiert; innerhalb des Haupt-
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Archiv für Papyrusforschung, Beiheft 30, 2010
faches habe ich mich bald auf Papyrologie spezialisiert und darin auch promoviert (Kramer 1972), natürlich mit dem (mündlichen) Nebenfach Romanistik. Nach dem Studium bin ich allerdings bei der Romanistik “gelandet”, und da stellte sich bald heraus, dass besonders für zwei Bereiche aus der vulgärlateinischen Vorgeschichte der romanischen Sprachen das Zeugnis der griechischen Papyri hilfreich zu sein versprach, nämlich für die historische Lautlehre vor dem Beginn der Differenzierung in verschiedene Sprachen und für die Wortgeschichte. Im Laufe von fast vier Jahrzehnten sind in diesem Umfeld einige Abhandlungen entstanden, die über verschiedene, nicht immer leicht zugängliche Publikationen verstreut sind, die für unterschiedliche Leserkreise konzipiert waren und die zumindest insofern unter dem Zahn der Zeit litten, als die Forschung ja seit der Publikation weitergegangen ist. Ein einfacher unveränderter Nachdruck in der Form eines Sammelbandes verbot sich also von vorneherein, denn die Leserin und der Leser des Jahres 2010 erwarten ja aktuelle Informationen, die auf den jeweiligen Erwartungshorizont eines papyrologischen und romanistischen Publikums mit klassisch-philologischem Background eingestellt sind. Ich habe mich also dazu entschlossen, eine Auswahl aus meinen Aufsätzen zu treffen, die auf ein gemeinsames Interesse in der Papyrologie und in der Romanistik hoffen dürfen, diese Beiträge jedoch so zu überarbeiten, dass sie auf den heutigen Wissensstand gebracht sind und natürlich einem gemeinsamen redaktionellen Muster folgen. Der Band weist eine Gliederung auf, die zunächst die Stellung der Papyrologie im Kreise der verwandten Wissenschaften beleuchtet, dann einen antiken griechischlateinischen Sprachbund postuliert, weiter die Geschichte des Wortes papyrus in den europäischen Sprachen beschreibt, ferner die Zeugnisse der Papyri zur Aussprache des Lateinischen, sodann zwanzig Wortgeschichten und schließlich ein Beitrag zur Editionstechnik in der klassischen Philologie, der Papyrologie und der Romanistik. Um die Lesbarkeit zu steigern, wurden alle Beiträge mit gliedernden Zwischenüberschriften versehen, und das jeweils vorangestellte englische Abstract dient ebenfalls der schnellen Orientierung über den Inhalt. Griechischen und lateinischen Textstellen wurde normalerweise eine – hoffentlich klärende – Übersetzung beigegeben. Die Titel der Beiträge wurden teilweise abgeändert, um dem Sammelband ein einheitliches Aussehen zu geben, fremdsprachige Abhandlungen wurden ins Deutsche übersetzt, und einige Male wurden zwei verwandte Aufsätze zusammengefügt; die Übersicht am Schluss erlaubt ein Auffinden der Originalpublikation. Der Index der Namen und der Wörter am Ende des Bandes wird einige Zusammenhänge erschließen, die bei den erstmaligen Veröffentlichungen nicht unbedingt deutlich wurden. Natürlich ist die Zitierweise vereinheitlicht worden, und zwar nach dem heute in der Romanistik weitgehend üblichen System Autor–Jahreszahl–Seite, wobei die genaue Angabe in der Bibliographie am Ende des Bandes zu finden ist; antike Schriftsteller werden natürlich nach dem traditionellen System, also Autor (in abgekürzter Form)–Buch–Kapitel–Paragraph bzw. Autor–Buch–Vers, zitiert. Bei christlichen Autoren ist immer die Fundstelle in Mignes P(atrologia) G(raeca) bzw. P(atrologia) L(atina) angefügt, nicht weil die Texte zuverlässig wären (das
1. Papyrologie und Romanistik
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Gegenteil ist leider meistens der Fall), sondern weil sie für jedermann am leichtesten zugänglich sind. Ich hoffe, dass mit der vorliegenden Zusammenstellung von Beiträgen deutlich wird, wie sehr zwei äußerlich nicht besonders affine Fächer wie die Romanistik und die Papyrologie voneinander profitieren können. Die Grundvoraussetzung dafür scheint mir aber darin zu liegen, dass einschlägige Studien von Personen unternommen werden, die sich in der Methodik beider Fächer auskennen, denn man muss ja ein auf eigener Erfahrung beruhendes Gefühl dafür haben, was aus dem einen Fach für das andere Fach von Belang sein könnte und was nicht. Vor diesem Hintergrund ist die Bündelung der Erkenntnismöglichkeiten von Romanistik und Papyrologie eher dem alten Ansatz der individuellen Altertumskunde als dem modernen Ansatz der kollektiven Interdisziplinarität verpflichtet. Freilich sind interdisziplinäre Gedankengänge insofern vertreten, als ja auch Fragestellungen einzubeziehen sind, die weder romanistisch noch altertumskundlich sind, etwa ägyptologische, semitistische, germanistische oder slavistische Gesichtspunkte; hier muss man so interdisziplinär vorgehen, wie es sich in den letzten Jahrzehnten als sinnvoll erwiesen hat.
II. DIE PAPYROLOGIE UND DIE ANDEREN WISSENSCHAFTEN
2. Papyrologie: eine interdisziplinäre Altertumswissenschaft Abstract: This article analyses some basic problems of papyrological studies and links them with other disciplines: the preservation of ancient papyri, literary and documentary papyri, the importance of papyri for many aspects of ancient studies. Keywords: Papyrus preservation, literary and documentary papyri, interdisciplinary research
1. Papyri und andere Schriftträger in der Antike und im Mittelalter Bekanntlich kam das Papier als Schreibmaterial in Europa erst im Laufe des 12. Jh. auf: Es handelt sich um ein ursprünglich arabisches Produkt, das vom katalanischen Xàtiva, vom sizilianischen Palermo und vom ligurischen Genua aus seinen Siegeszug antrat. Vorher waren im mittelalterlichen Europa vor allem bearbeitete Tierhäute – Pergament – als Schreibmaterial üblich, die jedoch allein durch ihre Kostbarkeit jeden Gedanken an eine weite Verbreitung von Büchern illusorisch machen mussten, machten doch Bücher etwa den Gegenwert eines kleinen Bauernhofes aus, und Privatpersonen konnten sich die Anschaffung eines Buches nur leisten, wenn die Ausgabe gar nicht zu vermeiden war (Cavallo 1977, 227). So ist das Mittelalter schon aus rein materiellen Gründen eine Zeit der geringen Schriftlichkeit, eine Zeit, in der die große Mehrheit der Bevölkerung aus Analphabeten bestand und in der das Lesen und Schreiben eine nur von wenigen beherrschte Kunst war, die vor allem innerhalb von Klostermauern blühte. Das war jedoch in der Antike anders. Der durchschnittliche griechische und römische Mann konnte lesen und schreiben, und er tat es auch: “Schriftkenntnisse sind in weiten Teilen der Bevölkerung, also auch bei ‘einfachen Leuten’, anzutreffen (Busch 2002, 23). Eine wichtige Voraussetzung für einen hohen Alphabetisierungsgrad bestand darin, dass ein billiges und weit verbreitetes Schreibmaterial vorhanden war, das für jedermann leicht zugänglich war. In den feuchten Sumpfgebieten Ägyptens, vor allem im Nildelta, gab es eine Pflanze (Cyperus papyrus L.), aus deren Mark man durch Überkreuzlegen langer Streifen und anschließendes Pressen ein dünnes und geschmeidiges Material herstellte, dessen geglättete Oberfläche sich hervorragend zum Beschreiben mit Tinte oder ähnlichen Flüssigkeiten eignete (Rupprecht 1994, 3–7). In Ägypten hat die Herstellung dieses Schreibmaterials eine lange Tradition, die mindestens ins 3. Jahrtausend v. Chr. zurückreicht, und von Ägypten aus wurde es seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. in alle Länder exportiert, zu denen Handelsbeziehungen bestanden (Montevecchi 1973, 17-18). So war auch die Entstehung einer griechischen Literatur mit dem Vorhandensein des Schreibmaterials Papyrus verknüpft, wenn daneben auch immer die Verwendung von tierischen Beschreib-
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stoffen (Leder, Pergament) bekannt war und in seltenen Fällen auch praktiziert wurde. Während der ganzen griechisch-römischen Antike war jedenfalls Papyrus das normale, relativ preiswerte Schreibmaterial. Tierische Beschreibstoffe waren im Osten normaler als in Ägypten. “Eine allgemeine Bedeutung hat die Tierhaut aber erst erlangt, seitdem man in Pergamon ein Verfahren gefunden hatte, die an sich schon feineren Häute von Schafen, Ziegen und Kälbern zu einem zarten und glatten Beschreibstoff zu verarbeiten. Als Pergament hat es sich die Welt erobert, freilich nur langsam, denn Jahrhunderte lang blieb es der Verbreitung nach weit hinter dem Papyrus zurück. Außerhalb Ägyptens mag es etwas früher Raum gewonnen haben; in Ägypten kommt es nicht vor dem 2. Jh. n. Chr. vor, und erst im 4. Jh. n. Chr. beginnt es, als Buchmaterial ein Übergewicht zu erlangen; für Urkunden bevorzugte man noch Jahrhunderte lang den Papyrus” (Schubart 1918, 40). Festzuhalten bleibt, dass Pergament immer viel, viel teurer als Papyrus war. Aus welchen Gründen der Rückgang und schließlich das Ende der Papyrusproduktion erfolgte, wissen wir nicht mit absoluter Sicherheit. Die Araber eroberten 641 n. Chr. Ägypten und führten das Hadernpapier ein, das billig war und den Reiz des Importes seitens der neuen Herrscher hatte. Als Handelsware aus China kannten die Araber das Papier schon im 7. Jh., und “um 900 dürfte in Ägypten, und zwar zunächst bei Kairo, die Papierfabrikation eingeführt worden sein” (Santifaller 1953, 118). Zwar beherrschten zu Beginn der Araberherrschaft weiterhin Papyri den Markt, aber die Produktion begann zu stagnieren. Auch die Verbindungen mit Europa verschlechterten sich so drastisch, dass auch der Papyrusexport gegen Ende des 7. Jh. ganz aufhörte (Santifaller 1953, 28), wodurch natürlich ein Rückgang der Nachfrage einsetzte, der seinerseits zu einem Rückgang der Produktion führte. Schließlich scheint auch die Pflanze selbst immer seltener geworden zu sein (heute ist sie – von modernen Neupflanzungen abgesehen – in Ägypten ausgestorben), was sowohl mit Klimaverschiebungen als auch mit mangelnder Pflege der Plantagen zu erklären ist. Das handwerkliche Wissen um die Herstellung von Schriftträgern aus der Papyrusstaude ging schließlich ebenfalls zurück. Alles in allem können wir sagen, dass nach dem 11. Jh. keine Schriftträger aus der Papyruspflanze mehr hergestellt wurden. 2. Die Erhaltung der Papyri In einigen wenigen Ausnahmefällen sind beschriebene Papyri in europäischen Bibliotheken bis heute erhalten geblieben (Preisendanz 1933, 13-39; Santifaller 1954, 52–76). Besondere Bedeutung haben die Rechtsurkunden aus Ravenna, das ja in enger Verbindung zu Byzanz stand (Tjäder 1954 / 1955 / 1982). Normalerweise konnten sich Papyri jedoch in Europa nicht erhalten, weil sie im Vergleich zu Pergament als minderwertiges Material galten und weggeworfen wurden, wenn ihr Inhalt nicht mehr interessierte oder auf Pergament übertragen worden war. Außerhalb von Bibliotheken gingen sie wegen des Klimas zu Grunde. Die Hauptmasse der auf uns gekommenen Papyri haben im trockenen Sand Ägyptens die Jahrhunderte überdauert. In den Ruinen antiker Siedlungen an den
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Rändern der Wüste, wo es praktisch nie regnet, haben sich Hunderttausende von Papyri erhalten können. Seit dem Ägyptenfeldzug Napoleons (1798–1801) und besonders seit dem Beginn systematischer Grabungen im Fayûm (1877) gelangten unaufhörlich große und kleine Papyrusfunde in den Besitz der Wissenschaft, und der Zustrom ist bis heute zwar spärlicher geworden, aber keineswegs abgerissen. Die Menge der außerhalb Ägyptens ebenfalls in trockenem Ambiente gefundenen Papyri ist vergleichsweise bescheiden: Wir kennen größere Funde aus dem heutigen Israel, aus Jordanien, aus Syrien, aus dem Irak und sogar aus Kurdistan (Rupprecht 1994, 8–10). Eine besondere Rolle nehmen die verkohlten literarischen Texte ein, die seit 1752 unter der Lava des Vesuv-Ausbruches von 79 n. Chr. in Herculaneum (Ercolano) gefunden wurden. Diese Papyri haben uns wichtige Schriften aus der Schule des griechischen Philosophen Epikur (341–270 v. Chr.) wiedergeschenkt, die vor allem von Philodem, der bei Caesars Schwiegervater L. Calpurnius Piso “Hausphilosoph” war, verfasst sind (Gigante 1983; 1995). Ein verkohlter Papyrus mit einem Kosmogonie-Kommentar wurde 1962 in einem Grab in Derveni beim griechischen Thessaloniki gefunden (Kouremenos / Parássoglou / Tsantsanoglou 2006; Laks / Most 2008). 3. Literarische und dokumentarische Papyri Welche Texte sind nun auf uns gekommen? Es gilt zunächst einen fundamentalen Unterschied zwischen literarischen und dokumentarischen Papyri zu machen. Literarische Papyri sind alle Papyri mit Texten, die zur Publikation bestimmt waren und in erster Linie der Unterhaltung, Erbauung und Belehrung der Leser dienen sollten, mit anderen Worten Literatur im antiken Sinne beinhalteten, was ja anders als in der Moderne auch Geschichtswerke, Kochbücher, Briefsteller, Lehrbücher vom Ackerbau bis zur Liebeskunst umfasste. Als dokumentarische Papyri werden alle Papyri bezeichnet, die im weitesten Sinne einen urkundlichen Zweck verfolgten, also z. B. Regierungserlasse, Steuererklärungen, Geburts- und Todesanzeigen, Eheverträge, Testamente, Adoptionen, Arbeitsverträge, Leihverträge, Vermietungen, Verkäufe, Einladungen, Privatbriefe usw. usw. Die Grenze zwischen beiden Gebieten ist natürlich nicht immer scharf zu ziehen: So gehört z. B. der Text einer Rede zu den dokumentarischen Papyri, sofern sie wirklich gehalten wurde, jedoch zu den literarischen Papyri, sofern es sich um eine freie künstlerische Ausgestaltung handelt, die möglicherweise mit der tatsächlich gehaltenen Rede nur lockere Beziehung hat und nur dazu dienen sollte, einem Geschichtswerk einen literarischen Höhepunkt zu geben. Besonders schwierig ist die Abgrenzung in Bereichen, die von orientalischen Kulturen beeinflusst sind, wo eine scharfe Trennung zwischen Literarischem und Dokumentarischem, wie sie im griechisch-römischen Bereich möglich ist, nur andeutungsweise vorgegeben ist. 4. Literarische Papyri Mit einigem Recht kann man die Beschäftigung mit literarischen Papyri als einen Sonderfall der Editionstechnik bezeichnen: Wer einen Papyrus herausgibt, der ein
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literarisches Werk enthält, tut im Wesentlichen nichts anderes als der Editor eines Werkes, das in einer mittelalterlichen Handschrift auf uns gekommen ist. Natürlich bietet die Paläographie, also die Wissenschaft von der Form der Buchstaben, besondere Probleme, und natürlich wird die Edition eines Papyrustextes dadurch komplizierter, dass der meist schlechte und lückenhafte Erhaltungszustand in viel stärkerem Maße, als das bei mittelalterlichen Handschriften der Fall ist, zu Ergänzungen beschädigter Buchstaben oder sogar Wörter, manchmal sogar ganzer Satzteile, herausfordert, aber prinzipiell wird von dem Editor eines literarischen Papyrus dasselbe erwartet wie vom Herausgeber eines in einer mittelalterlichen Handschrift erhaltenen Textes, nämlich Transkription, Worttrennung, Akzentuierung, Zeichensetzung, Satzgliederung, sprachliche und sachliche Erklärung, Übersetzung, Heranziehung von Parallelstellen, möglicherweise Vergleich mit anderen Exemplaren desselben Textes, sofern es solche gibt. Die literarische Papyrologie hat innerhalb der Editionstechnik die engsten Beziehungen zur Kodikologie (Handschriftenkunde) und zur Paläographie. An dieser Stelle seien einige bedeutende Werke der griechischen Literatur genannt, die wir nur dank der Papyrusfunde kennen. Von Menander (342–292 v. Chr.), dem bedeutendsten Autor der Neuen Komödie, deren Handlung im bürgerlichen Milieu Athens angesiedelt war, kennen wir jetzt einige Komödien (z. B. Samia bzw. Das Mädchen aus Samos, Dyskolos bzw. Der Menschenfeind, Epitrepontes bzw. Das Schiedsgericht) fast vollständig und müssen uns nicht mehr auf die Bearbeitungen römischer Autoren wie Plautus oder Terenz verlassen, um uns ein Urteil über diese späte Blüte der griechischen Komödie zu bilden. Man kann das Bedauern Goethes, “dass wir so wenig von Menander besitzen” (Gespräch mit Eckermann vom 12. Mai 1825), gut verstehen und nur bedauern, dass er die sensationellen Papyri nicht mehr hat kennenlernen können. Es gibt auch eine neue Gattung, die uns durch die Papyri erschlossen wurde, nämlich die Mimiamben, Rezitationsszenen aus dem Alltagsleben mit oft derb-realistischen Elementen: Eine Papyrusrolle hat uns Mimiamben von Hero(n)das, gestorben um 270 v. Chr., zugänglich gemacht (Μανδιλαράς 1986; Zanker 2009). Aus der archaischen Epik sind besonders die Reste des berühmten “Frauenkatalogs” von Hesiod (um 700 v. Chr.) zu nennen, wo es um sterbliche Frauen geht, die durch die Zuwendung der Götter zu Müttern von Heroen wurden (Merkelbach / West 1967). Ein Werk des Aristoteles (384-322 v. Chr.), die “Verfassung von Athen”, gewährt uns bislang ungeahnte Einblicke in die staatsrechtlichen Verhältnisse einer griechischen Polis und erhält zugleich viele poetische Fragmente des athenischen Staatsmannes Solon (640-560 v. Chr.). Wenn heute frühe Lyriker wie die Dichterin Sappho (um 600 v. Chr.) von der Insel Lesbos, die als erste die Liebe unter Frauen besungen hat, mehr als bloße Namen sind, so verdanken wir das umfangreichen Papyrusfunden (Bastianini / Casanova 2007). Auch die hellenistische Dichtung aus der Zeit nach dem Tode Alexanders des Großen ist uns erst durch Papyrusfunde zugänglich geworden: Von dem alexandrinischen Dichter Kallimachos (300–240 v. Chr.) kennen wir inzwischen größere Abschnitte (Kallimachos 2004), und am Anfang unseres Jahrhunderts wurden mehr als hundert bislang
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unbekannte Epigramme mit etwa 600 Versen von Poseidippos von Pella (3. Jh. v. Chr.) durch einen Mailänder Papyrus bekannt (Posidippo 2001). Abschnitte aus dem Werk eines der ersten griechischen Geographen, Artemidor von Ephesos (um 100 v. Chr.), sind ebenfalls im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends bekannt geworden (Gallazzi / Kramer / Settis 2008). Nicht zuletzt haben uns die Papyri Schriften aus der altkirchlichen Literatur erhalten, die von der orthodoxen Lehre als ketzerisch verurteilt wurden und daher auf dem normalen handschriftlichen Weg nicht durch das Mittelalter gekommen sind: Genannt seien hier der größte Philologe der Alten Kirche, Origenes von Alexandria (185–254), von dem einige polemische Schriften erhalten sind, und vor allem sein Anhänger Didymos der Blinde von Alexandria (313–398), von dem mehrere fast komplette Kommentare zu Bibelbüchern (Genesis, Hiob, Ecclesiastes, Zacharias) 1942 in Tura bei Kairo gefunden wurden (B. Kramer 1995). Lateinische Papyri sind insgesamt selten, weil Ägypten zur griechischsprachigen Osthälfte des römischen Reiches gehörte, aber immerhin sind von dem ersten römischen Elegiker (und ersten Präfekten Ägyptens), Gallus, den Augustus zum Selbstmord trieb, acht Verse im nördlichen Sudan gefunden worden (Capasso 2003). Wenn auch Funde sonst nicht überlieferter antiker Werke insgesamt den höchsten Stellenwert in der literarischen Papyrologie einnehmen, so sind doch auch die Fragmente schon bekannter Werke wichtig, denn sie ermöglichen ja eine weitaus zuverlässigere Textherstellung als die mittelalterlichen Handschriften, stehen sie doch oft um mehr als tausend Jahre näher an der Abfassungszeit des Originals (Turner 1980, 125–126). 5. Dokumentarische Papyri Die dokumentarische Papyrologie verschafft uns einen Einblick in das Alltagsleben der Antike, wie er sonst kaum möglich ist. Über die Gesellschaft, die Wirtschaft und das Rechtsleben Ägyptens sind wir in einem Maße informiert, wie man es für andere Gebiete – auch für die Zentren Rom und Athen – kaum erträumen kann, und die Menge der Ortsnamen (Calderini 1935-2006) und der Personennamen (Peremans / Van ’t Dak 1950–1981), die wir kennen, findet nirgendwo sonst eine Parallele. Das Privatleben tritt uns am deutlichsten in den Briefen vor Augen. Alltagsprobleme sind in spontaner Form dargestellt, oft in einer Sprache, die zeigt, dass wir es mit Leuten zu tun haben, denen das Schreiben eine ungewohnte Tätigkeit war, denn die Orthographie stellt an unsere Kombinationsfähigkeit oft hohe Ansprüche. Zuweilen haben wir sogar das Glück, Korrespondenz über einen längeren Zeitabschnitt verfolgen zu können. Auswahlbände erleichtern den Zugang zu den Papyrusbriefen (Schubart 1911; Ghedini 1923; Tibiletti 1979; Trapp 2003). Diese erlauben uns auch den einen oder anderen Blick in die Welt der Frauen (Bagnall / Cribiore 2006), die uns sonst kaum zugänglich ist. Die Bürokratie hatte bereits im pharaonischen Ägypten einen beachtlichen Stand erreicht, wurde im ptolemäischen Ägypten weiter ausgebaut und kam im römischen Ägypten zu einer Perfektion, wie sie seither am Nil nicht wieder er-
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reicht wurde. Daher ist es nicht erstaunlich, wenn uns die Papyri in reicher Fülle Geburts- und Todesanzeigen, Heiratsvereinbarungen, Kauf- und Mietverträge, Rechnungen, Quittungen, Testamente und Schenkungsurkunden überliefert haben, denn erst die schriftliche Festlegung bewirkte ja Rechtsgültigkeit. Diese Dokumente, die das Alltagsleben betreffen, erlauben uns eine recht detaillierte Erforschung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse (Lewis 1999; 2001; Bagnall 1993). Natürlich finden sich aber auch Dokumente aus der staatlichen Verwaltung. Manche kaiserlichen Dekrete aus Rom und Erlasse des Praefectus Aegypti, der als Stellvertreter des Kaisers und römischer Gouverneur im Lande am Nil fungierte, sind uns nur durch die Papyri erhalten. Für die Beamtenhierarchie steht uns von der höchsten bis zur lokalen Ebene ein differenziertes Aktenmaterial zur Verfügung: Edikte, Gerichtsjournale, Schutzbriefe, Eingaben, Steuerakten, Katasterbücher, Haftbefehle, Anklagen, Verteidigungsschriften – nichts, was eine Bürokratie kennzeichnet, fehlt. Auswahlbände (meist mit Übersetzung) erlauben dem Anfänger einen Einblick in die Welt der dokumentarischen Papyri. Genannt seien Helbing 1924; Hunt / Edgar 1932 / 1934; David / van Groningen 1965; Hengstl 1978; Pestman 1994. Wichtiger noch als die Einzelstücke, deren Edition und Kommentierung in sich schwierig genug ist, sind Papyri, die in enger Verbindung stehen, so dass sie uns einen Zusammenhang erschließen. So können wir durch Stücke, die an einem Ort gefunden wurden, so etwas wie eine Lokalgeschichte und –soziologie schreiben, was beispielsweise für Oxyrhynchos (Parsons 2007), Soknopaiu Nesos (Jördens 1998), Tebtynis (Lippert 2005) oder Philadelphia (Schubert 2007) gilt. Zuweilen haben wir auch das Glück, mehr oder weniger vollständige Archive zu besitzen, die es uns erlauben, die Geschichte einer Person oder einer Familie über Jahre oder Jahrzehnte verfolgen zu können. Berühmt geworden ist das Archiv des griechischen Managers Zenon (285–229 v. Chr.), das 1710 publizierte und zahlreiche unpublizierte Papyri umfasst (erste Information: Clarysse / Vandorpe 1990), aber auch andere Archive bieten viel Material, etwa das Archiv des Aurelius Sakaon (Parássoglou 1978), des Sarapion (Schwartz 1961) oder des Dryton (Vandorpe 2002). Die Dokumente geben auch einen Aufschluss darüber, in welchem Maße verschiedene Kulturen und Sprachen in Ägypten aufeinanderstießen und zusammenlebten. Auch von den einzelnen Personen wird nicht in jedem Falle nur eine einzige Sprache verwendet: Dasselbe Archiv kann ägyptische (demotische) und griechische Dokumente enthalten, und wir finden durchaus zweisprachige Urkunden (zunächst demotisch-griechisch, dann griechisch-lateinisch, später koptischgriechisch). Es gab offenbar auch das Bedürfnis, fremde Sprachen zu lernen. Aus dem 3. Jh. v. Chr. kennen wir eine griechisch-ägyptische Wörterliste (Quecke 1997), in der die ägyptischen Wörter in griechischer Schrift wiedergegeben sind, aus der Kaiserzeit gibt es griechisch-lateinische Glossare (Kramer 1983 und 2001), später wurden griechisch-koptische Wörterlisten üblich (Hasitzka 1990, 181–213). Sogar
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ein dreisprachiges Gesprächsbuch gibt dieselben Sequenzen in lateinischer, griechischer und koptischer Sprache wieder (Kramer 1983, 97–108 und 2010). Aus dem bisher Gesagten wird bereits deutlich, dass die Papyri eine Menge Material bieten, das für die verschiedensten Zweige der Wissenschaft interessant sein kann. Zunächst einmal ist natürlich die Konservierung, Restaurierung, Lesung, Ergänzung, Übersetzung, Erklärung und Auswertung der Papyri Aufgabe einer Spezialdisziplin, die sich in Deutschland zunächst Papyruskunde nannte, nach dem Zweiten Weltkrieg aber wie in anderen Sprachen als Papyrologie bezeichnet wird. An den Universitäten ist diese Disziplin freilich nur in den seltensten Fällen mit eigenen Professuren vertreten (derzeit in Deutschland in Heidelberg, Köln und Trier; in Italien gibt es hingegen um die zwanzig Professuren). Der Normalfall ist darin zu sehen, dass die Papyrologie unter dem Dach einer benachbarten Wissenschaft, normalerweise der Klassischen Philologie oder der Alten Geschichte, betrieben wird. Es ist eine Situation, die beispielsweise der Lage in der Allgemeinen Literaturwissenschaft vergleichbar ist, wo ja auch eigene Professuren die Ausnahme sind, während in der Regel die Fragen dieses Faches im Rahmen der Nationalphilologien behandelt werden. 6. Die Bedeutung der Papyrologie für verschiedene Fächer Welche Fächer sind es nun, die von der Beschäftigung mit den Papyri Nutzen ziehen können? Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass mehrere Sprachen betroffen sind. Weil die Papyri, die zunächst die meiste Aufmerksamkeit erregten, in Griechisch abgefasst sind, neigte man anfänglich dazu, unter Papyruskunde / Papyrologie nur die Beschäftigung mit den griechischen Papyri zu verstehen (die wenigen lateinischen Papyri wurden stillschweigend mit einbezogen) und unter Umständen sogar die literarischen Papyri (als Sonderfall der Überlieferung) auszuklammern (so Wilcken 1912, XI). Heute herrscht aber eher die Tendenz vor, dass der Gegenstand der Papyrologie die Erforschung aller auf Papyrus erhaltenen Schriftzeugnisse ist, unabhängig vom Inhalt (dokumentarisch, literarisch) und unabhängig von der Sprache. Somit sind die Papyri von Interesse für die Ägyptologie (hieratische, demotische und koptische Texte), die Altafrikanistik (nubische Texte), die Altorientalistik (syrische und altpersische Texte), die Semitistik (hebräische und aramäische Texte), die Arabistik und schließlich die Klassische Philologie (griechische und lateinische Texte). Traditionellerweise ist die griechische (und lateinische) Papyrologie das am häufigsten bearbeitete Gebiet (Montevecchi 1973; Rupprecht 1994); es folgt die Ägyptologie mit hieratischen und demotischen Papyri (Verzeichnis: Lexikon der Ägyptologie IV, 672–899) und die Koptologie (Hasitzka 1990/2004/2006); die Semitistik und die Arabistik (Khoury 1982; 1999) haben sich erst in letzter Zeit intensiver den Papyri zugewandt. Die Interessen der Philologen älterer Sprachstufen, die sich mit Papyrologie beschäftigten, sind natürlich von den üblichen Fachinteressen gelenkt: Es überwiegt eine literarhistorische Fragestellung, das heißt, man erwartet von den Papyri zunächst eine Bereicherung der Literatur durch Neufunde, dann eine Hilfestellung bei der Edition zuverlässiger Ausgaben schon bekannter Texte. In zweiter Linie
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liegt ein linguistischer Schwerpunkt vor, denn die Papyri sind eine reiche Quelle für sprachliche Erscheinungen, die sonst überhaupt nicht oder nur schwach bezeugt sind. Beinahe noch mehr als die Philologen interessieren sich die Historiker für die Papyri, allerdings vor allem für die dokumentarischen Papyri, wenn man einmal von Sonderfällen wie Aristoteles’ Verfassung von Athen absieht, die, obwohl sie ein literarisches Werk ist, vor allem für die Geschichtsforschung wichtig wurde. Normalerweise sind die Althistoriker gegenüber den Mediävisten und den Neuhistorikern dadurch im Nachteil, dass sie kaum direkte Archivarien zur Verfügung haben, denn gelegentliche Aktenzitate bei Geschichtsschreibern oder Rednern und die auf Langzeitwirkung abzielenden Inschriften sind ja kein wirklicher Ersatz für authentisches Material. Die Papyri vermögen hier zumindest für Ägypten etwas Abhilfe zu schaffen, denn ein Großteil der Dokumente stammt wirklich direkt aus den lokalen Amtsstuben. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ägyptens durch die Erkenntnisse aus den Papyri derart gut bearbeitet werden konnte, dass trotz der Sonderstellung des Landes am Nil einige Rückschlüsse auf andere Provinzen des römischen Reiches möglich sind. Die alte Geschichte setzt heute ihre Akzente ganz anders als vor hundert Jahren, und sie ist eher an Fragen des Sozialaufbaus der Gesellschaft als beispielsweise an Kriegsgeschichte interessiert. In diesem Kontext ist die Papyrologie zu einer unverzichtbaren Quellenwissenschaft geworden, und “Alltagsgeschichte” kann man heute nicht mehr ohne den Rückgriff auf Papyri betreiben. Eine erste Einführung in den Nutzen der Papyrologie für die Alte Geschichte bietet Bagnall 1995. Besonderes Interesse schenkt auch die Rechtsgeschichte der Papyrologie. Die alte Gleichung “antikes Recht = römisches Recht”, die schon immer falsch war und die ganze griechische Welt unberücksichtigt ließ, kann am leichtesten für Ägypten überwunden werden, wo wir in der Tat ganz hervorragende Einblicke in nichtstadtrömische Rechtsstrukturen erhalten. Inzwischen liegt eine Epoche machende Darstellung des Rechts der griechischen Papyri Ägyptens vor (Wolff 1978 und 2002), die allerdings durch das neue vierbändige Werk von Heinz Berta, von denen soeben der erste Band erschienen ist (2010), in einigen Punkten relativiert wird. Auch die Theologie ist in hohem Maße auf die Erkenntnisse der Papyrologie angewiesen, wobei zunächst zu bemerken ist, dass die Verwendung von Pergament, zusammenhängend mit der jüdischen Tradition, im kirchlichen Bereich stärker vertreten ist als sonst. Die ältesten Zeugnisse der Septuaginta, also der griechischen Fassung des Alten Testaments, auf Papyrus stammen aus den Qumran-Funden (Exodus, Leviticus, Numeri, Jeremias-Brief), ferner gibt es eine nahezu vollständige griechische Fassung des Daniel-Buches (Gronewald 1969; Hamm 1969; 1977). Die Überlieferung des Neuen Testaments setzt im 2. Jh. n. Chr. ein, mit einem Matthäus- und zwei Johannes-Fragmenten, die nach Meinung von Roger S. Bagnall (2009, 12–15) der zweiten Jahrhunderthälfte zuzuschreiben sind; “some twenty papyri” (Bagnall 2009, 16) müssen in die Jahre um den Wechsel
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vom zweiten zum dritten Jahrhundert datiert werden. Wir besitzen heute über einhundert Papyri, und ihre Zahl steigt ständig (Repertorium 1976; Liste der Septuaginta-Fragmente bei Montevecchi 1973, 296309; Liste der Fragmente des Neuen Testamentes: Montevecchi 1973, 309–322). Was den hebräischen und aramäischen Bibeltext anbetrifft, so liefern die Qumran-Funde mehr als hundert BibelFragmente aus allen Büchern abgesehen von Esther, freilich größtenteils in Pergament-Form. Aus Masada, das 73 n. Chr. von den Römern erobert wurde, stammt der hebräische Text des sonst nur griechisch überlieferten Buches Jesus Sirach. Der P. Nash aus dem 2./1. Jh. v. Chr., ein Einzelblatt mit dem Dekalog und dem audi, Israel, ist das älteste hebräische Bibel-Fragment. Neben den biblischen Zeugnissen ist auch das weite Feld der Apokrypha, also der nicht in den Kanon aufgenommenen Texte aus dem Umfeld des Neuen Testaments, in den griechischen Papyri gut vertreten (Montevecchi 1973, 323–325). Im koptischen Bereich ist gerade dieser Literaturzweig mit umfangreichen Funden belegt. Die ideologischen Streitigkeiten der Frühzeit der Alten Kirche haben in Glaubensbekenntnissen und Fragmenten aus Kirchenschriftstellern ihre Spuren hinterlassen (Repertorium 1995): So kennen wir, wie schon erwähnt, viele Schriften aus der später als ketzerisch verurteilten Schule des Origines von Alexandria nur durch Papyrusfunde, und eine lange Pascha-Predigt des Meliton von Sardes, der einer Richtung angehörte, die die Feier des Osterfestes an den jüdischen Festkalender anschließen wollte (quartadezimanische Praxis), ist durch vier Papyrusfunde fast vollständig erhalten (Méliton 1966). Die Auseinandersetzung des Christentums mit der ursprünglich persischen Religion der Manichäer, die von einem radikalen Gut-Böse-Gegensatz ausging und eine leibverachtende asketische Lebensweise einforderte, ist durch die Entdeckung einer griechisch geschriebenen Lebensbeschreibung des Mani, die in einem nur 3,8 x 4,5 cm großen Pergamentkodex aus Ägypten enthalten ist, in ein völlig neues Licht getaucht worden (Koenen / Römer 1988 und 1993). Auch aus dem Alltagsleben der christlichen Gemeinden Ägyptens sind zahlreiche Zeugnisse auf uns gekommen (Henner / Förster / Horak 1999. Das Entstehen des Mönchtums, die Ausbreitung des Klosterwesens und die wirtschaftlich-kulturellen Aktivitäten der Klöster können wir ebenfalls an den Papyrusfragmenten verfolgen (Barison 1938); wir sehen, wie sich das Bibliothekswesen langsam hinter Klostermauern zurückzieht (Froschauer / Römer 2008), und Papyruszeugnisse zeigen uns, dass es neben Klöstern anachoretischer (Einsiedlertum in der “Wüste”) und könobitischer (Zusammenleben in der Gemeinschaft der Mönche hinter Klostermauern) Ausrichtung auch Zwischenstufen gab, die durch stärkere Weltoffenheit gekennzeichnet sind und der Sekte der Melitianer zugerechnet werden (B. Kramer / Shelton 1987). Bisher wurden nur die Wissenschaften aufgezählt, die primär auf die Papyrologie angewiesen sind, pointierter gesagt, die in einigen ihrer Teilgebiete nicht ohne die Papyrologie auskommen. Daneben gibt es natürlich viele Disziplinen, die für konkrete Einzelfragen auf die Papyrologie zurückgreifen müssen. So liefern beispielsweise die sogenannten “Zauberpapyri” (Preisendanz 1973 / 1974; Daniel / Maltomini 1990 / 1992) der Ethnologie zahlreiche wichtige Frühbelege für Be-
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schwörungstechniken, die auch später an den verschiedensten Orten verbreitet waren. Die Kunstgeschichte muss sich für die (wenigen) illustrierten Papyri interessieren, die beispielsweise den einzigen direkten Einblick in die Technik der antiken Skizzenbücher und der Illustration von Sachbüchern ermöglichen (Horak 1992; Stückelberger 1994); die neu gefundenen Zeichnungen des ArtemidorPapyrus ermöglichen einen bisher ungeahnten Einblick in die Technik der antiken Skizzenbücher und liefern so einen wichtigen Beitrag zur antiken Kunstgeschichte (Gallazzi / Kramer / Settis 2008, 309-616). Die historische Geographie gewinnt zahlreiche topographische Angaben aus den Papyri, und neue Texte griechischer Geographen (wie die oben erwähnten neuen Abschnitte des Artemidor von Ephesos) ergänzen und korrigieren unser Bild der antiken Erdkunde, und langsam erlauben uns die Papyri auch, die Frühgeschichte der Kartographie klarer zu sehen (Gallazzi / Kramer / Settis 2008, 273–308). Für die Byzantinistik und die Neugriechische Philologie sind die papyrologischen Zeugnisse vor allem deswegen wichtig, weil die Entwicklung vom Alt- zum Mittel- und Neugriechischen durch ihre sprachlichen Belege, die ja häufig die nicht literarisch überschminkte Alltagssprache wiederspiegeln, bestens illustriert wird. Aber auch die Latinistik und die Romanistik können manchen Nutzen aus den Papyri ziehen: Nicht nur die direkten Belege in den relativ wenigen lateinischen Papyri, sondern auch die Latinismen in den vielen griechischen Papyri bieten Beispiele für die typischen Lautentwicklungen des Vulgärlateinischen, das ja die historische Basis der romanischen Sprachen darstellt, und die lateinisch-romanische Wortgeschichte kann in einigen Fällen durch Papyrusbelege näher an endgültige Lösungen herangeführt werden. So ist die Papyrologie in der Tat eine Wissenschaft, die mit vielen Disziplinen, die sich mit der Antike und ihrem Nachleben beschäftigen, verbunden ist und ihnen neues Material bietet, so wie sie natürlich auch anderes Material aus ihnen übernimmt. Die Papyrologie stellt also sozusagen ein ideales Arbeitsgebiet der Altertumswissenschaft dar, die am Schnittpunkt verschiedener Disziplinen liegt. Freilich verlangt die richtige Nutzung der Papyrologie eine beachtliche Vielseitigkeit, muss man sich doch ständig in neue Gebiete einarbeiten. Der modische Trend zu einer Kombination aus den Erkenntnissen immer weiter differenzierter Spezialgebiete, die man sich aus der Zusammenarbeit mehrerer Wissenschaftler erhofft, kann nur funktionieren, wenn man sich zumindest in den Grundansätzen einig ist. Die Papyrologie verlangt nun jedenfalls Sprachkenntnisse zumindest im Griechischen und Lateinischen, aber gerade in vielen der Nachbarwissenschaften (Geschichte, Geographie, Romanistik, um nur drei zu nennen) wird schon die Forderung nach einer gründlichen Kenntnis des Lateinischen als Zumutung empfunden, das Griechische ist in die Region der Exotika verbannt: Graeca sunt, non leguntur. Die historische Ausrichtung der Papyrologie ist evident, viele moderne Forschungsansätze sind aber sichtlich stolz darauf, historische Ansätze als großväterliche Vorgehensweisen zurückzudrängen. Die Papyrologie lebt von der Menge ihrer Einzelbelege, gerade die als positivistisch verunglimpfte “Mate-
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rialhuberei” wird aber von manchen modernen Forschern, die große Linien struktureller Entwicklungen erkennen wollen, abgelehnt. Trotz dieser ungünstigen äußeren Umstände zieht die Papyrologie, die eines der wenigen direkten Sichtfenster auf sonst unbeobachtbar bleibende Facetten des Alltagslebens eröffnet, immer wieder neue Interessenten in ihren Bann, welche die mit diesem Spezialgebiet der Altertumskunde verbundenen Mühen nicht scheuen, um so für die eigenen Forschungen in anderen Teilbereichen Nutzen zu erzielen.
3. Die Papyrologie als Erkenntnisquelle für die Romanistik Abstract: Papyrus testimonies, it is argued, are one of the principal sources for Vulgar Latin, the historical ancestor of the Romance languages. Latin words in Greek papyri constitute a precious clue to the form of spoken Latin, because they are not subject to the restrictive rules of written language. Some questions of historical phonetics and five interesting word histories are presented. Keywords: Vulgar Latin, Latinisms in Greek, historical phonetics
1. Quellen für das Vulgärlatein Das sogenannte Vulgärlatein, also die alltägliche Sprachform, die von allen Klassen der römischen Gesellschaft mit unendlich vielen Variationen gesprochen wurde, tritt uns nur hier und da in literarischen Werken und in anderen Sprachzeugnissen entgegen, weil die Normen der Schriftsprache zu streng waren, um die Verwendung von Vulgarismen zu erlauben (Tagliavini 1998, 160–164). Die Quellen, die gelegentlich dennoch Vulgärlateinisches durchscheinen lassen, sind wohlbekannt: Es handelt sich um Ausdrücke aus der gesprochenen Sprache in literarischen Werken, deren Autoren damit eine stilistische Wirkung erzielen wollten (Plautus, Petron, Kirchenschriftsteller) oder zu wenig Bildung besaßen, um den Forderungen der Norm gerecht zu werden (Egeria, Chiron, Apicius). Außerdem sprechen antike Grammatiker und Lexikographen nicht selten von Ausdrücken, die man vermeiden muss. Auch die Rechtsurkunden liefern trotz der Präsenz vieler feststehender Formeln oft Wendungen, die sich an der Volkssprache orientieren. Alle diese Quellen haben allerdings den Nachteil, dass sie nicht als antike Autographen auf uns gekommen sind, sondern in Abschriften, die Jahrhunderte später niedergeschrieben wurden. Unglücklicherweise hatten die Schreiber die Gewohnheit, in die sprachliche Form, besonders in die Graphie, einzugreifen. Wir können also nie sicher sein, ob eine uns vorliegende Form ein sprachliches Faktum des Altertums widerspiegelt oder einfach einen banalen Irrtum eines mittelalterlichen Kopisten darstellt. Man weiß also nie, ob wir in einer Schreibung Vulgärlateinisches oder Mittelalterliches vor uns haben, denn wir sind auf die kleinsten Abweichungen von der Regel angewiesen, um daraus Schlüsse ziehen zu können. So sind alle Zeugnisse, die direkt, ohne mittelalterliche Vermittlung, in die Antike zurückreichen, von größtem Wert. Das sind natürlich in erster Linie die Inschriften (Diehl 1910), vor allem die von Leuten mit geringer Bildung geschriebenen Graffiti, die man auf den Hauswänden von Pompei findet (Väänänen
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1959). Die Forschungen zum Vulgärlatein bedienen sich selbstverständlich seit langer Zeit dieser wertvollen Quellen (Herman 1990, 10–49). 2. Papyri als Quelle für das Vulgärlatein Die einzige andere Quelle, die im Original auf uns gekommen ist, nämlich die Papyri, die sich im Sande Ägyptens gefunden haben, sind leider bislang nur in geringem Ausmaß für sprachliche Untersuchungen im Umfeld des Vulgärlateinischen herangezogen worden. Unter den Romanisten waren es einzig Renée und Henry Kahane (1979, 373–380; 411–420; 535–538; 613–626), die sich dieses wertvollen Materials bedient haben, um erste Bezeugungen der Vorstufen romanischer Wörter zu belegen. Weitergehende Untersuchungen, etwa zur Phonetik oder zur Morphologie, wurden nicht unternommen. Wenn man die traditionelle Unterteilung in literarische und dokumentarische Papyri zu Grunde legt, so sind aus linguistischen Gesichtspunkten die dokumentarischen Papyri bei weitem interessanter, schon weil deren Sprache im Moment der Abfassung des Textes die Alltagsaktualität widerspiegelte, während literarische Texte nur die künstlerischen Absichten eines Autors vergangener Epochen erkennen lassen. So informiert uns ein dokumentarischer Papyrus des sechsten Jahrhunderts über die Sprachform des sechsten Jahrhunderts, während ein literarischer Text derselben Zeit, der einen Homertext enthält, uns eine Sprachstufe bietet, die zur Zeit der Niederschrift weit mehr als ein Jahrtausend zurücklag. Sehr schön wäre es, wenn uns eine große Menge lateinischer dokumentarischer Papyri zur Verfügung stünde. Das ist leider nicht der Fall: Am Ende der fünfziger Jahre konnten sämtliche lateinischen Papyri in einem nicht allzu dicken Band Platz finden (Cavenaile 1958), und heute würde man vielleicht einen zweiten Band, aber nicht mehr, nötig haben. Ägypten gehörte zur östlichen Hälfte des Römischen Reiches, wo das Griechische die Rolle der Kultur- und weitgehend auch der Amtssprache erfüllte; das Lateinische beschränkte sich auf Leute westlicher Herkunft, auf Händler und auf Soldaten. Es gab bestimmte Typen von Dokumenten, die in Latein geschrieben sein mussten (Fewster 2002; Adams 2003, 527–622). Eine besonders wichtige Quelle stellen die Briefe dar, die immerhin in einer neueren Sammlung in ihrer Gesamtheit greifbar sind (Cugusi 1992 und 2002). In diesem Kontext ist es James Noël Adams (1977) gelungen, mit Hilfe der lateinischen Briefe des Soldaten Claudius Terentianus geradezu eine fast komplette Laut- und Formenlehre des Vulgärlateinischen zu erstellen. Jedoch können auch die griechischen Papyri zum Studium des gesprochenen Lateins beitragen, weil der Wortschatz der Dokumente zahlreiche Latinismen aufweist (Daris 1991; Lex. Lat. Lehn. 1996 und 2000). Diese Wörter sind vielfach nicht Buchstabe für Buchstabe nach einem festen Schema translitteriert, wie es in der Literatur üblich ist, sondern sie können auch nach der Aussprache der wenigen Lateinsprecher, die es in Ägypten gab, niedergeschrieben sein, und da diese meist ungebildeten Leute wenig Beziehung zur Normsprache hatten, finden wir in der Graphie der Latinismen der griechischen Dokumente nicht selten Spuren des Vulgärlateins. Man muss natürlich, sofern das überhaupt möglich ist, zwischen laut-
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lichen Tendenzen des Griechischen und solchen des Lateinischen unterscheiden: So ist der Wechsel zwischen ε und η ein griechisches Phänomen, der zwischen ε und ι ist eine Erscheinung des Lateinischen; die Ersetzung von αι durch ε bzw. von ε durch αι ist hingegen ein Vorgang, der sowohl auf eine griechische wie auf eine parallele lateinische Lautentwicklung hinweist. Eine besondere Stellung nehmen die sogenannten zweisprachigen Glossare ein. Es handelt sich um Listen von griechischen Wörtern oder Sätzen, neben die eine lateinische Parallelübersetzung gestellt wurde. Von den 24 einschlägigen Texten (Kramer 1983; 2001) sind 13 auch im lateinischen Teil mit griechischen Buchstaben geschrieben, was uns natürlich manchmal die Möglichkeit gibt, lateinische Lautentwicklungen beobachten zu können. 3. Papyrologische Zeugnisse zur Aussprache des Lateinischen Die meisten Erkenntnisse liefern uns die griechischen Dokumente und die Glossare bezüglich der Aussprache des Lateinischen. Wie man weiß, ist eine der wichtigsten lautlichen Entwicklungen des Lateinischen, die Palatalisierung von c und g vor e und i, schlecht bezeugt, weil sich die Aussprache änderte, aber die Schreibung (normalerweise bis heute) beibehalten wurde. Die Graphie λαγχιάριος statt lanceārius (P. Panop. Beatty 2, 260; 286; 301 [4. Jh.]) könnte immerhin auf den Beginn der Palatalisierung hinweisen. Ein Glossar des 6. Jh., in dem die lateinischen Wörter mit lateinischen Buchstaben geschrieben sind, bietet eine Verschreibung, die darauf hindeuten, das im Inlaut -c- einer Assibilierung unterlagen: C. Gloss. Biling. I 4, H 97 edasitas (für ēdacitās). In demselben Glossar kommt auch der umgekehrte Fehler vor, dass trangit statt trānsit geschrieben wurde (C. Gloss. Biling. I 4, W 73); hier hat ein Korrektor aber den Fehler bemerkt und ein kleines s über das g geschrieben. Die Unsicherheit, ob Konsonanten einfach oder doppelt geschrieben werden mussten, kennzeichnet alle Papyri, obwohl man hier nicht entscheiden kann, ob sich darin eine griechische oder eine lateinische Lautentwicklung widerspiegelt: Aus der großen Zahl der Fälle seien nur βίλα = uīlla (C. Gloss. Biling. I 13, 17 [4. Jh.]), Σηρηνίλα = Serēnilla (O. Oslo 26, 6 [4./5. Jh.]), γάλος = gallus (P. Giss. 93, 11 [2. Jh.]) genannt. Der Ausfall des -n- vor folgendem -s-, der von den frühesten Zeugnissen des Lateinischen an bezeugt ist (ursprünglich Reduktion des n unter leichter Nasalierung des vorangehenden Vokals, seit dem 1. Jh. v. Chr. völliger n-Verlust in der Aussprache, vgl. Sommer / Pfister 1977, 183 = § 136, 2b), begegnet in den griechischen Papyri häufig: µήσυλα = mēnsula (BGU III 781, IV 10; V 6 [2. Jh.]), µήσωριον = mēnsōrium (SPP XX 151, 3.14 [4. Jh.]), Κοσταντῖνος = Cōnstantīnus (PSI VIII 893, 1 [4. Jh.]). Es gibt allerdings auch Wörter mit -ns-, in denen das -nfast nie schwindet, z. B. κῆνσος = cēnsus (vielleicht, um eine mögliche Verwechselung mit caesus auszuschließen), das nur einmal als κῆσος (SB I 5356, 6 [311]) auftritt. Die schwache Artikulation des -n- vor Okklusiva (Väänänen 1988, 122 = § 119) schlägt sich ebenfalls in einigen Latinismen der griechischen Papyri
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nieder: οὐίδικτα = uindicta (BGU V 1210, 64 [2. Jh.]), νούϊτιας = nuntiās (C. Gloss. Biling. I 15, 77 [5. Jh.]), Σεκοῦδα = Secunda (SB I 4252, 4 [2. Jh.]). Der Wechsel zwischen stimmhaften und stimmlosen Okklusiva ist häufig: 1. β- = p-: βατέλλα = patella (P. Oxy. IV 741, 18 [2. Jh.]; XIV 2423, IV 15 [2./3. Jh.]; P. Ryl. IV 633, 387 [4. Jh.]; PSI XIV 1447, 4 [5. Jh.] βατελλίκιον; P. Oxy. XVI 1901, 34.68 [6. Jh.] βατελλίκιον); 2. κ- = g- und γ- = c-: Κερµανικός = Germānicus (P. Lond. III 1168, 20.47 + BL I 282 [1. Jh.]), Κέτα = Geta (P. Amh. II 120, 6 [3. Jh.]); Γλαύδιος = Claudius (O. Strasb. 68, 3 [1. Jh.]; O. Bodl. II 474, 4 [1. Jh.]); 3. δ- = t-: δράγλη = trāgula (P. Lond. I 191, 12 [2. Jh.]), δείρων = tīro (SB I 4523 [4. Jh.]); 4. -τ- = -d- und -δ- = -t-: Γλαύτιος = Claudius (P. Oxy. II 267, 38 [1. Jh.]), βάδιλλος = batillus (P. Oxy. III 521, 13 [2. Jh.]); προδήκτωρ = prōtector (P. Thead. 4, 3 [4. Jh.]), σπόρδουλον = sportulum (P. Lond. V 1703, 2 [6. Jh.]; P. Masp. I 67058, VIII 2 [6. Jh.]); 5. -κ- = -g-: καλικάριος = caligārius (P. Genova I 24, II 16 [4. Jh.]; P. Ant. II 103, 4 [5. Jh.]; SB 12838, 5 [5. Jh.]; P. Apoll. 38, 6 [8. Jh.]), πακᾶνος = pāgānus (BGU I 344, 28 [2./3. Jh.]). Die Ursachen für diesen Wechsel zwischen stimmhaften und stimmlosen Konsonanten, der, wie man sieht, am Wortanfang wie im Wortinnern vorkommt, ist nicht einfach zu beurteilen. Es gibt drei Erklärungsmöglichkeiten: 1. Das Phänomen ist auf das Ägyptische zurückzuführen, das kein b, kein d und kein g kannte (das koptische ⲃ ist “nicht die stimmhafte Entsprechung zu p, sondern zu f”, und koptisch ⲅ
und ⲇ
kommen fast nur in griechischen Fremdwörtern vor, vgl. Till 1978, 41 = § 12 und § 13), sondern nur die stimmlosen Okklusiva p, t und k. 2. Das Phänomen erklärt sich daraus, dass die griechische Okklusiva “π, τ, κ weniger gespannt als p, t, k, wenn auch nicht so schwach gespannt wie b, d, g” gesprochen wurden (Figge 1966, 253). 3. Das Phänomen könnte als Reflex der Sonorisierung stimmloser lateinischer Okklusiva in intervokalischer Stellung (auch in schwacher Stellung in der syntaktischen Phonetik) gedeutet werden, die ein Charakteristikum der westromanischen Sprachen ist (Lausberg 1967, 29 = § 360). Wir können kein Urteil darüber abgeben, welche dieser drei Möglichkeiten letztlich ausschlaggebend war, aber wir können jedenfalls sagen, dass die Vertauschung zwischen stimmhaften und stimmlosen Konsonanten vom Kontakt mit nicht-lateinischen Sprachen wie Griechisch und Ägyptisch gefördert wurde. Natürlich können in anderen Zonen des Reiches andere Sprachen (Keltisch, Iberisch, Germanisch) eine ähnliche Wirkung erzielt haben. Mit Sicherheit können wir hingegen sagen, dass die vielen Fälle der Synkope der Nachtonsilbe in drei- und mehrsilbigen Proparoxytona, die wir in den griechischen Papyri finden, eine phonetische Tendenz des Vulgärlateins widerspiegeln (Väänänen 1995, 87–93 = § 63–§ 72). Aus der großen Zahl der Beispiele seien nur zitiert: λάγκλα < lancŭla (BGU III 781, V 18; VI 9 [1. Jh.]), µάτλα
‘Zugemessenes, Portion’), das von lat. mē(n)sūra kommt. Das albanische Wort dürfte auch darauf zurückgehen, nicht auf slavisch misa ‘Teller’ (so Orel 1998, 267).
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Hauptsinn ‘Backtrog’ aufweisen: ligurisch mèiṡua ‘madia, mobile da cucina con ripiano per impastare’, mé(i)ṡia, méiṡra (Voc. Lig. 2, 158; Cortelazzo 1998, 279), abruzzesisch (Teramo) mèsërë, mìsërë (Giammarco 1969, 1174), Pescara mésëlë (Giammarco 1985, 343). In einem griechischen Papyrus aus dem 1./2. Jahrhundert ist μήσυλα in einer Liste von Gefäßen zweimal belegt: BGU III 781, IV 10 + BL 1, 66 (µήσυλαι τετρ[άγω]νοι ἀνά[γλυπται ὠτία µὴ] ἔχου[σαι] und 781, V (ὠάρια ἃ καί ἐστιν µήσυλαι). Es ist sicher, dass wir es hier nicht mit ‘Tischchen’ (so Preisigke 1927, 101) zu tun haben, sondern dass Gefäße irgendwelcher Art gemeint sind. Was die genaue Bedeutung anbelangt, so hilft die Gleichsetzung mit ὠάρια weiter: Bei Ephippos (PCG V, fr. 24 = Athen. 1, p. 29 D + 2, p. 57 E) scheint sich das Wort auf Weinkrüge zu beziehen (κάρυα, ῥόας, φοίνικας, ἕτερα νώγαλα, | σταµνάριά τ᾿ οἴνου µικρὰ τοῦ φοινικίνου | ᾠάρια, τοιαῦθ᾿ ἕτερα πολλὰ παίγνια). Es geht also wohl um ‘eiförmige’ = ‘ovale’ oder ‘bauchige’ Gefäße (Meinersmann 1927, 37). Athenaios meint Trinkgläser, vielleicht etwas, das unseren ‘Schnapsgläsern’ entspricht, aber es kann durchaus sein, dass auch größere Gefäße so genannt wurden. Dass im Papyrus von µήσυλαι τετρ[άγω]νοι die Rede ist, mag zunächst befremdlich sein, aber moderne wie antike Terrinen können ja durchaus eckige Formen aufweisen. Man wird also das µήσυλα des Berliner Papyrus mit ‘bauchige Schüssel’ übersetzen und es zu lat. mē(n)sula stellen. Darüber, wie mē(n)sula zu dieser Bedeutung kam, kann man natürlich nur Vermutungen anstellen. Der Ausgangspunkt ist wohl nicht die Grundbedeutung von mēnsa ‘Tisch’, sondern die Sonderbedeutung ‘Gang bei der Mahlzeit’ (ThLL VIII 742, 57: “fere i. q. missus, ferculum”). Man brachte z. B. die mēnsa prīma “bisweilen auf einer Schüssel (ferculum), die auf den Tisch gestellt wurde, andermale brachte man gleich den fertig gedeckten Tisch herein” (Rich 1862, 388). Dass angesichts dieser Sitte mēnsula die Bedeutung ‘Schüssel’ annehmen konnte, liegt nahe. Im Falle von mēnsula lässt sich sehen, wie einerseits die Bedeutungen, die heute die Nachfolgeformen der romanischen Sprachen aufweisen, Anlass dazu sein können, der semantischen Auffächerung in der Antike nachzugehen, wo die lateinischen Formen freilich keine Gefäß-Bezeichnungen hergeben, aber das nur in einem einzigen Berliner Papyrus belegte µήσυλα legt den Sinn ‘bauchige Schüssel’ nahe, der wiederum die romanische Bedeutungsentwicklung verdeutlicht: ‘bauchige Schüssel’ > ‘irdene Schüssel’ > ‘irdenes großes Gefäß’ > ‘Backtrog’. 4. mētātum ‘Quartier’ In den romanischen Sprachen gibt es einige Wörter, die auf mētātum zurückgehen3 und Wirtschaftsgebäude verschiedenster Art bezeichnen: italienisch (tos_________ 3
Die romanischen Etymologika registrieren diese Wörter meist unter mēta ‘Pfeiler’, nur Giovanni Alessio (1976, 264) bemerkt mit Recht, dass eine solche Herleitung “morfologicamente e semanticamente difficile” sei; man muss, wie es im ThLL VIII 893, 82–894, 42 auch geschieht, auf das Verb mētārī zurückgehen, dessen substantiviertes Partizip Perfekt Passiv mētātum ist, wo-
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kanisch) metato ‘costruzione rustica di piccole dimensioni, sita per lo più in un castagneto e adibita, nella stagione del raccolto, a essiccatoio delle castagne (è dotata di apositi graticci sotto i quali si mantiene accesso un fuoco alquanto basso)’ (GDLI 10, 263), sardisch međáu, mađáu ‘mandra per le pecore o le capre’ (Wagner 1962, 98). Auch der italienische Ortsname Metato (Cappello / Tagliavini 1981, 320) und Metata (Pellegrini 1990, 191) reflektiert diesen Worttyp, der auch im sardischen Personennamen Matau, Madau (Wagner 1962, 98) wiederkehrt. Im Neugriechischen heißt µητᾶτα n. pl. ‘Hirtenhütte im Bergland; Abteil einer Hütte; Baracke’ (Δηµητράκος 1964, 4677: ‘ἰδίως ἐν Κρήτῃ τὰ θερινὰ καταλύµατα τῶν ποιµένων ἐπὶ τῶν ὑψηλῶν ὀρέων, τµῆµα ποιµενικῆς µάνδρας ἢ καλύβη’). Im Mittelgriechischen ist der normale Sinn von µητᾶτον die ‘Verpflichtung der Bürger, Unterkunft für Fremde, für Staatsangestellte, für Zivilisten oder für Soldaten, die in offizieller Mission unterwegs sind, zur Verfügung zu stellen’ (Κριαρᾶς 1988, X 154: η υποχρέωση των πολιτών να παρέχουν κατάλυµα στους ξένους, στους κρατικούς υπαλλήλους, πολιτικούς ή στρατιωτικούς που ταξιδεύουν για εκτέληση αποστολής). Für die byzantinische Hochsprache ist ‘Belastung durch Einquartierung’ ebenfalls die häufigste Bedeutung (Du Cange 1688, 919, s. v. µετάτον, µητάτον, µιτάτον: “Haec vox vulgò sumitur pro Onere Metatorum’). Daneben tritt freilich auch die Grundbedeutung ‘Unterkunft, Quartier, Haus’ (‘mansio, domus’) auf, vor allem in Texten, die in der Epoche des Übergangs zwischen Antike und Mittelalter geschrieben sind, und einzig diese Grundbedeutung wird häufig angegeben (Sophocles 1914: ‘= κατάλυµα: ‘mansion, lodging’). Aus der Spätantike gibt es auch einen juristischen Beleg: In einer Novelle des Justinian (130, 9) wird den Soldaten verboten, Quartier in Herrenhäusern zu beziehen (ὥστε µὴ δὲ προφάσει τῆς τῶν µητάτων δόσεως ἐνυβρίζεσθαι τὴν τῶν ἡµετέρων ὑπηκώων ἐλευθερίαν, θεσπίζοµεν µηδενὶ ἐξεῖναι παντελῶς τῶν ἡµετέρων στρατιωτῶν εἰς τὰς αὐθεντικὰς οἰκήσεις, ἐν αἷς οἱ δεσπόται τῶν οἰκηµάτων εὑρεθεῖεν µένοντες, λαµβάνειν ἑαυτοῖς µητᾶτα, ἀλλ᾿ ἐκείνας µὲν ἀνενοχλήτους φύλαττεσθαι τοῖς ἰδίοις δεσπόταις, λαµβάνειν δὲ τοὺς στρατιώτας ἐν ἑτέραις διαίταις µητᾶτα4). Alle anderen griechischen Belege aus der Antike sind auf Inschriften und vor allem im papyrologischen Material erhalten (LSJ Suppl. 209). In einem Mietvertrag aus dem Jahre 578 (P. Flor. I 15 + P.Prag. I 39 = SB XX 15008) mietet Aurelia Maria ἀπὸ στάβλο`υ´ µητάτου ein Zimmer (τόπος) im ersten Stock (ἐν τῇ πρώτῃ στέγῃ), ein weiteres Zimmer (τόπος) im zweiten Stock (ἐν τῇ δευτέρᾳ στέγῃ) und weitere Abstell- und Stauräume. Mit στάβλον µητᾶτον ist hier wohl _________ von es als Nebenform ein Substantiv der 4. Deklination, mētātus mit der Bedeutung ‘mansio’, gibt (ThLL VIII 879, 74–84). 4 In der Übersetzung des “Vereins Rechtsgelehrter” heißt diese Stelle (Corpus Juris Civilis, Bd. 7, Leipzig [Focke] 1833, 647): “Damit aber auch nicht bei Gelegenheit der Gestattung von Quartieren die Freiheit Unserer Unterthanen geschmälert werde, so verordnen Wir, dass es durchaus keinem von Unseren Soldaten erlaubt sein soll, sich gerade in den Wohnzimmern, in welchen die Eigenthümer der Häuser bleiben, Quartiere zu nehmen, sondern dass jene Wohnzimmer ihren Eigenthümern unbelästigt verbleibe, die Soldaten aber in anderen Stuben Quartier erhalten sollen”.
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eine Art Poststation (das ist schon die technische Bedeutung von στάβλον allein) gemeint, die am ehesten mit einer Karawanserei zu vergleichen ist, in der “unten die Tiere und im Obergeschoß deren Begleiter und die Reisenden untergebracht wurden” (B. Kramer 1989, 214). Eine Inschrift stammt aus der Kyrenaika und bietet ein Edikt des Kaisers Anastasios I. aus dem Jahre 501, in dem es u. a. um die Zuweisung der µιτᾶτα geht (SEG IX 356, 41 und 44–45). Auf einer Stele aus Ombos (SB IV 7475, 31 [6./7. Jh.]) sind µιτᾶτα ‘der Hausteil, den jeder Grundeigentümer zur Verfügung offizieller Reisender halten muss, die Recht auf Quartier haben’: Eine Unterkunft ist εἰς οἴκησιν τῶν εἰσερχοµ(ένων) στρ(ατιωτῶν) εἰς ἀµερίµνιάν τε τῶν ἐευθερικῶν µιτάτων zur Verfügung zu stellen. Das könnte ein Quartier für “Reisende aus dem ἐλευθερικὸν γένος” sein, wenn die Ergänzung in P. Ross. Georg. III 17, 2–3 ἐν τῷ Πιναράχθεως ἐλευθερ(ικῷ) | [µιτάτῳ] richtig ist. Ein Papyrus des 6. Jahrhunderts aus Edfu, der eine militärische Rechnungsaufstellung aus justinianischer Zeit enthält, bietet an zwei Stellen (SB VI 9613, 5 und 10) den Plural μητᾶτα im Sinne von ‘Quartier, Unterkunft’ – es geht darum, die Einquartierung von Soldaten durch eine Geldzahlung oder durch die Zuweisung eines anderen Gebäudes abzuwenden (Rémondon 1961, 61–65). Die Bedeutung ‘Quartier’ liegt auch für µιτᾶτον in einem fragmentarischen Brief des 6. Jahrhunderts vor (SB XIV 11424, 5 = P. Palau Rib. 42, 5: ἔθος ἐστὶν τοῦτο µιτᾶτον εἶναι). Im Griechischen Ägyptens hieß also vom 6. Jahrhundert an µητᾶτον, oft im Plural als µητᾶτα auftretend, zunächst einmal ‘Unterkunft für Fremde’, besonders ‘Quartier für Soldaten’, das natürlich requiriert wurde. Dass man derartige Behausungen, über die man selbst nicht frei verfügen konnte, mit weniger Sorgfalt behandelte als die eigene Häuslichkeit, liegt auf der Hand. In der Folgezeit fächerte sich die Bedeutung in zwei Richtungen auf, einmal hin zu ‘Baracke’ und dann ‘Stall’, andererseits hin zu ‘Verpflichtung zur Bereitstellung einer Unterkunft für Reisende im Staatsdienst’. Mit dem Untergang des byzantinischen Reiches gab es auch keine Verpflichtung mehr für die Bereitstellung von Unterkünften für reisendes Personal im öffentlichen Dienst, so dass diese Bedeutung verschwand; hingegen blieb ‘Stall’ mundartlich bis heute erhalten: µετᾶτον ‘Stall’ ist erst am Ende der mittelgriechischen Periode an zwei Stellen (3, 266; 5, 367) im kretischen Schäfergedicht Πανώρια des 16. Jh. zu finden. Das griechische Wort µητᾶτον kommt von lateinisch mētātum, wobei freilich die orthographischen Varianten “die Unsicherheit der Ägypter bei der Schreibung dieses lateinischen Lehnwortes deutlich” machten (B. Kramer 1989, 213). Die Bedeutung von mētātum ist ‘habitaculum vel hospitium in usum advenarum praeparatum’ (ThLL VIII 894, 15–16), besonders ‘in usum militum’ (ib., 19) und ‘aliorum, maxime eminentioris vel civilis vel clerici ordinis’ (ib., 32–33); das griechische Synonym wäre καταγωγή. Die Nebenform mētātus (4. Deklination) heißt etwas weniger spezialisiert ‘mansio’ (ThLL VIII 879, 76). Im frühen Mittellatein ist metatum oder metatus für ‘Beherbergung, Aufenthalt, Unterkunft für Fremde’ belegt. Für ‘Pferdestall’ ist mētātum im Mittellateinischen seit 722 gelegentlich, wenn auch nicht oft, bezeugt (Niermeyer 2002, 881).
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Die Papyrusbelege zeigen mit ‘Unterkunft, Haus, Quartier’ die Ausgangsbedeutung, die µητᾶτον vor der Diversifizierung in die beiden Bedeutungsstränge ‘Verpflichtung zur Bereitstellung einer Unterkunft für Reisende im Staatsdienst’ einerseits, ‘Wirtschaftsgebäude, Stall’ andererseits hatte. Die romanischen Formen führen die in den Papyri angelegten semantischen Auffächerungen, die nicht an die Organisation und die Zwangsmaßnahmen des antiken Staats gebunden sind, weiter: ‘Quartier’ > ‘ungepflegte Beherbergungsstätte für Fremde und ihre Transporttiere’ > ‘Stall für Tiere’ / ‘landwirtschaftliche Produktionsstätte’. 5. Septembrius, Octō(m)brius, Nouembrius, Decembrius Die letzten vier Monatsnamen des Jahres gehen in einigen romanischen Idiomen nicht auf die üblichen lateinischen Bezeichnungen September, Octōber, Nouember, December zurück: rum. septembrie, octombrie, noiembrie, decembrie5, altnordit. se(p)tembrio, otubrio, novembrio, decembrio, altsp. setembrio (setiembro), ochubrio, novembrio, decembrio, alt- und neuport. Setembro, Outubro, Novembro, Dezembro. Wir haben es hierbei mit den im Lateinischen unüblichen Formen6 Septembrius, Octō(m)brius, Nouembrius, Decembrius zu tun, die in Analogie zu den Namen der Monate der ersten Hälfte des Jahres gebildet sind (Tagliavini 1963, 167), die (außer Aprīlis und der Neubildung Augustus) alle auf –ius ausgehen (Iānuārius, Februārius, Mārtius, Maius, Iūnius, Iūlius). In den griechischen Papyrusurkunden aus Ägypten, in denen etwa seit 300 n. Chr. Datierungen nach dem römischen Kalender vollkommen normal sind (Sijpesteijn 1979, 230–232), sind nun gerade die Monatsnamen auf –ιος die einzigen Monatsnamen: Σεπτέμβριος, Ὀκτώ(μ)βριος, Νοέμβριος, Δεκέμβριος. Es ist ganz unwahrscheinlich, dass wir es hier mit eigenen griechischen Neubildungen zu tun haben: Es gibt natürlich auch das griechische Zugehörigkeitssuffix –ιος (Schwyzer 1953, 466), aber das lateinische –ius liegt näher, das für die Bildung von Zugehörigkeitsadjektiva zu Namen (Mārtius zu Mārs) verwendet wurde (Leumann 1977, 288 = § 273bc). Wir haben es bei den Formen auf –ius mit Monatsnamen zu tun, die sich in einigen romanischen Idiomen erhalten haben und also im Vulgärlateinischen üblich waren. Von dort sind sie auch ins Griechische übernommen wurden. Ein besonderes Problem stellt der Name des Monats Oktober dar. Hier finden wir in einigen romanischen Idiomen einen Nasaleinschub, wobei es Formen, die auf -em- zurückgehen (Molise uttèmbre, altfrz. altprov. octembre), von solchen zu unterscheiden gilt, die -om- aufweisen (rum. octombrie, abruzz. uttòmbre, avellin. ottónvre, südlaz. ottómmre, altfrz. altprov. octombre). Formen wie Octember, _________ 5
Die Formen im Rumänischen stehen unter starkem Einfluss der altslavischen Monatsnamen, die ihrerseits aus dem Mittelgriechischen stammen. Man kann nicht mehr deutlich auseinanderhalten, was ererbte, was entlehnte, was relatinisierte Formen sind. – Zu den rumänischen Monatsnamen vgl. Kramer 2006, 259–291. 6 Genauer gesagt handelt es sich um spärlich belegte Formen: Decembrius ist einmal in 6. Jh. belegt (Marcell. chron. 2, p. 61, 380, vgl. ThLL V 1, 127, 33–34), Octōbrius gibt es in lateinischen Quellen sehr selten (ThLL IX 2, 431, 30–35).
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Octimber und Octymber sind im Lateinischen bezeugt (ThLL IX 2, 429, 61–64), aber *Octomber nicht. Die in den griechischen Papyri etwa so oft wie Ὀκτώβριος auftretende Form Ὀκτώμβριος (bzw. Ὀκτόμβριος) weist darauf hin, dass es im Vulgärlateinischen *Octombrius gab, die auf ein vorangehendes *Octomber zurückgehen muss. Sowohl Octember wie *Octomber sind als Analogiebildungen zu den Namen der anderen Monate der zweiten Jahreshälfte, September, Nouember, December, zu deuten, wobei im einen Falle die ganze Endung –mber, im anderen Falle nur der Nasalkonsonant übernommen wurde.
4. Papyrusbelege für fünf germanische Wörter: ἀρµελ αύ σι ον , β άν δ ον, β ου ρδ ών, β ρ ακί ον , σ αφ ώνιον Abstract: The history of five Germanic words occuring in papyrus documents is treated: ἀρµελαύσιον ‘cape without sleeves’, βάνδον ‘standard’, βουρδών ‘mule’, βρακίον ‘trousers’, σαφώνιον ‘soap’. Germanic words show different developments in Latin and in Greek, and papyri present Germanic elements not found in literary texts for stylistic reasons. Keywords: Germanic words, Germanisms in Greek
1. Germanische Lehnwörter im Lateinischen und Griechischen Die Germanen haben viele Gegebenheiten der höheren Zivilisation erst im Kontakt mit den Römern kennengelernt und die entsprechenden Wörter in ihre Sprachen übernommen1. Hingegen sind Entlehnungen aus dem Germanischen ins Lateinische relativ selten: Man kommt auf ungefähr hundert Wörter2, die häufig nur ein einziges Mal belegt sind und sich zudem auf wenige und eher unwichtige Bereiche des Vokabulars konzentrieren (z. B. Bekleidung, Farben, Pflanzen und Tiere des Nordens, Speisen, militärische Besonderheiten). Germanische Lehnwörter im Griechischen sind noch viel seltener und im allgemeinen – aber nicht immer – über das Lateinische vermittelt worden (Thumb 1902; Loewe 1906). Im Folgenden sollen fünf germanische Elemente, die in den Papyri vorkommen, näher untersucht werden. Sie sind ein lebendiger Beweis dafür, dass das Griechische in der Spätantike eine Einheit bildete, in der sprachliche Elemente, die vom Nordrand der damals bekannten Welt stammten, problemlos bis nach Ägypten, also an den Südrand der οἰκουµένη, vordringen konnten. 2. ἀρµελαύσιον ‘ärmelloser Kurzumhang’ Dem deutschen ärmellos entspricht ein altwestnordisches ermalauss (de Vries 1977, 104), und in der Tabula Peutingeriana (4, 2) taucht in der Gegend des Böhmerwaldes und des Fichtelgebirges ein Volksname Armalausi auf3. Im Lateinischen ist armilausa als Bezeichnung für ein Kleidungsstück zuerst bei Paulinus _________ 1
Gamillscheg 1970, 20 (= § 18): “Die etwa vierhundert lateinischen Wörter des Altgermanischen sind fast ausschließlich Bedürfnis-Lehnwörter”. Die Zahl der Latinismen ist viel höher, wenn man Wörter einbezieht, die auf grenznahe germanische Mundarten beschränkt blieben. 2 Brüch 1913, 87. – Zu den Germanismen im Vulgärlateinischen vgl. auch Lerch 1947 (wenig ergiebig) und die neue Überblicksdarstellung von Pfister 1998. 3 Much 1967, 279–280 und 366; Schönfeld 1911, 29. Weitere Nennungen dieses Volkes (ThLL II 614, 77–80): Not. dign. laterc. Veron. 12, 21: Armilausini; Iul. Hon. geogr. 40, 6: Armilausini gens; Cosmogr. geogr. 84, 23 Armolaos.
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von Nola4 (353–431) und bei Isidor von Sevilla5 (570–436) belegt. In den Scholien zu Juvenal findet sich armilausia6, und in den Glossaren taucht das Wort zweimal auf7. All das führt zur Rekonstruktion eines germanischen Femininums *armil(o)-lausô, also zu einer Zusammensetzung aus (wahrscheinlich) *armilo ‘Ärmel’8 und *lausa ‘befreit von, los’9. In der griechischen Literatur taucht das Wort erst zwischen 592 und 610 auf, im um diese Zeit verfassten (Dennis / Gamillscheg 1981, 16) Strategikon des Maurikios, wo es über die Bekleidung der Fußsoldaten heißt (XII B 1): εἴτε ζωστάρια Γοτθικά, εἴτε ἀρµελαύσια ἔχουσι κονδά ‘sie tragen entweder die gotische Tunika oder knielange ärmellose Umhänge’). Das Suda-Lexikon bietet wie so oft einen windigen Erklärungsversuch: ἀρµιλαύσιον παρὰ τὸ ἄρµα τὸ ἐπάνω τῶν ὅπλων ‘das Armilausion heißt nach dem Tragen (ἄρµα) über den Waffen’. In der wohl ins 9. Jh. zu datierenden Märtyrergeschichte des Bonifatios von Tarsos taucht das Wort einmal auf10, im Zeremonienbuch des Konstantinos VII. Porphyrogennetus (905–959) gibt es zwei Belege11, danach verschwindet das Wort spurlos12. _________ 4 Paul. Nol. ep. 17, 1 (= PL 61, 235 A): cum praeterea facie non minus quam armilausa ruberet; ep. 22, 1 (= PL 61, 254 B): sibi ergo ille habeat armilausam suam et suas caligas et suas buccas. 5 Isid. etym. 19, 22, 28; armilausa (variae lectiones: armelausa, armelosa) uulgo uocata, quod ante et retro diuisa atque aperta est, in armos tantum clausa, quasi armiclausa, c littera ablata. Vgl. Sofer 1930, 74–75. 6 Schol. ad Juv. sat. 5, 143: uiridem thoraca: armilausiam prasinam. 7 CGL 5, 338, 51: armilausia sercae; 5, 591, 44: armilaus scapulare monachorum. 8 Wenn man das deutsche Wort Ärmel ins Germanische rückprojiziert, ergibt sich *armilo; das Kompositum *armilo-laus müßte zu *armi(l)laus (Femininum *armilausô, sc. *paidô “Gewand”) verkürzt worden sein, woraus sich der lateinische Typ armilausa problemlos erklären lässt (Trübner 1939 I, 125). Wenn man hingegen vom altwestnordischen Femininum ermr “Ärmel” ausgeht, kommt man zu einem germanischen *armjô “Ärmel”, was zum Kompositum *armjalausô und daraus dann *armi-lausô führt (so Much 1893, 75); vgl. altnordisch ermalauss ‘ohne Ärmel’ (de Vries 1977, 104). Eine dritte Möglichkeit wird angedeutet von Schönfeld 1911, 29: “Das einmal überlieferte Arma- könnte, wenn nicht verderbt, germ. arma- in der Bedeutung ‘Ärmel’ bezeugen”. 9 Trübner 1943 [4], 493: “Die Adjektiv-Bildung ist gemeingermanisch: lausa ist zufrühest belegt in dem germanischen Völkernamen Armilausiones”. Vgl. gotisch laus ‘los, leer’, altnordisch lauss ‘frei, ungebunden’, isländisch laus, norwegisch laus. 10 Acta Martyrum (ed. Th. Ruinart), Regensburg 1859, 331: ἀνὴρ τετραγωναῖος, παχύς, ξανθός, ῥούσιον ἀρµελαύσιον φορῶν ‘ein vierschrötiger Mann, dick, blond, ein rotes Armilausion tragend’. 11 Const. Porphyr. de cerim. 2, 80 (71) (= vol. II, p. 153, 19 Vogt): φορούντων αὐτῶν τῶν κοµβινογράφων ἀρµελαύσια βένετον καὶ λευκόν ‘ces dits combinographes portant une soubreveste bleue et blanche’. Vgl. auch vol. II, p. 670, 18 Reiske. 12 In den lateinischen Quellen des Mittelalters verliert sich das Wort in der eigentlichen Bedeutung ‘Harnisch’ ebenfalls im 9. Jh. (Niermeyer 2002, 81), es blieb aber bekannt, weil es auch das Skapulier der liturgischen Gewandung bezeichnen konnte (Mittellateinisches Wörterbuch 1, München 1964, 965).
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In den Papyri gibt es zwei Belege aus dem 6. Jahrhundert. In einer Kleiderliste steht ἐρµ[ε]λαῦσον ῥούσιον α´ ‘ein rotes Armilausion’ (P. Münch. III 142, 3), und in einer weiteren Kleiderliste (P. Mich. XIV 684, 11) findet sich ἀρµαραύσιν πράσινον α´, ἕν ‘ein grünes Armilausion’. Man wird auch angesichts der literarischen Belege natürlich zunächst annehmen wollen, dass ἀρµελαύσιον gemeint ist, wobei im Münchner Papyrus vorkonsonantisches αρ durch ερ ersetzt wurde (Gignac 1976, 279–280) und das ι ausgefallen sein muss, während im MichiganPapyrus die übliche ρ-λ-Verwechselung (Milani 1981) eingetreten sein dürfte. Allerdings lässt das zweite α im Michigan-Papyrus zumindest daran denken, dass ἀρµαλαύσιον gemeint sein könnte, das zum Völkernamen Armalausi passen würde und eine Bestätigung für die Rekonstruktion *arm(j)a-lausô wäre. Im Münchner Papyrus kann nach Ausweis der beigegebenen Photographie die Lücke genauso gut durch ein α wie durch ein ε gefüllt werden, so dass also ἐρµ[α]λαῦσον ebenso möglich ist wie ἐρµ[ε]λαῦσον. Wenn diese Annahme richtig ist, dann wäre es nicht ausgeschlossen, dass das Wort nicht über das Lateinische ins Griechische kam, sondern direkt aus einer Variante des Germanischen entlehnt wurde. Gelegenheit dazu gab es im 6. Jahrhundert angesichts der massiven Präsenz von West- und Ostgoten im Oströmischen Reich genügend. Was für ein Kleidungsstück war das ἀρµελαύσιον? Man muss sich einen ärmellosen kurzen (ἀρµελαύσια [---] κονδά bei Maurikios) Umhang darunter vorstellen, der, wenn man Isidor folgt, vom Hals bis zur Oberarmhöhe geschlossen war (in armos tantum clausa) und vorn und hinten einen Schlitz hatte (ante et retro diuisa atque aperta) (Kühnel 1992, 15). Es ist allerdings wohl verfehlt, an einen schlichten und groben Umhang in der Art des bayerisch-österreichischen ‘Lodenflecks’ (so Much 1967, 280) zu denken. Vielmehr war bei diesem Kleidungsstück anscheinend die auffällige Farbe wichtig (im Michigan-Papyrus wird es vom Adjektiv πράσινος ‘grün’, im Münchner Papyrus von ῥούσιος ‘rot’ begleitet, und auch die literarischen Quellen erwähnen grün, rot und blau als Farben). Es stand nach Paulinus von Nola im Gegensatz zur einfachen Mönchskleidung, und wenn wir die Glossierung von armilausia mit sercae (CGL 5, 338, 51) beim Wort nehmen, dann kam als Material sogar etwas so Κostbares und Αufwändiges wie Seide in Frage. 3. βάνδον ‘Feldzeichen’ In Prokops Vandalenkrieg, einem Werk, das 545 vollendet und 551 publiziert wurde, wird berichtet (2, 2), dass Belisar dem Armenier Johannes ‘das Feldzeichen, das die Griechen bandon nennen’, übertrug: τὸ σηµεῖον, ὃ δὴ βάνδον καλοῦσι ῾Ρωµαῖοι. Bekanntlich muss man im 6. Jh. Ῥωµαῖοι mit ‘Griechen’ übersetzen (Kramer 1998, 93–94); also will Prokop an dieser Stelle sagen, dass im Griechischen seiner Zeit βάνδον an die Stelle des klassischen Wortes σηµεῖον getreten ist. Genauso heißt es im Scholion zur Rede des Gregor von Nazianz gegen Julian (§ 1): τὰ καλούµενα παρὰ Ῥωµαίοις σίγνα καὶ βάνδα, ταῦτα ὁ Ἀττικίζων συνθήµατα καὶ σηµεῖα καλεῖ ‘was bei den Griechen unserer Zeit signa und banda genannt wird, das nennt der Attiker συνθήµατα und σηµεῖα’. Vom 6.
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Jahrhundert an ist βάνδον im Griechischen in der Grundbedeutung ‘Feldzeichen’ und in der Sekundärbedeutung ‘Heeresabteilung‘13 (vgl. das deutsche ‘Fahne’ und ‘Fähnlein’) ganz geläufig (Drew-Bear 1972, 189), und es gibt Ableitungen wie βανδοφόρος ‘Fahnenträger’ und µονόβανδον ‘Hauptfahne einer Armeeabteilung’. Auch in den lateinischen Befehlen der byzantinischen Armee kam die Latinisierung bandum vor (Mihăescu 1969, 262): Im (nach Dennis / Gamillscheg 1981, 16) zwischen 592 und 610 abgefassten Strategikon des Maurikios lesen wir (XII B 14, 1): σιλεντιον, µανδατα καπτατε, νον βος τουρβατις, ορδινεµ σερβατε, βανδο σεκυτε, νεµο δεµιττατ βανδουµ ετ ινιµικος σεκουε = silention! mandata captate! non uos turbatis! ordinem seruate! bando sequite! nemo demittat bandum et inimicos seque! Dieses bandum ist sicherlich nicht direkt aus dem Gotischen entlehnt, sondern eine Latinisierung des griechischen βάνδον. Das Etymon des griechischen Wortes ist gotisch bandwo, ein Nasal-Femininum mit -ōn-Stamm (LEI Germanismi, I 358, 7–13). Im Lateinischen des Westens ist bandus, seltener bandum, erst im 9. Jh. üblich geworden14, und zwar augehend von der Gegend um Ravenna15, was den Schluss nahelegt, dass wir es nicht mit einer direkten Entlehnung aus dem Gotischen, sondern vielmehr mit einer Übernahme aus dem Griechischen von Ravenna zu tun haben16. Weiter ist anzunehmen, dass das Langobardische eine Parallelform hatte, die im Lateinischen als bandus auftauchte17, und die gotisch-griechische und die langobardische Form haben sich im Italienischen untrennbar vermischt18. _________ 13 Der Erstbeleg dafür findet sich im nach 565 und vor 577 geschriebenen 18. Buch der Chronographia des Johannes Malalas (PG 97, 673 C): στρατηλάτης Περσῶν Ἐξαρὰθ ὀνόµατι µετὰ Περσικῆς βοηθείας ἔχων µεθ᾿ ἑαυτοῦ καὶ βάνδον βασιλικὸν ὥρµησεν ἐπὶ τὰ Ῥωµαϊκά ‘der Feldherr der Perser namens Exarath griff mit den persischen Hilfstruppen, die er bei sich hatte, und mit der kaiserlichen Heeresabteilung die Byzantiner an’. 14 Auszunehmen ist ein isoliertes bandum in der Historia Wambae regis (cap. 16) des Iulianus Toletanus (um 680), das aus dem Westgotischen direkt in die hispanische Latinität kam. 15 Im Liber Pontificalis Ecclesiae Ravennatis (MGH p. 9, 1), das in den Jahren zwischen 807 und 810 entstand, heißt bandus ‘Kirchenfahne’. 16 Zur Wortgeschichte im Griechischen und Romanischen vgl. ausführlich J. Kramer 1987 und LEI Germanismi I, 282–359. Die Darstellung von R. Loewe 1906, 266–272, entspricht nicht mehr dem heutigen Wissensstand. 17 In der Historia Langobardorum des Paulus Diaconus (zweite Hälfte des 8. Jh.) wird bandus ‘Fahne’ noch als typisches fremdes Element geführt: Tato uero Rodulfi uexillum, quod bandum appellant, [...] abstulit; vgl. J. Kramer 1987, 203–204. Dass das Wort bandus und nicht bandum lautete, sieht man an Paulus Diaconus’ Quelle, der Origo gentis Langobardorum aus der zweiten Hälfte des 7. Jh., wo es heißt (p. 3, 17–18 MGH): Tato [...] tulit bandos, id est arma ipsius. Vgl. auch LEI Germanismi I, 358, Anm. 77, wo aus einem Glossar des Langobardischen vom Anfang des 11. Jh. bandu(m), id est uexillu(m), zitiert wird. In einem Dokument des Jahres 976 bedeutet bandum ‘öffentliche Bekanntmachung’, aber das ist wohl eher zum Verb bandwjan ‘ein Zeichen geben, proklamieren’ zu stellen (LEI Germanismi I, 248, Anm. 73) 18 Vgl. LEI Germanismi I, 358, wo ausgeführt wird, dass das gotische Wort “in italiano attraverso il greco bizantino” eingetreten ist. “Il sostantivo entra in italiano anche attraverso il lat. longob. bandum, glossato vexillum [- - -], per cui nell’Italoromania le forme in band-, già introdotte dai Goti, sono rafforzate dalle attestazioni del longobardo”.
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In den Papyri kommt βάνδον bislang nur einmal vor, und zwar in einer Quittung für die Bezahlung des Gerstenpreises aus dem Jahr 618 (P.Oxy. XVI 2010, 1-2 + BL 11, 157): ἐδόθ(η) δ(ιὰ) τοῦ λαµπρο(τάτου) χαρτουλα(ρίου) (καὶ) τραπεζ(ίτου) (ὑπὲρ) τιµ(ῆς) κρ(ι)θ(ῆς) ἀρταβῶ(ν) ωις ἀγορασ(θεισῶν) πα(ρὰ) τοῦ | ἐνδόξ(ου) οἴκ(ου) τῇ σή[µ]ε̣̣[ρ(ον) εἰς] τὸ µέρ(ος) τῆς ῥόγα(ς) τῶν στρα(τιωτῶν) τοῦ βάνδ(ου) τῶν κορ̣[τια]ν̣ῶν ἐλθ(όντων) ἐνταῦθα ἐπὶ τῆς ς ἰ(νδικτίωνος) [---] γί(νεται) Ἀλεξανδρείας νοµίσµ(α)τ(α) τεσσεράκοντα πέντε, γί(ν.) χρυ(σοῦ) Ἀλεξ. νο(µ.) µε µόνα19. Hier muss βάνδον die Bedeutung ‘Heeresabteilung’ haben, und die vorgeschlagene Ergänzung βάνδον τῶν κορ[τια]νῶν20 = bandum cohortalium rechtfertigt dann die Übersetzung ‘Eliteabteilung’. Der Papyrus bietet jedenfalls einen Beleg dafür, dass das germanische Wort bereits zu Anfang des 7. Jh. überall im Oströmischen Reich zu einem normalen militärischen Fachwort geworden war, keineswegs beschränkt auf Truppen, die viele Germanen in ihren Reihen hatten oder gegen Germanen eingesetzt wurden. 4. βουρδών ‘Maulesel’ Bei Petron 45, 11, wird ein abgetakelter Gladiator als burdubasta bezeichnet, und in den Historien des Tacitus kommt ein Germanicae classis praefectus namens Iulius Burdo vor21. Ein lateinisches Appellativum burdo ist hingegen erst von Ulpian an belegt22, in der späteren Kaiserzeit jedoch recht häufig, auch in der Literatur im engeren Sinne (ThLL II 2248, 28–52). An der Bedeutung des Wortes, nämlich ‘Maulesel’, kann es keinen Zweifel geben: burdo, qui ex equo et asina nascitur ‘ein Maulesel wird aus einem Pferd und einer Eselin geboren’, so lautet die geläufige Definition23. In den romanischen Sprachen lebt meist ein neugebildetes Simplex burdus (lateinisch einmal spätantik belegt: Schol. Hor. ep. 4, 14, vgl. ThLL II 2248, 29) mit der Bedeutung ‘Bastard’ und ‘Stange’ weiter (altfrz. bourt, altprov. kat. bort, sp. borde), während burdo im Allgemeinen ‘Wanderstab’ heißt (it. bordone, frz. bourdon, kat. bordó, sp. bordón, port. _________ 19
Übersetzung: “Es wurde bezahlt durch den clarissimus chartularius und Bankier für den Preis von 816 Artaben Gerste, die gekauft wurden vom ehrenwerten Haus am heutigen (Tage) für den Anteil der Soldzahlung für die Soldaten der Eliteabteilung, die hierhergekommen sind in der 6. Indiktion [---], macht fünfundvierzig alexandrinische Solidi, zusammen 45 alexandrinische Goldsolidi, sonst nichts”. 20 κορτιανός ist P. Oxy. X 1253, 4, belegt. 21 Tac. hist. 1, 58: Vitellius [- - -] Iulium Burdonem Germanicae classis praefectum astu subtraxit ‘Vitellius brachte Iulius Burdo, den Befehlshaber der germanischen Flotte, listig aus der Klemme’. Der Name Burdo ist auch inschriftlich geläufig: Stellenverzeichnis ThLL 2, 2248, 55– 62; Holder 1896, 638-639. 22 Dig. 32, 49: item legato continentur mancipia, puta lecticarii, qui solam matrem familias portabant, item iumenta uel lectica uel sella uel burdones, item mancipia alia ‘genauso sind im Vermächtnis Besitztümer enthalten, also Sänftenträger, die nur die Mutter der Familie getragen haben, sodann Lasttiere oder eine Sänfte oder ein Sattel oder Maultiere, ferner andere Besitztümer’. Vielleicht ist mit Th. Mommsen zu ändern in: item iumenta uel burdones, item lectica uel sella. 23 CGL 5, 493, 25; ähnlich 2, 324, 56; 5, 563, 45; Isid. etym. 12, 1, 61; Eug. Tolet. carm. 42, 2.
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bordão); im Süditalienischen bedeutet burduni jedoch immer noch ‘Maulesel’ (REW Nr. 1403/1405; LEI VIII 181). Problematischer ist die Herkunft des Wortes. Niemand hat je bezweifelt, dass es sich um ein Fremdwort handeln muss: Die Vorschläge reichen vom OskischUmbrischen mit Verbindungslinien zum Altindischen bis zum Hebräischen (Walde / Hofmann 1982, I 123), aber wirklich naheliegend ist nur die Anknüpfung an ahd. burdī ‘Bürde, Last’, das ein germanisches *burþīn- fortsetzt. In althochdeutschen Glossen ist burdihhīn in der Bedeutung ‘kleines Pferd’ belegt24, was die Herleitung des lateinischen burdo aus dem Germanischen weiter stützt. In der griechischen Literatur kommt βουρδών erst spät vor: Der Erstbeleg findet sich in einem Medizinerfragment aus dem 3./4. Jh. n. Chr. (Philagr. ap. Aët. 12, 51), aber außerhalb von Fachtexten tritt das Wort erst im 6. oder 7. Jahrzehnt des 6. Jahrhunderts bei Johannes Malalas25 auf; etwa gleichzeitig verwenden Kirchenschriftsteller wie Eustratios von Konstantinopel26 († 582) oder Johannes Moschos27 († 619) das Wort. Das späte und seltene Auftreten von βουρδών ist in den Zusammenhang des typischen Fernhaltens eines als unklassisch geltenden Wortes aus der Literatur einzureihen, denn in Gebrauchstexten wie der griechischen Fassung von Diokletians Preisedikt aus dem Jahre 301 wird beispielsweise sagma burdonis ganz selbstverständlich mit σάγμα βουρδῶνος übersetzt (11, 4 a28; vgl. auch 14, 10). Die Papyrusbelege für βουρδών setzen noch früher ein. In P. Prag. II 204, 3 vom (wahrscheinlich) 17. April 256 finden wir ἔπεµψά σοι βουρδῶνας ‘ich schickte dir Maultiere’. Gleich viermal tritt βουρδών in P. Oxy. XIX 2228 auf, der ins Jahr 285 zu datieren ist. Wirklich gefestigt war der Gebrauch dieses Wortes aber im 3. Jahrhundert noch nicht, denn es wurde versucht, das fremde Element durch Anfügung des Suffixes -άριον anzupassen29: In einem Rylands-Papyrus aus dem Jahre 262 ist ein Neutrum βουρδωνάριον30 in der Bedeutung ‘Maultier’ _________ 24 Köbler
1993, 158; Wells 1990, 86: “burdichin mannus”. Joh. Malal. chronogr. (PG 97, 285 A): ἕτεροι δὲ ἱστορικοὶ συνεγράψαντο πρῶτον ἱπποδρόµιον ἐπιτελέσαι αὐτοῖς τὸν Ῥῶµον εἰς βουρδῶνας ‘andere Historiker haben berichtet, dass ihnen Romos die erste Rennbahn für Maultiere eingerichtet habe’. Einen sehr ähnlichen Wortlaut bietet das von Malalas abhängige und um 630 abgefaßte Chronicon Paschale (PG 92, 297 B). 26 Eustrat. vit. Eutych. 72 (= PG 86, 2356 C): γυνή τις [---] ἔπεσεν ὑποκάτω τῶν βορδόνων. 27 Jo. Mosch. prat. spirit. 101 (= PG 87, 2960 B): ἐπάτησεν ὁ βόρδων τὸ παιδίον καὶ ἀπέκτεινεν αὐτό ‘das Maultier trat das Kind nieder und tötete es’. 28 Die Inschrift von Aidepsos, die den griechischen Text dieser Partie überliefert, weist einen banalen Schreibfehler auf: ΣΑΓΜΑ ΒΟΥΔΡΩΝΟΣ (Lauffer 1971, 137 und 250). 29 Diese Vorgehensweise der Anpassung fremder Elemente ist nicht selten, vgl. ἀµπυλλάριν (CPR V 26, 455) = ampulla, ἰσικιάριον = isicium (P. Ryl. IV 639, 176 und 211), µακελλάριον = macellum (P. Oxy. VI 1000), µουλάριον = mulus (P. Oxy. LV 3805, 3; SB VIII 9920 II 2, 7; 10, 2; 18, 1; P. Ross. Georg. V 72, 4), οὐεστάριον = uestis (P. Masp. III 340 v 41), πακτάριον = pactum (P. Oxy. I 138, 9; 40; 50; 154, 10; XVI 2024, 11; SPP VIII 1086, 1), παρτικουλάριον = particula (SPP XXII 61, 3), προπινάριον = popina (SB XVIII 13593, 24; P. Oxy. X 1297, 8), σικλάριον = situla (CPR VIII 65, 10), σκουτάριον = scutum (P. Oxy. XVI 1839, 4; 1925, 5; 2057, mehrfach). 30 P. Ryl. II 238, 8-13 (= Hunt/Edgar 1932, I 143 [p. 352–353]): καὶ κτηνύ|δριον δὲ αὐτοῖς (sc. τοῖς κυνηγοῖς) ἓν γοργὸν τῶν | ὑπὸ σὲ παράσχες, ἐπειδήπερ | τὸ αὐτῶν ὃ εἶχαν βουρδωνά|ριον εἰς 25
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bezeugt31. Dieser Versuch blieb aber anscheinend eine Episode32; alle späteren Belege gehören zum Simplex βουρδών. Eine weitere frühe Bezeugung des Wortes findet sich in einem offiziellen Schreiben des Praefectus Aegypti Aurelius Mercurius aus dem Jahre 28533; darin wird der στρατηγὸς Ὀξυρυγχίτου aufgefordert, jegliche Verzögerung περὶ τὴν χ[ρεί]αν τῶν βουρδώνων, also beim Einsatz von Maultieren für die Armee, zu vermeiden. In dem Schreiben kommen viermal Formen von βουρδών vor (P. Oxy. XIX 2228, 28; 29; 31; 3434), und zwar in einer Weise, dass man annehmen muss, dass βουρδών zur Zeit der Abfassung des Dokumentes ein völlig normaler Ausdruck gewesen sein muss. Dafür spricht auch die Tatsache, dass es in einem Heidelberger Papyrus aus dem Jahre 288 völlig selbstverständlich heißt (P. Heid. II 222, 2-3 = SB VI 9542): δίδου βουρδῶσι τρισὶ ἡµερησίως κριθῆς | µέτρα τρία ‘gib den Maultieren täglich drei Maß Gerste’. Das Auftreten des Wortes im Preisedikt des Diokletian spricht ebenso wie die Tatsache, dass es im 4. Jh. geradezu von Belegen wimmelt35, dafür, dass βουρδών sich vom 3. Jh. an seinen festen Platz unter den griechischen Tiernamen erobert hatte. Die Bildung eines Diminutivums βουρδώνι(ο)ν, das in P.Harr. I 155, 4, für das 5. oder 6. Jh. belegt ist36, zeigt, dass das Wort nicht mehr als fremd empfunden wurde. Der ‘Maultiertreiber’ findet sich als βουρδωνάριος _________ ἐµὴν ὑπηρεσίαν κατ|έσχον ‘Give them also a mettlesome donkey from those in your charge, since I have retained for my own use the mule which they had’. Für βουρδωνάριον wird im DGE 4, Madrid 1994, 745 die Übersetzung ‘mulilla’ vorgeschlagen, es ist aber sicher nicht richtig, von einer Diminutivbedeutung auszugehen. 31 Ob auch das P. Oxy. I 43, col. VI, 1, vom 16.–24. Februar 295 ohne Zusammenhang erhaltene βουρτ ̣[ als βουρδ[ωνάριοις] zu lesen ist, muss offen bleiben. 32 Der in neugriechischen Dialekten verbreitete Typ βορδωνάρι ‘Balken’ (Ἱστορικὸν λεξικὸν τῆς Νέας Ἑλληνικῆς IV 1, Athen 1953, 37) stellt angesichts des Fehlens mittelalterlicher Belege sicher eine Neubildung (mit Verbindung zu it. bordone) dar, die nicht in Verbindung mit dem Papyrus-Wort βουρδωνάριον steht. 33 Zum Datum vgl. die Angaben BL 8, 255; 12, 145. 34 In den Zeilen 28 und 31 ist das Wort allerdings in der Lücke ergänzt; die beiden anderen Belege sind aber völlig eindeutig. 35 P. Charite 24, 2/3 (a. 320-350); P. Eirene I 8, 6 = SB XXIV 16096, 6 (s. IV); P. Harrauer 48, 12 (s. IV/V); P. Laur. 4, 172, 3–6 (a. 350-399); P. Lips. 87, 1/8 (394?); P. Oxy. XLVIII 3420, 46 (s. IV); 3424, 8 (a. 357 oder 372); LVI 3860, 30/45/46 (s. IV); 3874, 19; 21; 24; 27; 32 (a. 345/6); LXII 4348, 5 (s. IV); P. Stras. VIII 737, 7 (a. 380/1); SB XVI 12324, 13 (s. IV); 12644 v, 1 (s. IV); 12828, 2 (s. IV); O. Bodl. II 2065, 3 (s. IV); Aus späterer Zeit stammen P. Oxy. XVI 1836, 2 (s. V/VI); 1919, 14 (s. VII); O. Tait. II 2064, 3M 2065, 3. 36 Zu lesen ist mit den Ergänzungen von Karl F. W. Schmidt, Philologische Wochenschrift 59, 1939, 128 (vgl. BL 3, 82): [---] τοὺς αὐτοῦ ἵππους καὶ τὸ β[ουρ]δώ[νι]ν [βο]ῇ ἀπα[γ---. Angesichts des Briefformulars (byzantinischer Belästigungstopos in Zeile 2) spricht Koskenniemi 1956, 189, Anm. 1, von einem “Brief, der undatiert ist, der aber wohl in eine spätere Zeit als das 4. Jh. gehört”. – Im Cat. Cod. Astr. vol. 12, p. 140, 1 ist von ὄρνεια καὶ βορδονία (sicher zu βουρδώνια zu verbessern) πολλά die Rede, die neben anderen guten Dingen wie angenehmem Wetter für die Seefahrt oder gutem Erfolg bei allen Tätigkeiten im Sternzeichen der Zwillinge an der Tagesordnung sind; die im Text vorkommenden geographischen Namen und der ganze Sprachduktus zeigen, dass wir es mit einem frühneuzeitlichen Text zu tun haben, der für die Antike nichts hergibt (und daher als Beleg im DGE nichts zu suchen hat).
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ebenfalls vom 4. Jh. an37, was übrigens verdeutlicht, dass das Neutrum βουρδωνάριον ‘Maultier’ eine Eintagsfliege des 3. Jh. gewesen war, die im 4. Jh. nicht mehr existierte. Die Wortfamilie etablierte sich dauerhaft im Griechischen: In den modernen Dialekten sind sowohl das Simplex38 als auch das Diminutivum39 sehr lebendig, und βουρδωνάριος ‘Maultiertreiber’ ist ebenfalls gut belegt40. Aus der Schriftsprache allerdings wurden βουρδών und seine Ableitungen im Zuge der Reantikisierung des Neugriechischen durch ἡµίονος verdrängt. Auf welchem Wege kam nun βουρδών ins Griechische? Man wird in diesem Falle eine direkte Entlehnung aus einer Varietät des Germanischen ausschließen und lateinische Vermittlung annehmen müssen, denn im 3. Jh., als etwa zweihundert Jahre nach den lateinischen die griechischen Belege einsetzen, gab es noch kaum intensive Kontakte zwischen Germanen und Sprechern des Griechischen, während germanisch-lateinische Berührungen seit dem 1. Jh. v. Chr. normal waren. 5. βρακίον ‘Hose’ In der Antike waren Hosen offensichtlich ein typisches Bekleidungsstück der “Barbaren” des kalten Nordens, denn traditionellerweise wurden sie weder von den Griechen noch von den Römern noch von anderen Völkern des Mittelmeerraumes getragen. Kein Wunder also, dass auch die Bezeichnung ein fremdes Element war: Die übliche lateinische Bezeichnung war das zur a-Deklination gehörige pluralische brācae, das zum ersten Male im zwischen 116 und 110 v. Chr. verfassten elften Buch der saturae des Lucilius belegt ist41 und von da an _________ 37
Der früheste Beleg findet sich 301 n. Chr. im Abschnitt de mercedibus operariorum des Preisediktes des Diokletian 7, 17: camelario sibe asinario et burdonario pasto diurni (denarii) biginti q[ui]nque / [καµη]λαρίῳ ἤτοι ὀνηλάτ[ῃ καὶ βο]υρδωναρίῳ τρεφ(οµένῳ) ἡµερ(ήσια) δηνάρια κ[ε]. Leider wird das Wort in den dokumentarischen Papyri nie ausgeschrieben. In P. Iand. VIII 153, 19 (4. Jh. n. Chr.) verzeichnet ein Kellermeister Weinlieferungen an verschiedene Leute, so auch Ἀµµωνιανο(ῦ) βορδ(ωναρίῳ). Aus dem 6./7. Jh. stammt P. Iand. VIII 154, 16, wo wir es mit einer Weinverteilungsliste am Sitze einer Hauptkirche zu tun haben; auch dort wird τῷ βουρτον(αρίῳ) Wein zugemessen. – Einen kaum genauer zu datierenden Beleg aus byzantinischer Zeit bietet das Scholion zu Aristoph. Thesm. 491, wo es zu ὑπὸ τῶν δούλων τε κὠρεωκόµων heißt: τῶν νῦν καλουµένων σταβλίτων ἢ βουρδωναρίων ‘sie heißen jetzt Stabliten oder Burdonarier’. 38 Es gibt die morphologischen Typen βόρδος, (σ)βόρδωνας und βορδώνα; neben der Grundbedeutung liegen auch weitere Bedeutungen (wie ‘Bastard’, ‘Sproß, Auswuchs’, ‘großer Stein’) vor, vgl. Andriotis 1974, 180; Ἱστορικὸν Λεξικὸν τῶν Νέων Ἑλληνικῶν IV 1, Athen 1953, 38 s. v. βόρδος. 39 Das Wort bedeutet nicht nur ‘Maultier’, sondern auch ‘Hengst’ und ‘Balken’, und es kann auch als Adjektiv im Sinne von ‘stark’ und ‘voll’ verwendet werden, vgl. Andriotis 1974, 180– 181; Ἱστορικὸν Λεξικὸν τῶν Νέων Ἑλληνικῶν IV 1, Athen 1953, 38. 40 Ἱστορικὸν Λεξικὸν τῶν Νέων Ἑλληνικῶν IV 1, Athen 1953, 37–38. 41 Lucil. 409 Marx (aus dem 11. Buch der saturae): conuentus pulcher: bracae, saga fulgere, torques magni ‘eine schöne Gesellschaft: Hosen, Kriegsmäntel glänzten, große Halsketten’. Der
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immer recht geläufig blieb; daneben gab es ein zur konsonantischen Deklination gehöriges ebenfalls pluralisches brācēs, das viel seltener ist und von den Grammatikern getadelt wird42. Dass ein Römer von altem Schrot und Korn dieses Kleidungsstück nicht anzieht, wird entweder klar gesagt43 oder zumindest als selbstverständlich vorausgesetzt44. Als zunächst spöttische Bezeichnung für das transalpine Keltenland war Gallia Bracāta (Pomp. Mela 2, 74: fuit aliquando Bracata, nunc Narbonensis) schon Cicero geläufig (fam. 9, 15, 2: bracatae et transalpinae nationes). In der griechischen Literatur ist βράκαι sehr selten. Im Erstbeleg, bei Diodorus Siculus im 1. Jh. v. Chr., wird es noch ausdrücklich als Wort der Kelten bezeichnet45. Im 4. Jh. findet sich das Wort dann gelegentlich, aber immer in Werken, die eher eine marginale Rolle spielen: Wir finden βράκαι im Philogelos46; in der uns durch den Papyrus Bodmer XXIX kenntlich gewordenen Vision des Dorotheos kommt es einmal vor47, und einmal ist es beim Kirchenschriftsteller Epiphanios _________ Vers ist bei Nonius p. 222, 31 und p. 506, 24 überliefert; an der erstgenannten Stelle gibt es als varia lectio braces, außerdem steht zwischen torques und magni ein nicht unterzubringendes datis. 42 Falls nicht schon Lucilius braces schrieb, liegt der älteste Beleg 301 n. Chr. im Preisedikt des Diokletian (7, 46) vor: pro bracibus (denarii) biginti = βρακίων [(δηνάρια) κ]. Zeitlich nicht einzuordnen ist CGL 3, 208, 60: anasfurides (= ἀναξυρίδες) braces. Der Grammatiker Caper schreibt (VII 108, 10): bracas non braces; vgl. auch GL V 572, 11: bracas non braces, ut Livius: ‘laxisque bracis’ (in Wahrheit Ov. trist. 5, 7, 49). In den tironischen Noten (97, 7) scheint der Singular brax zu stehen. 43 In einem Erlass des Jahres 397 versuchten die Kaiser Arcadius und Honorius sogar, in Rom das Tragen von Hosen und orientalischen Schuhen bei Strafe der Verbannung zu verbieten, vgl. Cod. Theod. 14, 10, 2: Usum tzangarum aque bracarum intra urbem uenerabilem nemini liceat usurpare. Si quis autem contra hanc sanctionem uenire temptauerit, sententia uiri inl(ustri) p(rae)f(ecti) spoliatum eum omnibus facultatibus in perpetuum exilium praecipimus. 44 Spottlieder, die kurz vor Caesars Ermordung kursiert sein sollen, kritisierten seine angebliche Politik, verdiente Gallier zu Senatoren zu machen (Suet. D. Iul. 80): Galli bracas deposuerunt, latum clauum sumpserunt ‘die Gallier haben die Hosen abgelegt und den breiten Purpurstreifen (der Senatorentoga) angelegt’. Tacitus berichtet (hist. 2, 20), dass Caecina durch das Tragen von bracae in Italien Missfallen erregte: ornatum ipsius municipia et coloniae in superbiam trahebant, quod uersicolori sagulo bracas, barbαrum tegimen, indutus togatos alloqueretur ‘seine Aufmachung legten Landstädte und Bürgersiedlungen als Hochmut aus, denn er richtete das Wort an die Toga tragenden Männer selbst mit Hosen, einem barbarischen Kleidungsstück, bekleidet’. 45 Diod. Sic. 5, 30, 1: ἐσθῆσι δὲ χρῶνται (sc. οἱ Γαλάται) καταπληκτικαῖς, χιτῶσι µὲν βαπτοῖς χρώµασι παντοδαποῖς διηνθισµένοις καὶ ἀναξυρίσιν, ἃς ἐκεῖνοι βράκας προσαγορεύουσιν ‘die Gallier tragen bemerkenswerte Kleidung, nämlich Hemden, die in bunten Farben eingefärbt sind, und Hosen, die sie Brakai nennen’. Die Passage geht auf Poseidonios von Apameia zurück (FGrH II A, Nr. 87, F 116). 46 Hierocl. 64: σχολαστικὸς βράκας ἀγοράσας, ἐπεὶ δὲ στενὰς οὔσας µόγις ὑπεδύσατο, ἐδρωπακίσατο ‘ein Gelehrter hatte sich eine Hose gekauft, die er zu eng fand und kaum anziehen konnte; also entfernte er seine Körperhaare’. 47 Vers 333 wird in der Erstausgabe abgedruckt als: ἀµφὶ δὲ ποσσὶν ἔχεσκον ἐµοῖς βράκ᾿ ἐξυψ[, übersetzt als: ‘autour des jambes je portais des braies ...’. Vielleicht muss man aber βρακ᾿ ἐξυψοῦντα konjizieren (S. 42, Anm. 2 der Erstausgabe), und dann hätten wir einen Beleg mehr für
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aus Judäa belegt48; Hesych hat als Lemma sowohl βράκκαι als auch βράκες49, aber eine Singularform βράκα bietet (als typisch für οἱ Ῥωµαῖοι, also wohl für die Alltagssprache der byzantinischen Griechen seiner Zeit im Gegensatz zum klassischen Sprachgebrauch) erst Eustathios († 1196)50. Während also das Simplex wohl eine ziemlich seltene Erscheinung im griechischen Wortschatz war, ist das Diminutivum βρακίον51 in den Lexika52 und Scholien53 ganz geläufig, obwohl es offenbar in der Literatur im engeren Sinne als unklassisches Wort bewusst gemieden wurde54. In einer solchen Situation darf man erwarten, aus den Papyri weitere Erkenntnisse für die Wortgeschichte gewinnen zu können. Zuvor muss aber noch kurz die Etymologie des hier zur Diskussion stehenden Wortes besprochen werden. _________ βρακίον, das im 4. Jh. schon ganz geläufig war, allerdings aus der Literatursprache ferngehalten wurde (siehe unten). 48 Epiphan. adv. haer. 59 (= PG 41, 1033 C): τὰ δὲ ἄλλα πέδιλα ὡς εἰπεῖν, τὰ ἐξ ἱµατίων γεγενηµένα, ἃ παρά τισιν ὀδώνια κέκληται ἢ βράκαι ‘die anderen sogenannten Beinkleider, die aus Stoff geschneidert sind und die bei einigen Leuten Odonia oder Brakai heißen’. 49 βράκες· ἀναξυρίδες. βράκκαι· αἴγειαι διφθέραι παρὰ Κελτοῖς. 50 Eustath. ad Il. 2, 262: τὸ δέ· “ἃ αἰδῶ ἀµφικαλύπτει” περιφραστικῶς εἶπεν· οὐ γὰρ ἔκειτο ἴσως µία λέξις, δηλωτικὴ τοῦ καλύµµατος τῆς αἰδοῦς, ὅπερ οἱ Ῥωµαῖοι µὲν βράκαν φασίν, ἕτεροι δὲ ἀναξυρίδα ἐκ τοῦ ἀνασύρεσθαι ‘Homers ‘was die Scham verhüllt’ ist periphrastisch gebraucht; es gab wohl kein Einzelwort für die Bedeckung der Scham, wofür die Römer Braka sagen, andere aber Anaxyris (vom Verb ἀνασύρεσθαι)’. 51 Die Papyrusbelege zeigen eindeutig, dass das Wort – im Gegensatz zu den Verhältnissen im Lateinischen – als Singular verwendet werden konnte, wenn nur e i n e Hose gemeint war (vgl. O. Flor. 22, 9; P. Münch. III 142, 6-7; SB VI 9570, 6; vielleicht auch P. Apoll. 104, 17-18). Vgl. auch Eustath. ad Il. 1, 9: εὕρεται δὲ καὶ ἡ συ συλλαβὴ µεταβάλλουσα τὸ σ εἰς ξ ἐν τῷ ἀναξυρίς, ὃ τὸ παρὰ Ῥωµαίοις βρακίον δηλοῖ ‘Es kommt auch vor, dass bei der Silbe sy das s in x verwandelt wird, wie in Anaxyris, was das meint, was bei den Römern Brakion (Hose) heißt’. – Angesichts der neugriechischen Form βρακί, die auch in den Dialekten ihre Bestätigung findet (Ἱστορικὸν Λεξικὸν τῶν Νέων Ἑλληνικῶν IV 1, Athen 1953, 106), ist das Wort als Paroxytonon zu behandeln, d. h. es muss als βρακίον akzentuiert werden; Henricus Stephanus und Du Cange führen das Wort noch mit dem richtigen Akzent auf, aber die moderneren Wörterbücher (Pape, Preisigke, LSJ, DGE) bieten es fälschlicherweise als Proparoxytonon, weswegen natürlich auch in vielen Papyruseditionen der Akzent nicht stimmt. Im Folgenden ist bei allen Zitaten stillschweigend die richtige Akzentuierung durchgeführt worden. 52 Hesych hat zwar kein Lemma βρακίον, aber er verwendet das Wort als offenbar ganz geläufigen Ausdruck zur Erklärung anderer Lemmata: ἀναξυρίδες· φηµινάλια, βρακία. περισκέλια· βρακκία, φεµινάλια. σαράβαρα· βρακία. Ähnlich sieht es im Suda-Lexikon und im Photios-Lexikon aus: ἀναξυρίδας· φιμινάλια, βρακία. Das Etymologicum Magnum hat sogar eine “Erklärung”: ἀναξυρίδας· φηµινάλια, βρακία. [---] ἀναξυρίδας µέντοι ἅπερ ἐν τῇ συνηθείᾳ βρακία φασίν· ἀπὸ τοῦ ῥακία, πλεονασµῷ τοῦ β, Αἰολικῶς. Zu βρεκία im Papyrus-Glossar von Nessana siehe unten. 53 Schol. in Aristoph. Vesp. 1087: θυλάκους φασὶν εἶναι εἴδη βρακίων παρὰ Πέρσαις. Schol. in Xenoph. Cyr. 4, 5, 36: “περιδεῖν”, ἀντὶ τοῦ δεσμεύειν· ταῦτα γὰρ ὡς βρακία ἐποίουν. 54 Der früheste literarische Beleg findet sich im (unter dem Namen von Achmet ben Sirin laufenden) Ὀνειροκριτικόν aus dem 9. oder 10. Jh. (p. 244).
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Die antiken Autoren waren sich weitgehend einig darüber, dass die Sache und das Wort von den Galliern kamen, und sie haben insofern Recht, als es die Gallier waren, bei denen die Römer zum ersten Male Hosen sahen und eine Bezeichnung dafür hörten. Ein originär keltisches Wort ist brāca aber nicht, sondern die Kelten haben es von ihren germanischen Nachbarn übernommen. Es lässt sich ein urgermanisches *brōks rekonstruieren55, das ursprünglich wohl ‘Hintern’ bedeutete56. Wir haben es also bei brāca mit einem germanischen Wort zu tun, das über das Gallische ins Lateinische und von da aus weiter ins Griechische gelangte. In den Papyri tauchen einschlägige Formen seit dem 2. Jh. n. Chr. auf. Von einem Simplex βράκα(ι) findet sich keine Spur57, aber es scheint einen später wieder aufgegebenen Versuch gegeben zu haben, das Wort mit dem Suffix –αρία einzubürgern: In P. Giss. 90, 6, der zu den “um die Wende der traianischen und hadrianischen Regierung” (p. VII) zu datierenden Heptakomia-Papyri gehört, ist von βρακαρίας δραχµῶν δύο die Rede, was kaum etwas anderes als ‘Hosen im Werte von 2 Drachmen’ heißen kann58. Auch die Diminutiv-Form βρακέλλα, die im 3. Jh. in einem Brief eines Soldaten an seine Mutter vorkommt59, stellt wohl vor allem den Versuch einer Einbürgerung des Wortes dar.
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Vgl. deutsch (veraltet) Bruch “kurze Hose” (< mhd. bruoch < ahd. bruoh), niederl. broek, englisch breeches (pl.), dänisch brog, norw. schwed. brok, isländ. brók (< altwestnord. brók). 56 Kluge/Seebold 221989, 108: “Im Germanischen ist eine klare etymologische Anknüpfung möglich, so daß das Germanische die gebende Sprache gewesen sein muß: Gleichlautend gibt es im Germanischen Wörter für ‘Hinterteil’, so daß die Hose nach dem Körperteil benannt wurde, den sie bedeckt (vgl. frz. culotte f. ‘Hose’ zu frz. cul m. ‘Hinterteil’), altnord. brók f. ‘Oberschenkel’, altengl. bréc ‘Hinterteil’, schweizerd. bruech ‘Schamgegend’”. Die Entlehnung des germanischen Wortes ins Keltische muss “in jedem Fall sehr früh erfolgt sein, nämlich ehe indogerm. a¯ zu germanisch ó wurde” (Trübner 1939, I 440). 57 Die im Jahre 127 bezeugte σπείρα τρίτη Βρακῶν (SB XX 14635, 13) hat mit βράκαι ‘Hose’ nichts zu tun; es handelt sich vielmehr um eine nicht ganz gelungene griechische Wiedergabe des lateinischen cohors tertia Bracarum, was die Bezeichnung einer der fünf aus Bracari (gr. Βράκαροι), also aus Bewohnern des Einzugsbereiches von Bracara (Augusta), der Hauptstadt Galiciens (Callaecia), zusammengesetzten Kohorten, war (vgl. RE III 802). “The Greek translator regarded the Latin word ‘Bracarum’ as plural form of the Latin ‘Bracae’, which would normally be rendered in Greek as Βράκαι” (Devijver 1994, 71). Freilich hat man offenbar auch in der Antike den Unterschied zwischen den galizischen Bracari und den narbonnensischen Bracati (vgl. Pomp. Mel. 2, 74: fuit aliquando Bracata, nunc Narbonensis; CGL 632, 47: Braca Gallia, que incolas ts e{s}t) nicht immer klar erkannt, was man beispielsweise an einer zweisprachigen Inschrift aus Sipka in Bulgarien (G. Mihailov, Inscriptiones Graecae in Bulgaria repertae III 2, Sofija 1964, Nr. 1741 bis = L’Année Epigraphique 1965, Nr. 347) sehen kann, wo Ce[lsus Marius eques coh(ortis) II Bra]caug[us]tarom mit Κέλσος Μάριος ἱππεὺς χώρτης δευτέρας Βρακατῶν Αὐγούστι (!) übersetzt ist. 58 Ganz anders zu beurteilen ist βρακαρίων ζ´ (ἔτους), was sich P. Oxy. X 1341, 1 (IV. Jh.) findet: Der Text ist eine Rechnung, und da muss es sich um den Genitiv Plural von βρακάριος ‘Hosenhersteller’ < lat. brācārius (ThLL 2, 2155) handeln. 59 BGU III 814, 29-30: ὁ ἀδελ|φός µου Γεµέλλος ἔπεµψέ µοι ἐπιστολὴν καὶ βρακέλλας ‘mein Bruder Gemellos sandte mir einen Brief und Hosen’.
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Auf lange Sicht erfolgreich war aber nur die Adaptation βρακίον. Der Erstbeleg findet sich auf einem Florida-Ostrakon des 2. Jh. n. Chr.60, wo in sonst zerstörtem Kontext klar βρακίν zu lesen ist (22, 9). Im 4. Jh. gibt es einen Beleg61, ein Beleg stammt aus der zweiten Hälfte des 4. oder der ersten Hälfte des 5. Jh.62, ein Beleg ist ins 6. Jh. zu datieren63, und schließlich gibt es noch einen Beleg aus der Zeit zwischen 703 und 71564. Interessant ist das mehrfache Auftreten einer Nebenform βρεκίον. Sie findet sich zum ersten Male als βρεκία β im Theophanes-Archiv, das auf die Zeit zwischen 317 und 324 zu datieren ist (P. Ryl. IV 627, 33). In der Münchner Liste von Bekleidungsstücken des 6. Jh., die uns schon ἐρµ[α]λαῦσον geliefert hat, kommt zweimal hintereinander βρεκίν vor65, aber schon ein paar Zeilen später steht die Zusammensetzung κονδοβράκιν66. Im Papyrus-Glossar von Nessana, das auf “the beginning of the seventh century” datiert wird, findet sich ebenfalls die Form mit ε (P. Ness. 2, 8, 91): [σαράβαρα· Π]ερσικὰ βρέκια. Zu βρεκίον gehört natürlich _________ 60
Zur Datierung vgl. Bagnall 1976, 4–5: “If on palaeographical grounds we allow the period from 125 to 175 as possible, we will probably come as close as possible to precision. [- - -] The formulas used [- - -] confirm that we are dealing with texts of the second century, with the first unlikely and the third virtually excluded. If we are to trust the sampling, it seems that our texts are probably neither very early nor very late in the second century”. 61 P. Genf. I 80, 6 (“milieu du IVe siècle”): βρακία β. - In einem “lease of sheep and goats” vom 6. März 306 kommt zweimal βρακᾶτος vor, allerdings merkwürdigerweise zur Bezeichnung einer besonderen Sorte von Schafen: [βούλ]οµαι µισ[θώ]σασθαι παρά σου τὰ ὑπάρχοντα ὑµῖν κοινῶς ἐξ ἴσου πρόβατα εὐάρε|στα ἀθά]νατα τέλε[ια, ἀριθµὸν ἑ]ξήκοντα δύο, ἀφ᾿ ὧν ἔµποκα ἕξ, ἀπὸ κουρᾶς τὰ λοιπὰ πεντήκοντα ἕξ, | [ὧν θηλυ]κὰ µὲν τε[σσαράκοντ]α ἐννέα – Μωτωνήσια δέκα ἑπτά –, κριοὺς ὁµοίως τοὺς λοιποὺς δέκα τρῖς – [ὧ]ν Μωτωνησίους | [τρεῖς, Ξοϊ]τικοὺς δ[ύο, …ο]υς τρεῖς, τοὺς δὲ λοιποὺς πέντε συµµίκτους χω[ρὶς βρα]κάτων. Irene Ehrenstrasser, “Schafe in Hosen?”, Biblos 43, 1994, 103–109, bes. 109 meint dazu: “βρακᾶτοι muß [---] eine Schafrasse meinen, deren Charakteristikum vermutlich dicht behaarte Beine waren, so daß der Eindruck einer Hose entstehen konnte”; zur Stützung dieser Ansicht verweist sie darauf, dass in den Anecdota Atheniensia (ed. A. Delatte) 2, Liège/Paris 1939, 465 eine Taubenart als βρακᾶτος bezeichnet wird. Zur Untermauerung dieser Deutung sei darauf hingewiesen, dass diese Taubensorte in Diätrezepten von Medizinschriftstellern häufiger vorkommt: De duodecim mensium natura 10, 5: καὶ ἐκ τῶν ὀρνέων ἐσθίειν ὄρνιθας καὶ ἀλεκτορόπυλαι καὶ περιστερόπουλα λευκά, βρακκάτα, ψαχνά, δίεφθα καὶ ὀπτά (ähnlich 5, 3: περιστερόπουλα, λευκὰ δὲ [---] καὶ βρακκάτα); Hierophil. de nutr. meth. 1, 2; 6, 4 περιστερόπουλα λευκὰ βρακκάτα; Ps. Hippocr. περὶ διαφόρων καὶ παντοίων τροφῶν = Anecd. Ath. p. 479, 13-15: περιστερὰ εὔπεπτοι καὶ εὐστόµαχοι· κρείττονες δέ εἰσιν αἱ λευκαὶ τῶν µαύρων καὶ οἱ νεοττοὶ τούτων καὶ µάλιστα αἱ βρακάται· τρυφερόσαρκοι γὰρ καὶ ὑγρότεραι τῶν ἄλλων καὶ εὐχυµότεραι; Ps. Hippocr. περὶ διαφορᾶς τροφῶν = Anecd. Ath. p. 484, 1–2: ὁ φασιανὸς καὶ ὁ πέρδιξ εὔπεπτοι καὶ εὔχυµοι, ὁµοίως καὶ τὰ λευκὰ περιστερόπουλα καὶ µάλιστα τὰ βρακάτα. – Im Lateinischen ist brācātus außer in seiner eigentlichen Bedeutung ‘mit Hosen bekleidet’, die, wie gesagt, auch als Spitzname für die Galli Narbonenses geläufig war, nur als Eigenname von Pferden belegt (ThLL II 2155, 81–84). 62 SB VI 9570, 6: βρακὶν σπαρτιωτι(). 63 SPP XX 245, 22: βρακία γ. 64 P. Apoll. 104, 17–18: βρακ(ία) παλαι(ὰ) | βρακ(ία) καινούργ(ια); denkbar wäre es natürlich auch, dass der Singular steht, also: βρακ(ίον) παλαι(ὸν) | βρακ(ίον) καινούργ(ιον). 65 P. Münch. III 142, 6–7: βρεκὶν ὑψηλὸν (lies: ψιλὸν) α´ | βρεκὶν χονδρὸν α. 66 P. Münch. III 142, 14: κονδοβράκιν καµπαγίων α ‘eine kurze Hose für Stiefel’.
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auch die Form βρεκάριος, die bei LSJ aus einem unveröffentlichten Londoner Papyrus des 6. Jh. (inv. 2176) zitiert wird, die aber auch in einer Inschrift aus Kleinasien (Korykos im Rauhen Kilikien) vorkommt67. Francis Thomas Gignac behandelt die βρεκίον-Formen zusammen mit anderen Fällen von ε statt α und ist geneigt, hier die Auswirkung einer “underdifferentiation of phonemes through bilingual interference” zu vermuten (Gignac 1976, 281; 285–286). Diese Erklärung mag für andere Fälle von α-ε-Wechsel, die als Einzelfehler einzustufen sind, zutreffen, aber βρεκίον muss angesichts der mehrfachen Bezeugung doch auf jeden Fall eine Form sein, die wirklich gelebt hat und nicht nur den mangelhaften Griechischkenntnissen dieses oder jenes Schreibers zu verdanken ist. Die von außerhalb Ägyptens stammenden Belege (Glossar von Nessana, epigraphische Zeugnisse aus Kleinasien) machen schließlich und endlich jede Erklärung, die auf koptisch-griechische Interferenz rekurriert, zur Makulatur. Vielleicht ist für das Entstehen der Form βρεκίον aber doch eine zweite Sprache verantwortlich, freilich nicht das Koptische, sondern vielmehr das Germanische. Zu erinnern ist hier an die Geschichte von englisch breeches, das älteres breech fortsetzt, welches auf angelsächsisch bréc, den mit i-Umlaut gebildeten Plural von bróc, zurückgeht (Sievers 1898, 150). Man könnte nun annehmen, dass eine vergleichbare altgermanische Umlaut-Form dazu geführt haben könnte, dass in einigen Papyri βρεκίον und nicht βρακίον steht. Wenn das richtig ist, so ist βρεκίον ein Indiz für direkten germanisch-griechischen Sprachkontakt ohne lateinische Vermittlung, denn im Lateinischen gibt es keine vergleichbaren Formen. 6. σαφώνιον ‘Seife’ Bei Plinius dem Älteren findet sich unter den Mitteln gegen Beulen und Schwellungen der Erstbeleg für sāpō, wobei die aufgezählten Ingredienzen Talg und (alkalische) Asche in der Tat die Grundbestandteile von Seife sind; als üblicher Verwendungszweck von sāpō wird allerdings nicht das Reinigen, sondern das Färben von Haaren angegeben68, und dazu stimmen auch andere römische Zeugnisse der ersten zwei nachchristlichen Jahrhunderte69. _________ 67
MAMA III 406: Δόξα σοί, ὁ θ(εὸ)ς ὁ | µόνος ἀθ[άνα]το[ς]. Σοµατοθήκη | Θεοδόρου βρεκ(αρίου). Dort auch die nur von βρεκάριος, nicht von βρακάριος aus zu erklärende Form βρικάριος (MAMA III 597: Σωµατοθήκη διαφέρουσα | Μηνᾶ καὶ Γεοργίου | υἱοῦ Λεοντίου βρικαρίυ). In einer Inschrift aus Aphrodisias in Karien (Reinach 1906, 298, Nr. 219: τόπος Κυριακοῦ βρακαρίου) liegt eine interessante Verbesserung vor: “Le premier A était d’abord un E”. 68 Plin. 28, 191: prodest et sapo. Galliarum hoc inuentum rutilandis capillis fit ex sebo et cinere, optimus fagino et caprino, duobus modis, spissus ac liquidus; uterque apud Germanos maiore in usu uiris quam feminis ‘Nützlich ist auch die Seife. Diese gallische Erfindung, um die Haare rot zu färben, wird bereitet aus Talg und Asche, am besten aus Buchenasche und Ziegentalg, und zwar auf zweierlei Art, fest und flüssig; beide Arten werden bei den Germanen mehr von den Männern als von den Frauen gebraucht’. 69 Mart. 14, 26. Als Reinigungsmittel, allerdings zugleich wohl Bleichmittel, tritt sāpō auf bei Seren. Samm. 11, 11–12 (= 152–153): horrebit si liuor atrox aut nigra cicatrix | attrito sapone genas purgare memento.
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In den Papyri kommt σάπων nicht vor70; stattdessen tritt vom Anfang des 4. Jh. an σαφώνιον auf. In den “travel accounts” aus dem Theophanes-Archiv, die auf die Jahre zwischen 317 und 324 n. Chr. zu datieren sind, kommt σαφώνιον nicht weniger als achtmal vor (P. Ryl. IV 627, 319; 629, 106; 220; 287; 366; 630, 341; 634, 12; 639, 214). Aus dem 5. Jh. stammt ein Beleg71, das 6. Jh. ist mit drei Belegen vertreten72, und die spätesten Bezeugungen fallen ins 6. oder 7. Jh.73. Auch die im 4. Jh. belegte berufsbezeichnende Ableitung σαφωνίτης, wahrscheinlich ‘Seifenhändler’74, gehört zu σαφώνιον. Es ist offenkundig, dass das auf die medizinische Fachliteratur beschränkte σάπων und das auf die Papyrusdokumente beschränkte σαφώνιον im Grunde dasselbe Wort repräsentieren, und es ist auch offenkundig, dass σάπων eine Transposition des lateinischen sāpō ins Griechische darstellt. Man darf ausschließen, dass die eigentlich richtige Form σαπώνιον und nicht σαφώνιον sei, denn das Wort wird in den Papyri immer mit φ und nie mit π geschrieben. Wahrscheinlich ist σαφώνιον eine unabhängig von sāpō / σάπων aus dem Germanischen75 entlehnte Form. Für das Urgermanische wird eine Grundform *saipō angesetzt, neben der es nach Ausweis des ins Finnische eingedrungenen Lehnwortes saippio und von ahd. seipfa eine durch Vokalentfaltung zu erklärende Nebenform *saipiō gegeben haben muss (de Vries 1977, 462-463). Der Typ sāpō / σάπων geht zweifellos auf *saipō zurück, während für σαφώνιον durchaus *saipió in Frage kommen könnte: Vor unbetontem i sind die stimmlosen Verschlusslaute im Germanischen jedenfalls anders ausgesprochen worden als sonst, und φ ist als Wiedergabe eines pj oder gar pfj zumindest nicht auszuschließen76.
_________ 70
Der vermeintliche BGU-Beleg (IV 1058, 35) aus einem Ammenvertrag des Jahres 13 v. Chr. (!), der durch die Wörterbücher geistert (zuletzt: Daris 1991, 100), beruht auf einer Fehllesung. Der richtige Text, ohne σάπων, findet sich bei schon Mitteis / Wilcken 1912, ΙΙ 2, 182 (= Nr. 170) und bei Manca Masciadri / Montevecchi 1984, 57-60 (= CPG I, Nr. 4), vgl. BL VIII 39. 71 SB 14, 11621, 4: τ]ῶν σαφωνίων ἔως δ᾿ἂν μάθω[. 72 P. Oxy. X 1343: ἀγγῖ(ον) σα[φ]ω[ν]ί(ου) (zur Lesung vgl. K. Worp); XVI 1924, 3: σαφωνίου κεράμιν α; P. Vindob. Worp 11, 8: σαφωνίου ἀγγῖον α´ λί(τραι) νδ´. 73 P. Ant. III 202 a 10: ὑ(πὲρ) τιμῆς σαφωνίου; BGU XVII 2719, 2: τιµῆς σαφωνίου (Pap. σαφωνιν) φόλλεις α´. 74 P. Ross. Georg. V 60, 7: Πολυδεύκῃ σαφωνίτῃ δι(ὰ) Δωροθέ(ου) σίτου (ἀρτάβαι) η. – Die in einer Inschrift aus Odessos zu belegende Form σαπουνᾶς “Seifenhersteller” (V. Beševliev, Spätgriechische und spätlateinische Inschriften aus Bulgarien, Sofia 1964, Nr. 105 = Bulletin épigraphique 1962, Nr. 214) gehört hingegen zu σάπων. 75 Dass letztlich vom Germanischen auszugehen ist, ist unumstritten. Der Versuch von Jacques André (1955–1956), das Keltische der kleinasiatischen Galater als direkte Quelle für das Griechische zu erweisen, ist äußerst hypothetisch. 76 Hier liegt natürlich eigentlich eine Rechnung mit zwei Unbekannten vor: Wir wissen nicht genau, wie germanisches p vor unbetontem i ausgesprochen wurde, und wir wissen ebenso wenig mit Sicherheit, wie griechisches φ im 3. Jh. klang – jedenfalls nicht einfach f, sonst hätten die Erfinder der koptischen Schrift es bei φ belassen können und wären ohne den Zusatzbuchstaben ausgekommen.
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7. Schlussfolgerungen Die fünf betrachteten germanischen Elemente im Griechischen der Papyri Ägyptens erlauben einige Schlussfolgerungen: 1. Das Griechische bildete bis zum 7. Jh. noch eine Einheit: Wörter, die beispielsweise entlang der Donaugrenze oder in Konstantinopel aus Varietäten des Germanischen übernommen wurden, konnten schnell zum Gemeingut werden und also bald an der Südgrenze des Reiches, in Ägypten, auftauchen. Die dokumentarischen Papyri versetzen uns in die Lage, diesen Vorgang mit einer Präzision zu verfolgen, der bei literarischen Texten nie zu erzielen wäre. 2. Die Annahme, dass germanische Elemente i m m e r zunächst ins Lateinische und erst von dort ins Griechische gekommen wären, ist offensichtlich nicht richtig: Von den fünf untersuchten Wörtern zeigen immerhin drei (ἀρµαλαύσιον, βάνδον, σαφώνιον) Eigentümlichkeiten, die darauf schließen lassen, dass direkter germanisch-griechischer Sprachkontakt vorlag. 3. Die Germanismen haben im Griechischen eine Entwicklung, die von der im Lateinischen weitgehend losgelöst ist: Das betrifft sowohl die verschiedenen Arten der Adaptation (-άριον, -αρία, -ον, -ιον) als auch die Bedeutungsentfaltung. 4. Die Papyri liefern Bezeugungen von fremden Elementen, denen aus puristischen Motiven der Eintritt in die Sprache der eigentlichen Literatur mehr oder weniger lange versagt blieb. 5. Die Papyrus-Herausgeber müssen bei der Postulierung von lege-Formen noch vorsichtiger werden: Ein σαφώνιον, das als “lege σαπώνιον” auftaucht, beruhigt das klassisch geprägte Sprachgewissen, aber es entspricht nicht der historischen Realität. Ein verständnisvolles Ineinandergreifen der dokumentarischen Papyrologie und der historischen Sprachwissenschaft verspricht manche Ergebnisse, zu denen keine dieser Wissenschaften für sich allein kommen könnte.
III. DER ANTIKE SPRACHBUND
5. Der kaiserzeitliche griechisch-lateinische Sprachbund Abstract: In 1928 N. S. Trubetzkoy postulated the concept of a Sprachbund, a ‘linguistic union’ in English. This concept can be applied to at least seven phonetical, five morphological and six syntactical parallelisms and to many lexical convergences which characterise Greek and Latin during the imperial period. Keywords: Sprachbund, Greek-Latin parallelisms, bilinguism
1. Das linguistische Sprachbund-Konzept Es fehlt nicht an Studien zum Miteinander von Lateinisch und Griechisch in der Kaiserzeit (z. B. Immisch 1912; Zilliacus 1935; Dubuisson 1981; Biville 1990 / 1995; Binder 2001; Adams / Janse / Swain 2002; Adams 2005), auch mit Berücksichtigung der papyrologischen Informationen (Kaimio 1979; Rochette 1997). Normalerweise werden die gemeinsamen Elemente aufgezählt, und es wird, je nachdem, eine griechische Beeinflussung des Lateinischen oder eine lateinische Beeinflussung des Griechischen aufgezeigt. Es gibt jedoch ein linguistisches Modell, das auf den lateinisch-griechischen Sprachkontakt der Kaiserzeit – bis etwa ins 4. Jahrhundert, als die Zweisprachigkeit der Elite erheblich zurückging – gut angewendet werden kann: der Sprachbund. Das Konzept des Sprachbundes wurde von Nikolay S. Trubetzkoy Ende der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entworfen (1928, 18). Es lautet: Gruppen, bestehend aus Sprachen, die eine grosse Ähnlichkeit in syntaktischer Hinsicht, eine Ähnlichkeit in den Grundsätzen des morphologischen Baus aufweisen, und eine grosse Anzahl gemeinsamer Kulturwörter bieten, manchmal auch äussere Ähnlichkeit im Bestande der Lautsysteme, – dabei aber keine systematische Lautentsprechungen, keine Übereinstimmung in der lautlichen Gestalt der morphologischen Elemente und keine gemeinsamen Elementarwörter besitzen, – solche Sprachgruppen nennen wir Sprachbünde. Dieses Konzept hat sich bewährt. In einem neuen Lexikon der Sprachwissenschaft bringt das Lemma “Sprachbund” folgenden Eintrag (Bußmann 2008, 642): Gruppe von geographisch benachbarten, genetisch nicht oder nur marginal verwandten Sprachen, die aufgrund wechselseitiger Beeinflussung (Adstrat, Sprachkontakt) Konvergenzerscheinungen aufweisen, die sie strukturell eindeutig von anderen benachbarten und / oder genetisch verwandten Sprachen abgrenzen. Als typisches Beispiel gilt der Balkansprachbund, der sich aus slawischen (Bulgarisch, Makedonisch, z. T.
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Serbisch) und romanischen Sprachen (Rumänisch, Moldauisch) sowie Albanisch und z. T. auch Neugriechisch zusammensetzt; alle diese Sprachen weisen gemeinsame Merkmale und Entwicklungen auf. Andere Beispiele für Sprachbunderscheinungen sind der baltische Sprachbund, der südostasiatische Sprachbund oder auch der SAE-Sprachbund, der alle Sprachen europäischer Prägung (Standard Average European) umfasst. Als konstituierend für einen Sprachbund werden Ähnlichkeiten vor allem in der Syntax, dann im morphologischen und phonologischen System und schließlich im Wortschatz – jenseits von einfachen Entlehnungen – angesehen. Es ist klar, dass historisch ein Sprachbund aus gegenseitigen Anpassungen entsteht, die sich in einer lange andauernden Mehrsprachigkeitssituation als Resultat einer intensiven Koexistenz im Kontakt von Sprachgruppen ergeben haben (Comrie / Matthews / Polinsky 2004, 34). Eine Aussage darüber, wie zahlreich diese Übereinstimmungen sein müssen und ob sie in allen oder nur in einigen der genannten Bereiche auftreten müssen, fehlt normalerweise in den Definitionen. Vor allem aber wird nichts darüber gesagt, wie viele Sprachen zusammenkommen müssen, um einen Sprachbund zu bilden, ob es also einer größeren Anzahl von Sprachen bedarf oder ob im Extremfall bereits zwei Sprachen einen Sprachbund bilden können. In der neueren Literatur besteht Einigkeit darüber, dass es nicht nötig ist, dass Übereinstimungen sowohl in der Syntax als auch in der Morphologie und in der Phonologie auftreten, dass aber jedenfalls die Anzahl der Übereinstimmungen nicht zu klein ausfallen darf – als unterste Menge darf man vielleicht an die Zahl fünf denken – und dass die Übereinstimmungen nicht nur in lateralen Gebieten der Sprache auftreten dürfen, sondern in zentralen Sektoren, die prägend für den Sprachcharakter sind. Weniger einig ist man sich bezüglich der Mindestzahl von Sprachen, die nötig sind, um einen Sprachbund zu bilden. Helmut Wilhelm Schaller sagt eindeutig (1975, 54), dass “offensichtlich mehr als nur zwei Sprachen” erforderlich seien, während Harald Haarmann (1976, 24) “mindestens zwei benachbarte Sprachen” für ausreichend hält. Im Folgenden soll von dieser Mindestzahl ausgegangen werden, die ja eigentlich zwingend ist: Wenn wir einmal von der Prämisse ausgehen, dass es einen Balkansprachbund gibt, dann müsste man seine Existenz auch dann anerkennen, wenn durch irgendeinen Zufall die anderen zugehörigen Sprachen ausgestorben wären, ohne Zeugnisse zu hinterlassen, und lediglich die Sprachbundmitglieder Rumänisch und Albanisch noch existieren würden. Damit fällt zugleich auch die von H. Haarmann postulierte Voraussetzung der direkten Nachbarschaft weg – Bedingung für die Herausbildung eines Sprachbundes ist lediglich der intensive Kontakt zwischen zwei Sprachen; der aber ist auch ohne direkte geographische Berührung zwischen den Sprechergemeinschaften möglich. Die der folgenden Darstellung zu Grunde liegende Definition eines Sprachbundes soll also lauten: “Ein Sprachbund besteht aus mindestens zwei miteinander in Kontakt stehenden, nicht eng verwandten Sprachen, die mindestens fünf
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Gemeinsamkeiten nicht genetisch zu erklärender Art in mehr als einem Sprachbereich aufweisen”. 2. Historische Voraussetzungen für einen kaiserzeitlichen Sprachbund Für die römische Kaiserzeit, also ungefähr für die ersten drei nachchristlichen Jahrhunderte, kann man postulieren, dass das Griechische und das Lateinische einen Sprachbund im soeben geäußerten Sinn gebildet haben. Auf die zahlreichen Gemeinsamkeiten, die sich in dieser Zeit zwischen den beiden Sprachen herausgebildet haben, ist, wie gesagt, schon oft hingewiesen worden, aber das Sprachbund-Konzept wurde erst in den achtziger Jahren in die Diskussion gebracht (Kramer 1983) und ist seither weitgehend auf Zustimmung gestoßen (Adrados 2001, 206; Muljačić 1998, 875). Zur Herausbildung dieses antiken Sprachbundes führte in erster Linie eine verbreitete Zweisprachigkeit und die Existenz einer gemeinsamen Kultur und einer weitgehend identischen Lebensform zumindest der führenden, für die Sprachform verantwortlichen sozialen Schichten. Zum besseren Verständnis des Zustandekommens dieser Zweisprachigkeit seien im Folgenden kurz einige historische Voraussetzungen grob skizziert. Von ihren ersten greifbaren Manifestationen an stand die lateinische Sprache, die zunächst nur das Idiom der unbedeutenden Tibersiedlung Rom war (Tagliavini 1998, 63), unter überwältigendem Einfluss des Griechischen. Von den Griechen stammt (wohl über etruskische Vermittlung) die Schrift (Traina 1973, 11–27); von den frühesten Zeugnissen an findet man Entlehnungen aus dem Griechischen (Devoto 1968, 86–89), und auch die Literatur ist von Anfang an ohne das griechische Vorbild undenkbar (Palmer 2000, 103–113). Sicher ist das Griechische auch nicht unschuldig daran, dass das Lateinische die Anfangsbetonung aufgab und eine nach den Quantitäten der vorletzten Silbe geregelte Betonung annahm, die nur noch Paroxytona und Proparoxytona zuließ (Kretschmer 1970, 156–157). In dem Maße, in dem Rom seine Macht über die Apenninenhalbinsel ausdehnte und in Kontakt mit den dortigen Griechenstädten wie dem ionischen Kyme / Cumae oder den dorischen Siedlungen der süditalienischen Magna Graecia trat, strömten auch Griechen und gräzisierte Italiker in die neue Metropole. Infolge der punischen Kriege und des Krieges gegen Pyrrhus kamen scharenweise Sklaven nach Rom, die von griechischer Sprache und Kultur geprägt waren (Devoto 1968, 118). Griechischsprachige Personen bildeten im 2. vorchristlichen Jahrhundert also mit Sicherheit eine normale Erscheinung in Rom. Sprachlich ist das Eindringen von griechischen Interjektionen wie attatae, euge, papae, babae, gerrae etc. (Hofmann 1936, 23–27) ein deutliches Zeichen dieser Durchdringung. Während also aus der Unterschicht lebendiges Griechisch auf das Lateinische einstürmte, war andererseit die Oberschicht mehr und mehr bestrebt, sich der Bildung zu öffnen, und das setzte nach Lage der Dinge Kenntnis des Griechischen voraus. So begann ein immer stärker werdender Drang in Richtung auf eine lateinisch-griechische Zweisprachigkeit der römischen Elite und ihres Personals (Devoto 1968, 118).
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Festzuhalten bleibt jedoch für die republikanische Periode, dass wir es mit einer Einbahnstraße zu tun haben, die vom Griechischen zum Lateinischen führte. Trotz einer durchaus vorhandenen nationalrömischen Opposition gegen eine allzu bereitwillige Annahme des griechischen Einflusses – genannt seien stellvertretend Cato der Ältere und Cicero, der durch Lehnübersetzungen (φιλανθρωπία > humanitas, οὐσία > essentia, ποιότης > qualitas) die Gräzismen zu übertünchen trachtete – hellenisierte sich die lateinische Sprache zusehends. Das Griechische hingegen blieb vorerst als Sprache mit dem weitaus höheren Kulturprestige unberührt von lateinischen Einflüssen. Einige gebildete Griechen, wie etwa die Mitglieder des Scipionenkreises, konnten sicherlich wegen ihres langen Aufenthaltes in Rom mehr oder weniger gut lateinisch, andererseits werden die Mitglieder der römischen Elite mit ihnen weitgehend auf Griechisch verkehrt haben. In Griechenland selbst war die Benutzung des Griechischen im Verkehr zwischen Römern und Griechen die Regel (Adams 2003, 9–14). Mit dem Beginn der Kaiserzeit verändert sich die Situation langsam. Immer mehr verschmelzen die verschiedenen Gebiete des riesigen Reiches zu einer tatsächlichen Einheit: Der Kontakt zwischen den zum Teil sehr weit voneinander entfernten Reichsteilen ist erstaunlich eng, und ein Studienaufenthalt römischer junger Männer der Oberschicht in Athen gehörte ebenso zum üblichen Programm (Marrou 1977, 553) wie die Reisen einflussreicher Griechen zur Vertretung der Interessen ihrer Heimatstädte in Rom (Artemidor setzte sich für Ephesos ein und wurde dafür mit einer Statue im Artemistempel geehrt, Gallazzi / Kramer / Settis 2008, 99–100; Plutarch war häufig für Chaironeia in Rom, Jones 1971). Dass diese Griechen dabei die lateinische Sprache erlernten, ist nichts Ungewöhnliches: Plutarch beherrschte das Lateinische nach eigener Aussage nicht vollkommen (Dem. 2), aber doch so gut, dass er selbst lateinische Werke lesen und lateinische Wörter erklären konnte (Strobach 1997, 33–46). Apuleius (125–180 n. Chr.) stellt uns als Hauptfigur seines Eselsromans einen Griechen vor, der in der lateinischen Stadt als Neuankömmlung die einheimische Sprache der römischen Studien mit unendlicher Mühe ohne jeden Lehrer (1, 1, 4: in urbe Latia aduena studiorum Quiritium indigenam sermonem aerumnabili labore nullo magistro praeeunte) erlernt hat. Einige Bereiche des Lebens (Militär, Rechtswesen) blieben zumindest prinzipiell dem Lateinischen vorbehalten, aber das Prestige der griechischen Sprache war so hoch, dass in der Praxis auch hier das Griechische weitestgehend auch die Funktionen erfüllte, die eigentlich für das Lateinische reserviert waren: “In the Roman army in Egypt matters of an official kind were regularly handled in Greek. [---] Latin was clearly a sort of supreme or super-high language in the army, which was bound to be used in certain circumstances” (Adams 2003, 608). Das hier skizzierte Bild des Koexistierens der beiden Kultursprachen Lateinisch und Griechisch gilt nun keineswegs nur für die soziale Oberschicht. Uns liegen genügend Zeugnisse vor, die für eine gewisse Zweisprachigkeit in Kreisen der weniger gebildeten und weniger begüterten Schichten sprechen. Es wurde bereits erwähnt, dass viele Sklaven aus dem Osten des Reiches und aus Süditalien kamen, wo das Griechische die lingua franca war (Adrados 2001, 203). “Vor
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allem haben die großen Städte des lateinischen Westens viele Griechen angezogen, die dort inmitten der einheimischen Bevölkerung nicht nur als Lehrer und Philosophen, sondern auch als kleine Händler, Übersetzer, Soldaten, Magier wie auch als Kuppler oder einfach als Proletarier lebten” (Zgusta 1980, 140). Dieser Teil der Bevölkerung war ohne jeden Zweifel ein wichtiger Faktor der Zweisprachigkeit. Man sollte nicht vergessen, dass die Ausbreitung des Christentums zunächst ausschließlich in griechischer Sprache vor sich ging, wobei die ersten Anhänger in Rom sicher zur Unterschicht gehörten. Dass aber diese aus dem Osten gekommenen kleinen Leute für ihre alltäglichen Bedürfnisse des täglichen Lebens auch bis zu einem gewissen Grade mit dem Lateinischen umgehen mussten, liegt auf der Hand. Die Oberschicht war jedenfalls durch und durch zweisprachig. So empfiehlt beispielsweise Quintilian im ersten Jahrhundert n. Chr., man solle bei der Erziehung der jungen Römer mit dem Griechischen beginnen, denn mit dem allgemein verbreiteten Lateinischen seien die Schüler ja sowieso vertraut (Quint. 1, 1, 12: a sermone Graeco puerum incipere malo, quia Latinum, qui pluribus in usu est, uel nobis nolentibus perbibet ‘Ich ziehe es vor, dass der Knabe mit der griechischen Sprache anfängt, weil er das Lateinische, dessen sich ja die meisten bedienen, sowieso auch gegen unseren Willen in sich aufsaugen wird’). Über– triebene Gräkomanie lehnt man zwar generell ab (Quint. 1, 1, 13), aber die gründ– liche Kenntnis von beiden Sprachen (utraque lingua bei Hor. carm. 3, 8, 5, bzw. uterque sermo bei Suet. Claud. 42) war für die Elite eine Selbstverständlichkeit. Um die Allmacht des imperium Romanum zu demonstrieren, verwendeten römische Politiker in bestimmten Situationen das Lateinische auch in rein griechischer Umgebung (Adams 2003, 545–576: “Latin as a language of power”), aber wenn solche Machtdemonstration nicht nötig war, griff man selbstverständlich zum Griechischen, und Kaiser Claudius (10–54 n. Chr.) antwortete griechischspra– chigen Gesandten sogar im römischen Machtzentrum, dem Senat, in freier grie– chischer Rede (Suet. Claud. 42: saepe in senatu legatis perpetua oratione respondit). Die hier skizzierte Zweisprachigkeitssituation galt in erster Linie für die Stadt Rom und ihre Umgebung in den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung. “Gegen Ende der Antike ging die Vertrautheit mit dem Griechischen zurück. In Rom beherrschten es nur noch philosophische und theologische Kreise sowie die Aristokratie, außerhalb derer es kaum bekannt war” (Adrados 2002, 204). In den Provinzen des Westens war die Gräzisierung natürlich weniger tiefgreifend als in der Hauptstadt, aber es darf nicht vergessen werden, dass die Prestigesprache stadtrömisch geprägt war: Was in der urbs zum guten Ton gehörte, setzte sich früher oder später auch in den Provinzen durch. So können wir davon ausgehen, dass die griechische Prägung des hauptstädtischen Lateins auch an das Provinzlatein weitergegeben wurde. Im Osten war der Einfluss des Lateins auf das Griechische nicht an ein konkretes Zentrum gebunden, sondern zumindest im städtischen Kontext allgegenwärtig. Das griechisch-lateinische Kulturgefälle verhinderte natürlich jeden An-
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satz zu einer Aufgabe des Griechischen zugunsten des Lateinischen (Tagliavini 1998, 132), aber dennoch war die Anziehungs- und Prägekraft der lateinischen Reichssprache, die immerhin das ganze Prestige einer Weltmacht hinter sich hatte, groß genug, um zumindest die Leute, die häufiger mit den Römern zu tun hatten, zum Erlernen der Grundzüge des Lateinischen zu ermutigen. Davon legen die zahlreichen griechisch-lateinischen Glossare Zeugnis ab (Kramer 1983 und 2001), deren Ziel es war, den Benutzern eine zumindest rudimentäre Kenntnis des Lateinischen zu vermitteln. 3. Parallelentwicklungen im Griechischen und Lateinischen Die im Reiche verbreitete Zweisprachigkeit war die Voraussetzung für den Parallelismus und für die Vermischung griechischer und lateinischer Elemente, die die Voraussetzung für die Konstitution eines griechisch-lateinischen Sprachbundes darstellen. Im Folgenden sollen zunächst lautliche, dann morphologische und schließlich syntaktische Gemeinsamkeiten behandelt werden, während für den Wortschatz angesichts der überwältigenden Menge gemeinsamer Kulturwörter (Lehnwörter, Lehnübersetzungen, semantische Umdeutungen) eine kurze Schlussbemerkung ausreichen muss. 4. Lautliche Parallelentwicklungen [h] > ø. Sowohl im gesprochenen Griechisch wie im gesprochenen Latein ist der Hauchlaut spurlos verschwunden. Das Griechische kannte nur die Anlautbehauchung; im Inlaut trat ein [h] nur in der Wortfuge und bei einigen wenigen Fremdwörtern (z. B. ταὧς ‘Pfau’) auf. Das normale (ionische) Alphabet kannte kein Zeichen für [h]; in älteren Alphabeten galt H, im attischen Alphabet auch ein halbes Eta. Unsere Informationen über die Psilose, das heißt über das Ausbleiben der Behauchung an Stellen, wo sie hingehört, sind folglich lückenhaft, beruhen sie doch im Wesentlichen auf Beobachtungen falscher Behauchung an der Wortfuge (καθ᾿ ἔτος, κατ᾿ ἕτερον, vgl. Gignac 1976, 134–137). Es steht jedenfalls außer Frage, dass am Anfang der Kaiserzeit keine Anlautaspiration mehr gesprochen wurde (Debrunner 1954, 108–109). Die Situation im Lateinischen, das ursprünglich sowohl im Anlaut als auch im Inlaut ein [h] kannte, entwickelte sich entsprechend (Binder 2000, 115): Spätestens im 1. Jahrhundert v. Chr. gab es in der Alltagssprache keine Anlautaspiration mehr, obwohl “die Gebildeten sich meist erfolgreich bemühten, anhand der Schreibung auch in der Aussprache am hfestzuhalten” (Sommer / Pfister 1977, 148 = § 113). Wem das nicht gelang, der wurde mit Spott überzogen: Catull machte sich über den Arrius lustig (84), der durch forcierte Aussprache des [h] den Eindruck von Gelehrsamkeit zu erwecken hoffte und dabei auch unbehauchte Silben aspirierte; P. Nigidius Figulus glaubte, ländlichen Sprachgebrauch an falscher Aspiration erkennen zu können (ap. Gell. 13, 6, 3: rusticus fit sermo, si aspires perperam ‘die Aussprache wird ländlich, wenn du an verkehrter Stelle behauchst’), und Augustinus bemängelte, dass die falsche Aussprache omo statt homo mehr Anstoß errege als der Hass auf einen Mitmenschen (confess. 1, 18, 29 = PL 32, 674). Der Wegfall der Anlautaspiration
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in der Alltagssprache und zugleich der Kampf der Intellektuellen gegen diese Lautentwicklung kennzeichnet also sowohl das Griechische wie das Lateinische der Kaiserzeit. [b] > [β]. Das griechische β, das in klassischer Zeit als stimmhafter bilabialer Verschlusslaut [b] ausgesprochen wurde, hatte sich zu Beginn der Kaiserzeit in den bilabialen Frikativ [β] verwandelt (Gignac 1976, 68), obwohl die genauen Stufen “im Rahmen der schriftlichen Überlieferung nicht nachweisbar” sind (Binder 2000, 102); in nachnasaler Stellung blieb [b] allerdings bis heute erhalten. Das Lateinische hatte im ersten Jahrhundert vor Christus einen stimmhaften bilabialen Verschlusslaut [b], der B geschrieben wurde, und einen stimmhaften bilabialen Halbvokal [w], der V geschrieben wurde (Sommer / Pfister 1977, 136–137 = § 105, 2 und 129 = § 94, 9). “Spätestens im 1. Jh. n. Chr. muß intervokalisches b wenigstens in der Volkssprache (wie in der Gesamtromania) zur Spirans β geworden und mit dem spirantischen v zusammengefallen sein” (Sommer / Pfister 1977, 152 = § 116, 1), “dessen Vorhandensein seit dem 1. Jh. n. Chr. durch inschriftliche Verwechselungen mit B bewiesen wird” (Sommer / Pfister 1977, 129 = § 94, 9); im absoluten Anlaut ist [b] hingegen erhalten geblieben. Sowohl im Griechischen als auch im Lateinischen hat sich so ein neuer Laut, der bilabiale Frikativ [β], herausgebildet, der in den meisten Positionen [b] ersetzt hat. In den griechischen Transkriptionen lateinischer Wörter ist die Konvergenz in einem neuen, beiden Sprachen gemeinsamen Laut deutlich zu bemerken: Die regelmäßige Wiedergabe des lateinischen halbvokalischen [w] (orthographisch V) ist ου (οὐικάριος < uicarius), aber seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. tritt zunehmend β an dessen Stelle (Gignac 1976, 68–69). Vielleicht ist die weitere Entwicklung nach dem Ende der griechisch-lateinischen Zweisprachigkeit am Ausgang der Antike interessant: Im Griechischen setzt sich die Aussprache als labiodentaler Frikativ [v] durch, während im Lateinischen eine von der schriftbewussten Elite ausgehende partielle Regressionsbewegung die Oberhand gewann, die zwischen B, das in jeder Stellung als [b] gesprochen wurde, und konsonantischem V, das jetzt als labiodentaler Frikativ [v] realisiert wurde, unterschied (Blumenthal 1972, 27– 28); diese Regressionsbewegung erreichte die iberische Halbinsel jedoch nicht mehr. Palatalisierung von [k] und [g] vor hellen Vokalen. Die velaren Verschlusslaute [k] und [g] sind vor hellen Vokalen sowohl im Griechischen als auch im Lateinischen in der Kaiserzeit palatalisiert worden, jedoch sind die weiteren Resultate dieser Palatalisierung in den späteren Epochen unterschiedlich ausgefallen. Das griechische Schriftsystem war nicht in der Lage, die Palatalisierung von griechisch κ auszudrücken, so dass uns nur wenige Zeugnisse in Entlehnungen in andere Sprachen vorliegen, die auf den Lautwert [kj] schließen lassen, der in der griechischen Normsprache bis heute die Regel ist (neben dialektalen Formen wie [t∫]). Für das Koptische ist “die Wiedergabe von griech. κι, κει (nicht von κε, κη, κυ, και, κοι) durch σι um 350 n. Chr. (σ ist etwa = k´, später tš, jetzt š) typisch, z. B. σινδυνοι, σινυρα, besonders signifikant κασια = κακία: sie beweist, daß gr. κ
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in κι (und κει = ki) eine palatale Affektion hatte, und zwar nur vor i, mit dem η, υ, οι noch nicht zusammengefallen waren; Palatalisierung von k ist auch ägyptisch, aber nicht an folgendes i gebunden” (Schwyzer 1953, 160). Die Zeugnisse für die Palatalisierung des γ vor hellen Vokalen sind relativ zahlreich, jedoch muss man sie im Zusammenhang mit der Spirantisierung des γ vor dunklen Vokalen und vor Konsonanten sehen, die nach den papyrologischen Zeugnissen schon im 3. Jh. v. Chr. eingesetzt hat (Mayser / Schmoll 1970, 141–143 = § 32); man wird also nicht einfach eine der [k]-Entwicklung entsprechende Kette [g] + heller Vokal > [gj] + heller Vokal ansetzen dürfen, sondern muss von der Abfolge [g] + heller Vokal > [γ] + heller Vokal > [γj] + heller Vokal > [j] + heller Vokal ausgehen; letzteres ist auch das neugriechische Ergebnis. Für die Kaiserzeit gilt, dass die häufige Auslassung des γ zwischen hellen Vokalen (ὑιαίνειν < ὑγιαίνειν) oder die Einfügung eines γ vor einem hellen Vokal (ἱγερός < ἱερός) oder nach einem hellen Vokal vor einem dunklen (ὑγός < υἱός, Gignac 1976, I 74, vgl. P. Hamb. IV 238, 38) oder die Wiedergabe eines [i] durch γι (Τραγιανός < Τραϊανός) dafür spricht, dass bereits die Stufe [j] erreicht war (Gignac 1976, 71–72), obwohl [γj] nicht ganz auszuschließen ist. Im Lateinischen ist die Palatalisierung des c und des g vor hellen Vokalen ebenfalls – zumindest für weite Teile des Sprachraumes – ein kaiserzeitliches Phänomen, aber in der Beurteilung der konkreten Entwicklungsstufen und ihrer zeitlichen Festlegung ist die latinistische und romanistische Diskussion, die sich über die letzten zwei Jahrhunderte hinzieht, noch längst nicht zu übereinstimmenden Ergebnissen gekommen. Auszugehen ist jedenfalls von einer allgemein-phonetischen Beobachtung: “In many languages, as in English, k before front vowels is pronounced further forward in the mouth that when it is followed by other sounds. [...] The pronunciation of g conformed to that of c in the classical period. [...] It was probably articulated somewhat further forward in case it was followed by e or i” (Sturtevant 1940, 167–168 = § 191b und d). Wir können also für die Kaiserzeit davon ausgehen, dass die Entwicklung bei der Stufe [kj] bzw. [gj] begann, denn “si può concludere che un lievissimo intacco, inavvertito dai parlanti, doveva già esserci nel latino classico” (Traina 1973, 59 = § 12). Die weiteren Entwicklungsetappen, die für [kj] regional unterschiedlich zu [tj], [t∫] > [∫], [ts] > [s] usw. führten (Väänänen 1995, 109–110 = § 100) und bei [gj] meist in eine Vermischung mit den Ergebnissen von [j] mündeten (Väänänen 1995, 106–108 = §§ 95–97), können hier außer Betracht bleiben; wichtig ist es in unserem Zusammenhang nur, dass zumindest in dem Teil der Kaiserzeit, in der griechisch-lateinische Zweisprachigkeit ein verbreitetes Phänomen war, griechisch κ und lateinisch C vor hellem Vokal bzw. griechisch γ und lateinisch G vor hellem Vokal ungefähr gleich ausgesprochen wurden, nämlich [kj] bzw. [gj] oder [γj] mit Tendenz zum [j]. Durchsetzung des dynamischen Akzents. Grundsätzlich gibt es zwei Akzentarten, einerseits den primär Tonhöhen unterscheidenden, musikalischen Akzent (engl. pitch, frz. ton), wie wir ihn im Französischen, Schwedischen, Kroatischen und Serbischen oder Chinesischen finden, andererseits den auf stärkeren Druck der Silbenaussprache abzielenden dynamischen Akzent (engl. stress, frz. inten-
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sité), der das Deutsche, das Englische, das Italienische und überhaupt die meisten europäischen Sprachen kennzeichnet. “Im Griechischen war (wie im Indogermanischen) der Akzent im wesentlichen einer der Tonhöhe” (Palmer 1986, 244–245). Neben diesem primären musikalischen Akzent, der seit den Alexandrinern durch graphische Akzentzeichen gekennzeichnet werden kann, die seit dem 9./10. Jh. n. Chr. in der Schrift verpflichtend wurden, gab es sekundär einen dynamischen Akzent, der zunächst einmal unabhängig vom musikalischen Akzent war. Wann der dynamische Akzent zwingend auf die Silbe verlegt wurde, die den musikalischen Akzent trug, und wann dann für das Ohr der Sprecher und Hörer der stress wichtiger als der pitch wurde, wissen wir nicht genau, aber man wird richtig liegen, wenn man an die Zeit des Hellenismus denkt, in dem viele Menschen nichtgriechischer Herkunft zu Sprechern des Griechischen wurden. “At some time in or near the second century A. D. Greek came to have a stress accent resting upon about the same syllables that had previously had higher pitch” (Sturtevant 1940, 105 = § 110). Das Lateinische hatte in vorliterarischer Zeit eine dynamische Betonung der ersten Wortsilbe, bevor sich im 4. Jh. die “Dreisilbenbetonung” (Betonung der drittletzten Silbe mit Verschiebung der Betonung auf die zweitletzte Silbe, wenn diese eine Länge darstellt) durchsetzte. Ob der lateinische Akzent primär dynamisch oder primär musikalisch war, ist Gegenstand einer langen Diskussion zwischen Wissenschaftlern aus dem romanischen Sprachraum, die für den pitch eintraten, und Latinisten aus dem germanischen Sprachraum, die den stress vertraten, gewesen; heute neigt man zu der Kompromisslösung, dass es primär und in der Aussprache der vom Griechischen beeinflussten Gebildeten ein pitch-Akzent war, der von einem “sprachwirksamen stress” begleitet war, der im Volkslatein stark in den Vordergrund trat (Leumann 1977, 248 = § 244). Die lateinischen Grammatiker beschrieben die Akzentverhältnisse ihrer Sprache nach Vorgaben ihrer griechischen Modelle, also in pitch-Termini, aber dass der stress eine wichtige Rolle gespielt hatte, sieht man schon daran, dass zu jeder Zeit in der Metrik in bestimmten Stellungen der Iktus mit dem stress übereinstimmen musste (Sturtevant 1940, 183 = § 210). Was die Akzentverhältnisse im Griechischen und im Lateinischen der Kaiserzeit anbelangt, muss man jedenfalls davon ausgehen, dass beide Sprachen ältere Aussprachegewohnheiten, bei denen der pitch die primäre Rolle gespielt hatte, zugunsten des stress aufgegeben hatten. Für die Sprecher und Hörer bedeutete das, dass sie sich jedenfalls bei der Verwendung der jeweils anderen Sprache nicht mit einer völlig neuen Akzentverwendung, also stress statt pitch oder umgekehrt, vertraut machen mussten. Abbau der vokalischen Quantitäten. Im Vokalismus ist das entscheidende Phänomen, das die Sprache der klassischen Epoche des Griechischen und des Lateinischen von den Sprachformen des Mittelalters und der Neuzeit unterscheidet, der Verlust der vokalischen Quantitäten und die Etablierung eines neuen, auf den Qualitäten der Vokale basierenden Systems – anders gesagt, die Unterscheidung zwischen der Länge und der Kürze der Vokale, die für die Sprecher und Hörer der klassischen Epoche das am meisten ins Ohr fallende Charakteristikum gewesen war, verblasste bis zum Ende der Kaiserzeit zunehmend, weil eine Isochronie
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(gleichmäßige Länge aller Vokale, die durch die Längung der Kurzvokale und durch die Kürzung der Langvokale hervorgerufen wurde) eintrat, in deren Folge die Quantitäten, also die offenere oder geschlossenere Aussprache der verschiedenen Vokale, mit größerer Aufmerksamkeit als zuvor wahrgenommen wurden. “Die ererbte Unterscheidung von Kürzen und Längen in beliebigen Wortsilben findet im Vulgärlatein und ebenso im Vulgärgriechischen ihr Ende etwa im 3. Jh. n. Chr. Alle betonten Vokale, speziell in offenen Silben, werden in der Lautdauer vereinheitlicht, d.h. der Unterschied zwischen alten Kürzen und Längen geht verloren; die betonten Vokale werden gleichmäßig länger gesprochen als alle Vokale in anderer Stellung; also der Akzent allein, offenbar ein im Wesen seiner Artikulation veränderter Akzent, bedingt oder bewirkt Vokallänge” (Leumann 1977, 55 = § 57a). Wenn also die Aufgabe eines nach Qualitäten geregelten Vokalismus zugunsten eines Quantitätensystems ein Parallelismus zwischen dem Griechischen und Lateinischen ist, so muss jedoch hinzugefügt werden, dass die daraus resultierenden Umgestaltungen im Vokalsystem im Griechischen und im Lateinischen völlig anders verlaufen sind: Im Griechischen ist am Ende der Entwicklung ein unsymmetrisches Vokalsystem mit starkem Übergewicht der palatalen Seite entstanden (Browning 1969, 33), weil η, ῐ, ῑ, ῠ, ῡ und alle ι-haltigen Diphthonge (außer αι) den Lautwert [i] angenommen haben, während im größten Teil des Vulgärlateinischen ein symmetrisches vierstufiges System entstand, das bei den Vokalen mittlerer Öffnung, also bei e und o, zwischen einer geschlossenen und einer offenen Aussprache unterscheidet (Väänänen 1995, 70 = § 42). [ae] > [ε], [αι] > [ε]. Ein vollkommener Parallelismus zwischen dem Griechischen und dem Lateinischen ist in der Monophthongierung der ursprünglichen Diphthonge αι bzw. ae zu sehen, die in der gesprochenen Form beider Sprachen zu einem offenen [ε] wurden. In Boiotien tritt die Verwechselung zwischen αι und ε bzw. η schon im 5. / 4. Jh. v. Chr. auf (Schwyzer 1953, 194–195), und in den ägyptischen Papyri finden sich “für den Übergang von αι zu ε zwei Beispiele schon im Timotheospapyrus des IV. Jh. v. Chr. Im III. und II. Jh. kommen nur wenige Beispiele hinzu, etwas mehr im I. Jh.” (Mayser / Schmoll 1970, 83 = § 14). In der römischen Zeit gibt es “a very frequent interchange of αι and ε” (Gignac 1976, 191), und wenn es daneben natürlich auch noch viele Bezeugungen des korrekten Gebrauchs von αι gibt, so ist es doch klar, dass in der Alltagssprache kein Diphthong mehr gesprochen wurde: Der Monophthong [ε] hatte den Sieg davongetragen. Im Lateinischen tritt das diphthongische ae, das aus älterem ai entstanden ist, in nichtstädtischer Redeweise schon im 2. und 1. Jh. v. Chr. als e auf, und wenn auch die Gebildeten “sicher bis ins 3. und 4. Jh. n. Chr.” an der diphthongischen Aussprache von ae festhielten (Leumann 1977, 67 = § 77), kann man für die städtische Umgangssprache mindestens seit dem 1. Jh. n. Chr. mit der monophthongischen Aussprache [ε] rechnen. Im Griechischen der Kaiserzeit ist der Diphthong αι zum Monophtong [ε] geworden, wie auch im gleichzeitigen Latein der Diphthong ae zu einem offenen [ε] monophthongiert worden ist.
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Zusammenfassung der lautlichen Parallelismen. Wenn man die Parallelismen, die in der lautlichen Entwicklung des Griechischen und des Lateinischen in der Kaiserzeit aufgetreten sind, zusammenfassend betrachtet, kommt man auf insgesamt sieben Phänomene (Wegfall der Aspiration am Wortanfang, Entwicklung des okklusiven b zu einem Frikativ, Palatalisierung des k vor hellem Vokal, Palatalisierung des g vor hellem Vokal, Präferenz des dynamischen Akzents vor dem musikalischen, Abbau der Vokalquantitäten, Monophthongierung des a-Diphthongs), was jedenfalls mehr ist als die maximal fünf lautlichen Gemeinsamkeiten, die im Balkansprachbund auftreten (Sandfeld 1930, 12–13 [Nr. 5, 6, 7]). Man könnte noch andere, vielleicht weniger auffällige Phänomene (wie die Tendenz zum Verlust der Auslautkonsonanten oder die Neigung zur Vokalelision in der Wortfuge, vgl. Coseriu 2008, 314) anführen, aber das würde nichts am Gesamteindruck ändern: Es gibt einige lautliche Phänomene, die durchaus zentrale Bereiche in der Aussprache betreffen, in denen das Griechische und das Lateinische sich in der Kaiserzeit berühren. Jede dieser Erscheinungen ist wohlgemerkt innerhalb der Entwicklungstendenzen der griechischen bzw. der lateinischen Einzelsprache erklärbar und für sich auch nicht weiter erstaunlich. Dennoch würde jede Betrachtung, die nur auf die Einzelsprache sieht, an der Realität vorbeigehen, denn es ist in der antiken, zumindest in bestimmten einflussreichen Schichten an bestimmten zentralen Orten weitgehend zweisprachigen Gesellschaft davon auszugehen, dass die Parallelismen dadurch zustande kommen, dass vorhandene Sprachstrukturen, die eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen, in ihrem Entwicklungsgang in dieselbe Richtung gedrängt wurden, weil die Sprecher Gewohnheiten aus der einen Sprache in die andere übertrugen. Wir haben es hier mit der “wechselseitigen Durchdringung griechischer und lateinischer Elemente” zu tun, die für Giacomo Devoto für die Epoche der “silbernen Latinität” typisch war und die er wie folgt charakterisierte (1968, 213–214): “Die Tatsache, dass von den beiden Zentren dieser Tendenz, dem griechischen und dem lateinischen, das eine früher wirksam wurde als das andere, oder dass nach einer anderen These keines der beiden auf das andere wirkte, ist bedeutungslos. Wichtig ist nur, dass die Begegnung beider Phänomene, die ursprünglich parallel waren, auf beide stimulierende und antreibende Wirkung hatte”. 5. Morphologische Parallelentwicklungen Die Morphologie ist normalerweise der Bereich der Sprache, der sich fremder Beeinflussung am hartnäckigsten widersetzt. Wenn es dennoch zwischen dem Griechischen und dem Lateinischen relativ viele morphologische Parallelismen gibt, so ist das ein starkes Argument für den hohen Grad der gegenseitigen Durchdringung der beiden Sprachen. Griechische Deklination im lateinischen Gewand. Das Lateinische hat im Allgemeinen griechische Wortformen nach einfachen Mechanismen adaptiert (–η > –a, –ος > –us, –ον > –um, –ων > –ō usw.) und dann nach den normalen lateinischen Deklinationsmustern flektiert. Besonders für die gehobene Sprache sind allerdings einige Deklinationsformen aus dem Griechischen übernommen worden:
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Circē, Circēs, Circae (!), Circēn, Circē; Pharsalos, Akk. Pharsalon; Xenophōn, Gen. Xenophontis; Sphinx, Gen. Sphingos (vgl. Kühner / Holzweissig 1912, 421– 437 = §§ 96–101; 465–469 = §104; 362–373 = §§ 79–82). Bei diesen Entlehnungen entstanden dann teilweise Kontaminationstypen. So können weibliche Namen der 1. Deklination in die 3. Deklination übergehen (Kühner / Holzweissig 1912, 427 = § 95, 5, Anm. 3): Zu Danaē wird der Genitiv Danaēnis gebildet, zu Phoebē Phobēnis, zu Iūliānē Iūliānēnis. Das letztgenannte Beispiel zeigt, dass auch Namen ursprünglich lateinischen Ursprungs in diese Kontaminationsdeklination geraten können (was übrigens sogar bei Spēs, Gen. Spēnis, belegt ist). Es gibt auch die Ausdehnung dieses Typs auf Maskulina (Themistoclēs, Gen. Themistoclēnis), auch auf Maskulina lateinischer Bildung (Hēraclēs, Gen. Hēraclēnis). Dieser Deklinationstyp ist wohl in Analogie zu lateinischen Formen wie Dido, Gen. Didōnis (wie sermo, Gen. sermōnis, vgl. Kühner / Holzweissig 1912, 314–315 = § 65 d ε) gebildet, vgl. Leumann 1977, 459–460 = § 366). Auf diese Kontaminationsdeklination geht die Herausbildung einer neuen Abart der a-Deklination zurück, zu der in der Spätantike Maskulina auf –a und Feminina auf –a mit dem Genitiv auf –ānis gehören: Attila, Gen. Attilānis; tata ‘Vater’, Gen. Tatānis; barba ‘Onkel’, Gen. barbānis; scrība ‘Schreiber’, Gen. scrībānis; amita ‘Tante’, Gen. amitānis; māma ‘Mutter’, Gen. māmānis (Leumann 1977, 460 = § 366). Diese Bildungsart hat im Altfranzösischen und im Bündnerromanischen (Meyer-Lübke 1894, 24–25 = § 18) bei Substantiven der a-Deklination ihr Ausdehnungsgebiet erheblich erweitert. Präpositionale Konstruktionen anstelle von Kasuskonstruktionen. In der klassischen Form des Griechischen wie des Lateinischen war es üblich, die Beziehungen der Wörter zueinander eher durch die Verwendung der Kasus als durch präpositionale Konstruktionen auszudrücken. Im Laufe der Entwicklung drängten jedoch Präpositionalkonstruktionen wegen ihrer größeren Klarheit in den Vordergrund: “Die Präpositionen konnten [---] gedankliche Schattierungen ausdrücken, die für die bloßen Kasus unerreichbar waren, was sicher die fortwährende Zunahme des Präpositionsgebrauchs stark gefördert hat” (Schwyzer / Debrunner 1950, 432). Die Papyri belegen bereits in der Ptolemäerzeit einen geradezu inflationären Präpositionalgebrauch: “Der erste Blick in eine ptolemäische Urkunde, ob amtlicher oder privater Herkunft, ob älter oder jünger, läßt erkennnen, daß der Gebrauch der Präpositionen im Vergleich zur klassischen Zeit wesentlich zugenommen hat. [---] Die große Zahl präpositionaler Wendungen erklärt sich weniger aus einer inneren organischen Weiterentwicklung oder aus auffälligen Bedeutungsverschiebungen als aus dem Bestreben, die Funktion der einfachen Kasus, die ihre ursprüngliche Autarkie verloren haben, durch Präpositionen auszudrücken” (Mayser 1934, 338). Für das Lateinische ist eine “ab Plautus zu beobachtende Tendenz” festzustellen, “Präpositionalsätze für einfache Fälle zu verwenden”, so dass “ad mit Akkusativ den Dativ ersetzte” und “für Lokativausdrücke eintrat” sowie “der reine Ablativ durch Periphrasen mit ex, ab und de ersetzt” wurde, “in mit dem Lokalablativ” erschien und de als “Ersatz für den Genitiv” auftauchte (Palmer 2000, 189–190). Für das Vulgärlatein gilt generell,
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dass präpositionale Wendungen aus Gründen der Klarheit an die Stelle einfacher Kasus traten (Väänänen 1995, 199 = § 248). In der Kaiserzeit trafen also die Tendenzen zur stärkeren Verwendung präpositionaler Ausdrucksweisen an der Stelle früherer Konstruktionen, die die Beziehungen der Wörter zueinander allein durch die Kasus ausgedrückt hatten, aufeinander. Man kann sicher nicht mit Eugenio Coseriu (2008, 314) annehmen, dass das Lateinische hierbei dem griechischen Vorbild gefolgt sei, sondern man muss wirklich von einer Parallelentwicklung ausgehen, die durch die Zweisprachigkeit der Kaiserzeit in beiden Sprachen gefördert wurde. Natürlich existierten Präpositions- und Kasusformulierungen während der ganzen Kaiserzeit nebeneinander: Luc. 1, 13 heißt es im griechischen Urtext εἶπεν δὲ πρὸς αὐτὸν ὁ ἄγγελος, entsprechend in der Vulgata ait autem ad illum angelus, aber einige Zeilen weiter (Luc. 1, 19) liest man ὁ ἄγγελος εἶπεν αὐτῷ, in der Vulgata angelus dixit ei. Dennoch muss man sagen, dass die Vorliebe für präpositionale Konstruktionen, die eine der Voraussetzungen für den späteren weitgehenden Abbau von Kasuskonstruktionen darstellte, einen wichtigen Parallelismus zwischen dem Griechischen und Lateinischen der Kaiserzeit darstellt. – Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen dem Griechischen und dem Lateinischen besteht darin, dass die Präpositionen, die in der klassischen Form des Griechischen drei (Gen., Dat., Akk.) und des Lateinischen zwei (Akk., Abl.) Kasus regieren konnten, zunehmend nur noch mit dem Akkusativ verbunden werden. Im Griechischen war die Zahl der mit dem Dativ stehenden Präpositionen immer gering, und seit der Koiné kommt praktisch nur noch ἐν vor (Blass 1975, 177–178 = § 218); auch diese Präposition verlor in der Kaiserzeit an Bedeutung, weil der Unterschied zwischen der Hervorhebung des Ortes und der Hervorhebung der Richtung kaum noch empfunden wurde, so dass auf lange Sicht εἰς an die Stelle von ἐν treten konnte (Blass 1984, 167 = § 205). Somit war der Dativ nach Präpositionen aufgegeben. Die Genitivrektion war in der Kaiserzeit noch lebendig, aber es ist doch eine deutliche Tendenz festzustellen, die wirklich häufigen und der volkstümlichen Redeweise angehörigen Präpositionen ausschliesslich mit dem Akkusativ zu verbinden (Browning 1969, 86). Im Lateinischen zeigen sich die ersten Fälle einer Verbindung von a und cum mit dem Akkusativ in den pompeianischen Inschriften (Väänänen 1968, 119), und gut zweihundert Jahre später herrscht in der Peregrinatio Egeriae bereits ein solches Chaos in der Rektion, dass man (unter Berücksichtigung der zahlreichen hyperkorrekten Fälle) davon ausgehen kann, dass die Akkusativrektion den Sieg davongetragen hat (Bechtel 1902, 93–99). Distributives κατά > cata. Die griechische Präposition κατά, die in ihrer Grundbedeutung die Erstreckung angibt, ist in zweierlei Bedeutung ins Lateinische übernommen worden, einmal im christlichen Sprachgebrauch, was hier nicht weiter interessiert, zur Angabe einer Quelle (cata Matthaeum, cata Lucam, cata Iohannem < κατὰ Ματθαῖον, κατὰ Λουκᾶν, κατὰ Ἰωάννην, vgl. ThLL III 585, 18–43), zum anderen aber in distributiver Bedeutung. Der distributive Sinn von κατά trat im Griechischen zunächst vor Pluralen als Sonderbedeutung des Akkusativs der Erstreckung auf (schon Ilias 1, 487: αὐτοὶ δὲ σκίδναντο κατὰ
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κλισίας τε νέας τε ‘sie zerstreuten sich nach den jeweiligen Zelten und Schiffen’), kam aber seit dem 5. Jh. v. Chr. auch vor Singularen vor (Herodot VII 104, 4: κατὰ µὲν ἕνα µαχόµενοι ‘einzeln kämpfend’). Bereits in den Papyri der Ptolemäerzeit ist der “distributive Gebrauch von κατά überaus verbreitet” (Mayser 1934, 436 = § 121, 3). Mit distributiver Bedeutung taucht cata auch im Lateinischen auf, “was im Thesaurus gar nicht hervorgehoben wird” (Löfstedt 1911, 175), vgl. z. B. Egeria 15, 5: semper cata pascha ‘immer jeweils zu Ostern’, 24, 1: cata singulos ymnos fit oratio ‘jeweils bei den Hymnen erfolgt ein Gebet’. Im 3. Jh. n. Chr. tauchen die ersten Belege von distributivem cata auf, im 4. Jh. ist das Wort häufig, wobei cata mane ‘jeden Morgen’ besonders häufig ist (ThLL III 585, 58–63). Im Provenzalischen, Katalanischen, Spanischen und Portugiesischen lebt cada in diesem Sinne weiter, vgl. sp. cada año ‘jedes Jahr’ (vgl. κατ᾿ ἐνιαυτόν bzw. κατ᾿ ἔτος in den Papyri, Mayser 1934, 437 = § 121, 3a). Die Zusammensetzung cata unum ‘jeder, -s’, dem griechischen καθ᾿ ἕν(α) (Mayser 1934, 437 = § 121, 3 b α) nachgebildet, ist zufällig im Lateinischen erst im 8. Jh. belegt (FEW 2 [1], 482), hat aber angesichts der Beliebtheit im Griechischen und des umfangreichen Nachlebens in den romanischen Sprachen (it. caduno, prov. cad(a)un, kat. cada u, sp. cada uno, port. cada um ‘jeder’, vgl. DECLC 2, 376–377) sicherlich ebenfalls seit dem 3. Jh. in der Umgangssprache existiert. Wir können also annehmen, dass das distributive κατά gegen Ende der kaiserzeitlichen Zweisprachigkeitsepoche ins Lateinische übernommen wurde, vielleicht im Zusammenhang mit der Übernahme von κατά ‘gemäß’ im Wortschatz der Christen; im spätantiken lateinischen Sprachgebrauch entfaltete der Gräzismus eine bemerkenswerte Vitalität, weil er alleine oder in der Verbindung mit ūnus zu einem Ausdruck für ‘jeder’ wurde. Umschreibungen des Komparativs und des Superlativs. Im Griechischen kann statt der Steigerungsformen der Positiv mit µᾶλλον für den Komparativ und mit µάλιστα für den Superlativ verwendet werden (Jannaris 1897, 148 = § 509). Später konnte auch πλέον statt µᾶλλον eintreten: “For µᾶλλον P (= post-classical antiquity) substituted the synonymous and more popular adverb πλέον [furthered by the Latin plus, the parent of Romanic plus, più, &c.] ‘more’, which gradually assumed the ascendency, and having displaced µᾶλλον from the colloquial speech, has remained ever since in unbroken usage” (Jannaris 1897, 148 = § 511). An der Wende vom 1. zum 2. Jh. n. Chr. schrieb beispielsweise der Kirchenvater Ignatios an Polykarp (3, 2): πλέον σπουδαῖος γίνου οὗ εἶ ‘werde sorgfältiger, als du bist’. Die neugriechische Volkssprache verwendet πιό < mittelgr. πλιό. Im Lateinischen ist die Vermeidung der Komparativ- und Superlativformen durch magis beim Positiv vom Anfang der Überlieferung an bezeugt, aber eher selten; anfänglich “tritt es zunächst dort umschreibend ein, wo lautliche und formale Gründe die Bildung der Steigerungsgrade nicht empfehlen. [---] Im übrigen aber sind diese Umschreibungen, die den Verfall der Komparativformen mit vorbereiten, selbst im Spätlatein noch ziemlich vereinzelt” (Hofmann / Szantyr 1965, 165 = § 98). Erst seit dem 2. Jh. n. Chr. taucht auch plus in dieser Funktion auf. In den romanischen Sprachen zeigt sich die zeitliche Abfolge ebenfalls (Rohlfs 1971, 35
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= § 26 und Karte 4, S. 239): Die konservativeren Sprachen des Ost- und Westrandes setzen magis fort (rum. mai, kat. més, sp. más, port. mais), während die neuerungsfreudigeren Sprachen des Zentrums mit plus steigern (it. più, bündnerrom. pli / plü, frz. prov. plus). Die analytische Steigerung der Adjektive hat also im Griechischen wie im Lateinischen eigene Wurzeln, wobei aber bei dem Zusammentreffen beider Sprachen in der Kaiserzeit sicherlich das Lateinische die Führungsrolle bei der Weiterentwicklung übernommen hat: Im Spätlateinisch-Romanischen gibt es außer einigen Relikten keine synthetische Steigerung mehr, im Griechischen steht die neuere und volkssprachlichere analytische Steigerung neben der älteren und literatursprachlicheren synthetischen Steigerung. Pluralischer Ausdruck für den Singular. Der sogenannte soziative Plural, also die Bezeichnung von Einzelpersonen durch eine Pluralform, existiert im Griechischen bereits früh, wenn der Sprecher seine Gruppe in die Aussage einbeziehen will: So sagt Aias in der Ilias (7, 196): οὔ τινα δείδιµεν ἔµπης ‘niemand fürchten wir (oder: fürchte ich) wirklich’, weil er alle Griechen in seine Aussage einbezieht. “Seit hellenistischer Zeit hat dann die politisch-kulturelle Entwicklung aus dem ursprünglich soziativ gemeinten Plural den pluralis maiestatis werden lassen” (Schwyzer / Debrunner 1950, 243), weil ja “auch diesem Sprachgebrauch die Zusammenfassung des Herrschers mit seiner Umgebung (‘ich und meine Räte’), des obersten Beamten mit seinem Stab zugrunde liegt” (Mayser 1926, 42 = § 10, 7 a). Freilich werden in der Ptolemäerzeit “Vorgesetzte, auch der König selbst (vgl. die zahlreichen Bittschriften), durchweg mit σύ angeredet (Mayser 1926, 43 = § 10, 7 b, Anm. 2). Im Lateinischen ist der soziative Plural gut belegt und vor allem für die Umgangssprache typisch (Hofmann 1936, 135 = § 126). Der pluralis maiestatis, in Bezug auf den Redenden verwendet, tritt interessanterweise seit dem Ende des 1. Jh. n. Chr. zunächst in Sendschreiben der römischen Bischöfe auf, und in Kaisererlassen ist er seit Gordian III. (Regierungszeit: 238–244) die Regel. “Seit etwa 375 n. Chr. läßt sich” die Anrede im Plural “im Lateinischen, und zwar bei Symmachus” (2. Hälfte des 4. Jh.) regelmäßig nachweisen (Zilliacus 1985, 493), aber es gibt Vorstufen seit augusteischer Zeit (Hofmann / Szantyr 1965, 20 = § 30b); der Ursprung liegt im soziativen Plural der Privatbriefe, nicht in höfischer Anrede. Im Griechischen “begegnet die Anrede ὑμεῖς an den Vorgesetzten zuerst voll ausgebildet im 5. Jh. n. Chr.” (v. Christ 1924, 954 = § 785). In Privatbriefen tritt die ὑµεῖς-Anrede allerdings schon im 3. Jh. n. Chr. auf, in Schreiben von Kindern an ihre Eltern oder von Männern an ihre Frauen, freilich inkonsequent und immer wieder von σύ abgewechselt, so dass man am ehesten von einer Ausweitung des soziativen Plurals reden kann. “In offiziellem Verkehr fehlt der Plural der 2. Person. Vor dem 5. Jh. läßt sich kaum nachweisen, daß ein höherer Beamter von Untertanen mit ‘Ihr’ angeredet worden wäre. Hieraus ergibt sich, daß die umgangssprachliche Anrede ‘Ihr’ im Griechischen nicht aus einem pluralis reverentiae der Hofkreise oder der Bürokratie entstanden ist, sondern als ein Reflex des unbestimmten soziativen Plurals, am nächsten der Familienbriefe” (Zilliacus 1985, 491). Zusammenfassend kann man
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also sagen, dass im Laufe der Kaiserzeit sowohl im Griechischen als auch im Lateinischen der soziative Plural zu einem Respektsplural wird, wobei anscheinend das Lateinische zeitlich voranging; die Zweisprachigkeit gerade der Elite hat die Durchsetzung des Respektsplurals in der Anrede und des pluralis maiestatis in der Selbstbezeichnung gefördert. Zusammenfassung der morphologischen Parallelismen. Weil bei den griechisch-lateinischen Gemeinsamkeiten in der Umgestaltung des verbalen Bereichs die Unterscheidung zwischen Morphologie und Syntax noch schwieriger als sonst vorzunehmen ist, wird die Verbalmorphologie zusammen mit Satzbaubesonderheiten, die mit Verben zusammenhängen, bei der Syntax behandelt. Wenn wir also diesen Bereich ausklammern und auch Phänomene, die im Lateinischen nur in den Vorstufen der späteren romanischen Entwicklungen nachweisbar sind, unberücksichtigt lassen (Artikel, adjektivische und substantivische Sonderformen des Possessivums, ipse = αὐτός etc., vgl. Coseriu 2008, 314–318), kommen wir bei den morphologischen Parallelismen zwischen dem Griechischen und dem Lateinischen immerhin auf fünf auffällige Erscheinungen, die sich interessanterweise erst im Laufe der Kaiserzeit durchgesetzt haben und die meisten Belege im 4. und 5. Jahrhundert aufweisen, als die Zweisprachigkeit ihren Höhepunkt längst überschritten hatte; aber natürlich dauert es eine geraume Zeit, bis sprachliche Phänomene, die sich in der Alltagssprache durchgesetzt haben, schriftlich akzeptiert werden. 6. Syntaktische Parallelentwicklungen Griechisch-lateinische Parallelentwicklungen treten im Bereich der Syntax besonders häufig auf, was nicht besonders erstaunlich ist, denn von unseren ersten literarischen Belegen des Lateinischen an ist auffällig, wie sehr das griechische Vorbild nachgeahmt wurde. Das Unterfangen, die griechische Prägung der lateinischen Syntax mit dem Anspruch auf Vollständigkeit aufzählen zu wollen, ist allein aus diesem Grunde zum Scheitern verurteilt. Außerdem ist gerade in der Syntax der Nachweis einer direkten Beeinflussung nicht immer leicht: Ist beispielsweise die doppelte Negation mit negativem Sinn im Spätlatein-Romanischen eine Beeinflussung durch das Griechische oder ein normales Auflehnen gegen die klassische, aber dem Sprachgefühl widerstrebende lateinische Grammatikerregel duplex negatio est affirmatio? Im Folgenden sollen also nur Phänomene aufgezählt werden, bei denen der griechische Einfluss mehr oder weniger sicher ist; Vollständigkeit ist keineswegs angestrebt. Wortstellung. Da in der klassischen Form des Griechischen und des Lateinischen die Kasusunterschiede das Verhältnis der Nomina zueinander bestimmten, war die Wortstellung in beiden Sprachen relativ frei, wobei in der Kunstprosa rhetorische Mittel die Stellung bestimmen konnten und in der Dichtungssprache Abweichen von der alltagssprachlichen Normalstellung als poetische Lizenz geschätzt wurde. Dennoch kann man sagen, dass sich in der unprätentiösen Umgangssprache eine normale Wortstellung herausgebildet hatte. “Die normale Wortstellung des Neugriechischen scheint in ihren Hauptzügen alt zu sein, d. h. sicherlich in die Zeit
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der alten Κοινή zu reichen. [---] In einem mehrgliedrigen (durch Objekte und adverbiale Bestimmungen erweiterten) Satze herrscht durchaus Mittelstellung des Verbs, indem Objekt oder (bzw. und) adverbiale Bestimmung folgen. [---] Endstellung ist ungewöhnlich und hat besondere Gründe. [---] Das direkte und indirekte Objekt folgt in der Regel unmittelbar auf das Verbum, wobei das direkte Objekt dem indirekten vorangeht” (Thumb 1910, 191–192 = § 286 – § 290). Wenn also ein Relativsatz oder ein Adverb am Satzanfang steht, tritt das Prädikat im objektlosen Satz oft vor das Subjekt, um so die Mittelstellung zu bewahren, während aus demselben Grund in einem Satz mit Objekt das Verb zwischen dieses und das vorangehende Subjekt tritt. In der lateinischen Literatursprache ist die Anfangsstellung des Subjekts und die Endstellung des Prädikats die Regel, wobei Objekte und andere Verbergänzungen zwischen beiden untergebracht werden: “Usuelle Folge im Lateinischen ist Subjekt – Objekt – Prädikat, d. h. das Verbum bevorzugt, im Unterschied zum Griechischen, wo es der Mitte zustrebt, das Ende” (Schwyzer 1950, 397). Diese Stellung ist jedoch artifiziell; in Zeugnissen, die der Volkssprache nahestehen, überwiegt die Neigung zur Position des Prädikats im Satzinnern (Väänänen 1988, 261 = § 355), also zur Mittelstellung des Verbs, wobei sich ganz natürlich die Reihenfolge Subjekt – Prädikat – Objekt ergibt. Wenn ein Adverb oder eine andere Ergänzung den Satz einleitet, geht das Prädikat gern dem Subjekt voraus, um so die Mittelstellung zu wahren. Man kann also feststellen, dass die Mittelstellung des Verbs, die der romanischen Wortfolge Subjekt – Prädikat – Objekt den Weg bereitet, sich in der lateinischen Umgangssprache der Kaiserzeit Bahn bricht. J. N. Adams hat festgestellt, dass die in Ägypten gefundenen lateinischen Briefe des zweisprachigen Claudius Terentianus (P. Mich. VIII 467–472), die am Anfang des 2. Jh. n. Chr. verfasst sind, “the first text extant to exhibit extensive verb – object features, in anticipation of Romance” sind. Man darf annehmen, dass “the word order which he used in the Latin letters was representative of genuine spoken Latin. The similarity between his Greek and Latin word order may to a large extent be due to parallel development in two languages (indeed, typological study established that Latin and Greek did develop along the same lines in word order)” (Adams 1977, 66-67). Man muss jedoch immer wieder betonen, dass es sich hier nur um Tendenzen handelt, denn prinzipiell war die Wortstellung in den antiken Sprachen, im Gegensatz zu den meisten romanischen Sprachen, völlig frei: Es gab “a situation of variation which persisted through centuries – variation not only as it is perceived in the literary texts but in spoken language as well” (Halla-aho 2009, 128–129). Nominativus absolutus. Eine Erscheinung, die im Griechischen schon seit Homer sporadisch auftritt (Il. 6, 395–396: Ἀνδροµάχη, θυγάτηρ µεγαλήτορος Ἠετίωνος, | Ἠετίων, ὃς ἔναιεν ὑπὸ Πλάκῳ ὑληέσσῃ ‘Andromache, die Tochter des edlen Eëtion, Eëtion, der unter dem waldigen Plakos wohnte’), aber erst in der Kaiserzeit wirklich häufig wird, ist der Nominativus absolutus, also ein wie ein Anakoluth auftretender “vorangestellter Nominativ, auf den die Konstruktion des Satzes keine Rücksicht nimmt” (Schwyzer 1950, 66; 403). Im Lateinischen sind Nominativi absoluti seit Plautus belegt (Kühner / Stegmann 1992, 586 = § 244, 3),
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aber wirklich häufig wird das Auftreten in der Kaiserzeit (Väänänen 1988, 284– 285 = § 385), vgl. Peregr. Eger. 16, 7: benedicens nos episcopus profecti sumus und nicht benedicente nos episcopo profecti sumus. In der Umgangssprache kann “der gewaltsam an die Spitze drängende Nominativ des Ausrufs die logisch geschlossene Satzbildung sprengen; dem Affektsatz folgt dabei der Intellektualsatz in Form eines erläuternden Nachtrages” (Hofmann 1936, 103 = § 99), vgl. Petron. 57, 8: ecce magister tuus, homo maior natus – placemus illi ‘siehe, dein Meister, ein älterer Mann – ihm werden wir gefallen’. Das Vordringen des Nominativus absolutus, den es noch im Neugriechischen gibt (Thumb 1910, 161; wegen des Kasusverfalls kann man für die romanischen Sprachen nichts sagen), ist sowohl im Griechischen wie im Lateinischen ein typisch kaiserzeitliches Phänomen. Accusativus cum infinitivo. Ein gemeinsames Charakteristikum der griechischen und lateinischen Literatursprache, das sich in den meisten modernen Sprachen kaum oder höchstens in einer archaisierenden Prestigesprachform findet, ist der sogenannte accusativus cum infinitivo (ACI) und die (viel seltenere) Passivkonstruktution nominativus cum infinitivo (NCI). Im ACI-Satz, der von einem regierenden Verb abhängig ist, steht das logische Subjekt im Akkusativ und das dazugehörige Verb im Infinitiv. Im lateinischen ACI–Satz muss das Reflexivpronomen im Akkusativ das Subjekt des abhängigen Satzes vertreten, im Griechischen ist das normalerweise nicht nötig, aber in der Kaiserzeit setzt sich die genaue Kopie des lateinischen Vorbildes durch (Ap. 2, 9 kann auf Latein nicht anders gesagt werden als blasphemaris ab his, qui se dicunt Iudaeos esse; auf Griechisch wäre die korrekte Entsprechung ἔχεις βλασφημίαν ἐκ τῶν λεγόντων Ἰουδαίους εἶναι, aber tatsächlich steht im Bibeltext die am Lateinischen orientierte Fassung ἔχεις βλασφημίαν ἐκ τῶν λεγόντων Ἰουδαίους εἶναι ἑαυτούς, vgl. Blass 1984, 337 = § 406). Ersatz von ACI-Sätzen durch finite Konstruktionen. Während in korrektem Latein der ACI nach bestimmten Verben unumgänglich ist und nicht durch eine andere Konstruktion ersetzt werden kann, hat das Griechische hier von jeher eine größere Freiheit, die dazu führte, dass statt des ACI–Satzes immer ein durch ὅτι eingeleiteter Nebensatz mit finiter Verbform möglich war: “Die Wahl zwischen Infinitiv und ὅτι scheint im jeweiligen Belieben der Verfasser zu stehen” (Blass 1984, 315 = § 388). Im Lateinischen der Kaiserzeit zeigt sich dieselbe Tendenz wie im Griechischen. Es entsteht also eine Konkurrenz zwischen ACI–Konstruktionen und einer Ersatzlösung, die in einem durch quia und durch quod (quod war die ältere, quia die jüngere Lösung, Hofmann 1950, 577 = § 312 α) eingeleiteten Nebensatz mit finiter Verbform besteht. In der Apostelgeschichte (21, 31) steht ἀνέβη φάσις τῷ χιλιάρχῳ τῆς σπείρης ὅτι ὅλη συγχύννεται Ἰηρουσαλήµ, was mit nuntiatum est tribuno cohortis quia tota confunditur Hierusalem und nicht mit nuntiatum est tribuno cohortis totam Hierusalem confundi übersetzt wird. Insgesamt kann man sagen, dass in der Kaiserzeit im Griechischen die ὅτιErsatzkonstruktion den ACI weitgehend verdrängt und dass im Lateinischen die
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den griechischen ὅτι-Sätzen nachempfundene quod / quia–Konstruktion mehr und mehr in den Vordergrund tritt (vgl. auch Coseriu 2008, 318–319). Perfektumschreibungen. In der Kaiserzeit treten sowohl im Griechischen als auch im Lateinischen neue analytische Tempora neben den traditionellen synthetischen Tempora auf. Besonders auffällig ist das bei Formen, die neben die alten Perfekta treten und Umgestaltungen vorbereiten, die erst im Neugriechischen bzw. in den romanischen Sprachen zum Tragen kommen: ἔχω / habeo + Partizip Perfekt Passiv. Umschreibungen des griechischen Perfekts durch εἰµί, γίγνοµαι, ἔχω + Aorist- oder Perfektpartizip gab es von jeher (Jannaris 1897, 498); “die Umschreibungen waren ursprünglich gegenüber den einfachen Formen irgendwie expressiv, wurden aber unter formalen Bedingungen oft lediglich gleichwertiger Ersatz einfacher Formen” (Schwyzer 1950, 811), so dass praktisch γεγραµµένον ἐστί zum Synonym von γέγραπται wurde. So steht z. B. in der Lebensbeschreibung des Flavius Iosephus das analytische Perfekt von γράφω (360 = § 65): διὰ τί [---] τὴν ἱστορίαν οὐκ ἔφερες εἰς µέσον; πρὸ γὰρ εἴκοσιν ἐτῶν εἶχες γεγραµµένην ‘Warum gabst du dein Geschichtswerk nicht heraus? Du hast es ja vor zwanzig Jahren geschrieben’; kurz vorher heißt es aber mit synthetischem Perfekt (342 = § 65): ἐν τοῖς Οὐεσπασιανοῦ τοῦ αὐτοκράτορος ὐποµνήµασιν οὕτως γέγραπται “in Kaiser Vespasians Memoiren ist es so geschrieben worden”. Auch im Lateinischen gibt es die Umschreibung bei “Transitiva, bei denen am Resultat der Handlung das Subjekt selbst interessiert ist, also bei parere, cognoscere u. ä. Zweck der Umschreibung war, den gegenwärtigen, von einer vergangenen Handlung herrührenden Zustand besonders zu betonen” (Hofmann / Szantyr 1965, 319 = § 178 c β). So heißt es in Caesars bellum civile (2, 43, 1): magistris imperat nauium, ut primo uespere omnes scaphas ad litus adpulsas habeant ‘er befahl den Kapitänen, dass sie bei Anbruch des Abends alle Boote am Strand angelandet haben sollten’. Eine vollständige Gleichsetzung mit dem Perfekt erfolgt erst im Laufe der Kaiserzeit: “Erst im Spätlatein sind habeo und teneo so abgeschwächt, daß sie die Bedeutung eines bloßen Hilfsverbs erhalten haben und die Perfektbildung der romanischen Sprachen sich daraus entwickeln konnte” (Kühner / Stegmann 1992, 764 = § 137). Die griechische und die lateinische Entwicklung führen also zu einem vergleichbaren Resultat, zum Ersatz einer synthetischen durch eine analytische Perfektform, die aus einer periphrastischen Form entstanden ist. Futurumschreibungen. Das Verb für ‘haben’ in Verbindung mit dem Partizip Perfekt Passiv hat zu einer analytischen Perfektform geführt, die Verbindung desselben Verbs mit dem Infinitiv hat eine neue Futurform hervorgebracht, die allerdings nur im Westen auf Dauer erfolgreich war. Im Griechischen ist die Verbindung ἔχω + Infinitiv in der Bedeutung ‘müssen’ seit klassischer Zeit vorhanden, vgl. z. B. Luc. 12, 50: βάπτισµα ἔχω βαπτισθῆναι = baptismo habeo baptizari ‘mit einer Taufe muss ich getauft werden’. In der Kaiserzeit entwickelte sich daraus eine Futurumschreibung: “ἔχω + infinitive is a future-equivalent common in late texts which reflect the spoken Greek of the time” (Browning
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1969, 40); eine repräsentative Auswahl von Belegen bietet Jannaris 1898, 553– 554. Dass diese Form sich nicht zur neugriechischen Futurbildung weiterentwickelte, lag daran, dass sie von ihren Konkurrenzformen mit µέλλω und θέλω aus dem Feld geschlagen wurde: Mit µέλλω + Infinitiv (bzw. später mit einer ἵνα > νά–Konstruktion) wurde – wie mit den lateinischen –urus-Formen – immer die nahe Zukunft bezeichnet (Matth. 17, 12: ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου µέλλει πάσχειν ὑπ᾿ αὐτῶν = filius hominis passurus est ab eis ‘der Menschensohn wird leiden müssen von ihnen’, neugr. ο υιός του ανθρώπου µέλλει να πάθει απ᾿ αυτούς), so dass diese Form zwar immer als Umschreibung für etwas direkt Bevorstehendes eintrat (Blass 1975, 288 = § 356), aber nie zu einer eigentlichen Ersatzkonstruktion für alle Erscheinungsarten des Futurs wurde. Mit θέλω + Infinitiv (bzw. seit der byzantinischen Zeit mit der entsprechenden ἵνα > νά–Konstruktion) hingegen bildete sich die Form heraus (Bănescu 1915, 91–96), die heute für den Ausdruck der Zukunft gebraucht wird: Die voluntaristische Note des Verbs tritt seit dem 2. Jh. n. Chr. hinter der futurischen Bedeutung zurück. Im Lateinischen wurden Futurumschreibungen schon aus lautlichen Gründen unvermeidlich: Weil einige Perfektformen mit den Futurformen durch den Zusammenfall des alten –b– und des alten –w– in –β– (siehe oben) gleichlautend geworden waren (amavit – amabit), weil das alte –ē– und das alte –ĭ– verwechselbar wurden (dicis – dicet) und so die Unterscheidung zwischen Indikativ Futur und Konjunktiv Präsens behinderten (Hofmann / Szantyr 1965, 308 = § 172), weil es zudem kein einheitliches Schema für die Bildung der Formen gab (amabo – audiam) und weil außerdem die tägliche Umgangssprache sowieso das Präsens als Ersatz für das Futur bevorzugte (Väänänen 1988, 232 = § 305), traten einige Ersatzkonstruktionen auf (Väänänen 1988, 230-231 = § 303), unter denen die mit habēre, tenēre und uelle die prominentesten waren. Schon in Ciceros Briefen kommt habēre + Infinitiv mit der Nebenbedeutung des Müssens vor (Att. 2, 22, 6: de re publica nihil habeo ad te scribere ‘über den Staat muss ich dir nichts schreiben’), aber “eine starke Gebrauchserweiterung setzt erst seit der Itala unter dem Einfluß von gr. ἔχω” ein (Hofmann / Szantyr 1965, 314 = § 175 g). Tertullian (scorp. 11) sagt: aliter praedicantur, quam euenire habent ‘man sagte Anderes voraus, als dann wirklich geschah’. In der lateinischen Version der vitae patrum ist die habēre + Infinitiv–Form die regelmäßige Wiedergabe der griechischen Konstruktion ἔχω + Infinitiv (PL 73, 902C: quando ego habeo haec omnia eradicare et purgare? ‘wann soll ich das alles herausreißen und bereinigen’). In den meisten romanischen Sprachen ist die in der Wortfolge Infinitiv + Kurzform von habēre auftretende Ausdrucksweise die Grundlage für das neue, wieder synthetisch gewordene Futur, also: habeō amāre > amāre habeō > amare (h)o > amaro. Der erste Beleg für eine synthetische Form findet sich im 7. Jh. bei Fredegar: daras = dare habes (Hofmann / Szantyr 1965, 315 = § 175 g). Die Futurumschreibung mit velle + Infinitiv, die schon bei Terenz nachzuweisen ist, bei christlichen Autoren in den Vordergrund tritt und am Ende der Antike ganz geläufig ist, hat sich im Rumänischen erhalten können, wo voi + Infinitiv (bzw. dem Infinitiv-Ersatz să + finite Form) geläufig ist, freilich neben anderen Ausdrucksformen. Man könnte
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noch andere, seltenere Futurumschreibungen aufzählen, in denen das Griechische der Kaiserzeit mit dem Lateinischen parallel geht. Die aufgezählten Parallelismen beweisen aber schon für sich, dass in beiden Sprachen das ererbte synthetische Futur gegenüber analytischen Ersatzkonstruktionen zurücktritt und dass die neuen Umschreibungen mit den durch einen Infinitiv des bedeutungstragenden Verbs in Verbindung mit einer flektierten Form der Verben für ‘haben’ und ‘wollen’ gebildet werden, wobei sich nicht mit Sicherheit feststellen lässt, ob jeweils das Griechische oder das Lateinische die gebende oder die nehmende Sprache ist. Viel wichtiger ist es, dass in beiden Sprachen die entsprechenden Konstruktionen virtuell vorhanden waren, dass aber die tatsächliche Verfestigung zu Ersatzbildungen für das alte Futur nicht in jeder der beiden Sprachen völlig unabhängig erfolgte, sondern dass hier die “aufgrund wechselseitiger Beeinflussung (Adstrat, Sprachkontakt)” zustandegekommenen “Konvergenzerscheinungen” vorliegen, die Hadumod Bußmann als konstituierend für einen Sprachbund erachtete (2008, 642). Ich möchte an dieser Stelle mit der Aufzählung syntaktischer Parallelismen zwischen dem Griechischen und dem Lateinischen der Kaiserzeit aufhören, obwohl sich durchaus noch weitere Beispiele aufführen ließen (vgl. Coseriu 2008, 314–321; Dietrich 1998, 125–127). Sie würden aber wohl nichts an dem Gesamteindruck zweier von gleichen oder zumindest ähnlichen Tendenzen geprägten Sprachen ändern, die zur Herausbildung einer syntaktischen Struktur führte, die das Griechische und das Lateinische zu einer Gruppe zusammenschließt, die im Gegensatz sowohl zu anderen mehr oder weniger archaischen indogermanischen Sprachen als auch im Gegensatz zu modernen Sprachen steht – zu einem griechisch-lateinischen Sprachbund eben. 7. Parallelismen im Wortschatz Als letzten Punkt möchte ich kurz auf die “große Anzahl gemeinsamer Kulturwörter” eingehen, die ja nach der Definition von Trubetzkoy (1928, 18) ebenfalls sprachbundkonstituierend sein soll. Von Anfang der bezeugten Sprachentwicklung an hat der griechische Wortschatz einen entscheidenden Einfluss auf den lateinischen ausgeübt, denn man darf ja nie vergessen, dass das Latein bei seinen ersten Kontakten zum Griechischen eine ungeschliffene Bauernsprache war, ungeeignet zum Ausdruck abstrakter Gedankengänge und nicht konkreter Begriffe. So ist es nicht verwunderlich, Gräzismen in großer Anzahl schon in frühen lateinischen Sprachdenkmälern zu finden: talentum, balineum, machina, cista, lanterna, calamus, comicus, tragicus (Devoto 1968, 117–118). Es sind aber nicht nur die auf den ersten Blick erkennbaren materiellen Gräzismen, die das Lateinische geprägt haben. Unter den Intellektuellen gab es immer eine Neigung, aus Nationalstolz gegen die Aufnahme zu vieler Elemente aus der Sprache der politisch und militärisch unterworfenen Graeculi ins Lateinische zu sein, aber andererseits war das Lateinische mit eigenen Mitteln zum Ausdruck vieler Gegebenheiten nicht in der Lage. Man fand einen Ausweg aus dem Dilemma, indem man Lehnübersetzungen prägte. Am schöpferischsten auf diesem Gebiet war Cicero, dem wir etwa essentia = οὐσία, qualitas = ποιότης oder
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moralis = ἠθικός verdanken, aber die Umsetzung der griechischen grammatischen Terminologie in lateinische Lehnentsprechungen (casus nominativus = ὀνοµαστικὴ πτῶσις, casus genitivus = γενικὴ πτῶσις, casus dativus = δοτικὴ πτῶσις etc.) beispielsweise hat Q. Remmius Palaemon im 1. Jh. n. Chr. (z. T. nach älteren Vorschlägen) durchgeführt (Kramer 2005, 250–253). Obwohl diese Wörter auf den ersten Blick echt lateinisch aussehen, ist doch unverkennbar, dass es sich im tieferen Sinne um Gräzismen handelt (vgl. Nicolas 1997), also ebenfalls um die “gemeinsamen Kulturwörter”, von denen Trubetzkoy redete. Hier geht es nicht darum, die Listen von Gräzismen, die an anderer Stelle publiziert wurden (Dietrich 1998, 123-125; Coseriu 2008, 321–323), zu wiederholen oder zu erweitern. An drei Beispielen soll vielmehr der auffällige griechische Einfluss auf das Lateinische dargestellt werden. Im Griechischen des Neuen Testaments kann für ‘Ohr’ nicht das Simplex οὖς, sondern das dazugehörige Diminutivum ὠτίον eintreten: πατάξας τὸν δοῦλον τοῦ ἀρχιερέως ἀφεῖλεν αὐτοῦ τὸ ὠτίον ‘er schlug den Diener des Hohenpriesters und hieb ihm das Ohr ab’ (Matth. 26, 51). Entsprechend wird im Lateinischen statt auris die Diminutivform auricula gesetzt: percutiens seruum principis sacerdotum amputauit auriculam eius. Es handelt sich jedenfalls um eine Parallelentwicklung im Griechischen und im Lateinischen: Im Neugriechischen heißt ‘Ohr’ αυτί, die romanischen Sprachen setzen auricula fort (z. B. it. orecchia, frz. oreille, sp. oreja). Im Griechischen hieß ‘blind’ τυφλός, im Lateinischen caecus. In feierlicherer Sprache gab es jedoch auch andere Ausdrücke, so beispielsweise τῶν ὀµµάτων στερηθείς ‘der Augen beraubt’ (Plat. Phaedr. 243A) und dann ἀπ᾿ ὀμμάτων (Deutschmann 1948, 111). Das wäre lat. orbus oculis oder orbus ab oculis, verkürzt zu ab oculis, das sich im französischen aveugle fortsetzt (Rohlfs 1971, 76–77). Die über das Indogermanische miteinander verwandten Wörter griechisch ἧπαρ und lateinisch iecur sind die normalen Ausdrücke für ‘Leber’. Eine besondere Delikatesse in der Antike war die mit Feigen gewürzte Leber, die griechisch ἧπαρ συκωτόν und lateinisch iecur fīcātum hieß. In der Spätantike wurde dann συκωτόν im Griechischen und fīcātum (> fīcatum) im Lateinischen zum Normalwort für ‘Leber’: neugr. συκωτό / rum. ficat, it. fégato, sp. hígado (Rohlfs 1971, 92–93). Beispiele dieser Art, die doch auf einen tiefgreifenden Parallelismus zwischen Griechisch und Latein hinweisen, ließen sich in beachtlichem Umfang anführen. Jedoch soll auf jeden Fall der Eindruck vermieden werden, dass es sich um eine Einbahnstraße handelte, die vom Griechischen zum Lateinischen führte. Vielmehr hat sich der lateinische Wortschatz auch erheblich auf den griechischen ausgewirkt. Während traditionsbewusste Schriftsteller im Allgemeinen griechische Lehnübersetzungen vorziehen, herrschen bei stärker der Volkssprache verpflichteten Verfassern Latinismen für typisch römische Einrichtungen vor: So finden wir nebeneinander ἑκατοντάρχης und κεντυρίων für centuriō, λεγιών und τάγµα für legiō, κοόρτη (oder χώρτη) und σπεῖρα für cohors (Mason 1974, 5). Besonders in den griechischen Papyri aus Ägypten tauchen viele Latinismen auf,
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die sonst durch Lehnübersetzungen wiedergegeben werden (Daris 1991). Viele Latinismen des Alltagslebens wie z. B. ὁσπίτιον < hospitium oder φοῦρνος < furnos haben sich im Griechischen der Kaiserzeit dauerhaft etabliert, was man an ihrem Weiterleben im Mittel- und Neugriechischen sieht: σπίτι ‘Haus’, φοῦρνος ‘Backofen’ (Meyer 1895; Viscidi 1944). Auch ganze Wendungen werden ins Griechische übernommen, sind aber trotz eindeutig lateinischer Herkunft für den normalen Sprachbenutzer nicht als fremde Elemente zu erkennen: συµβούλιον λαµβάνειν < consilium capere, ἐργασίαν διδόναι < operam dare, τὸ ἱκανὸν ποιῆσαι < satisfacere, ὑπ᾿ ἐξουσίαν τινὸς ἄγειν < sub potestatem alicuius redigere (Debrunner 1954, 90; Coleman 2007, 796). 8. Resultate Als Resultat der Zusammenstellung der Parallelismen zwischen dem Griechischen und dem Lateinischen in der Kaiserzeit bleibt festzuhalten, dass es auf Grund einer weit verbreiteten Zweisprachigkeit, die nicht zuletzt in der starken Ähnlichkeit der Lebensformen in der östlichen und in der westlichen Reichshälfte zustande gekommen war, eine Annäherung im sprachlichen Ausdruck gegeben hat, die sicher nicht geringer zu bewerten ist als das, was man bislang an Gemeinsamkeiten zwischen den Mitgliedern anerkannter Sprachbünde wie etwa dem Balkansprachbund herausgearbeitet hat. Sofern man überhaupt die Existenz von Sprachbünden akzeptiert, dürfte die Tatsache eines griechisch-lateinischen Sprachbundes in der römischen Kaiserzeit über jeden Zweifel erhaben sein. Sprachbünde dauern nicht ewig: Wenn die Gemeinsamkeiten in der Lebensführung und die damit verbundene Zwei- und Mehrsprachigkeit aufhören, werden auch die sprachbundkonstituierenden Charakteristika immer weniger, bis sie schließlich ganz aufhören und also dem Sprachbund ein Ende bescheren. Dieser Prozess setzte beim griechisch-lateinischen Sprachbund mit dem Auseinanderbrechen der Einheit des römischen Reiches ein, das auch mit einem starken Rückgang der Verkehrsverbindungen und damit der gegenseitigen Kontakte verbunden war. Zweisprachigkeit war kein Erfordernis mehr, im Osten wurde das Griechische alleinherrschend, im Westen das Lateinische. Natürlich hört die Zweisprachigkeit nicht abrupt auf, und man hat mit einer Übergangszeit von etwa zwei Jahrhunderten zu rechnen. Von der Mitte des 6. Jahrhunderts an sind jedoch beide Reichshälften als im Wesentlichen einsprachig zu betrachten, obwohl es im Osten wie im Westen Reliktzonen gab: Im byzantinischen Hofzeremoniell spielte das Lateinische bis ins 10. Jahrhundert eine gewisse Rolle, noch im 8. Jahrhundert waren viele Münzlegenden lateinisch, bis ins 8. Jahrhundert waren die militärischen Kommandos auf Lateinisch gehalten, es gab in Byzanz Wohnviertel für eine lateinischsprachige Bevölkerung (Petersmann 1992). Im Westen wurde zumindest in klösterlichen Kreisen der Schein einer Beherrschung des Griechischen aufrecht erhalten, und es gab immer wieder Handelsreisende und Diplomaten, die tatsächlich Griechischkenntnisse hatten. In Teilen Süditaliens und Siziliens war das Griechische Volkssprache. Insgesamt aber gilt, dass man sich im frühen Mittelalter auseinandergelebt hatte: Es gab keinen griechisch-lateinischen Sprachbund
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mehr, sondern nur noch ein Weiterleben der ererbten Gemeinsamkeiten ohne gegenseitige Sprachkontakte. Die Frage, ob es in der Antike sprachbundkonstituierende Faktoren gab, die über den griechisch-lateinischen Sprachbund hinausgehen, liegt außerhalb der Thematik dieses Beitrages. In den meisten Fällen haben wir es nur mit Einbahnstraßen zu tun: Das Koptische wäre ohne seine griechischen Bestandteile undenkbar, aber es gibt umgekehrt keine Einflüsse des Koptischen auf das Griechische. Lediglich das Hebräische und das Aramäische haben nicht nur Gräzismen aufgenommen, sondern in christlicher Zeit das Griechische und das Lateinische beeinflusst (vgl. etwa [משלma∫al] ‘Beispiel, Gleichnis, Sprichwort, Ausspruch’, das über griechisch παραβολή und lateinisch parabola zum romanischen Normalausdruck für Wort wurde, z. B. it. parola, frz. parole, kat. paraula, sp. port. palabra); von den massiven Parallelismen zwischen dem Griechischen und Lateinischen in der Kaiserzeit ist das jedoch meilenweit entfernt.
IV. DIE EUROPÄISCHE WORTGESCHICHTE VON PAPYRUS
6. Papyrus in den antiken und modernen Sprachen Abstract: This article studies the terminology of ancient writing materials (βύβλος / βίβλος, χάρτης, διφθέρα Περγαµηνή, πάπυρος), the different uses of papyrus in antiquity (food, wood, textile, carpet, writing material), and the etymological successors of papyrus in modern European languages. Keywords: Papyrus, paper, sedge, wick
1. Angaben zur Sachgeschichte der flexiblen Beschreibstoffe Die ersten flexiblen Beschreibstoffe der griechischen Antike waren Tierhäute1, daneben auch Palmblätter, Bast2 und Leinwand3. Das hauptsächliche Beschriftungsmaterial wurde jedoch aus einer Pflanze hergestellt, die damals in großem Umfang nur in Ägypten wuchs, der Papyrusstaude (Cyperus papyrus L.). Man schnitt das Mark des Stengels der Länge nach in möglichst dünne Streifen, legte diese Streifen in einer Lage waagerecht und einer Lage senkrecht im rechten Winkel übereinander und presste sie, wodurch Pflanzensaft freigesetzt wurde, der als natürlicher Klebstoff wirkte. Man glättete nach der Trocknung die so entstandene und inzwischen unauflösliche Struktur (Rupprecht 1994, 3). Auf diese Weise konnte man unterschiedlich große Blätter produzieren, wobei eine Höhe zwischen 30 und 40 cm und eine Breite zwischen 11 und 24 cm normale Werte darstellen. Diese Einzelblätter wurden meist aneinandergeklebt, so dass Rollen entstanden, die zwischen 2, 20 m und 4, 80 m (oder auch mehr) lang waren (Rupprecht 1994, 5); in späterer Zeit kamen auch die aus Lagen zusammengefügten Bücher auf. Die älteste, allerdings unbeschriftete, Papyrusrolle stammt aus einem ägyptischen Grab der Zeit um 3000 v. Chr., der älteste auf uns gekommene hieroglyphische Papyrustext aus der Zeit um 2700 v. Chr., das älteste griechische Papyrusdokument ist ein Ehevertrag aus dem Jahre 311 v. Chr.; und _________ 1 Herodot 5, 58, 3: καὶ τὰς βύβλους διφθέρας καλέουσιν ἀπὸ τοῦ παλαιοῦ οἱ Ἴωνες, ὅτι κοτὲ ἐν σπάνι βύβλων ἐχρέωντο διφθέρῃσι αἰγέῃσί τε καὶ οἰέῃσι· ἔτι δὲ καὶ τὸ κατ᾿ ἐµὲ πολλοὶ τῶν βαρβάρων ἐς τοιαύτας διφθέρας γράφουσι ‘die Bücher nennen die Ioner von altersher Häute, weil sie einst in Ermanglung von Papyrus Ziegen- und Schafhäute verwendeten; noch in meiner Zeit schreiben viele Barbaren auf derartige Häute’. 2 Plin. 13, 69: in palmarum foliis primo scriptitatum, dein quarundam arborum libris ‘zuerst wurde auf Palmblättern geschrieben, dann auf den Bast gewisser Bäume’. 3 Liv. 4, 7, 12: lintei libri ‘Leinenbücher’. Vgl. Isid. Etym. 6, 12, 1: at uero historiae maiori modulo scribebantur, et non solum in carta uel membranis, sed etiam in omentis elephantinis textilibusque maluarum foliis atque palmarum ‘Geschichten aber wurden in einem größerem Format geschrieben, und zwar nicht nur auf Papyrus oder auf Häute, sondern auch auf Elephantenhaut und auf zusammengewebten Blättern von Malven und Palmen’.
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aus dem 4. Jh. v. Chr. haben wir auch die ersten literarischen Papyri aus Ägypten (Rupprecht 1994, 6–7); der in Griechenland gefundene Derveni-Papyrus wird allerdings nach vorherrschender Meinung schon auf das Jahr 400 v. Chr. datiert (Kouremenos / Parássoglou / Tsantsanoglu 2006, 10). Neben die Rolle trat seit dem 2. Jh. n. Chr. – aus noch nicht völlig geklärten Gründen – der Kodex, also eine Zusammenfassung mehrerer in der Mitte gefalteter (und meist dort verstärkter) Blätter zu einem als Lage bezeichneten Heft; mehrere Lagen ergeben ein Buch, in dem man anders als bei einer Rolle blättern und nachschlagen (!) konnte (Turner 1977, 1). Etwa im 4. Jh. n. Chr. war der Kodex zur Normalform des Textträgers für Literatur geworden (Montevecchi 1988, 17). Wenn wir einmal von dem seltenen und als barbarisch geltenden Gebrauch von Leder o. ä. als Beschreibstoff absehen4, kannte die Antike neben dem Papyrus nur noch einen geläufigen flexiblen Schriftträger, der zumindest der Tradition nach wesentlich später ins Licht der Geschichte trat: Gemeint ist das Pergament, also ungegerbte enthaarte und mit einer Kalklösung behandelte Tierhaut. Pergament ist weniger flexibel, aber auch erheblich weniger beschädigungsanfällig als Papyrus. In der Antike war Pergament unendlich viel teurer als Papyrus, aber nach der arabischen Eroberung Ägyptens im Jahre 641 stagnierte die Produktion und erst recht der Export von Papyrus, so dass im mittelalterlichen Europa gerade der Papyrus zu einem exklusiven, man möchte beinahe sagen, nostalgischen Schreibmaterial wurde, verwendet beispielsweise von der päpstlichen Kanzlei5. Das letzte Dokument stammt aus dem Jahre 1051, und “bon nombre de chartes pontificales intéressent des fondations catalanes et roussillonnaises: Gérone, Vich, San Cugat del Vallès, Saint-Martin du Canigou, Camprodon” (Stiennon 1999, 174). Wenn man einmal von dem seltenen Repräsentativgebrauch von Papyrus absieht, gab es also seit dem 7. Jh. in Europa nur noch einen einzigen flexiblen Beschreibstoff, das Pergament, ein Material also, das so wertvoll war, dass man sich nicht wundern darf, dass die Produktion geschriebener Texte und zugleich die Lese- und Schreibfähigkeit im Vergleich zur Antike unglaublich zurückging: Außerhalb eines engen Kreises meist klösterlicher Spezialisten breitete sich ein allgemeines Analphabetentum aus, denn wenn das Schreibmaterial uner_________ 4
Ktesias von Knidos berichtet, dass die Perser historische Ereignisse auf ‘königlichem Leder’ festgehalten haben und dass er selbst sein Geschichtswerk im Anschluss daran zusammengestellt habe (F 5 [p. 78 Lenfant] = Diod. II 32, 4): Κτησίας δὲ ὁ Κνίδιος [---] φησιν ἐκ τῶν βασιλικῶν διφθερῶν, ἐν αἷς οἱ Πέρσαι τὰς παλαιὰς πράξεις κατά τινα νόµον εἶχον συντεταγµένας, πολυπραγµονῆσαι τὰ καθ᾿ ἕκαστον καὶ συνταξάµενος τὴν ἱστορίαν εἰς τοὺς Ἕλληνας ἐξενεγκεῖν ‘Ktesias aus Knidos sagt, dass er aus den königlichen Häuten, in denen die Perser die alten Taten nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit zusammengestellt haben, alle Einzelheiten untersucht habe und dann seine Geschichte verfasst habe, die er den Griechen gebracht habe’. 5 Santifaller 1953, 32–33: “Die päpstliche Kanzlei hat seit den ältesten Zeiten bis in das 10. Jh. den Papyrus als Beschreibstoff für Urkunden und Briefe, soweit uns bekannt ist, ausschliesslich verwendet. [---] Das älteste erhaltene Papyrusoriginal aus der päpstlichen Kanzlei ist das Fragment eines Briefes Papst Hadrians I. an Karl den Grossen im Jahre 788. [---] Unter Benedikt IX. (1032– 1045) tritt, soviel wir aus dem überlieferten Material und den urkundlichen Nachrichten ersehen können, der endgültige Umschwung zugunsten des Pergaments ein”.
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schwinglich ist, ist der Anreiz, schreiben und lesen zu lernen, gering. Erst die Bekanntschaft mit dem Hadernpapier macht diesem Zustand ein Ende. In China hatte um 105 n. Chr. Tsaï-Luen, ein Offizier im Dienste der Han-Kaiser, die Technik der Papierherstellung aus Hanf- und Baumwollfasern erfunden (Stiennon 1999, 180). 704 lernten die Araber die Kunst der Anfertigung dieses neuen Materials von chinesischen Kriegsgefangenen, die bei der Eroberung von Samarkand gemacht worden waren (Valls i Subirà 1970, 3). Um 900 n. Chr. findet man das Hadernpapier in Ägypten, um 1100 in Marokko (Stiennon 1999, 180). In Europa sind die ersten Belege für die Kenntnis von Papier auf der iberischen Halbinsel im 10. Jh. nachzuweisen. Besonders interessant ist das sogenannte Breviarium Mozarabicum (ms. 6 der Bibliothek des Klosters von Santo Domingo de Silos), aus paläographischen Gründen in die zweite Hälfte des 10. Jh. datiert: Es enthält 150 Blätter, von denen 38 aus Papier, der Rest aus Pergament sind, wobei man offenbar die Papierblätter als Imitation von Pergamentblättern angelegt hatte (Valls i Subirà 1970, 5); die spanischen Bezeichnungen pergamiño de paño ‘Papier’ und pergamino de cuero ‘Pergament’ (Alfons der Weise, Siete partidas III, XVIII, V) spiegeln den Tatbestand, dass Papier als Surrogat von Pergament empfunden wurde, noch wieder. Im 11. Jh. gibt es nachweislich auf dem Boden der Iberischen Halbinsel eine einheimische Produktion: 1056 ist Abu Masafia als Betreiber einer zwanzig Arbeiter beschäftigenden Papiermühle in Xàtiva bei València belegt, und für Toledo ist 1085 eine Papiermühle bezeugt (Valls i Subirà 1970, 5). Arabische Geographen berichten, beginnend mit El-Idrisi um 1150, wiederholt von der Papierproduktion in Xàtiva, und Petrus Venerabilis lernte auf seiner Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela im Jahre 1141 Bücher aus Papier kennen6. Um Xàtiva gab es wegen des traditionellen Flachsanbaus in der Gegend und wegen des Vorhandenseins reicher Wasservorräte optimale äußere Bedingungen für die Papierproduktion, und auch nach der Eroberung der Stadt durch die Christen im Jahre 1248 blieben die Papiermühlen unverändert tätig (Valls i Subirà 1970, 7). Den Handel mit Papier aus Xàtiva hatte der aragonesische König Jakob I. der Eroberer (Jaume I. el Conquistador) schon 1237 erlaubt, und in den Rechnungsbüchern der Kathedrale von Barcelona finden sich Belege aus den Jahren 1335, 1337 und 1343 über Papier, das in Xàtiva oder València von arabischen Händlern erworben wurde (Madurell i Marimon 1972, 21). Xàtiva wurde geradezu zum Synonym für Papiermenge: Der katalanische Chronist Ramon Muntaner (1265–1336) schreibt, dass zur Beschreibung der Missetaten der freien italienischen Städte alles Papier, das in der Stadt Xàtiva produziert wird, nicht reichen würde (1991, II 186 = Kap. 282: qui metra volia per escrit les llurs malvestats, no hi bastaria a escriure tot quant paper se fa en la vila de Xàtiva). _________ 6 PL 189, 606: Legit, inquit, Deus in cœlis librum Talmuth. Sed cuiusmodi librum? Si talem, quales quotidie in usu legendi habemus, utique ex pellibus arietum, hircorum uel uitulorum (also: Pergament), siue ex biblis et iuncis orientalium paludum (also: Papyrus), aut ex rasuris ueterum pannorum, seu ex qualibet alia forte uiliore materia compactos (also: Papier) et pennis auium uel calamis palustrium locorum qualibet tinctura infectis descriptos.
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Zwei weitere Gebiete gab es in Europa, in denen schon im 12. Jh. Papier verwendet wurde. “Die ersten sicheren Nachrichten über die Papierverwendung in Italien stammen aus Sizilien bzw. aus dem sizilischen Königreiche. Aus späteren Bestätigungen und Erneuerungen weiß man, daß bereits der im Jahre 1101 verstorbene Großgraf Roger I. von Sizilien auf Papier geurkundet hat: die älteste normannische Papierurkunde, von der wir Kunde haben, ist eine Urkunde Rogers I. von 1090. [---] Die älteste heute noch im Original erhaltene Papierurkunde Siziliens und damit auch Italiens ist das Mandat der Gräfin Adelasia an die Beamten ihres Gebietes Castro Giovanni für das Kloster S. Filippo di Fragalà von 1109” (Santifaller 1953, 134–136). Eine einheimische Papierproduktion gab es jedoch im Italien des 12. und 13. Jh. nicht; das Papier war vielmehr Importware aus arabischem Gebiet. Wir haben sogar Belege für eine “spanische Papierausfuhr nach Sizilien aus den Jahren 1272 und 1285” (Santifaller 1953, 137). Das Papier wurde von arabischen Produzenten in Xàtiva produziert und von Händlern aus Barcelona nach Sizilien weiterverschifft (Madurell i Marimon 1972, 209–210). Die zweite Stelle Italiens, an der schon im 12. Jh. Papier erwähnt wird, ist Genua. Das auf arabisches Importpapier geschriebene notarielle Urkundenregister des Johannes Scriba, das im Genueser Staatsarchiv aufbewahrt wird, setzt 1154 ein (Santifaller 1953, 137). Bereits 1163 ist in einem lateinischen Dokument von einer in seta et papiris bestehenden Schiffsladung für Tunis die Rede (Chiaudano 1935, 163 = Nr. MCXXXII) – es geht also offenbar nicht um genuesische Produkte, sondern um Zwischenhandel, wahrscheinlich mit Waren, die die Genuesen im maurischen Spanien eingekauft hatten (Schaube 1906, 286). 2. Die Terminologie der flexiblen Beschreibstoffe in der Antike Die griechische Antike kannte im Wesentlichen zwei Termini, um die ihr bekannten flexiblen Beschreibstoffe, also vor allem Papyrus und Pergament, zu bezeichnen, nämlich βύβλος / βίβλος (mit dem Diminutivum βιβλίον) und χάρτης (mit den Diminutiven χαρτίον, χαρτάριον, χαρτίδιον). Die deutlicher materialbezogenen Ausdrücke πάπυρος und διφθέρα (seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. auch διφθέρα Περγαµηνή) sind demgegenüber ziemlich selten. a) βύβλος / βίβλος Das Wort βύβλος ist der zum Appellativum gewordene Name der phönikischen Hafenstadt Byblos (Βύβλος < phön. [ בלגgibel], hebr. [gebal] ‘Berg’, vgl. Ez. 27, 9, mit Assimilation des Anlautkonsonanten an den Inlautkonsonanten), die berühmt war für ihre Flecht-, Web- und Wirkwaren wie Seile, Matten oder Leinwand7. Es ist durchaus vorstellbar, dass der Beschreibstoff Papyrus die Griechen anfänglich an ein besonders feines Gewebe, vielleicht gar an eine spezielle Art _________ 7 Das Adjektiv βύβλινος kommt vom Anfang der griechischen Überlieferung an vor. Bei Homer (Od. 21, 391) bezeichnet es eine Seilart, ein festes Schiffstau sozusagen (κεῖτο δ᾿ ὑπ᾿ αἰθούσῃ ὅπλον νεὸς ἀµφιελίσσης | βύβλινον), und bei Herodot das Material, aus dem die Sandalen der ägyptischen Priester gefertigt sind (2, 37, 3: ὑποδήµατα βύβλινα), sowie das Tuch der Segel der ägyptischen Schiffe (2, 96, 3: χρέωνται ἱστίοισι βυβλίνοισι); vgl. auch S. 91.
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von Leinwand, erinnerte. Seit Herodot (485–424 v. Chr.) kann ἡ βύβλος für Schriftstücke jeder Länge, also in unserer Terminologie für ein ‘Blatt’ (2, 38, 3), aber auch für ein ‘Buch’ (= ‘Rolle aneinandergeklebter Blätter’, 2, 100, 1), verwendet werden. Das in ptolemäischen Papyri immer mit –υ– geschriebene βύβλος, für das die Schreibung mit –ι– seit der römischen Kaiserzeit (in Anlehnung an βιβλίον) langsam die Überhand gewinnt (Mayser/Schmoll 1970, 80), hat im Griechischen bis heute die Hauptbedeutung ‘Buch’ bewahrt; es ist freilich seit der hellenistischen Zeit nicht mehr das Normalwort, sondern es ist für Bücher erhabenen oder zumindest wichtigen Inhalts reserviert (‘Bibelbuch’, ‘Denkschrift’ usw.). Das Diminutivum βυβλίον, mit Assimilation des –υ– an den Tonvokal seit dem 2. Jh. v. Chr. meist βιβλίον geschrieben (Mayser/ Schmoll 1970, 80), konnte von Anfang an ohne merklichen Bedeutungsunterschied genauso wie das Grundwort ‘Blatt, Dokument’ (Herod. 1, 123, 4; Theophr. hist. plant. 4, 8, 4) und ‘Schriftrolle, Buch’ (Plat. apol. 26D) bedeuten. Im Neugriechischen bedeutet βιβλίο noch heute ‘Buch’. Eine besondere Karriere machte die bei den Juden übliche Bezeichnung für ihre heilige Schrift, τὰ βιβλία τὰ ἅγια ‘die heiligen Bücher’ (1 Macc. 12, 9), nach dem hebräischen [ כתבי הקדשkiṯəḇe ha-qoḏeš], in der Kurzform τὰ βιβλία ‘die Bücher’. Im gesprochenen Latein der Christen muss dieses Wort nicht mehr als Neutrum Plural, sondern als Femininum Singular behandelt worden sein: *biblia (ein Beleg fehlt). Darauf gehen die Formen der modernen Sprachen zurück, die dem deutschen die Bibel entsprechen (frz. la Bible, it. la Bibbia, sp. la Biblia usw.). Mit diesen semantischen Entwicklungen waren aber βύβλος / βίβλος und mehr noch βιβλίον in ihrer ursprünglichen Grundbedeutung, d. h. also zur Bezeichnung des aus der Papyruspflanze gewonnenen Beschreibstoffes als solchem, unbrauchbar geworden. Der zeitlich letzte Beleg für βίβλος ‘Papyrusstengel’ stammt aus dem 2. Jh. n. Chr. (P. Tebt. 308, 7; DGE 4, 763), ebenso der letzte Beleg für ‘Urkunde’. Bei βιβλίον findet man ‘Kassenbeleg’ bis ins 3. Jh. n. Chr., ‘Urkunde’ bis ins 4. Jh. (Preisigke 1925, I 268), ‘Eingabe bei einer öffentlichen Stelle’ sogar bis ins 6. Jh. (Kiessling 1944–1993, 364). b) χάρτης Eine andere Bezeichnung hatte auf lange Sicht mehr Erfolg bei der Benennung des flexiblen Beschreibmaterials, nämlich χάρτης (immer Maskulinum). Zur Herkunft dieses Wortes haben die gängigen Etymologika des Griechischen nur Angaben wie “unerklärt; wie die Papyruspflanze selbst wohl aus Ägypten” (Frisk 1973, II 1075) oder “inconnue; l’hypothèse usuelle d’un emprunt à l’Égypte, en raison de la provenance du papyrus, n’est appuyée par aucun argument linguistique” (Chantraine 1999, 1249). Wahrscheinlich ist das Wort jedoch aus dem altindischen kaitram ‘Leder als Beschreibstoff’ herzuleiten (Vycichl 1983, 247). Im Griechischen ist das Wort zum ersten Male im 5./4. Jh. v. Chr. in den Fragmenten des Komikers Platon belegt8, und die Bedeutung kann sowohl _________ 8 Plat. com. fr. 194 Kock = fr. 218 Austin/Kassel (Poll. 7, 210): χάρτας δὲ τοὺς γεγραµµένους Πλάτων εἴρηκεν ὁ κωµικός· “τὰ γραµµατεῖα τούς τε χάρτας ἐκφέρων”.
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‘Einzelblatt’ (> ‘Schriftstück, Dokument’) als auch ‘Schriftrolle, Buch’ sein. Mit gleicher Semantik kommt auch das Diminutivum χαρτίον vor. Die Hauptbedeutung ist in ‘Einzelblatt’ und in den davon abgeleiteten Sonderbedeutungen wie ‘Urkunde’ zu sehen (Preisigke 1927, II 724); der Sinn ‘Rolle’ ist viel seltener, normalerweise an die Pluralform gekoppelt. Bei präziser Wortverwendung ist χάρτης bzw. χαρτίον nur das zu Schreibmaterial verarbeitete Papyrusmark, was Dioskurides (1, 86) folgendermaßen ausdrückt: πάπυρος γνώριµός ἐστι πᾶσιν, ἀφ᾿ ἧς ὁ χάρτης κατασκευάζεται ‘allen ist Papyrus bekannt, aus dem das Schreibblatt zubereitet wird’. Im Lateinischen versuchte Lucilius († 102 v. Chr.) das Wort zunächst in der maskulinen Form cartus einzuführen9, aber erfolgreich wurde erst im 1. Jh. v. Chr. das neu gebildete Femininum carta10, in Anlehnung an das griechische Etymon meist charta geschrieben. Der Erstbeleg steht in der um 85 v. Chr. geschriebenen pseudo-ciceronischen Rhetorica ad Herennium (3, 30: qui mnemonica didicerunt, possunt, quod audierunt, in locis conlocare et ex his memoriter pronuntiare, nam loci cerae aut cartae simillimi sunt ‘diejenigen, die die Gedächtniskunst gelernt haben, können das, was sie gehört haben, an Orte festsetzen und von diesen Orten her aus dem Gedächtnis vortragen, denn diese Orte sind mit einer Wachstafel oder mit einem Schreibblatt zu vergleichen’). Die Bedeutung ist von Anfang an ‘Einzelblatt’ (ThLL III 997, 11: ‘schedae ex medulla papyri confectae’) mit den Nebenbedeutungen ‘Schriftstück, Dokument’ und ‘Brief’; allerdings kommt ‘Buchrolle, Buch’ (ThLL III 998, 28: ‘volumen, liber’) bis zum Ende der Antike vor, vgl. Ulp. dig. 32, 52, 4: in usu plerique libros chartas appellant ‘umgangssprachlich nennen die meisten die Bücher Chartae’. Als Material, aus dem eine charta hergestellt sein konnte, kommt nur Papyrusmark in Frage, was besonders an den Stellen klar wird, wo auch andere Schreibmaterialien genannt sind: chartae können nicht aus Pergament, Leder oder Rinde sein (Santifaller 1953, 43). Der Jurist Ulpian drückt diesen Sachverhalt eindeutig aus (dig. 32, 52): librorum appellatione continentur omnia uolumina siue in charta siue membrana sint siue in quauis alia materia ‘unter der Bezeichnung Buch sind alle Bände zusammengefasst, ob sie nun aus Papyrus oder aus Pergament oder aus irgendeinem anderen Material sind’. c) διφθέρα (Περγαµηνή) Das Leder, das man zum Beschriften verwendete, hatte von jeher die Bezeichnung διφθέρα. Dieses schon in den Linear-B-Täfelchen für ‘Leder’ gut bezeugte Wort (di-pte-ra, Chadwick / Baumbach 186) kommt in der Literatur mehrfach vor, um den Beschreibstoff der archaischen Zeit zu benennen (vgl. die oben zitierte Stelle von Herodot, der man Eurip. fr. 627 Nauck [aus dem Pleisthenes] zur Seite stellen kann: εἰσὶν γὰρ εἰσὶ διφθέραι µελεγγραφεῖς | πολλῶν γέµουσαι Λοξίου γηρυµάτων _________ 9
Lucil. fr. 709 Marx = 788-789 Warmington = 741 Terzaghi: ubi Graeci, ubi nunc Socratici carti? 10 Ernout / Meillet 1985, 118: “Emprunt ancien et latinisé du gr. χάρτης (-τᾶς), devenu féminin, sous l’influence des autres thèmes en –a féminins; cf. coc(h)lea, etc.”.
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‘denn es gibt beschriebenes Leder, voll von vielen Aussprüchen Apollons’) oder um das Schreibmaterial der Barbaren zu bezeichnen (vgl. die oben angeführte Ktesias-Stelle oder Plutarchs Aussage über die alten ‘heiligen Leder’ der Karthager, die die Zerstörung der Stadt unter der Erde verborgen überstanden hätten: de facie in orbe lunae 26 = 942C ὅθ᾿ ἡ προτέρα πόλις ἀπώλλυτο, διφθέρας ἱερὰς ὑπεκκοµισθείσας κρύφα καὶ διαλαθούσας πολὺν χρόνον ἐν γῇ κειµένας ἐξευρών ‘er fand heilige Schriften, die heimlich herausgebracht worden waren, als die alte Stadt zerstört wurde, und lange Zeit verborgen in der Erde gelegen hatten’). In der Sprichwortsammlung des Diogenianos liest man (3, 2): ἀρχαιότερα τῆς διφθέρας λέγεις ‘du erzählst etwas, das älter als das (Schreib-)Leder ist’, was auf die Überlieferung anspielt, Zeus habe die Taten der Menschen auf einer διφθέρα niedergeschrieben. Eine besondere Form der διφθέρα war das, was wir Pergament nennen, also ein Beschreibmaterial, das am Hofe des Königs Eumenes II. von Pergamon (195–158 v. Chr.) erfunden wurde, um das Papyrusmonopol der Ägypter zu brechen11. Die Tierhaut, auf der man schreiben wollte, wurde nicht wie bei der Lederherstellung durch Gerbsäure flexibel und haltbar gemacht, sondern enthaart, von Fleischresten befreit und mit Kalk oder einem anderen Färbemittel behandelt12. Ursprünglich benannte man das Material mit einer Adjektivverbindung als ἡ Περγαµηνὴ διφθέρα oder τὸ Περγαµηνὸν µέµβρανον (vgl. Stephanus 6, 764), aber bald gab es die substantivierten Formen ἡ περγαµηνή und τὸ περγαµηνόν. Durch den Zufall der Überlieferung ist der Produktname περγαµηνόν ebenso wie seine lateinische Entsprechung pergamenum zum ersten Male in Diokletians Preisedikt aus dem Jahre 301 n. Chr. belegt (7, 38 Lauffer) für ‘weißes helles Pergament’ neben κροκᾶτον = crocatum ‘safrangelbes Pergament’. Die lateinische Form pergamentum, bei der der ungewöhnliche Wortausgang von pergamenum, also –menum, durch das weitaus häufigere Suffix –mentum ersetzt ist, taucht erst im Mittellateinischen auf: In einer Klosterregel des Jahres 1212 (Consuetudines Monasterii S. Jacobi de Monteforti) liest man (Martène / _________ 11 Plin. n. h. 13, 70: mox aemulatione circa bibliothecas regum Ptolemaei et Eumenis, supprimente chartas Ptolemaeo, idem Varro membranas Pergami tradit repertas ‘bald ist im Wettstreit der Könige Ptolemaios und Eumenes um die Bibliotheken, als Ptolemaios den Export von Papyrus verhindert hatte, nach Varro in Pergamon das Pergament erfunden worden’. 12 Isid. etym. 6, 11, 1 und 4–5: Pergameni reges cum charta indigerent, membrana primi excogitauerunt. haec et membrana dicuntur, quia ex membris pecudum detrahuntur. [---] membrana autem aut candida aut lutea aut purpurea sunt. candida naturaliter existunt. luteum membranum bicolor est, quod a confectore una tinguitur parte, id est crocatur. [---] purpurea uero inficiuntur colore purpureo, in quibus aurum et argentum liquescens patescat in litteris ‘Weil die Könige von Pergamnon keinen Papyrus hatten, haben sie als erste die Pergamentmembranen erfunden. Sie heißen auch Membranen, weil sie von den Gliedern (membra) des Viehs abgezogen werden. Die Membrane ist entweder weiß oder goldfarben oder purpurfarben. Die weißen sind von Natur aus so. Die goldfarbene Membrane ist zweifarbig, weil sie vom Hersteller auf der einen Seite gefärbt wird, das heißt gelblich gemacht wird. Die purpurfarbene Membrane wird in Pupurfarbe eingetaucht, und dabei erstrahlt flüssiges Gold und Silber in den Buchstaben’.
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Durand 1717, 317): nullus ingrediatur coquinam excepto cantore et scriptoribus ad planandam tabulam aut faciendum incaustum ad exsiccandum pergamentum. Im Lateinischen war auch nicht das mit 301 n. Chr. relativ spät belegte pergamenum das eigentliche Fachwort für das aus Tierhaut gewonnene Schreibmaterial, das wir Pergament nennen, sondern membrana, das eigentlich die zarten inneren Häutchen bei Tieren und Pflanzen bezeichnete, bald aber “de pelle animalibus detracta et arte confecta in usum scribendi vel pingendi, i. q. pergamenum” (ThLL VIII 630, 22–23) genannt wurde. Der Erstbeleg liegt bei Catull († 54 v. Chr.) vor (22, 7), und das Wort blieb geläufig, so geläufig, dass es sogar als ἡ µεµβρᾶνα (2 Ep. Ti. 4, 13) und τὸ µέµβρανον (Lyd. mens. 1, 28) ins Griechische entlehnt wurde und dort als Spezifizierung von διφθέρα auftreten konnte (P. Oxy. XVII 2156, 9: τὴν διφθέραν [τ]ῶν µεµβρανῶν). d) πάπυρος Das Schreibmaterial konnte auch metonymisch mit dem Wort, das eigentlich konkret die Papyruspflanze bezeichnete, benannt werden: ἡ πάπυρος. Zur Quantität des υ gibt es eine ausdrückliche Aussage durch den im 2. Jh. n. Chr. tätigen Attizisten Moiris (π 36 Hansen): πάπυρος µακρῶς Ἀττικοί· βραχέως Ἕλληνες. Demnach hätte πάπυρος also in gutem Attisch ein langes υ, in der hellenistischen Koiné hingegen ein kurzes υ. Zu dieser Aussage passen die beiden dichterischen Belege, die wir kennen: Bei Antipater von Thessalonike, einem Dichter, der um die Zeitenwende tätig war, finden wir kurze Messung (Anthologia Graeca 6, 249, 2 = vol. 1, p. 592 Beckby), während die in der Sprachverwendung eher konservativen Anakreontea (4, 5 = p. 30, 5 Bergk) das υ lang messen. Das lateinische Lehnwort hat immer ein langes ȳ: papȳrus, vgl. Prisc. 3, 525, 18: papyrus, quod producitur, ut huius papyri). Auch das Genus schwankt: Der Erstbeleg (Theophrast, hist. plant. 4, 8, 2) zeigt maskulines Geschlecht, jedoch herrscht später (bei Philon, Plutarch, Strabon usw.) feminines Geschlecht vor, was ja bei Pflanzennamen üblich ist. In den auf Papyrus erhaltenen Urkunden gibt ebenfalls das Femininum den Ton an (z. B. UPZ I 91, 8; 11; 92, col. 2, 1; col. 3, 5; 96, 19–40). Das Schwanken in der phonetischen Realisierung und im Genus ist nicht untypisch für fremde Elemente. Schon Phrynichos Arabios (2. Jh. n. Chr.) tippte bei πάπυρος auf ägyptischen Ursprung, weil ja der Gegenstand aus Ägypten kommt (ecl. P. 303 Lob.): πάπυρος· τοπάσειεν ἄν τις Αἰγύπτιον εἶναι τοὔνοµα· πολὺ γὰρ κατ᾿ Αἴγυπτον πλάζεται ‘Papyrus: man könnte vermuten, dass das ein ägyptisches Wort sei, denn er wird häufig in Ägypten hergestellt’. Weiter sind auch die modernen Etymologen des Griechischen nicht gekommen, denn auch Hjalmar Frisk spricht nur von einem “Fremdwort unbekannter Herkunft” (1991, II 472), und für Pierre Chantraine (1999, 856) gilt, dass “πάπυρος n’a pas d’étymologie plausible”. Das normale ägyptische Wort für ‘Papyrus’ (Lexikon der Ägyptologie 4, 669) ist aber mit Sicherheit nicht das Etymon, denn es lautet in der koptischen Variante ϫⲟⲟⲩϥ, in der hieratischen Variante twfy und in der demotischen Variante twf (Vycichl 1983, 333); für das aus der Pflanze gewonnene Schreibmaterial wurde ϫⲱⲱⲙⲉ (demotisch dm‘) verwendet (Vycichl 1983, 327). P. A. de Lagarde dachte (1896, 260), dass Bûra bei Damiette im Delta, der antike Haupt-
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sitz der Papyrusherstellung, dem Material den Namen gegeben haben könnte, aber der etymologische Vorschlag ⲡⲁ ⲃⲟⲩⲣⲁ ‘in Bûra gemacht’ scheitert schon daran, dass Bûra kein antiker Name ist (Lewy 1970, 172). Wilhelm Spiegelberg (1907, 14) dachte an ein Etymon, das in koptischer Gestalt ⲡⲁ ⲡ-ⲉⲓⲟⲟⲣ ‘zum Fluss gehörig’ lauten würde, aber erstens ist das in keiner Weise belegt, und zweitens ist die phonetische Ähnlichkeit zu πάπυρος auch sehr gering. Die richtige Etymologie geht wohl auf Gustav Seyffarth zurück, der 1842 schrieb (S. 39): “Der Name papyrus kommt wahrscheinlich [---] von papuro (königlich) und bedeutet daher Königspflanze. Unser Papier hat den Namen vom alten Papyrum und der Pflanze”. Wie das ganze umfangreiche Werk dieses tragischen Gegners von JeanFrançois Champollion geriet auch diese Etymologie schnell in Vergessenheit. Erst H. G. Christensen hat 1938 in einer kleinen Notiz darauf zurückgegriffen, und durch einen Beitrag von Jozef Vergote in der Grégoire-Festschrift (1951, 414– 416) wurde diese Herleitung zum Gemeingut zumindest der Ägyptologen. Die Erklärung nimmt ihren Ausgang von Plinius’ Bericht über die besten Papyrussorten (13, 74): hieratica appellabatur antiquitus religiosis tantum uoluminibus dicata, quae adulatione Augusti nomen accepit, sicut secunda Liuiae a coniuge eius; ita descendit hieratica in tertium nomen ‘hieratischer Papyrus hieß einst nur der für religiöse Bücher bestimmte Papyrus, der dann aus Schmeichelei den Namen Augustus erhielt, so wie der zweitbeste Papyrus nach seiner Gattin Livia benannt wurde; so stieg der hieratische Papyrus auf den dritten Rang ab’. Auch bei Isidor von Sevilla (6, 10, 2) liest man: prima et praecipua Augustea regia, maioris forma in honorem Octauiani Augusti appellata; secunda Libyana, ob honorem Libyae prouinciae; tertia hieratica dicta ‘Der erste und hervorragendste Papyrus heißt Augusta regia, von ziemlich großem Format und zu Ehren von Octavianus Augustus so benannt; die zweite Sorte heißt Libyana, zu Ehren der Provinz Libyen; der dritte Typ ist der hieratische Papyrus’. Hinter der charta regia steckt natürlich die griechische Bezeichnung χάρτης βασιλικός, die Hero Aut. 26, 3, belegt; die ältere Bezeichnung für den besten Papyrus bezeugt Strabon (17, 15 = p. 800: ἡ δὲ βελτίων ἡ ἱερατική), und wir haben auch papyrologische Vorkommen in Zauberpapyri (P. Mag. Par. 1, 2105). Wenn man nun βασιλικός = regius ins Ägyptische transponiert, erhält man p3 (n) pr ‘3 (zu pr ‘3 ‘Pharao’), koptisch ⲡⲁ ⲡ-ⲣⲣⲟ (maskulines Possessivpräfix + maskuliner Artikel im Singular + ‘König’) bzw. in der sahidischen Variante ⲡⲁ ⲡ-ⲟⲩⲣⲟ, was durchaus phonetisch nahe bei πάπυρος steht, besonders wenn man eine ältere Aussprache [papu:ros] ansetzt. “La forme pa-p-ouro «celui du roi», «le royal» présente un prototype très satisfaisant du mot πάπυρος. Les formations à pa- (masculin), ta- (féminin) sont caractéristiques en démotique en usage aux époques saïte (à partir de 663 avant J.-C.) et hellénistique; elles donnent notamment naissance à des noms propres de personnes et aux noms des mois” (Vergote 1951, 416). Freilich ist die auf den ersten Blick nahe liegende Schlussfolgerung, dass ⲡⲁ ⲡ-ⲟⲩⲣⲟ einfach die ägyptische Entsprechung zu βασιλικός = regius und also χάρτης βασιλικός die Übersetzung eines (nicht belegten!) ϫⲟⲟⲩϥ ⲡⲁ ⲡ-ⲟⲩⲣⲟ wäre, nicht richtig, denn sie stößt sich einfach an den zeitlichen Vorgaben: χάρτης βασιλικός = charta
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regia ist nach den Angaben der antiken Autoren eine Neubenennung der besten Sorte des Schreibmaterials, die zuvor χάρτης ἱερατικός = charta hieratica hieß, und diese Neubenennung ist zur Zeit des Kaisers Augustus durchgeführt worden; πάπυρος ist aber schon bei Theophrast (370-287 v. Chr.), also etwa dreihundert Jahre früher, belegt. Man muss also in einer anderen Richtung suchen: “Papyrus wurde während der Ptolemäerzeit, als er intensiv exportiert wurde, unter königlicher Kontrolle gehandelt. Der umfangreiche Bedarf an Papyrus im pharaonischen Ägypten läßt die Vermutung zu, daß seine Herstellung faktoreimäßig organisiert war und ein königliches Monopol darstellte” (Lexikon der Ägyptologie 4, 669). Dass die exquisiten Produkte dieser königlichen Sonderpflanzungen mit dem Wort für ‘königlich’ bezeichnet wurden, ist wenig verwunderlich. Im Griechischen hatte πάπυρος fünf Bedeutungen, die alle schon bei Theophrast in der um 314 / 313 v. Chr. in einer ersten Version vorgelegten περὶ φυτῶν ἱστορία vorkommen: 1. ‘Papyrusstaude als Pflanze’: 4, 8, 3: φύεται δὲ ὁ πάπυρος οὐκ ἐν βάθει τοῦ ὕδατος, ἀλλ᾿ ὅσον ἐν δύο πήχεσιν, ἐνιαχοῦ δὲ καὶ ἐλλάττονι. πάχος µὲν οὖν τῆς ῥίζης ἡλίκον καρπὸς χειρὸς ἀνδρὸς εὐρώστου, µῆκος δὲ ὑπὲρ δέκα πήχεις· φύεται δὲ ὑπὲρ τῆς γῆς αὐτῆς πλαγίας ῥίζας εἰς τὸν πηλὸν καθιεῖσα λεπτὰς καὶ πυκνάς, ἄνω δὲ τοὺς παπύρους καλουµένους τριγώνους, µέγεθος ὡς δεκαπήχεις, κόµην ἔχοντας ἀχρεῖον ἀσθενῆ, καρπὸν δὲ ὅλως οὐδένα· τούτους δ᾿ ἀναδίδωσι κατὰ πολλὰ µέρη ‘Der Papyrus wächst nicht in tiefem Wasser, sondern zwei Ellen, manchmal auch weniger, reichen. Die Größe seiner Wurzel entspricht der Handwurzel eines kräftigen Mannes, die Länge beträgt über zehn Ellen; er wächst oberhalb der Erde selbst und senkt feine und dichte Seitenwurzeln in den Schlamm, hat aber oben dreieckige Stengel, die Papyrus heißen, etwa zehn Ellen lang, mit schwachem und nutzlosem Haar, völlig ohne Frucht; diese Stengel bringt er an vielen Stellen hervor’. 2. ‘Papyrus als Nahrungsmittel’13: 4, 8, 2: οὐ µὴν ἀλλ᾿ ὥς γε ἁπλῶς εἰπεῖν, ἅπαντα ἐδώδιµα καὶ χυλοὺς ἔχοντα γλυκεῖς, διαφέρειν δὲ δοκεῖ τῇ γλυκύτητι καὶ τῷ τρόφιµα µάλιστα εἶναι τρία ταῦτα· ὅ τε πάπυρος καὶ τὸ καλούµενον σάρι καὶ τρίτον, ὃ µναύσιον καλοῦσι ‘Dennoch sind alle Pflanzen essbar und haben süssen Saft, aber besonders drei zeichnen sich durch Süße und besondere Essbarkeit aus: der Papyrus, das sogenannte Sari und drittens eine Pflanze, die sie Mnausion nennen’. 4, 8, 4: µάλιστα δὲ καὶ πλείστη βοήθεια πρὸς τὴν τροφὴν ἀπ᾿ αὐτοῦ γίνεται. µασῶνται γὰρ ἅπαντες οἱ ἐν τῇ χώρᾳ τὸν πάπυρον καὶ ὠµὸν καὶ ἑφθὸν καὶ ὀπτόν· καὶ τὸν µὲν χυλὸν καταπίνουσι, τὸ δὲ µάσηµα ἐκβάλλουσιν ‘Der Papyrus ist auch sehr hilfreich bei der Ernährung. Im Lande kauen alle den Papyrus roh, gekocht und gebraten; man trinkt auch den Saft und spuckt die Fasern aus’. 3. ‘Papyrus als Holzersatz’: 4, 8, 4: χρῶνται δὲ ταῖς µὲν ῥίζαις ἀντὶ ξύλων οὐ µόνον τῷ κάειν, ἀλλὰ καὶ τῷ σκεύη ἄλλα ποιεῖν ἐξ αὐτῶν παντοδαπά· πολὺ _________ 13 Die antiken Stellen zum Gebrauch des Papyrus als Nahrungsmittel hat Georg Wöhrle (2009) zusammengestellt.
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γὰρ ἔχει τὸ ξύλον καὶ καλόν ‘Sie gebrauchen die Wurzeln an Stelle von Holz nicht nur als Brennstoff, sondern auch dazu, vielfache andere Gegenstände daraus anzufertigen; dieses Holz ist reichlich und schön’. 4. ‘Papyrus als Stoff für Gewebe oder Flechtwerk’: 4, 8, 4: ἐκ τῆς βίβλου ἱστία τε πλέκουσι καὶ ψιάθους καὶ ἐσθῆτά τινα καὶ στρωµνὰς καὶ σχοινία τε καὶ ἕτερα πλείω ‘Aus den Papyrusfäden macht man Segel, Matratzen, einen Typ Kleidung, Matten, Seile und vieles andere’. 5. ‘Papyrus als Beschreibstoff’: 4, 8, 4: καὶ ἐµφανέστατα δὴ τοῖς ἔξω τὰ βιβλία ‘Am herausragendsten ist für die Außenwelt die Erzeugung von Büchern’. Es gibt verhältnismäßig wenige Ableitungen von πάπυρος, die alle am Rande des Normalwortschatzes angesiedelt sind: 1. Ein zweimal belegtes Diminutiv παπύριον (Dioskurides περὶ Εὐποριστῶν 1, 183 im 1. Jh. n. Chr.; Geoponika 4, 7, 1), das in byzantinischer Zeit die Sonderbedeutung ‘Docht’ bekam (Theodoros Studites, PG 99, 1741D [827 / 828 n. Chr.]). 2. Ein terminus technicus: παπυρών m. ‘Papyrusbett’ (IG 14, 104) mit der Variante παπυρεών (Aquila-Text des Exodus 2, 3, 5 [2. Jh. n. Chr.]). 3. Vier Adjektivbildungen: a. παπύρινος ‘aus Papyrus gemacht’, seit dem 2. Jh. v. Chr. (Inscr. Délos 443Bb138), mehrere Belege in Papyrusurkunden, ein literarischer Beleg bei Plutarch, de Is. et Osir. 18 = 358B; b. παπυρικός ‘aus Papyrus’ (BGU 1121, 10, 18 [1. Jh. v. Chr.]); c. παπυροειδής ‘wie Papyrus aussehend’ (OGI 56, 83 [Ägypten, 3. Jh. v. Chr.]); d. παπυρώδης ‘wie Papyrus aussehend’ (Galen, vol. 19, 152 Kühn; Schol. in Eur. Orest. 147. 4. Eine Zusammensetzung: παπυροφάγος ‘Papyrus essend’ (Schol. in Aeschyl. Suppl. 761), vgl. Wöhrle 2009, 246. Im Lateinischen bezeichnet der erste Beleg von papȳrus einen ‘Brief’: poetae tenero, meo sodali | uelim Caecilio, papyre, dicas | Veronam ueniat ‘dem zarten Dichter, meinem Kameraden Caecilius, möchte ich, dass Du Papyrus sagst, er solle nach Verona kommen’ (Cat. 35, 1–2). Sowohl für die Pflanze wie für die daraus gewonnenen Produkte, besonders für den Beschreibstoff, gibt es nicht wenige Zeugnisse, jedenfalls mehr als im Griechischen (ThLL X 1, 258, 79 – 260, 69). Von Plinius dem Älteren († 79 n. Chr.) stammt eine ausführliche Beschreibung der Pflanze, ihrer Verarbeitung und ihrer Verwendung, wobei Plinius nur das Neutrum papȳrum verwendet, das sonst selten vorkommt (Cels. 5, 28, 12; Pallad. 3, 33; vgl. ThLL X 1, 259, 5-8). Man kann die Plinius-Beschreibung nach denselben Kriterien wie oben die Theophrast-Stelle systematisieren. Dabei ergibt sich eine vollständige Identität in der Angabe der Bedeutungen von papȳrum bei Plinius und πάπυρος bei Theophrast: 1. ‘Papyrusstaude als Pflanze’: 13, 71: papyrum ergo nascitur in palustribus Aegypti aut quiescentibus Nili aquis, ubi euagatae stagnant duo cubita non
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excedente altitudine gurgitum; bracchiali radicis obliquae crassitudine, triangulis lateribus, decem non amplius cubitorum longitudine in gracilitatem fastigatum, thyrsi modo cacumen includens, nullo semine aut usu eius alio quam floris ad deos coronandos ‘Der Papyrus entsteht also in den Sümpfen Ägyptens oder in den ruhigen Gewässern des Nil, wo die Überschwemmung Teiche bildet, die nicht tiefer als zwei Fuß sind; die Wurzel ist armdick und wächst schräg, der Stängel ist dreieckig und wächst nicht höher als zehn Ellen zu einer dünnen Spitze, indem er nach der Art eines Thyrsos den oberen Teil einschließt, der keinen Samen aufweist und auch sonst keinen Nutzen hat, außer dass man die Götterbilder damit schmücken kann’. Es folgen Angaben über Papyrusvorkommen in Syrien und am Euphrat bei Babylon (13, 73). 2. ‘Papyrus als Nahrungsmittel’: 13, 72: mandunt quoque crudum decoctumque, sucum tantum deuorantes ‘Sie kauen den Papyrus auch roh und gekocht, indem sie nur den Saft schlucken’. 3. ‘Papyrus als Holzersatz’: 13, 72: radicibus incolae pro ligno utuntur, nec ignis tantum gratia, sed ad alia quoque utensilia uasorum ‘Die Einheimischen brauchen die Wurzeln als Holz, nicht nur für das Feuer, sondern auch für andere nützliche Gefäße’. 4. ‘Papyrus als Stoff für Gewebe oder Flechtwerk’: 13, 72: ex ipso quidem papyro nauigia texunt et e libro uela tegetesque, nec non et uestem, etiam stragula ac funes ‘Aus dem Papyrus flechten sie Boote und aus dem Bast Segel und Matten, sogar auch Kleidung, auch Decken und Stricke’. Für die aus Papyrus hergestellten Boote gibt es einige Belege, vgl. ThLL X 1, 259, 55–65. 5. ‘Papyrus als Beschreibstoff’: 13, 74: praeparatur ex eo charta diuiso acu in praetenues, sed quam latissimas philyras ‘Aus dem Papyrus wird das Schreibblatt hergestellt, indem man ihn in sehr dünne, aber möglichst breite Häute trennt’. Die ausführliche Beschreibung, die Plinius von der Herstellung des Beschreibstoffes aus Papyrus gibt (13, 74-82), ist bereits mehrfach Gegenstand fachkundiger, zum Teil auch kontroverser, Beschreibungen gewesen. Es erübrigt sich, die klaren und weniger klaren Punkte hier zu wiederholen, da sie zum sprachlichen Befund wenig beitragen. Eine gute Übersicht mit ausführlichen Literaturhinweisen gibt Rupprecht 1994, 3–7. Im Lateinischen existieren wenige Ableitungen von papȳrus, wobei das Substantiv papȳreōn ein klarer Gräzismus ist und dasselbe wohl für papȳrīnus = παπύρινος gelten dürfte. 1. Im Vulgata-Text Ex. 2, 5 gibt papȳreōn m. Aquilas παπυρεών wieder (ThLL X 1, 258, 52-60). 2. Es gibt drei Adjektivbildungen: a. papȳrāceus ‘aus Papyrus gefertigt’ (zwei Pliniusbelege; ThLL X 1, 258, 48– 51); b. papȳrīnus ‘aus Papyrus gefertigt’ (ThLL X 1, 258, 65–69);
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c. papȳrius ‘aus Papyrus gefertigt’ (Fulg. aet. mund. p. 147, 9; Auson. 396, 48; ThLL X 1, 258, 71–78). 3. Es liegt eine Zusammensetzung vor: papȳrifer ‘Papyrus hervorbringend’ (Ov. met. 15, 753; trist. 3, 10, 27; ThLL X 1, 62–64). 3. Moderne Nachfolgeformen von papyrus für ‘Riedgras’ Zunächst einmal soll von dem wichtigsten Bedeutungsstrang, den πάπυρος in den modernen Sprachen entwickelt hat und der beispielsweise in deutsch Papier vorliegt, abgesehen werden; es geht zunächst um zwei andere, weitaus weniger “intellektuelle” Bedeutungen, nämlich erstens um ‘Riedgras’, eine Bedeutung, die die romanischen Sprachen abgesehen von den Idiomen der iberischen Halbinsel und abgesehen vom Sardischen aufweisen, und zweitens um ‘Docht’, eine Bedeutung, die außer den Randsprachen Rumänisch und Französisch die gesamte Romania umfasst und zudem im Englischen und im Inselkeltischen Fuß gefasst hat. Diese beiden Wörter sind keine Buchwörter, also nicht von lateinkundigen Menschen unter stetem Blick auf die Literatur an die Volkssprachen weitergegeben worden, sondern sie sind sogenannte Erbwörter, die von Generation zu Generation im mündlichen Gebrauch weiterlebten. ‘Riedgras’ ist ein rein dialektales Element, das vom Rumänischen abgesehen nirgendwo wirklich in die Schriftsprache Eingang fand, und ‘Docht’ wird ebenfalls nur in den iberoromanischen Sprachen, nicht aber in Italien und Südfrankreich, schriftlich verwendet. Im Folgenden soll zunächst eine Übersicht über die Idiome gegeben werden, die Nachfolgeformen von πάπυρος bzw. papȳrus in der Bedeutung ‘Riedgras’ aufweisen. In der Romanistik ist die Meinung verbreitet, dass “für die Herstellung von Dochten neben Papyrus auch gewisse Binsenarten (scirpus, so bei Plinius) verwendet wurden. Daher wurden nun vielerorts die Bezeichnungen der Kerze auf diese Sumpfpflanzen übertragen, vor allem auf die typha latifolia” (FEW 7, 593). Diese Auffassung, nach der die Bedeutung ‘Docht’ primär und die Bedeutung ‘Sumpfpflanze’ sekundär wäre, ist sicher nicht richtig, denn die Bezeichnung von europäischen Sumpfpflanzen, Binsen, Rohrkolben etc., geht direkt von der Gleichsetzung dieser Gewächse mit dem ägyptischen Papyrus aus; ein Umweg über aus Binsen gefertigte Dochte ist auf gar keinen Fall nötig. Der Ausgangspunkt der Entwicklung ist darin zu sehen, dass papȳrus als Pflanzenbezeichnung nicht mehr präzise auf die ägyptische Sumpfpflanze bezogen wurde, sondern “laxius de quovis genere iunci” (ThLL X 1, 46–47) Anwendung fand. Es ist durchaus vorstellbar, dass der Anblick europäischer Sumpfpflanzen wie des Riedgrases oder des Rohrkolbens einen Römer, der zuvor in Ägypten gewesen war, an den dortigen Papyrus erinnerte. Ein sicherer Beleg für die Übertragung des Wortes papyrus auf ‘roseau en général’ (Goelzer 1909, 501) findet sich in einem Gedicht (1, 295, p. 211 Peiper = PL 59, 330A) des 518 verstorbenen Bischofs von Vienne Alcimus Avitus, der über die Bäche Galliens schreibt:
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amnibus ut nostris enodes ferre papyros aut scirpos algasque leues deducere mos est14. Weitere Zeugnisse für die Übertragung von papyrus auf europäische Sumpfpflanzen finden sich im Mittelalter. In den althochdeutschen Glossen aus Sankt Gallen (8. Jh. n. Chr.) findet man die Gleichsetzung von papirus mit pinoz ‘Binse’ (Piper 1882, 456), und Petrus Crescentius sagt in seinem 1306 verfassten Werk über die Landwirtschaft: papirus dicitur apud nos iuncus ‘Papyrus heißt bei uns Binse’ (FEW 7, 594, Anm. 24); etwa um dieselbe Zeit setzt der Mantuaner Vivaldi Belcalzer den Papyrus, von dem er weiß, dass er in Melpha et in India wächst, mit dem Riedgras, welches ‘im Sumpf und in den Wiesen und am Flussufer wächst’ (nas ile palù e iy prà e ile rive), gleich15. In einer mittellateinischen Quelle des Jahres 1296 bezeichnet pabelum ein ‘herbae palustris genus’ (DuCange 6, 83). Von dieser lateinischen Ausgangslage mit Fortsetzungen ins Mittellatein erklären sich die romanischen Formen, bei denen Fortsetzer von papyrus eine Sumpfpflanze bezeichnen, semantisch mit Leichtigkeit. Rumänisch: papură16 ‘Rohrkolben, Lieschkolben (Typha L.)’ (1688, Tiktin), ‘Binsenmatte’ (1592, Tiktin; DLR)17, meglenorum. pap(u)ră, păpură18. Ableitungen: păpurică f. ‘Wasserliesch (Butomus umbellatus L.)’ (1868, Tiktin; DLR), păpuriș m. ‘rohrkolbenreicher Ort’ (1907, DLR)19, păpuriște ‘rohrkolbenreicher Ort’ (1859, DLR); păpuros adj. ‘rohrkolbenreich’ (1823, DLR); a păpuri v. tr. ‘Rohrkolbenblätter zwischen die Dauben eines Fasses legen’ (1902, Tiktin; DLR). Der Form nach bewahrt papură den Antepaenultima-Akzent des griechischen πάπυρος (vgl. auch sp. pábilo ‘Docht’), was in den Donauprovinzen in der Nähe des griechischen Sprachbereiches nicht erstaunlich ist. Das –u-erklärt sich aus der vulgären Aussprache des –y- im Lateinischen, für die es einige Belege gibt (ThLL X 1, 258, 82). Die feminine Form auf –ă ist entweder aus der analogischen Einreihung des femininen griechisch-lateinischen Wortes in die häufigste a-Klasse der Feminina zu erklären oder als Weiterleben von πάπυρα / papȳra, der _________ 14
Übersetzung: ‘Wie es üblich ist, dass unsere Flüsse geschmeidige Papyruspflanzen oder leichte Binsen und Tang führen’. 15 Ghinassi 1965, 152: “Il Belcalzer sembra identificare praticamente la pianta egiziana col giunco di palude”. 16 Die betonte Silbe ist hier und im Folgenden durch Fettdruck hervorgehoben. 17 Im älteren Rumänisch ist die Variante paporă häufig (z. B. in der Bibel von 1688, Tiktin). – Auf der Karte ‘Binse’ (pipirig; möglicherweise eine Ableitung von papură, aber die Bildungsweise ist unklar) des rumänischen Sprachatlasses (ALR s. n. III 637) treten papură-Belege in Siebenbürgen, in der Moldau und in der Walachei auf. 18 Diese Form mit Paenultima-Betonung erklärt sich wahrscheinlich aus einer Beeinflussung durch das endbetonte bulgarische папур ‘Rohrkolben; Mais(kolben)’. 19 Hier ist das Suffix –iș wie so oft als Kollektiv eines Pflanzennamens zur Bezeichnung des Ortes, “wo eine Ansammlung dieser Pflanzen anzutreffen ist” (Popovici 2006, 143), verwendet (Popovici 2006, 145).
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Pluralform von πάπυρον / papȳra, zu deuten (Dahmen / Kramer 2006, 211)20. Die Ableitungen sind allesamt interne rumänische Bildungen, erst seit dem 19. Jh. belegt und nicht häufig. Italienisch: altmantuanisch pavèr m. ‘Riedgras (Typha)’ (um 1300, Belcazer Ghinassi, SFI 23, 152), judikarisch pàper (1930, Pedrotti/ Bertoldi), istrisch pavèr ib., friaulisch pavêr (1871, Pirona)21; altpaduanisch pavera f. ‘Riedgras’ (Ende des 14. Jh., BibbiaFolena), emilianisch pavìra (1930, Pedrotti / Bertoldi), bolognesisch pavìra (1901, Ungarelli), venezianisch pavèra (1856, Boerio), vicentinisch pavèra (1930, Pedrotti / Bertoldi), polesinisch pavièra (1968, Prati), paduanisch pavèra (1968, Prati), triestinisch pavéra (1969, Pinguentini), veronesisch paéra (1968, Prati), friaulisch pavére (1871, Pirona). Übertragene Bedeutungen: venezianisch, triestinisch pavèra f. ‘Rohrkolben zum Dichten von Fässern’ (1871, Boerio; 1969, Pinguentini)22, polesinisch paviera ‘Tracht Prügel’ (1907, Mazzucchi). Ableitungen: emilianisch pavirùn m. ‘Riedgras’ (FEW 7, 593); emilianisch pavareina f. ‘Wasserlinse’ (FEW 7, 593), novellaresisch pavarina Malagoli, modenesisch pavarena ib., venezianisch pavarina Boerio, polesinisch pavarina (Lorenzi, RGI 15, 89), toskanisch paperina Tommaseo / Bellini, pisanisch paperina Malagoli; venezianisch, paduanisch pavarèla f. ‘Schwarzkümmel’ Prati. Im italienischen Sprachgebiet ist papyrus mit der Bedeutung ‘Riedgras’ nicht in die lingua nazionale vorgedrungen; alle Belege stammen aus dem Veneto und angrenzenden Gebieten in Istrien, in Friaul und in der Emilia, wobei festzuhalten bliebt, dass erste Bezeugungen ins 14. Jh. gehören. Das Maskulinum ist weit seltener als das Femininum auf –a, das sich wie im Rumänischen erklären dürfte; allerdings ist auch eine Anlehnung an andere Feminina, die Riedgras bezeichnen, wie etwa sala oder canna, denkbar. Lautlich hat man lange angenommen, dass die Basisform papȳrius > *paperius sei (REW, FEW), aber ein Blick auf die variantenreichen Nachfolgeformen von būtȳrum in Italien (LEI VIII, 461-504) zeigt, dass die Ausgangsform papȳrus ausreichend ist, zumal die Bedeutung ‘Wasserpflanze’ im Lateinischen für papȳrus belegt ist, für papȳrius aber nicht. Französisch und Provenzalisch (Okzitanisch): Das Material ist für das FEW (7, 589) bestens aufgearbeitet. Es ergibt sich folgendes Bild: _________ 20
Haralambie Mihăescu (1966, 48) nahm an, die Pluralform papūra = papȳra (mit Paenultima-Betonung) verdanke ihren Antepaenultima-Akzent der analogischen Einreihung in die Klasse der zahlreichen Substantive mit dem Suffix –ŭla, das nach den rumänischen Lautgesetzen – ură ergibt. Das ist jedenfalls weniger wahrscheinlich als die Bewahrung der griechischen Akzentuierung. 21 Das slovenische povêr, Nebenform povîr ‘Schilf’ dürfte aus dem Friaulischen (Skok 1972, 602) oder aus dem Istrischen entlehnt sein 22 Dazu auch die Ableitung: venezianisch, triestinisch impaveràr ‘ein Fass abdichten’.
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Altfrz. paveil m. ‘Rohr, Binse’, Ille-et-Vilaine pava ‘Gladiole’ (ALF, p. 453), Cogles pavey, Bas-Maine pavè ‘Schwertlilie’, Mayenne pavé ‘Gladiole’, HautMaine pavé(au) ‘Schwertlilienblatt’, Segré ‘Sumpflilie zur Herstellung von Halsbändern’, Poitou pavas ‘Binsen zum Dachdecken’, La Rochelle pavet ‘Schilfrohr’, Saintonge pavé ‘Typha latifolia’, Centre pavais ‘Typhastengel und –blätter’, pavas. – Mit Suffixwörtern: Anjou pavard ‘gelbe Schwertlilie’, Haut-Maine pavot ‘Schwertlilienblatt’, Bas-Maine pavó ‘Schwertlilie’, Orne pavot, Caen plavias. Mortagne paveux. Loire-Inférieure pavwé. Neuprov. pavèu ‘Wasserhammer’, Languedoc parvèl; neuprov. pavèllo f. ‘Stuhlmacherbinse’. Ableitungen: Avranches paveille f. ‘Halsband aus Binsen und Stroh’ Littré; Manche paveille ‘Binse, Schwertlilie, Schilfrohr’, Guernesey pavie ‘Typha latifolia’, Fougères pavéye ‘breite Flussbinse’, Rennes pavée ‘Schwertlilie’, Guéret babélhã pl. ‘Stuhlmacherbinse’. Mittelfrz. pavillee ‘Sumpfschwertlilie’ (ca. 1600); Anet pavillée ‘bei der Prozession gestreute Blumen’, Cogles (Fougères) paviyaiž ‘Halsband aus Binsen’, Fougères pavillaïge. Rückbildungen: Normandie pave f. ‘Iris pseudacorus’. – Dazu Normandie pavat m. ‘Harnischhalsband aus Schwertlilien’, La Hague paváoud, Normandie pavée f. ‘Reste von Blattwerk und Stengeln nach einer Prozession’, neufrz. pavée m. ‘Blumenstreu auf der Straße am Prozessionstag’. Auch im Französischen sind die Nachfolgeformen von papȳrus, die im seichten Wasser wachsende Pflanzen bezeichnen, nicht in die Nationalsprache vorgedrungen; die dialektalen Ausdrücke liegen vor allem im Westen des Sprachgebietes vor. Katalanisch, Spanisch, Portugiesisch: In den drei romanischen Sprachen der iberischen Halbinsel gibt es keine Belege für papȳrus ‘Rohrkolben’, ‘Schilfrohr’ o. ä. 4. Moderne Nachfolgeformen von papyrus für ‘Docht’ Kommen wir jetzt zur Bedeutung ‘Docht’! Es gibt aus der spätantiken lateinischen Literatur nicht wenige Belege, in denen papȳrus den Docht einer Öllampe oder einer Kerze bezeichnet (ThLL X 1, 260, 49–63; Blaise 1954, 592). Am eindeutigsten ist vielleicht die Stelle aus der Martins-Vita von Gregor von Tours (3, 50 = PL 71, 986B): Lupus Burdigalensis [...] prostratus coram sanctis pignoribus orationem fudit reperitque ibi duas candelulas ex cera atque papyro formatas ‘Lupus Burdigalensis kniete vor den heiligen Unterpfänden nieder, bereitete eine Rede vor und fand dort zwei Kerzen, die aus Wachs und einem Papyrudocht bestanden’. Auch im Mittellateinischen kommt papyrus für den ‘Docht einer Kerze oder Lampe’ (Niermeyer 2002, 988) vor. Im byzantinischen Griechisch liegt die Sonderbedeutung ‘Docht’ nur beim Diminutiv παπύριον vor (Theodoros Studites, PG 99, 1741D [827 / 828 n. Chr.]), aber die für Selinon auf Kreta bezeugte moderne Dialektform πάπυρος ‘Fackel aus mit Öl getränktem Tuch’ (Andriotis 1974, 429) spricht dafür, dass auch das Simplex ‘Docht’ bedeuten konnte. Der Ausgangspunkt für diese semantische Entwicklung ist wohl
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darin zu sehen, dass nach den Beschreibungen von Dioskurides und Plinius Papyrus als Holzersatz, also für brennbares Material, verwendet wurde. Das altitalienische papìro und die meisten italienischen Dialektformen gehen direkt auf lat. papȳrus zurück, aber eine kleine Dialektzone in den lombardischen Alpen und einige Mundarten der Abruzzen weisen statt des –r– ein –l– auf, ein phonetisches Phänomen, das auch für alle anderen romanischen Idiome typisch ist. “Die Vertauschung von l und r ist uralt. Besonders schwächte sich r als der schwieriger auszusprechende Laut zu l ab”, schrieb Hugo Schuchardt (1866, 136) schon in den Anfangstagen der Romanistik. Auch für das Griechische gilt, dass “in the speech of many writers in the Roman and Byzantine periods, there was only one liquid phoneme /l/” (Gignac 1976, 102). Es ist also durchaus denkbar, dass es neben papȳrus auch noch eine Form *papȳlus gegeben haben kann. Immerhin ist in einem frühmittelalterlichen Glossar von den britischen Inseln papiluus belegt (CGL 5, 381, 10), und mittellateinisch pabilum ist mit der Bedeutung ‘ellychnium’ für das Jahr 1350 belegt (DuCange 6, 83). Der Übergang von –r– zu –l– kann natürlich jederzeit ohne gegenseitige Abhängigkeit erfolgen, und für Italien mit seinen vergleichweise kleinen –l–Gebieten wird man vielleicht davon ausgehen, dass prinzipiell papȳrus ‘Docht’ erhalten blieb und später lokal der Wechsel von –r– zu –l– erfolgte, also in einer inneritalienischen mittelalterlichen Entwicklung; außerhalb Italiens gibt es aber keine einzige –r–Form, und da liegt doch die Vermutung sehr nahe, dass sich dort die jüngere lateinische *papȳlus–Form fortgesetzt hat. Denkbar ist allerdings auch die lautliche Beeinflussung durch ein semantisch naheliegendes Wort: candēla ‘Kerze’ bietet sich an. Italienisch: altit. papìro m. ‘Docht’ (14. Jh.–1515, Tommaseo / Bellini), altvenez. pavéro (16. Jh., Calmo), altpaduanisch pavero (Ende 14. Jh., BibbiaFolena), altsien. pape(j)o (Anfang 14. Jh., Tommaseo / Bellini), altsiz. papiro (um 1500, FEW 7, 592), unterbergellisch pavér, nonsb. pavièr (1964, Quaresima), venez. pavéro (1856, Boerio), Veneto pav(i)ér, triestin. pavér (1969, Pinguentini), dolomitenladinisch paì, pa(vi)èr (1763 / 1879, EWD), friaulisch pavêr (1871, Pirona), Viareggio, Siena papéo (FEW 7, 592), Montepulciano papìo REW, Velletri papéro (1907, Crocioni), abruzzesisch papìrë DAM; oberbergellisch pavéil m. ‘Docht’ (Guarnerio, RIL 42, 985)23, veltlinisch pavél ib., Bormio pavél (1845, Monti), Poschiavo pa(v)él (1905, Michael), paìl (Guarnerio, RIL 42, 985), abruzzesisch papìlë DAM. Ableitung: Comasco parlìn m. ‘Docht’ REW. Man kann, wie gesagt, davon ausgehen, dass papȳrus ‘Docht’ sich überall in Italien erhalten hat. Für die isolierten Abruzzenmundarten ist sicher von einem _________ 23 Im REW 6217 ist für bergell. pavei die Herleitung von lat. papīlius gefordert. Diese Form und ihre Etymologie geht auf P. Guarnerio, RIL 41, 1908, 399, zurück; er selbst hat sie jedoch kurz darauf widerrufen (RIL 42, 1909, 985): “non pavéj, ma pavéjl. [---] Con pavéjl siamo fuori della serie citata méj MILIU , faméj FAMILIU , arbéj ERVILIA e sim.; non occorre dunque postulare qui un *PAPYLIU, e risaliremo semplicemente a *PAPILU per *PAPYRU”.
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lokalen –r–l–Übergang auf der italienischen Stufe papìrë > papìlë auszugehen. Ob im Alpinlombardischen lateinisches *papȳlus (im Anschluss an die rätoromanischen Formen) weiterlebt oder ob in späterer Zeit älteres einheimisches *pavér zu pavél umgestaltet wurde, lässt sich nicht eindeutig entscheiden. Rätoromanisch (Bündnerromanisch): engadinisch pavagl m. ‘Docht’. Das Handwörterbuch des Rätoromanischen (1994, 569) geht von einem Etymon *papēlium aus, das “vom Südosten über das östliche Oberitalien nach Engadin und Bregell gedrungen zu sein scheint”. Man kann jedoch zur Erklärung des palatalen Auslautkonsonanten auch Beeinflussung durch *lūmilium < lūminium annehmen, das dem surselvischen lamegl und dem surmeirischen glimegl ‘Docht’ zugrunde liegt. Wenn das richtig ist, dann liegt auch im Engadin eine Nachfolgeform von papȳrus vor, wahrscheinlich in der Variante *papȳlus. Französisch und Provenzalisch (Okzitanisch): Interessanterweise fehlt die Bedeutung ‘Docht’, die im provenzalischen Süden Frankreichs gut bezeugt ist, im Französischen völlig. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass Nordfrankreich – wie auch der innere Balkanraum – zu weit von Mittelmeer entfernt ist, um die Verwendung des Papyrus als Docht einer Kerze oder Lampe noch kennengelernt zu haben. Altprov. pabil m. ‘Docht’ (Limousin, Gaskogne 12.–14. Jh.), Teste pabiou ‘dicker Docht für Harzkerzen’, Lescun baβí ‘Kerzendocht’, Béarnais babit, babilhet. – Mit Suffixwort: altprov. pabel ‘Docht’ (Gaskogne, ca. 1230; Montpellier 15. Jh.). Ableitungen: Altgaskognisch pabilum. Altgaskognisch babilier Levy, babialè; Landes pabialè ‘Wergdocht der Harzkerze’; hiebalè ‘Kerzenhalter aus Holz’; Béarnais bibalè ‘Kerzendocht’, bibalère f. Aran espabiłat adj. ‘lebhaft’. Katalanisch: altkat. pabil m. ‘Docht’ (1262, DCECH), pobil (1262, DCECH), valencianisch pabil (DECLC). Im Altkatalanischen des 13. Jahrhunderts sind pabil und die Variante pobil24 gut bezeugt. In der Neuzeit wurde das Wort von ble und metxa verdrängt, so dass es heute pabil nur noch im Valencianischen gibt, wo es allerdings auch eine an die heimische Phonetik angepasste Entlehnung des spanischen pabilo sein könnte. Spanisch: altsp. pavilo m. ‘Docht’ (1400–17. Jh., DCECH), pavil (1555–17. Jh., ib.), altaragonesisch mabil (1264, ib.)25, sp. pabilo (seit 1555, DCECH), pábilo (seit 1555). Ableitungen: (d)espabilar ‘Lichter putzen; aufmuntern; klauen’; (d)espabilado adj. ‘munter, gescheit’; _________ 24
“La variante pobil [---] quizá sea debida a una confusión con el cat. pobil ‘pupilo’, o bien al influjo del cast. povesa, que, precisamente por influjo de pabilo, se convirtió luego en pavesa” (J. Corominas, DCECH 4, 330). 25 Das m- erklärt sich durch den Einfluss des gleichbedeutenden mecha.
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(d)espabilador m. = (d)espabiladeras f. pl. ‘Lichtputzschere’. Das spanische Wort tritt zunächst in der den phonetischen Regeln widersprechenden Schreibung mit –v– auf, was aus einer analogischen Beeinflussung durch pavesa ‘Fünkchen’ (zu lat. pulvis ‘Staub’) zu erklären ist. Die Zurückziehung des Akzents auf die erste Silbe ist ein Phänomen, das – vielleicht angeregt vom Latinismus pábulo ‘Nahrung’ – erst im 16. Jh. zu belegen ist. In Spanien und in der Karibik herrscht heute pábilo vor, während im festländischen Südamerika die ältere Variante pabilo den Ton angibt. Portugiesisch: pavio m. ‘Docht’ (13. Jh., DELP), ‘Kerze’ (Aurélio), galicisch pabío ‘Docht’. Sardisch: logudoresisch paβílu m. ‘Docht’ DES, kampidanesisch piβíl(l)u ib. Ableitungen: logudoresisch ispaβil’are ‘Lichter putzen’ DES, kampidanesisch spiβillai ib.; kampidanesisch spiβillaδèras f. pl. ‘Lichtputzschere’ DES. Der eigentliche einheimische Ausdruck ist lukíndzu < lūcinium; daher ist paβílu mit Max Leopold Wagner auf sp. pabilo (nicht die moderne Form pábilo!) zurückzuführen, und dasselbe gilt für die Ableitungen. Vom Wort ‘Docht’ aus kommt man zur generalisierenden Bedeutung (pars pro toto) ‘Kerze’, wie man im Portugiesischen sieht. Dieser Vorgang ist auch im Angelsächsischen (tapur, tapor m. ‘Kerze’ [10. Jh., Bosworth 1898], taper [11. Jh., Wright 1857, 284]) und dann im Englischen taper (seit Robert von Gloucester [†1298], Skeat; Ableitungen: taper adj. ‘spitz zulaufend’; to taper v. intr. ‘spitz zulaufen, immer weniger werden’) erfolgt. Es herrscht Einmütigkeit darüber, dass tapor eine Dissimilation von *papur ist, welches sich auf vulgärlat. *papūrus < papȳrus zurückführen lässt26. Unabhängig voneinander verglichen W. Schulze (1909, 38) und E. Gutmacher (1915, 155) die im Altslavischen vorliegende Dissimilation, die von lat. pōpulus ‘Pappel’ zu topolь führte. Auf welchem Wege das lateinische Wort für ‘Kerze’ allerdings ins Angelsächsische und dann ins Englische gelangte, ist kaum geklärt. Am ehesten wird man eine Entlehnung aus dem Keltischen annehmen, das als Zwischenstufe denkbar ist, und in der Tat gibt es kornisch taper ‘Wachskerze’, walisisch tapyr (Evans / Thomas 1983, 405), irisch tapar (Ó Dónail 1977, 1204). Freilich ist die vorherrschende Meinung der Keltologen, dass diese Wörter aus dem englischen taper entlehnt seien (ParryWilliams 1923, 85); aber nur, wenn man den Entlehnungsweg umdreht, kann man erklären, wie die lateinische Dissimilationsform ins Englische gekommen sein kann. Die einzige andere Erklärungsmöglichkeit bestünde darin, von einer Übernahme des lateinischen Wortes ins Angelsächsische vor dessen Abwanderung auszugehen (Jud 1917, 41). Das würde aber erhebliche Probleme mit sich _________ 26 Klein 2, 1572: “taper ‘a small candle’, ME tapre, taper, from OE tapor, tapur, dissimilated from Lat. papȳrus (through the intermediate form *tapūrus). [---] For the development of meaning it should be borne in mind that the pit of papyrus was used in Rome as wick”.
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bringen, denn auf welchem Wege sollte papȳrus ‘Docht’, das ja in der nördlichen Galloromania fehlt, zu den Angelsachsen an der fernen Nordsee gelangt sein? 5. Nachfolgeformen von papyrus als Papierbezeichnungen Als etwa vom 7. Jh. n. Chr. an so gut wie kein Nachschub an Papyrus aus Ägypten mehr nach Europa gelangte, geriet das Material als solches keineswegs in Vergessenheit, sondern es stieg vielmehr sogar in der Wertschätzung. Dennoch war im Latein des hohen Mittelalters papyrus ein Wort, das etwas bezeichnete, das einem üblicherweise nicht mehr begegnete – ein Wort also, das frei geworden war und bei Bedarf eine neue Realität bezeichnen konnte. Bei charta, mittellateinisch oft carta geschrieben, ist ein Rückzug auf wertvolles Schreibmaterial festzustellen, weil ja das preiswerte Papyrusblatt nicht mehr existierte und das Wort nur noch für das aufwändige Pergamentblatt in Frage kam. Als also die Kenntnis des Papiers im 12. Jh. nach Europa gelangte, standen ein “arbeitsloses” Wort und ein in seinem Anwendungsbereich restringiertes Wort bereit, um den Job zu übernehmen, das neue Material zu bezeichnen. Ganz grob gesehen lässt sich Europa beim Normalwort für ‘Papier’ in eine südöstliche und eine westliche (und nördliche) Hälfte trennen: Im Südosten (griechisch; albanisch; rumänisch, nordost-, mittel- und süditalienisch; serbisch, makedonisch, bulgarisch) herrscht χάρτης bzw. charta, im Westen und Norden (nordwestitalienisch, rätoromanisch, französisch, provenzalisch, katalanisch, spanisch, portugiesisch; deutsch, niederländisch, friesisch, englisch, skandinavisch; sorbisch, polnisch, tschechisch, slowakisch, weißrussisch, ukrainisch, slowenisch, kroatisch) findet man πάπυρος bzw. papȳrus. Es handelt sich, anders als bei ‘Sumpfpflanze’ und ‘Docht’, nirgendwo um Erbwörter, sondern um Buchwörter, bei deren Eingliederung in die modernen Sprachen griechisch- und lateinkundige Intellektuelle die Hauptrolle spielten. Es ist eine Binsenweisheit, dass Erstbeleg-Daten eine gewisse Zufälligkeit anhaftet: Welche frühen Quellen erhalten sind und welche verlorengegangen sind, ob wir Originale oder nur spätere Abschriften haben, ob sie wortschatzmäßig gut aufgearbeitet sind oder nicht, hängt ebenso vom Spiel des Zufalles ab wie die banale Abhängigkeit vom Inhalt der frühen Zeugnisse – es muss ja auch ein Anlass vorgelegen haben, um ein bestimmtes Wort zu gebrauchen: Dass amour ‘Liebe’ im Französischen 842 bezeugt ist, main ‘Hand’ aber erst zwei Jahrhunderte später, um 1050, liegt einfach und allein daran, dass das erste Wort im ältesten französischen Text, den Strassburger Eiden, vorkommt, das zweite aber nicht, sondern erst im Alexius. Dennoch haben Erstbelegdaten bei der Herausarbeitung von Wortwanderwegen zumindest einen Indizcharakter, weswegen im Folgenden zu den Nachfolgeformen von papyrus und charta im Sinne von ‘Beschreibmaterial’ die wichtigsten Angaben gemacht werden. Zunächst seien die frühesten Belege aus dem Mittellateinischen mit ihrer Lokalisierung genannt: Genua papirus m. ‘Papier’ (1163), Sizilien charta papyri (1231), Piacenza pa(l)perium (13. Jh., TLF 12, 894), Rom papirus (1311).
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Es folgen zunächst die Bezeugungen der Nachfolgeformen von papyrus im Sinne von ‘Papier’ in den romanischen Sprachen, von Osten nach Westen geordnet, genannt. Rumänisch: Siebenbürgen, Banat, Maramureş, Bucovina papir27 (1670) m. ‘Papier; Schriftstück’ (Tiktin; DLR), Bihor popir Tamás, Hunedoara păpir Tamás, siebenbürgisch papiră (DLR); siebenbürgisch popiroș, papiruș28 m. ‘Papier’ (1826, Tamás), Bihor popiruș, Salonta piporoș, Sălaj poptiroș (ALR 4, 918). Ableitung: papiresc adj. ‘papieren’ (veraltet, DLR). Italienisch: papiro m. ‘Papier’ (vor 1321, Dante, Inf. 25, 65), altmantuanisch papir (um 1300, Belcazer, SFI 23, 152), altligurisch papéro (14. Jh., G. Rossi, Misc.Stor.It. 35, 1895), altlunigianisch papero (15. Jh., Faye), piemontesisch papè, Valsesia papell, ligurisch papé(r), bergamaskisch paper, dolomitenladinisch papi(e)r(e)29, neapolitanisch papello, abruzz. papìëllë; altlombardisch parpè (14. Jh., Chrysostomos, Salvioni, AGI 12, 420), Val Leventina palpéi, Como palpée, lombardisch parpè, mailändisch palpé. Übertragene Bedeutungen: Voghera parpléi ‘Tüte’ (FEW 7, 593), piemontesisch papè m. pl. ‘Dokumente’, Valsesia papèi, mailändisch palpè, dolomitenladinisch papì(e)reš, toskanisch pappiè, abruzzesisch pappìelle; mailändisch parpœula f. ‘großes Geld’, röm. pappiè m. ‘Papiergeld’. Ableitungen: it. papeterìa30 f. ‘Papierladen’ (1854, DEI); piemontesisch papardèla f. ‘öffentliche Bekanntmachung’; piemontesisch papràs m. ‘Makulaturpapier’. Rätoromanisch (bündnerromanisch): surselvisch pupi m. ‘Papier’ HdR, sutselvisch pulpier, palpier, surmeirisch palpieri, unterengadinisch palpera, oberengadinisch palperi. Französisch und Provenzalisch (Okzitanisch): frz. papier m. ‘Papier’ (Douai in der Pikardie, Ende des 13. Jh. / Anfang des 14. Jh., FEW; TLF; Maastal 1387, TLF; 1393, TLF), altwallonisch papire (Liège 1380, FEW), altchampagnisch paupier (Troyes, 1355, TLF), altlothringisch (Metz) pauppier (1451, FEW; TLF), altdauphin. paper (FEW), altgask. papir (1268, TLF), altprov. papier (1296, TLF; 1343, TLF). Varianten des Wortes papier kommen heute in allen Dialekten vor, vgl. ALF 967. Übertragene Bedeutungen: papier ‘Dokument’ (1308, TLF), ‘Rechnungsbuch’ (1549, FEW), ‘schriftliche Verpflichtung, Schuldschein’ (Ende des 14. Jh., TLF; FEW), ‘Papiergeld’ (1748, TLF), ‘Zeitungsartikel’ (1734, FEW). _________ 27 Wegen der Betonung auf der letzten Silbe von deutsch Papier; ungarisch papir kommt nur bei den anfangsbetonten regionalen Formen in Frage. 28 Von (älterem) ungarisch papiros. 29 Von deutsch Papier, mittelhochdeutsch papier. 30 Von französisch papéterie.
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Ableitungen: papetier m. , papetière f. ‘Papierfabrikant, -in; Schreibwarenhändler, -in’, papeterie f. ‘Papierfabrik; Schreibwarenhandlung’. Katalanisch: paper m. ‘Papier’ (1249, DECLC), westkatalanische Varietäten papé, ostkatalanische Varietäten papé, mallorquinisch (vulgär) popé, valencianisch papér. Übertragene Bedeutungen: paper ‘Rezept’, ‘Textbuch’, ‘Rolle; Funktion’. Ableitungen: paperer adj. ‘aus Papier’; paperada f. ‘Wust von Papieren’; paperaire m. ‘Papierfabrikant’; paperera f. ‘Papierkorb’; papereta f. ‘Zettel’; paperina f. ‘Papiertüte; Rausch’. Spanisch: altspanisch paper m. ‘Papier’ (1330–1490, DECLC), altaragonesisch paper (um 140031, DCECH), sp. papel (1335, DCECH), asturisch papel Sánchez Vicente, leonesisch papel, navarresisch papel Iribarren, aragonesisch papé Andolz, kanarisch papel Corrales / Corbella, judenspanisch papél Nehama. Übertragene Bedeutungen: papel ‘Dokument’, ‘Tapete’, ‘Textbuch’, ‘Rolle; Funktion’. Ableitungen: papelero adj. ‘aus Papier’; papelero m. ‘Papierhändler’; papelera f. ‘Papierschrank’; papeleta f. ‘Zettel, Schein’; papelista m. ‘Papierfabrikant’; papelorio m. ‘Wust von Papieren’; papelón m. ‘Angeber; Karton; langweilige Rolle’. Portugiesisch: papel m. ‘Papier’ (seit 1327, DLP), galicisch papel. Übertragene Bedeutungen: papel ‘Dokument’, ‘Textbuch’, ‘Rolle; Funktion’. Ableitungen: papeleiro adj. ‘aus Papier’; papeleiro m. ‘Papierhändler’; papelada f. ‘Wust von Papieren’; papeleta f. ‘Zettel, Schein’; papelão m. ‘Angeber; Karton’. Offenkundig findet man in der Romania Belege aus der Zeit vor der Mitte des 13. Jahrhunderts nur im Mittellateinischen des Nordwestens und des Südens Italiens sowie im Katalanischen des Roussillon (Cotlliure / Collioure). Wenn man die Zeit zwischen 1250 und 1300 einbezieht, so kommen noch Zeugnisse aus der Gaskogne, aus der Provence und eventuell aus der Pikardie hinzu. Obwohl man, wie gesagt, gegen Erstbelegdaten immer misstrauisch sein muss und argumenta e silentio vermeiden sollte, drängt sich doch die Vermutung auf, dass das Epizentrum der Verbreitung der Nachfolgeformen von papyrus im Sinne von ‘Papier’ in Italien oder in Katalonien zu suchen sei. Beide Lösungen sind versucht worden, seit man in der Romanistik gelernt hat, auf Belegdaten zu achten32. _________ 31
Auch in den “aranceles aduaneros de la Corona de Aragón” aus dem 13. und 14. Jh. ist die Form paper normal (Gual Camarena 1968, 382–383). 32 Die Gründungsväter der Romanistik haben das angenommen, was in ihren Augen sowieso den romanistischen “Normalfall” darzustellen schien: ein französisches Wort, das in andere romanische Sprachen übernommen wird. So sah es Friedrich Diez (1887, 654–655), so sah es Wilhelm Meyer-Lübke (REW Nr. 6218: “frz. papier > kat. papel > sp. port. papel”), so sah es sogar noch Vicente García de Diego (1985, 854: “cast. port. cat. del fr. papier).
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Für Walther von Wartburg war Genua der Ausgangspunkt. In Oberitalien erfolgte seiner Meinung nach auch der analogische Anschluss an auf –ērium zurückgehende Wörter, und das Französische bezog das Wort aus einer norditalienischen Sprachform. “Kat. paper, sp. pg. papel scheinen aus dem gallorom. entlehnt zu sein” (FEW 7, 594). Also im Großen und Ganzen der vermeintliche Normalfall, das Französische als Quelle für die Sprachen der iberischen Halbinsel. Das Besondere an dieser Wortgeschichte ist nur, dass die Neubildung nicht für das Französische selbst angenommen wird, sondern dass Walther von Wartburg mit einer Entlehnung aus Nordwestitalien rechnet, wobei er sich bezüglich des genauen Entlehnungsweges recht bedeckt hält. Ganz anders sah Joan Coromines die Sache. Er geht davon aus, dass in Dokumenten Südfrankreichs aus dem 14. Jh. importiertes Papier, unterschieden in papier catalan und papier lombart, häufig erwähnt wird. Weil es aber – seiner Meinung nach – das entsprechende Wort im Italienischen nie gegeben habe, scheint ihm das Katalanische die einzig denkbare sprachliche Quelle zu sein33, zumal die erste französische Papiermanufaktur erst 1318 zu belegen ist, während es um Xàtiva schon um die Mitte des 13. Jh., also nach der Einnahme von València 1238, eine einheimische Papierherstellung gab. Bei näherem Hinsehen liegt hier aber ein argumentatorischer Schnellschuss vor: Von den beiden Möglichkeiten, die naheliegen angesichts des Auftretens der Bezeichnungen papier catalan und papier lombart im Südfrankreich des 14. Jh., nämlich der Herkunft des Wortes aus dem italienischen oder katalanischen Sprachraum, wird die erste ausgeschlossen, weil dort der Worttyp papȳrus nicht vorkomme, und die zweite wird gestützt durch ein scheinbar schlagendes sachliches Argument, die frühe Bezeugung der Papierproduktion. Beides steht auf sehr schwachen Füßen, denn erstens ist, wie oben gezeigt, der Worttyp papȳrus in den sprachlichen Varietäten Nordwestitaliens geläufig und im 14. Jh. durchaus vorherrschend, und zweitens war die Papierherstellung von Xàtiva zwar die früheste in Europa, aber sie war eine Sache der Araber, in deren Händen sie auch lag, als die Macht längst an die neuen katalanischen Herren übergegangen war – arabische Spezialisten hielten mit ihrem know-how die lukrative Fertigung aufrecht, aber sie benannten ihr Produkt sicherlich wie eh und je mit seinem arabischen Namen wâraq und wären gewiss nicht in der Lage gewesen, ihm eine romanische Bezeichnung zu geben, die an ein griechisch-lateinisches Bildungswort anknüpfte. _________ 33 DECLC 6, 252: “En el Migdia de França, en el s. XIV, els esments de paper importat abunden, i s’hi reparteixen entre el papier catalan i el lombart (PSW VI, 52b, 53a), que llavors significava ‘italià’; però com que en italià mai no s’ha dit altrament que carta, és ben segur que totes les llengües d’Occident que tenen aquell mot el van rebre del català. [---] En oc. apareix sovint ja en el s. XIV, però ja hem vist que amb el nom de papier catalan; per tant és logic que al francès del Nord (on ja es testifica en el s. XIII) també li vingués de Catalunya”. Besonders unterstreicht J. Coromines, dass das katalanische paper die Quelle des spanischen papel sein muss, denn “sabido es que el cambio de –er en –el es normal en los catalanismos y galicismos” (DCECH 4, 387).
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Hier liegt überhaupt der springende Punkt: Nur weltläufige Leute, die womöglich schon einmal ein Papyrusblatt gesehen hatten, waren überhaupt in der Lage, den Namen des antiken Schreibmaterials Papyrus auf das moderne Schreibmaterial Papier zu übertragen. Selbstverständlich war diese semantische Neuorientierung ja keineswegs: Viel geläufiger war doch dem mittelalterlichen Menschen das Schreibmaterial Pergament, und Papier wurde als PergamentImitat, keineswegs als Papyrus-Imitat, verwendet. Ob es, wie die Erstbeleg-Daten nahelegen, die Genueser waren, die papyrus für das neue Papier verwendeten, ob es sich, was historisch gut passen würde, um eine Bedeutungsübertragung handelte, die von den Bürokraten in Palermo auf den Weg gebracht wurde – im Italien des 12. Jh. war jedenfalls die Vertrautheit mit dem Aussehen des Schreibmaterials Papyrus noch groß genug, um seine Ähnlichkeit mit dem neuen Schreibmaterial Papier augenfällig sein zu lassen. Nun haben wir es freilich bei den volkssprachlichen Wörtern für ‘Papier’ von Anfang an nicht mit einfachen Weiterentwicklungen von papȳrus (bzw. papīrus) zu tun, sondern es liegt ein Suffixtausch vor, der eine nähere Betrachtung verdient. Glücklicherweise gibt es ein Wort paralleler lautlicher Struktur, das in den Dialekten Norditaliens eine vergleichbare Behandlung erfahren hat. būtȳrum, das griechisch-lateinische Wort, das dem deutschen Butter zu Grunde liegt, blieb in den romanischen Sprachen auf verschiedenen Stufen erhalten. Interessant sind in unserem Zusammenhang die Formen, die mit einer Form *būttūrum (“si suppone un raddoppiamento consonantico data la propensione a geminare la consonante immediatamente protonica”, LEI VIII 503) zusammenhängen und einen Suffixwechsel zu –érum / –árium voraussetzen (Rohlfs 1969, 392 und 399 = § 1072 und § 1077)34: Man findet überall in Nordwestitalien bütér(o), in Nordostitalien buter(o), altnorditalienisch auch botiero (LEI VIII 466–471). An dieser Stelle kommen erstens die mittellateinischen paperium-Belege aus dem Piacenza des 13. Jh. ins Spiel, zweitens die altligurischen und altlunigarischen papero-Formen und drittens die (wegen der neuzeitlichen Konkurrenz zu carta relativ spärlichen) modernen Dialektformen, die einen Typ papé oder papér repräsentieren (Piemont, Ligurien, Lombardei). Hierbei ist besonders hervorzuheben, dass die vergleichweise üppig repräsentierten ligurischen Dialektformen des Typs papé auch heute noch das Normalwort für ‘Papier’ darstellen (Petracco Sicardi / Tosi 1990, 26). Nichts spricht gegen die Annahme, dass das geläufige Suffix –é(r) (< lat. –ērum / –ārium) das durchaus weniger geläufige –irum (< lat. –īrum < –ȳrum) sowohl bei butirum als auch bei papirus ersetzt haben muss. Man kann also davon ausgehen, dass folglich eine Form papér in den Varietäten des 12. oder 13. Jh. in Nordwestitalien gängig gewesen war. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass für Genua, die aufstrebende ligurische Handelsstadt, im 12. Jh. alle sachlichen und sprachlichen Voraussetzungen gegeben waren, um aus einem gelehrten mittellateinischen papirus = _________ 34 In mittelalterlichen Dokumenten aus Genua ist in butero belegt (1299), in Modena buterius (1277), vgl. LEI VIII 467, Anm. 9.
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papyrus, das in der Fachsprache der Skriptorien nicht mehr das außer Gebrauch gekommene Schreibmaterial Papyrus, sondern das ihm ähnlich sehende neue Schreibmaterial Papier bezeichnete, ein volkssprachliches papér werden zu lassen. Freilich haben wir durch den Zufall der Überlieferung dafür im Volgare des 12. und 13. Jh. keinen direkten Beleg, aber wir haben mit dem mittellateinischen paperium aus Piacenza ein mehr als deutliches Indiz – und immerhin ist der deutlichere Latinismus papirus in Genua schon 1163 bezeugt! Im Katalanischen hingegen tritt paper schon 1249 auf. Eine Bildung paper zu papirus < papȳrus wäre im Katalanischen ebenso gut denkbar wie im Nordwestitalienischen, weil auch hier –er eines der häufigsten Nominalsuffixe darstellt35. Denkbar, wie gesagt, ist ein solcher Suffixtausch für das Katalanische, aber nicht besonders wahrscheinlich. Erstens fehlt es hier an einer den italienischen Verhältnissen entsprechenden Vertrautheit mit antiken und frühmittelalterlichen Schreibmaterialien wie dem echten Papyrus, zweitens stammen die frühen katalanischen Wortbelege nicht aus dem Gebiet von València, wo in der Tat Papier hergestellt wurde, sondern aus dem äußersten Norden des Sprachgebietes: Im Zolltarif von 1249 aus Cotlliure / Collioure im Roussillon, der einzuordnen ist in eine Reihe von “conventions à ce sujet avec diverses villes, notamment avec Gênes” (Alart 1873, 246), steht paper neben anderen wertvollen und fremden Produkten wie pebre ‘Pfeffer’, gingibre ‘Ingwer’, canela ‘Zimt’, girofle ‘Gewürznelken’, brasil ‘Brasilholz’ usw. Es geht in diesen Listen eben nicht um erschwingliche Erzeugnisse der països catalans, sondern um Luxuswaren ausländischer Herkunft, die eingeführt und umgeschlagen wurden. Vor diesem Hintergrund wird die historische Beurteilung des katalanischen Wortes paper einfacher: Wir haben es nicht mit einem einheimischen Produkt mit einheimischem Namen zu tun, sondern es wird eine Bezeichnung gebraucht, die offenbar im Seehandel als allgemein bekannt gelten durfte. Da ist die Annahme zumindest nicht abwegig, dass es sich um ein Wort handelt, das nicht von den Warenproduzenten, sondern von den Warenverkäufern stammte, also auf diejenigen zurückgeht, die damals den Handel im westlichen Mittelmeer beherrschten, nämlich von den Genuesen. Wenn diese Überlegung richtig ist, dann ist katalanisch paper ein Lehnwort aus dem Genuesischen. Man wird annehmen, dass im Katalanischen ein direktes Lehnwort aus dem Genuesischen vorliegt, denn eine galloromanische Vermittlung ist absolut nicht nötig. Für eine direkte Entlehnung sprechen jedenfalls die Belegdaten: In Genua ist lateinisches papyrus in der Bedeutung ‘Papier’ 1163 belegt, im Altkatalanischen 1249, im Altprovenzalischen aber erst 1296 in einer Urkunde aus Marseille (papier; TLF 12, 894), wahrscheinlich also nur kurz vor dem ersten altfranzösischen Auftreten um 1300 in einer Urkunde aus dem pikardischen Douai _________ 35
Moll 1991, 184 (= § 373): “És el principal sufix de pertinença, tant en el llatí vulgar com en les llengües romàniques. [...] Les derivacions produïdes en el català ja format són nombrosíssimes”. Hingegen gibt es das Suffix –īrus gar nicht, und –ēr(i)us kommt nur in Buchwörtern vor (Moll 1991, 188 = § 389.
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(papier; TLF 12, 894). Dass man überhaupt an einen Wanderweg durch Frankreich gedacht hat, liegt wohl nur an der Frankreichfixiertheit der deutschsprachigen Romanisten des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. Heute muss man das anders sehen: Die Katalanen haben das Wort paper von ihren Handelspartnern aus Genua übernommen, die wohl papér sagten, und vom Katalanischen aus haben es die anderen romanischen Sprachen bezogen, zunächst die benachbarten Gaskogner (papir, Urkunde aus Langon von 1268; TLF 12, 894), dann die Provenzalen, dann die Spanier, die eine Sekundärform papel ausbildeten, die anschließend von den Galiciern und Portugiesen übernommen wurde. Schematisch kann man sich das folgendermaßen vorstellen: gen. *paper (1163, papirus) ↓ kat. paper (1249) ↙ ↓ ↘ gask. papir sp. paper prov. papier (1268) (1330) (1296) ↓ ↓ sp. papel (1335), frz. papier port.-gal. papel (±1300) (1327) Wir haben es also in den romanischen Sprachen mit einem Katalanismus genuesischer Herkunft zu tun, für dessen weiteres Schicksal die Bemerkung von Germán Colón Doménech (1967, 227) gültig bleibt: “Es seguro que el catalán no viene del galorromance; el español en cambio viene del catalán; tanto la forma pristina paper, como la cronología y la historia del objeto apoyan esta procedencia”. Für die germanischen Sprachen ist das Französische der Ausgangspunkt. Im Mittelenglischen taucht papir(e) ±1380 bei Gower und 1386 bei Chaucer auf (Middle English Dictionary 7, 588–589); daraus entwickelte sich die heute übliche Form paper. Das Wort hat ein breites Bedeutungsspektrum: Neben der Grundbedeutung ‘Papier’ findet man im Wohnungswesen ‘Tapete’, im juristischen Bereich ‘Dokumente, Unterlagen’ (meist im Pl. papers), im Bankensektor ‘Papiergeld, Wertpapier’, im medialen Umfeld ‘Zeitung, Zeitschrift’ und im universitären Kontext ‘Klausur; Referat; wissenschaftlicher Aufsatz’. Besonders bemerkenswert ist die letzte semantische Entwicklung, weil sie sich im englischen Kontext herausgebildet zu haben scheint. Auch das Niederländische hat aus dem Französischen entlehnt. Im 14. Jahrhundert war das Wort papier (mit seinen Nebenformen papijr, pappier, pampier) bereits allgemein verbreitet36. Die erste Papierfabrik ist für das damals noch zum niederländischen Territorium gehörige Lille = Rijssel immerhin schon im Jahre 1318 bezeugt (FEW 7, 593). Neben ‘Papier’ heißt das Wort auch ‘Tapete’, dann ‘Dokument’ und ‘Papiergeld, Wertpapier’. Das Bedeutungsspektrum ist also _________ 36
J. de Vries 1971, 505: “In de 14e eeuw reeds veel voorkomend”.
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weniger ausgeprägt als im Französischen und Englischen, aber eine Nähe zum Deutschen ist unverkennbar. Die Diminutivform papiertje ist, wie bei der Vorliebe des Niederländischen zu Verkleinerungsformen nicht anders zu erwarten, recht häufig, hingegen sind sowohl das Adjektiv papieren als auch das Verb papieren ziemlich selten. Im Deutschen ist paper 1345 für Frankfurt belegt, “bald wird das Wort in Formen wie papyr und bappier häufig. Unter dem Schutz der fremden Betonung bleibt der Vokal der zweiten Silbe lang, darum erscheint in frühneuhochdeutsch papeir, bappeir Zwielaut, zumal im deutschen Westen, dessen Mundarten vielfach bis heute bapeier u. ä. bieten. Die Schriftform hat in Anlehnung ans Lateinische ī hergestellt; in unserer neuhochdeutschen Schreibung bezeichnet ie die Länge” (Trübner 5, 50). Der Erstbeleg in Hessen zeigt, dass das Wort wohl nicht über das Niederländische ins Deutsche gekommen ist, sondern direkt aus dem Französischen entlehnt wurde. Die Diminutivform Papierchen ist sehr selten, das Adjektiv papieren ist zwar seit 1372 belegt, wird aber normalerweise durch SubstantivZusammensetzungen vermieden (Papiertapete statt papierene Tapete). Die deutschen Dialektformen (Liste: Kramer 1982, 47) zeigen durchweg Endbetonung, lassen das Wort also als fremdes Element erkennen. Die Mundarten der Gegenden, in denen das zu den Aussprachecharakteristika gehört (z. B. Schleswig-Holstein, Westfalen, Thüringen, Sachsen, Bayern, Österreich), verdumpfen das unbetonte a der Anfangssilbe zu å oder o, und von Sachsen und Thüringen über Hessen bis ins Siegerland, ins Rheinfränkische, ins Saarland und in den südwestdeutschen Raum tritt b statt p auf (hessisch, pfälzisch, badensisch, schwäbisch Babier). Die an sich deutschen Lautgesetzen entsprechende Diphthongierung des langen ī zu ei bzw. ai findet sich heute noch in rhein- und moselfränkischen, siegerländischen, lothringischen, badensischen und schwäbischen Mundarten (z. B. rheinfränkisch Babéier). Diese Diphthongierung ist vielfach unter dem Einfluss der Normsprache wieder rückgängig gemacht worden, aber an einigen Orten galt die Babeier-Form noch im 20. Jahrhundert als veraltete oder scherzhafte Variante (westfälisch Popéier gegenüber Popier, südhessisch Babáier gegenüber Babier, lothringisch Papaier gegenüber Papier, schwäbisch Babéier gegenüber Babier, schweizerdeutsch Papeier gegenüber Bapier). Die mittelniederländische Form pampier fand ihren Niederschlag in ostfriesisch Pampier und aachenerisch Pampier, die beide heute vor Papier zurückgewichen sind. Die luxemburgische Normsprache, die auf westmoselfränkischen Varianten beruht, hat sich für Pabeier entschieden. Die skandinavischen Sprachen haben ihre Wörter für ‘Papier’ aus dem Niederdeutschen entlehnt, das ja die Sprache der Hanse war, die viele Kontore in skandinavischen Städten hatte. Man darf wohl annehmen, dass das Wort auf dem Seewege verbreitet wurde, wofür auch das Auftreten von pappir im Spätaltwestnordischen des 15. Jahrhunderts spricht (Fritzner 1973, 929); also ist auch in
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einem weiter von Deutschland entfernten Land wie Schweden (papper37) eine direkte Entlehnung ohne dänische Vermittlung anzunehmen. Das dänische papir liegt aber jedenfalls dem neunorwegischen, in den beiden Varianten Bokmål und Nynorsk auftretenden papir zugrunde, und auch isländisch pappír und färingisch pappír dürften über das Dänische gelaufen sein. Folgendes Schema bietet sich für die germanischen Sprachen an: frz. papier (±1300) ↙ ↓ ↘ engl. paper nl. papier dt. papier (vor 1400) (1318) (1345) ↓ skandin. pap(p)ír (> schwed. papper) Für die slavischen Sprachen kann man die Darstellung ganz global halten, weil die Entlehnung des Wortes für ‘Papier’, abgesehen vom Serbischen, Makedonischen und Bulgarischen, die auf griechisch χάρτης zurückgehende Wörter aufweisen, und abgesehen von der russischen Normsprache, die mit бумага (ursprüngliche Bedeutung: ‘Baumwolle’) einen eigenen Worttyp besitzt, vom deutschen Wort Papier ausgeht. Es lässt sich allerdings kaum feststellen, ob das Deutsche die direkte Quelle oder ob Vermittlung durch eine andere slavische Sprache anzunehmen ist. Sprachgeographische Kriterien helfen wenig, weil die zahlreichen deutschen Sprachinseln Osteuropas das Bild verwirren. Was die zeitliche Abfolge anbetrifft, stellt sich das Problem, dass es für viele Sprachen noch keine ausreichenden historischen Wörterbücher gibt, die die genauen Erstbelegdaten liefern würden. Man wird jedoch nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass nach sporadischen Erstbezeugungen im 15. Jh. das Wort im 16. Jh. überall Gemeingut ist. Obersorbisch: papjera f. ‘Papier, Blatt’; papjery pl. ‘Ausweise, Papiere’. Ableitungen: papjerka f. (Dim.) ‘Zettel’, papjerc m. ‘Pappe’, papjernik m. ‘Papierfabrik; Papierkorb’, papjernistwo n. ‘Papiergeschäft’, papjerjany adj. ‘papieren, Papier-’. Niedersorbisch: papjera f. ‘Papier, Blatt’. Ableitungen: papjerka d. (Dim.) ‘Zettel’, papjernik m. ‘Papierfabrik; Papierkorb’, papjerarnja f. ‘Papiergeschäft; Papierfabrik’, papjerjany adj. ‘papieren, Papier-’, papjerowy ‘papieren, Papier-’. _________ 37
Die heutige paroxytone Akzentuierung ist das Resultat einer innerschwedischen Akzentzurückziehung; in Dialekten findet man noch heute die im älteren Schwedischen übliche oxytone Betonung (Svenska Akademiens Ordbok, s. v. papper). – Solange Finnland zu Russland gehörte, lässt sich im Finnlandschwedischen das Wort papyross ‘Zigarette’ (Erstbeleg 1857) nachweisen, das aus dem russischen папироса ‘Zigarette’ entlehnt ist. Nach der Unabhängigkeit Finnlands im Jahre 1918 verschwand das Wort langsam aus dem lebendigen Sprachgebrauch (Svenska Akademiens Ordbok, s. v. papyross).
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Polnisch: papier m. ‘Papier’, ‘Papiergeld’; papiery pl. ‘Ausweise, Papiere’, ‘Wertpapiere’, ‘Dokumente’. Ableitungen: papierek m. ‘Zettel’, papiernik m. ‘Papierproduzent; Papierhändler’, papiernia f. ‘Papierfabrik’, papierowy adj. ‘papieren, Papier-’, papierkowość f. ‘Bürokratie’. Tschechisch: papír38 m. ‘Papier’, ‘Wertpapier’, ‘Urkunde’. Ableitungen: papírek m. ‘Zettel’, papírník m. ‘Papierproduzent; Papierhändler’, papírna f. ‘Papierfabrik’, papírnictví n. ‘Papierhandlung; Papierindustrie’, papírový adj. ‘papieren, Papier-’. Slovakisch: papier m. ‘Papier’, papiere pl. ‘(Identitäts-)Papier’. Ableitungen: papierček m. ‘Zettel’, papierik m. ‘Papierchen’, papiernik m. ‘Papierproduzent; Papierhändler’, papiereň ‘Papierfabrik’, papiernictvo n. ‘Papierhandlung’, papierový adj. ‘papieren, Papier-’. Weißrussisch: папéра f. ‘Papier’ Ableitungen: паперка f. (Dim.) ‘Papierchen’, папернiк m. ‘Papiermacher’, паперня f. ‘Papierfabrik’. Ukrainisch: папiр39 m. ‘Papier’. Ableitungen: папiрець (Dim.) ‘Papierchen’, папiрник m. ‘Papierhersteller’, папiрня f. ‘Papierfabrik’. Russisch: westliche Dialekte папéра f. ‘Papier’, ältere Sprache des 16. und 17. Jh. поперь. Slovenisch: papír m. ‘Papier, Dokument’. Ableitungen: papírček m. (Dim.), papiróska, papírnica f. ‘Papierhandlung; Papierfabrik’, papírništvo ‘Papierfabrik’, papírničar ‘Papierarbeiter’. Kroatisch: papīr m. ‘Papier, Dokument’. Ableitungen: papīrnica f. ‘Papierhandlung’, papirnat adj. ‘papieren, Papier-’, papīrnī adj. ‘papieren, Papier-’. Abgesehen von Italien und Südosteuropa wird das ‘Papier’ also in den drei großen europäischen Sprachfamilien, also in der Romania, in der Germania und in der Slavia, mit Formen bezeichnet, die auf das griechisch-lateinische pap rus zurückgehen. Die nicht diesen Sprachfamilien angehörigen Sprachen haben ihr Wort für ‘Papier’ normalerweise aus den ihnen benachbarten Sprachen entlehnt: baskisch paper40 < altsp. papel; bretonisch paper < engl. paper, walisisch papur < engl. paper, gaelisch papur < engl. paper, irisch páipéar < engl. paper; litauisch pōpieri(u)s < dt. Papier, lettisch papīrs < dt. Papier; finnisch paperi < schwed. _________ 38
Alttschechisch auch papier und papíř (Machek 1971, 433). Dialektal und veraltet kommt auch папира f. vor. 40 Lokal kommen auch die Formen papera und papel (< neusp. Papel) vor. 39
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papper, estnisch paber41 < schwed. papper, lappisch bāber < schwed. papper, ungarisch papír < dt. Papier42. Aus diesem auf pap rus zentrierten Gesamtbild scheren nur Italien und die Sprachen der orthodoxen Länder Südosteuropas (Griechenland, Albanien, Makedonien, Bulgarien, Serbien, Rumänien) aus, die griechisch χάρτης bzw. dessen lateinische Adaptation charta fortsetzen. Im Griechischen der Antike bezeichnet χάρτης m. (ungeklärter Herkunft, Chantraine 1999, 1248–1249) zunächst das ‘Papyrusblatt’ und dann die (aus mehreren aneinandergeklebten Blättern gefertigte) ‘Papyrusrolle’; es war also streng genommen das Wort für das aus Papyros hergestellte Schreibmaterial, während πάπυρος nur die Bezeichnung der Pflanze war, aber da auch πάπυρος von unseren frühesten Zeugnissen an das Schreibmaterial benannte, wurden beide Wörter bei der Bezeichnung des Beschreibstoffes als austauschbar empfunden; πάπυρος kommt allerdings deutlich weniger oft vor. Im Lateinischen tritt das maskuline χάρτης als feminines charta43 auf44, nachdem im 2. Jahrhundert v. Chr. der Versuch des Lucilius, eine maskuline Adaptationsform chartus einzuführen45, nicht auf Anklang gestoßen war. Der eigentliche lateinische Ausdruck für das aus Papyrus (oder einem anderen Material) hergestellte Schreibmaterial, ob Einzelblatt, ob Rolle, ob Kodex, war charta. An der Schwelle zum Mittelalter began sich die Wortverwendung etwas zu verschieben: Nicht mehr das Material stand jetzt im Vordergrund, sondern die Wichtigkeit des Schriftstückes. Im Mittellateinischen bezeichnet charta / carta / karta “jedes Schriftstück, unabhängig vom beschriebenen Material (Papyrus oder Pergament)” und kann also konkret einen ‘Brief’, ein ‘Mandat’, eine ‘Urkunde’ oder einen ‘Schuldschein’ meinen (Niermeyer 2002, I 228-229); freilich kann die Grundbedeutung ‘Blatt’ immer wieder reaktiviert werden. Schon im antiken _________ 41 Veränderungen in der Sonorität der Konsonanten findet sich in allen finno-ugrischen Sprachen häufig, vgl. Hajdú 1978, 129. 42 Das ältere ungarische Wort, das auch heute noch benutzt werden kann, aber eine etwas archaische Stilnuance vertritt, ist papiros, das seit 1508 belegt ist und einen direkten Latinismus darstellt; die aus dem Deutschen entlehnte Form papír ist seit 1811 nachzuweisen (A magyar nyelv történeti-etimológiai szótára 3, Budapest 1976, 92). 43 Die Schreibung carta tritt in Handschriften sehr oft auf und ist auch in Inschriften belegt, obwohl die Grammatikerregel eindeutig ist (Prob. 4, 10, 19–21): “hoc tamen scire debemus, quod omnia nomina post c litteram habentia h peregrina sunt, chorus, Anchemolus, charta, Charon, Chrysus, Chalybes”. 44 Der erste Prosabeleg steht in der 53/54 v. Chr. gehaltenen Cicero-Rede pro C. Rabirio Postumo (§ 40), der erste dichterische Beleg in de rerum natura (6, 112/114) von Lukrez († 55 v. Chr.), aber insgesamt gilt folgende Bemerkung aus dem ThLL III 997, 5-7: “legitur ante Apul. raro apud scriptores pedestres praeter Plin. nat. et medicos, [---] apud poetas et scriptores recentiores passim”. – Für die Genusübertragung gibt es eine von Varro aufgestellte Regel, die bei Charisius (1, 104, 13–15 Keil) überliefert ist: “Varro autem ait uocabula ex Graeco sumpta, si suum genus non retineant, ex masculino in femininum Latine transire et a littera terminari, uelut κοχλίας cochlea, Ἑρµῆς Herma, χάρτης charta”. 45 Lucil. 709 Marx (= Non. p. 196, 17–19: “chartam generis feminini; masculini Lucil. lib. XXVII: nec sic ubi Graeci, ubi nunc Socratici charti? quidquid quaeritis, perimus”).
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Latein gab es rund ein Dutzend Ableitungen von charta (unter denen das Diminutivum chartula ‘kleine Schrift, Briefchen’, dazu chartularius ‘Urkundenschreiber’, und die Adjektive charteus, chartarius und chartaceus, die alle ‘zur charta gehörig’ bedeuten, die wichtigsten sind), und im Mittellatein ist ihre Zahl noch gestiegen, wobei chartarium und chartularium in der Bedeutung ‘Archiv’ und chartulatus ‘Unfreier, der durch die Überreichung einer Urkunde freigelassen wurde’ interessante neue Bedeutungen sind. In den mittelalterlichen romanischen Sprachen sind die mittellateinischen Verwendungsweisen von charta noch präsent, aber es bilden sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen heraus, die schließlich in der Neuzeit eine eindeutige semantische Auseinanderentwicklung zur Folge hatte. Im Italienischen hat carta die größte semantische Auffächerung erfahren: Es bedeutet ‘Blatt’, ‘Dokument, Urkunde’ (seit 1219), ‘Charta, Verfassung’, ‘Karte’, ‘Tapete’ und vor allem ‘Papier’ (erstes Auftreten dieser Bedeutung: vor 1294 bei Brunetto Latini). Im Französischen tritt charta zum einen als Erbwort, zum anderen als Buchwort auf: Das Erbwort charte (so seit 1338; seit 1050 ist chartre < lat. chartula belegt, das im 18. Jh. das Feld vor charte räumen musste) bedeutet ‘Urkunde, Charta’, wohingegen die Bedeutung ‘Papier’ bis zum Ende des 16. Jh. nur in einigen seltenen Fällen auftritt und vielleicht nicht lat. charta ‘Papier’ fortsetzt, sondern entweder innerfranzösisch aus ‘Blatt’ neu entwickelt wurde (FEW 2, 626 und 629–630) oder einen adaptierten Italianismus darstellt. Das Lehnwort carte (seit 1393) heißt ‘Karte’ (also ‘Landkarte’, ‘Speisekarte’, ‘Eintrittskarte’, ‘Ausweiskarte’, ‘Spielkarte’). Im Provenzalischen kann man Erb- und Lehnwort nicht, wie im Französischen, phonetisch auseinanderhalten, aber carta hat den Bedeutungsumfang von frz. carte und charte. In den Sprachen der iberischen Halbinsel liegen bei kat. sp. port. carta (überall seit Beginn der schriftlichen Überlieferung bezeugt) die Bedeutungen ‘Schreiben’, ‘Dokument, Urkunde’, ‘Charta, Verfassung’, ‘Karte’ vor; die auffälligste Sonderbedeutung ist ‘Brief’. Im Rumänischen existieren Weiterentwicklungen von gr. χάρτης bzw. von dessen Diminutivum χαρτί(ον) neben Weiterentwicklungen von lat. charta. In beiden Fällen scheint sich eine Pluralform, also χαρτία bzw. chartae, durchgesetzt zu haben. Der Gräzismus hârtie f. (seit 1481) bedeutet primär ‘Papier’, gelegentlich ‘Schriftstück’ (Tiktin 1988, II 301); das lateinische Erbwort carte (seit dem 16. Jh.) bedeutet heute nur noch ‘Buch’ und ‘Karte’, konnte früher aber auch für ‘Schriftstück, Urkunde’ und für ‘Brief’ verwendet werden (Tiktin 1986, I 446– 447). Mit rum. hârtie sind wir in den Raum der Sprachen des orthodox geprägten Südosteuropa eingetreten, wo das ‘Papier’ mit Entlehnungen aus gr. χάρτης / χαρτίον bezeichnet wird: neugr. χαρτί n., bulg. xартия f., maked. xартиjа f., serb. xартиjа f. Auch im älteren Albanischen heißt ‘Papier’ kartë, das aber aus phonetischen Gründen nicht direkt aus dem Griechischen kommen kann, sondern it. carta voraussetzt; heute sagt man letër, eine Bedeutungserweiterung der Grundbedeutung ‘Brief’.
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Interessanterweise haben das Italienische und das Griechische (sowie die von ihm abhängigen südslavischen Sprachen) den klassischen Sprachstand insofern bewahrt, als sie das Wort, das ursprünglich ein Blatt als Schriftträger meinte, aber auch sekundär für das Material, aus dem dieses Blatt gefertigt war (Papyrus, Pergament, Gewebe usw.), verwendet werden konnte, an die neuen Verhältnisse angepasst haben: Seit dem 13. Jh. hat das Papier die älteren Materialien nach und nach abgelöst, und konsequenterweise bezeichneten χαρτί(ον) und carta von da an den neuen Beschreibstoff, so wie sie vorher Papyrus und Pergament bezeichnet hatten. 6. Die modernen Papyrus-Adaptationen Kommen wir abschließend noch zu den Termini, die den ‘Papyrus’ und die Wissenschaft bzw. die Wissenschaftler, die sich damit beschäftigen, bezeichnen. Hierbei kann man sich auf die modernen Sprachen der Länder beschränken, die bei der Erforschung der antiken Papyri eine wichtige Rolle gespielt haben, denn die entsprechenden Wörter der anderen Sprachen, die es natürlich auch gibt, sind nur diesen Formen nachempfunden. Die Wörter, die die Pflanze und das aus ihr gewonnene Schreibmaterial bezeichnen, gehören sozusagen zum Inventar aller Intellektuellen, die sich mit der Antike beschäftigen; sie treten folglich zwischen dem 14. und 16. Jh. auf, sind also, wenn man soll will, Kinder der Renaissance. Italienisch: papiro ‘Papyruspflanze’ (1341 / 1342, Boccaccio [Amorosa visione], Battaglia 1984, XII 519), ‘Schreibmaterial’ (vor 1321, Dante, DELI). Englisch: papyrus ‘Papyruspflanze’ (1388, Wyclif, OED), ‘Schreibmaterial’ (1727-1741, Chambers, OED). Französisch: papyrus ‘Papyruspflanze’ (1562, frz. Plinius, FEW), ‘Schreibmaterial’ (1562, frz. Plinius, DHLF). Deutsch: Papyr(us) ‘Papyruspflanze; Schreibmaterial’ (157146, Reichmann 1994, II 1941). Obwohl sich vor allem Paläographen, aber auch Botaniker47, schon vom 16. bis zum 18. Jh. immer wieder mit dem antiken Schreibmaterial beschäftigt hatten _________ 46
Simon Roth, Fremdwörterbuch, Augsburg 1571, 335: “Papyr, gantz Papyrus. Ist ein gewechs oder stauden in Egypten, [---] darauß man gross bletter zum schreiben macht”. 47 Besonders zu nennen ist hier Melchior Wieland aus Königsberg (1520–1589), der als Paduaner Botanikprofessor einen Kommentar zu Plinius’ Papyruskapiteln veröffentlichte und der während eines Aufenthaltes in Ägypten Papyri gesehen hatte: Melchior Guilandinus, Papyrus, hoc est Commentarius in tria C. Plinii Majoris de papyro capita, Venezia (M. Antonius Ulmus) 1572; zweite Auflage 1582; Nachdruck von Heinrich Salmuth, Amberg (Schönfeld) 1613. Iosephus Iustus Scaliger machte unter dem Titel “Animadversiones in Melchioris Guilandini commentarium
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(Kramer 1988), waren diese Studien nicht spektakulär genug, um sie für einen neuen Wissenschaftszweig zu halten und also dafür einen eigenen Terminus zu kreieren. Erst nachdem zahlreiche Papyri aus Ägypten nach Europa gekommen waren und ab 1890 neue Reihen und Editionen die eigentliche “Pionierzeit” der Papyri einläuteten (Kramer 1994, 71), erwuchs die Notwendigkeit, die ‘Papyrologie’ und den ‘Papyrologen’ mit einem neuen unverwechselbaren Terminus zu benennen. Wir können, was bei modernen Terminologien eher einen seltenen Sonderfall darstellt, anscheinend die Geschichte des englischen Neologismus papyrology in den Einzelheiten verfolgen. Im Oxford English Dictionary wird ein Zitat aus der Zeitschrift Athenaeum vom 24. Dezember 1898 geboten, wo es heißt: “in the department of papyrology, if we may use such a word” – mit anderen Worten, zu Weihnachten 1898 war papyrology noch kein gängiger Bestandteil der englischen Sprache und der Autor des Artikels entschuldigt sich für den Gebrauch einer Neuprägung. Der Hintergrund dieses neuen Wortes ist sicherlich Egyptology, das immerhin schon seit 1859 belegt ist und gegen Ende des 19. Jahrhunderts fest im Englischen verankert war. Im Jahre 1900 hatte man dann beim Athenaeum den Eindruck, papyrology habe sich inzwischen eingebürgert, denn am 3. Februar dieses Jahres schrieb man laut OED: “Papyrology is the Greek study which is devouring all the rest”. Zu papyrology konnte man leicht papyrologist bilden; es ist laut OEDSuppl. 1922 im Glasgow Herald zum ersten Male bezeugt, aber wahrscheinlich lassen sich frühere Belege finden. Dass die englische Neuprägung, die ja sehr praktisch war, von den anderen europäischen Sprachen nachgemacht wurde, liegt auf der Hand. Im französischen Nouveau Larousse von 1907 tauchen sowohl papyrologie als auch papyrologue auf, was zeigt, dass die Neuprägungen bereits über den engen Kreis der Fachleute hinausgekommen waren. Ins Italienische hat Girolamo Vitelli 1901 (in der Zeitschrift Il Marzocco) die Ausdrücke papirologia und papirologo eingeführt. Lediglich das Deutsche suchte, wie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert so oft, einen eigenen Weg. Bereits in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts sprach man von Papyrusforschung und Papyruskunde, und mit der Gründung des Archivs für Papyrusforschung im Jahre 1900 hatte Papyrusforschung zunächst das Spiel gewonnen. Papyruskunde bekam sozusagen die höheren Weihen, als Ludwig Mitteis und Ulrich Wilcken 1912 ihrem grundlegenden Werk den Titel Grundzüge und Chrestomathie der Papyruskunde gaben. Freilich haben die beiden Verfasser auch die Ausdrücke Papyrologie48 und Papyrologe49 gleichbedeutend verwendet und so der neueren Entwicklung die Bahn bereitet, die dazu _________ de papyro” (in: Opuscula varia antehac non edita, Paris 1610, 3–55) kritische Anmerkungen aus philologischer Sicht zu dieser Schrift. 48 U. Wilcken, Chrest. I 1, XI: “Das Objekt der «Papyruskunde» oder «Papyrologie», in die unser Werk einführen will, sind die griechisch oder lateinisch geschriebenen Papyrusurkunden”. 49 L. Mitteis, Chrest. II 1, III: “Das Erscheinen des Werkes, von dem dieses Buch ein Teil ist, wird keinem Papyrologen eine Überraschung bereiten; denn die Verfasser haben ihre Absicht, eine Einführung in die Papyruskunde herzustellen, schon vorlängst verlautbart”.
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führte, dass nach dem zweiten Weltkrieg auch in Deutschland Papyrologie und Papyrologe die gängigen Termini geworden sind. 7. Schlussbemerkung Für die griechisch-römische Welt war πάπυρος bzw. papȳrus ein fremdes Wort, das sich jedoch schnell einbürgerte, weil es einen Gegenstand bezeichnete, der im täglichen Leben eine sehr große Rolle spielte: Der verbreitetste und auch preiswerteste Beschreibstoff wurde aus der Pflanze hergestellt und häufig, wenn auch längst nicht immer, mit dem Namen der Pflanze bezeichnet, und auch für den Docht einer Kerze wurde das Wort als Bezeichnung eines billigen Brennmaterials verwendet. Europäische Sumpf- und Flachwasserpflanzen, die durch Stengel oder Rhizom an den ägyptischen Papyrus erinnerten, konnten ebenfalls mit diesem Wort bezeichnet werden. Die beiden zuletzt genannten, eigentlich vergleichsweise seltenen Verwendungsformen hatten ihren Verwendungsbereich in der nicht von literarischen Überlegungen geprägten Volkssprache und konnten so aus dem Vulgärlateinischen in die romanischen Sprachen sowie darüber hinaus an angrenzende Sprachen vererbt werden. Die merkwürdigste Wortgeschichte hat aber πάπυρος bzw. papȳrus im Sinne von ‘Schreibmaterial’ erlebt: Nachdem der Papyrusimport aus Ägypten spätestens mit dem Beginn der Araberherrschaft 639 n. Chr. aufgehört hatte, war das Wort sozusagen “arbeitslos” geworden, weil keine neuen Papyri mehr gefertigt werden konnten; dennoch wussten die Intellekuellen weiterhin, das es einen Beschreibstoff bezeichnet hatte, der weit billiger als das Pergament war, und als mit dem Vormarsch des arabischen Hadernpapiers ein ähnliches Schreibmaterial Verbreitung fand, wurde das alte Wort (in volkssprachlichen Umformungen) auf das neue Material angewendet und machte so eine beispiellose Karriere in Europa, von der nur Italien und das orthodoxe Südosteuropa ausgeschlossen blieben, die mit χάρτης bzw. charta einen anderen Weg beschritten. Die vom 19. Jahrhundert an im Sande Ägyptens wiedergefundenen Papyri des Altertums konnten dann einfach mit dem gelehrten Latinismus Papyrus, der in den vielen Sprachen auch seine lateinische Pluralform Papyri50 behielt, benannt werden.
_________ 50 Im Deutschen tat man sich zunächst schwer mit dieser Pluralform: W. Adolph Schmidt schreibt beispielsweise immer die griechischen Papyre (z. B. 1842, 5), Friedrich Preisigke verwendete den Plural griechische Papyrus (P. Strasb. I).
V. PAPYROLOGISCHE INDIZIEN ZUR AUSSPRACHE DES LATEINISCHEN
7. Die Aussprache des Lateinischen nach griechischen dokumentarischen Papyri Abstract: Greek papyrus evidence reflecting the pronunciation of Vulgar Latin is collected and discussed in this article. Keywords: Latin loan-words in Greek, Vulgar Latin
1. Einleitung Angesichts der wenigen schriftlichen Quellen, die uns über die Aussprache der lateinischen Sprache informieren können (Tagliavini 1998, 160–167 = § 46; Coseriu 2008, 54–57), muss uns jede Bereicherung des Materials willkommen sein. Drei Sammlungen (Wessely 1902; Meinersmann 1927; Daris 1991) machen uns die lateinischen Wörter, die in griechischen dokumentarischen Papyri vorkommen, leicht zugänglich. Beiden Sammlungen ist auch eine Übersicht über die Lautung beigefügt, die jedoch aus einfachen Listen besteht, die keine Rücksicht auf Akzentverhältnisse, bereits bekanntes Vorwissen über die Aussprache des Vulgärlateinischen und geläufige Regeln der Lautsubstitution nehmen. Außerdem wird nicht nach Schreibvarianten, die uns über die Aussprache des Lateinischen, und nach anderen, die uns über die Aussprache des Griechischen unterrichten, unterschieden. Eine gründliche Arbeit informiert über die griechischen Wörter, die uns Rückschlüsse auf die Aussprache des Lateinischen ermöglichen (Binder 2000), aber hier gehen die Papyrusbelege in der Masse der literarischen Zeugnisse unter. Im Folgenden sollen ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Fälle aufgeführt werden, in denen uns die Papyri Rückschlüsse auf die Aussprache des Lateins erlauben. Sie werden in das Bild eingeordnet, das uns andere Quellen, besonders das Weiterleben der lateinischen Wörter in den romanischen Sprachen, liefern. Als Unsicherheitsfaktor muss bedacht werden, dass wir auch über die Aussprache des Griechischen zur Römerzeit nur unvollkommen informiert sind (Mayser 1970; Gignac 1976). Weiter darf man nicht außer Acht lassen, dass die Papyri eine Periode von mehr als fünfhundert Jahren umfassen, in denen sich natürlich die Aussprache des Griechischen wie die des Lateinischen verändert hat. Die ältere Auffassung, dass das Lateinische sich erst in der späteren Kaiserzeit dialektal merklich aufspaltete (Väänänen 1988, 63–64 = § 41), gilt heute als überholt (Adams 2007), und die Inschriften zeigen Provinzdifferenzierungen (Herman 1990, 93-194; 2006, 9-30). Einen Niederschlag in den Latinismen der griechischen Sprache hat diese regionale Diversifizierung jedoch nicht gehabt: Das Lateinische war für die Griechen Ägyptens einheitlich.
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2. Vokalismus Man darf davon ausgehen, dass die lateinische Schreibung während der republikanischen Zeit an der üblichen Aussprache der tonangebenden Kreise orientiert war. Veränderungen der Aussprachegewohnheiten, etwa die im Laufe des 2. Jahrhunderts v. Chr. erfolgte Monophthongierung von ei über ē zu langem ī (Bassols de Climent 1992, 70–71 = §§ 101, 102; vgl. preimus > prīmus) und von oi über oe zu langem ū (Bassols de Climent 1992, 72–73 = §§ 103, 104; vgl. loidos > loedus > lūdus), fanden ihren Niederschlag in der Graphie, und die Monophthongierung von au zu ō (Bassols de Climent 1992, 75–76 = § 107), die als “ländlich” (Fest. p. 196, 27) und als plebejisch, aber auch als archaisch galt, wurde durchaus schriftlich festgehalten: Neben der patrizischen gens Claudia gab es eine plebejische gens Clodia, und als P. Claudius Pulcher, der Sohn des aristokratischen SullaAnhängers Ap. Claudius Pulcher (Konsul 79 v. Chr.), seine politische Karriere auf der plebejischen Seite des politischen Spektrums plante, nannte er sich in P. Clodius Pulcher um, “um dadurch den Pöbel zu gewinnen” (Lindsay 1897, 46). Die volkssprachliche Aussprache Clodius statt Claudius wurde hier ganz selbstverständlich schriftlich fixiert. Etwa seit dem Beginn der Kaiserzeit folgte die Schreibung den Veränderungen in der Lautung nicht mehr auf dem Fuße. Das Bewusstsein, dass die lateinische Sprache ihren klassischen Höhepunkt mit Cicero erreicht hatte und dass dessen Sprachform die Norm darstellte, wirkte sich auch in der Orthographie aus. Es gab keine Anpassungen der Schreibweise an neue Lautungen mehr. Wir müssen annehmen, dass die Schere zwischen Aussprache und Schreibung im Laufe der Kaiserzeit immer weiter auseinanderklaffte. Es liegt auf der Hand, dass es nicht möglich ist, für die folgenden Jahrhunderte d i e Aussprache des gesprochenen Lateins zu beschreiben. Dennoch gibt es bestimmte Grundphänomene, die überall und zu allen Zeiten das phonetische Erscheinungsbild aller spontan-zwanglos gesprochenen Erscheinungsformen des Lateinischen von der schriftorientierten Normaussprache unterscheiden und die dann also auch in den Latinismen des Griechischen in Ägypten auftreten. Im spätrepublikanischen und frühkaiserzeitlichen Latein bestand das hervorstechenste Merkmal des Vokalismus darin, dass fünf in der Mundhöhle gebildete Vokale (Oralvokale) vorlagen. Diese fünf Oralvokale kamen jeweils in zwei Varianten vor, nämlich als Länge und als Kürze, wobei diese Quantitäten sowohl in den betonten wie in den unbetonten Silben deutlich realisiert wurden (genauso, wie es heute beispielsweise im Ungarischen, Tschechischen und Slowakischen der Fall ist). Das klassische Latein hatte also zehn Vokalphoneme, die symmetrisch verteilt waren:
7. Die Aussprache des Lateinischen nach griechischen dokumentarischen Papyri
Öffnungsgrad ↓
vorne
geschlossen
[i] / [i:]
zentral
offen
← Artikulationsort → Mitte
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hinten [u] / [u:]
[e] / [e:]
[o] / [o:]
[a] / [a:]
Der Quantitätenunterschied war bedeutungsunterscheidend, konstituierte also Phoneme. Es gibt nicht wenige Minimalpaare, also Wörter, die sich nur durch die Quantität eines Vokales unterschieden, z.B. pŏpulus ‘Volk’ ~ pōpulus ‘Pappel’, sŏlum ‘Sohle, Boden’ ~ sōlum ‘nur’, lĕvis ‘leicht’ ~ lēvis ‘glänzend’, ŏs ‘Knochen’ ~ ōs ‘Mund’, plăga ‘Fläche, Gegend’ ~ plāga ‘Schlag, Wunde’. Die Quantität spielte auch eine wesentliche morphologische Rolle: In der a-Deklination unterscheiden sich Nominativ und Ablativ Singular nur durch die Kürze bzw. Länge des unbetonten Auslaut-a (casă ‘Haus’ ~ casā ‘vom Haus’); vĕnit ist Präsens und heißt ‘er kommt’, vēnit ist Perfekt und heißt ‘er kam’. Die zeitgenössischen Sprecher hatten ein klares Empfinden für die Quantitäten, beruht doch beispielsweise die gesamte lateinische Metrik – nach griechischem Muster – auf der Unterscheidung von Längen und Kürzen. Die lateinische Orthographie unterschied allerdings Längen und Kürzen normalerweise nicht, wenn man von gelegentlicher Doppelschreibung von Vokalen und okkasioneller Setzung eines Apex über dem Vokal als Längenzeichen absieht. Man darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen, dass in den meisten Sprachen unterschiedliche Quantitäten mit unterschiedlichen Qualitäten gepaart zu sein pflegen. Das ist etwa im Deutschen der Fall, wo der Quantätsunterschied zwischen betten und beten oder zwischen offen und Ofen mit einem Qualitätsunterschied einhergeht: Der Kurzvokal wird offen, der Langvokal geschlossen gesprochen, also [bεtn] ~ [be:tn] und [ͻfn] ~ [o:fn]. Im Ungarischen ist es nicht anders: Die Langvokale é und ó sind geschlossen, die Kurzvokale e und o offen. So war es sicher auch im Lateinischen: Die Kurz- und Langvokale unterschieden sich außer in der Quantität auch in der Qualität, nämlich im Öffnungsgrad, wobei die Kürze offener und die Länge geschlossener gesprochen wurde. Wenn man also phonetisch ganz exakt sein will, muss man das soeben vorgestellte Vokaldreieck leicht modifizieren:
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Öffnungsgrad ↓
← Artikulationsort → Mitte
vorne
geschlossen
hinten
[ı] [i:]
[υ] [u:]
zentral
[ε] [e:]
[ͻ] [o:]
offen
[α] [a:]
Wenn man die Vokale des Lateinischen nicht in einem Vokaldreieck, sondern linear anordnet, erhält man folgendes Bild, bei dem die obere Reihe die in der Latinistik übliche Notierung mit einem Bogen über dem Vokal als Kürzenzeichen und mit einem waagerechten Strich über dem Vokal als Längenzeichen zeigt, die untere Reihe hingegen in der entsprechenden IPA-Notierung (International Phonetic Association) gehalten ist: ă [α]
ā [a:]
ĕ [ε]
ē [e:]
ĭ [ı]
ī [i:]
ŏ [ͻ]
ō [o:]
ŭ [υ]
ū [u:]
Im spätkaiserzeitlichen Latein begann man dann, mehr auf die Qualität als auf die Quantität der Vokale zu achten, was damit zusammenhängen muss, dass die langen Silben kürzer und die kurzen Silben länger ausgesprochen wurden, dass also mit anderen Worten alle Silben mehr oder weniger gleich lang ausgesprochen wurden. Das System der Längen und Kürzen brach zusammen, weswegen man auch vom Quantitätenkollaps zu sprechen pflegt. Der Verlust der Quantitätenunterscheidung hatte aber zunächst keine Einwirkung auf die Qualitäten, mit anderen Worten, das umgangssprachliche Latein wies weiterhin zehn Vokale auf, die sich folgendermaßen darboten: [α] [a]
[ε]
[e]
[ı]
[i]
[ͻ]
[o]
[υ]
[u:]
Natürlich waren die Unterschiede im Timbre teilweise zu geringfügung, um lange aufrecht zu bleiben, und wir müssen für die Periode des spätantiken Vulgärlateins Verschmelzungs- und Vereinfachungsprozesse ansetzen, die angesichts der zerfallenden Spracheinheit schon regionale Besonderheiten aufweisen. Die Verhältnisse in den heutigen romanischen Sprachen erlauben recht sichere Rekonstruktionen. Am einfachsten stellt sich die Entwicklung in S a r d i n i e n dar, wobei dasselbe System sicherlich auch in K o r s i k a und wahrscheinlich in A f r i k a gegolten hat. Hier ist einfach bei jedem Vokal die geschlossene
7. Die Aussprache des Lateinischen nach griechischen dokumentarischen Papyri
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(ehemals lange) Variante auf Kosten der geöffneten (ehemals kurzen) Variante zur Normalaussprache geworden, also: ă ā ↓ ↓ [α] [a] ↘ ↙ [a]
ĕ ↓ [ε] ↘
ē ↓ [e] ↙
ĭ ↓ [ı] ↘
[e]
ī ↓ [i] ↙
ŏ ↓ [ͻ] ↘
[i]
ō ↓ [o] ↙
ŭ ↓ [υ] ↘
[o]
ū ↓ [u] ↙ [u]
Auch überall sonst im gesprochenen Latein hat es Verschmelzungen gegeben, die aber im Gegensatz zum soeben behandelten Fall alle dadurch charakterisiert sind, dass ursprünglich unterschiedliche Vokale zusammengefallen sind. Der Vokalismus des Großteils der romanischen Idiome (a l l e r o m a n i s c h e n Sprachen mit Ausnahme des Sardischen und des R u m ä n i s c h e n ) geht auf ein vulgärlateinisches Vokalsystem zurück, das wegen seiner großen Verbreitung auch oft simplifizierend als “der vulgärlateinische Vokalismus” bezeichnet wird. Hier liegt ein phonetischer Verschmelzungsprozess vor, der das geschlossene (ehemals lange) [e] (< ē) und das offene (ehemals kurze) [ı] (< ĭ) in der Lautung [e] zusammenfallen ließ und gleichzeitig das geschlossene (ehemals lange) [o] (< ō) und das offene (ehemals kurze) [υ] (< ŭ) in [o] zusammenführte. Schematisch sieht das folgendermaßen aus: ă ↓ [α] ↘
ā ↓ [a:] ↙ [a]
ĕ ↓ [ε] ↓ [ε]
ē ↓ [e:] ↘
ĭ ↓ [ı] ↙ [e]
ī ↓ [i:] ↓ [i]
ŏ ↓ [ͻ] ↓ [ͻ]
ō ↓ [o:] ↘
ŭ ↓ [υ] ↙ [o]
ū ↓ [u:] ↓ [u]
Dieser “vulgärlateinische Haupttonvokalismus” ist sicherlich für die ungezwungene Aussprache des Lateinischen in der spätantiken Phase in Italien, Gallien, Hispanien anzusetzen. Eine Sonderform stellt die b a l k a n i s c h e L a t i n i t ä t dar, die im Rumänischen und in den lateinischen Elementen des Albanischen weiterlebt: Hier sind zwar wie im soeben dargestellten vulgärlateinischen Haupttonvokalismus [e:] und [ı] in [e] zusammengefallen, aber [ͻ] und [o:] einerseits und [υ] und [u:] andererseits haben wie im sardischen Vokalismus [o] bzw. [u] ergeben. In den Nebentonsilben ist von einer weiteren Nivellierung auszugehen: Das offene [ε] verschmolz mit dem geschlossenen [e] und das offene [ͻ] verschmolz mit dem geschlossenen [o]. Schematisch sieht das folgendermaßen aus: ă ↓ [α] ↘
ā ↓ [a:] ↙ [a]
ĕ ↓ [ε] ↘
ē ↓ [e:] ↓ [e]
ĭ ↓ [ı] ↙
ī ↓ [i:] ↓ [i]
ŏ ↓ [ͻ] ↘
ō ↓ [o:] ↓ [o]
ŭ ↓ [υ] ↙
ū ↓ [u:] ↓ [u]
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Wir finden nun bei der Betrachtung der in den griechischen dokumentarischen Papyri überlieferten lateinischen Wörter und Namen viele Gegebenheiten, die zu den soeben dargestellten Fakten aus der Geschichte des lateinisch-romanischen Vokalismus stimmen. Es handelt sich allerdings keineswegs um eine exklusive Besonderheit der Papyruszeugnisse, sondern wir finden dieselbe Behandlung der lateinischen Vokale auch in griechischen Inschriften (Dittenberger 1872) und in literarischen Belegen. ĕ in betonter Silbe Das klassische lateinische ĕ, das offen als [ε] gesprochen wurde und diese Lautung auch nach dem vulgärlateinischen Quantitätenkollaps beibehielt, wurde im Griechischen regelmäßig mit dem ebenfalls offen gesprochenen ε wiedergegeben: cĕlla > κέλλα (Daris 1991, 51 [1.–7. Jh.]), ĕmptiō > ἔµπτιον (P. Vars. 28, 2 [6. Jh.]), pĕrna > πέρνα (PSI VI 683, 33 [2. Jh.]). Fälle, in denen ĕ griechisch anders als mit [ε] wiedergegeben wird, müssen nicht lautlich, sondern wortgeschichtlich erklärt werden. So sind καλάνδαι (P. Hamb. I 39, BB 4; 73, 16; P. Oxy. XII 1466 [2.–3. Jh.]) bzw. die Ableitung καλανδικά (P. Masp. I 58; 3, 18; P. Oxy. XVI 1875, 11; 1869, 2/8; XXVII 2480, 1; PSI XIV 1428, 13 [6.–7. Jh.]), die die griechischen Entsprechungen von kalĕndae darstellen, die Fortsetzer einer altlateinischen Form kalandae, die im Rätoromanischen (oberengadinisch chalanda, surselvisch calonda, DRG 3, 191) und im Bretonischen (kalanna ‘Neujahrsgeschenk’) weiterlebt und also im gesprochenen Latein vorkam (Binder 2000, 218). Wenn in campĕstre als κάµπιστρον (SB XIV 11946, 19 [1. Jh.]; P. Münch. III 138, 2; P. Ryl. IV 627, 19 / 64 / 341 / 342 / 345 [4. Jh.]) ein ι an der Stelle des lateinischen ĕ vorliegt, so liegt das an der Analogie zu anderen griechischen Wörtern auf –ιστρον (Kretschmer / Locker 1963, 183). ē in betonter Silbe Das klassische ē wird durchweg mit η wiedergegeben, ohne dass die griechische Entwicklung, die die Aussprache des η von [e:] zu [i:] und dann zu [i] werden ließ, darauf prinzipiell einen Einfluss gehabt hätte. Es kommen dennoch einige Fälle von Iotazismus vor (z.B. Αὐρίλιος < Aurēlius, BGU I 286, 3 + BL I 36 [4. Jh.]; Σερῖνος < Serēnus, BGU I 103, 11 [6./7. Jh.]), die jedoch nur etwas über die Aussprache des Griechischen, nicht des Lateinischen, aussagen. ĭ in betonter Silbe Das klassische lateinische ĭ wird im Normalfall durch ι wiedergegeben: οὐιδίκτα < uĭndĭcta (BGU V 1210, 64 [2. Jh.]), σκρίνιον < scrĭnĭum (Daris 1991, 105 [2.–6. Jh.]), ἰµαγίνιφερ < ĭmāgĭnĭfer (Daris 1991, 47 [2.–4. Jh.]). Es gibt jedoch häufiger Fälle, in denen ĭ durch ε wiedergegeben wird. Geradezu regelmäßig ist die Wiedergabe von lĭntĕum durch λέντιον (SB XVI 121314, I 24 [2. Jh.]; P.Oxy. VI 929, 10 [2./3. Jh.]; PSI VIII 971, 18 [3./4. Jh.]; SB XVI 12694, 2/7 [3./4. Jh.], SB VIII 9746, 16 [4. Jh.]; O.Wilck. 1611, 1-5 [4. Jh.]). Der griechischen Form, die auch im Neuen Testament (Joh. 13, 4) und also bei den Kirchenschriftstellern vorkommt, liegt eine lateinische Form lenteum zu Grunde,
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die bei späten Autoren wie Oribasius (ThLL VII 2, 1466, 66-69) und auch inschriftlich belegt ist (CIL XIV 2215, 19); die romanischen Sprachen setzen teils lĭntĕum (it. lenza, sp. lienzo, usw.), teils lĕntĕum (altsard. lintha ‘Ackerstreifen’, südit. linza ‘Rand des Leinentuchs’) fort (REW 5072). Meistens ist prĭncĭpĭa regelrecht als πριγκίπια belegt (Daris 1991, 94 [1.–3. Jh.]), aber es gibt auch die Form πριγκέ[π]ια (SB V 8247, 10 [1. Jh.]; BGU I 140, 9 [2. Jh.]). Der Name Vergĭlius tritt schon im 1. Jh. als Οὐεργέλιος auf (P.Oxy. I 38, 1); für Dŏmĭtĭus ist die Form Δοµέτιος belegt (ChLA III 200, 30; P. Lips. I 86, 2; P. Stras. VI 557, 8; Δοµέτιος taucht auch in einer römerzeitlichen Inschrift vom Tempel von Kalabscha auf, SB I 4581, 3–4), wobei zu bemerken ist, dass im TLG „263 Belege Δοµετ- bei 43 Autoren gegen 164 Δοµιτ- bei nur 9 Autoren“ (Binder 2000, 134) auftauchen. Wie sind diese Fälle zu interpretieren? Sicherlich deutet die Wiedergabe des ĭ durch ε auf eine Ausspracheeigentümlichkeit des Lateinischen hin. Man muss wohl an die ersten Anzeichen des Zusammenfalls von ē und ĭ denken. Freilich gab es im 2. Jh. keine Möglichkeit mehr, mit den Mitteln des zeitgenössischen griechischen Alphabets ein geschlossenes [e] klar wiederzugeben. Die nächstliegende Möglichkeit war das offene [ε], das mit ε geschrieben wurde. Man konnte hierbei vielleicht sogar auf eine archaische und dann nur in der Volkssprache weiterlebende Lautung des Lateinischen schließen, die Cicero (de orat. 3, 12, 46) folgendermaßen umschreibt: „quare Cotta noster, cuius tu illa lata, Sulpici, nonnumquam imitaris, ut i litteram tollas et e plenissimum dicas, non mihi oratores antiquos, sed messores uidetur imitari“. Bis zum Zeitalter der Gracchen am Ende des 2. Jh. v. Chr. wurden e und i in der Schrift häufig verwechselt (Dittenberger 1872, 144); auf diesen Archaismus griffen C. Aurelius Cotta (124– 74 v. Chr.) und P. Sulpicius Rufus (124–88 v. Chr.) zurück, gerieten aber damit in die Gefahr, einen nur in der ländlichen Umgangssprache weiterlebenden Vulgarismus in ihre Reden aufzunehmen. Eine archaische und volkstümliche Variante des Lateinischen hat also offenbar ihren Niederschlag in den Latinismen des Griechischen Ägyptens gefunden. ō in betonter Silbe Regelrecht wird das klassische ō [o:] mit ω wiedergegeben: κῶδιξ < cōdex (Daris 1991, 64 [6.-8. Jh.]), λῶδιξ < lōdix (Daris 1991, 68 [1.–4. Jh.]), ἀµικτώριον < amictōrium (Lex. Lat. Lehn. 1, 72 [2.–4. Jh.). Daneben taucht häufiger o auf (z.B. ἀµικτόριον, SB VI 9238, 17 [2./3. Jh.), was jedoch nur auf die Quantitätenvernachlässigung im Griechischen zurückzuführen ist. Für die Aussprache des Lateinischen sind die Fälle interessant, in denen ō mit ου wiedergegeben wird: ἀδνοῦµεν < ad nōmen (P. Apoll. XXVII 3 [8. Jh.]), πατριµούνιον < patrimōnium (P. Amst. I 28, 4 [1. Jh.] βα-; P. Flor. III 320, 4 [3. Jh.]; P. Strasb. III 337, 4–5 [4. Jh.] πατρε-). Von ἀδνοῦµεν gibt es die innergriechische Ableitung ἀδνουµεύω ‘kontrollieren’ (P. Ross. IV 6, 12 [8. Jh.]); auch die korrekte Form πατριµώνιον ist häufig belegt (Daris 1991, 87–88). Im Griechischen der Römerzeit gab es nach dem weitgehenden Verlust der Quantitäten nur noch ein ο/ω, das sehr offen als [ͻ] gesprochen wurde, und ein als
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[u] gesprochenes ου, aber es gab kein geschlossenes [o]. Das lateinische ō mit seiner geschlossenen Aussprache wurde also normalerweise mit dem nächstliegenden griechischen Laut, dem offenen o-Laut, wiedergegeben, “aber gelegentlich wurde offensichtlich der ‘Abstand’ des lateinischen /ọ/ zu griechisch /u/ als geringer empfunden als der zu griechisch [o], was zu Schreibungen mit führte” (Binder 2000, 221). Die Schreibweise mit ου erklärt sich folglich daraus, dass das lateinische ō so geschlossen gesprochen wurde, dass es mit griechisch ου wiedergegeben werden konnte, welches in den Jahrhunderten nach Christus sicher als [u] ausgesprochen wurde, also als ein Laut, der noch geschlossener als [ͻ] war. ŭ in betonter Silbe Das Griechische hatte keinen Laut, der dem lateinischen kurzen ŭ ganz entsprechen würde. Man konnte nur “mit ungenauer Quantität ου oder mit ungenauer Qualität ο schreiben” (Dittenberger 1872, 282). Es gibt allerdings so etwas wie eine zeitliche Reihung: “Alle griechischen Inschriften, die nachweisbar vor dem Beginn unserer Zeitrechnung abgefasst sind, drücken ŭ in allen römischen Namen und Wörtern nicht durch ου, sondern durch Omikron aus” (Dittenberger 1872, 282), und erst in der Kaiserzeit setzt sich ου langsam durch, ohne jedoch ο völlig zu verdrängen; daneben tritt selten υ auf. Wir finden dementsprechend in den Papyri viele Beispiele, in denen ŭ mit ο wiedergegeben ist: κόκ(κ)οµα < cucuma (P. Amh. II 126, 30 = P. Sarap. 55, 30 [2. Jh.]; P. Hamb. I 10, 36 [2. Jh.]); ὀγκία < uncia (P. Oxy. XVI 1971, 6 [5./6. Jh.]; P. Flor. III 288, 6 [6. Jh.]; P. Lond. V 1730, 22 und 1731, 29 [6. Jh.] ὀγγία), Σεκόνδος < Secundus (BGU III 802, XII 12 und XIV 24 + BL I 68 [1. Jh.]; SB I 5886, 15 [1. Jh.]) und Σεκόνδα < Secunda (P. Oxy. II 294, 9 [1. Jh.]). Freilich findet sich noch öfter die Wiedergabe des ŭ durch ου: κούκκουµα (P. Isid. 137, 4 [3./4. Jh.]; P. Oxy. VIII 1160, 23 [3./4. Jh.]); οὐγκία (häufig, Gignac 1976, 220); Σεκοῦνδος (SB V 7600, 17 [1. Jh.]; P. Oxy. I 71, II 10 [4. Jh.]; P. Fouad 82, 4 [4./5. Jh.] Συκοῦνδ-). Auch υ kommt in einigen Wörtern vor, um ŭ wiederzugeben; das ist besonders bei κεντυρία < centŭria und κεντυρίων < centŭriō (Beispiele bei Daris 1991, 53) der Fall, obwohl es auch viele Belege für ου und ο gibt, und bei turma gibt es etwa gleich viele Zeugnisse für τύρµη und τούρµη (Gignac 1976, 222). Eindeutige Schlüsse auf den Lautstand des Lateinischen kann man aus den Gräzisierungen von Wörtern mit ŭ nicht ziehen, weil das Griechische keine genaue Lautentsprechung aufwies und sich mit approximativen Lösungen behelfen musste. In der republikanischen Zeit, als Kenntnisse des Griechischen sich erst allmählich bei der römischen Elite durchsetzten, erfolgten Entlehnungen „nach dem Gehör“, bei denen die o-Entsprechung vorherrschte. In der frühen Kaiserzeit lag die Gleichung ŭ = ου den Leuten besonders nahe, die beide Sprachen auf einem literarisch-grammatischen Niveau beherrschten. In der späteren Kaiserzeit könnte die o-Lautung für ŭ a u c h durch den Zusammenfall der Spätstufen von ō und ŭ, die den vulgärlateinischen Quantitätenkollaps kennzeichnet, gefördert worden sein. Jedoch bleibt Vorsicht geboten: ō und ŭ müssen jedenfalls dem Zusammenfall besser widerstanden haben als ē und ĭ, wie uns die
7. Die Aussprache des Lateinischen nach griechischen dokumentarischen Papyri
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aus dem Rumänischen und Albanischen zu rekonstruierende balkanische Latinität zeigt, in der ō und ŭ getrennt geblieben sind, ē und ĭ aber nicht. ĕ, ē, ĭ in unbetonter Silbe Indizien für den Zusammenfall von ĕ, ē , ĭ in unbetonter Silbe, wie er von der Entwicklung in den romanischen Sprachen plausibel gemacht wird, finden sich auch in den Papyri seit dem 4. Jh. Es gibt Beispiele für ĕ > ι (σινάτωρ < sĕnātor, BGU I 316, 8 [4. Jh.]), für ē > ι (σιµισάλιος < sēmissālis, P. Amh. II 148, 3 [5. Jh.]; ἰγκριµέντιον < incrēmentum, SB XIV 12215, 8 [4. Jh.] σὺν ἰνκριµεντίῳ ; P. Oxy. XVI 1908, 20; 23 [6./7. Jh.] ὑπὲρ ἰγκριµ() ) und für ĭ > ε (νοβελλίσιµος < nōbĭlĭssĭmus, SB VI 8986, 6 [7. Jh.]). Man kann aus den vergleichsweise häufigen Beispielen mit ι wohl nicht schließen, dass das Ergebnis des Zusammenfalls von ĕ, ē, ĭ in unbetonter Silbe meist [i] gewesen ist, sondern nur, dass die Unsicherheit über die Qualität des unbetonten hellen Vokals recht groß gewesen ist. ŏ, ō, ŭ in unbetonter Silbe Indizien für den Zusammenfall von ŏ, ō, ŭ in unbetonter Silbe lassen sich weniger leicht als für den Zusammenfall von ĕ, ē , ĭ finden, weil eben, wie oben gezeigt, dem Griechischen ein Laut fehlt, der dem lateinischen ŭ entsprechen würde. Immerhin sind aber auch hier Schreibungen wie ἀδνουτατίων < adnŏtātiō (P. Münch. I 14, 85 [6. Jh.]) oder κουηεµπτίων (sic) < coemptiō (BGU V 1210, 93 + BL 1, 444 [2. Jh.]) aufschlussreich. Halbvokale Das Lateinische wies zwei Halbvokale auf, die sich jedoch in der Orthographie normalerweise nicht niederschlugen: Ein i (inschriftlich I) im Wort- oder Silbenanlaut vor Vokal wurde als Frikativ, also als [j], realisiert, zwischenvokalisch war es als Doppel-[jj] zu lesen. Das u (inschriftlich V) wurde wie das w in englisch well oder water, also als [w], ausgesprochen, entwickelte sich aber spätestens seit dem 1. Jh. n. Chr. zum bilabialen Spiranten [β] und in der Spätantike zum labio-dentalen [v]. Edgar H. Sturtevant (1940, 147 und 143 = § 164 und 155) beschreibt diese Vorgänge folgendermaßen: “At any rate it is quite clear that in early and classical Latin consonantal i was similar to English y in yet and yoke, namely [j]. Between vowels consonantal i was long; it formed a diphthong with the preceding vowel, but was prolonged to begin the next syllable. [...] It is clear that in classical Latin consonantal u was similar to English w. The beginnings of a spirant pronunciation led to a confusion with b as early as the first century A.D. No doubt the sound at first was a bilabial spirant [β], but it has now yielded a labio-dental [v] in most of the Romance languages”. Im Griechischen hingegen gab es keine Halbvokale: Der mit dem Buchstaben ι wiedergegebene Vokal bewahrte in jeder Stellung seinen volle vokalische Realisierung als [i], und eine Entsprechung des lateinischen [w] existierte nicht. In den Papyri wurde das lateinische konsonantische i regelmäßig mit ι wiedergegeben: ἰουράτωρ < iūrātor (Daris 1991, 47 [3.–6. Jh.]), Ἰούλιος < Iūlius (passim), ἀδιούτωρ < adiūtor (Lex. Lat. Lehn. 1, 50-51 [2.–7. Jh.]). Komplizierter ist die Wiedergabe des konsonantischen u: Als Faustregel lässt sich aufstellen,
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dass die Griechen bis gegen Ende des 1. Jh. n. Chr. die Wiedergabe ου bevorzugten, dann aber immer öfter zu β ihre Zuflucht nahmen, ohne völlig auf die ουVariante zu verzichten, besonders bei den Wörtern nicht, bei denen man sich bereits an die ου -Schreibung gewöhnt hatte. Einige Beispiele: οὐεστιγάτωρ < uestīgātor (SB VI 9272, 7 [1./2. Jh.]), οὐικήσιµα < uīcēsima (BGU II 388 I 7 [2./3. Jh.]), οὐῆλον < uēlum (P.Oxy. XVII 2127, 10 und 2128, 8 [2. Jh.]), βέρβα < uerba (P. Münch. I 14, 71 [6. Jh.]), βέστα < uestis (P. Ryl. IV 639, 17 [4. Jh.]), βικήσιµον < uīcēsimum (P. Oxy. XVI 2022, 1. 2. 6 [6. Jh.]). Ein nachkonsonantisches unbetontes ĕ und ĭ vor folgendem Vokal mit großem Öffnungsgrad (a, o, u) wurde im Alltagslatein der Kaiserzeit halbvokalisch, etwa mit dem Lautwert [j], ausgesprochen (in der älteren Terminologie “Hiat-e”, “Hiati”). Die Annäherung des e an i in dieser Position ist bereits gelegentlich in frühen lateinischen Inschriften zu belegen, und in Pompei ist die gegenseitige Vertauschung von e und i in dieser Stellung ein häufiges Phänomen (Väänänen 1988, 95–96 = § 76). Auch die griechischen Papyri bieten insofern viele Beispiele für dieses Phänomen, als lateinisches nachkonsonantisches unbetontes ĕ vor a, o, u häufig mit ι wiedergegeben wird: βανιάτωρ < ba(l)nĕātor (SPP VIII 980, 6 [6. Jh.]; P. Apoll. 97 A 12 [8. Jh.] βανι()), βλάττιος < blattĕus (SPP XX 245, 10 + BL 9, 349 [6. Jh.]), γαλ(λ)ιάριος < galĕārius (SB XII 11256, 5 [2. Jh.]; P. Lips. I 40, II 10 [4./5. Jh.], ὅρριον < horrĕum (Daris 1991, 79 [3.–8. Jh.]), κοµµιᾶτος < commĕātus (Gignac 1976, 251 [1.–4. Jh.]). Freilich kann man nicht mit völliger Sicherheit sagen, dass das soeben dargestellte Phänomen tatsächlich eine Lauttendenz des Lateinischen widerspiegelt, denn ein “occasional interchange of the symbols representing /ε/ and /i/” (Gignac 1976, 249) ist auch im Griechischen gut bezeugt, so dass die ε-ι-Vertauschungen sowohl auf ein griechisches als auch auf ein lateinisches Phänomen zurückführbar wären. Wahrscheinlich hat Vera Binder (2000, 99) mit ihrer sprachsoziologischen Deutung Recht, dass “nur die volkssprachliche lateinische Form in die griechische Volkssprache” gelangt sein kann und so die Papyrusformen in der Tat vulgärlateinische Ausspracheformen belegen. Direkt vor einem folgenden betonten Vokal zeigte das mit u geschriebene [w] (“Hiat-u”) die Tendenz zum Verstummen. Auch dafür bieten die Papyri Beispiele: ἀκτάριος < act(u)ārius (Lex. Lat. Lehn. 1, 63–66 [1.-3. Jh.]), Φεβράριος < Febr(u)ārius (BGU I 326, II 18 [2. Jh.]; P. Flor. III 382, 8 [3. Jh.]; P. Thead. 32, 11 = P. Sak. 15, 11 [4. Jh.]). Die lateinischen Sprachpfleger haben gegen diesen Vulgarismus opponiert, und auch in den griechischen Papyri “beginnt die Form ἀκτουάριος sich ab dem 4. Jh. durchzusetzen und verdrängt schließlich ἀκτάριος. Das Schwanken zwischen –ουα– und –α– findet sich beispielsweise auch im Monatsnamen Φεβράριος / Φεβρουάριος: Φεβράριος ist die frühere Form, in spätbyzantinischer Zeit hat sich Φεβρουάριος durchgesetzt” (Lex. Lat. Lehn. 1, 65). Synkope der Nach- und Vortonsilbe Ein Charakteristikum des gesprochenen Lateins war es, dass bei den auf der drittletzten Silbe (Antepaenultima) betonten Wörtern die folgende Silbe, also die Paenultima, verstummen konnte. Dieser Ausfall des zuvor unbetonten Paen-
7. Die Aussprache des Lateinischen nach griechischen dokumentarischen Papyri
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ultima-Vokals, der zwischen Okklusiv (p/b, t/d, k/g) und Liquid (l) oder Nasal (m, n) bzw. zwischen Liquid oder Nasal und Okklusiv bzw. zwischen zwei Nasalen eintreten konnte, wird Synkope genannt. Beispiele für diese Synkope sind in den Latinismen des Griechischen sogar in noch größerer Zahl zu finden als in den eigentlichen lateinischen Zeugnissen, die hier stärker der Tradition verpflichtet waren. Hier einige Beispiele aus der großen Zahl von Belegen, die in vielen Fällen das Suffix –ŭlus, -ŭla, -ŭlum betreffen: ἀλίκλα < ālicŭla (SB VIII 9834 b, 10 [4. Jh.]), κεντοῦκλον < centŭcŭlum (P. Lond. IV 1414, 53.54.97 [8. Jh.]), κῶπλα (geschrieben κόπλα) < cōpŭla (P. Aberd. 70, 3 [2. Jh.]), λάγκλα < lancŭla (BGU III 781, V 18; VI 9 [1. Jh.]), λίγγλα < lingŭla (BGU III 781, VI 3.16 [1. Jh.] λίνγλα; P. Apoll. 88, 8 [8. Jh.] λίγ(λα)), µάτλα < matŭla (SB I 1160, 8 [1. Jh.]), σπέκλον < spĕcŭlum (P. Oxy. XVI 1921, 12 [7. Jh.]), στάβλον < stabŭlum (Daris 1991, 107 [3.–8. Jh.]), τάβλα < tabŭla (BGU IV 1079, 29 [1. Jh.]; BGU III 780, 15 [2. Jh.]; 847, 15 [2. Jh.]; P. Paris 18 b, 5 [2. Jh.]; SB I 4514 [2. Jh.]; P. Oxy. XL 2924, 6), δράγλη < trāgŭla (P. Lond. II 191, 12 [2. Jh.]). Synkope zwischen Nasalen ist belegt bei λᾶµνα < lāmina (P. Lond. I 124, 26 [4./5. Jh.]). Synkopen treten bei mindestens viersilbigen Wörtern auch vor dem Tonvokal auf. Die Beispiele sind natürlich seltener als bei der Nachtonsynkope, die äußeren Bedingungen waren aber wohl identisch. Am häufigsten sind wieder die Fälle, in denen Okklusiv und Liquid durch eine unbetonte Silbe getrennt waren: οὐετρανός < ueterānus (Daris 1991, 80 [1.–6. Jh.]), σκαπλάριον < scapulārium (P. Ryl. IV 713, verso 2 [4. Jh.]), φιβλατώριον < fībulātōrium (P. Oxy. VII 1051, 6. 11 [3. Jh.]). Es gibt aber auch ein Beispiel für die Synkope zwischen Sibilant und Okklusiv: ῥεποστώριον < repositōrium (P. Lugd. Bat. XIII 6, 9 [1. Jh.]). 3. Konsonantismus Leider zeigen sich im Konsonantismus weniger Indizien als im Vokalismus, die auf die volkstümliche Aussprache des Lateinischen hinweisen. Die verschiedenen Wiedergaben des konsonantischen u, müssen hier außer Betracht bleiben, weil hier lateinische und griechische Lautentwicklungen ein kaum auflösbares Amalgam eingegangen sind: “Wenn nun konstatiert wird, lat. werde im Griechischen zunächst mit , später (ca. seit dem 1. Jh.) mit wiedergegeben, so mag dies den Wandel von der bilabialen zur labiodentalen Spirans im Lateinischen wiederspiegeln; es ist aber auch möglich, hierin einen Reflex des griechischen Lautwandels zu sehen oder aber beides” (Binder 2000, 104). Auch die Fälle des Wechsels zwischen stimmhaften und stimmlosen Konsonanten (z. B. καλικάριος < caligārius, P. Genova I 24, II 16 [4. Jh.]; P. Ant. II 103, 4 [5. Jh.]; SB XVI 12838, 5 [5. Jh.]; P. Apoll. 38, 6 [8. Jh.]; βάδιλλος < batillus, P. Oxy. III 521, 13 [2. Jh.]) können hier nicht behandelt werden, weil dabei wahrscheinlich ein sprachlicher Einfluss des Ägyptischen vorliegt: “There was no phonemic distinction between voiced and voiceless stops in any dialect of Coptic” (Gignac 1976, 46). Wir finden in den Papyri ein Beispiel, das dafür spricht, dass c vor hellem Vokal als [kj] oder sogar schon als [t∫] ausgesprochen wurde: λαγχιάριος
[s] vereinfacht. In den Papyri findet man αὐσιλιάριος < auxiliārius (BGU I 316, 8). 4. Schlussfolgerungen Überschätzen darf man die griechischen Indizien nicht: Wir erfahren aus ihnen nichts, was wir nicht auch schon aus lateinischen Quellen wüssten. Andererseits erweitern die griechischen Angaben unser Belegmaterial durch Aufzeichnungen, die direkt, ohne Umweg über mittelalterliche Handschriften, aus der Antike stammen. Das Papyrusmaterial stützt jedenfalls die inschriftlichen und literarischen Testimonien, die Vera Binder (2000) zusammengetragen und interpretiert hat.
8. Die Verwendung des Apex im P. Vindob. L 1c = ChLA XLIII 1241c Abstract: Quintilianus argued that the graphical marking of all long vowels of a word is ineptissimum, but P. Vindob. L 1c proves that at least some texts did indeed put an apex on every long vowel. Keywords: Apex, vowel quantity
Obwohl bekanntlich im Lateinischen die Quantität der Vokale bedeutungsunterscheidende Funktion hatte (lĭber ‘Buch’ / līber ‘frei’, lĕgit ‘er liest’ / lēgit ‘er las’, puellă ‘das Mädchen’ / puellā ‘durch das Mädchen’), wurde dieser Unterschied in der Schrift normalerweise nicht gekennzeichent. Aufmerksame Römer scheinen die fehlende orthographische Differenzierung zwischen vokalischen Längen und Kürzen immer wieder als einen Mangel empfunden zu haben, denn man trifft zu verschiedenen Epochen der lateinischen Schriftgeschichte auf unterschiedliche Versuche, Abhilfe zu schaffen (vgl. Leumann 1977, 12–14 = § 11 – § 14). So schrieb man (zwischen 135 und 75 v. Chr. häufig, später nur noch sporadisch) wohl nach oskischem Vorbild lange Zeit doppelt (aara, faatum usw.), oder man behielt die ältere Diphthongschreibung bei, um die Länge der Monophthonge, die man inzwischen sprach, anzudeuten (oenus = ūnus, eira = īra). Auch der alte, wohl noch aus voraugusteischer Zeit stammende lateinische Papyrusbrief CPL 246 (= P. Berl. Lat. inv. 13956) bietet mehrere Beispiele der Schreibung ei für ī. Die häufigste Vorgehensweise, einen Langvokal anzudeuten, ist aber die Verwendung eines diakritischen Zeichens, des sogenannten Apex. Der Apex verdankt seinen ursprünglich vielleicht im Schülerjargon entstandenen Namen1 der Tatsache, “that it was a distinguishing mark placed on the head of a letter just as an apex was placed on the head of a flamen to distinguish him from lesser priests and the laity” (Oliver 1966, 138). Dieser ‘hohe Hut’ steht in der Mitte oder etwas nach rechts verschoben über einem Vokalbuchstaben. Es handelt sich um einen Strich, der fast nie senkrecht, sondern normalerweise rechtsgeneigt ist, also unserem Akut entspricht, auf Inschriften häufig mit einer _________ 1
Vgl. deutsche Namen wie Gänsefüßchen oder Tüttelchen für ‘Anführungszeichen’, französisch toît für den ‘Zirkumflex’ usw. Einen anderen Ausdruck für apex findet man allerdings im Lateinischen nicht, und schon beim ersten uns greifbaren Auftreten des Wortes (bei Quintilian 1, 4, 10; 1, 5, 23; 1, 7, 2) hat man den Eindruck, dass es sich um einen geläufigen Fachterminus und nicht um eine scherzhafte Bildung handelt. Auch die Bezeichnung sicilicus ‘kleine Sichel’ als Namen des Zeichens, das bei Konsonanten Verdoppelung anzeigte, klingt nach Schülerjargon. Der offizielle Name mag nota geminationis o. ä. gewesen sein (so Oliver 1966, 156), aber überliefert ist er nicht.
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Linksrundung. “As a generalization, it is safe to say that most apices are more or less curved, vary in length from about half the height of a letter to more than the height of a letter, and are displaced towards the right of the vowel they modify” (Oliver 1966, 149). Für Papyri gilt das jedoch nicht: Der Apex ist stets ein mehr oder weniger nach rechts geneigter, in fast allen Fällen gerader Strich. Auf das i pflegte man keinen Apex zu setzen, sondern man schrieb statt dessen die sogenannte i longa. Möglicherweise findet sich bereits bei Plautus eine Anspielung (Aul. 76–78): neque quicquam meliust mihi, ut opinor, quam ex me ut unam faciam litteram longm, <meum> laqueo collum quando obstrinxero.
nichts ist für mich besser, wie ich meine, als dass ich aus mir einen langen Buchstaben mache, wenn ich mir den Hals durch einen Strick zuschnüre.
Das früheste datierbare Dokument, in dem ein Apex vorkommt, ist eine Inschrift aus Capua aus dem Jahre 104 v. Chr., in der múrum vorkommt (CIL I2 679, 7 = X 3780, 7 = ILS 3341). Seit Sulla wird die i longa häufiger. In den Inschriften der letzten Jahrzehnte der Republik und in den ersten beiden Jahrhunderten des Prinzipats ist der Apex ein immer wieder auftauchendes Zeichen. Danach gibt es ihn nur noch selten. In der Kaiserzeit verlor dieser Buchstabe, der deutlich oben und meist auch unten über die Zeile herausragt, teilweise die Funktion, Vokallänge anzugeben, und er wurde “vereinzelt für beliebiges i gebraucht” (Leumann 1977, 13 = § 13), vor allem am Wortanfang und zwischen Vokalen. In den Papyri sieht die i longa, die meist eine Linksschleife über und unter der Zeilenhöhe aufweist2, ganz anders aus als der kurze Strich des “normalen” i. Die i longa kommt länger vor als in den Inschriften: Sie kommt durchaus noch in Zeugnissen vor, die auf das 2. und 3. Jahrhundert datiert werden (CPL 64; 65; 257; 258) oder aus dem 3. Jahrhundert stammen (CPL 140; 276; 318), wobei die Apex-Setzung auf dem Dativ-o der Adresse (CPL 260; 261) durchaus Reliktcharakter hat und an das ι adscriptum in griechischen Adressen erinnert. In dichterischen Texten erscheint vom 5. Jh. an ein Zeichen, das wie ein Apex aussieht, aber eindeutig ein Tonstellen-Akzent ist, was man schon daran sehen kann, dass daneben ein waagerechter Strich über Vokalen als Längenzeichen verwendet wird (z. B. Vergil, CPL 5; 8; 11); ein Juvenal-Text aus dem 6. Jh. (CPL 37) hat sogar “griechische” Akzentuierung mit Akut- und GravisUnterscheidung (Roberts 1935, 300). Alle römischen Grammatiker seit Quintilian, die den Apex erwähnen, geben als Grundregel an, dass man keineswegs alle Langvokale mit diesem Zeichen versehen dürfe, sondern dass sein Gebrauch auf die Fälle zu beschränken sei, in denen nur die Vokalquantität eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Wörtern oder Formen ermögliche. Quintilian drückt das folgendermaßen aus (1, 7, 2): _________ 2 van Hoesen 1915, 33: “going above and below the line, finished with round or angular hooks; the hook left at top links to precedent letter”.
8. Die Verwendung des Apex im P. Vindob. L 1c = ChLA XLIII 1241c
longis syllabis omnibus adponere apicem ineptissimum est, quae plurimae natura ipsa uerbi, quod scribitur, patent, sed interim necessarium, cum eadem littera alium atque alium intellectum, prout correpta uel producta est, facit, ut malus ‘arborem’ significet an ‘hominem non bonum’ apice distinguitur, palus aliud priore syllaba longa, aliud sequenti significat, et cum eadem littera nominatiuo casu breuis, ablatiuo longa est, utrum sequatur, plerumque hac nota monendi sumus.
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Auf allen lange Silben den Apex zu setzen, ist ganz dumm, weil die meisten (Längen) durch die Natur des Wortes, das man schreibt, klar sind, aber ist es nötig, wenn derselbe Buchstabe einen anderen Sinn erzeugt, je nachdem, ob er lang oder ob er kurz ist, so wie bei malus durch den Apex zwischen einem ‘Baum’ oder einem ‘nicht guten Menschen’ unterschieden wird, und wie palus etwas anderes, ‘Pfahl’, mit langer erster Silbe als mit langer zweiter Silbe, ‘Sumpf’, bedeutet; wenn derselbe Buchstabe im Nominativ kurz, im Ablativ lang ist, müssen wir meistens durch das Apexzeichen darauf hingewiesen werden, was gemeint ist.
Diese einfache und wirklich sehr einleuchtende Grammatikerregel hat allerdings einen Nachteil: Es scheint sie niemals jemand befolgt zu haben. Wenn Apices verwendet werden, dann sind einige wenige Langvokale mit ihnen versehen, die meisten aber nicht, ohne dass es einen erkennbaren sprachlichen Grund für die Verteilung gäbe3 – auf gar keinen Fall spielt die Wort- und Formenunterscheidung eine wichtige Rolle. Pierre Flobert (1990, 107) kam anhand einer Auswahl von Inschriften aus der frühen Prinzipatszeit zu folgendem Schluss: “La notation est très clairsemée: jamais plus de la moitié des longues, parfois beaucoup moins de 20%”. Kein Wunder, dass die modernen Schrift- und Sprachhistoriker dieser Situation gegenüber ziemlich ratlos sind: Man nimmt zu gewagten Spekulationen wie uns nicht mehr greifbaren subtilen Aussprachedifferenzierungen (Oliver 1966, 137– 138) oder traditionellem Anschluss der Apices an das Schriftbild bestimmter Wörter Zuflucht4. Das Problem würde sich relativ einfach lösen, wenn man nachweisen könnte, dass es ursprünglich ein System gab, in dem wirklich a l l e Vokallängen durch Apices gekennzeichnet wurden. Es liegt in der Natur eines diakritischen Zeichens, dass man es leicht beim Schreiben weglässt, und so könnte sich als Gebrauchs_________ 3 In den Vindolanda-Papyri tauchen 60 Apices auf Langvokalen auf, dazu immerhin etwa 15 über Kurzvokalen. Die Endposition im Wort scheint die Setzung des Apex gefördert zu haben: “As fort he apices which are not on final vowels, we find that in most cases the apex is on the vowel which bears the stress accent” (Bowman / Thomas 1994, 60). 4 Flobert 1990, 107: “On peut alors penser à une image graphique des mots usuels et importants, à une tradition orthographique de type presque ‘hieroglyphique’”. Gegen diese Annahme spricht schon die Tatsache, dass in demselben Dokument dasselbe Wort mal mit, mal ohne Apex geschrieben wird: So bietet CIL XIII 1810 = ILS 1389 die Form prōcūrātōrī in folgenden Varianten: procuratori (Z. 5, 6), procurátori (Z. 3), procuratóri (Z. 8), procurátóri (Z. 7).
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regel herausgebildet haben, dass die Längenbezeichnung durch den Apex als fakultativ aufgefasst wurde, dass es jedoch von Schreibkultur zeuge, wenn man den Apex überhaupt ab und zu verwendet. In einen solchen Zusammenhang würde auch die Grammatikerregel passen, die Quintilian anführt: Die Bezeichnung a l l e r Längen wäre eine aufdringliche Marotte, ineptissimum, aber kein guter Schulmeister kann natürlich auf ein vorhandenes Zeichen völlig verzichten oder seine Verwendung ganz und gar der Lust und Laune anheimgeben – also soll der Apex nur auftauchen, wenn Minimalpaare zu unterscheiden sind. Dass diese schöne Regel genauso wenig befolgt wurde wie die Kennzeichnung aller Längen, lag einfach daran, dass sie zu spät kam: Der Apexgebrauch stand im 1. Jh. n. Chr. auf dem Aussterbeetat. Um die hier skizzierte Entwicklung wahrscheinlich zu machen, benötigt man dringend Zeugnisse, die dem Postulat einer möglichst durchgängigen Kennzeichnung aller Langvokale durch Apices nahekommen. Genau daran scheint es aber bisher zu fehlen, wie R. P. Oliver (1966, 133) klar schreibt: „If we are justified in inferring that what Quintilian stigmatizes as inept, the marking of all long vowels, was a rule or practise followed by some writers of Latin, all specimens of their work have also perished. There is no Latin inscription or other document of more than a few words in which all the long vowels are marked”. Nun ist das Fehlen von Dokumenten mit durchgängiger Längenkennzeichnung im inschriftlichen Bereich nicht allzu verwunderlich, denn der Apex ist ja ein eher für Handschrift typisches Zeichen, das zur epigraphischen Monumentalität nicht besonders gut passt (auch auf französischen Prachtinschriften werden keine accents geschrieben, ebenso wenig auf Majuskeln). Man wird also eher bei den (leider wenigen) frühen lateinischen Papyri fündig werden. Jede einschlägige Untersuchung setzt freilich voraus, dass die Ausgaben den meist nicht besonders gut erkennbaren Apices volle Aufmerksamkeit geschenkt haben, was leider nicht immer der Fall ist, denn die Editoren hatten normalerweise ganz andere Interessen. Bei einem der bekanntesten frühen lateinischen Papyri, der von seinem Erstherausgeber Karl Wessely gern „das älteste lateinische Schriftstück“ genannt wurde, hat eine erneute Kollation (Kramer 1991, 146; 2007, 42–44) die ApexVerwendung in ein neues Licht gerückt. Es handelt sich um einen in Wien aufbewahrten Papyrusbrief (SB XX 15139 = ChLA XLIII 1241c) aus dem Freigelassenenmilieu, in dem der Briefschreiber namens Diaconus seinen Freund Macedo davon in Kenntnis setzt, dass dieser vom Freigelassenen des Domitius bei Iucundus und Dido sowie bei seinem Mitfreigelassenen Nireus angeschwärzt worden sei. Man muss darauf hinweisen, dass dieser Brief ein privates Schreiben ist, das über jeden Verdacht auf literarische Aspirationen erhaben ist. Der Brief ist zeitlich einigermaßen klar einzuordnen5: In der Datierung (Z. 16) liest man, dass er nach römischer Tageszählung am 14. Tag vor den Kalenden des August, d. h. am 19. Juli, nach ägyptischer Zählung am 27. Epeiph geschrieben _________ 5 Die Einzelheiten der komplizierten Beweisführung können hier nicht wiederholt werden, vgl. Kramer 1991, 144–145; Hagedorn 1994.
8. Die Verwendung des Apex im P. Vindob. L 1c = ChLA XLIII 1241c
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wurde. Normalerweise würde der 12. Tag vor den Kalenden des August dem 27. Epeiph entsprechen. Allerdings kam es bei der Handhabung des neuen Kalenders nach Cäsars Tod zu einem Rechenfehler: Die Pontifices riefen nicht, wie vorgesehen, jedes vierte Jahr, sondern jedes dritte Jahr ein Schaltjahr aus, so dass man in den Jahren zwischen 42 v. Chr. und 3 n. Chr. auf Grund dieser Anomalie ein, zwei oder drei Tage zu den angegebenen Daten hinzurechnen muss (Kramer 1991, 145). Zudem muss man bedenken, dass der Monat Sextilis seinen neuen Namen Augustus erst seit 8 v. Chr. trug. Nach diesem Zeitpunkt tritt der Fall, dass zum Dokumentdatum zwei Tage hinzuzurechnen sind, nur in den Jahren 5 bis 2 v. Chr. auf, so dass “für die Abfassung des Papyrus de facto nur die Jahre 5–2 v. Chr. in Betracht” kommen können (Hagedorn 1994, 214). Dieser Brief aus den Jahren kurz vor der Zeitenwende bietet sich nach einer Neukollation (vgl. die Abbildung ChLA XLIII 1241c [S. 17]) folgendermaßen dar6: 1 [Di]aconu[s] MacedonI suó salútem · dissimuláre · nón potuI · ut · tibI 4 nón scrIberem · té · ualdissimé décrIminátum · aput · Iucundum et · DIdom · á · DomItiI · l · itaque
[Di]aconu[s] Macedonī suó salūtem. dissimulāre nōn potuī, ut tibī nōn scrīberem tē ualdissimē dēcrīminātum aput Iūcundum et Dīdom a Domītiī l(ībertō). itaque, mI · fráter · dá · operam · ut mī frāter, dā operam, ut 8 ualenter · satisfaciás · illIs ualenter satisfaciās illīs. NIreó quoque · conlIbertó · suó · multa Nīreō quoque, conlībertō suō, multa sc[e]lera · dé té · scrIpsit · quI · ut · sc[e]lera dē tē scrīpsit, quī, ut suspicor · crédidit · eI · et · té · nón · mediocriter suspicor, crēdidit eī et tē nōn mediocriter 12 lacerat · contubernálés · meI · té lacerat. contubernālēs meī tē salútant · tú · tuos · salútes · rogó salūtant; tū tuōs salūtēs, rogō. amá · nós · ut instituistI · amā nōs, ut īnstituistī. uale uale. 16 XIIII · K · August · Επειφ κζ XIIII K(alendas) August(as). Επειφ κζ Übersetzung Diaconus grüßt seinen Macedo. Ich kann es nicht vermeiden, Dir zu schreiben, dass Du kräftig angeschwärzt wirst bei Iucundus und Dido vom Freigelassenen des Domitius. Deshalb, mein Kamerad, gib Dir Mühe, Dich bei Ihnen zu rechtfertigen. Er hat auch dem Nireus, seinem Mitfreigelassenen, viele üble Dinge _________ 6 Die Übersicht über frühere Ausgaben seit der Erstausgabe von Karl Wessely (1898, 6 = Tafel I) sind hier weggelassen (Kramer 2007, 39–40), ebenso der kritische Apparat mit den älteren Lesungen (Kramer 1991, 146–148).
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über Dich geschrieben. Der hat ihm, wie ich annehme, gelaubt, und er lästert über Dich nicht wenig. Meine Kameraden grüßen Dich. Grüße Du die Deinigen, bitte. Liebe uns, wie Du es immer getan hast. Lebe wohl! 19. Juli = 27. Epeiph. Es dürfte offenkundig sein, dass in diesem Brief das versucht wurde, was Quintilian als “ineptissimum” brandmarkte und was man lange für unbelegt hielt (Oliver 1966, 133), nämlich die Kennzeichnung aller Langvokale durch den Apex bzw. im Falle des i durch die i longa. Die Längenbezeichnung beim ersten i von Domítií ist nicht richtig (Serv. Aen. 1, 451: paenultima breuis est), aber die Schreibung mit í bzw. I ist auch inschriftlich belegt (ThLL Onom. II 218, 13–15), und einige griechische Schreibungen (wie Δομείτιος oder Δομήτιος, ThLL Onom. II 217, 77–81) lassen ebenfalls auf eine lange Aussprache des Vokals schließen. Eine weitere Besonderheit ist darin zu sehen, dass die Vokallängung, die durch die folgende Konsonantenverbindung ausgelöst wird, in der ersten Silbe von instituistí nicht angezeigt wird. Es ist offenbar die Absicht des Schreibers gewesen, alle Langvokale durch Apex-Setzung zu kennzeichnen. Es kann eigentlich nicht sein, dass dieser Wiener Papyrus einen Einzelfall darstellt, der in seiner Zeit keine Parallele gehabt hätte. Wir müssen vielmehr davon ausgehen, dass es in der spätrepublikanischen und frühaugusteischen Zeit eine Möglichkeit7 war, beim korrekten Schreiben alle Langvokale durch Apex-Setzung zu kennzeichnen. Man darf nicht vergessen, dass wir aus dieser Epoche überhaupt nur sehr wenige lateinische Papyri besitzen – Ägypten ist ja erst 30 v. Chr. römisch geworden. Zudem sind die Ausgaben bei der Identifizierung der Apices unzuverlässig. Immerhin lässt sich auch an den vorhandenen Ausgaben sehen, dass es mehrere Papyri gibt, die eine so extensive Apex-Verwendung zeigen, dass man daran denken muss, dass es vielleicht die Absicht der Schreiber war, alle Langvokale zu kennzeichnen: Zu erinnern sei etwa an das Cicero-Fragment aus dem Jahre 20 v. Chr. (CPL 20), und auch in dem Empfehlungsbrief CPL 257, der ins 2. Jh. n. Chr. zu datieren ist, sieht es so aus, als habe der Schreiber alle Längen markieren wollen – es gelang ihm aber nicht recht. Zumindest der Wiener Papyrus beweist aber eindeutig, dass es die Gewohnheit, a l l e Längen mit einem Apex (bzw. einer i longa) zu markieren, worüber die Grammatiker sich mokieren, einmal – als persönliche Eigenheit einiger Schreiber – gab. Damit wird nun der Entwicklungsgang viel klarer, als er werden kann, wenn man nur auf die epigraphischen Zeugnisse blickt, die einem so typisch schreibschriftlichen Zeichen gegenüber immer Zurückhaltung üben mussten. Man wird davon ausgehen dürfen, dass die Verwendung von Apex und i longa einer der Versuche war, die lateinische Schrift besser als zuvor der lateinischen Lautung anzupassen. In denselben Kontext gehört beispielsweise die Einführung des G, das sich auch nur durch ein “diakritisches Zeichen”, nämlich den zu_________ 7 Mehr als eine Möglichkeit war die konsequente Apex-Setzung aber auch nicht: Der in der zusammengeklebten Wiener Papyrusrolle links neben dem hier behandelten Papyrus stehende und also ungefähr zeitgleiche Privatbrief (ChLA 1241b) weist überhaupt keine Apices auf.
8. Die Verwendung des Apex im P. Vindob. L 1c = ChLA XLIII 1241c
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sätzlichen Querstrich, vom C unterscheidet8, oder die Doppelschreibung von Konsonanten nach griechischem Vorbild9. Der Versuch der Längen- und Kürzenunterscheidung bei den Vokalen kam aber anscheinend zu spät, denn er fand in einer Situation statt, in der die Schreibgewohnheiten schon recht fixiert waren. So sahen wohl die meisten Schreiber von Anfang an den Apex als ein fakultatives Zeichen an, dessen Verwendung allerdings von Schreibfertigkeit zeugte, so dass man seinem eigenen Bildungsstand ein gutes Zeugnis ausstellte, wenn man fleißig vom Apex Gebrauch machte. Hierzu passt es nun gut, dass gerade in dem Wiener Brief, der trotz aller Anklänge an die Umgangssprache in sehr korrektem Latein abgefasst ist und auch eine korrekte Verwendung der Worttrennungspunkte aufweist10, durchgängiger Apex-Gebrauch auftaucht: Ein Freigelassener – bzw. der Berufsschreiber, den er beauftragt hat – zeigt, dass er die Finessen des Lateinschreibens gut beherrscht. Die meisten Schreiber (und natürlich besonders die Steinmetzen) neigten allerdings dazu, nur mehr oder weniger sporadisch einen Apex zu setzen, besonders an auffälligen Stellen wie am Wortende. Quintilian versuchte dann im ersten Jahrhundert, den Apex aus seiner Stellung als Zierrat und Bildungsindiz zu befreien, indem er seine Verwendung auf die verhältnismäßig wenigen Fälle beschränken wollte, in denen Länge oder Kürze des Vokals bedeutungsunterscheidende Wirkung hat. Die späteren Grammatiker folgten in der Formulierung der Regeln seiner Autorität, aber in der Realität hielt sich niemand daran: Der Apex wurde zum Zierrat, bis er dann schließlich angesichts seiner tatsächlichen Funktionslosigkeit aufgegeben wurde. Ob diese Aufgabe im Zusammenhang mit dem Aufkommen der optisch sowieso genauso aussehenden Akzente zur Kennzeichnung der Betonung zu sehen ist, dürfte schwer zu beweisen sein, ist aber denkbar.
_________ 8 Die Erfindung des G wird dem Sp. Carvilius, einem Freigelassenen des Sp. Carvilius Maximus Ruga (Konsul 234 v. Chr.) zugeschrieben (Plut. quaest. Rom. 54 = 277D; Ter. Scaur. VII 15 Keil). 9 Fest. p. 412, 27: nulla tunc geminabatur littera in scribendo, quam consuetudinem Ennius mutauisse fertur, utpote Graecus Graeco more usus. 10 “It is well known that the Romans punctuated their writing under the early Empire by the use of a medial point between words (interpunct); it is also well known that they came to abandon this practice. In inscriptions it is still found in use, though rarely, into the third century. In firstcentury papyri, both literary and documentary, it is often found, sometimes used regularly but more often only used here and there” (Bowman / Thomas 1994, 56). Vgl. auch Marichal 1992, 41: “L’interponction régulière n’a pas survécu au IIe siècle; dans les documents, le dernier interponctué daté des ChLA est actuellement ChLA V, no. 278 de A. D. 110”. In den Inschriften gab es Interpunktion noch im 2. und 3. Jh.; sie wird erst im 4. Jh. ganz ungewöhnlich (ChLA XI 493).
9. Zur Akzentuierung der Latinismen des Griechischen: Von der “lex Wackernagel” zur “lex Clarysse” Abstract: In accordance with “Wackernagel’s law”, supported by Stephan Radt, Greek Latinisms should be accentuated according to Latin rules. Modern Greek evidence, however, proves that Greek accent rules apply to Latinisms, too. Clarysse’s law that Greek accents of Egyptian elements depend on the rules of Greek, must be valid also for Latin elements. The rules of Greek accentuation apply to all foreign words, therefore to Latinisms, too. Keywords: Greek Latinisms, accentuation, stress, pitch
1. Die “lex Wackernagel” und ihre modernen Anwendungen Willy Clarysse (1997) ist ausführlich der Frage nachgegangen, wie die ägyptischen Namen, die in griechischen Schriftdenkmälern vorkommen, zu akzentuieren seien. Einer seiner Bezugspunkte war verständlicherweise die Akzentuierung der lateinischen Elemente des Griechischen, weil wir für das Griechische wie für das Lateinische einigermaßen gut über die Betonungsgesetzmäßigkeiten informiert sind. Für die Akzentuierung der Latinismen des Griechischen gibt es eine alte Regel, die in den zwanziger Jahren eher beiläufig von Jacob Wackernagel formuliert wurde (1926, 57 = 1969, II 1197): Die Griechen [---] haben die übernommenen lateinischen Wörter in der Regel auf der gleichen Silbe betont wie die Römer selbst. Natürlich bei Wörtern mit kurzer Pänultima und langer Schlußsilbe, die im Latein den Ton auf der Antepänultima haben, mußten sie den Ton notgedrungen um eine Silbe verschieben, z. B. κεντυρίων, ἀκύλων, Πολλίων, sowie in solchen wie Δελµατία, κουστωδία, wo es selbstverständlich war, lateinisch –iă durch -ίᾱ zu ersetzen. Wie weit und warum in gewissen Fällen der Akzent noch über dessen Stelle im Latein hinaus zurückgezogen wurde, will ich nicht im einzelnen untersuchen; die häufige Entsprechung zwischen proparoxytonem Nominativ und Akkusativ und paroxytonem Genitiv und Dativ in den Nomina der II. Deklination (z. B. πλούσιος, -ον: πλουσίου, -ῳ) konnte, wie dies tatsächlich im Griechischen der Fall war, auch in lateinischen Wörtern Proparoxytonese herbeiführen. Jedenfalls von der Barytonese wurde nur in Ausnahmefällen abgewichen. So bei λεγεών, λεγίων, sei es vom Plural legiones aus, sei es, weil das Wort an griechische Substantiva auf -ών erinnerte. Ebenso wie -ών in Stadtnamen wie Κορβιών: Corbio. Fast selbstverstänlich ist –ικός für –icus, z. B. in Σαβελλικός: Sabellicus sowie in Γραικός. Auffällig ist gegenüber den dem lateinischen
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Vorbilde genau folgenden auf –ᾶτος, z. B. γουττᾶτος, daß alle lateinischen Nomina auf –ānus, –ēnus in griechischer Wiedergabe oxytoniert sind: Καµπανός, Νωλανός, Καληνός, Καισαριανός, ebenso natürlich ihre griechischen Nachformungen wie Χριστιανός, Ἡρῳδιανός. Aber diese Oxytonese hat ihren guten Grund. Bei den Ethnika auswärtiger Völker hielten sich die Griechen gern an deren einheimische Form; daher haben sie die sizilischen und unteritalischen wie Ἀκραγαντῖνος, Ταραντῖνος properispomeniert. Wenn sie die ebenfalls ein ν in der Endung enthaltenden kleinasiatischen auf –ανος, -ηνος durchaus oxytonierten, also Σαρδιανός, Κυζικηνός sowie auch Τυρρηνός sagten, so ist dies gewiß einheimisch kleinasiatischem Gebrauch entsprungen. Dieser Typus war sehr früh im Griechischen eingebürgert, lange bevor man die italischen Ethnika und sonstigen Ableitungen auf –anus, –enus kennen lernte; kein Wunder, daß man ihn nun auch für diese maßgebend sein ließ und –ανός, –ηνός durchführte, obwohl der italische Brauch –ᾶνος, –ῆνος gefordert hätte. Diese “lex Wackernagel” besagt also, dass die lateinische Betonung im Griechischen nachgemacht wurde, sofern nicht eine lange Schlußsilbe Akzentrückziehung verlangte und nicht eine Analogie zu eingebürgerten griechischen Formen (-ιών, -ικός, -ανός, -ηνός) vorlag; hinzu kommt eine nicht näher definierte Gruppe von “einzelnen” griechischen Proparoxytona für lateinische Paroxytona. In der heute maßgebenden griechischen Grammatik wurde das dann zu folgender Gesetzmäßigkeit zusammengefasst (Schwyzer 1953, 395): Im allgemeinen wird die fremde Akzentstelle, soweit sie bekannt und im Griechischen möglich ist, beibehalten. [---] Nötige Anpassungen sind κεντυρίων für lat. centurio u. ä.; nahe lagen auch κουστωδία für lat. custódia u. ä.; λεγεών, Κορβιών für lat. légio, Córbio u. ä., –ικός für lat. –icus; für lateinisch –ānus, –ēnus sind –ανός, -ηνός eingetreten in Anlehnung an (kleinasiat.) –ηνός. Von ihrem Ausbildungsgang her sind Papyrologen und Epigraphiker normalerweise cultores utriusque linguae, und so ist es nicht erstaunlich, dass sie, die ja ihre Texteditionen durchakzentuieren, obwohl die zu edierenden Stücke keine Akzente aufweisen, bislang die treuesten Anhänger der “lex Wackernagel” waren. Schon Friedrich Preisigke hat die in seinem Wörterbuch vorkommenden Latinismen weitgehend nach den lateinischen Regeln akzentuiert (κωδικίλλος, λιβέλλος, µαγίστρος, πραιφέκτος), und die nachfolgenden Generationen sind ihm darin gefolgt, freilich normalerweise, ohne sich über ihre Vorgehensweise Rechenschaft zu geben: Es gibt keine eigene Abhandlung über die Betonung der lateinischen Elemente des Griechischen. Aber auch die Herausgeber literarischer Werke haben lateinische Wörter meistens à la latine akzentuiert, nicht selten übrigens gegen das einhellige Zeugnis der Handschriften. Von einem erfahrenen Texteditor, Stephan Radt, der uns zwischen 2002 und 2009 eine neue kommentierte Strabonausgabe mit deutscher Übersetzung ge-
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schenkt hat, kommt dann auch eine kräftige Unterstützung der “lex Wackernagel” (1998, 72): Was Eigennamen betrifft, bieten jedenfalls unsere Strabonhandschriften immer wieder Akzentuierungen, die Wackernagel recht zu geben scheinen. [---] Solche Spuren sind in der Strabonüberlieferung so zahlreich, [---] daß die neue Ausgabe die [---] lateinische Betonung konsequent durchführen [---] wird. Stefan Radt hat zur Stützung der These, das Latinismen im Griechischen soweit möglich nach lateinischen Betonungsgesetzen akzentuiert wurden, 13 Eigennamen aus Strabon aufgezählt, die seine Ansicht zu bestätigen scheinen, dass die lateinischen Betonungsregeln auch die Akzentuierung im Griechischen bestimmen. Die Namen seien hier in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt, wobei jeweils erörtert wird, ob sich die Akzentuierung der Namen nicht auch ohne Rückgriff auf das Lateinische innerhalb des Griechischen rechtfertigen lassen. Ἀµιτέρνον haben die Strabon-Handschriften AB, C hat Ἀµίτερνον (5, 3, 1 = 228, 11). Radt entscheidet sich für die dem lateinischen Amiternum entsprechende Betonung Ἀµιτέρνον, aber den griechischen Regeln1 entspricht Ἀµίτερνον, das auch bei Ptolemaios (3, 1, 59) so vorkommt. Γένουα (oder Γέννουα) haben die meisten Strabon-Handschriften (4, 6, 1 = 201, 33), aber es liegt auch Γενούα, Γενουά und Γέννα vor. Es ist von einem kurzen Schluss-ᾰ auszugehen, was nach den griechischen Regeln Γένουα zur richtigen Form macht2; neugriechisch Γένοβα ist nicht beweiskräftig, weil es ein Italianismus (nach Gènova) ist. Ἠσκυλῖνος (5, 3, 7 = 234, 20) ist betont nach den normalen griechischen Adjektiven auf -ῖνος (Bally 1945, 61 = § 105). Die Strabon-Handschriften bieten für den Esquilinus Ἠσκυλίνος und Ἠσκύλινος, was beides nicht geht. Καδοῦρκοι ist die Lesart der Strabon-Handschrift B, Cv hat Καδούρκοι (4, 2, 2 = 190, 34). Richtig ist Καδοῦρκοι; hier wirkt sich das sogenannte σωτῆραGesetz aus, demzufolge Wörter mit langem Vokal in der vorletzten Silbe eine Perispomene auf der vorletzten Silbe tragen können3. _________ 1
Bally 1945, 63 = § 110: “Les neutres de la 2e déclinaison sont anaclitiques”. Bally 1945, 49 = § 74: “Tout substantif féminin en –ᾰ est anaclitique”. 3 Bally 1945, 22 = § 29: “En attique, les mots à finale trochaïque accentués sur la pénultime sont propérispomènes”; also hat beispielsweise das trochäische σωτῆρα, der Akkusativ zu σωτήρ, einen Zirkumflex auf der vorletzten Silbe. – Die Erklärung des Akzents von Καδοῦρκοι geht davon aus, dass dessen erstes α lang ist, wie es auch in dem Vers carm. epigr. 1419 = CIL XIII † 1547 (conplet Cadurcis morte deflenda diem) vorauszusetzen ist, vgl. ThLL Onom. II 11, 34–35 (27 und 32 gibt es allerdings auch zwei Beispiele für kurze Messung, Sidon. carm. 9, 281; Auson. 207, 15); wäre das erste α kurz, würde das sogenannte ἔγωγε-Gesetz (oder “loi de Vendryes”) eintreten, demzufolge bei einer aus Kürze-Länge-Kürze bestehenden Schlusssilbenfolge, bei der eigentlich Properispomene zu erwarten wäre, eine proparoxytone Akzentuierung (*ἐγῶγε > ἔγωγε) eintritt (Bally 1945, 24–25 = § 34). 2
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Κόρδυβα ist die Lesart der meisten Strabon-Handschriften (3, 2, 1 = 141, 13), es gibt auch Κορδύβη. Es ist davon auszugehen, dass ein kurzes Schluss-ᾰ vorliegt (vgl. Auch Polyb. 35, 2, 2 ἐν Κορδύβῃ), so dass Κόρδυβα richtig ist. Κόρσικα zitiert Strabon (5, 2, 7 = 224, 20) nur als Fremdwort (ἡ δὲ Κύρνος ὑπὸ τῶν Ῥωµαίων καλεῖται Κόρσικα); einige Handschriften bieten Κορσίκα. Die Akzentuierung Κόρσικα ist bei Ansatz eines kurzen Schluss-ᾰ nach griechischen Gesichtspunkten richtig; das adaptierte Wort heißt Κορσική (Paus. 10, 17, 9). Λουγδοῦνον entspricht durchaus griechischen Regeln (vgl. Καδοῦρκοι) und gibt Lugdūnum genau wieder, aber die Form Λούγδουνον ist handschriftlich sehr viel häufiger (Strab. 4, 1, 11 = 186, 2 hat die Handschrift B Λουγδοῦνον, A hat Λούγδουνον), und auch neugriechisch heißt es Λούγδουνον. Man wird also den Proparoxytona-Namen für die eigentlich griechische Form halten und die wenigen Fälle von Properispomene als Resultate der Lateinkenntnisse von Schreibern einstufen. Μαίνοβα (Strab. 3, 2, 5 = 143, 29) hat kurzes Schluss-ᾰ (siehe Γένουα) und entspricht also in seiner Betonung dem lateinischen Maenuba. Νέπιτα hat die Strabon-Handschrift C, Νεπίτα liegt in AB vor (5, 2, 9 = 226, 12). Auf Lateinisch heißt die alte Etruskerstadt Nĕpĕtĕ (Antepaenultima-Akzentuierung), aber die griechische Form Νέπιτα verstößt, wenn man kurzes Schluss-ᾰ ansetzt, keineswegs gegen die Akzentregeln. Οὐενάφρον (A) und Οὐέναφρον (BC) sind die Varianten, die die Strabon-Handschriften (5, 4, 3 = 243, 5) zur Wiedergabe von Venafrum bieten. Nur das anders als das lateinische Wort betonte Οὐέναφρον entspricht den griechischen Regeln, die bei Neutra auf –ον Zurückziehung des Akzents vorsehen4. Οὐλτοῦρνος ist die einhellige Lesart der Handschriften (5, 4, 4 = 243, 10), die man nicht zu Οὐoλτοῦρνος oder Οὐουλτοῦρνος verändern sollte; zur griechischen Akzentregel vgl. Καδοῦρκοι. Σουγάµβροι (4, 3, 4 = 194, 10) ist die Lesart der Handschrift B, alle anderen Manuskripte haben Σούγαµβροι, das auch sonst die normale Lesart darstellt. Die korrekte griechische Form ist Σούγαµβροι. Χηροῦσκοι (Strab. 7, 1, 4 = 291, 27) entspricht wie Καδοῦρκοι den griechischen Betonungsgesetzen. Keiner dieser von Stefan Radt angeführten Namen macht einen Rückgriff auf lateinische Akzentuierungsregeln wirklich unumgänglich; eine Anwendung der griechischen Regeln genügt und rechtfertigt manchmal die Wahl zwischen zwei Varianten. Man kann noch nicht einmal sagen, dass in den Fällen, in denen es im Griechischen die Wahl zwischen zwei sprachlich akzeptablen Betonungsmöglichkeiten gibt, immer die lateinnähere gewinnt: Sowohl Λουγδοῦνον als auch Λούγ_________ 4
Bally 1945, 63 = § 110: “Les neutres de la 2e déclinaison sont anaclitiques”.
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δουνον sind möglich, aber durchgesetzt hat sich offenkundig das lateinfernere Λούγδουνον. 2. Quellen zu den Akzentverhältnissen im Griechischen Unser Wissen über die Akzentuierung griechischer Wörter stützt sich im Wesentlichen auf drei Hauptquellen: a) Die zuverlässigste Quelle sind natürlich antike Zeugnisse, aus denen die akzentuierte Silbe klar wird, d. h. konkret die nicht zahlreichen Papyri5 und Inschriften mit Markierung einiger Tonstellen (Durchakzentuierung kommt nicht vor) sowie einige wenige und zudem oft kontroverse Grammatikeraussagen (Egenolff 1887, 42–44). b) Fast genauso zuverlässig wie diese antiken Belege ist das Zeugnis der heutigen griechischen Sprache und ihrer Mundarten, denn abgesehen von ein paar regelmäßigen Abweichungen (z. B. –ία > –ιά, vgl. Thumb 1910, 8–10 = § 9 und § 10) ist die antike Akzentstelle bis heute bewahrt geblieben (Thumb 1910, 25–26 = § 38), wenn auch, wie gleich gezeigt werden soll, die phonetische Natur des Akzents sich vollkommen verändert hat. c) Vergleichsweise unzuverlässig ist das Zeugnis der seit dem 9. Jh. angefertigten mittelalterlichen Handschriften und Dokumente, die normalerweise durchgehend und konsequent mit graphischen Wortakzenten versehen sind6. Hier gibt es gerade bei leicht erkennbaren Latinismen zahlreiche Widersprüchlichkeiten, und der Verdacht ist nie ganz von der Hand zu weisen, dass eventuelle Lateinkenntnisse der Kopisten die Akzentsetzung beeinflusst haben könnten. Vorsicht ist gerade bei Texten mit verwickelter Überlieferung angebracht, und wenn beispielsweise die Strabon-Handschriften “immer wieder Akzentuierungen” à la latine bieten, so ist die daraus von Stefan Radt gezogene Schlussfolgerung, dass die “lex Wackernagel” richtig sei, ja nicht die einzig denkbare Konsequenz – es könnte auch sein, dass einige der byzantinischen Schreiber besser Latein konnten, als es für die Bewahrung “unlateinischer” Tonstellen gut war. Insgesamt kann man natürlich sagen, dass das System, das die Byzantiner im 9. und 10. Jh. verallgemeinerten, eine konsequente Fortsetzung des alexandrinischen Akzentsystems (Laum 1928; Pfeiffer 1970, 221–224) darstellt, also auf eine Akzentuierung zurückgeht, die antike Verhältnisse erkennen lässt. _________ 5
In dokumentarischen Papyri sind Akzente äußerst selten. Mazzucchi 1979, 171, kennt nur drei Beispiele, eines aus der ersten Hälfte des 4. Jh. (P. Ryl. IV 624, Brief) und zwei aus dem 6. Jh. (P. Cairo Masp. I 67077, Brief; II 67151, Testament des Flavius Phobammo aus dem Jahre 570). 6 Mazzucchi 1979, 162–163: “Solo dall’avanzato X secolo l’accentazione completa fu considerata corredo irrinunciabile del libro, scritto tanto in maiuscola quanto in minuscola. [---] Non dovremo sospingere molto più indietro della metà dell’VIII secolo il momento d’inizio della nuova prassi”.
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Die Art der graphischen Akzentsetzung, die das Griechische in unseren gedruckten Büchern aufweist und in der wir es zu schreiben gewohnt sind, ist also ein – freilich aus antiken Traditionen erwachsenes – Produkt des Hochmittelalters, und wenn wir zur Leseerleichterung auch unsere Papyruseditionen mit dieser Akzentuierung auszustatten pflegen, bringen wir sie sozusagen auf einen hochmittelalterlichen Stand. Daran ist nichts Verwerfliches, man muss es sich nur immer wieder klar vor Augen führen. Wenn wir also einen Papyrustext mit graphischen Akzenten versehen, dann machen wir im Grunde nichts anderes, als wenn wir unsere Satzzeichen einfügen, Groß- und Kleinschreibung einführen (an Satzanfängen, aber auch, um Eigennamen und deren Ableitungen von Appellativen abzusetzen) – wir machen uns den Text geschmeidiger und lesbarer. Bei normalen griechischen Wörtern, die wir meist aus anderen Texten kennen, ist die Akzentuierung problemlos, aber wenn neue Wörter, beispielsweise bislang unbelegte Latinismen, auftauchen, brauchen wir Regeln, die uns eine zutreffende Setzung der Akzente ermöglichen. Drei Beispiele seien herausgegriffen, die überdeutlich zeigen, dass der griechische Akzent auch in Fällen, wo das problemlos möglich gewesen wäre, nicht automatisch auf die lateinische Tonsilbe fiel, wenn sich eine andere Betonung als “griechischere” Lösung anbot. a) Das lateinische Wort ampulla wurde spätestens im 2. Jh. n. Chr. ins Griechische übernommen (Cervenka-Ehrenstrasser 1996, I 72–73). Die Editionen und die Wörterbücher schwanken zwischen der Akzentuierung à la latine, also ἀµποῦλλα, und à la grecque, also ἄµπουλλα. Erfreulicherweise haben wir es hier mit einem Wort zu tun, das sowohl in der neugriechischen δηµοτική (Μέγα Λεξικόν 1, 342· ἄµπουλα) als auch in den Dialekten7 sehr lebendig ist – und kein Zweifel, es liegt überall Anfangsbetonung vor, so dass also einzig und allein die Form ἄµπουλλα für die Antike die richtige sein kann. Nicht die lateinische Betonung gab also der Ausschlag für die lautliche Gestalt des Lehnwortes im Griechischen, sondern die Behandlung als Wort mit kurzem Schluss-ᾰ: “Les substantifs de la 1e déclinaison en –ᾰ sont anaclitique” (Bally 1949, 44 = § 65). b) Schon im 1. Jh. n. Chr. wurde libellus ins Griechische mit der Spezialbedeutung ‘Bittschrift’ entlehnt; das Wort nahm dann in byzantinischer Zeit die Bedeutung ‘Anklageschrift’ an und existiert noch heute im Neugriechischen im Sinne von ‘Schmähschrift, Pamphlet’. Sowohl die heutige Form λίβελλος als auch die mittelalterlichen Belege (Κριαρᾶς 9, 165: λίβελλος µηνυτήρια αναφορά, κατηγορητήριο) beweisen jedoch, dass das Wort von jeher ein Proparoxytonon war und dass es nie eine am Lateinischen ausgerichtete Form *λιβέλλος gegeben hat. Analoge Beobachtungen gelten für alle Wörter auf –ellus: cancellus > κάγκελλος, gemellus > γέµελλος, macellus > µάκελλος. _________ 7 Ἱστορικὸν λεξικὸν τῆς νέας Ἑλληνικῆς 1, 549: ἄμπουλλα, belegt für Bithynien, Epirus, Thessalien, Thrakien, Kappadokien, Naxos, Kardamyla [Peloponnes].
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c) Der Kaisername Αὔγουστος ist nach dem einhelligen Zeugnis aller Handschriften ein Proparoxytonon; auch im Griechischen des Mittelalters (Κριαρᾶς 3, 332) und im Neugriechischen (Κριαρᾶς 3, 1168) ist Αὔγουστος die einzig mögliche Akzentuierung. Die Anpassung an die lateinische Paenultima-Betonung ist also nicht erfolgt, obwohl *Αὐγοῦστος nach der σωτῆρα-Regel möglich gewesen wäre (vgl. auch oben Λούγδουνον). Fälle dieser Art gibt es zahlreich (vgl. κούκουλλον, κωδίκιλλος, µάγιστρος, πραίφεκτος, ἤδικτον, λίβερτος usw.): Im Zweifelsfall hat die Einreihung in eine geläufige griechische Betonungsklasse entschieden den Vorrang vor jeder Rücksichtnahme auf die Bewahrung der lateinischen Tonsilbe. Wenn doch einmal der griechische Akzent die Silbe trifft, die ihn auch im Lateinischen trägt, dann liegt der glückliche Zufall vor, dass das griechische System auf weite Strecken mit dem lateinischen kompatibel ist. Ein Beispiel dafür sind die Wörter auf –ātus und – ītus, die nach dem σωτῆρα-Gesetz als –ᾶτος und –ῖτος assimiliert wurden. 3. Die Natur des griechischen und des lateinischen Akzents Natürlich fragt man sich, wieso bei der griechischen Akzentuierung auch in Fällen wie κωδίκιλλος, λίβελλος, µάγιστρος oder πραίφεκτος die lateinische Betonung völlig missachtet wurde, obwohl die Beibehaltung der lateinischen Tonsilbe vom griechischen System her, das doch auch παρθένος erlaubte, ohne Weiteres möglich gewesen wäre. Eine denkbare Erklärung könnte in der unterschiedlichen Natur des griechischen und des lateinischen Akzents liegen. Die Betonung des Lateinischen in klassischer Zeit ist an die Quantität der vorletzten Silbe des Wortes gebunden. Der Ton konnte überhaupt nur auf zwei Silben, nämlich die vorletze und die drittletzte, fallen: Nach dem sogenannten “Dreisilbengesetz” ruht der lateinische Wortakzent “in mehrsilbigen Wörtern auf der vorletzten Silbe (Paenultima), wenn diese eine Länge ist, sonst auf der drittletzten Silbe (Antepaenultima)” (Leumann 1977, 237 = § 236); als lang rechnet eine Silbe, wenn sie entweder einen langen Vokal aufweist (syllaba naturā longa) oder wenn sie auf einen Konsonanten ausgeht, der vor einem anderen Konsonanten der folgenden Silbe steht (syllaba positiōne longa). Die zahlreichen Synkope-Erscheinungen in den nicht-akzentuierten Silben machen die Annahme, dass das Lateinische primär einen Intensitätsakzent (“stress”) hatte, unausweichlich; wahrscheinlich wurde die betonte Silbe auch etwas höher ausgesprochen, aber das war wohl nur sekundär, obwohl gebildete antike Beobachter, die ja am Griechischen geschult waren, immer wieder darauf hinwiesen (Leumann 1977, 254 = § 246). Im Griechischen liegen die Betonungsverhältnisse viel komplizierter als im Lateinischen. Ganz offenbar gab es zunächst keinen merklichen Intensitätsakzent (“stress”), sondern nur einen Tonhöhenakzent (“pitch”), der in zwei Varianten, dem hohen Ton (ὀξεῖα) und dem zerdehnten Ton (περισπωµένη), auftrat; die Ab-
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wesenheit des Tonhöhenakzents wurde tiefer Ton (βαρεῖα) genannt8. Welche Silbe eines griechischen Wortes den Akzent trägt, macht auf den ersten Blick den Eindruck der Beliebigkeit, aber es scheint doch so zu sein, dass es primär davon abhing, welcher lexikalischen Kategorie das Wort angehört9. In der Tradition der alexandrinischen Grammatiker bildete sich die Gewohnheit heraus, den hohen Ton, also die Silbe mit “pitch”, mit einem graphischen Akut und den niedrigen Ton, also die Silben ohne “pitch”, mit dem graphischen Gravis zu bezeichnen; die Kombination aus beiden Zeichen, der graphische Zirkumflex, bezeichnete den zerdehnten Ton, in dem Höhe und Tiefe kombiniert wurden. Es gibt ziemlich viel Literatur darüber, ab wann man in der Aussprache des Griechischen den Unterschied in der Tonhöhe als weniger wichtig als den Unterschied in der Intensität empfand. Prinzipiell müssen bekanntlich Intensitäts- und Tonhöhenakzent, also “stress” und “pitch”, nicht zusammenfallen. So haben beispielsweise im Schwedischen anden (´ `) ‘Wildente’ und anden (`´) ‘Geist’ beide den “stress” auf der ersten Silbe, aber es macht den Bedeutungsunterschied aus, ob der “pitch” die erste oder die zweite Silbe trifft. Im Papiamento gibt es einen Hochton (tono haltu) und einen Tiefton (tono abou), wobei z. B. Verben mit Intensitätsakzent auf der ersten Silbe die Tonkombination tief–hoch (yuna —– ‘fasten’) und Substantive mit Intensitätsakzent auf der ersten Silbe die Tonkombination hoch–tief (yuna –— ‘das Fasten’) zeigen. Es gibt aber offenbar eine generelle Entwicklungstendenz, den Intensitäts- und den Tonhöhenakzent zusammenfallen zu lassen, wie es beispielsweise im Deutschen und in vielen anderen europäischen Sprachen ist, wo die tonstärkste Silbe auch etwas höher ausgesprochen wird. Auch im Finnlandschwedischen, in dem der Tonhöhenakzent _________ 8 In den frühen Papyruszeugnissen steht das Zeichen für den Gravis in der Tat normalerweise auf unbetonten Silben. C. M. Mazzucchi (1979, 147) hat auf Grund einer gründlichen Durchforstung der Papyrusbelege herausgearbeitet, dass “la documentazione a partire dal III–IV secolop mostra l’imporsi crescente di un sistema di accentazione simile a quello medievale e moderno”, denn in dieser Epoche verschwindet die Verwendung des Gravis zur Kennzeichnung der unbetonten Silben und “l’accento viene segnato – quando è segnato – esclusivamente sulla sillaba che reca l’accento principale; sull’ultima sillaba dei polisillabi ossitoni ἐν συντάξει è segnato il grave”. Das neue System verhinderte zweifellos eine Überfrachtung der Wörter mit Akzenten, denn jetzt trugen nur noch betonte Silben einen Akzent. Der Grund dafür, dass die Schlusssilbe ἐν συντάξει den Gravis und nicht den Akut bekam, ist wohl in einer Spracheigentümlichkeit zu sehen: Das Griechische bildete offenbar wie das moderne Französische eine “chaîne parlée”, in der die Wortgrenzen aufgehoben waren, und anscheinend konnte in der letzten Silbe eines Wortes vor einem eng mit ihm zusammenhängenden nächsten Wort nicht dieselbe Tonhöhe erreicht werden, die sonst die akzenttragenden Silben auszeichnete. So mag es sich erklären, warum man das Zeichen, das eigentlich für die tieftonigen unbetonten Silben reserviert war, auf die wegen der Abwesenheit von Hochtonigkeit damit vergleichbaren betonten Silben vor einem weiteren Wort der “chaîne parlée” anwandte. 9 Bally 1945, 29: “Dans le système vivant de la langue, l’accent grec a pour unique fonction d’indiquer, par la place qu’il occupe dans un mot, à quelle catégorie lexicale ce mot appartient. Ainsi l’accent de finale et le suffixe –το(ς) indiquent conjointement que λυτός est un adjectif verbal; l’accent d’antépénultime avec le suffixe –σι(ς) montre que ποίησι(ς) est un nom d’action, etc.”.
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keine Rolle spielt, besteht eine Neigung, den Intensitätsakzent auf die Silbe fallen zu lassen, die im Reichsschwedischen den Tonhöhenakzent trägt (Ahlbäck 1971, 28). Was das Griechische anbelangt, so herrscht heute im Allgemeinen die Meinung vor, dass der Umschwung vom primären “pitch” zum primären “stress” sich erst im 4. Jh. n. Chr. wirklich durchgesetzt hat (Schwyzer 1953, 394). Damit ist aber klar, dass in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit, als die griechisch-romanischen Sprachkontakte am engsten waren und folglich die meisten Entlehnungen erfolgten, beide Sprachen wenig Gemeinsamkeiten in der Betonungsweise hatten. Bei der Übernahme lateinischer Wörter ins Griechische trafen zwei völlig verschiedene Akzentsysteme aufeinander: Im Lateinischen stand der “stress” im Vordergrund, wobei die intensiver gesprochene Tonsilbe mit der größeren Schallfülle zweifellos etwas höher gesprochen wurde als die anderen, die unbetonten Silben; im Griechischen hingegen war die Tonhöhe, der “pitch”, das Entscheidende, und die zweifellos damit verbundene größere Schallfülle war nur eine Nebenerscheinung. Was in der einen Sprache ein Begleitumstand war, war in der anderen Sprache die Hauptsache. Unter diesen Umständen war es jedenfalls vor dem 4. Jh. n. Chr. gar nicht möglich, dass der Hauptsatz der “lex Wackernagel”, dass “die Griechen [---] die übernommenen lateinischen Wörter in der Regel auf der gleichen Silbe betont haben wie die Römer selbst” (1926, 57 = 1969, II 1197), zutreffen könnte. Es wäre nur denkbar, dass die lateinische “stress”-Silbe zur griechischen “pitch”Silbe geworden wäre, dass also die Silbe, die im Lateinischen den Intensitätsakzent trug, im Griechischen den Hochton erhalten hätte. Die Entwicklung ist jedoch ganz offenbar nicht in dieser Richtung verlaufen: Die Latinismen wurden vielmehr im Griechischen mit dem Tonhöhenakzent versehen, der für die Wortklasse typisch war, in die sie eingereiht wurden. Als dann im 4. Jahrhundert im Griechischen der Intensitätsakzent an die Stelle des früheren Tonhöhenakzents trat, mit anderen Worten, als das griechische Betonungssystem strukturell dem lateinischen Betonungssystem nähergerückt war, blieben die Verhältnisse im Griechischen insofern erhalten, als die Wahrnehmung der Sprecher jetzt nicht mehr auf den Tonhöhenakzent, sondern auf den Intensitätsakzent gerichtet war – und damit war bei den Latinismen des Griechischen in vielen Fällen eine von der lateinischen Betonung abweichende Betonung festgeschrieben. 4. Die “lex Clarysse” Wenn man sowohl diese Überlegungen als auch die neugriechischen Betonungsverhältnisse, die in ihren Gesetzmäßigkeiten zuverlässige Rückschlüsse auf die antike Akzentuierung zulassen, in die Betrachtung einbezieht, dann ergibt sich eindeutig, dass die “lex Wackernagel”, derzufolge die Latinismen des Griechischen soweit wie möglich ihre ursprüngliche Tonstelle beibehalten, nicht zutreffend sein kann. Vielmehr ist ein anderer Ansatz nötig, der in seinen Grundzügen, aber noch nicht in konkreten Ausformulierungen, bereits in den vierziger Jahren von Gerhard Rohlfs (1949, 508) skizziert wurde:
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Die Aufnahme lateinischer Lehnwörter in das Griechische hat zu Änderungen der Akzentuierung geführt, die durch die rhythmischen Verhältnisse dieser Sprache bedingt sind. [---] Im Gegensatz zum Lateinischen, wo die Akzentgebung bedingt ist durch die Quantität der vorletzten Silbe, ist im Griechischen die Tonstelle bestimmt durch die Qualität der letzten Silbe. War die letzte Silbe kurz (z. B. in der Endung –ος, –ον), so konnte der Ton nicht auf der (lateinisch langen) vorletzten Silbe bleiben, sondern er ging automatisch, solange die alten griechischen Akzentuierungsverhältnisse wirksam blieben (d. h. bis zum 4. nachchristlichen Jahrhundert), auf die drittletzte Silbe zurück. Der Grundsatz, dass die “rhythmischen Verhältnisse” des Griechischen und nicht etwa die des Lateinischen für die Akzentstelle verantwortlich sind, ist hier sehr richtig gesehen, allerdings sind die Unterschiede zwischen dem griechischen Tonhöhenakzent und dem lateinischen Intensitätsakzent nicht angesprochen, und es fehlt auch jeder Versuch, den Typ Πιλᾶτος (und nicht etwa *Πίλατος!) zu erklären. In einem grundlegenden Aufsatz zur Akzentuierung ägyptischer Namen in griechischen Texten nahm Willy Clarysse (1997, 178–179) die Akzentuierung der Latinismen des Griechischen zum Ausgangspunkt. First and foremost, we should n o t a priori accept that Greek accentuation of foreign words followed the accentuation of the foreign language. In some languages this is indeed the case (e. g. Greek loanwords in Italian), but other languages simply apply their own accentuation rules to foreign words. French is a clear instance: any person using French knows he has to change the accent in his name when speaking that language: Pestman becomes Pestman in French, Hagedorn becomes Hagedorn, Wagner is Wagner when he happens to be from Strasbourg (Straßburg). But Latin is no different in this respect: Auerbach becomes Auerbachius, Πλούταρχος and Θουκυδίδης are pronounced Plutarchus and Thucydides. [---] We dare to disagree with Wackernagel and to affirm that the Greek accent depended first and foremost on the rules of Greek, not on those of Latin accentuation, as is the case with loan-words in most languages. If the Greek rules allowed the Latin accent to stay on the same place as in the original language, then the place of the accent did not as a rule change, why should it; but as soon as the Latin accent clashed with the rules of Greek accentuation, either general or specific, the rules of Greek accentuation took precedence. [---] The rules of Greek accentuation for substantives depend on the declension type to which a word belonged. When foreign words receive a Greek ending, they automatically become part of a Greek declension type and we can simply apply the rules of Greek accentuation to them. Eine deutsche Kurzfassung dieser “lex Clarysse” könnte wie folgt aussehen: “Aus anderen Sprachen entlehnte Namen und Wörter, die morphologisch ans griechische System assimiliert wurden, werden ohne Rücksicht auf ihre fremde Her-
9. Zur Akzentuierung der Latinismen des Griechischen
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kunft nach den üblichen griechischen Akzentregeln betont”. Noch kürzer gesagt: “Die griechischen Akzentregeln gelten für alle griechisch geschriebenen Wörter”. Da nun die Latinismen des Griechischen zum normalen, für einen ungeschulten Sprachbenutzer nicht vom übrigen Vokabular zu unterscheidenden Wortschatz des Griechischen gehörten, gelten für sie auch einzig und allein die griechischen Regeln ohne Rücksicht auf die Verhältnisse im Lateinischen. Ein lateinisches Wort, das ins Griechische übernommen worden war, erhielt eine griechische Endung, wurde entsprechend nach griechischen Regeln dekliniert bzw. konjugiert und eben auch à la grecque betont, denn es war ein griechisches Wort wie alle anderen geworden. Folglich galten die normalen Akzentregeln: Generell ist die Akzentstelle bei einem Substantiv innerhalb der Regeln nicht voraussagbar (Bally 1945, 14 = § 68), aber es gibt einige Festlegungen: Die eigenständigen Neutra (nicht die substantivierten Adjektive!) ziehen den Akzent weitmöglichst zurück (Vendryes 1945, 178 = § 222; Bally 1945, 43 = § 64), ebenso die femininen Substantive der 1. Deklination auf –ᾰ (Vendryes 1945, 158 = § 194; Bally 1945, 44 = § 65); Feminina auf –ίς, –ίδος (nicht auf –ις, –εως!) sind Oxytona (Bally 1945, 83 = § 161); Substantive auf –ών, –όνος sind Oxytona (Bally 1945, 86 = § 169); als Konsequenz aus dem σωτῆρα-Gesetz können bei Drei- und Mehrsilblern lange Vokale der vorletzten Silbe eine Properispomene tragen (Bally 1945, 22 = § 29), es ist aber auch Akzentzurückziehung auf die drittletzte Silbe möglich; daktylischer Wortausgang kann nach dem Wheeler’schen Gesetz Paroxytonie provozieren (Bally 1945, 24 = § 33), so dass man gegen jede lateinische Aussprachetendenz ῾Ρωµύλος für Rōmŭlus findet; die Suffixe –ανός, –ικός und –ινός sind oxyton (Bally 1945, 72 = § 127; 73 = § 133); das häufige Diminutiv-Suffix -ίσκος (Vendryes 1945, 176 = § 218; Bally 1945, 60 = § 101) bot den Ausgangspunkt dafür, auf lateinisch –ic(u)lus mit Nachtonsynkope zurückgehendes –ίκλος als Paroxyton zu behandeln; die Adaptationen der Wörter auf –mentum sind Paroxytona (ἀρµαµέντον) in Analogie zu Genitiven der Partizipien mit –ντ– des Typs διδόντος, βαλόντος usw. (Bally 1945, 103 = § 204). Nach meinem Eindruck gibt es keinen Fall, wo ein als Lehnwort ins Griechische gekommenes lateinisches Wort einen Akzent aufweisen würde, den ein lautlich vergleichbares griechisches Wort nicht auch haben könnte. Es gibt freilich in diesem Bereich noch viel zu untersuchen, denn die Editoren und Wörterbuchautoren haben von jeher viel zu gut Latein gekonnt: In unseren Textausgaben haben sie gegen den Handschriftenbefund eine am Lateinischen ausgerichtete Akzentuierung durchgeführt, nicht selten tacite, und in den Publikationen von Papyri und von Inschriften ist die Akzentuierung sowieso einzig und allein ein Produkt der Sprachkenntnisse des Editors. 5. Schlussfolgerungen Für die praktische Arbeit bei der Herausgabe von antiken Texten ohne Akzentsetzung, also besonders von Papyri und von Inschriften, bedeutet das Gesagte, dass man beim Akzentuieren der Latinismen besondere Sorgfalt walten lassen
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muss und sich nur bedingt auf die Editionen10 und die Wörterbücher verlassen darf. Als Grundregel kann gelten, dass der Akzent so weit nach vorn gezogen wird, wie es die griechischen Regeln zulassen, also auf die drittletzte Silbe bei kurzer Schlusssilbe und auf die vorletzte Silbe bei langer Schlusssilbe; Ausnahmen von dieser Regel sind bestimmte Suffixe (–ανός, –ικός, –ίκλος, –µέντον) und Anwendungen des σωτῆρα-Gesetzes. Die zuverlässigste Kontrolle wird jedenfalls von den Verhältnissen im Neugriechischen ausgehen, und wenn diese mit der mittelalterlichen Tradition und den Grundregeln der griechischen Akzentuierung übereinstimmen, dann darf man zuversichtlich davon ausgehen, die Silbe gefunden zu haben, die bei den Griechen in der Antike den Akzent trug11 – was immer die Römer dazu sagen mochten, auf deren Urteil in sprachlichen Dingen die Graeculi bekanntlich gar nichts gaben.
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Das einhellige Zeugnis der Handschriften bezüglich der Akzentuierung findet sich im Text der Editionen nur zu oft nicht wieder. Ein schönes Beispiel bietet Plut. Num. 13, 11. Dort bietet die Ausgabe von Konrat Ziegler: φασί [---] Βέτερεµ µεµόριαµ, ὅπερ ἐστὶ παλαιὰν µνήµην. Ein Blick in den kritischen Apparat zeigt aber, dass diese Lesung sich nicht auf die Autorität der Handschriften stützen kann: “οὐετερέµ vel οὐετέρεµ codd.”. Vergleichbare Fälle sind offenbar häufig und würden einmal eine gründliche Aufarbeitung verdienen. 11 Eine gewisse Unsicherheit wird bei bestimmten raren Wörtern immer bleiben, aber das wird bei der Beschäftigung mit Sprachen weit zurückliegender Epochen immer so sein – und die Grundregel muss lauten: “Nach griechischen Vorgaben, nicht nach lateinischem Muster, akzentuieren”. Es kann jedenfalls keine Lösung sein, den Vorgaben weniger Papyrologen und Epigraphiker, dafür aber vieler Bibelgräzisten zu folgen und gar keine Akzente zu setzen; eine derartige Vorgehensweise ist ja nur eine Kapitulation vor den Schwierigkeiten, denn solange wir Griechisch mit Akzenten schreiben, kann es natürlich prinzipiell keine Wörter ohne Akzent geben, ebenso wenig wie es bei der Benutzung lateinischer Buchstaben eine unvokalisierte Schreibung geben kann, die das Erscheinungsbild der arabischen oder hebräischen Orthographie treu wiedergeben würde – wenn wir in einem deutschen, französischen oder englischen Kontext ein hebräisches oder arabisches Wort für europäische Leser wiedergeben wollen, dann müssen wir vokalisieren, ohne Rücksicht darauf, ob das im Original der Fall war oder, wie meistens, nicht.
VI. WORTGESCHICHTEN
10. ἀκακία, ἄκανθα / acacia, acantha Abstract: This article treats the use and the (possibly Egyptian) etymology of two Greek words designing the Nile acacia, ἀκακία and ἄκανθα, together with their Latin equivalents acacia and acantha. Keywords: Nile acacia, popular etymology, Egyptian plant names
1. Griechische Bezeichnungen für die Acacia Nilotica Von den beiden Wörtern, die zur Bezeichnung der Acacia Nilotica L. verwendet werden, ist in der Literatur ἀκακία auf die Fachschriftstellerei beschränkt (Dioskurides, Galen); in den Papyri kommt ἀκακία nur in medizinischen Rezepten vor. Hingegen ist ἄκανθα das normalsprachliche Wort, das auch in den Papyri die übliche Bezeichnung darstellt. Beide Benennungen dürften ägyptischer Herkunft sein. 2. Zur Verwendung von ἄκανθα, ἀκανθος, acantha und acanthus ἄκανθα hieß im Griechischen ‘Dorn, Distel, Stachel’. Das Wort wurde auch zur Benennung verschiedener stachliger Pflanzen1 und für Gräten von Fischen sowie für die Rückenwirbel von Landtieren verwendet2. Das Maskulinum ἄκανθος hatte diese Bedeutungsbreite nicht: Es bezeichnete nur den ‘Bärenklau’ (meist Acanthus mollis L., seltener Acanthus spinosus L.)3. Im Lateinischen ist die Situation weniger eindeutig (ThLL I 247, 54–248, 25): acanthus wird im nichtspezialisierten Sprachgebrauch sowohl im Sinne von gr. ἄκανθος als auch im Sinne von ἄκανθα, also sowohl für ‘Bärenklau’ als auch für ‘acacia Nilotica’ verwendet, während acantha für die ‘Nilakazie’ (ThLL I 247, 11–21) nur fachsprachlich vorkommt (André 1985, 2). Für die griechische Semantik besagen die lateinischen Gegebenheiten natürlich nichts: Es ist zumindest irreführend, wenn sowohl im LSJ als auch im DGE nur eine einzige Stelle für die Gleichsetzung von ἄκανθος mit ἀκακία angeführt ist, denn diese Stelle steht bei Vergil (Georg. 2, 119). Im Lateinischen ist die Konfusion zwischen acanthus und acacia freilich seit Ennius zu belegen (ThLL I 248, 22), aber das gilt natürlich nicht für das Griechische. _________ 1 LSJ 47: “any thorny or prickly plant”; genannt werden Eryngium campestre, Notobasis Syriaca, Cnicus Acarna, Balsamodendron Mukul, Acacia albida, Euphorbia antiquorum, Carduus arvensis. Vgl. auch DGE 1, 107. 2 LSJ 47, s. v. ἄκανθα, 5. und 6; DGE 1, 107–108, s. v. ἄκανθα, II.1.2. und III.1.2. 3 DGE 1, 108, s. v. ἄκανθος 1. und 2.
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3. Zur Etymologie von ἄκανθα Etymologisch liegt in ἄκανθα der Stamm ἀκ- ‘scharf, spitz’ (ἄκ-ρ-ος, ἀκή, ἀκµή, lat. acus, acuere, acūere) vor (Frisk 1973, I 51; Chantraine 1999, 45–46; Pokorny 1969, I 18–22), verbunden mit dem vorgriechischen -νθ-Suffix4. Eine Zusammensetzung aus ἀκ- und ἄνθος, also ‘Spitzblume’ oder ‘Stachelblume’5, ist schon deswegen unwahrscheinlich, weil der Grundtyp ἄκανθα und nicht ἄκανθος ist. Nach dem Ausweis der Papyri konnte ἄκανθα6 im Griechischen Ägyptens nicht mehr einfach jeden ‘Stachelbaum’ bezeichnen, sondern ausschließlich die Acacia Nilotica L. Eine naheliegende Erklärung dafür ist darin zu sehen, dass dieser “mittelgroße Baum Oberägyptens mit zolllangen Dornen [---] davon den Namen Akantha hat, daß er in allen Theilen, mit Ausnahme des Stammes, dornig ist; selbst an den Blättern hat er Dornen” (Lenz 1859, 735)7. Nun ist freilich für einen unvoreingenommenen Beobachter das Vorhandensein von Dornen keineswegs das Auffälligste an der Acacia Nilotica: Die gefiederten Blätter, die hellgelbe Blüte und der dunkle Stamm fallen mindestens ebenso ins Auge. Das schließt den Gedanken, dass bei der im Griechischen Ägyptens erfolgten Bedeutungsspezialisierung einfach einer der zahlreichen Fälle vorliegt, in denen ἄκανθα zur Bezeichnung irgendeiner stachelig-dornigen Pflanze verwendet wurde, natürlich nicht aus, aber man fühlt sich doch von dieser ‘Stachelbaum’-Erklärung nicht vollkommen befriedigt. Angesichts der Tatsache, dass die Acacia Nilotica eine in Ägypten heimische Pflanze ist, lohnt sich ein Blick auf ihre ägyptische Benennung: hieroglyphisch šnd.t (Erman / Grapow 1955, IV 521), demotisch šnt.t (Erichsen 1954, 516), koptisch (sahidisch) ϣⲟⲛⲧⲉ, achmimisch ϣⲁⲛⲧⲉ, bohairisch ϣⲟⲛϮ, fajumisch ϣⲁⲛϮ (Westendorf 1965–1977, 319; Crum 1939, 573; Černý 1976, 247; Vycichl 1983, 267). Ein Anklang an ἄκανθα ist kaum zu überhören, und die Vermutung dürfte nicht weit hergeholt sein, dass diejenigen Griechen, die als erste ϣⲁⲛⲧⲉ hörten, dieses mit dem entfernt ähnlich klingenden Wort ἄκανθα, das verschiedene stachelige Pflanzen bezeichnen kann, in Verbindung brachten und dass dann im Griechischen Ägyptens dieser Baum den Namen ἄκανθα behielt. Es liegt also _________ 4 Zu diesem Suffix, das auch sonst bei Pflanzennamen vorkommt (ἀψίνθιον ‘Wermut’, ὑάκινθος ‘Hyazinthe’, µίνθος / µίνθα ‘Minze’; mit Nasalschwund λάπαθον ‘Ampfer’), vgl. Schwyzer 1953, 510-511. – Mit dem rein griechischen Suffix –ανος (Schwyzer 1953, 489-490, vgl. βάλανος ‘Eichel’, πλάτανος ‘Platane’, πύανος ‘Bohne’, ῥάφανος ‘Kohl’ usw.) ist ἄκανος ‘Distel’ gebildet. 5 Paul Kretschmer (in: Gercke / Norden 1923, 403, Anm. 1). “Die Erklärung aus *ἀκαν-ανθα bzw. ἀκαν-ανθος von ἄκανος und ἄνθος ist hypothetisch, aber ein Kompositum *ἄκ-ανθα ‘Stachelblume’ ist nicht besser” (Frisk 1973, I 51). A. Carnoy (1959, 3) bleibt bei Kretschmers Erklärung: “On peut le considérer comme une contraction haplologique pour ἀκάν-ανθος”. 6 “Für ἄκανθος, ἄκανθον und ἀκάνθιον gibt es aus dem ägyptischen Bereich nicht einen einzigen Beleg; nur ἄκανθα und ἀκανθέα kommen vor, davon abgeleitet die Adjektive ἀκάνθινος und ἀκάνθιος” (B. Kramer 1993, 133). 7 Diese Erklärung geht bereits auf Theophrast (hist. plant. 4, 2, 8) zurück: ἡ δὲ ἄκανθα καλεῖται µὲν διὰ τὸ ἀκανθῶς ὅλον τὸ δένδρον εἶναι πλὴν τοῦ στελέχους· καὶ γὰρ ἐπὶ τῶν ἀκρεµόνων καὶ ἐπὶ τῶν βλαστῶν καὶ ἐπὶ τῶν φύλλων ἔχει.
10. ἀκακία, ἄκανθα / acacia, acantha
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derselbe Vorgang der Interpretation eines fremden Wortes mit Mitteln der eigenen Sprache (“Volksetymologie”) vor, der aus lateinisch vagabundus italienisch vagamondo, aus haïtisch hamaka niederländisch hangmat (> deutsch Hängematte) oder aus elsässisch Sûrkrût französisch choucroute entstehen ließ (Wartburg 1970, 121–125). 4. Zur Etymologie von ἀκακία Auch die andere Bezeichnung der Nilakazie, nämlich ἀκακία (der Gleichklang mit ἀκακία ‘Unschädlichkeit’ ist Zufall), wird von allen Wörterbüchern als “Fremdwort” (Frisk 1973, I 50) bzw. “mot étranger” (Chantraine 1999, 45) eingestuft8. Welches fremde, nach Lage der Dinge wohl ägyptische, Wort gemeint sein kann, ist nicht präzisiert worden; ϣⲟⲛⲧⲉ bzw. ϣⲁⲛⲧⲉ kommt ja nicht in Frage. Nun sind sowohl die Schoten als auch die Dornen des Akazienbaumes ganz dunkel, und der Baum selbst hat einen “dunklen Stamm” (Germer 1985, 90); das Akazienholz “nimmt nach und nach eine schwärzliche Farbe an, so daß es dem Ebenholz ähnlich wird” (Wetzer / Welte 1, 379)9. Was liegt also näher, als das koptische Wort sahidisch ⲕⲁⲕⲉ, achmimisch ⲕⲉⲕⲉ(ⲓ) (Westendorf 1965-1977, 59; Crum 1939, 101; Černý 1976, 54; Vycichl 1984, 74) bzw. seine hieroglyphische Entsprechung kkjw (Erman/Grapow 1955, V 142-144) und seine demotische Parallelform kkj (Erichsen 1954, 568) heranzuziehen? Die semantische Seite ist unproblematisch (die ägyptischen Wörter haben die Grundbedeutung ‘Dunkelheit’, werden aber auch im Sinne von ‘dunkel’ gebraucht); formal spricht nichts dagegen, ἀκακία mit ⲕⲁⲕⲉ zu verbinden, wobei das anlautende ἀ- der Analogie zum gleichbedeutenden ἄκανθος zu verdanken ist.
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Man stellt ἀκακία gemeinhin zu ἀκακαλίς ‘Tamariske’, bei dem man “orientalische (ägyptische) Herkunft” vermutet (Frisk 1973, I 50). Damit hat man freilich das Problem der Etymologie nur nach hinten verschoben. 9 Theophrast berichtet, dass es eine weiße und eine schwarze Sorte gab (also nach heutiger Terminologie die Acacia albida = Weiße Akazie und die Acacia Nilotica = Nilakazie, vgl. Germer 1985, 89–91), wobei die letztere Sorte wirtschaftlich interessanter war, weil sie gut nutzbares Holz lieferte, das im Wasser nicht faulte (hist. plant. 4, 2, 8: διττὸν δὲ τὸ γένος αὐτῆς· ἡ µὲν γάρ ἐστι λευκή, ἡ δὲ µέλαινα· καὶ ἡ µὲν λευκὴ ἀσθενής τε καὶ εὔσηπτος, ἡ δὲ µέλαινα ἰσχυροτέρα τε καὶ ἄσηπτος, δι᾿ ὃ καὶ ἐν ταῖς ναυπηγίαις χρῶνται πρὸς τὰ ἐγκοίλια αὐτῇ).
11. ἀλογία / alogia Abstract: Greek ἀλογία ‘stupidity, nonsense’ was borrowed into Latin as alogia (Seneca, Petronius). In African Latin, however, the word acquired a new sense, ‘banquet’. St. Augustine criticises people celebrating opulent banquets on Sundays (dominica alogia), but the word did not really become popular outside Africa. In C. Gloss. Biling. II 4, 1–3 we find a juxtaposition of conuiuium and ἀλογία, but without any semantic identification. Keywords: Greek words changing signification in Latin, banquets, word polemics
1. Gräzismen des Lateinischen ohne Entsprechung im Griechischen Trotz der Abneigung lateinischer Puristen wie z. B. Cicero gegen die Übernahme griechischer Fremdwörter ins Lateinische (Devoto 1968, 147–150) hat es dort de facto immer viele Gräzismen gegeben (Saalfeld 1884; Biville 1990/1995); ihre Zahl ist besonders im christlichen Spätlatein bemerkenswert hoch (Müller 1943; Bardy 1948). Man muss davon ausgehen, dass ein griechisches Fremdwort im Lateinischen normalerweise mehr oder weniger dasselbe bedeutete wie in der Ausgangssprache: Zwischen φιλοσοφία und philosophia gibt es höchstens subtile Nuancen. Immer dann, wenn im Lateinischen einem griechischen Wort ein neuer Sinn gegeben wird, liegt ein außergewöhnlicher Vorgang vor, und man muss versuchen, Gründe dafür zu finden. So heißt beispielsweise pēgma im Lateinischen normalerweise nicht einfach ‘Gestell, Gerüst’ wie das griechischen Wort πῆγµα, sondern ‘Thetermaschine’ (ThLL X 1, 984, 31–60), und natürlich wird man die Begeisterung der Römer für ludi circenses für diese Bedeutungsübertragung verantwortlich machen. Bei baptistērium im Sinne von ‘Schwimmbad im Frigidarium’ (z. B. Plin. ep. 2, 17, 11; 5, 6, 25; weitere Belege im ThLL 2, 1719, 74–83) haben wir es offenbar mit einer römischen Wortbildung mit griechischem Material zu tun, denn von βαπτιστήριον in diesem Sinne fehlt im Griechischen, wo das Wort erst in der spezifisch christlichen Bedeutung ‘Taufkapelle’ auftaucht, jede Spur. Ovid (fast. 4, 405) prägte chalybēius ‘aus Stahl’, obwohl griechisch nur das Substantiv χάλυψ ‘Stahl’, aber keine Adjektivableitung belegt ist. Lucilius (fr. 71 Marx) erfand chīrodyti ‘Ärmel’, obwohl wir kein entsprechendes griechisches Wort kennen. Vergleichbare Vorgänge aus den modernen Sprachen sind ja wohlvertraut: Friseur wurde in Deutschland am Ende des 17. Jahrhunderts nach dem französischen Verb friser ‘die Haare in Lockenform bringen’ gebildet, smoking ist ein 1890 in Frankreich geschaffenes Wort für das Kleidungsstück, das englisch dinner-jacket heißt, der Ausdruck belle-étage (f.!) für ‘Hochparterre’ wurde in den Niederlanden erfunden, und das Handy, eines der wichtigsten Kommunikations-
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mittel der Gegenwart, bekam seinen pseudo-englischen Namen um 1990 in Deutschland. 2. Spätlateinisch alogia ‘Gastmahl’ Im Spätlatein hat alogia, das im 1. Jahrhundert n. Chr. bei Seneca (Apocol. 7, 1) und Petron (58, 7) noch entsprechend dem griechischen ἀλογία ‘Unsinn, Unvernunft’ (OLD 106: ‘folly, nonsense’) bedeutet hatte, einen völlig neuen Sinn angenommen: Es bekam die Bedeutung ‘Gastmahl, Bankett’, in Augustinus’ Umschreibung (s. unten) conuiuium, epulae. Nach den Angaben aller Wörterbücher hat griechisch ἀλογία niemals eine auch nur entfernt vergleichbare Bedeutung gehabt. Wir haben es also mit einer semantischen Sonderentwicklung zu tun, die einem Gräzismus des Lateinischen einen Sinn gegeben hat, den es in der Ausgangssprache nie hatte. Es gibt zwei inschriftliche Belege, in denen alogia ‘Leichenschmaus’ heißen muss. Auf einer Marmorplatte, die man 1856 bei einem Grab an der Villa Pamfili in Rom fand, steht “litteris aevi recentioris” (CIL VI 4 [1], 26554) geschrieben (ILS II 2, 8139): bonus eventus. have, C. Silici Romane Tha[g]orensis et [E]rucia Victoria. dii uobis bene faciant, amici et parentes; habeatis deos propitios. salui huc ad alogiam ueniatis hilares cum omnibus.
Guter Ausgang! Sei gegrüßt, C. Silicius Romanus aus Thagora und Erucia Victoria. Die Götter mögen euch Gutes tun, Freunde und Verwandte; ihr sollt geneigte Götter haben. Gesund kommt hierher zum Leichenschmaus heiter mit allen.
Die Bedeutung ‘Leichenschmaus’ – ‘cena funeraticia’ – wird mit gutem Grund von Hermann Dessau in den ILS nahegelegt. Dass die Götter im Plural vorkommen (Z. 3 und 4), zeigt, dass wir uns noch in heidnischer Zeit befinden. In der nicht eindeutig interpretierbaren Inschrift CIL VIII Suppl. 3, 20334 aus Nordafrika liegt die Form alogies vor. Die vier Zeilen lauten: me(n)sa crescen|tis. ego tibi me(n)|sa(m) †oubiftte† | alogies. Man könnte übersetzen: ‘Tafel des zunehmenden Mondes. Ich habe dir die Tafel einer gemeinsamen Mahlzeit vorbereitet (?)’. In der lateinischen christlichen Literatur des 4. Jahrhunderts bezeichnet alogia eine gemeinsame Mahlzeit. Augustinus polemisiert in seinem 397 n. Chr. an den Mailänder Bischof Simplicianus geschriebenen 36. Brief gegen einen ungenannten Autor, der vorschrieb, dass man mit Ausnahme des Sonntags die ganze Woche über fasten müsse; er zitiert die Ausführungen des unbekannten Schreibers wörtlich (ep. 36, 9 = CSEL 34, 38, 3–12 = PL 33, 140): antiqua remota labe duo in carne una Christi iam sub disciplina manentes non debent cum filiis sine lege et cum principibus Sodomorum et cum plebe Gomorrhae sabbatorum uolup-
Die nach Abstreifung des alten Schmutzes unter der Lehre Christi zwei in einem Fleisch Lebenden dürfen nicht mit den gesetzlosen Söhnen, mit den Fürsten der Sodomiter und mit dem Pöbel von Go-
11. ἀλογία / alogia
taria conuiuia exercere, sed cum sanctimonii incolis ac deo deuotis sollemni et ecclesiastico iure magis ac magis legitime ieiunare, ut sex dierum uel leuis error ieiunii, orationis et elemosynae fontibus abluatur, quo possimus dominica alogia refecti omnes aequali corde digne cantare: “saturasti, domine, animam inanem et potasti animam sitientem”.
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morrha am Sabbat lustvolle Mahlzeiten halten, sondern mit den Heiligtumsbewohnern und Gottesverehrern nach feierlichem Kirchenrecht absolut gesetzmäßig fasten, damit durch die Brunnen sechstägigen Fastens, Betens und Almosengebens auch der kleinste Fehler abgewaschen werde und wir so alle durch das Sonntagsmahl erquickt mit ausgeglichenem Herzen würdig singen können: “Du hast, o Herr, die hungrige Seele gesättigt und die dürstende Seele getränkt”.
Nach der Meinung des unbekannten Autors sollten also nach sechstägigem Fasten alle (omnes) guten Christen (Christi iam sub disciplina manentes) am Sonntagsmahl (dominica alogia) mit Genuss teilnehmen (refecti) und so die von Gott kommende Befriedigung des Hunger- und Durstgefühls (saturasti, potasti) nach einer Werktagswoche des Fastens genießen. Offenbar ist hier alogia ohne jeden pejorativen Beigeschmack verwendet. 3. Gründe für die neue Bedeutung im Lateinischen Ein erster Befund muss also lauten, dass im 4. Jahrhundert alogia im Sinne von ‘gemeinsame Mahlzeit’ bei Christen und Heiden gleichermaßen üblich war, wobei ‘Unvernunft’, die alte Bedeutung von griechisch ἀλογία, die im lateinischen Gräzismus alogia noch im 1. Jahrhundert n. Chr. vorhanden gewesen war, überhaupt keine Rolle mehr spielte. Wie aber konnte es dazu kommen, dass das Wort im Lateinischen etwas bedeutete, für das es im Griechischen überhaupt nicht in Frage kam? Theoretisch lassen sich drei Erklärungen denken: Erstens wäre es möglich, dass ein lateinisches Wort, dessen Primärbedeutung mit ἀλογία übereinstimmt, gleichzeitig eine Sekundärbedeutung ‘Gastmahl’ hätte und dass dann eben das griechische Wort als Fremdwort im Lateinischen denselben Bedeutungsumfang wie das rein lateinische Wort angenommen hätte. Diese Möglichkeit muss ausscheiden, denn weder conuīuium noch epulae noch cēna können in irgendeinen Zusammenhang mit einem Wort für ‘Unvernunft’ gebracht werden. Zweitens könnte es sein, dass ἀλογία eine zufällige lautliche Ähnlichkeit mit einem lateinischen Wort hätte, das ‘Gastmahl’ bedeutet. Auch dieser Ansatz führt in die Irre. Es gibt zwar einen – ziemlich vagen – Anklang an alloquia, dem Plural von alloquium ‘Ansprache, Gespräch, Zuspruch’, aber dieses Wort bedeutet niemals etwas, das ins Bedeutungsfeld ‘Gastmahl’ passen könnte. Es bleibt nur die dritte Möglichkeit, dass alogia ‘Gastmahl’ von lateinischen Muttersprachlern aus griechischem Sprachmaterial gebildet wurde; das wäre dann ein Parallelfall zum deutschen Friseur oder Handy. Die Motivation für diese Neubildung ist freilich nicht auf den ersten Blick klar. Im neunzehnten Jahrhundert nahm G. A. Saalfeld an (1884, 44), man habe mit dem Wort “ein Mahl, bei wel-
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chem nicht geredet wird”, bezeichnet. Freilich bedeutet ἀλογία nur ganz selten ‘Schweigen’1, normalerweise aber ‘Rücksichtslosigkeit’ und vor allem ‘Unvernunft’2. Freilich ist die Bedeutung ‘Schweigen’ für einen Nicht-Griechen naheliegend: Wenn man ein Substantiv zu λέγειν ‘reden’ bilden will, liegt λογία ‘Reden’ ziemlich nahe, und wenn man dem Wort ein Alpha privativum vorstellt, entsteht eben ἀλογία ‘Nichtreden’ = ‘Schweigen’, von wo man durchaus zu ‘Schweigemahl’ kommen kann. Es bleibt jedoch die inhaltliche Schwierigkeit, das die antiken Zeugnisse eben gerade nicht ein Schweigebankett nahelegen, denn CIL VI 4 [1], 26554 heißt es ja gerade ad alogiam ueniatis hilares – hilaritas schlägt sich aber normalerweise nicht ausgerechnet in Schweigsamkeit nieder. Gerade Totenfeiern sind von jeher dafür bekannt, dass es auf ihnen laut und ausglassen zugeht (vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 5, 1089 und 1502), und auch Augustinus selbst weist im 22. Brief auf Trunkenheit und Luxusentfaltung bei Feiern auf dem Friedhof hin (PL 33, 92: istae in coemeteriis ebrietates et luxuriosa conuiuia). In einem solchen Zusammenhang könnte man schon annehmen, dass ἀλογία ‘Unvernunft, Über-die-Stränge-Schlagen’ ein Synonym für das luxuriosum conuiuium sein könnte, aber gegen eine solche Vermutung spricht die Tatsache, dass alogia eben nicht nur den Leichenschmaus, sondern auch ein normales, gottgefälliges (!) Sonntagsessen bezeichnete. Möglich wäre es auch, dass zu lateinisch legere ein Pseudo-Gräzismus mit Alpha privativum gebildet worden wäre, also a-logia ‘ein Mahl von Teilnehmern ohne Auswahl nach Stand, Alter usw.’. Diese Lösung würde zum heidnischen Kontext gut passen, aber im christlichen Bereich ergäben sich doch Probleme: Es werden nicht wahllos Teilnehmer zum Mahl geladen, sondern die Zugehörigkeit zur Christengemeinschaft ist das Auswahlkriterium. Es bleibt eine weitere Erklärungsmöglichkeit: Das Adjektiv ἄλογος heißt u. a. ‘unberechnet, kostenlos’ (LSJ 72: ‘without reckoning’; DGE 168: ‘no computado, no tenido en cuenta; que no paga su cuenta’), und λογ(ε)ία steht für ‘Beitragserhebung, Kollekte’. Vielleicht heißt also ἀλογία ursprünglich ‘kostenlose Mahlzeit’, also ‘ein Mahl ohne persönliche Beteiligung an den Unkosten’. Das würde _________ 1 Polyb. 36, 7, 4 heißt es im Zusammenhang mit den Unterwerfungsverhandlungen der Karthager im Jahre 149 über ihre Reaktion: ταχὺ δὲ τοῦ λόγου διαδοθέντος εἰς τὸ πλῆθος, οὐκέτι συνέβαινε γίνεσθαι τὴν ἀλογίαν. Die deutsche Fassung von Hans Drexler (1963, 1293) übersetzt das einfühlend mit: ‘Als sich aber die Kunde mit Windeseile in der Stadt verbreitete, hatte das Verstummen des ersten Schocks ein Ende’. Wirklich ‘Schweigen’ bedeutet ἀλογία nur ein einziges Mal in der griechischen Literatur, bei Lukian (Lex. 15): ἀλογίαν ἡµῖν ἐπιτάττεις ὡς ἀστόµοις οὖσι καὶ ἀπεγλωττισµένοις ‘du legst uns Schweigen auf, als wenn wir keinen Mund hätten und der Zunge beraubt wären’. 2 LSJ 72: “1. ‘want of respect or regard’ [---]; 2. ‘want of reason, absurdity’ [---]; 3. ‘confusion, disorder’ [---]; 4. ‘indecision, doubt’ [---]; 5. ‘irrationality’”; DGE fasc. 2, 167: “I. 1. ‘menosprecio’ [---]; II. 1. ‘sinrazón, insensatez, absurdo’ [---]; 2. ‘irracionalidad’ [---]; 3. ‘pérdida de habla por estupor’ [---]; III. ‘explicación que no da cuenta, mala interpretación’; IV. 1. ‘irracionalidad (mus.)’ [---]; 2. ‘irregularidad, anomalia, contrasentido’ [---]; V. ‘falta de Logos o negación del Verbo divino’. Unter I. 2. ist ‘derroche, banquete desmesurado’ aufgeführt, aber es sind nur einige der oben behandelten lateinischen Stellen genannt.
11. ἀλογία / alogia
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dann sowohl das ‘Totenmahl’ als auch das ‘sonntägliche Gemeinschaftsmahl der Christen’ abdecken. 4. Augustinus’ Polemik gegen ἀλογία ‘Gastmahl’ Für jemanden, der nur wenig Griechisch konnte, mochte alogia ‘Gastmahl’ ganz chic-exotisch klingen und nicht den vielleicht hausbackenen Beigeschmack der eigentlichen lateinischen Bezeichnungen haben. Anders sah es aber aus, wenn man das Mitschwingen des griechischen Sinnes ‘Unvernunft’ im lateinischen Wort empfand. Besonders in polemischer Absicht konnte man dann die griechische Bedeutung gegen die lateinische ausspielen, und genau das tat Augustinus, der die von seinem Gegner positiv gemeinte Verbindung dominica alogia nur zu gern ausschlachtete (ep. 36, 11 = CSEL 34, 39, 24–40, 4 = PL 33, 144): iam uero cum se hominem spiritalem uideri uelit et tamquam carnales pransores sabbati accuset, attende, quemadmodum dominici diei non parco prandio reficiatur, sed alogia delectetur. quid est autem alogia, quod uerbum ex Graeca lingua usurpatum est, nisi cum epulis indulgetur, ut a rationis tramite deuietur? unde animalia ratione carentia dicuntur aloga, quibus similes sunt uentri dediti. propter quod immoderatum conuiuium, quo mens, in qua ratio dominatur, ingurgitatione uescendi ac bibendi quodam modo obruitur, alogia nuncupatur. insuper etiam propter cibum ac potum non mentis, sed uentris alogia diei dominici dicit esse cantandum: “saturasti, domine, animam inanem et potasti animam sitientem”.
Während er sich als geistigen Menschen sehen will und die, die Samstag essen, als Fleischgesinnte anklagt, beachte, wie er sich am Sonntag nicht mit einem maßvollen Mahl begnügt, sondern sich an der Alogia erfreut. Was ist aber die Alogia, ein aus dem Griechischen entlehntes Wort, wenn nicht das Abweichen vom Pfad der Vernunft beim Genuss von Speisen? So werden auch die vernunftlosen Tiere Aloga genannt, denen die, die dem Bauche ergeben sind, ähnlich sind. Deshalb wird ein maßloses Mahl, bei dem die Seele, in der der Verstand herrscht, durch Überflutung von Speise und Trank gewissermaßen zugeschüttet wird, Alogia genannt. Zudem sagt er, wegen der Speise und des Trankes nicht der Seele, sondern des Bauches müsse man bei der Alogie des Sonntags singen: “Du hast, o Herr, die hungrige Seele gesättigt und die dürstende Seele getränkt”.
Augustinus versteht hier um der Polemik willen alogia nicht im normalen Wortsinn seiner Zeit als ‘Gastmahl’, sondern entsprechend der Etymologie als ‘unvernünftige Schwelgerei’, als immoderatum conuiuium, abweichend von jeglicher Vernunft, a rationis tramite, nicht zum Menschen, sondern zu den nichtvernunftbegabten Tieren, animalia aloga = ratione carentia, passend. Jedem zeitgenössischen Gebildeten musste natürlich zudem die Anspielung auf das einleitende Kapitel von Sallusts Catilina mit seinem Körper-Geist-Dualismus
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auffallen3, die mit der Formulierung uentri dediti (Sall. Cat. 2, 8: dediti uentri) herausgestrichen wird: Augustinus’ Gegner predigt das sechstägige Fasten und ist doch dem Körper mehr ergeben als die ‘normalen’ Christen, die nur am Mittwoch und Freitag zu fasten pflegten. Im weiteren Verlauf des Briefes wagt Augustinus sogar ein Wortspiel (ep. 36, 19 = CSEL 34, 48, 15–19 = PL 33, 144): Confitetur tamen etiam ipso die dominico non in ebrietate, sed in iucunditate pranderi. [---] Tunc ergo eulogia, non, ut superius ait, alogia celebrari.
Er gibt immerhin selbst zu, dass man am Sonntag nicht in Trunkenheit, sondern in angenehmer Stimmung speise. [---] Da soll also eine Eulogia und nicht, wie er zuvor sagte, eine Alogia gefeiert werden.
Augustin tut hier etwas, das in der antiken Polemik Gang und Gäbe ist: Er legt einem in einer bestimmten Bedeutung gebrauchten, sozusagen “unschuldigen” Wort einen anderen, den “ursprünglichen, wahren” Sinn bei, um diesen dann gegen den Gegner zu kehren. Man kann folglich aus der Augustinus-Stelle keineswegs den Schluss ziehen, dass alogia unbedingt ‘üppiges Mahl’ (ThLL 1, 1714, 31: ‘cena luxuriosa’) geheißen haben müsste; dieses Bild entsteht nur durch die Bekämpfung des anonymen Gegners. Die Bedeutung von alogia war wohl neutral: ‘gemeinsames Mahl ohne Kostenbeteiligung der Teilnehmer’. Ob es dabei ausgelassen oder ernst, luxuriös oder asketisch zuging, hing von den jeweiligen Umständen ab. 5. alogia ‘Gastmahl’ im Mittelalter Die hier vertretene Auffassung, dass alogia ‘Gastmahl’ ein im Lateinischen gebildeter Pseudo-Gräzismus ist, der nichts direkt mit griechisch ἀλογία ‘Unvernunft’ zu tun hat, wird dadurch bestätigt, dass das eigentliche griechische Wort in den durch mittelalterliche Tradition überlieferten Glossen nicht enthalten ist. Wir finden nur (mit orthographischen Varianten) alogia conuiuium (CGL 3, 489, 62; 509, 59; 4, 15, 4; 5, 338, 43). Dass es zuweilen auch alogia conuiuium Graece (CGL 4, 205, 25; 5, 165, 27; 264, 37) oder erweitert alogia conuiuium Graece, diliciae (CGL 4, 482, 54) heißt, bedeutet nicht, dass die Klassifizierung von alogia als eines letztlich lateinischen Wortes falsch wäre, denn das Material, aus dem das Wort gebildet wurde, ist wirklich griechisch. Es ist vielmehr anzunehmen, dass das Wort überhaupt nur deswegen Eingang in die Glossare fand, weil es bei Augustinus steht, der ja ausdrücklich sagt, dass es aus dem Griechischen komme. Zumindest einer Glossar-Angabe sieht man deutlich an, dass Augustinus’ Formulie_________ 3 Sall. Cat. 1, 1: omneis homines, qui sese student praestare ceteris animalibus, summa ope niti decet, ne uitam silentio transeant ueluti pecora, quae natura prona et uentri oboediantia finxit ‘alle Menschen, die sich vor den übrigen Lebewesen auszeichnen möchten, müssen sich nach Kräften bemühen, das Leben nicht schweigend wie das Vieh zu verbringen, das die Natur vornüber geneigt und dem Bauch gehorchend geschaffen hat’.
11. ἀλογία / alogia
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rungen verarbeitet sind (CGL 3, 488, 1): alogia dicitur, cum epulis indulgetur, ita ut a rationis tramite deuietur; unde et animalia ratione carentia aloga dicuntur. Offenbar war alogia ‘Gastmahl’ ein kurzlebiges Modewort, vielleicht sogar typisch für das Regionallatein Afrikas: Die römische Inschrift CIL VI 4 [1], 26554 = ILS II 2, 8139 betrifft ein Ehepaar aus Thagora in Numidien; CIL VIII Suppl. 3, 20334 ist aus Mauretanien, Augustinus stammt aus Thagaste in Numidien, sein unbekannter Gegner wird auch ein Afrikaner gewesen sein. Zum geläufigen Wortschatz des Mittellateinischen hat alogia ‘Gastmahl’ offenbar nicht gehört: Das Mittellateinische Wörterbuch (1, 499) führt eine einzige Stelle an, die aus den bella Parisiacae urbis des nach 921 verstorbenen Abbo von St. Germain des Prés stammt und an der das Wort charakteristischerweise die Randglosse conuiuium bei sich führt (3, 5): non enteca nec alogia, uerum absida tecum | commaneant ‘weder Schatztruhen noch Bankette, sondern Chorgewölbe sollen bei dir bleiben’. Die von DuCange (1, 198) genannten Belege umfassen – neben Abbo – nur Augustin und die Glossare. 6. ἀλογία und conuiuium in C. Gloss. Biling. II 4 Die Verwendung von Fremdwörtern in einem Sinne, den diese in der fremden Sprache, aus der sie stammen, nicht haben, ist umso unwahrscheinlicher, je besser die Kenntnis dieses fremden Idioms bei den Sprechern ist: Ein Elsässer vermeidet Friseur und sagt Coiffeur. In unserem Zusammenhang bietet sich ein interessanter Beleg für diese Beobachtung auf einem antiken Pergament aus Ägypten an, und zwar auf einem in der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek unter der Inventarnummer L 27 aufbewahrten Schriftstück, das wohl ins 4. Jahrhundert zu datieren ist, also grosso modo in die Zeit des Augustinus. Es handelt sich um ein lateinisch-griechisches Glossar mit Begriffen aus der Wirtshaussphäre, in dem die lateinischen Wörter mit lateinischen, die griechischen mit griechischen Buchstaben geschrieben sind, was ein deutliches Zeichen dafür ist, dass das Pergament ins zweisprachige Milieu gehört. Nur die ersten drei der insgesamt fünfzehn Zeilen sind hier von Interesse (C. Gloss. Biling. II 4; vgl. die Abbildungen CLA X 25 und Tyche 5, 1990, Tafel 2): 1 [con]uiuium 2 [com]mixtum 3 [de]lirium
συνε̣στ[ί]ασις συµπ[όσιον] συνκεραστὸν̣ ἢ κ̣ρ̣ᾶ̣[σις] ἀλο̣γεί̣α ̣[ ̣ ̣ ̣] ̣ ̣ ̣ ̣[
gemeinsames Essen, Trinken Mischgetränk Unverstand
Es ist eindeutig, dass hier, obwohl [con]uiuium und ἀλογία (geschrieben ἀλο̣γεί̣α) ganz nahe beieinanderstehen, das eine Wort nicht zur Erklärung des anderen herangezogen wird, was der Zusammensteller des Glossars doch sicher getan hätte, wenn ihm das griechische ἀλογία im Sinne von lateinisch conuīuīum geläufig gewesen wäre. Dieses aus wirklich zweisprachigem Milieu und nicht wie die mittelalterlichen Wortsammlungen aus einsprachig lateinischer Umgebung stammende Glossar bietet somit ein weiteres Indiz dafür, dass ἀλογία = conuīuīum ein von Lateinern geprägter, vielleicht regional auf Nordafrika beschränkter
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Pseudo-Gräzismus ist, der von denen, die wirklich im alltäglichen Kontakt mit dem Griechischen standen, vermieden wurde.
12. ἀπλίκιτον, ἄπλικτον / applic(i)tum Abstract: In Greek papyri of the Arab period we find ἄπλικτον ‘military camp’, which has a predecessor ἀπλικίτιον in the middle of the 4th century. In this contribution it is argued that this word does not mean ‘prison’, as suggested on the basis of ἀπλικιτάριος ‘policeman in charge of arrests’, but has the same sense like ἄπλικτον in the Arab period; the closed barracks area could be used as a temporary prison. The Vulgar Latin word applic(i)tum is not attested in literary texts, but has survived in medieval Latin and in some Romance forms. Keywords: applic(i)tum, military camps, prisons, Vulgar Latin
1. Papyrusbelege für ἄπλικτον in arabischer Zeit Nach dem Lex. Lat. Lehn. (1996, 88–89) tritt das Wort ἄπλικτον in der Schreibung ἄπληκτον zweimal in Papyri der arabischen Zeit auf. Der erste Beleg steht P. Lond. IV 1435, 125 (= CPR III 1, 66) in einer Aufstellung der “quotas of each requisition assigned to Aphrodito and οἱ ὄντες ἐν Βαβυλῶνι” aus dem Jahre 714/715 (BL V 56). In der Zeilenmitte liest man (ὑπὲρ) ἀπλήκ(του) Μούση mit der Erklärung: “This was no doubt the camp which must have been constructed at Fusṭāṭ for Mūsā’s large train of followers”. P. Lond. IV 1416, 23, eine Aufstellung aus dem Jahre 732/3 (BL VIII 190), lautet: (πε)ρὶ κωδίκ[ω]ν δαπαν(ῶν) ἀπλήκτ(ου) Βε[ ‘über die Ausgabenbücher des Lagers Be[’. Der Kommentar sagt: “What is meant is probably account-books. [---] βε may be the beginning of a name”. Aus diesen beiden Papyrusbelegen kann man sicherlich nicht auf die Bedeutung ‘militärisches Lager, Feldlager’ schließen, die im Lex. Lat. Lehn. zuver-sichtlich angegeben wird; um zu ihr zu kommen, muss man die außerpapyrologi-schen Zeugnisse heranziehen. Zum ersten Male tritt uns das Wort im Strategikon des Maurikios, das zwischen 592 und 610 n. Chr. entstanden ist (Dennis/Gamillscheg 1981, 16), entgegen, und zwar oft; die Bedeutung wird am klarsten an zwei Stellen (I 3 und XII B 20), an denen ἄπληκτα mit φοσσᾶτα, einem üblichen Wort für "Militärbefestigung" , gleichgesetzt wird. An der erstgenannten Stelle heißt es: ἀντικένσορες δὲ λέγονται οἱ προλαµβάνοντες ἐν ταῖς ὁδοιπορίαις καὶ τὰς ἐπιτηδείας ὁδοὺς καὶ τοὺς τόπους τοὺς πρὸς τὴν τῶν ἀπλήκτων ποίησιν ἀνερευνῶντές τε φοσσᾶτα) καὶ κατανοοῦντες, µήνσορες δὲ οἱ τὰ ἄπληκτα ἤτοι φοσσᾶτα µετροῦντές τε καὶ καθιστῶντες.
Quartiermacher werden die genannt, die auf den Märschen vorausgehen und geeignete Wege und Plätze für das Aufschlagen der Lager erkunden und ausfindig machen, Vermesser aber diejenigen, die die Lager (τὰ ἄπληκτα ἤτοι φοσσᾶτα) abmessen und einrichten.
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Dass ἄπληκτον zu Beginn des 7. Jh. zum Normalwort für ‘Feldlager’ geworden war, sieht man daran, dass Kaiser Heraklios in einem Brief aus dem Jahre 628 von einem Befehl παρ᾿ ἡµῶν πρὸς ὑµᾶς ἀπὸ τοῦ ἀπλήκτου ἡµῶν ‘von uns zu euch aus unserem Lager’ (PG 92, 1020 C) spricht. Hierzu passt auch die Erklärung im Suda-Lexikon (3228, s. v. ἀπληκεύω): ἄπληκτον, τόπος ἔνθα καταλύουσι τῆς ὁδοπορίας τὰ στρατόπεδα ‘Lager, Ort, wo die Heere sich vom Marsch ausruhen’. Nach den Tactica des 911 gestorbenen Leo des Weisen wurde φοσσᾶτον für das ‘große Heereslager’ gebraucht, während ἄπλικτον1 allgemeiner war und jedes ‘Militärlager’, ob klein oder groß, bezeichnen konnte (11, 1 = PG 107, 792 D): κυρίως γὰρ φοσσᾶτον τὸ ἄπλικτον τοῦ ὅλου στρατοῦ καλεῖται ‘im eigentlichen Sinne wird das Lager des ganzen Heeres Aplikton genannt’. Das Wort ἄπληκτον bzw. ἄπλικτον blieb üblich, so lange die byzantinische Armee bestand (Belege: Kolias 1941): Die letzten Bezeugungen finden sich im Digenes Akritas2 aus dem 13. Jahrhundert (Beck 1971, 68–70) und im Libistros-Roman3, der im 14. Jahrhundert entstand (Beck 1971, 125). 2. ἀπλίκιτον und ἀπλικιτάριος Fast vier Jahrhunderte vor den Papyrusbelegen aus arabischer Zeit und immerhin fast drei Jahrhunderte vor den literarischen Erstbelegen taucht dasselbe Wort in einer anderen Form in einem Londoner Papyrus auf: In einem wahrscheinlich im Mai oder Juni 335 abgefassten Brief schildert der Melitianermönch Kallistos die Übergriffe gegen seine Glaubensbrüder, die Athanasios und seine Anhänger durchführten, darunter auch folgende (P. Lond. VI 1914, 42–48): ἤν̣εκεν γὰρ ἐ̣π̣ί̣σ̣κ̣ο̣π̣ο̣ν̣ τῆς κάτω χώρας | καὶ συνέκλισεν αὐτὸν ἐν τῷ µακέλλῳ, καὶ πρε̣σ̣β̣ύ̣τ̣ε̣ρ̣ο̣ν̣ τῶν αὐτῶν µερῶν | συνέκλισεν καὶ αὐτὸν ἐν τῷ ἀπλικίτῳ καὶ διάκωνα ἐν τῇ µεγίστῃ φοιλακῇ, καὶ µέχρις | τῆς ὀγδόης καὶ εἰκάδος τοῦ Παχὼν µηνὸς καὶ Ἡραείσκος συνκεκλισµέ|νος ἐστὶν ἐν τῇ παρεµβολῇ – εὐχαριστῶ µὲν τῷ δεσπότῃ θεῷ, ὅτι ἐπαύθησαν ἑ πλη|γαί, ἃς εἶχεν – καὶ ἐπὶ τῇ ἑυδόµῃ καὶ εἰκάδι ἐποίησεν ἐπισκόπους ἕπτα ἀποδη|µῆσαι. _________
Er ergriff nämlich einen Bischof aus dem Unterland und sperrte ihn im Schlachthof ein, und einen Priester aus derselben Gegend schloss er mit ihm zusammen im Aplikiton ein, und einen Diakon in dem größten Gefängnis, und bis zum 28. Pachon ist auch Heraïskos ebenso im Lager eingesperrt – ich danke dem Herrgott, dass die Geißelungen, denen er ausgesetzt war, aufgehört haben – und am 27. veranlasste er sieben Bischöfe, das Land zu verlassen.
1 Die Schreibung mit ι oder η wechselt, weil ja die Aussprache beider Buchstaben [i] war. Eine gewisse Vorliebe für die Schreibung ἄπληκτον erklärt sich zweifellos aus einer pseudo-etymologischen Gleichsetzung des Wortes mit dem homophonen Adjektiv ἄπληκτος ‘ungeschlagen, unverwundet’. 2 Trapp 1971, 134 (G 692 = G III 84): ὅπου θέλεις, αὐθέντη µου, ἂς γίνουν τ᾿ ἄππλικτά σου. Die jüngere Fassung (Z 937 = Z III 460) hat an dieser Stelle ὅπου θέλεις, γενέσθωσαν τὰ ἀππλίκια, αὐθέντα. 3 Lambert 1935, 297 (v. 2860–2861): νὰ ἔνι τὸ καθέναν τὸ δένδρον καὶ ἡ καθεµία του βρύσις | χαριτοερωτοανάπαυσις καὶ ἄππλικτον εὐνοστίας.
12. ἀπλίκιτον, ἄπλικτον / applic(i)tum
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Der Ersteditor, H. Idris Bell, ging davon aus, dass man für dieses ἀπλίκιτον mit der seit dem 7. Jahrhundert üblichen Bedeutung ‘Militärlager’ nicht weiterkommt: Er plädierte für ‘a lock-up or place of temporary detention’, wobei er von der Ableitung ἀπλικιτάριος ausging, “which denotes a subordinate official of the commentariensis (see Joh. Lydus, De Mag. iii, 8, 16), who was himself a member of the Ducal officium. G. Rouillard, L’adm. Civ. De l’Égypte byzantine, p. 42 (cf. P. Cairo Masp. iii, 67287, iv, 1, n.) translates ‘gardien de prison’, but his functions, as defined by Lydus, were rather those of a tipstaff or constable; Lydus calls him ῥαβδοῦχος. Since however, when an interval elapsed between arrest and the opening of the court, some place of detention must be found for the custody of prisoners, and since the title ἀπλικιτάριος in the above sense is difficult to account for if ἀπλίκιτον meant nothing but ‘camp’, it is a likely interference that the latter word was also used to denote a lock-up or place of temporary detention”. Aus dem einmal in einer Kairener Liste von Steuern und Ausgaben aus dem 6. Jh. auftretenden Papyrusbeleg απλικ/ kann man jedenfalls wenig machen. Der Ersteditor Jean Maspéro hatte vorgeschlagen: “Lire απλικιταριος, huissier (Joh. Lydus, De Mag. III, 8; III, 16), gardien de prison: c’est un subordonné du commentariensis de l’officium ducal”. Bernhard Meinersmann (1927, 7) gab das mit ‘Gefängniswärter’ wieder, entsprechend findet man bei LSJ ‘warder’; die Angabe des Lex. Lat. Lehn., ‘Justizbeamter, der Verhaftungen vornimmt’, stimmt mit ‘lictor que practicaba detenciones’ des DGE (2, 401) überein; einen Kompromiss bietet Erich Trapp mit ‘Wächter, der Verhaftungen vornimmt’ (LByzGr 159). Der Ausgangspunkt für diese Bedeutungsangaben ist natürlich nicht der Kairener Papyrus, der keinen Zusammenhang liefert und wo man απλικ/ eher zu ἄπλικ(τα) auflösen wird, sondern der einzige antike Autor, bei dem ἀπλικιτάριοι zweimal vorkommt, der in der ersten Hälfte des 6. Jh. schreibende Johannes Lydus (mag. 3, 8 und 16). Erfreulicherweise sind seine Angaben recht klar. Als Untergebene der commentāriēnsēs werden applicitāriī und clāuīculāriī genannt4. Es wird folgende Beschreibung ihres Aufgabenbereiches geboten (3, 8, 2): ἀπλικιτάριοί γε µὴν καὶ κλαβικουλάριοι, ὧν οἱ µὲν τοὺς ῥαβδούχους µόνον τοὺς συλλαµβάνοντας τοὺς ἐγκληµάτων ἕνεκα πιεζοµένους, οἱ δὲ τοὺς δεσµὰ περιτιθεµένους αὐτοῖς διασηµαίνουσι5.
Es gibt Applicitarii und Clavicularii, von denen die Erstgenannten nur die Liktoren bezeichnen, die die eines Verbrechens beschuldigten festnehmen, die Zweitgenannten hingegen diejenigen, die ihnen Ketten anlegen.
_________ 4
Joh. Lyd. mag. 3, 16, 2, im Kapitel περὶ τῶν κοµµενταρησίων: οὗτοι τὰς µὲν ἐγκληµατικὰς ἐξετάσεις ἔφερον τῷ δικαστηρίῳ, ὑπασπιζόντων αὐτοῖς, ὡς προδεδήλωται, ἀπλικιταρίων τε καὶ κλαβικουλαρίων µετὰ πλήθους ῥαβδούχων σιδηραίοις δεσµοῖς καὶ ποιναίων ὀργάνων. 5 Diese Stelle von Johannes Lydus hat offenbar dem Verfasser des Etymologicum Magnum (527, 26–29) vorgelegen: κοµενταρήσιοι, τοὺς ἐπὶ τῶν ὑποµνηµατογράφων πράττοντας ὁ νόµος καλεῖ καὶ ὑπηρετοῦντας ταῖς ἐγκληµατικαῖς δίκαις, ὑπασπιζόντων αὐτῶν ἀπληκταρίων καὶ κουβικουλαρίων µετὰ πλήθους ῥαβδούχων, σιδηρέων δεσµῶν καὶ ποιναίων ὀργάνων σαλευόντων τῷ φόβῳ τὸ δικαστήριον· εἰσὶ δὲ καὶ οἱ νῦν λεγόµενοι χαρτουλάριοι.
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Es geht also bei den ἀπλικιτάριοι um Justizangestellte (= ῥαβδοῦχοι = lictores), die die von den commentāriēnsēs, d. h. von den obersten Kriminalbeamten6, angeordneten Festnahmen durchführten, während die clāuīculāriī die Beschuldigten dingfest machten. In unserer Terminologie könnte man den applicitārius7, der den Haftbefehl auszuführen hatte, vielleicht als Vollzugsbeamten, Wachtmeister oder Polizisten (Jacques Schamp übersetzt: ‘gendarme’) bezeichnen, und ein clāuīculārius wäre dann ein Häftlingsbewacher (J. Schamp: ‘porte-clefs’), der dafür zu sorgen hatte, dass der einmal Festgenommene nicht entfliehen konnte. Dieses Wort ist im Lateinischen mehrfach belegt (ThLL III 1316, 29–47) und kann mit ‘carcerarius’ bzw., in der Formulierung von Firmicus Maternus (3, 5, 26), als ‘carceris custos’ umschrieben werden. Wenn somit festgehalten ist, was ἀπλικιτάριος = applicitārius bei Johannes Lydus heißt, so sind wir freilich der Bedeutung von ἀπλίκιτον im P. Lond. VI 1914, 44 keinen Schritt näher gekommen, denn wenn ἀπλικιτάριος, woran wohl kein Weg vorbei führt, nicht als ‘Gefängniswärter’, sondern als ‘festnehmender Polizist’ zu verstehen ist, dann kann man mit diesem Wort natürlich nicht argumentieren, um ἀπλίκιτον ‘Gefängnis’ zu stützen. 3. Zur Bedeutung von ἀπλίκιτον in P. Lond. VI 1914 Aber bezeichnet denn dieses ἀπλίκιτον wirklich ‘eine Einrichtung zur Verwahrung von verhafteten Personen [---] etwa für die Zeitspanne von der Verhaftung bis zur Verfahrenseröffnung’ (Lex. Lat. Lehn. 1, 89), also nach unserer Terminologie ein ‘Untersuchungsgefängnis’? Es lohnt sich vielleicht, die Aussagen des P. Lond. VI 1914 noch einmal näher unter die Lupe zu nehmen, in dem Vorgänge beschrieben werden, die in der παρεµβολή von Nikopolis bei Alexandria – dieses Wort wird nicht weniger als zehnmal verwendet – geschahen. Es handelt sich hier bei παρεµβολή wohl um eine geradezu zum Ortsnamen gewordene Bezeichnung8 und nicht mehr um das seit Polybios belegte Appellativum mit dem Sinn ‘Militärlager’ (und dann ‘Lager’ allgemein, ohne militärischen Hintergrund), das in dem Maße, wie στρατόπεδον, das die Bedeutung ‘Heer, Armee’ annahm, für ‘Lager’ nicht mehr verfügbar war, zum Normalwort geworden war und sich angesichts der Tatsache, dass in einem auf längere Zeit angelegten Militärlager notwendigerweise Mannschaftsunterkünfte errichtet werden müssen, bald auch auf Gebäude (Baracken, Kasernen) bezog. Das ist beispielsweise bei der berühmten Stelle der _________ 6 RE IV 1, 766: “Seit dem Ausgange des 4. Jhdts. erscheint der commentariensis in den Rechtsquellen ausschließlich als Hülfsorgan der Strafrechtspflege”; Rouillard 1928, 44: “Dans les bureaux du commentariensis, on s’occupe des affaires criminelles”. Johannes Lydus schreibt (3, 4, 4): κοµµενταρήσιοι δύο (οὕτω δὲ τοὺς ἐπὶ τῶν ὑποµνηµατογράφων πραττοµένων ὁ νόµος καλεῖ), in der Übersetzung von Jacques Schamp: “deux commentarienses (c’est la dénomination légale pour les responsables de l’exécution au pénal des décisions consignées par écrit)”. 7 In lateinischen Texten ist das Wort nicht belegt, vgl. ThLL II 295, 74-76. 8 Calderini / Daris Suppl. 2, 151; 4, 53–54. Klaas Worp 1991, 294, möchte parembole “in the Not. Dign. § 28, 19, as pertaining to the military garrison of and barracks at Alexandria” interpretieren, vgl. auch Hanson 1980 und Bärbel Kramer/John C. Shelton 1987, 57 und 60.
12. ἀπλίκιτον, ἄπλικτον / applic(i)tum
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Apostelgeschichte der Fall, bei der Paulus, bevor er sich als cīuis Rōmānus (22, 29) zu erkennen gibt, εἰς τὴν παρεµβολήν (21, 34; 37; 22, 24) gebracht werden soll9, und völlig eindeutig ist der Bezug auf ein Gebäudeauch in O. Wilcken 2, 901, 1–3 , wo es heißt: παρ[εκοµί]σαµεν ἀχύρου | εἰς ὑπόκαυσιν τοῦ βαλανείου | τῆς παρεµβολῆς Οὖφιν. Natürlich setzt die spätere Entwicklung von παρεµβολή zu einem Ortsnamen ebenfalls die Existenz von festen Gebäuden voraus. In der παρεµβολή Alexandrias haben nach P. Lond. VI 191 fünf Übergriffe der Athanasios-Partei stattgefunden: Ein Bischof wurde im µάκελλον festgesetzt, ein Priester im ἀπλίκιτον, ein Diakon in der µεγίστη φυλακή, Heraiskos wurde bis zum 28. Pachon in der Παρεµβολή festgehalten, und am 27. Pachon wurden sieben Bischöfe zum Verlassen des Landes gezwungen. Die ersten drei Fälle liegen offenbar parallel: Gefangenschaft an drei verschiedenen Orten, vielleicht um konspirative Kontakte zu verhindern. Die µεγίστη φυλακή war sicher eine feste Einrichtung des Strafvollzuges, sozusagen das Zentralgefängnis, aber genauso sicher war das µάκελλον, der Schlachthof, keine solche Einrichtung, sondern wir haben es mit dem in der Spätantike häufigen Fall zu tun, dass “neben den regu– lären Gefängnissen nach Bedarf weitere Haftmöglichkeiten improvisiert wurden” (Krause 1996, 264). Warum soll dann vor diesem Hintergrund mit ἀπλίκιτον eine feste Einrichtung der Justiz gemeint sein, von der es sonst auch nicht die Spur einer Nachricht gibt? Viel wahrscheinlicher ist es doch, dass wir es wie bei µάκελλον mit einer zufällig gewählten öffentlichen Einrichtung zu tun haben10, die eben geeignet erschien, für eine gewisse Zeit Gefangene zu beherbergen (Krause 1996, 264). Was hindert uns anzunehmen, dass ἀπλίκιτον hier dieselbe Bedeutung hat wie etwa drei Jahrhunderte später ἄπλικτον, nämlich Militärlager oder Kaserne? Und einen Grund dafür, dass hier ein Wort auftaucht, das man sonst noch lange erfolgreich aus der Literatursprache fernzuhalten vermochte, lässt sich auch denken: Den eigentlichen Ausdruck für Kaserne, nämlich παρεµβολή, konnte man nicht anwenden, weil er bereits für ein anderes Gebäude verwendet wurde. Wir haben es also im Griechischen mit zwei – und nicht mit drei – Ausdrücken zu tun, einmal mit dem vom 7. Jh. an massiv auftretenden ἄπλικτον ‘Lager, Kaserne’, das in der nicht-synkopierten Form ἀπλίκιτον unter besonderen Umständen auch schon im 4. Jh. greifbar wird, und zum anderen mit dem im 6. Jh. auftretenden ἀπλικιτάριος als Bezeichnung für den Justizbeamten, der Verhaftungen vornimmt. 4. Die lateinische Herkunft von ἀπλίκιτον, ἄπλικτον und ἀπλικιτάριος Hier ist nun der Punkt gekommen, der semantischen Analyse eine etymologische Untersuchung zur Seite zu stellen, um zu versuchen, die postulierten Bedeutungen durch die Gegebenheiten der Ausgangssprache zu stützen. _________ 9
Balz / Schneider 1983, 88: “In der Apostelgeschichte durchweg in der Wendung εἰς τὴν παρεµβολήν zur Bezeichnung der römischen Kaserne in der Burg Antonia in Jerusalem”. 10 Das µάκελλον in Oxyrhynchos hatte beispielsweise ‘Säulen’, στῦλοι, vgl. P. Oxy. LXIV 4441, col. V 11.
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Es liegt nahe, hinter ἄπλικτον lat. applictum, hinter ἀπλίκιτον lat. applicitum und hinter ἀπλικιτάριος lat. applicitārius zu vermuten. Allerdings muss man feststellen, dass entsprechende Substantive im Lateinischen nicht belegt sind. Es gibt lediglich das Verb applicāre11, das ausgehend von der Grundbedeutung ‘nahe heranbringen’ viele weitere Bedeutungen hervorgebracht hat, z.B. in der nautischen Fachsprache nāuem ad terram applicāre ‘ein Schiff ans Ufer bringen’ und auch absolut applicāre ‘landen’ (ThLL II 296, 65–297, 12). Nicht selten kommt das Verb im militärischen Kontext vor, wenn es darum geht, dass Einheiten oder Einrichtungen näher an strategische Ziele herangeführt werden: ita tamen aciem instruxerunt, ut Peonus dextrum cornu in collem erigeret, Romani sinistrum ad oppidum applicarent (Liv. 27, 2, 5); consul Cornelius eidem flumini castra applicuit (Liv. 32, 30, 5); oppidum [---] diu oppugnatum tandem [---] applicitis turribus captum atque deletum est (Oros. 6, 11, 3). Ausgesprochen häufig kommt applicāre in der Vulgata-Fassung des ersten Makkabäer-Buches vor, und hier haben wir ja die Möglichkeit zu beobachten, welchem griechischen Verb des Urtextes applicāre entspricht: Es wird immer dann verwendet, wenn im Griechischen παρεµβάλλειν steht, vgl. z.B. applicuit ad eos = παρενέβαλεν ἐπ᾿ αὐτούς (5, 5); et ecce applicuerunt hodie ad arcem in Hierusalem occupare eam = καὶ ἰδοὺ παρεµβεβλήκασι σήµερον ἐπὶ τὴν ἄκραν ἐν Ἱερουσαλὴµ τοῦ παραλαβέσθαι αὐτήν (6, 26); applicuerunt exercitum ad Hierusalem = παρενέβαλον ἐπὶ Ἱερουσαλήµ (9, 3). In den genannten Beispielen hat παρεµβάλλειν, das eigentlich ‘zusätzlich hineinwerfen’ heißt, die fachsprachlich-militärische Bedeutung ‘auf ein strategisches Ziel vorrücken’ (vgl. LSJ I 2: ‘draw up in battle-order’), was zur entsprechenden Anwendung von applicāre passt, die im vorigen Abschnitt herausgestellt wurde. Daneben gibt es aber noch eine weitere Bedeutung von παρεµβάλλειν, nämlich ‘ein Lager anlegen, lagern’, vgl. LSJ II 2: ‘(of an army) encamp’. Der Anknüpfungspunkt dafür ist wohl darin zu sehen, dass eine Armee auf ihr strategisches Ziel anrückt und dann vor dem Beginn der Kampfhandlungen ein Lager aufschlägt. Den ersten Beleg für παρεµβάλλειν ‘lagern’ findet man bei Polybios (1, 77, 6: τοῦ δ᾿ Ἁµίλκου παρεµβεβληκότος ἔν τινι πεδίῳ πανταχόθεν ὄρεσι περιεχοµένῳ συνέβη τὰς παρὰ τῶν Νοµάδων καὶ Λιβύων βοηθείας εἰς τὸν καιρὸν τοῦτον συνάψαι τοῖς περὶ τὸν Σπένδιον ‘während Hamilkar in einer rings von Bergen umschlossenen Ebene lagerte, traf es sich, dass gleichzeitig die von den Numidern und Libyern gesandten Hilfstruppen zu Spendios stießen’). Es muss sich um eine geläufige Ausdrucksweise der hellenistischen Soldatensprache gehandelt haben, denn die Septuaginta-Übersetzer wählten das Wort zur Wiedergabe des hebräischen Verbs [ חנהḥana] aus, das ‘lagern’ sowohl im militärischen _________ 11 Etymologisch liegt eine der zahlreichen Präfixbildungen zu *plecāre ‘flechten’ (zu indogerm. *plek-, vgl. πλέκω) vor, das als Simplex nicht belegt ist, weil es schon in vorliterarischer Zeit durch eine Form mit –t–Erweiterung, plectere, ersetzt wurde, vgl. Walde / Hofmann 1982, II 323; Ernout / Meillet 1985, 514: “A côté de plectō il existe un intensif de la même racine en –a, et sans le t suffixal, usité surtout dans les composés applicō, complicō, explicō, implicō. [---] C’est d’après ces composés qu’a été refait le simple plicō, au lieu de *plecō attendu”.
12. ἀπλίκιτον, ἄπλικτον / applic(i)tum
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als auch im nichtmilitärischen Sinne, etwa im Zusammenhang mit Hirten und Herden, bedeutete12; und weil nun παρεµβάλλειν in der Bedeutung ‘vorrücken’ durchaus passenderweise mit applicāre übersetzt wurde, gab man angesichts der antiken Tendenz, für ein Wort immer nur eine Übersetzung zu gebrauchen, auch παρεµβάλλειν ‘lagern’ mit applicāre wieder, obwohl das weit weniger passend war. Das Sprachgefühl des Hieronymus scheint sich gegen die Übersetzung dieses παρεµβάλλειν durch applicāre gesperrt zu haben, aber in verschiedenen Fassungen der Vetus Latina kommt es durchaus vor, z.B. Gen. 33, 18 (ap. Aug. in hept. 1, 102 = PL 34, 576): applicuit ad faciem ciuitatis = παρενέβαλεν κατὰ πρόσωπον τῆς πόλεως (die Vulgata hat habitauit iuxta oppidum) oder Exod. 19, 2 (ap. Aug. in hept. 2, 70 = PL 34, 620): applicuit Israel ibi contra montem = παρενέβαλεν ἐκεῖ Ἰσραὴλ κατέναντι τοῦ ὄρους (Vulgata: ibique Israel fixit tentoria e regione montis). Aus dem ersten Makkabäerbuch gehören ebenfalls einige Beispiele hierher, und bei ihnen kann man sehr schön sehen, dass die Grenze zwischen ‘vorrücken’ und ‘lagern’ durchaus fließend war: castra applicuit ad Bethoron = παρενέβαλεν ἐν Βαιθωρών (7, 39); Antiochus autem rex applicuit castra in Dora = Ἀντίοχος δὲ ὁ βασιλεὺς παρενέβαλεν ἐπὶ Δωρᾶ (15, 25). Aber auch in Texten, die nicht aus dem Griechischen übersetzt sind, tritt applicāre in der Bedeutung ‘lagern’ auf. Der eindeutigste Beleg findet sich im Itinerarium Antonini 41 (p. 215): applicuimus ibi dies duos ‘dort haben wir zwei Tage gelagert’. Im Sinne von ‘lagern’ war applicāre spätestens im 6. Jh. so geläufig, dass es mit der normalen -āre/-εύειν-Entsprechung (Palmer 1946, 134) ins Griechische entlehnt werden konnte: Der früheste Beleg für ἀπληκεύω findet sich bei Johannes Malalas († 578), wo es heißt: τὸ δὲ πλῆθος τοῦ στρατοῦ τὸ ἐπὶ Κτησιφῶντα καὶ τὸ ἀπὸ πολλοῦ διαστήµατος ἀπληκεῦον οὐκ ἔγνω τὰ συµβάντα (333, 15 Dindorf = PG 97, 497B); an der Wende vom 6. zum 7. Jahrhundert verwendete Maurikios dann das Wort ganz selbstverständlich als Fachterminus (mehr als 50 Belege), und im Mittelgriechischen war es ausgesprochen lebendig (Κριαρᾶς 2, 362–363); die Neubildung ἀπλίκω kennt ausgehend vom substantivierten Infinitiv ἀπλικεῖν (Meyer 1895, 11) in Süditalien ein bescheidenes dialektales Weiterleben bis heute (Andriotis 1974, 129 = Nr. 873; LGII 44–45). Das zum Verb παρεµβάλλειν, der normalen Entsprechung von applicāre, gehörige Substantiv ist παρεµβολή, mit dem wir uns oben bereits beschäftigt haben und das in den Papyri, wo es durchaus häufig vorkommt, ‘Militärlager’ und ‘Kaserne’ als einzige Bedeutung hat. Man könnte nun vermuten, dass es nahe lag, das griechische Zusammenspiel des Verbs παρεµβάλλειν und des Substantivs παρεµβολή im Lateinischen nachzuahmen, also dem Verb applicāre ‘lagern’ ein Substantiv zur Seite zu stellen. Man würde zunächst an applicātiō denken, aber obwohl in der Tat ein Beleg in den spätantiken Glossen darauf schließen lässt, _________ 12 Zum Verb ‘ חנהsich niederlassen, das Zelt aufschlagen, lagern (auch in militärischem Sinne)’ und zum dazugehörigen Substantiv [ מחנהmaḥanæ] ‘Lager; Heer’ vgl. Gesenius 1962, 243–244 und 414–415.
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dass dieser Weg versucht wurde13, konnte diese Lösung keinen Erfolg haben, weil applicātiō bereits für die wichtigen Bedeutungen ‘Zuneigung’ und ‘Klientelverhältnis’ besetzt war. Man scheint daher auf eine Substantivierung des Partizips Perfekt Passiv applicitum (in umgangssprachlicher Kürzung applictum) zurückgegriffen zu haben. Hier nun konnte sich das konservative Sprachbewusstsein, das schon applicāre ‘lagern’ nur widerwillig geduldet hatte, durchsetzen: Aus der lateinischen Literatursprache blieb applic(i)tum ‘Lager, Kaserne’ ausgeschlossen. An der Existenz des Wortes in der Umgangssprache dürfen wir aber nicht zweifeln. Dafür spricht nicht nur das griechische ἄπλικτον, sondern es wird auch durch Belege aus dem Mittellatein Italiens wahrscheinlich gemacht, wo applictum vom 9. bis zum 13. Jh. im Sinne von ‘einfaches Nebengebäude’ vor-kommt14; es gibt sogar ein (bescheidenes) Nachleben im Romanischen15. 5. applicitārius ‘der den Beschuldigten herbeizitiert’ > ‘Verhaftender’ Eine Erklärung von applic(i)tum ‘Lager’ von der Verbbedeutung applicāre ‘lagern’ aus macht aber noch nicht klar, wie man applicitārius ‘für die Verhaftungen zuständiger Justizbeamter’ deuten soll, denn wenn die Bedeutung ‘Gefängnis’ für applicitum ausfällt, dann sind auch die Ausführungen im Lex. Lat. Lehn. hinfällig, denen zufolge eine denominative -ārius-Bildung ausgehend von einer Sachbezeichnung vorliegen soll. In Wahrheit dürfte eine ganz andere semantische Vorgeschichte anzunehmen sein. Eine nicht im Vordergrund stehende, aber doch durchaus vorkommende und mit der Grundbedeutung ‘nahe heranbringen’ eng zusammengehörige Bedeutung von applicāre ist ‘kommen lassen, herbeizitieren’ (Mittellat. Wb. 1, 799, 59–69). So hat die Vulgata Num. 16, 5 mane, inquit, notum faciet dominus, qui ad se pertineant, et sanctos applicabit sibi, wo die Septuaginta καὶ ἔγνω ὁ θεὸς τοὺς ὄντας αὐτοῦ καὶ τοὺς ἁγίους καὶ προσηγάγετο πρὸς ἑαυτόν bieten. Sir. 33, 12 wird πρὸς αὐτὸν ἤγγισε mit ad se applicauit übersetzt. In der Passio Sanctae Felicitatis et septem filiorum heißt die Formel, mit der der Stadtpräfekt Publius einen der Söhne der frommen Felicitas herbeibefiehlt, iussit tertium filium applicari (61, 45). In den pseudo-quintilianischen declamationes liest man (16 arg.): duo amici profecti ad tyrannum appliciti sunt. _________ 13 CGL 2, 19, 35: applicatio καταγώγιον. Die Vorstellung des ‘Vorrückens’ findet man CGL 2, 422, 40: προσέλασις applicatio. 14 Belege aus dem mittelalterlichen Süditalien bei Serra 1941, 105–106, vgl. LEI III 1, 279: “Cfr. lat. mediev. pugl. uno applicto terraneo (Bari 1011, Serra, LN 3, 106), applictum eiusdem monasterii nostri (ib.), acclittum (1259, ib., lat. mediev. camp. applittum de casa lignitia (Salerno 856, ib.)”. Das Mittellateinische Wörterbuch (1, 799) hat nur einen Beleg aus dem Jahre 1182 (chart. Namb. 316) für das Verb applicāre ‘anbauen’. 15 LEI III 1, 278–279, zu *applictus ‘appendice, riparo’: korsisch all’appyéttu ‘im Geheimen’, Gargano all’aććíttə ‘im Windschutz’, sizilianisch appittu ‘Höfchen’; dolomitenladinisch aplët ‘Mieter’. “L’esistenza di aplictum ‘annesso di un edificio, casolare di un podere’ anche nell’Italia sett. pare assicurata dalla forma lat. mediev. Emil. in terra vel aplicte palliaticie (Modena 869, Sella, LN 3, 106) e dal derivato lat. mediev. lomb. aplectoras (< *applictula, 850, ib.), lat. mediev. piem. plectola (Ivrea 1183, ib.)”.
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Die letztgenannten Beispiele beziehen sich auf eine politisch mächtige Person, die jemanden ‘kommen lässt, herbeizitiert’, und hier dürfte der Anknüpfungspunkt sein, von dem aus man zu applicitārius ‘Beamter, der Verhaftungen vornimmt’ kommt. Wenn man auf die Funktion schaut, die der applicitārius nach Johannes Lydus hatte, dann passt sie genau zu der Bedeutung ‘kommen lassen, herbeizitieren’: Er musste die Tatverdächtigen (τοὺς ἐγκληµάτων ἕνεκα πιεζοµένους) ergreifen (συλλαµβάνειν), natürlich um sie vor die Gerichtsbarkeit kommen zu lassen, er musste sie aber nicht dingfest machen, um sie dauerhaft an der Flucht zu hindern – dafür war der clāuīculārius zuständig, der die zwischen Freiheit und Gefangenschaft unterscheidenden Schlüssel bewahrte. Die Wortbildung von applicitārius ist unproblematisch: berufsbezeichnende -ārius-Ableitung vom Partizip Perfekt Passiv (Leumann 1977, 299 = § 277, 2c). 6. (ap)plicāre – eine große spätantike Wortfamilie Wenn die hier vorgeschlagenen Erklärungen von applic(i)tum und applicitārius richtig sind, dann bedeutet das natürlich, dass beide Wörter auf der direkten Ebene gar nichts miteinander zu tun haben, sondern dass ihre Gemeinsamkeit nur darin besteht, zu demselben Basisverb applicāre zu gehören, freilich zu zwei völlig verschiedenen Bedeutungssträngen. Eine solche Lösung mag man in der Lehnwortgeschichte im allgemeinen nicht, aber man darf nicht vergessen, dass applicāre (in seiner vulgären Variante plicāre16) noch in einer weiteren ganz anderen Bedeutung ins Griechische kam, nämlich als πληκεύειν ‘sich nähern, ankommen’ (Petersmann 1989, 413–414). Ganz offenbar erfreuten sich applicāre, plicāre und davon abgeleitete Nomina im gesprochenen Latein der Spätantike, besonders in der Soldatensprache, einer derartigen Beliebtheit, dass nicht nur ein beachtliches Weiterleben in den romanischen Sprachen mit weit gefächerter Semantik möglich war, sondern auch mehrmals eine Entlehnung ins Griechische erfolgte.
_________ 16 DCECH 3, 729: “El empleo de plicare no se hace usual hasta la baja época y hemos de mirarlo por tanto como una mera variante vulgar de applicare”. Die romanischen Nachfolgeformen von (ap)plicare bedeuten vielfach ‘ankommen’ (port. chegar, sp. llegar, valenc. aplegar), rum. pleca heißt allerdings das Gegenteil, ‘weggehen, abfahren’ (gemeinsame Vorstufe: ‘sich irgendwohin richten’).
13. ἀραβάρχης, ἀλαβάρχης / arabarches, alabarcha Abstract: ἀλαβάρχης, common in literature but rare in inscriptions and papyri, is a phonetic variant of ἀραβάρχης. In Flavius Josephus, the ἀλαβάρχης held a lucrative office at Alexandria, often occupied by members of wealthy Jewish families. In legal texts, ἀραβάρχης / ἀλαβάρχης is an important tax officer. In papyri, ἀραβάρχης is the normal form denoting the most senior customs officer (the personnel was recruited among Arabs). There are some other uses of ἀραβάρχης which do not occur in Egyptian papyri. Keywords: arabarches, alabarches, tax personal, customs personal, Jewish families in Alexandria
1. ἀραβάρχης, ἀλαβάρ χης und arabarchēs, arabarcha in der Literatur Das griechische Wort ἀραβάρχης kommt in der griechischen Literatur überhaupt nicht vor; für ἀλαβάρχης gibt es drei Belege bei Flavius Iosephus in den Antiquitates Iudaeorum. Alle beziehen sich auf einen hohen Beamten namens Alexandros in der jüdischen Gemeinde von Alexandria zur Zeit der Kaiser Tiberius (18, 6, 3 = 159)1, Caligula (18, 8, 1 = 259) und Claudius (19, 5, 1 = 276). Dieser Alexandros Lysimachos (RE I 2, 1441 = Nr. 26), Bruder des Philosophen Philon von Alexandria (18, 8, 1 = 259), Vater des Praefectus Aegypti Tiberius Iulius Alexander (20, 5, 2 = 100, vgl. RE X 1, 153–158 = Nr. 59) und (kurzzeitiger) Schwiegervater der Berenike, der Tochter des jüdischen Königs Agrippa (19, 5, 1 = 276, vgl. RE III 1, 287–289 = Nr. 15), war einer der herausragenden Vertreter der romfreundlichen Fraktion der Juden Alexandrias. Seinen Reichtum erkennt man daran, dass König Agrippa ihn um ein Darlehen von 200.000 Sesterzen bat (18, 6, 3 = 159). Auch das Verb ἀλαβαρχέω (belegt ist ἀλαβαρχήσαντος, der Genitiv des Aoristpartizips) bezieht sich auf Alexandros (20, 5, 2 = 100). Hingegen ist mit dem Substantiv ἀλαβαρχία das Amt gemeint, das der edle und reiche Alexandriner Demetrios (RE IV 2, 2802 = Nr. 49) innehatte, als er 54 n. Chr. Herodes’ Tochter Mariamne heiratete (20, 7, 3 = 147: Μαριάµµη [---] συνῴκησε Δηµητρίῳ τῷ τῶν ἐν Ἀλεξανδρείᾳ Ἰουδαίων πρωτεύοντι γένει τε καὶ πλούτῳ· τότε δὴ καὶ τὴν ἀλαβαρχίαν αὐτὸς εἶχε). In der griechischen Literatur kommt ἀλαβαρχία in der Schreibung ἀλαβαρχεία außer bei Flavius Josephus nur noch einmal vor, in einem Epigramm, das unter dem Namen des Palladas von Alexandria (zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr.) läuft. Die Wechselfälle des Schicksals werden dort an einem Esel exem_________ 1 Diese Stelle wird wörtlich von Eusebios (hist. eccl. 2, 5, 4 = GCS 2, 116, 13–118, 6 = PG 20, 148 B–149 A) und von Konstantinos VII. Porphyrogennetos (de legat. p. 374) zitiert. Rufinus hat in seiner lateinischen Eusebios-Übersetzung ἀλαβάρχης mit alabarcha wiedergegeben.
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plifiziert, der gute Zeiten hatte, als er der ἀλαβαρχεία zugeordnet war, und schlechte Zeiten jetzt beim armen Grammatiker erlebt (Anth. Pal. 11, 383, 3–4): ἐξότε γὰρ καὶ τοῦτον ὄνον χαλεπὸς χρόνος ἔσχεν, Seither hat auch diesen Esel eine schwere Zeit getroffen, ἐξ ἀλαβαρχείας γραµµατικοῦ γέγονεν. aus der Alabarchie geriet er an einen Grammatiker. Was genau Palladas mit ἀλαβαρχεία meint, entzieht sich unserer Kenntnis, aber da es hier um den Gegensatz zwischen reich und arm (der Grammatiker steht normalerweise für den Hungerleider) geht, muss man zumindest voraussetzen, dass es ein einträgliches Amt ist, das bei dem, der es innehat, Reichtum voraussetzt. Über die Frage, was für ein Amt in Alexandria Flavius Josephus genau gemeint haben könnte, gibt es seit dem 16. Jahrhundert einen Berg an Literatur, wobei der ältere Diskussionsstand am leichtesten aus den Angaben bei Stephanus (1831– 1856, I 1, 1383) hervorgeht: Entweder glaubte man, ἀλαβάρχης sei ein von ἀραβάρχης zu trennendes Wort und bezeichne ein spezielles Amt der jüdischen Gemeinde, “summum magistratum Judæorum Alexandrinorum, qui alias ἐθνάρχης sive γενάρχης appellatur”, oder man ging von der Identität von ἀλαβάρχης und ἀραβάρχης aus und nahm ein ägyptisch-römisches Amt an (“praefectus Arabiæ, Ægypto conterminæ, [---] eique delegatam fuisse curam exigendi vectigalis, quod pendendum ab iis esset, qui armenta ex Arabia in Ægyptum, vel hinc illuc traduceret”), dessen Inhaber zu einem bestimmten Zeitpunkt die bei Josephus genannten alexandrinischen Juden waren. Neben der offenkundigen Zuordnung der Bestandteile von ἀραβάρχης zu Ἄραψ und ἄρχειν gab es allerlei völlig unplausible Versuche zur Herleitung aus dem Hebräischen, aber auch den Vorschlag, an ἄλαβα ‘Tinte’ anzuknüpfen, ein Gedanke, der sich bereits in den 1566 in Paris erschienenen Observationes et emendationes des Jacobus Cujacius (VIII 37) findet. Es handelt sich dabei um eine typische Humanistenetymologie, auf die man eigentlich nicht näher eingehen müsste, hätte Barbara Pastor de Arozena (1994, 234) sie nicht neuerlich – ohne Hinweise auf ihre frühneuzeitlichen Vorgänger – wiederbelebt. Dass dieser Vorschlag nicht zum Ziel führt, sieht man schon daran, dass ἄλαβα nur ein einziges Mal belegt ist, und zwar im 5./6. Jahrhundert beim Raritätenjäger Hesych: ἄλαβα· µέλαν, ᾧ γράφοµεν. Es ist kaum vorstellbar, dass ein Wort, das im Normalgriechischen nicht vorkommt, den Ausgangspunkt zu einer als Amtsbezeichnung verwendeten Zusammensetzung gebildet haben sollte, und auch semantisch ist ‘Herr der Tinte’ nicht gerade eine prachtvolle Lösung für die Motivierung der Bezeichnung eines hohen Beamten, trotz aller Mühe, die Frau Pastor de Arozena sich gibt (1994, 234: “alabarca designa el instrumento utilizado en el ejercicio de su labor: ἄλαβα ‘la tinta’ empleada en los documentos”), denn bei einem durchbürokratisierten Land wie dem römischen Ägypten brauchten selbstverständlich a l l e Beamten Mengen von Tinte, nicht nur die Inhaber eines bestimmten Amtes. Die Auffassung, dass ἀλαβάρχης ein judengriechisches Synonym für den ἐθνάρχης der jüdischen Gemeinde gewesen sein könnte, wurde 1875 von E. Schürer in den Grundfesten erschüttert, denn er machte es wahr-
13. ἀραβάρχης, ἀλαβάρχης / arabarches, alabarcha
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scheinlich, dass Flavius Josephus mit ἀλαβάρχης überhaupt nicht auf eine bestimmte Funktion bei den Juden angespielt habe, sondern dass anzunehmen sei, dass ein wohlhabender und einflussreicher Angehöriger der Oberschicht sozusagen im Zivilberuf ἀλαβάρχης war, denn dabei handelte es sich zweifellos um eine einträgliche Tätigkeit im Dienste des Staates, deren Ausübung für die reichen alexandrinischen Juden der römerfreundlichen Fraktion attraktiv war2. Die Form ἀραβαρχία kommt in der griechischen Literatur nur ein einiges Mal vor, wiederum bei Flavius Josephus. Hyrkanos, ein Gegner des Herodes, wird von seiner Frau gebeten, beim Nabatäerfürsten Malchos schriftlich um Aufnahme und um sicheres Geleit zu bitten (15, 6, 2 = 167): γράφειν ἠξίου περὶ τούτων Μάλχῳ τῷ τὴν ἀραβαρχίαν ἔχοντι δέξασθαί τε αὐτοὺς καὶ δι᾿ ἀσφαλείας ἄγειν ‘sie bat ihn, an Malchos, den Inhaber der Arabarchia, zu schreiben und ihn zu bitten, sie aufzunehmen und ihnen sicheres Geleit zu geben’. Hier heißt ὁ τὴν ἀραβαρχίαν ἔχων eindeutig ‘der die Herrschaft über die Araber hat’, also der ‘Araberscheich’, und es besteht kein greifbarer Zusammenhang mit der ἀλαβαρχία in Alexandria. In der lateinischen Literatur im engeren Sinne kommt arabarchēs nur zweimal vor. Die erste Stelle ist eindeutig “ludibunde” (ThLL II 391, 41) gemeint: Cicero bezeichnet (ad Att. 2, 17, 3) Pompeius als arabarches (mit alabarches als varia lectio): uelim e Theophane exspicere, quonam in me animo sit arabarches ‘ich möchte von Theophanes erfahren, was der Wüstenscheich von mir denkt’. Shackleton Bailey hat sicher Recht mit seiner Bemerkung (1965, 386): “Cicero no doubt chose the term because it sounded oriental and imposing”. Auch die zweite lateinische Stelle ist spöttisch gemeint: Juvenal mokiert sich darüber, dass hergelaufene Fremde in Rom Inschriften aufzustellen wagen (1, 129–131). Wenn man durch Rom von wichtigen Einrichtungen zu anderen wichtigen Einrichtungen geht, kommt man auch zu den triumphales, inter quas ausus habere
Siegesssäulen, zu denen irgendein nescio quis titulos Aegyptius atque arabarches, Ägypter und Arabarch seine Inschriften zu stellen wagte, cuius ad effigiem non tantum meiere fas est. bei deren Anblick nicht nur zu pissen erlaubt ist. Ein neuer Juvenal-Kommentar erklärt diese Stelle folgendermaßen (Courtney 1980, 110–111): Juvenal almost certainly means Tiberius Julius Alexander, a Jew by birth who became an apostate and eventually prefect of Egypt, A. D. 66–70. [---] _________ 2 Natürlich kann man sich bei allen Staatsangestellten fragen, “si leur richesse devenue proverbiale était un effet de leur administration ou une condition de leur nomination, constituant pour l’État une garantie, ou l’un et l’autre à la fois” (Lesquier 1917, 101). Es wird wie meistens bei römischen Ämtern gewesen sein: Man musste reich sein, um sie überhaupt anstreben zu können, aber man war, wenn man entsprechend den zeitgenössischen Verhaltensnormen vorging, nach der Amtszeit noch reicher.
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Alexander’s father had held the post of arabarches, and so perhaps had he himself, but he had of course attained much higher distinction. Juvenal disparages him and, in his hatred of everything Egyptian, gives even this word a scornful flavour. Wenn diese Vermutung richtig ist, dann bewegen wir uns im Umfeld der Personen, die auch bei Flavius Josephus vorkommen: Tiberius Iulius Alexander ist der Sohn von Philons Bruder Alexandros, den Flavius Josephus dreimal als ἀλαβάρχης und einmal als ἀλαβαρχήσας, also als ‘Ex-ἀλαβάρχης’, bezeichnet hatte. Wenn das stimmt, dann ist auch klar, dass ἀλαβάρχης und arabarchēs dasselbe Wort ist, dass also, anders gesagt, das griechische ἀλαβάρχης eine Nebenform des ursprünglichen ἀραβάρχης ist. Sprachlich ist das sehr naheliegend: Zum einen ist Liquidenferndissimilation im Griechischen generell ganz geläufig (Schwyzer 1953, 258), so dass das zweite ρ durchaus für den Übergang des ersten ρ zu λ verantwortlich sein könnte, zum anderen wissen wir aus dem Koptischen, dass im Dialekt des Faijum ⲗ statt ⲣ eintrat (Till 1961, 7). Die daraus resultierende Unsicherheit in der Schreibung zwischen ρ und λ findet sich auch in den griechischen Dokumenten vor allem, aber nicht nur, in dieser Gegend (Mayser 1970, I 1, 161; Gignac 1976, 102–106). Die Auskünfte, die wir zur Bedeutung von ἀραβάρχης / ἀλαβάρχης und den lateinischen Entsprechungen aus den literarischen Quellen beziehen können, sind ungemein vage: Ein einträgliches Amt in Alexandria, vielleicht mit einem generellen ägyptischen Hintergrund, bekleidet von einflussreichen Juden. 2. ἀραβάρχης / ἀλαβάρχης und arabarches / alabarches in Rechtsquellen Die Rechtstexte liefern jedoch mehr Informationen. In einer Zollbestimmung der Augusti Gratianus, Valentinianus und Theodosius aus dem Jahre 381 n. Chr. an den comes sacrarum largitionum Palladius heißt es (cod. Iust. 4, 61, 9)3: usurpationem totius licentiae submouemus circa uectigal alabarchiae (varia lectio arabarchiae) per Aegyptum atque Augustamnicam constitutum, nihilque super transductione animalium, quae sine praebitione solita minime permittenda est, temeritate per licentia uindicari concedimus.
Wir heben die ganze angemaßte Befreiung von der Arabarchie-Steuer auf, die in Ägypten und der Augustamnica gilt, und wir gestatten nicht, bei der Einfuhr von Vieh, die ohne die übliche Abgabe keineswegs zuzulassen ist, eine Abgabenfreiheit grundlos in Anspruch zu nehmen.
Hier geht es um ein uectigal arabarchiae, also um eine dem Staat zustehende Abgabe, für deren Einforderung offenbar die Arabarchen in den Provinzen Aegyptus (= Gebiet der Stadt Alexandria) und Augustamnica (= nördliches Flussdelta) der Dioecesis Ägypten zuständig waren. _________ 3 Im Cod. Theod. 4, 13, 9 ist die Bestimmung nur fragmentarisch erhalten, aber der Einleitungssatz ist mit überliefert: Ad u(irum) cl(arissimum) Aegypti com(item) litteras dedimus co[mmit]tentes, ut sciant usurpationem totius licentiae submo[.
13. ἀραβάρχης, ἀλαβάρχης / arabarches, alabarcha
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Im 11. Edikt des Justinian handelt es sich um Maßnahmen zur Sicherung des Wertes der Münzen. In Ägypten hatte es sich eingebürgert, dass der Goldwert der Münzen geringer als die eingeprägte Zahl war, weswegen man bei Zahlungen als Entschädigung für den fehlenden Wert ein Aufgeld in reinem Gold (ὄβρυζον oder ὀβρύζη, lat. obrȳzum oder obrȳza) einforderte. Das justinianische Edikt zielt darauf ab, die Identität des Prägewertes und des tatsächliches Goldwertes für Ägypten durchzusetzen, und Geldzahlungen an Beamte wie den Augustalis, den Arabarchen und den Praepositus Sacrorum Thesaurorum müssen nach dem Prägewert der Münzen ohne ὀβρύζη erfolgen (Edict. Iustin. 11, 2). Wenn man davon ausgeht, dass hier die Finanzbeamten in ihrer Ranghierarchie genannt sind, dann nahm der Arabarch die zweithöchste Stellung ein. ἀλλὰ καὶ ἀνάγκην ἕξουσι πᾶσαν χορηγεῖν χρυσίον τοῦτο µὲν τῷ τε παρὰ Ἀλεξανδρεῦσιν αὐγουσταλίῳ καὶ τοῖς κατὰ καιρὸν ἔχουσι τὴν ἀρχὴν ἐπὶ ταῖς συνειθισµέναις ἐκποµπαῖς, τοῦτο δὲ τῷ τε νῦν κατὰ καιρὸν ἀλαβάρχῃ τῷ τε πραιποσίτῳ τῶν θείων ἡµῶν θησαυρῶν οὐδὲν διάφορον ὑπὲρ ὀβρύζης παντελῶς κοµιζόµενοι.
Sie werden verpflichtet sein, dieses Gold auszuzahlen einerseits dem Augustalis bei den Alexandrinern und den jeweiligen Amtsinhabern bei den üblichen Ausfuhren, andererseits dem jeweiligen Arabarchen und dem Praepositus unseres kaiserlichen Schatzes, ohne irgendeinen Vorteil wegen der Obryza herauszuschlagen.
Die Rechtstexte zeigen, dass im Jahre 381 und im Jahre 559, also während der Praefectura Praetorio Orientis (337–565), der Arabarch eine sehr hohe Stellung in der römischen Finanzverwaltung innehatte: Er war offenbar für die auf Ein- und Ausfuhren erhobenen Steuern als Chef der römischen Zollverwaltung zuständig. 3. ἀραβάρχης / ἀλαβάρχης in Inschriften und Papyri Erst die Einbeziehung der epigraphischen und papyrologischen Quellen ermöglicht eine noch genauere Bestimmung des Tätigkeitsbereiches. Die Form ἀλαβάρχης, die in der literarischen Überlieferung gegenüber ἀραβάρχης die bei weitem häufigere ist, taucht nur dreimal auf, nämlich zweimal in Inschriften (aus Lykien4 und aus Euboia5) und einmal in einem Papyrus aus dem Jahre 207 oder 208 n. Chr. in einem Zusammenhang, der “in tutto e per tutto enigmatico” ist, PSI VII 776, 23: ἀλαβάρχ[ ̣. Welche Funktion die in Inschriften Lykiens und Euboias genannten ἀλαβάρχαι bekleideten, kann man beim besten Willen nicht sagen; dass sie, wie ihre Homonyme in Ägypten, etwas mit der Ein- und Ausfuhr zu tun hatten, kann man zumindest nicht ausschließen. _________ 4
Eine kurze Weihinschrift an Poseidon vom Alabarchen Mausolos (OGIS 2, Nr. 570 = TAM 2, 1, 256) auf einer “basis fracta, inventa in delta fluvii Xanthi Lyciae, ubi putatur fuisse castellum Xanthiorum”: [Π]οσε[ι]|δῶνι | εὐχὴ | Μαυσώ|λου ἀλα|βάρχου. Die Inschrift ist in der OGISAusgabe mit einem ausführlichen Kommentar zu ἀλαβάρχης versehen. 5 Bulletin de la Correspondance Hellénique 16, 1892, 119 (Nr. 44, Phylla auf Euboia) = IG 12, suppl. 673: [µνήµατα] δ[ύ]ο δ[ι|α]φέροντα Ἀνασ|τασίου τοῦ εὐλα|βεστάτου ἀνγνστου καὶ ἀλαβάρ|χου καὶ τῆς τού|του γαµετῆς Πε|τρωνίας τῆς κοσµιωτάτης.
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Die Mehrzahl der Belege weist jedoch die Form mit –ρ– auf. Es gibt einige wenige inschriftliche Bezeugungen, die entweder aus Ägypten stammen6 oder aller Wahrscheinlichkeit nach auf ägyptische Verhältnisse Bezug nehmen7. Auf Ostraka des 2. und 3. Jahrhunderts kommt ἀραβάρχης mehrfach vor (O. Bodl. II 1516, 4; 9; 2088, 2; 2269, 1; 4; O. Leid. 302, 3; O. Stras. 525, 11; O. Wilck. 1190, 5). In den Papyri taucht der ἀραβάρχης immerhin vom 1. bis zum 7. Jahrhundert n. Chr. auf (P. Osl. III 106, 5 [Ende 1. Jh. n. Chr.]; SB XVIII 13167, 11 [2. Jh. n. Chr.]; SB XIV 11725, 1 [3. Jh. n. Chr.]; PSI IV 305, 1 [3./4. Jh.]; SB XX 14707, 3 [5. Jh.]; P. Lond. V 1677, 17 [568/570 n. Chr.]; P. Cairo Masp. II 67166, 8 [568 n. Chr.]; P. Paramone 17, 11 [VII. Jh.]), wobei freilich die Fälle abzuziehen sind, in denen Ἀραβάρχης eindeutig als Personenname fungiert (P. Mich. V 323-325, 5; 12; 34 [47 n. Chr.]; PSI VIII 903 [= Sel. Pap. I 51], 5; 12; 32 [47 n. Chr.]; SB XXII 15515, 2 [74 n. Chr.]; P. Eleph. Wagner I, 70, 3 [122 n. Chr.]; 71, 3 [131 n. Chr.]; SB XIV 11725, 1[3. Jh. n. Chr., Ostrakon]; 11745, 1 [3. Jh. n. Chr., Graffito]; PSI IV 305, 1 [3./4. Jh.]; vielleicht P. Lond. V 1652, 3 [erste Hälfte des 4. Jh.]). In einem quasi-literarischen Zusammenhang taucht in zerstörtem Kontext τ[οῖ]ς ἀραβάρχαις in den Acta Alexandrinorum (22, 7 = P. Mich. inv. 4800) auf. Über die Funktion der in den Inschriften und Papyri genannten Arabarchen erfährt man zunächst wenig. Man hat den Eindruck, dass es durchaus Einheimische waren, die den Posten inne hatten, und dass es (wie in dem von Flavius Josephus genannten alexandrinischen Fall von Alexandros und seinem Sohn, dem Praefectus Aegypti Tiberius Iulius Alexander) nicht unüblich war, dass das Amt in einer Familie vererbt wurde (OGIS 1, Nr. 202 = Ruppel 1930, Nr. 47, sind anscheinend Großvater, Vater und Sohn nacheinander Arabarchen). Der Arabarch Claudius Geminus, der sich auf der Memnon-Statue verewigte (OGIS 2, Nr. 685), war aber, da er ἐπιστράτηγος Θηβαίδος war, wohl römischer Ritter. Es gab anscheinend nicht nur den für die ganze Provinz oder später Dioezese zuständigen Arabarchen, sondern auch lokale Ausprägungen offenbar niedereren Ranges: So _________ 6 Auf einer Inschrift des Jahres 2 n. Chr. aus Pselchis in Nubien (Dakke) liest man (Ruppel 1930, III 36, Nr. 47a = OGIS 1, 202): [Ἀπολ]λώνιος Πτολεµαίου | [ἀραβάρ]χ̣ου υἱὸς στρατηγὸς τοῦ | [Ὀµβ]ε̣ίτου καὶ τοῦ περὶ Ἐλεφαν|[τίνην] κ̣αὶ Φίλας καὶ παραλήµπτης | [ἐρ]υθρᾶς θαλάσσης ἦλθον | [καὶ προσεκύ]νησα τὸν µέγιστον Ἑρµῆν | [σὺν Ἀθ]η̣ναίωι τῷ ἐµῷ ἑταίρῳ. Möglicherweise der Sohn dieses Apollonios besuchte dann 65 n. Chr. Pselchis und ließ seine Inschrift unter die erste setzen (Ruppel 1930, III 37 = Nr. 47b = OGIS 1, 202): ]ιος Σηνᾶς τὸ πέµπτον ἐλθὼν πρὸς τὸν Ἑρµῆν | [µετ]ὰ̣ Τ̣ι̣β̣( ερίου) Ἰουλίου Πτολεµαίου υἱοῦ Ἀπολλωνίου ἀραβάρχου τοῦ προγεγραµµ(ένου). Ein Zeugnis in einer der antiken “Touristeninschriften” auf der Memnonsstatue stammt von einem Κλαύδιος Γέµινος, | ἀραβάρχης καὶ ἐπιστράτη|γος Θηβαίδος (OGIS 2, 687 = I. Memnon 67); die Inschrift gehört in die zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. (Thomas 1982, 53 und 193). 7 Ganz eindeutig ist das bei I. Ephesos III 627, 18 (sowie in einer danach vorgenommenen Ergänzung VII [1], 3056, 11), wo für den zur Zeit des Commodus lebenden Asiarchen M. Aur. Mindius Mattidianus Pollio unter vielen anderen Ehrentiteln auch auf den ἀραβάρχην Αἰγυπτίου Bezug genommen wird. Die Karriere dieses Mannes wird detailliert besprochen von Pflaum 1960, 523–531; zu den Asiarchen vgl. Rossner 1974.
13. ἀραβάρχης, ἀλαβάρχης / arabarches, alabarcha
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gab es im 2. Jahrhundert n. Chr. ein Kollegium von Arabarchen, das für die Einfuhrsteuer in Koptos Verantwortung trug (SB 18, 13167, II 11). Etwas Genaueres über den Aufgabenbereich eines Arabarchen erfahren wir aus dem γνώµων von Koptos aus dem Jahre 90 n. Chr. (OGI 2, Nr. 674 = I. P. Désert 67). Es handelt sich dabei um einen Tarif über die von den Steuerpächtern zu erhebende und an die ἀραβαρχία zu entrichtende Straßenbenutzungsgebühr von Koptos zur Küste des Roten Meeres. Der Anfang des Textes lautet (Z. 1–8): ἐξ ἐπιταγῆς Μ̣[ετ]τίου [Ῥού]φ[ου], ἐπάρ[χου Αἰγύπτου], ὅσα δεῖ τοὺς µισθωτὰς τοῦ ἐν Κόπτωι ὑποπείπτοντος τῆι ἀραβαρχίᾳ ἀποστολίου πράσσειν κατὰ τὸν γνώµονα τῇδε τῇ στήλῃ ἐνκεχάρακται διὰ Λουκίου Ἀντιστίου Ἀσιατικοῦ, ἐπάρχου ὄρους Βερενείκης.
Auf Anordnung von Mettius Rufus, Praefectus Aegypti, ist alles, was die Zollpächter an Wegegeldern in Koptos für die Arabarchie nach dem Tarif eintreiben müssen, auf diese Säule gemeißelt worden durch Lucius Antistius Asiaticus, Präfekt der Wüste von Berenike8.
Dann folgen die Einzeltarife. Ohne jeden Zweifel ist die Person, die die ἀραβαρχία vertritt, also der ἀραβάρχης, ein hochgestellter Finanzbeamter, der darauf, dass Personen oder Waren Verwaltungsgrenzen überschreiten, Abgaben erhebt. Ob man in diesem ἀραβάρχης mit H. G. Pflaum unbedingt den “fermier général des taxes intérieures de l’Égypte” (1960, 526) sehen muss, ist nicht eindeutig zu bestimmen, aber jedenfalls war er der “responsable en Égypte des douanes et des taxes de circulation sur les personnes et les bêtes empruntant les routes à péages ou les pistes” (Delmaire 1988, 133). Zunächst gab es in dieser hohen Funktion nur einen ἀραβάρχης, aber seit der Einführung der Praefectura Praetorio Orientis 337 n. Chr. muss es “plusieurs alabarques dans l’Égypte entière” gegeben haben, wahrscheinlich “un alabarque par duché” (Rouillard 1928, 100). Wie aber erklärt sich der Name ἀραβάρχης? Er reiht sich in eine Folge ähnlicher Bildungen ein, die im ersten Glied eine Volks- oder Landesbezeichnung haben, z. B. Ἀρµενιάρχης, Ἀσιάρχης, Γαλατάρχης, Ἑλληνάρχης, Θρᾳκάρχης, Λιβυάρχης. Lesquier (1918, 426) hatte zutreffend formuliert, dass “le suffixe –άρχης désigne celui qui exerce le pouvoir, non sur une matière, mais sur une unite territoriale ou sur un groupement humain, militaire ou politique, ou sur les deux à la fois” – schon allein deswegen wäre ἀλαβάρχης ‘Herr der Tinte (ἄλαβα)’ undenkbar. Ein ἀραβάρχης ist also eindeutig ein ‘Herr der Araber’ oder ein ‘Herrscher über Arabien’, und man muss nur erklären, wie die semantische Entwicklung zu erklären ist, die einem Träger dieses Titel die Aufsicht über Einfuhr- und Ausfuhrabgaben zuschreibt. Auf Grund der Tatsache, dass es beim γνώµων von Koptos _________ 8
Die französische Übersetzung von André Bernard lautet: “Par ordre de Mettius Rufus, préfet d’Égypte, ce que les fermiers de l’impôt doivent réclamer pour les droits de passage à Koptos, payables à l’administration des douanes, selon le tarif, a été gravé sur cette stèle par les soins de Lucius Antistius Asiaticus, préfet de la montagne de Bérénice”.
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um die Benutzungsgebühr für die Straße durch die östliche Wüste geht, nahmen die ersten Kommentatoren dieses Textes (Hogarth 1896; Jouguet 1896) an, dass ein Zusammenhang mit dem Namen Ἀραβία bestünde, mit dem nach Strabon (17, 1, 21) das Gebiet zwischen Nil und dem Roten Meer bezeichnet wurde. In diesem Sinne kommt Ἀραβία auch in den Papyri vor, denn “tale nome è poi adoperato ad indicare le parti di vari nomi che sono ad oriente del corso del Nilo” (Calderini / Daris 1966, I 2, 179; Suppl. II 24). Auf den hermopolitanischen Nomos Ἀραβία beziehen sich auch Franz Altheim und Ruth Stiehl (1975, 360), die – ohne Belege zu nennen – behaupten: “An der Spitze des Nomos stand ein Arabarch”. Diese Erklärungen scheitern schon daran, dass sie den Namen allein aus ägyptischen Verhältnissen heraus erklären, obwohl ἀραβάρχης keineswegs auf das Land am Nil beschränkt war; außerhalb von Ägypten wusste aber niemand, dass auch der Landstrich zwischen Nil und Rotem Meer den Namen Ἀραβία trug. Wir müssen also davon ausgehen, dass die Araber im eigentlichen Sinne der Wortbildung zu Grunde liegen: Der ἀραβάρχης befehligte eine Gruppe von Arabern. Man kann sich, obwohl Belege in dieser Richtung fehlen, durchaus vorstellen, dass Araber, die wegen ihrer Geschwindigkeit in unwegsamem Gelände geschätzt waren, eingesetzt wurden, um Reisende und Transporte beim Überschreiten der Grenzen zu kontrollieren: ‘Chef der arabischen Zollbeamten’ wäre jedenfalls eine gute Erklärung für ἀραβάρχης. Damit ist die Funktionsbeschreibung, die Jean Lesquier vor fast einem Jahrhundert gegeben hat (1918, 421 und 426–427), auch im Licht der neuen Dokumente weiterhin zu akzeptieren: Nous n’avons pas a distinguer un ἀραβάρχης et un ἀλαβάρχης, et tous les témoignages où se rencontrent l’une ou l’autre forme sont recevables pour définir un office unique. [---] Tous les textes concernent à une même explication de l’office de l’arabarches. C’est un agent fiscal, ayant comme circonscription soit l’Égypte entière, soit et plutôt une épistratégie, et pour fonction ou entre autres fonctions l’administration des taxes mises sur la circulation. [---] Mais il faut et nous pouvons expliquer dès maintenant comment ce fonctionnaire fiscal a reçu le nom de ‘chef des Arabes’. [---] L’arabarches, administrateur des taxes mises sur la circulation, est le commandant en chef des douaniers primitivement recrutés parmi les Arabes. Man kann also zusammenfassend sagen, dass im Ägypten der römischen und der byzantinischen Zeit der Chef der Ein- und Ausfuhrzölle, zu denen auch das Wegegeld (ἀποστόλιον) gezählt wurde, ἀραβάρχης hieß; ἀλαβάρχης ist eine aus lautlichen Gründen (ρ–ρ-Ferndissimilation) zu erklärende Nebenform dazu. Die wahrscheinlichste Begründung für die Entstehung des Terminus ist darin zu sehen, dass das am Anfang der Wüstenstraßen stationierte (und auch für die Kamelbegleitung zuständige) Personal Ägyptens, dessen Dienstherr der ἀραβάρχης war,
13. ἀραβάρχης, ἀλαβάρχης / arabarches, alabarcha
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meist aus Arabern rekrutiert wurde9. Von diesem terminus technicus der Finanzverwaltung ist die umgangssprachliche Verwendung des Wortes zu trennen, für die die leicht abwertende Bedeutung ‘Araberfürst, Scheich’ anzusetzen ist. Von dem in Ägypten tätigen ἀραβάρχης ist jedenfalls der Titel ἀραβάρχης zu unterscheiden, mit dem der parthische Statthalter der Satrapien Mesopotamien und Parapotamien Manesos in einem παραµονή-Darlehensvertrag aus Dura-Europos bedacht wird (P. Dura 20, 5; vgl. Rostovtzeff 1956, III 1199); dieser Titel, der möglicherweise die griechische Wiedergabe einer parthischen Bezeichnung ist, muss angedeutet haben, dass der Statthalter für die Beziehungen zu den nicht ortsfesten beduinischen Arabern zuständig war. 4. Spanisch alabarca Die spanische Altertumswissenschaftlerin Barbara Pastor de Arozena führt in einem Aufsatz, in dem es vor allem darum geht, dass ἀραβάρχης und ἀλαβάρχης zwei verschiedene Wörter seien und dass die zweite Form von ἄλαβα ‘Tinte’ komme, Klage über das romanistische Desinteresse gegenüber “la voz española alabarca ‘recaudador de impuestos en el Egipto lágida’, que es un término de especial interés, y que curiosamente no registran los diccionarios etimológicos”. Dass ἀλαβάρχης / ἀραβάρχης wortgeschichtlich interessant ist, steht außer Frage, freilich nur vom Standpunkt der Gräzistik und Latinistik aus gesehen; für die spanische Sprachwissenschaft handelt es sich bei alabarca um ein nicht sehr faszinierendes Element, denn es ist eines der vielen Fachwörter, die von den Altertumswissenschaftlern des 19. Jahrhunderts in Anlehnung an die antike Terminologie und an die Ausdrucksweisen in anderen Sprachen neu geprägt wurden. Immerhin ist arabarcho im 13. Jahrhundert bei Alfons dem Weisen in seiner General Estoria (1930, 456a) als Gräzismus belegt10. Das ändert aber nichts daran, dass spanisch alabarca ein griechisch-lateinisches Lehnwort (cultismo) fachsprachlichen Charakters ist, der in etymologischen Wörterbüchern, die den allgemeinen Wortschatz behandeln, eigentlich nichts zu suchen hat – man wird ja in einem deutschen etymologischen Wörterbuch auch nicht nach der Herkunft von Hexamethylendiamin suchen. Das dem spanischen alabarca entsprechende italienische Wort heißt ebenfalls alabarca, und auch das hat natürlich nicht seinen Weg in die Etymologika gefunden. Die beiden französischen Formen alabarque und alabarche11 und das englische alabarch12 sind in den Großwörterbüchern auch _________ 9 Vgl. auch Rostovtzeff / Marcone 2003, 223: “Ogni carovana era scortata da soldati armati al servizio romano, tra i quali avevano parte importante gli Arabi, assuefatti fino alla fanciullezza al deserto”. 10 Die Stelle behandelt die Rangfolge unter den jüdischen Priestern und lautet: “Ellos, segund el lenguage que entonces usauan todos, llamauan al su mayor arabarcho, onde es este nombre fecho de dos nombres griegos, que dizen ell uno aros por ‘uirtud’ e ell otro archos por ‘prinçep’, que en su ebraygo quiere mostrar tanto como ‘princep delos sacerdotes de omnes de uirtud’, como lo deuen ser los sacerdotes”. 11 Trésor de la Langue Française 2, 1973, 424 (seit 1752 fachsprachlich belegt). 12 Oxford English Dictionary 1, 1933, 203 (seit 1727 mit Bezug auf Flavius Josephus belegt).
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nicht deswegen erfasst, weil sie eine interessante antike Wortgeschichte haben, sondern nur deswegen, weil man sich in beiden Sprachen um eine möglichst vollständige Erfassung des Wortschatzes bemüht hat. Dass Alabarch in den etymologischen Wörterbüchern des Deutschen fehlt, ist, wenn man so will, konsequent: Fachterminologie, die in Anlehnung an griechisch-lateinische Muster gebildet wurde, hat dort einfach nichts zu suchen.
14. βασκαύλης, βασκαύλιον, µασκαύλης / bascauda, mascauda Abstract: A Latin word of Gallic origin, bascauda ‘luxurious kitchenware of Breton origin’ (var. uascauda, mascauda), may be associated with two papyrus words, βασκαύλης ‘large vessel’ and βασκαύλιον; there is a plausible epigraphical parallel from Lydia, µασκαύλης. The etymon seems to be Celtic bask- ‘wicker-work’ > ‘woven basket’ with two suffixes, -auda and –aules. The GalloLatin type bascauda survives in French baschoue f., bachou m., whereas French and Provençal dialect forms like bachole, bachola derive from *bascaula, the reconstructed Latin counterpart of Greek βασκαύλης. Keywords: Vessels, Celtic bask-
1. bascauda, mascauda im Lateinischen Bei lateinischen Autoren des 1. Jahrhunderts nach Christus ist zweimal das Wort bascauda (ThLL II 1759, 82–1760, 8) belegt. Juvenal (±60–140 n. Chr.) zählt kostbares Geschirr auf und fügt hinzu (12, 46): adde et bascaudas et mille escaria1
füge Spülnäpfe und tausenderlei Töpfe hinzu.
Ein Scholion gibt Auskunft über die Bedeutung des Verses2: adde et mascaudas (sic): uasa, ubi calices lauabantur; <et mille escaria>: et cacabos. Gemeint sind also mit mascaudae = bascaudae ‘Gefäße zum Spülen von Bechern’, und unter escaria sind ‘Kochtöpfe‘ zu verstehen. Martial (40–102 n. Chr.) liefert in seinen Apophoreta (14, 99) eine Angabe über die Herkunft der bascaudae, nämlich Britannien: Barbara de pictis ueni bascauda Britannis, Als Fremde kam ich, ein Spülnapf, von den buntbemalten Briten, sed me iam mauolt dicere Roma suam. aber jetzt will Rom mich sogar die Seinige nennen. Weitere literarische Belege gibt es in der lateinischen Literatur nicht, aber die Glossare bieten einiges Material. Im Codex Mettensis aus dem 9. Jh. (CGL 5, 616, 24) findet man bascaudę sunt concę ęreę (= bascaudae sunt concae aereae), was wohl auch hinter der Scaliger-Glosse barcanda conca aerea (CGL 5, 592, 41) zu vermuten ist. Im Codex Vaticanus 3321 (9. Jh.) liest man bascaudas concas ęreas (CGL 4, 24, 23), der Codex Sangallensis 912 (9. Jh.) bietet vascaudes concas ereas (CGL 4, 294, 46), in den Excerpta ex libro glossarum findet man bascuudas _________ 1 2
Die Handschriften bieten zwei uariae lectiones, nämlich uascaudas und mascaudas. Scholia in Iuvenalem vetustiora, ed. P. Wessner, Stuttgart (Teubner) 1967, S. 195.
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concas aereas (CGL 5, 170, 29), und in einem Placidus-Codex des 10. Jh. liest man bascaudas concas hęreas (CGL 5, 442, 30). Im 11. Jahrhundert hat Papias eine der antiken Glossen gekannt, als er formulierte: bascandae conchae aereae, genera uasorum). Das lateinische Wortmaterial liefert also ein Wort bascauda (oder uascauda) mit der Variante mascauda; die Bedeutung ist ‘flaches Gefäß aus Metall’, offenbar von einem gewissen Wert3, und die Herkunft des Gegenstandes ist das (damals völlig keltisierte) Britannien. 2. βασκαύλης und βασκαύλιον in den Papyri Eine genaue Entsprechung zum lateinischen bascauda gibt es im Griechischen nicht, jedoch taucht in den Papyri einmal βασκαύλης und zweimal die DiminutivAbleitung βασκαύλιον auf. Gehen wir die Stellen kurz durch, bevor die Diskussion weiterzuführen ist, ob ein Zusammenhang mit bascauda besteht! Im ersten Band der Oxyrhynchos-Papyri haben Bernard P. Grenfell und Arthur S. Hunt eine vollständig erhaltene, 28 Zeilen umfassende “List of Personal Property” veröffentlicht (P. Oxy. I 109), in der Kleidungsstücke und Haushaltsgegenstände aufgezählt sind; der Text ist ins späte 3. oder ins 4. Jh. zu datieren. Die Zeilen 19 bis 24 lauten folgendermaßen: 19
χιτὼν λευκὸς στέγαστρον καινὸν 21 ζέσται χαλκοῖ 22 βασκαύλης 23 χαλκία 24 δελµατικὴ 20
α α γ α β α
1 1 3 1 2 1
weißes Untergewand neue Decke kupferne Gefäße Baskaules Kupferkessel Dalmatika.
Der χιτὼν λευκός und das στέγαστρον καινόν schließen eine lange Reihe ab, in der nur Kleidungsstücke und Gegenstände des Schlafraumes genannt sind; dann kommen offenbar drei Küchengerätschaften und schließlich mit der δελµατική ein wertvolleres Kleidungsstück. Man kann also wohl davon ausgehen, dass mit βασκαύλης ein Gefäß gemeint ist, das möglicherweise wie die beiden anderen Gefäße aus Metall gefertigt ist. Neben dem Simplex βασκαύλης gibt es zwei Belege für die Diminutiv-Form βασκαύλιον. In einer Randnotiz eines Privatbriefes des 4. Jahrhunderts mit einer Liste von Haus- und Kleidungsgegenständen, die der Briefempfänger an sich nehmen soll (P. Oxy. LIX 3998, 37), taucht [τὸ β]̣α̣σ̣καύλι̣[ον] oder wahrscheinlicher [τὸ β]̣α̣σ̣καύλι̣[ν] auf, von der Herausgeberin H. G. Ioannidou als ‘the washbasin’ übersetzt. Die ganze Passage lautet folgendermaßen: _________ 3
Angesichts der einhelligen Aussage der Glossare, dass bascaudae mit conchae aereae zu umschreiben sind, ist die Angabe des Juvenal-Scholions, es handele sich um uasa, ubi calices lauabantur, vielleicht ironisch zu verstehen: Der Luxus war so groß, dass man die Trinkgefäße in den wertvollen bascadae gespült hat.
14. βασκαύλης, βασκαύλιον, µασκαύλης / bascauda, mascauda 36
πᾶν ποιήσῃς λαβοῦσα τὰ ἴδ̣η̣ π̣ά̣ντα. ἔστιν δὲ τὸ κατ᾿ ἰδέα̣[ν· τὸ] | 37[β]α̣σ̣καύλι̣[ν κ]αὶ τ[ὸ] κάδιν βαλα̣νί[ο]υ̣ καὶ ὁ κόκκοµ̣α[ς] | 38καὶ ἡ κρεµαστὴ λυχ̣ν̣ί̣α̣ κ̣αὶ τ̣[ὸ]ν ξέσ̣την καὶ τὸν λύχνον ἔχο̣ντα | 39ἀλώπηκαν̣ καὶ τὸ πελύκιν̣ κ̣αὶ τὰ δύο ἐνώ̣|40δια σὺν τοῖς π̣ινάροις̣ α̣ὐ̣τῶν καὶ τὰ ἐπωµίδια δύο καὶ τὴ̣ν̣ | 41λίτραν τ̣[ο]ῦ σιππέου τρυφερά.
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Tu alles, alle diese Dinge zu bekommen. Es handelt sich im Einzelnen um: das Baskaulion und das Badeeimerchen und den Kochtopf und die Hängelampe und das Maßgefäß und die Lampe mit dem Fuchs und die Axt und die beiden Ohrringe mit ihren Perlen und die beiden Schulterstücke und das Pfund des teuren Fasergarns.
In dieser Liste kommen also zunächst Flüssigkeitsbehälter (wozu in der Antike auch Lampen mit ihrem Ölresevoir gehörten), dann eine Axt und schließlich Schmuck und Materialien zur Kleidungsherstellung vor; wenn irgendeine Logik in der Aufzählung ist, dann ist das βασκαύλιον in der Reihe der Gefäße das auffälligste, also entweder das größte oder das kunstvollste oder beides. Eine Inventarliste des 3./4. Jahrhunderts bietet ebenfalls βασκαύλι(ο)ν, allerdings mit dem üblichen ägyptischen β-π-Wechsel. Bevor die Liste zu Dingen landwirtschaftlichen Interesses übergeht, liest man (P. Cair. Isid. 137): 1
λαγάνη χαλκὶν 3 πασκαύλιν 4 κούκκοµα 5 δήγανον 6 ἄλλο χαλκὶν 7 πελύκιν 2
α α α α α α α
1 Schüssel 1 Kupferkessel 1 Baskaulion 1 Kochtopf 1 Pfanne 1 anderer Kupferkessel 1 Axt.
Diese Liste nennt Gegenstände, die man in der Küche verwendet, wobei offenbar die Reihung keine besondere Schwerpunktsetzung aufweist; das hier genannte πασκαύλιν = βασκαύλι(ο)ν ist jedenfalls ein Gefäß, das zu Kesseln, Schüsseln und Töpfen passt. 3. µασκαύλης in einer lydischen Inschrift Es ist sehr wahrscheinlich, dass das in einer Inschrift aus Lydien auftretende µασκαύλης dasselbe Wort wie βασκαύλης bzw. βασκαύλιον ist. Die im Zuge einer 1911 im Auftrage der Wiener Akademie der Wissenschaften in Deliler bei Philadelphia aufgefundene Inschrift des 3. Jahrhunderts n. Chr. (Keil / Premerstein 1914, 32–34 = Nr. 42) ist eine Synagogeninschrift, die die Aufstellung einer µασκαύλη durch Eustathios und seine Verlobte Athanasia in Erinnerung an seinen Bruder Hermophilos bezeugt. Die der Erstpublikation beigegebene Abbildung vermittelt einen Eindruck von der Marmorinschrift:
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Der Text lautet folgendermaßen (C. I. Iud. 2, 18–19 = Nr. 754): 1
[τ]ῇ ἁγιοτ[άτῃ] | 2[σ]υναγωγῇ | τῶν Ἑβραίων | 4Εὐστάθιος | 5 ὁ θεοσεβὴς | 6ὑπὲρ µνίας | 7 τοῦ ἀδελφοῦ | 8Ἑρµοφίλου | 9 τὸν µασκαύ|10λην ἀνεθη|11κα ἅµα τῇ νύµ|12φι µου Ἀθα|13νασίᾳ. 3
In der allerheiligsten Synagoge der Hebräer habe ich, Eustathios der Gottesfürchtige, in Erinnerung an meinen Bruder Hermophilos den Maskaules aufgestellt zusammen mit meiner Braut Athanasia.
In der Erstedition wurde zur Erklärung von τὸν µασκαύλην auf “das talmudische משכלmaskel, beziehungsweise משכלmaskol (maskaul)” verwiesen, “welches an mehreren Stellen des Talmud [---] in der Bedeutung ‘Waschbecken’ erscheint”, denn “Waschbecken, in der Vorhalle der Synagoge aufgestellt, sind noch heute ein gewöhnlicher Widmungsgegenstand”. Diese Deutung im hebräischen Kontext wurde von den späteren Erklärern anstandslos übernommen (C. I. Iud. 2, 19; Krauss 1966, 313–314), obwohl das hebräische Wort nicht richtig zitiert ist und obwohl es aus sprachhistorischen und sachlichen Gründen kaum in Frage kommen kann: Das hebräische Wort lautet im Maskulinum [ משיכלאmešikela‘], im
14. βασκαύλης, βασκαύλιον, µασκαύλης / bascauda, mascauda
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Femininum [ משיכלתאmešikelta‘], es ist wohl arabischer Herkunft, also relativ jung, und die Bedeutung ist ‘Korb’ oder ‘Becken’, ursprünglich wohl ‘geflochtenes Drahtwerk’ (Levy 1963, III 277-278); das rituelle Waschbecken einer Synagoge wurde jedenfalls niemals mit diesem Wort bezeichnet. Auf dem Weg über das Hebräische kommt man bei der lydischen Inschrift auf keinen Fall weiter. Wenn man aber µασκαύλης – so muss der Nominativ zum Akkusativ τὸν µασκαύλην lauten – mit dem βασκαύλης / βασκαύλιον der Papyri gleichsetzt, dann erhält man einen vernünftigen Sinn, und zudem hat dann Eustathios ein dem Griechischen seiner Zeit angehöriges Wort und nicht einen obskuren Hebräismus verwendet, den er, wenn die Vermutung, dass er durch die Bezeichnung θεοσεβής als ‘Proselyt’ ausgewiesen wurde, stimmt (Deissmann 1923, 392), überhaupt nicht kennen konnte. 4. Zur Etymologie von βασκαύλης, βασκαύ λιον, µασκαύλης Die eigentliche Textanalyse erlaubt es uns nicht, über eine relativ vage Angabe hinauszugelangen: βασκαύλης / µασκαύλης, Dim. βασκαύλιον, ‘relativ großes Gefäß zum Gebrauch in der Küche’. Wenn man sich der Herkunft des Wortes zuwendet, könnten sich jedoch neue Erkenntnisse ergeben. Bernhard P. Grenfell und Arthur S. Hunt haben in ihrer Erstausgabe des P. Oxy. I 109 von 1898 βασκαύλης zögernd zu lateinisch uāsculum gestellt (S. 176), und die zeitgenössische Forschung ist ihnen darin einmütig gefolgt (Wessely 1902, 125; Preisigke 1925, I 261). Diese Verbindung wird auch in späteren Zeiten gar nicht so selten wiederholt (Daris 1991, 33; Gignac 1981, II 24; Frisk 1973, I 224; Chantraine 1999, 167), obwohl es einen ziemlich eindeutigen lautlichen Grund gibt, warum βασκαύλης nicht von uāscŭlum kommen kann: Das lateinische Wort weist das Suffix –cŭlum auf, das bei der Übernahme ins Griechische entweder unter Verlust des Kurzvokals, für den es im Griechischen keine wirkliche Entsprechung gibt, zu –κλον umgestaltet zu werden pflegt (σπέκλον < speculum, κούνικλος < cuniculus) oder das in der vollen Form belassen wird, wobei ου, das eigentlich lateinischem ū entspricht, für ŭ steht (κουνίκουλος < cuniculus) – bei dieser Wiedergabe stimmt die Qualität, aber die Quantität nicht (Binder 2000, 153–176). In einigen Fällen (Gignac 1976, I 221–222) wird ŭ auch mit griechisch ῠ wiedergegeben (ἀµπυλλάριον > ampŭllārium, τύρµη < tŭrma, κεντυρία < centŭria) – dann stimmt die Quantität, aber die Qualität nicht. Irene Maria Cervenka-Ehrenstrasser hat argumentiert (2000, 140), dass das P. Ryl. IV 627, 82 belegte βάσκ̣υ̣λ̣α auf lat. uascula zurückgehen könnte; das wäre bei Zugrundelegung der ungefähren Lautentsprechung ῠ = ŭ möglich, freilich fehlen Parallelen. Dass jedoch die Form βασκαύλης in irgendeiner Weise auf lateinisch uāsculum zurückgeführt werden könnte, dass also mit anderen Worten aus einem unbetonten lateinischen ŭ ein betontes griechisches αυ hätte werden können, ist jedenfalls nicht denkbar. Es ist also ein anderer etymologischer Weg einzuschlagen. Schon Bernhard Meinersmann dachte daran (1927, 10–11), das in den Papyri einmal belegte Wort βασκαύλης nicht, wie bis dahin üblich, von uāsculum abzuleiten:
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Sollte es nicht eher das urspr. britannische bascauda sein, womit auch ein bestimmtes G e f ä ß bezeichnet wird? Daß dieses bei den Römern gebräuchlich wurde – das Wort mit der Sache – bezeugt Martial XIV, 99 [---]. Daneben kommt es noch bei Juvenal, Sat. XII, 46 vor. Sein Auftreten im äg. Griech. ist für die Zeit unserer Belegstelle also durchaus möglich. Dabei bietet auch ein Übergang von d zu λ und die nom.-Endung –ης keine unlösbare Schwierigkeit. Vielleicht ist das frz. bascule dasselbe Wort. B. Meinersmann dachte also an die Entlehnung des lateinischen Wortes ins Griechische Ägyptens, wobei er die Unterschiede zwischen beiden Elementen mit innergriechischen lautlichen und formalen Vorgängen zu erklären trachtete. Bemerkenswert ist auch, dass er frz. bascule in die Diskussion einbrachte. Dieses Wort hat zwar an sich nichts mit bascauda und auch nichts mit βασκαύλης zu tun4, aber B. Meinersmann lässt doch erkennen, dass er der Überzeugung war, dass in irgendeiner Weise der Schlüssel für das Verständnis der Wortgeschichte vielleicht im Französischen zu suchen sein müsse. Die Angaben der etymologischen Wörterbücher des Lateinischen zu bascauda sind ziemlich spärlich. Nach A. Walde und J. B. Hofmann (1982, I 97) ist es ein “altbrit. Wort, urspr. wohl ‘große Kumme, geflochtener Korb’ (vgl. das Lehnwort engl. basket ‘Korb’), urverwandt mit lat. fascia; zum Ausgang vgl. alauda, bagaudae”. A. Ernout und A. Meillet (1985, 97) beschränken sich auf die Aussage: “cuvette. Mot étranger, brittonique d’après Martial [---], plutôt gaulois”. Auch Alfred Holder bietet außer den antiken Stellen nur die Angabe (1896, I 354– 355): “basc-audā f. ā-Stamm, brittanisch, Tonne”. Die Keltologen und Indogermanisten haben Anknüpfungen innerhalb des irischen Wortschatzes gesucht. Georges Dottin (1920, 231) war der erste, der auf irisch basc ‘rund’ verwies, und Joseph Vendryes (1980, 21–22), der Altmeister der irischen Etymologie, hat auf dieser Basis eine Verbindung zu altirisch “basc ‘assemblage tressé (?), collier’, mot de glossaire” hergestellt: “On rapproche le lat. bascauda (emprunté au gaulois) ‘sorte de cuvette’, primitivement peut-être une corbeille tressée, Martial XIV 99”. Julius Pokorny hat in seinem großen indogermanischen Wörterbuch unter dem Lemma bhasko- ‘Bund, Bündel’, unter dem lat. fascia, fascis und makedonisch βάσκιοι, griechisch φασκίδες, behandelt sind, folgende durchaus phantasievolle Vermutung zur Bedeutung unseres Wortes geschrieben (1959, 111): “mir basc ‘Halsband’, abrit bascauda ‘eherner Spülkessel’ (vielleicht ursprüngl. ein irdenes über einem geflochtenen korbartigen Gerippe geformtes und gebranntes Gefäß)”. Die neueste Darstellung des gallischen Wortschatzes resümiert (Delamarre 2003, 68): “bascauda ‘cuvette’. [---] On rapproche le v. irl. basc ‘assemblage tressé’, le latin fascis ‘paquet lié, fagot’, fascia ‘lien, bandage’, et la glose d’Hésychius báskioi _________ 4 Bloch / Wartburg 1975, 173: “bascule, 1549 (cf. basse cule, en 1600), altération, d’après l’adj. fém. basse (parce que la bascule s’abaisse), de bacule, 1466, encore au XVIIIe siècle, subst. verbal de baculer, propr. ‘frapper le derrière de qqn. contre terre, pour le punir’”.
14. βασκαύλης, βασκαύλιον, µασκαύλης / bascauda, mascauda
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‘fagots’ (mot macédonien ?); prototype i.-e. *bhasko-. [---] Le mot bascauda doit donc avoir désigné initialement un recipient tressé”. Wenn man zusammenfasst, was die etymologische Diskussion zur Verankerung von bascauda im indogermanischen Wortmaterial erbracht hat, kann man sagen, dass die Struktur basc-auda sein muss, also Grundwort + Suffix. Das Basiselement basc- kann mit altirisch basc ‘gewundener Gegenstand, Halskette; rund’ verbunden werden; das indogermanische Etymon *bhasko- ‘Bund, Bündel’, das auch in lat. fascis vorliegt, lässt darauf schließen, dass bascauda ‘bündelartig strukturierter Behälter’ heißen konnte, was natürlich sowohl ‘Gefäß mit einer korbartigen Struktur’ als auch ‘Schüssel mit einem gewundenem Muster’ bedeuten kann. Näher an die genaue Bedeutung kann einen die etymologische Analyse nicht bringen, so dass man seine Zuflucht zu einer Analyse der noch heute lebendigen Formen nehmen muss, die auf bascauda und seinen Parallelen beruhen. 5. bascauda im Englischen und im Galloromanischen Im Englischen geht basket ‘Korb’ auf bascauda zurück (Klein 1966, I 152), obwohl die Zwischenstufen zwischen dem Angelsächsischen und dem KeltischLateinischen noch ungeklärt sind; walisisch basked ist jedenfalls keine direkte Fortsetzung eines altkeltischen Wortes, sondern einfach aus dem Englischen entlehnt. Was die romanischen Sprachen anbelangt, so hat bascauda außerhalb des galloromanischen Sprachraumes keine Fortsetzungen gefunden, was bei einem keltischen Element keineswegs verwunderlich ist. Die französischen und provenzalischen Nachfolgeformen von bascauda hat Gaston Paris vor mehr als hundert Jahren in einem Aufsatz behandelt (1892 = 1909, 467–473). Es werden altfrz. baschoe (Varianten: baschoue, bachoe, bajoe, baxowe) ‘vaisseau de bois ou d’osier, d’assez grandes dimensions, servant surtout au transport des liquids et aussi de certains solides” (S. 401) und das entsprechende seltene neufrz. bachou ‘sorte de tonneau, ouvert par le haut, qui sert de hotte pour transporter le raisin de la cuve au tonneau [---] pour transporter les boyaux de la boucherie dans l’atelier du boyauder’ (S. 402) zusammengestellt. Der zweite Teil des Aufsatzes ist dem Versuch gewidmet, frz. bâche ‘Wasserbehälter’ zu einem auf der ersten Silbe betonten báscauda zu stellen; von dieser Argumentation kann man hier absehen, weil man das erst seit dem 16. Jh. belegte Wort als neufranzösische Kürzung von bachou ansehen muss. Walther von Wartburg hat die Argumentation von Gaston Paris, die sich auf eine genaue Einhaltung der französischen Lautgesetze berufen kann5, akzeptiert, jedoch die bis dahin nur auf die schrift_________ 5 Ein Verweis auf die einschlägigen Paragraphen bei Hans Rheinfelder, Altfranzösische Grammatik 1, München (Hueber) 41968, kann zeigen, wie völlig regelmäßig sich bascauda zu baschoe und dann zu baschoue entwickelt hat: Anlautendes b- bleibt erhalten (S. 153 = § 373); vortoniges a bleibt erhalten (S. 46 = § 124); nachvokalisches –s– bleibt vor stimmlosem Konsonanten erhalten (S. 219 = § 557); c vor au wird zunächst zu ch palatalisiert (S. 168, § 414), danach wird au zu o (S. 33–34 und S. 163, § 87 und § 395); das zwischenvokalische d fällt weg (S.
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sprachlichen Formen gestützte Argumentation durch Dialektbelege erweitert: Ardennen bajoe ‘hotte de vendangeur’, Metz bèchowe ‘baquet; hotte en bois qui sert à porter le vin et le raisin’, Gaskogne bascojo ‘panier à mettre les grenouilles’, Béarn bascoyes ‘paniers attachés à un bât et qui pendent des deux côtes’, Lavedan bascoye ‘panier profond qu’on attache au nombre de deux, aux flancs des chevaux’. Man erkennt also im Norden des französischen Sprachraumes ein wallonisch-lothringisches Reliktgebiet, und im Südwesten des okzitanischen Sprachgebietes sind Formen im gaskognischen Umfeld nachgewiesen. Zwei Sonderentwicklungen sind zu diesem insgesamt doch sehr bescheidenen Weiterleben hinzuzurechnen: Zum einen ist, wie Walter von Wartburg annimmt, das feminine “afrz. baschoue in ein Mask. umgewandelt” worden: Neufrz. bachou ‘sorte de tonneau ouvert par le haut et servant de hotte’, Guernsey bāšọ ‘paniers carrés faits de barreaux de bois, pour charger un cheval’, Bayeux bachot ‘petit filet en forme de vase pour pêcher des écrevisses’, Bessin (Calvados) bacho ‘filet à écrevisses’, Haut-Maine bâchot ‘hotte en osier; filet de forme conique’, BasMaine bāšọ ‘filet en osier de forme conique pour prendre le poisson’. Mit anderen Worten: In den Mundarten der Normandie tritt statt des femininen altfranzösischen baschoue und seiner Weiterentwicklungen ein maskulines bachot auf, das Körbe oder ähnliche Dinge, die mit dem Fang von Meerestieren zu tun haben, bezeichnet. Für die Wortgeschichte interessanter ist die zweite Sonderentwicklung, bei der nach der Einschätzung von Walther von Wartburg “der Ausgang des Wortes an das Suffix –ole angeglichen” wurde: Normandie bachole ‘baquet ou vaisseau en bois, servant à transporter de l’eau’, Blois bacholle ‘sorte de vaisseau en ferblanc’, Bouillon bachole ‘panier dont se servent les pêcheurs’, Mâcon ‘sorte de hotte d’osier tressé, ayant un double manche assez long qui se place sur les épaules et se réunit au-devant du porteur qui le maintient avec ses bras’, St-Genis bachola ‘auge’, Jons sur Isère bâcholla ‘petite auge pour l’avoine’, neuprovenzalisch bacholo ‘cuvier à lessive, comporte de vendange; auge pour les bestiaux’, alpenprovenzalisch bachoro, Limousin bachorlo, Vinzelles bātsolå ‘cuveau portatif qu’on met sur les chars et où on verse la vendange recueillie dans les bottes’, Limagne batsolo ‘bacholle, récipient en bois de forme ovale à deux cornes latérales, que l’on transporte avec des barres’, Ambert batšolo ‘bac en bois, de forme ovale, muni de deux anses latérales constituées par un talon de branche laissé sur les douves’, Auvergne båšovå. Diese Formen treten auf einem größeren Gebiet als die femininen und maskulinen bachou(e)-Relikte auf, nämlich vor allem im Süden Frankreichs, aber auch in Ausläufern in die Normandie, an die Loire und an die Saône bis hin nach Bouillon; die Bedeutung der dialektalen Belege des Worttyps bachole, -a gruppieren sich um ‘Trog, Korb, Fässchen’.
_________ 259 = § 687); Auslaut-a wird zu –e (S. 65 = § 171). Das aus au entstandene o wird vor französischem Auslaut-e zu ou (S. 34 = § 88).
14. βασκαύλης, βασκαύλιον, µασκαύλης / bascauda, mascauda
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6. Frz. baschoue, bachou, bachole, lat. bascauda und gall. *baskaules Hier ist nun der Moment gekommen, eine Verbindung zwischen den galloromanischen Wörtern und ihren möglichen Etyma herzustellen. Wir haben drei französische Worttypen, feminines baschoue, maskulines bachou und feminines bachole. Das Lateinische bietet feminines bascauda mit den Varianten uascauda und mascauda, im Griechischen finden wir maskulines βασκαύλης mit dem Diminutivum βασκαύλιον und die ebenfalls maskuline Variante µασκαύλης. In Frankreich kann man die Bedeutungen unter der generellen Angabe ‘Holz- oder Flechtgefäß, Korb, Tonne’ zusammenfassen, im Lateinischen ist für bascauda ‘Kupferschüssel’ die eindeutige Aussage der Glossare, und im Griechischen, wo konkrete Bedeutungsangaben fehlen, kann man vermuten, dass mit βασκαύλης ein ‘metallenes Küchengefäß’ gemeint ist, weil das Wort zusammen mit Pfannen, Töpfen und Kesseln genannt wird; das inschriftliche µασκαύλης wird ein ‘Becken’ sein, das der rituellen Reinigung diente. Allen Wörtern liegt eindeutig der keltische Stamm bask– zugrunde, der zunächst wohl ‘Flechtwerk’ hieß, dann ‘geflochtene Körbe’ aller Art bezeichnete und schließlich ‘Behälter’, ob geflochten, aus Holz oder aus Metall, bezeichnete. Offensichtlich sind an diesen Stamm zwei Suffixe getreten, feminines –auda in der lateinischen und maskulines –αύλης in der griechischen Überlieferung. Wir wissen zu wenig von keltischen Suffixen, um uns darauf einen Reim machen zu können – die Endung –auda tritt auch in alauda ‘Lerche’ (zu kelt. al– ‘weiss’) und in Bagaudae ‘Rebellen’ (zu kelt. bag– ‘Kampf’) auf und drückt vielleicht eine Zugehörigkeit aus, die Endung –αύλης (bzw. lat. –aules oder –aula) ist sonst (abgesehen von Bildungen zu αὐλός ‘Flöte’) überhaupt nicht belegt. Für den Anlautwechsel zwischen b-, v-, m-, der das lateinische Schwanken zwischen bascauda, uascauda = vascauda, mascauda und die griechischen Varianten βασκαύλης und µασκαύλης erklären könnte, bietet zwar nicht das antike Gallische selbst, aber immerhin die spätere Geschichte des Keltischen einen Anhaltspunkt. Die sogenannte Anlautmutation hat dazu geführt, dass der Anlaut eines Wortes je nach dem Auslaut des ihm vorangehenden, eng mit ihm verbundenen Wortes nach bestimmten Regel wechselt: Er kann der Lenition (k/g, p/b, t/d, g/ø, b und m/v, d/δ), der Aspiration (k/kh, p/ph, t/th) oder der Nasaliserung (k/ηh, p/mh, t/nh, g/η, b/m, d/n) unterworfen sein. Bei anlautendem b ist v die lenisierte und m die nasalierte Form: In Wales stehen nebeneinander basged ‘Korb’ / i vasged ‘der Korb’ / vi masged ‘mein Korb’6. Die Wortgeschichte könnte man sich also folgendermaßen vorstellen: Das keltische Wort *bask ‘Flechtwerk’ hatte zwei Suffixableitungen, *baskauda f. ‘Korb, Behälter’ und *baskaules m. ‘Metallbehälter’. Ins Lateinische wurde bascauda übernommen, um ein luxuriöses Importgeschirr zu bezeichnen, ins Griechische drang βασκαύλης als Bezeichnung für ein normales Küchengerät und die nasalierte Mutation µασκαύλης als Terminus für ein rituelles Waschbecken ein. Im Französischen lebten die gallischen Wörter weiter: Das feminine bascauda _________ 6
In der Schulorthographie schreibt man basged, y fasged, fy masged.
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ist in völlig regelmäßiger Lautentwicklung zu altfranzösisch baschoue ‘großes Holz- oder Flechtgefäß’ geworden, das noch im äußersten Norden und Südwesten Frankreichs ein bescheidenes Weiterleben kennt. Daneben gibt es aber auch noch eine Form mit –l- in dialektalen Varianten: Der Worttyp frz. bachole, prov. bachola mit den Bedeutungen ‘Trog, Korb, Fässchen’ reicht von der Normandie bis in die französischen Alpen. Die Romanistik hat diese Variante aus einer Neusuffigierung mit -ole < lat. –olla zu erklären versucht, aber viel wahrscheinlicher ist es, dass der gallische Typ *baskaules vorliegt, möglicherweise in einer femininen Form, die von *baskauda beeinflusst wurde. Ob der Übergang vom femininen baschoue zum maskulinen bachou im Mittelalter erfolgte oder ob das maskuline *baskaules in irgendeiner Weise mit dem Genuswechsel zu tun hat, ist schwer zu entscheiden; man wird vielleicht angesichts der Tatsache, dass ja die –l–Formen ebenfalls Femininum sind, eher an die mittelalterliche Lösung und nicht an ein Weiterleben gallischer Strukturen denken.
15. κάµασον, καµάσιον, καµίσιον / camis(i)a Abstract: In late antiquity, new clothes appeared, for instance shirts. In Latin, they were named camisa (397 A. C.) and camisia (484 A. C.); in Greek papyri, the fourth and fifth century sources prefer κάμασον and καμάσιον, whereas later on καμίσιον, influenced by the Latin word, prevails. Both forms are borrowed independently from a barbarian language, possibly not from Germanic nor from Celtic, but from an ancient Balkan language. Keywords: Barbarian clothes, shirts, alba, kamas(i)on, camis(i)a
1. Ein neues Kleidungsstück der Spätantike: das Hemd Die römische Kleidung erlebte in der Kaiserzeit tief greifende Änderungen, was natürlich mit dem zunehmenden Einfluss von barbari in allen Lebensbereichen zu tun hat. Charakteristisch für die echten römischen Gewänder war es, dass sie locker fielen. In der Spätantike hingegen kam trotz der Opposition konservativer Kreise in Nachahmung der Tracht anderer Völker eng anliegende Bekleidung auf. Ein derartiges neues Gewand, das die Römer ursprünglich nicht gekannt hatten, war das Hemd, das folgendermaßen definiert wird: “Als Hemd wird ein Kleidungsstück bezeichnet, das nicht wie die meisten anderen Gewänder um den Leib gewickelt wird, sondern vorgefertigt ist” (Kühnel 1992, 113; Σπυριδάκης 1958, 12–15). Zunächst versuchte man offenbar notdürftig, einen lateinischen Terminus im Rahmen der Tradition zu prägen, wobei tŭnĭca līnĕa oder auch līnĕa allein in den Vordergrund trat (ThLL VII 2, 1442). Dieses Wort lebt in rumänisch ie (< urrumänisch *l’ín’e) ‘bestickte Trachtenbluse’, in albanisch linjë ‘Leinenhemd’, in sardisch lindza ‘leinenes Frauenhemd’ und in französisch linge ‘Unterhemd; Wäsche’ (FEW 5, 357–358) weiter. 2. camis(i)a im Lateinischen Ein eigentlicher Erfolg war dem Versuch, das neue Kleidungsstück mit einem echt lateinischen Ausdruck zu benennen, jedoch nicht beschieden. Ein Fremdwort drang vor, das in lateinischen Texten normalerweise als feminines camīsia oder camisa auftritt (ThLL III 207, 9–43; eine Stellensammlung bietet Holder 1896, I 719–721). Der früheste Beleg stammt aus dem Jahre 397 n. Chr.: In einem Brief an seine Schülerin Fabiola1 erklärt Hieronymus die verschiedenen priesterlichen Gewänder und weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Soldaten in _________ 1 Zur Datierung des Hieronymus-Briefes vgl. Saint Jérôme, Lettres III, Texte établi et traduit par Jérôme Labourt, Paris 1953, 227: “Commencée en 395, la lettre n’est achevée qu’au printemps de 397”.
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der Umgangssprache ein eng anliegendes, wadenlanges Leinenuntergewand camisa2 nennen (ep. 64, 11 = PL 22, 613–614): secunda ex lino tunica est poderes, id est talaris [---]. haec adhaeret corpori, et ita arta est et strictis manicis, ut nulla omnino in ueste sit ruga et usque ad crura descendat. uolo pro legentis facilitate abuti sermone uulgato: solent militantes habere lineas, quas camisas uocant, sic aptas membris et adstrictas corporibus, ut expediti sint uel ad cursum uel ad proelia, dirigendo iaculo, tenendo clipeo, ense librando, et quocumque necessitas traxerit. ergo et sacerdotes parati in ministerium Dei utuntur hac tunica.
Eine zweite Leinentunika ist bodenlang und reicht bis zu den Knöcheln. [---| Sie liegt dicht am Körper an, ist so eng und hat so enge Ärmel, dass es im ganzen Gewand keine Falte gibt; es geht bis zu den Beinen. Ich möchte zur Erleicherung für den Leser die Volkssprache anführen: die Soldaten pflegen Leinengewänder, die sie camisae nennen, zu tragen, so den Gliedmaßen angepasst und eng am Körper anliegend, dass sie bereit sind zum Laufen und zum Kämpfen, beim Schildhalten, beim Schwertschwingen, wo immer sich eine Notwendigkeit ergeben mag. Deshalb verwenden auch die Priester im Gottesdienst dieses Kleidungsstück.
Daneben gibt es die Form camisia. Der Erstbeleg dafür findet sich in der nach 484 n. Chr. verfassten historia persecutionis Africae provinciae des Victor Vitensis (1, 39 [= 12] = PL 58, 197 A): ipsi rapaci manu cuncta depopulabantur atque de palliis altaris – pro nefas! – camisias sibi et femoralia faciebant.
Die Vandalen verwüsteten alles mit räuberischer Hand und machten sich – was für ein Gräuel – aus den Altartüchern Hemden und Hosen.
Ein Papyrus aus Ravenna aus dem Jahre 564 n. Chr. liefert in einem Nachlassverkaufsverzeichnis zwei eindeutige Belege für camisia. An der ersten Stelle geht es um ein recht wertvolles Kleidungsstück, das aus dem Nachlass des verstorbenen Collictus verkauft worden ist (P. Rav. 8, II, 6):
_________ 2
Diese Form wird von den besten älteren Handschriften geboten, eine Handschrift des 8./9. Jahrhunderts hat gleich zu wertendes camissa, während die jüngeren Handschriften camisia bieten (vgl. den kritischen Apparat in Sancti Eusebii Hieronymi Epistulae I [= CSEL 54], Wien/Leipzig 1910, 598). Das ist so zu deuten, dass im Laufe der Zeit die später übliche Form eindrang. Die Form camisa liegt völlig eindeutig auch zweimal in den Glossaren vor (CGL 5, 353, 24; 427, 7) und tritt auch in literarischen Texten auf (Ven. Fort. Vit. Radeg. 13, 30; Lex. Sal. 41, 2; 58, 4). An den beiden Isidor-Stellen (19, 21, 1; 22, 29) liefert die Handschrift T camisa statt des camisia der anderen Manuskripte. Die Annahme, dass “camisa in Texten aus dem 9. Jh. (Karol. Formul.; Einhard) wohl Umsetzung eines schon französischen chemise” sei (FEW 2 [1], 143), kann angesichts der ununterbrochenen Kette lateinischer Belege für camisa vom Ende des 4. Jahrhunderts an nicht aufrechterhalten werden.
15. κάµασον, καµάσιον, καµίσιον / camis(i)a
camisia tramosirica in cocco et prasino ualente solidos tres semis.
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ein halbseidenes Hemd in Scharlach und in Lauchgrün im Wert von dreieinhalb Solidi.
Auch der Freigelassene Guderit hinterließ ein kostbares Hemd (P. Rav. 8, II, 13): camisia ornata valente siliquas aureas sex.
ein verziertes Hemd im Wert von sechs Goldsiliquae.
Genau datiert ist auch der Beleg aus einem 597 n. Chr. geschriebenen Brief von Papst Gregor dem Großen (lib. 7, ind. 15, ep. 30 = PL 77, 887 B), wo allerdings ein spezielles liturgisches Gewand, die Alba, gemeint ist (Tagliavini 1963, 382– 384; 561–562): duas autem camisias et quattuor oraria uobis transmisi ‘ich habe euch zwei Alben und vier Stolen geschickt’. Isidor von Sevilla bietet in seinen Etymologiae, die er bei seinem Tod 636 unvollendet hinterließ, eine seiner typischen Deutungen (19, 22, 29): camis(i)as uocari, quod in his dormimus in camis, id est in stratis nostris.
Hemden (camisiae) sollen so heißen, weil wir in diesen auf Pritschen (camae), also in unseren Betten, schlafen.
Ihm war freilich nicht nur der Sinn ‘Nachthemd’ geläufig, die hier auftritt, sondern er kennt auch die Bedeutung ‘Alba des Priesters’, die er in seiner – weitgehend von Hieronymus übernommenen (Sofer 1930, 78) – Definition von ποδήρης erkennen lässt (19, 21, 1): octo sunt in lege genera sacerdotalium uestimentorum. poderis est sacerdotalis linea, corpori adstricta et usque ad pedes descendens, unde et nuncupata; quam uulgo camis(i)am uocant.
Acht Arten des Priestergewandes gibt es im Alten Testament. Bodenlang (poderis) ist das Leinengewand des Priesters, eng am Körper anliegend und bis zu den Füßen (pedes) reichend, woher auch der Name kommt; das Volk spricht vom Hemd (camisia).
Ohne jeden Zweifel war camis(i)a im 7. Jahrhundert ein absolut normales lateinisches Wort ohne den vulgären Beigeschmack, den es am Ende des 4. Jahrhunderts für Hieronymus noch gehabt hatte. In diese Richtung weist auch die Beobachtung, dass Paulus Diaconus (720–799) in seiner Epitome von de verborum significatione des Sextus Pompeius Festus (2. Jh. n. Chr.) dem ursprünglichen Text ohne Scheu camisia hinzufügte. Festus hat (406, 8–11 Lindsay): supparus [puellare dicebatu]r uestimen[tum lineum, quod et s]ubucula ap[pellabatur] ‘supparus wurde das leinene Mädchengewand genannt, das auch den Namen subucula trug’. Bei Paulus Diaconus heißt das (407, 6–7): supparus uestimentum puellare lineum, quod et subucula, id est camisia, dicitur. Im Mittellateinischen gibt es zahlreiche Belege sowohl für camisa wie für camisia, und es gibt auch die Neubildungen camisus (in Katalonien 996 belegt, LEI 10, 185, 40), camisum und camisium. Das Maskulinum existiert auch in der
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Romania (it. càmicio, LEI 10, 178–179; kat. càmis, DECLC 2, 457). Die Bedeutung ist, wie in der Spätantike, ‘Hemd’ und ‘Alba’ (Niermeyer 2002, I 160). Alle romanischen Sprachen weisen Nachfolgeformen von camisia auf, wobei die östlichen romanischen Sprachen eine Form aufweisen, die auf camĭsia mit kurzem i zurückgeht (rum. cămaşă3, dalmat. kamaisa, friaul. cjamése, dolomitenladinisch ćiamëja, altven. camesa), während die westlichen romanischen Sprachen camīsia mit langem i fortsetzen (bündnerrom. c(h)amischa, it. camicia, frz. chemise, prov. kat. sp. port. camisa)4. 3. κάµασον / καµάσιον und καµίσιον in griechischen Quellen Für den griechischen Bereich können wir uns dank der Papyri ein recht genaues Bild von der Wortgeschichte machen. Es liegen eindeutig zwei klar zu unterscheidende Typen vor, καµάσιον mit der Variante κάµασον und καµίσιον. Im 4. Jahrhundert gibt es nur Belege mit –α-, und auch im 5. Jahrhundert ist καµάσιον noch die vorherrschende Form, aber im 6. Jahrhundert taucht καµάσιον weitaus weniger oft als das dann schon zum Normalwort gewordene καµίσιον auf. Das älteste Zeugnis ist der dem “milieu du IVe siècle” zugeschriebene P. Gen. I 80, 1, wo am Anfang eines “inventaire de lingerie” κάµασα δ ‘vier Hemden’ steht; es handelte sich also um eine Pluralform. Im P. Jand. VI 125, 2, einem aus paläographischen Gründen auf das 4. Jahrhundert datierten Brief, kommt κ̣αµασίῳ in einem nicht mehr rekonstruierbaren Zusammenhang vor. Ins 4./5. Jahrhundert wird P. Heid. VII 406, eine Kleiderliste, datiert. In Z. 4 wird ein καµάσιον παλαιόν genannt, in Z. 47 κ̣αµάσιον α´. In P. Heid. IV 333, 29, einem der Schrift nach auf das frühe 5. Jahrhundert zu datierenden Brief aus samaritanischem Milieu, werden die Adressaten gebeten: γράψαιταί µοι, ἐ̣ὰν ἰσιν καλὰ τὰ καρπάσια καµάσια ‘schreibt mir, wenn die Flachshemden gut sind’. In einer Liste von Kleidungsstücken aus dem Jahre 481 n. Chr. (P. Princ. II 82, 35 = SB III 7033, 41) wird ‘ein damaskenisches Hemd’, καµάσιον Δαµάσκινον ἕν, genannt. _________ 3
Es sei vor dem Fehlurteil gewarnt, aus dem rumänischen Wort für ‘Hemd’, cămaşă, könne man auf eine lateinische Variante mit betontem a schließen. Die moderne rumänische Form geht auf ein altrumänisches cămeaşă zurück, wobei der Diphthong ea das normale Resultat eines lateinischen kurzen betonten i ist. 4 Natürlich gibt es in den romanischen Sprachen eigene Ableitungen vom Grundwort, vgl. z. B. it. camiciuola ‘Unterjacke, Mieder, Nachthemd’ (1427, LEI 10, 149), prov. camisolla (1524), frz. camisole (1547, FEW 2 [1], 142), kat. camisola (1440, DECLC 2, 458), sp. camisola (1611, DCECH 1, 787), port. camisola (1632, DELP 2, 45); deutsch Kamisol taucht im 17. Jahrhundert als Entlehnung aus dem Französischen auf (Kluge 1999, 420). Das deutsche Wort Gamasche (< frz. gamache) ist jedoch ganz anderer Herkunft: Es bezeichnete ursprünglich ein weiches Leder aus der libyschen Stadt Ghadames.
15. κάµασον, καµάσιον, καµίσιον / camis(i)a
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Ein “elenco di abiti” mit einer “datazione almeno al VIp (dopo il 536p– 537p)” liefert καµάσια δύο ‘zwei Hemden’ (P. Prag. I 93, 2). Eine Kleiderliste des 6./7. Jahrhunderts n. Chr. hat einmal den deutlich lesbaren Singular καµά̣σιν (SB XX 14214, 6 und 12) und einmal den Plural καµάσια (SB XX 14214, 5). Daneben taucht freilich ein genauso deutlich lesbares καµίσιν (SB XX 14214, 14) auf (vgl. das Foto AnalPap 2, 1990, 109), ein eindeutiges Zeichen dafür, dass der Verdrängungsprozess der älteren durch die jüngere Form weit fortgeschritten war. Auf nicht mehr nachvollziehbaren Wegen ist κάµασον in die lateinische Glossographie gekommen: CGL 4, 315, 53 und 5, 594, 7 heißt es camasus amfimallus. Man darf aus diesem vereinzelten Beleg keineswegs den Schluss ziehen, κάµασον sei ins Lateinische entlehnt und dort zu einem Maskulinum umgestaltet worden (so wird im LEI 10, 185 argumentiert)5. Wir haben es vielmehr mit einem der vielen Fälle zu tun, in denen eine lexikalische Kuriosität durch eine andere glossiert wird, in diesem Fall also ein griechisches Wort durch ein anderes, ebenfalls griechisches Wort. Zurück zu den Papyrusbelegen! Vom 5. Jahrhundert an kommt die dem lateinischen camisia nahestehende Form καµίσιον auf, um vom 6. Jahrhundert an allein das Feld zu behaupten. Ein Privatbrief, der auf Grund paläographischer Kriterien ins 5. Jahrhundert datiert wird (SB XII 11161, 11), weist in zerstörtem Zusammenhang ἐ̣π̣ὶ̣ καµίσιν auf. In einem Privatbrief des 5. Jahrhunderts ist in zerstörtem Zusammenhang von ] ̣ ̣ ̣ καµίσιν (SB XII 11161, 11 = P. Palau Rib. 39, 11) die Rede. In einer auf das 5./6. Jahrhundert datierten Inventarliste liest die Herausgeberin καµ[ί]σ̣ι̣(ον) α̣´ (P. Berl. Sarischouli 21, 2); freilich wäre auch die Ergänzung καµ[ά]σ̣ι̣(ον) denkbar. Der ebenfalls dem 5./6. Jahrhundert zugeordnete P. Mich. XIV 684, 10 bietet in einer Liste einfaches καµίσιν. In P. Ant. II 96, 17, einem Brief aus dem 6. Jahrhundert, teilt der Schreiber mit: αἰτ̣[εῖ] | µ̣ε̣ Μηνᾶς γράψαι ὑµῖ[ν] περὶ τοῦ κα̣[µ]ισίο̣υ̣ αὐτοῦ ‘Menas fordert mich auf, euch über sein Hemd zu schreiben’. In demselben Jahrhundert wird in P. Mich. XV 740, 6 ein Preis für ein Hemd, ὑπ(ὲρ) καµισίου, genannt. SPP III 83, 5 (vom Ende des 6. oder sogar vom Anfang des 7. Jahrhunderts) nennt ἓν καµίσιν ‘ein Hemd’. In einem Brief aus dem Jahre 569 n. Chr. heißt es (P. Mich. XI 607, 31): δηλονότι ὑπ(ὲρ) τούτου | [παρ]εθέµην σοι λόγῳ ἐνεχύρου ὀθώνιν Ταρσικὸν Αἰγύπτιον | καὶ καµίσιν ὑποδειλικόν, in der Übersetzung von John _________ 5 Die romanischen Maskulina wie it. càmiscio, ven. camiso, cameso, kat. càmis gehen nicht auf das belegte (griechische) camasus < κάµασον zurück, sondern sind Resultate der mittellateinischen Neubildung camisus.
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C. Shelton: ‘and it is understood that on this account I have turned over to you in pledge a garment made in Egypt after the Tarsic fashion and a ... shirt’. P. Münch. III 142, eine Liste von Kleidungsstücken, informiert darüber, dass es Exemplare mit Borten gab (Z. 4: καµίσιν πα̣ρατ̣ουρᾶτον) und dass es offenbar besonders lange (Z. 11: καµίσιν ὑψηλ̣όν) und besonders grobe (Z. 11: κ̣α̣[µίσι]α χονδρά) Hemden gab. Auch das Einfärben war offenbar üblich, wie zu ersehen ist aus SPP XX 245, 10–11: καµίσια βλ[…]ια | (ὑπὲρ) ἄλλο καµίσ(ιον) ῥοδινοπορφ(υροῦν). Diese verschiedenen Bearbeitungsarten hatten natürlich zur Folge, dass es ganz unterschiedliche Preise gab. Das lässt sich ersehen aus P. Rainer Cent. 157, paläographisch ins 6. Jahrhundert zu datieren, der nach Auskunft der ersten Zeile ein λόγος καµισί(ων) Τ̣α̣ρ̣σ̣[ικῶν π]ρ̣α̣θ(έντων) εἰ(ς) τὴ(ν) ἀκοράν, also eine ‘Liste der tarsischen Hemden, die auf dem Markt verkauft wurden’, ist. Wir finden in den Zeilen 3 bis 10 jeweils nach der Angabe καµίσι(ον) α unterschiedliche Preisangaben. In einem dem 6. Jahrhundert zuzurechnenden Berliner Brieffragment (SB XVI 12574, 6) heißt es: ]ε καµίσια. Eine Kleiderliste, die dem 6./7. Jahrhundert zugeschrieben wird, hat: καµίσια δ´ ‘vier Hemden’ (P. Berl. Sarischouli 23, 4). Solange in Ägypten noch Papyri auf Griechisch geschrieben wurden, also im 7. und 8. Jahrhundert, war καµίσιον zum konkurrenzlosen Normalwort geworden6, so dass es genügen mag, die Fundstellen zu nennen: P. Apoll. Anô 104, 16; BGU II 550, 2; CPR XXII 55, 3 (706 n. Chr.); P. Lond. IV 1352, 4. 10. 14 (710 n. Chr.); 1434, 77–78 (716 n. Chr.); 1457, 44 (706–709 n. Chr.); 1632, 4; P. Strasb. IX 840, 9; SB VIII 9754 (647 n. Chr.). Dieser Befund passt zu dem, was wir in der Literatur sehen: Zunächst galt das Wort offenbar als vulgär und nicht schriftsprachenwürdig (Heraeus 1899, 264265), wie es Hieronymus ja für den lateinischen Bereich expressis verbis sagt, weswegen es nicht verwunderlich ist, dass es in der antiken griechischen Literatur nur einen einzigen sicheren Beleg für καµίσιον gibt: Er findet sich in der um 420 n. Chr. geschriebenen Historia Lausiaca des Palladios7. Dort wird berichtet, wie ein hoher Beamter (µαγιστριανός) einer in einem Bordell (πορνεῖον) festgehal_________ 6
καµίσιον wurde auch ins Arabische übernommen, wo es bis heute in der Form qamīṣ das Normalwort für ‘Hemd, Kleid, Überzug, Futteral, Umschlag’ ist und im koptisch-christlichen Kontext für ‘Alba’ und ‘Inkarnation’ steht (Wehr 1985, 1057). 7 Zur Datierung vgl. Mohrmann 1974, XIV. – Palladios bezeichnet die Geschichte als διήγησις Ἱππολύτου, weswegen der Text auch in den Hippolytos-Ausgaben steht (unsere Stelle: GCS I 2, 277, 4–8); diese Zuschreibung bedeutet aber noch lange nicht, dass dort auch die genaue Wortwahl des Hippolytos († 235) wiedergegeben sei, so dass man also auf keinen Fall den Erstbeleg für καµίσιον ins 3. Jahrhundert n. Chr. vordatieren darf.
15. κάµασον, καµάσιον, καµίσιον / camis(i)a
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tenen christlichen Jungfrau die Möglichkeit gab, unerkannt in Männerkleidern zu fliehen (65, 4): εἰσελθὼν οὖν εἰς τὸν ἀπόκρυφον οἶκον λέγει αὐτῇ· «ἀνάστα, σῶσον σεαυτήν». καὶ ἐκδύσας αὐτὴν καὶ µεταµφιάσας τοῖς ἰδίοις ἱµατίοις, τοῖς τε καµισίοις καὶ τῇ χλανίδι καὶ τοῖς ἀνδρίοις πᾶσι, λέγει αὐτῇ· «τῷ ἄκρῳ τῆς χλανίδος περικαλυψαµένη ἔξελθε». καὶ οὕτως κατασφραγισαµένη καὶ ἐξελθοῦσα ἄφθορος καὶ ἀµίαντος διασέσωσται.
Er tritt in das verborgene Haus ein und sagt ihr: “Steh auf, rette dich”. Dann zieht er sie aus und bekleidet sie mit den eigenen Gewändern, mit den Hemden und mit dem Mantel und mit allen Männerkleidungsstücken, und er sagt zu ihr: «Bedecke dein Gesicht mit dem Mantelzipfel und geh hinaus». So bekreuzigt sie sich, geht hinaus und ist gerettet, ohne verdorben oder befleckt zu sein.
Wenn man diese erbauliche Geschichte beim Wort nimmt, dann war das καµίσιον ein typisch männliches, normalerweise nie von Frauen getragenes Kleidungsstück; der Plural könnte andeuten, dass man gelegentlich mehrere καµίσια übereinander trug. Die Stelle wäre auch ein wertvoller Beleg dafür, dass um 420 n. Chr. καµάσιον bereits durch καµίσιον ersetzt worden war, bestünde da nicht auch die Möglichkeit, dass im Laufe der Überlieferung die inzwischen als unrichtig empfundene Form mit –ά– durch die modernere Variante mit –ί– ersetzt worden ist. Bei derartig geringfügigen Unterschieden kann man der mittelalterlichen Handschriftenüberlieferung eigentlich nicht trauen, und zuverlässige Aussagen sind nur unter Berufung auf zuverlässige Quellen, also auf Papyri und Inschriften, möglich. Im Neugriechischen hat sich abgesehen von dialektalen Relikten8 nicht καµίσιον, sondern ὑποκάµισον in der regelentsprechenden Weiterentwicklung πουκάµισο erhalten. Auch für dieses Wort liefern die Papyri die ersten Belege9, wobei freilich die meisten Editoren nicht bemerkt haben, dass anders als beim Simplex nur ὑποκάµισον und nicht ὑποκαµίσιον geläufig ist10. Ausgeschrieben (und im Kontext verschlimmbessert) findet sich der Plural ὑποκάµισα zweimal in einer Kleiderliste aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. (SPP XX 245, 20 ὑποκάµισα β und 21 ὑποκάµισα καθηµερινά δ). Eine orthographische Variante, οιποκαµισων α = ὑποκάµισον α, ist im frühen 6. Jahrhundert belegt (P. Berl. Sarischouli 22,1). Sonst gibt es nur Belege in abgekürzter Form: ὑποκάµ(ισον) in P. Wash. Univ. II 104, 16 und ὑποκάµισ(ον) in P. Apoll. Anô 104, 2. Einmal ist im 6./7. Jahrhundert auch die ältere Variante belegt: ὑποκαµάσια πέντε (SPP III 83, 4). _________ 8
In den Pontosdialekten blieb καµίσιν in der Kurzform καµίσ᾿ erhalten, vgl. Andriotis 1974, 293 (Nr. 3012). 9 Literarisch findet sich der früheste Beleg erst im Suda-Lexikon: χιτὼν δὲ τὸ λεπτὸν ἱµάτιον, τὸ ὑποκάµισον. Mittelalterlich dürfte auch Anonym. in Arist. artem rhet. p. 106, 1 sein: τὰ µὲν µανίκια τῶν ὑποκαµίσων ποιοῦσι καὶ καθαρὰ καὶ ψιλά. 10 Es scheint für alle Komposita zu gelten, dass das zweite Glied –κάµισον und nicht – καµίσιον heißt, vgl. z. B. Constant. Porph. de caer. p. 470, 9; 677, 17; 678, 5: ὑποκαµισοβράκια; Eustath. ad Hom. vol. I, p. 74: χιτών ἐστι τὸ ἐπικάµισον; Hist. Alex. Magn. 39 σιδηροϋποκάµισα.
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4. Die Ersetzung von καµάσιον durch καµίσιον nach lat. camisia Insgesamt betrachtet lassen die Zeugnisse ein ziemlich eindeutiges Urteil über die wortgeschichtliche Entwicklung zu: Etwa um die Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr. taucht in den Papyri ein Neutrum κάµασον auf, das dann in der Suffixform καµάσιον im 5. Jahrhundert tonangebend ist. Im Jahre 397, also ein paar Jahrzehnte später als griechisch κάµασον, ist lateinisch camisia belegt, das sich dann aber schon im 5. Jahrhundert völlig durchgesetzt hat und alles andere als selten ist. Im Griechischen tritt im 5. Jahrhundert ganz zögerlich eine Form καµίσιον an die Seite des vorherrschenden καµάσιον, verdrängt dieses jedoch in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts vollständig. Etwa von 550 n. Chr. an gibt es nur noch καµίσιον, das bis zum Ende des Griechischen in Ägypten das Normalwort blieb und danach ins Arabische übernommen wurde. Im byzantinischen Griechisch war καµίσιον zunächst ebenfalls völlig geläufig, wurde dann aber durch das anschaulichere ὑποκάµισον ersetzt, das in der Form πουκάµισο bis heute das übliche neugriechische Wort für ‘Hemd’ geblieben ist. Es gehört nicht sonderlich viel Phantasie dazu, anzunehmen, dass die griechische Form καµίσιον aus dem lateinischen camisia zu erklären ist: Gerade im Bereich der Bekleidung gibt es im kaiserzeitlichen und byzantinischen Griechischen ausgesprochen viele Latinismen. Allerdings gilt es, umsichtig zu sein: Zum einen müsste eine einfache Übernahme von camisia ein feminines *καµισία und nicht ein Neutrum ergeben haben, zum anderen muss das Verhältnis zu καµάσιον geklärt werden. Man wird wohl am ehesten an eine Art Wortkreuzung denken müssen: Das eigene Wort καµάσιον war noch nicht sehr fest in der Sprache verankert und noch nicht in die Sphäre der Literatursprache aufgestiegen, als im Umkreis des römischen Militärs die lateinische Entsprechung camisia bekannt wurde. Das lateinische Wort vermochte das griechische zwar nicht zu verdrängen, aber beeinflusste es insoweit, als es ihm seinen Tonvokal übermittelte: Aus καµάσιον wurde καµίσιον. Der Entwicklungsgang ist also vom 5. Jahrhundert an ziemlich unproblematisch und durch die Papyruszeugnisse in seinen wesentlichen Etappen klar zu belegen. Schwierig bleibt jedoch die Frage, was im 4. Jahrhundert und vorher geschehen ist. Es liegt ja auf der Hand, das κάµασον / καµίσιον einerseits und camisia andererseits in irgendeiner Weise zusammengehören, es liegt aber genauso auf der Hand, dass die beiden Formen nicht voneinander abhängig sind – denn wie hätte aus καµάσιον camisia oder aus camisia καµάσιον werden sollen? 5. Zum vorgeblich keltischen und / oder germanischen Wortursprung Die communis opinio der sprachwissenschaftlichen Zunft findet sich in bündiger Form bei Walde/Hofmann (51982, I 147): “Wahrscheinlich durch die römischen Soldaten aus dem Gallischen entlehnt, das es seinerseits [---] wohl aus dem Germanischen hat”. Vorausgesetzt wird bei dieser Perspektive ein urgermanisches *hamiþja (rekonstruiertes Etymon von deutsch Hemd), das mit Ersetzung von h durch k und von þ durch s zu gallisch *kamisja geworden sein könnte (Thurneysen 1884, 51). Wenn man diese zunächst einfach und einleuchtend klingende
15. κάµασον, καµάσιον, καµίσιον / camis(i)a
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Theorie akzeptiert, dann muss natürlich das Lateinische die Vermittlersprache an weitere Sprachen des Mittelmeerraumes sein; folglich müssten also die griechischen Formen aus dem Lateinischen stammen. Das aber ist für καµάσον und καµάσιον lautlich absolut ausgeschlossen, und auch zeitlich ist es angesichts der Tatsache, dass der griechische Erstbeleg ein Menschenalter vor dem lateinischen liegt, ganz unwahrscheinlich11. Die Daten und die Formen der Papyrusbelege zwingen also eine altehrwürdige sprachwissenschaftliche Theorie in die Knie, denn sie erlauben eine zumindest für antike Verhältnisse recht genaue Datierung von Erstbelegen und geben zuverlässige, nicht von der Willkür späterer Schreiber abhängige Auskünfte auch über sprachlich-graphische Kleinigkeiten. Angesichts der Beleglage kommt eigentlich nur die Annahme in Frage, dass das Lateinische oder das Griechische unabhängig voneinander aus einer dritten Sprache entlehnt haben. Welche aber käme da in Frage? Das Gallische sicher nicht, denn von sporadischen regionalen Kontakten abgesehen fehlen einfach die historisch-geographischen Berührungspunkte zwischen den Griechen und den Galliern. Auch sollte man nicht vergessen, dass das Keltische im 4. Jahrhundert n. Chr. seinen Zenit längst überschritten hatte und dabei war, dem Lateinischen völlig das Feld zu räumen, so dass nicht einzusehen ist, warum gerade in dieser Zeit ein gallisches Wort seinen Siegeszug über die οἰκουµένη angetreten haben sollte. Zudem hat die moderne Keltologie der alten Annahme eines gallischen *kamisja den Garaus gemacht: Altirisch caimmse ‘Hemd’ ist ein mittelalterlicher Latinismus und kein in die Antike zurückreichendes Erbwort, denn “le bas-lat. camisia, très tardivement attesté, considéré comme un mot étranger par St. Jérôme, ne peut pas avoir été emprunté au celtique [---], car le –m– non spirant de l’irl. caimmse trahit un emprunt tardif, postérieur à la lénition” (Vendryes 1987 [C], 14–15). Man muss also die gallische Schiene endgültig stilllegen. Wie steht es nun mit einer direkten Entlehnung aus dem Germanischen? Die historischen Voraussetzungen wären optimal: Zahlreiche Germanen dienten in der römischen Armee, und auch im zivilen Bereich gab es im 4. Jahrhundert überall genügend Germanen. Dass ein Fragment der gotischen Bibel auf einem Pergament in Ägypten erhalten geblieben ist, zeigt, wie sehr man wirklich überall im römischen Reich mit Germanen zu rechnen hat. In unserem Fall sind es jedoch sprachliche Probleme, die die direkte Herleitung aus dem Germanischen unmöglich machen: Ein h- würde nicht durch κ- bzw. c- wiedergegeben werden, und die Verschiebung der germanischen Anfangsbetonung ausgerechnet auf die schwache Zwischentonsilbe wäre schwer zu erklären.
_________ 11 Gamillscheg 1969, 220, schreibt freilich ganz kühn: “Mittelgriechisch κάµασον taucht gleichzeitig mit camisia auf und stammt wohl aus dem Romanischen”. An dieser Aussage ist fast alles falsch: Das griechische Wort ist antik und in der mittelgriechischen Periode längst außer Gebrauch gekommen, es taucht etwa ein halbes Jahrhundert vor dem lateinischen Wort auf, und von “Romanisch” kann man frühestes im 8. Jahrhundert sprechen, vorher ist “Lateinisch” oder “Spätlateinisch” der angemessene Terminus.
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6. Die denkbare Entlehnung von κάµασον / καµίσιον und camisia aus einer unbekannten Balkansprache Unser Problem lässt sich also weder mit einer direkten Entlehnung aus dem Germanischen noch mit der Hilfskonstruktion des gallischen Umweges lösen. Wenn man sich aber einmal der Faszination der alten germanisch-gallischen Theorie entzogen hat, drängt sich unwillkürlich die Frage auf: Wieso sucht man den Ursprung des Wortes eigentlich in diesem Umkreis? Sicherlich, camisia ist gewiss kein einheimisches lateinisches Element, und καµάσιον ist keine echt griechische Vokabel12, aber es gab in der gut gemischten Gesellschaft des römischen Reiches des 4. Jahrhunderts ja auch abgesehen von den Germanen und den Kelten wirklich genug Völker, die zusammen mit einem neuen Kleidungsstück auch die Bezeichnung dafür zu bieten hatten. Außerdem ist das germanische Etymon *hamiþja alles andere als unumstößlich nachgewiesen. Rein hypothetisch sei der Gedanke geäußert, das Wort könnte ursprünglich in irgendeiner Balkansprache beheimatet sein. In diese Richtung weist zunächst eine geographische Überlegung: Nur im Bereich der quer über die Balkan-Halbinsel laufenden Grenze zwischen dem Geltungsbereich der lateinischen und der griechischen Kultursprache (“Jiriček-Linie”, vgl. Gerov 1980) war eine in zeitlich kurzem Abstand und doch unabhängig erfolgte Entlehnung ins Lateinische und Griechische wahrscheinlich. Was die sachliche Seite anbetrifft, so sei daran erinnert, dass die Thraker und Daker, wie man beispielsweise an den Abbildungen auf der Trajanssäule erkennen kann, lange Hemden trugen13. Zudem weist eine kulturgeschichtliche Überlegung auf den Balkanraum: Im Konstantinopel des 4. und 5. Jahrhunderts führten das Lateinische und das Griechische wie wohl sonst nirgends im Reich eine enge Koexistenz14, und beide Sprachen hatten Kontakt zu denselben Balkanidiomen. Es ist auch zu bedenken, dass nicht nur die meisten Kaiser dieser Zeit, von Domitian über Konstantin bis zu Justinian, balkanischer Herkunft waren, _________ 12
Der Versuch von Sepulcri (1917), κάµασον als griechisches Erbwort zur indogermanischen Wurzel *kam ‘gekrümmt’ anzusehen und das lateinische Wort (über *cámisa und dann vestis camisea) davon abzuleiten, scheitert schon an der simplen Tatsache, dass es nicht zu erklären wäre, warum dieses angeblich echt griechische Element erst im 4. Jahrhundert n. Chr. zum ersten Male belegt sein sollte (vgl. auch die negative Besprechung von Jakob Jud, Romania 47, 1921, 595). 13 Florescu/Daicoviciu/Roşu 1980, 128: “Dacii aveau cămaşi lungi şi pantaloni drepţi”. 14 Petersmann 1989, 411–412: “Konstantinopel, in den Jahren 324–330 auf den Resten des alten Byzanz errichtet, [---] galt als das ‘neue Rom’ und sollte in Konkurrenz zur alten Hauptstadt im Westen treten. Ihr Gründer hatte sie ursprünglich als lateinische Stadt geplant und zu diesem Zweck dorthin Angehörige römisch-lateinischer Zunge geholt. Es ist daher nicht verwunderlich, daß in dieser Metropole des Ostens auch ein lange währendes Zentrum der Latinität geschaffen wurde. [---] Man würde irren, wenn man meinte, die Kenntnis der lingua Latina sei in Konstantinopel auf die Kreise der Gebildeten beschränkt gewesen. Vielmehr darf man auch in der östlichen Metropole ursprünglich mit einer breiten lateinisch sprechenden Volksschicht rechnen, die sich aus niederen Ständen zusammensetzte. [---] Freilich bildete die Bevölkerungsschicht Konstantinopels, die auch im Alltag lateinisch redete, den griechisch sprechenden Einwohnern gegenüber nur eine Minorität”.
15. κάµασον, καµάσιον, καµίσιον / camis(i)a
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sondern dass sie sich auch gern mit Leuten aus ihrer Heimat umgaben. Da war also durchaus die Gelegenheit zur Einführung eines neuen Kleidungsstücks und seiner aus einer einheimischen Sprache entlehnten Bezeichnung gegeben. Die Annahme, dass das Griechische und das Lateinische unabhängig voneinander aus einer “Barbarensprache” des Balkans camisia und καµάσιον entlehnt haben könnten, böte jedenfalls eine Erklärung für den Unterschied im Hauptton: Es ist in anderem Zusammenhang längst beobachtet worden, dass bei den sogenannten autochthonen Elementen des Rumänischen und Albanischen einem indogermanischen e teils ein a, teils ein i entspricht (Russu 1970, 59), und Mittelzungenvokale (wie rumänisch ă oder î) werden von Fremdsprachigen geläufigeren vorderen oder hinteren Vokalen zugeordnet. Wenn wir nun für camisia und καµάσιον auf die indogermanische Wurzel *kem- ‘bedecken, verhüllen’ zurückgehen, die unzweifelhaft (mit Suffix versehen) in altindisch śāmulyà- ‘wollenes Hemd’ sowie in deutsch Hemd (< althochdeutsch hemidi < germanisch *hamiþja) vorliegt (Pokorny 1959, I 556–557; Walde / Pokorny 1930, I 386–387) und dessen Stamm mit einem hypothetischen balkanischen Suffix –əs15 versehen, dann erhalten wir eine Ausgangsform *kaməś, und die könnte problemlos ein lateinisches Femininum camisa / camisia wie ein griechisches Neutrum κάµασον/καµάσιον erklären: Das Mittelzungen-ə wird im Lateinischen als –i-, im Griechischen als –α– wiedergegeben, und im Schwanken des Setzens oder Nicht-Setzens eines i nach dem s kann man natürlich das Bemühen sehen, ein ś unvollkommen mit den Mitteln der griechischen und lateinischen Orthographie wiederzugeben. Im Gegensatz zur Germanen-Kelten-Theorie gibt es jedenfalls nichts, was mit der hier geäußerten Auffassung unvereinbar wäre. Freilich, eine Theorie bleibt natürlich auch die Herkunft aus einer antiken Balkansprache, und man könnte sogar sagen, dass es eine vergleichsweise vage Theorie ist, denn es ist noch nicht einmal möglich, die Balkansprache näher einzugrenzen. Um die Chancen einer Verifizierung oder Falsifizierung steht es auch schlecht, denn was wir von den antiken Sprachen des Balkanraums wissen, ist wenig: Die größeren Sprachen waren Illyrisch im Westen, Thrakisch im Osten und Dakisch im Karpathenraum, und wenn wir von diesen Sprachen schon fast nichts wissen, so gilt das noch viel mehr von anderen Idiomen wie dem Getischen, Bessischen oder Odomantischen, von denen wir eigentlich nur die Namen kennen. Die Aussichten, unser Wissen wirklich vermehren zu können, sind mehr als begrenzt – auf den Fund altbalkanischer Papyri ist bekanntlich nicht zu hoffen! _________ 15
Im Albanischen lautet das Zugehörigkeitssuffix –ës (vend ‘Ort’, vendës ‘Ortsbewohner’; pjek ‘backen’, pjekës ‘Bäcker’). “The question of the origin of this form is unsettled. A plausible explanation comes from the reference to several personal names in Illyrian, where, however, the oblique inflections of Latin or Greek may have been substituted for native ones. Such a name is Dasas, -antis, Dases, -entis and dazas, -antis, a male name in which s/z probably represent a pronunciation –ś (a palatalized s), and the second vowel an intermediate phonem ə” (Mann 1977, 95– 96). Eine Bildung wie das hier angesetzte *kem-əś hätte dann die Grundbedeutung ‘Verhüller, Verhüllendes’ gehabt, was ja für ein Kleidungsstück durchaus passt.
16. καράκαλλος, καρακάλλιον/ caracalla Abstract: A Gallic cape named caracalla (possibly related to Celtic carrach ‘itchy’) became very popular from the beginning of the 3rd century, because the emperor M. Aurelius Antoninus, nicknamed Caracalla, used to wear a luxury form of the garment. Greek sources (edictum Diocletiani, literature, papyri) have καράκαλλος, but the normal form in papyri is καρακάλλιον. Keywords: Gallic garments, capes, Caracalla, karakallion
1. Kaiser Caracalla und die caracalla der Gallier Der am 4. April 188 im gallischen Lugdunum (Lyon) geborene erste Sohn des Septimius Severus und der Iulia Domna ging nicht etwa unter seinem ursprünglichen Namen Bassianus und auch nicht unter seinem Kaisernamen M. Aurelius Antoninus in die Geschichte ein, sondern unter seinem Spitznamen Caracalla. Die kaiserzeitlichen Geschichtsschreiber und Biographen, die nur zu gern jede Anekdote breit auswalzten, haben über den Anlass zu dieser Benennung ausführlich Auskunft gegeben1. Beim Zeitzeugen Dio Cassius (etwa 165–235) liest sich das folgendermaßen (79, 3, 3): χλαµύδα τε τοτὲ µὲν ὁλοπόρφυρον τοτὲ δὲ µεσόλευκον, ἔστι δ᾿ ὅτε καὶ µεσοπόρφυρον, ὥσπερ καὶ ἐγὼ εἶδον, ἐφόρει. ἐν γὰρ τῇ Συρίᾳ τῇ τε Μεσοποταµίᾳ Κελτικοῖς καὶ ἐσθήµασιν καὶ ὑποδήµασιν ἐχρήσατο. καί τινα ἰδίαν ἔνδυσιν βαρβαρικῶς πως κατακόπτων καὶ συρράπτων ἐς µανδύης τρόπον προσεπεξεῦρεν, καὶ αὐτός τε συνεχέστατα αὐτὴν ἐνέδυνεν, ὥστε καὶ Καράκαλλος διὰ τοῦτο ἐπικληθῆναι, καὶ τοὺς στρατιώτας µάλιστα ἀµφιέννυσθαι ἐκέλευεν.
Er trug damals einen Mantel aus reinem Purpur oder aus Purpur mit weißem Mittelstreifen, manchmal auch mit einem purpurnen Mittelstreifen, wie ich selbst gesehen habe. In Syrien und Mesopotamien verwendete er auch keltische Kleidung und Schuhe. Er erfand außerdem eine eigene Tracht, die er auf barbarische Art zuschneiden und zu einem Mantel zusammennähen ließ, und er selbst zog ihn ganz häufig an, so dass er deswegen Caracalla genannt wurde, und er ließ ihn vor allem von den Soldaten tragen.
Wir wissen somit, dass Caracalla diesen seinen Spitznamen seiner Vorliebe für eine Art Umhang verdankte, den er sich nach gallischem Muster schneidern ließ. _________ 1 Hier seien nur die wichtigsten Stellen zum Spitznamen, von denen einige unten näher behandelt werden sollen, aufgezählt: Hist. Aug. Alex. 21, 11, Carac. 9, 7–8, Diad. 2, 7–8; Hier. chron. 2229; Aur. Vict. Caes. 21, 1; Ps. Aur. Vict. epit. 21, 1–2; Iord. Rom. 277.
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Freilich, das kaiserliche Lieblingskleidungsstück war offenbar nicht etwa wirklich identisch mit der caracalla der Gallier, sondern eine modifizierte Luxusausführung; die Alltagsformen des Kleidungsstücks waren seit dem 3. Jh. n. Chr. nicht nur im lateinischen Westen, sondern auch im griechischen Osten beliebt, und wir haben auch einige Papyrusbelege, in denen καρακάλλιον (oder Varianten davon) vorkommt. Im Folgenden sollen diese zusammen mit anderen Zeugnissen für das Wort und die Sache zusammengebracht werden, um so einen Mosaikstein zu unserer Kenntnis der spätantiken Alltagskleidung hinzuzufügen. 2. Die Etymologie von caracalla Dass das Kleidungsstück aus Gallien stammt, daran gibt es für die antiken Autoren keinen Zweifel, und Dio Cassius rechnet es ja ausdrücklich zu den Κελτικὰ ἐσθήµατα. Die Annahme, dass auch beim Wort caracalla an eine Herkunft aus Gallien, also an eine keltische Etymologie, zu denken sei, ist vor diesem Hintergrund naheliegend. Eine konkrete Herleitung wird von Alfred Holder (1896, I 762) im Anschluss an Glück vorgeschlagen: “vom celtischen subst.-stamm *caraca vestis, cf. prov. cara cilicium, ahd. hragil (vestimentum) für hrahil, urdeutsch hrahila, √ car-”. Diese mehr als ein Jahrhundert alte Etymologie greifen – mit einigen Vergröberungen – Alois Walde und Johann Baptist Hofmann auf2, während Alfred Ernout und Antoine Meillet nur etwas zur sachlichen, nichts jedoch zur sprachlichen Herkunft der caracalla3 sagen. Schauen wir uns also diese sozusagen kanonische Etymologie4 von caracalla einmal an! Altprovenzalisch cara “Büßerhemd” hat, wie wir heute wissen, nichts mit dem Keltischen zu tun, sondern stammt aus germanisch *harja, was wiederum mit ahd. hregil ‘indumentum, spolium’ direkt nichts zu tun hat. Somit ist das postulierte *caraca “vestis” zunächst einmal hinfällig. Die keltische Wurzel car-, _________ 2 A. Walde / J. B. Hofmann 1982, I 165: “gall. Wort, vl. mit caraca ‘vestis’ (: prov. cara ‘Büßerhemd’) im Vorderglied”. Pierre Chantraine (1999, 497) führt καρακάλλιον zwar auf, bringt aber die etymologische Diskussion nicht weiter: “Emprunt au latin caracalla (avec passage au genre neutre). Le latin a pris le mot et l’objet aux Gaulois”. 3 A. Ernout / A. Meillet 1985, 99: “caracalla, -ae f.: sorte de vêtement sans manches et à capuchon, originaire de Gaule. Surnom de l’empereur M. Aurel. Seuerus Antoninus C. Bas-latin”. 4 Einen anderen ernstzunehmenden Vorschlag kenne ich nicht. Der Gedanke des Archäologen John Peter Wild (1964, 536), das Wort einem vorindogermanischen Substrat zuzuschreiben, ist nicht mehr als eine Verlegenheitslösung, solange keine weiteren sprachlichen Anknüpfungspunkte vorliegen, was nicht der Fall ist. Auch J. P. Wild ist sich über die Schwächen seines Vorschlags im Klaren: “Professor Weisgerber in a recent paper has given clear indications of a surviving stratum of pre-Indo-European personal names in northern Gaul: their length is of three or more syllables, bearing a double consonantal suffix. The accentuation implied is foreign to Gallic, and no Celtic or Germanic etymology is forthcoming to the names themselves. Remembering that these are personal names, while caracallus is the name of an object, it may be worth suggesting, extremely tentatively, that caracallus belongs to this so-called dritte Schicht. Thus, if we ascribe the same origin to both the cape and its name, we should look for their beginnings before the arrival of speakers of an Indo-European dialect in northern Europe, that is, in archaeological terms, in the Bronze Age. This conclusion may seem to stretch the evidence to breaking point, and we could know little of the shape of the cape at that date; but the point may still be of value”.
16. καράκαλλος, καρακάλλιον / caracalla
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die schließlich ins Feld geführt wird, hat die Grundbedeutung “lieben” (Vendryes 1987, C 36), was auch nicht besonders gut zur Bezeichnung eines Mantels o. ä. passen will. Man wird also in eine andere Richtung gehen müssen. Wenn man in den Wörterbüchern der modernen keltischen Idiome nach etwas Passendem sucht, so fällt der Blick sofort auf gälisch carrach “having an uneven surface; scorbutic, itchy, mangy” (Maclennan 1925, 73). Von der Grundbedeutung “kratzig” aus kann man die Bedeutung “schorfig, räudig” erklären, die das Wort in Irland (Vendryes 1987, C 43: ‘galeux, couvert de croûtes, teigneux’) und Wales (Lewis 1960, 51: crach ‘scabby, petty’) angenommen hat, aber man hat auch bei einer Entwicklung, die zu einem mit -l-Suffix5 gebildeten Substantiv “Mantel aus kratzigem Material” führt, keine Probleme. Was die indogermanische Etymologie anbetrifft, so schlägt Julius Pokorny6 – wie schon vor ihm Alois Walde (1930, Ι 427) – eine Herleitung aus *ker(s)- ‘Borste, steifes Haar; starren, rauh und kratzig sein’ vor (auch deutsch Haar gehört zu diesem Etymon). Wenn die hier vorgeschlagene Verbindung zwischen keltisch carrach “rauh” und caracalla zutrifft, dann ist nicht nur das Kleidungsstück, sondern auch seine Benennung gallischer Herkunft. 3. Papyrusbelege für καρακάλλιον Bevor versucht wird, das Kleidungsstück genauer zu beschreiben, seien zunächst die Papyrusbelege in zeitlicher Abfolge aufgeführt. [1] Der älteste Beleg, im Wortanfang recht sicher ergänzt, stammt aus dem 3. Jh. (“on palæographical grounds; [- - -] written after A. D. 212, because an Aurelia is mentioned”): P. Oxf. 15, 12–13: [καρα]|κάλλια καινὰ δύο, ὧν ἓν α[ (“we may tentatively restore Α[ἰγύπτιον]”) ‘zwei neue Kapuzenmäntel, von denen einer ägyptischer Machart’. Dieser Beleg steht am Ende einer Reihe von anderen Kleidungsstücken. Im 4. Jh. begegnet καρακάλλιον nur ein einziges Mal: [2] In einem “Verzeichnis von Kleidungsstücken, die aus dem Unteren Kynopolites im Rahmen der vestis militaris entweder bereits requiriert worden oder noch abzuliefern waren”, taucht καρακαλλίων (Mengenangabe weggebrochen) auf (P. Münch. III 138, 8). [3] In einem ins späte 4. Jh. datierten Brief eines Eudaimon nach Hause findet sich der einzige Papyrusbeleg für das Simplex (P. Oxy. LIX 4001, 13–18): γν̣`ώ̣´|τω δὲ ὅτι τὰ λινούδια ἐτµήθη̣ τ̣ῆ̣ς̣ | ἀδελφῆς ἡµῶν Κυρίλλης, καὶ ἐ̣ὰ̣(ν) | εὕρω γνήσιον ἐρχόµενον, ἀ|ποστέλλω αὐτὰ καὶ τὸν πορφυρο̣ῦ̣(ν) | καράκαλλον καὶ τὰ ὑποδήµατα ‘sie soll wissen, dass die Leinenstücke unserer Schwester Kyrilla zugeschnitten wurden, und wenn ich einen zuverlässigen Reisenden finde, werde ich sie schicken und den purpurnen Kapuzenmantel und die Schuhe’. Das 5. Jh. liefert zwei Belege: [4] P. Heid. IV 333, ein “byzantinischer Brief aus samaritanischem Milieu”, bietet am Anfang (Z. 4-5) eine Aufzählung _________ 5
Pedersen 1913, 54 (§ 397). Es ist vor allem an die Verbindung zum lateinischen Suffix -alis, das Zugehörigkeit ausdrückende Denominativa bildet, zu denken. 6 Pokorny 1959, 583. Die ib. 532 erwogene Verbindung zu altirisch carrac "Felsen, Klippe” ist abzulehnen; es handelt sich wohl nur um einen zufälligen Gleichklang.
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empfangener Nahrungsmittel und Kleidungsstücke: µάθαι ὅτι ἐδεξάµην ὅλα καὶ τὰ σιτάρια καὶ τὰ φασίλια καὶ τὸ καρακάλι(όν) | σου καὶ τὸ στιχάριν ἀπὸ τῆς Ζωσίµου ‘wisse, dass ich alles erhalten habe, sowohl den Weizen als auch die Bohnen als auch deinen Kapuzenmantel als auch den Rock der Tochter des Zosimos’. [5] In einer auf den 27. März 481 n. Chr. datierten Dialysis steht καρακάλλιον Αἰγύπτιον ἕν (P. Princ. II 82, 37). Ins 5./6. Jh. gehört eine in Wien aufbewahrte Kleiderliste [6], in der καρακάλλιν ἕν α´ genannt ist (SB XVI 12249, 11 = Aegyptus 61, 1961, 86). [7] Eine ebenfalls ins 5./6. Jh. datierte Berliner Inventarliste nennt καρακάλιν α´ (P. Berl. Sarisch. 21, 9). Das 6. Jh. bietet ungewöhnlich viele Belege: [8] In einem ὑποµνιστικὼν εἱµατίων (P. Mich. XIV 684, 2) ist die Rede von ‘einem echten Kapuzenmantel aus Antiochia’, ἀλη(θινὸν) καρακάλιον Ἀντιοχή(σιον) α´ (P. Mich. XIV 684, 7). [9] Von den vier deutbaren Wörtern einer Wiener Kleiderliste aus dem 6. Jh. sind drei dem Worttyp καρακάλλιον zuzuordnen: | καρακάλλιν κίτρ[ινον] | σµυρναῖον χλ̣[---] | καρακάλλιν ωσ̣ | κα̣[ρ]α̣κ̣ά̣λ̣λ̣ι̣[ν] α̣σ̣[ (CPR X 139, 2; 4; 5). [10] Eine weitere Wiener γνῶσ(ι)ς ἱµατίων (SPP XX 245, 1) nennt καρακάλλια β´ (Z. 16). [11] In einem Brief an einen Exceptor Petros, in dem verschiedene zuvor abgesandte Gegenstände aufgezählt werden, kommt unser Wort mit dem bekannten λρ-Wechsel vor: καλακάριον (CPR XIV 51, 4). [12] In einer Empfangsbestätigung für verschiedene Gegenstände wird zu den Kleidungsstücken, ἱµάτια, gerechnet: καρακάλλ[ι]ον ξενικὸν ἕν (SPP III 83, 3 = WSt 24, p. 130). [13] P. Cair. Masp. I 67006, eine auf das Jahr 567 zu datierende “requête adressé par la veuve Marie, du village de Sabbis dans le nome Théodosiopolite, au duc de Thébaïde”, nennt in Z. 64–65 des Verso καρακάλι|α πέντει διάφορα ‘fünf verschiedene Kapuzenmäntel’. [14] In PSI XIV 1427, 16–21, datiert auf den 26. Juni 564, geht es um ein Pfand für ein Darlehen von vier Goldmünzen: πρὸς δὲ ἀ[σ]φάλειαν | τῆς τούτων ἀποδώσεως δέ̣δ̣ωκα σι | λόγῳ ἐνεχύρου καρα̣κ̣αλλιον | λευκὸν λινέγα̣ι̣ον ἄσπρον ἓν καὶ | πεξὸν λινέγαιον ἄσπρον ἔχον | σταυράκιν ἕν ‘als Garantie für diese Abgabe gab ich Dir als Sicherheit einen weißen Kapuzenmantel aus heller Wolle und ein weißes Wollgewand mit einem Kreuz’. Ins 6./7. Jh. gehört der Brief P. Oxy. LVI 3871, 1–3, wo es heißt [15]: αἰτῶ τὴν ὑµετέραν γνησίαν̣ ἀ̣δελφότητα τὸ ὁλαίγεον καρακάλλιν τὸ παλαιόν, ὅπερ | ἔλαβεν ἀπὸ τοῦ κνάφεως, πέµψ[α]ι µοι δ̣[ι]ὰ Θεοδώρου τοῦ λαµπροτάτου µειζοτέρου, | ἐπειδή, ὡς οἶδεν, ἠλλάγησα̣ν̣ οἱ ἀ̣έρες. In der Ausgabe des Papyrus übersetzt M. G. Sirivianou: ‘I request your true brotherliness to send me the old pure goat-hair cape with the hood, which you got from the fuller, by Theodorus the most splendid µειζότερος, since, as you know, the weather has changed’. [16] Eine Datierung “tra la fine del VI secolo ed i primi decenni del VII sec. d. C.” schlagen die Editoren R. Pintaudi und J. D. Thomas für den Brief einer Phoibasia an einen Bankier Agapetos vor, in dem u. a. um “ornamenti per un mantello con cappuccio” gebeten wird (SB XVIII 13762, 26 = Tyche 1, 164–165): παρακλήθητε δὲ διὰ τὸ µικ̣ρ(ὸν) παρακάλλιν τ̣ὸ ὄσπρον ‘ihr wurdet um den bunten Schmuck für den kleinen Kapuzenmantel gebeten’. [17] Ebenfalls ins 6./7.
16. καράκαλλος, καρακάλλιον / caracalla
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Jahrhundert gehört eine Kleiderliste (SB XX 14214), in deren ersten beiden Zeilen fragmentarisch καρ[ und καρα[ erhalten sind; Z. 4 lautet καρακ̣ά̣λλιν χ̣ρ̣ω̣µ̣α̣τ̣(ωτὸν) λινοαίγι(ον) [α´] ‘ein gefärbter Kapuzenmantel aus Ziegenhaar’, Z. 5 lautet καρακ̣άλλ(ιν) λινοαίγι(ον) ἀργύραιον καινούργ(ιον) α´ ‘ein neuer silbergrauer Kapuzenmantel aus Ziegenhaar’. [18] In einer ins 6./7. Jahrhundert einzuordnenden Liste von Zahlungen ist von ὑπὲρ καρακάλια | νοµιστια β´ ‘für Kapuzenmäntel 2 Goldmünzen’ die Rede (SB XXII 15489, 3). Ins 7. Jahrhundert wird P. Got. 19 datiert [19], wo Z. 8 lautet: (ὑπὲρ) τιµ(ῆς) καρακα̣λλίου κ(ερ.) κ´ ‘für den Preis des Kapuzenmantels 20 Keratia’. Ebenfalls ins 7. Jahrhundert gehört ein “klösterliches Kleiderinventar” [20]: Zweimal kommt ‘ein bunter Kapuzenmantel’ vor (SB XX 14319, 2: στιχαρ(ο)καρακ[(άλλιον)]; 3: στιχαρ(ο)καρακ(άλλιον), einmal ‘ein grauer Kapuzenmantel’ (SB XX 14319, 4: 〚καρακ(άλλιον) µοίι[(ν)ον]7〛). SB XXIV 16143, 9 scheint Καρακάλη ein Personenname zu sein. Der späteste Papyrusbeleg [21] findet sich in einer Wiener Mitgiftliste aus dem 8. Jahrhundert n. Chr., in der als erster Gegenstand auftaucht: καρακάλλ(ιον) στιππ(όινον) λινοῦν ‘ein Kapuzenmantel aus Leinenwerg’ (SB XVI 12941, 3). Insgesamt kommen καρακάλλιον und seine Schreibvarianten also in 20 Papyrusdokumenten vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr. vor, einmal [3] findet sich das Simplex καράκαλλος. Die vergleichsweise hohe Anzahl von Belegen und auch das Vorhandensein koptischer Formen8 zeigen, dass das Wort im Griechischen Ägyptens gut verankert war – anders gesagt, das aus dem kalten und nassen Gallien stammende Kleidungsstück war im warmen und trockenen Ägypten alles andere als selten. 4. Die frühesten Belege für caracalla und καράκαλλος Abgesehen von den Zeugnissen, die sich um den Spitznamen Caracalla des Kaisers Aurelius Antoninus drehen und die sich auf die ersten Jahre des 3. Jahrhunderts n. Chr. beziehen müssen, gibt es für das Wort zunächst recht wenige Belege. Im Lateinischen kommt nur das feminine Substantiv caracalla vor9. Aus _________ 7
Lesung nach dem Vorschlag in Tyche 13, 1998, 264; µον̣[α]χ̣[ικόν], die Lesung der Erstedition, ist nicht möglich. 8 Es kommt die dem Griechischen weitgehend entsprechende Form ⲕⲁⲣⲁⲕⲁⲗⲗⲓ vor (CPR XII 1, 5; 13), daneben eine Kurzform ⲕⲁⲣⲕⲁⲗⲗⲓ (CPR XII 1, 26; 33); häufig ist die Ersetzung des ⲣ durch ⲗ, z. B. Husselman, Coptic Documents 64, 15-18 ⲕⲁⲗⲁⲕⲁⲗⲗⲓⲟⲛ; Crum, Short Texts 116, 20-21: ⲕⲁⲗⲁⲕⲁⲗⲓⲛ. Interessanterweise taucht gelegentlich eine Form auf, die ohne griechische Vermittlung direkt auf lateinisch caracalla zurückgehen dürfte: P. Ryl. Copt. 247 ⲕⲁⲗⲁⲕⲓⲗⲗⲁ; P. Laur. V 205, 8 ⲕⲁⲗⲁⲕⲉⲗⲗⲁ. 9 J. P. Wild hielt in seinen älteren Arbeiten ein Maskulinum caracallus – im Lateinischen als Appellativum nicht ein einziges Mal belegt (das ThLL III 427-428 genannte caracallis beruht auf einer Fehllesung, caracallium und caracallum sind Rückprojektionen aus dem Griechischen) – für die korrektere Form, wobei er griechisch καρακάλλος (Wilds Akzentuierung) und die Namensform Caracallus als Argument anführte. Inzwischen hat er seine Ansicht wegen der caracalla-Belege aus den defixionum tabellae von Bath revidiert: “We learn from the Bath curses
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paläographischen Erwägungen werden zwei defixionum tabellae aus Aquae Sulis (Bath) in Britannien ins dritte Jahrhundert datiert10. Der Text der vom Schrifttyp her etwas älter aussehenden Tafel lautet11: Docilianus | Bruceri | deae sanctissime | Suli | deuoueo eum, [q]ui | caracellam12 meam | inuolauerit, si | uir, si femina, si | seruus, si liber, | ut [..]um dea Sulis | maximo letum | [a]digat nec ei so|mnum permit|tat nec natos nec | nascentes, do|[ne]c caracallam | meam ad tem|plum sui numi|nis per[t]ulerit.
Ich, Docilianus, Sohn des Brucerus, weihe der Göttin Sulis den, der meinen Kapuzenmantel gestohlen hat, ob Mann, ob Frau, ob Sklave, ob Freier, damit die Göttin ihm den Tod sende, ihm keinen Schlaf schenke und keine Kinder und Nachkommen, bis er meinen Kapuzenmantel zum Tempel ihrer Gottheit zurückgebracht hat.
Die zweite Verwünschung lautet: Mineruae | de Suli donaui | furem, qui | caracallam | meam inuo|lauit, si seruus, | si liber, si ba|ro, si mulier. | hoc donum non | redemat nessi | sangune suo.
Ich habe der Göttin Minerva Sulis den Dieb, der meinen Kapuzenmantel gestohlen hat, geweiht, ob er Sklave, ob er Freier, ob er Mann, ob er Frau ist. Dieses Opfer kann er nur mit seinem Blut sühnen.
Die frühesten sicher zu datierenden Belege finden sich dann im Jahre 301 im Preisedikt des Diokletian: Bei den Schneiderlöhnen werden zwei birrus-Typen, zwei caracalla-Typen, Hosen (braces) und Socken (udones) genannt: 7, 42 bracario pro excisura et rnatura pro birro qualitatis primae (denaria) se<xa>[ginta] 43 pro birro qualitatis secundae (denaria) quadrag[inta] 44 pro caracalli maiori (denaria) biginti q[uinque] 45 pro caracalla minori
βρακαρίῳ τοµῆς καὶ κοσµή[σεως] βίρου πρωτείου [(δηνάρια) ξ´] βίρρου δευτερείου [(δηνάρια) µ´] καρακάλλου ἁδροῦ [(δηνάρια) κε´] καρακάλλου µεικροτέρου
_________ that the correct original spelling of the term was caracalla and not caracallus, which I once favoured on the strength of the Greek texts. I was wrong” (J. P. Wild 1986, 353). 10 Hassall / Tomlin 1983, 352 (Anm. 13): “The letters are of ‘classical’ form except for the E made with two curved strokes, which is usually regarded as post c. 200”. Ibid., 336: “cursive letters probably of third-century date”. 11 Hassall / Tomlin, 1981, 376-377 (mit Zeichnung). Die Editoren schlagen folgende Übersetzung vor: “Docilianus son of Brucerus to the most holy goddess Sulis. I curse him who has stolen my hooded cloak, whether man of woman, slave or free, that [---] the goddess Sulis inflict(s) death upon (?) [---] not allow him sleep or children now and in the future, until he has brought my cloak to the temple of her divinity”. 12 Hier liegt offenbar ein Schreibfehler vor, dem man keine größere Bedeutung beimessen darf, denn in Z. 16 ist völlig korrekt und eindeutig caracallam zu lesen.
16. καράκαλλος, καρακάλλιον / caracalla
(denaria) biginti 46
pro bracibus
47
pro udonibus
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[(δηνάρια) κ´] βρακίων
(denaria) biginti
[(δηνάρια) κ´] οὐδωνίων
(denaria) quattuor
[(δηνάρια) δ´]
Auffällig ist hier zunächst die griechische Entsprechung zu caracalla: Es liegt nämlich nicht die in den Papyri geläufige Diminutivform vor, sondern das Simplex, das auch in einem wahrscheinlich von Palladas (zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts) verfaßten Epigramm vorkommt (AP XI 345)13: Μητρόφανες, κύκνοψι, δασύθριξ, δῖε πελαργέ, τῇ καὶ τῇ κραδάων κεφαλὴν γεράνοισιν ὁµοίην µηκεδανὸν καράκαλλον ὑπὲκ δακέδοιο κοµίζεις. Die Formen aus dem Preisedikt und aus der Anthologie lassen noch keine Entscheidung darüber zu, ob das Simplex ein Maskulinum oder ein Neutrum war. Die Wörterbücher gingen bislang einhellig vom Neutrum καράκαλλον aus14. Gegen diese Annahme ist zunächst einzuwenden, dass die neugriechische Weiterentwicklung des Wortes, der Dialektausdruck καράκαλλος, welcher auf Corfù und auch sonst einen Vogel bezeichnet15, Maskulinum ist. Jetzt bringt der Papyrusbeleg [3] eine klare Entscheidung zugunsten des Maskulinums und gegen das Neutrum: In ἀ|ποστέλλω αὐτὰ καὶ τὸν πορφυρο̣ῦ̣(ν) | καράκαλλον (P. Oxy. LIX 4001, 14–16) liegt, kenntlich an der Form des Artikels, eindeutig ein maskuliner Akkusativ vor. Das griechische Simplex heißt also ὁ καράκαλλος – so muss es in die Wörterbücher aufgenommen werden, τὸ καράκαλλον ist zu streichen. 5. Das Aussehen der caracalla Aus den lateinischen Quellen erfährt man etwas darüber, wie eine caracalla aussah. Während Cassius Dio nur davon spricht, dass es sich um ein irgendwie fremdländisch (βαρβαρικῶς πως) zugeschnittenes Kleidungsstück nach Art einer Mandye, also eines persischen Umhangs, handele, ziehen Kirchenschriftsteller des 5. Jahrhunderts n. Chr. die caracalla heran, um das Aussehen des alttestamentlichen Priestergewandes ephod ( )אפודdarzustellen: Ein ephod ist eine caracalla ohne Kapuze. So schreibt der um 450 verstorbene Eucherius von Lyon (instr. 2, 10 = PL 50, 819D–820A): ephod, uestis sacerdotalis, quae superindumentum uel superhumerale appellatur; _________ 13
Ephod ist das Priestergewand, das Überkleid oder Obergewand heißt; es
Hermann Beckby übersetzt (Anthologia Graeca, Band 3, München [Heimeran] 1958, 712): “Wuschelkopf, göttlicher Storch, Metrophanes, Schwanengesichte, | gleich den Kranichen wiegst du den Kopf nach hüben und drüben, | und in wallender Schleppe schleifst lang du den Mantel am Boden”. 14 Passow I 2, 1584; Pape I 1210; LSJ 877; F. Montanari, GI 1000. 15 Nikolaos Andriotis 1974, 297 (Nr. 3052). Diese neugriechische Form sichert auch die proparoxytone Akzentuierung.
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est autem uelut in caracallae modum, sed sine cucullo; cujus uestimenti duo sunt genera, unum lineum et simplex, quod sacerdotes habebant, aliud diuersis coloribus de auro, purpura et bysso, hyacintho gemmisque contextum, quo soli pontifices utebantur.
ist wie ein Kapuzenmantel gemacht, aber ohne Kapuze; von diesem Kleidungsstück gibt es zwei Arten, eines aus Leinen und einfach, das die Priester hatten, eines in verschiedenen Farben aus Gold, Purpur, Batist, Hyacinth und Perlen gewebt, das nur die Hohenpriester trugen.
In derselben Weise beschreibt Hieronymus (ep. 64, 15 = PL 22, 615) das biblische Schultergewand: efficitur palleolum uermiculatae pulchritudinis perstringens fulgore oculos in modum caracallarum, sed absque cucullis.
das Ganze bildet einen prächtigen gestreiften Mantel, der durch seinen Glanz die Augen fesselt in der Art der Kapuzenmantel, aber ohne Kapuzen.
Diese Stellen helfen uns etwas weiter, da wir zumindest in groben Zügen wissen, wie der alttestamentliche Ephod aussah: “The ephod seems to have been a square, sleeveless garment, falling from just below the armpits to the heels” (Encyclopaedia Judaica 6, 805); Aarons Ephod wird Ex. 28, 6–7 beschrieben. Dass also die caracalla zu den ärmellosen Schulterumhängen gehörte, wird aus der Gleichsetzung mit dem jüdischen ephod und der ursprünglich persischen µανδύη deutlich, und in den Glossaren wird es auch eindeutig gesagt: caracalla, uestis sine manicis auro texta (CGL 5, 275, 26). Aus Diokletians Preisedikt geht deutlich hervor, dass es eine lange (maior, ἁδρός) und eine kurze (minor, µικρότερος) Ausführung gab. Das passt mit den Angaben zusammen, die sich aus den Anekdoten um den Namen des Kaisers Caracalla ergeben. In der Historia Augusta findet sich die klarste Aussage in der dem Aelius Spartianus zugeschriebenen Vita Antonini Caracalli (9, 7–8): ipse Caracalli nomen accepit a uestimento, quod populo dederat, demisso usque ad talos, quod ante non fuerat; unde hodieque Antoninianae dicuntur caracallae huiusmodi, in usu maxime Romanae plebis frequentatae.
Er selbst erhielt den Namen Caracalla nach dem Kleidungsstück, das er dem Volk gegeben hatte und das bis zu den Knöcheln reichte. Das hatte es vorher nicht gegeben. Deswegen werden heute Caracallae dieses Typs, die meist vom einfachen Volk Roms getragen werden, Caracallae Antoninianae genannt.
Die Stelle versteht man noch besser, wenn man ihr den Text der Epitome des Aurelius Victor zur Seite stellt (21, 1–2): Aurelius Antoninus Bassianus Caracalla, Seueri filius, Lugduni genitus, imperauit solus annos sex.
Aurelius Antoninus Bassianus Caracalla, der in Ludgdunum geborene Sohn des Severus, war nur sechs Jahre lang Kaiser.
16. καράκαλλος, καρακάλλιον / caracalla
hic Bassianus ex aui materni nomine dictus est; at cum e Gallia uestem plurimam deuexisset talaresque caracallas fecisset coegissetque plebem ad se salutandum talibus introire, de nomine huiusce uestis Caracalla cognominatus est.
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Er hieß nach dem Namen des Großvaters mütterlicherseits Bassianus; aber als er aus Gallien viel Kleidung eingeführt hatte und knöchellange Caracallae anfertigen ließ und das Volk gezwungen hatte, zu seiner Begrüssung mit solchen Kleidungsstücken zu gehen, wurde er nach dem Namen dieses Gewandes Caracalla genannt.
Noch an der Schwelle zum Mittelalter kannte man diese Story: Iordanes schreibt in seiner historia Romana (277): Antoninus cognomento Caracalla, filius Seueri, regnauit annos VII; nam ideo hoc nomen nanctus est, eo quod eiusdem uestium genere Romae de manubiis erogans sibi nomen Caracalla et uesti Antoniniana dederit.
Antoninus mit dem Beinamen Caracalla, der Sohn des Severus, regierte sieben Jahre; er hatte nämlich deswegen diesen Namen erhalten, weil er in Rom aus der Kriegsbeute Kleider dieser Art austeilte und so sich selbst den Namen Caracalla und dem Kleidung die Bezeichnung Antoniniana gab.
Caracalla führte also, wenn man die Aussagen dieser Texte zusammennimmt, aus Gallien die caracalla ein, veranlasste eine Verteilung dieser Kleidungsstücke an die römische Plebs, allerdings in einer längeren, bis an die Knöchel reichenden Ausführung, die dann vestis Antoniniana genannt wurde, und der Kaiser selbst erhielt wegen seiner Vorliebe für das Kleidungsstück den Spitznamen Caracalla. Wenn man dem Kaiser gefallen wollte, musste man natürlich seine caracalla tragen. Wenn auch ein direkter Beleg fehlt, so wird man doch annehmen dürfen, dass die caracalla minor des Preisediktes die gallische Urform meint, während man unter der caracalla maior die uestis Antoniniana zu verstehen hat. Hier wäre nun der geeignete Ort, die archäologische Evidenz einzuführen, aber leider lässt sich nur wenig wirklich Sicheres vorführen. Wir besitzen viele Darstellungen gallischer Umhänge, haben aber Probleme bei der genauen Zuschreibung der Namen – was ist ein byrrus, was ein cucullus, was eine casula, was eine caracalla? In den sechziger Jahren war John Peter Wild, der Fachmann für Kleidung im Nordwesten des Römischen Reiches, noch sehr skeptisch bezüglich der Identifikationsmöglichkeiten (1968, 225): “The differences may have been in detail and cannot now be established. The Gallic cape is the only garment on the tombstones which answers to their general description; but we do not know which name was applied to it. Perhaps different groups of people in the North had their own particular names for the same garment”. Zwei Jahrzehnte später war er zuversichtlicher: Inzwischen hatte man in Ägypten einen gut erhaltenen byrrus gefunden (Wild 1986, 353: “the byrrus has an extra V-shaped section of cloth protecting the open neck, and this was woven, we now see, as an integral part of the garment”), und auch bei der vor allem vom Militär getragenen paenula war man weiter gekommen (Kolb 1971); also liegt es nahe, alle in Gallien und
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Britannien dargestellten Umhänge, die nicht als byrrus oder als paenula identifiziert werden können, als caracalla einzuschätzen. “By process of elimination one would be inclined to equate the Gallic cape with the caracalla” (Wild 1986, 353). Wenn das stimmt, dann kommt beispielsweise das Cape, das der Trierer Pflüger trägt (vgl. die folgende Abbildung nach Menzel 1966, Nr. 86), den antiken Beschreibungen der caracalla minor zumindest recht nahe.
Und was ist das καρακάλλιον der Papyrusurkunden? Es gab offenkundig verschiedene Sorten, denn wir erfahren von καρακάλλιον [Beleg 5 und vielleicht 1], Ἀντιοχήσιον (Beleg 8), Σµυρναῖον (Beleg 9), ξενικόν (Beleg 11), von καρακάλλια διάφορα (Beleg 13) eben, die Farben sind verschieden, es gibt bunt bestickte καρακάλλια (Beleg 16); als Material wird in Diokletians Preisedikt Leinen genannt, Leinen vermischt mit Ziegenhaar (Beleg 14) oder mit Werg (Beleg 18) kommt in den Papyri vor, aber auch reines Ziegenhaar (Beleg 15) und reines Werg (koptisch ⲟⲩⲕⲁⲣⲁⲕⲁⲗⲗⲓ ⲡⲥⲁⲥⲓ, CPR XII 1, 13). All das spricht dafür, dass es sich um ein Kleidungsstück handelte, das man bei unfreundlichem Winterwetter trug, und in die Richtung weist ja auch die Formulierung ἐπειδή, ὡς οἶδεν, ἠλλάγησα̣ν̣ οἱ ἀ̣έρες in Dokument 16. Damit würde dann das καρακάλλιον in eine Reihe mit anderen wetterfesten Umhängen wie πάλλιον, κουκούλλιον, φαινόλης oder κάσος gehören. Freilich darf man nicht vergessen, dass es in Ägypten meistens heiß ist und dass man daher dort vornehmlich leichte, für warme Temperaturen geeignete Kleidungsstücke braucht. Zumindest für die caracalla minor ist eine derartige Verwendung nicht ausgeschlossen, sofern der Leinenanteil an ihrem Material
16. καράκαλλος, καρακάλλιον / caracalla
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nicht zu gering ausgefallen ist16. Es gibt nämlich einen schönen Beleg dafür, dass zumindest in Gallien die caracalla als Sommerkleidung verwendet wurde. In der Biographie des heiligen Eugendus (446–512) heißt es (§ 5 = MGH script. Merov. 3, 155, 35–36): aestiuis namque temporibus caracalla uel scapulari cilicino utebatur uetusta ‘denn in der Sommerzeit trug man die Caracalla oder ein altes Schultergewand aus kilikischem Haar’. Dazu passt, dass in Diokletians Preisedikt unter den Preisen, die pro Stück groben Leinens (tela, ἱστός), das für die Fertigung eines bestimmten Kleidungstyps vorgesehen ist, angegeben werden, zweimal von caracallae die Rede ist (26, 117/120: ἀπὸ λίνου τραχέος εἰς χρῆσιν [---] καρακάλλων; 26, 135: ἅπερ ἀπὸ φώρµης γ´ τῆς προειρηµένης καταδεέστερα εἶεν καρακάλλων). Ein aus grobem Leinen angefertigter Schulterumhang mit Kapuze zum Schutz gegen die Sonne, das könnte ein Typ des καρακάλλιον der kaiserzeitlichen Papyri aus Ägypten gewesen sein; das Winter-καρακάλλιον aus reinem Werg oder Ziegenhaar hat es daneben natürlich auch gegeben. Das kaiserliche Modediktat war sicherlich der Hauptgrund für die Einführung des neuen Kleidungsstücks, und wir wissen ja auch aus der Neuzeit, dass die Kleidung des Staatschefs die Kleidung der Untertanen prägt – man denke nur an Napoléon, Prinz Heinrich, Stresemann oder Mao Tse-Tung. Die etwa ein halbes Jahrtausend andauernde Erfolgsgeschichte der Caracalla ist aber sicherlich nicht aus dem Vorbild eines relativ kurz regierenden Kaisers zu erklären, sondern beruht auf der variablen Verwendungsmöglichkeit des ursprünglich gallischen Umhangs: Das Kleidungsstück war einfach praktisch, leicht zu fertigen, für Männer und Frauen gleichermaßen geeignet und – je nach Material – gut für die Kälte und gut für die Hitze. In Ägypten jedenfalls war das καρακάλλιον äußerst beliebt, was die große und im beständigen Wachsen begriffene Zahl der Papyrusbelege beweist.
_________ 16 Im Ausstellungskatalog Antinoe cent’anni dopo sind in der “Sezione quarta: La produzione tessile da Antinoe” (pp. 145–232) einige Kleidungsfragmente aufgeführt, deren feines Material die Verwendung als Sommerbekleidung nahelegen könnte, z.B. Nr. 272: “Frammenti di tunica con clavus” aus “lino grezzo molto fino; lana molto fine rossa, gialla, verde blu”, oder Nr. 305: “Mantello con cappuccio” aus “seta color porpora, quasi marrone, con bordo color oro”.
17. κοιµητήριον / coemeterium Abstract: The rare word κοιµητήριον ‘(public) dormitory’, never attested in literary texts, was used by the early Christians to express their new ideological concept: ‘place for eternal sleep’ > ‘martyrs’ tomb’ > ‘graveyard’. All papyrus attestations of κοιµητήριον have this Christian background. In Latin, coemeterium means only ‘cemetery’, which exists in all Romance languages with some deviations due to popular etymology. Keywords: koimeterion, coemeterium, cemetery, dormitory, Christian funerals
1. Papyrusbelege für κοιµητήριον Für das Wort κοιµητήριον gibt es drei papyrologische Belege, die alle in Briefen auftauchen. In dem Fragment eines Briefes der Aurelia Charite, der vielleicht zwischen 320 und 350 n. Chr. geschrieben wurde, liest man in schwer verständlichem Umfeld, dass die Briefschreiberin selbst (αὐτή) etwas (αὐτά, zu erklären aus dem nicht recht verständlichen Vortext1) im κοιµητήριον gefunden habe (P. Charite 40, 10 + BL 8, 82; 9, 56–57): 9 εὗρον αὐτὴ 10 ἐν τῷ κ̣[ο]ιµητηρίῳ 11 αὐτά.
ich selbst fand im Koimeterion die Sachen
Der Erstherausgeber Klaas Worp übersetzt: ‘im Schlafgemach’, ohne diese Wiedergabe zu begründen – er denkt natürlich an das Verb κοιµᾶσθαι. Aber heißt denn κοιµητήριον wirklich ‘Schlafgemach’, wie es diese Ausgangsform nahelegen könnte? Im Archiv des Priesters Nepheros, der eine leitende Stellung im melitianischen Kloster Hathor in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts inne hatte, kommt κοιµητήριον in zwei Briefen vor. Der Mönch Serapion übermittelt Grüße an viele Personen im Kloster Hathor und bittet Nepheros darum, sich während Serapions Abwesenheit um Ernte und Lagerung des Getreides zu kümmern. Die entsprechende Stelle lautet (P. Neph. 12, 18–22): 18
γρ̣ά̣φω σοι, Νεφερῶ[ς], π[ρ]ονοήσῃς τὸ µικρὸν [ ̣] ̣ο̣ν̣ | 19γῆν, ὡς ἔρχοµαι, ἀλλὰ µὴ ἀµελή̣[σῃς], τιµιῶτατε πά[τ]ε̣ρ, ἀλλὰ µὴ ἀµελ[ήσῃς ̣ ̣ ̣]ης[ ̣]̣ ̣
Ich schreibe dir, Nepheros, sorge für mein kleines (Stück?) Land, bis ich wiederkomme, aber vergiss es nicht, ehrwürdiger Vater, aber vergiss es nicht!
_________ 1 Klaas Worp glaubte, es seien “im Schlafgemach Statuetten (?)” gefunden worden; dabei ließ er sich von der Lesung εἴδ̣ολας (= εἴδωλα) nach αὐτά in Zeile 11 leiten. Es handelt sich jedoch um eine Fehllesung: Tatsächlich steht dort ἐν̣τ̣ολάς (BL 9, 57), womit ein neuer Satz anfängt.
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[ ̣]ουτογεν ̣ ̣[̣ ̣ ̣ ̣] ̣ ̣| 20λαβὲ τὰ σιτάρια, ὡς ἔρχοµαι· ἐ[πίθες εἰς] τὸ κυµυτήρι[ον, ὡ]ς̣ ἔρχοµαι ̣ [̣ ̣ ̣ ̣ ̣] ̣ ̣ ̣ο̣ ̣[ ̣ ̣ ̣ ] Νεφερῶς, | 21ὡς ἔρχοµαι, τιµιώτα-| 22 τε [πά]τ̣ερ.
[…] Nimm das Getreide, bis ich wiederkomme, bringe es in das Koimeterion, bis ich wiederkomme, […] Nepheros, bis ich wiederkomme, ehrwürdiger Vater.
An dieser Stelle erschließt sich noch nicht, was mit τὸ κοιµητήριον gemeint sein könnte, aber deutlicher ist der zweite kurze Brief (P. Neph. 36), in dem ein Severus den Bauern Artemidoros, der den Weizen im κοιµητήριον lagert, beauftragt, der Witwe Tayris sieben Artaben Weizen auszugeben. Der Text lautet: 1
Σεουῆρος Ἀρτεµιδώρῳ γεωργῷ χαίρειν. | 2ἀπὸ τοῦ ὑπὸ σὲ σίτου τοῦ ὄντος ἐν τῷ κοιµητηρίῳ | 3παράσχου Ταῦρι χήρᾳ σίτου ἀρβας ἑπτὰ ἀσφαλιζό|4µενος τὸ ὑπόλυπον ἕως περάσω. ἐρρῶσθαί σε εὔχοµαι.
Severus grüßt den Bauern Artemidoros. Von dem Weizen, der sich unter Deiner Aufsicht im Koimeterion befindet, gib der Witwe Tayris sieben Artaben Weizen und bewahre den Rest auf, bis ich herüberkomme. Ich wünsche dir Gesundheit.
In der Einleitung zum Nepheros-Archiv berichten die Ersteditoren Bärbel Kramer und John C. Shelton über die Einrichtungen des Klosters Hathor, zu denen u. a. eine Mühle, ein Backofen, eine Schmiede gehören. “Offenbar hatte das Kloster Landbesitz; es verfügt möglicherweise über einen eigenen Weizenspeicher, aus dem es die mittellose Bevölkerung versorgt. Der Weizen wurde auf dem Friedhof aufbewahrt; es ist anzunehmen, daß dieser Friedhof sowohl vom Dorf Nesoi als auch vom Kloster benutzt wurde” (S. 14–15). Die Verwaltung der Friedhöfe war fest in der Hand der Kirche, so dass das hier genannte κοιµητήριον dem Kloster, vertreten wohl durch den Mönch Severus, untersteht, das dann auch seine Weizenvorräte dort lagern kann. Der deutsche Ausdruck ‘Friedhof’ führt etwas in die Irre, denn man muss sich in Ägypten keine flachen Begräbnisstätten vorstellen, sondern an Grabbauten denken, die groß genug waren, um darin etwas aufbewahren zu können; sie wurden “zumeist in den landwirtschaftlich nicht nutzbaren Randbereichen der Wüste angelegt” (Der Neue Pauly 8, 790). Der Gedanke, κοιµητήριον hier mit ‘Speicher’ zu übersetzen (Diethart / Sijpesteijn 1988, 30 unter Verweis auf SB XX 14672, 1, dessen κοιτωνάριον sie als ‘Speicher’ interpretieren), überzeugt überhaupt nicht, denn dass “ein ‘Schlafplatz’ für die Verstorbenen ein Friedhof, ein ‘Schlafplatz’ für Getreide der Speicher, wo dieses gelagert wird, ohne keimen zu können” sein könnte, ist doch wohl für antike Verhältnisse zu nüchtern gedacht: Tote bringt man nicht im Speicher unter! Dass man den Weizen des Klosters im von Klaas Worp für P. Charite 40, 10 vorgeschlagenen ‘Schlafgemach’ – beim Kloster also im Dormitorium – untergebracht hätte, ist ebenfalls ziemlich abwegig, denn kaum ein Ort wäre für die Lagerung von Getreide, die ja in trockener und sauberer Luft erfolgen sollte, ungeeigneter als ein von Menschen zum Schlafen benutzter Raum. Die papyrologische Beleglage für κοιµητήριον spricht also am ehesten für ‘Friedhof’ und kaum für ‘Schlafgemach’, aber eine eindeutige Klärung der Bedeutung ist auf Grund der Papyri nicht möglich, so dass man versuchen muss, sich durch eine
17. κοιµητήριον / coemeterium
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Sichtung der übrigen Belege und durch sprachgeschichtliche Überlegungen größere Klarheit zu verschaffen. 2. Literarische und inschriftliche Belege für κοιµητήριον κοιµητήριον ist eine mit dem lokativischen Suffix -τήριον (Mayser 1935, I 3, 73 = § 83, 22; Blass / Debrunner 1984, 88 = § 109, 8; Jannaris 1897, 291 = § 1034) gebildete Ableitung von κοιµᾶσθαι ‘schlafen’2. Der Erstbeleg für κοιµητήριον im Sinne von ‘Schlafgemach’ findet sich in einer im Amphiarion von Oropus in Boiotien gefundenen Inschrift (IG 7, 235, 43–45 = SIG 3, 1004, 43–45), wo es über die nächtliche Schlafordnung heißt (in normalisierter Schreibung): ἐν δὲ τῷ κοιµητηρίῳ καθεύδειν χωρὶς µὲν τοὺς ἄνδρας, χωρὶς δὲ τὰς γυναῖκας ‘im Schlafsaal sollen die Männer und die Frauen getrennt liegen’. In der Literatur kommt κοιµητήριον ein einziges Mal vor3, nämlich in einem bei Athenaios erhaltenen Fragment des wohl ins 2. vorchristliche Jahrhundert zu datierenden kretischen Lokalhistorikers Dosiades (FGrH III B, Nr. 458 F 2 = Ath. 4, 22, p. 143C). Bei dieser Stelle hat man aber den Eindruck, dass κοιµητήριον ein nicht zum allgemeinen Wortschatz gehöriger kretischer Spezialterminus ist: εἰσὶ δὲ πανταχοῦ κατὰ τὴν Κρήτην οἶκοι δύο ταῖς συσσιτίαις, ὧν τὸν µὲν καλοῦσιν ἀνδρεῖον, τὸν δ᾿ ἄλλον, ἐν ᾧ τοὺς ξένους κοµίζουσι, κοιµητήριον προσαγορεύουσι ‘überall in Kreta gibt es zwei Häuser für die gemeinsamen Mahlzeiten, von denen sie das eine Andreion nennen, das andere, in dem sie die Fremden unterbringen, bezeichnen als Koimeterion bezeichnen’. Für κοιµητήριον im Sinne von ‘Schlafgemach’ gibt es keine weitere Bezeugung im heidnischen Bereich. Es handelte sich um ein sehr seltenes Wort, das nicht wirklich in die Literatursprache eingedrungen ist; offenbar war es ein Fachterminus, mit dem die Beherbergung von auswärtigen Gästen bezeichnet wurde, und vielleicht wäre ‘Schlafsaal für Fremde’ oder ‘Fremdenzimmer’ die beste Übersetzung. In keinem Falle war jedoch κοιµητήριον ein normales Wort für ‘Schlafgemach’, das üblicherweise als κοιτών bezeichnet wurde. 3. κοιµητήριον in der Sprache der Christen Bekanntlich bemühten sich die Christen darum, sich von der heidnischen Welt abzusetzen, und dazu gehörte auch eine besondere Nuancierung der Sprache – nicht selten wurden existierende Wörter mit einem neuen Sinn versehen. In diesen Zusammenhang gehört auch κοιµητήριον, das als ungewöhnliches, aber in Bezug auf seine Bildung durchsichtiges Wort vom 3. Jahrhundert an mit einem neuen _________ 2
Wie in den meisten Sprachen der Welt kann auch im Griechischen das Wort für ‘schlafen’ euphemistisch für ‘tot sein’ verwendet werden; der Erstbeleg dafür findet sich schon in der Ilias (11, 241: ὣς ὁ µὲν αὖθι πεσὼν κοιµήσατο χάλκεον ὕπνον). Bei der Untersuchung der Bedeutung von κοιµητήριον muss aber von der semantischen Fächerung von κοιµᾶσθαι abgesehen werden, weil Ableitungen von Grundbedeutungen auszugehen pflegen und Spezialbedeutungen der Ableitungen sich ohne Rücksicht auf die Bedeutungsauffächerung des Basiswortes neu entwickeln. 3 Das im Etym. Magn. 550, 56 vorkommende ἡ κοιµητηρία im Sinne von ἀνάπαυσις ζώων τε καὶ ἀνθρώπων ἀπὸ τῶν ἀγρῶν scheint nicht dasselbe Wort zu sein.
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Sinn verwendet wird: ‘Ort für den ewigen Schlaf’ > ‘Begräbnisplatz’. Das erste Zeugnis findet sich bei Hippolytos († 235), der in seinem Daniel-Kommentar das Elend beschreibt, das vor der Ankunft des Antichristen auf der Erde herrschen wird (4, 51, 1 = GCS 1, 318, 7–18): χρὴ οὖν ἐνορᾶν τὴν ἐσοµένην τῶν ἁγίων τότε θλῖψιν καὶ ταλαιπωρίαν [---] ζώντων ἀνθρώπων καιοµένων, καὶ θηρίοις ἑτέρων παραβαλλοµένων, καὶ νηπίων ἐν ἀφόδοις φονευοµένων, καὶ ἀτάφων πάντων ῥιπτοµένων καὶ ὑπὸ κυνῶν βιβρωσκοµένων, παρθένων τε καὶ γυναικῶν παρρησίᾳ φθειροµένων καὶ αἰσχρῶς ἐµπαιζοµένων, καὶ ἀναρπαγῶν γινοµένων, καὶ κοιµητηρίων ἀνασκαπτοµένων, καὶ λειψάνων ἀνορυσσοµένων καὶ ἐν πεδίῳ σκορπιζοµένων.
Man muss die zukünftige Betrübnis und Sorge der Heiligen sehen, wenn Menschen lebend verbrannt werden, wenn andere den Tieren vorgeworfen werden, wenn Kinder auf den Straßen ermordet werden, wenn alle unbegraben herumliegen und von den Hunden gefressen werden, wenn Jungfrauen und Frauen Schimpf erleiden und ihnen schändlich mitgespielt wird, wenn Banditentum herrscht, wenn die Grabstätten umgegraben werden, wenn die Knochen ausgegraben und in der Gegend verteilt werden.
Hier haben wir es ganz offensichtlich mit der Bedeutung ‘Grabstätte’ oder ‘Grab’ zu tun, die manchmal in der christlichen Literatur vorkommt (Euseb. hist. eccl. 2, 25, 5 = PG 20, 268C; Athan. synod. 13 = PG 26, 704D) und vor allem in der Epigraphik häufig ist4. Die Gräber der Märtyrer hatten natürlich eine besondere Bedeutung für die frühen Christen. Éric Rebillard hat nachgewiesen, dass der Plural τὰ µαρτύρια eine spezielle Bedeutung hatte: ‘lieu du culte des martyrs, ouvert peut-être à des sépultures privilégiées’ (1993, 987). Es handelt sich also um die Bezeichnung eines Ortes, an dem die Märtyrerverehrung eine besondere Rolle spielte – normalerweise war das die Grabstätte eines Märtyrers oder mehrerer Märtyrer, aber nicht einfach ein Friedhof. Die zweite christliche Bezeugung von κοιµητήριον, die sich bei Origenes in der 4. Jeremiashomilie, zu datieren um das Jahr 244, findet, bietet genau diesen Sinn (Or. hom. in Jer. 4 = PG 13, 288D = GCS 3, p. 25, 20): τότε ἦσαν πιστοί, ὅτε τὰ µαρτύρια τὰ γενναῖα ἐγίνοντο, ὅτε ἀπὸ τῶν κοιµητηριῶν προπέµψαντες τοὺς µάρτυρας ἠρχόµεθα ἐπὶ τὰς συναγωγάς.
Damals gab es Fromme, als die echten Martyrien geschahen, als wir den Märtyrern das Geleit gaben und danach von den Grabstätten in die Versammlungen gingen.
_________ 4
Rebillard 1993, 977: “L’emploi de κοιµητήριον au sens de tombe est surtout massivement attesté dans l’épigraphie grecque. Il est particulièrement fréquent dans l’Attique et en Macédoine. Toutefois, la série des provenances, comme le note L. Robert (Revue de philologie 100, 1974, 189: de la Sicilie au Pont, à la Lycaonie, à la Cappadoce, à la Cilicie et à la Syrie, par la Grèce, la Macédoine et la Thrace, comme par la Lydie, la Bithynie, la Phrygie et la Galatie), est plus vaste et plus longue qu’on ne le dit en général. La plus ancienne attestation épigraphique connue semble être une inscription de Phrygie, datée de 250–251”.
17. κοιµητήριον / coemeterium
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Selbstverständlich ist der semantische Übergang von ‘Grab, Grabstätte’ über ‘Gruppe von Gräbern’ zu ‘Friedhof, Nekropole’ graduell. Die ersten Zeugnisse für die Bedeutung ‘Friedhof’ (ohne jede Bezugname auf Märtyrergräber) finden sich im 4. Jahrhundert (siehe oben, P. Neph. 12, 20 und 36, 2); die gleichzeitigen lateinischen Zeugnisse aus Gallien setzen für coemeterium die Bedeutung ‘zone de sépultures’ (Rebillard 1993, 1000) voraus. Man muss allerdings den Eindruck haben, dass zumindest die gebildeteren Autoren wussten, dass es sich um einen besonderen Ausdruck der christlichen Sondersprache handelte, denn sonst hätten sie sich nicht mehrfach des Ausdrucks τὸ καλούµενον κοιµητήριον bedient (z. B. Euseb. hist. eccl. 7, 13 = PG 20, 676A; Jo. Damasc. PG 96, 1301D). Johannes Chrysostomos hat sogar eine Schrift εἰς τὸ ὄνοµα τοῦ κοιµητηρίου verfasst (PG 49, 393–398), in der es heißt (PG 49, 393–394): διὰ τοῦτο καὶ αὐτὸς ὁ τόπος κοιµητήριον ὠνόµασται, ἵνα µάθῃς, ὅτι οἱ τετελευκότες καὶ ἐνταῦθα κείµενοι οὐ τεθνήκασι, ἀλλὰ κοιµῶνται καὶ καθεύδουσι. [---] ὅρα πανταχοῦ ὕπνον καλούµενον τὸν θάνατον· διὰ τοῦτο καὶ ὁ τόπος κοιµητήριον ὠνόµασται· χρήσιµον γὰρ ἡµῖν καὶ τὸ ὄνοµα, καὶ φιλοσοφίας γέµον πολλῆς.
Deswegen heißt dieser Ort Koimeterion (Ruhestätte), damit du weißt, dass die Verstorbenen und dort Liegenden nicht tot sind, sondern schlafen und ruhen. [---] Sieh, überall wird der Tod als Schlaf bezeichnet; deswegen heißt der Ort auch Koimeterion (Ruhestätte), denn für uns ist dieser Name nützlich und mit viel Philosophie erfüllt.
Im Griechischen der Christen, also spätestens von 380 an im Griechischen überhaupt, ist κοιµητήριον ‘Grabstätte’ folglich fest verankert, wobei die genaue Bedeutung sich vom ‘individuellen Märtyrergrab’ zu ‘Friedhof, Nekropole’ mit der Zwischenstufe ‘der Märtyrerverehrung gewidmetes Gräberfeld’ verschob. Im byzantinischen Griechisch ist κοιµητήριον ‘Friedhof’ lebendig geblieben (Κριαρᾶς 8, 215), und im Neugriechischen ist κοιµητήρι(ο) eine etwas gewähltere Variante zum umgangssprachlichen νεκροταφείο. Weil aber die Zusammengehörigkeit von κοιµητήριον mit dem Verb κοιµάοµαι (neugr. κοιµάµαι) ‘schlafen’ jedem Sprecher des Griechischen immer klar war, bestand in einem gesuchten und pretiösen Stil immer die Möglichkeit, κοιµητήριον seinen etymologischen Sinn, also ‘Ort zum Schlafen’, zurückzugeben. So wies Johannes Diethart (1988, 57) darauf hin, dass in dem etwa um 1110 geschriebenen Typikon des Theotokos-Kecharitimene-Klosters mit κοιµητήριον der ‘Schlafsaal in einem Frauenkloster’ bezeichnet wird. Das ist richtig, aber nur die eine Seite der Medaille, denn das Wort kommt in diesem Text in beiden Bedeutungen vor, wobei dort, wo Missverständnisse entstehen könnten, eine Erklärung hinzugesetzt wird. So liest man f. 118 (= Revue des études byzantines 43, 1985, 127): ὄπισθεν τοῦ κοιµητηρίου τῶν µοναζουσῶν, εἴτουν τοῦ κοινοῦ κοιτωνίσκου ‘derrière le dortoir des sœurs, je veux dire leur chambre à coucher’. Diesem eindeutigen Zeugnis für ‘Schlafgemach’ steht nur wenige Seiten weiter (f. 121 = Revue des études byzantines 43, 1985, 131) ein ebenso eindeutiger Beleg für
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‘Grabstätte’ gegenüber: ἐν τῇ κατὰ τὸ κοιµητήριον ἐκκλησίᾳ, εἴτουν ἐν τῷ ταφείῳ ‘dans l’église du cimetière, c’est-à-dire sur le lieu de sépulture’. Wie lässt sich nun dieses merkwürdige Wiederauftauchen der Bedeutung ‘Schlafsaal’ mehr als tausend Jahre nach dem letzten antiken Beleg erklären? Um dieses Phänomen zu verstehen, muss man sich das Stilideal der byzantinischen Hochsprache vor Augen führen, die ja “attisch” sein wollte. Was die Byzantiner darunter verstanden, hat Hans-Georg Beck treffend beschrieben (1971, 1): Ἀττικῶς wird gleichbedeutend mit ἀρχαίως und δοκίµως, und was dazu gehört, läßt sich am besten negativ bestimmen: Was immer möglichst wenig mit der geläufigen Sprache des Alltags und mit der Sprache jener zu tun hat, die in ihren Werken die Sprache “der vielen” (τῶν πολλῶν) sprechen und λέξεις ἰδιωτικάς verwenden. Genau das liegt bei der hier angeführten Stelle aus dem Typikon vor: Ein Wort, das in der Alltagssprache ‘Begräbnisplatz’ heißt, wird in pretiöser Weise in einem völlig anderen Sinne verwendet, und diese ungewöhnliche Bedeutung wird dadurch ermöglicht, dass man eine semantische Verbindung zum Basiswort κοιµᾶσθαι ‘schlafen’ herstellt; der Zusammenhang zwischen beiden Wörtern war auch dem Ungebildetsten immer klar. Man darf also nicht mit Johannes Diethart von einem Fortleben des antiken κοιµητήριον ‘Schlafsaal’ ausgehen, sondern man muss sagen, dass es auf Grund des durchsichtigen Zusammenhangs mit dem Basiswort κοιµᾶσθαι ‘schlafen’ für jemanden, der sich von der Alltagssprache abheben will, immer wieder von Neuem möglich ist, dem Substantiv einen vom Verb ausgehenden, in der lebendigen Sprache nicht vorkommenden Sinn zu geben. Dass dieser mit der Bedeutung der vorchristlichen Bezeugungen übereinstimmt, ist Zufall und belegt auf keinen Fall eine kontinuierliche semantische Überlieferungskette. In dieser Richtung wird man auch den einzigen wörterbuchmäßig erfassten neugriechischen Beleg für κοιµητήρι im Sinne von ‘Schlafraum’ (Μέγα Λεξικόν 8, 3975: τόπος πρὸς κοίµησιν, δωµάτιον ὕπνου, κοιτών, ὑπνωτήριον) zu verstehen haben. Er stammt charakteristischerweise aus einem Gedicht des Nietzsche-Verehrers Ioannis Zervos (1875–1944), das sprachlich keineswegs volkstümlich ist: στὸ πλατὺ µπαίνει τοῦ ὕπνου κοιµητήρι ‘er tritt in das breite Zimmer des Schlafes ein’. Dieses Beispiel besagt natürlich nicht, dass κοιµητήρι ‘Schlafraum’ in der Alltagssprache lebendig ist, sondern eigentlich nur, dass dieser “etymologische” Sinn unerwartet ist, ein dichterisches ἀπροσδόκητον sozusagen; die einzige umgangssprachliche Bedeutung von κοιµητήρι(ο) ist ‘Friedhof’. 4. coemeterium im Lateinischen Im Lateinischen kommt coemētērium nur in christlichen Texten vor; das Wort heißt also niemals ‘Schlafgemach’, wenn man von den Zeugnissen der Grammatiker absieht, die natürlich immer gewusst haben, dass ein Zusammenhang mit dem Verb für ‘schlafen’ besteht: CGL 5, 430, 21–22: cimiteria sepulture | cimiterium Grece, dormitorium Latine; 276, 27: cymiterium G domitatio;
17. κοιµητήριον / coemeterium
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352, 36: cimiterium, ubi requiescunt corpora. Die docti kannten natürlich den griechischen Ursprung des Wortes und wussten also, dass man nach den üblichen Entsprechungsregeln coemeterium schreiben musste; im gesprochenen Latein passte man sich freilich an die zeitgenössische Aussprache des Griechischen an, und da man im 3. Jahrhundert n. Chr. κοιµητήριον als [kjymi´tirjon] oder vielleicht schon als [kjimi´tirjon] sprach, entsprechen Schreibungen wie cymiterium5, cimiterium, cymeterium oder cimeterium durchaus der sprachlichen Realität, wobei die Endung –erium sich in die lange Reihe der lateinischen Substantive mit diesem Suffix einreiht (desiderium, ministerium, capisterium, adulterium usw.). Die Abfolge der Bedeutungen im Lateinischen folgt im Großen und Ganzen den Vorgaben, die das Griechische gemacht hat. Éric Rebillard fasst die Etappen wie folgt zusammen (1993, 998–999): Le dossier romain des emplois de coemeterium confirme les analyses précédentes. Le mot désigne avant tout la tombe, puis la tombe par excellence, celle des martyrs, et donc les édifices culturels qui leur sont consacrés. Ce dossier permet aussi de saisir comment c’est bien à partir de son emploi en relation étroite avec le culte des martyrs que le mot en vient à désigner une zone funéraire. Die lateinischen Belege folgen den griechischen in einem Abstand von rund zehn Jahren. Hippolytos hat seinen Danielkommentar zwischen 200 und 204 geschrieben (Döpp / Geerlings 1999, 297), Tertullians Schrift De anima, in der der Erstbeleg für coemeterium steht, ist um 210 entstanden6. Tertullian schreibt (Tert. an. 51, 7 = PL 2, 758A): est et illa relatio apud nostros in coemeterio corpus corpori iuxta collocando spatium recessu communicasse.
Es gibt auch jene Erzählung bei unseren Leuten, dass in einem Grab ein Körper dem anderen Körper, der daneben begraben werden sollte, Platz machte.
Man hat den Eindruck, dass am Anfang des 3. Jahrhunderts im Latein der afrikanischen Christen coemētērium für ‘Grab’ ein ganz normales Wort war; wenn das so ist – und warum sollte man daran zweifeln? – , dann gehört κοιµητήριον zur ältesten Schicht der Gräzismen, die im Latein der ersten Jahrhunderte so häufig sind. Vielleicht hatten die griechischen Autoren eine gewisse Zurückhaltung gegen den Gebrauch eines Wortes, das nicht von der literarischen Tradition gebilligt war, während es für einen lateinischen Schriftsteller nur um einen der vielen Gräzismen ging und es kein Motiv gab, ihn zu vermeiden.
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Die Schreibung κυµητήριον ist auch im Griechischen belegt, vgl. z. B. P. Neph. 12, 20. Waszink 1947, 6*: “The conclusion may be drawn that De anima was composed shortly before or during the persecution of Scapula, i. e., between the years 210 and 213”. 6
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5. coemeterium in den romanischen Sprachen Das lateinische coemētērium ‘Friedhof’ setzt sich in einigen romanischen Sprachen fort: it. cimitero (seit Dante [† 1321], DELI), frz. cimetière (seit dem 13. Jh., FEW; die Form cimitire ist schon 1153 bei Wace belegt, DHLF), port. cemitério (seit 1460, DELP). Überall handelt es sich um sogenannte halbgelehrte Formen, also Formen, die nur teilweise eine den Lautgesetzen entsprechende Entwicklung aufweisen, weil der ständige Einfluss des kirchlichen Lateins eine den normalen Regeln entsprechende Entwicklung verhindert hat. Für die Sprecher des Lateinischen war coemētērium ein isoliertes Element, das keine sichtbaren Anknüpfungspunkte im Wortschatz hatte. Solche Wörter sind immer Kandidaten für volksetymologische Verknüpfungen, also für das Streben, einen möglichen Anknüpfungspunkt auszumachen, um das Wort semantisch zu vernetzen. Die Verbindung zu caementum ‘Baustein (der Grabstätte)’ wurde schon in der Antike gezogen: Im CGL 5, 419, 9 finden wir caementaria ecclesię, CGL 5, 427, 45 coementeria aecclesiae (vgl. ThLL III 1411, 32–33: “persaepe coemeterium pars ecclesiae auf locus ecclesia insuper exstructa insignitus”). Die Form caementērium oder cimintērium findet sich am Nordrand der Galloromania (wallonisch cimentière [seit dem 15. Jh., FEW], pikardisch chimentiere [FEW]) und von Piemont bis Spanien (piemontesisch sementeri [FEW], provenzalisch sementeri [seit 1479, FEW], katalanisch cementiri [seit Llull, † 1416, DECLC], spanisch cementerio [seit 1400, DCECH]; ciminterio tritt schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf). Im Rätoromanischen Graubündens liegt ebenfalls der Worttyp caementērium vor, aber er ist auf Grund späterer Entwicklungen, die ebenfalls aus der Volksetymologie zu erklären sind, kaum noch wiederzuerkennen. Dem Etymon am nächsten steht die sutselvische Form Mittelbündens: samantieri, somantieri (Domat / Ems), sumantieri (Domleschg, Sched). Das surselvische Wort santeri, das surmeirische Wort santieri und das ober- und unterengadinische Wort sunteri7 können als einfache Kürzung dieser Formen angesehen werden, aber wahrscheinlicher ist doch der Einfluss von sanctus (surs. sogn, suts. sontg, surm. son(tg), untereng. sonch, obereng. sench – lat. sanctus, it. santo, dt. Sankt sind aber überall bekannt) und der Anschluss an terra (surs. tiara, suts. teara, surm. tera; eng. terra nur in festen Verbindungen); für diese volksetymologische Deutung spricht die Tatsache, dass surs. tiara nera ‘Friedhof’ heißt. Auch am östlichen Ende der Romania, im Rumänischen, finden wir sehr veränderte Formen. Das normale rumänische Wort für ‘Friedhof’, cimitir, ist seit 1693 bezeugt und geht auf neugriechisch κοιµητήρι zurück, wie die mundartlichen Varianten chimitir und ţimitir deutlich zeigen. Interessanter ist eine Form der älteren Sprache (17.–18. Jh., Erstbeleg 1628, DLR XII 1, 143): ţintirim ‘kleiner Friedhof neben der Kirche’; dieses ist aus der Schriftsprache verschwunden, findet sich aber noch in den Mundarten (Siebenbürgen, Maramureş, Bukowina, Moldau), vgl. Tamás 1967, 819. Es ist einerseits klar, dass ţintirim in irgendeiner Weise mit _________ 7
Das –u– steht wohl unter dem Einfluss des Ausdrucks sunar ils sains ‘die Glocken läuten’.
17. κοιµητήριον / coemeterium
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coemētērium in Verbindung stehen muss, andererseits ist es offenkundig, dass es nicht um ein nach den normalen Regeln entwickeltes Erbwort geht, denn dann würde man zumindest am Wortanfang ein č- erwarten. Schon am Anfang des 20. Jahrhunderts hatte Ovidiu Densusianu (1904, 287) ungarisch cinterem (seit 1372 bezeugt) in die Diskussion gebracht. Wir haben es bei ţintirim offenbar mit einer Kreuzung zwischen einem auf lateinisch coemētērium zurückgehenden Wort und dem ungarischen cinterem zu tun, das seinerseits auf das mittellateinische cimeterium ‘Friedhof neben der Kirche’ zurückgeht, aber volksetymologisch durch szent terem ‘heiliges Stück Land’ beeinflusst ist. 6. Zusammenfassung Das fachsprachliche, nie literarisch verwendete κοιµητήριον, abgeleitet von κοιµᾶσθαι ‘schlafen’, bezeichnete in der Sphäre der Beherbergung von Fremden einen ‘Ort zum Schlafen, Schlafraum’. Dieses kaum dem lebendigen Alltagswortschatz angehörige Wort wurde – im Bewusstsein der Verbindung mit dem Grundwort κοιµᾶσθαι – von den ersten Christen aufgenommen, um ein ideologisch neues Konzept zu benennen: ‘Ort für den ewigen Schlaf’ > ‘Grab eines Märtyrers’ > ‘Grabstätte vieler Märtyrer’ > ‘Begräbnisplatz, Friedhof’. Diese Bedeutung ist die einzige, die in der lebendigen Sprache bis heute erhalten blieb; in pretiöser und gekünstelter Sprachverwendung kann die Bedeutung ‘Schlafraum’ immer wieder neu belebt werden, weil die Verbindung zum Verb für jeden Sprecher des Griechischen deutlich geblieben ist. Die lateinische Entsprechung zu κοιµητήριον, also coemētērium, blieb hingegen im Wortschatz ohne konkreten Anknüpfungspunkt, weswegen man sowohl im gesprochenen Latein als auch in den romanischen Sprachen immer wieder volksetymologische Verbindungen zu vermeintlich naheliegenden Wörtern wie caementum (Material, aus dem die Grabmale gebaut sind), sanctus (Attribut des Ortes) oder sonare (Glockengeläut bei geweihten Orten) findet. Die drei Papyri, in denen κοιµητήριον belegt ist, weisen natürlich keine gesuchte Kunstsprache auf, sondern gehören der Alltagssprache an. Damit ist es klar, dass die Bedeutung nur ‘Begräbnisplatz’ und auf gar keinen Fall ‘Schlafstätte’ sein kann. Man darf sogar noch weiter gehen: Wo immer vom 3. Jahrhundert an κοιµητήριον auftaucht, befinden wir uns in christlichem Milieu. Klaas Worp hatte zur Religionszugehörigkeit von Aurelia Charite und ihrem Umfeld geschreiben, dass “im Archiv keine Dokumente vorhanden sind, die in dieser Hinsicht irgendeine Information bieten” (P. Charite, S. 9). Angesichts der Tatsache, dass P. Charite 40, 10 κοιµητήριον ‘Friedhof’ vorkommt, kann man jetzt aber mit einiger Sicherheit sagen, dass dieses Wort der christlichen Sondersprache ein zuverlässiges Indiz dafür ist, dass wir uns in einem Umfeld von Christen bewegen.
18. κονδῖτος, κονδῖτον / condītus, condītum Abstract: In literary Latin, ‘flavoured wine’ was called mulsum, but the popular expression was condītum (< condīre ‘to prepare, to spice’); this word was borrowed into Greek as κονδῖτον. A noun κονδῖτος ‘spice’, attested once in literature and twice in papyrus documents, reflects Latin condītus (gen. condītūs). The derivation condītārius (> κονδιτάριος) means ‘landlord of a pub selling flavoured wine’, not ‘spice trader’. Keywords: conditus, mulsum, spices, flavoured wine
1. condĕre, condĭtum und condīre, condītum im Lateinischen Im Lateinischen gibt es zwei Verben, die nicht immer leicht auseinanderzuhalten sind, nämlich einerseits das der konsonantischen Konjugation angehörige condĕre mit der Grundbedeutung ‘zusammenfügen’ (dann: ‘gründen, einrichten, verfassen, speichern, wegtun, verstecken’) und dem Partizip Perfekt Neutrum condĭtum (Antepaenultima-Betonung), andererseits das der i-Konjugation angehörige condīre mit der Grundbedeutung ‘zubereiten’ (dann: ‘einlegen, würzen, lecker zubereiten, wohlriechend machen’) und dem Partizip Perfekt Neutrum condītum (Paenultima-Betonung). Unglücklicherweise kommen beide Verben im Zusammenhang mit der Zubereitung von Speisen vor: uīnum condĕre heißt ‘den Wein lagern’1, uīnum condīre hingegen bedeutet ‘den Wein mit Zutaten zubereiten”2. Der Unterschied ist auch in Ableitungen deutlich: condītor meint jemanden, der Speisen schmackhaft macht (ThLL IV 147, 47–55), das wesentlich häufigere condĭtor bezieht sich auf den ‘Gründer, Stifter, Schöpfer, Aufbewahrer, Verfasser’ (ThLL IV 146, 13–147, 35)3. _________ 1
Vgl. beispielsweise Varro, r. r. 1, 13, 6: illic laudabitur uilla, si habebat culinam rusticam bonam, praesepiis laxas, cellam uinariam et oleariam ad modum agri aptam et pauimento proclivi in lacum, quod saepe, ubi conditum nouum uinum, orcae in Hispania feruore musti ruptae neque non dolea in Italia ‘damals wurde ein Landsitz gelobt, wenn er eine gute ländliche Küche, weiträumige Ställe, einen zur Größe des Territoriums passenden Wein- und Ölkeller besaß mit einem Auffangbecken unter einem schrägen Boden, weil oft, wenn neuer Wein gelagert wird, die Fässer in Spanien durch das Gären des Mostes geplatzt sind, ebenso Fässer in Italien’. 2 Vgl. beispielsweise Columella 11, 2, 71: tum etiam salem atque odoramenta, quibus condire uina consueuerit, multo ante reposita esse oportet ‘dann muss man auch Salz und Duftstoffe, mit denen man die Weine zu würzen pflegt, lange zuvor einlagern’. 3 Antike Autoren wagten Wortspiele zwischen condĭtor ‘Urheber, Gründer, Verursacher’ und condītor ‘Anfertiger gewürzter Speisen, Würzer’, vgl. z. B. Cic. Cluent. 71: ipse conditor totius negotii guttam adspergit huic Bulbo ‘der Verursacher / Würzer der ganzen Sache fügte dieser Zwiebel (bulbus, Grundlage des Namens Bulbus) einen Tropfen Würze hinzu’.
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Nur condīre mit seiner Bedeutung ‘schmackhaft zubereiten’ darf als kulinarischer Fachausdruck bezeichnet werden, und nur Formen, die zu condīre gehören, sind ins Griechische übernommen worden. Nur darum soll es im Folgenden gehen. 2. Römischer Würzwein: mulsum und condītum Fast alle Speisen und Getränke gewinnen an Geschmack und/oder Haltbarkeit durch die Zutat von Gewürzen, Säuerungs- und Süßmitteln; so ist es klar, dass condīre bei den lateinischen Schriftstellern auf fungī ‘Pilze’, heluellae ‘Küchenkräuter’, herbae ‘Küchenkräuter’ (Cic. ep. fam. 7, 26, 2), auf bōlētī ‘Pilze’ (Iuv. 14, 8), auf oleum ‘Öl’ (Plin. n. h. 15, 30) oder auch generell auf cibus ‘Speise’ (Colum. 1, pr. 5) oder iūs ‘Brühe, Soße’ (Hor. sat. 2, 8, 69) bezogen wird; am häufigsten aber hören wir von uīnum condītum ‘Gewürzwein’ (Erstbeleg: vor 37 n. Chr., Celsus 4, 12, 8). Bekanntlich galt in der Antike das Trinken reinen Weines (ἄκρατον / merum) als barbarisch: Man mischte Wein mit Wasser, aber auch mit Honig, Harz oder Gewürzen. Bei den Römern diente eine Mixtur aus Wein, Honig und verschiedenen Gewürzen als Aperitif (vgl. Petron. 34, 1); dieses Getränk tritt in der Literatur als mulsum auf, aber seine volkstümliche Bezeichnung war wohl eher condītum, falls wir den Excerpta ex libro glossarum Glauben schenken wollen, wo es heißt (CGL 5, 224, 9): mulsum mitigatum Baccum, quod uulgus conditum dicit ‘mulsum heißt der abgeschwächte Wein, der vom Volk conditum genannt wird’. Ebenso schreibt der Mediziner Caelius Aurelianus (chron. pass. 5, 25): probat conditum bibendum, quod plerique Latini mulsum uocant ‘er empfiehlt, conditum zu trinken, den die meisten Lateiner mulsum nennen‘. Das Substantiv condītum wurde aber nicht nur als vulgäres Synonym von mulsum verwendet, sondern es war ganz offensichtlich ein geläufiger Ausdruck für alle Weine, denen irgendein Zusatz beigegeben war. Bei Isidor etym. 20, 3, 9, liest man als Definition: conditum uocatum, quod non sit simplex, sed commixtione pigmentorum compositum ‘conditum [Zubereiteter] heißt der Wein, weil er nicht einfach ist, sondern durch Vermischung mit Zutaten zusammengesetzt’. Die Glossare setzen sogar condītum und uīnum coctum (CGL 3, 599, 1) gleich4. _________ 4 Interessant ist Ulpians Definitionsversuch (dig. 33, 6, 9): si quis uinum legauerit, omne continetur, quod ex uinea natum uinum permansit; sed si mulsum sit factum, uini appellatione non continebitur proprie, nisi forte pater familias etiam de hoc sensit; certe zythum, quod in quibusdam prouinciis ex tritico uel ex hordeo uel ex pane conficitur, non continebitur; simili modo nec camum nec ceruesia continebitur nec hydromeli. quid conditum? nec hoc puto, nisi alia mens testantis fuit; oenomeli plane, id est dulcissimum uinum, continebitur et passum, nisi contraria sit mens, continebitur; defrutum non continebitur, quod potius conditurae loco fuit. acinaticium plane uino continebitur. cydoneum et si qua alia sunt, quae non ex uinea fiunt, uini appellatione non continebuntur. item acetum uini appellatione non continebitur ‘Wenn jemand Wein vererbt, so ist darin alles das enthalten, was ein Erzeugnis des Weinstocks ist; wenn aber Mulsum daraus gemacht wurde, wird das nicht eigentlich unter der Benennung Wein mit begriffen, wenn der Hausvater nicht etwa auch ihn gemeint hat; gewiss wird aber Kwas, das in einigen Provinzen aus Weizen oder aus Gerste aus aus Brot erzeugt wird, nicht als Wein bezeichnet, und ebenso werden
18. κονδῖτος, κονδῖτον / condītus, condītum
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3. Würzwein bei den Griechen: οἰνόµελι und κονδῖτον Die griechische Entsprechung von mulsum ist οἰνόµελι, das seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. bezeugt ist. Das war aber eher ein literarisches als ein volkstümliches Wort. Es gibt in den dokumentarischen Papyri nur zwei Belege: P. Iand. 8, 149, 4 (2. Jh.); P. Alex. inv. 291, 5 (4./5. Jh.). Eine genaue Entsprechung der lateinischen Verbindung uīnum condītum liegt im griechischen ἠρτυµένος οἶνος vor, das seit dem 4./3. Jahrhundert v. Chr. (Erstbeleg: Theophrast, de odoribus 51) in der Literatur mehrfach auftritt, aber ebenfalls in den Papyri fehlt; Belege für eine Substantivierung von ἠρτυµένος, entsprechend der Substantivierung von condītum, gibt es nicht. Der Grund dafür, dass sich kein fester griechischer Terminus herausbilden konnte, ist wohl darin zu suchen, dass das lateinische condītum ins Griechische entlehnt wurde. In einem wissenschaftsgeschichtlich sehr interessanten und lehrreichen Beitrag haben Hermann Harrauer und Pieter J. Sijpesteijn 1983 gezeigt, wie die Autorität von Friedrich Preisigke, der in seinem Wörterbuch κόνδιτος (sic) nur als Adjektiv mit der Bedeutung ‘würzhaft, gewürzig’ verzeichnet, sechzig Jahre lang den Weg der korrekten Deutung der Papyrusbelege bestimmte. Die beiden Autoren lagen mit ihrer Erklärung, man habe ein Substantiv mit der Bedeutung ‘Gewürzwein’ anzusetzen, völlig richtig. Dennoch dürfte es nicht überflüssig sein, die Bedeutung und Wortgeschichte von κονδῖτον näher zu behandeln, denn inzwischen kennen wir aus der griechischen Literatur nicht nur die beiden im LSJ-Supplement angeführten Stellen, die Harrauer und Sijpesteijn heranziehen konnten, sondern wir haben dank der reichen Materialien des elektronischen Thesaurus linguae Graecae etwa achtzig Belege aus zwölf Schriftstellern zur Verfügung. 4. Adjektivischer und substantivischer Gebrauch von κονδῖτος, κονδῖτον Harrauer und Sijpesteijn mussten vor einem Jahrzehnt auf der Basis des ihnen zur Verfügung stehenden Materials annehmen, dass κονδῖτον im Griechischen nur als Substantiv, nur im Singular und nur in der Bedeutung ‘Gewürzwein’ vorkomme; die uns jetzt zugänglichen Informationen zeigen, dass das in dieser kategorischen Form nicht richtig ist. _________ weder Kräuterbier noch Bier noch Met zum Wein gerechnet. Was ist aber mit dem Gewürzwein (conditum)? Auch das ist kein Wein, wenn die Absicht des Erblassers nicht eine andere war. Der Wermuth jedoch, also ein sehr süßer Wein, muss als Wein bezeichnet werden, und auch für die Trockenbeerauslese gilt dasselbe, insofern der Erblasser nicht eine andere Meinung hatte. Der Most ist kein Wein, weil es sich eher um Eingemachtes handelt. Der Rosinenwein hingegen ist durchaus Wein. Quittenwein hingegen und andere Getränke, die nicht aus dem Weinstock gewonnen werden, sind in der Bezeichnung Wein nicht enthalten. Ebenso kann Essig nicht als Wein bezeichnet werden”. Nach Ulpian zählt also als uinum nur, quod ex uinea natum permansit, also reiner Wein (einschließlich der Sonderformen oenomeli, passum, acinaticium), nicht aber alkoholische Getränke, die nicht aus Trauben gewonnen werden (Kwas, Bier, Met, Most), und auch nicht Mischgetränke mit Weinanteil (mulsum, conditum, defrutum; beim Letzteren ist es gerade die conditura, die zum Ausschluss aus der Gattung Wein führt). Der Jurist, dem es hier um definitorische Präzision geht, verwendet offenkundig conditum nicht als völliges Synonym für mulsum, aber das will natürlich für die Alltagssprache nichts besagen.
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Bei sorgfältigem Sprachgebrauch wurde κονδῖτος durchaus als Adjektiv (zweier Endungen) verwendet. So wird beispielsweise im pseudo-athanasischen Dialog über die Trinität die Frage gestellt (PG 28, 1157B): θέλεις οὖν εἰπεῖν, ὅτι, ὥσπερ κονδῖτος οἶνος κερασθείς, οὕτως ἐστὶ Πατήρ, Υἱὸς καὶ Ἅγιον Πνεῦµα; ‘willst du sagen, dass sich so, wie gewürzter Wein gemischt ist, auch Vater, Sohn und Heiliger Geist verhalten?’. Wo es in unseren Rezepten heißt: “Mit einem Löffelchen Zucker einnehmen”, da sagten die antiken Mediziner (Paul. Med. 7, 11, 42; Alex. Med. vol. II, p. 395): δίδου κοχλιάριον µετὰ κράσεως κονδίτου ‘gib einen Löffel mit gewürztem Wein’. Es ist auch von einer δόσις [---] µετὰ κράσεως κονδίτου θερµαθέντος ‘Dosis mit warmem gewürztem Wein’ (Aet. Med. 11, 13) die Rede5. Es bleibt aber festzuhalten, dass das Adjektiv κονδῖτος anders als im Lateinischen im Griechischen nicht einfach frei verfügbar war, um ‘gewürzt’ zu sagen; es bezieht sich vielmehr immer nur auf οἶνος bzw. auf dessen Ersatzwort κρᾶσις. In den meisten Fällen liegt allerdings in der Tat das Neutrum κονδῖτον vor, wobei die Frage müßig ist, ob die Bildung im Griechischen erfolgt ist oder ob das lateinische Neutrum condītum entlehnt wurde. Harrauer und Sijpesteijn (1983, 69) glaubten, die Regel aufstellen zu können, dass κονδῖτον “nur als Singular in Gebrauch” sei. Das bestätigt sich im Lichte der Materialien des elektronischen Thesaurus linguae Graecae nicht. Der Mediziner Paulos empfiehlt zur Abwendung von Steinleiden das ‘Vermeiden von zu Warmem und zu Scharfem, ich meine von gewässerten Fischbrühen und von Würzweinen und von ähnlichen Dingen’ (3, 45, 3: ἀποχὴ [---] τῶν ἄγαν θερµῶν καὶ δριµέων, ὑδρογάρων φηµὶ καὶ κονδίτων καὶ τῶν παραπλησίων); weiter heißt es (3, 45, 11): οἶνός τε θερµὸς ἁρµόσει καὶ κονδῖτα καὶ τὰ διουρητικὰ τῶν φαρµάκων τε καὶ βρωµάτων. Der Mediziner Hierophilos empfiehlt, ‘abgekochte Würzweine und schwache Weine zu trinken’ (p. 462, 7: ἀνισάτα κονδῖτα καὶ λεπτοὺς οἴνους πίνειν). 5. Die Bedeutungen von κονδῖτον Kommen wir nun zur Bedeutung! An einer einzigen Stelle muss der Sinn ‘Gewürz’ vorliegen: In einer der dem Makarios zugeschriebenen Homilien heißt es (16, 9 = PG 34, 620C): ἡ γὰρ ἀρετὴ διὰ πολλῶν εἰδῶν ἀρτύεται, ὥσπερ ἔδεσµά τι τῶν ἀναγκαίων διὰ κονδίτου ἢ ἑτέρου τινός, καὶ τοῦτο οὐ µόνον διὰ µέλιτος, ἀλλὰ _________ 5
Man kann nicht immer entscheiden, ob das Adjektiv κονδῖτος oder das Substantiv κονδῖτον vorliegt. So könnte in den Hippiatrica Berolinensia (2, 25 = CHG I 28, 6), wo von δι᾿ οἴνου παλαιοῦ ἢ κονδίτου adjektivisches κονδῖτος (von οἶνος abhängig, gleichgeordnet mit παλαιός) vorliegen, aber natürlich ist es auch denkbar, dass wir es mit dem Substantiv κονδῖτον zu tun haben, das dann im Gegensatz zu οἶνος kein Adjektiv bei sich hätte. Für die zweite Lösung würden Parallelstellen sprechen, wo die Wortfolge µετὰ κονδίτου ἢ οἴνου παλαιοῦ ist (Aet. Med. 11, 13), aber andererseits liegt in der folgenden Rezeptreihung (Hippiatrica Berolinensia 130, 114 = CHG I 442, 14–16), in der die Mengenangaben immer direkt nach der zu verabreichenden Substanz stehen, klar adjektivisches κονδῖτος vor: εἰ δὲ τούτων προσαγοµένων µὴ λυθῇ τὸ πάθος, ὀποπάνακος δραχµὴν µίαν, καστορίου δραχµὰς ἕξ, λασάρου δραχµὴν µίαν, οἴνου µέλανος ἢ κονδίτου ξε´.
18. κονδῖτος, κονδῖτον / condītus, condītum
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καὶ πεπέρεως, καὶ οὕτως εὑρίσκεται χρήσιµον ‘die Tugend ist nämlich auf viele Arten angerichtet, wie gewöhnliche Speisen durch Gewürz oder irgendetwas anderes, und zwar nicht nur durch Honig, sondern auch durch Pfeffer, und so wird es als nützlich empfunden’. Man wäre normalerweise kaum geneigt, diesem Einzelbeleg aus der bekanntlich nicht gerade selten mit Merkwürdigkeiten aufwartenden Predigtsprache allzu viel Gewicht beizumessen, wäre da nicht die Tatsache, dass es ein mittelgriechisches Maskulinum κονδῖτος mit der Bedeutung ‘Gewürz’ gibt (Κριαρᾶς 8, 250; die zitierte Prodromika-Stelle II H 42 lautet: οὐ θέλει καὶ καπνίσµατα, µόσχους τε καὶ κοντίτους). Wenn man nun bedenkt, dass es keinen Beleg für das lateinische Neutrum condītum im Sinne von ‘Gewürz’ gibt, aber ein (allerdings recht seltenes) zur u-Deklination gehöriges Maskulinum condītus diese Bedeutung zu haben scheint (ThLL 4, 148, 3–5), dann wird man doch am ehesten annehmen, dass in der Makarios-Homilie gar nicht das Neutrum κονδῖτον, sondern das Maskulinum κονδῖτος vorliegt6. Beweisen kann man das natürlich letztlich nicht, aber es ist immerhin nicht unwahrscheinlich. Bei allen anderen literarischen Belegen kann es keinen Zweifel geben, dass das Neutrum κονδῖτον in der Bedeutung ‘Mulsum, Gewürzwein’ vorliegt. Besonders die medizinischen Traktate lassen uns nicht im Zweifel darüber, wie das Getränk zubereitet wurde: Unverzichtbare Bestandteile waren neben Wein und Honig, normalerweise im Verhältnis fünf zu eins gemischt, verschiedene Gewürze, beispielsweise Pfeffer, Petersilie, Anis, Farnkraut und Narde7, was zeigt, dass es, wie es bei einem Aperitif ja noch heute ist, eine beachtliche geschmackliche Variationsbreite und wohl auch große Qualitäts– und Preisunterschiede gegeben haben muss. Im diokletianischen Preisedikt sind 24 Denare als Höchstpreis für einen italischen Sextarius condītum, also etwa für einen halben Liter, festgesetzt (2, 17). Wenn man bedenkt, dass dieselbe Menge von uīnum rūsticum, das normalerweise die Basis für condītum bildete, 8 Denare kosten sollte (2, 10), dann kann man ermessen, dass erst die meist teuren Gewürze dem condītum seine Charakteristika gaben. Bevor wir nun die Papyrusbelege genauer unter die Lupe nehmen, müssen wir noch einmal rekapitulieren, welche Resultate die Untersuchung der literarischen Belege für κονδῖτος bzw. κονδῖτον erbracht hat. Belegt sind:
_________ 6 In der lateinischen Übersetzung in der Patrologia Graeca taucht in der Tat das lateinische Wort condītus (Gen. condītūs) auf: Virtus enim conditur variis modis, tanquam cibus quidam necessarius conditu aut alio quodam, et hoc non tantum melle, sed etiam pipere, et ita reperitur utilis. 7 Aet. Med. 3, 67: κονδῖτον ξανθοχόλοις· πεπέρεως γ´, σκαµµωνίας α´, σελίνου σπέρµατος α´, οἴνου ε´, µέλιτος α´· προλεάνας τὰ εἴδη καθ᾿ ἑαυτά, ἔπειτα καὶ σὺν τῷ µέλιτι, εἶτα τὸν οἶνον ἐπιβαλὼν ἔα ἡµέρας ε´ καὶ χρῶ. κονδῖτον φλεγµατικοῖς· λαθυρίδων α´, πεπέρεως α´, ἀνίσου β´, σελίνου σπέρµατος ἀνὰ α´, οἴνου ε´, µέλιτος α´, σκεύαζε, ὡς προείρεται, καὶ χρῶ. κονδῖτον µελαγχολικοῖς· πολυποδίου α´, πεπέρεως α´, σελίνου σπέρµατος α´, οἴνου ε´, µέλιτος α´, σκεύαζε, ὡς προείρηται, .
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1. Ein Adjektiv zweier Endungen κονδῖτος, -ον ‘gewürzt’, das nur auf οἶνος oder gleichbedeutende Wörter bezogen wird. 2. Ein häufiges Neutrum κονδῖτον ‘Gewürzwein’. 3. Ein seltenes Maskulinum κονδῖτος ‘Gewürz’. 6. κονδῖτον in den Papyri Vor dem Hintergrund dieser Sprachsituation müssen die Belege aus den dokumentarischen Papyri betrachtet werden. Es liegen für κονδῖτον sechs Papyrusbelege vor, drei aus dem 4./5. Jahrhundert, einer aus dem 7. Jahrhundert und einer aus dem 7. oder 8. Jahrhundert. Der älteste Beleg findet sich in den “travel accounts” aus dem in die Zeit zwischen 317 und 323 zu datierenden Theophanes-Archiv, das im vierten Band der Rylands-Papyri publiziert ist. Dort (P. Ryl. IV 629, 367) wird als Ausgabe festgehalten: κονδίτου (δραχµαὶ) ρ´. Es liegt also eindeutig der Genitiv von κονδῖτον ‘Gewürzwein’ vor. Ebenfalls ins 4. Jahrhundert ist ein Brief zu datieren, in dem ein gewisser Ioannes seinen Vater Leontios um einige Einkäufe bittet. Die Orthographie ist arg verwildert, insbesondere gehen ο und ω auch in den Flexionsendungen durcheinander. Harrauer und Sijpesteijn haben gezeigt (1983, 69, vgl. BL 8, 467), wie der uns interessierende Abschnitt zu lesen ist: SPP XX 107 3 γράπψον πρὸς Ἀννιανων των οἰνωπράτην καὶ λαβὲ ὥσα θέλις κνίδια καὶ ἂν ἔχι µετὰ 4 πιττακίων κονδίτων γράπψον τὼ µικρὼν πιττάκιον πρὸς Δῖον τῶν κελλαρίτην
H. Harrauer / P. J. Sijpesteijn γράψον πρὸς Ἀννιανὸν τὸν οἰνοπράτην καὶ λαβέ, ὅσα θέλεις, κνίδια καί, ἄν ἔχῃ, µετὰ πιττάκιον κονδῖτον, γράψον τὸ µικρὸν πιττάκιον πρὸς Δῖον τὸν κελλαρίτην.
Harrauer und Sijpesteijn übersetzen folgendermaßen (1983, 69): “Schreib an Annianos den Weinhändler und nimm Knidien, soviel du willst, und, wenn er gemäß dem Auftrag Gewürzwein hat, schreib die kleine Quittung an den Kellermeister Dion”. Völlig eindeutig liegt in diesem Text das Substantiv κονδῖτον ‘Gewürzwein’ vor. Was Wessely (SPP XX 107) und Daris (1991, 59), die ein von πιττάκιον abhängiges adjektivisches κονδῖτος ansetzten, sich unter einem ‘gewürztem Täfelchen’ vorgestellt haben, führten sie leider nicht. Auf das 4./5. Jahrhundert deutet der Schriftduktus eines Briefes, dessen untere Hälfte von Pieter J. Sijpesteijn und Klaas A. Worp als CPR VIII 52 publiziert wurde und der später von Michaela Paul in den Analecta Papyrologica (4, 1992, 75–78) in nahezu vollständiger Gestalt veröffentlicht werden konnte (jetzt: SB XX 14226). In diesem Brief bittet ein Mädchen namens Therpe seinen Vater Theon um das nötige Kleingeld für die Teilnahme an einer Festlichkeit. In der uns hier interessierenden Passage (Z. 15–18) beschwert sich Therpe, wie Michaela Paul richtig erkannt hat, in anklagender Frageform, dass sie nicht einmal zum Kalendenfest die üblichen Schleckereien erhalten hat: οὔ|κ ἰµι ἀξία τῶν
18. κονδῖτος, κονδῖτον / condītus, condītum
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πλακουν|θίων καὶ κονδίτου | τῶν Καλανδῶν; Zu den Kalendae Ianuariae schenkte man sich dulcia, die ein gutes Omen darstellen sollten (Ov. fast. 1, 188). Süßer Kuchen und süßes Mulsum, κονδῖτον, sind also passende Neujahrsgaben, während ‘Salzwaren’, so die Übersetzung der Ersteditoren, überhaupt nicht zum Charakter des Festes gepasst hätten. Aus dem 7. Jahrhundert stammt ein im Louvre aufbewahrter Papyrus (MPER XIII 18), der offenbar ein Gefäßetikett ist. Die Aufschrift lautet κονδιτων ποιρουν, was die Erstherausgeber Harrauer und Sijpesteijn, weil man sich unter ‘brennendem Gewürzwein’ ja kaum etwas vorstellen kann, als κονδῖτον πυροῦν ‘scharfer Gewürzwein’ gedeutet haben. Das ist wohl zu modern gedacht: Branntwein, brandewijn, brandy usw. konnte als Bezeichnung erst geläufig werden, nachdem die Schnapsbrennerei erfunden war, und das war im 15. Jahrhundert. Wahrscheinlich muss man in einer anderen Richtung suchen: Die Farbbezeichnung πυρρός ‘rötlich-gelb’ läge als Farbangabe für kräftiges Mulsum durchaus nahe. Entweder ist alsο ποιρουν für πυρρόν geschrieben, oder es liegt das Partizip Präsens des (allerdings seltenen) Verbs πυρροῦν ‘rot werden’ vor. Wie dem auch sei, es ist jedenfalls klar, dass auch auf diesem Etikett das Substantiv κονδῖτον ‘Mulsum, Gewürzwein’ vorliegt. Die spätesten Belege finden sich in einem griechischem Papyrusdokument aus arabischer Zeit8 (P. Apoll. 85). In einem “compte quotidien de dépenses” tritt τ unser Wort dreimal auf, allerdings in stark abgekürzter Form als κον . Roger Rémondon las Zeile 5 als (ὑπὲρ) λαχ(άνων) (καὶ) κεδ( ) (καὶ) κον(δί)των δ´, Zeile 8 als (ὑπέρ) λαχ(άνων) (καὶ) κον(δί)τ(ων) γ´, Zeile 9 als (ὑπὲρ) λαχ(άνων) (καὶ) κον(δί)των (καὶ) ταρ(ι)χ(ίων) δ´. Zur Bedeutung des Wortes merkte er an, dass es wahrscheinlich, “sans doute”, um “des épices, ou des assaisonnements” gehe. Harrauer und Sijpesteijn gingen hingegen davon aus, dass auch hier κονδῖτον ‘Gewürzwein’ vorliege und zudem “alle Produkte, die auf dieser Liste verzeichnet sind, zutreffender mit dem Singular aufzulösen seien”. Das ist zumindest beim Wort für ‘Eingepökeltes’ nicht richtig, denn ταρίχια ist geradezu ein plurale tantum, und der Plural λάχανα ist beinahe so häufig wie der Singular λάχανον. Man muss aber bedenken, dass es in der Liste durchweg um die Verproviantierung von Seeleuten und Sklaven geht. Es ist vielleicht nicht sehr wahrscheinlich, dass für diese, wenn sie schon zum Trinken etwas anderes als Wasser bekamen, das relativ teuere Mulsum und nicht beispielsweise der viel billigere οἶνος χυδαῖος oder ein ὀπωρικὸς οἶνος besorgt wurde. Hingegen waren natürlich besonders im warmen Klima Ägyptens neben Gemüse, Öl9 und Pökelfleisch auch Gewürze, die das überschrittene “Haltbarkeitsdatum”überlagern konnten, wichtig. Es ist also zumindest nicht auszuschließen, dass hier nicht κονδῖτον ‘Mulsum’, _________ 8 Der Ersteditor Roger Rémondon datierte das Dokument in die Zeit zwischen 703 und 715 n. Chr. Jean Gascou und Klaas Worp (1982, 89) führen gute Argumente dafür an, dass man eher an eine Datierung “vers la fin du troisième et le début du dernier quart du VIIe siècle” denken müsse. 9 Das abgekürzte κεδ( ) muss wohl, wie schon Rémondon zögernd vermutete, als κεδ(ρίου) aufgelöst werden. κέδριον ‘Zedernöl’ konnte statt Olivenöl verwendet werden (Brent Sandy 1989).
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sondern κονδῖτος ‘Gewürz’ vorliegt, und wenn das so ist, dann ist selbstverständlich auch der Plural gerechtfertigt. Auch für einen weiteren Papyrusbeleg ist κονδῖτος ‘Gewürz’ zumindest nicht auszuschließen. In seinen Papyrusurkunden kleineren Formats hat Carl Wessely einen Papyrus des 6. Jahrhunderts, der “so defekt ist, dass der Kontext nicht feststellbar ist” (Harrauer/Sijpesteijn 1983, Anm. 1), publiziert (SPP VIII 967). Der Text bietet sich wie folgt dar: ̣ ̣ ̣ τω πλακουντ/ | τω ανθρωπ/ κοσµα σελιγν | π κονδιτω αρτοκ . Ein brauchbarer Text lässt sich nicht rekonstruieren10, aber man sieht, dass man sich im Umkreis der Backstube befindet, denn es geht ja offenbar um Zutaten beim Kuchen- und/oder Brotbacken. Wenn man davon ausgeht, dass κονδίτῳ als Substantiv zu verstehen sein muss, wäre es immerhin gut denkbar, dass hier auch κονδῖτος ‘Gewürz’ gemeint sein kann. Aber man muss natürlich bei einem so lückenhaften Text mit den Schlussfolgerungen vorsichtig sein, solange man den Kontext nicht wirklich rekonstruieren kann. Wenn wir also die Papyrusbelege rekonstruieren, stellen wir fest, dass das Adjektiv κονδῖτος, -ον nicht ein einziges Mal bezeugt ist, dass vier sichere Belege für κονδῖτον ‘Gewürzwein, Mulsum’ vorliegen und dass an zwei Stellen κονδῖτος ‘Gewürz’ zumindest nicht auszuschließen ist. Im Grunde genommen ist dieser Befund gar nicht erstaunlich: Das Adjektiv scheint auch in der Literatur an sehr ausgefeilten Sprachgebrauch gebunden zu sein, und es ist nachantik nicht mehr nachzuwesien. Das Maskulinum κονδῖτος ‘Gewürz’ ist in der Literatur nur einmal belegt, aber die Tatsache, dass es im byzantinischen Griechisch noch lebendig war, zeigt, dass es eine Verankerung in der Umgangssprache gehabt haben muss, weswegen ein Auftreten in den Papyri durchaus denkbar ist. Das Neutrum κονδῖτον hingegen war die geläufige Bezeichnung für ‘Gewürzwein, Mulsum’, und solange diese Zubereitungsart von Wein üblich war, blieb auch das Wort üblich. Ins Koptische gelangte das Wort natürlich in seiner geläufigsten Verwendung, d. h. in der Neutrumform ⲕⲟⲛⲧⲓⲧⲟⲛ mit der Bedeutung ‘Gewürzwein’11.
_________ 10
Wenn man die verwegene Vermutung Preisigkes aufgreift, hinter κονδιτω verberge sich ein Wort κονδίτωρ, dann ließe sich zur Not ein Text herstellen: Am Anfang würde irgendeine Backzutat weggebrochen sein, die bestimmt war ‘für den Kuchenbäcker Kosmas’, τῷ πλακουντ(οποίῳ) | τῷ ἀνθρώπ(ῳ) Κοσµᾷ. Die nächste Zeile hätte dann eine neue Angabe enthalten, nämlich ‘Weizenmehl für den Feinbäcker’, σλίγν(ια) κονδίτω(ρι) ἀρτοκ(ό)π(ῳ), und in der folgenden, nicht mehr erhaltenen Zeile hätte der Name folgen müssen. Gegen diese verlockende Lösung spricht zweierlei, einmal die “Lex Youtie” (iuxta lacunam ne mutaveris), und zum anderen die Tatsache, dass condītor im Griechischen gar nicht und im Lateinischen nur spärlich (ThLL IV 147, 46–55) bezeugt ist. Der Vorschlag von Harrauer und Sijpesteijn, κόνδυ τῷ ἀρτοκ(ό)π(ῳ) ‘einen Becher für den Bäcker’ zu verstehen, scheitert daran, dass κόνδυ nur für die Ptolemäerzeit bezeugt ist, und gegen den Alternativvorschlag, κονδίτῳ ἀρτοκ(ο)π(ικῷ) ‘Gewürzwein zum Brotbacken’ zu lesen, spricht, dass ἀρτοκοπικός in den Papyri unbelegt ist. 11 Ein Beleg für das Wort in der Schreibung ⲕⲟⲛϯⲓⲧⲟⲛ findet sich im koptischen Martyrium des heiligen Viktor, vgl. Horn 1988, 33–34.
18. κονδῖτος, κονδῖτον / condītus, condītum
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7. Die Ableitung condītārius / κονδιτάριος In den Papyri kommt nur eine einzige Ableitung vor, nämlich die Berufsbezeichnung κονδιτάριος, und auch in der lateinischen Literatur ist ein Adjektiv condītārius, -a, -um nur ein einziges Mal belegt (ThLL IV 145, 1–2), und zwar bei Augustinus (civ. dei 22, 8, 9 = PG 41, 766), wo von einer coquina conditaria die Rede ist, was üblicherweise und sicher zu Recht als ‘Garküche’ übersetzt wird (Augustinus, Vom Gottesstaat 2, übers. v. W. Thimme, München 1978, 770); zu denken ist natürlich an eine Ableitung von condīre ‘eine Speise zubereiten’. Das maskuline Substantiv condītārius ist ebenso wie seine feminine Entsprechung condītāria nur inschriftlich belegt (CIL 6, 9277): Aul. Maximus ditarius de castris pra<etor>ibus Aul. Hilaritas conditaria. Dieselbe Verwendung begegnet in den Papyri: In drei Dokumenten ist das Maskulinum κονδιτάριος bezeugt (CPR VII 39, 7 und 25 [443 n. Chr.], P. Mich. XV 740, 14 und 23 [VI Jh.]; P. Mil. 2, 71, 1 [VI. Jh.]), und einmal kommt das Femininum κονδιταρία vor, das auch inschriftlich einmal in Syrakus belegt ist (Not. Scavi 1893, 309: Βικτωρίας | κονδειταρίας | τόπος). Stets geht es um eine Berufsangabe. Sergio Daris (1957, 100) nahm an, es handele sich um “il mercante o il venditore di aromi e spezie in genere”, und ‘Gewürzhändler’ schreibt auch Brigitte Rom in ihrer Übersetzung von CPR VII 39. Nun bietet aber gerade dieser Papyrus einen Anhaltspunkt dafür, dass die vorgeschlagene Übersetzung nicht richtig sein dürfte: Der κονδιτάριος Aurelius Andronicus verkauft nämlich 2400 Fässer bester Qualität – wieso aber sollte ein Gewürzhändler so viele Fässer haben? Ist Andronicus aber nicht ‘Gewürzhändler’, sondern ‘Wirt einer MulsumKneipe’, dann sieht die Sache natürlich anders aus. Dass diese Bedeutung die richtige sein muss und also auch hier der von Pieter Sijpesteijn vorgeschlagene ‘maker of spiced wine’ (zu P. Mich. XV 740, 14) wohl nicht das Richtige trifft, zeigt P. Fouad Ι 85, 4–6: Ein gewisser Paulus macht seinem Bruder Vorwürfe über seinen Lebenswandel, insbesondere über seine zahlreichen Damenbekanntschaften (Text mit den Korrekturen von Daris 1962, 137–138): οὐθὲν λείπει | εἰ µὴ τό σε ἐλθεῖν κ(α)ὶ εὑρεῖν τὸ ἀκκούβιτον ἐστρωµένον· ἐὰν ἀπέλθῃς εἰς Ἀντινόου, | εὑρίσκεις τὴν πεταµηναρίαν, ἐὰν εἰς Ἀλεξάνδρειαν, Σωσάνναν, ἐὰν εἰς Ἡρακλέους, | Οὐρανίαν, ἐὰν εἰς τὴν πόλιν σου, τὴν κονδηταρίαν.
es fehlt nichts, dass du nicht kommst und ein gemachtes Bett findest: wenn du nach Antinoe kommst, findest du die Petamenaria (?), wenn nach Alexandria, die Sosanna, wenn nach Herakleopolis, die Urania, wenn in deine eigene Stadt, die Konditaria.
Warum sollte der lockere Vogel ausgerechnet bei der Gewürzhändlerin ein gemachtes Bett finden? Wenn aber κονδιταρία die ‘Wirtin einer Mulsum-Kneipe’ bedeutet, dann ist die Sache klar: Bekanntlich waren die Grenzen zwischen Kneipe und Bordell und erst recht zwischen Kellnerin und Prostituierter in der Antike
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recht fließend12 – Paulus’ Bruder hatte also in jeder größeren Stadt ein Mädchen, das man mit Namen nennen konnte, und zu Hause eben die übliche stadtbekannte Frau Wirtin. Sprachlich ist diese Wortbedeutung im Falle des lateinischen condītārius völlig naheliegend: Ausgehend von der Hauptbedeutung, die das Grundwort condītum hat, nämlich ‘Würzwein, Mulsum’, ist eine Berufsbezeichnung für den, der sich mit dem Mulsum und seinem Verkauf beschäftigt, gebildet worden, denn mit dem Suffix –ārius werden vor allem “Berufsbezeichnungen, meist Handwerker (als Hersteller) und Verkäufer von Waren” gebildet (Leumann 1977, 298 = § 277, 1b); ein Parallelfall zu condītārius wäre beispielsweise uīnārius ‘Weinverkäufer’. Im Griechischen kann angesichts der Tatsache, dass es kein einheimisches Berufsbezeichnungs-Suffix -άριος gibt (Schwyzer 1953, I 455), keine eigene Bildung vorliegen: Das lateinische Wort condītārius ist als ganzes entlehnt worden. 8. Perspektiven Die neuen computerlesbaren Hilfsmittel wie der Thesaurus linguae Graecae, die Duke Date Bank of Documentary Papyri oder die Heidelberger WörterListen, haben uns mit großer Leichtigkeit und in einer Menge, wie man es sich bis ins letzte Viertel des 20. Jahrhunderts kaum vorstellen konnte, Wortmaterial zugänglich gemacht, und gerade die Papyrologie hat daraus ungeheueren Nutzen gezogen und ungeahnte Fortschritte gemacht. Man darf es aber dabei nicht bewenden lassen. Was jetzt wieder in stärkerem Maße Aufmerksamkeit verdient, ist die Bedeutung der jetzt so einfach in ihrem Kontext zu untersuchenden Wörter, denn dabei kann man es sich noch weniger als früher leisten, die papyrologischen Gegebenheiten isoliert von den Fakten, die uns sonst in der Literatur, in den Inschriften und in sonstigem Material entgegentreten, zu betrachten, denn um zutreffende Aussagen zur Bedeutung eines Wortes machen zu können, muss man sein Auftreten in allen möglichen Bezeugungsformen und, wenn möglich, in griechischer und lateinischer Gestalt untersuchen. Es ist guter Brauch, jeder neuen Bandedition ein vollständiges Wortregister beizugeben; noch besser wäre es freilich, wenn man jetzt, wo die Wörter als solche sowieso schnell in den computerlesbaren Materialien auftauchen, dazu überginge, ihnen jeweils die vorliegende Bedeutung zur Seite zu stellen, um so ein neues echtes Wörterbuch in _________ 12 Vgl. beispielsweise Dig. 23, 2, 43, 8–9: lenam accipiemus et eam, quae alterius nomine hoc uitae genus exercet. si qua cauponam exercens in ea corpora quaestuaria habeat (ut multae adsolent sub praetextu instrumenti cauponii prostitutas mulieres habere), dicendum hanc quoque lenae appellatione contineri. ‘Als Kupplerin bezeichnen wir auch diejenige, die unter einem anderen Namen diese Lebensweise ausübt. Wenn also eine Frau eine Wirtsstube betreibt und darin käufliche Personen hat (wie viele unter dem Vorwand des Wirtsbetriebes Frauen als Prostituierte halten), so muss auch sie unter der Bezeichnung Kupplerin erfasst werden’. Die cara Photis (Apul. metam. 2, 7, 1), die den Ich-Erzähler Lucius in Apuleius’ Goldenem Esel so erfolgreich in die technischen Details der körperlichen Liebe einführt, ist eine famula, die von den Hausgästen petatur enixe (Apul. metam. 2, 6, 6).
18. κονδῖτος, κονδῖτον / condītus, condītum
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nuce vorzubereiten. Die lexikographische Arbeit würde durch eine solche Vorgehensweise, die jeden Editor nur in Maßen belasten würde, erheblich gewinnen!
19. κράβατος / grabatus Abstract: Starting in the Hellenistic period, the popular Greek word κράβατος (with some orthographical variants) was used to designate a ‘simple bed’ or a ‘stretcher’. The parallel Latin form is grabatus (with variants), rarely crabatus, and grabattus is continued in Romance dialects of the central Alpine area. Both words seem to be of Illyrian (Messapian) origin (< *grab- ‘oak’). In Greek papyri, κράβατος tends to be the normal word for ‘bed’, and the diminutive κραβάτιον, carried over into Modern Greek κρεβάτι, makes its entry in the 5th century. Keywords: krabatos, grabatus, bed, stretcher
1. κράβατος und grabatus in der griechischen und lateinischen Literatur Jedem Leser des Neuen Testaments ist κράβατος geläufig: Jesus heilt in Kapharnaum einen Gelähmten, der auf einem κράβατος (Mk. 2, 4) liegend von vier Männern (Mk. 2, 3) zu ihm getragen worden ist, und sagt zu ihm (Mk. 2, 9): ἔγειρε καὶ ἆρον τὸν κράβατόν σου καὶ περιπάτει. Martin Luther übersetzt das mit: ‘Stehe auf, nimmt dein Bett und wandle’, wobei freilich ‘Bett’ den Sinn, der für κράβατος hier und anderswo im Neuen Testament1 vorliegt, nur ungefähr trifft, denn es werden stets Kranke auf dem κράβατος umhergetragen, so dass man besser ‘Liege’, ‘Trage’ oder ‘Bahre’ sagen müsste. Auch die Form, in der das Wort überliefert ist, ist weniger eindeutig, als die Lesetexte des Neuen Testaments vermuten lassen: Ein Blick in die alte Tischendorf-Ausgabe zeigt, dass das von Nestle präferierte κράβατος keineswegs als Normalform zu bezeichnen ist: Am häufigsten tritt κράβαττος auf, aber es gibt auch κράβατος, κράββαττος und im Codex Sinaiticus ()א, der um die Mitte des 4. Jahrhunderts geschrieben wurde, finden wir κράβακτος. Noch verwirrender ist die Vielzahl der lateinischen Entsprechungen: Die dem griechischen Vorbild entsprechenden Formen mit stimmlosem Anlaut wie crabatus, crabbatus, crabattus, crauatus, die in einzelnen Bibelhandschriften vorkommen, aber keineswegs häufig, sind weit seltener als Formen mit stimmhaften Anlaut: grabatus, grabbatus, grabattus, grau(u)at(t)us. Im ThLL VI 2, 2127, 1–2 und 5–6, heißt es: “grabatus legitur apud melioris aetatis scriptores, [---] forma posterioribus _________ 1
Das Wort kommt insgesamt elfmal vor. Vgl. z. B. Mk. 6, 55: ἤρξαντο ἐπὶ τοῖς κραβάτοις τοὺς κακῶς ἔχοντας περιφέρειν ‘sie hoben an, die Kranken auf Betten umherzutragen’; Act. 5, 15: ἐκφέρειν τοὺς ἀσθενεῖς καὶ τιθέναι ἐπὶ κλιναρίων καὶ κραβάτων ‘die Kranken herauszutragen und auf Betten und Bahren zu legen’; Act. 9, 33: εὗρεν δὲ ἐκεῖ ἄνθρωπόν τινα ὀνόµατι Αἰνέαν ἐξ ἐτῶν ὀκτὼ κατακείµενον ἐπὶ κραβάτου, ὃς ἦν παραλελυµένος ‘daselbst fand er einen Mann mit Namen Äneas, acht Jahre lang auf dem Bette gelegen, der war gichtbrüchig’ (deutsche Übersetzungen nach Martin Luther).
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usitatior est grabattus vel grabattum”; angesichts der Tatsache, dass derartige orthographische Kleinigkeiten in der handschriftlichen Überlieferung leicht der “Verbesserung” anheim fielen, ist freilich gegenüber dieser Aussage Vorsicht geboten. Festzustellen ist, dass grabatus und seine Parallelformen im Lateinischen häufiger auftreten als im Griechischen; die drei Bedeutungen ‘lectus vilis pauperum’, ‘lectus portatorius aegrotorum, mortuorum’ und ‘lectus cuiusvis generis’ lassen sich besser als im Griechischen trennen, und es ist auffällig, dass ‘lectus portatorius aegrotorum, mortuorum’, also ‘Bahre’, nur bei christlichen Autoren vorkommt. In einer Situation, in der verschiedene Ausprägungen eines Wortes, die sich nur in Kleinigkeiten unterscheiden, nebeneinander vorkommen, möchte man natürlich herausfinden, welche von den Varianten, die unsere Handschriften zeigen, bereits antik sind, was die ursprüngliche Gestalt des Wortes war und welche Umstände zum Variantenreichtum geführt haben. Für den Nachweis der Formen, die schon antik sind, kommt nur das Zeugnis von Quellen, die nicht durch späte Änderungen entstellt sein könnten, in Frage, konkret also, abgesehen von den seltenen expliziten Aussagen der Grammatiker, epigraphische und papyrologische Belege. Bei den meisten Wörtern des alltäglichen Privatlebens lassen uns die eher zum Monumentalen neigenden Inschriften im Stich, so dass nur die Papyrusbelege bleiben. So ist es auch bei κράβατος, das epigraphisch anscheinend nicht belegt ist, ebenso wenig wie seine lateinische Entsprechung. Was die ursprüngliche Wortgestalt anbetrifft, so ist es natürlich am sichersten, wenn sich die Einordnung in eine Wortfamilie vornehmen lässt und die Wortbildung klar ist. In den (leider zahlreichen) Fällen, in denen das nicht geht, muss man so weit wie möglich ältere von jüngeren Formen trennen, und dabei ist wieder das Zeugnis der ja oft sicher datierbaren Papyri wichtig. Offenbar ist κράβατος kein Wort, das in der Geschichte der griechischen Sprache auf ein besonderes Alter zurückblicken kann: Es ist weder homerisch noch klassisch, und die späteren Sprachpuristen lehnten das Wort ab. So schreibt beispielsweise der Attizist Phrynichos im 2. Jahrhundert n. Chr. (41 = p. 62 Lobeck = p. 137 Rutherford): σκίµπους λέγε, ἀλλὰ µὴ κράββατος, µιαρὸν γάρ ‘sag’ σκίµπους und nicht κράββατος, denn das ist hässlich’, und Moiris pflichtet bei (p. 209, 28 Bekker = p. 142, 1 Hansen): σκίµπους Ἀττικοί· κράβατος Ἕλληνες ‘die Attiker sagen σκίµπους, die Hellenisten κράβατος’. Bemerkungen dieser Art gibt es auch bei den Scholiasten zu attischen Schriftstellern, z. B. Schol. in Aristoph. Nub. 254 (κάθιζε τοίνυν ἐπὶ τὸν ἱερὸν σκίµποδα): τὸν κράβατον οὕτω λέγουσιν Ἀττικοί· οἱ δέ φασι σκιµπόδιον ἰδίως δηλοῦν κραβάτιον· σκιµπάζειν γὰρ παρὰ τοῖς παλαιοῖς τὸ χωλεύειν εἴρηται παρὰ τὸ σκαµβοὺς ἔχειν τοὺς πόδας ‘die Attiker nennen die Bahre σκίµπους; einige sagen aber, dass σκιµπόδιον eigentlich die Bahre bezeichne, denn bei den Alten heißt σκιµπάζειν ‘hinken’, weil man dabei die Füße gekrümmt (σκαµβός) hat’. Die ersten Belege für κράβατος stammen aus der hellenistischen Periode. Pollux berichtet aus zweiter Hand, das Wort sei in zwei Stücken der Neuen Komödie, nämlich im “Telephos” des Rhinton (Wende vom 4. zum 3. Jahrhundert v. Chr.; PCG I, fr. 9) und in der
19. κράβατος / grabatus
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“Messenia” des Kriton (wohl zwischen 190 und 160 v. Chr.; PCG IV, fr. 2) in der Bedeutung σκίµπους (LSJ: ‘small couch, pallet; a kind of hammock used by invalids travelling’) zu finden: ἐν δὲ τῇ Κρίτωνος Μεσσηνίᾳ καὶ ἐν Ῥίνθωνος Τηλέφῳ καὶ κράβατον εἰρῆσθαι λέγουσιν· ἐγὼ δ᾿ οὐκ ἐντετύχηκα τοῖς δράµασιν ‘man sagt, dass in Kritons Messenia und in Rhintons Telephos κράβατος vorkommt; ich habe aber diese Dramen nicht gefunden’. Die frühesten uns direkt greifbaren Bezeugungen sind die Stellen im Neuen Testament, wo das Wort für ‘Krankenbahre’ steht (Schmoller 1968, 289). Ihnen kann als ungefähr zeitgenössisch ein Epiktet-Beleg zur Seite gestellt werden, der die Bedeutung ‘Bett in einer Herberge’ aufweist2. Bei Epiktet finden sich auch die einzigen antiken literarischen Bezeugungen der Diminutiv-Form κραβάτιον ‘Bettchen’3. Im Lateinischen findet sich grabātus ‘einfaches Bett, Feldbett’ schon bei Lucilius in dem um 115 v. Chr. geschriebenen sechsten Buch der Satiren4, und im 1. Jahrhundert v. Chr. gibt es Belege u. a. bei Catull, Cicero und Varro5. Ganz offenbar unterlag die Verwendung des Wortes im Lateinischen keinerlei Restriktionen, und es war schon in republikanischer Zeit ganz geläufig. In den romanischen Sprachen hat sich grabātus in bescheidenem Umfang (in der Variante grabattus, siehe unten) erhalten6, und zwar im zentralen Alpengebiet: _________ 2 Epict. 1, 24, 14: πῶς οὖν ἐµὰ αὐτὰ λέγοµεν; ὡς τὸν κράβατον ἐν τῷ πανδοκείῳ. ἂν οὖν ὁ πανδοκεὺς ἀποθανὼν ἀπολίπῃ σοι τοὺς κραβάτους· ἂν δ᾿ ἄλλῳ, ἐκεῖνος ἕξει, σὺ δ᾿ ἄλλον ζητήσεις ‘Wie können wir sagen, das ist meins? Doch nur so, wie das Bett im Gasthaus. Wenn der Wirt stirbt, kann er dir die Betten hinterlassen. Wenn er sie aber einem anderen vermacht, wird der sie haben, und du musst dir ein anderes Bett suchen’. 3 Epict. 3, 22, 71: δεῖ αὐτὸν κουκκούµιον, ὅπου θερµὸν ποιήσει τῷ παιδίῳ, ἵν᾿ αὐτὸ λούσῃ εἰς σκάφην· ἐρίδια τεκούσῃ τῇ γυναικί, ἔλαιον, κραβάτιον, ποτήριον ‘Er braucht einen Kessel, um für sein Kind warmes Wasser zu machen, um es in einer Wanne baden zu können; er braucht Wollsachen für seine Frau, wenn sie ein Kind bekommen hat, Öl, ein Bettchen, eine Tasse’. Epict. 3, 22, 74: ποῦ σχολὴ τῷ εἰς τὰ ἰδιωτικὰ καθήκοντα ἐνδεδεµένῳ; οὐ δεῖ αὐτὸν πορίσαι ἱµατίδια τοῖς παιδίοις; ἄγε, πρὸς γραµµατιστὴν ἀποστεῖλαι πινακίδια ἔχοντα, γραφεῖα, τιτλάρια, καὶ τούτοις κραβάτιον ἑτοιµάσαι; ‘Wo hat jemand, der in private Pflichten eingebunden ist, Zeit? Muss er nicht Mäntelchen für die Kinder kaufen? Und muss er sie nicht zum Lehrer schicken mit Schreibtäfelchen, Griffeln, Heften und ihnen dazu noch ihre Bettchen machen?’. 4 Lucil. fr. 251 Marx (= Nonius p. 181, 22): tres a Deucalione grabati restibus tenti ‘drei Betten aus der Zeit Deukalions auf Seilen aufgespannt’. 5 Varro sagt, dass alle Möbel eines Raumes dieselbe Form haben sollten, und fährt fort (ling. Lat. 8, 32): neque potius delectaremur suppellectile distincta, quae esset ex ebore rebus disparibus figuris quam grabatis, qui analogon ad similem formam plerumque eadem materia fiunt ‘und wir sollten uns auch nicht an verschiedenartigen Möbeln, die aus Elfenbein oder anderen unterschiedlichen Materialen in unterschiedlicher Form gemacht worden sind, mehr erfreuen als an einfachen Betten, die serienmäßig in derselben Form und meistens aus demselben Material angefertigt werden’. 6 Das italienische Wort carabàttola ‘Kleinigkeit, wertlose Sache’ gehört ebenso zu grabattum, ist aber kein Erbwort, sondern eine Verballhornung des Bibelzitats Mk. 2, 9: tolle grabatum tuum et ambula. “La frase ha avuto una discreta diffusione a livello popolare e dialettale, ed ha assunto un valore spregiativo (‘vattene fuori dalle piedi’ ecc.). [---] Gli esempi riportati ci fanno comprendere come la voce latina potesse venire interpretata comunemente nel significato di ‘masserizia di poco conto’” (DELI 295).
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Das Simplex findet sich in der rätoromanischen Varietät der Surselva als gravat oder garvat ‘Bett, Bettgestell, Bahre’ (DRG 7, 767), im italienischen Dialekt von Poschiavo als grat ‘Tragbahre’; im benachbarten Veltlin heißt garovat ‘Mistkarre’ (REW 3827), in Belluno steht gravatol für den ‘Karren’, und in der Valsugana bedeutet gravatol einen ‘beschlagenen Schlitten zum Befahren von Eis’ (DRG 7, 768). Im Griechischen hingegen gehörte κράβατος zum Substandard und wurde folglich in ausgefeilter Sprache vermieden. Dafür gibt es einen schönen Beleg beim Kirchenschriftsteller Sozomenos in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, wo berichtet wird, dass der gebildete Bischof Triphyllios die Bibelstelle ἆρον τὸν κράβατόν σου καὶ περιπάτει zu ἆρόν σου τὸν σκίµποδα καὶ περιπάτει attisierte und daraufhin vom heiligen Spyridon wegen mangelnder sprachlicher Demut getadelt wurde7. 2. Die Etymologie von κράβατος Die Etymologie von κράβατος bereitet Schwierigkeiten. Wenn ein Wort zur Zeit der Gründung der Diadochenreiche zum ersten Male auftaucht, erwägt man nur zu gern eine Herleitung aus dem Makedonischen, das für uns ja nur nebelhaft sichtbar ist. Auf diesen Gedanken war schon im 17. Jahrhundert Claude de Saumaise (= Claudius Salmasius) gekommen, der sich in seinem 1643 in Leiden erschienenen Funus linguae Hellenisticae (p. 65) für die makedonische Etymologie stark machte. Der sachlich ansprechende Gedanke, dass die kriegerischen Makedonen bei ihren Eroberungszügen transportable Feldbetten mit sich führten und den an die nicht transportable κλίνη gewöhnten Griechen auch die Bezeichnung dafür vermittelten, scheitert leider an sprachlichen Gegebenheiten: Die Wortbildung kann nicht im Makedonischen erfolgt sein, weil es dort ebenso wenig wie im Griechischen ein produktives Suffix –ατος gibt (Schwyzer 1953, I 503)8, und bei der Annahme einer makedonischen Herkunft bliebe auch offen, wie die Lateiner konkret an ihr grabatus kamen, denn die unmittelbaren Kontakte zwischen Römern und Makedonen waren nie ausreichend, um Wortübernahmen wahrscheinlich zu machen; gegen eine direkte Übernahme aus dem Griechischen spricht jedoch die Chronologie, denn am Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr., als mit _________ 7 Soz. hist. eccl. 1, 11 (= PG 67, 889A): ἐπιτραπεὶς Τριφύλλιος διδάξαι τὸ πλῆθος, ἐπεὶ τὸ ῥητὸν ἐκεῖνο παράγειν εἰς µέσον ἐδέησε, τό· «ἆρόν σου τὸν κράβατον καὶ περιπάτει», σκίµποδα ἀντὶ τοῦ κραβάτου µεταβαλὼν τὸ ὄνοµα εἶπε. καὶ ὁ Σπυρίδων ἀγανακτήσας· «οὐ σύ γε», «ἀµείνων τοῦ κράβατον εἰρηκότος, ὅτι ταῖς αὐτοῦ λέξεσιν ἐπαισχύνῃ κεχρῆσθαι;» καὶ τοῦτο εἰπὼν ἀπεπήδησε τοῦ ἱερατικοῦ θρόνου τοῦ δήµου ὁρῶντος· ταύτῃ γε µετριάζειν παιδεύων τὸν τοῖς λόγοις ὠφρυωµένον. ‘Triphyllios wurde gebeten, die Menge zu belehren, und als er jenen Ausspruch anführen musste: «Nimm dein Bett und wandele», nahm er ein anderes Nomen und sagte σκίµπους statt κράβατος. Spyridon jedoch erregte sich darüber und sagte: «Bist du etwa besser als der, der κράβατος gesagt hat, wenn du dich schämst, seine Worte zu gebrauchen?» Als er das gesagt hatte, verließ er vor den Augen der Gemeinde seinen Altarsitz und lehrte so den, der stolz auf seine Worte war, Maß zu halten”. 8 Das neugriechische Suffix -ᾶτος (Dieterich 1928, 163–165) stammt natürlich aus dem Lateinischen.
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Lucilius die lateinischen Belege einsetzen, stand κράβατος noch ganz am Rande des griechischen Wortschatzes, hatte also mit anderen Worten überhaupt keine Chance, als Lehnwort in eine andere Sprache übernommen zu werden. In der Neuzeit wandte sich die Suche also in eine andere Richtung. In der Antike ist griechisch γράβιον ‘Holzspan, der als Fackel verwendet wird’ belegt: “Le mot est dérivé d’un nom d’arbre qui n’est pas attesté en grec ancien mais qui existe en grec moderne γράβος (Épire), γάβρος (Arcadie); [---] désigne une espèce de chêne” (Chantraine 1999, 234). Paul Kretschmer (1921) hat den umbrischen Mars- und Jupiterbeinamen Grabovius (Untermann 2000, 308–310) damit in Verbindung gebracht und ein illyrisches *grab- ‘Eiche’ postuliert, dessen Existenz durch den Volksnamen Grabaei und durch den Königsnamen Γράβος als gesichert gelten darf (Krahe 1949, 64–65). Der Suffixtyp –ατος ist im Gegensatz zum Griechischen im Lateinischen (Leumann 1977, 333), im Oskisch-Umbrischen (Planta 1897, 40–41) und eben im Illyrischen (Russu 1969, 125) vertreten. Die Verbindung des Stammes *grab- ‘Eiche’ mit dem Suffix –at– ist also für das Illyrische eine regelmäßige Bildung, und auch die Bedeutung ‘Holzbett’ ist für dieses Wort unproblematisch. Es gibt nun zwei Regionen, in denen die Griechen ein illyrisches Wort übernehmen konnten, nämlich einmal an der Nordgrenze des griechischen Sprachgebietes, zum anderen aber auch im Westen von den Messapiern, die wahrscheinlich eine mit dem Illyrischen verwandte Sprache gesprochen haben (der Grad der Ver– wandtschaft alles andere als sicher feststellbar). Die Möglichkeit eines “emprunt occidental” (Chantraine 1999, 575) ist im Falle von κράβατος bei weitem am wahrscheinlichsten, nicht nur, weil der erste Beleg für das Wort bei dem aus Sizilien stammenden und in Tarent tätigen Rhinthon (RE I A 843) steht, sondern vor allem, weil sich dann die Frage des Verhältnisses des lateinischen zum griechischen Wort problemlos löst: Nichts spricht ja dagegen, anzunehmen, dass die Römer und die Griechen der Magna Graecia unabhängig voneinander ein messapisches Wort entlehnten. Die Annahme, dass das griechische Wort direkt aus dem Lateinischen entlehnt sei (Frisk 1973, II 1), ist aus lautlichen Gründen unwahrscheinlich, weil es für die Entwicklung eines lateinischen gr- zu einem griechischen κρ- keine Parallelen gibt. Bei einer Parallelentlehnung aus dem Messapischen bereitet der unterschiedliche Anlaut jedoch keine Schwierigkeiten: Im Lateinischen werden bei Entlehnungen oft stimmhafte Konsonanten den stimmlosen vorgezogen (Sommer 1977, 151 = § 115, 2), und für das Griechische Unteritaliens ist gerade die Wiedergabe stimmhafter durch stimmlose Konsonanten charakteristisch (Shipp 1979, 107; Schmoll 1958, 88–90); noch heute ist “die Vermischung [---] stimmhafter und stimmloser Aussprache” typisch für das Griechische der Terra d’Otranto9, das die Gräzität Apuliens fortsetzt (Rohlfs 1962, 108). 3. κράβατος in den Papyri _________ 9 Die modernen Fortsetzer von κραβάτιον im Griechischen der Terra d’Otranto sind kro(v)átti und grovátti, in Südkalabrien um Bova sagt man krevátti und kurvatti (LGII 275).
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Wenn die Herleitung aus illyrisch-messapisch *grab- ‘Eiche’ + Suffix –at– richtig ist, dann ist κράβατος die ursprüngliche griechische Form. Die Wortgeschichte innerhalb des Griechischen wird in ihren Einzelheiten erst klar, wenn man die papyrologischen Belege heranzieht. Das Wort ist in der Literatur erst spät belegt: In der Neuen Komödie taucht es im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. schemenhaft auf, aber wirklich geläufig wurde es erst an der Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert n. Chr. Dazu passt nun der papyrologische Befund ausgezeichnet: Im ältesten Beleg, einer auf die Zeit zwischen 103 und 117 n. Chr. zu datierenden Liste von Haushaltsgegenständen, findet sich κράβαττος (P. Lond. II 191, 16 [S. 265]). Die Geminate –ττ– sollte man in diesem Falle nicht einfach als belanglose graphische Variante abtun, sondern sie muss wohl gesprochen worden sein, denn das Griechische Süditaliens bewahrt generell die antiken Geminaten, und die bis heute fortlebenden Nachfolgeformen kro(v)átti und grovátti müssen folglich auf κραβάττιον zurückgehen (Rohlfs 1977, 56 = § 75). Es handelt sich beim Ersatz von κράβατος durch κράβαττος sicherlich um eine “spontane Gemination”, die “überhaupt ein allgemeines Kennzeichen der Vulgärsprache” ist (Schwyzer 1953, 315). Nur die Existenz der Form κράβαττος ermöglicht schließlich die Erklärung des Typs κράβακτος, der im 4. und 5. Jahrhundert vorherrscht (s. unten). Ebenfalls ins “earlier second century” gehört ein Brief, der im wesentlichen eine Empfangsbestätigung darstellt (P. Oxy. XLII 3060, 2; 7–8): ἐκοµι[σά]µην ἐ̣φίππ[ιον] παρὰ̣ Σ̣α̣ραπᾶτος [---] | καὶ κανίσκ[ιον] ὑελοῦν καὶ κεράµιον τα|ραχίων καὶ κρ̣α̣βάτην̣ καὶ κασ̣ιτ̣έρινα ̣[ ̣]̣ ̣γ̣ ̣α τρία ‘ich empfing von Sarapas eine Satteldecke [---] und einen gläserenen Behälter und einen Tonkrug mit Salzfischen und ein Bett und drei Zinn[gegenstände]’. Hier haben wir es offenbar mit einem sonst unbelegten Femininum κραβάτη zu tun, das man nicht einfach aus der Welt konjizieren sollte10, denn es ist durchaus denkbar, dass in der Anfangsphase der Verwendung des Wortes im griechischen Alltagswortschatz, in dem wir uns ja zu Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. befinden, das Genus noch nicht ein für allemal fixiert war. Vielleicht war auch der Einfluss des sich langsam zurückziehenden Vorgängerwortes κλίνη noch groß genug, um sich auf die Form des Nachfolgewortes auszuwirken. Abgesehen von diesem vereinzelten Femininum tritt entweder als Maskulinum κράβατος oder als Neutrum κράβατον mit allerlei phonetischen Varianten auf. Die Grundform κράβατος tritt einmal in einer Geräteliste “in römischer Zeit”, wahrscheinlich im späten 2. oder im 3. Jahrhundert n. Chr., auf (SB I 4292, 9 = P. Brokl. 84, 9: κράβατος α´), ein Beleg stammt aus dem 3./4. Jahrhundert11 (P. Bon. _________ 10 In der P. Oxy.-Edition schreibt Peter J. Parsons lapidar: “κρα̣β άτην̣, if correct, must be for κραβάτιον”. Das ist aus zwei Gründen unwahrscheinlich: Erstens wird in dem ganzen Dokument die Endung –ιον immer korrekt geschrieben, und zweitens treten die ersten Papyrus-Belege für den Typ κραβάτιον erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts auf. 11 Die Herausgeberin Orsolina Montevecchi äußert sich folgendermaßen zur Datierung: “I prezzi sono tali da non permetterci di andare oltre i primi due o tre decenni del IVp; il conto è certo
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38A I 8: τιµῆς κραβάτ[ου] (δραχµαὶ) ᾿Γ), eine Migiftliste des 6. Jahrhunderts weist [κρα]β̣ατους β´ auf (SB XVI 12940, 16), und die späteste Bezeugung findet sich in einer Mitgiftliste des 8. Jahrhunderts (SB XVI 12941, 9: δαπίτιν τῶ(ν) κραβ(ά)τ(ων) α´). Eine (phonetisch leicht zu erklärende12) Variante zu κράβατος stellt κράββατος dar, das einmal in einer auf das 2./3. Jahrhundert zu datierenden Liste von Haushaltsgegenständen belegt ist, allerdings in der Ergänzung (SPP XX 67 r 33: κράβ[βα]τος α´). In P. Lond. 2, 191, 16 (zwischen 103 und 117 n. Chr.) erscheint die Variante κράβαττος. Eine weitere phonetische Form tritt im Jahre 331 in einem ärztlichen Bericht über die Untersuchung eines Verletzten auf, wo es heißt (P. Oxy. XLIV 3195, 38): τοῦ̣τον ἐφίδαµεν̣ ἐπὶ γρ[αβά]τ̣ου̣ ἐν τ̣ῷ δηµοσίῳ λογιστηρί̣[ῳ] ‘wir untersuchten diesen auf einem Feldbett im öffentlichen Gebäude’. Der stimmhafte Anlaut dieser Form ist sicherlich mit der üblichen ägyptischen Unsicherheit bezüglich der Verwendung stimmhafter und stimmloser Verschlusslaute als “result of bilingual interference from the Egyptian language in which there were only voiceless Stopp phonemes” (Gignac 1976, I 63) in Verbindung zu bringen; eine Beeinflussung durch lateinisch grabatus ist auszuschließen. Eine weitere häufige Erscheinungsform unseres Wortes in den Papyri, nämlich κράβακτος, darf man ebenfalls nicht einfach als Schreibvariante abtun. Die Hauptmasse der einschlägigen Belege fällt ins 3. und 4. Jahrhundert, sicherlich nicht zufällig in die Zeit, in der auch der Codex Sinaiticus geschrieben wurde, der diese Form ebenfalls aufweist. Die früheste sicher zu belegende Bezeugung gehört ins Jahr 266: In einer Inventarliste wird ein κράβακτος ξύλινος τέλειος ‘komplettes Holzbett’ erwähnt (P. Tebt. II 406, 19). Eine Liste von Haushaltsgegenständen aus dem 3. Jahrhundert hat in zerstörtem Kontext κραβάκτο[υς] (SB XIV 12097, 6 = ZPE 23, 1976, 214). Eine Inventarliste, die “about the middle of the 3rd century, or a little later” geschrieben wurde, spricht von κ̣ράβακτοι Αἰγύπτιοι ἰτέινοι ‘ägyptische Betten aus Weidenholz’ (P. Michael. 18 A III 8). In einem Testamentsentwurf, der “non più recente della fine del III. secolo” sein kann, wird (im Akkusativ) ein κράβακτον σὺν χαλαδρίῳ ἐξεστρωµένον ‘Bett mit Bettdecke’ (PSI IX 1040, 27) genannt. Auf einem Ostrakon des 3. Jahrhunderts ist als einziges Wort κραβάκτου lesbar (O. Bodl. II 2327). Im 4. Jahrhundert lässt die Belegdichte nach: In einem Brief werden κράβακτοι δύο ‘zwei Betten’ genannt (P. Wisc. II 76, _________ posteriore alla notevole svalutazione della moneta che si ebbi nella seconda metà del IIIp, ma anteriore a quella ben più vertiginiosa e catastrofica che caratterizza la metà del IVp”. 12 Es handelt sich (wie bei κράβαττος) um eine spontane volkssprachliche Konsonantengeminierung (Schwyzer 1953, 315), die besonders nach dem Hauptton nichts Ungewöhnliches ist (Dieterich 1908, 82). Aus dem modernen Zypriotischen und Ikarischen hat Thumb (1901, 22) nachgewiesen, dass die Geminate wirklich gesprochen wurde: “Altgriechisch β, γ, δ ist im Dialekt von Cypern und Ikaria zwischen Vokalen geschwunden (φλέες = φλέβες, καταλααίνω = καταλαβαίνω, ἀερφή = ἀδερφή, λαώς = λαγώς), und zwar schon seit geraumer Zeit, wie gelegentliche Auslassung von γ und δ in mittelalterlichen Texten Cyperns zeigt. Dieser Ausfall erstreckt sich aber nicht auf agr. ββ: Man sagt immer κρεβάτιν, σάβατον, aber nicht etwa *κρεάτιν, *σάατον, und das Lautgesetz agr. β > ø, ββ = β erweist somit die agr. Formen κράββατος und σάββατον”.
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16), und eine Briefschreiberin aus dem “later fourth century” berichtet ihrem abwesenden Ehemann: ἔλαβον ἀπὸ Σίλα κράβακτον ‘ich habe von Silas ein Bett bekommen’ (P. Oxy. LVI 3860, 19). Die Form mit –κτ– liegt mit Sicherheit dreimal als Neutrum vor. In einem “reçu pour le rachat d’une part d’héritage” vom 8. Mai 382 ist die Rede von δίφρον ἕναν | καὶ τὰ σ̣υ̣[ντ]ῖ̣νον αὐ̣τοῦ ἑρµατικ̣ὼν χράβακτων ἕν ‘einen Sessel und das damit zusammenhängende solide Bett’ (P. Gen. I 68, 9–10). Trotz der insgesamt abenteuerlichen Schreibungen, die dieser Papyrus bietet und auf deren Konto auch χρ- statt κρ- als Resultat der normalen Unklarheit über die Aspiration vor λ und ρ geht (Gignac 1976, 89–90), wird die Tatsache, dass hier wirklich ein Neutrum gemeint ist, durch die Form des Artikels und durch das Zahlwort, dessen maskuline Form ja kurz vorher vorkommt, bewiesen. Fast zweihundert Jahre später ist in einem Gesuch aus dem Jahre 567 (vgl. BL I 100) von γράβακτα κουφὰ δύο καὶ ταπήτιν κραβάκτηρον ἕν ‘zwei leichte Betten und eine Bettdecke’ (P. Cair. Masp. I 67006, 46) und von ἄλλ̣[ο ̣ ̣] κ̣ράβακτον κοῦφον ἕν ‘ein anderes leichtes Bett’ (ib. 97) die Rede. Die Pluralbildung im ersten Fall und das Zahlwort im zweiten Fall machen die Annahme des Neutrums unausweichlich. Das Anfangs-γ ist als einmaliger Schreibfehler einzustufen (vgl. oben zu γράβατος), denn sonst steht im vorliegenden Dokument immer κρ– (Z. 46, 88, 97). Das Schwanken zwischen Maskulinum und Neutrum ist an sich nichts Ungewöhnliches (Gignac 1981, II 42–43), und bei einem Wort, das nicht der Literatursprache angehört und daher nicht durch deren Normen geschützt war, können derartige Abweichungen leichter auftreten als sonst. Wie aber kam es im 3. Jahrhundert zur Herausbildung der Form κράβακτος / κράβακτον, die den Typ κράβατος vorübergehend in den Hintergrund drängen konnte? Ein ins Begriffsfeld ‘Bett’ gehöriges griechisches Wort mit –κτ– gibt es nicht, so dass die Vermutung, es handele sich um eine analogische lexikalische Beeinflussung, ausscheiden muss. Die Annahme eines Hyperkorrektismus (κράβαττος > κράβακτος), die Wilhelm Schulze (1933, 288) annahm, liegt für das Griechische, wo –ττ– statt –κτ– keineswegs geläufig ist (Schwyzer 1953, 316, nennt kein einziges Beispiel), überhaupt nicht nahe; im Lateinischen, wo sich in der Tat der für das Italienische typische Lautübergang –ct– > –tt– bereits in der Antike ankündigte, wäre eine derartige Entwicklung möglich, aber obwohl grabattus “forma posterioribus usitatior” ist (ThLL VI 2, 2128, 5–6), ist *grabactus nicht belegt, und man sollte daher nicht an die Beeinflussung der griechischen Form durch ein hypothetisches lateinisches *grabactus denken. Es bleibt also nur eine rein phonetische Erklärung übrig: Ein nicht gerade häufiges, aber doch durch Fälle wie σάββατον > σάµβατον durchaus geläufiges Phänomen ist die sogenannte “dissimilatorische Geminatenauflösung” (Schwyzer 1953, 231), und die dürfte hier vorliegen: Auszugehen ist von κράβαττος, dessen Geminate –ττ– zu –κτ– dissimiliert wurde, was κράβακτος ergab; dass die Geminate historisch gesehen sekundär ist, spielt in diesem Zusammenhang natürlich keine Rolle. Der einzige Schönheitsfehler dieses Erklärungsversuches ist darin zu sehen, dass es anscheinend keinen griechischen Parallelfall gibt, aber man darf nicht vergessen,
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dass für derartige Entwicklungen nur Wörter in Frage kommen, die wie κράβατος keine literarische Verankerung haben – und deren Zahl ist nicht übermäßig hoch. Bevor wir nun zu den Diminutivformen in den Papyri kommen, ist noch eine für die Geschichte der griechischen Sprache hochinteressante Form hervorzuheben. Im Geschäftsbuch eines Pfandleihers, das auf den Anfang des 4. Jahrhunderts zu datieren ist, findet sich die Eintragung κρέβατι β´ (SB VIII 9834 b, 45), die als κρέβατοι δύο zu lesen sein dürfte. Eine Parallele ist ist der im lateinischen Gewand belegten Form crebattum zu sehen, die im Münchener und Wiener Kodex der vielleicht Caper zuzuschreibenden Schrift de dubiis nominibus auftaucht: crebattum antiqui, nunc grabat(t)um generis neutri (5, 573, 19 Keil). Das feminine Adjektiv ist in Diokletians Preisedikt (19, 5) als κρεβαττάρια belegt. Im Neugriechischen lebt der Typ κράβατος nur in einigen Dodekanes-Mundarten weiter13, während das schriftsprachliche Wort für das ‘Bett’ κρεβάτι lautet. Man hat immer angenommen, dass der Übergang von α zu ε an die unbetonte Silbe gebunden sei, dass er also nur in der Dimininutivform κραβάτιον > κρεβάτιον und nicht im Simplex seinen Ursprung haben könnte14. Der Papyrus-Beleg macht diese Auffassung unhaltbar: Es gab schon im 4. Jahrhundert ein Simplex κρέβατος. Das letzte Wort über die besonderen Bedingungen, die speziell in der Umgebung von ρ den Übergang von α zu ε sogar in betonter Silbe möglich machten, ist noch nicht gesprochen, aber es gibt immerhin Parallelfälle (Gignac 1976, I 278–282). Jedenfalls bezeugt der Papyrusbeleg einmal mehr die Verankerung einer neugriechischen Form im antiken Griechischen. 4. Die Diminutivableitung κραβάτιον in den Papyri Literarisch ist κραβάτιον bereits bei Epiktet, also zu Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr., belegt (allerdings auch nur dort). Die ersten Papyrusbezeugungen setzen dann erst um die Mitte des 4. Jahrhunderts ein: Im “Kellis Agricultural Account Book” findet man mit einer Datierung zwischen 361 und 364 n. Chr. (P. Kell. IV 96, 612–614) die Eintragung: Βεσᾶς κλινοτό(µος) | ὑπὲρ µισθοῦ κραβά|τια (lege: κραβατίων) σίτ(ου) µ̣(ατ.) ς´, was der Herausgeber Roger Bagnall folgendermaßen übersetzt: ‘Besas the bedmaker for price of beds, 6 mat. wheat’. Aus dem 4. Jh. stammt auch P. Berl. Sarisch. 20, 4, wo von ‘zwei großen Betten’, κραβάτια µεγάλα β´, die Rede ist; man sieht, dass die verkleinernde Funktion der Diminutivform nicht mehr wahrgenommen wird. Ein κραβάτιν στροτόν (lege: κραβάτιον στρωτόν) findet man im 5./6. Jh. in SB XXIV 15961, 5. Ein Inventar von Kirchengut stammt aus dem 5./6. Jahrhundert und weist κραβάκ̣τ̣(ιον) α´ auf (P. Grenf. II 111, 32). Ungefähr gleichzeitig ist der Beleg κ̣ρ[α]β̣ά̣κ̣τ̣ι̣α̣, der sich als “sehr unsichere Lesung” in einer Steuerliste findet (P. Gron. 5, I 2). Ein einem Gesuch aus dem Jahre 571, das bereits zwei Belege für das Simplex mit –κτ– _________ 13 Andriotis 1974, 334: Leros κράββατος ‘Bett’, Kos κρίατος ‘Bett’; Leros ᾿πο-κράββατος ‘Ablage unter dem Bett’, Karpathos ἀπο-κρίατος ‘Ablage unter dem Bett’. 14 Dietrich 1898, 6–7 hatte eine einschlägige Regel formuliert: “Unbetontes α ging in der Nachbarschaft eines ρ [---] in ε über”. Albert Thumb (1901, 196–197) äußerte Zweifel an dieser Regel, ohne jedoch einen Gegenvorschlag zu formulieren.
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geliefert hat, liest man auch κραβάκτια τρία κ̣αὶ̣ κοῦφα ‘drei leichte Betten’ (P. Cair. Masp. I 67006, 88). In einer Berliner “Dialysis of Inheritance“ des 6. Jahrhunderts liest man ohne Zusammenhang κραβάτιον (SB XXIV 15957, 1). Ιn einer “list of property with values” aus dem 6. Jahrhundert tritt einmal die Form mit Doppel-τ auf: κραβάτ̣τ(ια) β´ ‘zwei Betten’ (P. Oxy. XVI 2058, 31). In den Papyri aus Nessana, also aus dem heutigen Ort Nizzana an der israelischägyptischen Grenze, taucht in einem “memorandum dashed off on a piece torn from it” im 6./7. Jahrhundert einmal κ̣ραβατίου ἑνός ‘eines Bettes’ auf (P. Ness. III 180, 8). Zum letzten Male tritt κραβάκτιον in einer Liste von Einrichtungsgegenständen aus dem 7. Jahrhundert auf: ἐν τῷ τρικλίνῳ κραβάκ̣(τιον) α´ µέγ(α) ‘in dem Triklinenraum ein großes Bett’ und ‘ein Bett des Heerführers’ (P. Oxy. XVI 1925, 4 und 15). Das ist der späteste Beleg für die κτ-Form überhaupt. Mit einer Adjektivform wird eine ‘Bettdecke’, ταπήτιν κραβάκτηρον ἕν (P. Cair. Masp. I 67006, 46), zwischen 566 und 570 n. Chr. genannt, und ταπίτιν κραββ̣[άτηρον] wird auch SB XXII 15301, 13 richtig ergänzt sein; zu verstehen ist natürlich ταπήτιον κραβάτηρον. BGU III 950, 3 taucht mit κραβατάλιον ἕν ein sonst nicht belegtes Wort auf, das vielleicht als κραβατάριον ‘Bettdecke’ zu verstehen ist; es erscheint in Diokletians Preisedikt (19, 5) adjektivisch in ἐνδροµὶς καλλίστη κρεβαττάρια λευκή (lateinisch: rachana optima grabata[ria] alba) ‘eine schöne weiße Bettdecke’. 5. Zusammenfassung der Wortgeschichte Etymologische Überlegungen, literarische Zeugnisse und Papyrusbelege erlauben zusammengenommen folgende Skizzierung der Wortgeschichte: Das ursprünglich illyrische Wort *grab–at– ‘Holzbett’ (zu *grab– ‘Eiche’ mit Suffix) wurde aus der Sprache der Messapier sowohl ins Lateinische (als grabātus) als auch ins Griechische der Magna Graecia (als κράβατος) entlehnt. Langsam wurde das Wort in der κοινή auch außerhalb seines Ursprungsgebietes geläufig, zunächst für ein ‘transportables Krankenbett’; dieser Stand ist in der Sprache des Neuen Testaments festgehalten. Sehr bald war κράβατος dann das Normalwort für ‘Bett’; dieser Stand ist zu Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. in der volkstümlichen Alltagssprache der Diatriben Epiktets bereits dokumentiert, er gilt für alle Papyrusbelege. Die Opposition der Sprachpuristen gegen die Verwendung des nichtattischen Wortes konnte κράβατος zwar nicht aus dem Alltag verbannen, wohl aber aus der Literatur: Es kommt nur bei christlichen Autoren vor, die auf die Bibelsprache zurückgreifen. Wie es bei einem nicht durch die literarische Norm geschützten Wort leicht geschehen konnte, entwickelten sich Varianten, die in den Papyri greifbar werden: Das Genus schwankte, und entweder der erste oder der zweite intervokalische Konsonant erfuhr expressive Verdoppelung, was die Voraussetzung für das Aufkommen einer Form κράβακτος mit Geminatendissimilation in der zweiten Silbe bildet, die im dritten Jahrhundert das Feld beherrscht und sich immerhin bis zum siebten Jahrhundert halten kann. Die Diminutivform κραβάτιον, wie so häufig ohne Bedeutungsunterschied gegenüber dem Simplex
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gebraucht15 (Friedrich 1916), ist in den Papyri frühestens in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts zu belegen, beherrscht aber dann die Szene: Nur ein einziges Mal ist das Simplex nach dem 6. Jahrhundert bezeugt. Es lässt sich also schon die weitere Entwicklung erahnen, deren Schlusspunkt wir im Mittel– und Neugriechischen sehen: Die Diminutivform wird zum Normalwort für ‘Bett’. Ein Papyrusbeleg der Form κρέβατι = κρέβατοι aus dem 4. Jahrhundert beweist zudem, dass auch der Vokalismus des modernen κρεβάτι bereits antike Wurzeln hat. Diese Wortgeschichte hätte ohne das Zeugnis der Papyri auch nicht annähernd entworfen werden können: Wenn man sich nur auf die literarischen Zeugnisse stützt, dann ist beispielsweise der beherrschende Typ des 3. Jahrhunderts, κράβακτος, nichts weiter als eine kuriose Graphie des Codex Sinaiticus, und κράβαττος macht den Eindruck eines Schreibfehlers, der wegkonjiziert werden muss, am besten tacite. Andererseits bedarf auch die Papyrologie der Erkenntnisse der Sprachwissenschaft: Erst die Etymologie ermöglicht ein Urteil darüber, was die Ausgangsform ist, was Varianten dazu sind, und erst ein Blick auf die Verhältnisse in neugriechischen Dialekten macht es wahrscheinlich, dass die verschiedenen Doppel- und Einfachschreibungen von Konsonanten tatsächlich unterschiedlich gesprochene Parallelformen wiedergeben.
_________ 15
Völlig eindeutig bei κραβάκ̣(τιον) α´ µέγ(α) ‘ein großes Bett’ (P. Oxy. XVI 1925, 4).
20. πέλµα / pelma, πῆγµα / pegma Abstract: Romance words like Rumanian pielm ‘wheat flower’, Ladin pelma ‘honeycomb’, Spanish pelmazo ‘plump, silly’ are to be derived from Greek πέλμα, Latin pelma ‘sole of a shoe’. Formal and semantic arguments exclude any connection of the Romance elements with Greek πῆγμα ‘stabilising devices, frame, scaffolding’ (with many papyrus attestations), a solution which has wrongly been favoured by most Romanists since the end of the 19th century. Keywords: pelma, pegma, sole of a shoe, honeycomb, frame
1. Die Etyma πῆγµα und πέλµα in der romanistischen Diskussion Wilhelm Meyer-Lübke hat im Romanischen Etymologischen Wörterbuch unter der Nummer 6364 einige Wörter aus den Randgebieten der Romania einem griechischen Etymon pēgma ‘geronnener Körper’ zugeordnet: rumänisch pielmă ‘Weizenmehl, das dem Teige zum Maisbrot beigemengt wird, um ihm genügend Festigkeit zu geben’, lombardisch, obwaldisch (= surselvisch), grödnerisch pelma ‘Honigwabe, Honigfladen’, andalusisch pelma ‘Klumpen’. Einer größeren Verbreitung in einer Schriftsprache erfreut sich nur die spanische Ableitung pelmazo ‘plump, schwerfällig’. Es lohnt sich, der Geschichte dieser Etymologie in der Romanistik und gleichzeitig der Wortgeschichte von πῆγµα/pēgma sowie seines “Konkurrenzetymons” πέλµα/pĕlma in den klassischen Sprachen nachzugehen, wobei den papyrologischen Zeugnissen eine wichtige Rolle zukommt. Der erste Ansatz zu einer Etymologie von spanisch pelmazo gehört in die vorwissenschaftliche Epoche der Sprachforschung. In seinem Tesoro de la lengua castellana o española schrieb Sebastián de Covarrubias im Jahre 1611: PELMAÇO. Llamamos una cosa pesada y aplastada, del nombre griego πέλµατος, planta pedis, porque parece cosa aplastada con el pié. Die Verbindung mit griechisch πέλµα ‘Fußsohle’ griff dann der Vater der wissenschaftlichen Romanistik, Friedrich Diez, auf (1887, 476; so schon in der ersten Auflage von 1853): P e l m a z o sp. schwerfällig, sbst. platt gedrückte Masse; nach den span. Etymologen vom gr. πέλµα Fußsohle, gleichsam damit platt getreten. Läßt man das Etymon zu, so faßt man das Adj. besser auf als breitfüßig, schwer auftretend, wie fr. pataud schwerfällig, von patte. Die Formulierung lässt erkennen, dass Friedrich Diez vom Vorschlag seiner spanischen Vorgänger nicht wirklich überzeugt war, aber eine bessere Lösung bot
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sich zunächst nicht an. Im ersten Band der Romanischen Forschungen schlug Gottfried Baist eine völlig andere Richtung ein (1883, 442): pelma, pelmazo. Wie bei enxalma sagma, delma decuma dürfte lm hier auf gm in pegma zurückgehen, das nicht in der lateinischen Überlieferung, wohl aber in πῆγµα (πήγνυµι) der Bedeutung des spanischen Wortes genügt. Für das dolomitenladinische pèlma ‘Honigfladen’ war derselbe Weg schon mehr als ein Jahrzehnt früher von Christian Schneller beschritten worden (1870, 243): pèlma [buch. grd.] s. f. Honigfladen. Ebenso pelma in Val di Scalfe [bresc.]. Wie it. sp. salma aus spätlat. sagma, gr. σάγµα, so pèlma aus lat. *pegma, gr. πῆγµα, den Honigfladen mit den Zellen als Zusammengefügtes bezeichnend. Carolina Michaëlis (1885, 142) brachte den spanischen und den alpenromanischen Lösungsansatz zusammen, indem sie bei der Behandlung des spanischen Wortes auf die Ausführungen von Christian Schneller verwies. Wilhelm MeyerLübke fügte noch die rumänische Form pielm1 hinzu, die er im rumänischdeutschen Wörterbuch von Hariton Tiktin gefunden hatte2. Über den hier skizzierten, im Grunde schon vor dem Ersten Weltkrieg erreichten Stand ist die Diskussion bis heute nicht hinausgekommen: Die meisten etymologischen Wörterbücher plädieren mehr oder weniger überzeugt für πῆγµα (FEW 8, 153; DCECH 4, 463–465; Cioranescu 1966, 621 = 2000, 596 [Nr. 6359]; Cortelazzo/Marcato 1998, 327; EWD 6, 334–335), aber auch der Ansatz πέλµα taucht noch auf (DLR VIII 2, 559; Tiktin 1989, III 73). Eine wirklich gründliche Wortgeschichte, die sowohl das Auftreten von πῆγµα und πέλµα in den antiken Sprachen, von den literarischen bis zu den papyrologischen Belegen, als auch eine möglichst lückenlose Erfassung der romanischen Nachfolgeformen beinhalten muss, kann der alten Diskussion auf jeden Fall neue Facetten hinzufügen. _________ 1 W. Meyer-Lübke schreibt irrtümlicherweise pielmă, aber diese Form gibt es nicht. H. Tiktin (1989, III 73; genauso in der ersten Auflage) hat nur pielm n., ebenso das DLR VIII 2, 559, die beide noch die Dialektvariante chelm (innerhalb eines moldauischen Textes) und die walachischen Nebenformen p(i)emn, pemn anführen. Tiktins etymologischer Kommentar lautet: “Gr. πέλµα ‘Sohle’, daher wohl zunächst ‘unter den Teig, damit er nicht anklebt, gestreutes Mehl’. Von demselben Wort u. nicht von πῆγµα ‘Gefüge’ dürften wohl auch stammen rät. pelma ‘flaches Backwerk’, berg. pelma ‘Honigwabe’, andal. pelma ‘Klumpen’, sp. pelmazo ‘fest zusammengepresst’”. Das rumänische Wort gehört nicht der normalen Umgangssprache an; nach dem DLR VIII 2, 559, ist es “popular” in der Bedeutung ‘făină de grîu, de porumb sau (mai rar) de alte cereale (de cea mai bună calitate’ und “învechit” in der Bedeutung ‘aluat, cocă; plămădeală’. 2 In der ersten Auflage von 1911 heißt es unter dem Etymon pēgma (griech.) noch (REW 6364): “Rum. pielmă ‘Weizenmehl, das dem Teige zum Maisbrot beigegeben wird, um ihm genügend Feuchtigkeit zu geben’ kann dagegen auf pelma beruhen, Tiktin, Wb.”. In der dritten Auflage von 1935 ist die rumänische Form hingegen vorbehaltlos zu den anderen Wörtern, die von pēgma hergeleitet werden, gestellt worden, und jeder Hinweis auf pelma ist weggefallen.
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2. πῆγµα im Griechischen Im Griechischen hat πῆγµα, ein zum Verb πήγνυµι ‘fest machen’ (und dann ‘befestigen, zusammenfügen, gerinnen lassen, gefrieren lassen’ usw.) gehöriges abstraktes Neutrum, die Grundbedeutung ‘anything fastened or joined together’ (LSJ 1399). Es gibt zwei Bedeutungsstränge, die man mit einiger Phantasie als “aktivisch” und “passivisch” bezeichnen könnte. Die aktivische Bedeutung hat den Grundsinn “was fest werden lässt”, also ein ‘Gegenstand, der die Verfestigung fördert’. Der einzige sichere Beleg in dieser Richtung findet sich bei Aristoteles, wo die Beigabe, die zum Gerinnen der Milch führt, πῆγµα genannt wird. Es heißt in der historia animalium (3, 6 = 516a, 2–4): ἔστι δ᾿ [---] ἡ πῆξις [---] πλαδῶσα, καθάπερ ἡ τοῦ γάλακτος, ἄν τις εἰς αὐτὸ τὸ πῆγµα µὴ ἐµβάλλῃ.
Die Gerinnung erfolgt in feuchter Form, wie es auch bei der Milch der Fall ist, wenn jemand kein Lab (πῆγµα) hinzugibt.
Diese fachsprachliche Verwendung im Sinne von ‘Lab’ ist in der Literatur sonst nicht wieder belegt, aber sie lebt noch heute in den griechischen Mundarten Unteritaliens: Otranto pímma n. ‘presame, caglio’, auch ‘seme genitale’, Bova to pímma ‘il coagulamento’ (LGII 399); in den übrigen griechischen Mundarten hat sich das Wort nirgends erhalten können (Andriotis 1974, 451 = Nr. 4879). Fachsprachliche Termini aus dem Wortschatz der Bauern und Hirten sind uns aus der Antike nur ausnahmsweise überliefert. Wenn also ein Wort wie πῆγµα ‘Lab’ zufällig bei Aristoteles auftaucht und dann in der süditalienischen area laterale des griechischen Sprachraumes weiterlebt, dann dürfen wir annehmen, dass es in der ländlichen Umgangssprache geläufig war, bis es durch das spezifischere πυτία (neugriechisch πυτιά) ersetzt wurde. Die zweite, sozusagen “passivische”, Grundbedeutung von πῆγµα ist viel üppiger belegt; sie kreist um den Sinn “was fest geworden ist”. Das kann ganz konkret gemeint sein: Polybios spricht beim Bericht über Hannibals Überquerung der schneebedeckten Alpen davon (3, 55, 5), dass jedes gestürzte Lasttier im frischen Schnee nicht wieder aufstehen konnte, weil es ἔµενε µετὰ τῶν φορτίων οἷον καταπεπηγότα διά τε τὸ βάρος καὶ διὰ τὸ πῆγµα τῆς προϋπαρχούσης χιόνος.
mit den Lasten wie festgefroren blieb infolge des Gewichts und der Erstarrung des zuvor gefallenen Schnees.
Kann man an dieser Stelle noch sagen, dass die Verwendung von πῆγµα durch das vorangegangene Verb καταπήγνυµι ‘festfrieren’ provoziert wurde, so ist die Formulierung πιµελὴ δὲ τὸ λιπαρώτατον πῆγµα τῆς τροφῆς ‘Speck ist die fetteste Erstarrung der Nahrung’, die im ersten oder zweiten nachchristlichen Jahrhundert beim Mediziner Rufus (onom. 215–216) zu finden ist, nicht durch das Auftreten eines entsprechenden Verbs in der Umgebung zu erklären. Die Septuaginta-Übersetzer gaben das hebräische [ נדnet] ‘Wall, Mauer’ mit πῆγµα wieder: Als die Israeliten unter Josuas Führung über den Jordan gingen, wurde das zu Tal fließende Wasser in seinem Lauf gehindert, um den Durchzug zu ermöglichen – es “blieb als ein einziger Wall stehen” (Jos. 3, 16: ἔστη πῆγµα
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ἕν = אחד-)קמו נד3 – gemeint ist hier das ‘feste Material’, das aus dem flüssigen Wasser geworden ist. Eine konkrete Bedeutung von πῆγµα kann ‘Gefüge, Zusammenfügung, Zimmerung’ sein; diese Bedeutung schrieb Friedrich Preisigke (1927, II 303) den drei Papyrusbelegen zu, die er kannte. In der Tat kommt man mit diesem Sinn bei P. Oxy. VI 921 recto am weitesten: Es handelt sich um “a lengthy third-century account”, aus dem wegen des schlechten Erhaltungszustandes nur einige Zeilen ohne Kontext publiziert sind, so auch πήγµατος γ̣ουβεναρίων (sic) ἐρικίνω̣ν̣, das mit Preisigkes Übersetzung ‘Anfertigung von Steuerrudern aus Erikaholz’ sicher adäquat wiedergegeben ist. Die beiden anderen Stellen, die Preisigke zitiert (P. Lond. III 1177, 176 und SPP XX 211, 12/14), lassen sich jedoch mit ‘Gefüge’ nicht wirklich verstehen, sondern setzen die Einordnung in die literarischen Bezeugungen voraus. Viele Belege kreisen um die Grundbedeutung ‘Gestell’ oder ‘Gerüst’, was ja, anders gesagt, eine Einrichtung ist, die dem, das sie umschließt, Festigkeit verleiht. In der Philon von Byzanz zugewiesenen Beschreibung der Sieben Weltwunder ist in der Darstellung des Kolosses von Rhodos die Rede davon (4, 5), dass die Konstruktion Lage für Lage fortschritt und dass dabei τὸ πῆγµα τῆς σχεδίας ἐτηρεῖτο ‘das Gerüst aus Bretterwerk bewahrt blieb’. Strabon berichtet, wie ein gewisser Seluros mit dem Beinamen Sohn des Aetna bei Gladiatorenspielen zu Tode gebracht wurde (6, 2, 6): ἐπὶ πήγµατος γάρ τινος ὑψηλοῦ τεθεὶς ὡς ἂν ἐπὶ τῆς Αἴτνης διαλυθέντος αἰφνιδίως καὶ συµπεσόντος κατηνέχθη καὶ αὐτὸς εἰς γαλεάγρας θηρίων εὐδιαλύτους ἐπίτηδες παρεσκευασµένας ὑπὸ τῷ πήγµατι.
Er wurde auf ein hohes Gerüst wie auf den Aetna gesetzt, und als dieses plötzlich aufgelöst wurde und zusammenbrach, fiel auch er selbst in die zerlegbaren Käfige der wilden Tiere, die unter dem Gerüst aufgebaut waren.
In den Beschreibungen von Apparaturen verwendet Heron von Alexandria πῆγµα mehrfach. Ein rechteckiges oder quadratisches ‘Gestell’ ist natürlich eine Art ‘Rahmen’, und in diesem Sinne fasst Heron das Wort πῆγµα bei seiner Beschreibung der ‘Schildkröte’, einer schlittenartigen Lastenschleife, auf (mech. fr. Gr. 3, 1): τὰ µὲν οὖν ἀγόµενα ἐπὶ τοῦ ἐδάφους [---] ἐπὶ χελώναις ἄγεται· ἡ δὲ χελώνη πῆγµά ἐστιν ἐκ τετραγώνων ξύλων συµπεπηγός, ὧν τὰ ἄκρα ἀνασεσίµωται.
Was auf dem Boden bewegt wird, wird auf Schildkröten bewegt; die Schildkröte ist ein Rahmen, der aus vierkantigen Hölzern, deren Enden nach oben umgebogen sind, zusammengesetzt ist.
_________ 3
Symmachos, der pedantische Wort-für-Wort-Übersetzer des 2. Jahrhunderts nach Christus, bot hier ἄσκωµα ‘Fernhalter’ statt πῆγµα, vgl. Theodoret. quaest. in Jos. (PG 80, 461): τὸ µέντοι πῆγµα ἄσκωµα ὁ Σύµµαχος ἡρµήνευσεν· ἐπεχοµένη γὰρ ἡ τῶν ὑδάτων ἡ ῥύµη οἷον ἠσκοῦτο καὶ ἐκορυφοῦτο· παντὸς γὰρ ἀδαµαντίνου τείξους πλέον ἐπεῖχεν αὐτὴν ὁ τοῦ ὅρος.
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Vgl. auch Her. pneum. 1, 43: ἡ δὲ χελώνη πῆγµά ἐστιν ἐκ τετραγώνων ξύλων συµπεπηγός ‘die Schildkröte ist ein Gestell, das aus viereckigen Hölzern zusammengefügt ist’. Bei der Beschreibung der Hebewinde sagt Heron (mech. fr. Gr. I 1 = dioptr. 37): κατεσκευάσθω πῆγµα καθάπερ γλωσσόκοµον· εἰς τοὺς µακροὺς καὶ παραλλήλους τοίχους διακείσθωσαν ἄξονες παράλληλοι.
Es werde ein Rahmen gefertigt wie ein Kasten; in dessen parallele Längswände sollen parallele Achsen eingefügt werden.
In der Mechanik wird schließlich jedes ‘Gehäuse’ als πῆγµα bezeichnet, also, wenn man so will, als Gestell mit geschlossenen Außenwänden. Bei Heron von Alexandria beginnt die Beschreibung einer Zahnradkonstruktion (dioptr. 37): κατεσκευάσθω πῆγµα καθάπερ γλωσσόκοµον ‘es werde ein Gehäuse in der Art eines Flötenkastens angefertigt’. An einer anderen Stelle heißt es in ähnlichem Zusammenhang (dioptr. 34): γεγονέτω οὖν πῆγµα καθάπερ κιβώτιον ‘es werde ein Gehäuse in der Art eine Kästchens hergestellt’. In weniger technischem Kontext war πῆγµα dann einfach ein Synonym von κιβωτός und bedeutete ‘Kasten’. So vergleicht beispielsweise im 1. Jahrhundert v. Chr. der Epigrammatiker Meleager ungalanterweise eine gealterte Dame mit einem abgewrackten Schiff (Anth. Pal. 5, 204, 1–2): οὐκέτι Τιµαρίου τὸ πρὶν γλαφυροῖο κέλητος Der einst schnittigen Jacht Timarion πῆγµα φέρει πλωτὸν Κύπριδος εἰρεσίη schwimmenden Kasten bewegt nicht mehr der Ruderschlag der Venus. πῆγµα ‘Gerüst, Gestell’ kommt in der Literatur auch in übertragener Bedeutung vor: Schon Aischylos schreibt im 5. Jh. v. Chr. (Agam. 1198–1199): καὶ πῶς ἂν ὅρκου πῆγµα, γενναίως παγέν, | παιώνιον γένοιτο; ‘und wie soll das Gerüst des Eides, fest gefügt, noch heilend wirken?’. Philon von Alexandria bemerkt (congr. erud. 21 = 1, 536): τὸ γὰρ ὅλης πῆγµα σοφίας ἀριθµὸν τέλειον εἴληχε, δεκάδα ‘das Gerüst der ganzen Weisheit stellt eine vollkommene Zahl, die Zehn, dar’. Im 4. Makkabäerbuch ist davon die Rede, dass der jüdische Held nicht stöhnte, obwohl ‘er schon das Knochengerüst kaputt hatte’ (9, 21: περιτετµηµένον ἤδη ἔχων τὸ τῶν ὀστέων πῆγµα). Diese Ausdrucksweise findet sich auch bei den Kirchenschriftstellern wieder: So schreibt Athanasios in der Lebensbeschreibung der heiligen Synkletika (PG 28, 1505); καὶ λοιπὸν ὁράτω πῆγµα ὀστέων ψιλῶν δυσειδές ‘und ferner betrachte man das unschöne Gerüst der nackten Knochen’. In den Papyri ist die Verwendung von πῆγµα im Sinne von ‘Gestell’ nicht ungewöhnlich. Diese Bedeutung liegt beispielsweise in dem auf 113 n. Chr. zu datierenden P. Lond. III 1177, 176 vor, der Maßnahmen zur Sicherung der städtischen Wasserversorgung von Ptolemais Euergetis = Krokodilopolis (später Arsinoë) behandelt. In den Z. 64–392 des umfangreichen Papyrus werden die Aufwendungen für das Personal und die Reparatur der wassertechnischen
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Anlagen abgerechnet, wobei es in den Z. 175–225 um das Holz für die Instandhaltung der Wasserschöpfeinrichtungen geht. Z. 175 stellt eine Art Überschrift der Rubrik dar: τιµῆς ξύλων εἰς ἐπισκευὰς µηχ(ανῶν) ‘zum Preis der Hölzer für die Reparatur der Maschinen’. Es handelt sich also wohl um bereits vorbereitete Holzstücke, die zur Reparatur der archimedischen Schrauben eingesetzt werden, wie aus Z. 176–177 deutlich wird: Παχώ(ν)· κυπαρ[ίσσων] β´ εἰς πήγµατα [κ]οχλιῶ(ν) (δρ.) δ´, | ἄλλων ξύλ(ων) ἀκανθ(ίνων) β´ ὁµοίως (δρ.) γ´ ‘Pachon. Für 2 Zypressenhölzer für Gestelle archimedischer Schrauben 4 Drachmen, | für weitere 2 Akazienhölzer ebenso 3 Drachmen’. Wie man sich das vorzustellen hat, ist den Ausführungen von Wolfgang Habermann (2000, 203– 206) zu entnehmen, die in gekürzter Fassung folgendermaßen lauten: Vereinfacht dargestellt besteht eine archimedische Schraube aus einem walzenförmig zugerichteten Stück Holz bzw. Pfahl als Rotorwelle, an der die spiralischen Schraubenwindungen aus geschmeidigen, gepichten Hölzern angebracht sind; als Verschalung, d. h. als Gehäuse mit faßartigem Aussehen, dienen wasserdicht gemachte Bretter, die z. B. mit eisernen Reifen zusammengehalten werden und fest mit der gesamten Vorrichtung verbunden sind. Die Enden der Rotorwelle sind mit eisernen Zapfen ausgestattet, die in Lagern eines Holzgestells laufen, das die freie Rotation des ganzen Körpers ermöglicht. Da Kurbeln bisher nicht nachgewiesen werden konnten und antike Darstellungen Personen ‘auf den Schrauben’ bezeugen, geht man davon aus, daß auf das bewegliche Gehäuse genagelte einfache Querhölzer als Trittbretter fungierten, die archimedische Schraube also durch Treten in Bewegung gesetzt wurde. [--] Bei dieser Antriebsart mußte sich der Arbeiter an einer – auf den Darstellungen nachgewiesenen – Querstange o. ä. festhalten. [---] Es ist daher unausweichlich, die πήγµατα in unserem Papyrus als die Rahmengestelle zu deuten, in die die archimedischen Schrauben für die Rotation ‘eingehängt’ wurden und in denen man sich darüber hinaus auch die ‘tretenden’ Bediener vorstellen muß. [---] Auch der Aspekt des eingesetzten Reparaturholzes – es werden κυπαρ[ίσσων] β´ abgerechnet – läßt sich mit der hier gegebenen Deutung von πήγµατα vereinbaren, denn man verwendete das in dieser Sektion erscheinende harte und feuchtigkeitsresistente Zypressenholz vornehmlich für besonders strapazierte Konstruktionsteile. Die Bedeutung ‘Gestell’, genauer vielleicht ‘Rahmenkonstruktion’, lässt sich auch bei P. Dublin 31, 11 und 16, für πῆγµα verteidigen. Es handelt sich hier um den Mietvertrag einer halben Leineweberwerkstatt (Z. 8–9: µέρος ἥµισυν̣ ἐργαστηρίου | λινουφικοῦ) mit zwei πήγµατα und ihrem Zubehör (Z. 11–12: σὺν πύγµασι δυσὶ καὶ ἐξαρτίαις | αὐτῶν), und als Miete für die zwei πήγµατα erklärt sich der Mieter bereit, zehn Leinenstücke bei Bereitstellung des Materials durch den Vermieter zu weben (Z. 15–18: ὑπὲρ δὲ ἐνοικίου τῶν | πυγµάτων δύο ὑφαίνων | λίνα δέκα, σοῦ παρέχοντος | τὰ λίνα). Der Ersteditor Brian McGing schrieb
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zögernd (1990, 120): “I would suggest that πῆγµα must mean something like ‘loom-frame’”, also ‘Webstuhl-Rahmen’, wobei er aber zu bedenken gab: “It is, however, difficult to see what could constitute a loom-frame, as opposed to the loom itself”, und zu dem Schluss kam: “It is tempting to think that by extension, πῆγµα just amounts to another word for loom”. Wolfgang Habermann gelang es, dieses Problem schlüssig zu erklären (2000, 204–205): Meines Erachtens kann man hier ohne Schwierigkeiten als Bedeutung ‘Rahmenkonstruktion, Gestell’ annehmen, denn beim Webstuhl sind z. B. Zeug- und/oder Kettenbaum als in einem Holzgestell eingelassene Walzenkonstruktionen sehr gut vorstellbar. Gestützt wird diese Deutung auch durch eine Passage bei Hero von Alexandria, in der er über Windmotoren spricht: Die Antriebsflügel für die Anlage laufen um eine Achse, die περὶ κνώδακας σιδηροῦς ἐν πήγµατι δυναµένῳ µετάγεσθαι, d. h. die Achse bewegt sich ‘um eiserne Zapfen in einem beweglichen Gestell’, das immer nach der Windrichtung ausgerichtet werden kann. Eine andere Spezialisierung der Bedeutung ‘Gestell’ liegt vor, wenn die ‘Türrahmen’, also die senkrechten Balken der Türeinfassung, die als eine Art Gestell oder Gerüst die Türe seitlich einfassen, πήγµατα genannt werden. Die klarste Definition liefert Hesych s. v. σταθµοί ‘Pfosten’: ἡ τῶν θυρῶν παράστασις, καὶ τὰ ἑκατέρωθεν τῶν θυρῶν ξύλα, ἃ νῦν πήγµατα καλοῦµεν ‘die Einfassung der Türen, und die Hölzer auf jeder Seite der Türen, die wir jetzt πήγµατα nennen’. In diesem Sinne ist das Wort auch mehrfach in dokumentarischen Papyri bezeugt. In einem in das 3. Jahrhundert n. Chr. zu datierenden Hausinventar aus Oxyrhynchos (P. Oxy. XVII 2146, 9) ist die Rede von einer θύρα κέλλας σὺν κερατέᾳ καὶ πήγµασι καὶ ἐπιστά[θµῳ] ‘Tür eines Zimmers mit Johannesbrotbaumtäfelung (?) und mit Türrahmen und mit einem Pfosten’4. Die Bedeutung ‘Türrahmen’ wird πῆγµα auch einige Zeilen weiter haben, wo sich kein Zusammenhang mehr rekonstruieren lässt (P. Oxy. XVII 2146, 12): στοᾶς σὺν πήγµασι κάγκελλοι µ̣εγ[άλοι]. Für SPP XX 211, 12 (5./6. Jh.), bietet sich dasselbe Verständnis an: τιµ(ὴ) ξύλ(ων) εἰς λόγ(ον) πυγµ(άτων) τοῦ θυρ(ίου) muss heißen ‘Preis der Rahmen der Türen’. Zwei Zeilen weiter wird eine Bezahlung (ὑπὲρ) πηγµά(των) τοῦ λούτρου verbucht, wobei man wohl an die Türrahmen beim Eingang zum Bad denken wird5. Obwohl der Zusammenhang nicht mehr rekonstruierbar ist, wird man auch in einem Pachtvertrag des 3. Jahrhunderts n. Chr. über ein öffentliches Bad πήγµατα als ‘Türrahmen’ verstehen (SB VIII 9921, 16–17 = P. Harr. I 79, 16–17): καὶ _________ 4
Geneviève Husson (1983, 94) kommentiert: “Seul le sens de πῆγµα, cheville, est sûr; κερατέα n’est pas attesté dans un autre emploi que celui de l’espèce arboricole du caroubier; ἐπισταθµός pourrait signifier montant de porte, come le simple σταθµός”. Denkbar, aber im Zusammenhang doch weniger passend wäre ἐπισταθµός ‘image placed at a door’ (LSJ Suppl.) bzw. ‘posto presso la porta, di statuetta’ (F. Montanari, Voc. della lingua greca), vgl. Callim. epigr. 24 Pfeiffer. 5 Preisigke (1927, II 303) ging von ‘Zimmerung’ aus und hat deswegen die Abkürzung als Singular πήγµ(ατος) aufgelöst.
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ἐπ̣ο̣ικο[δοµ---] | [τὸ βαλαν]εῖον σὺν ταῖς θύραις πή̣γµασιν τοῦ µὲν ἀργυ[--- ‘wir werden das Bad erbauen mit den Türen, den Rahmen ---’. Ein ‘Rahmen’ ist auch Gegenstand in einem in zwei Ausfertigungen erhaltenen Landverkauf aus dem Jahre 302 n. Chr., in denen πῆγµα zur Feldbeschreibung verwendet wird. P. Mich. XII 636, 9–10, und P. NYU 20, 10–11, bieten folgende Angaben zur Bestimmung der Lage eines Grundstücks: ὧν γίτονες καθὼς ἡ πρ̣ο̣[κειµέ]ν̣η ἀπογραφὴ [περιέ]χι, τῆς µὲν ἐπὶ τῆς α´ σφραγῖδος ἰδιωτικῆς τε καὶ βα-| σιλεικῆς γῆς πάσης οὔσης ἐν ἑνὶ πήγµατι, ἀπὸ µὲν ἀνατολῶν Πτολλᾶ κτῆσ̣[ι]ς, ἀπὸ δὲ δ̣υσµῶν διῶ̣[ρυξ ---]
dessen Nachbarn sind, wie es die obige Aufstellung enthält, für das Privat- und Königsland in der ersten Parzelle, das vollständig in einem πῆγµα liegt, im Osten der Besitz des Ptollas, im Westen ein Kanal…
Gerald Browne hatte in P. Mich. XII (S. 35) ἐν ἑνὶ πήγµατι mit ‘which is all in one block’, Naphtali Lewis hat für P. NYU 20 (S. 45) ebenso ‘all forming one block’, aber das ist natürlich nur eine ungefähre Bedeutung. Wieder hilft Hesych weiter. Er erklärt s. v. πλαίσιον: διὰ ξύλων τετράγωνα πήγµατα ‘längliches Viereck: aus Holz geformte viereckige Rahmen’. Man wird also den Wortlaut des Pa– pyrus genauer mit ‘das Land der ersten Parzelle, das in einem Rechteck (“Geviert”) liegt’ übersetzen. Zusammenfassend kann man also für das Griechische sagen, dass der von der Grundbedeutung ‘was fest geworden ist’ oder ‘was Festigkeit verleiht’ ausgehende Sinn ‘Gerüst, Gestell, Rahmen’ ist; einige sekundäre Bedeutungen sind damit vereinbar. Das Wort gehörte der Alltagssprache an und kommt daher in den Papyri vor. 3. pēgma im Lateinischen Wenden wir uns nun dem Lateinischen zu! Nach Auskunft des Thesaurus linguae Latinae (X 1, 984, 13–65) treten neben der Normalform pēgma die Varianten pigma (eine Form mit griechischem Itazismus, d. h. mit der für die Spätantike normalen Aussprache des η als i) in einer Prudentiushandschrift des 6. Jahrhunderts und pecma “in codicibus recentioribus” auf. Aus romanistischer Sicht ist aber eine Form weit interessanter, die in der Appendix Probi geboten wird, wo es in Zeile 85 heißt: pegma non peuma (4, 198, 11 Keil). Zur Erklärung ist daran zu erinnern, dass das griechische γ in vorkonsonantischer Stellung in der Römerzeit jedenfalls längst spirantisiert worden war (Schwyzer 1953, 209) und wohl als stimmhafter “frictionless continuant” auftrat (Sturtevant 1940, 87), also etwa wie ein englisches w klang. Für einen Römer lag es nahe, für diesen aus γ entstandenen Laut, für den das lateinische Alphabet kein Zeichen hatte, den Buchstaben zu schreiben, der dem Lautwert am nächsten kam, eben u. Für –γµ– > –um– gibt es einige Parallelen wie φλέγµα > fleuma, χάραγµα > carauma und vor allem σάγµα > sauma (Battisti 1949, 165; Schuchardt 1868, II 499), und eine hyperkorrekte Aussprache könnte sogar dazu geführt haben, dass genauso, wie sauma zu salma “verbessert”
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wurde6, aus peuma ein neues *pelma entstand – Belege für diese Annahme gibt es freilich nicht. Die hauptsächliche griechische Bedeutung ‘Gerüst, Gestell’ liegt auch im Lateinischen vor, allerdings nicht in besonders vielen Fällen. Beim Juristen Ulpian (dig. 33, 7, 12, 25) sind es Fenstergläser und die sie haltenden Gestelle, also die Fensterrahmen, die beim Erwerb eines Hauses zur Kaufmasse gehören: specularia quoque adfixa magis puto domus esse partem: nam in emptione domus et specularia et pegmata cedere, siue in aedificio sunt posita siue ad tempus detracta.
Noch mehr glaube ich, dass fest angebrachte Fenstergläser ein Teil des Hauses sind, denn beim Hauskauf tritt man auch Fenstergläser und -rahmen ab, ob sie nun am Hause angebracht oder rechtzeitig abgebaut sind.
Bei Cicero (ad Att. 4, 8a, 2) wird pegmata für ein ‘Büchergestell’ verwendet, Ausonius (epigr. 45, 10 = p. 306 Prete) meint damit ein ‘Gestell für Gemälde’, also einen ‘Bilderrahmen’7. Alle anderen – ziemlich zahlreichen (ThLL X 1, 984, 31–60) – lateinischen Belege beziehen sich auf “apparatus vel ornamenta mobilia, quae in spectaculis variis adhibentur”, also auf Theatermaschinen, Aufbauten bei Gladiatorenspielen, Stierkampfarenen usw. Natürlich liegt hier eine Weiterentwicklung von griechisch πῆγµα ‘Gerüst’ vor, aber die Spezialbedeutung ist nur lateinisch, an den Kontext der Begeisterung der Römer für spektakuläre Schauspiele gebunden. Diese, und nur diese, Bedeutung liegt sowohl in den spätantiken und frühmittelalterlichen Glossaren (CGL 2, 589, 11 theatrale machinamentum; 5, 38, 19 = 91, 16 = 132, 45 est genus machinamenti in theatris exhiberi soliti, quo arte mechanica scenici _________ 6 Niedermann 1905, 461: “Es ist jedoch a priori wahrscheinlich, dass irrige Rückschlüsse [---] vom Volke auch beim Sprechen gemacht wurden, und dass die daher rührenden Unformen, wenn sie sich einigermassen häufig wiederholten, schliesslich festen Fuss fassen mussten. Das ist tatsächlich geschehen mit salma (cf. Isidor, orig. XX 16, 5: sagma quae corrupte vulgo dicitur salma, und italienisch salma ‘Last’, spanisch salma, xalma ‘leichter Packsattel’, dann auch ‘Tonnengehalt’), das der sich korrekt ausdrücken wollende gemeine Mann an Stelle des vulgären sauma (französisch somme ‘Packsattel, Last’, althochd. soum ‘Last eines Saumthieres, Saumthier’) setzte, weil in gewissen Gegenden l vor Konsonant einen dem u sich stark nähernden sonus pinguis hatte (cf. z. B. cauculus, cauculator, cauculosus, häufig in den Glossen und Schriftstellertexten späterer Zeit, statt calculus, calculator etc.)”. 7 Hier liegt ein Anknüpfungspunkt zu einem Papyrusbeleg (PSI XII 1265, 6–7) vor. In einem auf 426 oder 441 n. Chr. zu datienden Bericht über die Wahl von Aurelius Chairemon zum Vorsitzenden einer Gesellschaft heißt es: τὰ δὲ ἀναλώµατα ἐπιγνῶναι | [ἡµ]ᾶ̣ς κατὰ πῆγµα καὶ κατὰ τὴν ἀρχαίαν συνήθιαν ‘die verschiedenen Auflagen werden wir bezahlen gemäß dem πῆγµα und gemäß der alten Gewohnheit’. Die Ersteditorin Medea Norsa meinte, “πῆγµα [---] indicherà una o più tavole ovvero stele su cui era scritto lo statuto”; das ist sicher richtig, ist aber nicht, wie es LSJ Rev. Suppl. 250 geschieht, als ‘a fixed rule or tariff’ mit direktem Verweis auf πήγνυµι zu erklären, sondern gehört in den Zusammenhang der Stellwände zur Befestigung von Bildern oder eben Bekanntmachungen – man könnte κατὰ πῆγµα frei mit ‘gemäß dem, was am schwarzen Brett steht’ übersetzen.
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ludunt uariis modis; 575,7 illusio, genus machinamenti) wie auch im Mittellateinischen (DuCange 6, 247) vor. 4. πέλµα im Griechischen und pĕlma im Lateinischen Das seit Hipponax im 6. Jahrhundert v. Chr. belegte und etymologisch lateinisch pellis – aber nicht palma – und deutsch Fell an die Seite zu stellende griechische Neutrum πέλµα (Frisk 1991, II 500; Chantraine 1999, 877) bezeichnet die ‘Sohle’ (beim Fuß oder beim Schuh) oder ‘Fingerspitze’8. Das Wort gehörte offenbar durchaus der Alltagssprache an: In den Papyri kommt πέλµα vor, wenn auch nicht gerade häufig9, aber es gibt sogar eine Verbalableitung πελµατίζω ‘an den Schuhsohlen kitzeln’ (P. Masp. I 67005, 18 πελµατισθῆνα̣ι;̣ 6. Jh. n. Chr.), und im Neugriechischen ist πέλµα ein normales Wort mit neuen Sekundärbedeutungen wie ‘Radkranz’ (Μέγα Λεξικόν 11, 5628). Im Lateinischen gibt es einen einzigen, reichlich obskuren Beleg für pĕlma (ThLL X 1, 1019, 68–72). In Konrad Celtis’ Abschrift einer sonst nicht überlieferten Fassung der Hermeneumata10, deren Dialogteil von Anna Carlotta Dionisotti ediert wurde (1982), heißt es in der griechisch-lateinischen Parallelversion eines Gesprächs, das in einem Bad spielt (Zeilen 61 und 62 = 1982, 103): δὸς σάβανα, ἐξµάξατέ µου τὴν κεφαλήν, da sabana, extergite me caput et humeὤµους, στῆθος, γαστέρα, χεῖρας, πλεῦρα, ros, pectus et uentrem, manus et latera, νῶτον, µηρούς, γόνατα, σκέλη, πόδας, dorsum et femora, genua et crura, pedes πτέρνα, καταδύµατα. et calcanea, pelmata. Es sollen also, vom Kopf bis zum Fuß fortschreitend, verschiedene Körperteile abgetrocknet werden, wobei die griechischen Elemente asyndetisch nebeneinander stehen, während im Lateinischen immer durch et verbundene Zweiergruppen gebildet werden; lediglich pelmata steht allein. Für πόδας, πτέρνα ist pedes et calcanea durchaus eine passende Wiedergabe; man muss also ‘Füße und Fersen’ verstehen. Es ist völlig logisch, dass dann die ‘Fußsohle’ kommen muss, die kein zweites Element neben sich hat, weil eben die unterste Sohle des Körpers erreicht ist. Es spricht also alles dafür, dass pelmata ‘Sohlen’ heißt, nur ist der griechische Parallelausdruck καταδύµατα nicht belegt. Wenn man nicht einfach wie Frau Dionisotti die Waffen strecken will und eine unsinnige “gloss created by Greek doublet” (1982, 117) anzunehmen geneigt ist, wird man an griechisch κάττυµα = κάσσυµα ‘Schuhsohle’ denken, das einer falschen “Verhochsprachlichung” durch _________ 8
In den Geoponika (10, 25, 1 = p. 284, 14 Beckh) kommt τὰ πέλµατα im übertragenen Sinne für ‘stalk of apples and pears’, also für ‘Stiele von Äpfeln und Birnen’, vor. 9 P. Mert. I 12, 19, ist ein Brief an einen Arzt, in dem u. a. um ein Desinfektionsmittel (?) gebeten wird, das gefahrlos die Fußsohlen unempfindlich macht (ἐρωτῶ | δέ σε περὶ ἑ̣λ̣κωτικῆς γενναίας | δυναµένης ἀκινδύνως πέλµατ(α) | ἑλκῶσα̣ι̣); PSI 13, 1332, 9, geht es um die Zusendung von πέ[λ]µατ̣α γυναικῖα, also um die Sohlen von Schuhen für Frauen. 10 Zum Celtis-Glossar vgl. Kramer 2001, 249–253; zu der Möglichkeit, dass es sich um eine Abschrift aus einem spätantiken Papyrus-Kodex handeln könnte, Kramer 2004, 43–47.
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den Glossator zum Opfer gefallen sein könnte, der an Dorismen wie καββαίνω = καταβαίνω, κακκείω = κατακείω, καππυρίζω = καταπυρίζω gedacht haben mag. Wenn man diesem Gedanken folgt, wäre καταδύµατα eine hyperkorrekte Form statt des eigentlichen καττύµατα, das in der Tat eine wunderbare griechische Entsprechung zu pelmata wäre. Wie dem auch sei, nichts spricht an dieser Stelle dagegen, pelma ‘Sohle’ als Gräzismus der spätantiken lateinischen Umgangssprache zu akzeptieren. Weitere lateinische Belege für palma, etwa in mittellateinischen Texten, fehlen. 5. Der romanische Worttyp ⌈ pelm(a)⌉ : formale Aspekte Zunächst seien in der üblichen Reihung von Ost nach West die romanischen Formen des Worttyps ⌈pelm(a)⌉ zusammengestellt, die traditionellerweise von pēgma und/oder pĕlma hergeleitet werden: rumänisch pielm n. ‘Weizenmehl, das dem Teig zum Maisbrot beigemengt wird, um ihm die genügende Festigkeit zu geben’ (1688, Biblia de la Bucureşti, Tiktin), moldauisch chelm (1889, Sevastos, DLR), walachisch piemn (1853, Pann, DLR), westsiebenbürgisch pelm (ALRM 1, 124, Punkt 95 [Gârda de Sus]), zentralagordinisch (Valle del Biois, S. Tomaso Agordino) palma f. ‘Honigwabe’ Rossi, nordostagordinisch (Alleghe, Colle S. Lucia, Selva di Cadore) palma Pallabazzer, nordwestagordinisch (Laste, Rocca Pietore) pèlma Pallabazzer, buchensteinisch pèlma EWD, gadertalisch spālma EWD, grödnerisch pèlma EWD, fassanisch palmå EWD, bergamaskisch pélma ‘der Wachsteil, wo die Bienenzellen sind und wo die Bienen den Honig ablagern’ Tiraboschi, brescianisch pelma ‘Honigfladen’ Schneller11, spanisch pelma m. ‘Dummkopf, Tölpel’ (1737, Autoridades, DCECH). S u f f i x b i l d u n g e n: rumänisch a pielma v. tr. ‘mit Mehl bestreuen’ (1939, Scriban, DLR), a pielmui (1939, Scriban, DLR), moldauisch a chelmui (1846, Drăghici, Tiktin), spanisch pelmazo m. ‘Pflaster’ (1230, Berceo, DCECH), ‘Dummkopf, Tölpel’ (1635, Salas Barbadillo, DCECH). Die Anlautvariation im Rumänischen zwischen pi-, ki- und sogar ti- ist völlig regelmäßig: Der Norden und der Osten des dakorumänischen Sprachgebietes (Siebenbürgen, Moldau) weisen wie das Aromunische und Meglenorumänische die Palatalisierung der Labiale auf, die älteres pi- zu ki- (geschrieben chi-) werden lässt (piatră ‘Fels’ > chiatră, vgl. Rothe 1957, 33 = § 69). Weit interessanter ist der Auslaut: Ein rumänisches mn, wie es die walachische Variante piemn zeigt, weist auf lateinisches gn zurück (pumn < pūgnus, lemn < lignum, vgl. Rothe 1957, 41 = § 90), während das lateinische lm unverändert erhalten blieb (rum. palmă < lat. palma). Der rumänische steigende Diphthong ie ist das normale Resultat von lateinisch ĕ (pĕctus > piept, vgl. Rothe 1957, 9 = § 3), während lateinisch ē zu rumänisch é (z. B. crēdō > cred, vgl. Rothe 1957, 9 = § 2), auf keinen Fall aber zu _________ 11 Was W. Meyer-Lübke im REW als “lombardisch pelma ‘Honigwabe, Honigfladen’ anführt, bezieht sich wohl auf die Formen aus Bergamo oder Brescia. Die ebenfalls dort genannte surselvische Form pelma gibt es nicht; die ‘Honigwabe’ heißt in der Surselva patgna, was wie die engadinische Parallelform paigna auf *impagine zurückzuführen ist (HWR 566; Decurtins 2001, 725).
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einem Diphthong, führen muss. Angesichts dieser lauthistorischen Voraussetzungen musste das Etymon von rum. pielm und seiner Nebenformen entweder *pĕlmum oder, wenn man walachisch piemn als die Grundform ansetzen will, *pĕgnum heißen. Das lässt sich kaum mit pēgma vereinbaren, hingegen sehr wohl mit pĕlma, wenn man annimmt, dass das feminine -a als Neutrum-a aufgefasst wurde und dazu ein neuer Singular auf –um entstand. Somit gehen die rumänischen Wörter auf die Form pĕlma zurück. Die Formen vom alpinen Nordrand der Italoromania lassen sich auf einen Grundtyp pέlma reduzieren, der in einigen Varietäten des Agordinischen und des Ladinischen statt des ε im Tonvokal ein a aufweist, wahrscheinlich unter dem Einfluss von palma ‘Handfläche’. Der Grundtyp pέlma lässt sich problemlos auf pĕlma zurückführen, denn “das in gedeckter Stellung befindliche ę bleibt in Oberitalien im allgemeinen erhalten” (Rohlfs 1949, I 174 = § 97); wenn man hingegen auf pēgma zurückgehen will, muss man zunächst die Zwischenstufen peuma und *pelma bemühen (Rohlfs 1949, I 431 = § 259) und darüber hinaus die unregelmäßig auftretende Öffnung des betonten [e] zu [ε] ansetzen (Rohlfs 1949, 129 = § 57: “Kürze des Tonvokals in gedeckter Stellung führt in Oberitalien auf weiten Gebieten zur offenen Aussprache”). Schlussfolgerung: Die italoromanischen pέlma-Formen können sowohl auf pĕlma wie auf pēlma zurückgeführt werden, wobei pĕlma lautlich problemlos ist, während pēlma einige nicht selbstverständliche Zwischenkonstruktionen erfordert. Im Spanischen ist pelmazo bereits im 13. Jahrhundert belegt, pelma hingegen erst im 18. Jahrhundert. Wenn das Simplex pelma die erbwörtlich erhaltene Grundform wäre, könnte es nach den spanischen Lautgesetzen nur auf lateinisch pēlma < pēuma < pēgma zurückgeführt werden (betontes lat. ē ergibt sp. e, García de Diego 1970, 60), denn bei lateinisch pĕlma würde man als spanisches Resultat *pielma erwarten (betontes lat. ĕ diphthongiert im Sp. zu ie, García de Diego 1970, 59). Wenn man aber mit J. Corominas annimmt, dass pelmazo die ursprüngliche Form und pelma eine daraus gewonnene Rückbildung sei12, dann kommen beide anzunehmenden Grundformen, sowohl *pĕlmatium (zu pĕlma) als auch *pēlmatium < *pēgmatium (zu pēgma), als Etymon in Frage, denn in unbetonter Stellung ergeben sowohl ĕ als auch ē spanisches e (García de Diego 1970, 62). Schlussfolgerung: Wenn spanisch pelma die Grundform ist, dann kann sie nur _________ 12
DCECH 4, 464: “En cuanto a la palabra hoy usual, pelma, que por lo común toman como punto de partida los etimologistas, en realidad es voz muy moderna; su primer testimonio es el de Autoridades, que si limita a decir es «lo mismo que pelmazo» y que «es voz usada en el reino de Sevilla». No son raros los ejemplos desde fines de s. XVIII. [---] Hoy es voz de resabio fuertemente vulgar, pero muy empleada, y más o menos general en España; siempre la he oído (y con ello coinciden todos los testimonios que cita Pagés) en la accepción de ‘hombre tardo y pesado’, y siempre como masculino; desconozco del todo su empleo en las demás accepciones de pelmazo, que le atribuye Dicc. Acad. Sea como quiera, está claro que este pelma es secundario, sacado de pelmazo, que se sintió como aumentativo; si fuese vieja palabra tradicional, es seguro que sería femenina, como los on tradicionalmente las palabras en –a, aun las procedentes de neutros griegos en –ma, a condición que tengan carácter hereditario”.
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von pēgma und nicht von pĕlma hergeleitet werden, wenn man aber, was wahrscheinlich ist, von der Suffixform pelmazo ausgehen muss, dann kommt sowohl eine Verbindung zu pĕlma als auch zu pēgma in Frage. 5. Der romanische Worttyp ⌈ pelm(a)⌉ : semantische Aspekte Kommen wir zur Bedeutung von ⌈pelm(a)⌉! Die drei Verbreitungszonen des Wortes zeigen drei verschiedene Grundbedeutungen, die auf den ersten Blick nicht viele Gemeinsamkeiten aufweisen: In der Balkanromania finden wir ‘Mehl’, in der nördlichen Italoromania ‘Honigwabe’ und in der Iberoromania ‘Pflaster’ (mit der Weiterentwicklung ‘Dummkopf’. Alle Etymologieansätze, die pēgma zu Grunde legen, müssen zur Erklärung dieser drei romanischen Grundbedeutungen vom Basiswort ‘geronnener Körper’ (so REW) o. ä. ausgehen. Nun ist aber im Griechischen, wie oben dargestellt wurde, diese Bedeutung überhaupt nicht belegt; man hat nur einige wenige Zeugnisse für eine verwandte semantische Sphäre (‘verharschter Schnee, verfetteter Bestandteil von Speisen, verfestigtes Wasser’), aber der normale Sinn ist ‘Gerüst’ mit davon ausgehenden Verzweigungen, und in den Jahrhunderten nach der Zeitenwende findet man die älteren Verwendungsweisen nicht mehr. Der lateinische Gräzismus pēgma heißt nur noch ‘Gerüst’; der “Roman way of life” führte dann zur spezialisierten Verwendung des Wortes zur Bezeichnung von mechanischen Anlagen im römischen “show-business”. Hier hatte pēgma seinen semantischen Schwerpunkt im lateinischen Wortgebrauch, und nur hier hätte eine romanische Weiterentwicklung anknüpfen können, nicht etwa bei einem in der Spätantike weder im Griechischen noch im Lateinischen nachzuweisenden ‘geronnenen Körper’ oder ‘verfestigtem Stoff’. Schlussfolgerung: Weder πῆγµα noch pēgma kommen semantisch als Etymon für die hier zur Diskussion stehenden romanischen Wörter in Frage. Versuchen wir jetzt also, eine semantische Verbindung zwischen πέλµα/ pĕlma ‘Sohle’ einerseits und ‘Mehl’/‘Wabe’/‘Pflaster’ andererseits herzustellen! Am leichtesten lässt sich sicherlich die Bedeutung ‘Honigwabe’ von einem Wort für ‘Sohle’ herleiten: Bekanntlich sehen Waben meist aus wie eine Platte, eine Tafel (daher oberengadinisch tevla da meil ‘Honigtafel’) oder eben eine Sohle aus. Dass im Spätlateinischen das Lehnwort pĕlma, das in seinem eigentlichen Sinne nicht wirklich funktional war (für ‘Sohle’ standen ja sŏlum und sŏlĕa zur Verfügung), eine fachsprachliche Sonderbedeutung, eben ‘Wabe’, annehmen konnte, ist zumindest nicht unwahrscheinlich, zumal das eigentliche lateinische Wort für ‘Wabe’, favus, einen schwachen Stand hatte, da es in bedrohliche lautliche Nähe zu faba ‘Saubohne’ geraten war13. Rumänisch pielm bzw. piemn bereitet etwas mehr Schwierigkeiten. Im Erstbeleg in der Bukarester Bibel von 1688 wird pielm verwendet, um griechisch _________ 13 favus lebt heute nur noch an den extremen Rändern und im Zentrum der Romania: rum. fag (häufiger ist allerdings die Suffixbildung fagure), it. favo, port. favo. Sonst sind überall andere Wörter eingetreten: frz. rayon de miel, kat. bresca, sp. panal.
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σταῖς = hebräisch [ בצקbāṣeq] ‘ungesäuerter Teig’ zu übersetzen: şi luoă norodul pielmul lor mai înainte de a să frămînta aluaturile lor = ἀνέλαβεν δὲ ὁ λαὸς τὸ σταῖς πρὸ τοῦ ζυµωθῆναι = tulit igitur populus conspersam farinam antequam fermentaretur (Ex. 12, 34). Man könnte annehmen, dass der hier vorliegenden Bedeutung ‘ungesäuerter Teig’ ein älterer Sinn ‘Gebäck aus ungesäuertem Teig’ vorausging. Bekanntlich geht ungesäuerter Teig nicht auf, so dass daraus angefertigte Backwaren flach bleiben und daher leicht mit einer Sohle verglichen werden können. Bei den rumänischen Bauern gab es jedenfalls traditionellerweise einen azimă < ἄζυµος genannten flachen, in der Asche gebackenen Weizenbrotfladen aus ungesäuertem Teig (Tiktin 1986, I 261; DLR I 1, 392–393). Dass ein Wort, das ‘Weizengebäck’ bedeutet, auch den Sinn ‘Mehl für Weizengebäck’ annehmen kann, ist durchaus nicht unwahrscheinlich. Schlussfolgerung: Auch rum. pielm lässt sich mit πέλµα/ pĕlma ‘Sohle’ semantisch vereinbaren, wenn auch nicht völlig problemlos. Es bleibt die Bedeutungsentwicklung auf der iberischen Halbinsel zu klären! Formen, die uns interessieren könnten, treten nur im Spanischen, nicht im Portugiesischen und nicht im Katalanischen, auf. Die mittelalterlichen Belege für die vor dem 18. Jahrhundert einzig vorkommende Suffixform pelmazo (pelmaço, auch pemaço), die übersichtlich von Joan Corominas (DCECH 4, 463) zusammengestellt wurden, zeigen alle die Bedeutung ‘Pflaster’, ‘Verband’, ‘Aufpolsterung’: “El sentido propio y primitivo de pelmazo parece haber sido ‘emplastro’”. Das Suffix –āceus diente im Lateinischen zur Bildung von Stoffadjektiven (Leumann 1977, 287 = § 272, 2), und das daraus resultierende spanische Suffix –azo “conserva cierto sentido de materia” (García de Diego 1970, 272). Es spricht also nichts dagegen, für *pelmāceus > pelmazo die Bedeutung ‘wie eine Sohle aussehendes Pflaster’ > ‘Pflaster’ anzusetzen. Das Simplex pelma tritt, wie gesagt, erst seit dem 18. Jahrhundert und nur im Sinne von ‘Dummkopf’ auf. Es scheint eine sekundäre Rückbildung zu sein, denn die spanischen Lautgesetze erlauben es nur, die Suffixbildung *pelmāceus mit pĕlma (oder mit *pēlma < pēuma < pēgma) zu verbinden, während das spanische Simplex pelma nur von *pēlma < pēuma < pēgma, nicht aber von pĕlma kommen könnte. Die semantische Seite spricht jedoch dafür, von *pelmāceus (zu pĕlma) auszugehen. 6. Lateinisch pĕlma: das Etymon des romanischen Worttyps ⌈ pelm(a)⌉ Formal und semantisch spricht alles dafür, zur ehrwürdigen, schon bei Friedrich Diez auftretenden und auf Covarrubias zurückgehenden Auffassung zurückzukehren, nach der dem spanischen pelmazo griechisch πέλµα zu Grunde liegt, das dann auch in Rumänien als pielm und am Nordrand der Italoromania als pelma auftritt. Die Verbindung dieser Wortfamilie mit πῆγµα ist lautlich für das Spanische genauso gut möglich, für die Mundarten Norditaliens schwierig und für das Rumänische unmöglich, semantisch ist sie vor dem Hintergrund der griechischen und lateinischen Wortverwendung undenkbar. Was hat nun den Irrweg verursacht, der mehr als ein Jahrhundert angedauert hat? Offenbar einerseits die Vorliebe der Romanistik des 19. Jahrhunderts für
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seltene lautliche Entwicklungen, die erklärt, warum man dem nicht selbstverständlichen Ansatz –gm– > –um– > –lm– eher Gehör zu schenken geneigt war als dem banalen Weiterleben des Nexus –lm–, andererseits die mangelnde Vertrautheit mit den antiken Texten, die Informationen über den Verwendungsbereich der griechischen und lateinischen Wörter einzig und allein aus Wörterbüchern bezog, ohne den Kontext in Augenschein zu nehmen.
21. πουγγίον / punga Abstract: A Ravenna papyrus attests punga ‘purse’ in 564, and πουγγίον ‘pocket’ occurs between 592 and 610 in Maurice’s Strategikon. These words are to be traced back to Gothic puggs. The Latin word is feminine in analogy to crumena < γρυμαία. Keywords: punga, pungion, pocket, purse, Gothic language
1. Lat. punga, griech. πουγγίον und die modernen Nachfolgeformen In einigen meist konservativen Zonen der Romania findet sich ein Worttyp punga mit der Grundbedeutung ‘Tasche’: rumänisch pungă ‘(Geld-)Beutel, Börse; Hodensack’ (seit 1463, Tiktin 3, 247)1, aromunisch pungă ‘Börse, Beutel, Tasche’ (Papahagi 1974, 1029)2, venezianisch (Gergo) ponga ‘Geldbörse’, venezianisch ponga ‘Kropf’, paduanisch ~, vicentinisch ~, capodistrisch ~, piranesisch pongo ‘Kropf’, piacentinisch ponga ‘Köder’ (Prati 1968, 135)3, abruzzesisch (Introdacqua) ponghë f. pl. ‘Falten in der Kleidung’ (DAM 3, 1574), sardisch punga ‘Amulett’ (DES 2, 322)4. Ein entsprechendes Wort ist auch im Neugriechischen geläufig: In der Literatur-δηµοτική und in den meisten Dialekten findet man πουγγί, also eine Bildung, die das ursprüngliche Diminutiv-Suffix -ίον durchscheinen lässt, aber in lateralen Dialekten lebt auch das Simplex: unteritalienische Gräzität púnga ‘Tasche’5, Mani πούgα, Tsakonen πούγγα, Dodekanes (Kos) πούγγα ‘Tasche’ (Andriotis 1974, 462 _________ 1 Ableitungen: punguliţă ‘Beutelchen’, pungaş ‘Beutelschneider, Gauner’, a pungăşi ‘besteh– len’, pungăşeală ‘Gaunerei’. – Aus dem Rumänischen entlehnt ist das seit 1751 zu belegende ungarische Wort punga ‘Geldbeutel’, das vor allem in den Varietäten Siebenbürgens und in den Csángó-Mundarten vorkommt (Bakos 1982, 271). 2 Die Pluralform pundzi bedeutet ‘Hoden’. – Ableitungen: pungár ‘Beutel aus Fell, in dem die Hirten ihre Habe aufbewahren; aus einer Harnblase hergestellter Beutel’, pung’íţă ‘kleiner Beutel’. 3 Maskulinum: piranesisch pongo ‘Kropf’. Redewendungen: trevisisch far la ponga ‘Geld auf die hohe Kante legen’, buranisch fa ponga ‘eine Ausbeulung haben (von Mauern)’ (Cortelazzo 1970, 191). 4 Max Leopold Wagners Erklärung verdeutlicht die Wortgeschichte: “Le púngas sono borsette che contengono varie specie di erbe credute efficaci per cacciar via il malocchio e che bisogna tener cucite a permanenza sul vestito”. – Ableitung: (ap)pungare ‘mit dem bösen Blick bedenken’. 5 So in der salentinischen Terra d’Otranto und in Rochudi; die übrigen Dörfer der kalabresischen Sprachinsel weisen die Metathese-Form kúmba (Bova) oder die Dissimilations-Form pumba (Roccaforte) auf. Ableitung: Calimera (Terra d’Otranto) punghéḍḍa ‘Säckchen, das die Lämmer um die Schnauze tragen, damit sie nicht saugen’. – In griechischen Urkunden Süditaliens ist der Ortsname Πουγγᾶδες schon 1182 belegt, und einem πρεσβύτερος Ἰωάννης Πουγγάδης begegnen wir 1180; Πούγγης ist um die Mitte des 13. Jahrhunderts ein geläufiger Name, und vielleicht ist auch das 1102 bezeugte Πούγιας als Πουγγίας zu lesen (Caracausi 1990, 469).
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= Nr. 5014), Rhodos πούγγα ‘Geldbörse; Beutel für Hülsenfrüchte und andere Nahrungsmittel’, pl. ‘Gemüsepitta’ (Παπαχριστοδούλου 1986, 523), Zypern ποῦγγα ‘Tasche’ (Λουκᾶς 1979, 403). Es ist offenkundig, dass die romanischen und die neugriechischen Formen letztlich ein gemeinsames Etymon haben müssen. Zur Abklärung des gegenseitigen Verhältnisses gilt es zunächst, die lateinische und die griechische Vorgeschichte näher unter die Lupe zu nehmen. Die früheste lateinische Bezeugung findet sich in dem ersten überhaupt publizierten (1583) ravennatischen Papyrus, der “chartula plenariae securitatis”, einem Gestaprotokoll mit darin enthaltener Urkunde: Am 17. Juli 564 bezeugt Gratianus, der Vormund des Stephanus, auf dessen Rechnung von Germana, der Witwe des Collictus, den dritten Teil eines Erbes in Empfang genommen zu haben und dafür völlige Sicherheit zu leisten. Am Ende der Urkunde vor den Unterschriften liest man in einem leider nur fragmentarisch erhaltenen Abschnitt, in dem es darum geht, was Gratianus von den Häusern und Landgütern im Stadtbereich von Ravenna in Empfang genommen hat (P. Raven. VIII, III 3): ... portionem eius siliquas quattuor et punga una tantum.
seinen Anteil, vier Siliquae6 und einen Geldbeutel, nicht mehr.
In seinem Kommentar führt Jan-Olof Tjäder (S. 436) aus, dass der vorliegende Beleg der einzige ihm bekannte aus Italien sei. “Die Börse scheint an der vorliegenden Stelle einen bestimmten Inhalt gehabt zu haben und als Münzeinheit angesehen worden zu sein; dieselbe Entwicklung hat ja das Wort follis durchgemacht”. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass rumänisch pungă in Texten des 18. Jahrhunderts ebenfalls als Geldeinheit, nämlich im Sinne von ‘mit 500 Piastern gefüllter Beutel’7, vorkommt, und auch im Griechischen des 18. Jahrhunderts scheint πουγγίον eine entsprechende Bedeutung gehabt zu haben8. Mittellateinische Belege sind uns nicht vor dem 8. Jahrhundert greifbar, und sie stammen alle aus Nordfrankreich. In der Vita des Bischofs von Noyon, Eligius, deren Grundbestand von Audoinus um 675 abgefasst wurde, deren Wortlaut aber in der uns vorliegenden Fassung erst auf den Anfang des 8. Jahrhunderts zurückgeht, heißt es (1, 10 = PL 87, 488 B): o quoties debitor esse uoluit, ut debitoribus succurreret! quoties bracchile aureum, pungam quoque
O wie oft wollte er Schuldner sein, um Schuldnern beizustehen! Wie oft verzichtete er auf sein goldenes Armband
_________ 6
Eine siliqua, wörtlich ‘Johannisbrotkern’ (griechisch κεράτιον), ist das Vierundzwanzigstel eines Solidus in Gold (RE III A, 65–68). 7 Tiktin 3, 248, zitiert (nach Hasdeu) ein Dokument aus dem Jahre 1754: “Am dat Domnia mea la Sfîntul Mormînt trei pungi de bani, adecă taleri 1500”. 8 Im Μέγα Λεξικόν wird (nach Σαθᾶς, Μεσαιωνικὴ Βιβλιοθήκη 3, 145) eine Stelle aus Καισάριος Δαπόντες († 1774) zitiert, wo es heißt: καὶ εἰς τὸν πατριάρχην χάριν δέκα πουγγία ἀπέστειλεν. Die Aussage: “Er schickte dem Patriarchen als Dank zehn Börsen” hat nur Sinn, wenn ein πουγγίον ein klar definierter Betrag ist.
21. πουγγίον / punga
auro gemmisque comptam sibi surripuit, tantum ut miseris succurreret!
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und auch auf seine mit Gold und Edelsteinen geschmückte Tasche, nur um den Armen beizustehen!
Ebenso ist in einer Inventarliste des Klosters von Saint-Riquier, die der 814 verstorbene Abt Angilbertus anfertigen ließ und die von Hariulf von Oudenburg (1143) im Chronicon Centulense zitiert wird, von einer punga auro parata ‘mit Gold geschmückte Tasche’ (II 10, ed. Lot) die Rede. In beiden Fällen ist es also eine goldverzierte Tasche, die zum priesterlichen Gewand gehörte, aber nicht aufgenäht war. Es handelte sich ganz offenkundig um einen von Reichtum zeugenden Luxusgegenstand, so dass die Vermutung, es könne hier von Importware – beispielsweise aus der Einflusszone des prunkvollen Byzanz – die Rede sein, sicher nicht zu weit hergeholt ist. Eine weitere Karriere scheint punga im Mittelalter nicht gemacht zu haben9, soweit man das angesichts des lamentablen Zustandes der Lexikographie zu behaupten wagen darf. Im Griechischen setzen die Belege für das uns interessierende Wort etwa eine Generation später als im Lateinischen ein, wobei jedoch nicht das Simplex, sondern die Diminutiv-Ableitung auf –ίον das Feld beherrscht. Das unter dem Namen Strategikon bekannte Militärhandbuch des Maurikios, das nach 592 und vor 610 verfasst wurde, bietet für viele Termini, die die dem klassischen literatursprachlichen Wortgebrauch verpflichteten griechischen Autoren sonst ängstlich mieden, den Erstbeleg. So ist es auch im Falle von πουγγίον ‘Tasche’, das unter den Ausrüstungsgegenständen der Kavalleristen erwähnt wird (1, 2, 16 Dennis): δεῖ [---] ἔχειν ταῦτα πάντας µέν ἀναλόγως πρός τε τὴν ἑκάστου ποιότητα καὶ τὰς χορηγουµένας αὐτοῖς χρυσικὰς συνηθείας, µάλιστα δὲ τοὺς τῶν µερῶν καὶ ταγµάτων ἄρχοντας, ἑκατοντάρχας, δεκάρχας, πεντάρχας, καὶ τετράρχας, βουκελλαρίους καὶ φοιδεράτους· [---] τοξάρια κατὰ τὴν ἑκάστου ἰσχὺν [---], κόρδας ἐκ περισσοῦ ἐν τοῖς πουγγίοις αὐτῶν.
Alle müssen dies gemäß ihrem Rang und Sold in Gold haben, vor allem die Befehlshaber der Abteilungen und Manipel, die Centurionen, die Dekurionen, die Zug- und Gruppenkommandanten, die Bukellarier und die Föderaten: [---] Bogen nach der Stärke eines jeden [---], Sehnen in großer Anzahl in ihren Taschen.
Man muss etwa drei Jahrhunderte warten, bis das Wort von Leo dem Weisen (886–912) in seinen auf weite Strecken von Maurikios abhängigen Taktika wieder aufgegriffen wird. Im Kapitel über die Bewaffnung der Kavallerie und Infanterie (περὶ ὁπλίσεως καβαλλαρίων καὶ πεζῶν) heißt es in offensichtlicher Anlehnung an die oben zitierte Stelle, die Kavalleristen müssten “Sehnen in großer Anzahl in ihren Taschen haben” (PG 107, 721 C: ἔχειν δὲ καὶ χορδὰς ἐκ περισσοῦ ἐν τοῖς πουγγίοις αὐτοῖς). _________ 9 Sella 453 zitiert einen Beleg des Jahres 1125, der pongam imperatoris nennt (vgl. AGI 35, 1950, 170). Hierbei handelt es sich jedoch nur um die Latinisierung eines italienischen Wortes.
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Es dauert weitere drei Jahrhunderte, bis das Wort in nichtmilitärischem Kontext vorkommt. Theodoros Balsamon († nach 1195) bezeichnet bestickte Seidentaschen als πουγγία (PG 137, 721 C), was eine Wortverwendung ist, die dem mittellateinischen Gebrauch an die Seite zu stellen ist: φυλακτήριοι δὲ λέγονται οἱ κατ᾿ ἀπάτην δαιµονικὴν δίδοντες τοῖς ὑπ᾿ αὐτῶν ἀπατωµένοις δόγµατά τινα ἐκ σηρικῶν νηµάτων ὑφασµένα – καὶ πουγγία λεγόµενα – ἔχοντα ἔσωθεν ποτὲ µέν γραφάς, ποτὲ δὲ ἕτερά τινα ψεύδη τὰ παρατυχόντα.
Amuletthersteller werden die genannt, die gemäß teuflischer Verblendung den von ihnen hinters Licht Geführten bestimmte aus Seidenfäden gewebte Gegenstände – die auch Pungia heißen – geben, die außen Bilder oder alle möglichen anderen Lügengespinste aufweisen.
Die Seltenheit von πουγγίον in der hochsprachlichen Literatur der Byzantiner darf nicht zu dem Fehlschluss verleiten, das Wort sei wirklich rar gewesen; das Gegenteil dürfte der Fall sein, denn mit dem Einsetzen der volkssprachlichen Literatur wird πουγγί(ν) ganz geläufig. Es genüge ein Beleg aus den Ptochoprodromika, einer im Grundstock dem 12. Jahrhundert angehörigen Sammlung satirischer Gedichte (III 101 Eideneiner): ἁπλώνω εἰς τὸ περσίκιν µου, γυρεύω τὸ πουγγίν µου ‘ich lange in meine Geldbörse, ich durchsuche meinen Beutel’. Wir haben es bei πουγγί(ον) offenbar mit dem für das byzantinische Griechische ganz normalen Fall zu tun, dass ein in die Umgangssprache eingedrungenes, als fremd empfundenes Element aus puristischen Überlegungen aus der Literatursprache, die weiterhin attische oder pseudo-attische Wörter bevorzugte, ferngehalten wurde. Das feminine Simplex πούγγη ist erst im 15. Jahrhundert zu belegen. Im Θρῆνος τῆς Κωνσταντινουπόλεως, einem von Vulgarismen nur so strotzenden zeitgenössischen Klagelied auf die Einnahme Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453, wird es bei der Beschreibung des Verlustes von Patras für die Byzantiner im Sinne von ‘Geldbörse’ verwendet (II, vv. 88–89): αὐτὴν τὴν Πάτραν τὴν πτωχὴν εἶχες παρηγορίαν σου, πούγγην σου καὶ σακκούλι σου εἰς ὅλαις ταῖς δουλείαις.
Gerade das arme Patras hattest du als deinen Trost, deine Börse und deine Geldtasche bei allen Geschäften.
Mit letzter Sicherheit lässt sich nicht ausschließen, dass dieses πούγγη eine Simplex-Neubildung ist, die vom Diminutiv πουγγί(ον) ausgeht. Freilich ist kein Grund dafür zu erkennen, warum dieser Fall eingetreten sein sollte, und die Tatsache, dass ποῦγγα in den Dialekten der area laterale des griechischen Sprachgebietes sehr lebendig ist, spricht doch eher dafür, dass das feminine Simplex in der gesprochenen Sprache von Anfang an neben πουγγίον stand, dass es aber des weitgehenden Zusammenbruchs der Sprachnormierungsinstanzen bedurfte, bevor das als unliterarisch geltende Wort den Weg in einen schriftlich fixierten Text finden konnte.
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Versuchen wir, bevor wir uns der Frage nach dem Etymon zuwenden, die griechisch-lateinisch-romanische Wortgeschichte zu rekapitulieren! In einem lateinischen Papyrusdoument aus Ravenna taucht 564 n. Chr. punga auf, πουγγίον ist an der Wende vom 6. zum 7. Jahrhundert in der griechischen Militärterminologie belegt. In beiden Sprachen bleiben die Belege aus puristischen Gründen spärlich, und im Griechischen muss man auf das Simplex πούγγη bis nach dem Untergang des Byzantinischen Reiches im Jahre 1453 warten. Was die romanischen Sprachen anbelangt, so existiert der Typ punga in der Balkanromania, im Veneto und in den Abruzzen sowie auf Sardinien. Im Griechischen ist πουγγί zum Normalwort geworden, aber in der area laterale (Unteritalien, Peloponnes, Dodekanes, Zypern) gibt es auch ποῦγγα. 2. Gotisch puggs, das Etymon von lat. punga und griech. πουγγίον Schon früh wurden punga und πουγγίον mit dem Germanischen in Verbindung gebracht, denn gotisch puggs (bekanntlich pungs gesprochen) bietet sich an. Dieses Wort ist in der Ulfila-Bibel ein einziges Mal belegt, und zwar im Akkusativ als Entsprechung von griechisch βαλάντιον ‘Geldbeutel’ (Luc. 10, 4): ni bairaiþ pugg nih matibalg nih gaskohi; ni mannanhun bi wig goljaiþ.
µὴ βαστάζετε βαλάντιον, µὴ πήραν µηδὲ ὑποδήµατα, µηδένα κατὰ τὴν ὁδὸν ἀσπάσησθε10.
Das gotische Wort hat Entsprechungen in anderen germanischen Sprachen: Zu nennen sind altnordisch pungr (> isländisch, färingisch pungur, norwegisch, schwedisch, dänisch pung), angelsächsisch pung, altfriesisch pung, mittelniederländisch pong, mittelniederdeutsch punge, althochdeutsch pfung11 (Vries 1977, 429). Eine Nebeneinanderstellung von “goth. puggs, altn. pungr, ahd. fung cet., dsgl. mittelgr. πούγγη πουγγίον, neugr. πουγγί” bietet immerhin schon Friedrich Diez (1887, 391), er fügte jedoch noch resignierend hinzu: “aber aus welcher Quelle?”. Wilhelm Meyer-Lübke (REW Nr. 6849) geht von einem mittelgr. punga aus, fügt aber hinzu: “Das Wort beruht auf got. puggs, doch macht die geographische Verbreitung und das –a für die rom. Formen Entlehnung aus dem Mgriech. wahrscheinlicher”. Das ist natürlich ein Holzweg, denn erstens ist ein mittelgriechisches Wort punga nicht belegt, zweitens wäre die Abfolge der “geographischen Verbreitung” abzuklären, und drittens fehlt eine Erklärung für die Wörter der germanischen Sprachen. Die Versuche, gotisch puggs aus dem Lateinischen zu deuten, gehen vom Ansatz eines Substantivs *pungus aus, das im Vulgärlatein zum Verb pungere ‘stechen’ gebildet worden wäre (Feist 1939, 385). Das ist weder von der Wortbil_________ 10 In der Luther-Übersetzung: “Tragt keinen Beutel noch Tasche noch Schuhe und grüßt niemanden auf der Straße”. 11 Zu rheinisch pongel, pöngel ‘Bündel, Last’, das sicher zu pong gehört, jedoch im Vokalismus von Bündel beeinflusst sein könnte, vgl. Frings 1932, 162 (mit unzutreffender Etymologie).
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dung12 noch von der Semantik13 her besonders wahrscheinlich. Der Vorschlag, von einem griechisch-lateinischen *punga auszugehen (Loewe 1906, 324; Lehmann 1986, 274), ist noch weniger wahrscheinlich, denn einerseits fehlt es an einer Erklärung für die griechische oder lateinische Wortbildung und andererseits impliziert dieser Ansatz auch noch die Schwierigkeit, den Genuswechsel zum maskulinen gotischen Wort zu erklären. Den Vorschlägen zu einer Herleitung von gotisch puggs aus dem Griechischen oder Lateinischen haftet jedoch, einmal ganz abgesehen von den soeben angedeuteten linguistischen Problemen, ein sprachgeschichtliches Manko an: Wie will man die übrigen germanischen Formen, vom Altnordischen über das Altfriesische und Angelsächsische bis hin zum Althochdeutschen, erklären? Sicher, à la rigueur gäbe es denkbare Wanderwege, aber so lange es den Schatten einer anderen Lösung gibt, wird man ungern die komplizierte Weitergabe vom Gotischen über das Kontinentalwestgermanische an das Nordische ins Auge fassen wollen (Lendinara/Miceli 1979, 170). Es bedarf aber gar nicht dieser schwierigen Wandertheorie, denn für puggs und seine Entsprechungen bietet sich durchaus eine innergermanische Etymologie an: Es handelt sich um eine mit Nasaleinschub versehene Nebenform zu einem germanischen Wort, das in altnordisch poki und seinen Entsprechungen (de Vries 1977, 427) vorliegt und das über fränkisch *pokka zu französisch poche geführt hat. Es dürfte damit klar sein, dass gotisch puggs ein genuines germanisches Wort darstellt14 und dass folglich im Griechischen und Lateinischen von einem gotischen Element auszugehen ist. 3. Der Wanderweg von gotisch puggs Jetzt bleibt die Frage zu klären, ob beide antike Sprachen unabhängig voneinander dasselbe Wort aus dem Gotischen entlehnt haben, ob das lateinische Wort über das Griechische oder ob das griechische Wort über das Lateinische übernommen wurde. Der zeitliche Abstand zwischen der Erstbezeugung im Griechischen (zwischen 592 und 610) und im Lateinischen (564) ist nicht groß genug, um eine sichere Aussage über Prioritätsverhältnisse zuzulassen: Es handelt sich um ein als unliterarisch angesehenes, auch später eher selten vorkommendes Element, so dass der zeitliche Zufall beim Erstbeleg eine viel zu große Rolle spielt. _________ 12 Die in der Latinistik als Neoprimitiva (Leumann 1977, 268), in der Romanistik als Postverbalia (Meyer-Lübke 1894, II 442) bezeichneten Substantive (Beispiel: pugna zu pugnāre) sind normalerweise Feminina und gehen auf Verben der a-Konjugation zurück. 13 Wenn auch die als reine Verbalabstrakta entstandenen Neoprimitiva = Postverbalia “ein sehr starkes Bestreben zeigen, Konkreta zu werden” (Meyer-Lübke 1894, II 447), so darf doch nicht übersehen werden, dass der Weg von ‘stechen’ zu ‘Tasche’ (trotz der oben angeführten Belege von πουγγίον ‘bestickte Seidentasche’ bei Theodoros Balsamon) recht weit ist. 14 Ohne weitergehende Erörterung wurde von Uhlenbeck 1895, 44, “got. puggs, ahd. pfunc ‘Beutel’ aus aksl. pągy ‘corymbus’ (Miklosich 257)” erklärt. In der slavistischen Literatur fand diese Auffassung einiges Interesse, aber schon längst gilt sie auch dort als “nicht glücklich” (RussEW 2, 460), weil das altkirchenslavische pogy ‘Knopf’ in völlig andere formale und semantische Zusammenhänge gestellt zu werden pflegt.
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Auch die Form, in der das Wort in unseren Quellen auftaucht, bietet keinen sicheren Anhaltspunkt: Zweifellos ist von einem Femininum punga auszugehen, aber die Tatsache, dass die lateinischen Bezeugungen dieses in der Tat aufweisen, während im Griechischen bis zum 15. Jahrhundert nur das Diminutivum πουγγίον vorkommt, beweist nichts zur zeitlichen Abfolge, denn das Anfügen des Suffixes –ίον war ja eine der Möglichkeiten, fremden Elementen ihren βαρβαρισµός zu nehmen und sie wie gut griechische Wörter aussehen zu lassen. Aussagekräftiger ist jedoch der sprachgeographische Befund15. Was die Romania betrifft, so fällt die Beschränkung auf Gebiete auf, in denen generell der griechische Spracheinfluss stark ist: Veneto und die Abruzzen als Ausstrahlungsgebiet des ravennatischen Exarchats, das auch den lateinischen Erstbeleg stellt, Sardinien, Rumänien, die süddanubische Romanität. Für das griechische Sprachgebiet legt das Vorkommen der Simplex-Form in der area laterale (Süditalien, Dodekanes, Zypern) und im konservativen Maniotischen und Tsakonischen im Gegensatz zum Diminutivum in der area centrale und in der Literatursprache die Annahme nahe, dass das Simplex, wiewohl erst fast neunhundert Jahre später belegt, die ursprüngliche Form darstellt, die jedoch auf Grund des alles beherrschenden Purismus keine Chance hatte, die Schwelle zur schriftlichen Dokumentation zu überschreiten. Wenn diese Annahme richtig ist, dann bereitet die Rekonstruktion des Wanderweges des uns hier interessierenden Wortes keine ernsthaften Probleme mehr: Das gotische puggs drang aus der Sprache der gotischen Soldaten, die in den Reihen der Armee des oströmischen Reiches dienten, ins Griechische, und zwar einerseits als alltagssprachliches *ποῦγγα oder *πούγγη, andererseits als verhochsprachlichtes πουγγίον. Die alltagssprachliche Form wurde in das Lateinische der unter griechischem Einfluss stehenden Regionen übernommen und blieb in der Romania bis heute erhalten, wobei das im 6. Jahrhundert adaptierte Wort selbstverständlich alle lautlichen Veränderungen der Erbwörter mitmachte: Im Sardischen und Rumänischen blieb also das –u– unverändert erhalten, während es in den italienischen Varietäten zu einem geschlossenen –o– wurde. 4. Gründe für das feminine Genus von punga Es bleibt die Frage zu klären, warum das gotische Maskulinum puggs zu einem lateinischen und wohl auch griechischen Femininum wurde. Die Erklärung kann entweder von den Verhältnissen im Germanischen oder von denen im GriechischLateinischen ausgehen. Die wenigen Etymologen, die sich überhaupt des Problems annehmen, haben sich bislang für eine germanische Deutung entschieden: puggs gehört, wie die meisten gotischen Maskulina, zur sogenannten starken aDeklination, wobei von einer älteren Form *puggaz auszugehen ist. Ernst Gamillscheg (1935, II 253 = § V 10) sucht hier die Lösung: “Es liegt ein frühgot. _________ 15 Die Karte “Germanische Namen der Kleidertasche” bei Gerhard Rohlfs (1971, 297, Karte 63) liefert kein zutreffendes Bild der Verhältnisse, weil die Zonen, in denen punga zwar nachzuweisen ist, aber nicht mehr ‘Tasche, Beutel’ bedeutet, nicht gekennzeichnet sind.
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*puggaz zugrunde, das vor dem Schwund der Auslautvokale als Soldatenwort in das Ostromanische drang”. Einen anderen Erklärungsversuch lieferte Richard Loewe (1906, 324), der vermutete, es habe neben dem starken puggs auch ein *pugga gegeben, das der schwachen maskulinen a-Deklination angehört habe und in dem “eine jüngere balkangermanische Neubildung vorzuliegen” scheine. Beide Ansätze sind nicht überzeugend: Gegen die Auffassung von Ernst Gamillscheg spricht die Überlegung, dass “frühgotische” Formen doch in der Periode v o r dem Eintritt der Goten in den Gesichtskreis der Griechen und Römer datiert werden müssen, so dass es gar nicht denkbar ist, dass eine Entlehnung des 6. Jahrhunderts eine direkte frühgotische Basis haben könnte. Die Ansicht von Richard Loewe, dass es neben dem starken und belegten puggs ein schwaches und unbelegtes *pugga gegeben habe, ist schon aus Gründen der Sprachökonomie unwahrscheinlich; außerdem erklärt sie nicht die Präsenz der germanischen Parallelformen, die alle Maskulinum sind. Unter diesen Umständen ist die Lösung wahrscheinlich in der entlehnenden Sprache zu suchen. Im Allgemeinen ist ja davon auszugehen, dass durch eine Entlehnung eine Lücke im Wortschatz gestopft wird. Nun kann man beim besten Willen nicht sagen, dass es im Griechischen und im Lateinischen aus Ausdrücken für ‘Beutel’ gefehlt hätte: Im Griechischen finden wir βαλάντιον, γρυµαία, θύλακος, κώρυκος, µάρσιπ(π)ος, πήρα und σάκ(κ)ος16, das Lateinische bietet crumēna, marsūpium, pera und saccus. Dabei war das wichtigste semantische Merkmal offenbar die Größe, denn mit βαλάντιον und µάρσιπ(π)ος bzw. mit crumēna und marsūpium meinte man eher den kleinen Beutel, also z. B. die ‘Geldbörse’17, mit γρυµαία, θύλακος, πήρα18 und σάκ(κ)ος bzw. mit pera und saccus dagegen den großen Beutel, beispielsweise den ‘Ranzen’ oder den ‘Wäschesack’. Das Material spielte eine geringere Rolle: Ein σάκκος ist meist aus Tierhaaren gefertigt, die anderen Beuteltypen waren üblicherweise aus Leder, aber auch andere Fertigungsstoffe kamen vor. Trotz dieser Vielfalt an Bezeichnungen ist dennoch ein Mangel zu konstatieren: Einen spezifischen Ausdruck für ‘Tasche’ gab es nicht, weder für das fest ins Gewand eingenähte kleine Behältnis noch für die durch einen – nor_________ 16 Einen Sonderfall stellt der im Sport verwendete ‘Sandsack’ dar, vgl. RE XI 2, 1452: “κώρυκος, ein länglicher, mit einer körnigen Substanz (Sand, Korn, Mehl, Feigen) gefüllter, schauchartiger Ledersack, der an einem Seil so aufgehängt wird, daß er einen Gegner im Faustkampf oder Pankration markieren kann, gegen den man stoßend und drängend vorgeht”. 17 RE XIV 2, 1982: “Der Geldbeutel war ein kleiner Sack, gewöhnlich aus Leder, der oben mittels einer in einer Schnurrinne ringsum laufenden Schnur zusammengezogen wurde. Beim Öffnen faßte man den Beutel oben und zog die Falten auseinander. [---] Es gab sehr einfache Beutel, wie auch solche, die mit Metallknöpfen oder mit kleinen Läppchen oder mit Bildern verziert waren. [---] In Pompei wurden leinene Geldbeutel gefunden”. 18 RE XIX 1, 563–564: “πήρα (ins Lateinische als Fremdwort übernommen) bezeichnet einen aus Leder hergestellten geräumigen offenen Sack, Brotsack, [---] der an einem über die rechte Schulter gelegten Riemen [---] über die linke Hüfte herabhing. [---] Die πῆρα gehörte zur Ausrüstung des Bauern, Hirten und Jägers. [---] In der πήρα wird Kleinvieh (Hühner, ein junges Lamm) zum Markt getragen. [---] Eine offenbar geräumige Reisetasche wird als πηρίδιον bezeichnet. [---] Eine schlauchförmige, also geschlossene πήρα hieß ἀσκοπήρα”.
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malerweise mit einem Griff versehenen – Rahmen in Form gehaltene Tragegerätschaft. Genau diese Lücke scheint nun punga bzw. πουγγίον geschlossen zu haben: In den militärischen Texten geht es klar um am Körper (des Reiters oder des Pferdes) befestigte Taschen, und im liturgischen Kontext ist eine Art von verziertem Täschchen gemeint. Wenn man nun die Frage stellt, welches von den Wörtern aus dem Begriffsfeld ‘Beutel’ für diesen Typ ‘Tasche’ am ehesten in Frage kam, so dürfte das γρυµαία bzw. crumēna sein. Im Griechischen bezeichnet γρυµαία ein Behältnis, das der Größe nach zwischen βαλάντιον und µάρσιπ(π)ος einerseits sowie θύλακος und πήρα andererseits einzuordnen ist. Das wird nicht so sehr durch die Definitionen derjenigen griechischen Lexikographen nahegelegt, die das Wort ziemlich wahllos anderen Bezeichnungen für tragbare Behältnisse an die Seite stellen19, sondern vielmehr durch die Erklärer, die eine Beziehung zu γρύτη konstruieren (Hesych s.v. γρυµαία: ἀγγεῖον, σκευοθήκη, ᾧ ἡ γρύτη· ἤδη καὶ τὰ λεπτὰ σκευάρια, ἃ καὶ γρύτην λέγοµεν), das sowohl den ‘Krimskrams’ als auch den ‘Behälter für Krimskrams’, also beispielsweise das ‘Kosmetiknecessaire’ (Sappho 179) oder die ‘Werkzeugkiste’ (P. Petr. 2, 32, 27), bezeichnete. Auch die modernen Etymologen sind sich sicher (Frisk 1973, I 239; Chantraine 1999, 238-239), dass γρυµαία und γρύτη zusammengehören: Beide sind eine Ableitung von γρῦ ‘ein Nichts, eine Kleinigkeit’, obwohl die genaue Wortbildung nicht klar ist. Das lateinische crumēna ist eine morphologisch adaptierte lateinische Entlehnung des griechischen γρυµαία, wobei wegen des stimmlosen Anlautes wahrscheinlich mit etruskischer Vermittlung zu rechnen ist (Ernout / Meillet 1985, 152). Das maskuline gotische puggs könnte sich bei seiner Eingliederung ins gesprochene Lateinische und wohl auch Griechische an das feminine Genus von crumēna bzw. γρυµαία angelehnt haben. Bis ins Letzte beweisen lässt sich eine derartige, bei der Entlehnung fremder Elemente durchaus geläufige, analogische Genusanpassung20 freilich kaum je; man kann sie nur wahrscheinlich machen.
_________ 19
So beispielsweise der ägyptische Attizist Pollux im 2. Jahrhundert n. Chr., der 10, 160 folgende Definition zum Besten gibt: καὶ γρυµαία (γρυµέα codd.) δὲ ἀγγεῖόν τι εἰς ἀπόθεσιν, ὃ ἔνιοι πήραν νοµίζουσιν, καὶ θύλακος καὶ ἀσκοθύλακος [---] καὶ ἀσκοπήρα. 20 Greive 1990, 120, zählt viele Beispiele dafür auf, dass bei der Übernahme französischer Elemente in die Kölner Stadtmundart das ursprüngliche Genus nicht bewahrt blieb. “In der Tat sind die Fälle zahlreich, in denen das entlehnte französische Wort in der Mundart das Genus eines semantisch nahestehenden autochthonen Wortes annimmt”.
22. ῥόγα / roga Abstract: The Latin military term ērogāre ‘to expend military pay’ has been borrowed into Greek as ῥογεύειν returning into Latin as rogāre in a bilingual context. This form is the basis for Latin roga ‘military pay’, which went back into Greek as ῥόγα. Both words have lived on in Greek, in Medieval Latin and in some Romance languages. Keywords: erogare, roga, military pay
1. ῥόγα, ῥογεύειν und ērogāre In byzantinischer und arabischer Zeit kommt in den Papyri nicht selten das Wort ῥόγα1 (in alten Ausgaben auch ῥογά akzentuiert2) vor3. Die Bedeutung ist ganz grob ‘Zuwendung für Soldaten’; es gibt ein zugehöriges Verb ῥογεύειν4. Hinsicht_________ 1
Auch ρωγα geschrieben: BGU I 304, 11; P. Lond. V 1660, 9. „One may guess that the editors thought that the word was actually a vulgar abbreviation of erogatio and so retained the accent on that syllable“ (John R. Rea, Kommentar zu P.Oxy. LVIII 3960, 38 [S. 126]). Es ist aber wahrscheinlicher, dass diese Akzentuierung ihren Grund darin hat, dass man, als die ersten Belege des Wortes bekannt wurden, an eine zu ῥόγος ‘Getreidemagazin’ gehörige Form dachte, vgl. BGU I 304, Kommentar zu Z. 11 (S. 297) und Herwerden 1902, 721. 3 Mir sind folgende Belege (in zeitlicher Reihenfolge) bekannt: P. Lond. V 1660, 9 [ca. 553]; P. Cairo Masp. II 67145, 6.9.10.13.26 [554]; P. Oxy. XVI 1913, 60 [ca. 555]; P. Berl. Zill. 13, 8 [VI]; P. Cairo Masp. I 67076, 4 [VI]; II 67145, 4 [VI]; III 67287, 2 [VI]; PSI VIII 953, 3.4.74 [VI]; P. Jand. 23, 5 [VI/VII]; P. Oxy. XVI 2010, 2 [618]; P. Oxy. LVIII 3960, 38 [621]; BGU I 304, 11 [647]; P. Ness. III 92, 36.38.42.43 [ca. 685]; CPR VIII 74, 3.7. [698]; P. Lond. IV 1349, 15 [710]; 1357, 2 [710]; 1394, 8 [709/710]; 1433, 17.19.92.93.147.148.194.195.243.244.255 [705]; 1434, 312 [716]; 1435, 26 [716]; CPR XXII 50, 15 [VIII]. 4 Belege: O. Douch II 61, 2; 83, 1; 101, 3; 163, 6 [IV]; P. Lond. V 1889, 7 [VI]; P. Cairo Masp. I 67076, 8.11 [VI]; II 67145, 1 [554]; III 67341[VI]; P. Jand. II 23, 5 [VI/VII]; P. Oxy. LVIII 3960, 26 [621]; BGU I 304, 15 [647]; SB XIV 11844, 1 [VII]; CPR XXIV 31, 11 [VII]. – G. M. Parássoglou 1977/1978, 67-69, möchte ein ῥωῆσαι, das in einem Brief aus dem späten 4. oder 5. Jh. zweimal vorkommt (P. Oxy. XVI 1929, 2 und 4), zu ῥογῆσαι verbessern; das wäre dann der Infinitiv Aorist zu einem bislang unbezeugten Verb ῥογάω, für das G. M. Parássoglou “the meaning of modern Greek ρογιάζω” ansetzt, also ‘mieten’. Völlig überzeugend ist dieser Vorschlag nicht: Der Beleg wäre früher als die erste Bezeugung von ῥόγα, dessen Sinn ‘Lohn’ für die Bedeutungsentwicklung zu ‘mieten’ vorausgesetzt werden muss, und außerdem geht es im Papyrus um das Mieten eines Bootes, während neugriechisch ρογιάζω, dessen Aorist ἐρρόγιασα übrigens schlecht zu ῥογῆσαι passen will, nur ‘eine Person in Lohn nehmen’ heißt (Μέγα Λεξικόν 8, 6420: µισθῶ τινα, προσλαµβάνω τινὰ εἰς τὴν ὑπηρεσίαν µου ἐπὶ µισθῷ). – Der Offizier, der für die Verteilung der ῥόγα zuständig war, hieß ῥογάτωρ (P. Lond. V 1889, 14 [VI]; SB XXII 15511, 1; 15512, 1; 15513, 1; 15514, 2 [VI/VII]; P. Horak 31, 2; 32, 2; 33, 1; 34, 2; 35, 1; 36, 2; 37, 2; 38, 3; 39, 1; 40, 1; 42, 2; 43, 1; 44, 1; 45, 1; 46, 2; 47, 1; 48, 2; 49, 1; 50, 1; 51, 3; 52, 2; 53, 1; 54, 2; 55, 2
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lich sowohl der Herkunft des Wortes als auch seiner Bedeutung ist längst nicht alles geklärt, so dass es sich vielleicht lohnt, auf diesen Terminus der Soldatensprache näher einzugehen. Schon in der ersten Sammlung von Latinismen im Griechischen der Papyri werden ῥόγα und ῥογεύειν genannt (Wessely 1902, 146), und seither gibt es keinen Zweifel mehr daran, dass diese Wörter lateinischen Ursprungs sind (Meinersmann 1927, 53; Daris 1991, 99). Völlig unproblematisch ist die Herleitung freilich nicht: Die meisten Wörterbücher des antiken Lateins kennen kein Wort roga. Der Erstbeleg scheint in den Briefen Gregors des Großen (2, 45 [46] = PL 77, 584C und 9, 240 [124] = PL 77, 1057C) in der Bedeutung ‘Sold’ zu stehen, und in einem spätantiken Glossar steht roga eleemosyna (CGL 5, 609, 12). Erst in den mittellateinischen Wörterbüchern ist roga gut erfasst (Du Cange 7, 204–205; Niermeyer 2002, II 1203). Den Sinn, der für ῥόγα erforderlich ist, hat ungefähr ērogātiō, das seit Cicero (ad Att. 15, 2, 4) vorkommt (ThLL V 2, 797–799) und zunächst ‘Geldzahlung, Geldausgabe’, später auch ‘Austeilung von Naturalien’5 bedeutet. Dieses gut lateinische Wort wird dann auch im Allgemeinen zur Erklärung von ῥόγα ins Feld geführt; das Verb ῥογεύειν wird bereits von Friedrich Preisigke ohne Weiteres zu ērogāre gestellt. Dass allerdings in der Soldatensprache ganz einfach ērogātiō zu roga verkürzt worden sei, wie es Bernhard Meinersmann (1927, 53) anklingen lässt, ist schlechterdings ausgeschlossen, denn es hieße doch, die Lateinkenntnisse der halbbarbarischen Soldaten der Spätantike weit zu überschätzen, wollte man ihnen zutrauen, dass sie aus ērogātiō den Stamm roga hätten herauslösen können. Es gilt vielmehr, in einer anderen Richtung zu suchen. 2. ῥογεύειν als regelmäßiges Ergebnis von ērogāre Zunächst muss man die Frage beantworten, was primär ist, das Substantiv ῥόγα oder das Verb ῥογεύειν. An Hand der Belege lässt sich die Frage klar beantworten: Das Substantiv ist zwar häufiger, kommt aber erst seit dem 6. Jahrhundert vor6, hingegen gibt es das Verb schon im 4. Jahrhundert7. _________ 1; 56, 2; 57, 2; 58, 1; 59, 2 [Anfang VII]), was dem lateinischen ērogātor (üppig belegt, ThLL V 2, 799, 15–41) entspricht (vgl. zum Amt Mitthof 2001, 100). 5 OLD 617: „to pay out, disburse, expend (public money, originally after the passing of a rogatio)“. Im ThLL V 2, 798, findet man: „1. sumptus, impensa, stricto sensu de impensis publicis ex aerario factis; latiore sensu de quolibet sumptu pecuniae privatae; 2. distributio, a. de distributione publice facta, α. distributio annonae, stipendii, quae fit ad milites, populum, β. distributio aquae ex ductibus, castellis in publicos vel privatos usus; b. distributio privatae pecuniae, eleemosynarum in pauperes facta“. 6 Der früheste Beleg stammt aus einer Inschrift aus Arabia vom Anfang des 6. Jahrhunderts, siehe unten, Anm. 8. 7 In den auf die annona militaris des 4. Jahrhunderts bezüglichen Ostraka aus Kysis in der Oasis Maior kommen viermal Formen von ῥογεύειν vor: O. Douch. II 61, 2; 83, 1; 101, 3; 163, 5. Interessant ist 101, 3: ἐρό[γευσα] ἄρτου ἀννώνα[ς] (ανονα[ς] O.) [εἴκοσι ἕξ]. Ein handschriftlich überlieferter Beleg aus dem Jahre 536 liegt vor in den Acta Conciliorum Oecumenicorum (ed. E. Schwartz) III, p. 60, 37.
22. ῥόγα / roga
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Dieser Befund findet eine Stütze in der Wortstruktur. Zunächst wird man annehmen, dass ῥογεύειν von lat. rogāre kommt. Dieses Verb kann vielerlei heißen, die Zentralbedeutung ist aber zweifellos ‘bitten’, und auch ‘Geld fordern’ kommt vor, vgl. z. B. argentum rogare (Plaut. Pers. 39), minas rogare (Plaut. Pseud. 1070), nummos rogare (Mart. 14, 9, 2). Allerdings gibt es keine Bedeutung, die im Bereich von ‘eine Forderung erfüllen’ oder gar ‘austeilen, auszahlen’ läge. Genau dieser Sinn ist aber für ῥογεύειν zu postulieren: P. Cairo Masp. I 67076, 8 παρηγγέλθην (παρεγγελθην P.) παρὰ τῆς αὐτοῦ λαµπρ(ότητο)ς µὴ ῥογεῦσαι οἶνον kann nur so verstanden werden, und ebenso ist es bei BGU I 304, 8-18: ὁµολογῶ ἐγὼ ὁ προ(κείµενος) | ᾿Ηλιᾶς εἰληφέναι | καὶ δεδέχθαι παρ᾿ ὑµῶν | λόγῳ τῆς ῥόγας (ρωγας Ρ.) τοῦ | αὐ(τοῦ) βορρ(ινοῦ) κλίµατος κ´´ -, καὶ ἑτοίµως | ἔχειν µε ταύτας ῥογεῦσαι (ρωγευσαι Ρ.) ὑµῖν ἐν ψωµίοις ἀνεµποδίστως, ὁτε|δήποτε βουληθείητε. Auch alle anderen Belege setzen ‘austeilen’ voraus. Damit ist aber klar, dass ῥογεύειν nicht zu rogāre gestellt werden kann, sondern mit Sicherheit von ērogāre kommt, das ‘pecuniam impendere’ und vor allem ‘pecuniam publicam impendere’ sowie schließlich ‘annonam, stipendium sim. militibus, populo distribuere’ bedeutet; der spezifische Sinn ‘annonam aut stipendium militibus distribuere’ ist die Bedeutung, die wir für die Papyrusbelege von ῥογεύειν brauchen. Auch formal bestehen keine Probleme bei der Herleitung des griechischen ῥογεύειν vom lateinischen ērogāre, denn die Adaptation ist völlig normal: Es gibt eine Tendenz, die Endung –εύειν für alle lateinischen Verbausgänge eintreten zu lassen: ambitāre > ἀµβιτεύειν, complēre > κοµπλεύειν, expellere > ἐξπελλεύειν (Psaltes 1913, 318-321). Vokalische Verbanfänge, vor allem ἐ- und ἠ-, werden gern abgestoßen, weil sie in den Vergangenheitstempora wie ein Augment aussehen. Bei der Entlehnung des lateinischen Verbs ērogāre ins Griechische ist somit ῥογεύειν geradezu das zu erwartende Resultat. 3. Wortwanderungen an der Sprachgrenze: ērogāre > ῥογεύειν > rogāre > roga > ῥόγα Entsprechendes kann man im Falle des Substantivs wirklich nicht behaupten: Es gibt keine Möglichkeit, ῥόγα problemlos von dem Substantiv, das im Lateinischen zum Verb ērogāre gehört, nämlich von ērogātiō, herzuleiten. Als Sinn von ērogātiō wird im ThLL 2, 798, generell ‘sumptus, impensa, impendium’ angegeben, und zwei spezifische Bedeutungen werden angeführt: ‘distributio annonae, stipendii sim., quae fit ad milites, populum’ und ‘distributio privatae pecuniae, eleemosynarum in pauperes facta’. Die Bedeutung ‘distributio annonae, quae fit ad milites’ würde bestens zu den Papyrusbelegen passen, aber man kann sich von der Form her kaum vorstellen, wie ērogātiō als ῥόγα ins Griechische hätte kommen können. Man würde ἠρογατίων erwarten, denn die Substantive auf –tiō werden als –τίων (ōrātiō > ὠρατίων, indictiō > ἰνδικτίων) übernommen, und der Wegfall des Anlaut-ē ist bei einem Substantiv auch weniger leicht zu erklären als
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bei einem Verb8. Auf direkte Weise lässt sich ῥόγα sicher nicht mit ērogātiō verbinden, und man muss eine andere Lösung suchen. Zunächst einmal könnte man ja annehmen, ῥόγα sei überhaupt eine erst im Griechischen erfolgte Bildung und nicht ein aus dem Lateinischen fertig übernommenes Wort. Formal gibt es einen Anknüpfungspunkt: Es liegen im Mittelund Neugriechischen einige postverbale Neubildungen auf –α vor (z. B. ἡ γνώρα zu γνωρίζω, ἡ γύρα von γυρίζω, ἡ κάρα zu καρώνω), die auch bei Verben auf –εύω auftreten, wenn auch nicht gerade häufig: G. N. Hadzidakis (1892, 95-96) nennt ἡ παῖδα zu παιδεύω, ἡ ζήλα zu ζηλεύω, ἡ κλάδα zu κλαδεύω und ἡ λάτρα zu λατρεύω. So könnte man sich auch vorstellen, dass zu ῥογεύω ganz entsprechend ein Substantiv ἡ ῥόγα gebildet wurde. Bei näherem Hinsehen wird man diese Lösung jedoch verwerfen müssen: Keines der von G. N. Hadzidakis genannten Substantiva ist eine antike Bildung, und es scheint, dass dieser auch im Mittelund Neugriechischen am Rande des Systems stehende Typ erst vom 15. Jahrhundert an zu belegen ist. Zu einer plausibleren Lösung kommt man, wenn man bedenkt, dass gerade in frühbyzantinischer Zeit beim Militär in hohem Maße von einer lateinisch-griechischen Zweisprachigkeit auszugehen ist: Die Kommandosprache und zum Teil auch die Umgangssprache unter den aus Angehörigen der verschiedenen Sprachgemeinschaften zusammengewürfelten Truppen (neben dem Vorhandensein informeller “nationaler” Gruppen) war das Lateinische in einer sicher sehr vulgären Form (Zilliacus 1935, 113–140; Reichenkron 1961, 18–27; Adams 2003, 760– 761); die zivile Umwelt bediente sich des Griechischen. Unter diesen Umständen ist die Annahme erlaubt, dass es ein sprachliches Hin und Her zwischen Griechisch und Latein geben konnte: Das Griechische nahm Latinismen auf, das Lateinische war Gräzismen gegenüber offen, und natürlich mussten diejenigen, die mal die eine, mal die andere Sprache verwendeten, eine Vorliebe für Wörter haben, die in beiden Sprachen mehr oder weniger identisch waren. Für unseren konkreten Fall ergibt sich aus der Überlegung, dass folgende Annahme zumindest nicht auszuschließen ist: ērogāre wurde regelentsprechend als ῥογεύειν ins Griechische übernommen und wirkte von da wieder zurück auf das Lateinische, so dass in der Militärsprache ērogāre durch rogāre ersetzt wurde. Dieser Vorgang wurde vielleicht durch eine Volksetymologie erleichtert: Der Staat zahlt Sold, weil die Soldaten ihn fordern – der Sold entspricht also ihrer Forderung. Diese Annahme muss aber eine unbeweisbare, wenn auch naheliegende Vermutung bleiben. Wenn aber im Lateinischen rogāre statt ērogāre verwendet werden konnte9, dann stellt die Bildung des Substantivs roga kein Problem mehr dar. Ein im _________ 8 Übrigens wurde ērogātiō anscheinend tatsächlich ins Griechische übernommen: In einer Inschrift aus der Provinz Arabia (Qasr el-Hallabat) vom Anfang des 6. Jh. (SEG 32 [1982], 1554, 73) steht ΗΡΟΓΑΠΟΝΩ[Ν], was anstelle von Π mit ΤΙ als ἠρογατιόνων zu lesen ist. In demselben Text kommt ῥόγα vor (Z. 53). 9 Es gibt in handschriftlich überlieferten Texten einige Fälle, in denen Formen von rogāre statt ērogāre stehen (z. B. Cic. Flacc. 30; Sen. contr. 1, 2, 7; Firm. math. 5, 3, 12, vgl. ThLL V 2, 799,
22. ῥόγα / roga
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klassischen Latein seltenes, im vulgären Latein häufigeres und erst in den romanischen Sprachen wirklich zur vollen Entfaltung gekommenes Verfahren zur Ableitung von Substantiven aus Verben der a-Konjugation ist die nominale Verwendung des endungslosen Stammes. In der Latinistik spricht man von Wurzelsubstantiven der 1. Deklination auf –a (Kühner 1989, 968 = § 221.1.a) oder von Neoprimitiva (Leumann 1977 = § 258 B), in der Romanistik von Postverbalia 10 (Meyer-Lübke 1894, 442 = § 397) oder von deverbalen suffixlosen Nominalbildungen (Rohlfs 1954, 365 = § 1171). Geläufige lateinische Beispiele sind pūgna zu pūgnāre, lucta zu luctārī oder secta zu sectārī (Rönsch 1891, 194–195). In diesem Zusammenhang ist auch roga zum Verb rogāre zu stellen. Wenn wir für rogāre vor dem Hintergrund von ῥογεύειν die Bedeutung ‘den Soldaten ihren Sold austeilen’ annehmen, dann bedeutet das postverbale Neoprimitivum roga ‘Austeilung des Soldes an die Soldaten’11, und das ist genau der Sinn, den ῥόγα in den Papyri hat. Der hier skizzierte Gedankengang beruht auf der Annahme, dass die Ersetzung von ērogāre durch rogāre und die anschließende postverbale Neoprimitivum-Bildung im Osten des Reiches im griechisch-lateinischen Sprachkontext erfolgt sei. Für die Hüter der lateinischen Tradition verstieß roga offenbar gegen die guten Sprachbildungsregeln, und sie vermieden den Terminus in ihren Schriften; für die Griechen war es hingegen lediglich eines der vielen Fremdwörter aus der Sprache der mächtigen Römer, nicht schön, aber durchaus akzeptabel. Die Chronologie und die Häufigkeit der Belege von roga und ῥόγα weist durchaus in diese Richtung. In griechischen Papyri kommt ῥόγα seit der Mitte des 6. Jahrhunderts vor12, hingegen stammt der früheste lateinische Beleg erst vom Ende des 6. Jahrhunderts13. Man muss im Lateinischen den Eindruck haben, dass sich zu_________ 76–78). Die Ausgaben haben hier im Allgemeinen emendiert. Es ist sehr schwer, ein Urteil darüber zu fällen, inwiefern einfache Schreibfehler (in klassischen Texten wahrscheinlich) oder spätlateinische Sprachphänomene (in vulgär gefärbten Texten zumindest nicht auszuschließen) vorliegen. 10 Den Terminus „postverbale Rückbildungen“ verwendet allerdings auch der Latinist Wilhelm Heraeus (1937, 151–152). 11 Vgl. auch Heraeus 1937, 152, Anm. 5. – Ein Entwicklungsgang ērogāre > *ēroga mit anschließender Aphärese des ē- ist kaum vorstellbar, weil bei *ēroga ja die erste Silbe den Akzent getragen hätte, was eine Aphärese ausschließen würde. 12 P.Lond. V 1660 ist durch die Nennung von uns bekannten Pagarchen auf das Jahr 553 einzugrenzen, P.Oxy. XVI 1913 ist auf die Jahre um 555 zu datieren, PSI VIII 953 gehört nach der Überzeugung des Herausgebers Girolamo Vitelli in die Zeit Justinians († 565). 13 Die älteste Stelle ist auf 592 zu datieren: Greg. M. ep. II 45 = 46 (= MGH Ep. I, p. 145, 5–6 = PL 77, 584 C): Theodosiaci vero, qui hic remanserunt, rogam non accipientes vix ad murorum quidem custodiam se accommodant. Der zweite Beleg stammt ebenfalls von Gregor dem Großen (ep. IX 240 = 124) und ist auf den August des Jahres 599 zu datieren: Es geht um die Auszahlung der militaris roga an die Truppen in Ravenna (MGH Ep. II, p. 234, 24 und 32 = PL 77, 1057 C und 1058 A). In dem Teil des Liber pontificalis, das bis 715 reicht, heißt es in der Biographie des Papstes Deusdedit (MGH Gesta Pont. I, p. 166, 12): Eleutherius patricius [...] reversus est Ravennam et data roga militibus facta est pax magna in tota Italia. In der Severinus-Vita (ib. p. 175, 8) ist die Rede von den rogae, quas domnus imperator [...] mandavit. In einem Brief des
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nächst alle Stellen auf Gegebenheiten beziehen, die in irgendeiner Beziehung zu Ravenna stehen, also mit dem oströmischen Reich zu verbinden sind. Erst vom 8. Jahrhundert an wurde roga häufiger und nahm weitere Bedeutungen an: ‘Geldausgabe’, ‘Stiftung’, ‘Festessen’, ‘Almosen’, ‘Bitte’, ‘Gebet’ (Du Cange 7, 204–205; Niermeyer 2002, II 1203). Fassen wir zusammen! Das aus dem lateinischen Militärterminus ērogāre ins Griechische entlehnte ῥογεύειν wirkte in der Zweisprachigkeitssituation des oströmischen Militärs auf das Lateinische zurück, so dass man dort ērogāre zu Gunsten von rogāre aufgab. Dazu wurde im östlichen Militärlatein die suffixlose substantivische Ableitung roga gebildet, die wiederum als terminus technicus für ‘Sold’ als ῥόγα im Griechischen erscheint. Im Westen erweckte roga noch lange Zeit den Eindruck eines byzantinischen Fachausdrucks, bis es dann vom 8. Jahrhundert an mit etwas veränderter Bedeutung über das päpstliche Latein zu einem geläufigen mittellateinischen Wort wurde. 4. Das Nachleben von ῥόγα, ῥογεύειν und roga Sowohl im Mittel- und Neugriechischen als auch in den romanischen Sprachen gibt es ein Nachleben. Bis zum Ende des byzantinischen Reiches kann ῥόγα sowohl für ‘Sold’ als auch für ‘Neujahrsgeschenk des Kaisers an die Soldaten’ gebraucht werden14. Im volkstümlichen Neugriechischen heißt ρόγα ‘vereinbarter (Jahres-)Lohn eines Knechts’ (Μέγα Λεξικόν 12, 6420: ‘(δηµ.) συµπεφωνηµένος, ἰδ. ἐτήσιος µισθὸς ὑπηρέτου’), besonders ‘Lohn eines Hirten oder eines Landarbeiters’ (Παπυράκι 1518: ‘(λαϊκ.) η αµοιβή κτηνοτρόφου ή αγρότη’). Das Verb ῥογεύω bedeutete bis zum Ende des byzantinischen Reiches ‘die ῥόγα austeilen’ (Sophocles 1914, 971), und es lebt bis heute in Dialekten: Zypern ροεύκω ‘an seinem Namenstag Freunde mit Sesambrezeln beschenken’, Ost-Kreta ρογεύγω ‘schenken, verschwenden’ (Andriotis 1974, 481 = Nr. 5234)15. Auch in den romanischen Sprachen gibt es Nachfolgeformen des Substantivs (REW 7360a): rumänisch rugă ‘Gebet; Kirchweihtag’16, aromunisch arugă ‘Lohn, Sold’ (Papahagi 1974, 214), altitalienisch reva ‘Zoll, Lagersteuer’ (DEI 5, 3238), sardisch (lo_________ Papstes Leo aus dem Jahre 813 (MGH Ep. V, p. 100) geht es darum, dass die roga in einem byzantinischen Thronstreit eine Rolle spielt. – In den ravennatischen Papyri gibt es keinen Beleg für roga. 14 Du Cange 1688, 1302: ‘roga, donativum, honorarium, stipendium [...]; praeterea sumitur et usurpatur praesertim pro militum stipendiis’ (sehr viele Belege). Das Wort kommt durchaus in volkssprachlicher mittelgriechischer Literatur vor, vgl. z. B. Digenes Akritas 2, 369; Erotokritos 4, 886. 15 Das vielfach angeführte ragèggo aus Condofuri in der süditalienischen griechischen Sprachinsel Bova wird bei Rohlfs 1964, 440, als „ghost-word“ statt pajèggo < it. pagare bezeichnet. Der einzige Beleg für das Wort ist die Wortsammlung, die G. Morosi 1878 im Archivio Glottologico Italiano veröffentlicht hat. 16 Der Tonvokal ist vom Verb a ruga beeinflusst. Das rumänische Wort ist in die ostslavischen Sprachen eingedrungen, wo sich ältere Bedeutungen bewahrt haben: russisch ruga ‘Deputat, das die Eingepfarrten dem Geistlichen jährlich zu entrichten hatten; die dem Landklerus zugewiesenen Ländereien; Lohn, Zahlung, kirchliches Eigentum’ (Vasmer 1979, II 543).
22. ῥόγα / roga
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gudoresisch) roa ‘rigore’ (DES 2, 360), altfranzösisch rueve f. ‘droit sur les marchandises qui entraient dans le royaume et qui en sortaient’ (champ. 1264), mittelfranzösisch, neufranzösisch reve (1358–1701), resve (1461–1723), rêve (1688– 1771), altprovenzalisch reva ‘taxe municipale imposée sur les objets de consommation’ (14.–15. Jh.), provenzalisch rèvo ‘octroi’ (vieilli)17. Das albanische rrogë ‘Lohn von Dienern oder Hirten; (Monats-)Gehalt’ (mit vielen neuen Ableitungen) könnte direkt aus dem Griechischen entlehnt sein, es könnte sich aber auch um einen der zahlreichen Latinismen dieser Sprache handeln. Im Allgemeinen verfolgt man die Geschichte des Spätlateinischen in Gegenden, wo eine Verankerung in der lebendigen Volkssprache vorliegt; weniger Interesse wurde von jeher den Zonen gewidmet, die der Romanität verloren gingen (Pfister 1992). Das Lateinische als nicht-muttersprachliches Verständigungsmittel einiger weniger Sondergruppen im ansonsten griechischen Osten galt immer als quantité négligeable. Zweifellos kann man nur in einigen vom Zufall begünstigten Ausnahmefällen hoffen, wie bei roga einen Blick auf dieses unbeständige Diaspora-Latein werfen zu können18 – sicherlich hat es aber einige Wörter ans Griechische und / oder ans westliche Mittellatein weitergegeben und spielte somit zumindest eine Nebenrolle beim Zustandekommen der griechisch-lateinischen Sprachsymbiose, ohne die die europäische Kulturgeschichte anders verlaufen wäre.
_________ 17 18
Angaben nach FEW 10, 443–444. Einige einschlägige Werke: Petersmann 1989; 1992; Mihăescu 1974.
23. σικάριος, σικάριον / sica, sicilis, sicarius Abstract: The archaic Latin word sīcīlis ‘lance-head’ < sīca ‘stab’ was replaced by Latin sĭcĭlis ‘sickle’ which continues in Romance and Germanic languages. However, sīcārius ‘murderer’, another derivation from sīca, is a normal Latin word; it passed as σικάριος into Palestinian Greek to describe a radical fraction of Jewish resistance fighters. On the other hand, a similar word, σικάριον, which in papyri denotes a ‘knife’, seems to have another origin: it is a hybrid formation, Latin sīca with a Greek suffix. Keywords: sica, sicilis, sicarius, knife, sickle, murderer
1. sīcīlis ‘Speerspitze’ und sĭcĭlis ‘Sichel’ im Lateinischen und Romanischen Das lateinische Wort sīca bezeichnet ein Art ‘Dolch’1. Es ist seit Ennius üppig belegt (ann. 504 Vahlen = Fest. p. 453, 11 Lindsay): Illyrii restant sicis sybinisque fodantes. Es bleiben die Illyrier, die mit Dolchen und mit Spießen graben. Davon ist ein anderes Substantiv, sīcīlis, abgeleitet, das sich nach den Exzerpten des Paulus Diaconus aus Festus (p. 453, 20–21 Lindsay) bei Ennius (ann. 507 Vahlen) auf die eiserne Spitze der Lanze bezog: siciles hastarum spicula lata. Ennius: «incedit ueles uulgo sicilibus latis».
Die breiten Spitzen der Lanzen heißen siciles. Ennius: «Die Leichtbewaffneten rücken überall mit breiten Lanzenspitzen vor».
Ein Abschnitt bei Plinius dem Älteren passt freilich nicht gut zu dieser Bedeutung. Dort wird – mit einem Varro-Zitat – das Kaspische Meer folgendermaßen beschrieben (nat. hist. 6, 38): irrumpit autem artis faucibus et in longitudinem spatiosis atque, ubi coepit in latitudinem pandi, lunatis obliquatur cornibus, uelut ad Maeoticum lacum ab ore descendens, sicilis, ut auctor est M. Varro, similitudine.
_________ 1
August Hug, “Sica”, RE II A 2, 2184–2185.
Der Ozean bricht durch eine schmale, in der Länge ausgedehnte Mündung ein u und krümmt sich, sobald er sich in die Breite auszudehnen beginnt, wie die Hörner des Halbmondes; er gleicht da, wo er von der Mündung an sich in Richtung des Mäotis-Sees hinzieht, einer Sichel, wie M. Varro berichtet.
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An dieser Stelle wäre ‘Lanzenspitze’ sinnlos; man muss stattdessen an eine Art Sichel denken. In der Tat übersetzen die zweisprachigen Glossare sīca mit σμίλα, wörtlich ‘Schnitzmesser, Federmesser, Krummmesser’ (CGL 2, 243, 52; 524, 44). Die Bedeutung ‘Sichel’ geht auch aus dem etymologischen Versuch hervor, mit dem Varro (de re rust. 1, 49, 2) das Nachsicheln einer bereits gemähten Wiese zu erklären sucht: quo facto sicilienda prata, id est falcibus consecanda [---]; a qua sectione arbitror dictum sicilire pratum.
Wenn das getan ist, muss man die Wiesen nachsicheln, d. h. mit Sicheln kurz schneiden [---]; von diesem Schnitt (sectio) ist, glaube ich, der Ausdruck sicilire pratum abgeleitet.
Auch die Wörter, die in den romanischen Sprachen weiterleben, bedeuten ‘Sichel’; sie können aber mit Ausnahme von rum. secere ‘Sichel’ aus lautlichen Gründen nicht auf eine Grundform mit drei kurzen ĭ zurückgehen. Normalerweise ist das Etymon aus der i-Deklination in die a-Deklination (sĭcĭlis > sĭcĭla) übergegangen: dalmatisch secla (Bartoli 1906, II 222), istrisch sèsula, venezianisch, paduanisch, trevisisch, vicentinisch, bellunesisch sésola, roveretisch sesla (Prati 1968, 163), valsuganisch ziésla, genuesisch seisa, piemontesisch s(i)ésa (REW Nr. 7900), friaulisch sésule (Pirona 1972, 1014–1015), unterengadinisch saischla (HdR 2, 688), dolomitenladinisch sëisla (EWD 6, 191–192), lothringisch seille, wallonisch sèye (FEW 12, 591). Was die germanischen Sprachen anbelangt, so tritt das Wort im Englischen, Niederländischen und Deutschen auf, also in Sprachen, die an das Ostfranzösische, Norditalienische und Alpenromanische grenzen, die sĭcĭla bieten, so dass Theodor Frings (1932, 61) mit Recht von einem “geschlossenen norditalienisch-rätisch-deutsch-niederländisch-ostfranzösisch-bretonisch-angelsächsischen Komplex” reden konnte: altenglisch sicol (> neuenglisch sickle), mittelniederländisch sēkele (> afrikaans sekel) oder sickel (> niederländisch sikkel)2, althochdeutsch sihhila (> mhd. sichel > neuhochdeutsch Sichel). Wir finden wirklich in den spätantiken Glossaren die lateinische Form, die wir brauchen, um die romanischen und germanischen Formen problemlos zu erklären: sicila σµίλα, ἀρβήλιον (CGL 2, 183, 33); sicila σµίλα, χαρτοτόµος (CGL 2, 183, 38). Das Neutrum kommt auch vor: sicilum ξυρὸν σκυτέως (CGL 2, 183, 34). Die rurale Form secula ist bei Varro (ling. Lat. 5, 137) belegt: falces a farre littera commutata; hae in Campania seculae a secando.
falces (Sicheln) nach far (Getreide), unter Abänderung eines Buchstabens; in Kampanien heißen die Sichel seculae nach secare ‘abschneiden’.
_________ 2
Jan de Vries 1971, 640: “Het woord is reeds voor de 5de eeuw ontleend; de Angelsaksen schijnen het oog in hun oorspronkelijke woonplaats te hebben leren kennen; het latijnse woord drong uit Noord-Italië en Gallië het Germaanse gebied binnen als een vakterm van het landbouwbedrijf”.
23. σικάριος, σικάριον / sica, sicilis, sicarius
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In der Romanistik nimmt man schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts an, dass sīcīlis und sĭcĭlis zwei verschiedene Wörter seien. Wilhelm Meyer-Lübke äußerte schon 1894, 323, die Vermutung, dass sĭcĭlis “von sĕcāre mit demselben Suffixe gebildet” sei “wie utilis usw., vgl. wegen des Ablautes i : e similis neben semel”. Im REW 7771 tritt sēcŭla (> it. segolo) auf, REW 7900 wird sĭcĭlis als Etymon für die anderen romanischen Formen aufgeführt außer für ostfranzösisch seł, das von ahd. sichila abgeleitet wird; so steht es in der ersten und zweiten Auflage, mit einigen zusätzlichen Erklärungen auch in der dritten. Walther von Wartburg drückt sich im FEW (11, 591) ganz deutlich aus: Lat. sĭcĭlis ‘Sichel’ ist bei Plinius bezeugt. Daneben besteht ein sīcĭlis ‘Lanzenspitze’, das bei Ennius steht und zu sīca ‘Dolch’ gehört. Die beiden sicilis haben nichts miteinander zu tun. [---] Es ist erstaunlich, wie durch mindestens 15 Jahrhunderte die zwei sachlich und lautlich so eng verwandten Verben auseinandergehalten werden konnten: ‘faucher (avec la faucille) le blé’ (Ableitung von sĭcĭlis) und ‘faucher (avec la faux) l’herbe’ (< sĕcare). [---] Ein schlagendes Beispiel der Präzision des landwirtschaftlichen Vokabulars. Diese Theorie ist in der Romanistik nie in Zweifel gezogen worden, aber sie fand in der Latinistik kein wirkliches Echo: Die Etymologika berichten sie kommentarlos3, aber in den normalen Wörterbüchern (z. B. OLD 1755) findet sie keinen Niederschlag. Und in der Tat musste doch das Nebeneinanderexistieren von zwei phonetisch und semantisch so eng verwandten Wörtern wie dem auf der vorletzten Silbe akzentuierten sīcīlis ‘metallene Lanzenspitze’ und dem auf der drittletzten Silbe akzentuierten sĭcĭlis ‘Sichel’ Probleme bereiten, die auf lange Sicht dazu führen mussten, dass eines der beiden Wörter dem Untergang geweiht war. Wenn man genau hinschaut, so hat man tatsächlich den Eindruck, dass sīcīlis ‘metallene Lanzenspitze’ schon in der republikanischen Zeit nicht mehr wirklich lebendig war. Es ist ja so, dass der zwischen 184 und 169 v. Chr. geschriebene Ennius-Vers der einzig wirkliche Beleg für das Wort ist, und schon im 2. Jahrhundert n. Chr. fand Festus es angebracht, eine Erklärung zu diesem unverständlich gewordenen Element zu machen. Hingegen ist sĭcĭlis ‘Sichel’ ganz lebendig und in den Nebenformen sĭcĭla und sēcŭla auch im nichturbanen Latein gut verankert, und in den romanischen Sprachen sowie in den germanischen Grenzidiomen leben sowohl sĭcĭlis als auch sĭcĭla weiter. Wir haben es also mit dem in der Wortgeschichte nicht seltenen Fall des “Homonymie-Konflikts” zu tun, in dessen Verlauf von zwei gleichlautenden oder nahezu gleichlautenden Wörtern eines das Feld räumen muss; das ist normalerweise das seltener verwendete Element (Tagliavini 1998, 23 = § 9), also in unserem Falle sīcīlis ‘metallene Lanzenspitze’. _________ 3 Walde / Hofmann 1982, 533 (s. v. sīca ‘Dolch, Dolchstich’): “sīcīlis, -is ‘Lanzenspitze’ (Enn., rom. * sĭcĭlis nach secāre, sectilis)”. Ernout / Meillet 1985, 623: “sĭcĭlis, -is f. ‘fer de lance, à large lame recourbée; a dû désigner aussi une sorte de faucille. [---] Ancien, technique. La quantité de sīcīlis est attestée par le vers d’Enn. [---], mais les formes romanes remontent à sĭcĭlis [---] (influence de sĕcāre, sectĭlis?). Sans doute de sīca?”.
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2. sīcārius ‘Mörder’ im Lateinischen Wenn also sīcīlis ‘metallene Lanzenspitze’ in der kaiserzeitlichen Latinität nicht mehr lebendig war, so blieb doch dessen Basis sīca ‘Dolch’ ein geläufiges Wort, das in der historischen Prosa nicht selten war (Val. Max. 3, 2, 12; Suet. Cal. 32, 2; Amm. Marc. 30, 4, 9) und das sogar in der Dichtung vorkam (Mart. 3, 16, 2). Zu sīca ‘Dolch’ gehört die Ableitung sīcārius ‘Messerstecher, Mörder, Meuchelmörder’. Schon für Isidor von Sevilla war die Verbindung zwischen sīca und sīcārius offenkundig (orig. 10, 252): sicarius uocatur, quia ad perpetrandum scelus telis armatus est. sica enim gladius est, a secando uocatus.
Der Mörder (sicarius) wird so genannt, weil er zur Ausführung seines Verbrechens mit einer Waffe ausgestattet ist; sica ‘Dolch’ ist nämlich ein Kurzschwert, das nach secare ‘schneiden’ benannt ist.
Quintilian nennt einige Ausdrücke für Kurzschwert und Messer wie ensis, gladius, ferrum und mucro, jedoch nicht sica, fährt dann aber fort (10, 1, 12): per abusionem sicarios enim omnis uocamus, qui caedem telo quocumque commiserunt.
In missbräuchlicher Verwendung nennen wir alle sicarii ‘Messerstecher’, die mit irgendeiner Waffe einen Mord begingen.
Auch im Rechtswesen existiert eine lex Cornelia de sicariis et ueneficis. Dieses von L. Cornelius Sulla erlassene Gesetz besagt in Kurzform (dig. 48, 8, 1): lege Cornelia de sicariis et ueneficis tenetur, qui hominem occiderit [---]. praeterea tenetur, qui hominis necandi causa uenenum confecerit dederit.
Unter die Lex Cornelia über Mörder und Giftmischer fällt, wer einen Menschen getötet hat. [---] Außerdem fällt darunter, wer Gift hergestellt und gegeben hat, um einen Menschen zu töten.
Man kann also für das Lateinische festhalten, dass jedem bekannt war, dass sīcārius eine Ableitung von sīca war, dass aber diese Ableitung jeden Mörder ohne Rücksicht auf die konkrete Art der Waffe, mit der er seine Tat begangen hatte, bezeichnete. 3. σικάριος ‘Kampfverband der Zeloten’ im Griechischen der Juden Im Griechischen kommt σικάριος vor, aber mit eine sehr speziellen Bedeutung: Eine radikale Gruppe der an sich schon radikalen jüdischen Zeloten wurde so bezeichnet. Im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament schreibt Otto Betz (7, 278–279): Aller Wahrscheinlichkeit nach bilden die Sikarier weder eine selbständige Partei noch den linksradikalen Flügel der Aufständischen, sondern sind durch Eidschwur zusammengeschlossene Kampfgruppen, die Freischärler innerhalb der zelotischen Bewegung. Nicht die Lehre – diese hatten sie mit Judas, dem Begründer der Zelotenpartei, gemein –, sondern die Art ihres
23. σικάριος, σικάριον / sica, sicilis, sicarius
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wagemutigen, das fremde wie das eigene Leben gering achtenden Einsatzes zeichnete sie aus. Die Taktik des Meuchelmordes [---] kam jedoch nur in den Jahren vor dem Ausbruch des Krieges zur Geltung und war gegen römerfreundliche Juden, nicht gegen die Römer selbst gerichtet. Nach Flavius Iosephus, der den Sikariern gegenüber eine feindselige Haltung vertrat4, ist der Name entstanden, weil sie Messer verwendeten, die wie eine römische sīca aussahen (antiq. Iud. 20, 8, 10 = § 186): καὶ οἱ σικάριοι δὲ καλούµενοι (λῃσταὶ δ᾿ εἰσὶν οὗτοι) τότε µάλιστα ἐπλήθυον, χρώµενοι ξιφιδίοις παραπλησίοις µὲν τὸ µέγεθος τοῖς τῶν Περσῶν ἀκινάκαις, {οὐκ} ἐπικαµπέσι δὲ καὶ ὁµοίοις ταῖς ὑπὸ ῾Ρωµαίων σίκαις καλουµέναις, ἀφ᾿ ὧν καὶ τὴν προσηγορίαν οἱ λῃστεύοντες ἔλαβον πολλοὺς ἀναιροῦντες.
Die sogenannten Sikarier (diese sind Banditen) waren damals zu einer großen Menge angewachsen. Sie verwendeten kleine Dolche, in der Größe mit den Akinaken der Perser vergleichbar, aber gekrümmt und ähnlich den Waffen, die von den Römern Sicae genannt werden, weswegen auch die Banditen, die ja viele umbrachten, ihre Bezeichnung erhielten.
Einige byzantinische Komplilatoren von Lexika wiederholen diese Erklärung, sie wird aber dadurch nicht wahrscheinlicher: Warum sollte eine radikale Parteiung der Juden im Griechischen einen Namen tragen, der von einer römischen Waffe abgeleitet ist? Man darf nicht vergessen, dass der Name Sikarier auch im Talmud in der griechisch-lateinischen Form vorliegt: hebräisch סיקר, aramäisch ( סיקראKrauss 1899, II 392). Vor diesem Hintergrund wird man eher annehmen, dass die Herleitung des Namens, die Flavius Iosephus bietet, eine der vielen Pseudo-Etymologien der antiken Literatur darstellt. Man wird vielmehr mit dem Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament (7, 279) annehmen, dass “die Bezeichnung Sikarier wohl von den Römern stammte”; sie haben einfach die gewalttätigste Fraktion der Juden mit ihrem Wort für ‘Mörder’ bezeichnet, und vielleicht würde die moderne Übersetzung ‘Terroristen’ den Sachverhalt am besten treffen. Die Natur der Mordwaffe spielt hier nur eine geringe Rolle, man denkt an den sīcārius und nicht an dessen sīca5. Da alle anderen jüdischen _________ 4
Vgl. Flav. Ios. bell. Iud. 2, 13, 3 = § 254: καθαρθείσης δὲ τῆς χώρας ἕτερον εἶδος λῃστῶν ἐν Ἱεροσολύµοις ὑπεφύετο, οἱ καλούµενοι σικάριοι, µεθ᾿ ἡµέραν καὶ ἐν µέσῃ τῇ πόλει φονεύοντες ἀνθρώπους· µάλιστα δὲ ἐν ταῖς ἑορταῖς µισγόµενοι τῷ πλήθει καὶ ἐσθήσεσιν ὑποκρύπτοντες µικρὰ ξιφίδια τούτοις ἔνυττον τοὺς διαφόρους. ‘Nachdem das Land gesäubert war, erwuchs in Jerusalem eine weitere Art von Banditen, die sogenannten Sikarier, die am hellichten Tag und mitten in der Stadt Menschen ermordeten. Besonders an Festtagen mischten sie sich unter das Volk und erstachen ihre Gegner mit kleinen Dolchen, die sie in ihren Kleidern verborgen hatten’. 5 Vgl. in diesem Sinne auch die Institutiones im Corpus Iuris Civilis (4, 18, 5), wo es darum geht, dass unter telum alles zu verstehen ist, was von der Hand geworfen wird, und ebenso gilt: “sicarii autem appellantur a sica, quod significat ferreum cultrum”. Jedes eiserne Messer kann also als Mordinstrument dienen, nicht nur die spezielle Art, die sīca genannt wird.
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Parteiungen die Sikarier hassten, ist es nicht verwunderlich, dass deren von den Römern geprägter Name zur gängigen literarischen Bezeichnung wurde. 4. σικάριον ‘Messer’ in den Papyri Wenn man aber einmal von diesem nur im jüdischen Umfeld verwendeten Namen absieht, gibt es in der griechischen Literatur kein Vorkommen des lateinischen Wortes sīca oder seiner Ableitungen. Das Bild verändert sich jedoch, wenn man auf die Papyri blickt. Es gibt zwei Bezeugungen des Wortes σικάριον6 in Aufzählungen von Alltagsgegenständen. In P. Oxy. X 1294, 8 (1./2. Jh. n. Chr.) geht es um Gegenstände, die verschickt werden: παρὰ Διδύµου | τ̣[ο]ῦ̣ ναυτικοῦ πανάριον ἐν ᾧ ὑάλαι λάγυνοι δ ́ ὕγειαι | καὶ ἱµάντα δεδεµένον εἰς τὸ πανάριον καλὸν καὶ γ ́ | σικάρια· ἐξ αὐτῶν σεαυτῇ ἓν ἆρον.
Von Didymos dem Schiffer ein Korb mit 4 Glasflaschen in gutem Zustand und ein gutes am Korb befestigtes Band und 3 Messer; von denen nimm dir eines für dich selbst.
In P. Wisc. I 30 (3. Jh. n. Chr.), “an enumeration of certain things taken away by a father [---] of which he sends a copy to his daughter”, werden in der dritten Kolumne aufgezählt (Z. 3): σάκκος συνέργω̣ν ἐσφραγισµένος, | τύλη καινὴ σὺν πλήσµατι, | σικάρια ε ́.
ein versiegelter Sack mit gewebten Sachen, eine neue Matratze mit Füllmaterial, 5 Messer.
Die byzantinischen Lexikographen bieten immerhin einige Parallelen zu den Papyrusbelegen (Du Cange 1688, 1367). Das sogenannte Etymologicum Gudianum hat das (feminine!) Lemma σικάριαι, µάχαιραι λῃστρικαί (p. 500, 35 Sturzius). Kedrenos (p. 197CD = p. 347 Becker) erklärt den Namen σικάριοι folgendermaßen: σικαρίους δὲ αὐτοὺς ὠνόµασεν ἀπὸ τῶν σικαρίων, ἅ ἐστι µαχαίρια, ἃ ἐφέροντο κρυφῆ εἰς τὸ τοὺς παρατυγχάνοντας πλήττειν.
Sikarioi nannte er sie wegen der Sikaria, was Messer bedeutet, die sie im Verborgenen tragen, um diejenigen anzugreifen, die ihnen über den Weg laufen’.
Trotz dieser Belege war σικάριον im byzantinischen Griechisch nicht wirklich gut verankert, denn sonst wäre die Erklärung mit µάχαιρα nicht nötig gewesen. Im heutigen Neugriechischen fehlt jede Spur von σικάριον. Zunächst einmal könnte man annehmen, dass σικάριον einer der vielen banalen Latinismen des Griechischen wäre. Wenn man freilich näher hinschaut, bemerkt _________ 6 Ein drittes Zeugnis wird außer Betracht bleiben müssen. In CPR VIII 65, 10 (6. Jh.) interpretieren die Herausgeber P. J. Sijpesteijn und K. A. Worp σικλάριον als “eine ‘Diminutiv’-Form des lateinischen sicula = kleiner Dolch”. Man ist versucht, σικ{λ}άριον vorzuschlagen (die Lesung σικλαριον ist nach dem Foto auf Tafel 32 sicher), aber man kann weder eine Diminutiv-Form zu σίκλα ‘Ohrring’ < sicla ‘Halskette’ noch eine als σικλάριον = σιτλάριον (zu situla ‘Eimer’) zu interpretierende Form ausschließen (Trapp 1986, 343).
23. σικάριος, σικάριον / sica, sicilis, sicarius
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man, dass es ein lateinisches Wort *sīcārium ‘Messer’ nicht gibt. Es wäre in der Tat sogar merkwürdig, wenn es das gäbe, denn das Suffix –ārium dient zur Bildung von Wörtern für “Räumlichkeiten usw., Behälter, [---] Gebäude und Räume, [---] Pflanzungen, [---] Gebühren, [---] Geschenke, [---] Verzeichnisse” (Leumann 1977, 298 = § 277, 1c), aber niemals zur Bildung von Objektbezeichnungen. Es muss also so sein, dass σικάριον kein Latinismus ist, sondern eine eigenständige griechische Neubildung, mit anderen Worten, das griechische Diminutivsuffix -άριον7 ist an das lateinische Element sīca angefügt worden. Hybride Bildungen dieser Art sind nicht häufig, aber sie kommen durchaus vor: ἀσσάριον zu as, βουρδωνάριον zu burdo, οὐεστάριον zu uestis, ποπινάριον zu popīna, σπεκλάριον zu speculum. In dieser Perspektive hat lateinisch sīcārius ‘Mörder’ wirklich wenig zu tun mit griechisch σικάριον ‘Messer’, das eine interne griechische Bildung ist, die lateinisch sīca ‘Messer’ mit dem griechischen Diminutivsuffix -άριον verbindet. Das griechische Wort σικάριον ist jedenfalls keine Umsetzung eines lateinischen *sīcārium ‘Messer’, das es gar nicht gibt. Manchmal kann eben der erste optische Eindruck täuschend sein: Ähnlich oder fast identisch aussehende Wörter können eventuell gar nicht zusammengehören!
_________ 7
Mayser 1936, I 3, 43-44 (§ 83, 12d): “-άριον ist das eigentliche Diminutivsuffix der altgriechischen Vulgärsprache; es kommt schon bei Aristophanes unzählige Mal vor, dringt in hellenistischer Zeit auch in die Sprache der Urkunden und scheint dann in frühbyzantinischer Zeit erstarrt zu sein”.
24. σκάλα / scala Abstract: On a writing tablet in the Vatican collections σκάλη does not mean ‘ladder, stairs’, but ‘firmly established landing-stage’, a meaning prefigured by Latin scala = κλῖμαξ ‘boarding ladder’. Keywords: scala, ladder, landing-stage
1. Lat. scāla und gr. σκάλα/σκάλη ‘Leiter, Treppe’ Wenn Wörter von der einen in eine andere Sprache übernommen werden, ändern sie nicht selten ihre Bedeutung. Ein englischer und ein deutscher Pudding sind nicht dasselbe, französisch promotion hat einen ganz anderen Bedeutungsumfang als deutsch Promotion, italienisch capitano und deutsch Kapitän sind nicht bedeutungsgleich. Dieser Aspekt wird im Rahmen der antiken Sprachen viel zu wenig berücksichtigt. Man kann nicht einfach, wenn ein griechisches Wort eine Sonderbedeutung aufweist, diese aus einem lateinischen Autor belegen1, wenn griechische Quellen nichts hergeben, und man sollte keine Wortsammlungen veröffentlichen, in denen keine Bedeutungsangaben auftauchen2. Im Folgenden soll an einem kleinen Beispiel gezeigt werden, dass gerade im Bereich der Semantik die Papyri noch manche Überraschung bereithalten. Das lateinische Wort scāla (literatursprachlich nur als plurale tantum scālae geläufig3), das etymologisch zu scandere ‘emporsteigen’ gehört, hieß vom Anfang der Überlieferung an (Erstbezeugung: Plaut. Rud. 602) bis zum Ende der Antike _________ 1
Besonders häufig verstößt das DGE gegen diese Regel. Ein Beispiel für die Behandlung von Gräzismen im lateinischen Gewand: S. 285 heißt es s. v. ἀνδρών: “en Roma pasillo entre dos habitaciones o patios de una casa, Vitr. 6. 7. 5, Plin. ep. 2. 17. 22”. An beiden Stellen steht andron in lateinischen Buchstaben, also offenbar als lateinisches Wort gemeint, und Vitruv macht sich ausdrücklich Gedanken darüber, dass für die Lateiner andron etwas anderes ist als der ἀνδρών der Griechen. Unter diesen Umständen verstößt es gegen alle Regeln der Lexikographie, die Bedeutung eines lateinischen Lehnwortes seinem griechischen Etymon zuzuschreiben, denn auch ein in Rom lebender Grieche hätte niemals ἀνδρών im Sinne von ‘Korridor’ verwendet. In einem griechischen Wörterbuch hat ἀνδρών ‘Korridor’ so wenig zu suchen wie Friseur in einem französischen Wörterbuch. 2 Das gilt beispielsweise für die Supplemente zum Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden. Im Bereich der Latinismen des Griechischen in Ägypten werden beispielsweise bei Daris 1991 überhaupt keine Angaben zur Bedeutung gemacht; da war Meinersmann 1927, der der Semantik viel Aufmerksamkeit schenkte, fortschrittlicher, und natürlich liefert das Lex. Lat. Lehn. ausführliche Bedeutungsangaben. 3 Varr. ling. Lat. 9, 63: “alia uocabula singularia sint solum, ut cicer, alia multitudinis solum, ut scalae”. Quint. 1, 5, 16 rechnet die Verwendung von scala statt scalae zu den Barbarismen.
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‘Leiter’ oder ‘Treppe’ (mit dazugehörigen Sekudärbedeutungen wie ‘Treppen– stufe’, ‘Leitersprosse’ oder ‘Klimax’). Das Wort ist in diesen Bedeutungen in allen romanischen Sprachen erhalten geblieben: rum. scară, it. scala, rätorom. stgala, frz. échelle, prov. kat. sp. port. escala, sard. iscala. Von den vier in den griechischen Papyri vorkommenden Bezeugungen von σκάλη4 passen drei problemlos zu der Grundbedeutung des lateinischen Wortes: Ein Geschäftsbrief des 5./6. Jahrhunderts (P. Col. X 291, 6) dreht sich allem Anschein nach um 500 λίτραι Pech (πίσση) und um zwei σκάλαι (περὶ τῆ̣ς̣ πίσσ̣ης τῶν | πεντ̣α̣κοσίων λιτ̣[ρ]ῶν κα̣ὶ̣ τῶν | δύο σκαλῶν); hier liegt eindeutig die Bedeutung ‘Leiter’ vor (Jerise Fogel, die Herausgeberin des Papyrus, übersetzt ‘the two gangways’). Ein Pachtvertrag aus Aphrodito (P. Vat. Aphrod. 1, 12) aus dem Jahre 598 n. Chr. beschreibt einen Weingarten σὺν τῷ περιέξωθεν λάκκῳ καὶ δεξαµενῇ καὶ µόνῃ καὶ πύργῳ καὶ οἰκ[ιδίῳ µετὰ ξυλίνης] | σκάλης. Der Herausgeber übersetzt: “insieme con un lago tutto intorno, una cisterna, un ricovero e una torre, una casetta con una scala di legno”, und [ξυλίνη] σκάλη im Sinne von ‘hölzerne Treppe’ ist die einzig sinnvolle Widergabe. Der dritte Beleg findet sich in einer “list of effects” aus dem 7. Jh. (P. Oxy. XVI 1925, 42 + BL VI 104): σκ̣ά̣λη ξυλ(ίνη) τοῦ προαστί(ου) τοῦ ἱππι̣κ(οῦ) ‘Holztreppe des Eingangsbereiches des Hippodroms’5. 2. Gr. σκάλη auf einem Holztäfelchen des 7. Jh. (T. Varie 3, 13) Beim vierten Papyrusbeleg aber kommt man mit ‘Leiter’ oder ‘Treppe’ nicht weiter. Auf einem im Vatikan aufbewahrten Holztäfelchen des 7. Jahrhunderts n. Chr. findet sich ein Vertrag über einen Transport zu Schiff. Dort heißt es im Zusammenhang mit den vom Kapitän zu übernehmenden Kosten (T. Varie [= Pap. Flor. XVIII] 3, 12–13: ἐµοῦ τοῦ ναύτ(ου) παρέχον|τος ἓν κεράτιον τὸ ζητούµενον ὑπὲρ τῆς σκάλης κατὰ ἔθος. Die Herausgeber, Rosario Pintaudi und Pieter J. Sijpesteijn, übersetzen: “Io marinaio pago un keration richiesto per la scala (?) come di sueto”. Das Fragezeichen deutet an, dass den Editoren die Stelle nicht wirklich klar war, und auch ihr Kommentar führt nicht weiter: “Non sappiamo quale sia l’esatto significato di keration richiesto ὑπὲρ τῆς σκάλης; può essere in relazione con tasse doganali; certo si tratta di un pagamento abituale, normale [---]. Torna alla memoria, forse in modo provocatorio di ulteriori indagini, l’incomprensibile ricevuta per βά[τρ]ων (βάθρῶν ?) di Aeg. 57, 1977, p. 92”. Aber warum in aller Welt sollte ein Kapitän üblicherweise (κατὰ ἔθος) ein Keration für ‘die Leiter’ bezahlen? Der in ὑπὲρ τῆς σκάλης dem σκάλη vorausgehende bestimmte Artikel und die Verwendung des Substantivs im Singular sprechen eindeutig dagegen, dass es um gelegentlich zur Verfügung gestellte Leitern oder Treppchen zum _________ 4 In den außerpapyrologischen Quellen ist σκάλα die übliche Form; zum Fluktuieren zwischen –η und –α vgl. Gignac 1981, 6–11. 5 Im spätantiken Ägypten bedeutete προάστιον “la résidence du domaine où le grand propriétaire descend avec sa suite” oder auch nur “une sorte de vestibule ou une partie avancée d’un ensemble architectural” (Husson 1983, 235–236), und τὸ ἱππικόν ist das ‘Hippodrom’ (Husson 1967, 199).
24. σκάλα / scala
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Erklimmen eines Steilufers o. ä. geht. Man wird in einer anderen Richtung suchen müssen. In der lateinischen Schifferfachsprache bezeichnete scāla(e) offenbar die ‘Landungsplanke’ (entsprechend heißt griechisch κλῖµαξ ‘boarding-ladder, gangway’, LSJ s. v. 1). So kommt das Wort einmal bei Vergil vor (Aen. 10, 654): expositis stabat scalis et ponte parato ‘er stand da mit ausgelegter Landungsplanke und mit bereit gemachter Brücke’. Auch bei Liv. 28, 36, 11, liegt diese Bedeutung vor: in ipsis quoque trepidatum nauibus est, dum, ne hostes cum suis simul irrumperent, trahunt scalas ‘ach, auf den Schiffen gab es viel Unruhe, während sie die Landungsplanken einzogen, damit die Feinde nicht zusammen mit den eigenen Leuten an Bord kämen’. Auch der älteste griechische Beleg für das Lehnwort σκάλα, der sich in dem Commodus gewidmeten, also vor 192 n. Chr. verfassten, Onomastikon des aus Naukratis stammenden Sophisten Pollux findet, liegt die Bedeutung ‘Landungsplanke’ vor (1, 93): In einer Aufzählung von Schiffsbestandteilen liest man ἀποβάθρα καὶ διαβάθρα, ἣν σκάλαν καλοῦσιν ‘Aus- und Einsteigeplanke, die man Scala nennt’6. Diese Bedeutung bietet auch Hesych: σκάλα· κλῖµαξ, ἀνάβασµα ‘Scala: Einsteigeplanke, Schiffsaufgang’. 3. σκάλη/σκάλα ‘fest eingerichtete Landungsstelle’ Der Latinismus σκάλα hat im Griechischen nach der Erstbezeugung im 2. Jh. n. Chr. weitere semantische Entwicklungen durchlaufen, die mit großer Sorgfalt von Henry Kahane (1940, 35 = 1979, 135) nachgezeichnet wurden: Wenn nach drei Jahrhunderte langem Zwischenraum dieses maritime σκάλα in der Literatur wieder auftaucht, hat die nautische Nüance sich zur eigenen Bedeutung verdichtet: σκάλα bezeichnet nun die ‘Landungstreppe, die sich am Lande befindet’. Vom 5. Jhdt. an reisst die Reihe der Zeugnisse, mag sie auch dünn sein, nicht mehr ab. Festzuhalten ist, dass in der ganzen byzantinischen und späteren Zeit σκάλα, das häufig in Ortsnamen vorkommt, nicht einfach den ‘Hafen’ bezeichnete, sondern nur die ‘Landungsstelle’, normalerweise ein Hafenbüro oder eine Gaststätte, die zu einem landeinwärts gelegenen Ort gehörte. Von den bei H. Kahane zitierten Belegen nach dem 6. Jahrhundert (1940, 35– 46 = 1979, 135–146) ist die justinianische Novelle 159 aus dem Jahre 555 am interessantesten (p. 737, 37–738, 9 Schoell/Kroll). Dort wird ein Testament zitiert: βούλοµαι τοίνυν καὶ κελεύω τὸ προάστειόν µου τὸ καλούµενον τὰ Κωπάρια, ὅπερ ἐν τῇ προειρηµένῃ διαθήκῃ Κωνσταντίνῳ τῷ µεγαλοπρεπεστάτῳ µου υἱῷ κατέλιπον, δοθῆναι καὶ διαφέρειν τελείας νοµῆς _________
Ich verfüge und befehle also, dass mein Vorstadtgut mit Namen Koparia, das ich im obengenannten Testament meinem Sohn, dem vir magnificus Konstantinos, hinterließ, dem gerechten vir clarissimus Hierios, meinem edlen Enkel, dem Sohn
6 Diese Bedeutung findet sich auch in der Wortsammlung Hesychs, bei der die Einzeleintragungen nicht genau zu datieren sind: σκάλα· κλῖµαξ, ἀνάβασµα.
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καὶ δεσποτείας δικαίῳ Ἱερίῳ τῷ λαµπροτάτῳ καὶ εὐγενεστάτῳ µου ἐγγόνῳ, υἱῷ Κωνσταντίνου τοῦ µεγαλοπρεπεστάτου µου υἱοῦ, σύµπαν τὸ αὐτὸ προάστειον µετὰ τῶν ὄντων ἐν αὐτῷ πραιτωρίων καὶ σκαλῶν πασῶν καὶ τῶν µισθουµένων εἴτε ἔνδον τῆς πύλης εἴτε ἔξω τῆς πύλης οἰκηµάτων καὶ ἐργαστηρίων.
meines Sohnes, des vir magnificus Konstantinos, übergeben werde und ihm gehöre als unumschränkter Besitz und Herrschaftsbereich, also das ganze Vorstadtgut mit den darin befindlichen Villen (πραιτώρια) und mit allen Anlegestellen (σκάλαι) und mit den Baulichkeiten und Werkstätten, die innerhalb oder außerhalb des Tores vermietet sind.
Henry Kahane kommentierte (1940, 36 = 1979, 136): “Die σκάλαι werden in einem Zusammenhang erwähnt, in dem es dem Erblasser auf die wirtschaftlichen Vorteile der erwähnten Objekte ankommt. [---] Nach alledem handelt es sich also bei diesen σκάλαι um ‘Landungsstellen’, die gegen Entrichtung einer Summe benutzt wurden”. Für die Zeit nach der Jahrtausendwende mangelt es nicht an Zeugnissen für eine derartige Abgabe: “A tax called σκαλιατικόν had to be paid on σκάλαι” (Oxford Dictionary of Byzantium 3, 1908). In der byzantinischen Volkssprache verdrängte der Latinismus σκάλα das einheimische ὅρµος vollständig. In aller Klarheit zeigt dies das folgende, freilich späte (13./14. Jh.), Zeugnis des Manuel Moschopoulos (p. 101): ὅρµος τὸ µέρος τοῦ λιµένος, εἰς ὃ ἑλκοµέναι αἱ νῆες δέδενται· ὃ οἱ κοινοὶ σκάλαν λέγουσιν.
Hormos heißt der Teil des Hafens, in dem die heraufgezogenen Schiffe festgemacht werden; die Benutzer der Gemeinsprache sagen dazu Skala.
Der passende deutsche Ausdruck ist ‘Anlegestelle’, veraltet und/oder süddeutsch ‘Schiffslände’. Es kann sich dabei um einen Liegeplatz innerhalb eines ausgebauten Hafens handeln, aber auch, wie sicherlich meistens am Nil, um einen einfachen Landungsplatz, wo es möglich war, ein Schiff über Nacht sicher festzumachen7. 4. Gr. σκάλη ‘fest eingerichtete Anlegestelle’ am Nil Kommen wir zu unserem vatikanischen Holztäfelchen zurück! Im Lichte der soeben skizzierten semantischen Entwicklung drängt sich die Deutung von σκάλη als ‘fest eingerichtete Anlegestelle’ geradezu auf: ἐµοῦ τοῦ ναύτ(ου) παρέχον|τος ἓν κεράτιον τὸ ζητούµενον ὑπὲρ τῆς σκάλης κατὰ ἔθος ‘ich, der Kapitän, bezahle ein Keration, das verlangt wird für die Anlegestelle, wie es üblich ist’. Nahezu alle literarischen Belege, die wir für σκάλα ‘Anlegestelle’ aus der Zeit vor der Jahrtausendwende haben, beziehen sich auf Konstantinopel und seine Umgebung, was im Oxford Dictionary of Byzance (3, 1908) zu der missverständ_________ 7 Meijer 1990, 156–158, weist zu Recht darauf hin, dass antike Flussschiffe angesichts ihres geringen Tiefganges “niet om speziale havenvoorzieningen vroegen”; manchmal wird sich die Anlegestelle durch nichts anderes als durch einen Vertäuungspfahl am Ufer ausgezeichnet haben.
24. σκάλα / scala
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lichen Formulierung führte: “Probably after the 11th C. the term began to loose its specific connection with Constantinopel”. Das hier behandelte ägyptische Holztäfelchen aus dem 7. Jh. zeigt deutlich, dass es diese “specific connection with Constantinopel” nie gegeben hat: Eine nicht einmal an der See, sondern an einem Fluss, am Nil, gelegene Anlegestelle wurde genauso σκάλη genannt wie die entsprechenden Einrichtungen bei der byzantinischen Hauptstadt. Natürlich hatten die σκάλαι der Weltstadt eine herausgehobene Geltung, die ihnen in den Texten mehr Interesse verschaffte, als unbedeutende Anlegestellen in der Provinz sie je haben könnten. Erwähnungen nicht-konstantinopolitanischer σκάλαι müssen unter diesen Umständen als zufällig angesehen werde. Es ist also nicht verwunderlich, dass sie erst mit dem Lateinischen Kaiserreich einsetzen (Belege bei Kahane 1940, 42–46 = 1979, 142–146), als die Rolle der Hauptstadt erheblich reduziert war. Das ägyptische Holztäfelchen zeigt aber, dass σκάλη/σκάλα ‘Anlegestelle’ im ganzen griechischen Sprachraum seit dem Übergang von der Antike zum Mittelalter verbreitet war. Die Bedeutungen ‘Leiter, Treppe’ einerseits und ‘Anlegestelle’ andererseits werden immer genauso problemlos nebeneinander existiert haben, wie sie im Neugriechischen ohne Schwierigkeiten nebeneinander existieren (Μέγα Λεξικόν 13, 6540). Für uns bleibt es wichtig, die lateinischen Elemente, die in den Papyri vorkommen, nicht nur von der Form her zu registrieren, was ja inzwischen mit den elektronischen Hilfsmitteln relativ einfach geworden ist, sondern auch ihrer Semantik die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, besonders wenn sie auf anderen Wegen als im Lateinischen und seinen Nachfolgesprachen verläuft, und einen Abgleich mit den regionalen Bezeugungen aus anderen Gebieten des griechischen Sprachraums vorzunehmen.
25. σπανέλαιον / oleum spanum Abstract: σπανέλαιον, a word attested only in papyri, is a short form of Ἱσπανὸν ἔλαιον ‘bitter oil gained from green olives’. In Egypt, this type of oil was not imported from Spain, but was home-produced according to Spanish recipes. Keywords: olives, edible oil, Spain
1. Bisherige Deutungen von σπανέλαιον In den Papyri, besonders in Listen und Inventaren, kommt eine Ölsorte (Brent Sandy 1989) vor, die σπανέλαιον1, σπανὸν ἔλαιον2 oder auch ἔλαιον σπανόν3 heißt; daneben gibt es Fälle, bei denen σπανόν von seinem Bezugswort durch andere Wörter getrennt ist4. Es soll hier darum gehen, die genaue Bedeutung dieser Warenbezeichnung festzulegen. Friedrich Preisigke, dem nur SPP X 29 bekannt war, übersetzte in seinem Wörterbuch σπανέλαιον mit ‘dünnes Speiseöl (geringwertig)’5. Er sah also im ersten Element des Kompositums den Stamm σπαν-, der im Adjektiv σπάνιος (seltene Nebenform σπανός) ‘selten, wenig, dürftig’, im Substantiv σπάνις (Nebenform σπανία) ‘Seltenheit, Mangel’ und im Verb σπανίζειν ‘selten sein, Mangel leiden, berauben’ vorliegt. Nun gibt es durchaus nicht wenige Komposita, in denen dieser Stamm das erste Element darstellt, z. B. σπανάδελφος ‘wenig Geschwister habend’, σπανανδρία ‘Mangel an Männern’, σπανοκαρπία ‘Mangel an Früchten’, σπανοπώγων ‘mit schütterem Bart’ (auch in Personensignalements der Papyri geläufig: P.Oxy. LI 3617, 6–7 [3. Jh.]; P.Petr. I 16, (1.) 6. [3. Jh.]; III 10, 4 [3. Jh.]; 13, 12 [3. Jh.]; SB XIV 12291, 6 [3. Jh.]; SB I 4668, 6.8 [7. Jh.]), σπανότεκνος ‘wenig Kinder habend’, σπάνυδρος ‘wasserarm’. Allerdings ist bei diesem Wortbildungsmuster immer die Quantität, nie die Qualität angesprochen, und das gesamte Kompositum wird entweder in adjektivischer Funktion oder als Abstraktum _________ 1
CPR VIII 85, 7 und 19 (7./8. Jh.; die ersten 11 Zeilen waren zuvor als SPP X 29 publiziert worden). 2 P. Oxy. XVI 2052, 4 (579 n. Chr.). 3 SPP XXII 75, 12. 24. 40. 49 + BL VI 196 (3. Jh.); SB XII 11077, 21 (4./5. Jh.); BGU XVII 2682, 24 (481 n. Chr.); CPR V 26, 611 (2. Hälfte 5. Jh.); P. Sorb. I 62, 1 (6. Jh.); P. Oxy. XVI 1924, 7 = Sel. Pap. I 191, 7 (5./6. Jh.); P. Vind. Worp 11, 2 (6. Jh.) 4 P. Antin. II 93, 32 (4. Jh.); P. Erlangen 111, II 13 (5./6. Jh.); P. Oxy. XVI 1862, 11b (7. Jh.); CPR VIII 85, 22 (7./8. Jh.). 5 Klaas A. Worp schreibt (Komm. zu P. Vindob. Worp 11, 2): “Es ist nicht klar, worauf Preisigke seine Übersetzung stützt”. Vielleicht dachte er an einen Gegensatz zu ἔλαιον πῖον ‘fettes Öl’ (Ps. 91, 11).
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verwendet. Beides trifft für σπανέλαιον, das ja eine bestimmte Ölsorte bezeichnen muss und nicht mit ‘Mangel an Öl’ zu tun hat, nicht zu. Eine Verbindung von σπανέλαιον mit σπάν(ι)ος ‘selten, ermangelnd’ dürfte also auszuschließen sein. Allan Chester Johnson und Louis West nahmen an, dass der hier zur Diskussion stehende Öltyp mit dem Dorf Σπανία, das im Oxyrrhynchites lag6, in Verbindung gebracht werden könne7. Das ist völlig unwahrscheinlich: “Es ist die Frage, ob das Dorf Σπανία Öl in einer so besonderen Qualität produziert hat, daß es diesem Öl seinen Namen gegeben hat” (Klaas A. Worp, Komm. zu P. Vindob. Worp 11, 2). Auch das Farbadjektiv σπανός muss ausscheiden: Das seltene Wort, das mit lateinisch pullus gleichgesetzt zu werden pflegt (Non. p. 882, 30–31: “pullus color est quem nunc spanum uel natiuum dicimus”) und folglich ‘dunkelfarbig, schwarz-grau’ bedeutet, käme zwar von der Bedeutung her zur Not in Frage (‘dunkelfarbiges Öl’), aber es wurde nach allem, was wir wissen, nur in Bezug auf Kleidungsstücke verwendet8, und es liegt auch zu sehr am Rande des normalen Wortschatzes, um als Basis für Komposita in Frage zu kommen. Dieses σπανός gehört aller Wahrscheinlichkeit nach zu lat. Hispānus: “Unter den verschiedenen Farbtönen spanischer Wolle wurde besonders ein dunkles Grau geschätzt, das geradezu Spanus color hieß” (Reiter 1962, 93)9. Der Name eines textilen Farbtons eignet sich jedoch nicht zur Bezeichnung der Tönung eines in den Alltag gehörigen Lebensmittels. 2. Öl nach spanischer Art Vor diesem Hintergrund ergibt sich jedoch die Möglichkeit, auch σπανέλαιον direkt mit Σπανία zu verbinden, der neben dem korrekteren, aber selteneren Ἱσπανία geläufigen Wiedergabe des lateinischen Hispānia (das ja auch in der Nebenform Spānia auftritt). Neben der eigentlichen griechischen Bezeichnung Ἰβηρία tritt vom Anfang der Überlieferung an das lateinische Synonym Ἱσπανία auf10. B. P. Grenfell, A. S. Hunt und H. I. Bell übersetzten schon 1924 P. Oxy. XVI 1862, 11b πέντε ξεστία Σπάνου mit ‘five sextarii of Spanish oil’ (mit Verweis auf Geop. 9, 26 und Galen. meth. med. 8, 2, siehe unten). An dieser Lösung meldete H. Zilliacus, der selbst zögernd an ‘plain oil’ dachte, im Kommentar zu P. Ant. II 93, 32, Zweifel an: “Hardly ‘Spanish’: we know of no imports of oil from Spain to _________ 6 Calderini, Diz. geogr. IV 305: “villaggio; Ossirinchite, nel latifondo degli Apioni”; Pruneti 1981, 184-185; Bartina 1987, 64–65. 7 Johnson / West 1949, 144: “The olive oil said to be Spanish by the editors of P. Oxy. 1862 and 1924 may conceivably be a product of the village Σπανία located near Oxyrhynchus”. 8 Es gibt zwei Papyrusbelege aus Listen von Kleidungsstücken: P. Oxy. XLII 3060, 3–4; P. Hamb. I 10, 16. Die Bedeutung ist in beiden Fällen ‘dunkelgrau’ (Arce 1985, 31: ‘black-grey colour’). 9 Columella (7, 2, 4) spricht von dem color pullus wertvoller Wolle aus Corduba, die er aus eigener Erfahrung vom Landgut seines Vaters kannte. 10 Im Artemidor-Papyrus (col. IV, Z. 3-4), der an der Wende des 2. zum 1. Jahrhundert v. Chr. verfasst ist, heißt es: ἡ σύµπασα χώρα συνωνύµως Ἰβηρία καὶ Ἱσπανία καλεῖται. Vgl. auch Strab. 3, 4, 19: ὁµωνύµως τε τὴν αὐτὴν Ἰβηρίαν λέγουσι καὶ Ἱσπανίαν.
25. σπανέλαιον / oleum spanum
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Egypt”. Dieser Einwand konnte nicht widerlegt werden, aber man versuchte, ihn zu relativieren: K. A. Worp “kann sich ganz gut vorstellen, daß es hin und wieder Olivenöleinfuhr aus Spanien, evtl. über Italien, gegeben hat” (Komm. zu P. Vindob. Worp 11, 2), und S. Bartina (1987, 67) verweist einfach darauf, dass Spanien immer als “cèlebre criadora d’oliverars i exportadora de llurs productes des d’èpoques prehistòriques” galt. Nun wissen wir zwar, dass spätestens seit ptolemäischer Zeit Olivenöl nach Ägypten eingeführt wurde (Brent Sandy 1984, 1318), aber das bedeutet ja noch lange nicht, dass man es ausgerechnet aus dem denkbar entferntesten Herstellungsland einführte, denn Griechenland, Syrien oder Italien lagen in jeder Hinsicht näher11. Bekanntlich exportierte Spanien viel Öl, aber das Bestimmungsland war Italien12, und der von K. A. Worp angenommene Weiterexport nach Ägypten ist doch sehr unwahrscheinlich, jedenfalls völlig unbezeugt. Angesichts der Schwierigkeit, Ölimport von Spanien nach Ägypten wahrscheinlich zu machen, schlug Hélène Cadell den Weg ein, σπανός zwar als ‘spanisch’ zu verstehen, es aber nicht als Herkunftsangabe, sondern als Qualitätsbezeichnung aufzufassen: “Il devait s’agir d’une huile de type espagnol et de fabrication locale” (Komm. zu P. Sorb. I 62, 1). Anscheinend unabhängig von der französischen Papyrologin äußert auch Javier Arce dieselbe Meinung13, während K. A. Worp skeptisch bleibt14, allerdings wohl grundlos: Auch mit λουκανικόν benennt man nicht eine in Lukanien hergestellte Wurst, sondern eine Wurst nach lukanischer Art. Bei einer Betrachtungsweise, die sich allein auf die Papyrusbelege stützt, ist die von H. Cadell und J. Arce vertretene Auffassung, σπανέλαιον bedeute ‘nach spanischer Art hergestelltes Öl’ (nicht aber: ‘aus Spanien importiertes Öl’) die einzige, die nicht auf ernsthafte sprachliche oder wirtschaftsgeschichtliche Bedenken stößt. 3. σπανέλαιον = Ἱσπανὸν ἔλαιoν ‘herbes Öl aus grünen Oliven’ Damit wissen wir aber noch nicht, was σπανέλαιον ist, und auf diese Frage darf man auch von den dokumentarischen Papyri allein keine Antwort erhoffen, denn es handelt sich jedenfalls um eine Alltagsware, die jeder kannte und die man daher nicht beschreiben musste. Hier helfen jedoch die literarischen Quellen weiter. _________ 11
Rostovtzeff 1955, 1007: “Das in Ägypten erzeugte Öl hatte eine schlechtere Qualität, und alle Bemühungen, es zu verbessern, schlugen fehl. In der frühen und in der späten Ptolemäerzeit war darum das in Ägypten verbrauchte Olivenöl meistenteils aus Syrien und Griechenland eingeführt” (vgl. auch 1328-1329). 12 RE XVII, 2003: “Wichtig waren die Oliven und das Öl Spaniens, das zum größten Teil nach Italien ausgeführt wurde”. 13 J. Arce 1985, 31–32: “An oil that does not need to be imported from Hispania, even if it maintained its original specification as σπανόν, perhaps because originally it was produced in Spain”. 14 Komm. zu P. Vindob. Worp 11, 2: “Parallelen zu einer solchen Qualitätsbezeichnung in den Papyri sind mir unbekannt”.
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Zu den vier Stellen aus Galen15 und dem Beleg aus den Geoponici (9, 26, vgl. auch LSJ Suppl. 278), die bei LSJ 840 zitiert werden (“Ἱσπανόν, τό, a kind of oil, in form Σπᾶνον or Σπανόν”), lassen sich mit den Computer-Materialien des Thesaurus linguae Graecae zahlreiche weitere Belege aus Galen oder PseudoGalen und den Hippiatrici gewinnen. Es fällt zunächst auf, dass σπανέλαιον überhaupt nicht vorkommt und dass nur ein einziges Mal τὸ σπάνον ἔλαιον zu belegen ist16. Eng verbundenes ἔλαιον σπανόν taucht nur in den pseudo-galenischen Schriften (19, 728, 16) und in den Hippiatrici (10, 12 = vol. 1, p. 61, 19; 22, 55 = vol. 1, p. 119, 11 ἔλαιον Ἱσπάνιον) auf. An allen anderen Stellen ist ἔλαιον durch eines oder mehrere Wörter von σπανόν (10, 551, 4; 11, 871, 17; 13, 377, 16; 523, 2; 582, 7; 674, 10–12) bzw. Ἱσπανόν (6, 196, 5/10; 10, 790, 13; 822, 8; 940, 5; 12, 513, 8) getrennt17, oder es ist von ἔλαιον ἀπὸ τῆς Ἱσπανίας o. ä. die Rede (10, 911, 22; 12, 388, 1; 428, 12; 13, 412, 25). Auch in den lateinischen Quellen kommt oleum Hispānum oder Hispānicum vor (ThLL IX 2, 551, 21–23). Inschriftlich ist von einem mercator olei Hispani (CIL VI 1935, 8) die Rede (vgl. auch Veg. Mulom. 1, 44, 5; Marcell. Med. 22, 4). Auch die Kurzform oleum spānum kommt vor: Eine Glosse aus den Hermeneumata Monacensia (CGL 3, 218, 55: ceeleon spanon et oleus pan) dürfte als καὶ ἔλαιον σπανόν et oleu<m> Span zu interpretieren sein. In der Mulomedicina Chironis (um 400 n. Chr.) ist zweimal oleum Spanum belegt (839 und 903). Die Formen Spania und Spanus sind insgesamt nicht besonders selten, vgl. die Angaben bei Aegidius Forcellini, Onomasticum II, 641, mit der Bemerkung: “cave tamen, usurpes”. So kommt in der Mulomedicina des Vegetius (um 400 n. Chr.) zumindest in der Leidener Handschrift mehrfach die Form Spanus (3, 7, 1; 3, 6, 4; 3, 23, 2; 3, 27, 5) vor, und in der Aufzählung der Flüsse der Welt spricht Ampelius (2. Jh. n. Chr.) von Iberus et Baetis in Spania. In der Expositio totius mundi (4. Jh., auf einer unbekannten griechischen Vorlage fußend) wird Öl als eines der wichtigsten Produkte Spaniens genannt (cap. 59 = Geographi Latini minores, ed. Al. Riese, p. 122): deinde ad Gallias Spania, terra lata et maxima et diues uiris doctis in omnibus negotiis: quorum ex parte dicemus. oleum enim et liquamen et uestem uariam et lardum et iumenta mittens, omni mundo sufficiens,
dann folgt nach Gallien Spanien, ein weites und sehr großes Land, reich an Leuten, die in allen Angelegenheiten unterrichtet sind; davon wollen wir einzeln berichten. Das Land exportiert nämlich Öl und Fischsoße und verschiedene
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Da es keine neue Gesamtausgabe gibt, wird nach Band, Seite, Zeile der alten Ausgabe von C. G. Kühn im Corpus Medicorum Graecorum, Leipzig 1821–1833, zitiert. 16 Es handelt sich um eine Stelle aus der Schrift De succedaneis (13, 382, 8), in der Arzneimittel vorgestellt werden, die andere mit ähnlicher Wirkung ersetzen. Es heißt an der im vorliegenden Zusammenhang interessanten Stelle: ἀντὶ ἐλαίου σπανοῦ θάλλους ἐλαίῳ ἁπαλοὺς θλάσας ἐπίβαλε. Ausführlicher wird dieses Ersatzverfahren Geop. 9, 26 beschrieben. 17 Bis zum Erscheinen einer kritischen Galen-Ausgabe muss jede Aussage darüber, ob σπανόν oder Ἱσπανόν die ursprüngliche Lesart ist, illusorisch bleiben.
25. σπανέλαιον / oleum spanum
omnia bona possidens, et praecipua in omnibus bonis.
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Kleider und Speck und Zugtiere, genügt der ganzen Welt, besitzt alle Güter und ragt bei allen Gütern heraus.
Diese Bezeugungslage lässt einen ersten Schluss zu: Im Lateinischen war man sich des Zusammenhanges von oleum spanum mit Spania = Hispania wohl immer bewusst, aber in der vulgäreren Sprachebene des Griechischen, die uns ja in den pseudo-galenischen Schriften, in den Hippiatrici und natürlich in den Papyri vorliegt, bestand offenbar eine Tendenz, in ἔλαιον σπανόν oder σπανὸν ἔλαιον eine enge Einheit zu sehen, deren logisches Resultat dann das Kompositum σπανέλαιον war. Auf einer höheren Stilebene, wie sie etwa durch die echten Schriften Galens repräsentiert wird, blieb man sich des Zusammenhanges der Ölsortenbezeichnung mit dem Namen Ἱσπανία stets bewusst, obwohl die echt griechische Bezeichnung des Landes Ἰβηρία war. Galen liefert uns aber auch eine zutreffende Beschreibung all dessen, was man unter ἔλαιον σπανόν zu verstehen hat (De methodo medendi 11, 6 = 10, 790, 12–14): τὸ ἔλαιον στῦφον, ὁποῖόν ἐστι τό τε ῾Ισπανὸν ὀνοµαζόµενον, ὅσα τ᾿ ἄλλα σκευαζο µετὰ θαλλῶν ἐλαίας ἢ οἷόν πέρ ἐστι τὸ καλούµενον ὀµφάκιον.
das herbe Öl, das auch das Hispanon heißt, und alle anderen Ölsorten, die mit grünen Oliven zubereitet werden, wie z. B. das sogenannte Omphakion.
Ebenso heißt es in dieser Schrift (8, 2 = 10, 551, 2–4): ἐχρῆτο δὲ κᾀκεῖνος ἐλαίῳ στύφοντι τούτῳ τῷ δικαίως ἐνδόξῳ διὰ τὴν εἰς τἄλλα χρείαν, ὃ καλοῦσιν σπάνον
Auch jener verwendete dieses die Geschmacksnerven zusammenziehende Öl, das wegen seines Nutzens in anderem Zusammenhang zu Recht berühmt ist und Spanon genannt wird.
Klar ist auch folgende Stelle (De compositione medicamentorum per genera 1, 12 = 13, 412, 2–5): γιγνώσκετε δὲ καὶ ὡς στύψεώς τι προσδίδωσι τῷ φαρµάκῳ τό τ᾿ ὀµφάκινον ἔλαιον καὶ τὸ κατὰ τὴν Ἰβηρίαν γεωργούµενον, ἣν νῦν ὀνοµάζουσιν Ἱσπανίαν.
Ihr wisst auch, dass das Öl aus grünen Oliven und das Öl aus dem Anbau in Iberien, das sie jetzt Hispanien nennen, der Arznei ein wenig Herbheit verleihen.
Demnach ist also Ἱσπανὸν ἔλαιον bei Galen ein in Spanien aus grünen Oliven gewonnenes Öl, das so herb ist, dass es die Geschmacksnerven zusammenzieht. Noch heute wird diese Olivensorte hergestellt (Enciclopedia de la cultura española 1, Madrid 1963, 52): Teniendo en cuenta su color, hay aceites ‘verdes’ que son los obtenidos de aceitunas sin madurar; los ‘amarillos-verdosos’ que proceden de
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olivas casi maduras, y los ‘amarillos-rojizos’ y ‘blancos’, que se extraen de aceitunas maduras y extramaduras, respectivamente. Con arreglo a su edad, tenemos los aceites ‘mostos’, o recién extraídos, o sea, que aún no han sufrido la clarificación; los ‘frescos’ y ‘jovenes’ que son los que sólo cuentan con seis meses de edad; los ‘maduros’, que tienen de seis meses a un año y son los más apreciados, y, finalmente, los ‘viejos’, de uno a dos años. Für σπανέλαιον würde man also die spanische Übersetzung ‘aceite verde y mosto’ ansetzen. Interessant ist die Aussage, dass dieser Öltyp “no ha sufrido la clarificación”: Den Nachahmungen des σπανέλαιον wurden eben unverarbeitete grüne Oliven beigegeben (vgl. Anm. 16), um den Eindruck der Trübung zu erzielen, den das aus jungen Oliven gewonnene Öl von Natur aus gehabt hätte18. In den Papyri bedeutet ἔλαιον σπανόν, σπανὸν ἔλαιον und σπανέλαιον folglich: ‘aus grünen Oliven gewonnenes herbes Öl’ ohne Rücksicht auf den Produktionsort. Vielleicht hat diese Verbindung ὀµφάκιον ersetzt, so dass der in der Wortgeschichte ja gar nicht so seltene Fall vorliegen könnte, dass bei einer Warenbezeichnung ein Appellativum durch ein ursprüngliches Nomen proprium verdrängt wurde. Wir dürfen annehmen, dass für die Alltagssprache die tatsächliche Herkunft aus Spanien weit weniger wichtig war als der Typ des Öl und dass wahrscheinlich auch die Verbindung der Bezeichnung σπανὸν ἔλαιον mit dem Landesnamen Ἱσπανία längst nicht für alle Sprecher offenkundig war. Dafür spricht auch die Tatsache, dass die volle Form Ἱσπανὸν ἔλαιον in den Papyri nicht ein einziges Mal belegt ist. Daraus lässt sich eine Konsequenz für unsere Schreibung ableiten: Ἱσπανόν ist oxyton, folglich muss auch die verkürzte Form genauso akzentuiert werden. Angesichts der Tatsache, dass zumindest für die Personen, die die dokumentarischen Papyri geschrieben haben, der Zusammenhang mit Ἱσπανία unklar war, sollte man auch entgegen dem Usus der meisten Editoren auf Eigennamenmajuskeln verzichten, also ἔλαιον σπανόν und σπανὸν ἔλαιον schreiben.
_________ 18 Zu den Ölsorten der Antike vgl. RE XVII 2454-2474, bes. 2457. Plinius hat den Anfang des 15. Buches seiner Naturalis historia (15, 1–34) der Olive gewidmet, allerdings ohne besonders auf Produkte Spaniens oder spanischen Typs hinzuweisen (um das omphacium geht es 12, 130). Columella (11, 2, 83) weist nur auf den Zeitpunkt der Ernte hin, wenn er für Ende Oktober empfiehlt: “tum olea destringenda est, ex qua uelis uiride oleum efficere; quod fit optimum ex uaria oliua, cum incipit rescere; nam acerbum nisi ex alba olea fieri non debet”.
26. συµφωνία / symphonia Abstract: Romance etymological dictionaries distort in some points the story of symphonia, a word occuring in Aramaic, Greek, Latin and Romance stages. συµφωνία, first attested as a loanword in the Aramaic part of Daniel (175–164 B. C.), denotes musical instruments producing several tones simultaneously: pan-pipes, bagpipes, drums, trumpets; even a band of several instruments can be called a συµφωνία. These Greek meanings continue in Latin and in Romance. Only ‘cow-bell’ and ‘prattle, tale’ are new semantic developments in some Romance languages. Keywords: symphonia, pan-pipes, bag-pipes, orchestra, Daniel in Aramaic
1. συµφωνία / symphōnia in den romanischen Etymologika Im Sommer 1991 ist der letzte Band der Neubearbeitung des großen etymologischen Wörterbuches der spanischen Sprache erschienen: An Stelle des vierbändigen DCELC, das Joan Corominas 1954 in der Schweiz herausgebracht hatte, traten die sechs Bände des DCECH, das er “con la colaboración de José A. Pascual” in Madrid erscheinen ließ. Das Spanische hat damit endlich ein zuverlässiges und aktuelles Etymologikon, das zwar nicht wie das Französische etymologische Wörterbuch (FEW) von Walther von Wartburg oder das Lessico etimologico italiano (LEI) von Max Pfister als Thesaurus, der virtuell alle historischen Formen und Dialektwörter bieten soll, angelegt ist, dafür aber einen Aufbau aufweist, der auch für Nichtspezialisten ohne sprachwissenschaftliche Vorbildung zugänglich ist. Freilich ist trotz aller Überarbeitung vielfach der Informationsstand der fünfziger Jahre beibehalten worden, ohne dass neuere Forschungen registriert werden. Das lässt sich beispielsweise an der Etymologie von spanisch zampoña ‘Hirtenflöte’ zeigen, die sich für Joan Corominas folgendermaßen darstellt (Band VI, S. 64–65): zampoña, junto con el it. zampogna, supone un lat. *sŭmpōnĭa, forma vulgar en vez de la clásica symphōnĭa, gr. συµφωνία ‘concierto’, que en la baja época aparece como nombre de un instrumento músico análogo a la zampoña. [...] El vocablo no se encuentra en esta forma en los romances vecinos, pero reaparece en italiano, donde zampogna es también instrumento rústico y pastoril, documentado copiosamente desde el s. XV (Luigi, Pulci, Poliziano) y bien representado en los dialectos del Norte de Italia, hasta el sobreselv. sampuegn, que vale ‘cencerro de vaca’. Es, pues, autóctona en Italia, desde donde pasaría al gr. mod. τζαµπούνα, húng. zsimpolya (que a su vez dió rum. cimpoiŭ, cimpoiaş). [...] Por lo demás, que el étimo es symphōnĭa, como ya dijo Nebrija, o más precisamente su
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forma vulgar *sŭmpōnĭa, está fuera de duda, teniendo en cuenta que el mismo instrumento se llama zanfoña en Galicia y Asturias, [...] sanfonha en portugués, sanfònio en el Languedoc, sanforgno en el Forez, fanfòni o founfòni en Provenza [...] y, con asimilación en sentido inverso, aran. sansònia. De hecho, symphonia, que en griego y en latín clásico es ‘concierto’, pasa en la baja época a designar un instrumento músico, citado por San Jerónimo, la Vulgata y San Isidoro (Sofer, pp. 91–92); el cambio de sentido podrá explicarse por tratarse de una zampoña de v a r i a s flautas. Dieser Text ist völlig identisch mit dem etwa vierzig Jahre zuvor im DCELC 4, 821–822 veröffentlichten und reflektiert eine Auffassung über die Wortgeschichte, die sich schon beim Altvater Friedrich Diez (1887, 281) findet1: sampogna, zampogna it., sp. zampoña, pg. sanfonha, pr. sinphonia, altfr. symphonie, chifonie, wal. cimpoe ‘Schalmei, Hirtenflöte’, auch ‘Sackpfeife’. Von symphonia, dem schon das früheste Mittellatein ähnliche Bedeutungen einräumte, bei Venant. Fort. donec plena suo cecinit symphonia flatu. Die Herleitung aus sambucus ist kaum der Anführung wert. Wilhelm Meyer-Lübke (REW Nr. 8495) war da 1935 (und auch in der ersten Auflage von 1911) schon einen Schritt weiter, indem er schon für griechisch symphonia und nicht erst für lateinisch *sumponia die Bedeutung ‘ein Musikinstrument’ angab; als dritte Variante des Etymons wird mittelgriechisch sifonia angeführt, zu dem altfrz. chifoine, chirfornie, normannisch šifurñí und altfrz. sifoine ‘Binsenkraut’ gestellt wird. Ein einigermaßen zutreffendes Bild der Wortgeschichte lieferte dann erst 1966 Walther von Wartburg (FEW 12, 489–490): Gr. συµφωνία bedeutet ‘das Zusammenklingen, der Wohlklang, die Harmonie’, auch ‘ein Konzert von mehreren Stimmen oder Instrumenten’. Daraus entlehnt lt. symphonia, mit den gleichen Bedeutungen. Sodann wird, seit dem 3. Jh. v. Chr., die Verwendung des Wortes konkretisierend auch auf gewisse Musikinstrumente ausgedehnt; so erscheint gr. συµφωνία in der Bedeutung ‘cornemuse, orgue, flûte de Pan’, siehe DarembergSaglio 4, 1578. Vgl. Polybius 26, 10, 5: παρῆν ἐπικωµάζων µετὰ κερατίου καὶ συµφωνίας; Septuaginta Daniel 3, 5 (auch 3, 10; 3, 15): ἀκούσετε τῆς φωνῆς τῆς σάλπιγγός τε καὶ κιθάρας, συµφωνίας καὶ ψαλτηρίου καὶ παντὸς γένους µουσικῶν. [...] Im Griechischen selbst hat das Wort auch weitergelebt, ebenfalls als Bezeichnung eines Musikinstrumentes. Gewöhnlich wird ein mgr. cifonia zitiert, das allerdings bei Sophocles fehlt und das Daremberg-Saglio 4, 1578 als ein Phantomwort bezeichnen. Doch _________ 1 Hier und in folgenden Zitaten ist stillschweigend die normale deutsche Orthographie eingeführt worden.
26. συµφωνία / symphonia
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steht in einer der oben zitierten Stellen aus Daniel im hebräischen Text sjpnj’ (= siphnia oder siphonia). Den Fall des –m– schreiben DarembergSaglio dem Einfluss von gr. σίφων zu. Eine Form *sifonia muss also doch wohl im Griechischen bestanden haben. [In der aramäischen Bibel wird das Wort im Buch Daniel sumpōnyā geschrieben (3, 5; 15) oder sifōnyā (3, 10), was Vigouroux , Dictionnaire de la Bible 5, 1899 als Verschrieb für *sumfōnyā ansieht, allerdings ohne einen strikten Beweis dafür zu liefern. Nach Vigouroux steht im Peschitto (syrisch-aramäische Bibelübersetzung aus dem Hebräischen) sĕfūnyā. Doch ist schwerlich einzusehen, wie diese aramäischen Formen nach Frankreich gekommen wären]. Daneben lebt symphonia im Mittellateinischen weiter, wo es Du Cange bis ins 13. Jh. belegt. Wie das so benannte Musikinstrument beschaffen war, ist nicht in allen Fällen mit Sicherheit festzustellen. Bei Isidor handelt es sich um eine Art Trommel, in den altfranzösischen Texten aber ist es eine Leier mit Saiten und einem Drehrad. Soweit die Darstellung im FEW, die die großen Linien zweifellos richtig wiedergibt, aber in den Einzelheiten allerlei Schwächen aufweist und einige wichtige antike Zeugnisse übersehen hat, so dass es angebracht ist, einige Punkte noch einmal anzusprechen. 2. Das aramäische סימפניה Kommen wir zunächst zu den Belegen aus dem Buche Daniel! Leider trägt die Darstellung Walther von Wartburgs wenig zur Klärung des Sachverhaltes bei. Im “hebräischen Text” Daniels kann das uns hier interessierende Wort überhaupt nicht stehen, weil alle in Frage kommenden Stellen (3, 5; 3, 10; 3, 15) auf Aramäisch geschrieben sind, denn von 2, 4 bis 7, 28 gibt es keinen hebräischen, sondern nur einen aramäischen Text des Buches Daniel. In diesem aramäischen Text steht nun sowohl 3, 5 als auch 3, 15 das Wort ;סומפניהder Buchstabenbestand swmpnjh ist nach dem traditionellen System als sūmponjā zu transkribieren. Das ( פmit Dagesch) wird zwar als p transkribiert, aber es wurde als Aspirata, also als [ph], ausgesprochen (Bergsträsser 1918, 38–39 = § 6i), genau wie das griechische φ, das ja jedenfalls im 2. Jahrhundert v. Chr. noch kein frikatives [f], sondern noch eine echte Aspirata [ph] war (Schwyzer 1953, I 204–207). An der dritten Stelle, an der das Wort vorkommt, nämlich Dan. 3, 10, steht סיפניה, also der Buchstabenbestand sjpnjh; das könnte man (mit einer gewissen Großzügigkeit in der ersten Silbe) als sīponjā (nicht etwa sifonia wie im FEW!) transkribieren, aber man darf es auf keinen Fall tun, denn über dem Wort steht im Bibeltext ein kleiner Kreis, der sogenannte Circellus, ein Lesezeichen der Masoreten, also der jüdischen Gelehrten, die im 9. und 10. Jahrhundert den Bibeltext festgelegt und mit Lesezeichen versehen haben. Dieses Lesezeichen besagt, dass nach Ansicht der Masoreten an dieser Stelle der überlieferte Konsonantentext ( כתיבkətīv ‘Geschriebenes’) anders zu lesen ist; in diesen Fällen steht der Lesevorschlag der Masoreten ( ריקqərə ‘zu Lesendes’) am Rande neben dem Text, allerdings ohne Vokalzeichen, denn die sind ja schon dem abgelehnten Buchstabenbestand im Text beige-
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geben worden. Dieses komplizierte Verfahren erklärt sich daraus, dass die Masoreten den Konsonantenbestand der Bibel als von Gott gegebenen Text als so sakrosankt ansahen, dass er von Menschen nicht angerührt werden durfte, dass sie aber andererseits als gute Textkritiker einen lesbaren Text herstellen mussten; dieser ging dann eben nicht in den eigentlichen Textbestand ein, sondern figurierte als Randnotiz (Gesenius / Kautzsch 1909, 68–70 = § 17). In unserem Falle bedeutet das, dass die Vokalzeichen des Daniel 3, 10 stehenden סיפניהdem am Rande stehenden Lesehinweis סומפניהbeizugeben sind, so dass also hier wie schon 3, 5 und 3, 15 die Lesung sūmponjā entsteht. Mit anderen Worten: Die Masoreten haben eine offenkundige Textverderbnis, eine Korruptel, die Dan. 3, 10 im aramäischen Bibeltext steht, zugunsten der Lesart beseitigt, die auch Dan. 3, 5 und 3, 15 steht. Sprachliche Argumente darf man aus dieser Korruptel unter gar keinen Umständen zu gewinnen trachten, denn sie ist rein schreibmechanisch zu erklären: מund פsehen sich optisch sehr ähnlich (bei מist die linke senkrechte Haste bis auf die Grundzeile durchgezogen, bei פhört diese Haste in der Mitte des Beschriftungsraumes auf), und dass Haplographie auftreten kann, wenn מund פ direkt aufeinander folgen, ist ebenso leicht verständlich wie die Verschreibung י statt ו, denn beide Buchstaben unterscheiden sich ja nur durch die Länge des Abstrichs. Eine Erklärung für ein “mittelgriechisches cifonia” (wie sollte das eigentlich geschrieben sein?) ist hier jedenfalls nicht zu holen. Es gibt, genau besehen, überhaupt kein solches Wort im Griechischen; was es gibt, ist ein bei Hesych und dann in neugriechischen Dialekten belegtes σιφώνιον ‘Röhre; Saugheber; Flieder, Holunder, Flaschenkürbis’ (Andriotis 1974, 495), eine Diminutivbildung zum Simplex σίφων ‘Röhre’, ein Wort, das mit dem mittelgriechischen Phantomwort cifonia nun wirklich nichts zu tun hat. Man sollte sowohl “aramäisch sifōniā” (FEW 12, 491) als auch “mittelgriechisch sifonia” (so im REW) aus dem symphonia-Artikeln der Etymologika verschwinden lassen, denn es handelt sich um Phantom-Wörter, die auf gar keinen Fall als Etyma für galloromanische Formen wie altfranzösisch chifoine in Frage kommen können, die man am ehesten als Onomatopoetika erklären sollte. Die Bedeutung des im Buch Daniel dreimal belegten, aber sonst in der Bibel nicht bezeugten aramäischen Wortes סומפניהsūmponjā bietet keine besonderen Probleme: Es ist auf jeden Fall ‘ein musikalisches Instrument’ (Gesenius 1962, 917), ein ‘Musikinstrument’ (Koehler / Baumgartner 1995, V 1751) gemeint, denn das Wort steht in einer ganzen Reihe von Wörtern für Musikinstrumente. Martin Luther übersetzt an allen drei Stellen ‘Schall der Posaunen, Drommeten, Harfen, Geigen, Psalter, Lauten und allerlei Saitenspiel’, wobei die Namen der einzelnen Instrumente ziemlich willkürlich gewählt zu sein scheinen. Eine ‘Laute’, wie Luther übersetzt, war jedenfalls mit סומפניהkaum gemeint. Viel wahrscheinlicher ist die Erklärung, die die spätantiken und frühmittelalterlichen Schriftauslegungen der Talmudim und Midraschim bieten, nämlich dass es sich um eine ‘Doppelflöte’ oder eine ‘Sackpfeife’ gehandelt habe (Levy 1924, 492; Koehler / Baumgartner
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1995, 1752) – ‘Sackpfeife’ ist ja nur der technischere Ausdruck für ‘Dudelsack’2 (vgl. auch Jastrow 22004, 982: ‘a wind instrument, double flute, bagpipe’). 3. Griechisch συµφωνία Es liegt natürlich auf der Hand, dass סומפניהaus griechisch συμφωνία entlehnt ist, und da das Buch Daniel mit einiger Sicherheit unter der Herrschaft von Antiochos IV. (175–164 v. Chr.) geschrieben ist, kann man sagen, dass im 2. Jahrhundert v. Chr. συµφωνία im Griechischen zur Bezeichnung des Zusammenklanges von musikalischen Stimmen, also einer Kapelle oder eines mehrstimmigen Musikinstrumentes, geläufig war. Welcher Typ von Instrument genau gemeint ist, lässt sich vom Griechischen aus nicht eindeutig bestimmen, aber angesichts der Aufzählung in der Septuaginta-Fassung des Buches Daniel (3, 5: ὅταν ἀκούσητε τῆς φωνῆς τῆς σάλπιγγος, σύριγγος καὶ κιθάρας, σαµβύκης καὶ ψαλτηρίου, συµφωνίας καὶ παντὸς γένους µουσικῶν …; fast genauso 3, 10 und 3, 15) wird man wohl annehmen dürfen, dass ein ‘mehrstimmiges Blasinstrument’ gemeint sein könnte; es muss sich jedenfalls um ein Instrument handeln, das mindestens zwei verschiedene Töne gleichzeitig hervorbringen kann. Das würde auch die Wortbildung erklären, denn sowohl eine Doppelflöte als auch ein Dudelsack haben mehrere Pfeifen, die in harmonischem Zusammenklang, in συµφωνία also, gespielt werden mussten. Die griechische Version des Buches Daniel, die natürlich den Gräzismus סימפניהdes aramäischen Originals mit seinem Ausgangswort συµφωνία wiedergibt, ist natürlich später angefertigt als der auf 175 bis 164 v. Chr. zu datierende aramäische Urtext. Man darf hier also für den griechischen Wortlaut nicht etwa das Datum ansetzen, zu dem der Überlieferung nach die Septuaginta-Fassung des Pentateuchs angefertigt wurde, also die Regierungszeit von Ptolemaios II. Soter (285–246). Das tut aber Walther von Wartburg im FEW offenbar, wenn er sagt, dass “seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. die Verwendung des Wortes konkretisierend auch auf gewisse Musikinstrumente ausgedehnt” worden sei. In Wahrheit sind die Daniel-Belege aus der Septuaginta, die ungefähr auf die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. zu datieren sind, die ältesten griechischen Bezeugungen für die Verwendung von συµφωνία für ein Musikinstrument3. _________ 2 Vgl. den Wortartikel in Meyers Enzyklopädischem Lexikon 20, Mannheim/Wien/Zürich 1977, 552: “Sackpfeife (Dudelsack; engl. Bagpipe; italien. Cornamusa, Piva, Zampogna; frz. Cornemuse, Musette; span. Gaita), Blasinstrument mit einer oder mehreren zylindrischen oder konischen Pfeifen, deren Ton durch ein einfaches bzw. doppeltes Rohrblatt entsteht. Das mit dem Rohrblatt versehene Ende der Pfeifen steckt in einem flexiblen Luftbehälter (meist Tierhaut), dem ‘Sack’. Dieser wird entweder mit dem Mund oder einem kleinen Blasebalg gefüllt. Durch den Druck des Armes auf den Sack gelangt die Luft in die Pfeifen; dabei entsteht ein ununterbrochener Luftstrom. Häufig, v. a. bei neueren europäischen Sackpfeifen, treten Spiel-(Melodie-)Pfeifen und Bordunpfeifen (Stimmer) zusammen. Oft sind mehrere Stimmer, seltener mehrere Spielpfeifen vorhanden”. 3 Belege für συµφωνία im abstrakten Sinne von ‘Zusammenklang, Harmonie’ sind seit Platon ungemein häufig im Griechischen, können hier aber nicht berücksichtigt werden.
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An den meisten Stellen im Griechischen, an denen συµφωνία einen konkreten Sinn hat, ist freilich nicht ein bestimmtes Musikinstrument gemeint, sondern eine vielstimmige Musik, mit anderen Worten eine ganze Kapelle. So ist es schon beim zeitlich zweiten Beleg für συµφωνία bei Polybios (etwa 200–120 v. Chr.), wo im Bericht über das Verhalten von Antiochos Epiphanes bei Tisch (26, 4) συµφωνία im Sinne eines Zusammenklanges eines mehrstimmigen Instruments oder einer Kapelle (Collatz / Gützlaf / Helms 2002, 286) verwendet wird: ὅτε δὲ τῶν νεωτέρων αἴσθοιτό τινας συνευωχουµένους, οὐδεµίαν ἔµφασιν ποιήσας παρῆν ἐπικωµάζων µετὰ κερατίου καὶ συµφωνίας, ὥστε τοὺς πολλοὺς διὰ τὸ παράδοξον ἀφισταµένους φεύγειν.
Wenn er aber bemerkte, dass einige der jungen Leute zusammen tafelten, meldete er sich nicht an, sondern erschien auf dem Fest mit einer Flöte und Begleitmusik4, so dass die meisten wegen des unerwarteten Auftretens aufstanden und wegliefen.
An einer anderen Stelle bezeichnet συµφωνία ziemlich eindeutig eine ganze Kapelle (30, 26, 8): καὶ τῆς συµφωνίας προκαλουµένης ἀναπηδήσας ὠρχεῖτο καὶ ὑπεκρίνετο µετὰ τῶν γελωτοποιῶν, ὥστε πάντας αἰσχυνοµένους φεύγειν.
Wenn die Kapelle aufspielte, sprang er auf, tanzte und spielte mit den Komödianten, so dass alle sich schämten und wegliefen.
Auch in den Papyri findet man mehrfach Belege im Sinne von ‘Kapelle’ (vgl. Preisigke 1927, II 520). In einem Vertrag über das Engagement von Musikern und Pantomimen aus dem Jahre 181 n. Chr. heißt es (P. Flor. I 75, 4–8 = Tedeschi 2002, 156): ὁµολογῶ πα̣ρ̣ει|ληφέναι ὑµᾶς µεθ᾿ ἧς ἔχετε συµφωνίας | πάσης µουσικῶν τε καὶ ἄλλων ὑπουργοῦντα[ς] | ἐφ᾿ ἡµέρας πέντε.
Ich erkläre, euch in Dienst genommen zu haben mit der ganzen Kapelle von Musikern und anderen Leuten, die ihr habt, für fünf Tage.
In einem Engagement von Musikern aus dem 3. Jahrhundert wird der Kapellmeister folgendermaßen eingeführt (P. Oxy. X 1275, 8–9): Κοπρεὺς Σαραπάµµων[ος] ὁ̣ προεσ|τὼς συµφωνίας αὐλητῶν καὶ µουσικῶν
Kopreus, Sohn des Sarapammon, der Chef der Kapelle von Flötenspielern und Musikern.
Ein προνοούµενος, also ein ‘Impresario’ oder ‘Manager’, einer συµφωνία µουσικῶν ‘Musikerkapelle’ wird P. Heid. IV 328, 3/4, genannt (3. Jh. n. Chr.). Man kann angesichts dieser Zeugnisse durchaus den Eindruck haben, dass συµφωνία in der κοινή des Hellenismus und der Römerzeit – neben dem juristischen Sinn ‘Übereinkunft, Vereinbarung’ – die Hauptbedeutung ‘Kapelle, Or_________ 4
So lautet die Übersetzung bei Collatz / Gützlaf / Helms 2002, 286.
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chester’ gehabt habe. Dass es davon abgeleitet in der Sekundärbedeutung auch Musikinstrumente, die mit einiger Phantasie wie ein ganzes Orchester klangen, bezeichnen konnte, liegt eigentlich auf der Hand. Auch im Neuen Testament gibt es einen Beleg für συµφωνία. Dem Gleichnis vom verlorenen Sohn folgt eine Geschichte, in der der ältere Bruder des Heimgekehrten neidisch auf die Feier für den Pflichtvergessenen reagiert. Diese Geschichte wird folgendermaßen eingeführt (Luc. 15, 25): ἦν δὲ ὁ υἱὸς αὐτοῦ ὁ πρεσβύτερος ἐν ἀγρῷ , καὶ ὡς ἐρχόµενος ἤγγισεν τῇ οἰκίᾳ, ἤκουσεν συµφωνίας καὶ χορῶν.
Sein älterer Sohn war auf dem Acker, und als er sich dem Hause näherte, hörte er Musik und Tanz.
Was συµφωνία hier konkret meint, ist kaum auszumachen. Hieronymus lehnte in seinem Kommentar zum lateinischen Text (“audiuit symphoniam et chorum”) die Deutung als ‘Musikinstrument’ ab und dachte an ‘gemeinsamen Gesang’ (ep. 21, 29 = PL 22, 389): male autem quidam de Latinis symphoniam putant esse genus organi, cum concors in Dei laudem concentus ex hoc uocabulo significetur; symphonia quippe consonantia exprimitur in Latinum.
Fälschlich nehmen einige Lateiner an, dass symphonia ein Musikinstrument bezeichne, wo doch gemeinsamer Gesang zum Lobe Gottes mit diesem Wort bezeichnet wird, denn symphonia heißt auf Lateinisch Zusammenklang.
Diese Deutung bestimmt Luthers Übersetzung, der an “das Gesänge und den Reigen” dachte, und sie findet sich auch in der englischen King James Bible (“musick and dancing”), in der niederländischen Statenbijbel (“het gezang en het gerei”) und in der Sainte Bible von Louis Segond (“la musique et les danses”). Wirklich sicher ist diese Interpretation allerdings keineswegs: Es gibt auch die Übersetzung ‘Flötenspiel’, konkreter sind ‘Hirtenpfeife’ und sogar ‘Dudelsack’, ‘Konzert’ und ‘Kapelle’ kommen auch vor (Bauer 1952, 1420), und wahrscheinlich ist die resignierende Aussage im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament (9, 301, 27) am zutreffendsten: “Die Bedeutung von συµφωνία ist umstritten”. Erasmus zog sich mit “audivit concentum et saltationes” geschickt aus der Affäre, und die deutsche Übersetzung ‘Musik und Tanz’ wird ungefähr treffen, was der Text sagen will. Jedenfalls kann diese Stelle des Neuen Testaments zur Semantik von συµφωνία nichts Wesentliches beitragen. Dass, wie im FEW (12, 490) behauptet, συµφωνία “im Griechischen selbst auch weitergelebt” habe, und zwar “als Bezeichnung eines Musikinstrumentes”, kann man jedenfalls nicht sagen: Es gibt keine Belege aus dem Mittelgriechischen, im Neugriechischen lebt das Wort nicht im konkreten Sinn (es gibt nur das Buchwort συµφωνία ‘Übereinstimmung, Vertrag, Abkommen, Kongruenz, Symphonie’), und es gibt keine Dialektformen.
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4. Lateinisch symphōnia Kommen wir nun zum Lateinischen! Die ersten Belege für symphōnia finden sich bei Cicero (Cic. Verr. II 3, 44, § 105; fam. 16, 9, 3; Cael. 15, 35), und nach dem übereinstimmenden Zeugnis der Wörterbücher heißt das Wort dort und bei anderen klassischen Schriftstellern (Hor. ars 374; Liv. 39, 10, 7; Sen. ep. 123, 9) ‘Kapelle, Orchester’, also in den Worten des Oxford Latin Dictionary 1895: ‘a group of singers or musicians, band (especially when performing)’. Als Beispiel soll hier eine Cicero-Stelle angeführt werden, in der die Reaktion der Bevölkerung auf einen Sieg der Piraten beschrieben wird (Verr. II 5, 35, 92): affertur nocte intempesta grauis es wird spät in der Nacht die schwere huiusce mali nuntius Syracusas; Unglücksbotschaft nach Syakus gebracht; curritur ad praetorium, quo istum man eilt zum Prätorium, wohin ihn nach e conuiuio illo praeclaro reduxerant jenem herrlichen Gastmahl kurz zuvor die paullo ante mulieres cum cantu Frauen mit Gesang und Kapelle begleitet atque symphonia. hatten. Freilich ist diese Bedeutung vielleicht nicht immer anzusetzen. In der soeben genannten Verresrede heißt es an anderer Stelle (Cic. Verr. II 5, 13, 31): non offendebantur homines in illo neque moleste ferebant abesse a foro magistratum, non ius dici, non iudicia fieri, locum illum litoris percrepare totum mulierum uocibus cantuque symphoniae.
Die Menschen störten sich nicht an ihn und fanden nichts dabei, dass der oberste Magistrat nicht auf dem Forum war, dass kein Recht gesprochen wurde, dass keine Verhandlungen stattfanden, dass jener Ort an der Meeresküste von den Stimmen der Frauen und vom SymphoniaKlang angefüllt war.
Wenn man bedenkt, dass normalerweise cantus den Klang eines Instrumentes bezeichnet (cantus tibiae, cantus tubae, cantus citharae, cantus fistulae, cantus organi, vgl. ThLL 3, 294, 62–295, 17), dann ist es nicht wahrscheinlich, dass hier cantus symphoniae ‘Klang des Orchesters’ heißt; man wird vielmehr an ‘Klang der Flöte’ o. ä. denken. Diese Vermutung gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn man an Sen. ep. 51, 4 denkt: uidere ebrios per litora errantes et comessationes nauigantium et symphoniarum cantibus strepentes lacus et alia, quae uelut soluta legibus luxuria non tantum peccat, sed publicat, quid necesse est?
Betrunkene zu sehen, die die Küste lang irren, lärmende Gelage der Seeleute, von den Klängen der Flöten widerhallende Seen und anderes, womit die gleichsam von allen Regeln befreite Ausschweifung nicht nur sündigt, sondern zur Schau stellt – ist das wirklich nötig?
Hier drängt sich ‘von den Klängen der Flöten widerhallende Seen’ als Übersetzung von symphoniarum cantibus strepentes lacus geradezu auf, denn ‘Orchester’ im Plural wäre ja keineswegs sinnvoll. Völlig eindeutig wird auch an der fol-
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genden Seneca-Stelle (ep. 51, 12) nicht ein ganzes Orchester einer tuba gegenübergestellt, sondern es wird die Trompete als kriegerisches Musikinstrument der symphonia als einem typisch friedlichen Instrument gegenübergestellt – ob das eine doppelte Hirtenflöte, ob das ein Dudelsack ist, muss natürlich offen bleiben. quidni mallet, quisquis uir est, somnum suum classico quam symphonia rumpi?
Wollte denn nicht jeder, der ein Mann ist, seinen Schlaf lieber durch eine Kriegstrompete als durch eine Friedensflöte unterbrechen lassen?
Völlig eindeutig ist der folgende Beleg von Lucius Ampelius (liber memorialis 8), dessen Lebenszeit wir allerdings nicht kennen (2. Jh.?; 4. Jh.?). in silua Panis symphonia in oppidum auditur.
die Flöte des Pan im Walde wird bis in die Stadt gehört.
Das Corpus Glossariorum Latinorum (4, 184, 19) bestätigt von der lexikographischen Seite her die Vermutung, dass symphonia ‘Flöte’ heißt: tibia symphonia. Fazit: Schon von den ersten Zeugnissen an und keineswegs erst “en la baja época” (DCECH 6, 65) oder “im 1. Jh.” (FEW 12, 490) kann symphōnia im Lateinischen nicht nur, wie die Wörterbücher angeben, ‘Orchester’ bedeuten (obwohl diese Bedeutung natürlich vorkommt, etwa Hor. ars poet. 374; Plin. nat. hist. 10, 84; Suet. Cal. 37), sondern auch ein Musikinstrument, genauer gesagt eine Doppelflöte oder einen Dudelsack, bezeichnen (z. B. Cic. or. dep. 6, 1, 1; Liv. 39, 10, 7; Petron. 28, 5; Sen. ep. 12, 8; Cels. 3, 18, 10; Plin. nat. hist. 2, 209; 8, 157; Apul. met. 11, 9; Prudent. c. Symm. 2, 528). Erstaunlich ist das nicht: Das griechische συµφωνία muss in der hellenistischen Epoche eine geläufige Bezeichnung für einen bestimmten Typ von Blasinstrument gewesen sein. Als musikalischer Terminus kam dieser Ausdruck zusammen mit dem Instrument eben in andere Sprachen wie beispielsweise ins Aramäische und ins Lateinische. Isidor von Sevilla liefert in dem um 621 fertiggestellten ersten Teil der Etymologiae im Kapitel über die Harmonie eine Beschreibung der symphonia (3, 20, 3): symphonia est modulationis temperamentum ex graui et acuto concordantibus sonis, siue in uoce, siue in flatu, siue in pulsu. per hanc quippe uoces acutiores grauioresque concordant, ita ut quisquis ab ea dissonuerit, sensum auditus offendat. cuius contraria est uocis diaphonia, id est uoces discrepantes uel dissonae.
Symphonia ist die Temperierung der Melodie aus dem Zusammenklang von tiefem und hohem Ton, mit der Stimme, beim Blasen oder Schlagen. Dabei klingen höhere und tiefere Stimmen zusammen, so dass jeder, der davon abweicht, das Gehör beleidigt. Das Gegenteil dazu ist die Diaphonia, das heißt Stimmen, die nicht im Gleichklang sind oder die Misstöne bilden.
Hier ist also die symphōnia theoretisch beschrieben: Harmonie, die auf verschiedene Art, mit menschlicher Stimme, mit einem Blasinstrument oder mit einem Schlaginstrument erzeugt wird – die Kapelle wird hier wohl deshalb nicht
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genannt, weil sie dem Leser sowieso gegenwärtig ist. Die meisten unserer Zitate beziehen sich verständlicherweise auf die Kapelle, weil sie die am häufigsten auftretende Quelle der symphōnia ist; die Blasinstrumente sind sicher die zweithäufigste Quelle. Schlaginstrumente sind hingegen selten behandelt, aber Isidor selbst bietet eine Stelle, an der eine Art Schlaginstument mit verschiedenen Tonhöhen als symphōnia bezeichnet wird (3, 22, 14): symphonia uulgo appellatur lignum cauum ex utraque parte pelle extenta, quam uirgulis hinc et inde musici feriunt, fitque in ea ex concordia grauis et acuti suauissimus cantus.
Symphonia wird im Allgemeinen ein ausgehöhltes Holz, das auf beiden Seiten mit Fell überzogen ist, genannt, das die Musiker auf beiden Seiten mit Stöcken schlagen, und bei ihr entsteht aus dem Zusammenklang des tiefen und des hohen Tones ein sehr schöner Ton.
Für lateinisch symphōnia ist also, entsprechend dem griechischen Befund, ‘Kapelle’ die Hauptbedeutung, daneben sind häufig mehrstimmige Flöten verschiedener Machart (Hirtenflöte, Dudelsack) gemeint, und außerdem gelegentlich andere mehrstimmige Instrumente. 5. Die Nachfolgeformen von symphōnia in der Romania Kommen wir jetzt zu einigen Aspekten des Fortlebens von symphōnia in der Romania! Zunächst einmal soll die Form hintangestellt werden und die Aufmerksamkeit nur der Bedeutung gelten. Es schälen sich fünf Hauptbedeutungen heraus: 1. ‘Hirtenflöte’: it. zampogna, sampogna, piem. zanpogna, sanpogna, cianpôrgna, sp. sampoña, port. sanfonha; 2. ‘Dudelsack’: it. zampogna, sampogna, prov. sansôgno, founfóni; 3. ‘andere Instrumente’: prov. famfougni ‘Mandoline’, Toulouse sansogno, Isère fanfourgni ‘verstimmte Geige’, kat. ximfoyna ‘Triangel’, port. sanfona ‘Leier’; 4. ‘Kuhglocke’: friaul. sampógne, dolomitenlad. sampügn, bünderrom. zampugn, nonsb. sampogn, bergell. sampóin, veltl. sampogn; 5. ‘Geschwätz’: siz. fanfonia, it. fandonia ‘Fabel’. Diese Bedeutungen setzen, wie man unschwer sieht, die antike Tradition geradlinig fort: ‘Hirtenflöte’ ist der Sinn, den wir für symphōnia als wahrscheinlich herausgearbeitet haben, und daraus erklärt sich ‘Dudelsack’ zwanglos: Wie die Hirtenflöte aus mehreren Pfeifen besteht, so weist auch der Dudelsack mehrere Pfeifen auf. ‘Geschwätz’ ist eine übertragene Bedeutung, bei der die Monotonie der Musik und die Monotonie des Redens das tertium comparationis darstellt. Einzig ‘Kuhglocke’ fällt aus dem Rahmen; hier liegt in der Tat eher eine nähere Beziehung zu Isidors ‘Schlaginstrument’ als zur ‘Flöte’ der übrigen Überlieferung vor. Im FEW 12, 490 lesen wir zur Form der romanischen Wörtern: Griechisch συµφωνία muss schon in vorklassischer Zeit in das Latein des Volkes übergegangen sein. Nur so erklärt sich altit. sampogna (Dante)
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als Name eines Instrumentes. Diese frühe Übernahme wird erwiesen durch den Wechsel des Akzentes (-onia < -ónia) und durch die Wiedergabe des gr. -φ- durch lat. -p-, des –υ– durch -u-; sie führt uns etwa ins 3. Jh. v. Chr. Diese Darstellung kann schon deswegen nicht richtig sein, weil, wie oben gezeigt, das griechische Wort erst im 2. Jahrhundert v. Chr. auf Musikinstrumente angewendet wurde. Der Akzentunterschied zwischen dem Griechischen und Lateinischen ist bei Wörtern dieses Typs wegen des “Dreisilbengesetztes” bis zum Ende der Antike selbstverständlich (φιλοσοφία m u s s zu philosóphia werden), egal, wann das Wort entlehnt wurde. Zudem ist die Auffassung, dass nur bei alten Entlehnungen griechisch υ durch lateinisch u und φ durch p wiedergegeben worden sei, bei jüngeren Übernahmen hingegen i und ph = f das schließliche Resultat war, in dieser simplen Form nicht haltbar: Offenbar konnte noch bis ins 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. u eintreten (z. B. rum. ciuma < κῦµα, giur < γῦρος), andererseits ist i auch schon früher möglich (in Pompei halten sich u und i als Wiedergabe von griechisch υ die Waage, vgl. Väänänen 1966, 32–33, und es stehen f und p, nicht aber ph, nebeneinander, vgl. Väänänen 1988, 111 = § 102). Man wird sagen müssen, dass es für die fremden Laute y und ph im gesprochenen Latein einige Jahrhunderte lang zwei Adaptationsmöglichkeiten gab, nämlich u oder i und p oder f, und diese Koexistenz zeigt sich an einigen romanischen Wörtern noch heute. In diese Kategorie gehören auch die Nachfolgeformen von symphōnia, denn man trifft die Realität sicher nicht, wenn man sagt, port. sanfonha repräsentiere eine jüngere Wortschicht als sp. zampoña. Zu klären bleibt noch die Gestalt der Anlautsilbe. Die direkt zugrundeliegende Form ist ja weder sumponia noch simfonia, sondern samponia / sanfonia. Man könnte sagen, die Vokalqualität sei in der Vortonsilbe vor Nasal sowieso instabil, aber dass tatsächlich in nahezu allen romanischen Formen ein a auftritt, lässt doch eher darauf schließen, dass bereits die antike Ausgangsform ebenfalls ein a hatte. Im FEW 12, 490 wird folgende Erklärung vorgebracht: Der Wandel des -u- oder rom. -o- zu -a- erklärt sich entweder durch Dissimilation der beiden -o- oder durch Beeinflussung durch lat. sambuca (< gr. σαµβύκη), den Namen eines anderen Musikinstrumentes, der im Altitalienischen noch belegt ist, siehe Ritmo di Sant’ Alessio 119: cythari cum timpani et sambuci (Monaci). Die Dissimilations-Erklärung ist nicht überzeugend, denn sie kann auf die lateinische Epoche noch nicht angewendet werden (u bot keinen Anlass zur Dissimilation gegenüber ō) und löst daher das Problem der Übereinstimmung zwischen fast allen romanischen Idiomen nicht. Demgegenüber hat der Verweis auf sambuca etwas für sich, denn das Wort kommt an den oben ausführlich besprochenen Danielstellen in der Vulgata neben symphonia vor. So heißt es Dan. 3, 7: post haec igitur, statim ut audierunt omnes populi sonitum tubae et fistulae et citharae, sambucae et psalterii symphoniae et omnis generis
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musicorum, cadentes omnes populi et tribus et linguae adorauerunt statuam auream, quam constituerat Nabuchodonosor rex. Wenn man an dieser Stelle in den kritischen Apparat der neuen Vulgata-Ausgabe sieht, erlebt man eine Überraschung: Eine der Handschriften, und zwar die älteste, nämlich der zwischen 760 und 781 zu datierende Codex Sangallensis, hat samphonie statt symphoniae, also eine Variante, wie wir sie suchen. Es ist daher wohl nicht vermessen, eine antike Form samp(h)ónia anzusetzen, die unter dem Einfluss von sambuca aus symp(h)ónia entstand, das, wie das griechische Ausgangswort συµφωνία, ein Blasinstrument, wahrscheinlich eine Art Hirtenflöte, bezeichnete; daneben bezeichnete dasselbe Wort ein anderes Instrument, eine Art Trommel. In der Romania leben sampónia und sanfónia fort, und beide lateinischen Bedeutungen existieren ebenfalls prinzipiell weiter (‘Hirtenflöte’ mit den Weiterentwicklungen ‘Dudelsack’ und ‘Geschwätz’ einerseits, ‘Trommel’ mit der Spezialisierung ‘Kuhglocke’ andererseits). Kehren wir zum Anfang zurück: Was im DCECH-Artikel von Form und Bedeutung her als typisch vulgärlateinische Entwicklung der Spätantike dargestellt wurde (symphónia > *sampónia; ‘concierto’ > ‘nombre de un instrumento músico análogo a la zampoña‘), ist in Wahrheit ein Vorgang, der semantisch im Wesentlichen im Griechischen des 2. Jahrhunderts v. Chr. erfolgt war und der formal zu jedem Zeitpunkt bei lateinischen Gräzismen möglich war. Die Darstellung der Wortgeschichte im FEW ist demgegenüber in ganz groben Zügen richtig, weist aber in den Einzelheiten so erhebliche Fehler auf, dass der Artikel symphōnia eigentlich neu geschrieben werden müsste, um die französischen Materialien so anzuordnen, dass sie zum Stand der Forschung passen. Es zeigt sich wieder ein Dilemma der heutigen etymologischen Forschung in der Romanistik: Über der natürlich notwendigen gründlichen Erforschung der einzelsprachlichen Wortgeschichte während der belegbaren Epoche, also im Galloromanischen etwa seit 1000 n. Chr., kommt die Behandlung der antiken und frühmittelalterlichen Vorgeschichte, also die Einbeziehung des klassisch-philologischen Faktors, zunehmend zu kurz, weil die meisten Romanistinnen und Romanisten auf diesem Gebiet keine eigene Kompetenz haben und weil der altphilologischen Zunft die nachantike Wortgeschichte nicht am Herzen liegt.
27. τράγηµα / tragema Abstract: In ancient comedies, τράγημα is used to denote a snack (fish, meat, cakes, pastries, fruit, pulse). Prose authors apply this common word to any sweet food. An inscription gives information on units of measurement for fresh and dry fruit, and in papyri vegetables used as fingerfood are called τραγήµατα. In Latin, τραγήµατα are normally translated by bellaria, but in chemists’ language, tragemata was preserved. The short form *tragéta has resulted in French dragée, Italian traggèa, dragèa, Spanish (a)dragea, gragea, Portuguese tragea, dragea, gra(n)gea. Keywords: tragema, dragée, snacks, sweets, fingerfood
1. Die Herkunft von τράγηµα Das (normalerweise nur mit den Präfixen ἐν-, κατα- und παρα- vorkommende) griechische Verb τρώγω hat die Grundbedeutung ‘knabbern’; im Zuge der Vergröberung der Ausdrucksformen ist es in der Umgangssprache zu einem der Wörter für ‘essen’ geworden. Im Neugriechischen ist τρώγω oder etwas unliterarischer τρώω das Normalwort für ‘essen’ (Μέγα Λεξικόν 14, 7320). Zu τρώγω gibt es eine Ablautbildung auf -α- (Kurylowicz 1956, 204–205; Schwyzer 1953, I 340), die im 2. Aorist (1. Ps. Sg. ἔτραγον, Infinitiv τραγεῖν) auftritt. Dazu gibt es einige Ableitungen (z. B. τράγος ‘Ziegenbock’ < ‘Nager, Nascher’, vgl. Frisk 1991, II 916), zu denen auch τράγηµα ‘Gegenstand zum Knabbern’ gehört (Chantraine 1999, 1142), dem die folgenden Ausführungen gelten. 2. τράγηµα bei den Komikern Seit Aristophanes taucht in der griechischen Literatur τράγηµα – neben seinem Synonym τρωγάλιον – auf1. Schon im ersten Stück, das bei den Lenäen den Sieg davontrug, in den 425 aufgeführten Acharnern also, bittet ein Bote die Hauptperson Dikaiopolis zum Festmahl, wo für alles gesorgt ist (vv. 1089–1091): τὰ δ᾿ ἄλλα πάντ᾿ ἐστὶν παρεσκευασµένα, Das Übrige ist alles vorbereitet: κλῖναι, τράπεζαι, προσκεφάλεια στρώµατα, Liegen, Tische, Kopfkissen, στέφανοι, µύρον, τραγήµαθ᾿, αἱ πόρναι πάρα. Kränze, Salbe, Tragemata, außerdem Prostituierte. _________ 1 Taillardat 1965, 85: “On croque des fruits – raisin (Cav. 1077), figues fraîches (Ach. 803, Paix 1324, fr. 463), figues sèches (Ach. 806, 809) – ou des légumes. Surtout, on croquait toutes sortes de bagatelles que les Grecs aimaient à grignoter à la longueur de journée: fèves crues (Lys. 537, cf. Cav. 41: κυαµοτρώξ), graines grillées – pois chiches ou lentilles – servies pendant le symposion et qui, desséchant la gorge, invitaient aux beuveries. Les noms de τρωγάλια [---] ou de τραγήµατα (Ach. 1091; Gren. 510) étaient précisément réservés à ces façons de friandises”.
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Hier ist also von einer Vorbereitung der τραγήµατα die Rede, wobei wir nicht erfahren, worin diese bestehen. An zwei Stellen ist Aristophanes deutlicher: Hier ist das Bezugsverb φρύγω ‘rösten’, wobei durch die Nachbarschaft von Fleischspeisen nahegelegt wird, dass auch mit τραγήµατα kleine Fleischsnacks gemeint sind. In den 405 aufgeführten Fröschen lesen wir (vv. 509–511): ἐπεί τοι καὶ κρέα ἀνέβραττεν ὀρνίθεια, καὶ τραγήµατα ἔφρυγε, κᾦνον ἀνεκεράννυ γλυκύτατον.
weil sie dir Hühnerfleisch gekocht, Tragemata geröstet und süßesten Wein gemischt hat2.
Ebenso ist in den 393 oder 391 v. Chr. aufgeführten Ekklesiazusen (v. 844) die Rede davon, dass alle Genüsse (z. B. Seefische, Hasen) bereit stehen und die τραγήµατα geröstet werden: φρύγεται τραγήµατα. Im Plutos hingegen, der mit seinem Aufführungsdatum von 388 v. Chr. bereits zur Mittleren Komödie zu zählen ist, hat man den Eindruck, dass nicht an frisch geröstete Fleischhäppchen, sondern an haltbare Back-, Obst- und Gemüsekleinigkeiten gedacht wird. Es wird in einem Dialog zwischen Chremylos und seinem Sklaven Karyon ausgeführt, dass man sich an allen erstrebenswerten Dingen irgendwann einmal übersättigt, niemals aber am Reichtum (vv. 189–193).
Χρ. τῶν µὲν ἄλλων ἐστὶ πάντων πλησµονή, ἔρωτος, Κα. ἄρτων, Χρ. µουσικῆς, Κα. τραγηµάτων, Χρ. τιμῆς, Κα. πλακούντων, Χρ. ἀνδραγαθίας, Κα. ἰσχάδων, Χρ. φιλοτιµίας, Κα. µάζης, Χρ. στρατηγίας, Κα. φακῆς· Χρ. σοῦ δ᾿ ἐγένετ᾿ οὐδεὶς µεστὸς οὐδεπώποτε.
Chr. Alles andere sättigt einen, Liebe, Ka. Brot, Chr. Musik, Ka. Tragemata, Chr. Ehre, Ka. Gebäck, Chr. Heldentum, Ka. Feigen, Chr. Ruhmesglanz, Ka. Kuchen, Chr. Feldherrnwürde, Ka. Linsen; Chr. an dir wird aber niemand je satt.
Man hat den Eindruck, dass der Sklave, der den immateriellen Gütern seines Herrn sehr materielle Genüsse gegenüberstellt, eine Aufzählung möglicher τράγηµα-Typen bietet, nämlich Kuchen, Gebäck, getrocknete Feigen, Linsen, Hülsenfrüchte, aber kein Fleisch und auch keinen Fisch. Die τραγήµατα werden gegen Ende des Stücks von einer alten Frau als Beigabe zum Kuchen auf einer Platte serviert; auch da steht also der Kuchen als Inbegriff der anderen Tragemata (v. 995–997): _________ 2
Zur sexuellen Nebenbedeutung vgl. Henderson 1975, 178.
27. τράγηµα / tragema
ἐµοῦ γὰρ αὐτῷ τὸν πλακοῦντα τουτονὶ καὶ τἄλλα τἀπὶ τοῦ πίνακος τραγήµατα ἐπόντα πεµψάσης…
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Ich habe ihm diesen Kuchen und die anderen Tragemata auf der Platte geschickt.
Auch bei Menander, dem Hauptvertreter der Neuen Komödie, kommt es noch vor, dass mit τραγήµατα Fleischspeisen, nämlich geröstete Fleischbissen und Drosseln, gemeint sind, freilich als merkwürdige Erscheinung in einer verkehrten Küchenwelt (Ath. 4, 172 b = PCG VI 2 [1998], fr. 409, 12–13): ἡ δηµιουργὸς δ᾿ ἀντιπαρατεταγµένη Die konkurrierende Köchin brät κρεᾴδι᾿ ὀπτᾷ καὶ κίχλας τραγήµατα. Fleisch und Drosseln als Tragemata. ἔπειθ᾿ ὁ δειπνῶν µὲν τραγηµατίζεται, Wer ein Hauptgericht haben will, beµυρισάµενος δὲ καὶ στεφανωσάµενος πάλιν kommt Tragemata, gesalbt und beδειπνεῖ µηλίπηκτα ταῖς κίχλαις. kränzt isst er dann als Hauptgericht Honigkuchen zu den Drosseln. Im Allgemeinen aber setzt sich im 4. Jahrhundert v. Chr. eine “vegetarischere” Art der τραγήµατα durch, die jetzt vor allem aus Kleingebäck, Nüssen, Mandeln und Hülsenfrüchten bestehen. Bei dem in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. tätigen Klearchos, der die Verwandlung der Mittleren in die Neue Komödie repräsentiert, stehen τραγήµατα und κάρυα nebeneinander (Ath. 14, 642c = PCG IV [1983], fr. 4): παῖς, ἐπιτίθει ἐπὶ τὴν τράπεζαν κάρυα καὶ τραγήµατα.
Μädchen, stelle Nüsse und Tragemata auf den Tisch.
Bei Alexis, dem Lehrmeister Menanders, erfährt man folgende Nachtischbestandteile, wenn man der Konjektur Porsons gegen die unmetrische Kodexlesart τραγήµατα folgt (Ath. 14, 642 f = PCG II [1991], fr. 252): προσοιστέος herbeizutragen ist στέφανος, µύρον, σπονδή, λιβανωτός, ἐσχαρίς, ein Kranz, Parfüm, Trankopfer,Weihrauch, Räucherwerk, τράγηµα δοτέον ἔτι, πλακοῦντος ἁπτέον. man muss auch Tragema zugeben und nach dem Kuchen greifen. Der neben Menander wichtigste Vertreter der Neuen Komödie, Diphilos von Sinope (Ath. 14, 640 d = PCG 5 [1986], fr. 80), stellt τράγηµα neben Myrtenbeeren, Plätzchen, Mandeln: τράγηµα, µυρτίδες, πλακοῦς, ἀµύγδαλα.
Tragema, Myrten, Plätzchen, Mandeln.
Β. ἐγὼ δὲ ταῦθ᾿ ἥδιστα γ᾿ ἐπιδορπίζοµαι. B. Ich kann daraus einen sehr leckeren Nachtisch machen. Der nur schemenhaft greifbare Komiker Krobylos (4. Jh. v. Chr.) vergleicht eine leere Kichererbse mit einem τράγηµα für einen unglücklichen Affen (Ath. 2, 54 e = PCG IV [1983], fr. 9):
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χλωρὸν ἐρέβινθόν τινα Eine grüne Kichererbse habe ich im ἐκοττάβιζον, κενὸν ὅλως. Β. τράγηµα δέ Kottabosspiel gewonnen, ganz leer. B. ἐστιν πιθήκου τοῦτο δήπου δυστυχοῦς. Das ist ein Tragema für einen unglücklichen Affen. Abgesehen von der Komödie ist τράγηµα in anderen poetischen Genera nur selten verwendet worden, wahrscheinlich, weil es ein Wort der Alltagssprache war, das gehobenen Stilanforderungen nicht genügen konnte. Archestratos von Gela verwendet es in seiner gegen Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. geschriebenen gastronomischen Weltreise mehrfach (fr. 62, 6 und fr. 192, 13), der alexandrinische Tragiker Lykophron (fr. 3 = Ath. 10, 420 B) gebraucht das Wort figurativ, und auch vor den Augen des byzantinischen Versvirtuosen Manuel Philes (1275–1345) sowie des Gelegenheitsdichters Manuel Psellos (1018-1079) findet τράγηµα als “Attizismus” Gnade (Philes carm. 2, 8,4; Psel. poem. 6, 329). Insgesamt aber gilt, dass außer in der attischen Komödie τράγηµα in poetischen Genera nicht verwendet wurde. Für die Komödie ist als Zwischenergebnis festzuhalten, dass τράγηµα eine Kleinigkeit bezeichnet, die man als Nachtisch oder zum Getränk zu sich nahm, also einen Snack, der aus Fisch, Fleisch, Gebäck, Obst oder Hülsenfrüchten bestehen konnte. Es scheint so zu sein, dass die fleischhaltige Variante für die frühere Zeit charakteristisch war und dass sich im Laufe des 4. Jahrhunderts v. Chr. die “vegetarische” Abart immer mehr durchsetzte. 3. τράγηµα in der Prosaliteratur Kommen wir jetzt zu den Prosaikern, die sich mit τραγήµατα beschäftigt haben! Es ist völlig unmöglich, hier auch nur eine annähernde Durchsicht der Stellen zu bieten, denn der elektronische Thesaurus Linguae Graecae bietet über 300 Belege. Es kann im Folgenden also nur darum gehen, einige Stellen anzuführen, die den Inhalt des Wortes näher bestimmen und die vielleicht ermöglichen, einen Einblick in die Wortgeschichte zu gewinnen. Der prosaische Erstbeleg findet sich im vermutlich in den achtziger Jahren des 4. Jahrhunderts v. Chr. geschriebenen Staat Platons (372C), wo es darum geht, dass für die ἄνδρες ἑστιώµενοι auch τραγήµατα nötig sind, wobei ganz eindeutig nur fleischlose kleine Speisen (Feigen, Erbsen, Bohnen, Myrtenbeeren, Kastanien, also Hülsenfrüchte und Süßes) gemeint sind: καὶ τραγήµατά που παραθήσοµεν αὐτοῖς τῶν τε σύκων καὶ ἐρεβίνθων καὶ κυάµων, καὶ µύρτα καὶ φηγοὺς σποδιοῦσιν πρὸς τὸ πῦρ.
auch Tragemata werden wir ihnen geben aus Feigen, Erbsen und Bohnen, und sie werden Myrtenbeeren und Kastanien am Feuer rösten.
Wohl im selben Jahrzehnt wie Platons Staat erschien Xenophons Anabasis. Dort taucht das Wort τραγήµατα zweimal beiläufig auf: Das eine Mal (2, 3, 15) bezeichnet Xenophon damit die für die Herren reservierten großen Datteln (αἱ βάλανοι τῶν φοινίκων), die man zur Verwendung als Tragemata trocknete und als süße Beigabe zum Getränk servierte, was dann prompt Kopfschmerzen verur-
27. τράγηµα / tragema
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sachte (τὰς δέ τινας ξηραίνοντες τραγήµατα ἀπετίθεσαν. καὶ ἦν καὶ παρὰ πότον ἡδὺ µέν, κεφαλαλγὲς δέ). An der anderen Stelle (5, 3, 9) beschreibt Xenophon die Bestandteile des Festmahles, das anlässlich des Artemis-Festes auf Xenophons Landgut Skyllos den Verehrern der Göttin angeboten wurde: παρεῖχε δὲ ἡ θεὸς τοῖς σκηνοῦσιν ἄλφιτα, ἄρτους, οἶνον, τραγήµατα.
Die Göttin bot den Festbesuchern Gebäck, Brot, Wein, Tragemata an.
Hier heißt das Wort offenbar einfach ‘süße Kleinigkeit’, und in diesem Sinne kommt es im 4. Jahrhundert nicht selten vor. In einem Aischines (397–322) zugeschriebenen Brief ist von Pinienkernen, Weizenmehl und Gewürzen, die in Formen gebacken wurden, die Rede (ep. 5, 2): ἐκ στροβίλου ἅµα καὶ ἀλεύρων καὶ ἀρωµάτων πεποιηµένα ἐν τύποις τραγήµατα. Aristoteles stellt in seinen Physika (930b12) Überlegungen darüber an, warum man Kleinigkeiten esse (διὰ τί τὰ τραγήµατα ἐδεστέον;), obwohl man schon satt ist. In einem bei Athenaios (641b; d-e) überlieferten Fragment (fr. 104 Rose = 674 und 675 Gigon) aus Aristoteles’ Schrift über die Trunkenheit wird sogar eine Definition geliefert: Ἀριστοτέλης δ᾿ ἐν τῷ περὶ µέθης τὰ τραγήµατά φησι λέγεσθαι ὑπὸ τῶν ἀρχαίων τρωγάλια· ὡσεὶ γὰρ ἐπιδορπισµὸν εἶναι. [---] Ἀριστοτέλης δ᾿ ἐν τῷ περὶ µέθης παραπλησίως ἡµῖν δευτέρας τραπέζας προσαγορεύει διὰ τούτων· «τὸ µὲν οὖν ὅλον διαφέρειν τράγηµα βρώµατος νοµιστέον ὅσον ἔδεσµα τρωγαλίου. τοῦτο γὰρ πάτριον τοὔνοµα Ἕλλησιν, ἐπεὶ ἐν τραγήµασι τὰ βρώµατα παρατίθενται. διόπερ οὐ κακῶς ἔοικεν εἰπεῖν ὁ πρῶτος δευτέραν προσαγορεύσας τράπεζαν· ὄντως γὰρ ἐπιδορπισµός τις ὁ τραγηµατισµός ἐστι καὶ δεῖπνον ἕτερον παρατίθεται τὰ τραγήµατα».
Aristoteles sagt in seiner Schrift über die Trunkenheit, dass man früher die Tragemata Trogalia nannte, also eine Art Nachtisch. [---] Aristoteles nennt in der Schrift über die Trunkenheit so wie wir den zweiten Gang folgendermaßen: «Insgesamt muss man annehmen, dass sich das Tragema von der Mahlzeit so unterscheidet wie das Essen vom Knabbern (Trogalion); das ist der traditionelle Name bei den Griechen, weil bei den Tragemata Essbares gereicht wird. So hat der wohl recht gesprochen, der als erster von einem zweiten Gang redete; der Tragema-Gang ist wirklich eine Art Nachtisch, und die Tragemata werden als zweites Mahl gereicht.
Aristoteles definiert also τράγηµα als moderneres Synonym zum älteren τρωγάλιον mit der Bedeutung ἐπιδορπισµός, also ‘Nachspeise’ (zu δόρπον ‘Abendessen‘) oder ‘kleine Mahlzeit nach der großen Mahlzeit’ (δευτέρα τράπεζα bzw. δεῖπνον ἕτερον), und als Grundbedeutung wird, wie man zumindest im Rheinland sagen würde, Speise in Häppchen (ἐν τραγήµασι τὰ βρώµατα) angegeben, d. h. Aristoteles war die Verbindung mit τραγεῖν ‘knabbern’ bewusst. In der Nikomachischen Ethik kommt sogar eine Verbableitung mit der Bedeutung ‘naschen, Süßigkeiten essen’ vor (1175b12): ἐν τοῖς θεάτροις οἱ τραγηµατίζοντες, ὅταν φαῦλοι οἱ ἀγωνιζόµενοι ὦσι, τότε µάλιστ᾿ αὐτὸ δρῶσι ‘die Süßigkeitenesser in den Theatern tun das am eifrigsten, wenn die Schauspieler schlecht sind’.
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Die Hauptbedeutung von τράγηµα blieb auch in hellenistischer und römischer Zeit ‘süße Kleinigkeit’, nur dass die Materialen der Herstellung exotischer wurden. Theophrast (hist. plant. 4, 8, 12) berichtet über in einem Gerstentrank gekochte Blätter der Erdmandel (µελιναθάλλη, Cyperus esculentus L.): γίνεται γλυκέα σφόδρα· χρῶνται δὲ πάντες ὥσπερ τραγήµασι ‘Das wird sehr süß; alle verwenden sie als Tragemata’. Nach Galen (6, p. 550) wurde gerösteter Hanfsamen zusammen mit anderen τραγήµατα als Beilage zum Getränk serviert: ὅµως δ᾿ οὖν καὶ τοῦτό τινες ἐσθίουσιν φρύττοντες ἅµα τοῖς ἄλλοις τραγήµασιν. ὀνοµάζω δηλονότι τραγήµατα τὰ περὶ τὸ δεῖπνον ἐσθιόµενα τῆς ἐπὶ τῷ πίνειν ἡδονῆς ἕνεκα.
Auch das essen einige, indem sie es zusammen mit anderen Tragemata rösten. Tragemata nenne ich das, was man neben der Mahlzeit isst, damit man Freude am Trinken hat.
Bescheidenheit manifestierte sich darin, heimisches Obst und Gemüse als τραγήµατα anzubieten: Diogenes Laertios berichtet, dass der Philosoph Menedemos Lupinen oder Bohnen sowie je nach Reifezeit Birnen, Granatäpfel, Erbsen und Feigen auftischte (2, 139: τράγηµα θέρµος ἢ κύαµος, ἔστι δ᾿ ὅτε καὶ τῶν ὡρίων ἄπιος ἢ ῥοιὰ ἢ ὦχροι ἢ νὴ Δί᾿ ἰσχάδες). Dass zu den τραγήµατα auch kleine Fleisch- oder Fischhäppchen gerechnet wurden, scheint in der Prosaliteratur, die sich mit Ländern des griechisch-römischen Kulturkreises im engeren Sinne beschäftigt, nicht vorzukommen. Für die Leute von Lipara, das von den Römern 252 v. Chr. als karthagischer Vorposten zerstört worden war und das später zu einem prominenten Verbannungsort wurde, bezeugt Artemidor (es ist unklar, ob der Geograph Artemidor von Ephesos, der Rhetor Artemidor von Knidos oder einer der Ärzte dieses Namens gemeint ist), dass sie im Sand lebende Fische als τραγήµατα verspeisten (Paradoxographus Palatinus, Admiranda 11): Ἀρτεµίδωρός φησιν ἐν Λιπαριτανοῖς ἰχθύας ὀρυκτοὺς εὑρίσκεσθαι, καὶ τῷ ὀρυκτῷ ἰχθύι ἀφθόνως τοῦς ἐκεῖ ὡς ἐπὶ τραγήµατα χρῆσθαι.
Artemidor sagt, man finde bei den Liparitanern im Sand lebende Fische, und die Leute dort würden diesen Fisch reichlich unter den Tragemata verwenden.
Zahlreiche der oben angeführten Zitate aus der alten, mittleren und neuen Komödie kennen wir nur aus einem Abschnitt aus Athenaios’ Δειπνοσοφισταί oder Gelehrtenmahl (14, 640a–643e), wo es um die verschiedenen Bezeichnungen – und natürlich auch Rezepte – des Nachtischs, der δεύτεραι καλούµεναι τράπεζαι (14, 639b; 641c), geht. Der dem Nachtischkapitel vorangehende Abschnitt ist den Saturnalien und ähnlichen Festen, an denen die Herren die Sklaven bewirteten, gewidmet, der folgende Abschnitt betrifft Kuchensorten. Athenaios behandelt in der ihm eigenen Art in einer Aufzählung von Zitaten aus der attischen Literatur ἐπιδορπάσµατα (14, 640a–d), µεταδόρπια (14, 640e), ἐπιφορήµατα (14, 640e– 641a), ἐπιτραπεζώµατα (14, 641b), τρωγάλια (14, 641b–c), ἐπαίκλεια (14, 642e). Der letzte Abschnitt des Kapitels ist eine Aufzählung verschiedener Nachspeisen (14, 641c–643e). Es ist auffällig, dass Athenaios bei seinen Nachtischbeschrei-
27. τράγηµα / tragema
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bungen von τραγήµατα redet (14, 640c; 641b; 642e) und seine Zitate durchaus Belege bieten (16, 640d; 641e; 642c–d), dass aber ein eigentlicher Abschnitt zu τράγηµα fehlt; selbst im Aristoteles-Abschnitt, der ja eine Definition von τράγηµα bietet, geht es eigentlich um τρωγάλια und um ἐπιδορπισµός. Man kann nur den Schluss ziehen, dass für Athenaios an der Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert n. Chr. τραγήµατα ein normales Wort der Alltagssprache war, ein geläufiges Synonym zur sicherlich etwas gestelzten Ausdrucksweise δεύτεραι τράπεζαι und jedenfalls ein üblicheres Wort als das literarische τρωγάλια. Wann τράγηµα im Laufe der griechischen Sprachgeschichte aus dem lebendigen Gebrauch verschwunden ist, kann man nicht mit Sicherheit feststellen. Jedenfalls existiert es im Neugriechischen nicht mehr (‘Nachtisch’ heißt ἐπιδόρπια), und auch in den volkssprachennahen byzantinischen Quellen fehlt das Wort, soweit der unbefriedigende Zustand der Lexikographie überhaupt ein Urteil darüber zulässt. In der römischen Kaiserzeit ist τράγηµα freilich noch vollkommen lebendig: Bei Plutarch und Philostratos kommt das Wort ziemlich häufig vor, und die zahlreichen medizinischen Autoren beschäftigen sich vor allem damit, welche τραγήµατα aus medizinischer Sicht bedenklich sind – natürlich die meisten. Bei christlichen Autoren tritt τράγηµα ganz normal auf und wird auch in Vergleichen verwendet, was ja für ein Alltagswort spricht (Clem. Alex. strom. 1, 20, 2 = GCS XV 2, 64, 4: ἡ προπαιδεία δὲ προσοψήµατι ἔοικεν καὶ τραγήµατι ‘die vorbereitende Erziehung gleicht einer Beilage und einem Tragema’). In den der Literatursprache verpflichteten Quellen existiert τράγηµα jedenfalls während der ganzen byzantinischen Epoche, wenn auch nicht mit hoher Frequenz. Aber ganz offenbar verschwand das Wort nach und nach aus dem Alltag: Das Wort kommt in den Papyri noch an der Wende vom 6. bis zum 7. Jahrhundert vor, wenn auch nicht mehr so häufig wie im 2. bis 4. Jahrhundert (siehe unten), beim Einsetzen volkssprachennaher Texte im 12. Jahrhundert existiert es offensichtlich nicht mehr; folglich muss τράγηµα in der Zeit zwischen etwa 650 und 1100 aus dem Sprachgebrauch verschwunden sein. Anders gesagt: τράγηµα war in der Prosa der Antike ein ganz normales Wort und ist erst in nachantiker Zeit ausgestorben, wobei man über die Gründe dafür wohl erst Vermutungen anstellen kann, wenn der Buchstabe τ in den Wörterbüchern zum byzantinischen Griechisch erfasst ist. 4. τράγηµα in Inschriften Über die Situation in der Alltagssprache der Antike kann man in erster Linie aus den epigraphischen und vor allem papyrologischen Quellen ein Bild gewinnen, die uns eine genauere Vorstellung von der Wort- und Bedeutungsgeschichte vermitteln. In epigraphischen Quellen kommt τράγηµα nicht häufig vor, was sich aus der meist nicht mit Problemen des Alltags befassten Thematik der Inschriften leicht erklärt. Es gibt drei Zeugnisse, von denen eines (SEG 26, 139, aus Attika, auf das zweite Drittel des 2. Jahrhunderts vor Christus zu datieren) lediglich ]τ̣ραγήµατ[α] ohne erkennbaren Zusammenhang aufweist. Auch aus einer Stiftungsinschrift aus Amorgos vom Ende des 2. Jh. v. Chr., in der die Bestimmungen eines von Kritolaos für seinen verstorbenen Sohn Aleximachos gestifteten Ge-
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dächtnisfestes mit Volksbewirtung (δηµοθοινία) dargelegt werden, erfährt man nur, dass während der zwei Tage des Festes neben den Hauptmahlzeiten auch τραγήµατα gereicht werden sollen (IG XII, 125, 68–69 = Lois sacrées Suppl. 61, 68-69): παρεχέτωσαν | δ̣ὲ̣ οἱ ἐπιµελητ̣[α]ὶ καὶ τραγήµατα ἀµφοτέρας τὰς ἡµέρας3. Was aber mit den τραγήµατα genau gemeint ist, erfährt man nicht. Hingegen wird aus einer umfangreichen Inschrift aus Athen vom Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. deutlich, was man unter dem Oberbegriff τραγήµατα zusammenfasste. Die Inschrift behandelt die zulässigen Maßeinheiten (IG II3, 1, 1013 = CIG 123). Der dritte Paragraph, die Zeilen 18 bis 29 umfassend, betrifft die “mensura fructuum delicatorum”. Es geht hier darum, “daß gewisse Naschwaaren mit einem größern Maße, als dem gewöhnlichen, gemessen werden sollen, nämlich ein Theil, und zwar trockene Früchte, mit einer Chönix, welche anderthalb Getreidechöniken enthält und eine Tiefe von fünf Fingern und einen fingerbreiten Rand haben muß; andere aber, nämlich frische und grüne Früchte, weil sie nicht so gedrängt beisammen liegen, mit einer doppelt so großen Chönix mit anderthalb Finger breitem Rand“ (Böckh 1886, 322). Dort heißt es: τοὺς δὲ πωλοῦντας Περσικὰς ξηρὰς καὶ ἀµυ[γ]|[δ]άλας καὶ Ἡρακλεωτικὰ [κά]ρυα καὶ κώνους καὶ καστάναια καὶ κυάµους Αἰγύπτου | [κ]αὶ φοινικοβαλάνους καὶ εἴ τινα ἄλλα τραγήµατα µετὰ τούτων πωλεῖται, καὶ θέρµους | καὶ [ἐ]λάας καὶ πυρῆνας πωλεῖν µέτρωι χωροῦντ[ι] ἀπο[ψ]ηστὰ σιτηρὰ ἡµιχ[ο]ινίκια τρία, πωλοῦ[ντ]|ας τῆι χοίνικι ταύτηι κορυστῆι ἐχούσηι τὸ µὲν [βά]θος δακτύλων πέντε, τὸ δὲ πλάτος το[ῦ] χ[είλ]|ους δακτύλου· ὁµοίως δὲ καὶ τοὺς πωλοῦντας τάς τε ἀµυγδάλας τὰς χλωρὰς κ̣αὶ̣ τὰς [ἐ]λ[άας] | [τὰς προσ]φάτους καὶ τὰς ἰσχάδας πωλεῖν χοίνικι κ[ορ]υστῆι δι̣πλασίονι τ̣ῆς πρ̣ογεγρ[αµµένης] | [ἐχούσηι τὸ] χεῖλος τριῶν ἡµιδακτυλίων. Hier ist offenbar τραγήµατα als genereller Oberbegriff für die genannten Leckerbissen genannt, die getrocknet (ξηρόν) oder frisch auftreten können. Für die getrocknete Form werden Walnüsse (Περσικὰ κάρυα), Mandeln (ἀµύγδαλαι), Haselnüsse (Ἡρακλεωτικὰ κάρυα), Pinienzapfen (κῶνοι), Kastanien (καστάνια), Lotoskerne (κύαµοι Αἰγύπτιοι), Datteln (φοινικοβάλανοι), Lupinen (θέρµοι), Oliven (ἐλᾶαι) und Pinienkerne (πυρῆνες) genannt, frisch sind grüne Mandeln (ἀµύγδαλαι χλωραί) und soeben geerntete Oliven (ἐλᾶαι πρόσφατοι); auffällig ist, dass für ‘Feigen’ ἰσχάδες verwendet wird, das ja normalerweise ‘getrocknete Feigen’ bezeichnet. Die Anzahl der haltbaren τραγήµατα ist größer als die der frischen, also zum sofortigen Verbrauch bestimmten. Alle genannten τραγήµατα sind ausschließlich Früchte, die ohne vorherige Zerkleinerung und ohne kulinarische Zubereitung in handlichen und mundgerechten Einzelportionen gereicht werden können. Von gebratenen Fleisch- oder Fischhäppchen oder von gekochtem Gemüse ist jedenfalls nicht die Rede.
_________ 3 “Dann sollen die Epimeleten auch Knusperchen servieren an beiden Tagen”, übersetzt – zweifellos nicht wirklich zutreffend – Bernhard Laum (1914, S. 60 = Nr. 50).
27. τράγηµα / tragema
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5. τράγηµα auf Papyri und Ostraka 5. 1. Zeitliche Abfolge der τράγηµα-Belege In 22 Papyri ist τράγηµα belegt (meist im Plural, der Singular kommt nur P. Köln II 111, 17 und SB I 5305, 2 und 5 in der Schreibung τράγιµα vor). Eine Übersicht über die zeitliche Verteilung bietet die Liste, die Emanuela Battaglia 1989, 125– 126, bietet; sie liegt der folgenden Übersicht zugrunde, die aber auch die neueren Publikationen enthält (die Datierungen, die zwei Jahrhunderte für denkbar halten, sind jeweils dem früheren Jahrhundert zugerechnet): Jahrhundert III. Jh. v. Chr. 230 v. Chr. II. Jh. v. Chr. 180 v. Chr. I. Jh. v. Chr. I. Jh. n. Chr. I./II. Jh. n. Chr. II. Jh. n. Chr.
II./III. Jh. n. Chr. III. Jh. n. Chr.
III./IV. Jh. n. Chr. IV. Jh. n. Chr.
V. Jh. n. Chr. V./VI. Jh. n. Chr. VI. Jh. n. Chr. VI./VII. Jh.
Papyrus P. Hib. II 271, 5 SB XVI 12375, 76 P. Graux II 10, 12 SB XX 14576, 21 (?) SB V 7743, 13/14 BGU III 801, 15 P. Mert. III 112, 16 P. Oxy. III 529, 5 P. Oxy. XIV 1759, 7 SB XIV 11329, 2 BGU I 247, 7 P. Oxy. VII 1070, 55 P. Oxy. VIII 1158, 18 P. Oxy. XLII 3065, 12 SPP XX 75 col. II, 16 P. NYU II 51, 39 P. Herm. 23, 4 P. Lond. III 1259, 20 SPP XXII 75, 42 P. Köln II 111, 17 P. Mich. XV 740, 3 SB I 5305, 2 und 5 SB XX 14210, 4 P. Goth. 17 r. 19; v. 6 und 18
Bei aller Unsicherheit, die die Zufälligkeiten von Papyrusfunden mit sich bringen, kann man doch vielleicht auf Grund der relativen Häufigkeit der Belege in Gebrauchstexten wie Inventaren und Warenlisten den Schluss ziehen, dass die Form τραγήµατα zum Alltagswortschatz gehörte und als unprätentiöse Bezeich-
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nung für etwas diente, das (vielleicht als wohlschmeckende Besonderheit) zum normalen Speisezettel gehörte. Die Übersicht über die zeitliche Staffelung zeigt auch, dass der Höhepunkt der Verwendung von τραγήµατα im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. lag; davor handelt es sich eher um sporadische Einzelbelege, und ab dem 4. Jahrhundert wurden τραγήµατα im Alltag seltener. 5. 2. Was verstanden die Verfasser der Papyri unter τράγηµα? Weil jeder ungefähr wusste, was τραγήµατα sind, finden wir nur in seltenen Fällen Angaben darüber, was man sich darunter genau vorstellen muss; einige nähere Bestimmungen helfen dennoch weiter. 1. In der der byzantinischen Zeit zugerechneten Rechnung SB I 5305, 2 und 5 sind zweimal τράγιµα ἄπυρα erwähnt; ἄπυρος heißt wörtlich ‘nicht dem Feuer ausgesetzt’ und muss hier ‘nicht konserviert, frisch’ bedeuten (vgl. DGE, vol. III, S. 483: ‘de alimentos: no cocido, crudo’). 2. In der Abrechnung eines Steuerbeamten aus dem 4. Jahrhundert geht es u. a. darum, dass im κελλάριον ‘Vorratsspeicher’ von Krokodilopolis acht Sextarii ὄσπρεα ‘Hülsenfrüchte’ als τραγήµατα eingelagert wurden (SPP XX 75, 16-17)4: Κορκοτίλων (= Κροκοδίλων sc. πόλεως) εἰς τὸ κελλάριον ὄ[σ]πρε|α ἤτοι τραγηµάτων ξ(έσται) η´. 3. In einem Brief des zweiten Jahrhunderts n. Chr. (P. Oxy. III 529, 2-11) wird ein σφυρίδιον τραγηµάτων ‘Nachspeisekörbchen’ mit 100 Feigen und 100 Nüssen beschrieben: κόµ[ισ]α̣ι διὰ Κ[έ[ρ|δωνος ὥστε Διονυσίῳ | χρίµατος κοτύλας δ´ καὶ σφυρίδιν τραγηµάτων | ἔχων (= ἔχον) ἀρίθµια σῦκα ρ´, | κάρυα ρ´. Grenfell und Hunt übersetzten: ‘Please receive through Cerdon for Dionysius 4 cotylae of unguent and a basket of dessert containing 100 figs, 100 nuts’. 4. Aus dem frühen 3. Jahrhundert stammt eine nähere Beschreibung der τραγήµατα: Arios schreibt seinen Eltern, dass er eine in Anarchie befindliche Stadt, vielleicht Alexandria zur Zeit einer der vielen Unruhen des 3. Jahrhunderts, verlassen wird; seine Vertraute Auxanusa wird jemanden mit den τραγήµατα, die er zurücklassen musste, nämlich mit 200 Walnüssen und 200 Feigen, hinterherschicken (P. Oxy. XLII 3065, 10-13 = Tibiletti 1979, Nr. 10: δηλ̣[ώ]σ̣ε̣ι̣ | δέ σοι Α̣ὐξ̣άνουσα̣ τ̣ὴν ἡµέραν ᾗ [ἀ]ν[απλ]εύσω καὶ τὸ ὄ̣ν̣ο|µα δι᾿ ο̣[ὗ] ἐά̣ν σοι πέµψῃ ἃ [κ]α̣τ̣έλιπ[ο]ν̣ τ̣ραγήµατα - ἔστιν δέ· κάροια δι̣α̣κ̣όσια καὶ ἰσχάδες διακοσίας καὶ γραφῖ̣α δύο – αὐτὰ λήµωῃ µετὰ κ̣αὶ ἐπιστολῇ5). P. J. Parsons übersetzt τραγήµατα _________ 4 Die schöne Idee von Karl Wessely, dass hier „feines Futter für ein Krokodil, augenscheinlich aus Steuergeldern“ (Papyrus Erzherzog Rainer, Führer durch die Ausstellung, Wien 1894, 88, Nr. 289) angeschafft worden ist, lässt sich leider nicht halten; Klaas Worp hat sie als „nonsense“ abgetan (BASP 13, 1976, S. 35). 5 In der Übersetzung von G. Tibiletti: “Auxanousa ti dirà il giorno in cui salperò e il nome di colui tramite il quale ti dovrebbe mandare la frutta secca che ho lasciato; e cioè: 200 noci e 200 fichi secchi, e 2 calami. Riceverai ciò assieme alla lettera”. P. J. Parsons schlug vor: “Auxanousa will tell you the day on which (?) I’m going to sail up river, and the name, whoever it is by whom (?) she sends the dried fruit I left behind, viz., two hundred walnuts and two hundred figs and two pens – these you will receive with ... letter as well”.
27. τράγηµα / tragema
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mit ‘dried fruit‘, G. Tibiletti entsprechend mit ‘frutta secca’; von der Sache her ist das natürlich richtig, aber im Papyrus wird nicht die Aufbewahrungsart, Trocknung, angesprochen, sondern der Verwendungszweck, Bei- oder Nachspeise. Interessanterweise ist die Zahl genau angegeben, und auch dass jemand damit beauftragt werden soll, die τραγήµατα aus dem Chaos der Stadt herauszutransportieren, lässt erahnen, dass es sich um ein vergleichsweise teures Gut handeln muss, auf dessen Rettung Neilos Wert legt. Nüsse und Feigen passen genau zu dem, was auch in den literarischen Quellen oft über die Zusammensetzung der τραγήµατα gesagt wurde. Man muss freilich bedenken, dass weder Nuss- noch Feigenbäume in Ägypten heimisch sind; Feigen wurden immerhin in Gärten angebaut (Schoske / Kreißl / Germer 1992, 38), Nüsse aber nicht6, so dass sie ein relativ wertvolles Importprodukt darstellten. Diese vier Beispiele liefern eine ungefähre Idee davon, was man in Ägypten unter τραγήµατα verstand: ein Beigericht, das aus Feigen, Nüssen oder Hülsenfrüchten bestehen konnte, die normalerweise in größeren Mengen gelagert wurden und also getrocknet waren, die man aber auch frisch (ἄπυρα) servierte. Wie bei den inschriftlichen Zeugnissen haben wir es also nicht mit gekochten oder sonstwie in der Küche zubereiteten Speisen zu tun. Es geht auch nicht um Fleisch oder Fisch in kleinen Portionen: τραγήµατα sind mit einer Hand zum Mund zu führende Kleinigkeiten pflanzlicher Herkunft, “fingerfood” sozusagen. 5. 3. τράγηµα in unspezifischem Zusammenhang Die meisten Erwähnungen von τραγήµατα bieten uns jedoch keinen Anhaltspunkt darüber, was genau damit gemeint ist, weil ja jeder mit dem Inhalt dieses Wortes vertraut war. So kommen im ältesten, ungefähr auf 240 v. Chr. zu datierenden Papyrusbeleg, in “five scraps of household (?) accounts” unter anderen Einkäufen auch nicht näher präzisierte τραγήµατα (P. Hib. II 271, 5) vor. Auch das zweite Zeugnis aus vorchristlicher Zeit steht in einer um 180 v. Chr. abgefassten ptolemäischen Abrechung über “payments to several people and for different commodities over a period of several days” (Chronique d’Égypte 54, 1979, 273) aus dem Arsinoites (SB XVI 12375, 76 = Chronique d’Égypte 54, 276); dort ist ohne nähere Angaben die Rede von τραγ̣ήµα̣τα o´. Diese beiden Belege sind die einzigen, die in die Ptolemäerzeit zu datieren sind. In einem Brief aus dem 2. Jh. n. Chr. bittet Demetrios einen Athleten Theon, ihm einige Dinge zukommen zu lassen (P. Oxy. XIV 1759, 4–9): περὶ | τῶν ἐντολικῶν µελησάτω σοι, | περὶ τοῦ µεικροῦ ἐλαδίου καὶ πε|ρ[ὶ τῶν] τ̣ρ̣αγηµάτων καὶ πε|ρ[ιστερ]ε̣ιδίων δ καὶ τυµω|λ[ιτικῆς] γαρίου χρηστοῦ ‘Kümmere dich um die Aufträge, um das bisschen Öl und um die Tragemata und um die vier Tauben und um das Gefäß mit gutem Garum’. Aus dem 4. Jahrhundert stammt P. Lond. III _________ 6
F. Nigel Hepper 1992, 122: „Es gab keine natürlich vorkommenden Nüsse im Palästina des Alten Testaments. Sogar der Walnußbaum kam so weit westlich nicht vor und mußte in Gärten angepflanzt werden“. Für das Klima Ägyptens ist großflächiger Anbau von Nußbäumen auszuschließen.
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1259, 20 mit einer „portion of an account of daily expediture“ (p. LXIX); in unklarem Zusammenhang steht dort τραγ[ηµάτων ?] β´. 5. 4. σφυρίδια τραγηµάτων und andere Maßangaben In den meisten Papyri der nachptolemäischen Zeit werden τραγήµατα in Zusammenhang von Maßangaben genannt, meist bezogen auf die Behälter, die ihrer Aufbewahrung oder ihrem Transport dienten. Normalerweise wurden σφυρίδια ‘Körbchen’ (= lat. sportula) zum Transport benutzt. In einem Brief an den πράκτωρ λαογραφίας Nemesion, der in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. tätig war, werden ihm neben anderen Zuwendungen seiner Soldaten καὶ σφυρίδιν τραγηµάτων καὶ στροβίλους δέκα τοῖς παιδίοις (P. Graux II 10, 12–13) zugesagt, in der Übersetzung von Hélène Cuvigny “un panier de friandiases et dix pommes de pin pour les enfants”. In einem Brief bittet man den Empfänger Tiro um die Bestätigung des Empfangs von τραγη|µάτων σφυ[ρί]δα (= σφυρίδια) ἐπιγεγραµµένα | εἰς ὄνοµά σου ‘Körbchen mit Tragemata, worauf dein Name steht’ (SB V 7743, 13–14). In einem Brief des Kolluthos an Marios aus dem Jahre 128/9 n. Chr. (SB XIV 11329, 2 = BASP 11, 1974, S. 40) liest man: δέδωκα σφυρίδιν τραγηµάτων ‘ich habe ein Körbchen mit Tragemata übergeben’. Dieselbe Ausdrucksweise wird in einem auf das 2. Jahrhundert n. Chr. zu datierenden Brief des Gaianos an Elpidephoros verwendet (P. Mert. III 112, 16): [π]α̣ρ̣ά̣δε̣ς (= παράδος) σφυρείδιον̣ τ̣ρ̣αγη̣µ̣[άτων ---] ‘übergib ein Körbchen mit Tragemata’. In einem Brief aus dem 3. Jahrhundert liest man ebenfalls über die Versendung von 6 Kotylen Öl und einem Korb voll mit τραγήµατα (P. Oxy.VII 1070, 29–32: ἐλαίου Σει|ρητικοῦ [κοτύλα]ς ἓξ ἐν ἀνγείῳ ἡµι|χόῳ καὶ τραγη[µ]άτων σφυρίδαν | µεστὴν µίαν “six cotylae of Siretic (?) oil in a half-chous jar, and one basket full of sweetmeats”). In dem Brief des Kaufmanns Lukios an seinen Vertrauten Diodoros ist ebenfalls der Versand eines Gefäßes mit Öl und eines Körbchens mit τραγήµατα erwähnt (P. Oxy. VIII 1158, 16–18: ἔλαβα οὖν τὸ κνίζειν παρὰ Ἄµµω|να τοῦ ὄξους καὶ ἔπεµψά σοι δι᾿ αὐτοῦ σφυ|ρίζειν τραγηµάτων ‘ich bekam von Ammon ein Gefäß mit Essig und schickte dir durch ihn ein Körbchen mit Tragemata’). In einem Brief aus dem 2./3. Jh. n. Chr. heißt es in recht “ägyptischer” Orthographie (BGU I, 247, 5–7): γράψον µυ (= µοι) ἠ (= εἰ) ἔλαβες παρὰ Δίῳ τὸ σφυρίτι (= σφυρίδι) | τῶν τρακηµάτων (= τραγηµάτων) ‘schreib mir, ob du von Dios das Körbchen mit Tragemata bekommen hast’. Gefäße syrischen Ursprungs und zugleich Hohlmaßeinheiten sind wohl Ἀσκαλώνιον und Γαζίτιον. Eine “liste de provisions d’huile, de vin, etc.” aus dem 7./8. Jh. n. Chr. (P. Got. 17 + N. Kruit/K. A. Worp, Eranos 101, 2003, 114–122) nennt ein Ἀσκα̣λόνιν (= Ἀσκα̣λώνιον) | τ̣ραγήµατ(ος) σιµίκτου (= συµµίκτου) α (Rekto 18–19), dann τραγηµάτ(ων) διαφ(όρων) | Ἀσκ(αλώνι-) | (καὶ) Γαζ(ίτι-) (Verso 29– 31) und schließlich Γαζ(ίτια) τραγηµάτ(ων) ιε (Verso 41). In einem “inventory of stores” (βρέβιν σκευῶν) aus dem 4. Jahrhundert ist von einem Ἀσκαλώνιον voller τραγήµατα die Rede, neben Öl-, Wein- und Saucengefäßen (P. Herm. 23, 4: τραγηµάτων Ἀσκαλώ[νιον] α).
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Neben Hinweisen auf die Gefäße sind auch abstrakte Mengenangaben nicht selten. Neilos schreibt seiner Schwester in einem Brief (BGU III 801, 12–18): κόµισαι παρὰ τοῦ̣ | ἀναδιδόντι (= ἀναδιδόντος) σοι ταύ̣|την ἐπιστολὴν | τραγήµατα ἀρι|θµῷ ἑκατὸν καὶ στροβίλους | δέκα [εἰς] θυσίαν. Es geht also im hundert Stücke Naschwerk und um zehn Pinienzapfen, die beim Opfer verwendet werden sollten. Man kann natürlich auch auf eine genaue Mengenangabe verzichten und lediglich von ‘ein wenig τράγηµα’ sprechen. So wird in christlichem Umfeld in einem Brief an einen Abt, geschrieben in einer “sorgfältigen, ästhetischen Hand des 5. Jahrhunderts, vielleicht noch vom Anfang des 6. Jahrhunderts”, darum gebeten, dass der Überbringer des Briefes einige Kleinigkeiten mitbringen soll, nämlich etwas Käse καὶ ὀλίγον τράγηµα (P. Köln II 111, 17). 5. 5. τραγήµατα in Preislisten Ein anderer Zusammenhang, in dem τραγήµατα in Listen auftauchen, sind Preisangaben. In einem Papyrus, der im 1.–2. Jh. n. Chr. geschrieben ist, geht es um die Ausgaben anlässlich eines Dioskurenfestes: “In der zweiten Hälfte der Liste folgen dann die Esswaren, außer den Hühnern und dem Rettigöl auch Gewürze, κόκκαλος (Kerne der στρόβιλοι), Nachtisch, Weizen und Gerste; von allem wurde natürlich auch den Göttern etwas als Opfer dargebracht”. In dieser Liste findet man die Angabe: τραγη[µ]άτων (δραχµαὶ) δ´ (P. Lund 4, I 24 = SB VI 9348). In P. Mich. XV 740, 3, einem “account of expenses” aus dem 6. Jahrhundert n. Chr., erhält Eumelos τραγήµατα im Werte von 1315 Myriaden Denaren: καὶ τραγήµατα πρ(ὸς) Εὔµηλ(ον) µυ(ριάδων) Ατιε´. 5. 6. τρ αγηµ άτιον und τραγηµατο πώλιον Neben τράγηµα gibt es eine Ableitung τραγηµάτιον. In der griechischen Literatur kommt das Wort nicht vor, es ist aber bei Aulus Gellius (7, 13, 12) bezeugt, der sagt, dass der Philosoph Taurus quaestiunculae sympoticae so bezeichnet habe: tales aput Taurum symbolae taliaque erant mensarum secundarum, ut ipse dicere solitus erat, τραγηµάτια ‘so beschaffen waren die Mitbringsel bei Taurus und so waren beim Nachtisch die Knabbereien, die Tragematia, wie er selbst zu sagen pflegte’. In lateinischer Form tritt das Wort in der Hieronymus zugeschriebenen lateinischen Übersetzung der Pachomregel auf, wo die siebenunddreißigste Regel lautet (PL XXIII 69 A): qui ante fores conuiuii egredientibus erogat fratribus tragematia, in tribuendo meditetur aliquid de Scripturis ‘Wer vor der Tür des Speiseraumes den heraustretenden Brüdern Tragematia gibt, soll beim Verteilen ein Stück aus der heiligen Schrift meditieren’7. In der dreiundfünfzigsten (52.) Regel, in der es darum geht, welche der geschenkten Speisen ein Mönch essen darf, wird gesagt, dass er Beispeisen und Obst nach Belieben essen könne und die Reste zur Krankenstation zu schicken seien (PL XXII 71 A): si uero sint tragematia vel poma, dabit ei ianitor ex his comedere, quae poterit, et cetera ad cellam languentium deportabit ‘Wenn es aber um Tragematia oder Obst geht, soll ihm _________ 7
Zu Text und Interpretation vgl. Bacht 1983, 90 und 151.
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der Pförtner davon soviel zu Essen geben, wie er kann, und den Rest soll er in die Krankenraum bringen’8. Man hatte oft gemeint, in den Zeugnissen der lateinischen Literatur liege eine Verschreibung des griechischen τραγήµατα vor, aber drei Papyruszeugnisse bestätigen eindeutig die Existenz von τραγηµάτιον9: a) In den sogenannten “Grapheion accounts” (P. Mich. II 123 v. V 21) aus dem Jahre 45/46 n. Chr. ist von einer Zuwendung an den Nomographos Heronas für τραγηµάτια für seine Kinder die Rede: Ἡρωνᾶτι νοµογρ(άφῳ) εἰς τραγηµάτια τοῖς παιδίοις αὐτο(ῦ) (ὀβολοὶ) δ´ ‘für den Nomographos Heronas für Tragematia für seine Kinder 4 Obolen’. “This payment to the nomographos for «sweetmeats» for his children could only be entered here if Heronas had some claims on the hospitality of the grapheion”. b) In einem auf das 2. Jahrhundert n. Chr. zu datierenden Brief an seinen zukünftigen Schwiegervater Herminos entschuldigt sich Ailios Theon dafür, dass er seiner Braut noch keine für sie angemessene τραγηµάτια geschickt habe, weil er noch auf die Ankunft einer neuen Lieferung warte (P. Oxy. LIX 3992, 7-12): παρ[α]καλῶ συγγνῶναί | `µοι´ εἰ µήπω τῆι `αὐτῆι´ κυρίαι ἡµῶν πέ|ποµφα τραγηµάτια. οὔπω γὰρ | τὰ νέα κατέπλευσεν. ὅταν δὲ | κατακοµισθῇ, πέµψω̣ α̣ὐ̣τῆ[ι] | ἄξια αὐτῆς.
Ich bitte dich, mir zur verzeihen, wenn ich unserer gemeinsamen Herrin noch keine Tragematia geschickt habe. Die Schiffe sind nämlich noch nicht da. Wenn sie aber ankommen, werde ich ihr senden, was ihrer würdig ist.
Wenn, wie anzunehmen ist, der Brief in Alexandria geschrieben wurde, “there is some likelihood that Aelius Theon was promising to send a present of exotic delicacies, such as walnuts and pine kernels”. c) Ein Qualitätsunterschied tritt auch im 6. Jahrhundert n. Chr. auf einem Fitzwilliam-Ostrakon auf, wo es lapidar heißt (SB XX 15129, 2): Μῆνα […] | τραγηµατί̣[ων …] | δευτερίων […]. Die Übersetzung von John C. Shelton (ZPE 86, 1991, 276) lautet: ‘second-class tidbits’. Es kann also keinem Zweifel unterliegen, dass es zu τράγηµα die DiminutivForm τραγηµάτιον gab; natürlich ist im Plural der Unterschied zwischen τραγήµατα und τραγηµάτια (zumindest in der nichtakzentuierten Schriftform) gering, so dass Verschreibungen vorkommen können, aber man kann sicherlich nicht alle Zeugnisse für τραγηµάτια einfach auf das Konto von Schreibfehlern setzen. Zu τραγηµατοπώλης, das bei Hesych als Erklärung von κεγχρανοπώλης ‘Hirseverkäufer’ auftaucht und das auch in den griechisch-lateinischen Glossaren belegt ist (CGL III 309, 49: τραγηµατοπώλης ellarius), gehört die Bildung τραγηµατοπώλιον, die ein einziges Mal in den Papyri belegt ist. In einem Brief, _________ 8
Zu Text und Interpretation vgl. Bacht 1983, 95 und 171. SB XX 14576, 21 (= P. Mich. I 13, 21) ist (unter Heranziehung von P. Mich. II 123 v. V 21, siehe unten) τιµῆ(ς) τραγ(ηµατίων) ergänzt, es ist aber alles andere als sicher, ob das stimmt, denn es könnte ja auch τιµῆ(ς) τραγ(ηµάτων) heißen. Ein Argument für die Existenz von τραγηµάτιον lässt sich an dieser Stelle jedenfalls nicht gewinnen. 9
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der im Jahre 84 n. Chr. aus Alexandria an einen Empfänger im Arsinoites geschickt wurde, kommt τραγηµατοπώλιον, von Bror Olsson wohl zu eng als ‘Konfitürenladen’ übersetzt10, in der Adressenangabe vor (P. Lond. III 897, 16–17): ἐὰν δέ µοι ἐπιστολὰ[ς] πέµψῃς, πέµψεις εἰς τὸ Θέωνος τρα|γηµατοπώλιον ἐπὶ τὸ Χαριδήµου βαλανεῖον ‘wenn du mir Briefe schickst, richte sie an das Tragematopolion des Theon beim Bad des Charidemos’. Auf andere Ableitungen kann hier nicht weiter eingegangen werden: Ihre Existenz belegt aber die Lebendigkeit des Wortes τράγηµα, das man ja nur als Basis von Ableitungen nehmen kann, wenn es geläufig ist. 6. Lateinisches tragema Im Lateinischen taucht nicht nur die Ableitung τραγηµάτιον als Gräzismus auf, sondern auch das Grundwort tragema existierte, wenn auch die übliche lateinische Entsprechung bellaria, in den Glossaren als normale Übersetzung von τραγήµατα gut vertreten, immer viel geläufiger war11. Macrobius (sat. II 8, 3) definiert lateinisch bellaria über das griechische Wort: significant autem bellaria omne mensae secundae genus. nam quae πέµµατα Graeci uel τραγήµατα dixerunt, ea ueteres nostri appellauere bellaria; uina quoque dulciora est inuenire in comoediis antiquioribus hoc uocabulo dictaque ea Liberi bellaria.
Als bellaria bezeichnet man jeden zweiten Gang einer Mahlzeit. Denn was die Griechen πέµµατα oder τραγήµατα nannten, das bezeichneten unsere Vorfahren als bellaria; auch süßere Weine kann man in älteren Komödien unter dieser Bezeichnung finden, und man nennt sie “bellaria des Weingottes”.
In lateinischer Schreibung taucht tragema bei Plinius dem Älteren auf. Er verwendet tragemata als umgangssprachliche Bezeichnung für Datteln zweiter Wahl (nat. hist. XIII 48): e reliquo genere plebeiae uidentur Syriae et quas tragemata _________ 10 Olsson 1925, 145. Der ganze Brief ist dort mit Übersetzung und Kommentar als Nummer 50 auf den Seiten 143 bis 147 abgedruckt. 11 CGL II 29, 1 (bellaria τραγήµατα); 548, 6 (τραγήµατα bellaria); 458, 6 (τραγήµατα bellaria); III 15, 48 (τραγήµατα bellaria); 88, 11 (tragemata bellaria); 185, 5 (tragimata bellaria); 234, 13 (καὶ τραγήµατα et bellaria); 316, 6 (τραγήµατα bellaria); 372, 21 (bellaria τραγήµατα); 372, 21 (bellaria τραγήµατα). Priscian schreibt zur Etymologie (GL III 497, 1): ex bello, quod bonum significat, bellaria dicuntur τὰ τραγήµατα. Interessant ist die Rubrik de bellariis = περὶ τραγηµάτων, wo aufgeführt ist, was man dazurechnete (CGL III 372, 20–44): placus = πλακοῦς ‘breiter Kuchen’, subitillus = ἔυτος ‘Fladenkuchen’, libus = ἐντυρίς ‘Käsekuchen’, melitoma = µελιτώµατα ‘Honigkuchen’, lucunclus = τηγανίτης ‘Pfannekuchen’, copta = κοπτή ‘Sesamkuchen’, poma = ὀπώρα ‘Obst’, uua = σταφυλή ‘Weintraube’, uua passa = σταφίδες ‘Rosinen’, nuclei = στροβίλια ‘Pinienzapfen’, ficus = σῦκα ‘frische Feigen’, caricae = ἰσχάδες ‘getrocknete Feigen’, palmae = φοίνικες ‘Datteln’, nuces = καρύδια ‘Nüsse’, castania = λόπιµα ‘Kastanien’, aualanae = λεπτοκάρυα ‘Haselnüsse’, mora = συκάµινα ‘Maulbeeren’, pruna = κοκύµηλα ‘Pflaumen’, pera = ἄπια ‘Birnen’, mala = µῆλα ‘Äpfel’, mala granata = ῥόαι ‘Granatäpfel’, cotonia = κυδώνια ‘Quitten’, mespera = ἀχράδες ‘Mispeln’.
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appellant ‘unter den übrigen Sorten erscheinen die einfachen syrischen Datteln und die, die man Tragemata nennt’. Im Sinne von ‘Nachtisch’ taucht tragema bei dem Medizinschriftsteller Ps. Plinius Valerianus auf, wo es heißt (5, 7): tragemata etiam fugienda sunt, qualia sunt nuces, dactyli ‘zu meiden sind Tragemata wie etwa Nüsse und Datteln’. Dieser Text ist freilich bereits ins Mittelalter zu datieren. Im 11. Jahrhundert heißt es bei Papias im Vocabulista (Venezia 1485, S. 356): tragemata bellaria, id est uilia munuscula aut cicer frixum, uua passa ‘Tragemata sind Bellaria, also kleine Portionen oder geröstete Kichererbsen, Rosinen’. Auch zur Erklärung eines anderen Wortes wird tragemata verwendet (S. 69): collibia sunt apud Haebraeos, quae nos uocamus tragemata uel uilia munuscula, ut cicer frixum, uua passa, poma diuersi generis. Ansonsten fehlen aber mittelalterliche Belege für tragema. Das Wort taucht erst in der Renaissance wieder auf. In der an der Wende vom 15. zum 16. abgefassten Vita Beatae Veronicae de Binasco lesen wir (cap. 9): uasa quaedam afferri uidit lignea praeclare elaborata, quibus ex saccharo delicatiora quaedam composita seruabantur, quae tragimata uocamus ‘sie sah, dass man hölzerne, kunstvoll bearbeitete Gefäße herbeibrachte, in denen köstliche Süßspeisen aus Zucker serviert wurden, die wir Tragemata nennen’. In Wörterbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts findet man zur Erklärung des am Anfang des 19. Jahrhunderts ausgestorbenen deutschen Wortes Tresenei ‘grobes würziges Pulver als Leckerei und Medicament; Gemüse’ (Grimm, Dt. Wb. XI, 1, 2 = 22, 166) nicht nur das lateinische tragema, sondern auch tragea, also eine Form ohne -m-, wie man sie für die Erklärung der romanischen Wörter brauchen würde (siehe unten). Im Thesaurus Latini sermoni des Sethus Calvisius (Quedlinburg 1653) heißt es im Kapitel de medicina (S. 797): „trisenet tragema, tragea“. Das seinerzeit verbreitetste lateinisch-deutsche Wörterbuch, Adam Friedrich Kirsch, Cornucopiae linguae Latinae, Regensburg 1746, S. 1205, sagt: „Tragema, atis & Tragea, ae, f. Treset, Tresnet, Pulver zu Stärckung des Magens und des Herzens (Med.)“. Johann Christoph Adelung führt in seinem Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart 4 (Leipzig 1786, S. 1066) aus: „triet, triseney oder treseney heisset griechisch tragema [---] und bey unseren Arzten tragea“. Dieses tragea sieht gut lateinisch aus, aber es ist doch verdächtig, dass man es in mittellateinischen Wörterbüchern nicht findet. Die Erklärung ist einfach: tragea ist eine Latinisierung des französischen dragée (mit der für ältere Entlehnungen in germanische Sprachen typischen Ersetzung des französischen dr- durch tr-)12: In mittelniederländischen Quellen ist tragie für ‘suikergoed, suikerwerk, bonbons’ geläufig, und die Nebenformen tregie, tresie13 erklären auch das mittelhochdeutsche tresenei, das als Tresenei bis zum Ende des 18. Jahrhunderts lebendig war. Somit ist tragea zwar _________ 12 Im Deutschen tritt frz. dragée anfänglich als tragee auf (Erstbeleg: Paracelsus 1536), vgl. Deutsches Fremdwörterbuch 5, Berlin / New York 1999, 880–881. 13 E. Verwijs/J. Verdam, Middelnederlandsch woordenboek 8, ’s-Gravenhage 1916, 632–633. Das Wort tregie starb im 16. Jahrhundert aus, vgl. Woordenboek der Nederlandsche taal, ’s-Gravenhage / Leiden 1960, 2351–2352.
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eine Kurzform, die zu tragema gehört, aber sie ist nicht direkt daraus entstanden, sondern eine neuzeitliche Latinisierung von französisch dragée. Wir müssen tragea also aus der Reihe der lateinischen Belege für tragema streichen. Bei den insgesamt relativ wenigen verbleibenden lateinischen Belegen für tragemata und tragematia ist jedenfalls festzuhalten, dass im Vergleich zum Griechischen fast immer süße Kleinigkeiten, niemals aber Fleisch oder Fisch, gemeint sind, mit anderen Worten, das Wort bezieht sich nicht einfach auf jedes Beigericht, sondern nur auf deren süße Varianten. An der Schwelle zur Neuzeit scheint tragemata ein seltenes, zur fachsprachlichen Terminologie gehöriges Wort für ‘Konfekt, Süßigkeiten’ (saccharo delicatiora quaedam composita) geworden zu sein. 7. tragema in den romanischen Sprachen Während, wie oben dargelegt, τράγηµα im Laufe des Mittelalters aus dem lebendigen griechischen Sprachgebrauch verschwand und lediglich als literatursprachliche Reminiszenz eine bescheidene Randexistenz aufwies, scheint das lateinische tragema in den romanischen Volkssprachen eine Stellung gefunden zu haben. Die französischen Etymologen führen seit der Renaissance frz. dragée ‘Nuss oder Mandel in farbigem Zuckermantel’14 auf gr.-lat. tragema zurück15, und der Vater der Romanistik, Friedrich Diez, hat italienische, altprovenzalische und portugiesische Formen dazugestellt16. Das heute noch maßgebliche Romanische Etymologische Wörterbuch von Wilhelm Meyer-Lübke hat in seiner ersten und zweiten Auflage (1911; 1924) unter der Nummer 8834 einfach die Formen zitiert, die auch Diez schon geboten hatte17: “tragemata (griech.) ‘Naschwerk’. Ital. _________ 14 Trésor de la langue française 7, Paris 1979, 483: “confiserie formée d’un noyau dur comestible enrobé d’une couche mince de sucre durci et poli”. Eine ausführliche Beschreibung der traditionellen Fabrikation gibt Pierre Larousse, Dictionnaire universel du XIXe siècle 6, Paris 1870, 1175: “Les procédés de fabrication des dragées sont très-anciens. Il se fait des dragées de tant de sortes, et sous des noms si différents, qu’il ne serait pas aisé de les décrire toutes. On met en dragées de l’épine-vinette, des framboises, de la graine de melon, des pistaches, des avelines, de l’anis, des amandes de plusieurs espèces, des amandes pêlées dont la peau a été ôtée à l’eau tiède, des amandes lissées auxquelles on a laissé la peau, des amandes d’Espagne qui sont rougeâtres en dedans et fort grosses, etc., des morceaux d’écorce ou de racines odoriférenates, même des liqueurs. La dragée peut être colorée de différentes manières: blanche, rose, bleue, rouge, jaune, et elle acquiert cette coloration par divers procédés”. 15 Die Herleitung des Wortes dragée von griechisch τράγηµα kommt zum ersten Male bei Robert Estienne (= Robertus Stephanus), Dictionnaire François-Latin, Paris 1549, S. 200, vor: „Dragee, quasi Tragee. Il uient de Tragema. Sunt autem Tragemata, secundae mensae“. Diese Etymologie wird eigentlich in allen Wörterbüchern wiederholt, von Jean Nicot (1621) über Gilles Ménage (1650) bis zu A. F. Jault (1750). 16 Diez 1887, 326: „Treggéa it., pr. dragea (v. j. 1428), fr. dragée, sp. dragea und mit g für d gragea, pg. gragea, grangea zuckerwerk; entstellt aus gr. τραγήµατα naschwerk, einem in den klöstern bekannten worte, vgl. Papias: collibia sunt apud Hebraeos, quae nos vocamus tragemata vel vilia munuscula ut cicer frixum“. 17 Genauso war der heute weitgehend vergessene Gustav Körting (1907, Nr. 9660) vorgegangen.
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treggea, frz. dragée, prov. dragea, drigeia, span. dragea, gragea, portg. gra(n)gea. Diez, Wb 326.” In der dritten Auflage von 1935 war der Romanistikpapst skeptischer geworden: Er druckt den Artikel unverändert wieder ab, setzt die Formen allerdings in runde Klammern, was bei ihm “nicht annehmbare Etymologie” (S. XXXI) bedeutet, und fügt hinzu: “ist formell nicht möglich, ebenso griech. trageion Gamillscheg18”. Damit gehören die romanischen Formen, die Friedrich Diez zu tragemata gestellt hatte, zu den nicht wenigen Fällen, bei denen Wilhelm Meyer-Lübke eine vorgeschlagene Etymologie aus formalen Gründen ablehnt, ohne eine neue vorzuschlagen. Nun ist es in der Tat nicht ganz einfach, frz. dragée mit griechisch τραγήµατα zu verbinden. Es ergeben sich zwei lautliche Probleme, der stimmhafte Anlaut (also dr- und nicht tr-) und das Verschwinden des -m-. Das erste Problem ist leicht zu lösen: Das dem Verschlußlaut t folgende r übte eine sonorisierende Wirkung aus, und im späteren Latein gibt es gerade für τρ- > dr- einige Beispiele: τραχοῦρος > dracurus ‘Makrele’, τραγάκανθα > dragantum ‘Bocksdorn’, τραχῶµα > dragoma ‘Bindehautentzündung’ (Figge 1966, 261–262). Das zweite Problem ist etwas komplizierter: Wenn wir die soeben angedeutete Anlautsonorisierung akzeptieren, dann ist das direkte Etymon von dragée nicht das gut bezeugte tragemata < τραγήµατα, sondern wir müssen von einer Form *trageta (mit betontem langen e) ausgehen, mit anderen Worten, das unbetonte -ma- nach der betonten Silbe ist spurlos verschwunden. Eine solche Wortverkürzung durch Verlust einer Silbe19 ist in der Lautgeschichte des Lateinischen alles andere als selbstverständlich, sie kommt aber bei längeren Wörtern gelegentlich vor: nudiustertius > nustertius (CGL 3, 296, 18), *semilibra > selibra, viginti > vinti, sexaginta > sexanta, lapidicida > lapicida, sanguisugia > sansugia (CGL 3, 623, 50), τραγάκανθα > tragacanthum > tracantum und dragantum20. Bei tragemata muss berücksichtigt werden, dass das Wort wohl aus der lateinischen Fachsprache der Apotheker und Mediziner (dort ist es ja zumindest bei Plinius Valerianus belegt) in einer entstellten Form in die Volkssprachen gedrungen ist. Der Parallelfall tragacantum hat Walther von Wartburg (FEW 13 [2], 158– 160) dazu veranlasst, die Renaissance-Etymologie frz. dragée < gr.-lat. tragemata _________ 18
Diese Bemerkung bezieht sich auf Ernst Gamillscheg 1969, 331: “geht dann zurück auf ein spätgr. *τραγεῖα, d. i. Abl. von τραγεῖν, dem Infinitiv des Aoristes von gr. τρώγειν ‘knabbern, essen’; der Infinitiv des Aoristes tritt im Spätgr. vielfach an die Stelle des Inf. des Präsens; das Wort ist vermutlich über Marseille ins Galloromanische gedrungen” (ungefährt gleicher Wortlaut in der ersten Auflage von 1928, S. 325). W. Meyer-Lübke kritisiert diesen Ansatz in seinem Romanischen etymologischen Wörterbuch, Nr. 2768 (s. v. *dravoca): “Ein griech. *trageion Gamillscheg ist bloße Konstruktion, hätte als alte lat. Entlehnung *trágium ergeben, als junge tragíum; *tragíum hätte aber zur Zeit, wo –g– zu –ǧ– wurde, kaum mehr t- als d- wiedergegeben”. 19 Man spricht in den Grammatiken, ausgehend vom häufigsten Fall des Ausfalls einer Silbe, die mit der folgenden gleichlautet (dentitio > dentio, vestitrix > vestrix), nicht ganz zutreffend von Haplologie, vgl. Leumann 1977, 234-235 (= § 234); Sommer / Pfister 1977, 210 (= § 165); für das Griechische vgl. Schwyzer 1953, I 262-265. 20 Bei Namen taucht eine derartige Kürzung recht häufig auf, vgl. z. B. im Italienischen Durante > Dante, Beatrice > Bice, Giovanni > Gianni (Rohlfs 1949, I 513 (= § 319).
27. τράγηµα / tragema
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beizubehalten, und die meisten romanischen Etymologika sind ihm auf diesem Weg gefolgt21. Es gibt nur einen anderen Ansatz, frz. dragée zu erklären: Er geht von dem französischen Homonym dragée ‘Mischfutter fürs Vieh’22 aus, das mit einem nur in den Glossen belegten dravoca23 in Verbindung gebracht zu werden pflegt. Der Vorschlag, dragée ‘Zuckermandel’ von dragée ‘Mischfutter’ herzuleiten, taucht zunächst an versteckter Stelle auf24, wurde zunächst allgemein zurückgewiesen, fand aber Unterstützung bei Joan Coromines, dem Verfasser des etymologischen Wörterbuchs des Spanischen25, und bei Pierre Guiraud, dem unermüdlichen Kritiker etablierter Etymologien26. Die Schwäche des Vorschlages, dragée ‘Konfekt’ von dragée ‘Mischfutter’ herzuleiten, liegt aber darin, dass er rein auf das Französische konzentriert ist und die Formen der anderen romanischen Sprachen, wo ‘Mischfutter’ ja nicht zu belegen ist, nicht zu erklären vermag. Rein zeitlich wäre es zwar möglich, die Wörter der anderen Sprachen als Entlehnungen aus dem Französischen zu betrachten27, aber die Erklärung von tr-Formen28 statt _________ 21
Trésor de la langue française 7, Paris 1979, 484; Rey 1992, I 630. Trésor de la langue française 7, Paris 1979, 484: “Mélange de diverses graines (céréales, légumineuses) que l’on fait pousser en fourrage”. Die frühesten Belege, die zwei unterschiedliche Formen aufweisen, sind etwa auf das Jahr 1200 zu datieren (Perceval v. 9867 pain de dravie, v. 13679 pain de dragie). 23 ThLL V 1, 2067. CGL III 585, 31 personacia = draueca; 594, 2 personacia = drauoca; 615, 61 personacia i(d est) drauoca; 626, 7 lappa id est drauoca, amarfolium; 627, 53 persnaia id est drauoca. 24 Er steht in einer Anmerkung zu einem Besprechungsaufsatz von Leo Spitzer (1922, 20, Anm. 2): “Ich möchte hier noch bemerken, daß die gewöhnlichste Bedeutung des frz. dragée, die bekannten verzuckerten Mandeln, die als Patengeschenk in Frankreich dienen, nicht unter tragemata mehr gebucht werden sollte, sondern sich an unser dragée ‘Mischung von Hafer, Wicke, Gerste, Bohnen, Erbsen etc.’ anschließt: ital. treggea ist aus frz. dragée entlehnt. Wie sollte tragémata sich derartig wunderbar verkürzen? Die Bedeutung des Zuckerwerkes ist aus dem 14., die ‘Mengkorn’ im 13. Jh. belegt”. Spitzers Ansicht wurde für sp. gragea akzeptiert von Joan Corominas (DCECH 3, 191–192); er sagt: „Fr. dragée ‘confites menudos’ [...] probablemente es el mismo vocablo que dragée ‘grana de varias plantas leguminosas mezcladas’“, und er erklärt das sp. und port. g- aus einer Beeinflussung durch grano, was natürlich auch nur Sinn ergibt, wenn die erste Bedeutung ‘Viehfutter’ ist. 25 DCECH 3, 191–192: “En realidad no hay razón alcuna para considerar que los dos significados del fr. dragée ‘gragea’ y ‘grana mezclada de varias leguminosas’ [---] constituyen dos palabras distintas; en esta última aceptación el vocablo es conocido asimismo desde el s. XIII, y de ahí se pudo fácilmente pasar a ‘gragea’”. 26 Guiraud 1982, 245: “Le fr. dragée ne représente pas le lat. tragemata (it. traggea, prov. tragea), c’est un emploi figuré de dragée ‘fourrage’. Ce dernier désigne un ‘mélange de divers grains tels que pois, vesces, fèves, lentilles, avoine, orge, qu’on laisse croître en herbe pour les donner aux bestiaux’. De même, la dragée a dû être d’abord un ‘mélange d’amandes, pistaches, avelines et autres petits fruits couverts de sucre’. C’est la notion de mélange qui est à l’origine du mot, mélange de graines et aussi de couleurs, de dimensions, de formes. [...] Dragée ‘mélange de grains’ est donc la forme primitive et représente bien un dérivé de dravoca ‘ivraie’, c’est-à-dire graines sauvages et non comestibles par les humains”. 27 Die französischen Belege setzen für beide Bedeutungen um 1200 ein, die italienischen Zeugnisse beginnen 1325, die spanischen 1335, die provenzalischen 1370. 22
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des französischen dr- ist auf diesem Wege nicht möglich. Jedenfalls sind frz. dragée, prov. tragieya, drageya, it. traggèa, dragèa, sp. (a)dragea, gragea, port. tragea, dragea, gra(n)gea ‘Konfekt’ die primären Formen mit Verbeitung in allen romanischen Schriftsprachen außer dem Rumänischen, dragée ‘Mischfutter’ ist ein sekundäres, auf Frankreich beschränktes Wort, dessen Herleitung hier nicht diskutiert werden kann29. 8. Zusammenfassung Das Substantiv τράγηµα, Plural τραγήµατα, ist ein Abstraktum, das auf den Ablaut-Aorist τραγεῖν zu τρώγειν zurückgeht. Die erste Bezeugung des Wortes τράγηµα liegt in den 425 v. Chr. aufgeführten Acharnern des Aristophanes vor, und der Großteil der älteren Zeugnisse stammt aus der alten, mittleren und neuen Komödie: Die Bedeutung ist δευτέρα τράπεζα; es wird meist als Nachgericht serviert und besteht aus kleinen Häppchen (Fleischstückchen, kleine Seetiere, Gebäck, Obst, Gemüse). In der Prosa stehen Platon und Xenophon am Anfang der Traditionsgeschichte, und in der Literatur ist τράγηµα bis zum Ende der Antike ein geläufiges Wort, bevor es im byzantinischen Mittelalter aus volkssprachennahen Texten aus ungeklärter Ursache verschwindet. Spätestens am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. werden Fleisch- und Fischsnacks in kultivierter Umgebung nicht mehr als τραγήµατα bezeichnet; das Wort spezialisiert sich auf meist süße Nachspeisen (Gebäck, Kastanien, Nüsse, Feigen, andere Obstsorten). Die insgesamt doch recht üppige Bezeugung in den Papyri zeigt, dass das Wort auch in der literaturfernen Alltagssprache durchaus seinen Platz hatte, wenn man auch vielleicht sagen kann, dass vom 4. Jahrhundert n. Chr. an die Beliebtheit abnahm. Im Lateinischen des Altertums und des Mittelalters fristen tragemata und die dazugehörige Diminutivbildung tragematia nur eine Randexistenz, als ungeläufige griechische Entsprechung für das lateinische bellaria; nur in der Fachsprache der Medizin konnte tragemata sich (bis heute) festsetzen. Dennoch muss eine Kurzform des Wortes, *trageta, in die romanischen Volkssprachen gedrungen sein, möglicherweise als modischer Ausdruck für das vielleicht aus den Klosterküchen in Umlauf gebrachte Konfekt, dessen lateinische Bezeichnung tragemata für die Umgangssprache zu lang war. Jedenfalls sind das im 13. Jahrhundert auftauchende französische dragée und die ab dem 14. Jahrhundert in Erscheinung tretenden Wörter für ‘Konfekt’, prov. tragieya, drageya, it. traggèa, dragèa, sp. (a)dagea, gragea, port. tragea, dragea, gra(n)gea, mit größter Wahrscheinlichkeit Weiterentwicklungen des griechischen τράγηµα / τραγήµατα, _________ 28
Im Italienischen des 14. Jahrhunderts sind tregèa, targèa und dragèa belegt. Denkbar ist *dravocata bzw. *dravicata, eine Ableitung von dravoca (Gamillscheg 1969, 332). Adolphe Hatzfeld und Arsène Darmesteter (1895, 791) haben vorgeschlagen, ‘Mischfutter’ als Sekundärbedeutung zu ‘Konfekt’, das zu τραγήµατα gestellt wird, aufzufassen; eine Bezeichnung für eine für den menschlichen Genuss bestimmte ‘Mischung aus verschiedenen Süßigkeiten’ wäre also vergröbernd auf eine für Tiere gedachte ‘Mischung aus verschiedenen Gräsern’ übertragen worden. 29
27. τράγηµα / tragema
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von dessen Existenz in der alltäglichen Umgangssprache uns die Papyri aus Ägypten ein eindeutiges Zeugnis ablegen.
28. τριχία / trichia Abstract: Despite other theories, French tresse and Italian treccia derive from Latin trichia, attested once in the biography of Anthony, the father of Egyptian monasticism: it goes back to Greek τριχία, peculiar to papyri. Both words mean ‘rope, cord’, and they continue in Medieval Latin and in Modern Greek. From the 11th century onwards, Latin and Romance documents present a semantic change: Latin tricia, Old French trece, Prov. tressa, Cat. treça, Old Sp. treça mean ‘pigtail’, because a plait hangig down like a rope from the back of the head came into fashion with contemporary women. Keywords: trichia, rope, cord, pigtail
1. Romanistische Theorien zur Herkunft von frz. tresse, it. treccia ‘Zopf’ Lange Zeit herrschte in der Romanistik Unklarheit über die Herkunft von französisch tresse ‘Zopf’, it. treccia ‘Haarflechte, Zopf; Strohband’ und verwandten Wörtern. Zunächst bestimmte, wie zu erwarten, Friedrich Diez, der Vater der Romanistik, die Diskussion (1887, 326): Von trīcae ‘Verwicklung’ verbietet schon der lange Vokal; gr. θρίξ, τριχός ‘Haupthaar’ aber sagt etwas zu allgemeines. Besser, da zu einer Flechte drei Teile gehören, von τρίχα ‘dreiteilig’, woraus man in Italien trichea ableiten konnte, dem das rom. treccia folgte (so braccio von bracchium). Wilhelm Meyer-Lübke akzeptierte diese Etymologie (REW 8893), und der Autorität des seinerzeitigen Romanistikpapstes beugte man sich im Allgemeinen (García de Diego 1985, 1034), wenn auch ein ungutes Gefühl blieb (Dauzat/Dubois/Mitterand 1971, 764: “origine obscure”). Der Versuch einer Herleitung aus dem Fränkischen, den Ernst Gamillscheg (1970, 319) ethnologisch zu untermauern versuchte, blieb eine Kuriosität, denn er scheiterte schon daran, dass er die außerfranzösische Verbreitung in Italien nicht erklärt, einmal ganz abgesehen davon, dass auch das vorausgesetzte fränkische Wort reichlich hypothetisch ist: Die Haare der Frau werden durch das salische Gesetz besonders geschützt. In die Haare werden Bänder geflochten. So ist wohl auch afrz. trece ‘Haarband’, dann ‘Haargeflecht’ fränkischer Herkunft, postverb. Subst. zu afrz. trecier ‘Flechten’, ‘mit einem Band verflechten’; dazu afrz. treceor, treceoir ‘Haarband, Haarschmuck’, im 13. Jhdt. treçon ‘Flechte, Band, Gebinde’; das Verbum aus frk. *þrâhjan, umgelautet *þrehjan ‘gedreht machen, drechseln’, zu ahd. drâhsil ‘Drechsler’.
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Joan Corominas formulierte eine weitere Hypothese (DCECH 5, 630), von der er freilich offensichtlich selbst nicht so recht überzeugt war (“sólo formulo esta hipótesis con mucha reserva, pero es la única que me parece razonable”): Podríamos tomar como base TERTIARE ‘repetir tres veces’, ‘hacer algo por tercera vez’, pasando de aquí a ‘triplicar’, ‘hacer una trenza de tres’. [---] Foneticamente el tratamiento del grupo pretónico RTI en rci sería regular en italiano, comp. scorciare EXCURTIARE, cominciare COMINITIARE, conciare COMPTIARE, etc.; siendo treccia derivado de trecciare no sería extraño que tenga é cerrada secundaria, comp. calabr. trizza ‘trenza’; en cuanto a la trasposición de la R, no sería más sorprendente que la de fromage FORMATICUM o troubler TURBULARE, y además en nuestro caso desempeñaría papel decisivo el influjo del sinónimo trina, trena. Abgesehen von den semantischen und lautlichen Problemen spricht gegen diese Etymologie die Tatsache, dass trecciare, welches ja als primär vorausgesetzt werden muss, im Italienischen überhaupt nicht existiert (es gibt nur intrecciare ‘flechten’, vor 1342, DELI 807), während treccia schon im 13. Jahrhundert bei Giacomo da Lentini und Giacomino Pugliese vorkommt und im Mittellatein Venedigs als trecia schon 1145 zu belegen ist (DELI 1732). Alle diese Etymologieansätze sind als hinfällig zu betrachten. Den richtigen Weg wies Giovanni Alessio (1953, 207), der zunächst die Vorschläge von F. Diez und von E. Gamillscheg als unwahrscheinlich zurückwies und dann fortfuhr: Qualche lume per questo problema ci può venire dalo spoglio dei glossari medioevali del Sella, dove troviamo: sex trecias bonas de struis (= bavella) ... (a. 1145, a Venezia); treciam et biadam (= benda, legame) ... (a. 1191, a Venezia); facto ad modum treciarum de auro (a. 1311, Invent. Clemente V); bandera ... cum una tressa alba in medio (a. 1281, a Ravenna); treczones et infriscature quinque de auro et pernis (a. 1389, in Campania); trezola ‘la treccia fatta ai capi dei fili dell’ordito che sporgono dalla pezza’ (a. 1319, a Verona); trizzam unam de seta (Abruzzi), ecc., dai quali appare che il centro di diffusione va ricercato, almeno per l’Italia, a Venezia e inoltre che la voce aveva in origine il significato di funicella o simile intrecciata. Il significato marinaro che ha il fr. tresse ‘cordage plat ou tressé à la main’, it. treccia ‘riunione di cavetti piani e pastosi intreciati per legature pieghevoli e spianate’ ci indica l’etimologia nel gr. τριχία ‘corda, fune’ (1. sec., papiri) che deve essere passato come *trichia nel latino regionale dell’Esarcato di Ravenna o in quello di Venezia, come termine marinaro. La voce greca a sua volta è derivata da θρίξ, τριχός ‘pelo, capello’, quindi in origine ‘corda fatta di peli intrecciati’. Die Quelle der Angabe für “gr. τριχία ‘corda, fune’ (1. sec., papiri)” dürfte im LSJ zu suchen sein, wo es auf Seite 1825 heißt: “τριχία, ἡ, rope, PLond. 1.131*.2, al. (i A. D.)”.
28. τριχία / trichia
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Max Pfister, der Bearbeiter des Artikel *trichia im FEW (13 [2], 262-265), hat das Verdienst, die etwas versteckte Darstellung von Giovanni Alessio dadurch ins allgemeine Bewusstsein geholt zu haben, dass er sie sich für seine Etymologie im Wesentlichen zu eigen machte. Er schrieb (die Rechtschreibung ist modernisiert): Grundlegend für jede etymologische Erklärung von fr. tresse ist der spätgriechische Beleg τριχία ‘Palmbast zur Anfertigung von Stricken’ (1. Jh., RLiR 17, 207). Ein Zusammenhang dieses Papyrusbeleges mit dem gr. Wort θρίξ, τριχός ‘Haar’ ist offensichtlich. Griechische Wörter auf -ία wurden vom Lateinischen mit der Endung –ea entlehnt (cochlea < κοχλίας, siehe Schmalz-Hofmann 206) oder mit Akzentverschiebung und der Endung –´ia (ἐκκλησία > lat. ecclésia, παιωνία > lat. paeónia, σηπία > sépia, siehe Fouché 132). Die Annahme eines vulgärlateinischen *tríchia ‘Zopf, Seil’ als griechisches Lehnwort im Raume der Galloromania und Italiens wird den Gegebenheiten am ehesten gerecht. [---] Alessio schließt aus den mittellateinischen Belegen in Italien, dass *trichia ein regionallateinisches Wort war, das im Exarchat oder im venezianischen Raum aus dem Griechischen aufgenommen und von hier ausgestrahlt worden wäre (der mittellateinische Erstbeleg trecia stammt aus Venedig aus dem Jahr 1145). Die weite Verbreitung im 12. Jh. in der Galloromania lassen diese Theorie aber als fragwürdig erscheinen, es sei denn, das Wort sei von der Adria her nach Oberitalien und von Marseille aus ins Galloromanische gedrungen. Lateinisch *trichia ist erhalten in it. treccia (seit 13. Jh.), nordit. tressa, südit. trezza (seit 13. Jh.) und im Galloromanischen. Aus dem Galloromanischen entlehnt sind: altsp. treça ‘tresse’ (1280, Corominas), altkat. treça (1415, Alcover-Moll), engl. tress (seit 13. Jh.), flandr. tresse, lothringisch-deutsch Tretz, deutsch Tresse (seit 1710); ebenso das entsprechende Verbum altkat. treçar ‘tresser’, traçar (14. Jh.), Vannes tresein, fläm. tressen. Aus dem Altitalienischen übernommen ist log. tríttsa ‘treccia’ (Wagner, ARom 24, 48). Semantisch ist vom Stamm tric- ‘Haar’ auszugehen. Der Übergang von ‘geflochtenem Haar’ zu ‘Seil’ ist spontan überall möglich. Der vereinzelte spätgriechische Beleg lässt kaum den Schluss zu, dass der Ausdruck der griechischen Schiffsterminologie τριχία ‘corde, câble’ die semantische Grundlage für die romanischen tresse/treccia-Formen bildet. Es ist naheliegend, dass Bezeichnungen für Produkte eher in Dokumenten auftreten als Körperbezeichnungen (vgl. mittellat. sex t r e c i a s bonas de struis, Venedig, 1145). Der Stand der romanistischen Diskussion, wie sie im FEW niedergelegt ist, kann also folgendermaßen zusammengefasst werden: Griechisch τριχία ist mit der Grundbedeutung ‘geflochtenes Haar’, die zufällig im Gegensatz zur merkantilen Bedeutung ‘Schiffstau’ nicht belegt ist, gegen Ende der Antike ins Regionallatein Nordostitaliens und Galliens gedrungen und dort die Basis für romanische Formen dieser Gegend geworden. Was die materielle Seite anbetrifft, so kann die Herkunft von it. treccia und frz. tresse aus gr. τριχία als gesichert gelten, denn lautlich-
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formale Probleme gibt es bei Annahme einer Entwicklung τριχία > lat. trichia (mit Antepaenultima-Betonung) > it. treccia / frz. tresse nicht. Wenn es sich um eine unbelegte Rekonstruktionsform handeln würde, müsste man sich damit zufrieden geben. Was die Bedeutung anbelangt, würde man dann den romanischen Befund zurückprojizieren: Primär wäre die häufigste Bedeutung in der Romania, nämlich ‘Zopf’, und daraus hätte sich schließlich immer wieder die Sekundärbedeutung ‘Seil’ bilden können. 2. Zur Bedeutungsgeschichte von griechisch τριχία Im vorliegenden Fall haben wir es jedoch nicht mit reinen Rekonstruktionen zu tun, sondern wir haben antike Belege, deren Bedeutungsgeschichte erforscht werden kann. Giovanni Alessio hat dankenswerterweise auf den Papyrusbeleg für τριχία im 1. Jh. n. Chr. hingewiesen, aber er hat ihn sich offenbar nicht selbst angesehen, sondern zitiert nur nach LSJ 1825, wo man liest: “τριχία, ἡ, rope, PLond. 1. 131*. 2, al. (i A. D.)”. Bei der angeführten Stelle handelt es sich um die Rekto-Seite von P. Lond. I 131 (S. 166–188) und I *131 (S. 189–191) – übrigens ein sehr berühmter Papyrus, weil er auf der Verso-Seite die Schrift des Aristoteles über die Verfassung Athens enthält. Die andere, uns hier interessierende Seite “consists of the farm accounts of a bailiff, named Didymos son of Aspasius, prepared for his employer, Epimachus son of Polydeuces, who owned an estate in the nome of Hermopolis in the 10th and 11th year of the reign of Vespasian (78–79 A. D.)” (S. 166). Die Erstausgabe dieses Dokuments im Jahre 1893 gehört noch in die Pionierzeit der Papyrologie. Es werden also nicht, wie es heutigem Standard entspräche, die Auflösung aller Abkürzungen, eine Übersetzung und ein Kommentar gegeben, sondern es wird nur der Schriftbestand transkribiert. Für P. Lond. I 131 gibt es immerhin eine Neuausgabe (SB VIII 9699), aber P. Lond. I *131 muss weiterhin in der Erstausgabe benutzt werden. Das Wort τριχία kommt dort fünfmal vor, davon einmal in ausgeschriebener Form (Z. 2) und viermal in der abgekürzten Form τριχ. Im Folgenden seien die einschägigen Zeilen aus der nach Tagen geordneten Liste der Aufwendungen ztiert: SB VIII 9699, Z. 609–610: θ´ Κάστορι Πανσενλαύλ(ου) … τιµῆ(ς) τριχ(ιῶν) | σεβενίνω(ν) δύο εἰς τὴν [µηχα(νὴν)] (δραχµαὶ) ε´. P. Lond. I *131 (S. 189), Z. 1–2: κγ´ σεβενίο(υ) ὁµοίω(ς) εἰς τριχ(ίας) ἐργ(άτῃ) α´ ὀβ(ολοὶ) ς´ χ(αλκοῦ) (δραχµὴ) α´ κδ´ σεβενίο(υ) ὁµοίω(ς) εἰς τὰς (αὐτὰς) τριχίας ἐργ(άταις) γ´ χ(αλκοῦ) (δραχµαὶ) γ´.
9. (des Monats). Für Kastor, den Sohn des Pansenlaulos ... als Preis für zwei Palmbast-Trichiai für die Wassermaschiene: fünf Drachmen. 23. (des Monats). Palmbast gleichermaßen für Trichiai für einen Arbeiter: sechs Obolen = eine Kupferdrachme. 24. (des Monats). Palmbast gleichermaßen für dieselben Trichiai für drei Arbeiter: drei Kupferdrachmen.
28. τριχία / trichia
P. Lond. I *131 (S. 189), Z. 10–12: [κη´] [µισ]θ(ὸς) ἐργάτο(υ) Ἑρµίο(υ) ὄντος περὶ τὰς τριχ(ίας) … χ(αλκοῦ) (δραχµὴ) α´. κ[θ´] [Ἀµ]βρύω(ν) κ(αὶ) Φῖβις περὶ τὸ ὄργ(ανον) χαλῶντες τὰς τριχ(ίας).
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28. (des Monats). Lohn für den Arbeiter Hermias, der mit den Trichiae beschäftigt ist: eine Kupferdrachme. 29. (des Monats). Ambryon und Phibis, die bei der Wassermaschine die Trichiai loslassen.
In der Erstausgabe wird nichts zur Bedeutung von τριχία gesagt. Erst zehn Jahre später erfolgt das erste Eingehen auf das Wort. Wilhelm Crönert schreibt (1903, 196): Quomodo foramina machinae aquariae sint resarta, describitur. Qua in re adhibita est materies pilosa e palmulae cortice (τὸ σεβένιον, unde adi. σεβένινος) petita. Haec opera τριχίασις appellata esse videtur. Nam sic sine dubio scribendum (εἰς τὰς τριχιάσεις), cum vocis ἡ τριχία explicatio multo sit difficilior. Alii capillis caprinis sunt usi, cf. Geopon. XVIII 9, 3 ἡ δὲ θρὶξ (τῶν αἰγῶν) ἀναγκαία πρός τε σχοίνους καὶ σάκκους [---] καὶ εἰς ναυτικὰς ὑπηρεσίας. Der Gedanke, τριχίασις statt τριχία zu lesen, hat wenig für sich, denn τριχίασις ist zwar nicht selten belegt, aber es ist ein Medizinerwort, das eine Krankheit der Augenlider (Irritation der Augen durch die Wimpernhaare), eine Entzündung der Harnröhre (haarförmige Substanzen im Urin), beim Stillen auftretende Beschwerden (haarfeine Risse der Brustwarze) und einen feinen Knochenriss bezeichnet (LSJ 1825). Für eine Bedeutung ‘Palmbast’ gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt. H. van Herwerden (1904, 219) lehnte den Vorschlag von W. Crönert ab, weil ja P. Lond. I, *131, 2 τριχία in ausgeschriebener Form steht. “Utut est, significatur restauratio foraminum machinae aquariae, qua in re adhibebatur pilosa materies e palmulae cortice (σεβένιον) petita”. Damit wird also für τριχία die Bedeutung ‘Palmbast’ postuliert, wobei die Schwäche dieser Erklärung darin zu sehen ist, dass σεβένιον1 selbst ‘palm-fibre’ (LSJ 1588) bedeutet. Die wohl richtige Bedeutungsangabe für τριχία stammt vom Altmeister der Papyrologie: Friedrich Preisigke (1927, II 619) hat als Lemma τριχία ‘Strick’ und gibt für P. Lond. I, *131, 2 σεβενίο(υ) ὁµοίω(ς) εἰς τὰς (αὐτὰς) τριχίας die Deutung ‘Palmbast zur Anfertigung von Stricken’. Inzwischen gibt es weitere Papyrus- und Ostrakonbelege für τριχία, und auch dort passt ‘Strick’ bestens, wenn der Zusammenhang ein Urteil erlaubt. P. Aberd. 41 f, 4-6 (entweder auf 178/179 oder auf 210/211 zu datieren) heißt es: ἐξά̣γ(ων) ὄνῳ ἑν̣ὶ̣ σ̣άκκ̣(ους) σ̣ε̣|βεν(ίου) εἰς τριχ[ί]α[ς ….] ἕξ ‘er exportiert auf einem Esel sechs Säcke Palmbast für Stricke’. Hier kann σ̣ε̣βεν(ίου) nur als Umschreibung _________ 1 Das Wort ist ägyptischer Herkunft: In koptischer Gestalt lautet es ϣⲛⲃⲛⲛⲉ, ϣⲉ(ⲛ)ⲃⲉⲛⲓ, was als ‘Palmfasern’ übersetzt zu werden pflegt und wörtlich ‘Palm-Haar’ (ϣⲛ
bzw. ϣⲉⲛ ‘Haar’, ⲃⲛⲛⲉ bzw. ⲃⲉⲛⲓ ‘Dattelpalme’) bedeutet, vgl. Westendorf 1965-1977, 25.
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des konkreten Inhalts zum vorangehenden Substantiv σ̣άκκ̣(ους) gezogen werden; es gehört auf keinen Fall syntaktisch zu εἰς τριχ[ί]α[ς]. Ein weiterer Beleg für τριχία findet sich O. Bodl. 319, 7 (2. Jh.), wo man (mit der Verbesserung BL 3, 268) lesen muss: τριχ[(ίας)] α µ. Es bleibt festzuhalten, dass die Papyri aus Ägypten τριχία ‘Strick’ gern in Zusammenhang mit σεβένιον ‘Palmbast’ zu nennen pflegen, mit anderen Worten, es besteht Grund zur Annahme, dass es sich um einen Fachausdruck für ‘Palmbaststricke’ handelt. Wie konnte es zu dieser Bedeutung kommen? Man verbaut sich das Verständnis, wenn man annimmt, es liege als ursprünglicher Sinn so etwas wie ‘zu einem Zopf geflochtenes Haar’ zugrunde. Der normale griechische Ausdruck für ‘geflochtenes Haar’ ist πλόκαµος, daneben kommen auch πλεκτάνη und πλόκος vor, die alle zum Verb πλέκειν ‘flechten’ gehören. Die Vorstellung der Ähnlichkeit zwischen einem gedrehten Seil und einem geflochtenen Zopf dürfte primär mit dem bei uns geläufigen Typ von Zöpfen zusammenhängen, bei dem das geflochtene Haar lang und frei über den Rücken hängt wie ein Seil. Diese Art von Zopf kannte die Antike aber überhaupt nicht: “Zöpfe sind erstmals gegen Ende der Völkerwanderungszeit belegt” (Meyers Enzyklopädisches Lexikon 25, 771). In der Antike wurde das geflochtene Haar vielmehr zu Linien, Büscheln oder Knoten zusammengefasst, die mehr oder weniger eng am Kopf anlagen (RE VII 2, 2109– 2150, Artikel: “Haartracht und Haarschmuck”). Man muss τριχία sicherlich in Zusammenhang mit den anderen Ableitungen von θρίξ beurteilen. Überall sonst liegt die semantische Gemeinsamkeit in der dünnen, feinen, faserigen oder langen Beschaffenheit des Bezeichneten: θρίσσα, τριχίς, τριχίας usw. ‘Anchovis’ (wegen der haardünnen Gräten), τριχῖτις ‘Alaun’ (nach den Sulfatstreifen), τριχισµός ‘haardünne Spalte eines Knochens’. Das wird auch bei τριχία so sein: Die faserig-haarige Struktur des Palmbastes ist es, die dem daraus gefertigten Strick den Namen gibt. Dabei muss die Tatsache, dass im Ägyptischen der Palmbast als ‘Palmhaar’ bezeichnet wurde, nicht unbedingt eine Rolle spielen, aber möglich wäre es immerhin. Aus der Literatursprache blieb τριχία ‘Palmbaststrick’ auf jeden Fall ausgeschlossen. Trotz der insgesamt reichen griechischen Texttradition scheint es keine mittelalterlichen Belege zu geben – freilich gibt es ja auch in Griechenland keinen Palmbast. Dennoch kann das Wort jedoch nicht einfach untergegangen sein, denn in der heutigen δηµοτική gibt es ein völlig regelmäßig weiterentwickeltes τριχιά ‘Strick’, allerdings vor allem ‘Strick, der aus Pferde- oder Ziegenhaaren gefertigt ist’ (Μέγα Λεξικόν 9, 7298: “τριχιά· σχοινίον ἐκ ἱππείων ἢ αἰγείων τριχῶν”), was wohl mit einer volkssprachlichen Resemantisierung zusammenhängt, denn natürlich ist jedem Griechen immer klar gewesen, dass τριχία in Zusammenhang mit τρίχα ‘Haar’, der neugriechischen Entsprechung zu altgriechisch θρίξ, zu sehen ist.
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3. trichia im Lateinischen Soweit zum griechischen Befund; wenden wir uns jetzt dem Lateinischen zu! Aus Palmbast hergestellte Seile waren als Takelwerk in der Seefahrt üblich (P. Lond. III, 1164 h, 8–10), und es ist ohne Weiteres denkbar, dass die Römer, die ja notorisch schlechte Seeleute waren, einen einschlägigen griechischen Fachterminus von griechischen Matrosen übernommen hätten. Die bisherige Forschung geht allerdings davon aus, dass in der Antike ein lateinisches trichia (mit Antepaenultima-Betonung, vgl. Leumann 1977, 244 = § 241,1) nicht bezeugt ist. Verwunderlich ist das allerdings nicht, denn auch im Griechischen hätten wir keinen Beleg für τριχία, wenn es nur literarische Quellen und keine alltagssprachlichen Papyri gäbe. Es sieht aber doch so aus, als gäbe es einen lateinischen Beleg. In der von Euagrios von Antiochia im 4. Jh. n. Chr. angefertigten lateinischen Version der von Athanasios verfassten Lebensbeschreibung des Vaters des ägyptischen Mönchtums Antonios (βίος τοῦ ἁγίου Ἀντωνίου) ist davon die Rede, dass dieser Körbe flocht. Leider gibt es keine kritische Ausgabe des lateinischen Textes, so dass man sich mit dem ziemlich unzuverlässigen Abdruck im 26. Band der von P. J. Migne herausgegebenen Patrologia Graeca begnügen muss. Dort beginnt das Kapitel 53 folgendermaßen (S. 920): non multi post haec fluxerunt dies, et alia oritur cum eodem hoste certatio. operante illo (nam semper, ut uenientibus pro his, quae sibi detulerant, aliquod munusculum rependeret, laborabat) trahit quidam sportelae, quam texebat, tricinum, siue funiculum. Zu tricinum, für das es in dieser Form keinen weiteren Beleg gibt2 und das also wohl eine Korruptel darstellt, gibt es in der Patrologia Graeca folgende Anmerkung: “Alii manuscripti trichiam, alii triciam, alii triceam habent”. Das ist nun der bisher fehlende antike Beleg für lat. trichia ‘Seil’. Die Bedeutung ist im Text durch das beigefügte funiculum klar; der griechische Urtext hat hier εἷλκε τὴν σειρὰν τοῦ ἔργου, die andere lateinische Übersetzung hat trahebat plectam unde operabatur3. Das Körbchen, an dem Antonios arbeitete, bestand aus Palmbast, und σειρά, plecta und trichia bezeichnete also eine ‘geflochtene Schnur’ oder eine ‘Kordel’. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass trichia, das ja als ‘Kordel’ Sinn ergibt und einen Rückhalt in den griechischen Papyrusbelegen hat, der ursprüngliche Wortlaut des Textes gewesen sein muss. Der umgekehrte Weg ist kaum vorstellbar, denn selbst wenn man die an sich unwahrscheinliche Ansicht vertreten sollte, trichia wäre im Mittelalter an die Stelle des unverständlichen _________ 2
Verzeichnet ist das Wort (mit einem Fragezeichen) nur von A. Blaise 1954, 829. Das Adjektiv trichinus ‘haardünn’ kommt ja hier nicht in Frage. 3 Bartelink / Mohrmann 1974, 106. Vgl. auch den Kommentar zur Stelle (S. 239): “plectam (σειρά): cfr. 3 Reg. 7, 29 (variante plectulas). L’uso di tessere foglie di palma è ricordato sovente nella letteratura monastica. Cfr. Cassiano, Collationes XVIII 15: Codicem suum inter eius plectas, quas de palmarum foliis solebat intexere, latenter abscondit ‘Nascose di soppiatto il suo scritto tra le corde che questi soleva trecciare con foglie di palma’”.
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tricinum gesetzt worden, wäre es doch nicht erklärbar, wie tricinum eine Entsprechung zu σειρά oder funiculus hätte sein können. Die deutsche Übersetzung des lateinischen Textes muss also lauten: Nicht viele Tage vergingen danach, und es entstand ein anderes Messen mit demselben Feind. Während er arbeitete (denn er war immer tätig, damit er seinen Besuchern für das, was sie ihm brachten, eine kleine Gegengabe überreichen konnte), zog jemand aus dem Korb, den er anfertigte, eine Kordel oder einen Faden heraus. Halten wir als Ergebnis für die Antike fest: Es gab ein griechisches Fachwort τριχία ‘Seil aus Palmbast’, das seit dem 1. Jh. n. Chr. mehrfach, wenn auch nicht gerade häufig, in auf Papyrus erhaltenen Dokumenten aus Ägypten belegt ist und das, wie man aus neugriechisch τριχιά erschließen kann, seither immer existiert haben muss, wenn es auch infolge der Nichtzugehörigkeit zur Literatursprache keine Belege aus der dazwischen liegenden Epoche gibt. Im lateinischen Bereich gibt es einen Beleg für trichia ‘Kordel’ in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts in einem Text, der die Verhältnisse in Ägypten beschreibt und von jemandem stammt, der wahrscheinlich griechischer Muttersprache war. Von einer Verwendung des Wortes im Sinne von ‘Zopf’ als Haartracht fehlt jede Spur. 4. trichia im romanischen Mittelalter Kommen wir nun zum Mittelalter! Die von Giovanni Alessio (1953, 207) angeführten lateinischen Belege aus in Italien beheimateten Texten setzen 1145 in Venedig ein, wobei zunächst die Bedeutung ‘Seil, Kordel, Troddel’ vorliegt, die τριχία bzw. trichia auch in der Antike hatte. Erst im 14. Jahrhundert scheint im Mittellatein Italiens ‘geflochtenes Haar, Zopf’ aufzutreten. In volkssprachlichen Texten kommt treccia in der Bedeutung ‘Strick’ bei Piero de’ Crescenzi vor 1320 vor, und Brunetto Latini (vor 1294) weist die Variante trezze auf; in der Bedeutung ‘geflochtenes Haar’ gibt es treccia aber schon etwas früher, nämlich bei Autoren der Scuola Siciliana (Giacomo da Lentini und Giacomino Pugliese) vor 1250. Für Frankreich muss man sich, was mittellateinische Belege anbelangt, mit den ziemlich zufälligen Angaben von Du Cange (8, Nyort 1887, 178) und Niermeyer (2002, 1362) begnügen. Danach stammt der Erstbeleg aus dem Jahre 1080/1082: In einem Dokument aus Angers taucht tricia in der Bedeutung ‘Zopf’ auf. Alle anderen lateinischen Belege (in den Schreibformen tric(c)ia, trec(c)ia, trica, treza, trecces) stammen erst aus dem 13. oder 14. Jahrhundert und bedeuten ‘Zopf’. Im Altfranzösischen kommt der erste Beleg für ‘Zopf’ aus dem Jahre 1155; die häufigsten Schreibweisen sind trece, tresce, tresse, treche, tresche. In der Bedeutung ‘Band, Riemen, Kordel’ liegt in dem vor 1316 geschriebenen Roman du comte d’Anjou von Jehan Maillart einmal die Form treche vor, und im 14. Jahrhundert findet man dafür trece und traiche. Erst seit 1561 findet man tresse (FEW 13 [2], 262), das möglicherweise aus provenzalisch tressa entlehnt
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ist, das im 14. und 15. Jahrhundert vor allem für ‘Band, Besatz’ verwendet wird und anscheinend überhaupt nur zweimal für ‘Zopf’ vorkommt (Levy 8, 448). Im modernen Katalanischen heißt ‘Zopf’ trena < lat. trīna, doch im Mittelalter gab es den uns hier interessierenden Worttyp treça, vgl. die Ausführungen von Joan Coromines, DECLC 8, 755: En canvi treça allà és molt freqüent en la llengua medieval, des del s. XIII: el subst., aplicat als cabells, i el derivat cabello treçado. Com és sabut és aquesta la denominació de la trena en fr. tresse (on es troba trece, amb la c etimològica, des del s. XII); també apareix tressa en llengua d’oc (genuí?); i treccia és la denominació general de la trena de cabells en italià des dels orígens literaris (Petrarca, Boccaccio, Villani). En cast. modern, amb l’encreuament dels dos sinònims treça i trena, ha resultat trença (avui escrit trenza), que ja apareix en el 2.n quart del s. XIV; d’això sembla deduir-se que trena també hi havia tingut el sentit de trena de cabells; el derivat trençar hi apareix antigament molt sovint canviat en trançar, i d’aquest deu resultar el port. trança, nom de la trena en tots els sentits, en aquesta llengua. [---] No ens toca ací aclarir l’etimologia del tipus fr.-cast.it. tresse/treccia/treça, que és un problema obscur (en tot cas element romànic antic). [---] De fet, però, aquest altre tipus no restà estrany a la nostra llengua: té l’aire de ser-hi manllevat del francès (com altres termes de moda i femenins), si bé no ho podem assegurar del tot, donada l’obscuritat de l’etimologia. Wie im Katalanischen, so stammt auch im Spanischen der Erstbeleg aus dem 13. Jahrhundert: 1280 ist treça im Sinne von ‘geflochtenes Haar’ belegt. Es scheint, soweit man das angesichts des beklagenswerten Zustandes der historischen Lexikographie des Spanischen sagen kann, keine Belege für eine andere Bedeutung zu geben. Zur Frage, ob das Wort im Spanischen einheimisch ist oder nicht, schreibt Joan Corominas, DCECH 5, 620: Queda la cuestión de si el cast. ant. treça es palabra autóctona o tomada del francés; la ç sorda no se conciliaría según la fonética castellana con una base *TRICIA, y si éste fuese el tipo etimológico el préstamo francés se haría evidente [---]; de todos modos este préstamo me parece probable, dada la facilidad con que el cast. trença y el port. trança cedieron a la contaminación de otras palabras (trena y trançar). 5. Der semantische Übergang von ‘Seil’ zu ‘Zopf’ Es bleibt die Frage, wie der semantische Übergang von ‘Seil’ zu ‘Zopf’ zu erklären ist. Die ältesten Belege aus Italien stammen aus Venedig, und dort findet man im 12. Jahrhundert ausschließlich ‘Strick’, was auch in den frühesten toskanischen Zeugnissen aus dem 13. Jahrhundert der Fall ist. Auch im Altfranzösischen und Altprovenzalischen kommt ‘Kordel, Band, Besatz’ vor, allerdings als weniger frequente Bedeutung, denn vom Ende des 12. Jahrhunderts an schiebt sich massiv
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ein anderer Sinn, nämlich ‘Zopf’, in den Vordergrund. Auf der iberischen Halbinsel, wo die Belege erst ab der Mitte des 13. Jahrhunderts einsetzen, findet man ausschließlich ‘Zopf’. Wie kam es nun zu dieser neuen Bedeutung? Wenn wir, was wohl unausweichlich ist, davon ausgehen, dass sich die Haartrachtbezeichnung ‘Zopf’ aus älterem ‘Seil, Kordel’ entwickelt hat, wobei die Ähnlichkeit eines geflochtenen Seiles mit dem geflochtenen Haar den Ausschlag gab, dann musste es sachlich die Voraussetzung geben, dass die Mode frei über den Rücken hängende lange Zöpfe zuließ, und sprachlich ist es zumindest wahrscheinlich, dass die vorauszusetzende Bedeutungsübertragung von ‘Seil’ zu ‘Zopf’ nicht spontan an mehreren Orten erfolgte, sondern dass wir es mit einem einzigen Ausstrahlungszentrum zu tun haben. Zunächst zur sachlichen Seite! “Ein im Nacken einsetzender Zopf wurde im 12./13. Jh. in Italien, Frankreich und Deutschland getragen” (Meyers Enzyklopädisches Lexikon 25, 771), und anscheinend handelte es sich dabei um eine modische Neuerung (Rathbone Goddard 1927, 215–218), denn ursprünglich war es üblich gewesen, dass die Frauen das geflochtene Haar in einem sogenannten Schopfknoten am Hinterkopf zusammennahmen (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 2, 346). Dieser Befund passt bestens dazu, dass die Nachfolgeformen von trichia vom Ende des 12. Jahrhunderts an ‘Zopf’ bedeuten konnten: Eine neue Haartracht wird mit einem Wort bezeichnet, das eigentlich etwas meinte, das nur eine entfernte Ähnlichkeit hat. Ganz selten ist das ja nicht: Man denke an deutsch Pferdeschwanz4, englisch pig-tail ‘Zopf’, rumänisch coadă ‘Zopf’. Sprachlich muss man von der Vorstellung Abschied nehmen, τριχία / trichia hätte schon in der Antike ‘Zopf’ bedeutet, wie es Max Pfister (FEW 13 [2], 264) annahm, der glaubte, dass “semantisch vom Stamm tric- ‘Haar’ auszugehen” sei und dass “der Übergang von ‘geflochtenem Haar’ zu ‘Seil’ spontan überall möglich” erscheine. Die Bedeutung ‘geflochtenes Haar, Zopf’ hat τριχία / trichia jedoch niemals gehabt, sondern es hieß nur ‘aus Palmbast hergestelltes Seil, Kordel’. Die Annahme, ‘Zopf’ sei der primäre und ‘Seil’ der sekundäre Sinn ist eine Schreibtischkonstruktion der modernen Romanisten, nicht etwa der klassischen Philologen, und das in τριχία mitklingende θρίξ ließ die Griechen nicht etwa an ein Flechtwerk aus Haaren, sondern an das feine Ausgangsmaterial für ein Seil denken; die Römer empfanden sowieso keine Verbindung zwischen trichia und irgendeinem Wort für Haare. Wo liegt nun das sprachliche Epizentrum für die mittelalterliche Verbreitung der neuen Bedeutung ‘Zopf’? Das Wort trichia blieb in seiner antiken Grundbedeutung ‘Seil’ in der typischen Zentralromania, also im französischen, provenzalischen und italienischen Sprachgebiet, erhalten. Die Bedeutungsübertragung von _________ 4
Küpper 1971, II 243: “Pferdeschwanzfrisur f. Haartracht junger Mädchen, die die Haare am Hinterkopf zusammenbinden. Dadurch stehen sie vom Hinterkopf ab und wippen wie ein Pferdeschwanz. Um 1949/50 über englische Vermittlung aus den USA eingeführt. Stammt aus engl. Horsetail”.
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‘Seil’ zu ‘Zopf’ scheint zunächst gegen Ende des 11. Jahrhunderts im Altfranzösischen erfolgt zu sein, dann findet sie sich bei Dichtern der Scuola Siciliana und etwas später im Altprovenzalischen und Altkatalanischen. Im spanischen und portugiesischen Sprachgebiet spricht die lautliche Entwicklung für eine Übernahme aus Frankreich. Damit ist ein nicht unüblicher Entwicklungsgang abgesteckt: Der früheste Beleg für die neue Bedeutung stammt aus Frankreich, so dass folglich die übliche Richtung der mittelalterlichen Kulturimpulse, also von Frankreich nach Italien und nicht etwa umgekehrt (Rohlfs 1971, 198), eingehalten ist; für die iberoromanischen Sprachen und für das Englische bestätigt sich die normale Ausrichtung auf die Galloromania. Mit anderen Worten: Die neue Mode der langen, über den Rücken herunterhängenden Zöpfe kam im 11. Jahrhundert in Nordfrankreich auf und verwendete Formen, die zum lateinischen Erbwort trichia ‘Seil’ gehörten, für diese neue Haartracht; die anderen romanischen Länder schlossen sich im 12. und 13. Jahrhundert der Mode und ihrer Terminologie an. Diese Darstellung der Wortgeschichte von τριχία und trichia würde freilich ganz anders aussehen, wenn es die – wenigen – antiken Belege nicht gäbe und wenn man sich ganz auf die von den Befunden in den romanischen Sprachen ausgehenden Rekonstruktionen verlassen müsste. Der Hochmut der Romanistik, allein auf Grund ihrer Rekonstruktionen ein zutreffendes Bild der gemeinsamen sprachlichen Vorstufe der heutigen romanischen Einzelsprachen entwerfen zu können, ist genauso wenig zielführend wie die Beschränkung der Latinistik auf die Gegebenheiten, die sich in literarischen Quellen finden. Der Wortschatz der subliterarischen Alltagssprache, der manchmal in den Papyri viel deutlicher als in den doch ziemlich monumentalen Inschriften zu Tage tritt, kann manchmal helfen, alte Probleme der Romanistik zu lösen.
29. φοσσᾶτον / fossatum Abstract: Latin fossatum, derived from fossa ‘ditch’, meant ‘moat’, but in Late Antiquity it developped into ‘moated camp’. In Romance languages, ‘ditch’ and ‘moat’ coexist; Old Spanish fo(n)sado and Old Portuguese fossado have preserved ‘camp’ and developped a new sense, ‘army’ (= soldiers stationed in a camp). Greek φοσσᾶτον has the same meaning, but emerged independently of the Ibero-Romance languages. A separate semantic development is presented by Rumanian (f)sat and Albanian fshat ‘village’; the starting-point is the defensive moat around villages threatened by looters. Keywords: fossatum, moat, camp, army, village
1. fossātum im Lateinischen Zu fossa ‘Graben’ wurde in der lateinischen Umgangssprache, der allgemeinen Tendenz zur Wortverlängerung durch Suffigierung ohne Bedeutungsveränderung folgend1, fossātum neu gebildet2. Bei den Gromatikern wird fossātum gleichgesetzt mit rīuus (p. 335, 12; 360, 6), in den zweisprachigen Glossaren wird es mit τάφρος übersetzt3. Eindeutig belegen diese Fälle die Bedeutung ‘Graben’, so dass also die suffigierte Form fossātum desselbe wie das Simplex fossa bedeutet. Die einfache Bedeutung ‘Graben’ ist allerdings weder am frühesten noch häufigsten belegt. Meistens liegt nämlich bei fossātum ein militärischer Nebensinn vor: ‘Festungsgraben’. _________ 1 Herman 1975, 104: “Dés éléments brefs sont facilement remplacés par des éléments plus longs, plus corpulents”; Hofmann/Szantyr 1965, 758: “Auch die zwei- und dreisilbigen Wörter werden oft als lautlich zu schwach empfunden und durch längere Bildungen ersetzt”. 2 Im ThLL VI 1213–1214 wird fossātum und seine maskuline Nebenform fossātus (sicher zu erkennen nur Grom. p. 335, 12; 347, 7) als Verbalableitung zu fossāre behandelt. Dieses Verb stellt jedoch lediglich eine Konjektur dar, die – freilich mit einiger Wahrscheinlichkeit – in einem Ennius-Vers vorgenommen wurde (ann. 571 Vahlen). Der Vers ist bei Varro ling. Lat. 7, 100 überliefert, wo die Handschriften bieten: “apud Ennium: decretum est stare corpora telis. hoc uerbum Ennii dictum a fodiendo, a quo fossa“. Das ist kein Hexameter, und die anschließende Erklärung hängt vollkommen in der Luft, so dass Bergk konjizierte: decretum est stare <et fossari> corpora telis. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass diese Konjektur richtig ist, so handelt es sich nur um ein ennianisches ἅπαξ εἰρηµένον, das offenbar nicht weitergelebt hat. Man wird unter diesen Umständen eher davon ausgehen, dass fossātum von fossa aus gebildet wurde, so wie corātus eine Ersatzform für cor ‘Herz’ ist (Leumann 1977, 333 = § 299, 1a). 3 CGL 2, 452, 13 (τάφρος fossa, saepes, fossatum); 3, 209, 7 (tafros fossatum); 199, 45/46 (fossatum tafos). Auch griechischen Autoren ist diese Grundbedeutung geläufig. Hesych hat einen Eintrag φοσσᾶτον· ὄρυγµα, und Prokop von Gaza (±460–530 n. Chr.) schreibt in seinem Kommentar zum ersten Buch der Könige (PG 87, 1108A): παρὰ µὲν Ἕλλησι τάφρον, παρὰ δὲ Ῥωµαίοις φοσσᾶτον.
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Der früheste Beleg dafür findet sich bei dem Juristen Herennius Modestinus, einem Schüler Ulpians aus der ersten Hälfte des 3. Jh. n. Chr., der im Zusammenhang von Strafen für Desertion u. ä. schreibt (Dig. 49, 16, 3, 4): is, qui exploratione emanet hostibus insistentibus aut qui a fossato recedit, capite puniendus est.
Wer von einem Wachposten in Gegenwart der Feinde weggeht oder wer vom Befestigungsgraben weicht, ist mit dem Tode zu bestrafen.
Hier ist für fossātum die militärische Bedeutung ‘Befestigungsgraben’ ganz klar. Sie wird auch in einem Scholion zu den Adelphoe des Terenz deutlich ausgedrückt (schol. Bemb. ad v. 302): uallata [---] dicimus terrae aggerem [---] hisque fossatis ciuitates uel castra wir tutamur contra obsidiones hostium.
Wall nennen wir eine Erdaufschüttung, und mit Befestigungsgräben schützen Städte und Lager gegen Belagerungen durch die Feinde.
Die Angabe dieses Scholions, dass sowohl Befestigungsgräben um Städte wie auch um Militärlager fossātum genannt wurden, findet sich in den literarischen Belegen bestätigt. So geht es bei Vegetius, der um 400 n. Chr. schrieb, um den Stadtgraben (de re milit. 4, 16, 1): musculos dicunt minores machinas, quibus protecti bellatores sudatum auferunt; ciuitatis fossatum etiam adportatis lapidibus, lignis ac terra non solum conplent, sed etiam solidant, ut turres ambulatoriae sine inpedimento iungantur ad muros.
Miniertunnel nennen sie die kleineren Belagerungsmaschinen, unter deren Schutz die Kämpfer den Erdwall abtragen. Den Befestigungsgraben der Stadt füllen sie durch herbeigebachte Steine, durch Holz und durch Erde nicht nur auf, sondern befestigen ihn sogar, so dass fahrbare Türme ohne Hindernis an die Mauern herangeführt werden können.
So wie hier fossātum den Stadtgraben bezeichnet, meint dasselbe Wort in der wohl zu Beginn des 4. Jh. n. Chr. abgefassten Vita des Kaisers Gordian, die unter dem Namen des Iulius Capitolinus läuft, den Lagergraben (SHA 20, 28, 3): castra omnia et fossatorum circumibant.
Sie gingen um das ganze Lager und seine Befestigungsgräben herum.
Gehörte fossātum statt fossa im Sinne von ‘Graben’ noch einigermaßen zum literarischen Stil der Spätantike, so ist die Verwendung von fossātum zur Bezeichnung dessen, was vom Graben umschlossen ist (ThLL VI 1, 1214, 34: “pars pro toto, i. q. castra, aula regia”), zweifellos ein Kennzeichen der Substandard-Sprache. Der früheste Beleg für die neue Bedeutung liegt in der Vetus-Latina-Version
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des zweiten Makkabäer-Buches (De Bruyne/Sodar 1932) vor, wo es heißt (13, 15)4: Aristidem [---] misit per noctem ad agmen et fossatum Antiochi regis.
(Judas) sandte Aristides in der Nacht zum Heer und zum Lager des Königs Antiochos.
Die Septuaginta bietet für diese Stelle folgendes griechische Original, das hier zusammen mit Luthers Übersetzung angeführt sein soll: ἐπιβαλὼν νύκτωρ ἐπὶ τὴν βασιλικὴν αὐλὴν τὴν παρεµβολὴν ἀνεῖλεν εἰς ἄνδρας δισχιλίους (varia lectio: τετρακισχιλίους).
Danach machte er sich bei Nacht auf mit den besten Kriegsknechten und fiel dem König in sein Lager und erschlug bei viertausend Mann.
Völlig eindeutig liegt die Bedeutung ‘königliches Lager’ im Reisebericht des Jerusalempilgers Theodosius vor, der um 530 n. Chr. verfasst wurde (Itin. Hierosol. 21, p. 149, 10 Geyer = CCSL 175, p. 124): fabricauit Anastasius in Mesopotamia prouincia ciuitatem, quae ciuitas Dara dicitur; tenet in longitudinem milia III propter Persos; quando in prouincia imperatoris ad praedandum ueniebant, ubi fossato figebant, quia aquae nullatenus inueniuntur nisi ibi; in qua ciuitate fluuius exit et ad caput ciuitatis mergit sub terra, quia ipse fluuius omnis muro cinctus est.
Anastasius baute in der Provinz Mesopotamia eine Stadt namens Dara, die sich wegen der Perser drei Meilen in die Länge erstreckt: Wenn sie in die Provinz des Kaisers zum Beutemachen kamen, stellten sie dort ihr Lager auf, weil nur dort Wasser zu finden ist. In der Stadt entspringt ein Fluss und verschwindet am Ende der Stadt unter der Erde, so dass der ganze Fluss von der Mauer eingeschlossen ist.
Im Mittellateinischen blieb die Bedeutung ‘Lager’ für fossātum geläufig, neben der Grundbedeutung ‘Graben, Kanal, Schützengraben, Burggraben’ und neben ‘Deich, Damm, Schutzwall’ (Niermeyer 2002, 588). Im 9. Jahrhundert liest man im Liber Pontificalis (I, p. 450 Duchesne): Franci [---] cunctum fossatum Langobardorum post peractam cedem abstulerunt.
Die Franken vernichteten das ganze Lager der Langobarden, nachdem die Schlacht beendet war.
Ob das Lager auf Dauer angelegt war5 oder nur eine momentane militärische Stellung darstellte6, spielt hierbei keine Rolle. _________ 4 Die Vulgata bietet für diese Stelle folgenden Wortlaut: “nocte adgressus aulam regiam in castris interfecit uiros quattuor milia”. 5 Lothringer Dokument von 1112: “qui infra ambitum praedicti fossati uestri morabitur” (A. Calmet, Histoire ecclésiastique et civile de Lorraine 1, Nancy 1728, 533). 6 Consularia Italica zum Jahre 490 (Chron. min. 1, p. 317 Mommsen): “Theudoricus rex Gothorum ingressus est fossatum ponte Sontis aduersus Odoachar regem”.
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2. Nachfolgeformen von fossātum in den romanischen Sprachen In den romanischen Sprachen blieb fossātum als Appellativum in erster Linie in der Grundbedeutung ‘Graben’ erhalten, wobei die zivile Bedeutung ‘Wassergraben, Grenzgraben zwischen Äckern’ und der militärische Sinn ‘Verteidigungsgraben einer Stadt oder eines Lagers’ gleich gut belegt und auch nicht immer scharf voneinander zu trennen sind: aromunisch fusáte ‘Befestigungsgraben’ (Anfang des 20. Jh., Papahagi 577), dalmatisch *fosát ‘Stadtgraben’7, it. fossato ‘Wassergraben’ (1281, DELI 606), bündnerromanisch fussà (untereng.), fussau (surs.) ‘Graben, Wehrgraben, Grenzgraben; Grube; Mittelgang im Stall’ (1562 [Bifrun], DRG 6, 808–809), französisch fossé ‘Graben, Wassergraben’ (1075 [Rolandslied], TLF 8, 1126–1127), provenzalisch fos(s)at ‘Graben’ (12. Jh. [Girart de Roussillon], Bartsch 40), katalanisch fossat ‘Graben, Festungsgraben’ (13. Jh. [Jaume I], DECLC 4, 148), spanisch fosado ‘Festungsgraben, Grube’ (15. Jh. [Gómez Manrique], DME 2, 1167), portugiesisch fossado ‘Festungsgraben, Grube’ (16. Jh. [Góis], DELP 3, 81). In diesen Zusammenhang gehört auch die Bedeutungsverschiebung zu ‘Erdwall’ (“von der Vertiefung übertragen auf den aufgeworfenen, rings um die Bauernhöfe sich ziehenden Wall”, FEW 3, 741), die in den französischen Mundarten der Normandie für fossé seit dem 16. Jh. vorliegt. Diese Bedeutung kommt auch im Mittellateinischen vor, allerdings nur bei Autoren aus Frankreich oder aus seinem Umfeld, nicht bei Schriftstellern aus Südeuropa. So heißt es etwa in der Vita des Bischofs Gérard II. von Cambrai (um 1092; MGH Script. 7, p. 499): castellum etiam [---] muro [---] firmauit fossato releuato alto et terribili.
Er befestigt die Burg durch eine Mauer, wobei der aufgeworfene Wall hoch und schrecklich war.
In der Beschreibung des Ersten Kreuzzuges, die Albert von Aachen (Albericus Aquensis) in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts abfasste, liest man von folgenden Vorgängen bei der mohammedanischen Belagerung der von den Christen gehaltenen Stadt Antiochia (PL 166, 496B): dum sic mane, meridie et uespere a montanis et ualle exsilientes Christianos impeterent, Boemundus et Reymundus ira moti sine dilatione uallo immenso, quod dicitur fossatum, montanis et ciuitati deorsum interposito et praesidio quodam murali aedificio desuper firmato tutelam suis [...] fieri constituerunt.
Da (die Türken) morgens, mittags und abends in Ausfällen von der Höhe durch das Tal die Christen angriffen, beschlossen endlich Bohemund und Raimund voll Zorn, ohne Aufschub einen ungeheuren Wall, den man fossatum nennt, zwischen den Höhen der Stadt zu bauen und darüber ein Gemäuer zu errichten, um so die Ihren zu schützen.
_________ 7 Zu erschließen aus den kroatischen Dialektwörtern fosat, fusat, fusȍt, pȍsāt ‘Stadtgraben’, vgl. Skok 1971, I 526–527.
29. φοσσᾶτον / fossatum
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Während also fossātum im Sinne von ‘Graben’ und zuzuordnenden Bedeutungen auf breiter Front in der Romania weiterlebt, hat sich der militärische Sinn ‘Lager’ weniger gut behaupten können. Einige Stellen in altprovenzalischen Texten können am ehesten als ‘mit Graben umgebene Befestigung’ und nicht konkret als ‘Graben’ verstanden werden, so beispielsweise die folgende Stelle aus dem Bericht über die Einnahme von Damiette8: E venc si lotgiar denant nostras lizas tant aforzadament qu’elh fetz cassar ab massas sos vilhas entz els nostres fossatz.
(Der Sultan) bezog vor unseren Palisaden so gewaltsam Stellung, dass er seine Wachen mit Keulen in unsere mit Gräben gesicherten Befestigungen trieb.
Im Altspanischen tritt vom Beginn der Überlieferung an eine lautliche Variante von fosado, nämlich fonsado9, in der Bedeutung ‘Lager’, aber vor allem von ‘Heer’, auf (DME 2, 1159: fonsado ‘1. hueste, ejército, tropa; 2. labor de foso; 3. campamento’). Die spätesten Belege finden sich im 16. Jahrhundert. Im Altportugiesischen bedeutet fossado von den frühesten Belegen an bis ins 16. Jahrhundert ‘Lager’ und ‘Heer’ (DELP 3, 81). Die Bedeutung ‘Heer’ ist auch im Mittellateinischen Spaniens belegt, freilich selten, und man muss wohl annehmen, dass es eine Relatinisierung des volkssprachlichen fonsado ist. Im Kapitel 17 der auf 1020 oder 1017 zu datierendenden Fueros aus León liest man (Wohlhaupter 1936, 8/9): illi etiam qui soliti fuerunt ire in fosatum cum rege, cum comitibus, cum maiorinis, eant semper solito more.
Diejenigen, die es gewohnt waren, mit dem König, den Grafen und den Richtern ins Heer zu gehen, sollen es immer in hergebrachter Weise tun.
Insgesamt ist also festzuhalten, dass die Bedeutung ‘Heer’ für fossātum und seine Nachfolgeformen im lateinisch-romanischen Westen eine Ausnahme darstellt, die auf die iberische Halbinsel beschränkt ist. Hingegen hat sich beim Latinismus φοσσᾶτον im byzantinischen Griechisch die Bedeutung ‘Heer’ in den Vordergrund geschoben, und wenn das Wort auch in der neugriechischen Normsprache nicht mehr existiert, so liegen doch Relikte in Dialekten vor. Wenden wir uns also der Entwicklung im Griechischen zu! 3. φοσσᾶτον im Griechischen Wir haben oben gesehen, dass griechische Philologen wie Hesych oder Prokop von Gaza wussten, dass das lateinische Wort fossātum, in griechischer Gewan_________ 8
Appel 1912, 187 (= Nr. 121, Z. 4). Im Glossar (S. 257) werden beide Bedeutungen, ‘(mit Graben umgebene) Befestigung’ und ‘Graben’ geboten, im FEW 3, 741 wird ‘Befestigung’ überhaupt nicht in Betracht gezogen. 9 DCECH 2, 936: “La n secundaria se explicará quizá por influjo de fondo (cat.-oc.-fr. fons) op por propagación de la n en la frase frecuente ir en fo(n)sado (llevar en fonsado, en el doc. De 980), cristalizada en la variante enfonsado, que parece hallarse en Berceo, Signos, 73c4; de ahí pudo extenderse la n a fonsadera [---] y a fonsario ‘huesa’”.
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dung φοσσᾶτον10, ‘Graben’ bedeutete. Nun ist aber φοσσᾶτον nicht nur die morphologisch angepasste griechische Transkription eines lateinischen Elementes nach dem aus der gelehrten Literatur geläufigen Typ µᾶγνος (Plut. Crass. 7, 1), σαπίηνς (Plut. Gracch. 8, 5), φαῦστος (Plut. Sulla 34, 5), βραχιᾶτος (Joh. Lyd. 1, 46, 4), sondern es ist tatsächlich in die griechische Umgangssprache übernommen worden (wie auch beispielsweise λεγᾶτος, Joh. Lyd. 1, 38, 10, dann mittel- und neugr., oder πριβᾶτος, Proc. 3, 1, 22, dann mittelgr.). Über die Bedeutung von φοσσᾶτον geben die mehr oder weniger lateinkundigen griechischen Philologen der Spätantike keine Auskunft, die der tatsächlichen Lage in der griechischen Umgangssprache dieser Zeit entspräche. Wir müssen uns daher auf Grund der Zeugnisse der Autoren ein eigenes Urteil bilden. Den frühesten Beleg für φοσσᾶτον findet man im Jahre 501 n. Chr. in einer griechischen Inschrift aus der Kyrenaika (SEG 9, 356, 36 = G. Oliverio, Cyrenaica 2, 1936, 135–163). Es geht dort um die Urlaubsvoraussetzungen bestimmter Soldaten, und diesen Bestimmungen folgt der Satz: τοὺς δὲ λοιποὺς πάντα[ς π]ροσκαρτερ(ε)ῖν τοῖς φοσσάτοις. Hier liegt es sicherlich – auch angesichts der gleichzeitigen lateinischen Belege – am nächsten, φοσσᾶτον als ‘Lager’ zu verstehen und also zu übersetzen: ‘die übrigen sollen alle im Lager bleiben’. Dass diese Deutung richtig ist, beweist der Wortgebrauch bei den byzantinischen Historikern und Militärschriftstellern: Bei Johannes Malalas (491–578 n. Chr.) kommt das Wort einmal vor, und zwar eindeutig im Sinne von ‘Lager’: ποιήσαντες ἐκεῖ φοσσᾶτον ‘indem sie dort ein Lager aufschlugen’ (PG 97, 461). Im Strategikon des Maurikios, das nach 592 und vor 610 verfasst wurde (Dennis/Gamillscheg 1981, 16) ist das häufig vorkommende φοσσᾶτον (Stellenangaben bei Mihăescu 1970, 408–409) ganz eindeutig der Fachterminus für ‘Heerlager’, das auch ἄπληκτον (= ἄπλικτον, zu ἀπλικεύω < applicāre castra) und archaisierend στρατόπεδον und στρατοπεδεία genannt wird. Das Kapitel, in dem die Anlage eines Lagers genau beschrieben wird, trägt die Überschrift πῶς δεῖ τὰ ἄπληκτα γίνεσθαι ἤτοι φοσσᾶτα ‘wie Aplikta oder Fossata aussehen müssen’. Noch zu Anfang des 7. Jahrhunderts muss ‘Lager’ die Normalbedeutung von φοσσᾶτον gewesen sein, denn als die Araber 640 n. Chr. Ägypten eroberten, übernahmen sie aus dem dort gebräuchlichen Amtsgriechischen das Wort φοσσᾶττον in diesem Sinne: fussāt und häufiger hyperkorrekt fustāt11. Die neue, rein arabische Stadt, die der Kalif Omar 641 neben dem alten Babylon an der Stelle seines Feldlagers gründete, hieß auf Griechisch Φοσσᾶτον (mehr als ein _________ 10 Die Handschriften weisen häufig eine andere Akzentuierung auf (φόσσατον, φοσσάτον), wobei es sich natürlich unserer Kenntnis entzieht, ob schon die spätantiken Autoren falsch betonten oder ob, was wahrscheinlicher ist, der Irrtum den byzantinischen Schreibern anzulasten ist. Als lebendige Form liegt jedenfalls im Mittelgriechischen und in neugriechischen Dialekten nur auf der vorletzten Silbe betontes φουσ(σ)ᾶτο(ν) vor (Μέγα Λεξικόν 15, 7692). 11 Pellegrini 1989, 61: “L’alterazione –ss– > –st– può essere dovuta forse ad un ipercorrettismo avvenuto in ambiente arabofono: è noto infatti che –st– prearabico (latino) è reso in romanzo spesso con z, c (vedi Steiger, Contrib. 141/142, ad es. Caesar Augusta > saraqusta > Saragoza, Basta > basta > Baza, Castalla > qastala > Casella ecc.)”.
29. φοσσᾶτον / fossatum
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Dutzend griechische Papyrusbelege zwischen 708 und 716, vgl. Calderini / Daris V 96) und entsprechend auf Arabisch al-Fustat12, heute Alt-Kairo. Von der Mitte des 7. Jahrhunderts an hieß φοσσᾶτον in der byzantinischen Umgangssprache, soweit sie uns greifbar ist, jedoch nicht mehr primär ‘Lager’, sondern die Bedeutung ‘Heer’ schob sich in den Vordergrund. Der früheste Beleg dafür findet sich bei Anastasios Aprokrisarios († 666 n. Chr.), wo es heißt (PG 90, 111B): τὸ φοσσᾶτον ὅλον τοῦτο διελάλει ‘das ganze Heer redete davon’. Von da an ist diese Bedeutung in allen Werken, die der alltäglichen Volkssprache nahe stehen (wie beispielsweise in den verschiedenen Versionen des AlexanderRomans), ganz geläufig, und sie liegt auch in den byzantinischen Lexika vor; manchmal kommt φοσσᾶτον ‘Heer’ sogar bei hochsprachlichen Autoren vor, z. B. Anna Komnena 11, 11, 7: ἐρχόµενος µετὰ τοῦ ἱππικοῦ φοσσάτου ‘auf dem Marsch mit der Kavallerie (= Reiterheer)’. In der mittelgriechischen Volkssprache war die Bedeutung von φοσσᾶτον ausschließlich ‘Heer’, vgl. Erotokritos 4, 867: εἶχε φουσσᾶτα δυνατὰ κι ἡ µιὰ µέρα κι ἡ ἄλλη ‘mächtige Heere hatte die eine Seite und die andere’. In der neugriechischen Schriftsprache ist das Wort nicht erhalten, aber auf Kreta und auf Nisyros gibt es dialektal φουσσᾶτο ‘Heer’ (Meyer 1895, 72). Zusammenfassend kann man für das Griechische sagen, dass lateinisch fossātum im 5. Jahrhundert n. Chr. als φοσσᾶττον übernommen und in der militärischen Fachterminologie beibehalten wurde. Die Grundbedeutung ‘Graben’ war Philologen bekannt, kam in der lebendigen Sprache aber nicht vor, wo zunächst wie im Lateinischen ‘Lager’ im Vordergrund stand, bis sich von der Mitte des 7. Jahrhunderts an ‘Heer’ durchsetzte. 4. Zur Bedeutungsannäherung von ‘Heerlager’ und ‘Heer’ Hier stellt sich nun die Frage, ob man aus der semantischen Verschiebung von ‘Heerlager’ zu ‘Heer’, die sich sowohl auf der iberischen Halbinsel als auch im Griechischen feststellen lässt, tatsächlich den Schluss ziehen kann, dass es sich in der Tat um ein bereits vulgärlateinisches Phänomen, um eine “acepción que ya pertenecería al latín vulgar” (DCECH 2, 936), handele. Auf den ersten Blick wäre das durchaus wahrscheinlich, denn der Gedanke an eine der iberoromanischbalkanischen Übereinstimmungen ist naheliegend, bei denen archaische Phänomene, die im Zentrum von Neuerungen überlagert wurden, am Rand der Romania bewahrt bleiben (“area laterale”, übliches Beispiel: Erhaltung des archaischen formōsus in rum. frumos und sp. hermoso, hingegen Auftreten der Neuerung bellus in frz. beau und it. bello). Freilich muss man bedenken, dass es hier ja gerade nicht um einen gemeinsamen Archaismus geht, sondern im Gegenteil um eine Neuerung, von der es in den antiken lateinischen Sprachzeugnissen keine _________ 12 Volksetymologisch gibt es freilich eine andere Erklärung des Namens: “Im Jahre 641 n. Chr. wurde Babylon von ‘Amr ibn el-‘Asi, dem Feldherrn des Chalifen ‘Omar, erobert, der dann in der Ebene nördlich des Festung, im Gegensatz zu Alexandria, die neue, von christlichen Elementen freie Hauptstadt des Landes gründete. An der Stelle seines Zeltes erbaute er eine Moschee. Der arabische Name für ‘Zelt’, Fostât, ging auf die Stadt über” (Baedeker 1906, 36).
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Spur gibt. Das erste Auftreten der neuen Bedeutung ‘Heer’ ist für das Griechische auf 666 n. Chr., für die iberische Halbinsel um 1020 n. Chr. anzusetzen, ist also in beiden Fällen ein mittelalterliches Phänomen. Damit wird die Fortsetzung einer antiken Voreinstellung zwar nicht ausgeschlossen, aber wenn man aus anderen Sprachen eine entsprechende semantische Entwicklung nachweisen kann, dann neigt sich die Waagschale doch sehr in der Richtung, sowohl für Griechenland wie für Iberien eine voneinander unabhängige Entwicklung von ‘Heerlager’ zu ‘Heer’ anzunehmen. 1. Das griechische Wort στρατός gehört zum Verb στόρνυµι / στρώννυµι ‘ausbreiten’; die Grundbedeutung ist also ‘(ausgebreitetes) Lager’. Daraus hat sich dann die Normalbedeutung ‘Heer’ entwickelt (ThWbNT 7, 701). Parallel verlief die Bedeutungsentwicklung bei στρατόπεδον ‘Heerlager’, das schon in klassischer Zeit daneben auch für ‘Heer’ (in römischer Zeit: ‘Legion’) gebraucht wurde (ThWbNT 7, 704). 2. Im Hebräischen bedeutet [ מחנהmaḥnæ], das zum Verb ’ מנהsich niederlassen’ gehört (Gesenius 1962, 243), ‘Lager’, aber auch ‘Heer’ (Gesenius 1962, 414–415). 3. Im Koptischen heißt ⲙⲁⲧⲉⳓⲧⲉ [mateçte] neben ‘Heerlager’ auch ‘Heer’. 4. Im Niederländischen hieß leger bis ins 16. Jahrhundert ‘Lage, Liegestätte, Lager’. Von ‘Heerlager’ aus nahm es den Sinn ‘Heer’ an, was ab 1551 bezeugt ist und die heutige Normalbedeutung darstellt (de Vries 1971, 389). 5. Im Ungarischen ist die zweite Bedeutung von tábor ‘Lager’ (Etymologie und Grundbedeutung umstritten) heute nur noch ‘Schar, Haufen’, aber in früheren Belegen herrscht ‘Heer’ vor. Wahrscheinlich ließe sich die Anzahl der Beispiele bei Berücksichtigung weiterer Sprachen vermehren, aber auch die angeführten fünf Belege zeigen ja, dass eine semantische Weiterentwicklung von ‘Heerlager’ zu ‘Heer’ ganz naheliegend, weit verbreitet und geradezu banal ist. Damit lässt sich aber aus der Tatsache, dass sowohl griechisch φοσσᾶτον als auch die iberoromanischen Nachfolgeformen von lateinisch fossātum diesen Bedeutungswandel aufweisen, nicht mehr der Beweis führen, dass diese Sinnverschiebung bereits im Vulgärlateinischen stattgefunden habe. Solange nicht neue antike Belege auftauchen, wird man annehmen, dass sp. fonsado und port. fossado einerseits, gr. φοσσᾶτον andererseits unabhängig voneinander die Bedeutung ‘Heer’ herausgebildet haben. 5. Balkanische Nachfolgeformen von fossātum in der Bedeutung ‘Dorf’ Ein weiteres Argument belegt, dass erst beim griechischen Lehnwort φοσσᾶτον und nicht schon beim lateinischen Ausgangswort fossātum der semantische Übergang von ‘Heerlager’ zu ‘Heer’ eingetreten ist: Sowohl im Albanischen wie im Rumänischen gibt es Nachfolgeformen von fossātum, deren Bedeutungen sich ausgehend von ‘Lager’, nicht aber ausgehend von ‘Heer’, erklären lassen.
29. φοσσᾶτον / fossatum
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Dem albanischen Wort für ‘Dorf’, fshat13, entspricht rumänisches sat, das in einigen Texten aus dem 16. Jahrhundert noch als fsat auftaucht14. Die Etymologie beider Wörter hat viel Tinte fließen lassen15, aber im Grunde lässt sich lautlich nichts gegen eine Herleitung von fossātum vorbringen: Im Albanischen bleibt bei lateinischen Elementen f– erhalten (Meyer / Meyer-Lübke 1904–1906, 1053 = § 47), vortoniges –o– kann schwinden (Meyer / Meyer-Lübke 1904–1906, 1049 = § 28), –ss– ergibt –∫– (= orthographisch sh) (Meyer / Meyer-Lübke 1904–1906, 1053 = § 45), betontes –ā– ist vor einfachem nichtnasalem Konsonanten als –á– erhalten (Meyer / Meyer-Lübke 1904–1906, 1041 = § 9), –t– bleibt erhalten (Meyer / Meyer-Lübke 1904–1906, 1051 = § 38), auslautendes –um schwindet (Meyer / Meyer-Lübke 1904–1906, 1049 = § 29). Im Rumänischen ist die Entwicklung im Grunde genommen genauso regelmäßig: f– bleibt erhalten (Rothe 1957, 32 = § 63), –ss– ergibt –s– (Rothe 1957, 44 = § 98), haupttoniges ā bleibt als –á– erhalten (Rothe 1957, 10 = § 4), intervokalisches –t– hat sich nicht verändert (Rothe 1957, 33 = § 70), der unbetonte Ultimavokal –u– schwindet ebenso wie das Auslaut-m (Rothe 1957, 30 und 37 = § 58 und § 77). Die Synkope der Vortonsilbe ist freilich ein verhältnismäßig seltenes Phänomen, das aber durchaus vorkommt: jneapăn < juniperus, spânzura < *suspendiolāre, spre < super, vrea < volēre (Densusianu 1975, 407, mit weiteren Beispielen). Die Synkope muss irgendwann zwischen dem 9. und 16. Jahrhundert erfolgt sein, denn für das sogenannte Urrumänische, also das Rumänische vor der Aufteilung in Dakorumänisch, _________ 13 So lautet die moderne schriftsprachliche Form. Es handelt sich dabei um die toskische Variante; die gegische Variante pshat stellt wahrscheinlich eine Dissimilationsform dar (anders, aber kaum richtig Gustav Weigand 1925, VI: “Die ljaberische Form psat verbietet fshat von fossatum abzuleiten, da der Übergang von ms > ps regelmäßig, fs > ps dagegen unmöglich ist”). 14 fsat ist achtundzwanzigmal in der Psaltirea Scheiana und ein einziges Mal im Codice Voroneţean belegt, wobei die genaue Bedeutung nicht ‘Dorf’, sondern ‘Wohnsitz, Feldflur’ ist, vgl. Bojan 1969. 15 Gustav Meyer (1891, 112–113) schlug für alb. fshat lateinisch *massātum (zu massa ‘Landgut’) vor. Abgesehen davon, dass die Bildung des lateinischen Wortes problematisch wäre (-ātus “bildet possessive Adjektive der Bedeutung ‘versehen mit’, Leumann 1977, 333 = § 299; die tatsächlich belegte Ableitung zu massa ist it. masseria), müsste man dann davon ausgehen, dass das rumänische Wort aus dem Albanischen entlehnt wäre, was nicht nur geographische Probleme aufwirft, sondern auch eine lautliche Schwierigkeit mit sich bringt, denn man würde rumänisch fşat > şat erwarten, denn ein Grund der Reduzierung von ş < alb. sh zu s liegt nicht vor. Obwohl Gustav Meyer seinen eigenen Vorschlag später selbst zugunsten von fossātum zurückgenommen hat (1904–1906, 1049), geisterte *massātum noch lange durch die Literatur (Jokl 1923, 317–318; Weigand 1925, VI). Eine inneralbanische Etymologie (shat mit Präposition) versuchten Barić 1919, 76–77, und in seinem Gefolge Çabej 1976, 196–198, was wiederum daran scheitert, dass dann das rumänische Wort aus dem Albanischen stammen müsste, was lautlich nicht geht. In den Bereich der Kuriositäten gehören vom Indogermanischen ausgehende Formen, das lautlich und semantisch nicht passende fixātum (Giuglea 1922, 642) und satum ‘Ackerland’ (Cipariu 1869, 205; Cioranescu 1966, 726 = 2002, 686–687), das das f- unerklärt lässt und einen semantisch nicht selbstverständlichen Übergang von ‘Acker’ zu ‘Dorf’ voraussetzt. Vgl. zur Diskussion zusammenfassend Solta 1980, 169 (ohne eigene Stellungnahme), Bojan 1969, 63–65, und Orel 1998, 104.
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Istrorumänisch, Meglenorumänisch und Aromunisch, darf man noch eine Form *fusátu postulieren, weil das Aromunische noch eine Form fusáte ‘Befestigungsgraben’ aufweist (Papahagi 1974, 577). Lautliche Einwände gegen eine Herleitung von albanisch fshat und rumänisch (f)sat aus fossātum gibt es also nicht, es bleibt die semantische Seite. Alexandru Ciorănescu scheint es unwahrscheinlich, dass ein rein militärischer Terminus in einem Gebiet ohne nennenswerte mittelalterliche Festungsanlagen bewahrt geblieben sein sollte (1966, 725 = 2002, 686, Nr. 7479). Dagegen lässt sich sofort einwenden, dass zwar die norddanubische Provinz Dacia vom römischen Militär 271 n. Chr. geräumt worden ist und also in der Tat keine nennenswerten Befestigungen mehr aufwies, dass aber das Hauptentstehungsgebiet der rumänischen Sprache südlich der Donau lag (Kramer 1999/2000, 160), wo die militärische Struktur sowohl des spätrömischen wie des frühbyzantinischen Reiches durchaus intakt geblieben ist. Wir können als gesicherte Tatsache annehmen, dass im 5. und 6. Jahrhundert fossātum im Latein der Balkanregion wie überall sonst im Reich primär ‘befestigtes Militärlager’ hieß (also nicht ‘Kastell’ und auch nicht ‘Heer’). Es bieten sich nun zwei Möglichkeiten an, die Bedeutungsübertragung von ‘Lager’ zu ‘Dorf’ zu erklären: Entweder entstanden um die militärischen Lager zivile Dörfer, oder zivile Dörfer werden wie militärische Lager befestigt. Für die erstgenannte Auffassung plädierte Petar Skok (1930, 518): “Die semantische Entwicklung, die fossatum bei den Rumänen und Albanern erfahren hat, legt den Gedanken nahe, daß zur Zeit der slavischen Besiedelung des Balkans die romanischen Dörfer sich eng an römische Kastelle angeschlossen haben oder daß sie aus ihnen hervorgegangen sind”. Petar Skok schwebte also offenbar eine Parallele zur mittel- und westeuropäischen Entstehung von Städten im Umkreis befestigter Burgen vor, und in der Tat “erwuchsen aus den Ansiedlungen, welche bei den Standlagern sich bildeten”, regelrechte Dörfer und kleine Städte (RE IV 2, 1974). Bei Annahme dieser Auffassung wäre also das Wort, das eigentlich das Militärlager bezeichnete, auf die benachbarte Zivilsiedlung übertragen worden. Für die zweite Auffassung, also die ‘Befestigung von Dörfern’, spricht, dass mit dem fortschreitenden Verfall der politisch-militärischen Strukturen des römischen Reiches die Bürger zum Selbstschutz schreiten mussten, denn gegen die alltägliche Bedrohung durch kleine marodierende Haufen konnten schon bescheidene Befestigungen etwas ausrichten. Wir wissen jedenfalls, dass im Mosel- und Rheingebiet einige Dörfer von Gräben und/oder Einfriedungsmauern umgeben waren16. Diese beiden Auffassungen, die sich nicht unbedingt ausschließen, bieten somit eine plausible historisch-semantische Verkettung, die die lautlich problemlose Herleitung von albanisch fshat und rumänisch (f)sat von lateinisch fossātum auch semantisch stützt. _________ 16 van Es 1972, 131: “In het midden van de 2e eeuw [---] werd de nederzetting omgeven, aanvankelijk met een driehoekig, later met een rechthoekig slotenstelsel”. Vgl. auch Ternes 1975, 295.
29. φοσσᾶτον / fossatum
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6. Die Bedeutungsentwicklung von fossātum Zusammenfassend lässt sich also für fossātum und seine Nachfolgeformen folgende semantische Entwicklung skizzieren: ‘Graben’ (lat. arom. dalm. it. frz. prov. kat. sp. port.)
↓ ‘durch einen Graben befestigtes Heereslager’ (lat. griech. prov. span. port.)
↙ ‘Heer’
↘ ‘Dorf’
(griech. sp. port.)
(rum. alb.)
Festzuhalten bleibt, dass nur die ersten beiden Bedeutungen in die Antike zurückreichen; die dritte Stufe, also die Bedeutungsverschiebungen zu ‘Heer’ und ‘Dorf’, haben sich erst im frühen Mittelalter ergeben. Es zeigt sich an diesem Beispiel, dass nur die gemeinsame Betrachtung der lateinischen und griechischen Fakten und die Einbeziehung der weiteren Entwicklungen auf dem Wege zu den romanischen Sprachen und zum Neugriechischen ein zutreffendes Bild spätantiker und frühmittelalterlicher Gegebenheiten vermitteln kann.
VII. EDITIONSPRINZIPIEN
30. Editionsprinzipien der Klassischen Philologie und Papyrologie und die Romanistik Abstract: After a presentation of the four principal methods of editing Romance medieval texts (reconstruction along linguistic lines, Lachmann, Bédier, New Philology) and a recapitulation of the aims of editing ancient Latin and Greek texts, the methodologies of modern papyrus editions are explained. It is argued that normally editions should produce a text which represents the ambitions of its author and not a copist’s interpretation; in special cases, however, one has to edit several redactions. At any rate the advanced methodology of papyrological editions could be a model for the edition of medieval texts. Keywords: Lachmann, Bédier, Cerquiglini, text editions
1. Der Stellenwert der Editionswissenschaft an deutschen Universtäten Ich möchte mit einer kurzen Erinnerung an meine Studienzeit beginnen. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre habe ich in Köln klassische, niederländische und romanische Philologie studiert, und in den drei Disziplinen war der Stellenwert der Textkritik ganz unterschiedlich: In der Romanistik fand sie nicht statt, kein Dozent und erst recht keine Studentin und kein Student stellte je die Frage, welches Verhältnis zwischen dem gedruckten Wortlaut unter den Buchdeckeln der Studienausgabe und dem, was die Feder des Autors einst aufs Pergament gekratzt hatte, bestehen könnte. In der klassischen Philologie verging kein Seminar, in dem nicht den Notizen des apparatus criticus mindestens dieselbe Aufmerksamkeit wie dem Inhalt des textus receptus geschenkt worden wäre, und in einigen Seminaren trat die Textkritik auf Kosten der eigentlichen Textbehandlung so sehr in den Vordergrund, dass man manchmal den Eindruck haben musste, dass dem klassischen Philologen nichts Böseres zustoßen könnte, als eines Tages ein variantenfreies Originalmanuskript von Ciceros Hand zu finden. Die niederländische Philologie bewegte sich in der Mitte zwischen beiden Extremen: Gelesen wurde Beatrijs in der Photokopie aus der Haager Handschrift (76 E 5), aber man erfuhr nichts über weitere Handschriften und Varianten. Methodische Reflexion fehlte sowohl in der klassischen Philologie wie in der Niederlandistik, und dass die Archetyp-Rekonstruktion der einen Disziplin und das Vertrauen in die e i n e “gute” Handschrift im anderen Fache den alten Konflikt zwischen der Methode Lachmann und der Methode Bédier wiederspiegelte, wurde mir erst ein Jahrzehnt später klar, als ich mich – horribile dictu – anschickte, den Studierenden der Romanistik im Rahmen von Einführungen in die Technik der Edition antiker und mittelalterlicher Texte Handschriften-Stemmata vorzuführen statt mit ihnen, wie damals weit normaler und karrierefördernder, Chomsky-Bäumchen zu malen.
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An dem Panorama der späten sechziger Jahre hat sich zumindest für die Romanistik in Deutschland inzwischen kaum etwas geändert: Mein – zugegebenermaßen subjektiver - Eindruck ist, dass nur in seltenen Ausnahmefällen an den Universitäten Deutschlands Editionsprobleme regelmäßiger Gegenstand von Seminaren sind. In den deutschen Fachzeitschriften werden neue Editionen kurz vorgestellt, aber nur in Ausnahmefällen wird die eigentliche Editionstechnik erörtert. Die vor allem amerikanische, italienische und französische Diskussion wird bestenfalls rezipiert, aber eine deutsche Teilnahme an den theoretisch ausgerichteten Debatten entwickelt sich nur ganz allmählich. Wer selbst eine Edition vorbereitet, reiht sich normalerweise in die romanistische Tradition ein, d. h. er bietet eine halbdiplomatische Abschrift e i n e r Handschrift, eventuell mit den Lesarten anderer Handschriften in calce. Kein Wunder, dass unter diesen Umständen das Edieren so sehr als rein handwerkliche Fähigkeit gilt, die im Grunde keinen Geist erfordert, dass es an vielen Universitäten sogar Probleme bereitet, Editionen als Promotionsleistung durchzubringen, sofern nicht das Schwergewicht auf einem linguistischen oder literarischen Kommentar liegt. Was aber das Schlimmste ist: Der Dialog zwischen den Wissenschaften ist völlig abgerissen. Die Neuphilologen wissen nicht mehr, nach welchen Prinzipien und mit welchem Endziel die Altphilologen Texte edieren, und umgekehrt. 2. Vorgehensweisen bei der Edition mittelalterlicher romanischer Texte Bevor ich mich mit der Frage beschäftige, nach welchen Grundsätzen griechische und lateinische Texte aus der Antike heute herausgegeben zu werden pflegen, möchte ich selbst auf die Gefahr hin, Eulen nach Athen zu tragen, einige skizzierende Bemerkungen zu den fünf Hauptetappen der romanistischen und insgesamt neuphilologischen Editionstheorie voranschicken. 1. Bekanntlich wurden mittelalterliche Texte im ersten und zweiten Drittel des 19. Jh. meist nach einer dem Editor zufällig greifbaren, also üblicherweise in Paris liegenden, Handschrift herausgegeben, wobei offensichtliche Fehler durch Konjektur beseitigt wurden. Wenn mehrere Manuskripte vorlagen, wählte der Herausgeber für seinen Text die Lesarten aus, die ihm sprachlich und / oder sachlich die besten zu sein schienen, wobei die Varianten meist nur in Auswahl angeführt wurden. Man spricht hier im allgemeinen von “vorwissenschaftlichen Textausgaben” (Fromm 1995, 76), aber der Hochmut derer, die die Gnade der späten Geburt genießen, ist unangebracht: In vielen Fällen benutzen wir eifrig Ausgaben dieses Typs (beispielsweise bei vielen Werken aus dem Umkreis Alfons des Weisen), weil unsere Generation dem oft auf einen einzigen Autor konzentrierten Bienenfleiß der frühen Editoren nichts an die Seite zu stellen hat. 2. Im letzen Drittel des 19. Jahrhunderts machte eine selbstbewusste Sprachwissenschaft ihren Einfluss auch in der Editionstechnik geltend. Auf Grund der Beobachtung besonders von Reimen, Assonanzen usw. konnte man leicht feststellen, dass manche Texte in den Handschriften in einer anderen Mundart notiert
30. Editionsprinzipien der Klassischen Philologe und Papyrologie und die Romanistik
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waren als in der, in der sie ursprünglich verfasst gewesen sein mussten. Philologen mit sprachwissenschaftlichen Neigungen konnten der Versuchung, den Text in der ihrer Meinung nach “richtigen” Version wiederzugeben, nicht widerstehen, und besonders deutsche Romanisten wähnten, mindestens so gut franzisch zu können wie die Schreiber des 12. Jahrhunderts. Wirklich durchsetzen konnte sich diese Richtung nicht, die ich in Ermanglung einer üblichen Bezeichnung “Rekonstruktionsmethode” nennen möchte1, aber noch bis vor dem Zweiten Weltkrieg übte sie vor allem auf Sprachwissenschaftler, die sich als Editoren betätigten, ihren Reiz aus2, und einige Texte liest man noch heute in dieser Gestalt: So haben Generationen junger Romanisten das Altfranzösische anhand der von Eduard Koschwitz 1880 aus einer anglonormannischen Version rekonstruierten franzischen Fassung der Karlsreise gelernt, denn diese liegt der klassischen Einführung in das Studium der altfranzösischen Sprache von Karl Voretzsch zu Grunde3. 3. Einer der Gründe, warum die Rekonstruktionsmethode eine Episode blieb, ist darin zu suchen, dass etwa gleichzeitig mit ihrem Aufkommen das, was man gemeinhin, wenn auch nicht ganz zu Recht, die Lachmannsche Methode nennt, von der Klassischen Philologie kommend4 triumphierenden Einzug in die Romanistik hielt. Begeistert, aber insgesamt wenig reflektiert, übernahm man das in seinem mathematischen und biologistischen Erscheinungsbild dem positivistischen Zeitgeist gut entsprechende Modell einer stammbaumartigen Klassifikation der Handschriften mit dem Ziel der Etablierung eines dem Urtext möglichst nahekommenden “kritischen Textes”. Bald wagte niemand mehr, auf die Erstellung von Stemmata der Abhängigkeitsverhältnisse der Handschriften zu verzichten, selbst dann, wenn auf Grund der äußeren Bedingungen (große Zahl von Manu_________ 1 In den meisten Übersichten über die Geschichte der Textkritik wird diese Methode überhaupt nicht erwähnt, aber sie hatte durchaus ihre Bedeutung. So wurde beispielsweise noch bis zur Mitte unseres Jahrhunderts bezüglich der Dichter der Scuola siciliana erörtert, ob und in welchem Umfang man eine “detoscanizzazione” wagen könne, vgl. Monteverdi 1953. 2 So hat beispielsweise Alfons Hilka in seiner 1932 erschienenen Edition des Perceval-Romans “die sprachliche Unreinheit der Handschrift A [---] im Sinne des Champagnischen [---] zu uniformieren gesucht” (Rohlfs 1966, XI). 3 Auch die Rekonstruktionsmethode findet ihre Entsprechung in der klassischen Philologie: Genannt sei Carl Gabriel Cobet (1813–1889), der glaubte, schon die frühen Handschriften wiesen einen so stark entstellten Text auf, dass man ihn im Vertrauen auf die eigene Sprachkompetenz verbessern dürfe. «Was in den Büchern stand, deren Worte er reinigte, war Cobet ziemlich gleichgültig» (U. von Wilamowitz-Moellendorff 1959, 40), und eigentlich war er überzeugt, mindestens so gut attisch zu können wie die Attiker. Zu Beginn unseres Jahrhunderts edierten J. van Leeuwen und M. B. Mendes da Costa die Ilias und die Odyssee in einer rekonstruierten Sprachform der vorschriftlichen Zeit, also beispielsweise mit Digamma, mit unkontrahierten Formen und mit systematischen Ersetzungen des Typs κε(ν) statt ἄν oder πόθι statt ποῦ. 4 Die gültigste Darstellung der Methode bleibt Paul Maas (1960), obwohl darin der Name von Karl Lachmann nicht ein einziges Mal genannt wird. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund vgl. S. Timpanaro 1971.
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skripten, offene Überlieferung) die Erarbeitung eines Handschriftenstammbaumes von vornherein utopischen Charakter haben musste5. 4. Die Reaktion gegen diese Methode kam in der Romanistik6 1928 mit einem Aufsatz von Joseph Bédier im 54. Band der Romania. Nicht der unscheinbare Haupttitel La tradition manuscrite du «Lai de l’ombre» umschreibt den eigentlichen Inhalt dieses Beitrages, sondern der Untertitel Réflexions sur l’art d’éditer les anciens textes: Bédier legte die Axt an das schöne Gebäude der Textkritik, indem er angesichts der ständigen Umarbeitungen der volkssprachlichen Texte, die nachweislich im Mittelalter stattfanden, die Anwendung einer Methode aus der klassischen Philologie, die für prinzipiell nicht umgearbeitete Texte erdacht war, für illusorisch erklärte. In gewisser Weise empfiehl Bédier (1928, 356) die Rückkehr zur Methode der ersten Periode: Abdruck eines einzigen Manuskripts mit Angabe der Varianten anderer Handschriften. La méthode d’édition la plus recommandable est [---] celle que régit [---] un énergique vouloir [---] d’ouvrir aux scribes le plus large crédit et de ne toucher au texte d’un manuscrit que l’on imprime qu’en cas d’extrême et presque évidente nécessité: toutes les corrections conjecturales devraient être reléguées en quelque appendice. Obwohl man mit diesem Vorgehen letztlich einem anonymen Schreiberchen des 13. Jahrhunderts mehr Bedeutung beimisst als dem Autor des 12. Jahrhunderts, den er abschreibt, fand die “méthode Bédier” vor allem in der französischen Mediävistik begeisterte Zustimmung, und bis heute werden die meisten altfranzösischen Texte nach ihr publiziert. Im Laufe der Zeit griff man zumindest in Fällen, in denen die Überlieferung nicht zu umfangreich war, zum Mittel der synoptischen Präsentation mehrerer Handschriftentexte. Das kann eine Klärung der Überlieferungsstränge zur Folge haben, aber andererseits ist es genauso klar, dass das auch ein Weg für den Editor sein kann, sich aus der Verantwortung für die Textkonstitution zu stehlen. 5. Nachdem mehr als ein halbes Jahrhundert lang die Neo-Lachmannianer und die Neo-Bédieristen aneinander vorbei edierten und argumentierten7, kam in den _________ 5
Aus germanistisch-mediävistischer Sicht vgl. Lutz-Hensel 1975. In der Germanistik bedeutete das Programm der Deutschen Texte des Mittelalters, bei denen vorgesehen war, «einer möglichst guten und alten Handschrift» (Gustav Roethe, in: Friedrich von Schwaben, ed. M. H. Jellinek, Tübingen 1904, VI) zu folgen, ohne den Versuch einer Stemmatisierung zu unternehmen, in der Praxis eine Vorausnahme der Konsequenzen der Theorie von J. Bédier. 7 Von Anfang an hatte die Zustimmung zur Lachmann-Methode oder ihre Ablehnung etwas mit der Nationalität der jeweiligen Wissenschaftler zu tun: “It is remarkable to note how sharply theoretical outlooks correlate with national origin: «neo-Lachmannian» philology [---] is dominant in Italy, while «Bédierism» [---] commands all but absolute allegiance in France” (Faulhaber 6
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achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts durch Bernard Cerquiglini neuer Schwung in die Debatte. Sein in gewisser Weise dem postmodernen “anything goes” verpflichteter Ansatz ist im Titel seiner Arbeit, Éloge de la variante, bereits greifbar: Seiner Vorstellung nach ist ein mittelalterlicher Text letztlich nur als “variable” greifbar, die von der “incessante récriture d’une œuvre” Zeugnis ablege, die dem Schreiber einer konkreten Handschrift die wichtigste Rolle in einem kontinuierlichen “atélier d’écriture” gebe (Cerquiglini 1989, 57). Die Darstellung der modifizierten Rezeption dieser These in der “New Philology” und ihre harsche Zurückweisung durch die Lachmann-Jünger8 sowie die Erläuterung der Vorzüge des Computereinsatzes bei der Textedition (Marín 1991/1992) überlasse ich gern den “dedicated followers of fashion”, an denen unsere romanistische Wissenschaft ja reich ist, und wende mich meinem eigentlichen Thema, den Verhältnissen in der Klassischen Philologie, zu. 3. Das Ziel der Edition in der Klassischen Philologie: der Autorentext Karl Lachmann war in einer Person Alt- und Neuphilologe, und die Annahme seiner Methode stellte die letzte große Gemeinsamkeit zwischen der Editionsmethodik in der Klassischen Philologie, der Germanistik und der Romanistik dar. Danach nahm man gegenseitig den Fortgang der Diskussion zu den Prinzipien der Textkritik kaum noch wahr. Um den textkritischen Ansatz der Klassischen Philologie richtig zu verstehen, ist es zunächst nötig, festzuhalten, dass diese Wissenschaft prinzipiell autorenzentriert ist und der Rezeption von Texten nur ausnahmsweise Aufmerksamkeit schenkt. Anders als vielfach im Mittelalter ist der auctor in der Antike eine feste Größe9, und schon die Zeitgenossen hatten nichts für mouvance oder récriture d’une œuvre übrig – ihnen ging es um den authentischen Text, und die Frage, ob etwas “belegt ist oder nicht” (κεῖται ἢ οὐ κεῖται), hatte einen hohen Stellenwert10. Unter diesen Umständen ist es verständlich, dass es der Klassischen Philologie _________ 1991/2, 126–127). Zu nationalen Gegensätzen in der Frühgeschichte der Romanistik vgl. Hans Ulrich Gumbrecht 1986/1987. 8 Vgl. aus germanistischer Perspektive Karl Stackmann 1993. Vgl. auch die verschiedenen Positionen im Sammelband, den Kurt Gärtner und Günter Holtus 2005 herausgebracht haben. 9 Selbst dort, wo w i r wissen, dass von einem einzigen Autor nicht die Rede sein kann, glaubte man in der Antike, mit einem solchen rechnen zu dürfen. Das Musterbeispiel ist Homer, für uns nur ein Name, der über der schriftlichen Endfassung einer langen mündlichen Dichtungstradition steht, aber für die ganze Antike ein Autor mit persönlichen Eigenschaften (Blindheit, Geburtsort usw.). Anonymen Schriften ließ man normalerweise nicht ihre Anonymität, sondern man schrieb sie einem Autor zu, der passend zu sein schien. 10 Eine Person aus den Deipnophisten des Athenaios (um 200 n. Chr.), die es vermeidet, bei den Klassikern unbelegte Wörter zu verwenden, hat den Beinamen Keitukeitos, also “Belegt-nicht Belegt” (1 DE: Οὐλπιανὸς ὁ Τύριος, ὃς διὰ τὰς συνεχεῖς ζητήσεις, ἃς ἀνὰ πᾶσαν ὥραν ποιεῖται ἐν ταῖς ἀγυιαῖς, περιπάτοις, βιβλιοπωλείοις, βαλανείοις, ἔσχεν ὄνοµα τοῦ κυρίου διασηµότερον Κειτούκειτος ‘Ulpianus von Tyros, der durch die ständigen Diskussionen, die er zu jeder Stunde auf den Straßen, in den Wandelhallen, in Buchläden und in Bädern führte, einen Beinamen bekam, der sprechender war als sein eigentlicher, nämlich Keitukeitos bzw. Belegt-nicht-Belegt”).
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nicht – oder jedenfalls nicht primär – darum gehen kann, Textzustände verschiedener Epochen und / oder Regionen ins Zentrum ihres Interesses zu stellen: Welchen Cicero-Text Quintilian oder der heilige Augustinus lasen, ist ein vergleichsweise unwichtiges Randproblem gegenüber der Frage, welchen Text Cicero der Nachwelt zu übermitteln wünschte, und das Problem, in welcher Gestalt man antike Texte im Mittelalter, in der Renaissance oder in der Neuzeit las, ist sowieso nicht genuiner Gegenstand der Klassischen Philologie. Der Text wird als Konstante angesehen, der man sich annähern muss, indem man die Variablen der Überlieferung weitgehend zu eliminieren sucht – kein éloge de la variante, sondern eine chasse aux variantes. Erleichtert wird diese chasse zweifellos dadurch, dass es – anders als im romanischen Mittelalter – in der Antike feste Sprachnormen gab, die beispielsweise eine Orthographie vorgeben, deren Eindeutigkeit hinter derjenigen der Schriftsprachen des 20. Jahrhunderts nicht zurückbleibt. Es gilt also der Grundsatz, dass die Klassische Philologie möglichst nahe an das vom Autor selbst beabsichtigte Original eines Textes herankommen möchte. Das geschieht durch die Eliminierung von Elementen der Überlieferung, die nicht auf die Absicht des Autors zurückgehen. Dass in der handschriftlichen Tradition Fehler enthalten sind, wussten schon die alexandrinischen Philologen des 3. und 2. vorchristlichen Jahrhunderts (vgl. Pfeiffer 1970), und seit dem humanistischen Wiedererwachen des Interesses für den authentischen Wortlaut sah man die Hauptaufgabe eines Herausgebers darin, einen von solchen Fehlern, den sogenannten Korruptelen, weitgehend gereinigten Text zu bieten. Freilich, eine strenge Editionsmethodik gab es nicht einmal in Ansätzen. Die Wahl der der Edition zugrundegelegten Handschrift oder Handschriften blieb dem Zufall überlassen, und die Feststellung und Beseitigung von Korruptelen, die sogenannte emendatio, blieb der divinatio, also dem Gefühl des Herausgebers für die Folgerichtigkeit des Textzusammenhangs und für den konsequenten Sprachgebrauch des Autors, überlassen (Pfeiffer 1982, 55–57; 191–194). Man darf nicht verkennen, dass auch bei diesem unmethodischen Herangehen an die Überlieferung angesichts der enormen Textkenntnis und Sprachbeherrschung der Editoren des 16. bis 18. Jh. manche wirklich unbezweifelbare Textkorrektur, also Emendation im engen Wortsinn, gelang, und die editiones cum notis variorum sind noch heute eine wahre Fundgrube der Gelehrsamkeit – aber es gelang nicht, über die divinatio hinauszukommen und mit Eindeutigkeit zuverlässigere Textzeugen von unzuverlässigeren zu trennen. In gewisser Weise besteht ein Parallelismus zwischen der frühen Editionstechnik und der zeitgleichen Etymologie: Auch den Etymologen des 16. bis 18. Jh. gelang ja manche treffende, bis heute unbestrittene Herleitung romanischer Wörter aus dem Lateinischen, aber das Ganze hatte eben keine Methode, sondern basierte auf dem Zufall und war streng genommen nicht verifizierbar oder falsifizierbar. Vor diesem Hintergrund ist der mit der Konstituierung der Romanistik durch Friedrich Diez zu vergleichende Einschnitt zu sehen, den der Neuansatz von Karl Lachmann (1793–1851) für die Editionstechnik bedeutete: An die Stelle des grundsatzlosen, aber durchaus ideensprühenden und schöpferischen Chaos trat die
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strenge, allerdings nicht selten mechanistische und phantasielose Methodik. Freilich, “wer von Lachmann selbst Auskunft über seine berühmte Methode erhalten will, der wird enttäuscht” (Weigel 1989, 160). Am klarsten kann man seine Prinzipien aus dem 1850 in Berlin erschienenen Commentarius zur Lukrezausgabe erschließen. Zunächst kommt die recensio, also die Feststellung des Überlieferungsstandes: Wenn die Überlieferung nicht auf einem codex unicus beruht, sondern auf mehreren Textzeugen, so muss man das Verhältnis der apographa zueinander klären, um das archetypon, also das “exemplar antiquum, e quo cetera [---] deducta sunt”11, rekonstruieren zu können12. Daran, dass dieser Archetyp keineswegs mit dem Original identisch ist, sondern normalerweise Jahrhunderte später angefertigt wurde, lässt Lachmann nicht den geringsten Zweifel; aber “wie dieser Archetypus ins Mittelalter gekommen war, das kümmerte ihn nicht” (Büchner 1961, 313), mit anderen Worten, was überlieferungsmäßig zwischen dem Original des antiken Schriftstellers und dem zufällig am Anfang der mittelalterlichen Überlieferung stehenden Archetypus geschehen war, bleibt außerhalb der Betrachtung13 – mit Ausnahme eines einzigen Sonderfalles, der darin besteht, dass der Editor anlässlich einer offenkundig bereits im Archetyp verderbten Stelle die divinatio einsetzen muss, um eine emendatio zu versuchen14. _________ 11 Lachmannus 1850, 3. Die schnell üblich gewordene graphische Darstellung der Abhängigkeitsverhältnisse der Abschriften in der Form eines Stemmas, also eines genealogischen Stammbaumes, liegt bei Lachmann noch nicht vor, aber aus seiner Wortwahl (genus, stirps) wird klar, dass ihm der Vergleich mit Familienverhältnissen durchaus geläufig war. 12 Die wichtige Stufe der Klärung der Abhängigkeitsverhältnisse der vorhandenen Handschriften wird von Lachmann nicht näher beschrieben, aber im weiteren Verlauf des Lukrez-Kommentars wird klar, dass das bis heute gültige Prinzip der eliminatio codicum descriptorum auf Grund der Fehleranalyse bereits voll ausgebildet vorlag: Zeigt ein Textzeuge B alle Fehler eines anderen erhaltenen Textzeugen A und noch mindestens einen zusätzlichen Sonderfehler, so ist B eine Abschrift von A. Zeigen A und B hingegen eine vollständige Übereinstimmung in den Fehlern, hingegen jeweils mindestens einen eigenen Sonderfehler, so stammen sie von einer gemeinsamen Vorlage a ab. Schon beim Vorhandensein von drei Textzeugen gibt es 22 Möglichkeiten der gegenseitigen Abhängigkeit (Maas 1960, 27–29). 13 Lachmann hat mehrfach expressis verbis gesagt, dass er die erste Aufgabe eines verantwortungsvollen Editors nicht darin sah, für offenkundig verderbte Textstellen Verbesserungsvorschläge auf Grund sprachlich-sachlicher Textkenntnis vorzuschlagen. “Sie dürfen erst nachfolgen einer auf nichts anderes als Ueberliefertes gegründeten Herstellung der ältesten Lesart. Nur diese, durchaus aber nicht die auf inneren Gründen beruhende Kritik, habe ich mir zur Aufgabe gesetzt; ja ich behaupte, auch meine Nachfolger sollten billig nichts weiteres wollen. Die Feststellung eines Textes nach Ueberlieferung ist eine streng historische Arbeit und nichts weniger als unendlich, wenn auch ein einzelner schwerlich die Quellen schon ganz erschöpft und gewiss oft aus menschlicher Schwäche fehlt. Hingegen diejenige Kritik, welche die Schranken der Ueberlieferung durchbricht und der Vermuthung ihr Recht gewährt, ist ungebunden und nimmt an Umfang und Sicherheit zu mit wachsender Kentniss und Geistesfreiheit” (Lachmann 1876, 252). 14 Lachmannus 1850, 11: “Emendationem his rebus contineri arbitratus sum, primum ut versus a librariis traiecti in suum locum reducerentur [---]; deinde ut ipsa versuum vocabula, ubi vel perissent vel depravata essent, quantum fieri posset, reciperarentur, ita tamen ut singula ad codicum fidem scripta cum singulis commentariorum particulis praefiderentur, tum in imis paginis carminum enumerarentur”.
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Wirklich funktionieren kann die “Lachmannsche Methode” nur, wenn man eine weitgehend mechanische Abschreibetätigkeit voraussetzt15; je mehr ein Schreiber mitdenkt, umso unsicherer wird das Fundament der “Lachmannschen Methode”. Die Erarbeitung eines einigermaßen zuverlässigen Stemmas basiert auf zwei Grundvoraussetzungen: Erstens muss ausgeschlossen sein, dass der Schreiber selbständig den Text umgearbeitet hat, und zweitens darf innerhalb der Überlieferungskette kein Schreiber mehr als eine Vorlage vor sich gehabt haben, es darf also keine “offene” bzw. “kontaminierte” Überlieferung vorliegen16. Die erste Voraussetzung ist zumindest bei anspruchsvollen Texten der Antike meistens – nicht immer – gegeben, weil es im Mittelalter im allgemeinen schlicht an der sprachlich-sachlichen Kompetenz zu einem Eingriff in den Wortlaut fehlte17, aber die zweite Voraussetzung ist, wie wir heute wissen, vielfach nicht erfüllt18: Die Komödien des Plautus und des Terenz, das bellum Gallicum Caesars, die Dichtungen von Horaz und Martial liegen beispielsweise in “offener Überlieferung”, d. h. ohne Vermittlung eines einzigen Archetypus, vor19. _________ 15 Pasquali 1962, 111: “Il metodo del Lachmann [...] esige, per essere applicato con successo, una trasmissione del testo puramente meccanica, perchè è esso stesso prevalentemente e, direi, quasi puramente meccanico”. 16 Eine beachtliche Zahl von Fällen antiker Texte, bei denen die Lachmannsche Methode auf Schwierigkeiten stößt, nennt Giorgio Pasquali 1962. 17 Pasquali 1962, 138: “Dinanzi a poesia, specialmente a poesia difficile, l’amanuense prova un certo senso di rispetto, il rispetto dell’ignorante, di chi non sa imitare, di chi non sa intendere”. 18 Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen der griechischen und der lateinischen Literatur: Nach dem Bildersturm des 7./8. Jh. wurde in Konstantinopel eine weitgehend unter Aufsicht von Philologen durchgeführte Transkription der älteren Majuskelhandschriften in Minuskeln vorgenommen, was normalerweise für jeden Text nur ein einziges Mal erfolgte. Im lateinischen Bereich liegt eine weniger radikale Veränderung im Duktus der Schrift vor, “die den Einschnitt der Umschrift in die karolingische Minuskel nicht so gravierend macht, daß man die früheren Kodizes etwa nicht mehr hätte lesen können. Darum ist eine einmalige Umschrift aus geistig-ökonomischen Gründen wenig wahrscheinlich” (Büchner 1961, 372). 19 Lachmann selbst wusste, dass man die von ihm entwickelte Methode nicht immer anwenden kann, aber er scheute sich verständlicherweise, diese Erkenntnis laut herauszuposaunen. In seiner Edition des Neuen Testaments hat er aber keineswegs versucht, eine genealogische Klassifizierung der Handschriften vorzunehmen, sondern er stützte sich auf die ältesten Manuskripte, deren Lesungen er eklektisch nach seinem Urteil über den Sprachgebrauch in den Text nahm; als Ziel galt ihm die Erstellung des Bibeltextes, wie er den Kirchenvätern des Ostens im 4. Jh. n. Chr. vorlag, aber “bis zu der Apostel eigener Hand” glaubte er nicht vorstoßen zu können (Lachmann 1876, 252). Noch schwieriger als im Falle der Bibelüberlieferung ist die Anwendung der genealogischen Klassifizierung von Handschriften bei mittelalterlichen Texten: Hier liegen nicht nur normalerweise sehr viele Handschriften vor, sondern zudem ist der Eingriff der Schreiber in die Textgestalt nicht seltene Ausnahme, sondern der Normalfall, geht es doch nicht um einen mit Ehrfurcht behandelten Text in einer toten und oft vom Schreiber kaum verstandenen Sprache, sondern um Werke, deren muttersprachlichen oder muttersprachennahen Wortlaut man keineswegs als sakrosankt ansah, sondern vielmehr den eigenen Bedürfnissen möglichst anpasste – Streichungen, Einschübe, Umstellungen, Dialektänderungen sind an der Tagesordnung. Unter solchen Umständen hat der Begriff des Archetypus seinen Sinn verloren, sofern man ihn nicht einfach mit dem Original gleichsetzen will, und oft unterscheiden sich verschiedene Textzeugen nicht nur durch einige vergleichsweise kaum relevante Abweichungen voneinander, wie es ja in der Überlieferung
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4. Der Beitrag der Papyri zur Textgeschichte der Autoren Was für Karl Lachmann und seine Zeit noch kaum vorstellbar war, wurde eine Generation später wahr: Die großen Papyrusfunde in Ägypten, deren systematische Auswertung um 1890 einsetzte, ermöglichten den Zugang zu Textzeugnissen, die um Jahrhunderte älter als die ältesten bis dahin zugänglichen Handschriften und auch als die erschlossenen Archetypen waren. Eine der ersten Überraschungen, die die Papyri zu bieten hatten, war die Erkenntnis, dass der Text keineswegs immer zuverlässiger wird, je älter der Textzeuge ist20. War man bislang zumindest tacite davon ausgegangen, dass der Grad der Textverderbnis immer geringer wird, je näher man zeitlich an den Autor herankommt, musste man jetzt feststellen, dass sehr frühe Papyri durchaus sehr fehlerhafte Texte bieten konnten und dass manche eindeutige Textverderbnis, die uns in der mittelalterlichen Tradition entgegentritt, auch in den Papyri schon vorlag. Die Papyrusvarianten stimmen freilich fast nie genau mit einer der mittelalterlichen Handschriftenklassen überein, sondern normalerweise mal mit dieser, mal mit jener21, sie bieten also, wenn man so will, einen “eklektischen” Text22. Es gibt bei den Papyri klare Qualitätsunterschiede: Fragmente von sorgfältig durchkorrigierten kalligraphischen Texten, die zweifellos auf Bibliotheksausgaben, die mit philologischer Gründlichkeit veranstaltet wurden, zurückgehen, stehen neben Bruchstücken von nachlässigen Lesetexten oder fehlerhaften Schülerabschriften, und zwischen diesen extremen Polen treten alle möglichen Zwischenstufen auf. Wilhelm Schubart schildert die Situation folgendermaßen (1918, 87): Die Überlieferung ist keineswegs so geradlinig verlaufen, daß man von einer guten mittelalterlichen Handschrift aufwärts einen Text bis zur Niederschrift des Verfassers verfolgen könnte. [---] Anscheinend sind neben die Originalausgabe, die der Verfasser selbst veranstaltete, sehr früh, man darf fast sagen, gleichzeitig, andere, von ihm unbeaufsichtigte Ausgaben getreten, die weiterhin sich ebenso fortgepflanzt haben wie jene; Kreuzungen, d. h. Ausgaben, die beide Quellen berücksichtigten, ergaben sich _________ der antiken Literatur die Regel ist, sondern wir haben es mit völlig verschiedenen Versionen unterschiedlichster Sprachform, Länge und Anordnung zu tun. 20 Giorgio Pasquali (1962, 41) drückt diese Erkenntnis prägnant aus: “Recentiores non deteriores”. 21 Montevecchi 1973, 339: “Gli studiosi ormai hanno chiaramente messo in luce quella che è, in generale, la caratteristica di queste edizioni antiche, dal punto di vista testuale: ognuna di esse ha concordanze ora con l’una ora con l’altra delle tradizioni manoscritte poesteriori; non è possibile, perciò, collocare ognuna di esse in una determinata linea ascendente della tradizione, né stabilire delle derivazioni di questi testi antichi tra loro o con i codici medievali”. 22 Schubart 1918, 88: “Mißt man die Papyrushandschriften an der mittelalterlichen Überlieferung, d. h. stellt man die geschichtliche Entwicklung auf den Kopf, so ergibt sich, daß fast nie ein Papyrus völlig mit einer Handschrift des Mittelalters übereingeht, sondern beinahe immer Lesungen enthält, die in verschiedenen Handschriften vorkommen; man hat im Hinblick darauf gern vom Eklektizismus der Papyri gesprochen, ein Ausdruck, der im Grunde ein falsches Bild gibt, weil er von der mittelalterlichen Überlieferung als der Norm ausgeht”.
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von selbst, und es liegt auf der Hand, welche Fülle von Möglichkeiten sich daran anschließen kann. Am interessantesten sind in diesem Zusammenhang die frühen Homerfragmente aus dem 3. und 2. Jahrhundert v. Chr., die eine Textgestalt aufweisen, die ganz erheblich von der uns in mittelalterlichen Manuskripten überlieferten abweicht: Am auffälligsten ist die Tatsache, dass die Homerfragmente der Ptolemäerzeit eine große Anzahl von Zusatzversen aufweisen, aber es gibt auch Versauslassungen, Versumstellungen und größere Varianten innerhalb von Versen (West 1967) – mit anderen Worten, es liegt genau die Situation vor, die wir bei romanischen Texten des Mittelalters beobachten können. Eine entscheidende Änderung trat jedoch um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. ein: Die Papyrusfragmente stimmen von da an im Großen und Ganzen mit dem uns mittelalterlich überlieferten Text überein, und die letzten “exzentrischen” Texte sind an den Anfang des 1. Jahrhunderts n. Chr. zu datieren. Es darf angenommen werden, dass sich hier der Einfluss der alexandrinischen Philologenschule, besonders der des Aristarch von Samos, bemerkbar macht23. Weniger spektakulär als im Falle von Homer, aber dennoch unübersehbar lassen sich ähnliche Vorgänge bei den anderen klassischen griechischen Autoren feststellen: Hesiod (Merkelbach 1956), die Tragiker (Collart 1943; Manfredi 1970), die Historiker (Pape 1948; 1970) und die Redner (Hausmann 1978/1981) zeigen ebenfalls in den frühesten Papyri exzentrische Versionen, die vom 2. Jh. v. Chr. an zugunsten der uns geläufigen Textfassung in den Hintergrund treten24. 5. Die Reaktion der Klassischen Philologie auf die Papyrusfunde Im Vergleich zum Optimismus der strengen Gefolgsleute von Karl Lachmann, die glaubten, dass sie, wenn sie mit einer quasi-mathematischen Editionstechnik den Archetyp rekonstruieren konnten, dem vom antiken Autor niedergelegten Wortlaut sehr, sehr nahe gekommen wären, müssen wir auf Grund der Erkenntnisse, die die Papyrusfunde gebracht haben, viel bescheidener sein: Es liegt nicht in _________ 23 West 1967, 16-17: “The majority of readers of the Homeric poems were aware that scholars had excised certain sections of the text which they judged spurious, and could to some extent appreciate their reasons. But they were much less interested in the minutiae of textual criticism, in the arguments for preferring one reading for another. The booksellers and proprietors of scriptoria accordingly fell in with popular demand [---]: they cancelled lines rejected by Aristarchus, but did not alter the wording of their texts. [---] Texts corrected κατὰ τὴν Ἀριστάρχου would become commercially fashionable: any others would die out naturally. Thus the post-aristarchean tradition underwent the influence of the Aristarchean text, without being descended from it”. 24 West 1967, 18: “The work of the Alexandrian scholars led to a general rise in the standards of book production, including a much greater concern for accuracy. Whereas previously scribes were not greatly concerned to reproduce the exact wording of their exemplar, provided the sense of the passage (or what they conceived the sense of the passage to be) remained the same, they now felt less free to tamper with the text. The classics were now fossilised; even if what the author wrote appeared to be unmetrical, ungrammatical, factually incorrect, obscure, and improper, this was what must be transmitted”.
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allen Fällen ein Archetyp vor, aber selbst wenn das der Fall ist und wir seinen Wortlaut zuverlässig erschließen können, sind wir noch längst nicht beim Autor, sondern bei einem textus receptus, der letztlich den Vereinheitlichungsbemühungen antiker Philologen zu verdanken ist. Die Stufe zwischen dem Autorentext und dem Philologentext bietet auf den ersten Blick ein Bild, das starke Ähnlichkeiten zur mittelalterlichen Situation in der Romania aufweist: Es waren mehrere stark divergierende Gebrauchstexte im Umlauf, die sich gegenseitig beeinflussten. Man darf aber einen ganz wichtigen Unterschied nicht zu erwähnen vergessen: Die alexandrinischen Philologen waren nämlich zwar die ersten, die unter Heranziehung mehrerer Vorlagen eine kritische Textausgabe zu erstellen versuchten, aber zumindest bei den Texten, die man für einen wichtigen Bestandteil der eigenen Kultur hielt, hat es auch schon vorher immer Instanzen gegeben, deren Aufgabe es war, reine, also den Autorenintentionen entsprechende, Texte zu tradieren. Zwar glaubt man heute nicht mehr so recht an die Stichhaltigkeit der Berichte, die behaupten, dass schon der athenische Tyrann Peisistratos (600–528 v. Chr.) ein vereinheitlichtes “Staatsexemplar” des Homertextes habe zusammenstellen lassen25, doch gab es offiziöse Exemplare in den Städten, die sich um die Ehre, Homers Heimat gewesen zu sein, stritten26. Es ist über jeden Zweifel erhaben, dass die Texte der großen Tragiker seit dem 4. Jh. in Athen im Archiv aufbewahrt wurden (Dihle 1991, 116) und dass die großen Philosophenschulen wie die platonische Akademie und der aristotelische Peripatos Musterexemplare der Werke ihrer Stifter hatten27. Auf derartige sorgfältig angefertigte und tradierte Bibliothekshandschriften konnten die alexandrinischen Philologen zurückgreifen, als sie sich anschickten, dem Wildwuchs der Gebrauchsexemplare Einhalt zu gebieten. Der Unterschied zwischen der Antike und der frühen Romania ist vor allem darin zu sehen, dass im romanischen Mittelalter im Allgemeinen die Scheu vor dem Eingriff in den Text eines Autors nicht sehr ausgeprägt war und dass eine textpflegerische Instanz nicht auszumachen ist. So fehlen für die romanistischen Textüberlieferungsverhältnisse zwei Voraussetzungen, die das relativ reibungslose Funktionieren der Lachmannschen Methode in der Klassischen Philologie ermöglicht haben, nämlich das Bewusstsein der Schreiber dafür, dass sie die Texte nicht einfach nach ihrem Gusto abändern durften, und das Vorhandensein einer Gruppe von Spezialisten, deren Aufgabe die Bewahrung eines authentischen Textes war. Freilich gelten die geschilderten günstigeren Voraussetzungen im Bereich der antiken Literatur nur dort, wo wir es mit einer permanenten, sorgfältig gepflegten Tradition von Klassikern zu tun haben; sobald wir es mit weniger geschätzten und daher weniger betreuten Werken zu tun haben, wird die Variationsbreite zunehmend größer. _________ 25
Cic. de or. 3, 137: “qui primus Homeri libros confusos antea sic disposuisse dicitur, ut nunc habemus”. Zur historischen Kritik an dieser Nachricht vgl. Pfeiffer 1970, 21–22. 26 Man spricht von “Stadtausgaben” (αἱ κατὰ πόλεις ἐκδόσεις), vgl. West 1967, 26. 27 Zur Überlieferungsgeschichte des Aristoteles vgl. Düring 1968, 190–203.
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Wie reagiert nun die Editionstechnik der Klassischen Philologie auf die Erkenntnis, dass antike Texte, bevor sie durch den engen Flaschenhals der philologischen Kanonisierung gegangen sind, eine weit offenere Überlieferung hatten, als sich es den Spezialisten der Textkritik in Lachmannscher Tradition lieb sein kann28? Nun, im Grunde sind praktische Konsequenzen völlig ausgeblieben: Wie eh und je werden Stemmata erstellt, Archetypen und Hyparchetypen werden rekonstruiert, während die Lesarten der Papyri gleichsam als neben der Normalüberlieferung stehender Sonderfall behandelt werden – man folgt ihnen nur zu gern, wenn sie eine Konjektur bestätigen und somit in den Rang einer emendatio erheben, man schätzt sie als Bestätigung dieser oder jener varia lectio, aber man versucht kaum je, sie organisch in eine Hypothese einzubauen, die vom Text des Autors ihren Ausgang nähme. Im Grunde lebt die Textkritik der Klassischen Philologie seit der Entdeckung der ersten Papyri mit einer Lüge: Man w e i ß theoretisch, dass die Lachmannsche Methode bestenfalls nur bis zum Archetyp führt und dass nur die divinatio oder der Glücksfall eines Papyrusbelegs noch näher an den Autorentext herankommen können, aber man h a n d e l t in der Praxis so, als brächte einen eine sorgfältige, methodisch saubere Textedition bis zum Griffel des antiken Schriftstellers. 6. Die Editionstechnik in der Papyrologie Lediglich in der papyrologischen Editionstechnik sieht es anders aus. Papyrologen zeigen im Allgemeinen wenig Neigung zum Theoretisieren ihres Tuns, und so muss man aus der Praxis auf die zugrundeliegenden Konzepte schließen. Vorbildliche Ausgaben literarischer Papyri weisen einen doppelten Text auf: Neben eine sogenannte diplomatische Abschrift, die nur den Buchstaben- und Sonderzeichenbestand des Papyrus wiedergibt, tritt ein Lesetext, in dem die geläufigen Lesezeichen (Spiritus, Akzente) beigefügt, Satzzeichen gesetzt und Orthographika korrigiert sind und in dem mehr oder weniger sichere Ergänzungsvorschläge für Lücken sowie Konjekturen ihren Platz finden (hypothetischere Ergänzungen und Konjekturen werden hingegen an den Fuß der Seite verbannt); normalerweise dient ein Zeilenkommentar der Rechtfertigung der vorgenommenen Operationen. So eine Ausgabe liegt beispielsweise in der neuen Veröffentlichung des Artemidor-Papyrus vor (Galazzi / Kramer / Settis 2009). Vorbildliche Ausgaben literari_________ 28
E. G. Turner 1968, 125: “It is relevant to recall [---] the practice of ancient scholars, when checking their texts, of collating them with a second exemplar. [---] This practice leads to ‘horizontal contamination’ of two sources and renders nugatory, or at least uncertain, an attempt to trace the vertical descent of manuscripts from one another – the classification by genealogy, and compilation of a stemma codicum. [---] Such ‘contamination’ was frequently found in the scriptoria of Byzantium. It seems certain that, far from beeing the exception, it was the rule in antiquity. [---] In consequence every variant must be considered individually and weighed as if it were a unique case. It must be assessed in the light of Greek usage, of the author’s own practice, of what is known about the subject from all sources as well as the manuscript evidence about this particular author. This has been the practice of editors of papyri for some time past; it now becomes an imperative duty for all scholars”.
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scher Papyri verfolgen zweifaches Ziel, nämlich einmal eine möglichst objektive Präsentation des materiell Überlieferten, zum anderen jedoch auch die Darbietung des Textes in der Gestalt, die nach Meinung des Editors sinnvoll und in sich konsequent ist, folglich also vom Autor in der gebotenen Form zumindest hätte niedergeschrieben werden können. Wichtig ist auch, dass jeder Papyrus als Zeugnis für sich behandelt und als Einzeltext publiziert wird, selbst dann, wenn es sich um den soundsovielsten Beleg für eine variantenlose Passage handelt. Sicherung des materiell überlieferten Textbestandes und zugleich Versuch, auf dieser Basis die Intention des Autors zu erfassen und dem modernen Leser zu verdeutlichen – so etwa könnte man die Tätigkeit des Herausgebers von literarischen Papyri umschreiben. In noch höherem Maße gilt das, wenn es nicht um die Edition von Texten der Literatur, sondern um die Präsentation von dokumentarischen Papyri geht. In der Geschichte der Papyrologie hat sich erst nach und nach herausgeschält, dass hier das eigentliche Arbeitsgebiet der Spezialisten liegen muss. Am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts galt eher die Edition eines literarischen Papyrus als Krönung der Tätigkeit, und entsprechend lieblos wurden die dokumentarischen Texte ediert – Abschrift des Textes, Korrektur der offensichtlichsten Schreibfehler im wissenschaftlichen Apparat, keine Übersetzung, bestenfalls ein dürrer Verweis auf Paralleldokumente. Als willkürlich herausgegriffenes Beispiel sei hier eine vierzeilige “Weizenquittung” auf Pergament aus dem 7./8. Jh. angeführt, die in der Wiener Papyrussammlung aufbewahrt wird und am Anfang des 20. Jahrhunderts von Carl Wessely (1904, 109 = SPP III 449) veröffentlicht wurde. Die Erstpublikation geschah “auf autographischem Wege” (Vorwort), d. h. Carl Wessely hat die Druckvorlagen handschriftlich erstellt. Leicht zu lesen sind sie nicht. Unter der Publikationsnummer 449 steht das Material, die (vermutete, wohl zu niedrig angesetzte) Datierung und die wahrscheinliche Herkunft. Die Edition beginnt mit der Angabe “R”, was als “Papyrus aus der Sammlung des Erzherzogs Rainer” aufzulösen ist; “die in Betracht kommenden Urkunden beginnen mit der Inventar-Nr. 9000, kurz mit Q bezeichnet” (Vorwort). Es folgen kurze Angaben zum Format, zur Faltung, zur Beschriftung, dann kommt sofort der Text ohne jeden Kommentar.
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Der heute übliche Standard sieht ganz anders aus: Dem Text geht eine Einleitung voran, die Auskünfte über Fundort, Aufbewahrungsort, Größe des Stücks, Datierung usw. gibt und eine Klassifizierung des Inhalts vornimmt. Dann folgt der Abdruck des Textes, der als halbdiplomatische Abschrift geboten wird, d. h. es wird der genaue Buchstabenbestand (einschließlich offenkundiger Schreibfehler) abgedruckt, aber der Editor führt Worttrennung, Satzzeichen und meistens auch Lesezeichen (Spiritus, Akzente) ein, löst Abkürzungen auf und nimmt sichere Ergäzungen kleiner Lücken vor. Direkt unterhalb des Textes finden sich Korrekturen von Falschschreibungen und Ergänzungsvorschläge, die nicht wirklich sicher sind, außerdem Lesungen früherer Ausgaben. Der folgende Zeilenkommentar erläutert die Entscheidungen des Editors, verweist auf Parallelen und weiterführende Literatur. Eine Übersetzung begleitet auf jeden Fall den Text. Wenn irgend möglich, wird der Edition auch eine Photographie beigegeben. Von den von Wessely herausgegebenen Texten wird von einer Gruppe Wiener Papyrologinnen und Papyrologen eine Neuausgabe veranstaltet. Der oben als Beispiel zitierte Text ist von Claudia Kreuzsaler neu ediert wurden (2007, 1–2 = SPP III2 449). Die neue Präsentation umfasst eineinviertel großformatige Seiten und wird von einem Foto im Tafelanhang begleitet. Zur Illustration sei die Neuausgabe hier als Beispiel für den heutigen Editionsstandard bei Ausgaben dokumentarischer Papyri abgedruckt. 449. WEIZENQUITTUNG P. Vindob. G 11350 Chalotis (Arsinoites)
3, 7 x 6, 8 cm
7.–8. Jh.
Ed. pr.: SPP III 449 (7. Jh., Fayum?) Revision am Original. Das kleine, helle Pergamentstück ist bis auf die ausgebrochene rechte obere Ecke und eine kleine Beschädigung am linken Rand in intaktem Zustand. Das Blatt war viermal horizontal gefaltet in Abständen von 0,5, 1, 2 und 3 cm vom oberen Rand. Beschrieben mit schwarzer Tinte auf der Fleischseite. Die Haarseite ist leer.
1 † Θὼ̣θ ις σίτου ιδ ἰνδ(ικτίωνος) Χα̣λ̣[ώθεος] 2 Μηνᾶ χρυσωχ(όου) ἀρτ(άβης) ἥµισυ δ̣ω̣δ̣έ3 κατ(ον) εἰκοστ(οτέταρτον), γ̣ί̣(νεται) ἀρτ(άβης) < ιβ´ κ(δ)´ µό(νον). † δ(ι᾿) ἐµοῦ 4 Ὀλυµπίου †. 1. θθ (l. θωθ) ed. pr. X.[ ed. pr. 2. χρυσωχ (l.-οχους) ed. pr. l. χρυσοχόου ἀρτ(άβας) ed. pr. [δωδέ] ed. pr. 3. σι/( ) ἀρτ ed. pr. µό(νας) ed. pr.
“Am 16. Thoth, an Weizen für das 14. Indiktionsjahr, für Chalothis, von Menas, dem Goldschmied, eine halbe, ein zwölftel und ein vierundzwanzigstel Artaben, das sind ½ 1/12 1/24 Artaben, sonst nichts. † Durch mich, Olympios †”.
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Die einzige uns erhaltene Steuerquittung mit der Unterschrift eines Olympios ist nach der kursiven Schrift mit den Charakteristika der späteren “Minuskelschrift” in arabische Zeit zu datieren. Abweichend vom üblichen Formular der Steuerquittungen ist die Angabe des Indiktionsjahres in Ziffern und die Einleitung der Wiederholung der Summe durch γί(νεται) (s. Komm. zu Z. 3). 1. Θὼ̣θ ις = 13. (14.) September. Die ed. pr. hat Θ(ώ)θ; unter dem Mikroskop lassen sich jedoch Spuren eines kleinen ω zwischen den beiden θ erkennen. Χα̣λ̣[ώθεως]: Der einzige zu den Spuren passende Ortsname ist Χαλῶθις, vgl. Calderini, Daris, Dizionario V, 109, wo vorliegender Text bereits s. v. Χαλῶθις aufgenommen wurde. Das Dorf Chalotis ist zweimal in römischer Zeit bezeugt, und zwar in P. Oxy. XLII 3063, 12 (2. Jh.) und in P. Fay. 122, 18 und 20 (100), einem Text aus dem Gemellus-Archiv, der die Lage des Ortes im Themistos-Bezirk nahe von Euhemeria vermuten läßt. Die anderen Belege stammen allesamt aus dem 7.–8. Jh.; vgl. neben Calderini, Daris, loc. cit., Wessely, Topographie, 160, B. P. Grenfell, A. S. Hunt, P. Tebt. II S. 358 und 409 sowie Timm, Christlich-koptisches Ägypten I, 479 und zuletzt F. Morelli, CPR XXII 26, Komm. zu Z. 23. 2. Μηνᾶ χρυσωχ(όου): Aus dem 7. Jh. gibt es mit P. Lond. III 1315b, 2 (Herm.?) und SPP VIII 876, 1 (Ars. oder Herakl.) noch zwei weitere Zeugnisse für χρυσοχόοι namens Μηνᾶς. Eine etwaige Identität ist anhand der Dokumente nicht zu erweisen. Zum Goldschmied in den Papyri s. S. Russo, I gioielli nei papiri di età greco-romana, Firenze 1999, 278–279. 3. εἰκοστ(οτέταρτον): Nach δωδέκατον ist εἰκοστ( ) trotz des in der Wiederholung alleine stehenden κ als 1/24 zu verstehen. γ̣ί̣(νεται): Vor ἀρτ(άβης) ist eine stark abgeriebene Vertikale mit darüberliegendem horizontalen Strich und danach eine längere Senkrechte zu sehen. σι für σίτου (ed. pr.) kann nicht gelesen werden. γίνεται ist in den Weizenquittungen unüblich, wäre aber an dieser Stelle passend. Nicht auszuschließen ist auch, daß die Spuren zur Abkürzung von εἰκοστ(οτέταρτον) gehören. Natürlich ist die Situation bei der Edition eines dokumentarischen Papyrus nicht mit der bei der Herausgabe literarischer Werke mit handschriftlicher Tradition zu vergleichen. Auch hier gilt aber, dass sorgfältige moderne Editionen eines literarischen Papyrus einen diplomatisch transkribierten Text neben einen Lesetext setzen, der dann die üblichen Interpunktionen, Lesezeichen, Ergänzungen usw. aufweist und am unteren Rand die üblichen Angaben eines apparatus criticus aufweist. Die prinzipielle Zielsetzung des Papyrologen ist bei einem dokumentarischen und bei einem literarischen Fund gleichbleibend: Es geht darum, den Text für moderne Forschungen zugänglich zu machen, und dazu gehört es nicht
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nur, den Textbestand, so wie er sich auf dem Papyrus findet, abzudrucken, sondern auch, ihn dem heutigen Leser kommentierend zu erschließen und vor allem auch herauszuarbeiten, was derjenige, der den Papyrus in der Antike beschrieben hat oder hat beschreiben lassen, eigentlich mitteilen wollte – selbst dann, wenn bei manchen Ägyptern die Beherrschung der griechischen Sprache so schlecht war, dass man den beabsichtigten Wortlaut hinter den niedergeschriebenen Verquertheiten nur noch mit Mühe erraten kann. 7. Ziele einer Textausgabe Diese Grundhaltung ist nun in der Mittelalterphilologie selten anzutreffen: Jenseits alles Schlachtenlärms der Diskussionen zwischen Lachmann- und BédierAnhängern muss man sich doch immer wieder vor Augen führen, welches Ziel man mit einer Textausgabe verfolgt. Vernünftigerweise wird man nicht bestreiten wollen, dass man dem Wortlaut, den der Autor niederschrieb oder niederschreiben ließ, möglichst nahe kommen möchte; nun hat es sich herausgestellt, dass die Erreichung dieses Zieles schwieriger ist, als sich das Optimisten im 19. und frühen 20. Jh. vorstellten, und dass das Ideal, wie das so bei Idealen zu sein pflegt, nicht erreichbar ist – daraus darf man aber doch auf keinen Fall die Konsequenz ziehen, dass man dann eben das Streben aufgeben und das Ziel der Editionstechnik auf die genaue Rekonstruktion der zufällig erhaltenen Handschrift eines zufälligen Schreibers herabgestuft werden muss, wie es Bédier und seine Gefolgsleute im Grunde fordern. Bei aller berechtigten Kritik an der für frühere Wissenschaftsepochen typischen ausschließlichen Konzentration auf einen verabsolutierten Schöpfer eines literarischen Kunstwerkes vergangener Zeiten und bei allem Verständnis dafür, dass es neben autorenzentrierten auch rezeptorenzentrierte Forschungsinteressen geben muss, darf man ja nicht die simple Tatsache aus dem Auge verlieren, dass der Schreiber einer Handschrift normalerweise nicht produziert, sondern reproduziert, nicht etwas wirklich Neues schafft, sondern etwas Gegebenes festhält, wobei freilich die Spannweite vom buchstabengetreuen Abschreiben bis zum (sprachlichen oder inhaltlichen) Umformen für ein anderes Publikum reicht. Dennoch sollte unser Hauptinteresse – nicht unser einziges Interesse – immer noch Chrestien de Troyes und nicht ein namenloser Provinzclerc sein29. Ein Vergleich mit der Sprachwissenschaft in der Optik von Ferdinand de Saussure mag vielleicht erhellend wirken: Das Material, mit dem die Linguistik arbeitet, besteht aus konkreten Sprachakten, gehört also der Ebene der parole an, aber das _________ 29 Vgl. auch die klaren Worte von Alberto Blecua 1991/1992, 88: “Las distintas concepciones [---] tienen fines distintos: la neobedierista se preocupa más del documento lingüístico y de la recepción – el texto en diacronía; la neolachmanniana también se ocupa del documento – de ahí las discusiones sobre las grafías – y de la transmisión en la historia – de ahí los aparatos de variantes exhaustivos –, pero, sobre todo, se interesa por el logos, la palabra del autor, o mejor, por la palabra más cercana al autor de todas las posibles. Los neobedieristas sacralizan el texto material; los neolachmannianos el texto ideal: o la mano del Copista o la voz del Autor. Con una diferencia: los neolachmannianos no excluimos la mano del Copista y los neobedieristas, en cambio, excluyen la voz del Autor”.
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Haupterkenntnisziel ist die Systematik, die hinter den Sprachakten steht, eben die langue; ebenso sind dem Editor nur konkrete “Schreibakte”, die in Handschriften niedergelegt wurden, materiell greifbar, aber auch er muss versuchen, die hinter ihrer Vielheit liegende Einheit zu erkennen – dass das manchmal aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist, ist kein Argument gegen die Richtigkeit der Forderung. In der Klassischen Philologie hat es nie einen Zweifel daran gegeben, dass die Konstitution eines möglichst autornahen Textes das normale Ziel editorischer Tätigkeit sein muss. Gerade vor dem Hintergrund dieses Konsenses bezweifelt aber niemand die Berechtigung eines anderen Ansatzes in besonders gelagerten Fällen. Nicht um den griechischen Bibeltext zu verbessern, sondern um eine Vorstellung davon zu bekommen, in welcher Gestalt die frühen christlichen Schriftsteller ihn lasen, rekonstruiert man die Biblia patristica aus den zahllosen Zitaten bei den Kirchenvätern. Bei Texten der Populärliteratur (Physiologus, Alexanderroman), die in voneinander sehr verschiedenen Fassungen umliefen, versucht man nicht, eine “Urfassung” zu rekonstruieren, sondern man publiziert die einzelnen Redaktionen. Wenn ein bestimmter Textzeuge aus irgendeinem Grunde von besonderem Interesse ist, verschmäht man die Bédier-Metode keineswegs, d. h. man veranstaltet eine halbdiplomatische Edition dieses Textes, bietet Photographien aller Seiten und verbannt die Gegebenheiten der sonstigen Überlieferung in den Apparat30. Sonderfälle wie die genannten müssen aber als das gesehen werden, was sie sind, eben Sonderfälle. Der Normalfall der klassischen Philologie bleibt die Ausgabe, die versucht, ein möglichst getreues Bild von dem zu geben, was der Autor als Text seines Werkes beabsichtigte. Als normalerweise einzig gangbarer Weg zu diesem Ziel hat sich bislang die Rekonstruktion möglichst früher Textstufen auf Grund des Vergleichs von Handschriften untereinander erwiesen; in der weitaus größten Zahl der Fälle ermöglicht die umsichtig angewendete Lachmann-Methode die approximative Rekonstruktion eines spätantiken Archetyps, von dem die gesamte mittelalterliche Tradition abhängt, wobei wir nur vergleichsweise selten durch divinatio oder durch den Zufall des Vorhandenseins älterer Zeugnisse (Papyrusfunde, Parallelüberlieferung) zeitlich noch näher an den Autor herankommen. Bei den meisten literarischen Texten ist davon auszugehen, dass sie sorgfältig tradiert und nur ganz selten durch beabsichtigte Manipulationen der Schreiber verändert wurden; lediglich bei Texten, die nicht zum Kanon im engeren Sinne gehörten oder die für bestimmte Sonderzwecke bestimmt waren (z. B. Exemplare für den schulischen Elementarunterricht), muss mit starken Eingriffen gerechnet werden, und hier versagt die Lachmann-Methode ebenso wie im Falle einer stark kontaminierten Überlieferung. _________ 30 So ist beispielsweise die Vorgehensweise bei der Edition eines umfangreichen Papyruskodex aus dem 4. Jahrhundert n. Chr., der große Teile der 1. und 2. catilinarischen Rede Ciceros enthält: Ramón Roca-Puig, Ciceró. Catilinàries. Papyri Barcinonenses, Barcelona 1977.
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Dass es aber Fälle gibt, die einer bestimmten Methode nicht zugänglich sind, spricht ja noch lange nicht dagegen, dass man diese Methode dort anwendet, wo sie funktioniert oder zumindest einigermaßen funktioniert. In der Sprachwissenschaft der letzten Jahrzehnte wurden unendlich viele Energien vergeudet auf der Suche nach der alleinseligmachenden Methode, bevor man endlich zugab, dass das Ziel den Weg bestimmt und nur Methodenpluralismus der Pluralität der sprachlichen Realität gerecht werden kann; man sollte jetzt in der Editionstechnik die Irrwege der Sprachwissenschaft vermeiden und sterilen Diskussionen über die unter allen denkbaren Voraussetzungen beste Methode ausweichen - stattdessen ist bei jedem Text ad hoc zu überlegen, mit welchem Erkenntnisziel man ihn auf welche Weise am besten dem modernen Leser präsentieren will. Annäherung an den Autorentext, Darbietung der handschriftlichen Tradition in einer für eine bestimmte Region typischen Fassung, Rekonstruktion einer erschlossenen Dialektversion, Abdruck eines konkreten Manuskripts – das sind ganz unterschiedliche Ziele, die alle ihre Berechtigung für sich haben und unterschiedliche Vorgehensweisen erfordern; die in den meisten Fällen angestrebte erste Absicht sollte aber die Annäherung an die Textintention des Autors sein. Erst wenn dies zufriedenstellend erreicht ist, kann man Editionen veranstalten, die anderen Zielen dienen, die also beispielsweise die Gestalt bieten, die ein Text in einem bestimmten Jahrhundert, in dem er starke Rezeption erfuhr, hatte. So wäre es angesichts der Beeinflussung der französischen Literaturtheoretiker des 17. Jh. durch Horaz ganz nützlich, eine Ausgabe zu verstalten, die den für Frankreich gültigen textus receptus dieser Epoche bieten würde; die Erstellung einer solchen Edition wäre freilich keine genuine Aufgabe der klassischen Philologie, denn die hat genug zu tun mit der Antike selbst und kann sich nicht auch noch des Nachlebens der Antike annehmen – da wäre dann wieder die Romanistik an der Reihe, aber dass sie heute interessiert und in der Lage wäre, einen Horatius Gallicanus classicus zu erstellen, glaube ich eigentlich nicht.
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32. Titel, Datum und Ort der Erstveröffentlichung 2.
“Papyrologie: eine interdisziplinäre Wissenschaft”: “Papyrologie – eine interdisziplinäre Wissenschaft”, Siegener Hochschulblätter 7 [1], 1984, 64–73.
3.
“Die Papyrologie als Erkenntnisquelle für die Romanistik”: “La papirologia come scienza ausiliaria della romanistica”, in: Critique et édition de textes (= Actes du XVIIe Congrès International de Linguistique et Philologie Romanes IX), Aix-en-Provence 1986, 37–48. “Etyma romanischer Wörter in griechischen Papyrusurkunden”, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 51, 1983, 117–122.
4.
“Papyrusbelege für fünf germanische Wörter”: “Papyrusbelege für fünf germanische Wörter: ἀρµαλαύσιον, βάνδον, βουρδών, βρακίον, σαφώνιον”, Archiv für Papyrusforschung 42, 1996, 113–126.
5.
“Der kaiserzeitliche griechisch-lateinische Sprachbund”: “Der kaiserzeitliche griechisch-lateinische Sprachbund”, in: Reiter, Norbert (ed.), Ziele und Wege der Balkanlinguistik, Berlin 1983, 115–131.
6.
“Papyrus in den antiken und modernen Sprachen”: “Papyrus in den europäischen Sprachen”, Balkan-Archiv 7, 1982, 11–56. “Der Weg von gr. lat. papyrus zu kat. paper”, Estudis Romànics 23, 2001, 77–90.
7.
“Die Aussprache des Lateinischen nach griechischen dokumentarischen Papyri”: “Bemerkungen zur Aussprache des Lateinischen auf Grund griechischer dokumentarischer Papyri”, Živa antika 26, 1976, 111–117.
8.
“Die Verwendung des Apex im P. Vindob. L 1c = ChLA XLIII 1241c”: “Die Verwendung des Apex und P. Vindob. L 1 c”, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 88, 1991, 141–150.
9.
“Zur Akzentuierung des Latinismen des Griechischen: Von der “lex Wackernagel” zur “lex Clarysse”: “Von der ‘lex Wackernagel’ zur ‘lex Clarysse’: Zur Akzentuierung der Latinismen im Griechischen, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 123, 1998, 129–134.
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“Zur Akzentuierung lateinischer Wörter in griechischen Papyri”, Atti del XXII Congresso Internazionale di Papirologia, Firenze 2001, 753–761. 10. “ἀκακία, ἄκανθα / acacia, acantha: “Zur Etymologie von ἄκανθα und ἀκακία”, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 97, 1993, 145–146. 11. “ἀλογία / alogia”: “Ein Pseudo-Gräzismus im Spätlatein: alogia = convivium”, Wiener Studien 103, 1990, 193–198. 12. “ἀπλίκιτον, ἄπλικτον / applic(i)tum”: “Zu Herkunft und Umfeld von ἄπλικτον ‘Militärlager’”, Archiv für Papyrusforschung 44, 1998, 244–252. 13. “ἀραβάρχης, ἀλαβάρχης / arabarches, alabarcha”: “Sp. alabarca und gr. ἀραβάρχης”, Romanistik in Geschichte und Gegenwart 1, 1995, 215–222. 14. “βασκαύλης, βασκαύλιον, µασκαύλης / bascauda, mascauda”: “Ein gallisches Wort in den Papyri: βασκαύλης”, Archiv für Papyrusforschung 55, 2009, 330–340. 15. “κάµασον, καµάσιον, καµίσιον / camis(i)a”: “Zur Rolle von Papyrusbelegen für die Wortgeschichte am Beispiel von camisia und καµάσιον, καµίσιον”, Archiv für Papyrusforschung 40, 1994, 133–142. 16. “καράκαλλος, καρακάλλιον / caracalla”: “Zur Bedeutung und Herkunft von caracalla”, Archiv für Papyrusforschung 48, 2002, 247–256. 17. “κοιµητήριον / coemeterium”: “Was bedeutet κοιμητήριον in den Papyri?”, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 80, 1990, 269–272. “Graecitas togata: coemeterium”, in: Kiss, Sándor / Mondin, Luca / Salvi, Giampaolo (edd.), Latin et langues romanes. Études de linguistique offertes à József Herman à l’occasion de son 80ème anniversaire, Tübingen (Niemeyer) 2005, 237–242. 18. “κονδῖτος, κονδῖτον / condītus, condītum”: “Gewürze und Mulsum: Zur Bedeutung von κονδῖτος und κονδῖτον in den Papyri”, Akten des 21. Internationalen Papyrologenkongresses (Berlin 1995), Leipzig / Stuttgart 1997, 547–555. 19. “κράβατος / grabatus”: “κράβατος, κραβάτιον und Verwandtes in den Papyri”, Archiv für Papyrusforschung 41, 1995, 205–215.
Titel, Datum und Ort der Erstveröffentlichung
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20. “πέλµα / pelma, πῆγµα / pegma”: “Zu den Bedeutungen von πῆγμα in den Papyri”, Archiv für Papyrusforschung 43, 1997, 74–77. “Ein verkannter Gräzismus im Dolomitenladinischen: grödn. pèlma kommt von pelma und nicht von pegma”, Mondo ladino 21, 1997, 93–108. 21. “πουγγίον / punga”: “Von den Goten über die Griechen zu den Romanen: punga ‘Tasche’”, in: Holtus, Günter / Kramer, Johannes / Schweickard, Wolfgang (edd.), Italica et Romanica. Festschrift für Max Pfister zum 65. Geburtstag, Bd. 1, Tübingen 1997, 185–193. 22. “ῥόγα / roga”: “roga”, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 94, 1992, 185–190. 23. “σικάριος, σικάριον / sica, sicilis, sicarius”: “sica, sicilis, sicarius, σικάριος, σικάριον: osservazioni latinistiche, romanistiche e papirologiche”, in: Storia, poesia e pensiero nel mondo antico. Studi in onore di Marcello Gigante, Napoli (Bibliopolis) 1994, 321–326. 24. “σκάλη / scala”: “scala ‘Landungsplanke’ und σκάλη ‘Anlegestelle’”, Archiv für Papyrusforschung 41, 1995, 62–65. 25. “σπανέλαιον / oleum spanum”: “Die Bedeutung von σπανέλαιον”, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 81, 1990, 261–264. 26. “συµφωνία / symphonia”: “symphonia ‘Hirtenflöte’ im Griechischen, Aramäischen und LateinischRomanischen”, Balkan-Archiv 16, 1991, 303–313. 27. “τράγηµα / tragema”: “Tragemata und Dragée”, Archiv für Papyrusforschung 54, 2008, 113–131. 28. “τριχία / trichia”: “trichia im Griechischen, Lateinischen und Romanischen”, Balkan-Archiv 16, 1991, 9–21. “Seile, Zöpfe, belegte und unbelegte Etyma: Lehren aus der Wortgeschichte von trichia”, in: Iliescu, Maria / Marxgut, Werner (edd.), Latin vulgaire latin tardif III, Tübingen (Niemeyer) 1992, 203–212. 29. “φοσσᾶτον / fossatum”: “fossatum im Lateinischen, Griechischen und Romanischen”, Wiener Studien 109, 1996, 231–242.
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30. “Editionsprinzipien der Klassischen Philologie und Papyrologie und die Romanistik”: “Romanistische Schlussfolgerungen aus den Editionsprinzipien der Klassischen Philologie und der Papyrologie”, in: Gleßgen, Martin-Dietrich / Lebsanft, Franz (edd.), Alte und neue Philologie, Tübingen (Niemeyer) 1997, 43–59.
IX. INDICES
INDEX RERVM Acacia Nilotica 153–155 Akzentuierung 48, 64, 65, 139–150 Alltagssprache 6–10, Altertumswissenschaft 4, 5, 11 Anzahl der Papyri 5, 6 Apex 131–137 Bett 241–251 Christliche Papyri 22, 23 Dissimilation 178 Docht 95, 98–102 Dokumentarische Papyri 17, 19–21, 28–31 Dolche 287–293 Dorf 360–363 Editionsprinzipien 367–384 Gefäße 185–194 Germanismen 39–53 Glossare 29, 62 Graben 353–359 Grabstätten 219–227 Interdisziplinarität 3, 4, 11 Konsonantismus 29, 30, 62–64, 129, 130 Landungsstelle 288–291 Lateinische Papyri 27 Leder als Beschreibstoff 84, 87–89 Leiter 287–291 Liege 241–243 Literarische Papyri 17–19, 28–31 Masoreten 309–311 Messer 298–299 Militärlager 165–173, 353–363 Mörder 290–293 Musikinstrumente 307–318 Nachspeisen 319–339 Öl 301–306
Ostraka 6 Papier 16, 85, 86, 102–114, 116 Papyrus als Beschreibstoff 83–94, 102, 106, 107, 112–116 Pergament 16, 84, 85, 88–90, 102 Quantitätenkollaps 31 Riedgras 95–98 Schlafräume 207–217 Schreibtäfelchen 6 Schriftträger 15, 16 Sichel 293–295 Sold 279–285 Spanien 301–306 Sprachbund 57–59, 79, 80 Steuerbeamte 176–183 Süssigkeiten 319–339 Taschen 269–277 Vokalismus 31, 64–67, 120–128 Vollzugsbeamte 166–173 Vulgärlatein 27–29 Zweisprachigkeit 59–62
INDEX PERSONARVM ANTIQVITATIS Aaron 214 Aelius Spartianus 214 Aëtios von Amida 232, 233 Agapetos 210 Agrippa 175 Antonios von Ägypten 347 Aias 71 Aischines 323 Aischylos 257 Alcimus Ecdicis Avius 95 Alexander Magnus 18, 359 Alexander, Tib. Iulius 175, 178 Alexandros 175, 178, 180 Alexandros von Tralles 232 Aleximachos 325 Alexis 321 Ammianus Marcellinus 290 Ammon 330 Ampelius, Lucius 304, 315 Anastasios 36, 355, 359 Anna Komnena 359 Angilbertus 271 Antiochos IV. Epiphanes 311, 312 Antipater von Thessalonike 90 Antistius Asiaticus 181 Aphrodito 165 Apicius, M. Gavius 27 Apuleius 58, 238, 315 Arcadius 46 Archestratos von Gela 322 Arios 328 Aristophanes 242, 293, 319, 320, 338 Aristoteles 18, 22, 255, 323, 325, 344 Arrius 60
Artemidoros von Ephesos 19, 24, 60, 220, 302, 324 Artemis 323 Athanasios 222, 257, 347 Athenaios 34, 166, 169, 221, 321– 325, 371 Audoinus 270 Augustinus, Aurelius 62, 157–163, 237, 371 Augustus (Kaiser) 19, 91, 92 Aurelia Charite 219, 227 Aurelia Maria 35 Aurelius Antoninus siehe Caracalla Aurelius Andronicus 237 Aurelius Mercurius 45 Aurelius Sakaon 20 Aurelius Victor 226 Ausonius, Decimus Magnus 95, 261 Auxanusa 328 Belisar 41 Berenike 175 Bonifatios von Tarsos 40 Caelius Aurelianus 230 Caesar, C. Iulius 17, 75, 134, 374 Caligula 175 Capitolinus, Iulius 354 Caracalla (Kaiser) 207, 208, 211, 214, 215, 217 Carvilius 136 Cato, M. Porcius 60 Catullus, C. Valerius 62, 90, 93, 243 Celsus 93, 230 Chairemon, Aurelius 261 Charidemos 333 Chiron 27, 304 Chremylos 320
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Cicero, M. Tullius 60, 76, 77, 120, 125, 136, 157, 177, 229, 230, 243, 261, 280, 282, 314, 367, 371, 377, 383 Claudius Geminus 180 Claudius Pulcher 120 Claudius (Kaiser) 175 Collictus 196, 270 Columella, L. Iunius Moderatus 229, 230, 302 Commodus (Kaiser) 180, 297 Constantinus (Kaiser) 204 Cotta, C. Aurelius 125 Daniel 23, 225, 308–311, 317 Demetrios 180, 329 Deukalion 243 Deusdedit (Papst) 283 Dido 134 Didymos der Blinde 19 Didymos der Schiffer 298 Didymos, Sohn des Aspasios 344 Dio Cassius 219, 220, 225 Diocletianus (Kaiser) 44–46, 89, 224, 226, 228, 229, 233 Diodorus Siculus 47, 330 Diogenes Laertios 324 Diogenianos 89 Dionysios 328 Dios 330 Dioskurides 88 Diphilos von Sinope 321 Docilianus 224 Domitianus (Kaiser) 204 Domitius 134 Dorotheos 47 Dosiades 221 Dryton 20 Egeria 27 Eligius 270 Elpidephoros 330 Ennius 287, 289, 353 Ephippos 34 Epiktet 243, 250 Epikuros 17
Epimachos, Sohn des Polydeukes 344 Epiphanius Iudaeus 47 Euagrios von Antiochia 347 Eucherius von Lyon 225 Eumelos 331 Eumenes 89 Eusebius 175, 222, 223 Eustratius von Konstantinopel 44 Fabiola 196 Felicitas 172 S. Pompeius Festus 197, 287, 289 Iulius Firmicus Maternus 168, 282 Flavius Iosephus siehe Josephus Fournet, Jean-Luc 6 Fredegar 76 Gaianos 330 Galenos 93, 302, 304, 305, 324 C. Cornelius Gallus 19 Gargilius Martialis 33 Aulus Gellius 62, 331 Germana 270 Gordianus (Kaiser) 354 C. Sempronius Gracchus 125 Gratianus 178, 270 Gregorius Magnus (Papst) 280, 283 Gregorius von Tours 98 Guderit 197 Hannibal 255 Heraklios 166 Herennius 88, 354 Herminos 332 Heron von Alexandria 256, 257 Heronas 332 Hero(n)das 18 Herodes 175, 177 Herodotos 69, 83, 86, 87 Hesiodos 18, 376 Hesychios 47, 48, 176, 191, 259, 277, 297, 310, 332, 353 Hieronymus 196, 197, 200, 226, 308, 313, 331 Hierophilos 232 Hippolytos 200, 221, 225
Index personarum antiquitatis
Hipponax 262 Homeros 28, 73, 86, 371, 375–377 Honorius 46 Horatius Flaccus 43, 61, 314, 315, 374, 384 Hyrkanos 177 Iordanes 227 Isidorus von Sevilla 40, 41, 91, 196, 197, 230, 290, 308, 309, 315, 316 Iucundus 134 Iulia Domna 219 Iulianus Toletanus 42 Iustinianus (Kaiser) 35, 178, 179, 204, 283, 289, 297 Iuvenalis, D. Iunius 40, 131, 177, 185, 190, 230 Jeremias 23, 222 Jesus 241 Johannes 23, 234 Johannes von Armenien 41 Johannes Chrysostomos 223 Johannes von Damaskus 223 Johannes Lydus 167, 168, 172, 358 Johannes Malalas 42, 44, 358 Johannes Moschos 44 Josephus, Flavius 75, 175–178, 180, 281 Josua 255 Kallimachos 18 Kallistos 166 Karyon 320 Kedrenos 298 Kerdon 328 Klearchos 321 Klemens von Alexandria 325 Kolluthos 330 Konstantinos Porphyrogennetos 40 Kopreus 312 Kritolaos 325 Kriton 243 Krobylos 321 Ktesias 84, 89 Leon der Weise 166, 271, 284 Leontios 234
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Livia 91 Livius 83, 297, 314, 315 Lucilius 46, 88, 110, 157, 243, 245 Lucretius Carus 372, 373 Lukas 69, 313 Lukianos 160 Lukios 330 Lykophron von Alexandria 322 Macrobius 333 Makarios 232, 233 Malchos 177 Mani 23 Marcellinus 304 Maria 222 Mariamne 175 Marios 330 Markus 241 Martialis, M. Valerius 185, 190, 281, 290, 374 Matthäus 23 Maurikios 40, 41, 165, 171, 271, 358 Mausolos 179 Meliton von Sardes 22 Menandros 18, 321 Menas 380, 381 Menedemos 324 Mettius Rufus 181 Minerva 212 Moiris 90, 242 Neilos 329, 331 Nepheros 219 P. Nigidius Figulus 62 Nireus 134 Nonius 302 Omar (Kalif) 358, 359 Oribasius 125 Origenes von Alexandria 19, 23, 222 P. Ovidius Naso 95, 157 Pachom 331 Palladas von Alexandria 175, 176, 213 Palladios 93, 178, 200 Papias 334, 335 Paulinus von Nola 40
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Paulos 237, 238 Paulos von Aigina 232 Paulus 168 Paulus Diaconus 42, 197, 287 Pausanias 142 Peisistratos 377 Petronius Arbiter 27, 43, 74, 157, 230 Petros 210 Piso, L. Calpurnius 17 Philagrius 44 Philes, Manuel 322 Philodemos 17 Philon von Alexandria 175, 178, 257 Philon von Byzanz 256 Philostratos 325 Phoibasia 210 Phrynichos 90, 242 Platon 311, 322, 338 Plautus, T. Maccius 18, 27, 33, 68, 131, 281, 295, 374 Plinius Secundus 33, 51, 83, 91, 93, 94, 157, 230, 287, 289, 295, 315, 333 Plinius Valerianus 334 Plutarchos 60, 89, 93, 325, 358 Pollux 242, 277, 297 Polybios 142, 159, 168, 170, 255, 308, 312 Pompeius 177 Pomponius Mela 48 Poseidippos von Pella 19 Priscianus 90 Prokopios 41, 358 Prokopios von Gaza 353 Prudentius 315 Psellos, Manuel 322 Ptolemaios 141, 311 Publius 172 Quintilianus, M. Fabius 61, 131– 133, 136, 290, 295, 371 Remmius Palaemo 78 Rhinton 242, 245 Rufinus 175
Rufus Medicus 255 Rufus, P. Sulpicius 123 Sallustius Crispus 161 Sappho 18, 277 Sarapammon 312 Sarapas 246 Sarapion 20, 219 Seluros 256 Seneca, L. Annaeus 157, 283, 314, 315 Severus 220 Septimius Severus 207 Silas 248 Simplicianus 158 Solon 18 Sozomenos 244 Spyrifon 244 Strabon 141, 142, 182, 256 Suda 40, 166 Suetonius Tranquillus 61, 290, 315 Sulis 224 Sulla, L. Cornelius 120, 132, 290 Tacitus, P. Cornelius 43 Triphyllios 244 Symmachos 71, 256 Synkletika 257 Taurus 331 Tayris 220 Terentianus, Claudius 6, 28, 73 Terentius Afer 18, 76, 354, 374 Tertullianus, Q. Septimius Florens 225 Theodoretos 256 Theodoros 210 Theodoros Studites 93, 98 Theodosius 178, 355 Theon 234, 329, 332, 333 Theophanes 50, 51, 234 Theophrast 87, 90, 92, 154, 155, 231, 324 Therpe 234, 235 Claudius Tiberianus 6 Tiberius (Kaiser) 175 Tiro 330
Index personarum antiquitatis
Ulfila 273 Ulpianus 43, 88, 230, 354, 371 Valentinianus 178 Valerius Maximus 290 Varro 229, 243, 287, 288, 295, 353 Vegetius 304, 354 Venantius Fortunatus 308 Vergilius Maro 132, 297 Vespasianus 344 Victor Vitensis 196 Vitruv 295 Xenophon 322, 323, 338 Zenon 20 Zosimos 210
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INDEX PERSONARVM RECENTORIS AEVI Adams, James Noel 5–7, 28, 57, 60, 61, 73, 119, 282 Adelung, Johann Christoph 334 Adrados, Francisco R. 59–61 Ahlbäck, Olav 146 Alart, Bernard 107 Alessio, Giovanni 34, 342–344, 348 Altheim, Franz 182 André, Jacques 153 Andriotis, Nikolaos 99, 171, 201, 213, 249, 255, 270, 284, 310 Appel, Carl 357 Arce, Javier 302, 303 Bacht, Heinrich 331, 332 Bagnall, Roger S. 19, 20, 22, 23, 49, 249 Baist, Gottfried 254 Bakos, Ferenc 269 Bally, Charles 141, 144, 146, 149 Balz, Horst 169 Bardy, Gustave 157 Barić, Henrik 361 Barison, Paola 23 Bartelink, Gerhardus J. M. 347 Bartina, Sebastià 302, 303 Bartoletti, Guglielmo 6 Bartoli, Matteo Giulio 288 Bassols de Climent, Mariano 120 Bastianini, Guido 18 Battaglia, Emanuela 327 Battisti, Carlo 260 Bauer, Walter 313 Baumbach, Lydia 88 Baumgartner, Walter 310 Bechtel, E. A. 69 Beck, Hans-Georg 166, 224
Beckby, Hermann 213 Bédier, Joseph 367, 369, 370, 381– 383 Bekker, Immanuel 242 Bell, Harold Idris 166, 302 Bergk, Theodor 353 Bernard, André 181 Betz, Otto 290 Bifrun, Giachen 356 Binder, Vera 57, 62, 63, 119, 124, 126, 128, 129, 129, 189 Biville, Frédérique 57, 157 Blaise, Albert 98, 347 Blass, Friedrich 69, 74, 76, 221 Blecua, Alberto 382 Blumenthal, Peter 63 Böckh, August 326 Bojan, Teodor 361 Bowman, Alan K. 133, 137 Browne, Gerald 260 Browning, Robert 66, 69, 75 Brüch, Josef 39 Büchner, Karl 373, 374 Busch, Stephan 15 Bußmann, Hadumod 57, 77 Çabej, Eqrem 361 Cadell, Hélène 303 Calderini, Aristide 6, 19, 168, 182, 302, 359, 381 Calvisius, Sethus 334 Capasso, Mario 19 Capidan, Theodor 33 Cappello, Teresa 35 Caracausi, Girolamo 269 Carnoy, Albert Joseph 154 Casanova, Angelo 18
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Cavallo, Guglielmo 15 Cavenaile, Robert 5, 6, 28 Celtis, Conrad 262 Černý, J. 154, 155 Cerquiglini, Bernard 370 Cervenka-Ehrenstrasser siehe Ehrenstrasser Chadwick, John 88 Champollion, Jean-François 91 Chantraine, Pierre 154, 155, 189, 208, 245, 262, 277, 319 Chiaudano, Mario 86 Chompski, Noam 367 Christ, Wilhelm von 71 Christensen, H. G. 91 Cioranescu, Alexandru 254, 361, 362 Cipariu, Timotei 361 Clarysse, Willy 20, 139, 147, 148 Cobet, Carl Gabriel 369 Collatz, Christian-Friedrich 312 Colón Doménech, Germán 108 Comrie, Bernard 57 Coromines, Joan 105, 264, 266, 307, 337, 342, 343, 349 Cortelazzo, Manlio 34, 254, 269 Coseriu, Eugenio 67, 69, 72, 74, 77, 78, 117 Courtney, Edward 177 Covarrubias, Sebastián de 253 Cribiore, Raffaela 19 Crönert, Wilhelm 6, 345 Crum, Walter Ewing 154, 155, 211 Cugusi, Paolo 6, 28 Cujacius, Jacobus 176 Cuvigny, Hélène 330 Dahmen, Wolfgang 97 Daicoviciu, Hadrian 204 Daniel, Robert 24 Daremberg, Charles 309 Daris, Sergio 28, 78, 124–126, 129– 131, 168, 182, 189, 234, 237, 280, 295, 359, 381 Darmesteter, Arsène 338 Dauzat, Albert 341
David, Martin 20 Debrunner, Albert 62, 68, 221 De Bruyne, Donatien 355 Deißmann, Adolf 6, 189 Delamarre, Xavier 191 Dennis, George T. 42, 44, 165, 271, 358 Densusianu, Ovid 227, 361 Dessau, Hermann 158 Deutschmann, Olof 78 Devoto, Giacomo 59, 67, 77, 157 Diehl, Ernst 27 Dieterich, Karl 6, 247, 249 Diethart, Johannes 220, 223, 224 Dietrich, Wolf 77, 78 Diez, Friedrich 105, 253, 273, 308, 335, 336, 341, 342, 372 Dihle, Albrecht 377 Dionisotti, Anna Carlotta 262 Dittenberger, Wilhelm 124, 126 Dorandi, Tiziano 6 Dottin, Georges 189 Drew-Bear, Thomas 42 Drexler, Hans 159 Dubois, Jean 341 Dubuisson, Michel 57 DuCange, Charles Du Fresne 35, 96, 99, 163, 262, 284, 292, 309, 348 Duchesne, Louis 355 Düring, Ingemar 377 Eckermann, Johann Peter 18 Edgar, C. C. 20 Egenolff, Peter 143 Ehrenstrasser, Irene-Maria 49, 144, 189 Eideneiner, Hans 272 Erasmus, Desiderius 313 Erichsen, Wolja 154, 155 Erman, Adolf 154, 155 Ernout, Alfred 88, 170, 190, 208, 272, 289 Es, W. A. van 362 Estienne, Henri und Robert siehe Stephanus, Henricus und Robertus
Index personarum recentioris aevi
Faré, Paolo 33 Faulhaber, Charles B. 370 Feist, Sigmund 272 Fewster, Penelope 28 Figge, Udo 30, 336 Flobert, Pierre 133 Florescu, Radu 204 Forcellini, Aegidius 304 Förster, Hans 23 Fouché, Pierre 343 Fournet, Jean-Luc 6 Friedrich, J. 250 Frings, Theodor 273, 288 Frisk, Hjalmar 87, 90, 154, 155, 189, 245, 262, 277, 319 Fritzner, Johan 108 Fromm, Hans 368 Froschauer, Harald 23 Gallazzi, Claudio 19, 24, 60 Gamillscheg, Ernst 39, 202, 276, 336, 341, 342 Gamillscheg, Ernst 40, 42, 165, 358 García de Diego, Vicente 105, 264, 266, 341 Gärtner, Kurt 370 Gascou, Jean 235 Gercke, Alfred 154 Germer, Renate 155, 329 Gerov, Boris 204 Gesenius, Wilhelm 170, 310, 360 Ghedini, Giuseppe 19 Ghinassi, Ghino 96 Giammarco, Ernesto 34 Gigante, Marcello 17 Gignac, Francis Thomas 6, 41, 62–66, 99, 119, 126, 128, 129, 178, 184, 247–249 Giuglea, George 361 Goddard, Rathbone 350 Goelzer, Henri 93 Goethe, Johann Wolfgang von 18 Grapow, Hermann 154, 155 Greive, Artur 277
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Grenfell, Bernard P. 186, 189, 302, 328, 381 Grimm, Jakob und Wilhelm 334 Gronewald, Michael 23 Groningen, Bernhard Abraham van 20 Guiraud, Pierre 337 Gumbrecht, Hans Ulrich 370 Gutmacher, E. 101 Gützlaf, Melsene 312 Haarmann, Harald 58 Habermann, Wolfgang 258, 259 Hadzidakis, Georgios N. 282 Hahn, E. A. 31 Halla-aho, Hilla 73 Hamm, Winfried 23 Hansen, Dirk U. 242 Harrauer, Hermann 231, 232, 234– 236 Hasitzka, Monika R. 21, 22 Hassall, M. W. C. 212 Hatzfeld, Adolphe 338 Helbing, Robert 20 Helms, Hadwig 312 Hengstl, Joachim 20 Henner, Jutta 23 Hepper, Frank Nigel 329 Heraeus, Wilhelm 200, 283 Herman, József 28, 117, 353 Herwerden, Henricus van 279, 345 Hilka, Alfons 369 Hoesen, Henry Bartlett van 132 Hofmann, Johann Baptist 44, 70, 71, 74–76, 170, 190, 202, 208, 289, 343, 353 Hogart, David G. 181 Holder, Alfred 190, 195, 208 Holtus, Günter 370 Holzweissig, Friedrich 67, 68 Horak, Ulrike 23, 24 Hug, August 287 Hunt, Arthur Surridge 20, 186, 189, 302, 328, 381 Husselman, Elinor Mullet 211 Husson, Geneviève 259
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Immisch, Otto 57 Ioannidou, Hariklia Grace 187 Jannaris, Antonios N. 70, 75, 221 Janse, Mark 57 Jault, F. A. 335 Johnson, Allan Chester 302 Jokl, Norbert 361 Jördens, Andrea 20 Jouguet, Pierre 182 Jud, Jacob 102, 204 Kahane, Henry / Renée 8, 9, 28, 297–299 Kaimio, Jorma 57 Katičić, Radoslav 205 Kautzsch, Rudolf 309 Keil, Josef 187 Khoury, Raïf Georges 22 Kiessling, Emil 87 Kirsch, Adam Friedrich 334 Klein, Ernest 191 Kluge, Friedrich 50 Koehler, Ludwig 310 Koenen, Ludwig 23 Kolb, Frank 215 Kolios, Georgios 166 Körting, Gustav 335 Koschwitz, Eduard 369 Koskenniemi, Heikki 45 Kouremenos, Theokritos 17, 84 Krahe, Hans 245 Kramer, Bärbel 19, 23, 24, 36, 60, 154, 168, 220, 378 Kramer, Johannes 6, 21, 29, 37, 41, 42, 59, 62, 78, 97, 109, 115, 134, 135, 262, 362 Krause, Jens-Uwe 169, 188 Krauss, Samuel 291 Kreißl, Barbara 329 Kretschmer, Paul 59, 154, 245 Kreuzsaler, Claudia 380 Kriaras, Emmanuil 35, 144, 171, 223, 233 Kruit, Nico 330 Kühn, C. G. 304
Kühnel, Harry 41, 195 Kühner, Raphael 67, 68, 75, 283 Küpper, Heinz 350 Kuryłowicz, Jerzy 319 Labourt, Jérôme 196 Lachmann, Karl 367, 369–374, 377, 378, 381–383 Lagarde, Paul de 91 Laks, Andre 17 Lambert, Jacoba A. 166 Larousse, Pierre 335 Lauffer, Siegfried 44 Laum, Bernhard 143, 326 Lausberg, Heinrich 30 Leeuwen, J. van 369 Lendinara, Patrizia 274 Lenz, Harald Othmar 154 Lerch, Eugen 39 Lesquier, Jean 177, 182 Leumann, Manu 32, 37, 65, 66, 68, 131, 132, 145, 172, 238, 245, 274, 283, 299, 336, 347, 353, 361 Levy, Emil 349 Levy, Samuel 189, 310 Lewis, Henry 209 Lewis, Naphtali 20 Lindsay, Wallace Martin 120, 287 Lippert, Sandra Luise 20 Lobeck, Christian August 242 Loewe, Richard 39, 42, 274, 276 Löfstedt, Einar 70 Luther, Martin 310, 313, 354 Lutz-Hensel, Magdalene 369 Maas, Paul 369, 373 Maclennan, Malcolm 209 Madurell i Marimon, Josep María 85, 86 Mann, Stuart E. 205 Mao Tse-Tung 217 Marcato, Carlo 254 Marín, Francisco Marcos 370 Marrou, Henri Irénée 60 Mason, Hugh J. 78 Maspéro, Jean 167
Index personarum recentioris aevi
Matthews, Stephen 57 Mayser, Edwin 6, 64, 66, 68, 70, 71, 87, 119, 178, 221, 293 Mazzucchi, Carlo Maria 143, 145 McGing, Brian 258 Meijer, Fik 290 Meillet, Antoine 88, 170, 190, 208, 277, 289 Meinersmann, Bernhard 119, 167, 190, 280, 295 Ménage, Gilles 335 Mendes da Costa, N. B. 369 Menzel, Heinz 216 Merkelbach, Reinhold 18 Meyer, Gustav 79, 171, 359, 361 Meyer-Lübke, Wilhelm 68, 105, 253, 254, 263, 273, 274, 283, 289, 308, 335, 336, 341, 361 Miceli, Francesca di 274 Michaëlis, Carolina 254 Migne, Jacques-Paul 347 Mihăescu, Haralambie 42, 97, 285, 358 Miklosich, Franz von 274 Mitteis, Ludwig 113 Mitterand, Henri 341 Mitthof, Fritz 280 Mohrmann, Christine 200, 347 Moll, Francesc de B. 105 Mommsen, Theodor 355 Monaci, Ernesto 317 Montanari, Franco 225, 259 Montevecchi, Orsolina 6, 15, 21, 23, 84, 246, 375 Morelli, Federico 381 Morosi, Giuseppe 284 Most, Glenn W. 17 Much, Rudolf 39, 41 Muljačić, Žarko 59 Müller, Michael M. 157 Napoléon 17, 229 Nebrija, Antonio de 308 Nicolas, Christian 78 Nicot, Jean 335
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Niedermann, Max 261 Niermeyer, Jan Frederik 36, 40, 98, 113, 198, 280, 284, 355 Nikolaidis, Konstantinos 36 Norden, Eduard 154 Norsa, Medea 261 Oliver, Revilo P. 131, 134, 136 Oliverio, G. 358 Olsson, Bror 333 Orel, Vladimir 33, 361 Pallabazzer, Vito 263 Palmer, Leonard R. 59, 65, 68, 171 Papahagi, Tache 33, 269, 284, 356, 362 Pape, Wilhelm 213 Parássoglou, George M. 17, 20, 84, 279 Paris, Gaston 191 Parry-Williams, Thomas 101 Parsons, Peter J. 20, 246, 328 Pascual, José A. 307 Pasquali, Giorgio 373, 374 Pastor de Arozena, Bárbara 176, 183 Paul, Michaela 234, 235 Pedersen, Holger 209 Pellegrini, Giovan Battista 358 Pescini, Ilaria 6, 7 Pestman, Pieter W. 20 Petersmann, Hubert 79, 173, 204, 285 Pfeiffer, Rudolf 143, 372 Pfister, Max 39, 285, 307, 343, 350 Pfister, Raymund 29, 62, 63, 336 Pflaum, Hans Georg 180 Planta, Robert von 245 Pighi, Giovanni Battista 6 Pintaudi, Rosario 210, 288 Piper, Paul 96 Pirona, Giulio Andrea 288 Pokorny, Julius 154, 190, 205, 209 Polinsky, Maria 58 Popovici, Victoria 96 Porson, Richard 321 Prati, Angelo 269, 294
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Preisendanz, Karl 16, 24 Preisigke, Friedrich 34, 87, 88, 116, 140, 190, 231, 236, 256, 259, 280, 301, 312, 345 Premerstein, Anton von 187 Pruneti, Paola 302 Psaltes, Stamatios B. 281 Quecke, Hans 21 Radt, Stephan 141–143 Rea, John R. 279 Rébillard, Eric 222, 223, 225 Reichenkron, Günter 282 Reiter, Gerhard 302 Rémondon, Roger 36, 235, 236 Rheinfelder, Hans 191 Rich, Anthony 34 Riese, Alexander 304 Robert, Louis 222 Roberts, C. H. 132 Roca-Puig, Ramón 383 Rochette, Bruno 57 Roethe, Gustav 369 Rohlfs, Gerhard 33, 70, 78, 106, 147, 246, 264, 275, 283, 284, 336, 351, 369 Rom, Brigitte 237 Rönsch, Hermann 283 Rossner, Margarete 180 Rostovtzeff, Michael 303 Roşu, Lucian 204 Rothe, Wolfgang 263, 361 Rouillard, Germaine 167, 168 Ruppel, Walter 180 Rupprecht, Hans-Albert 5, 15, 17, 21, 83, 94 Russo, Simona 381 Russu, Ion I. 204, 245 Rutherford, Richard B. 242 Saalfeld, Günther Alexander 157 Saglio, Edmond 309 Salmasius, Claudius siehe Saumaise Sandfeld, Kristian 67 Sandy, D. Brent 236 Santifaller, Leo 16, 84, 86, 88
Saumaise, Claude de 244 Saussure, Ferdinand 382 Schaller, Helmut Wilhelm 58 Schamp, Jacques 168 Schaube, Adolf 86 Schmalz, Friedrich 343 Schmitz, Adolf 116 Schmoll, Ulrich 64, 66, 245 Schmoller, Alfred 243 Schneider, Gerhard 169 Schneller, Christian 254 Schönfeld, Moritz 39 Schoske, Sylvia 329 Schubart, Wilhelm 16, 19, 375 Schubert, Paul 20 Schuchardt, Hugo 99, 260 Schulze, Wilhelm 101, 248 Schürer, E. 176 Schwartz, Jacques 20 Schwyzer, Eduard 37, 64, 66, 68, 71, 73, 75, 140, 146, 154, 178, 238, 244, 246–248, 260, 309, 319, 336 Seebold, Elmar 45 Segond, Louis 313 Sella, Domenico 271 Serra, Gian Domenico 172 Settis, Salvatore 19, 24, 60, 378 Shackleton Bailey, David R. 177 Shelton, John C. 23, 168, 220, 332 Shipp, George Pelham 245 Sievers, Eduard 52 Sijpesteijn, Pieter J. 32, 37, 220, 231, 232, 234–237, 288, 292 Sirivianou, M. G. 210 Skok, Petar 97, 356, 362 Sodar, Bonaventure 355 Sofer, Johann 42 Solta, Georg Renatus 361 Sommer, Ferdinand 29, 62, 63, 245, 336 Sophocles, Evangelinus Apostolidis 35, 284 Spiegelberg, Wilhelm 91 Spitzer, Leo 337
Index personarum recentioris aevi
Spyridakis, Giorgios 195 Stackmann, Karl 370 Steiger, Arnald 358 Stephanus, Henricus 89, 176 Stephanus, Robertus 335 Stiehl, Ruth 182 Stiennon, Jacques 84, 85 Stresemann, Gustav 217 Strobach, Anika 60 Stückelberger, Alfred 24 Sturtevant, Edgar Howard 64, 65, 127, 260 Sturz, Friedrich Wilhelm 298 Swain, Simon 57 Szantyr, Anton 70, 75, 76, 353 Tagliavini, Carlo 27, 35, 37, 59, 61, 119, 290 Taillardat, Jean 319 Tamás, Lajos 226 Ternes, Charles-Marie 362 Thimme, Wilhelm 237 Thomas, J. David 133, 137, 210 Thumb, Albert 39, 73, 143, 247 Thurneysen, Rudolf 202 Tibiletti, Giuseppe 19, 328 Tiktin, Hariton 254, 263, 266, 269, 270 Till, Walter C. 30, 178 Timm, Stefan 381 Tjäder, Jan-Olof 16, 269, 270 Tomlin, R. S. O. 212 Traina, Alfonso 59, 64 Trapp, Erich 19, 166, 298 Trubetzkoy, Nikolay 57, 77 Trübner, Karl 40, 107 Tsantsanoglou, Kyriakos 17, 84 Turner, Eric G. 19, 84, 377 Uhlenbeck, Christianus Cornelius 274 Untermann, Jürgen 245 Väänänen, Veikko 27, 29, 30, 64, 66, 68, 69, 73, 76, 119, 128, 317 Vahlen, Johannes 287, 353 Valls i Subirà, Oriol 85
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Vandorpe, Katelijn 20 Van ’t Dak, Edmond 19 Vasmer, Max 284 Vendryes, Joseph 149, 190, 203, 209 Verdam, Jacob 334 Vergote, Jozef 91 Verwijs, Eelco 334 Viscidi, Federico 79 Vitelli, Girolamo 115, 283 Voretzsch, Karl 369 Vries, Jan de 39, 54, 274, 288, 360 Vycichl, Werner 87, 90, 154, 155 Wackernagel, Jacob 139–141, 147 Wagner, Max Leopold 101, 269, 343 Walde, Alois 44, 170, 191, 192, 202, 205, 208, 209, 289 Wartburg, Walther von 105, 155, 289, 307–311 Weigand, Gustav 361 Weisgerber, Johannes Leo 208 Wehr, Hans 200 Weigel, Harald 372 Welte, Benedict 155 Wessely, Carl 119, 134, 135, 189, 234, 235, 280, 328, 379–381 West, Louise 302, 376, 377 West, Martin L. 18 Westendorf, Wolfhart 154, 155 Wetzer, Heinrich Joseph 155 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 369 Wilcken, Ulrich 21, 113, 169 Wild, John Peter 208, 211, 212, 215, 216 Winter, John Garrett 6 Wohlhaupter, Eugen 357 Wöhrle, Georg 92, 93 Wolff, Hans Julius 22 Worp, Klaas A. 168, 219, 220, 227, 234, 235, 292, 301–303, 330 Youtie, Herbert Chayyim 6 Zervos, Ioannis 224 Ziegler, Konrat 149 Zilliacus, Henrik 57, 71, 282, 303
INDEX VRBIVM Alexandria 65, 168, 169, 175–178, 180, 328, 332, 333, 359, 376, 377 Angers 348 Antinoe 217 Antiochia 356 Aphrodito 296 Aquae Sulis 212 Arsinoe 329, 333 Athen 18, 22, 326, 344, 368, 377 Babylon (Ägypten) 358, 359 Barcelona 85 Basta 358 Baza 358 Bûra 91 Byblos 86 Byzanz 16, 271, 296, 322, 377 Caesar Augusta 358 Camprodon 84 Capua 132 Casella 358 Castalla 358 Castro Giovanni 86 Chaironeia 60 Chalotis 380 Condofuri 284 Corduba 302 Cotlliure 104, 106 Cumae 59 Damiette 91, 357 Dara 355 Den Haag 367 Derveni 17 Ephesos 60 Euhemeria 381 Fayûm 17 Frankfurt 109
al-Fustât 165, 359 Genua 15, 86, 105–108 Gerona 84 Hathor 219, 220 Herculaneum 17 Jerusalem 169 Kairo 167, 359 Köln 367 Konstantinopel 204, 272, 299 Koptos 180, 181 Kos 270 Krokodilopolis 328 Kyme 59 Kysis 280 Lesbos 18 Lille 109 Lipara 324 London 166 Lugdunum / Lyon 220 Mailand 158 Masada 20 Naukratis 297 Nesoi 220 Nikopolis 168 Noyon 270 Oropus 221 Oxyrhynchos 20 Palermo 15 Parembole 168, 169 Paris 176 Patras 272 Pergamon 89 Philadelphia 20 Phossaton 358 Piacenza 106 Pompei 27
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Pselchis 180 Qasr el-Hallabut 282 Qumran 20 Ravenna 16, 42, 196, 270, 273, 283, 284 Rom 46, 60, 158, 162, 175, 177, 204 Sabbis 222 Saint-Martin du Canigou 84 Saint-Riquier 271 Samarkand 85 San Cugat del Vallès 84 San Filippo di Fragalà 86 Sankt Gallen 96 Santiago de Compostela 85 Santo Domingo de Silos 85 Saragoza 358 Skyllos 323 Soknopaiu Nesos 20 Spania (Dorf in Ägypten) 302 Tebtynis 20 Thagaste 162 Thagora 158, 162 Thessaloniki 17 Toledo 85 Trier 216, 217 Tunis 86 Tura 18 València 85 Verona 93 Vienne 95 Wien 379 Xàtiva 15, 85, 103
INDEX GRAECVS ἀδιούτωρ 128 ἀδνοῦµεν 31, 127 ἀδνουµεύω 127 ἀδνουτατίων 129 ἄζυµος 266 ἀκακαλίς 155 ἀκακία 153–155 ἄκανθα 153, 154 ἀκανθέα 154 ἀκάνθινος 154 ἀκάνθιον, -ος 154 ἄκανθος 153–155 ἄκανος 154 ἀκή 154 ἀκµή 154 Ἀκραγαντῖνος 140 ἄκρατον 230 ἀκρός 154 ἀκτ(ου)άριος 130 ἀκύλων 139 ἄλαβα 176, 181, 183 ἀλαβαρχ(ε)ία 175–177 ἀλαβαρχέω 175 ἀλαβάρχης 175–183 ἀλίκλα 129 ἀλογία 157–163 ἄλογος 160 ἀµβιτεύειν 281 ἀµιρᾶς 9 Ἀµίτερνον 141 ἄµπουλλα 144 ἀνδρών 295 ἄνθος 154 ἀπ᾿ ὀµµάτων 78 ἄπληκτον siehe ἄπλικτον ἀπλικεύω 171, 358
ἀπλικιτάριος 167–169 ἀπλίκιτον 166–169 ἄπλικτον 165–169, 358 ἀπλίκω 171 Ἀπρίλιος 32 ἄπυρος 328, 329 ἀραβάρχης 175–183 ἀραβαρχία 177, 181 Ἀραβία 182 Ἄραψ 176 ἀρβήλιον 288 ἀργαλεῖα 9 ἀρµαραύσιον 41 ἀρµελαύσιον 39–41 ἀρµιλαύσιν 40, 41 ἀρτοκοπικός 236 ἄρχω 176 Ἀσκαλώνιον 330 ἀσκοπήρα 276 ἄσκωµα 256 ἀσσάριον 299 Αὔγουστος 144, 145 αὐλός 193 αὐξιλιάριος 130 Αὐρίλιος 124 αὐτί 78 αὐτός 72 ἀψίνθιον 154 βάδιλλος 30, 128 βάλανος 154 βαλάντιον 277 βάνδον 41–43 βανδοφόρος 42 βανιάτωρ 9, 128 βασιλικός 89, 90 βασκαύλης 8, 186–194
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βασκαύλιον 186–194 βάσκιοι 190 βατέλλα, βατελλίκιον 30 βέρβα 128 βερ(ε)νικάριον 8 βέστα 128 βιβλίον 87 βίβλος 86, 87 βίλα 29 βλάττιος 126 βούκια 31 βουρδών 43–46 βουρδωνάριον 44–46, 293 βουρδωνάριος 45, 46 βουρδώνιον 45 βρακαρία 49 βρακέλλα 49 βράκες 46–51 βρακίον 46–51 βράκ(κ)αι 47–48 βραχιᾶτος 358 βρεκίον 50, 51 βυβλίνος 86, 87 βυβλίον 87 βύβλος 86, 87 Γαζίτιον 330 γαλ(λ)ιάριος 128 γάλος 28 γέµελλος 144 γενάρχης 176 γενικὴ πτῶσις 78 Γέν(ν)ουα 141 γίγνοµαι 75 Γλαύδιος, Γλαύτιος 30 γνώµων 181 γνώρα 282 γνωρίζω 282 γράβακτον 248 γράβιον 245 Γράβος 245 Γραικός 140 γρῦ 277 γρυµαία 276, 277 γρύτη 277
γύρα 282 γυρίζω 282 γῦρος 317 δεῖπνον ἕτερον 323 δείρων 30 Δεκέµβριος 37 Δελµατίων 139 δευτέρα τραπέζα 323–325 διφθέρα 86, 86–88 Δοµέτιος 123 δοτικὴ πτῶσις 78 δράγλη 127 δράκλη 30 ἐθνάρχης 176 εἰµί 75 ἑκατοντάρχης 78 ἐκκλησία 343 ἔλαιον πῖον 301 ἔλαιον σπανόν 301, 304–306 ἔµπτιον 122 ὑπ᾿ ἐξουσίαν τινὸς ἄγειν 79 ἐξπελλεύειν 281 ἐπαίκλειον 324 ἐπιδόρπασµα 324 ἐπιδορπισµός 325 ἐπιτραπέζωµα 324 ἐπιφόρηµα 324 ἐργαλεῖα 9 ἐργασίαν διδόναι 79 ἐρµ[ε]λαῦσον 41, 50 ἔχω 75, 76 ζήλα 282 ζηλεύω 282 ἤδικτον 145 ἧπαρ 78 ἠρτυµένος 231 Ἡρῳδιανός 140 Ἡσκυλῖνος 141 θέλω 76 θρίξ 341, 342 θρίσσα 346 θύλακος 276, 277 Ἰβηρία 302, 305 ἰγκριµέντιον 127
Index Graecus
ἱερατικός 91, 92 ἱερός 64 τὸ ἱκανὸν ποιῆσαι 79 ἰµαγίνιφερ 124 ἰνδικτίων 281 Ἰούλιος 128 ἰουράτωρ 128 ἱππικόν 288 ἰσίκιον 130 Ἱσπανία 302, 305, 306 Ἱσπανὸν ἔλαιον 303, 304, 305, 306 ἰστατιωνάριος 130 ἱστός 217 κάγκελλος 144 Καδοῦρκοι 141 καθ᾿ ἔτος 62 Καισαριανός 140 κακία 63 καλαµάριον 9 καλάνδαι, καλανδικά 124 καλαφάτης 9 Καληνός 140 καλικάριος 30, 129 κάµασον 198, 199, 202, 203, 205 καµάσιον 8, 198, 201–205 καµίσιον 199, 200, 201, 202 Καµπανός 140 κάµπιστρον 124 κάρα 282 καρώνω 282 καρακάλλιον 8, 208–211, 213, 216, 217 καράκαλλος 209, 211–213 κάσος 216 καστρήσιος 130 κατά 69, 70 καταπήγνυµι 255 κατ᾿ ἐνιαυτόν 70 κατ᾿ ἕτερον 62 κατ᾿ ἔτος 70 κάττυµα 262, 263 κεγχρανοπώλης 332 κέδριον 236 κέλλα 124
κελλάριον 328 κεντοῦκλον 129 κεντυρία 126 κεντυρίων 78, 126, 139, 140 κεραµίτης 8 Κερµανικός 30 Κέτα 30 κῆ(ν)σος 29 κλαβικουλάριος 167 κλάδα 282 κλαδεύω 282 κλῖµαξ 297 κλίνη 244 κοιµᾶσθαι 221, 223, 224 κοιµητηρία 221 κοιµητήριον 8, 219–227 κόκ(κ)οµα 126 κολλικλάριος 31 κόλφος 8 κοµ(µ)ενταρήσιος 130 κοµµιᾶτος 128 κοµπλεύειν 281 κονδιταρία 237, 238 κονδιτάριος 237 κονδῖτον 231–236 κονδῖτος 8, 231–236 κόνδυ 236 Κονσταντῖνος 29 κοόρτη 78 Κορβίων 139, 140 Κόρδυβα 142 κορίδιον 9 Κόρσικα 142 κορτιανός 43 κουαδράριος 130 κουηεµπτίων 127 Κο(υ)ίντος 130 Κο(υ)ιντιανός 130 κούκκουµα 126 κουκούλιον 216 κούκουλλον 145 κουστωδία 139, 140 κοχλίας 343 κραβακτήριον 250
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κραβάκτιον 249, 250 κράβακτον 247, 248 κράβακτος 241, 246–248, 251 κραβάτη 246 κραβάτιον 243, 249, 250 κράβατον 247, 248 κράβατος 8, 241–250 κραβάττιον 246, 249 κράβαττος 241, 246, 248, 251 κραββατηρός 250 κράββατος 241, 242, 247 κρεβάτι 249, 250 κρέβατος 249, 250 κροκᾶτον 87 κρόταφος 8 Κυζικηνός 140 κῦµα 317 Κύρνος 142 κωδίκιλλος 140, 145 κώδικον 9 κῶδιξ 125 κῶπλα 129 κώρυκος 276 λάγκλα 30, 129 λάγκος 9 λαγχιάριος 29, 130 λάµνα 129 λάπαθον 154 λάτρα 282 λατρεύω 282 λάχανον 235 λεγᾶτος 358 λεγεών 139, 140 λεγιών 78, 139 λέγειν 160 λέντιον 31, 124 λίβελλος 140, 145 λίβερτος 145 λίγγλα 129 λογία 160 Λούγδουνον 142, 145 λουκανικόν 303 λῶδιξ 125 µαγαρίτης 9
µάγιστρος 140, 145 µᾶγνος 358 Μαίνοβα 142 µάκελλος 144, 169 µᾶλλον 68 µάρσιπ(π)ος 276, 277 µαρτύριον 234 µασκαύλης 186–194 µάτλα 30, 129 µελινανθάλλη 324 µέλλω 74 µεµβρᾶνα, µέµβρανον 89, 90 µεταδόρπιον 324 µήσυλα 29, 34, 130 µησώριον 29, 130 µητᾶτον 35–37 µίνθα, -ος 154 µονόβανδον 42 νεκροταφείο 235 Νέπιτα 142 νοβελλίσσιµος 127 Νοέµβριος 37 νουϊτίας 30 Νωλανός 140 ξίφος Δαρδάνου 8 ξυρὸν σκυτέως 288 ὀβρύζη, ὄβρυζον 179 ὀγγία 126 ὀγκία 126 οἰνόµελι 231 Ὀκτώ(µ)βριος 38 ὀµφάκιον 306 ὀνοµαστικὴ πτῶσις 78 ὀπωρικός 235 ὅρµος 290 ὅρριον 126 ὄρυγµα 353 ὁσπίτιον 79 ὄσπρεον 328 ὅτι 74 οὐγκία 126 Οὐέναφρον 142 Οὐεργίλιος 31, 125 οὐεστάριον 293
Index Graecus
οὐεστιγάτωρ 128 οὐετρανός 129 οὐῆλον 128 οὐίδικτα 30 οὐικάριος 63 οὐικήσιµα 128 οὐιδίκτα 124 Οὐίτλος 30 Οὐλτοῦρνος 142 οὖς 78 οὐσία 60 παιδέρως 8 παιωνία 343 πακᾶνος 30 πάλλιον 216 παπυρέων 93 παπυρικός 93 παπύρινος 93 παπύριον 93, 98 παπυροειδής 93 πάπυρος 86, 90–92, 95, 97, 98, 102, 116 παπυροφάγος 93 παπυρώδης 93 παραβολή 80 παρεµβάλλω 170, 171 παρεµβολή 168–171 πατριµούνιον, πατριµώνιον 31, 125 πέλµα 253, 254, 262, 265, 266 πελµατίζω 262 περγαµενή, περγαµηνόν 89 περιβόλαιον 9 πέρνα 124 πῆγµα 157, 253–261, 265, 266 πήγνυµι 254 πήρα 276 Πιλᾶτος 148 πιό 70 πιττάκιον 234 πλάτανος 154 πλέκειν 346 πλεκτάνη 346 πλέον 70 πλιό 70
πλόκαµος 346 πλόκος 346 πλούσιος 139 ποιότης 60 Πολλίων 139 ποπινάριον 293 ποῦγγα 270, 272, 273, 275 πούγγη 272, 273, 275 πουγγί(ον) 8, 269–276 πουκάµισο 202 πραίφεκτος 140, 145 πράσινος 41 πριβᾶτος 358 πριγκέπια, πριγκίπια 125 προάστιον 288 προδήκτωρ 30 πύανος 154 πυρρός 235 ῥαβδοῦχος 167 ῥάφανος 154 ῥεποστώριον 129 ῥόγα 8, 279–284 ῥογάτωρ 279 ρογεύγω 284 ῥογεύειν 279–284 ροεύκω 284 ῥουζικόν 9 ῥούσιος 41 Ῥωµαῖος 41, 42, 47 Ῥωµύλος 149 Σαβελλικός 140 σάββατον, -ος 247, 248 σάγµα 260 σάκ(κ)ος 276 σάµβαθον 9 σάµβατον 248 σαµβύκη 317 σαπίηνς 358 σάπων 53, 54 Σαρδιανός 140 σαφώνιον 8, 53–55 σαφωνίτης 53 σεβένινος 345 σεβένιον 345, 346
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Archiv für Papyrusforschung, Beiheft 30, 2010
σειρά 347 Σεκόνδα, -ος 124 Σεκοῦδα 30 Σεκοῦνδος 126 Σεπτέµβριος 37 Σερῖνος 124 σηπία 343, 348 Σηρηνίλα 29 σῖκα 291 σικάρια 292 σικάριον 292, 293 σικάριος 8, 290, 291, 292 σικλάριον 292 σιµισάλιος 127 σινάτωρ 127 σίφων 309, 310 σκάλα, σκάλη 8, 295–299 σκαµβός 242 σκαπλάριον 129 σκιµπάζειν 242 σκιµπόδιον 242 σκίµπους 242, 243 σκρίνιον 124 σµίλα 287, 288 Σούγαµβροι 142 σπανάδελφος 301 σπανέλαιον 8, 301–306 Σπανία 302 σπανίζειν 301 σπάν(ι)ος 301, 302 σπάνις 301 σπανοκαρπία 301 σπανὸν ἔλαιον 301, 304–306 σπανοπώγων 301 σπανός 302–304 σπανότεκνος 301 σπανύδρος 301 σπεῖρα 78 σπεκλάριον 31, 293 σπέκλον 31, 129 σπίτι 79 σπόρδουλον 30 στάβλον 35, 36, 129 στόρνυµι 360
στρατοπεδεία 358 στρατόπεδον 168, 358, 360 στρατός 360 στρώννυµι 360 σύ 71 συκωτόν 78 συµβούλιον λαµβάνειν 79 συµφωνία 8, 307–313, 317 σφυρίδιον 328, 330 ταβλάριον 31 τάγµα 78 ταπητις 250 Ταραντῖνος 140 ταρίχια 235 τάφρος 353 ταὧς 62 τοῦρλα 9 τούρµη 126 τουρτίον 8 τραγάνκανθα 336 τραγεῖν 319, 323 *τραγεῖον 336 τράγηµα 8, 319–336 τραγηµατίζω 323 τραγηµάτιον 331, 332 τραγηµατοπώλης 332, 333 τράγος 319 Τραϊανός 64 τριχία 8 τραχοῦρος 336 τραχῶµα 336 τρίχα 341 τριχία 342–350 τριχίας 346 τριχίασις 345 τριχισµός 346 τριχῖτις 346 τροῦλλα 9 τρωγάλιον 319, 323–325 τρώγω 319 τύρµη 126 Τυρρηνός 140 τυφλός 78 ὑάκινθος 154
Index Graecus
ὑγιαίνειν 64 ὑµεῖς 71 ὐποκαµάσιον 201 ὑποκάµισον 201, 202 φαινόλης 216 φασκίδες 190 φαῦστος 358 Φεβρ(ου)άριος 31, 128, 129 φιβλατώριον 129 φιλανθρωπία 60 φιλοσοφία 157, 317 φλέγµα 260 φοσσᾶτον 8, 165, 166, 357–360 φοῦρνος 79 φρύγω 320 µεγίστη φυλακή 169 χάλυψ 157 χάραγµα 260 χαρτάριον 86 χάρτης 86–88, 91, 92, 102, 109–113, 116 χαρτίδιον 86 χαρτίον 88, 113, 114 χαρτοτόµος 288 Χηροῦσκοι 142 χράβακτον 248 Χριστιανός 140 χυδαῖος 235 χώρτη 78 ὠάριον 34 ὠρατίων 281 ὠτίον 78
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INDEX LATINVS ab oculis 78 acacia 153 acantha, -us 153 acinaticium 231 act(u)arius 126 acuere 154 acus 154 adiutor 128 ad nomen 31, 125 adnotatio 127 adulterium 225 alabarchia 176 alauda 190 algalia 9 alicula 129 alloquium 159 alogia, -es 157–163 alogus 161 ambitare 281 amictorium 125 amita 68 ampulla 144 andron 295 animal 161 Antoniniana 215 apex 131–137 applicare 7, 170–172 applicatio 171 applicitarius 167–169, 172 applic(i)tum 7, 169, 171, 172 Aprili(u)s 32, 37 arabarcha 175 arabarches 175, 177, 182 arabarchia 178 armilaus(i)a 40, 41 as 293
attatae 59 Attila 68 Augustus 37 Aurelius 122 auricula 78 auris 78 auxiliarius 130 babae 59 bagauda 190 ba(li)neum 9, 77 ba(l)neator 128 bandum, bandus 42, 43 baptisterium 157 barba 68 bascauda 185–194 batillus 30, 130 bellaria 333, 334, 338 bellus 359 bernicarium 8 *biblia 87 blatteus 128 boletus 230 brace, braces 46, 47, 224, 225 bracchium 341 buccea 31 burdo 43, 44, 293 burdubasta 43 butyrum 104 byrrus 224, 227, 228 caecus 78 caementerium 226 caementum 226 calamarium 9 calamita 8 calamus 77 calculus 261
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*calefactor 9 caligarius 30, 128 camis(i)a 8, 195–205 camis(i)um, -us 197, 202 campestris 124 cancellus 144 candela 99 cantus 314 capisterium 225 caracalla 207–209, 212–217 caracallus 208, 211 carauma 260 casa 121 castrensis 130 casula 215 cata 69, 70 cata mane 70 cata unum 70 cauculus 261 cella 124 cena 159 census 29 centuria 126 centurio 78, 126, 140 chalybeius 157 c(h)arta 88, 102, 103, 112, 113, 116 chartaceus 113 chartarius 113 charteus 113 chartula 113 chartularius 113 chartulatus 113 c(h)artus 88, 112 cibus 230 cimeterium 225 ciminterium 225 cimiterium 225 cista 77 Claudia, Claudius 30, 120 clauicularius 167, 168, 172 Clodia, Clodius 120 cochlea 343 coctum 230 codex 125
*codicum 9 coemeterium 224–227 coemptio 127 cognoscere 75 cohors 78 comicus 79 cominitiare 342 commeatus 130 commentariensis 130, 167 complere 281 comptiare 342 condere 229 condire 229, 230 conditaria, conditarius 237, 238 condĭtor 229 condītor 229 condĭtum 229 condītum 229–233, 238 conditura 231 condītus 233 consilium capere 79 Constantinus 29 conuiuium 158–163 copula 129 cor 353 coratus 353 Corbio 139 Cornicularius 31 *cotrophium 8 crabattus 241 crabatus 241 crabbatus 241 crauatus 241 credo 263 crocatum 89 crumena 276, 277 cucullus 227 cucuma 126 custodia 140 cymeterium 225 Danae 68 Dardanus 8 datiuus 77 December, Decembrius 37
Index Latinus
decuma 254 defrutum 231 desiderium 225 Dido 68 Domitius 125 dracurus 336 dragantum 336 dragoma 336 drauoca 336, 337, 338 ecclesia 343 edasitas = edacitas 29 emptio 124 ensis 290 ephod 225, 226 epulae 158, 159 erogare 8, 280–284 erogatio 280–282 esca 32 escaria 32, 33 escariola 32, 33 essentia 60, 77 euge 59 excurtiare 342 expellere 281 famula 238 fascia 190 fascis 190 fauus 265 Febr(u)arius 31, 37, 128, 129 ferrum 290 fibulatorium 129 ficatum 78 fleuma 260 formosus 359 fossa 353, 354 fossatum 353–357, 360–363 fossatus 353 fungus 230 funiculus 348 galearius 126 Gallus 29 gemellus 144 genitiuus 78 Germanicus 30
gerrae 59 Geta 30 gladius 290 *golfus 8 Grabaei 245 grabattum 242 grabattus 241–242, 248, 249 grabatus 241–244 grabbatus 241 Grabouius 245 grau(u)at(t)us 241 habere 75, 76 Heracles 68 Herba 230 Hilaritas 160 Hispania 302, 305 Hispanus 302, 304 homo 62 horreum 128 humanitas 60 Ianuarius 37 iecur 78 i longa 132, 136 imaginifer 124 incrementum 127 indictio 281 insicium 130 ipse 72 Iuliane 68 Iulius 32, 37, 126 Iuncus 96 iuniperus 361 Iunius 32, 37 iurator 128 kalandae, kalendae 124 lactuca 32 lamina 129 *lanca 8 lancearius 29, 130 lancula 30, 129 lanterna 77 lapi(di)cida 336 legere 131, 160 legio 76, 139
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lenteum 125 leuis 121 libellus 144 liber 131 lictor 167 lignum 263 linea 195, 197 lingula 129 linteum 31, 124, 125 lodix 125 lucta 283 luctari 283 ludus 120 macellus 144 machina 77 Maenuba 142 magis 70, 71 Maius 37 marsupium 276 Martius 32, 37 mascauda 185, 186, 193 matula 30, 129 mebrana 90 me(n)sa 7, 33, 34 mensorium 29, 130 me(n)sula 29, 33, 34, 130 merum 230 metatum 34–36 ministerium 225 moralis 77 mucro 290 mulsum 230, 231 murus 132 natiuus 302 Nepete 142 nobilissimus 127 nominatiuus 78 Nouember, Nouembrius 37, 38 nu(diu)stertius 336 Nuntias 30 obryza, obryzum 179 October, Octo(m)brius 37, 38 oenomeli 231 oleum 230
oleum Hispan(ic)um 304 oleum spanum 301, 304, 305 omphacium 306 operam dare 79 oratio 281 orbus ab oculis 78 os 119 pabelum 96 pabilum 99 paenula 228 paeonia 343 paganus 30 palma 262–264 papae 59 papyraceus 94 papyreon 94 papyrifer 95 papyrinus 94 papyrius 95, 96 papyrus 86, 90, 93–108, 111–116 parabola 80 parere 75 passum 231 patella 30 patrimonium 31, 125 pecma 260 pectus 263 pederotes 8 pegma 157, 253, 254, 260, 261, 264, 265 pellis 262 pelma 254, 261–266 pera 276 pergamen(t)um 89, 90 perna 124 peuma 260, 261, 264 Pharsalos 68 philosophia 157, 317 Phoebe 68 pigma 260 plaga 121 *plecare 170 plecta 347 plectare 170
Index Latinus
plus 70, 71 popina 293 populus 101, 121 san(gui)sugia 336 selibra 336 sepia 343 sexa(gi)nta 336 sportula 330 sub potestatem alicuius redigere 79 primus 120 principia 125 protector 30 puella 131 pugna 283 pugnare 283 pugnus 263 pullus 302 punga 269–276 pungere 274 quadrarius 130 qualitas 60, 77 quia 74 Quintianus 130 Quintus 130 quod 74 regius 91 repositorium 129 riuus 353 roga 280–285 rogare 281–284 rogatio 280 rusticus 233 Sabellicus 140 saccus 276 sagma 254, 261 salma 261 sambatha 9 sambuca 317, 318 sambucus 308 sanctus 226, 227 sapo 8, 53, 54 satisfacere 79 sauma 260, 261 scala 295–297
scandere 295 scapularium 129 scirpus 95 scriba 68 scrinium 124 secare 289 secta 283 sectari 283 sectilis 289 secula 288, 289 Secunda, Secundus 30, 126 semel 289 semissalis 125 senator 127 September, Septembrius 37, 38 Serenilla 29 Serenus 122 sermo 68 sica 8, 287–293 sicarius 8, 290–293 sĭcĭla 288, 289 sicilire 288, 289 siliqua 270 sīcīlis 287, 289, 290 sĭcĭlis 287, 289 sĭcĭlum 288 similis 289 solea 265 solum 121, 265 sonare 226, 227 Spania 302, 304, 305 Spanus 302, 304 specularium 31 spec(u)lum 7, 31, 129, 293 Spes 68 Sphinx 68 sportulum 30 stabulum 129 stationarius 130 super 361 *suspendiolare 361 symphonia 307–309, 313–318 tabula 129 tabularium 31
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talentum 77 tata 68 tela 217 tenere 75 tertiare 342 Themistocles 68 tibia 315 tiro 30 torta 8 tra(ga)canthum 336 tragea 334, 335 tragema 319, 333–337 tragemation 331, 335, 338 tragicus 77 tragula 30, 129 trangit = transit 29 tricae 341 trichia 342–344, 347–350 trichinus 347 trina 342, 349 tuba 315 tunica linea 195 turma 126 uagabundus 155 uascauda 185, 186, 193 uasculum 189, 190 udones 224, 225 uelum 128 Venafrum 142 uenire 121 uerbum 128 Vergilius 31, 125 uestigator 128 uestis 128, 215, 293 ueteranus 129 uicarius 63 uicesima, uicesimus 128 ui(gi)nti 336 uilla 29 uinarius 238 uindicta 30, 124 uinum 229–231 Vitulus 30 uncia 126
uolere 361 utilis 289 utraque lingua 61 Xenophon 68
INDEX ROMANICVS it. dial. accittə 172 sp. adragea 338 it. alabarca 183 sp. alabarca 176, 183 frz. alabarche, alabarque 183 frz. amour 102 dolomitenlad. aplët 172 sard. (ap)pungare 269 it. dial. appyéttu 172 it. dial. aprił 32 sp. arabarcho 183 arom. arugă 284 frz. aveugle 78 bündnerrom. (engad.) avrigl 32 altfrz. avrill 32 frz. dial. avri(y) 32 it. dial. avríyi 32 rum. azimă 266 frz. bachou 191–194 altfrz. baschoue 191–194 frz. dial. bachole 191–194 it. B(eatr)ice 336 frz. beau 359 frz. bello 359 it. Bibbia 87 frz. Bible 87 sp. Biblia 87 port. bordão 44 sp. borde 43 kat. bordó 43 sp. bordón 43 it. bordone 43 altprov. bort 43 kat. bort 43 frz. bourdon 43 altfrz. bourt 43
it. braccio 341 it. dial. burduni 44 it. dial. buter(o) 106 sp. cada año 70 kat. cada u 70 port. cada um 70 prov. cad(a)un 70 sp. cada uno 70 it. caduno 70 surs. calonda 124 rum. cămaşă 198 it. dial. (altven.) cameso 199 it. dial. (altven.) camesa 198 it. camicia 198 kat. càmis 199 prov., kat., sp., port. camisa 198 it. càmiscio 199 it. dial. camiso 199 it. capitano 295 altprov. cara 220 it. carabàttola 243 it., prov., kat., sp., port. carta 113, 114 frz. carte 113 sp. cementerio 226 kat. cementiri 226 port. cemitério 226 engad. chalanda 124 bündnerrom. c(h)amischa 198 frz. chart(r)e 113 rum. dial. chelm 254, 263 rum. dial. chelmui 263 frz. chemise 198 rum. dial. chiatră 263 altfrz. chifoine 308, 310 altfrz. chifonie 308, 310
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frz. dial. chimentiere 226 rum. dial. chimitir 226 altfrz. chi(r)fornie 308 dolomitenlad. ćiamëja 198 it. dial. cianpôrgna 316 frz. dial. cimentière 226 frz. cimetière 226 sp. ciminterio 226 it. cimitero 226 rum. cimitir 226 altfrz. cimitire 226 rum. cimpoi 307, 308 rum. cimpoiaş 307 friaul. cjamése 198 rum. coadă 350 it. cominciare 342 it. conciare 342 rum. cred 263 rum. decembrie 37 it. dial., altsp. decembrio 37 sp. delma 254 port. dezembro 37 it. dragèa 338 sp. dragea 335–338 port. dragea 338 frz. dragée 334–338 prov. drage(y)a 336, 338 it. D(ur)ante 336 frz. échelle 296 sp. enxalma 254 prov., kat., sp., port. escala 296 port. escar(í)ola 32 kat. sp. escarola 32 frz. escarole 32 rum. fag 265 prov. famfougni 316 it. fandonia 316 prov. fanfòni 308 it. dial. fanfonia 316 prov. fanfourgni 316 it. port. favo 265 it. fegato 78 rum. ficat 78 sp. fonsado 357, 360
sp. fosado 356, 357 dalmat. *fosát 356 port. fossado 356, 357, 360 prov. kat. fos(s)at 356 it. fossato 356 frz. fossé 356 prov. founfòni 308, 316 frz. fromage 342 rum. frumos 359 rum. fsat 361 aromun. fusáte 356, 362 bündnerrom. (engad.) fussà, (surs.) fussau 356 it. dial. garovat 244 surs. garvat 244 it. Gi(ov)anni 336 rum. giur 317 sp. gragea 335–338 port. gragea 335, 336, 338 port. grangea 335, 336, 338 sp. grano 337 it. dial. grat 244 surs. gravat 244 it. dial. gravatol 244 sp. hermoso 359 sp. hígado 78 rum. hârtie 113 rum. ie 195 sard. iscala 296 rum. jneapăn 361 dalmat. kamaisa 198 rum. lemn 263 it. lenza 125 sp. lienzo 125 altsard. lintha 125 sard. lindza 195 frz. linge 195 it. dial. linza 125 rum. mai 71 frz. main 102 port. mais 71 sp. más 71 it. dial. màṡola 33 rum. măsură 33
Index Romanicus
sard. međáu 35 it. dial. mèiṡua 33 kat. més 69 it. dial. méṡola 33 it. metato 35 it. dial. mìṡola 33 arom. misúr(ă) 33 rum. noiembrie 37 it. dial. novembrio 37 altsp. novembrio 37 port. novembro 37 altsp. ochubrio 37 altfrz., altprov. octembre 37 altfrz. octombre 37 rum. octombrie 37 it. dial. octubrio 37 it. orecchia 78 frz. oreille 78 sp. oreja 78 it. dial. ottónvre 37 port. outubro 37 altprov., altkat. pabil 100 sp. pabilo 96 sard. paβilu 101 sp. port. palabra 80 dolomitenlad. palma 263 it. dial. palma 263 rum. palmă 263 bündnerrom. (engad.) palpera, -i 103 sp. port. papel 104, 105, 108 altsp. paper 104, 108 kat. paper 104, 105, 107, 108 it. dial. papé(r) 106, 107 it. dial. paper(o) 106, 107 frz. papier 103–105, 108, 110 rum. papir 103 it. papiro 99, 103, 114 rum. papură 96 it. papirologia, papirologo 115 frz. papyrologie, papyrologue 115 frz. papyrus 114 kat. paraula 80 it. parola 80 frz. parole 80
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frz. pataud 253 frz. patte 253 bündnerrom. (engad.) pavagl 100 altfrz. paveil 98 it. dial. paver(a) 97 altsp. pavilo 101 port. pavio 101 rum. dial. pelm 263 it. dial. pelma 253, 254, 263 dolomitenlad. pelma 253, 254, 263 sp. pelma 253, 254, 263, 264 sp. pelmazo 253, 254, 263–266 sp. pergamino de paño, de cuero 85 rum. pielm 253, 254, 263–266 rum. pielma 263 rum. pielmui 263 rum. dial. p(i)emn 254, 263–265 rum. piept 263 rum. pietră 263 it. più 71 bündnerrom. (surs.) pli, (engad.) plü 71 frz. prov. plus 71 it. dial. ponga, pongo, ponghë 269 frz. promotion 295 rum. pumn 263 sard. punga 269 rum. pungă 269 arom. pungar 269 rum. pungaș(i) 269 rum. pungășeală 269 arom. pung’íță 269 rum. punguliţă 269 bünderrom. (surs.) pupi 103 altfrz. resve, frz. rêve 285 altit., altprov. reva 284 prov. rèvo 285 sard. roa 285 altfrz. rueve 285 rum. rugă 284 bündnerrom. (engad.) saischla 288 it. salma 254, 261 it. salma 254, 261 bündnerrom. (suts.) samantieri 226
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Archiv für Papyrusforschung, Beiheft 30, 2010
it. dial. sampogn 316 it. sampogna 308, 316, 317 friaul. sampógne 316 it. dial. sampóin 316 sp. sampoña 316 dolomitenlad. sampügn 316 port. sanfona 316 port. sanfonha 308, 316, 317 prov. sanfònio 308 frz. dial. sanforgno 308 prov. sansogno 316 prov. (aran.) sansònia 308 bündnerrom. (surs., suts.) sant(i)eri 226 rum. sat 361, 362 it. scala 288 rum. scară 296 it. scorciare 342 rum. secere 288 dalmat. secla 288 frz. dial. seille 288 it. dial. seisa 288 dolomitenlad. sëisla 288 frz. dial. seł 289 it. dial. sesla 288 it. dial. sésola 288 frz. dial. sèye 288 it. dial., prov. sementeri 226 altfrz. sifoine 308 frz. dial. šifurñí 308 prov. sinphonia 308 bündnerrom. (suts.) somantieri 226 frz. somme 261 lad. spalma 263 rum. spânzura 361 bündnerrom. (engad.) sunteri 226 it. scariola 32 rum. septembrie 37 it. dial. se(p)tembrio 37 altsp. septembrio 37 port. setembro 37 rum. spre 361 frz. symphonie 308 altkat. traçar 343
altfrz. traiche 348 port. trança 349 altport. trançar 349 rum. dial. ţimitir 226 rum. dial. ţintirim 226 port. tragea 338 it. treggéa 335–338 prov. tragieya 338 altkat., altsp. treça 343, 349 altkat. treçar 341 it. treccia 341–344, 348, 349 it. trecciare 342 altfrz. trece 341, 348, 349 altfrz. trecer 341 altfrz. treche 348 altfrz. treçon 341 kat., sp. trena 342, 349 sp. trenza 349 altsp. trençar 349 altfrz. tresc(h)e 348 it. dial. tressa 343 prov. tressa 348, 349 frz. tresse 341–344, 348, 349 it. trezza 343 it. trina 342, 343 sard. trittsa 343 it. dial. trizza 342 frz. troubler 342 it. dial. uttòmbre 37 it. dial. uttèmbro 37 rum. vrea 361 sp. xalma 261 kat. ximfoyna 316 it. zampogna 307, 308, 316 sp. zampoña 307, 308, 317 bündnerrom. zampugn 316 sp. dial. zanfoña 308 it. dial. zanpogna 316 it. dial. ziesla 288