Isaaks Opferung (Gen 22) in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit
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Isaaks Opferung (Gen 22) in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit
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Arbeiten zur Kirchengeschichte Begründet von
Karl Holl † und Hans Lietzmann † herausgegeben von
Christian Albrecht und Christoph Markschies Band 101
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Isaaks Opferung (Gen 22) in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit
Herausgegeben von Johann Anselm Steiger und Ulrich Heinen
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISSN 1861-5996 ISBN-13: 978-3-11-019117-2 ISBN-10: 3-11-019117-2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort Der vorliegende Band dokumentiert den Ertrag einer internationalen und interdisziplinären Tagung, die vom 16. bis 19. März 2005 in der Johannes a Lasco-Bibliothek in Emden stattgefunden hat. Wer sich mit der Frühen Neuzeit befaßt – gleichgültig aus welcher fachspezifischen Perspektive –, begegnet auf Schritt und Tritt Dokumenten der Wirkungsgeschichte der scriptura sacra, mithin der Textwelten des Alten und Neuen Testaments. In allen zu Gebote stehenden Medien und in deren heterogenen Gattungen haben sie die abendländische Kultur der Frühen Neuzeit nachhaltig und bleibend geprägt. In keinem Verhältnis jedoch zu dieser an sich selbstverständlichen Tatsache steht der Umstand, daß selbst dort, wo sich die sprach- und medienhistorischen Disziplinen explizit mit den biblischen Grundlagen von Sakralthemen befassen, diese Themen meist entweder als bloßer Stoff medialer GestaltungȺ1 oder ihre theologische Durchdringung als Metapher für Medialität oder – neuerdings – für autoreflexive Metamedialität genommen werden.Ⱥ2 Wo sich Mediengeschichte etwa für das Medium Bild über den Nachweis biblischer Themen hinaus mit Grundsatzfragen der in sakralen Zusammenhängen entwickelten Medien befaßt, konzentriert sie sich mit der Fokussierung auf das Kultbild vor allem auf deren bildtheoretische Implikationen für den Realitätsbezug und Repräsentationscharakter des jeweiligen Mediums.Ⱥř Gründlich untersucht sind daher die historischen Bestimmungen der ästhetischen Grenze zwischen Darstellung und Dargestelltem in Medientheologie und sakralem Mediengebrauch. Rekonstruktionen des – unter medientheologischen Aspekten immer problematischen – historischen Wirklichkeits- und Verweischarakters
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Vorbildlich erklärt in diesem Sinne die Themen der christlichen Medien mittels der Textquellen als Verbildlichung von Glaubensinhalten Mюџѡіћ ѣќћ Eџѓѓю, Ikonologie der Genesis. Die christlichen Bildthemen aus dem Alten Testament und ihre Quellen, 2 Bde., Berlin 1989–1995, Bd. 1, Vorwort, 9. Vgl. etwa Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie und Bildgebrauch in der Vormoderne, hg. v. Dюѣіё Gюћѧ u. TѕќњюѠ LђћѡђѠ, Münster 2004; Rahmen-Diskurse. Kultbilder im konfessionellen Zeitalter, hg. v. Dюѣіё Gюћѧ u. Gђќџє Hђћјђљ, Münster 2004. Leitend hierfür HюћѠ Bђљѡіћє, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 21991.
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Vorwort
des jeweiligen Mediums verbinden sich dabei oft mit wertenden Schlüssen zur Autonomie des Mediums, seines Produzenten und seines Rezipienten gegenüber biblischem Text, Theologie und kirchlichen Institutionen.Ⱥ4 In diesen Bezirken kann für visuelle Medien die – positiv oder negativ – medienprägende Bedeutung von Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte durchgehend als anerkannt gelten, wenngleich auch hier eine gründliche Lektüre der Bibel und ihrer Auslegungsgeschichte noch manches Neue wird ans Licht bringen können. Neu zu entdecken ist aber vor allem die Bedeutung der biblischen Fülle, der Komplexität der Auslegungsgeschichte sowie der institutionalisierten – und wieder ent-institutionalisierten – Traditionen dieser Auslegung für die theoretische und – weit über das bloß Ikonographische hinaus – praktische Entwicklung der spezifischen immanenten und kommunikativen Strukturen der jeweiligen Medien in konkreten Kontexten.Ⱥ5 Die je spezifisch die einzelne mediale Hervorbringung strukturell prägende Wirkung des Bibeltextes selbst ist bisher meist ebenso außerhalb der medienhistorischen Fragestellungen gebliebenȺ6 wie die kaum überschaubare Differenziertheit und Vielfalt, die aus der frühneuzeitlichen Exegese, den Deutungen und medialen Vergegenwärtigungen des biblischen Textes und seiner Auslegungstraditionen in die Modellierung und Konstituierung der frühneuzeitlichen Medien selbst eingegangen ist. Zusammen mit einer neuen Ergründung der Auslegungsgeschichte können hier Fragen der Erzählung, der Argumentation und der Affektivität von Medien und intermedialen Werken in sakralen Kontexten neu gestellt werden. So ist mit dem Beitrag des biblischen Textes und seiner Auslegungsgeschichte zur Fortentwicklung frühneuzeitlicher Medialität möglicherweise auch eine Revision der üblichen 4 5
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Auch hierfür ebd., 11–27. Ansätze hierzu etwa bei Mіѐѕюђљ Vіјѡќџ SѐѕѤюџѧ, Visuelle Medien im christlichen Kult. Fallstudien aus dem 13. bis 16. Jahrhundert, Wien u. a. 2002; ѕџіѠѡіюћ Hђѐѕѡ, Die Glorie. Begriff, Thema, Bildelement in der europäischen Sakralkunst vom Mittelalter bis zum Ausgang des Barock, Regensburg 200ř. So spricht etwa Hans Belting von einer „Isomorphie“ zwischen der visuellen Erzählung in Bildmedien vor 1ř00 und der narrativen Struktur des Bilbeltextes, die dann um 1ř00 über diese strukturelle Texttreue hinaus zur Entwicklung des Bildes zu einem „Medium der Argumentation“ sowie zur „Rhetorik des Bildes“ geführt habe. Die differenzierte Textstruktur des biblischen Textes und etwa ihr appellatives und argumentatives Potential für diese protomoderne Medienentwicklung bleiben dabei meist unberücksichtigt (vgl. HюћѠ Bђљѡіћє, „The New Role of Narrative in Public Painting of the Trecento. Historia and Allegory“, in: Pictorial Narrative in Antiquity and the Middle Ages, hg. v. Hђџяђџѡ L. KђѠѠљђџȦMюџіюћћђ Sѕџђѣђ SіњѠќћ, Symposium 16. – 17. ř. 1984, National Gallery of Art, Washington, Washington 1985, 151–168, hier 151. 154. 164; vgl. auch Wќљѓєюћє Kђњѝ, Sermo Corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, München 1987, 265f.).
Vorwort
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Kontrastierung sakraler und moderner Medialität möglich, der die medientheologische Forschung bisher überwiegend bestimmt.Ⱥ7 Die Wurzel der benannten Forschungslücke liegt sicher einerseits in den medienhistorischen Wissenschaften selbst, gewiß aber auch darin, daß die Erforschung der Auslegungsgeschichte der Bibel im besagten Zeitraum nicht eben weit gediehen ist. Offenbar haben die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts kontrovers (und nicht in jedem Falle ertragreich) geführten Debatten über die Frage, ob Kirchengeschichte insgesamt als „Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift“ (so Gerhard EbelingȺ8) zu definieren sei oder nicht, keineswegs dazu geführt, daß der Geschichte der Bibelexegese in dem Maße mehr Beachtung als zuvor geschenkt wurde, wie dies zu erwarten gewesen ist. So liegen zwar eine Reihe von Einzeluntersuchungen sowie Überblicksdarstellungen vor.Ⱥ9 Bei näherem Hinsehen jedoch zeigt sich, daß die exegese-historische Erforschung des 17. und 18. Jahrhunderts (abgesehen von einigen Ausnahmen) in vielerlei Hinsicht noch kaum begonnen hat. Aber auch, was das Reformationsjahrhundert und selbst die Erforschung der Theologie der prominentesten Reformatoren angeht, ist auffällig, daß deren akademischen Vorlesungen über biblische Bücher (etwa Luthers alttestamentliche Kollegs), aber auch deren Bibelkommentare und Predigten von der Forschung vergleichsweise randständige Bedeutung beigemessen wird. Zwar wird man nicht behaupten können, daß die sich mit dem 16. und 17. Jahrhundert befassende Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung die Geschichte der konkreten Bibelexegese (näherhin der Kommentarliteratur, der Disputationen, die oft biblische Texte zum Gegenstand hatten, der Predigt etc.) gänzlich vernachlässigt. Zugleich aber dürfte deutlich sein, daß die bisherigen Bemühungen keineswegs den Anspruch erheben können, auch nur ansatzweise das wünschenswerte Licht in die immense Fülle des diesbezüglich einschlägigen Quellenmaterials gebracht zu haben. Einigermaßen erstaunlich mutet es in diesem Kontext an, daß die Debatten über die Plausibilität der Ebeling7
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Zur Geschichte des Ignorierens einer konstitutiven Funktion des Sakralen – insbesondere in seiner römisch-katholischen Prägung – für die Medialität der Frühen Neuzeit vgl. JҦџє Tџюђєђџ, Renaissance und Religion. Die Kunst des Glaubens im Zeitalter Raphaels, München 1997, 11–49. Vgl. Gђџѕюџё Eяђљіћє, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift (SGV 189), Tübingen 1947. Hier sind u. a. die in der Reihe „Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese“ (derzeit ř4 Bde.) publizierten Studien zu nennen sowie diejenigen, die in den „Beiträgen zur Geschichte der biblischen Hermeneutik“ veröffentlicht worden sind (derzeit neun Bde.). Vgl. hierzu Daniel Bolligers Beitrag in vorliegendem Band (u. S. 260, Anm. 2).
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Vorwort
schen Definition der Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift in jüngster ZeitȺ10 in einer Weise wiederaufgegriffen worden sind, der man Innovativität nur sehr bedingt wird bescheinigen können. So bleibt die Diskussion darüber aus, in welcher Weise der auslegungsgeschichtliche Ansatz historisch-theologischer Arbeit derart zu reformulieren wäre, daß er gerade nicht zu einer Engführung des Blickwinkels führt, der in der Tat drohen könnte, sondern umgekehrt eine Ausweitung in bezug auf die gesamte Breite der Medien, in denen konkret Bibelexegese betrieben worden ist, zur Folge hat. Kurz: Die Attraktivität der genannten Debatte läßt nicht zuletzt insofern zu wünschen übrig, als sie gerade aufgrund der gutgemeinten Warnung vor einer ‚zu theologischen‘Ⱥ11 Definition von Kirchengeschichte eben selbst ist, wovor sie warnt, nämlich ein binnentheologischer Diskurs, der weit entfernt von der Idee zu sein scheint, die Operabilität der auslegungshistorischen Fragestellung im interdisziplinären Konzert der historischen Wissenschaften zu erproben. Die große Menge der Forschungsdesiderate bezüglich der Auslegungsgeschichte lassen sich z. T. aus einer Konstellation erklären, die die theologische Wissenschaft (über die Konfessionsgrenzen hinweg) prägt: Die exegetischen Fächer widmen sich auffällig wenig der Geschichte der von ihr betriebenen Wissenschaft, und wenn sie es tun, wählen sie nicht selten die Historie der Entwicklung der kritischen Bibelwissenschaft seit dem Zeitalter der Aufklärung zum Gegenstand der Betätigung, wohingegen die sog. ‚vorkritische‘ Exegese ein vergleichsweise noch geringeres Augenmerk erfährt oder gar als per se unwissenschaftlich abgetan wird, weswegen die Forschung sich mit ihr nicht zu befassen habe. Ähnliches gilt für die übrigen theologischen Disziplinen, die die Geschichte ihres eigenen Faches wenn nicht in toto, so doch zumindest in wesentlichen Segmenten der Historischen Theologie überlassen, woraus nicht zuletzt eine gewisse Überforderung der letzteren resultiert, da diese neben der Kirchen- und Theologiegeschichte im engeren Sinne auch Fröm10
11
Vgl. Historiographie und Theologie. Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch, Konzeption v. KѢџѡ NќѤюј, hg. v. Wќљѓџюњ Kіћѧіє, Vќљјђџ Lђѝѝіћ u. Gҿћѡѕђџ Wюџѡђћяђџє (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 15), Leipzig 2004. Dies gilt mitunter für Volker Leppins im genannten Sammelband vorgetragene, nicht neue Mahnung, die Methodik der Kirchengeschichtsschreibung nicht durch theologische, „normative“ Vorgaben einzuengen (vgl. 224). Dabei bleibt allerdings ein Nachdenken darüber aus, daß die im Rückgriff auf Johann Salomo Semler und dessen Unterscheidung von Bibel und Wort Gottes formulierte Kritik an Ebelings Kategorie der „Heiligen Schrift“ nicht nur selbst historisch-kontingent ist, sondern sich überdies ihrerseits normativer Vorgaben verdankt, Folge also dogmatischer Setzung ist.
Vorwort
IX
migkeits-, Predigt- und Auslegungsgeschichte sowie Hymnologie, um nur einige Facetten zu benennen, zu betreiben hat. Erfreulicherweise jedoch läßt sich in den letzten Jahren eine zunehmende Sensibilisierung der alt- und neutestamentlichen Wissenschaft bezüglich der Geschichte der Exegese beobachten, wobei neben dem Wissenschaftsstandort Deutschland vor allem der skandinavische und anglo-amerikanische Raum wichtige Impulse gegeben hat.Ⱥ12 Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Die internationale scientific community, die sich mit der Frühen Neuzeit beschäftigt, dürfte bei allen unterschiedlichen, z. T. auch kontroversen Zugangsweisen von der Überzeugung getragen sein, daß man sich dem Kosmos der weitenteils noch unerforschten eruditio zwischen Spätmittelalter und der Epoche der Aufklärung nur dann sachgemäß nähern kann, wenn man dies interdisziplinär tut. Man wird also sagen dürfen, daß die seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts aufblühende Früheneuzeit-Forschung es etwa in Kunst- und Musikgeschichte, Germanistik, Romanistik und Anglistik verstanden hat, Brückenschläge untereinander und zu einer Vielzahl von benachbarten historischen Disziplinen zu bewerkstelligen. Die historisch-theologische Wissenschaft indes hat sich in diesem Kontext lange Zeit eher zurückgehalten, wenngleich in den letzten Jahren erfreulicherweise eine deutliche Intensivierung der längst überfälligen Kontakte zu beobachten ist. Diese hier notwendigerweise nur grob skizzierten Rahmenbedingungen haben die Leitidee für die Emder Tagung aus sich herausgesetzt, nämlich die Interdisziplinarität der Früheneuzeit-Forschung zu nutzen, um sie innovativ auf einen auslegungshistorischen Gegenstand zu beziehen und für diesen fruchtbar zu machen. Im Zentrum stand dabei ein innerhalb der Auslegungsgeschichte ebenso wie in den frühneuzeitlichen Medien im höchsten Maße virulenter und wirkungsträchtiger Text, nämlich die Erzählung von der Opferung bzw. Bindung Isaaks (Gen 22). Ziel der Tagung war es einerseits, zu beobachten, wie Gen 22 in der Frühen Neuzeit quer durch die Konfessionen (römisch-katholische Kirche, Luthertum, reformierte Theologie) interpretiert worden ist. Hierbei wurden sowohl die konfessionellen Spezifika als auch die Gemeinsamkeiten – etwa bezüglich der Rezeption der patristischen wie auch der rabbinischen Exegese – sowie die heterogenen, hier einschlägigen Text- und Mediengattungen (u. a. Kommentar, Disputation, Predigt, Meditationsliteratur, Schauspiel, Andachtsbild, Meditationslandschaft,
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Vgl. hierzu folgenden Forschungsbericht: Mюєћђ SѲяҫ, „Zur neueren Interpretationsgeschichte des Alten Testaments“, in: ThLZ 1ř0 (2005), 10řř–1044.
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Vorwort
Altarbild, geistliches Gedicht) in den Blick genommen. Auf diese Weise wurde es möglich, an exemplarischen Quellensegmenten herauszuarbeiten, welche Medien sich neben der theologischen Fachschriftstellerei in welcher Weise an diesem Auslegungsprozeß beteiligt haben oder von diesem berührt wurden und inwieweit diese Prozesse der Konfessionalisierung folgten oder quer zu dieser verliefen bzw. diese überwölbten. Die Bündelung vielfältiger Fachkompetenzen erlaubte es, nicht nur den Spezifika und den Gemeinsamkeiten der Exegese von Gen 22 innerhalb der theologischen Debatten, der Kommentarliteratur, der geistlichen Dichtung wie der Predigt des 16. und 17. Jahrhunderts nachzugehen, sondern auch zu erheben, wie Bühne, Malerei, Bildhauerei und geistliche Musik die zeitgenössische Exegese nicht nur dokumentieren, sondern diese zugleich variieren, multimedial affektiv zugespitzt rezipierbar werden lassen oder mit medienspezifischen Mitteln der Argumentation und der Auslegung im jeweiligen Medium exegetisch selbständig fortentwickeln. In umgekehrter Blickrichtung kann gerade an der spezifischen Emotions-, Appell- und Erzählstruktur der Geschichte von Abrahams Opfer sichtbar werden, daß sich wesentliche Anstöße für die Entwicklung der medienspezifischen Mittel des Erzählens, Argumentierens und Emotionalisierens in der Frühen Neuzeit dem biblischen Text und seiner theologischen und intermedialen Auslegung verdanken. Der gemeinsame Anspruch der vorliegenden Beiträge ist es mithin, einen der meistexegesierten Bibeltexte im Rahmen derjenigen facettenreichen kulturellen Intermedialität zu interpretieren, die durch die konzertierte Aktion der frühneuzeitlichen artes und scientiae überhaupt erst konstituiert wird, deren sehr heterogene Ausprägungen jedoch darin ihren gemeinsamen Bezugspunkt haben, daß sie sind, was sie betreiben, nämlich interpretationes scripturae sacrae. Die überaus gegenstandsnahe, lebendige und ertragreiche Tagung trug dazu bei, nicht nur die Vernetzung der sich innerhalb der Früheneuzeit-Forschung engagierenden historischen Teildisziplinen voranzutreiben, sondern auch, die Relevanz der Auslegungsgeschichte als Teilbereich der Historischen Theologie im Rahmen der Erforschung der barocken Medien-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte exemplarisch zu dokumentieren. Zugleich wurden somit wichtige Vorarbeiten geleistet bezüglich der Frage, wie eine sachgerechte Methodik der Auslegungsgeschichte zu formulieren wäre, wenn sie nicht eine nach wie vor eher stiefmütterlich behandelte theologische Spezialdisziplin bleiben will, sondern neben der multikonfessionellen Perspektive auch der frühneuzeitlichen Multimedialität Rechnung zu tragen und somit sich zu öffnen bestrebt ist.
Vorwort
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Zu danken ist der Fritz Thyssen Stiftung, die die Tagung durch großzügige Förderung ermöglichte und auch die Finanzierung der Satzarbeiten sicherstellte. Dank gebührt zudem der Johannes a Lasco-Bibliothek, die der Tagung mit ihrem Simul von Kirchen- und Bibliotheksraum einen inspirierender kaum denkbaren Rahmen verlieh. Zu Dank verpflichtet sind wir insbesondere Herrn Dr. h. c. Walter Schulz, der dem Projekt von Anfang an positiv gegenüberstand, die Veranstaltung in das Tagungsprogramm der Bibliothek aufnahm und Planung wie Durchführung derselben tatkräftig begleitete. Herr Stefan von der Lieth (Hamburg) hat in gewohnter Perfektion die Satzarbeiten durchgeführt und die Register erstellt, wofür ihm gedankt sei. Herrn Dr. Albrecht Döhnert vom Verlag Walter de Gruyter danken wir für die professionelle verlegerische Betreuung und den Herausgebern der ‚Arbeiten zur Kirchengeschichte‘ für die Aufnahme des Bandes in diese Reihe. Schließlich bedanken wir uns bei allen Autorinnen und Autoren, die zu vorliegendem Band beigetragen und ein recht rasches Erscheinen der Akten einer in vielerlei Hinsicht unvergeßlichen Tagung ermöglicht haben. Köln und Hamburg, im Juni 2006 Ulrich Heinen und Johann Anselm Steiger
Inhalt Vorwort........................................................................................................
V
Fџіђёѕђљњ HюџѡђћѠѡђіћ Die Verborgenheit des rettenden Gottes. Exegetische und theologische Bemerkungen zu Genesis 22.............................................
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Uљџіѐѕ Hђіћђћ Der Schrei Isaaks im „Land des Sehens“. Perspektive als Predigt – Exegese als Medienimpuls. Abrahams Opfer bei Brunelleschi und Ghiberti (1401Ȧ1402) ................ 2ř ѕџіѠѡіћђ GҦѡѡљђџ „Figura passionis“. Abraham und Isaak im Wiener Stundenbuch der Maria von Burgund. Affekt und religiöse Erinnerung in der frühniederländischen Malerei ................................................................. 15ř Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ Zu Gott gegen Gott. Oder: Die Kunst, gegen Gott zu glauben. Isaaks Opferung (Gen 22) bei Luther, im Luthertum der Barockzeit, in der Epoche der Aufklärung und im 19. Jahrhundert .................................. 185 Aљђѥюћёђџ Dќяяђџѡ-DѢћјђџ ,In summa angustia animi‘ – Jakobs Kampf mit Gott. Luthers Auslegung von Gen ř2 auf dem Hintergrund der patristischen Tradition ...................................................................................................... 2ř9 Dюћіђљ Bќљљієђџ Dramatisches Symbol konfessioneller Grundhaltungen zwischen Glaube und Politik. Die Opferung Isaaks in frühen reformierten Auslegungen von Huldrych Zwingli bis Jean Crespin ........................ 259 Bюџяюџю Mюѕљњюћћ-BюѢђџ Abraham, der leidende Vater. Nachwirkungen Gregors von Nyssa in Exegese und Dramatik (im 16. bis 18. Jahrhundert) ......................... ř09
XIV
Inhalt
JќѠђѝѕ Iњќџёђ Gehorsam und Begnadung. Die ‚Opferung Isaaks‘ als gemalte Kunsttheorie ............................................................................................... ř99 NіљѠ Bҿѡѡћђџ „Veelderleye ordinantien van lantschappen met fyne historien“. Die Opferung Isaaks in der niederländischen Landschaftskunst des 16. Jahrhunderts .................................................................................. 415 Rюљѓ Gђќџє Bќєћђџ Ein Bibeltext im Gattungs- und Medienwechsel. Deutschsprachige Abraham-und-Isaak-Schauspiele der frühen Neuzeit von Hans Sachs, Christian Weise und Johann Kaspar Lavater.................. 4ř5 MюџіѢѠ RђіѠђџ Die Opferung Isaaks im Genesiskommentar des Jesuiten Benito Perera (15ř5–1610) .......................................................................... 449 CѕџіѠѡіюћ Tҿњѝђљ Die Sprache der Künstler. Der künstlerische Diskurs Rembrandts und seiner Zeitgenossen über die „Opferung Isaaks“ .......................... 481 Rђћюѡђ Sѡђієђџ „Mit Jsaac kommst du gebunden …“ Die Isaak-Christus-Typologie in der lutherischen Passionsbetrachtung der Barockzeit..................... 545 VюћђѠѠю ѣќћ ёђџ Lіђѡѕ Die lyrische Verarbeitung von Gen 22 bei Catharina Regina von Greiffenberg........................................................ 641 HђіёџѢћ Fҿѕџђџ Abrahams und Jephtes Menschenopfer in den jesuitischen Schuldramen von Jacob Pontanus und Jacob Balde. Ne dubita: oboedire Deo nil affert mali.................................................. 659 Hђџњюћћ JѢћє Abraham und Isaak als Oratorienstoff im 17. und 18. Jahrhundert (mit Ausblicken auf Vertonungen bis zum 20. Jahrhundert)............... 69ř
Inhalt
XV
Lќѡѕюџ Sѡђієђџ Sören Kierkegaard als Schriftsteller. Oder: Das Schlüsselamt der Verschlüsselung. Anhand von ‚Entweder-Oder‘ in Richtung auf ‚Furcht und Zittern‘ ................................................................................... 7ř1 Tѕђќёќџ Mюѕљњюћћ Gregor von Nyssa: Isaaks Opferung (Gen 22). Aus dem Griechischen übersetzt............................................................. 77ř Tafeln ........................................................................................................... 781 Personenregister......................................................................................... 80ř Register der Bibelstellen............................................................................ 811 Abkürzungsverzeichnis............................................................................ 819 Autoren........................................................................................................ 82ř
Die Verborgenheit des rettenden Gottes Exegetische und theologische Bemerkungen zu Genesis 22 von Fџіђёѕђљњ HюџѡђћѠѡђіћ Gen 22,1–19 gehört zu den am meisten ausgelegten Erzählungen der hebräischen Bibel und hat wie kaum ein anderer Text (neben dem Buch Hiob) dazu beigetragen, das Klischee vom Willkürgott als für das Alte Testament besonders typisch herauszustellen – einem Gott, der von Abraham das Opfer seines Sohnes fordert. Jedoch ist schon die übliche Bezeichnung der Erzählung als „Opferung Isaaks“ irreführend, da, wie jeder Leser weiß, der lang verheißene und ersehnte Sohn des Stammvaters in Gen 22 keineswegs geopfert wird, und da dies auch keine mögliche Intention des Textes in seinem ersten Kontext gewesen ist. Besser sollte man daher mit der jüdischen Tradition von der Aqeda, der „Bindung“ Isaaks, sprechen – abgeleitet von dem Verb ‘aqad „zusammenbinden, fesseln“ (für die Vorbereitung eines Opfers), das ausschließlich in Gen 22,9 vorkommt, was vermutlich auf die Einzigartigkeit des geschilderten Geschehens verweist. In jedem Fall gibt die auch ansonsten in vielem singuläre Erzählung dem ernsthaft um ein Verstehen Bemühten mit zunehmender Beschäftigung immer mehr zu denken. Das geschilderte Geschehen führt wie von selbst in theologische Tiefen, deren versuchte Auslotung aber nicht selten in Untiefen endet. Ein Text wie Gen 22 darf daher vor allem angesichts naheliegender Fehlinterpretationen nicht unterschätzt werden. Man muß eine Reihe von Voraussetzungen benennen, um den hier lauernden Gefahren für das Verstehen zu entgehen. Die folgenden Bemerkungen zu Gen 22 möchten zur Klärung solcher Voraussetzungen beitragen. Sie wollen dabei vorrangig keine neuen Einsichten formulieren, sondern verstehen sich als Wegweiser für eine verantwortungsbewußte Deutung. Bei der verwendeten Literatur zu Gen 22 beschränke ich mich auf wenige Arbeiten, die eine theologische Sicht der Erzählung im Ganzen entwickeln, verzichte aber im Blick auf den Zweck des Beitrags, das interdisziplinäre Gespräch über die Wirkungsgeschichte von Gen 22 zu fördern, auf eine ausführliche Diskussion von
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Friedhelm Hartenstein
Einzelproblemen.Ⱥ1 Meine Überlegungen gliedern sich in drei Schritte: Am Anfang müssen wichtige Beobachtungen zur erzählerischen Eigenart des Textes notiert werden (I.), sodann soll Gen 22 im Kontext (Gen 21,8–21 und Ex 20,20) betrachtet werden (II.), und schließlich wird ein Resümee Leitgedanken für eine theologische Auslegung formulieren (III.).
I. Zur erzählerischen Eigenart von Genesis 22 Gen 22 zeichnet sich wie fast alle Vätererzählungen der Genesis durch einen höchst ökonomischen, dabei aber nur scheinbar naiven Erzählstil aus. Er wird in diesem Text besonders kunstvoll eingesetzt und variiert. Man begegnet darin einer Gestaltungskraft auf dem höchsten Niveau hebräischer Literatur, wie dies in ihren großen Auslegungen von Gen 22 besonders Erich Auerbach und Gerhard von Rad, aber auch Benno Jacob herausgestellt haben.Ⱥ2 Für die Erzählweise ist zunächst charakteristisch, daß sie im Blick auf die Szenerie, auf Raum und Zeit der Handlung, nur das Allernötigste mitteilt und so dem Leser einen Imaginationsraum eröffnet, den er bis zum letzten Wort nicht verlassen kann. Auch wird er lange Zeit über alle näheren Umstände zu den Beweggründen und Empfindungen der handelnden Personen im unklaren gelassen. Er wird so in einer gelenkten Offenheit zur „Mitarbeit“ genötigt und kann sich einer Identifikation mit den menschlichen Protagonisten des Geschehens nicht entziehen. Dies verdankt sich sowohl der Erzählstruktur wie der Erzählweise. Gen 22 als Handlungsfolge entwickelt sich Schritt für Schritt mit einer geradezu beiläufigen Konsequenz: Beginnend mit einem kurzen Dialog zwischen Gott und Abraham in V.1f., gefolgt von einer Reihe von alltäglichen Handlungsverben, unterbrochen von zwei weiteren Gesprächen in V.5 (mit den Knechten) und in V.7f. (mit Isaak), 1
2
Ausführliche Angaben zur neueren exegetischen Literatur zu Gen 22 finden sich etwa bei Jҿџєђћ Eяюѐѕ, „Theodizee: Fragen gegen die Antworten. Anmerkungen zur biblischen Erzählung von der ‚Bindung Isaaks‘“, in: DђџѠ., Gott im Wort. Drei Studien zur biblischen Exegese und Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1997, 1–25, hier 5–7, Anm. 1ř; Kќћџюё Sѐѕњіё, „Die Rückgabe der Verheißungsgabe. Der ‚heilsgeschichtliche‘ Sinn von Gen 22 im Horizont innerbiblischer Exegese“, in: Gott und Mensch im Dialog. Festschrift für Otto Kaiser zum 80. Geburtstag (BZAW ř45Ȧ1), hg. v. MюџјѢѠ Wіѡѡђ, BerlinȦNew ork 2004, 271–ř00, hier 271f., Anm. 2. Eџіѐѕ AѢђџяюѐѕ, „Die Narbe des Odysseus“, in: DђџѠ., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (Sammlung Dalp 90), BernȦMünchen 41967 [11946], 5–27; Gђџѕюџё ѣќћ Rюё, Das Opfer des Abraham. Mit Texten von Luther, Kierkegaard, Kolakowski und Bildern von Rembrandt (KT 6), München 21976 [11971]; Bђћћќ Jюѐќя, Das Buch Genesis, Stuttgart 2000 [119ř4], 491–50ř. 985f.
Die Verborgenheit des rettenden Gottes
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setzt sich die Handlungskette bis zu ihrem Höhepunkt in V.9f. fort, der mit einer Art „Zeitlupeneffekt“ das Geschehen nicht nur verlangsamt, sondern am Ende geradezu „einfriert“ (das Erheben des Messers), bevor in V.11f. ein erneuter Dialog zwischen Gott und Abraham die Wende und Lösung markiert. Bevor dem genauer nachgegangen werden kann, soll eine gegliederte Übersetzung des Textes zur Orientierung dienen:Ⱥř
Genesis 22,1–19 I. V.1–ř: Exposition: Überschrift, Befehl Gottes und Beginn der Ausführung Und es war nach jenen Ereignissen, da hat der Gott Abraham versucht,Ⱥ4 und er sagte zu ihm: „Abraham!“ Und er sagte: „Hier (bin) ich.“ 2 Und er sagte: „Nimm doch deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, den Isaak, und geh hin in das Land Morijah und opfere ihn dort als Brandopfer auf einem der Berge, den ich dir sage.“ ř Da stand Abraham früh am Morgen auf und schirrte seinen Esel an und nahm seine zwei Knechte mit sich und Isaak, seinen Sohn, und spaltete Holz für ein Brandopfer, und erhob sich und ging hin zu dem Ort, den ihm der Gott gesagt hatte. 1
II. V.4–8:
Weitere Ausführung des Befehls durch Annäherung an den Ort
a) V.4–5: Zurückbleiben der Knechte Am dritten Tag hob Abraham seine Augen auf und sah den Ort aus der Ferne. 5 Und Abraham sagte zu seinen Knechten: „Bleibt ihr für euch hier mit dem Esel. Ich und der Knabe, wir wollen dorthin gehen und Huldigung erweisen und (dann) zu euch zurückkommen.“ 4
b) V.6–8: Gespräch zwischen Sohn und Vater Und Abraham nahm das Holz für das Brandopfer und legte (es) Isaak auf, seinem Sohn. Und er nahm in seine Hand das Feuer und das Messer, und sie gingen beide (wörtl.: in ihrer Zweiheit) zusammen. 7 Da sprach Isaak Abraham, seinen Vater, an, und sagte: „Mein Vater!“ Und 6
ř 4
Die Übersetzung folgt dem masoretischen Text. Die syntaktische Fügung des Anfangs von Gen 22,1 ist wayyiqtol – we-x-qatal – wayyiqtol. Der invertierte Verbalsatz V.1aΆ „der Gott aber hat Abraham versucht Ȧ da hat der Gott Abraham versucht“ ist auf die vorausgehenden und nachfolgenden Narrative angewiesen, die er als Hintergrundinformation unterbricht. Schon auf syntaktischer Ebene wird damit zum einen der überschriftartige Charakter von V.1a angezeigt, zum anderen wird deutlich, daß Gen 22 auf einen Vorkontext (wohl Gen 21,8–21) angewiesen ist (siehe unten II.).
4
Friedhelm Hartenstein
er sagte: „Hier (bin) ich, mein Sohn.“ Und er sagte: „Siehe, das Feuer und das Holz; wo aber (ist) das Schaf für ein Brandopfer?“ 8 Und Abraham sagte: „Gott wird für sich (er)sehen das Schaf für ein Brandopfer, mein Sohn.“ Und sie gingen beide (wörtl.: in ihrer Zweiheit) zusammen (weiter). III. V.9–14:
Das Geschehen bei Erreichen des Ortes
a) V.9–10: Ausführung des Befehls bis zur letzten Konsequenz: Bindung Und als sie zu dem Ort kamen, den ihm der Gott gesagt hatte, baute Abraham dort den Altar und schichtete das Holz (darauf) und band Isaak, seinen Sohn, und legte ihn auf den Altar, von oben auf das Holz. 10 Und Abraham streckte seine Hand aus und nahm das Messer, um zu schlachten seinen Sohn. 9
b) V.11–14: Verhinderung der Ausführung des Befehls: Lösung V.11–12: Peripetie: Anrede Gottes vom Himmel her 11 Da rief ihn der Bote JHWHs vom Himmel und sagte: „Abraham! Abraham!“ Und er sagte: „Hier (bin) ich.“ 12 Er sagte: „Strecke nicht deine Hand aus nach dem Knaben und tue ihm gar nichts (wörtl.: nicht ein Geringstes)! Denn jetzt weiß ich, daß du gottesfürchtig (bist), indem du nicht verschont hast deinen Sohn, deinen einzigen, vor mir.“ V.13–14: Opfer des Widders und Benennung des Ortes 1ř Da hob Abraham seine Augen auf und sah: und siehe, ein Widder (weiter) hinten, verstrickt im Dickicht mit seinen Hörnern. Und er ging (hin) und nahm den Widder und opferte ihn als Brandopfer anstelle seines Sohnes. 14 Und Abraham nannte den Namen jenes Ortes „JHWH sieht“, den man (noch) heute nennt: „Auf dem Berg, auf dem JHWH erscheint Ȧ gesehen wird.“ IV. V.15–18:
Zweite Gottesrede und Erneuerung der VerheißungȺ5
Und der Bote JHWHs rief Abraham ein zweites Mal vom Himmel 16 und sagte: „Bei mir selbst habe ich geschworen, Spruch JHWHs: Deshalb, weil du diese Sache / dieses Wort getan / befolgt hast und nicht verschont hast deinen Sohn, deinen einzigen, 17 deshalb will ich dich ganz sicher segnen und will ganz sicher zahlreich machen deine Nachkommen wie die Sterne des Himmels
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Die Verse 15–18 gelten heute fast immer als sekundäre Erweiterung des Textes, der insofern in seiner Grundfassung sehr wahrscheinlich Gen 22,1–14.19 umfaßt hat. Hauptargument für die Ausscheidung von V.15–18 ist – neben dem literarischen Rückbezug auf die (redaktionell erweiterten) Väterverheißungen der vorausgehenden Abrahamerzählungen – die konzeptionelle Änderung im Vergleich mit der Grunderzählung, die den erneuten Zuspruch des Segens an Abraham ausdrücklich von der Bedingung des Gehorsams gegenüber JHWH abhängig macht.
Die Verborgenheit des rettenden Gottes
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und wie den Sand, der am Ufer des Meeres (ist). Und es sollen in Besitz nehmen deine Nachkommen das Tor ihrer Feinde. 18 Und es sollen sich Segen wünschen durch deine Nachkommen alle Völker der Erde, weil du gehört hast auf meine Stimme.“ V. V.19: Abschlußnotiz: Rückkehr Abrahams 19 Und Abraham kehrte zurück zu seinen Knechten. Und sie erhoben sich und zogen zusammen nach Beerscheba. Und Abraham wohnte in Beerscheba.
Bevor ich knapp am Text entlanggehe, sind vier übergreifende Gesichtspunkte zu seiner Erzählstruktur zu vermerken, die für die inhaltliche Deutung Entscheidendes anzeigen: 1. Wie in jüngerer Zeit zu Recht betont wurde, muß man den einleitenden Satz V.1a „Und es war nach diesen Ereignissen, da hat der Gott Abraham versucht“ als eine Art Überschrift verstehen.Ⱥ6 Dem Leser wird auf diese Weise von Anfang an deutlich gemacht, wie er das Folgende zu verstehen hat. Im Gegensatz zur Erzählfigur Abraham weiß er schon, daß es sich bei der sogleich folgenden abgründigen Forderung Gottes um ein „Versuchen“ oder „Prüfen“ handelt.Ⱥ7 Eventuelle Fehldeutungen sollen so offenbar von vornherein ausgeschlossen werden. Eine vergleichbar bewußt vorgezogene anfängliche Deuteperspektive findet sich auch in der berühmten Erzählung von der Erscheinung der drei Männer bei Abraham in Mamre (Gen 18,1).Ⱥ8 Dort erfährt der Leser, nicht aber Abraham, vorab: „Und es erschien ihm JHWH bei der Terebinthe von Mamre, als er gerade am Eingang seines Zeltes saß“. Auch hier muß Abraham erst im Lauf der Erzählung mit dem Leser „gleichziehen“, der dessen allmählichen Erkenntnisprozeß mit um so größerer Spannung verfolgt. Durch beide Überschriften in Gen 18 und in Gen 22 wird schließlich eine doppelte Rezeptionsebene angezeigt: Die Identifikation mit der Hauptfigur Abraham wird vertieft im Blick auf ihre theologische Bedeutung – die Erzählung erscheint als hintergründig (wie dies auf ganz ähnliche Weise auch der Prolog des Hiobbuches mit seiner vor dem Gottesthron angesiedelten, nur dem Leser bekannt gemachten Beleuchtung der Ursache des Geschicks Hiobs bewirkt). Und in beiden Fällen einer solchen Überschrift, Gen 18 und 22, ist eine in manchem vergleichbare Zielrichtung 6
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Vgl. dazu etwa jüngst betont JҦџє JђџђњіюѠ, „Die ‚Opferung‘ Isaaks (Gen 22)“, in: Spannweite. Theologische Forschung und kirchliches Wirken. Festgabe für Hans Klein zum 65. Geburtstag, hg. v. CѕџіѠѡќѝѕ Kљђіћ, Sѡђѓюћ Tќяљђџ u. Eєяђџѡ Sѐѕљюџя, Bukarest 2005, 74–84. Vgl. dazu genauer unten (II.). Dazu siehe auch JђџђњіюѠ, Opferung Isaaks (Anm. 6), 75f.
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auszumachen: Handelt es sich in Gen 18 um den Umschlag der alltäglichen Situation der Begegnung mit fremden Gästen in eine Gottesbegegnung, so wird in Gen 22,12 das inhaltlich unbestimmte „Versuchen“ aus V.1 erst am entscheidenden Umschlagpunkt der Erzählung vereindeutigt: „Denn jetzt weiß ich, daß du gottesfürchtig bist.“ In V.12 wird so die bisher nur dem Leser bekannte Deutung des Gottesbefehls („Versuchung“) auf der Erzählebene gegenüber Abraham als Bewährung von „Gottesfurcht“ gekennzeichnet. Sehr zu beachten ist die damit angezeigte retrospektive Struktur der Kategorie der Gottesfurcht.Ⱥ9 2. Ein zweiter mindestens ebenso zentraler struktureller Gesichtspunkt für das Verständnis der Erzählung ist der Gebrauch der Gottesbezeichnungen. Das göttliche Subjekt der Erzählung wird in der Überschrift in Gen 22,1 mit determiniertem ha’elohim „der Gott / die Gottheit“ eingeführt, und auch im folgenden Erzählverlauf bleibt es zunächst bei dieser Kennzeichnung, die mit einer geringen Differenzierung variiert wird: a) Das mit dem Artikel hervorgehobene Elohim wird noch zweimal wie in Gen 22,1 durch den Erzähler gebraucht (V.ř „und er ging zu dem Ort, den ihm der Gott gesagt hatte“ ȦȦ V.9 „und als sie zu dem Ort kamen, den ihm der Gott gesagt hatte“). b) Die Erzählfiguren Abraham und Gott gebrauchen jeweils indeterminiertes Elohim in den wörtlichen Reden von V.8 („Gott wird sich ein Schaf für ein Brandopfer ersehen“) und von V.12 („denn jetzt weiß ich, daß du Gott fürchtend Ȧ gottesfürchtig bist“). Im Unterschied zu dem bis zur fast vollzogenen Ausführung des Gottesbefehls gebrauchten Elohim findet sich als Einleitung der erlösenden Gottesrede in V.11f., mit der Gott Abraham in letzter Sekunde sozusagen in den Arm fällt, der Gottesname JHWH: „Da rief ihn der Bote JHWHs vom Himmel her“ (V.11). Daß es JHWH ist, der die Wende herbeiführt, wird genauso wenig Zufall sein, wie die darauf folgenden Belege für das Tetragramm in V.14 („Und Abraham nannte den Namen des Ortes ‚JHWH sieht‘, den man [noch] heute nennt: ‚Auf dem Berg, auf dem JHWH erscheint Ȧ gesehen wird‘“) und in den sekundären Versen 15 („Und der Bote JHWHs rief Abraham ein zweites Mal vom Himmel her“) und 16 („Bei mir selbst habe ich geschworen – Spruch JHWHs“). In Gen 22,1–10 ist also so lange von „(dem) Gott“ die Rede, wie die abgründige Forderung des Sohnesopfers das Geschehen bestimmt. Von der Wende in Gen 22,11 an wird dagegen vom Erzähler (und in V.15f. von Gott selbst) JHWH gebraucht (mit der notierten Ausnahme des „gottesfürchtig“ von V.12). Zu Recht hat hierzu Benno Jacob, dem sich heute vie9
Vgl. dazu genauer unten (II. und III.).
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le Ausleger anschließen, geurteilt: „Der Wechsel der Gottesnamen ist nicht nur beabsichtigt, sondern die Hauptsache“.Ⱥ10 Damit ist etwas sehr Wichtiges für das Gesamtverständnis von Gen 22 gesehen. In der Erzählung werden zwei Gotteserfahrungen bzw. Wahrnehmungen Gottes einander gegenübergestellt: die des abgründig verborgenen und die des rettenden Gottes. Ersterer wird durch das allgemeine „der Gott“ von Gen 22,1 in der Distanz des Unerforschlichen, ja des Ungeheuerlichen, gehalten, letzterer kann nur mit dem durch ihn selbst als Zeichen seiner bleibenden Zuwendung verbürgten Namen JHWH bezeichnet werden (vgl. Ex ř,14; řř,19; ř4,5ff.). Von daher geht es in Gen 22 offenbar theologisch zentral um eine Kontrasterfahrung der Verborgenheit des rettenden Gottes.Ⱥ11 ř. Ein weiteres wichtiges Strukturprinzip von Gen 22 ist das dreifache hinneni „Hier bin ich!“ in V.1, V.7 und V.11. Die Verwendung dieser kurzen Formel im Alten Testament als Antwort auf eine namentliche oder mit einem Titel verbundene Anrede zeigt nicht nur einfach die Anwesenheit des Angesprochenen an, sondern verweist auf dessen Handlungsbereitschaft.Ⱥ12 Üblicherweise steht dabei das Subjekt der Antwort „Hier bin ich!“ zum Anredenden in einer untergeordneten Stellung. Die Wendung ist dann präziser zu umschreiben als: „Ich bin bereit, etwas auszuführen“. In der Anrede Gottes und der Antwort Abrahams in Gen 22,1, die dem Gottesbefehl vorausgeht, schwingt dann zweierlei mit: a) Die beiden Protagonisten stehen zueinander in einem wechselseitigen Personalverhältnis, das durch Vertrauen und Verbindlichkeit gekennzeichnet ist. Auf die Namensanrede „Abraham!“ in V.1 antwortet dieser deshalb sofort und ohne zu zögern: „Hier bin ich!“ b) Um so schockierender und zugleich paradox erscheint im Rahmen des implizierten Verhältnisses von Gott und Abraham der folgende Befehl. Die Beharrlichkeit, mit der Abraham diesem Befehl bis hin zur letzten Konsequenz Folge leistet, steht von Anfang an unter dem Vorzei10
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Jюѐќя, Genesis (Anm. 2), 985f. (Hervorhebung von mir); vgl. dazu auch Eяюѐѕ, Theodizee (Anm. 1). Zur Verwendung der Gottesnamen siehe auch Eџѕюџё BљѢњ, Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57), Neukirchen-Vluyn 1984, ř2ř. Ein Problem entsteht durch das Auftreten des Tetragramms neben Elohim in Gen 22 nur unter der Voraussetzung, daß es sich dabei um einen „elohistischen“ Text handelt. Man hat in der Forschung dann zumeist „jahwistische“ Einschübe (u. a. aus den sekundären V.15ff.) vermutet. Die Schwierigkeit ist aber künstlich, denn erklärungsbedürftig ist in erster Linie die auffällige Verteilung der Gottesnamen im Text. Ähnliche Beispiele einer vermutlich bewußt sinntragenden Verteilung verschiedener Gottesbezeichnungen finden sich auch in Ex ř und Jon 4. Vgl. dazu genauer unten (II.–III.). Darauf hatte schon Jюѐќя, Genesis (Anm. 2), 492f. (mit Belegstellen), ausdrücklich hingewiesen.
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chen der bestehenden Beziehung zu Gott und müßte doch am Ende das lange gewebte Netz des Vertrauens zerreißen. Kompositorisch höchst geschickt korrespondiert daher dem ersten „Hier bin ich!“ von V.1 in V.11 ein zweites, das auf die am dramatischen Umschlagpunkt erfolgende doppelte Anrede durch den JHWH-Boten antwortet – wieder wie in V.1 noch bevor überhaupt ein inhaltlicher Satz über die Absicht Gottes verlautet. Zwischen diesen beiden Anreden und Antworten ist die Erzählung gewissermaßen eingespannt. Und es ist kein Zufall, daß in der Mitte beider hinneni-Aussagen in Gen 22,7 eine dritte solche Anrede und Antwort steht, die das zu Herzen gehende Gespräch zwischen Sohn und Vater eröffnet (V.7): „Da sprach Isaak Abraham, seinen Vater, an, und sagte: ‚Mein Vater!‘ Und er sagte: ‚Hier (bin) ich, mein Sohn!‘“ Wieder handelt es sich um ein asymmetrisches Personalverhältnis, aber die Unterschiede sind deutlich: Nicht der Höhergestellte spricht zuerst, um einen Befehl zu geben, sondern der geliebte Sohn spricht den Vater an. Daß dieses Verhältnis anders ist als das zwischen Gott und Abraham in V.1 und V.11, wird auch durch die Klammer um die Gesprächsszene in V.6–8 deutlich, in der zweimal betont wird: „Und sie gingen beide zusammen“ (schenehaem).Ⱥ1ř Die ebenfalls asymmetrische Vater-Sohn-Beziehung, in der patriarchalischen Gesellschaft ein soziales Faktum, wird durch die innige „Zweiheit“ der beiden als tiefe Bindung sichtbar gemacht. In der Antwort Abrahams an seinen Sohn sind deshalb vor allem Fürsorge und Schutz mitgesetzt, die durch das furchtbare Ziel ihres Weges abgründig unterlaufen werden. Dennoch bilden die drei „Hier bin ich!“-Stellen in der Struktur von Gen 22 einen Zusammenhang: In Abrahams Beziehung zu Isaak spiegelt sich die vorlaufende Beziehung Gottes zu Abraham wider, insofern der nach so langem Warten durch JHWH geschenkte Sohn derjenige Erweis seiner Verläßlichkeit war, der Abrahams Gehorsam erst ermöglicht.Ⱥ14 Im Sohn hat er die positiven Möglichkeiten Gottes vor Augen, sollte dieser Sohn wirklich wieder von demselben Gott von ihm gefordert werden? Daß diese Frage dem Text keineswegs fremd ist, zeigt schließlich der vierte übergreifende Gesichtspunkt zur Erzählstruktur von Gen 22.
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Eine ähnlich sinntragende Bedeutung hat das betonte „beide zusammen“ (schenehaem) auch in der Paradieserzählung Gen 2–ř, wo es für den idealen Zustand des Urpaares vor dessen Trennung in zwei unterschiedlich handelnde Einzelwesen gebraucht wird (Gen 2,25 und ř,7). Vgl. dazu Fџіђёѕђљњ HюџѡђћѠѡђіћ, „‚Und sie erkannten, daß sie nackt waren …‘ (Gen ř,7). Beobachtungen zur Anthropologie der Paradieserzählung“, in: EvTheol 65 (2005), 277–29ř, hier 286ff. Vgl. dazu auch BљѢњ, Komposition (Anm. 10), ř2řf.
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4. Martin Buber hat darauf aufmerksam gemacht, daß viele Texte der hebräischen Bibel von „Leitworten“ geprägt sind, die als Wiederaufnahmen thematische Zusammenhänge verdeutlichen.Ⱥ15 Eine wichtige solche Sinnlinie ist in Gen 22 durch das Leitwort ra’ah „sehen“ markiert (teils wird es dabei auch mit dem ähnlich lautenden jare’ „fürchten“ verbunden). In einer bewußt parallelen Wendung ist zweimal vom Sehen Abrahams die Rede, jedesmal als überraschende Wahrnehmung, die mit den Worten eingeleitet wird: „Da hob Abraham seine Augen auf“: a) In V.4 sieht er am dritten Tag, nach einem langen Weg, den er, wie die Wendung impliziert, vermutlich in sich gekehrt und ohne Außenwahrnehmung gegangen sein wird, „den Ort von ferne“. b) In V.1ř sieht er plötzlich, nachdem er zuvor offenbar nur auf die Handlungen der Opfervorbereitung konzentriert war, den weiter hinten im Dickicht verfangenen Widder. Diesem ersten ambivalenten Sehen des Ortes und dann dem zweiten befreienden Sehen des Opfertieres durch den Stammvater ist in Gen 22 sehr bewußt das Sehen Gottes gegenübergestellt. Das geschieht betont in der Namensgebung des Ortes in V.14a: „Und Abraham nannte den Namen des Ortes ,JHWH sieht‘“ (in V.14b als „Berg, auf dem JHWH erscheint“ gedeutet).Ⱥ16 Mit dieser Namensgebung wird zurückverwiesen auf die Antwort Abrahams auf die unbefangene, aber so belastende Frage Isaaks nach dem Opfertier in Gen 22,8: „Gott wird für sich (er)sehen das Schaf für ein Brandopfer, mein Sohn.“ Diese Aussage Abrahams über das zukünftige Sehen Gottes ist, wie viele neuere Exegeten zu Recht hervorgehoben haben, für die Erzählung zentral:Ⱥ17 Es ist darin mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Hinweis auf eine, 15
16
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Vgl. Mюџѡіћ BѢяђџ, Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift. Beilage zum ersten Band ‚Die fünf Bücher der Weisung‘, verdeutscht v. Mюџѡіћ BѢяђџ gemeinsam mit Fџюћѧ RќѠђћѧѤђіє, Heidelberg 1954, 15: „Unter Leitwort ist ein Wort oder ein Wortstamm zu verstehen, der sich innerhalb eines Textes, einer Textfolge, eines Textzusammenhangs sinnreich wiederholt.“ Die Namensgebung für den „Ort“ in V.14 wird zumeist als für die Erzählung wenig zentral angesehen. Es fällt aber die mehrfache Nennung des „Ortes“ in Gen 22 auf, die auf eine eigenständige Bedeutung im Text verweisen dürfte (Gen 22,2–4.9.14, vgl. als Analogie auch Gen 28,10–22). V.14 ist jedoch kein „realer“ Ortsname, sondern spielt primär innerhalb der Erzählung Gen 22 eine Rolle (Rückbezug auf V.8 und V.11–1ř). V.14a ist demnach nur scheinbar eine Ortsätiologie, aber auch V.14b bietet nicht den wirklichen Namen, sondern eine erläuternde Leserinformation über den „Ort“ im Stil einer Ätiologie: „von dem man sagt: ‚auf dem Berg, auf dem JHWH erscheint‘“ (so die Punktation des masoretischen Textes, vgl. auch die Septuaginta). Gemeint ist damit sehr wahrscheinlich der Jerusalemer Tempelberg. Oft wird V.14b auch als sekundär ausgeschieden, das ist aber keineswegs zwingend (vgl. BљѢњ, Komposition [Anm. 10], ř24f.). Vgl. dazu jetzt wieder JђџђњіюѠ, Opferung Isaaks (Anm. 6), 81f.
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wenn auch prekäre, Erwartung Abrahams gegeben, daß es der Gott, dem er vertraut hat, doch nicht zum Äußersten kommen lassen wird. Denn das „Sehen“ Gottes ist in der hebräischen Bibel niemals neutral, es ist, besonders in der Sprache der Psalmen, eine Weise seines Rettungshandelns.Ⱥ18 Wer von Gott gesehen wird, der kann aus dieser Gottesbeziehung nicht mehr herausfallen. „Ich habe gesehen das Elend meines Volkes in Ägypten“, so leitet Gott auch seine Rettungszusage gegenüber Mose ein (Ex ř,7). Insofern ist die Antwort Abrahams an Isaak in V.8 vermutlich Ausdruck seiner paradoxen Hoffnung auf den Gott, der gegen den Augenschein am Ende doch „für sich“ ein Opfertier „sehen“ wird. Dabei bleibt offen, ob dies nicht doch sein Sohn Isaak sein könnte (nur der Leser weiß es bereits anders). Was schließlich geschieht, wird also von Abraham völlig der Entscheidung und dem Handeln Gottes anheimgestellt (vgl. dazu das betonte „für sich“ des erwarteten „Sehens“ Gottes). So geht es im Grundsatz um die Gottheit Gottes, und so erweist sich im Erzählverlauf bereits Abrahams Antwort auf die Frage Isaaks in Gen 22,8 als Ausdruck von „Gottesfurcht“, als konkrete Füllung dessen, was V.1 mit „Versuchen“ meint. Blickt man nach diesen übergreifenden Gesichtspunkten für die Deutung der Gesamterzählung nun noch knapp auf ihre Abfolge im einzelnen, so ergeben sich folgende ergänzende Beobachtungen: V.1–3: Die Überschrift in V.1a läßt Raum und Zeit im Ungefähren. Man erfährt lediglich, daß das Folgende irgendwann nach dem zuletzt Erzählten (also nach den Ereignissen von Gen 21, vgl. dazu unten II.) anzusetzen ist. Der nähere Zeitpunkt wird in V.ř als nächtliche Erscheinung deutlich („Abraham stand früh am Morgen auf“). Zur Verortung der Audition in V.1b–2 erfährt man nichts. Wie in dem in dieser Hinsicht vergleichbaren Berufungsbericht des Jeremia in Jer 1 ist die durch Weglassung jeder Umstandsangabe evozierte Raumvorstellung eigenartig „leer“ und zugleich fokussiert auf die Nähe der beiden Gesprächspartner. Zu beachten ist weiter die erzählerische Meisterschaft, mit der zum einen durch die aufsteigende Reihung der Objekte in V.2 die Ungeheuerlichkeit des Gottesbefehls unterstrichen wird („Nimm doch deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, den Isaak“) und zum anderen durch die absteigende Reihung der antwortenden Tätigkeiten Abrahams indirekt dessen innerer Zustand in den Blick gerückt wird (V.ř: Aufstehen, den Esel anschirren, zwei Knechte nehmen, dann erst Isaak nehmen 18
Siehe dazu HюћѠ Fђџёіћюћё FѢѕѠ, „ra’ah“, in: ThWAT 7 (199ř), 255f.: „Wenn JHWH die Not und das Elend des einzelnen wie des Volkes ansieht, ereignet sich im Akt der Wahrnehmung seine personale Zuwendung und Hilfe, ist die Not bereits gewendet“ (vgl. z. B. in Bitte und Klage: Ps 10,14; 25,18f.; 59,5; 119,15ř, bzw. in Lob und Dank: Ps 9,14; ř1,8).
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– anschließend Holz für das Opfer spalten, sich erheben und losgehen). Auffallend bei diesen Vorbereitungen ist das Holzspalten als letzte Tätigkeit vor dem Aufbruch. Es handelt sich um ein retardierendes Moment im ansonsten alltäglichen Ablauf: Bevor Abraham nicht damit fertig ist, kann er nicht losgehen, und dieses Tun verschafft ihm eine letzte Atempause, die aber zutiefst ambivalent erscheint angesichts der Zweckbestimmung „für ein Brandopfer“. V.4–5: Der lange Weg von drei Tagen wird nicht geschildert, aber alles, was dieser Weg bedeutet, wird in den wenigen Sätzen sichtbar: „Am dritten Tag hob Abraham seine Augen auf und sah den Ort aus der Ferne.“Ⱥ19 Die Aussage Abrahams gegenüber den zurückbleibenden Knechten, daß er und Isaak nach vollzogener Anbetung „zu euch zurückkommen“ werden (V.5), erscheint ähnlich mehrdeutig wie die oben erwähnte Antwort des Stammvaters auf die Frage Isaaks in V.8. Zum einen wird sie der Beruhigung der Knechte dienen und ist insofern verständlich, zum anderen steckt in ihr vielleicht auch etwas von einer Selbstberuhigung im Sinne der paradoxen Hoffnung auf ein Gotteshandeln, das die Rückkehr tatsächlich ermöglichen wird. V.6–8: Zum anschließenden Gespräch von Vater und Sohn wurde oben bereits vieles gesagt. Zu vermerken ist hier nur noch die retardierende und zugleich zentrierende Funktion, die dieses Gespräch im Erzählverlauf schon durch seine Länge und relative Ruhe innehat. Die intime Situation der beiden zusammen zur Opferstätte gehenden Menschen und ihre Vertrautheit gehen dem Leser unmittelbar zu Herzen. Bemerkenswert ist die aktive Rolle Isaaks, der bisher passives Objekt der durch den Gott angeordneten Handlungen Abrahams gewesen ist, nun aber die Initiative ergreift und von sich aus den Vater auf das zukünftige Geschehen anspricht (man hat den Eindruck, es mit einem mündigen Knaben zu tun zu haben). Isaak übernimmt damit eine Rolle, die er eventuell auch in der folgenden Opferszene beibehält. V.9–10: Die bereits erwähnte dramatische Zuspitzung der Handlung bei Erreichen des „Ortes“ in diesen Versen läßt beim Leser nach der un19
Ein eigenes Problem stellt im Blick auf den „Ort“ die Frage nach dem (ham)morijah in V.2 dar. Der Text ist nicht eindeutig überliefert (vgl. zum Folgenden BљѢњ, Komposition [Anm. 10], ř25; Sѐѕњіё, Rückgabe der Verheißungsgabe [Anm. 1], 290f.). Auf der Grundlage des masoretischen Textes sind folgende Argumente zu bedenken: Der Name soll in Gen 22 wahrscheinlich auch als eine Anspielung auf die Leitworte ra’ah „sehen“ und jare’ „fürchten“ verstanden werden. Ein Land dieses Namens ist ansonsten nicht belegt. In 2Chr ř,1 wird aber der Jerusalemer Tempelberg als har hammorijah bezeichnet. Nichts spricht dann dagegen, auch das „Land“ (ham)morijah in V.2 auf Jerusalem und dessen Umgebung zu beziehen (wie in 2Chr ř,1). Das erklärt am besten das starke Interesse der Erzählung an der von Gott erwählten Opferstätte (von Jerusalem wird auch ansonsten im Pentateuch nur „verdeckt“ gesprochen, vgl. Gen 14).
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mittelbar vorausgehenden Szene des Gesprächs auf dem Weg den Eindruck eines möglichen Einverständnisses aufkommen, mit dem Isaak mit seinem Vater „zusammenwirkt“, obgleich Abraham alleiniges Subjekt der Tätigkeiten ist (Bauen des Altars, Holz darauf schichten, Isaak binden, ihn auf den Altar, auf das Holz legen, die Hand ausstrecken, das Messer nehmen). Drastisch verharrt der Text beim Bild des erhobenen Messers, „um zu schlachten seinen Sohn“. V.11–12: Der doppelte Anruf des Engels bringt die Wende, indem er Abraham vom Äußersten zurückhält und dessen Tun als „Nicht Verschonen“ seines einzigen Sohnes deutet. In gewisser Weise gilt das von Gott Geforderte also, obgleich es nicht völlig durchgeführt wurde, als gültiges „Opfer“ (die Bereitschaft steht über dem Vollzug). V.13–14: Der „Opferersatz“ des Widders kann nun erst – nach der befreienden Unterbrechung durch JHWH – von Abraham wahrgenommen und dargebracht werden „anstelle seines Sohnes“.Ⱥ20 Und im Rückgriff auf seine Antwort an Isaak in V.8 benennt Abraham abschließend den „Ort“ „JHWH sieht“, eine nur scheinbar typische Namensätiologie, die V.14b mit der erzählerischen Notiz im Blick auf den heutigen Namen ergänzt. Damit wird sehr wahrscheinlich die ursprüngliche Erzählung geendet haben, nur noch V.19 mit der Rückkehrnotiz ist hinzuzunehmen. V.15–18: Vermutlich ein späterer NachtragȺ21 ist die als solche deutlich gekennzeichnete zweite Rede des JHWH-Boten, die Abrahams Gehorsam in der Befolgung des Befehls zur Bedingung für die erneute Zusage göttlichen Segens macht. Unter Rückgriff auf die (ihrerseits bereits redaktionell 20
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Eine oft vertretene religionsgeschichtliche Deutung der Erzählung Gen 22 sieht darin die Ablösung des Menschenopfers durch ein Tieropfer gespiegelt. Man hat dies jedoch zumeist für eine dem Text vorausliegende ältere Überlieferungsstufe, nicht für den Text selbst angenommen (vgl. etwa ѣќћ Rюё, Opfer [Anm. 2], 26f.). Die vorliegende „theologische Erzählung“ läßt eine solche Hypothese schwerlich zu (darauf deutet etwa auch die Aussage Abrahams in V.8, die ein „Schaf“ als zu „ersehendes“ Opfer benennt und damit als Erwartung formuliert, was für den JHWH-Kult „normal“ war). Auch eine weitere Deutevariante der Forschung, die in Gen 22 Fälle von Kinderopfern in der israelitischen Religion kritisiert sieht, erscheint mir zu wenig begründet (trotz der erneuerten Argumente bei Fџюћј CџҿѠђњюћћ, „Gott als Anwalt der Kinder!? Zur Frage von Kinderrechten in der Bibel“, in: Gottes Kinder [JBTh 17], Neukirchen-Vluyn 2002, 18ř–197, bes. 190–196). Auch wenn Gen 22 in einer Zeit entstanden sein sollte, in der solche Opfer in Israel eventuell üblich waren, ist der Text m. E. nicht als bewußte Problematisierung einer solchen Praxis erkennbar (so auch BљѢњ, Komposition [Anm. 10], ř26f.). Allerdings schließt der Charakter der Gottesfurcht Abrahams solche Opfer implizit aus (vgl. dazu nochmals den signifikanten Gebrauch der Gottesbezeichnungen: „der Gott“ fordert das Opfer des Sohnes, aber JHWH als der Gott der Verheißung, auf den Abraham vertraut, unterbindet es). S. o. Anm. 5.
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bearbeiteten) Verheißungen der vorausgehenden Abrahamerzählungen werden Nachkommenschaft, Landverheißung und universaler Völkersegen dem Stammvater erneut zugesprochen. Damit kommt in die abgründige Offenheit der Erzählung Gen 22,1–14.19 ein rationaler Zug göttlicher Pädagogik hinein. V.19: Die Schlußnotiz von der Rückkehr Abrahams zu seinen Knechten und dem Weg nach Beerscheba markiert eine berühmte „Leerstelle“ in der Erzählung, die nicht nur neuere Exegeten, sondern bereits die antiken jüdischen Ausleger beschäftigt hat.Ⱥ22 Von Isaak ist keine Rede mehr, der Stammvater scheint allein zurückzukehren. Wo ist der Sohn geblieben ? Ist er einfach mitzudenken im Sinne der engen Zweisamkeit von V.6–8, warum aber wird dies dann nicht erwähnt ? Die vermutlich wie jeder andere Einzelzug von Gen 22 bewußte Undeutlichkeit an dieser Stelle scheint zumindest anzuzeigen, daß nach diesem unerhörten Geschehen nicht einfach wieder der Alltag einkehren kann. Der Leser wird zu abschließenden Gedanken genötigt, die ihn noch einmal besonders die Perspektive Isaaks einnehmen lassen. Welche Hinweise lassen sich nun angesichts dieses „Surveys“ durch Gen 22,1–19, der die wichtigsten Aspekte aufgelistet hat, für eine theologiegeschichtliche Einordnung und Datierung des Textes beibringen? Dazu muß man die Frage nach der Einbindung von Gen 22 in seinen Kontext berücksichtigen. Der folgende Abschnitt versucht dazu eine knappe Übersicht.
II. Genesis 22 im Kontext von Gen 21,8–21 und Ex 20,20 Gen 22 gilt inzwischen aufgrund seines dezidiert theologischen Charakters weithin als ein junger Text. Im Rahmen einer traditionellen Quellenhypothese im Anschluß an die überlieferungsgeschichtliche Forschung hatte man zuvor lange Zeit eine Abfassung der Erzählung im 9.Ȧ8. Jh. v. Chr. durch den Elohisten angenommen.Ⱥ2ř Ohne diese heute weitgehend für obsolet gehaltene Theorie gehen die zeitlichen Anset22
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Dies hat jüngst vor allem Eяюѐѕ, Theodizee (Anm. 1) herausgestellt und zum Ausgangspunkt hermeneutischer Reflexionen gemacht (vgl. ebd., 14ff.). Zur jüdischen Auslegungstradition von Gen 22 vgl. LѢјюѠ KѢћёђџѡ, Die Opferung/Bindung Isaaks. Bd. 1: Gen 22,1–19 im Alten Testament, im Frühjudentum und im Neuen Testament, Bd. 2: Gen 22,1–19 in frühen rabbinischen Texten (WMANT 78Ȧ79), Neukirchen-Vluyn 1998. So jetzt wieder Aѥђљ GџюѢѝћђџ, Der Elohist. Gegenwart und Wirksamkeit des transzendenten Gottes in der Geschichte (WMANT 97), Neukirchen-Vluyn 2002, 214–216 (Gen 22 betrachtet er als Element des „Sondergutes“ des Elohisten, den er mit der älteren Pentateuchforschung in der zweiten Hälfte des 9. Jhs. v. Chr. im Nordreich verortet).
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zungen des Textes immer weiter herunter: Bereits Claus Westermann dachte an die späte Königszeit, Otto Kaiser an das 6.Ȧ5. Jh. v. Chr., Erhard Blum ebenfalls frühestens an das 7. Jh. v. Chr., Jürgen Ebach und Konrad Schmid an die nachexilische Zeit.Ⱥ24 Tatsächlich scheint die traditionsbzw. theologiegeschichtliche Einordnung der beiden wichtigsten theologischen Deutekategorien der Erzählung („VersuchungȦPrüfung“ und „Gottesfurcht“) frühestens in die ausgehende Königszeit (also das 7. Jh. v. Chr.) zu verweisen: 1. nissah (Pi’’el) für eine „Prüfung“ des Menschen durch Gott ist vor dem Deuteronomium (also frühestens in der zweiten Hälfte des 7. Jhs. v. Chr.) nicht belegt (Ex 15,25; 16,4; Dtn 8,2.16; 1ř,4; řř,8; Ri 2,22; ř,1.4; Ps 26,2; 2Chr ř2,ř1). Ähnlich wie in Gen 22 wird in den genannten Texten der Gehorsam bzw. die Liebe der Menschen zu JHWH „geprüft“. Im Unterschied zu Gen 22 geschieht dies aber in typisch deuteronomisch/deuteronomistischen Wendungen (vgl. etwa Dtn 8,2; Ri 2,22). Meist beziehen sich diese auf das Volk. Während die Texte den Gehorsam im Blick auf die Gebote JHWHs einfordern, entwickelt sich die Problematik in Gen 22 aus einem unverständlichen und abgründigen Befehl heraus, der diesen Geboten sogar entgegensteht und erst in der Lösung auf den eigentlichen Gotteswillen hinführt. Damit nimmt Gen 22 eine Sonderstellung in den nissah-Texten ein (wie auch Ex 20,20, der einzige Text neben Gen 22, in dem „Versuchung“ und „Gottesfurcht“ zusammen vorkommenȺ25). Nach Blum könnte Gen 22 deshalb den stärker systematischen Texten der Tradition ab dem Deuteronomium noch vorausliegen.Ⱥ26 Vermutlich verhält es sich aber gerade umgekehrt: Es geht in Gen 22 primär um die Wahrung der Unverfügbarkeit und Freiheit Gottes – eine Einsicht, die sich m. E. erst und genau dann einstellt, wenn es einschneidende Zweifel am Festhalten Gottes an seiner Verheißung gibt. Auf der Ebene der geschichtlichen Erfahrungen Israels und deren Verarbeitungen wäre damit zuerst an den Untergang des Nordreichs 722Ȧ720 v. Chr., stärker aber an denjenigen des Südreichs 587 v. Chr. zu denken (was auf das Exil als möglichen Bezugspunkt der dunklen Gotteserfahrung von Gen 22 deuten könnte).
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25 26
Vgl. CљюѢѠ WђѠѡђџњюћћ, Genesis 12–36 (BK 1Ȧ2), Neukirchen-Vluyn 1981, 4ř5; Oѡѡќ KюіѠђџ, Einleitung in das Alte Testament. Eine Einführung in ihre Ergebnisse und Probleme, Gütersloh 41978, 98 (vgl. jetzt auch ёђџѠ., „Die Bindung Isaaks“, in: DђџѠ., Zwischen Athen und Jerusalem [BZAW ř20], BerlinȦNew ork 200ř, 199–224); BљѢњ, Komposition (Anm. 10), ř28ff.; Eяюѐѕ, Theodizee (Anm. 1), 8, mit Anm. 20; Sѐѕњіё, Rückgabe der Verheißungsgabe (Anm. 1), 296ff. Zu diesem Text s. u. das Ende dieses Abschnitts. Vgl. BљѢњ, Komposition (Anm. 10), ř29.
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2. Das Thema der Gottesfurcht: Bereits Claus Westermann wandte sich gegen die lange übliche, jetzt von Axel Graupner nochmals wiederholte These, die Gottesfurcht sei ein spezielles Thema des „Elohisten“.Ⱥ27 Westermann verweist zu Recht auf die sehr unterschiedliche inhaltliche Füllung des Begriffs an den einschlägigen Stellen Gen 20,11; 22,12; 42,18; Ex 1,17.21; 18,21; 20,20. Die Sonderstellung von Gen 22 werde gerade angesichts dieser Parallelen noch deutlicher. Am ehesten kann Gen 22 im Blick auf die „Gottesfurcht“ – so Erhard Blum – mit dem Prolog des Hiobbuches, einem anerkannt nachexilischen Text, verglichen werden.Ⱥ28 In ihm steht ebenfalls die Frömmigkeit/Gottesfurcht der Hauptperson, Hiob, im Mittelpunkt (vgl. Hi 1,1.8; 2,ř). Ähnlich wie in Gen 22 geht es im Hiobprolog um eine „Prüfung“ der Haltung Hiobs (jedoch ohne den Begriff nissah), eine Parallele, die auch jüdische Auslegungen empfunden haben, wenn sie Gen 22,1 vor dem Hintergrund des Hiobbuches, v. a. des Prologs, interpretiert haben.Ⱥ29 Nach Blum wäre die hauptsächliche Gemeinsamkeit zwischen Gen 22 und Hi 1–2 darin zu sehen, daß Gottesfurcht „die Bindung an Gott im unverstandenen Leiden einschließt.“Ⱥř0 Doch scheint mir dies die eigentliche Pointe von Gen 22 noch nicht zu treffen: Der Hiob der Rahmenerzählung ist ja ein zugespitzter Fall der alltäglichen Erfahrung von Krankheit und Unglück, deren Ursache ihm gerade nicht bekannt ist. Das „Leiden“ Abrahams dagegen ist durch den abgründigen Gottesbefehl von vornherein ein dezidiert „theologisches“. Sucht man im Hiobbuch nach Parallelen für ein solches Leiden am Selbstwiderspruch Gottes, so legen sich viel eher die großen Monologe Hiobs im Dialogteil nahe, in denen Hiob Gott (den Gerechten) gegen Gott (den undurchschaubar Feindlichen) anruft.Ⱥř1 Die genannten traditions- bzw. theologiegeschichtlichen Erwägungen verweisen für den in vieler Hinsicht singulären Text Gen 22 am ehesten auf eine frühestens exilische, eher nachexilische Entstehung, in der die dunklen Gotteserfahrungen, die Israel in seiner Geschichte gemacht 27 28 29
ř0 ř1
WђѠѡђџњюћћ, Genesis (Anm. 24), 44ř; GџюѢѝћђџ, Elohist (Anm. 2ř), ř90. Vgl. BљѢњ, Komposition (Anm. 10), ř29; Eяюѐѕ, Theodizee (Anm. 1), 11f. 25. Vgl. die für die Auslegung von Gen 22 in seinem ersten Kontext problematische Deutung des ha’elohim aus V.1a auf die Gestalt des Satan bei Jюѐќя, Genesis (Anm. 2), 492 – wohl unter Bezug auf Stellen wie Jub 17–18, bSanh 89b und BerR 55,4–8, in denen in Aufnahme des Hiobprologs Satan (= Mastema) oder die Dienstengel Gott im Blick auf die Frömmigkeit Abrahams anfragen (vermutlich ist hierfür die hermeneutische Regel Hillels wichtig, wonach determiniertes Elohim wie in Gen 22,1 für Gott und seinen Hofstaat steht, vgl. dazu KѢћёђџѡ, OpferungȦBindung Isaaks [Anm. 22], Bd. 2, 99). Zu den genannten Texten vgl. KѢћёђџѡ, Bd. 1, 86ff. (Jub 17f.); Bd. 2, 54ff. (bSanh 89b); Bd. 2, 96ff. (BerR 55,4–8). BљѢњ, Komposition (Anm. 10), ř29. Vgl. insbesondere Hi 16,19–21; 19,2ř–27.
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hat, anhand der Vätergestalt Abraham reflektiert werden. Die explizit monotheistische Spannung zwischen der verborgenen und der offenbaren Seite Gottes hat – bei aller Unterschiedlichkeit – ihre nächsten Parallelen im Hiobbuch und bei Deuterojesaja (vgl. bes. Jes 45,7). Für die literarische Verortung von Gen 22 bedeutet das, daß man am ehesten mit einer Ergänzungshypothese rechnen sollte, die den Textblock Gen 20–22 als Fortschreibung der älteren Abrahamerzählungen von der „Frau als Schwester“ und der „Vertreibung der Hagar“ in Gen 12,10–20 und in Gen 16 verstehen läßt.Ⱥř2 Gen 22 nimmt in dieser Textkomposition eine Sonderstellung ein, da die Erzählung von der Bindung Isaaks als einzige ohne Parallele in der vorausliegenden Abrahamüberlieferung ist. Meine hier nicht näher zu begründenden literarhistorischen Annahmen zu Gen 22 sind folgende: a) Gen 20 setzt Gen 12,10–20 (die Erzählung von der „Frau als Schwester“) voraus und bedenkt diesen Text vor allem im Blick auf die Frage nach der Untadeligkeit des fremden Herrschers (Völkerperspektive), aber auch der Wahrhaftigkeit Abrahams neu. b) Ähnliches gilt für die Erzählung von der Vertreibung Hagars in Gen 21,8–21, die eine relecture zur älteren Fassung in Gen 16 bietet. Im Unterschied zu dieser betont Gen 21 die partielle Undurchschaubarkeit der göttlichen Lenkung des Geschehens. Dies läßt sie als eine Art Präludium zu Gen 22 erscheinen. c) Gen 22 seinerseits ist nicht ohne Gen 21,8–21 denkbar, unterscheidet sich aber auch von diesem Text durch seine singulären Züge (und stellt insofern vielleicht auch literarisch eine kontextbezogene noch spätere Bildung darȺřř). Jörg Jeremias hat vor kurzem zu Recht erneut auf die theologisch wichtige kompositorische Verbindung von Gen 22 zu Gen 21 hingewiesen.Ⱥř4 Wenn man nämlich Gen 22 vor dem Hintergrund von Gen 21,8–21 liest, erschließen sich für die Erzählung von der Bindung Isaaks noch einmal neue Perspektiven, die es zu bedenken gilt, bevor man ein theologisches Resümee versucht. Zur Orientierung für einen Vergleich der beiden Texte möchte ich zunächst eine kurze Skizze des Erzählverlaufs von Gen 21,8–21 geben: ř2
řř
ř4
Vgl. dazu etwa die häufig rezipierten Argumente für eine solche Fortschreibungshypothese bei Jќѕћ ѣюћ SђѡђџѠ, Abraham in History and Tradition, New HavenȦLondon 1975, 17ř (zu Gen 20); 200 (zu Gen 21,8–21). Vgl. die Auflistung der Argumente für die vermutliche Eigenständigkeit der Erzählung (ohne daß die Kontextbezüge negiert werden müßten) bei Sѐѕњіё, Rückgabe der Verheißungsgabe (Anm. 1), 284ff. JђџђњіюѠ, Opferung Isaaks (Anm. 6), 78–81 (zum Vergleich von Gen 21,8–21 mit Gen 22).
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Der Sohn der Verheißung, Isaak, wächst heran, und Abraham veranstaltet ein Festmahl zum Tag der Entwöhnung des Kindes (V.8). Sarah sieht dabei Abrahams Sohn der ägyptischen Magd Hagar, Ismael, „scherzen“ (auf Kosten Isaaks?) und fordert von Abraham: „Vertreibe diese Magd und ihren Sohn“, damit er nicht zusammen mit Isaak „erben“ solle (V.9–10). Abraham erscheint diese Bitte „übel“, weil er auch den anderen Sohn gern hat (V.11). Aber „Gott“ (Elohim) bestätigt die Bitte Sarahs und fordert Abraham auf, ihrem Willen zu entsprechen (V.12–1ř). Er mildert aber die Härte durch die Versicherung, daß auch der Sohn der Magd von ihm zu einem Volk gemacht werden solle. V.14 schildert die sofortige Ausführung des Befehls: Abraham steht früh am Morgen auf, nimmt Brot und einen Wasserschlauch, gibt ihn Hagar und übergibt ihr schließlich auch den Knaben (in betonter Letztstellung!) und schickt sie in die Wüste. In der Wüste verzweifelt Hagar (anders als ihr stolzes Pendant in Gen 16), als das Wasser zu Ende geht (V.15). Sie legt den Knaben unter einen Strauch und wartet auf dessen (und den eigenen) Tod, sie erhebt ihre Stimme und weint (V.16). In V.17 „erhört“ „Gott“ die Stimme des Knaben, und „der Engel Gottes“ ruft vom Himmel her: „Was ist mit dir, Hagar?“ (worauf ein Heilszuspruch folgt). „Gott“ öffnet ihre Augen (V.19) und plötzlich sieht sie einen Wasserbrunnen, geht hin, füllt den Schlauch und gibt dem Sohn zu trinken. Die Erzählung endet mit der Erfüllung des Versprechens „Gottes“, „mit“ dem Knaben zu sein: Er wird zu einem Wüstenbewohner (V.20–21). Ich notiere die wichtigsten Ergebnisse eines Vergleichs der beiden Texte: a) Parallelen zwischen Gen 21 und 22: – Jeweils ergeht ein paradoxer Gottesbefehl, dessen Ausführung eine lebensbedrohende Krise zur Folge hat. – Jeweils folgt die wortlose und sofortige Ausführung durch Abraham. – Jeweils greift Gott auf dem Höhepunkt der Krise rettend ein. – Jeweils geschieht die Rettung durch die Anrede „des Boten GottesȦJHWHs“. b) Differenzen zwischen Gen 21 und 22: – Gen 21: Der Gottesbefehl entsteht aus einem menschlichen Konflikt, in dem Gott die Position Sarahs ergreift. Hell und dunkel sind in der Gottesrede an Abraham miteinander verbunden: Der Vorblick auf die Volkwerdung Ismaels mildert die Härte. – Gen 22: Hier verlautet keinerlei Motivation des Gottesbefehls. Die Situation bleibt offen, es erfolgt keine Abmilderung des Befehls, aber Abraham vertraut genug, um die Handlung durchführen zu können. Auch der Mittelteil mit dem Gespräch zwischen Vater und Sohn ist ohne Analogie.
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c) Elemente der Steigerung von Gen 21 zu 22: – Die Lebensgefährdung nimmt zu: vom „Ausgehen des Wassers“ in der Wüste in Gen 21 hin zum beinahe vollzogenen „Schlachten“ des Sohnes in Gen 22 am (heiligen) Ort Ȧ auf dem Gottesberg. – In Gen 22 ist Abraham das handelnde Subjekt, in Gen 21 spielt sich die Lebensgefährdung ohne eine direkte Beteiligung Abrahams weit entfernt in der Wüste ab. – Die Gottesfurcht in Gen 22 wird von Gen 21 her klarer konturiert: Vor dem Hintergrund des Gehorsams Abrahams in dem zugänglicheren Text Gen 21 wird seine Haltung in Gen 22 verstehbar. Als Resümee läßt sich festhalten: In Gen 21 sind die verborgene und die rettende Gotteserfahrung vordergründiger abgehandelt als in Gen 22. In Gen 22 wird alles hintergründiger, aber auch abgründiger. Gottes dunkle Seiten, sein Für-Sich-Sein, wird zu einem eigenen Thema mit der Pointe: Nur der verborgene Gott ist auch der rettende (daher muß Gen 22 immer mit der Anrede des Engels JHWHs und auf diese hin gelesen werden). Was bedeutet das zuletzt für das Verständnis der „Versuchung“ Abrahams in 22,1? Hierfür legt sich eine weitere Kontextualisierung von Gen 22 nahe, nämlich der Vergleich mit Ex 20,20, dem einzigen alttestamentlichen Text, in dem sowohl das „Versuchen“ (nissah) durch Gott als auch die „Gottesfurcht“ nebeneinander (und in derselben Reihenfolge wie in Gen 22) vorkommen. Diesen oft vermerkten Zusammenhang hat zuletzt Jörg Jeremias im Rückgriff auf Hans-Christoph Schmitt betont.Ⱥř5 Der Vers Ex 20,20 steht an prominenter Stelle: Unmittelbar nachdem das Volk am Sinai die Mitteilung des Gotteswillens gehört hat und über die gewaltigen Begleiterscheinungen der Theophanie zutiefst erschrocken ist, bittet es Mose, daß fortan er allein mit ihnen reden solle und nicht Gott. Moses Antwort an das Volk enthält folgenden, den Hintergrund der Gotteserscheinung erklärenden Satz (Ex 20,20): „Der Gott (ha’elohim) ist gekommen, um euch zu versuchen (nissah), damit Furcht vor ihm (jir’ato) auf eurem Angesicht sei, damit ihr euch nicht verfehlt (chatta’).“ Das „Kommen“ „des Gottes“ (determiniertes Elohim wie Gen 22,1), also die Theophanie einschließlich der Mitteilung des Gotteswillens, wird hier als ein Vorgang zur „Prüfung“ (nissah) des Volkes verstanden. Konkretisiert wird dies durch die nähere Bestimmung: „damit Furcht vor ř5
JђџђњіюѠ, Opferung Isaaks (Anm. 6), unter Bezug auf HюћѠ-CѕџіѠѡќѝѕ Sѐѕњіѡѡ, „Die Erzählung von der Versuchung Abrahams Gen 22,1–19* und das Problem einer Theologie der elohistischen Pentateuchtexte“, in: BN ř4 (1986), 82–109 (wieder abgedruckt in: DђџѠ., Theologie in Prophetie und Pentateuch. Gesammelte Schriften [BZAW ř10], BerlinȦNework 2001, 108–1ř0).
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ihm auf eurem Angesicht sei“. Die überwältigenden und einschüchternden Begleitumstände der Gottespräsenz (Feuer und Rauch, Donner und Wolkendunkel, Schofarklang) prägen zutiefst den Eindruck der Übermittlung des Gotteswillens. Das Volk erfährt zuerst die „Gottesfurcht“ als eine sich unmittelbar einstellende Haltung gegenüber dem ehrfurchtgebietenden Gott, der sich unter verhüllenden Erscheinungen „zeigt“. Diese Gottesfurcht entspringt nicht einer Entscheidung, sondern ist Resultat von Erfahrung, ist eine nur im Rückblick festzustellende Einsicht in die unergründliche Dialektik zwischen Nähe und Ferne Gottes. Die durch das gesamte Sinaigeschehen dem Volk vermittelte „Furcht vor ihm“ geht nach Ex 20,20 jeder Einhaltung der Gebote voraus. Das macht die letzte Zweckbestimmung der ebenso knappen wie inhaltsreichen Erklärung Moses deutlich: „damit ihr euch nicht verfehlt“. Darin liegt auch der entscheidende Unterschied dieses Verses zu den anderen, deuteronomischȦdeuteronomistisch geprägten nissah-Stellen, bei denen das „Versuchen“ auf die Bewahrung der Gebote, nicht aber auf die Voraussetzung für diese Bewahrung zielt.Ⱥř6 Ex 20,20 reflektiert grundsätzlicher auf die Glaubenserfahrungen Israels und ist so tatsächlich die nächste Parallele zu Gen 22, auch wenn beide Texte nicht notwendig miteinander in literarischer Verbindung stehen müssen.Ⱥř7 Dennoch sind die Bezüge m. E. nicht zu leugnen. Kommt man nämlich als Leser von Ex 20,20 von Gen 22 her, so werden beide Stellen aufeinander durchsichtig: Jeweils wird ein eine bestimmte Gotteserfahrung abbildendes Folgeverhältnis postuliert: ein Prozeß, der vom Deus revelatus zum Gott sub contraria specie und von diesem wieder zurück zum offenbaren Gott führt. Es handelt sich nicht um eine theologische Behauptung, sondern um gelebten Glauben. Der Punkt der Vergleichbarkeit ist das Problem der Verfügbarkeit bzw. Unverfügbarkeit Gottes. In der notorisch schwierig zu analysierenden Sinai-Theophanie Ex 19 findet sich in der literarischen Grundschicht eine große Gottesnähe des Volkes.Ⱥř8 In dem einer Ergänzungsschicht zugehörigen Abschnitt Ex 20,18–21 (vgl. Ex 19,9.19) geht es um einen viel größeren Abstand des Volkes zu Gott angesichts von dessen Präsenz unter furchterregenden Erscheinungen. Allein Mose soll ihm deshalb gegenübertreten. Darin sind der Mose von ř6 ř7
ř8
Zu diesen Stellen siehe den Anfang dieses Abschnitts. Daß Gen 22 und Ex 20,20 aufeinander hin gelesen werden können, ja sehr wahrscheinlich in einer literarischen Beziehung zueinander stehen, muß aber keineswegs bedeuten, daß sie auch von vornherein auf einer literarischen Ebene liegen (die mögliche Abhängigkeit wäre in beide Richtungen zu prüfen; vgl. dazu auch Sѐѕњіё, Rückgabe der Verheißungsgabe [Anm. 1], 297). Zur Analyse der Sinaiperikope verweise ich an dieser Stelle lediglich auf die sorgfältig beobachtende Arbeit von Wќљѓєюћє OѠѤюљё, Israel am Gottesberg. Eine Untersuchung zur Literargeschichte der vorderen Sinaiperikope Ex 19–24 und deren historischem Hintergrund (OBO 159), Freiburg (Schweiz)ȦGöttingen 1998.
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Ex 20,18–21 und der Abraham von Gen 22 vergleichbar:Ⱥř9 Beide sind paradigmatische Gestalten einer Stellvertretung, die durch ihr Handeln gegenüber Gott das Volk (und die Leser) zugleich entlasten und ihnen als Vorbild dienen (nicht im Sinne einer möglichen imitatio, aber im Sinne einer Nachfolge).
III. Resümee: Reflexionen abgründiger Gotteserfahrung Schon vor einiger Zeit hat Samuel Terrien in knapper Form eine anregende Interpretation von Gen 22 vorgelegt.Ⱥ40 Sie ist Teil seiner Theologie der alttestamentlichen Überlieferungen unter dem treffenden Titel „The Elusive Presence“, die von der fruchtbaren Grundbeobachtung ausgeht, daß das biblische Gottesbild von einer Dynamik zwischen Anwesenheit und Abwesenheit geprägt ist. Die Wahrnehmungen Gottes in der hebräischen Bibel schillern zwischen erkennbaren Manifestationen seiner Verheißungs- und Rettungsmacht und sich dem Erkennen widersetzenden und entziehenden dunklen Seiten Gottes. Ein hervorragendes Beispiel für den gerade in dieser Dynamik sich als Gott erweisenden Gott Israels stellt Gen 22 dar. Terrien hat Gen 22 daher zu Recht als paradoxe Epiphanie-Erzählung beschrieben. Entscheidend für ein solches Verständnis ist – wie oben herausgestellt – die vorab in V.1 dem Leser, nicht aber dem Protagonisten Abraham gegebene Hintergrundinformation, daß „der Gott“ den Stammvater „versucht“ hat (Gen 22,1). Mit Hilfe dieser Leseanweisung baut die Erzählung ihre dramatische Spannung nicht nur dadurch auf, daß sie Sympathie für die menschlichen Akteure weckt, sondern vor allem dadurch, daß sie den Blick des Lesers von vornherein auf die Eigenart „des Gottes“ lenkt. Was ist das für ein Gott, der dem Menschen befiehlt: „Nimm doch deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, den Isaak, und geh hin in das Land Morijah und opfere ihn dort als Brandopfer auf einem der Berge, den ich dir sage“? In der fundamentalen Infragestellung der langen Vertrauensbeziehung Abrahams zu seinem Gott liegt der besondere Akzent des abgründigen Befehls. Nicht nur war Isaak das ř9
40
Häufig wird diese Parallele zur Erhellung von Gen 22 nicht für aussagekräftig gehalten, obwohl nur hier nissah und „Gottesfurcht“ zusammen vorkommen. So urteilt etwa BљѢњ, Komposition (Anm. 10), ř29, Anm. 108, eine Übersetzung mit „versuchen, auf die Probe stellen“ sei in Ex 20,20 vor dem Hintergrund der Sinai-Theophanie sinnlos, da diese keine „Prüfung“ darstelle. Das Verb nissah sei an dieser Stelle eher mit „eine Erfahrung machen lassen“ zu übersetzen (vgl. Koh 2,1; Ri ř,1). Vgl. SюњѢђљ Tђџџіђћ, The Elusive Presence. Toward a New Biblical Theology (Religious Perspectives 26), New ork 1978, 81–84.
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ersehnte Kind des hochbetagten Stammvaters, ein Kind, dessen Existenz sich allein einem Wunder Gottes verdankte, sondern Isaak verkörperte für die Leserschaft des ersten Kontextes das entscheidende Zeichen für die Verläßlichkeit Gottes im Blick auf seine Verheißungen und die Erhaltung der Existenz Israels. Abrahams Glaube und mit ihm der Glaube Israels wird deshalb durch den Gottesbefehl auf zwei Ebenen in Frage gestellt: Zum einen auf der Ebene der Erzählfigur Abraham, mit der man sich identifiziert, gerade weil ihre Empfindungen nicht geschildert werden, so daß sich dem Leser ein weiter Raum der Imagination eröffnet. Zum zweiten auf der Ebene der Theologie Israels, deren Grundlagen durch den Gottesbefehl erschüttert werden. In der Abfolge der Komposition der Abrahamerzählungen erscheint mit Gen 22,1 die Einstimmung in die Verheißungen Gottes zunichte gemacht. Die Erzählung besteht dennoch auf der Beständigkeit des Glaubens Abrahams. Nicht nur erweist er sich in seiner anfänglichen Antwort „Hier bin ich!“ zum Hören bereit, sondern er bleibt trotz des Gottesbefehls in dieser Grundhaltung. Dies ist nur möglich durch eine paradoxe Hoffnung wider den Augenschein. So fügen die vielfältigen Zeichen seiner Sorge um das Wohlergehen des Sohnes (vgl. V.5 und V.8) der dramatischen Situation eine durchgehende Zweideutigkeit hinzu. Wenn die Lösung in V.11 schließlich die Gefühle wieder frei läßt, hat die Erzählung ihr Ziel erreicht: Das zweite „Hier bin ich!“ Abrahams leitet das Schlußwort der epiphanen Gottesrede ein: „denn jetzt weiß ich, daß du gottesfürchtig bist“ (V.12). Gottesfurcht meint dann die Haltung eines Vertrauens, das aus den kollektiven Erfahrungen Israels in der Geschichte mit seinem Gott erwachsen ist. Ein keineswegs leicht erworbenes Vertrauen auf einen Gott, der seine Gottheit auch unter Erfahrungen der Fremdheit und Bedrohung verbergen konnte. Israel bildete, so die wichtige Erkenntnis, die schon Gerhard von Rad im Blick auf Gen 22 formuliert hatte, eine subtile theologische Wahrnehmung Gottes heraus, weil es das Paradox der Anwesenheit in der Abwesenheit verstanden hatte.Ⱥ41 Es vertraute auch einem unter dem Gegenteil verborgenen Gott, nicht weil dieser Gott willkürlich wäre, sondern weil – so Gen 22 – sein Handeln darauf gerichtet war, ihn gerade in seiner Abgründigkeit als frei, und darin als Gott anzuerkennen. Es ist dieselbe Freiheit, die auch das Rettungs- und Bewahrungshandeln des Gottes Israels auszeichnet. Die Bereitschaft Abrahams, einen Befehl auszuführen, der jenseits seiner Denkmöglichkeiten liegt, wäre dann auf die vertrauende Anerkennung der Freiheit Gottes angelegt. Es handelt 41
Vgl. ebd., 8ř; ѣќћ Rюё, Opfer (Anm. 2), ř4, der hier die Metaphorik der „Verdunkelung“ Gottes verwendet: „Alles Dunkel, das Abraham überfällt, ist in Gott versammelt“.
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sich nicht um einen „Kadavergehorsam“, sondern im Gegenteil um ein Vertrauen, das in der Anfechtung durchgehalten werden kann, weil die Erfahrung des verborgenen Gottes zuletzt durch die des rettenden Gottes umgriffen ist. Gottesfurcht in diesem Sinne ist nicht einfach als Möglichkeit des Menschen gegeben. Stattdessen wird sie im konkreten Vollzug unter dem faktisch eingegangenen Risiko der Selbstaufgabe sichtbar. Der Glaube ist dann eine Zu-Mutung im doppelten Sinn des Wortes: Er wird von außen (von Gott) initiiert und er hat mit Mut zu tun. Gen 22 zeigt, so gesehen, einen Exodus des Menschen, der sich selbst verlassen muß, um Gott Gott sein zu lassen. Aus christlicher Sicht handelt es sich bei dieser Interpretation des Textes um eine Präfiguration neutestamentlicher Kreuzestheologie.
Der Schrei Isaaks im „Land des Sehens“ Perspektive als Predigt – Exegese als Medienimpuls Abrahams Opfer bei Brunelleschi und Ghiberti (1401Ȧ1402) von Uљџіѐѕ Hђіћђћ Weit über Motivisches hinaus kann der thematische Transfer aus einem Medium in ein anderes diesem anderen Medium spezifische Impulse zur Entwicklung seiner Medialität geben.Ⱥ1 So entfalteten die Bronzereliefs, die Lorenzo Ghiberti (1ř78–1455) und Filippo Brunelleschi (1ř77–1446) von 1401 bis 1402 für den Wettbewerb um die zweite Bronzetür für das Florentiner Baptisterium schufen (Abb. 1 und 2)Ⱥ2, in je spezifischer Weise das narrative und das argumentative Potential der biblischen Überlieferung vom Opfer Abrahams sowie das Potential der tradierten soteriologischen Auslegungen dieser Überlieferung. Durch diesen Medientransfer leiteten sie einen grundlegenden medienhistorischen Wandel des Mediums Relief ein und wirkten daran mit, an der Schwelle zu Renaissance und Früher Neuzeit ein neues Verständnis von visueller Medialität überhaupt zu begründen. Mit einer eingehenden 1
2
Vgl. die Überlegungen zur medienhistorischen Analyse als Methode bei CюџѠѡђћPђѡђџ Wюџћѐјђ, Sprechende Bilder – sichtbare Worte. Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Forschungen řř), Wiesbaden 1987, 9–ř7; hierzu auch Uљџіѐѕ Hђіћђћ, Rubens zwischen Predigt und Kunst. Der Hochaltar für die Walburgenkirche in Antwerpen, Weimar 1996, 17. 159–162. Lќџђћѧќ Gѕіяђџѡі, Das Opfer Abrahams, Messing, vergoldet, ca. 41 x ř6 cm, Florenz, Museo Nazionale del Bargello; Fіљіѝѝќ BџѢћђљљђѠѐѕі, Das Opfer Abrahams, Messing, vergoldet, ca. 42 x ř8 cm, Florenz, Museo Nazionale del Bargello; da die Grenzen zwischen Messing und Bronze und den darauf gerichteten Werktechniken fließend sind, wird im folgenden weiter von Bronzereliefs gesprochen. Zur Provenienz vgl. Rіѐѕюџё KџюѢѡѕђіњђџ, Lorenzo Ghiberti, 2 Bde., Princeton, New Jersey 1970, Bd. 1, 4ř; Eњњю MіѐѕђљђѡѡіȦAћѡќћіќ PюќљѢѐѐі (Hgg.), Brunelleschi scultore, Mostra celebrativa nel sesto centenario della nascita, Firenze, Museo nazionale del Bargello, 28.5.–31.10.1977, 2ř. 29. Zu Maßen und Technik zuletzt Hюћћќ RюѢѡђџяђџє, Die Konkurrenzreliefs. Brunelleschi und Ghiberti im Wettbewerb um die Baptisteriumstür in Florenz, Münster 1996, 82, Anm. 265f. Zur Stilisierung der Konkurrenzreliefs zur Geburtsstunde der Renaissance vgl. den Überblick über die Forschungsgeschichte ebd., 14–17.
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Rekonstruktion der in den Reliefs angelegten Verweisstrukturen sowie der jeweiligen medienspezifischen Mittel des Erzählens und Argumentierens wird zugleich der eigenständige Beitrag sichtbar, den die in visuellen Medien mit medienspezifischen Mitteln geleistete Auslegung zur Auslegungsgeschichte des biblischen Berichts vom Opfer Abrahams beitragen konnte.Ⱥř
Der Wettbewerb Bei der Betrachtung der beiden Reliefs muß man berücksichtigen, daß der öffentliche Wettbewerb um den Auftrag für die Bronzetür des Nordportals des Baptisteriums offenbar für ganz Florenz eine Angelegenheit von höchster Bedeutung war. In der Kontinuität von Architekturwettbewerben, wie sie bei solch bedeutenden Gemeinschaftsaufgaben auch in Florenz üblich waren, hatte die Tuchhändlergilde, die mächtige Arte di Calimala, den Wettbewerb ausgeschrieben und hierzu eine Organisations- und Überwachungskommission bestellt, die „Operai“. Außerdem setzte die Gilde eine Jury ein, der neben Vertretern des öffentlichen Lebens und der Gilde vor allem Sachverständige des künstlerischen Handwerks angehörten. Vor der Entscheidung fand, wie schon bei früheren Wettbewerben, eine öffentliche Aussprache unter Beteiligung interessierter Bürger statt, um so die gemeinschaftsprägende Bedeutung des Auftrags bewußtzumachen. Die Konkurrenten hatten in Jahresfrist ein bronzenes Proberelief vorzulegen. Da das Konkurrenzstück des Siegers in das gesamte zu erstellende Türprogramm eingepaßt werden sollte, waren dabei Größe und Rahmenform entsprechend dem Gliederungssystem der ersten Bronzetür des Baptisteriums, die Andrea Pisano (um 1295–1ř48Ȧ1ř49) zwischen 1řř0 und 1řř8 geschaffen hatte, offenbar ebenso vorgegeben wie das Thema. Der Ausgang des Wettbewerbs ist strittig und kann nur aus wenigen Akten der Arte di Calimala rekonstruiert werden sowie aus den einander widersprechenden Darstellungen, die Ghiberti in seinen „Commentarii“ von um 1447 bis 1455 und Antonio Manetti (142ř–1497) in seiner zwischen ca. 1475 und 1497 entstandenen „Vita di Filippo Brunelleschi“ von den Ereignissen geben.Ⱥ4 Während sich Ghiberti, der den Auftrag ř
4
Ich danke Hans Ost, Carsten-Peter Warncke und Roland Krischel für die Auseinandersetzung mit meinen medienhistorischen Kernthesen zu Ghibertis und Brunelleschis Opfer Abrahams. Johann Anselm Steiger und Thomas Söding danke ich für wichtige Gespräche zum theologischen Gehalt von Gen 22. Die Dokumente bei KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 2. Zum Wettbewerbsverlauf vgl. JѢљіѢѠ ѣќћ SѐѕљќѠѠђџ, Lorenzo Ghibertis Denkwürdigkeiten. (I Commentarii),
Der Schrei Isaaks im „Land des Sehens“
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Abb. 1: Lќџђћѧќ Gѕіяђџѡі, Das Opfer Abrahams, Messing, vergoldet, ca. 41 x ř6 cm, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.
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letztlich ausführte, selbst als unumstrittenen Sieger des Wettbewerbs darstellt,Ⱥ5 überliefert Manetti, Brunelleschi sei zunächst gemeinsam mit Ghiberti zum Sieger erklärt worden. Auf eine Mitwirkung an der Ausführung des Auftrags habe er dann aber verzichtet, da er den Sieg mit niemandem habe teilen wollen.Ⱥ6 Eine Auftragsvergabe an mehrere Teilnehmer, wie Manetti sie beschreibt, entsprach durchaus dem üblichen Wettbewerbsverfahren. Bei Uneinigkeit über den Sieger hoffte man, so letztlich den innerstädtische Konsens wahren zu können.Ⱥ7 Auch Ghibertis Nachricht, die von der Arte di Calimala mit der Organisation und Überwachung des Wettbewerbs betrauten „Operai“ hätten eine von allen Jurymitgliedern unterzeichnete schriftliche Bestätigung der Entscheidung gefordert,Ⱥ8 paßt zu Manettis Bericht von Irritationen über eine erste Juryentscheidung. Nachdem Brunelleschi Einwendung gegen einen gemeinsamen Sieg erhoben hatte, sollte die nachgeforderte individuelle handschriftliche Erklärung jedes Jurymitgliedes dann offenbar dazu dienen, die Streitigkeit mit einer eindeutigen und unwiderrufbaren Entscheidung für Ghiberti formal verbindlich abzuschließen.
5 6 7 8
2 Bde., Berlin 1912, Bd. 1, 45f.; Aћѡќћіќ ёі TѢѐѐіќ Mюћђѡѡі, The Life of Brunelleschi by Antonio di Tuccio Manetti, hg. v. Howard Saalman, London 1970, 47–51, Zeile 228–ř07; vgl. auch weitere anonyme Quellen des 15. Jahrhunderts bei Cюџљ FџђѦ, Le vite di Filippo Brunelleschi scultore e architetto Fiorentino. Con aggiunte, documenti e note scritta da Giorgio Vasari e da anonimo autore, Berlin 1887. Vasari geht hierüber kaum hinaus (zu Vasari als Quelle für diesen Wettbewerb vgl. JюњђѠ Cљіѓѡќћ, „Vasari on Competition“, in: Sixteenth Century Journal 27 [1996], 2ř–41, hier ř0–ř4). Zu dem Wettbewerb und den beiden Reliefs vgl. auch CќџћђљіѢѠ ѣќћ FюяџіѐѧѦ, Filippo Brunelleschi. Sein Leben und seine Werke, Stuttgart 1892, 12–16; EџћѠѡ H. Gќњяџіѐѕ, „The Renaissance Concept of Artistic Progress and its Consequences“, in: Actes du XVIIme Congres international d’histoire de l’art, Amsterdam 23–31.7.1952, Den Haag 1955, 291–ř07; ёђџѠ., Norm and Form, Oxford 41985 (11966), 4; KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, ř6–ř9; EѢєђћіќ BюѡѡіѠѡі, Filippo Brunelleschi. Das Gesamtwerk, Stuttgart 1979 (ital. Orig. Mailand 1976), 24. ř2–41; Cюџљќ LѢёќѣіѐќ Rюєєѕіюћѡі, Filippo Brunelleschi. Un uomo. Un universo, Florenz 1977, 29–54; Aћѡїђ Mіёёђљёќџѓ KќѠђєюџѡђћ, „The Origins of Artistic Competitions in Italy. (Forms of Competition between Artists before the Contest for the Florentine Baptistery Doors won by Ghiberti in 1401)“, in: Lorenzo Ghiberti nel suo tempo. Atti del Convegno Internazionale di Studi 1, Firenze 18.–21.10. 1978, hg. v. Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento, 2 Bde., Florenz 1980, Bd. 1, 167–186, besonders 178. 181f.; Sюяіћђ EѢљђџ-KҿћѠђњҿљљђџ, Bildgestalt und Erzählung. Zum frühen Reliefwerk Lorenzo Ghibertis, Frankfurt a. M. 1980, passim; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 56–79; Aћёџђю NіђѕюѢѠ, Florentiner Reliefkunst von Brunelleschi bis Michelangelo, München 1998, 50f. Vќћ SѐѕљќѠѠђџ, Commentarii (Anm. 4), Bd. 1, 45f. Vgl. Mюћђѡѡі, Life (Anm. 4), 47–51, Zeile 287–ř07; vgl. FюяџіѐѧѦ, Brunelleschi (Anm. 4), 1ř. Zu dieser Tradition vgl. Mіёёђљёќџѓ KќѠђєюџѡђћ, Competitions (Anm. 4), 182. „Vollono gli operai di detto gouerno el guidicio loro scritti di loro mano […]“ (ѣќћ SѐѕљќѠѠђџ, Commentarii [Anm. 4], Bd. 1, 46).
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Abb. 2: Fіљіѝѝќ BџѢћђљљђѠѐѕі, Das Opfer Abrahams, Messing, vergoldet, ca. 42 x ř8 cm, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.
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Manettis Schilderung wird durch die Tatsache bestätigt, daß neben dem Probestück Ghibertis auch das Relief Brunelleschis erhalten blieb. In den standardisierten Wettbewerbsverfahren des späten Mittelalters war es nämlich sonst üblich, Verliererentwürfe zu vernichten, um einer Fortführung der Auseinandersetzung über die Entscheidung nach deren Abschluß jeden Diskussionsgrund zu entziehen.Ⱥ9 Wenn die Jury, wie Manetti berichtet, in einer ersten Kompromißentscheidung Brunelleschis Bronzerelief zunächst mit dem Ghibertis zumindest gleichgestellt hatte, so konnte sie es anschließend offenbar nicht mehr als Verliererstück vernichten lassen.
Ghibertis Erzählung Auch wenn der Blick im Relief zunächst zu verschiedenen Stellen gezogen wird, erfährt der Betrachter die in Ghibertis Werk angelegten Verweisbezüge der Gesten und Blicke doch bald als lineare Figurenfolge.Ⱥ10 Die Bewegung fortführend, mit der sich der Betrachter dem Relief nähert, tritt am linken unteren Reliefrand, den Rücken noch zum Betrachter gekehrt, soeben ein Diener in die Szene ein. Von der noch fast vollplastisch vorragenden Ferse seines rechten Fußes über die Falten der Draperie, die mit der reliefeinwärts führenden Bewegung des Körpers zugleich in die Tiefe gebogen und steil emporgezogen werden, wird die Aufmerksamkeit auf das verlorene Profil dieser Gestalt geführt und von dort in die Tiefe und nach rechts weitergeleitet. Der Blickrichtung des herantretenden Knechtes folgend, nimmt in geringer Raumdistanz der nach links vorne der Rückenfigur entgegenblickende Kopf eines zweiten Dieners den Blick auf. Er scheint – je nachdem, welchem der beiden Diener man die zwischen ihnen auf die Hauptszene weisende Hand zuordnet – zu fragen, zuzuhören oder selbst zu erklären. So stimmen die Bewegung des ins Relief hineinführenden Identifikationsträgers, die Nähe der beiden einander zugekehrten Köpfe und die Geste der
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Vgl. Mіёёђљёќџѓ KќѠђєюџѡђћ, Competitions (Anm. 4), 181. 18ř; Mюџєюџђѡ HюіћђѠ, „Brunelleschi and Bureaucracy. The Tradition of Public Patronage at the Florentine Cathedral“, in: I Tatti Studies ř (1989), 89–125, hier 108–110; NіђѕюѢѠ, Reliefkunst (Anm. 4), 50. Zur Lesefolge in visuellen Medien vgl. den Überblick bei Hђіћђћ, Predigt (Anm. 1), 181f., Anm. 25. Zur Funktion gestischer Verweissysteme vgl. besonders Aљѓџђё NђѢњђѦђџ, Der Blick aus dem Bilde, Berlin 1964, řř–67; Wќљѓєюћє Kђњѝ, „Kunstwerk und Betrachter. Der rezeptionsästhetische Ansatz“, in: Kunstgeschichte. Eine Einführung, hg. v. HюћѠ Bђљѡіћє u. a., Berlin 1986, 20ř–221, hier 209.
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Hand den Betrachter auf Dialog und Auslegen der Hauptszene als angemessene Haltung vor dem Relief ein.Ⱥ11 Von rechts unten nach links riegelt eine Felsbarriere die Gruppe der beiden Knechte und des Esels gegen die übrigen Teile des Reliefs ab. Ghiberti türmt die Felsen so auf, daß sie die Gruppe umschließen und nach oben hin steigernd geradezu überkuppeln. Die harten Bruchkanten der Felsen sind den Dienern zugewandt, während der Brocken zur Hauptszene hin weicher an den Grund anmodelliert ist. So nimmt auch der Betrachter eine Höhle, die sich aus den Felsen um die Gruppe der Diener herum bildet, von der Seite der Diener aus wahr. Von der anderen Seite aus erscheint die Felsbarriere dagegen als Berg. Da auch die eng dem Verlauf der Felsbarriere folgende Biegung des Halses des Esels, der sich aus dem Relief heraus zum Betrachter wendet, in die Biegung der Felsen zurückführt, bleibt die gesamte Gruppe gegen den Rest des Reliefs isoliert. Nur in Höhe der doppelt zuzuordnenden Hand, die auf die Hauptszene hinweist, öffnet sich die Felswand in einem fein abgestuften Richtungswechsel konvexer und konkaver Formen ein wenig und unterstützt so den verweisenden Fernbezug der Dienergruppe auf die Hauptzsene. Entlang der Biegung des Körpers Abrahams und der Falten seines Gewandes, deren Verlauf mit den Falten des Dienergewandes zusammenklingen und diese in den senkrecht herabhängenden Falten fast wörtlich wiederholen, gelangt man rasch dorthin, wo sich die in der gesamten Körperspannung Abrahams eingeleitete Aktion entlädt und mit den Bewegungen der umgebenden Figuren auf engem Raum dramatisch verknüpft. Mit düster zusammengezogenen Augenbrauen und verbissenem Mund fixiert Abraham die Kehle seines Sohnes. Vom Ellenbogen bis zur Hand zielt seine Rechte mit einem Messer in einer einzigen Kraftlinie darauf, die Hauptschlagader zu durchstechen. Das Hoch- und Zurückreißen des Armes, das über die hochgezogene Schulter den gesamten Körper wie bei einem Bogenschützen spannt, löst die Bewegungserwartung kraftvollen Abstechens aus, ein Motiv, dessen
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Hierzu zuletzt RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 86f. 99f. 147; vgl. auch KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 48; EѢљђџ-KҿћѠђњҿљљђџ, Bildgestalt (Anm. 4), 27; BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), ř8; Gіќѣюћћі Pџђѣіѡюљі, „Die Periodisierung der italienischen Kunstgeschichte“, in: LѢѐіюћќ BђљљќѠі u. a., Italienische Kunst. Eine neue Sicht auf ihre Geschichte, Bd. 2, Berlin 1987 (ital. Orig. Turin 1979), 107–195, hier 1ř8. Zur Funktion von Identifikationsträgern in Bildmedien als Vertreter einer Personenperspektive vgl. Wќљѓєюћє Kђњѝ, Betrachter (Anm. 10), 20ř–221, hier 209.
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Vehemenz durch das Flattern des Gewandes am Ellenbogen Abrahams noch betont wird.Ⱥ12 Während Ghiberti die meisten Figuren direkt auf der Grundplatte modelliert und zusammen mit dieser in einem Guß im Wachsausschmelzverfahren hohl gegossen hat, wurden der Arm Abrahams – und außer diesem auch noch die Figur Isaaks, die Flügel des Engels und der obere Sockel des Felsens – separat gegossen und dann mit der Grundplatte verlötet.Ⱥ1ř So variiert – je nachdem, von wo man das Relief betrachtet – die Wirkung des weit vor die Grundplatte ragenden Armes vom Ausholen zum Zustechen. Die in den freien Raum schneidende Spitze des Messers scheint sich mit der Bewegung des Betrachters von der Kehle Isaaks zu entfernen oder sich ihr bedrohlich zu nähern, so daß sich durch die aktive Beteiligung des Betrachters der Eindruck eines dramatischen Zuspitzens der Handlung eindrucksvoll verstärkt. Seine Linke hat Abraham gerade eben in Richtung seines Zustoßens weit vorgestreckt und um die Schulter des Sohnes gelegt, um diesen gegen das unmittelbar bevorstehende Abstechen festhalten und gegen das Messer zu sich heranziehen zu können. So faßt die Körperhaltung Abrahams die gegenläufigen Bewegungsmomente des Heranziehens des Opfers und des Ausholens zum Zustechen zur Handlungseinheit des unmittelbar bevorstehenden Schlachtopfers zusammen.Ⱥ14 Für die Opferung wurde Holz auf dem Altar aufgeschichtet. Isaak wurde als Schlachtopfer vorbereitet; er wurde entkleidet und sein Gewand zu Füßen des Altares ausgebreitet. Wie die hinter den Rücken gebogenen Arme zeigen, hat Abraham seinen Sohn gefesselt. Isaak kniet auf der Altarplatte über den dort aufgeschichteten Holzscheiten, so daß sich Abraham nun ganz auf den Moment des Schlachtens konzentrieren kann. Die von Ghiberti unter Einarbeitung der Körperideale hellenistischer Skulptur zur Schau gestellte körperliche Schönheit des KnabenȺ15 steigert 12
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Ghiberti zeigt eindeutig eine Messerhaltung, die zu einem Schlachten durch Abstechen, nicht aber zum rituellen Schächten paßt, bei dem alle Weichteile des Halses bis zur Wirbelsäule in einer einzigen, schnellen Bewegung durchtrennt werden. Vgl. EѢљђџ-KҿћѠђњҿљљђџ, Bildgestalt (Anm. 4), 95ff.; vgl. KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 46f.; BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), 41; FюяџіѐѧѦ, Brunelleschi (Anm. 4), 14; MіѐѕђљђѡѡіȦPюќљѢѐѐі, Scultore (Anm. 2), ř1; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 8ř. 96. Zur späteren Vergoldung des Reliefs vgl. TѕќњюѠ Bџюѐѕђџѡ, „Una vernice al bronzo molto bella. Reflexionen zur Oberfläche von Frührenaissance-Bronzen“, in: Festschrift für Gerhard Bott zum 60. Geburtstag, Darmstadt 1987, 22ř–226, hier 224f. Vgl. dagegen RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 146. Zu Isaak als freier Variation nach verschiedenen Antiken vgl. JѢљіѢѠ ѣќћ SѐѕљќѠѠђџ, Lorenzo Ghiberti (Künstlerprobleme der Frührenaissance ř,5 = Akademie der Wissenschaften in Wien, phil.-hist. Klasse 215,4), Wien 19ř4, 4ř; ёђџѠ., Leben und Meinungen
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die Wirkung der Opfergeschichte kontrastiv. Die Körperhaltung Isaaks setzt aktiv die Ereignisschilderung fort, die in der Aktion Abrahams begonnen hat. Da der Körper Isaaks ja unabhängig von der Grundplatte fast vollplastisch gegossen und erst dann aufgelötet wurde,Ⱥ16 entfalten sich an dieser Figur aus verschiedenen Blickwinkeln unterschiedliche Bewegungseindrücke. Besonders im frontalen Blick auf das Relief sowie von rechts ist deutlich, wie sich der Knabe aufbäumt und vor dem Messer wegzubiegen versucht. Entgegen der klassischen Ponderation, wie sie im leichten Anheben des linken Knies zunächst eingeleitet wird, zieht Isaak die plastisch fast überbetonte rechte Schulter abwehrend hoch und versucht, sich über die linke Schulter aus Abrahams Umklammerung herauszuwinden. Gerade durch diese Ausweichbewegung wird allerdings die gestreckt freiliegende Kehle Isaaks zum eindrücklichen Signal des drohenden Abstechens. Abraham wiederum scheint auf Isaaks kraftvolles Ausbrechen schon zu reagieren. Zum einen bewahrt die auf der Schulter des Sohnes liegende Hand des Vaters je nach Blickwinkel einen Zug von väterlicher LiebeȺ17 und verleiht so der auf den ersten Blick ganz eindeutigen Psychologie Abrahams eine größere Tiefe. Das gespannte Ausbiegen der Hüften des Patriarchen nach links ponderiert aber vor allem die nach rechts führende Ausweichbewegung seines Sohnes. Dramatisch verschränken sich so zwischen Vater und Sohn Aktion und Reaktion, Zustechen Abrahams und Ausweichen Isaaks, das Nachsetzen des Vaters und ein weiterer Einspruch des Sohnes. Der kunstvolle Kontrast der heftigen Bewegtheit der beiden Hauptfiguren zu der zwischen ihnen lotrecht herabfallenden Draperie sowie der ganz aufrecht stehenden Gestalt des linken Dieners betont dabei die Heftigkeit des physischen Wechselspiels der Körper zusätzlich. Isoliert man die Betrachtung auf dieses Wechselspiel zwischen Vater und Sohn, mag Isaaks Wendung zunächst als angstvolle Auflehnung gegen den drohenden Opfertod menschlich begreiflich erscheinen und so die spontane Empathie des Betrachters mit dem Leidenden
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des Florentiner Bildners Lorenzo Ghiberti, München 1941, ř2. 141–14ř; KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 52f. 60. 278–28ř. 299; ebd., Bd. 2, řř9; GіѢљіђѡѡю Cѕђљюѧѧі Dіћі, in: Lorenzo Ghiberti. Materia e ragionamenti, Florenz, Museo dell’Academia e Museo di San Marco, 18.10.1978–31.1.1979, hier 60; EѢљђџ-KҿћѠђњҿљљђџ, Bildgestalt (Anm. 4), 1ř9, Anm. 156; Gљђћћ AћёџђѠ u. a., The art of Florence, 2 Bde., Florenz 1988, Bd. 1, ř66; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 1ř2–1ř7. S. o. Anm. 1ř. Diese Geste würdigen KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, ř8f., Anm. ř0; BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), 49. Diese väterliche Geste findet sich etwa bei Sіњќћђ Mюџѡіћі, Heimkehr Jesu aus dem Tempel, Holz, 1ř42, Liverpool, Walker Art Gallery (Eћѧќ Cюџљі, Sienesische Malerei, Florenz 1982, Abb. ř8).
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steigern. Doch diese Assoziation, die Isaak ein Aufbegehren gegen die Anweisungen seines irdischen und des himmlischen Vaters unterstellen müßte, das dem sonst für Isaak stets betonten gehorsamen Dulden widerspräche, hebt Ghiberti durch den Kontext rasch auf. Die gedrehte Ausweichbewegung Isaaks erhält nämlich plötzlich in Isaaks Kopf, der in Gegenrichtung zur Bewegung seines Körpers abrupt herum- und emporgewendet erscheint, und in den weit aufgerissenen Augen des Knaben ein neues Ziel. Dieses angespannte Gegeneinander von Kopfund Körperwendung zeigt die Plötzlichkeit an, mit der Isaak auf etwas reagiert. Nicht etwa Furcht vor dem Messer oder Ungehorsam, sondern ganz offensichtlich der Zuruf des herbeifliegenden Engels läßt Isaak aufblicken. Anders als Abraham scheint Isaak den Ruf des himmlischen Boten schon vernommen zu haben. So wird Isaaks wegbiegende Körperbewegung zugleich als Versuch lesbar, den Vater auf die rettende Intervention aufmerksam zu machen, damit Abraham die Opferhandlung – wie von dem Engel befohlen – im letzten Augenblick doch noch abbricht. Muß Abraham, der noch zu sehr von seinem Opferauftrag eingenommen ist, das Sich-Winden seines Sohnes in diesem Moment als ungehorsamen Fluchtversuch mißverstehen und entsprechend nachsetzend reagieren, so läßt Isaaks Körperhaltung die Handlung doch schon vom Opfer- zum Erlösungsbericht umschlagen.Ⱥ18 Je nachdem, von wo man das Relief betrachtet, verschiebt sich das Dreieck zwischen den Köpfen Abrahams, Isaaks und des Engels und zeigt so immer neue Momente der dramatischen Erzählung. Tritt man von rechts an das Relief heran, blickt man in die finster entschlossene Miene Abrahams und möchte die Bewegung des gefesselten Isaak am ehesten als einen Moment ängstlichen Ausweichens deuten (Abb. ř). Von vorne kann man dann die milden, gnadenvollen Züge des Engels entdecken. Geht man aber nach links um die Gruppe herum, wird – zumal in leichter Untersicht – der Eindruck unausweichlich, daß Isaak aufblickt, das Gesicht voller Erlösungs- und Befreiungserwartung auf den Engel und dessen Rechte gerichtet (Abb. 4).Ⱥ19 Je nachdem, von wo man die Figur Isaaks betrachtet, und je nachdem, wie man sie auf die umgebenden Figuren bezieht, bemerkt man also vor allem die Fesselung Isaaks, die Windung, mit der er sich wegbiegt und aufbäumt, oder die befreiende Hinwendung zu dem erlösenden Erscheinen des Engels. Der aus der Tiefe des Reliefs herbeifliegende Engel, kleiner proportioniert als die übrigen Figuren und daher wohl noch weiter entfernt 18 19
Zu Ghibertis Auf- und Umwertung der Rolle Isaaks vgl. RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 98. 144. 148. 154–157. Als „Freiwilligkeitsgestus“ bezeichnet Rauterberg diese Bewegung Isaaks (ebd., 156; zur veränderten Blickrichtung Isaaks aus der Untersicht vgl. ebd., 88, Anm. 28ř).
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Abb. ř: Lќџђћѧќ Gѕіяђџѡі, Das Opfer Abrahams (Ansicht von rechts), Messing, vergoldet, ca. 41 x ř6 cm, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.
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Abb. 4: Lќџђћѧќ Gѕіяђџѡі, Das Opfer Abrahams (Ansicht von links), Messing, vergoldet, ca. 41 x ř6 cm, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.
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vorzustellen, blickt von oben auf die Szene. Das Aufbauschen seines Gewandes unterstreicht die Geschwindigkeit, mit der er plötzlich heraneilt, um Gottes Befehl im rechten Moment zu überbringen. Die Wolkenformation, aus der sich seine Gestalt entwickelt, kündet von seiner göttlichen Sendung. Sein Mund ist sprechend geöffnet. In einer zeremoniellen Grußgeste hält er die Linke vor die Brust und formt mit der Rechten einen Segensgestus über Abrahams Kopf, vergleichbar dem häufig bei der „Verkündigung an Maria“ zu sehenden Gruß des Engels. Zusammen mit der dynamischen Bewegung des Engels von rechts nach links und der Blickrichtung Isaaks weist dieser Gestus zugleich voran auf den Widder am oberen linken Rand des Reliefs.Ⱥ20 So motiviert die Gestalt des Engels Isaaks Zurückschrecken, gibt ihm Hoffnung, segnet Abrahams gläubige Handlung und weist der Opferbereitschaft Abrahams in dem erschöpft niedergesunkenen Widder zugleich ein neues Ziel. Die Hörner des Tieres haben sich im Gestrüpp verfangen. In Spannung zum Körper ist sein Kopf etwas zurückgebogen, so daß man seine aussichtslose Lage erkennt, ein zwar zurückhaltendes, wohl kaum aber zufälliges Echo auf das Haltungsmotiv des Kopfes Isaaks. Mit dem oberhalb der Diener lagernden Widder gelangt die visuelle Erzählung am Schluß zu ihrem Anfang zurück. Aus den im Relief angelegten Verweisbezügen der Gesten und Blicke ergibt sich eine schlüssige Figurenfolge, die in klar gegliederten Sequenzen die Erzählfolge des biblischen Textes abschreitet (Gen 22,ř–19). Die erzählende Schilderung des Handlungsablaufs beginnt in der Figurengruppe der Diener mit einer einführenden Exposition der Rahmenhandlung. Diese beiden Figuren und der noch gesattelte Esel berichten davon, daß Abraham seinen Esel sattelte und zwei Knechte mitnahm, als er mit Isaak die zweibeziehungsweise dreitägige Reise zum Opferberg „im Lande Morija“ antrat (Gen 22,ř). Entsprechend Abrahams Befehl, die Diener sollten zusammen mit dem Esel zurückbleiben (Gen 22,5), trennt Ghiberti diese Gruppe dann durch die Felsbarriere vom Hauptgeschehen und macht so ihre räumliche Distanz und zeitliche Indifferenz gegenüber den dramatischen Ereignissen der Hauptgruppe sichtbar.Ⱥ21 Wie in der biblischen Erzählfolge schließt an das Zurückbleiben der Diener und des Esels der Weg von Vater und Sohn zum Ort des Opfers an (Gen 22,6–8). Den zum Gipfel des Berges überwundenen Höhenunterschied macht Ghiberti durch Hinaufrücken der Standfläche der Hauptgruppe deutlich. Sichtlich ist in der Dienergruppe und in ihrer Beziehung zur Hauptgruppe kein bestimmter Augenblick gemeint. Wie die biblische Erzäh20 21
Ebd., 155, mit Hinweis auf die frühchristliche Tradition. Vgl. dagegen ebd., 88. 148.
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lung die Diener aus den Augen verliert, nachdem sie am Fuß des Opferberges zurückbleiben, blendet in Ghibertis Relief eine Fokussierung auf die Hauptgruppe die Knechte für eine Weile aus. Nur peripher bleiben diese Nebenfiguren am Fuße des Berges wahrnehmbar, während sich das Drama der Hauptszene vor den Augen des Betrachters entlädt. Wie der biblische Text die Diener bei der Rückkehr von Vater und Sohn vom Opferberg dann wieder in die Erzählung hineinnimmt, um den Handlungsbogen abzuschließen, indem Abraham „zu seinen Dienern zurückkehrte“ (Gen 22,19), treten in Ghibertis Relief die Diener und der Esel am Schluß der Erzählfolge unterhalb des Widders wieder in den Blick. So macht Ghiberti die Diener zu unwissenden Zeugen der gesamten Zeitspanne des Opfers Abrahams. Bevor, während und nach dem erschütternden Ereignis bleiben sie in die auslegende Erörterung des ihnen verborgenen Geschehens versunken. So führt die Figurenfolge von der Exposition des Themas in der Gruppe der Diener über die Peripetie des Eingreifens Gottes in der Hauptszene schließlich zu einem stillen Schluß. Die Landschaftsszenerie, die der lagernde Widder mit den Dienern und dem Esel teilt, schafft auf der linken Seite des Reliefs eine eigenständige, fast bukolische Idylle, deren stille Beschaulichkeit dem dramatischen Opfer Abrahams und der bewegten Haupthandlung einen friedlichen Rahmen bietet. Ruhig überdauert das abwesend anwesende Gespräch der Diener von der Ankunft am Fuß des Opferberges bis zur Rückkehr Abrahams den gesamten Handlungszeitraum der Hauptszene. Während die Hauptgruppe laufend neue Handlungsaspekte entwickelt, wenn der Betrachter seinen Standort vor dem Relief ändert, bleibt das Gespräch der Diener vom Betrachtungswinkel unberührt. Bei ihnen scheint die Zeit stillzustehen, während sich das Erzähltempo der Hauptszene durch die räumliche Verdichtung der Körper, Blicke und Gesten dramatisch beschleunigt.Ⱥ22 In der Figur Isaaks, der auf dem Altar und auf den daraufgeschichteten Holzscheiten gefesselt kniet, wird dann die rituelle Vorbereitung 22
Als „bukolische Interpretation“ auch bei BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), 41. Zur Tradition von Darstellungen eines lagernden Widders in spätantiken bukolischen Szenen vgl. EљіѠюяђѡѕ Pюћђљљі, Die Ikonographie der Opferung Isaaks auf den frühchristlichen Sarkophagen, Diss. Marburg 2001, 76. Das Motiv der miteinander sprechenden Diener gestaltete den biblischen Text aus, in dem es nicht vorkommt. Angesichts des atmosphärischen Kontextes ist mit dem Gespräch der Diener bei Ghiberti sicher auch nicht der Dialog zwischen Ismael und Eliezer gemeint, mit denen die rabbinische Tradition die Diener identifizieren konnte. Nach Pirqe de Rabbi Elieser stritten diese während des Abrahamsopfers darüber, wem das Erbe nach Isaaks Tod zukomme (zu diesem Motiv in der Bibel des Escorial aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts vgl. Mюџѡіћ ѣќћ Eџѓѓю, Ikonologie der Genesis. Die christlichen Bildthemen aus dem Alten Testament und ihre Quellen, Bd. 2, Berlin 1995, 169).
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des Opfers getreu dem biblischen und – hinsichtlich des Messers – sogar getreu dem hebräischen Originaltext und der Septuaginta dokumentiert (Gen 22,9).Ⱥ2ř Insbesondere Abrahams Ausstrecken des Armes übersetzt hier ganz wörtlich die biblische Beschreibung: „Dann streckte Abraham seine Hand aus, nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten.“ Den an die Opfervorbereitungen anschließenden Augenblick, in dem Abraham zum Abstechen ausholt, stört in Ghibertis Relief der herbeigleitende Engel wirksam. Aus den Wolken oder, wie es im biblischen Bericht heißt, „vom Himmel her“ (Gen 22,11) ruft er seine rettenden Worte. Isaaks hoffnungsvolle Reaktion unterbricht die Opferhandlung Abrahams. In zirkulärer Verschränkung weicht der Sohn sich wegbiegend aus, und der Vater setzt nach. Die Drehung, mit der sich in der tradierten Ikonographie des Themas sonst meist Abraham im Augenblick des Schlachtens über die Schulter zu dem von hinten anfliegenden Engel oder der von dort eingreifenden Hand Gottes umkehrt,Ⱥ24 verlagert Ghiberti dabei in die Figur Isaaks und treibt so die mit dem Zuruf des Engels einsetzende Peripetie vor allem in Isaak statt in Abraham voran. Im biblischen Text gilt der Zuruf des Engels dem Vater: „Abraham, Abraham.“ Dieser antwortet auch gleich auf den ersten Zuruf „Hier bin ich!“ (Gen 22,11). Darauf folgt der Befehl des Engels, den Sohn zu verschonen (Gen 22,12), woraufhin „Abraham seine Augen erhob“ (Gen 22,1ř). In der Umwendung Abrahams faßt die tradierte Ikonographie den Anruf des Engels, Abrahams Antwort, den Befehl, das Opfer abzubrechen und Abrahams Erheben der Augen zu dem Widder, den er – wie es in der Vulgata heißt – hinter seinem Rücken (post tergum) erblickte (Gen 22,1ř), additiv zusammen.Ⱥ25 Ghiberti beachtet die im biblischen Text vorgegebene Ereignisfolge strenger, greift noch nicht auf den Augenblick des Aufblickens Abrahams vor, sondern konzentriert sich ganz auf den Moment, in dem Abraham den Engel zwar schon hören könnte, noch nicht aber sieht. In Isaaks Versuch, sich aus dem ausgestreckten Zugriff des Vaters herauszuwinden, setzt Ghiberti zugleich die an den 2ř
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In der Septuaginta ist von „m£caira“ (Schlachtmesser) die Rede, während die Vulgata mit „gladium“ (Schwert) übersetzt. Daher dominieren in der byzantinischen Tradition Abraham-Darstellungen mit Messer, in der westlichen Christenheit dagegen bis weit in die Frühe Neuzeit Darstellungen mit Schwert (vgl. IѠюяђљ SѝђѦюџѡ ѣюћ Wќђџёђћ, „The Iconography of the Sacrifice of Abraham“, in: VigChr 15 [1961], 214–255, hier 2ř0; ѣќћ Eџѓѓю, Genesis [Anm. 22], Bd. 2, 174). Vgl. etwa Bђџѡџюњ ѣќћ Mіћёђћ, Opfer Abrahams, Schauseite des Grabower Altares, 1ř79, Hamburg, Kunsthalle; zu Abrahams Wendung nach rückwärts und oben vgl. ѣќћ Eџѓѓю, Genesis (Anm. 22), Bd. 2, 180. Zur problematischen Umsetzung der Zeitfolge vgl. ebd., 181f. Zur Darstellung des Widders in der gängigen Ikonographie aufgrund der Vulgata hinter dem Rücken Abrahams vgl. Pюћђљљі, Ikonographie (Anm. 22), 15f.
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Zuruf anschließende Anweisung des Engels an Abraham ganz unmittelbar um: „Strecke deine Hand nicht nach dem Jungen aus und tu ihm nichts zuleide“ (Gen 22,12). So demonstriert die heftige Bewegung, mit der sich der noch gefesselte Isaak dem Zugriff Abrahams entwindet, seinem Vater ganz wörtlich und körperlich die Botschaft des erlösenden und befreienden Befehls des Engels. Der Segensgestus des Engels über Abrahams Haupt kennzeichnet zum einen die Anerkennung, die der Engel in der anschließenden Rede der gläubigen Bereitschaft Abrahams zollt, seinen Sohn zu opfern: „Denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten hast“ (Gen 22,12). Zugleich greift die Geste dem Segen voraus, den der Engel in seinem zweiten Zuruf unter Verwendung derselben Formel über Abraham und seine Nachkommen spricht: Weil du dies getan hast und deinen einzigen Sohn mir nicht vorenthalten hast, will ich dich reichlich segnen. Ich werde deine Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne des Himmels […] (Gen 22,16f.).
Vielleicht klingt in der vor dem leeren Himmelsraum schwebenden Segenshand zusammen mit dem Bibeltext auch noch diese symbolische Erwähnung der „Sterne des Himmels“ mit. Nicht nur im Verweis auf eine lange Zukunft bringt die Segensgeste des Engels in Ghibertis Relief die dramatische Opfergeschichte zur Ruhe. Sie deutet zugleich auf den Widder voraus, der sich „mit seinen Hörnern im Dickicht verfangen hatte“. Als Abraham „seine Augen erhob“, sollte er im nächsten Moment das Tier entdecken und es als Ersatzopfer wählen (Gen 22,1ř). Dem biblischen Erheben der Augen entspricht bei Ghiberti die erhöhte Anordnung des Widders im Relieffeld. Von hier oben kehrt der Betrachter schließlich wie Abraham nach dem Opfer vom Berg zu den Dienern zurück. Zur Inszenierung seiner Erzählung setzt Ghiberti vor allem auf vertraute Darstellungsmittel des Mediums Relief. Ob in Schrift, Bild, Relief oder anderen Medien: Das Verstehen eines Mediums ist an dessen materielle Beschaffenheit und medienspezifische Wahrnehmungs- und Kognitionsmuster gebunden. Bei allen Analogien und Interdependenzen zwischen verschiedenen Medien und ihrer Wahrnehmung sind alle Erzähl- und Argumentationsmittel letztlich medienspezifisch. Da sich die Bezugsfelder der Medien in der Geschichte laufend umstrukturieren, unterliegen – wie etwa Hans Belting, Carsten-Peter Warncke und Wolfgang Kemp betont haben – mit den Darstellungsmitteln die mit ihnen korrelierenden medienspezifischen Rezeptionsmechanismen und die zwischen diesen vermittelnden „Medientransfermechanismen“ dem hi-
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storischen Wandel.Ⱥ26 Wie andere sichtbare Medien wurde das Medium Relief auch zu Beginn der Renaissance zunächst einmal dazu genutzt, durch Ausprägung und Anordnung von Körpern und Körperhaltungen mit medienspezifischen – gleichwohl oftmals bildanalogen – Mitteln eine Erzählfolge herzustellen und rezipierbar zu machen. Für das Medium Bild hat Leon Battista Alberti (1404–1472) in seinem Brunelleschi gewidmeten Traktat „De pictura“ (14ř5) ausführlich erörtert, daß sich eine sichtbare Erzählung (historia) im illusionären Bildraum durch die Ausprägung und Anordnung von Körpern und Körperhaltungen als Darstellungen menschlicher Handlungen und Schicksale herstellen und rezipieren läßt.Ⱥ27 In Übereinstimmung mit Albertis Kunsttheorie, aber weniger systematisch, spricht dann Ghiberti in seinen „Commentarii“ nicht nur in bezug auf Bilder, sondern auch für Reliefs und Skulpturen von „Storia“ beziehungsweise „Istoria“ und beschreibt analog zu den Überlegungen Albertis ihre Konstitution aus Körperdarstellungen.Ⱥ28 26
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Die Rekonstruktion des historischen Medienverständnisses, also des Gefüges medienspezifischer Mechanismen, nach denen ein Medium historisch tatsächlich verstanden wurde, ist Aufgabe der medienhistorischen Analyse als Methode, wie sie Carsten-Peter Warncke in die Kunstgeschichte eingeführt und für das Verstehen des Mediums Bild in der Frühen Neuzeit ausgeführt hat. Dabei werden sowohl die medienhistorische als auch die medienspezifische Bindung der Medientransfermechanismen betrachtet, nach denen Verstehen, Erleben oder Genuß der Hervorbringungen eines Mediums jeweils in einem anderen Medium artikuliert werden konnten (vgl. Wюџћѐјђ, Bilder [Anm. 1], 9–ř7; Hђіћђћ, Predigt [Anm. 1], 17. 159–162). Für das hohe und das ausgehende Mittelalter folgen einer verwandten Fragestellung vor allem HюћѠ Bђљѡіћє, Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion, Berlin 1981; ёђџѠ., „The New Role of Narrative in Public Painting of the Trecento. Historia and Allegory“, in: Pictorial Narrative in Antiquity and the Middle Ages, hg. v. Hђџяђџѡ L. KђѠѠљђџȦMюџіюћћђ Sѕџђѣђ SіњѠќћ, Symposium 16.–17.ř.1984, National Gallery of Art, Washington, Washington 1985, 151–168; Malerei und Stadtkultur in der Dantezeit. Die Argumentation der Bilder, hg. v. HюћѠ BђљѡіћєȦ Dіђѡђџ BљѢњђ, München 1989; Wќљѓєюћє Kђњѝ, Sermo Corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, München 1987; Der Text des Bildes. Möglichkeiten und Mittel eigenständiger Bilderzählung, hg. v. Wќљѓєюћє Kђњѝ, München 1989. Vgl. LѢієі GџюѠѠі, „Istoria, Storia, Historia“, in: LѢієі GџюѠѠіȦMюџіќ Pђѝђ, Dizionario della critica d’arte, 2 Bde., Turin 1978, 266f. Vgl. etwa Jюћіѐђ L. HѢџё, „The Character and Purpose of Ghiberti’s Treatise on Sculpture“, in: Ghiberti nel suo tempo (Anm. 4), Bd. 2, 29ř–ř15, hier 294. ř02f. ř06– ř08; Hђћј ѣюћ Vђђћ, „L. B. Alberti and a Passage from Ghiberti’s Commentaries“, in: Ghiberti nel suo tempo (Anm. 4), Bd. 2, ř4ř–ř48. Zum Einfluß Albertis auf Ghibertis Commentarii vgl. auch CѕџіѠѡіђ Kћюѝѝ Fђћєљђџ, Lorenzo Ghiberti’s ‚Second Commentary‘. The Translation and Interpretation of a Fundamental Renaissance Treatise of Art, Diss. Wisconsin 1974, 272. Als ‚Storia‘ beziehungsweise ‚Istoria‘ bezeichnen Manetti und Ghibertis „Commentarii“ sowohl (1.) das Thema der jeweiligen Relieffelder der ausgeführten Tür oder (2.) des Probereliefs als auch (ř.) das Relief selbst ([1.] Ghiberti ebd., 58: „ne’uenti
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In diesem Sinne nutzt Ghibertis „Opfer Abrahams“ zur sichtbaren Erzählung nun vor allem Möglichkeiten, die in der planimetrischen Anordnung der Körper liegen.Ⱥ29 Die Blicke und Gesten, die sich – abgesehen von der vielansichtigen Entwicklung des dramatischen Kerns um Isaak – vor allem grundplattenparallel entwickeln, konstituieren die lineare Folge der voneinander räumlich separierten Szenen. Ghiberti entfaltet die visuelle Erzählung in großer erzählerischer Klarheit entlang der linearen Struktur des biblischen Textes.Ⱥř0 Das für das alttestamentliche Erzählen auch in der Abrahamsperikope im Hebräischen prägende Präfix „waw“, eine dem deutschen „und“ entsprechende Konjunktion, das in dieser Perikope jeden neuen Handlungsschritt einleitet – in der Vulgata durch den gleichmäßigen Versanfang mit einem im Perfekt stehenden Verb nachempfunden (Gen 22,5–19) –, legt Ghiberti ganz angemessen im Sinne des Temporaladverbs „dann“ aus: Dann ist Abraham am Fuße des Opferberges angekommen, dann sind die Diener und der Esel zurückgeblieben, dann wurde das Opfer vorbereitet und Isaak auf dem Altar gebunden, dann streckt Abraham seine Hand aus und holt zum Abstechen aus, dann erscheint der Engel und unterbricht die Opferhandlung, dann wird Abraham aufblicken und den Widder als Ersatzopfer sehen, dann werden Abraham und Isaak zu den Dienern zurückkehren und die Heimreise antreten. Das „meditative Einherschreiten“ des verbalen Textes wird nachvollziehbar in das visuelle Medium übersetzt. So wie der biblische Bericht von Abrahams Opfer ganz im hebräischen Narrativ verfaßt ist, der nur vom dramatisierenden Imperativ der direkten Rede unterbrochen wird – die Vulgata beginnt nur diesen Vers mit dem im Lateinischen aktivierend wirkenden „et“ –, dramatisiert in Ghibertis Relief erst die Assoziation des gesprochenen Wortes des Engels den Gang der sichtbaren Erzählung, läßt Isaak sich umwenden, den routinierten Ablauf des Opfers durchbrechen, und
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[Relieffelder, U.H.] sono le istorie del testamento nuouo […]“; [2.] Mюћђѡѡі, Life [Anm. 4], 47, Zeile 252: „la storia d’ Abram quando sagrifica el figliuolo.“ Ghiberti bei Fђћєљђџ, Commentary [Anm. 28], 56: „la quale storia elessono fusse la immolatione di saach“; [ř.] „una storia di bronzo“; Mюћђѡѡі, Life [Anm. 4], 47, Zeile 247; vgl. auch ebd., Zeile 249: „le quale storie e’feciono, e sonsi mantenute insino al presento di: una nȼ¸ la Udienza de l’Arte de’ Mercantini […]“; siehe auch ebd., Zeile 25ř: „Filippo fece la storia sua […].“ Ghiberti bei Fђћєљђџ, Commentary [Anm. 28], 56: „La dimonstratione uollono i detti operai […] ciascuno facesse una istoria di detta porta […] et ciascuno de’ combattori facesse una medesima istoria.“) Zur Überführbarkeit der Simultaneität visueller Medien in die Sukzessivität von Erzählung und Argumentation vgl. Wюџћѐјђ, Bilder (Anm. 1), ř1f. 116. 1řř–1ř6. Vgl. BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), ř8; zur ikonographischen Tradition von Ghibertis Erzählelementen vgl. KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, ř8f., Anm. ř0; BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), řř.
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gibt so dem gesamten Relief einen temporal fokussierenden Augenblick, demgegenüber alles andere vorher geschehen ist oder nachher geschehen wird.Ⱥř1 Den klar lesbaren Erzählaufbau schafft Ghiberti, indem er die lineare biblische Erzählfolge in die planimetrische Abfolge von grundplattenparallel agierenden Figuren übersetzt, die in räumlich separierten und zeitlich sukzessiv vorzustellenden Einzelszenen agieren. Auch die Variation der Distanzen, in denen die Raum-, Zeit- und Handlungsverhältnisse seiner Figuren und Figurengruppen differenziert werden, entwickelt Ghiberti in dieser Ebene. In diesen Erzählmitteln führt Ghiberti das in der italienischen Malerei und Reliefkunst des Trecento Übliche fort. So schließt etwa die Felsbarriere, die das Relieffeld als besonders markantes Erzählmittel zur Bezeichnung räumlicher Trennung und zeitlicher Indifferenz zwischen Haupt- und Nebenszene teilt, an die Funktion von Landschaftsbarrieren an, die hierzu in anderen visuellen Medien schon lange geläufig waren.Ⱥř2 In diesem Sinne trennt etwa Giovanni Pisano (um 1245Ȧ1250–1ř19) – an gemalte Darstellungen derselben Szene anschließend – durch die Felskante der bethlehemitischen Geburtshöhle ganz ähnlich wie Ghiberti die Szene der Geburt Jesu räumlich und zeitlich von der am rechten Rand desselben Relieffeldes angebrachten Darstellung der Verkündigung an die Hirten (Abb. 5).ȺřřAuch die Einführung in die Szene über eine Rückenfigur und über die dialogisierende Zeigegruppe der beiden Diener, die am Reliefrand zum betrachtenden Auslegen der Hauptszene einlädt, hat zahlreiche Vorläufer im italienischen Trecento.Ⱥř4 ř1
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Vgl. die Stilanalyse der Perikope bei LѢјюѠ KѢћёђџѡ, Die Opferung/Bindung Isaaks. Bd. 1: Gen 22,1–19 im Alten Testament, im Frühjudentum und im Neuen Testament, Bd. 2: Gen 22,1–19 in frühen rabbinischen Texten (WMANT 78Ȧ79), Neukirchen-Vluyn 1998, Bd. 1, řř. So etwa die Erzählfunktion des Erdspalts in der Stigmatisierung des Franziskus, Fresko, Assisi, S. Francesco, Unterkirche, Franziskus-Zyklus (AљюѠѡюіџ Sњюџѡ, The Assisi Problem and the art of Giotto, Oxford 1971, Pl. 76). Gіќѣюћћі PіѠюћќ, Verkündigung an Maria, Geburt Jesu und Verkündigung an die Hirten, um 1298–1ř01, Marmorrelief, 84 x 102 cm, Kanzel, Pistoia, S. Andrea (Jќѕћ PќѝђHђћћђѠѠђѦ, An Introduction to Italian Sculpture, ř Bde., London ř1985 [11955], Bd. 1, Pl. 16); vgl. auch den Hinweis auf Pietro di Leonardo und Leonardo di Ser Giovannis Opfer Abrahams und Gott bestätigt den Bund, 1ř61–1ř64, Silberaltar, Pistoia, Dommuseum (RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs [Anm. 2], 116, Abb. ř2f.). Für die Malerei vgl. etwa Geburt Christi, frühes 14. Jh., Fresko, Studenica, Königskirche (HђћџѦ MюєѢіџђ, The Icons of their Bodies. Saints and their Images in Byzantium, Princeton 1996, 167, fig. 146). Zur Bildfunktion der Rückenfigur und ihrer Tradition vgl. etwa Mюџєюџђѡђ Kќѐѕ, Die Rückenfigur im Bild. Von der Antike bis zu Giotto, Recklinghausen 1965. Zur Bildfunktion von Identifikationsträgern am Bildrand und ihrer Tradition vgl. Pђѡђџ
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Ein Transfer solcher Erzählmittel aus dem Medium Bild, in dem sie vor allem im Duecento zu Standardformeln entwickelt worden waren, in das Medium Relief war ganz unproblematisch, da sie sich mit dem jeweiligen Motiv ohne medienspezifische Konsequenzen übertragen ließen. Erforderlich war für solche figürlich-motivischen Übertragungen nur die Umformung von Konturen und Hell-Dunkel-Werten, die im Medium Bild im Trecento vor allem der Ausbildung von Plastizitätsillusion dienten, in lineare Kantenbildungen zwischen Flächenformen und in die Plastizität von Erhaben-Tief-Werten im Medium Relief.
Ghibertis Auslegung An manchen Stellen überschreitet Ghibertis Relief die sichtbare Erzählung des biblischen Geschehens und regt eine soteriologische Deutung der Szene an. So ist die in allen Details ihrer schuppigen Oberfläche durchgestaltete Eidechse zwar auch noch narrativ ausschmückendes Attribut der felsigen Einöde.Ⱥř5 In ihrer Anordnung unter den Füßen Abrahams ist das Reptil aber zugleich als Symbol des durch Abrahams Glauben überwundenen Bösen zu erkennenȺř6 und gibt so im Relief selbst Anlaß zum auslegenden Nachdenken über die umfassende Heilsbedeutung des biblischen Geschehens. In diesem Detail zitiert Ghiberti ganz wörtlich Andrea Pisanos „Wüstenpredigt Johannes des Täufers“ auf der Bronzetür am Südportal des Florentiner Baptisteriums (Abb. 6).Ⱥř7 Eine solche Echse huscht in Gegenwendung gegen die Geste, mit der
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Kџҿєђџ, „‚Istoria‘ und ‚virtus‘ bei Alberti und in der Malerei der frühen Renaissance“, in: Tugenden und Affekte in der Philosophie, Literatur und Kunst der Renaissance, hg. v. Jќюѐѕіњ PҦѠѐѕјђ u. a., Münster 2002, 195–219, besonders 200f., mit der älteren Literatur. Eine wie bei Ghiberti am Rand einer Szene dialogisierende und auf die Hauptszene weisende Nebengruppe zeigt etwa Gіќѡѡќ ёі Bќћёќћђ, Tempelgang Mariens, um 1ř0ř–1ř05, Fresko, Padua, Arenakapelle (LѢѐіюћќ BђљљќѠі, Giotto. Das malerische Gesamtwerk, Königstein 1981, Abb. 62; ein Beispiel aus der Giottonachfolge bei RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs [Anm. 2], 115) oder – im Medium Relief – auch Aћёџђю PіѠюћќ, Die Heilung des Lahmen, 1ř26–1řř6, Bronzerelief, Florenz, Südportal des Baptisteriums (Gђџѡ KџђѦѡђћяђџє, Andrea Pisano und die toskanische Skulptur des 14. Jahrhunderts, München 1984, Abb. 15). So BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), 41; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 107. Zu solcher Symbolik in der mittelalterlichen Kunst vgl. Dќћюѡ ёђ CѕюѝђюѢџќѢєђ, Einführung in die Geschichte der christlichen Symbole, Darmstadt 1984, 40–44. Aћёџђю PіѠюћќ, Wüstenpredigt Johannes des Täufers, 1ř26–1řř6, Bronzerelief, Florenz, Südportal des Baptisteriums (KџђѦѡђћяђџє, Andrea Pisano [Anm. ř4], Abb. 8); vgl. AћёџђѠ, Florence [Anm. 15], Bd. 1, ř65; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs [Anm. 2], 116; weitere – rein motivische – Entlehnungen aus der italienischen Trecentomalerei und -plastik zusammengestellt ebd., 11ř–116, mit der älteren Literatur).
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Johannes dort seine Zuhörer auf den Himmel verweist, fast senkrecht zum unteren Reliefrand herab, bereichert die sichtbare Erzählung wie bei Ghiberti und gibt im Sinne eines Sieges über das Böse zugleich Anstoß zu deren heilsgeschichtlicher Deutung. Sind die bisher genannten Erzähl- und Argumentationsmittel zwar spezifisch für visuelle Medien, nicht aber für das Medium Relief, so entfaltet Ghiberti im inhaltlichen und gestalterischen Kern seines Reliefs mit dem medienspezifischen Erzähl- und Argumentationsmittel der Mehransichtigkeit eine ganz neue Komplexierung der sichtbaren Erzählung und macht dabei die Auslegung des Opfers Abrahams in den vielfältigen Aspekten Isaaks erlebbar. So wird, erst wenn man das Relief von rechts betrachtet, ein Motiv ganz sichtbar, das passend zu dem aus diesem Blickwinkel besonders betonten Opferaspekt als verborgene Symbolik gelesen werden kann (Abb. ř). Das von der Gesamthaltung her gar nicht erforderliche Überkreuzen der Beine Isaaks zeigt nicht nur, daß Isaak auch an den Beinen gebunden ist, sondern weist durch das Kreuzmotiv möglicherweise auch auf das Kreuz Jesu hin und reflektiert so symbolisch eine Deutung der visuellen Erzählung vom Opfer Abrahams als Präfiguration des Kreuzesopfers Jesu. Auch ohne den figuralen Bezug der Überkreuzung ist diese Typologie seit den Kirchenvätern in allen Isaakdarstellungen mitzudenken,Ⱥř8 zumal Abrahams Opfer selbst im Hochgebet der Messe seinen festen Platz als Typus des in der Eucharistie vollzogenen Opfers hat.Ⱥř9 In diesem typologischen Zusammenhang des Opfers Abrahams kann das vor dem Altar ausgebreitete Gewand Isaaks gewiß als Anspielung auf das unter dem Kreuz verloste Gewand
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Das Opfer Abrahams als Typus des Kreuzesopfers u. a. bei IџђћѫѢѠ, Adv. Haer. 4,5,4f.; OџієђћђѠ, Hom. in Gen 8,5–9; AњяџќѠіѢѠ, De Abrahamo 1,8; CѦџіљљ ѣќћ Aљђѥюћёџіђћ, Glaph. in Gen ř; AѢєѢѠѡіћѢѠ, Civ. Dei 16,ř2; JќѕюћћђѠ CѕџѦѠќѠѡќњќѠ, Hom. in Gen 47; vgl. Kюџљ MҦљљђџ, „Abraham“, in: RDK 1 (19ř7), 82–102, hier 87f.; LќѢіѠ RѼюѢ, Iconographie de l’art chrétien, ř Bde. in 6 Teilbden., Paris 1955–1959, Bd. 1, 1ř5; EљіѠюяђѡѡю LѢѐѐѕђѠі Pюљљі, „Abraham“, in: LCI 1 (1968), 20–ř5, hier 28–ř0; TѕќњюѠ Hіђјђ, „AbramȦAbraham“, in: BBKL [www.bautz.deȦbbkl] 24 (2005), 1–49; ѣќћ Eџѓѓю, Genesis (Anm. 22), Bd. 2, 125–191; Cќћџюё RѢёќљѝѕȦSѡђѣђћ F. OѠѡџќѤ, „Isaac Laughing. Caravaggio, non-traditional Imagery and Traditional Identification“, in: Art History 24 (2001), 646–681, hier 664–670; TѕђџђѠію Hђіѡѕђџ OSBȦCѕџіѠѡіюћю RђђњѡѠ OSB, Abraham. Biblische Gestalten bei den Kirchenvätern, Münster 2005, 147f. 154. 16řf. 169f.; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 158f., mit Blick auf Ghibertis Relief; für weitere Hinweise siehe auch den Beitrag von CѕџіѠѡіћђ GҦѡѡљђџ in vorliegendem Band. Zur Ikonographie des Themas in der Epoche vgl. auch die Zusammenstellung bei CѕџіѠѡіюћђ RюѦћюѢё, „Le sacrifice d’Abraham dans quelques representations de la fin du moyen age“, in: Journal of Medieval History 21 (1995), 249–27ř. Vgl. AљіѠќћ Mќќџђ Sњіѡѕ, „The Iconography of the Sacrifice of Isaac in Early Christian Art“, in: American Journal of Archaeology 2. Ser. 26 (1922), 159–17ř, hier 159f.
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Abb. 5: Gіќѣюћћі PіѠюћќ, Verkündigung an Maria, Geburt Jesu und Verkündigung an die Hirten, um 1298–1ř01, Marmorrelief, 84 x 102 cm, Kanzel, Pistoia, S. Andrea.
Abb. 6: Aћёџђю PіѠюћќ, Wüstenpredigt Johannes des Täufers, 1ř26–1řř6, Bronzerelief, Florenz, Südportal des Baptisteriums.
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Jesu gelten (Mt 27,ř5; Mk 15,24; Lk 2ř,ř4; Joh 19,24),Ⱥ40 und die von Ghiberti mit brillanter Modellierkunst vorgeführte Nacktheit IsaaksȺ41 darf man wohl auch als Hinweis auf die Nacktheit Jesu am Kreuz sehen. Im typologischen Bezug auf den Kreuzestod Jesu macht die hoffende Umwendung des gefesselten Isaak zu dem rettenden Engel in Ghibertis Relief vor allem die durch Jesus erwirkte Erlösung anschaulich – wie aus anderen Gründen schon Hanno Rauterberg erkannt hat.Ⱥ42 Vorbereitet war dieser Gedanke im Hebräerbrief: Abraham sei bereit gewesen, Isaak, Gottes Befehl gehorchend, zu opfern, da er aus tiefem Glauben auf Gottes Macht vertraut habe und bei sich dachte: „Gott ist imstande, auch von den Toten zu erwecken. Darum erhielt er ihn [Isaak] denn auch als ein Gleichnis zurück“ (Hebr 11,19).Ⱥ4ř Anschließend an den Hebräerbrief sowie wohl auch an die Bekundung des Auferstehungsglaubens Abrahams bei Paulus (Röm 4,17. 2ř–25), betonten etwa Origenes (185– 254), Augustinus (ř54–4ř0) und Caesarius von Arles (470Ȧ471–542) das Vertrauen Abrahams, Gott könne und werde Isaak bald darauf wieder zum Leben erwecken.Ⱥ44 Besonders die Ankündigung Abrahams an die 40
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Das Gewand ähnlich unter dem Kreuz ausgebreitet etwa in einer Kreuzigung der Reichenauer Schule, um 980, Buchmalerei, Egbert-Codex, Trier, fol. 8řv (GђџѡџѢё Sѐѕіљљђџ, Ikonographie der christlichen Kunst, 4 Bde., Gütersloh 1966–1980, Bd. 2, Abb. ř92). Neben dem Kreuz demonstrativ vorgezeigt bei Gіќѡѡќ ёі Bќћёќћђ, Kreuzigung, um 1ř0ř–1ř05, Fresko, Padua, Arenakapelle (BђљљќѠі, Giotto [Anm. ř4], Abb. 90) sowie bei Bђћђёђѡѡќ Aћѡђљюњі, Kreuzabnahme, 1178 datiert und signiert, Relief, Parma, Dom (GђќџєђѠ DѢяѦ u. a., Skulptur. Mittelalter. 5. bis 15. Jahrhundert, Köln u. a. 1989, 101). Ein sichtbarer Christusverweis liegt vielleicht auch in der jugendlichen Physiognomie Isaaks, wie etwa die ganz ähnliche Kopfdurchgestaltung deutlich macht beim Thronenden Christus, Rom, Museo delle Terme (CѕџіѠѡіюћ BђѢѡљђџ, Der älteste Kruzifix. Der entschlafene Christus, Frankfurt a. M. 1991, 18f., Abb. 8f.; zur Rezeption dieses Kopfes beim Isaak-Meister [tätig um 1290 bis 1ř00 in Assisi], vgl. Sњюџѡ, Assisi [Anm. ř2], 124). Zur frühchristlichen Tradition, Isaak nackt zu zeigen, vgl. Pюћђљљі, Ikonographie (Anm. 22), 66f.; zur insgesamt aber festzustellenden Seltenheit dieser Darstellungsweise in der westlichen Christenheit vgl. SѝђѦюџѡ ѣюћ Wќђџёђћ, Iconography (Anm. 2ř), 2ř0. 2řř. 24ř–255. Vgl. RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 165–171. Zu dieser und zu weiteren Stellen des Neuen Testaments, in denen sich eine typologische Deutung des Opfers Abrahams andeutet, sowie zur Entstehung dieser Typologie vgl. Dюѣіё Lђџѐѕ, Isaaks Opferung christlich gedeutet. Eine auslegungsgeschichtliche Untersuchung (BHTh 12), Tübingen 1950, ř9–4ř; ѣќћ Eџѓѓю, Genesis (Anm. 22), Bd. 2, 149f.; Rќяђџѡ L. Wіљјђћ, „Melito, the Jewish Community in Sardis, and the Sacrifice of Isaac“, in: Theological Studies ř7.1 (1976), 5ř–69, hier 62–64. OџієђћђѠ, Hom. in Gen 8,1; CюђѠюџіѢѠ ѣќћ AџљђѠ, Serm. 84,4; AѢєѢѠѡіћѢѠ, Civ. Dei 16,ř2; OџієђћђѠ, Homilien zum Buch Genesis, übers. u. hg. v. TѕђџђѠію Hђіѡѕђџ OSB, Köln 2002, 12ř–1ř5 (vgl. HђіѡѕђџȦRђђњѡѠ, Abraham [Anm. ř8], 154–174; ѣќћ Eџѓѓю, Genesis [Anm. 22], Bd. 2, 149); bemerkenswert ist besonders die religionshistorische Überlegung des Origenes, „daß der Glaube an die Auferstehung schon damals zu
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zurückbleibenden Diener, „ich und der Junge wollen dorthin gehen, um anzubeten, dann kehren wir zu euch zurück“ (Gen 22,5), an die in Ghibertis Verklammerung der Erzählfolge durch die Gruppe der miteinander über das abwesende Ereignis sprechenden Diener erinnert wird, stützt diesen Gedanken, da sie Abrahams prophetisches Vertrauen auf Rückkehr beider und damit auf Rettung des Sohnes impliziert. Die altkirchliche Betonung des Opfers Abrahams als Typus der durch Jesu Kreuzestod erwirkten Erlösung entstand im kritischen Kontrast zur jüdischen Tradition, die Isaaks Bindung und sein Einverständnis, geopfert zu werden, vor allem als Grundlage für die Gnade ansah, die Gott seinem auserwählten Volk, Israel, erwiesen hatte. Schon in einem palästinischen Targum, einer jüdischen Paraphrase des Alten Testaments aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten in aramäischer Sprache, hofft Isaak auf dem Opferaltar auf ewiges Leben – ein seinerseits mit Abrahams Auferstehungsglauben im Römer- und im Hebräerbrief korrelierter Aspekt – und willigt in seine Opferung ein. Während in diesem Targum die Augen Abrahams kurz vor dem Eingreifen der Engel die Augen Isaaks fixieren, fixieren dessen Augen die Engel in der Höhe, die Isaak sieht, nicht aber Abraham.Ⱥ45 Die Nähe dieser jüdischen Schilderung des Abrahamsopfers zu der von Ghiberti vorgeführten außergewöhnlichen Konstellation, in der Abraham auf Isaak blickt und Isaak zu dem Engel in den Himmel schaut, ist gewiß überraschend. Angesichts der wöchentlichen Targum-Lesung im aschkenasischen Judentum bis weit in die Frühe NeuzeitȺ46 sowie auch des immer wieder vorhandenen
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entstehen begann, als Abraham sie für Isaak erwartete“ (OџієђћђѠȦHђіѡѕђџ, Homilien [Anm. 44], 124f.; siehe auch unten den Beitrag von Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ, 200. Diese Exegese erwächst wohl aus einer christlichen Weiterdeutung der vorchristlichen rabbinischen Tradition, der zufolge Isaak durch seine freiwillige Opferung für seine Nachkommen und damit für das Volk Israel die Erlösung von der Erbschuld vollendet hat (vgl. ѣќћ Eџѓѓю, Genesis [Anm. 22], Bd. 2, 148; KѢћёђџѡ, Bindung [Anm. ř1], Bd. 1, 162. 175–179. 210–214; Bd. 2, 29f. 140–142; EџћѠѡ DюѠѠњюћћ, „‚Bindung‘ und ‚Opferung‘ Isaaks in jüdischer und patristischer Auslegung“, in: Hairesis. Festschrift für Karl Hoheisel zum 65. Geburtstag, hg. v. Mюћѓџђё HѢѡѡђџ u. a. [JAC.E ř4], Münster 2002, 1–18). Targum du Pentateuque. Traduction des deux recensions palestiniennes, Bd. 1: Genése, hg. v. Rќєђџ Lђ DѼюѢѡ, Paris 1978, 219; vgl. Wіљјђћ, Melito (Anm. 4ř), 59f.; vgl. auch den Hinweis auf ein anderes Targum bei EёѤюџё KђѠѠљђџ, Bound by the Bible. Jews, Christians and the Sacrifice of Isaac, Cambridge 2004, 12řf. Targum-Exemplare, die im 1ř. bis 16. Jahrhundert nachgewiesen sind, nennen Lђ DѼюѢѡ, Targum (Anm. 45), 15–7ř; UѤђ GљђѠѠњђџ, Einleitung in die Targume zum Pentateuch, Tübingen 1995, 87f. 111–11ř. 18ř und passim. Um 1ř00 befand sich etwa ein Exemplar des Pseudo-Jonathan-Targums bei dem italienischen Rabbi Menachem Recanati (vgl. ebd., 18ř); zur wöchentlichen Targum-Lesung im aschkenasischen Judentum vgl. ebd., 87f.
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christlichen Interesses an diesen Texten ist es in Florenz – wo allerdings nur wenige Juden lebten und auch die bald darauf einsetzende Welle humanistischer Hebräisch-Studien noch nicht begonnen hatte – grundsätzlich durchaus denkbar, daß dieses rabbinische Motiv um 1400 auch für eine christliche Darstellung des Themas genutzt werden konnte, zumal es die biblische Erzählung zwar erzählerisch ergänzt, ihr aber ebensowenig wie einer christlichen Deutung grundsätzlich widerspricht.Ⱥ47 Als pure Schilderung der Ereignisfolge des biblischen Berichts ist das Opfer Abrahams in visuellen Medien schlechterdings nicht schlüssig darstellbar. Nur in zeitlich inkonsistenter Vermengung des Augenblicks, in dem der Engel Abraham ruft, mit dem erst zwei Verse später geschehenden Moment, in dem Abraham seine Augen erhebt, gelang es der tradierten Ikonographie des Themas, die Wirkung des Engels zu zeigen. Würde sich eine visuelle Darstellung aber auf den bloßen Moment des Zurufs des Engels konzentrieren, dem Abraham im biblischen Bericht zwar verbal antwortet, auf den er aber nicht körperlich sichtbar reagiert, so wäre weder bei Abraham noch bei Isaak eine angemessene sichtbare Reaktion zu erkennen. Weder die Intention noch die Wirkung des Eingreifens des Engels könnte in einer solchen Konstellation plausibel sichtbar werden. 47
Auf die Rezeption rabbinischer Literatur zum Abrahamsopfer in der mittelalterlichen christlichen Exegese verweist Lђџѐѕ, Opferung (Anm. 4ř), 149; zu solcher Rezeption vgl. auch Wќљѓєюћє BѢћѡђ, Rabbinische Traditionen bei Nikolaus von Lyra. Ein Beitrag zur Schriftauslegung des Spätmittelalters, Frankfurt a. M. u. a. 1994 (Nikolaus von Lyra [um 1270Ȧ75 bis 1ř49] war in Italien etwa durch seine weitverbreitete ‚Postilla litteralis super totam Bibliam‘, einen auf der Grundlage des hebräischen Bibeltextes und unter Heranziehung auch rabbinischer Texte zusammengestellten Kommentar zum Alten Testament, präsent, zumal er 1ř22 am Generalkapitel des Franziskanerordens in Perugia teilnahm; für den Hinweis danke ich Christian Hecht). Zu den in Florenz in den Personen von Poggio Bracciolini (1ř80–1459) und Ambrogio Traversari (1ř86–14ř9) und deren Schüler Giannozzo Manetti (1ř96–1459) einige Jahrzehnte nach 1400 nachweisbaren intensiven humanistischen Hebräischstudium christlicher Gelehrter vgl. Uњяђџѡќ CюѠѠѢѡќ, Gli ebrei a Firenze nell’età del Rinascimento, Florenz 1918, 274f.; CѕџіѠѡќѝѕ DџҦєђ, Giannozzo Manetti als Denker und Hebraist, Frankfurt a. M. u. a. 1987, 16–2ř. Zu christlich-jüdischen intellektuellen Kontakten in Florenz im Übergang vom Mittelalter zur Renaissance, die sich insbesondere in der Koproduktion hebräischer Handschriften belegen läßt, vgl. auch Uљџіјђ BюѢђџ-Eяђџѕюџёѡ, „Miniature italiane in Codici Ebraici“, in: Il codice miniato. Rapporti tra codice, testo e figurazione. Atti del III Congresso di Storia della Miniatura, hg. v. Mђљюћію CђѐѐюћѡіȦMюџію CџіѠѡіћю CюѠѡђљљі, Florenz 1992, 425–4ř7; NѢџіѡ PюѠѡђџћюј, „Hebrew Hand-written Books as Testimonies to Christian-Jewish Contacts in ‚Quattrocento‘ Florence“, in: L’interculturalità dell’ebraismo (Le Tessere 8), hg. v. MюѢџќ Pђџюћі, Ravenna 2004, 161–172; Sюѣђџіќ Cюњѝюћіћі, „La radice dolorante. Ebrei e cristiani alla scoperta del giudaismo nel rinascimento“, in: Pђџюћі, L’interculturalità (Anm. 47), 229–249.
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Durch die Einfügung des Motivs des zum Himmel blickenden Isaak konzentriert sich Ghibertis Darstellung auf den Moment unmittelbar vor dem Eingreifen des Engels: Abraham hat den Opfervorgang noch nicht unterbrochen und kann den Engel nur hören. Der Sohn aber sieht den Engel. Isaaks Reaktion setzt die Wirkmacht bereits um, mit der der Engel das Opfer unterbricht. Mit neuem Bewußtsein für die Konsistenz des Augenblicks in visuellen Medien nutzt Ghiberti also das eingefügte erzählerische Motiv des auf Isaak starrenden Abraham und des zum Himmel emporschauenden und dort den Engel erblickenden Isaak, um die Ereignisfolge des biblischen Textes neu zur Geltung zu bringen und dabei ganz medienadäquat die Wirkung des Engels im Augenblick seines Eingreifens überzeugend sichtbar machen zu können. Daß Ghiberti – wie Brunelleschi – Isaak entgegen der gängigen christlichen Ikonographie, die ein hilfloses Kind auf dem Opferaltar zeigt, als eigenständig handlungsfähigen Menschen an der Schwelle zwischen kindlichem und jugendlichem Alter darstellt, entspricht durchaus der patristischen Exegese. Um die ins Zentrum gerückte Bindung Isaaks schließlich als willentliches Selbstopfer für Sühne und Heil Israels feiern zu können, tendierte die rabbinische Tradition dazu, Isaak in Gen 22 als Erwachsenen zu sehen, der seine Opferung als Selbst-Opferung bejaht und aktiv an deren Verwirklichung mitgewirkt habe.Ⱥ48 Je höher man das Alter Isaaks ansetzte, desto mehr mußte man annehmen, daß Abrahams Sohn sein Einverständnis zur Opferung gegeben hatte, daß die Opferung Isaaks also vor allem ein Selbstopfer war. Die christliche Tradition stellte dagegen zwar meist die gehorsam und gläubig bewältigte Versuchung Abrahams in den Mittelpunkt, kannte aber durchaus auch diesen mit der Opferung Isaaks verbundenen Erlösungsgedanken. So erklärt – auf die rabbinische Tradition reagierend, aber wohl auch an die Typologie bei Paulus anknüpfend (Röm 4,17 und 2ř–25) – schon ein Fragment, das Melito von Sardes (2. Hälfte des 2. Jhs.) zugeschrieben wird, Isaaks Rettung selbst zum Sinnbild der Erlösung der Menschheit durch Jesu Kreuzesopfer: Für Isaak, den Gerechten, erschien ein Widder zur Schlachtung, damit Isaak von den Fesseln gelöst werde. Jener wurde geschlachtet und kaufte 48
Ibn Esras (1241–124ř) Ausführungen bei Rќљѓ-Pђѡђџ Sѐѕњіѡѧ, $THGDW-LV̜ḰDT. Die mittelalterliche jüdische Auslegung von Genesis 22 in ihren Hauptlinien (Judaistische Texte und Studien 4), Hildesheim 1979, 1ř6; den Hinweis verdanke ich Marius Reiser; s. u. seinen Beitrag Die Opferung Isaaks im Genesiskommentar des Jesuiten Benito Perera (1535–1610), 465; vgl. auch Uѡђ SѐѕѤюя, „Zum Verständnis des Isaak-Opfers in literarischen und bildlichen Darstellungen des Mittelalters“, in: Frühmittelalterliche Studien 15 (1981), 4ř5–494, hier 454; ѣќћ Eџѓѓю, Genesis (Anm. 22), Bd. 2, 147. 172f.; KђѠѠљђџ, Bound (Anm. 45), 107f. 12ř–1ř0.
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Isaak los. So hat auch der Herr, indem er geschlachtet wurde, uns errettet, und indem er gebunden worden war, uns gelöst, und indem er geopfert wurde, uns losgekauft.Ⱥ49
Um die hier implizierte typologische Parallele zum Kreuzestod Jesu zu stützen, mußte man annehmen, daß Isaak beim Opfer einerseits alt genug war für selbständige Entscheidungen. Andererseits aber durfte Isaak noch nicht ganz erwachsen sein, um die Selbständigkeit seiner Einwilligung und seine Leidensfähigkeit nicht zu stark zu betonen und seine Opferung nicht – wie in der rabbinischen Tradition – an die Stelle der Erlösungstat Jesu treten zu lassen. Bei aller typologischen Parallelisierung mußte doch immer gesichert bleiben, daß die Erlösung alleine durch Jesus, der nach Auffassung der Kirchenväter als einziger zur Erlösung aller unschuldig gelitten hat und gestorben ist,Ⱥ50 erwirkt und durch Isaaks Opferung, die nach christlichem Verständnis ja auch gar nicht ausgeführt worden war, als Typus nur sinnbildlich angekündigt wurde. Daher nahmen christliche Kommentatoren für den zu opfernden Isaak oftmals ein Alter von etwa 1ř Jahren anȺ51 oder betonten wie Johannes Chrysostomos (um ř47–407) mit einer ähnlichen Altersvorstellung die „äußere Eleganz und die innere Schönheit des Jungen, den Gehorsam, die Anmut und die Blüte seiner Jahre.“Ⱥ52 Ganz in dieser exegetischen Tradition stellt Ghiberti die körperliche Schönheit des jugendlichen Körpers Isaaks zur Schau und schafft so einen wirkungsvollen Kontrast zur Grausamkeit des Opfergeschehens. So zeigt Ghiberti Isaak als Person, die durchaus schon eigenständig entscheiden und in ihrem Vertrauen auf Auferstehung und Erlösung auf die durch Jesu Kreuzestod erwirkte Erlösung typologisch hinweisen kann, ohne dabei mit Jesu einzigem Sühnopfer zu konkurrieren.
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Mђљіѡќ ѣќћ SюџёђѠ, Cat. in Gen Frg. 2 [Frg. 10] (zitiert nach Lђџѐѕ, Opferung [Anm. 4ř], řř; vgl. Rќяђџѡ L. Wіљјђћ, „The Christianizing of Abraham. The Interpretation of Abraham in Early Christianity“, in: Concordia Theological Monthly 4ř [1972], 72ř–7ř1, hier 724; Pђѡђџ TѠѐѕѢєєћюљљ, Das Abraham-Opfer als Glaubensparadox. Bibeltheologischer Befund – literarische Rezeption – Kierkegaards Deutung, Frankfurt a. M. 1990, 49; als Deutungsschlüssel für Ghibertis Relief bei RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs [Anm. 2], 167; vgl. auch den Hinweis auf denselben Gedanken bei Origenes: ѣќћ Eџѓѓю, Genesis [Anm. 22], Bd. 2, 150). Vgl. KђѠѠљђџ, Bound (Anm. 45), 1ř2–1ř7. Vgl. ѣќћ Eџѓѓю, Genesis (Anm. 22), Bd. 2, 147. 172f. „[…] pueri elegantiam externam, internamque pulchritudinem, obedientiam, gratiam, aetatis florem“ (Johannes Chrysostomos, Hom. in Gen 47,2 [PG 54, 4ř1]; vgl. RѢёќљѝѕȦOѠѡџќѤ, Isaac [Anm. ř8], 665–667. 679f., Anm. 64). Zur patristischen und rabbinischen Tradition dieser Altersbestimmung und zu anderen Alterskonzepten und deren Begründung vgl. auch Pюћђљљі, Ikonographie (Anm. 22), 21f.; KђѠѠљђџ, Bound (Anm. 45), 107f. 125.
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Zu Ghibertis Isaak stimmt auch der heitere Ton, den Ambrosius (um ř40–ř97) dem Opfer Abrahams als Typus des Erlösungsopfers Jesu gab: Gott ist mächtig zu bewirken, daß […] ein einziggeborener Sohn zum Opfer dargebracht wird, der dem Vater nicht verlorengeht und doch das Opfer erfüllt. Deshalb bezeichnete er bereits durch seinen Namen das Vorausbild und die Gnade. Isaak bedeutet ja auf lateinisch Lachen. Lachen aber ist ein Zeichen für Freude. Wer nämlich wollte verkennen, daß derjenige Freude für alle bedeutet, der die Furcht vor dem grausamen Tod gebrochen und den Schmerz über ihn aufgehoben hat und so für alle zur Vergebung der Sünden geworden ist?Ⱥ5ř
In dieser Etymologie des Namens „Isaak“, die wohl auf das Literalverständnis des „risus“ der Vulgata (Gen 21,6) als Isaak,Ⱥ54 vor allem aber auf das hebräische „Jizchaq“ („er lacht“) zurückgeht, spielt Ambrosius gewiß auch auf das Lachen an, in das Abraham und Sarah, die Mutter Isaaks, angesichts der späten, nicht mehr erwarteten Mutterschaft Sarahs mehrfach ausbrachen (Gen 17,17; 18,12–15; 21,6).Ⱥ55 Im Lachen Isaaks hebt Ambrosius im Anschluß an den im Hebräerbrief entwickelten Erlösungsgedanken und die darin begründete Typologie des Opfers Isaaks und des Kreuzesopfers das Paradox der unerwarteten späten Elternschaft Abrahams und Sarahs dialektisch ebenso auf wie das Paradox des Abrahamsopfers. Diese Exegese der Erzählung von Abrahams Opfer prägt in Ghibertis Relief sichtlich die Peripetie, die sich von der Entschlossenheit Abrahams, seinen Sohn zu opfern, zu den optimistischen Gesichtszügen Isaaks und seiner überwältigenden Erlösungserwartung entfaltet. Auch das angedeutete leise Lächeln des linken Dieners und der beschwingte
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„[…] potens est deus facere, ut possit et virgo generare, et oblatus unicus ad inmolandum, qui et patri non periret et inpleret sacrificium. Itaque ipso nomine figuram et gratiam signat; Isaac etenim risus latine significatur, risus autem insigne laetitiae est. Quis autem ignorat quod is universorum laetitia sit qui mortis formidolosae vel pavore conpresso vel maerore sublato factus omnibus est remissio peccatorum? Itaque ille nominabatur et iste designabatur, ille exprimebatur et iste adnuntiabatur“ (AњяџќѠіѢѠ ѣќћ Mюіљюћё, De Isaac vel anima. Über Isaak oder die Seele, übers. u. eingel. v. EџћѠѡ DюѠѠњюћћ [FC 48], Turnhout 200ř, 1,1, 46f.). „Dixitque Sarra risum fecit mihi Deus.“ (Hinweis von Thomas Söding; vgl. auch ѣќћ Eџѓѓю, Genesis [Anm. 22], Bd. 2, 127). Weitere Quellen zur patristischen und frühjüdischen Exegese des Lachens Sarahs und Abrahams sowie zur Etymologie des Namens Isaaks aufgeführt und mit Blick auf die Darstellung des lachenden Isaak bei Caravaggio erörtert ebd., Bd. 2, 125–127; KѢћёђџѡ, Bindung (Anm. ř1), Bd. 1, 124–126. 159f.; RѢёќљѝѕȦOѠѡџќѤ, Isaac (Anm. ř8), besonders 667f.; vgl. auch HђіѡѕђџȦRђђњѡѠ, Abraham (Anm. ř8), 112f. 129f. 146–148.
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Gesamtausdruck des Reliefs unterstützen die Auslegung des Abrahamsopfers als Hinweis auf die durch Christus erwirkte Erlösung.Ⱥ56 Biblische Wurzeln hat auch der Aspekt der Befreiung durch Hinwendung zu Gott, wie sie Ghiberti in der Gebärde augenfällig macht, mit der sich der gefesselte Isaak aus seiner Fesselung und der Umklammerung seines opferbereiten Vaters herauswindet und dem göttlichen Boten zuwendet. Zur Begründung des Universalchristentums in der durch Christus erwirkten Freiheit aller, die ihm nachfolgen, entwickelt Paulus nämlich eine hierzu passende Symbolik der beiden Söhne Abrahams (Gal 4,21–ř1). Während sich Ismael, der Sohn der Sklavin Hagar, und dessen Nachfahren ganz am Gesetz ausgerichtet hätten, sei Isaak als „Sohn der Freien (Sara)“ Stammvater der an Christus Glaubenden, der „Kinder der Verheißung“. Bleibt für Paulus also die Tradition Ismaels der Unfreiheit unter einem als zwingend wahrgenommenen Gesetz verhaftet, so entfaltet die Tradition Isaaks die durch Christus gewonnene Freiheit.Ⱥ57 56 57
Vgl. auch RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 167. Hierzu OџієђћђѠ, Hom. in Gen 7,2 (OџієђћђѠȦHђіѡѕђџ, Homilien [Anm. 44], 114–117); JќѕюћћђѠ CѕџѦѠќѠѡќњќѠ, comm. in Gal., in: PG 61 (1862), 662f. (vgl. ѣќћ Eџѓѓю, Genesis [Anm. 22], Bd. 2, 1ř0f. 1ř9–14ř; HђіѡѕђџȦRђђњѡѠ, Abraham [Anm. ř8], 145–147. 201. 20ř–206). Hinsichtlich der Rolle Isaaks verstümmelte Mohammed Ibn Abdallah (571–6ř2) die biblische Abrahamserzählung und schuf Verwirrung, da er nicht erwähnte, welcher Sohn für das Opfer Abrahams bestimmt war (Mќѕюњњђё Iяћ Aяёюљљюѕ, Koran, Sure ř7,97–11ř). Die weitere mohammedanische Tradition schloß die im Koran offene Namenslücke uneinheitlich. Nach einer frühen Phase, in der Isaak noch im Einklang mit Juden und Christen als der vom Opfer Abrahams betroffene Sohn angesehen werden konnte, erklärten Mohammedaner in zunehmend antijüdischer und antichristlicher Tendenz ausschließlich Ismael anstelle Isaaks zu dem zum Opfer Abrahams bestimmten Sohn (vgl. RђѢѣђћ FіџђѠѡќћђ, „Abraham’s Son as the Intended Sacrifice [al- dhabih, Qur’an ř7:99–11ř]. Issues in Qur’anic Exegesis“, in: Journal of Semitic Studies ř4 [1989], 95–1ř1, siehe besonders die Übersicht 11ř. 127, sowie 129–1ř1; vgl. RђѢѣђћ FіџђѠѡќћђ, Journeys in Holy Lands. The Evolution of the Abraham-Ishmael Legends in Islamic Exegesis, New ork 1990, 116–128. 1ř5–151. 170–178; die Wertung modifiziert bei Fџђё LђђњѕѢіѠ, „Ibrahim’s Sacrifice of his Son in the Early Post Koranic Tradition“, in: The Sacrifice of Isaac. The Aqedah [Genesis 22] and its Interpretations, hg. v. Eё NќќџѡȦEіяђџѡ Tієѐѕђљююџ, Leiden u. a. 2002, 125–151). Mit dieser Verwechslung und der behaupteten Abkunft Mohammeds von Ismael (Iяћ IѠѕюў, Das Leben des Propheten, übers. v. Gђџћќѡ Rќѡѡђџ, Stuttgart und Wien 1986, 2ř) wurde die von Paulus angedeutete (Gal 4,24) und sowohl in jüdischer wie in frühchristlicher Tradition geläufige Identifizierung der Araber mit den Söhnen Ismaels (so etwa bei FљюѣіѢѠ JќѠђѝѕѢѠ, Ant. Jud. 1,220f.; vgl. ѣќћ Eџѓѓю, Genesis [Anm. 22], Bd. 2, 141f.) zum genealogischen Kern der Usurpation der Abrahamsnachfolge durch Mohammedaner. Mit der Festlegung auf die Ismael-Herkunft aber fügt sich das Mohammedanertum, das eine vollständige Unterwerfung unter vermeintliche Gesetze Gottes verlangt, auch genealogisch in die kontrastive Konstruktion des Gegensatzes zur christlichen Freiheit, die Paulus mit der Nachfolge Isaaks erläutert, und macht
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Mit dieser in der Figur Isaaks angelegten Auslegung der aus Abrahams gläubigem Opfer folgenden Botschaft von Erlösungsgewißheit und Freiheit klingt die Stillage des gesamten Reliefs zusammen. Hier liegt sicherlich eine wichtige Funktion der idyllischen Wirkung der linken Seite des Reliefs. Zudem suggerieren schönlinige Formverläufe von Körperbewegungen und DraperienȺ58 eine Dynamik, die alle Teile des Reliefs vereinheitlicht und auch den S-förmigen Schwung der Felsformation und – etwa im Wirbel am Ärmel Abrahams – selbst die umgebende Luft zu erfassen scheint. Die gesamte Fläche des Reliefs durchzieht ein weich schwingender Klang.Ⱥ59 Auch das sanfte Anmodellieren an die Grundplatte, das etwa bei den Hufen des Esel, bei den Beinen, dem Oberkörper und dem Kopf des hinteren Dieners, dem Unterkörper des Engels und an einigen Stellen der Landschaft zu sehen ist, unterstützt diese vereinheitlichende Gesamtwirkung. Eine souveräne Werktechnik, bei der die meisten Teile des Reliefs in Modellierung und Guß unmittelbar mit der Grundplatte verbunden entstanden, erlaubte Ghiberti, durch kontinuierlichen Übergang zwischen Grundplatte und bas-relief-ähnlichen
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sich so zu einer karikierenden Adaption einer an die Araber vorgenommenen Außenzuschreibung. Ghiberti rezipiert hier die Teilformen des Internationalen Weichen Stils (vgl. RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs [Anm. 2], 117–124, mit der älteren Literatur), bindet sie aber in neuer kompositorischer Einheit zusammen. Vgl. die Schemazeichnung zu Lorenzo Ghibertis Opfer Abrahams bei Rюєєѕіюћѡі, Brunelleschi (Anm. 4), 5ř, Abb. 86; vgl. auch CѕюџљђѠ SђѦњќѢџ Jџ., Sculpture in Italy. 1400 to 1500, Harmondsworth 1966 (Pelican History of Art), ř9. Zu solchen Strategien der planimetrischen und der körper- sowie raumbezogenen ‚Compositio‘ in visuellen Medien der Frühen Neuzeit vgl. Wюџћѐјђ, Bilder (Anm. 1), 25f. 1ř1–1ř6. Zum Verhältnis der Reliefs Brunelleschis und Ghibertis zur Rahmenform – mit großenteils ganz widersprüchlichen Auffassungen – vgl. HђёѤіє Gќљљќя, Lorenzo Ghibertis künstlerischer Werdegang (Zur Kunstgeschichte des Auslandes 126), Straßburg 1929, 8–10; Mюћѓџђё WѢћёџюњ, Die künstlerische Entwicklung im Reliefstil Lorenzo Ghibertis, phil. Diss. Göttingen 1952, 9; Pќѝђ-HђћћђѠѠђѦ, Introduction (Anm. řř), Bd. 2, 1f.; SђѦњќѢџ, Sculpture (Anm. 59), ř8f.; EѢљђџ-KҿћѠђњҿљљђџ, Bildgestalt (Anm. 4), 12ff.; KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 44. 47; Jюћ BіюљќѠѡќѐјі, Spätmittelalter und beginnende Neuzeit (Propyläen Kunstgeschichte 7), Berlin 1972, 80; Rюєєѕіюћѡі, Brunelleschi (Anm. 4), 29–ř2; Mюћѓџђё WѢћёџюњ u. a., „Italien“, in: Die Parler und der schöne Stil 1350–1400. Europäische Kunst unter den Luxemburgern, hg. v. Aћѡќћ Lђєћђџ, ř Bde., Schnütgen Museum, Köln 1978, 15–42, hier 41f.; Aљђѥюћёђџ Pђџџіє, Lorenzo Ghiberti. Die Paradiestür. Warum ein Künstler den Rahmen sprengt, Frankfurt a. M. 1987, passim; AћёџђѠ, Florence (Anm. 15), Bd. 1, ř66; die gängige ahistorische Beurteilung des Vierpasses als eines Formats, gegen das anzugehen Modernität zeige, angewandt auch auf Andrea Pisano bei KџђѦѡђћяђџє, Andrea Pisano (Anm. ř4), řř; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 84f. 89f.
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Formen einen vereinheitlichenden „atmosphärischen“ Zusammenklang zur Unterstützung der optimistischen Stimmung Isaaks zu schaffen.Ⱥ60 Ansätze zu einer solchen Instrumentierung der umgebenden Landschaft finden sich vor Ghiberti bereits in den Bronzereliefs des Andrea Pisano an der ersten Bronzetüre des Florentiner Baptisteriums, wo auch die Figuren gelegentlich ganz ähnlich an den Untergrund anmodelliert werden, ohne aber schon einer durchgehenden atmosphärischen Wirkung wie bei Ghiberti dienen zu können.Ⱥ61 Ghiberti hat diese vereinheitlichende Wirkung noch forciert, indem er zunächst den Grund mit den Halb- und Flachreliefpartien goß, die freiplastischen Figuren anschließend modellierte und in einer zweiten Gußschicht im Verfahren der „fusione sopra“ in einer niedriger schmelzenden Legierung direkt an die Platte angoß, so daß nachträgliche Lötungen und harte Fugen entfielen.Ⱥ62 Bei seiner Anlage der sichtbaren Erzählung setzt Ghiberti insgesamt vor allem auf tradierte, für bildhafte Medien, nicht aber für das Medium Relief spezifische Mittel des Erzählens, die er analog auf das Medium Relief überträgt. Der Aufbau der Erzählstruktur geschieht als sukzessiv ablesbare Anordnung von Handlungsrepräsentationen und folgt ganz der Struktur des biblischen Textes. Um in der Tradition der Exegese vom mitempfindenden Nachvollzug des komplexierend ausgestalteten Handlungskerns zur heilsgeschichtlichen Auslegung der Komplexität des biblischen Textes hinzuleiten, nutzt Ghiberti in seiner Hauptfigur
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Von einem „unaufdringlichen Weben des Luftraums“ spricht ѣќћ SѐѕљќѠѠђџ, Ghiberti 19ř4 (Anm. 15), 41; von „atmosphere“ KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 47; vgl. auch GіѢљіюћќ Eџѐќљі, „Tecnica e concezione spaziale nelle formelle del Brunelleschi e del Ghiberti per la seconda porta del Battistero“, in: Filippo Brunelleschi. La sua opera e il suo tempo. Convegno Internazionale di Studi tenutosi a Firenze, 16.–22.10.1977, 2 Bde., Florenz 1980, Bd. 1, 265–272, hier 271; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 107, Anm. ř29; NіђѕюѢѠ, Reliefkunst (Anm. 4), 52. In ähnlichem Sinne spricht von „einer neuen optischen Ganzheit des ausgebrachten Sehfeldes“ als Merkmal der Entwicklung des Reliefs im 14. Jahrhundert Wіљѕђљњ MђѠѠђџђџ, Das Relief im Mittelalter, Berlin 1959, 149. Vgl. z. B. Aћёџђю PіѠюћќ, Johannes geht in die Wüste; Besuch der Jünger im Kerker bei Johannes, 1ř26–1řř6, Bronzereliefs, Florenz, Südportal des Baptisteriums (KџђѦѡђћяђџє, Andrea Pisano [Anm. ř4], Abb. 7. 14). Einen ähnlichen Effekt erreicht auch die an Jacobello dalle Masegne zugeschriebene Stigmatisierung des Hl. Franziskus, 1ř89–1ř92, Bologna, Chiesa di S. Francesco (Rђћюѡќ Rќљі, La pala marmorea di San Francesco in Bologna, Bologna 1964, Abb. 41). Zu dieser Technik vgl. Eњіљіќ MђљљќȦPюќљќ Pюџџіћі, „Lorenzo Ghiberti. Storie di Giuseppe e di Beniamino, storie di Adamo ed Eva. Sulla tecnica di esecuzione“, in: Metodo e scienza. Operatività e ricerca nel restauro, hg. v. Uњяђџѡќ Bюљёіћі, Florenz 1982, 176–180; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 8řf.; NіђѕюѢѠ, Reliefkunst (Anm. 4), 74f.
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dann allerdings erstmals im Medium Relief Mehransichtigkeit als sichtbares Argumentationsmittel.Ⱥ6ř Auch die neuen dekorativen Stilmittel, der motivisch idyllische Klang der Nebenszene, der übergreifende sanfte Linienrhythmus und die atmosphärische Gesamtwirkung, die der Entfaltung der fast heiteren Gesamtstimmung dienen, scheinen durch Ghibertis exegetische Zuspitzung auf den Aspekt der Befreiungshoffnung und Erlösungsgewißheit geradezu gefordert gewesen zu sein. Die Struktur des biblischen Textes und seine Auslegung leiten die Entwicklung und den Einsatz der Darstellungsmittel.
Brunelleschis Erzählung Ausdrücklicher als die Gruppe am linken Rand von Ghibertis Werk bieten die beiden Dienerfiguren und der Esel im unteren Drittel von Brunelleschis Relief (Abb. 2) dem Betrachter ein eigenes Anknüpfungsregister.Ⱥ64 Alle Figuren sind hier beinahe vollplastisch durchgebildet und treten weit vor die Grundfläche. Links, rechts und nach unten überschreiten zwei Figuren sogar den Rahmen. So sind sie dem Betrachter nicht nur besonders nah, sondern knüpfen auch an dessen Welt haptischer Wirklichkeitserfahrungen medial unmittelbar an, leiten aus dessen greifbarer Welt in den Illusionsraum des Relief. In ihrem Vor- und Herabbeugen orientieren sich beide Diener und der Esel hinab zur Betrachterwelt, ohne allerdings dorthin Blickkontakt aufzunehmen. Der über und hinter ihnen angeordneten Hauptszene kehren sie den Rücken zu. An einer Stelle führt ein Felsvorsprung die waagerechte Linie ihrer Schultern und Rücken fort, so daß die Kante des Podestes, auf dem die Hauptfiguren stehen, die untere, vordere Zone des Reliefs zur Hauptszene abriegelt. Die Aufmerksamkeit wird in dieser Zone nur unmerklich geleitet. Der linke Diener – eine freie Adaption des berühmten antiken „Dornausziehers“Ⱥ65 – untersucht mit weit hinuntergeneigtem Kopf seine Fuß6ř 64
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Zur Mehransichtigkeit bei Ghiberti vgl. EѢљђџ-KҿћѠђњҿљљђџ, Bildgestalt (Anm. 4), 9. Von „two registers“ spricht hier auch KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 44. Für eine Beschreibung der Dienerfiguren vgl. RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 101f. Vgl. FюяџіѐѧѦ, Brunelleschi (Anm. 4), 16; C. Aљёђћѕќѣђћ, „Kunstgeschichtliche Werke“, in: Die Nation 1ř (1895–1896), 17řf., hier 174; RѢёќљѓ Nќљљ, „Der Dornauszieher im Mittelalter“, in: Mitteilungen des Vereins Klassischer Philologen in Wien 4 (1927), 67–77, hier 75; KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 282, Anm. 15; EљіѠюяђѡѡю Cіќћі LіѠђџюћі, in: Materia e ragionamenti (Anm. 15), 66; Rіѐѕюџё Cќѐјђ, „Masaccio and the Spinario, Piero and the Pothos. Observations on the Reception of the Antique in Renaissance Painting“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 4ř (1980), 21–ř2, hier 21;
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sohle. Seinen Schuh hat er ausgezogen und das linke Bein über das rechte geschlagen. Nun umfaßt er den Fuß mit beiden Händen, um den Fußballen genau in den Blick nehmen zu können. Durch die Aufsicht auf die Fußsohle, den konzentrierten Blick und das aus der gesamten Armbewegung unterstützte Zusammenführen der beiden Daumen, die sich langsam mit leichtem Druck vorgraben, um einen in den Fuß eingetretenen Dorn herauszuquetschen, kann der Betrachter es kaum vermeiden, sich dem Blick des Dornausquetschers anzuschließen und mit ihm das Ergebnis seiner unschicklich demonstrierten Tätigkeit untersuchen zu wollen. Das leicht vorgebeugte Sitzen und die Rundung der Draperie verleihen der Figur große Geschlossenheit, gerade da, wo sie den Rahmen des Reliefs überschreitet. Nur in ihrem geringfügigen Vorschieben der linken Körperseite öffnet sich diese Gestalt zur Reliefmitte hin. Man kann auf diesem Weg dem langgestreckten Rücken des Esels folgen, dessen sachte Neigung – durch das Auseinanderstellen der Vorderläufe als natürliche Haltung beim Herabbeugen physisch motiviert – zum steilen Abwärts des Halses überleitet. Vom hinteren Huf bis zum Maul richtet sich der ganze Körper des Tieres auf dieses Herabstrecken des Kopfes. Wohin sich sein ganzes Verlangen richtet, macht das aus seinem Maul in zwei dünnen Strängen zum Betrachterraum hervorsabbernde Wasser deutlich: Vor seinem Maul entspringt eine Quelle.Ⱥ66 Direkt vor dem saufenden Maul des Esels hat auch der Glatzkopf mit einer Trinkschale in weitem Bogen aus demselben Quell geschöpft, führt die Schale soeben nach oben und versucht, sie flach zu halten, um nichts zu verschütten. Auf einem Felsbrocken hingehockt, hat sich der Wasserschöpfer – der antiken Genredarstellung eines Feueranbläsers
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Jќюћћђ SћќѤ-Sњіѡѕ, „Brunelleschi’s Competition Panel. The ‚Spinario‘ and the Sin of Heresy“, in: Gazette des Beaux Arts 1ř1 (1989), 159–169; Wіљљіюњ S. HђѐјѠѐѕђџ, „Dornauszieher“, in: RDK 4 (1958), 289–299; F.J. HюѠѠђљ, „Dornauszieher“, in: LCI 1 (1968), 510; AћёџђѠ, Florence (Anm. 15), Bd. 1, ř65; PѕѦљљіѠ PџюѦ BќяђџȦRѢѡѕ RѢяіћѠѡђіћ, Renaissance Artists and Antique Sculpture. A handbook of Sources, Oxford 1987, 2ř5f.; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 129–1ř1; Rіѡю Aњђёіѐј, „Dornauszieher. Bukolische und dionysische Gestalten zwischen Antike und Mittelalter“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft ř2 (2005), 17–51, hier 27. Die Haltung des Esels orientiert sich an Gіќѣюћћі PіѠюћќ, Anbetung der Könige, 1ř0ř–1ř10, Marmorrelief, Kanzel, Pisa, Dom (vgl. Rюєєѕіюћѡі, Brunelleschi [Anm. 4], 45). Der Esel mit zum Boden gebeugtem Hals findet sich außerdem unterhalb des opfernden Abraham auch in einem byzantinischen Mosaik im Dom von Monreale (Art resource, http:ȦȦwww.artres.com, aufgerufen am 25.7.2006; suche: sacrifice isaac monreale) sowie in einem Opfer Abrahams, Buchmalerei, Machsor (jüdisches Gebetbuch), Pergamenthandschrift, Hammelburg, 1ř48, Darmstadt, Hessische Landesund Hochschulbibliothek, cod. orient. 1ř, fol. 202r (Rheinisches Bildarchiv Köln).
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folgendȺ67 – mit aller Kraft vorgebeugt und zu dem rinnenden Bächlein hinabgestreckt, so daß sich seine Kleidung straff über den gebeugten Rücken spannt. Um in dieser Haltung bis zur Quelle hinunterlangen zu können, preßt der Knecht seinen Oberkörper gegen die Knie und muß sich mit der Linken am Fuß abstützen. Vom Vorneigen des Dornausquetschers, dem der rechte Diener als Pendant in Bewegung, Physiognomie und Kleidung kontrastiv gegenübergestellt ist,Ⱥ68 führt dabei eine unaufdringliche Aufmerksamkeitslenkung über Rücken, Hals und Maul des Esels zu dieser Figur. Dabei steigert sich die gestische Intensität und das körperliche Engagement des Vorbeugens über den gereckten Hals des Esel bis zum Wasserschöpfer. Alle Körperhaltungen konzentrieren sich in der unteren Zone des Bildes jeweils völlig auf eine einzige, ganz physischen Bedürfnissen dienende profane Tätigkeit. So erinnern Wassertrinken, Wasserschöpfen und Dornauspressen gemeinsam an die Beschwerlichkeiten der dreitägigen Reise zum Opferberg (Gen 22,4),Ⱥ69 von denen sich Mensch und Tier erholen, nachdem Abraham sie dort zurückgelassen hat, um alleine mit seinem Sohn auf den Opferberg zu gehen (Gen 22,5). Die untere Zone des Reliefs entwickelt zwar die Rahmenhandlung der Hauptszene. Die beiden Register des Reliefs bleiben aber durch die waagerechte Linie der Rücken und der Felskante sowie durch die der Hauptszene zugekehrten Rücken der Diener und des Esels so gegeneinander abgeriegelt, daß die bibelgemäße räumliche und zeitliche Trennung der Szenen sinnfällig wird. Bevor die Schale den Mund erreicht, schnellt der Kopf des Wasserschöpfers dann aber ruckartig in die Gegenrichtung der Körperbewegung herum. Die Ruhe, in der sich Diener und Esel auf ihre banalen Verrichtungen konzentrierten, wird jäh unterbrochen. Richtet sich der ganze Körper des Wasserschöpfers gerade noch auf das durststillende Wasser, so hat plötzlich etwas anderes seine Aufmerksamkeit geweckt. Nach oben und in die Tiefe des illusionierten Reliefraumes wendet er
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68 69
Zu den antiken Variationen des Themas vgl. ZіђљіћѠјі, „Der Feueranbläser und der Dornauszieher“, in: Rheinisches Museum N.F. ř9 (1884), 7ř–117, hier 7ř–99; CѕюџљђѠ ёђ TќљћюѦ, Michelangelo, Bd. 2, Princeton 1945, Abb. 297f.; Gҿћѡђџ PюѠѠюѣюћѡ, „Zur Nachwirkung von Bertoldos Schlachtenrelief im Bargello“, in: Hülle und Fülle. Festschrift für Tilmann Buddensieg, hg. v. AћёџђюѠ BђѦђџ u. a., Alfter 199ř, 4ř4–46ř, hier 428; zu Brunelleschis Rezeption dieser Figur vgl. KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 281f., Anm. 15; Brunelleschi paraphrasiert hier auch die Funktion des Feueranblasens, indem er in Blickrichtung des Dieners unter dem Altar züngelnde Flammen präsentiert. Vgl. KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 45. Vgl. BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), 41.
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sich nun, offensichtlich um die Ursache der Störung mit den Augen zu suchen. Auf diesen überraschenden Umkehrpunkt leitet im Vordergrund des Reliefs alles hin. Nur hinter und über dem reliefeinwärts herumgerissenen Kopf dieses Knechtes öffnet sich der horizontale Abschluß der unteren Reliefzone, damit die sichtbare Erzählung in der Hauptszene weitergeführt werden kann. Wie seine Rückenansicht vermuten läßt, sucht der Wasserschöpfer durch diese Lücke einen Blick auf die Hauptszene zu erlangen.Ⱥ70 Wie die meisten Figuren hat Brunelleschi auch diese Figur separat modelliert, im Vollguß gegossen und erst dann auf der Grundplatte montiert.Ⱥ71 Beide Dienerfiguren hat er dabei fast vollplastisch durchgebildet, so daß er sie vor der Montage auch von der Rückseite ausputzen und ziselieren konnte. Tritt man so nahe an das Relief heran, daß man das vom Betrachter zunächst abgekehrte Gesicht des Wasserschöpfers betrachten kann, bestätigen die neugierigen Augen des Gesichts (Abb. 7), das auch reliefeinwärts sorgfältig ziseliert ist, daß sich seine gesamte Aufmerksamkeit plötzlich der Hauptszene zuzuwenden beginnt. Die Heftigkeit, mit der der Wasserschöpfer seine Tätigkeit unterbricht, die eigentlich volle Aufmerksamkeit fordert, und aus seiner angespannten Haltung herumfährt, macht deutlich, wie gewaltig ihn die Störung mitten in seinem gedankenverlorenen Tun getroffen haben muß. Mit seinem Emporblicken katapultiert der Wasserschöpfer die Aufmerksamkeit des Betrachters schlagartig ins Zentrum des Geschehens, an den Ort der größten Aktionsdichte – hinweg über eine weite Zäsur, über die Felskante, den Altar mit den hervorzüngelnden Flammen und entlang an dem überdehnten Körper Isaaks. Zum Himmel empor weit aufgerissen, zeigt dort Isaaks Mund, daß es ein erschütternder Schrei des Sohnes Abrahams war, der den Wasserschöpfer aufgeschreckt hat und sich umwenden ließ.Ⱥ72 70
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Vgl. Fђџћ RѢѠј SѕюѝљђѦȦC.K. KђћћђёђѦ, „Brunelleschi in Competition with Ghiberti“, in: The Art Bulletin 5 (1922Ȧ192ř), ř1–ř4, hier řř; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 89; NіђѕюѢѠ, Reliefkunst (Anm. 4), 54f. In einem zusammenhängenden Block wurden der Felsen der Esel, der Altar und der Widder gegossen sowie möglicherweise damit verbunden auch noch die Figur Isaaks. Ein weiterer Guß galt Abraham, verbunden mit dem hinter ihm aufragenden Felsen sowie mit der linken Hand des Engels. Separat gegossen wurden die beiden Diener, der Strauch hinter Abraham und der Engel (vgl. EѢљђџ-KҿћѠђњҿљљђџ, Bildgestalt [Anm. 4], 129, Anm. 10ř; KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti [Anm. 2], Bd. 1, 46; MіѐѕђљђѡѡіȦPюќљѢѐѐі, Scultore [Anm. 2], 26f.; BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi [Anm. 4], 41. ř45; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs [Anm. 2], 82f.; NіђѕюѢѠ, Reliefkunst [Anm. 4], 56). Zu älteren Bemerkungen zu diesem Schrei vgl. RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 99.
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Schräg durch das gesamte Relief gellt dieser Schrei bis zum Knecht am Fuß des Opferberges. In den leeren Flächen der Grundplatte etwa hinter und über Isaaks Kopf scheint der Schall in der öden Landschaft nachzuhallen. Die medienspezifischen Mittel der Echoreaktion des fast vollplastisch durchgestalteten verrenkten Wasserschöpfers machen die visualisierte Klage Isaaks augenblicklich wahrnehmbar. Der Betrachter wird zum auditiv imaginierenden Hörer.Ⱥ7ř Die Figur des rechten Dieners vermittelt eindrücklich, daß Isaak schreit, und gibt als Identifikationsträger dem Betrachter zugleich einen Impuls, auch selbst zu erschrecken. Indem der entsetzliche Schrei die Affekte Isaaks und – über die angeborene menschliche Fähigkeit zur spontanen Empathie – die Affekte des Dieners und des Betrachters im selben Moment zusammenführt, werden die Haupthandlung, die davon räumlich getrennte untere Reliefzone und der Betrachterraum zeitlich schlagartig koordiniert: In dem Moment, wo Isaak aufschreit, reißt der Wasserschöpfer erschrokken seinen Kopf herum und springt die Aufmerksamkeit des Betrachters weiter zur Ursache des Erschreckens. Nachdem mit dem Umwenden des Wasserschöpfers die Handlungsgeschwindigkeit aus der Ruhe der unteren Reliefzone heraus plötzlich dramatisch hochgeschnellt ist, treffen nun auf allerengstem Raum die Handlungen der Hauptszene zusammen:Ⱥ74 Mit der Linken geht Abraham seinem Sohn an die Kehle. Brutal schiebt sein Daumen dessen Kinn hoch, eine grausame Geste, deren pathetischer Ernst durch den karikierenden Kontrast zu dem ebenfalls auf den Daumendruck fokussierten banalen Dornausquetschen in der unteren Reliefzone noch akzentuiert wird. Auch die weitausholende Geste, mit der Abrahams Rechte das Schlachtmesser führt, korrespondiert mit der unteren Reliefzone, wo sie in der schöpfenden Bewegung des rechten Dieners geradezu parodiert wird. Schon hat Abraham mit professionellem Schlachtergriff die Halsunterseite seines Opfers gestrafft und das Messer angesetzt. Der vordere Teil der Schneide und die Stelle, an der es schneiden oder zustechen soll, bleiben dabei hinter Abrahams linkem Unterarm verborgen. Der linke 7ř
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Zur Mediengeschichte der auditiven Assoziation vor visuellen Medien vgl. Nќџњюћ E. Lюћё, The Viewer as Poet. The Renaissance Response to Art, Pennsylvania State University 1994. Für eine treffende Beschreibung des Handlungsablaufs der Hauptszene vgl. KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 44; BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), ř8. Die „temperatura drammatica“ bemerkt GіѢѠђѝѝђ Mюћѡќѣюћі, „Brunelleschi e Ghiberti. In margine all’iconografia del sacrificio“, in: Critica d’Arte N.S. 20 (1974), fasc. 1ř8, 22–ř2, hier 22; ähnlich GіѢљіќ Cюџљќ Aџєюћ, „The Architecture of Brunelleschi and the Origins of Perspective Theory in the Fifteenth Century“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 9 (1946), 98–121, hier 116.
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Arm Isaaks hindert den Betrachter daran, die Messerspitze zu sehen. Da es unmöglich bleibt, sich sehend zu vergewissern, ob das Messer den Hals nicht schon berührt oder das Furchtbare gar schon ausgeführt hat, steigert sich das Mitempfinden mit dem leidenden Isaak. Um so suggestiver und stärker nährt das Verdecken die Vorstellung, das Schlachten werde gerade ausgeführt oder sei sogar schon vollzogen, da sie von einem unvollständigen Bild induziert wird, dessen unbewußte Imaginationswirkung der Betrachter nicht kontrollieren kann.Ⱥ75 Unter dem Druck des Daumens seines Vaters und im gräßlichen Schrei deformiert sich das noch kindliche Gesicht Isaaks.Ⱥ76 In Todesangst preßt der Knabe die Augen zusammen. Auf dem Altar kniend und die Arme offensichtlich hinter dem Körper gefesselt, hat Isaak – in dessen Gestalt Brunelleschi verschiedene ältere bedrängte Gestalten der Antike und des Mittelalters fortleben läßtȺ77 – seinen rechten Fuß hochgerissen, Zehen und Ballen tippen die Altarplatte noch an, die Ferse hängt noch in der Luft; aufspringen will er und dem tödlichen Messer nach links entkommen. Die Wadenmuskeln und der Quadrizeps des Oberschenkels ballen sich dabei krampfhaft, doch wirkungslos. Fast bibbernd vor Angst wirkt diese Anstrengung, ein Eindruck, den der Anblick des verquält gewundenen, knochigen, hageren, dünnhäutigen Knabenkörpers noch steigert. Die extreme Schraubung der kontrapostisch gegeneinander verstellten Hüft- und Schulterachsen, die im Kontrast zwischen dem vorstechenden linken Beckenkamm und den über der rechten Hüfte gestauchten Hautfalten sowie in der vom Brustbein zum Nabel sich windenden, expressiv verfremdeten Mittellinie des Oberkörpers zusätzlich akzentuiert wird, macht deutlich, wie unzweckmäßig und aussichtslos Isaaks Ausbruchsversuch bleibt. Nichts vermag das panische Zappeln des Knaben gegen den macht- und gewaltvollen Zugriff des Vaters. Die Flammen, die Brunelleschi aus dem Altar schon zu Isaak emporzüngeln läßt, dramatisieren das Geschehen zusätzlich. Hierzu legt Brunelleschi den Altar als Herd mit rundbogiger Feueröffnung an, wie ihn 75
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Meist wird dieses Verdecken als Gestaltungsmangel beurteilt; vgl. etwa RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 88. Zu solchen visuellen Wirkungsmechanismen vgl. Uљџіѐѕ Hђіћђћ, „Emotionales Erleben in der Bildrhetorik der Frühen Neuzeit. Ein neurobiologischer Systematisierungsversuch“, in: Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder, hg. v. Rҿёієђџ ZѦњћђџȦMюћѓџђё Eћєђљ, Paderborn 2004, ř56–ř82, hier ř71–ř7ř. Eine Beschreibung der Figur, allerdings ohne auf den Schrei Isaaks einzugehen, bei RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 99. Vgl. P. G. Hҿяћђџ, „Studien über die Benutzung der Antike in der Renaissance“, in: Monatshefte für Kunstwissenschaft 2 (1909), 267–280, hier 270f.; KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 281f., Anm. 15; EљіѠюяђѡѡю Cіќћі LіѠђџюћі, in: Materia e ragionamenti (Anm. 15), 66; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 1ř1.
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etwa Giotto di Bondones (um 1267Ȧ75–1řř7) „Opfer Joachims“ von um 1ř0ř bis 1ř05 in der Arenakapelle in Padua für ein jüdisches „Brandopfer“ schon gezeigt hatte (Abb. 8), bei dem das Gerippe eines Opfertieres auf dem von unten befeuerten Altar zu Asche verglüht, während der beim Verbrennen des Opfers entstandene schwarze Rauch zum Himmel abzieht.Ⱥ78 Wer dieses Bild kannte, muß vor Brunelleschis Relief ganz plastisch vor Augen gehabt haben, was Isaaks Körper drohte. So wie Isaaks Körperhaltung auf die Darstellung entsetzlicher Todesangst zugespitzt ist, steigert sich die Darstellung opferbereiten Glaubens in der Figur Abrahams zum Äußersten.Ⱥ79 Abrahams Augenbrauen ziehen sich in der Mitte zusammen und werfen sich zu einer Wulst auf, unter der die Augen voranstarren. Der Mund ist verkniffen, die heruntergezogenen Mundwinkel künden von grimmiger Entschlossenheit, zeigen aber auch einen Zug von Bitterkeit. Da der Schwerpunkt des Körpers Abrahams weit vor den mittleren Standpunkt der gesamten Figur verlagert ist, unterstützt die Suggestion einer energischen Gesamtbewegung die Wucht seines entschlossenen Zupackens. Das Flattern des Mantels in Gegenrichtung der Bewegung steigert die dynamische Wirkung. Mitten in dieser Aktion trifft Abraham der Blick des Engels, der vor seinen Augen aus einer Wolke erscheint.Ⱥ80 Betont ruhig schwebt der Bote Gottes der heftigen Aktion Abrahams entgegen und blickt dem wild Entschlossenen gelassen in die Augen. Ähnlich wie bei Ghiberti scheint Isaak den Engel zu erblicken, doch bei Brunelleschi bemerkt ihn auch Abraham. Durch die fast horizontale Ausrichtung seines Herangleitens und die in weichem Bogen bewegten Falten seines Pluviales wirkt die konzentrierte Ruhe des Engels besonders kraftvoll und souverän. Gleichgroß proportioniert wie die übrigen Figuren des Reliefs, erscheint der himmlische Bote dadurch viel machtvoller als der so wuchtig agierende Abraham. 78
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Gіќѡѡќ ёі Bќћёќћђ, Das Opfer Joachims, um 1ř0ř–1ř05, Fresko, Padua, Arenakapelle (BђљљќѠі, Giotto [Anm. ř4], Abb. 58); vgl. auch MђіѠѡђџ ѣќћ VђѠѐќѣіќ, Opfer Abrahams, um 1280, Fresko, Vescovio, S. Maria (Gіќѣюћћі Pџђѣіѡюљі, Giotto e la sua bottega, Mailand 1967, Abb. 12; vgl. RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs [Anm. 2], 152, mit Hinweis auf Brunelleschis Relief); Opfer Abrahams, byzantinisch, Mosaik, Monreale, Dom; Pіђѡџќ Cюѣюљљіћі, Opfer Abrahams, Fresko, Assisi, S. Francesco, Oberkirche (SѝђѦюџѡ ѣюћ Wќђџёђћ, Iconography [Anm. 2ř], Abb. 18); MђіѠѡђџ Bђџѡџюњ ѣќћ Mіћёђћ, Opfer Abrahams, Schauseite des Grabower Altares, 1ř79, Tafelmalerei auf Holz, Hamburg, Kunsthalle; zur ikonographischen Tradition dieser Altarform in Darstellungen des Opfers Abrahams in der italienischen Kunst seit dem 12. Jahrhundert vgl. auch ebd., 2řř; ѣќћ Eџѓѓю, Genesis [Anm. 22], Bd. 2, 179f.). Zu dieser Figur vgl. RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 94–96. Zu dieser Figur vgl. ebd., 96f.
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Fest und ohne Eile durchbricht der Engel mit weit ausgestrecktem Arm Abrahams Schlachtbewegung. Wenngleich der Bewegungszusammenhang physikalisch und anatomisch nicht mit letzter Konsequenz nachvollziehbar ist, so ist doch die Suggestion deutlich, daß die Linke des Engels sichtlich mühelos das rechte Handgelenk Abrahams umgreift, es nach oben hebt und reliefeinwärts von Isaaks Hals wegschiebt. Dadurch knicken Arm und Hand Abrahams so ab, daß dem mit der gesamten Körperwucht des mächtigen Abraham angesetzten Messer im letzten Moment jede Wirkung genommen wird. Brunelleschi war diese ebenso komplexe wie eindrucksvolle Konstellation so wichtig, daß er die Hand des Engels mit der gesamten Figur Abrahams verbunden aus einem Stück goß.Ⱥ81 Im Zusammenhang mit der Gesamtbewegung Abrahams schien das Messer zum Abstechen oder zum Schächtschnitt bereit. Vom Griff des Engels an Abrahams Handgelenk aus beurteilt, hängt Abrahams Hand mit dem Messer jetzt nur noch kraftlos herab. Der Griff ans Handgelenk – seit der Antike eine konventionalisierte Geste wohlmeinenden machtvollen Eingreifens Gottes in die menschliche SelbstbestimmungȺ82 – garantiert, daß der Engel die Gefahr machtvoll abwendet. Die tödliche Bewegung kann Abraham in dieser Haltung nicht mehr führen. Das von einem Widerlager ausgelöste doppelte Abknicken von Hand und Arm bekräftigt dabei die Suggestion, daß Abraham das Messer tatsächlich schon an der Kehle Isaaks angelegt hat und nur noch den schnellen Schnitt oder Stich hätte ausführen müssen. In Brunelleschis Relief wird das Opfer erst abgebrochen, als Isaak – zumindest in der Vorstellung des Betrachters – das Messer schon an seiner Kehle spürt. So verdichtet Brunelleschis Relief in der Interaktion der Hände rund um Isaaks Kopf die Handlungsabfolge des biblischen Textes: Abraham hat seine linke Hand ausgestreckt und mit der Rechten das Messer genommen, um in diesem Augenblick „seinen Sohn zu schlachten“ (Gen 22,10). Aus der himmlischen Wolke wendet sich der Engel „vom Himmel“ (Gen 22,11) direkt an Abraham und blickt ihm in die Augen. Den Befehl, die Hand nicht nach dem Jungen auszustrecken und ihm nichts zuleide zu tun (Gen 22,12), stellt in Brunelleschis Relief das wirksame Eingreifen ganz handgreiflich vor Augen. Der Engel wird als Inbegriff der Interventionsmacht Gottes für Abraham nicht nur sichtbar, sondern auch körperlich spürbar.
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Ebd., 8ř. Vgl. die Beispiele und Literaturhinweise bei ёђ CѕюѝђюѢџќѢєђ, Einführung (Anm. ř6), 26f.
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Abb. 7: Fіљіѝѝќ BџѢћђљљђѠѐѕі, Das Opfer Abrahams (Detail: Ansicht des rechten Knechtes von links), Florenz, Museo Nazionale del Bargello.
Abb. 8: Gіќѡѡќ ёі Bќћёќћђ, Das Opfer Joachims, um 1ř0ř–1ř05, Fresko, Padua, Arenakapelle.
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Der biblische Text braucht nicht ausdrücklich auszusprechen, daß Abraham dem Befehl des Engels gehorcht. Die Verneinung in der Anweisung des Engels reicht eigentlich bereits, um in aller Kürze verständlich zu machen, daß Abraham das Opfer ebenso gehorsam abbricht, wie er bereit war, es zu vollziehen. Erst einige Zeilen danach wird die Wirkung und Geltung des göttlichen Befehls bestätigt, indem Abraham „seine Augen erhebt“ und den Widder „an Stelle seines Sohnes“ zum Brandopfer darbringt (Gen 22,1ř). Wenn man aber in einem visuellen Medium die biblische Formulierung „um seinen Sohn zu schlachten“ derart bedrohlich und erschütternd umsetzt, wie Brunelleschi es im Ansetzen des Messers und im Schrei Isaaks tut, hätte es nicht mehr ausgereicht, einen bloß aus der Distanz vom Himmel hinabrufenden Engel zu zeigen, um zugleich den Abbruch der Schlachtung glaubhaft zu motivieren. In einem visuellen Medium erfordert die handgreifliche, körperliche Zuspitzung der Bedrohung eine ebenso handgreifliche Umsetzung des bloß sprachlich negierenden Befehls des Engels in ein körperliches Durchbrechen der Schlachtbewegung. In diesem verkörperlichenden Transfer der verbalen Negation in die visuelle Präsentation eines physischen Eingreifens des Engels konnte Brunelleschi zwar auf ältere ikonographische Muster zurückgreifen, in denen die Hand Gottes oder der Engel Abraham gelegentlich in den Arm fällt oder ans Handgelenk faßt.Ⱥ8ř Im Medium Relief, in dem man die Komposition im Wachsbozzetto aus separat modellierten Figuren entwickeln kann, lag der Einsatz dieser verkörperlichenden Übersetzung des Zurufs in ein physisches Eingreifen aber zudem besonders nah und ist in diesem plastischen Medium für den Betrachter auch ganz unmittelbar miterlebbar. Auch in der Figur Abrahams deutet Brunelleschi den Umschlag von der Darstellung des Opfers zur Rettung an. Entsprechend dem ihm 8ř
Das Opfer Abrahams, um 1ř60, Neapel-Bibel, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1191, fol. 11; Hamilton-Bibel, Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett, M.s. Eř, f.4 (vgl. BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi [Anm. 4], řř, Abb. 18f., mit Verbindung zu Brunelleschis Relief); Fresken des 14. Jahrhunderts in der Accademia Patavina in Padua und in Vertemate bei Como (vgl. Cџђієѕѡќћ Gіљяђџѡ, „The Smallest Problem in Florentine Iconography“, in: Essays presented to Myron P. Gilmore, hg. v. Sђџєіќ BђџѡђљљіȦGљќџію RюњюјѢѠ [Villa i Tatti 2], Bd. 2, History of Art. History of Music, Florenz 1978, 19ř–205, hier 204, Anm. 16; mit Verbindung zu Brunelleschis Relief); vgl. auch die Darstellungen, in denen der Engel das Schwert mit der Hand aufhält, das Abraham dort entsprechend der Vulgata-Übersetzung gegen seinen Sohn führt (zu diesem Motiv vgl. MҦљљђџ, Abraham [Anm. ř8], 85, sowie Abb. 1 und 2). Vgl. auch die frühchristlichen Beispiele des Griffs der Hand Gottes an Abrahams Arm bei Pюћђљљі, Ikonographie (Anm. 22), 121f.
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geltenden Zuruf des Engels „Abraham, Abraham!“ und seiner Antwort „Hier bin ich“ (Gen 22,11) hebt Abraham den Kopf leicht an und scheint den Blick des Engels schon zu erwidern. Nur sehr zurückhaltend hat Brunelleschi diese Geste allerdings angedeutet, um nicht den für die Zuspitzung auf Isaaks Schrei so wichtigen Eindruck zu stören, daß Abraham in bedingungslosem Glauben entschlossen ist, seinen Sohn tatsächlich zu schlachten. Mit der Rechten führt der Engel mit der gewölbt ausgestreckten Handfläche schließlich den Widder in einem damals geläufigen ZeigegestusȺ84 als Ersatzopfer vor. Subtil macht Brunelleschi dabei sinnfällig, daß das Tier an Isaaks Stelle geopfert werden wird (Gen 22,1ř): Der Hals des Bockes biegt sich ähnlich wie der Hals Isaaks, und aus der Distanz zielt das an Isaaks Kehle ansetzende Messer auf den Hals des Widders, genau auf die Stelle, an der das Knie Isaaks auf den Hals des Widders weist und diese einander dort fast berühren, wo bei der anschließenden Opferung des Widders bald darauf das Schlachtmesser ansetzen wird.Ⱥ85
Brunelleschis Auslegung Wenn Brunelleschi den Wortlaut der biblischen Vorlage verläßt, indem er Abraham das Messer schon an Isaaks Kehle legen, Isaak schreien und den Engel physisch eingreifen läßt,Ⱥ86 akzentuiert er bestimmte Aspekte des biblischen Berichts von Abrahams Opfer und legt den biblischen Text in charakteristischer Zuspitzung aus. Zwar bereiten literarische und visuelle Vorläufer diese Motive vor, doch drastischer als je zuvor ist bei Brunelleschi in dieser Verdichtung die Todesnähe betont. Die Vorläufer des hierin sichtbaren Gedankens reichen weit zurück. Wo der Engel im kanonischen Bibeltext Abraham befiehlt, seine Hand nicht nach Isaak auszustrecken (Gen 22,12), verbietet er in manchen vorkanonischen, in Byzanz verbreiteten Fassungen des Alten Testaments ausdrücklich das Anlegen des Messers und ruft dabei die Vorstellung von dessen physischer Nähe wach: „lege nicht das Messer an den Jun-
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Zu dieser Geste vgl. Mіѐѕюђљ Bюѥюћёюљљ, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Sonderausg. Frankfurt a. M. 1987 (engl. Orig. 1 1972), 79. Vgl. auch BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), ř8. Gegen Brunelleschis Abweichen vom biblischen Text polemisiert Pђџџіє, Paradiestür (Anm. 59), 21.
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gen und tu ihm nichts.“Ⱥ87 Gregor von Nyssa (um řř5–ř94) hat dann in seiner Abrahamspredigt dieses dem kanonischen Bibeltext nicht zu entnehmende drastische Motiv in einer Beschreibung von Gemälden des Opfers Abrahams zu dem Eindruck eines zugespitzten Augenblicks ausgebaut: Isaak befindet sich vor dem Vater soeben auf dem Opferaltar, auf die Knie gegangen, die Hände auf dem Rücken verschränkt; er [Abraham] aber hat sich nach einem Kniefall auf beide Füße erhoben, zieht mit der linken Hand das Haar des Knaben zu sich heran, beugt sich hin zu seinem Gesicht, der erbarmungswürdig zu ihm aufblickt, streckt die mit dem Dolch bewaffnete Rechte zur Schlachtung aus [Gen 22,10] – und schon berührt die Spitze des Dolches den Leib: da ergeht an ihn von Gott her die Stimme, die das Werk aufhält [Gen 22,11f.].Ⱥ88
Entsprechend der homiletischen Anwendung von Ekphrasen, in der es vor allem um eine verlebendigende Betrachtung von Bildern zur Steigerung der Emotionalität einer Predigt geht, bezieht sich Gregor in seiner Predigt auf eine vor allem in der byzantinischen Malerei verbreitete Variante der Opferdarstellung. Abraham hat dort die Kehle Isaaks zum Schlachten freigelegt, indem er den Kopf seines Sohnes an den Haaren nach hinten zurückreißt und in den Nacken biegt. Dabei kehrt sich Isaaks Gesicht ähnlich wie bei Brunelleschi nach oben zum Himmel. Abrahams Messer zielt dort tatsächlich oftmals auf Isaaks Hals und scheint die Kehle gelegentlich sogar schon zu berühren, wobei wie bei Brunelleschi die Spitze verdeckt bleibt (Abb. 9).Ⱥ89 87
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So etwa in der „Historischen Palaia“, einer vorkanonischen Fassung des Alten Testaments, die mit alten Quellen durchsetzt ist, zitiert bei Rюіћђџ Sѡіѐѕђљ, „Außerkanonische Elemente in byzantinischen Illustrationen des Alten Testaments“, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 69 (1974), 159–181, hier 167; vgl. auch den Hinweis auf diese Variante in einem griechischen Manuskript des 12.–1ř. Jahrhunderts, das im 16. Jahrhundert in Konstantinopel nachgewiesen ist, sowie in einer gleichlautenden Inschrift auf einem Gemälde in Balleq Kilissé bei G. ёђ Jђџѝѕюћіќћ, „Une variante isolée dùn manuscript confirmée par l’épigraphie“, in: Biblica. Pontifico Istituto Biblico Roma ř (1922), 444f. Das Motiv wird auch in der rabbinischen Literatur überliefert: „Als das Schwert seine Kehle berührte […]“ (zitiert nach Sѕюљќњ Sѝіђєђљ, The Last Trial. On the Legends and Lore of the Command to Abraham to Offer Isaac as a Sacrifice. The Akedah, New ork 1979, ř1, Anm. 1ř). Gџђєќџ ѣќћ NѦѠѠю, „De deitate filii et spiritus sancti et in Abraham“, hg. v. EџћђѠѡѢѠ Rѕђіћ, in: Gregorii Nysseni Sermones, Bd. III (Gregorii Nysseni Opera 10Ȧ2), LeidenȦ New orkȦKöln 1996, 115–144; zitiert nach der deutschen Übersetzung von Tѕђќёќџ Mюѕљњюћћ im vorliegenden Band (s. u., 778f.); siehe auch unten den Beitrag von Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ, 195. Das Opfer Abrahams, Buchmalerei, Histoire Universelle, London, British Library Add. 15268, fol. ř0v (Detail) (SѐѕѤюя, Verständnis [Anm. 48], 454f., Abb. 74b; vgl. auch
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Das Motiv der an der Kehle schon ansetzenden, dem Betrachter aber durch Überlagerung verborgenen Spitze des Schlachtmessers treibt Brunelleschi über solche literarischen und ikonographischen Vorläufer noch hinaus, indem er die Unsicherheit, ob der Todesschnitt nicht vielleicht doch schon ausgeführt ist oder soeben geschehe, in der gesamten Mimik und Bewegung seiner Isaakfigur suggestiv steigert. Zusammen mit dem unter Isaak schon brennenden Opferfeuer spielt Brunelleschi hierbei in letzter Radikalität möglicherweise sogar mit Varianten der Schilderung des Abrahamsopfers, die in manchen rabbinischen Schriften den biblischen Bericht ergänzen: Zur Sühne und Erlösung Israels sei die Opferung Isaaks tatsächlich teilweise blutig oder sogar vollständig vollzogen worden. Isaaks Blut sei vergossen worden. Er sei – so die radikale Annahme etwa der Pirqe des Rabbi Eliezer (8. ? Jh. n. Chr.) – tatsächlich gestorben. Sein Leichnam sei zu Asche verbrannt. Erst dann sei Isaak, wie von Abraham glaubend erhofft, zum Lohn für die bestandene Prüfung seinem Vater wiedererweckt und zurückgegeben worden.Ⱥ90 Da diese Betonung des Leidens oder sogar Todes Isaaks ein wichtiges Argument für die rabbinische Annahme eines Sühnopfers ist, durch das Isaak die Entsühnung Israels erwirkt habe,Ⱥ91 diente die Behauptung, das Opfer sei vollbracht worden, nicht zuletzt dazu, dem christlichen Glauben an die einzigartige Erlösungstat Jesu etwas entgegenzusetzen. In der rabbinischen Tradition wird auch die Todesfurcht Isaaks ausdrücklich angesprochen. So bittet Isaak seinen Vater in dem bereits genannten palästinischen Targum, vor der Opferung gebunden zu werden,
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ebd., Abb. 74a. 69c); mit mehr Abstand zwischen der Spitze des Messers und der Kehle Isaaks findet sich das Motiv auch in: Opfer Abrahams, Mitte 12. Jahrhundert, Mosaik, Palermo, Capella Palatina (Oѡѡќ DђњѢѠ, The Mosaic of Norman Sicily, London 1949, Abb. ř4; vgl. RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs [Anm. 2], 11ř. 150f., Abb. ř1 [dort im Zusammenhang sowohl mit Ghibertis wie mit Brunelleschis Relief]); vgl. auch das Opfer Abrahams, Buchmalerei, Paris, Bibl. Nat. Cod. Graec. 510, fol. 174v (HюћѠJҿџєђћ GђіѠѐѕђџ, „Heidnische Parallelen zum frühchristlichen Bild des Isaak-Opfers“, in: JAC 10 [1967], 127–144, hier 128, Tfl. 1řa; zu diesem Typus und seiner Bedeutung für Gregor von Nyssa vgl. SѝђѦюџѡ ѣюћ Wќђџёђћ, Iconography [Anm. 2ř], 228. 2řř. 24ř–255, Index 14; ѣќћ Eџѓѓю, Genesis [Anm. 22], Bd. 2, 178). Wenige Jahre nach Brunelleschis Relief findet sich in der persischen Buchmalerei eine noch direktere Darstellung des Schächstens, in der das Messer an der Kehle angesetzt ist: Opfer Abrahams, um 1425, Miniatur, Hюѓіѧ-і AяџѢ, Majma al-Tawarikh, Herat, Khorasan (Sѝіђєђљ, Trial [Anm. 87], Frontispiz). Vgl. ebd., ř0–ř7. 48f. u. a.; Sѐѕњіѡѧ, Aqedat (Anm. 48), 156f.; ѣќћ Eџѓѓю, Genesis (Anm. 22), Bd. 2, 148; KѢћёђџѡ, Bindung (Anm. ř1), Bd. 1, 104–106. 12ř. 171–174; Bd. 2, passim (siehe Index „Isaak: Asche“ etc.); DюѠѠњюћћ, Bindung (Anm. 44), 1–18, hier 5; KђѠѠљђџ, Bound (Anm. 45), 126–129; siehe auch unten den Beitrag von Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ, 226. S. o. Anm. 48.
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damit er, wenn er das Messer sehe, nicht doch gegen seine Opferung ankämpfe und zittere „wegen der Angst meiner Seele“. Da bei einem zappelnden Opfer ein Fehlschnitt zu befürchten sei, der bloß verletzen würde, ohne zu töten, drohe ohne Fesselung das Opfer insgesamt zu mißlingen. Die biblischen Reinheitsvorschriften forderten nämlich, Jahwe nur ein makelloses, d. h. unverletztes Opfertier darzubringen (Lev 1,ř; Dtn 15,21 u. a.). Ein Fehlschnitt hätte das gesamte Opfer also wertlos gemacht. Groß erscheint daher etwa im genannten Targum Isaaks Sorge, wegen der naturgemäß zu erwartenden und selbst bei größter Standhaftigkeit kaum vermeidbaren unmittelbaren Todesangst die vorschriftsmäßige Ausführung des Opfers zu vereiteln, zwar getötet zu werden, ohne aber von Gott als Opfer angenommen werden zu können, letztlich also als unreines Opfertier verworfen und in die Aschengrube geworfen zu werden (Lev 4,12).Ⱥ92 Der Midrash Lekah Tob (ca. 11. Jh.) beschreibt dann sogar, daß bei Isaak im Todesmoment tatsächlich Todesfurcht eingetreten sei, als Isaaks Seele den Körper verlassen habe.Ⱥ9ř In der Mischna nach der Version des Jerusalemer Talmud ist im Zusammenhang mit dem Opfer Abrahams sogar davon die Rede, daß Jahwe „die Stimme eures Schreiens hören werde. In Eretz Israel erlöst er Israel.“Ⱥ94 Der rabbinischen Überlieferung steht Brunelleschis Spiel mit dem Eindruck, Isaak sei möglicherweise tatsächlich geschlachtet worden, und mit der Schilderung von Isaaks Leiden sowie besonders mit dem alles durchgellenden Schrei Isaaks motivisch zunächst also näher als der überlieferten christlichen Auffassung. In der antik- bzw. mittelalterlich-christlichen Tradition finden sich solch explizite Hinweise auf Isaaks Leiden oder gar Tod nicht. Jede Überbetonung des Leidens Isaaks oder gar die Annahme, er sei tatsächlich physisch geopfert worden, hätte das typologische Verhältnis zwischen dem Opfer Abrahams und der Einzigartigkeit des Kreuzesopfers Jesu gefährdet. Nur das Kreuzesopfer kann im christlichen Glauben als vollbrachtes Erlösungsopfer gelten. Das Opfer Abrahams kann auf dieses nur vorverweisen, es aber nicht ersetzen. So hatte etwa schon ein Melito von Sardes zugeschriebenes Fragment in Abgrenzung gegen jüdische Auffassungen formuliert: Christus aber litt, Isaak dagegen litt nicht; denn er war ein Typus des künftigen Leidens Christi. […] Isaak aber schweigt, gefesselt wie ein Widder, 92
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Lђ DѼюѢѡ, Targum (Anm. 45), 219; vgl. KђѠѠљђџ, Bound (Anm. 45), 12řf.; zu demselben Gedanken im Midrash Tanchuma (8.Ȧ9. Jh.) vgl. ѣќћ Eџѓѓю, Genesis (Anm. 22), Bd. 2, 147. Vermutlich von dieser rabbinischen Tradition ausgehend formulieren mohammedanische Legenden, daß Isaak und sein Vater vor der Opferung geweint hätten (al Suddi; vgl. FіџђѠѡќћђ, Journeys [Anm. 57], 117). zitiert bei Sѝіђєђљ, Trial (Anm. 87), ř2, Anm. 16, mit weiteren Quellen. KѢћёђџѡ, Bindung (Anm. ř1), Bd. 2, ř5. 41.
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seinen Mund tut er nicht auf, noch gibt er einen Ton von sich. Denn [weder] fürchtete er sich vor dem Schwert, noch ängstigte er sich vor dem Feuer, noch war er betrübt, daß er leiden sollte, [sondern] standhaft trug er den Typus des Herrn.95
In seiner Andeutung der tatsächlichen Tötung Isaaks und in der Betonung des Leidens im Todesaugenblick scheint sich Brunelleschi prima vista also von der christlichen Deutung des Abrahamsopfers zu entfernen und der rabbinischen Tradition anzunähern. Auch ohne wortwörtliche Vorformulierungen läßt sich diese Zuspitzung des Opfers jedoch durchaus auch im Sinne der patristischen Auslegungsintention betrachten, die in Isaaks Opferung nicht ein Sühnopfer, sondern vor allem die typologische Ankündigung des Erlösungsopfers Jesu erkannte und ansonsten auf Abrahams glaubensstarkes Bestehen der göttlichen Prüfung als Vorbild in Glauben und Gehorsam fokussierte. Denn gerade der vor Brunelleschi kaum dargestellte furchtbare Schrei Isaaks,Ⱥ96 in dem die anderen überraschenden Motive des Reliefs kulminieren, bringt eine neu begründete typologische Betrachtung des Opfers Abrahams ins Spiel. Während nämlich in der biblischen Erzählung vom Opfer Abrahams kein Schrei vorkommt, gipfelt die typologisch verbundene Passion Jesu in einem Schrei: „Jesus aber stieß einen lauten Schrei aus und hauchte seinen Geist aus“ (Mt 27,50).Ⱥ97 Darstellungen der letzten Äußerungen Jesu am Kreuz finden sich im Mittelalter zwar nur selten, doch wurde der dramatische Todesaugenblick Jesu bei jeder Darstellung des Gekreuzigten mitgedacht und mitempfunden. Die andauernde Präsenz dieser Vorstellung zeigt sich etwa daran, daß die wenigen Darstellungen, die Jesus mit offenem Mund zum Himmel sich wendend zeigen, im 1ř., 14. und frühen 15. Jahrhundert unabhängig voneinander an verschiedenen Stellen Europas auftreten und doch jeweils dieselben Worte Jesu hinzufügen, die dem Schrei unmittelbar vorausgingen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mt 27,45) (Abb. 10).Ⱥ98 95
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Mђљіѡќ ѣќћ SюџёђѠ, Cat. in Gen Frg. 1 [Frg. 9] (zitiert nach Lђџѐѕ, Opferung [Anm. 4ř], 29f.; vgl. Wіљјђћ, Melito [Anm. 4ř], 64; ѣќћ Eџѓѓю, Genesis [Anm. 22], Bd. 2, 150; siehe auch AѢєѢѠѡіћѢѠ, Civ. Dei 16,ř2). Eine Ausnahme bildet das Opfer Abrahams, Bible moralisée, Paris, um 12ř0, Toledo, Bibl. del Cabildo, Bd. 1, fol. 1r (Aљђѥюћёџђ ёђ Lюяќџёђ, La Bible moralisée conservée à Oxford, Paris et Londres, 5 Bde., Paris 1911–1927, Abb. 627; mit Bezug zu Brunelleschis Relief bei RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs [Anm. 2], 15ř). Vgl. auch Mt 27,46.50; Mk 15,ř4.ř7; Lk 2ř,46. Jesus am Kreuz, Buchmalerei, Bible moralisée, Paris, um 12ř0, Toledo, Bibl. del Cabildo, Bd. ř, fol. 65v (ёђ Lюяќџёђ, Bible [Anm. 96], Abb. 645); Jesus am Kreuz, England, Anfang 14. Jh., Buchmalerei, Holkham-Bibel, London, Brit. Mus. Add. 47682, fol. ř2v (Wіљљіюњ O. HюѠѠюљљ, The Holkham Bible Picture Book, London 1954, 1řř–1ř5); Kreuzi-
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Mit dem durch das Relief gellenden Schrei Isaaks spitzt Brunelleschi den Bezug zwischen Typus und Antitypus also im Rekurs auf den Augenblick unmittelbar vor dem Todesmoment als vertrautes Wahrnehmungsmuster eines Kulminationspunktes des Neuen Testaments zu und treibt so die Entsprechungen zwischen dem Opfer des Alten und dem des Neuen Testaments bis in unmittelbare Todesnähe. Mit Isaaks Schrei werden zugleich der sich umkehrende Diener und der Betrachter selbst gleichsam zu typologischen Vorläufern der Zeugen am Fuße des Kalvarienberges. Gerade in diesem Moment setzt Brunelleschi aber ganz im Sinne der christlichen Deutung den Unterschied zwischen Isaak, der nicht geopfert wird, und Jesus an, der das Erlösungsopfer vollbringt. Denn in diesem Augenblick bietet der Engel den Widder als Ersatzopfer für den in Todesangst schreienden Isaak sichtlich im Zeichen des Kreuzes an. Ein Kreuz auf der Mantelschließe des EngelsȺ99 macht dabei nämlich deutlich, in wessen Namen und auf welches Verdienst hin der Engel Isaak rettet: Selbst in der bei Brunelleschi weit vorangetriebenen Opferung vollbringt Isaak kein Sühnopfer, sondern verdankt vielmehr sogar seine eigene Erlösung aus höchster Todesnot letztlich der Erlösungstat Jesu am Kreuz, in dessen Zeichen der Engel im letzten Moment eingreift und das Ersatzopfer vorführt. Ganz in diesem Sinne hatte Gregor von Nyssa den Engel, der das Opfer Abrahams unterbrach, sogar mit dem Sohn Gottes selbst identifiziert.Ⱥ100 Auch die von Brunelleschi inszenierte räumliche und gestische Nähe des Widders zu Isaak, besonders das parallele, opferbereite Zurückbiegen seines Nackens, fordern dazu auf, sich zum einen die Entsprechungen, zum anderen die Differenzen zwischen Jesus und Isaak zu vergegenwärtigen. Der Widder wurde in der typologischen Deutung immer wieder als Typus für die menschliche Natur Christi angesehen, da er ja tatsächlich als Ersatzopfer für Isaak getötet wurde, wie die menschliche
gung, Tafelmalerei auf Holz, Niederlande, um 1400, Baltimore, Walkers Art Gallery (Rђіћђџ HюѢѠѠѕђџџ, Michelangelos Kruzifixus für Vittoria Colonna. Bemerkungen zu Ikonographie und theologischer Deutung [Wissenschaftliche Abhandlungen der RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften 44], Opladen 1971, 27, Abb. 2ř); weitere Beispiele unter anderem aus Schweden, Utrecht oder Ulm ebd., 24–26, Abb. 1ř; zur ikonographischen Tradition vgl. ebd., 2ř–28. 99 Das Detail bemerkt RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 97. 100 Siehe die Übersetzung von Tѕђќёќџ Mюѕљњюћћ in vorliegendem Band (s. u., 779); vgl. HђіѡѕђџȦRђђњѡѠ, Abraham (Anm. ř8), 166. Grundlage hierfür war sicherlich, daß Jesus selbst erklärt, daß er vor Abraham schon da war (Joh 8,56; siehe auch unten den Beitrag von Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ, 222).
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Abb. 9: Das Opfer Abrahams (Detail), Buchmalerei, Histoire Universelle, London, British Library Add. 15268, fol. ř0v.
Abb. 10: Jesus am Kreuz, England, Anfang 14. Jh., Buchmalerei, Holkham-Bibel, London, Brit. Mus. Add. 47682, fol. ř2v.
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Natur Christi zur Erlösung der Menschheit am Kreuz starb.Ⱥ101 Brunelleschi betont den typologischen Bezug des Widders zu Jesu menschlicher Natur noch durch das eigentümliche Motiv, daß sich der Widder mit dem Hinterlauf am Kopf kratzt, um sich aus dem Gestrüpp zu befreien. Diese Bewegung spielt wohl auf die Dornenkrone Jesu an, die Tertullian (150–2ř0) und Augustinus in typologischem Bezug zu dem Widder aus Gen 22,1ř sahen, da sich dieser laut Vulgata an einem Dornbusch (inter vepres) verfangen hatte.Ⱥ102 Daß der Widder den Typus des am Kreuz vollzogenen Kreuzesopfers Christi bedeutet, während Isaak nicht starb, macht Brunelleschi in einem für heutige Religiosität sicher etwas befremdlichen Detail sinnfällig. Durch das Hochheben des am Kopf kratzenden Hinterlaufs des Widders – ein Motiv, das zuerst in einem aus der Werkstatt des Arnolfo di Cambio (tätig 1265–1ř01) stammenden Relief von der direkt gegenüber dem Baptisterium liegenden Fassade des Florentiner Domes und dann variiert in Nicola Pisanos (um 1220 bis um 1287) Weihnachtsdarstellung von der Baptisterienkanzel in Pisa vorkommtȺ10ř – wird nämlich das ausgereifte Geschlecht des Tieres sichtbar. Pointierend führt Brunelleschi so den Alters- und Reifeunterschied zwischen dem erwachsenen Tier und seinem auch in dieser Hinsicht noch knabenhaften Isaak vor. Ganz so kommentierte Melito von Sardes den Unterschied zwischen dem für ein selbständig dargebrachtes Sühnopfer noch zu jungen Isaak und dem tatsächlich das Erlösungsopfer vollbringenden erwachsenen Jesus anhand des Altersvergleichs von Widder und Isaak: „Denn er sagt nicht ‚Lamm‘, ein junges, wie Isaak, sondern ‚Widder‘, wie der Herr, erwachsen.“Ⱥ104 Selbst in der Entsprechung seiner Todesangst zu derjenigen Jesu kann der noch kindliche Isaak auch bei Brunelleschi kein Sühnopfer vollbringen. Die Vollendung des Erlösungswerkes im Opfertod bleibt dem erwachsenen Jesus vorbehalten, dessen Kreuzestod im Opfer Abrahams zwar typologisch angekündigt wird, nicht aber durch dieses er101 So etwa Origenes, Hom. in Gen 8; vgl. ѣќћ Eџѓѓю, Genesis (Anm. 22), Bd. 2, 150f. 182f. Siehe auch oben Anm. 49. 102 TђџѡѢљљіюћ, Adv. Iud. 1ř,21; AѢєѢѠѡіћѢѠ, Civ. Dei 16,ř2; vgl. ѣќћ Eџѓѓю, Genesis (Anm. 22), Bd. 2, 18ř; vgl. auch SћќѤ-Sњіѡѕ, Spinario (Anm. 65), 160. 10ř Werkstatt des Arnolfo di Cambio, Verkündigung an die Hirten, Relief, Florenz, Museo dell’Opera del Duomo (zur Vorbildhaftigkeit dieses damals an der Fassade des Domes von Florenz befindlichen Reliefs für Rubens Kќіѐѕі TќѦюњю, „Brunelleschi’s ram“, in: Burlington Magazine 1ř6Ȧ1101 [1994], 8ř2–8ř4, Abb. 52); Nіѐќљю PіѠюћќ, Geburt Christi, 1259–1260, Marmorrelief, Kanzel, Pisa, Baptisterium (Pќѝђ-HђћћђѠѠђѦ, Introduction [Anm. řř], Bd. 1, Fig. 2; vgl. FюяџіѐѧѦ, Brunelleschi [Anm. 4], 16; AћёџђѠ, Florence [Anm. 15], Bd. 1, ř66; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs [Anm. 2], 128). 104 Mђљіѡќ ѣќћ SюџёђѠ, Cat. in Gen Frg. 4 [Frg. 12] (zitiert nach Lђџѐѕ, Opferung [Anm. 4ř], ř5).
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setzt werden kann. Die menschliche Natur Christi, der am Kreuz stirbt, ist bei Brunelleschi im sichtlich erwachsenen Widder um so markanter präfiguriert, der ja als Ersatzopfer schon Isaaks Rettung besiegelte, nicht aber in Isaak, auch wenn dieser wie der sterbende Jesus Christus in höchster Todesnähe schreit. Bedenkt man das um 1400 vorhandene Wissen um die Affektpsychologie, so muß unabhängig von dem typologischen Bezug auf Jesu Schrei am Kreuz ein im Todesmoment schreiender Isaak, wie Brunelleschi ihn zeigt, ohnehin die von Melito von Sardes und anderen vertretene Auffassung, Isaak habe seine Opferung willentlich und standhaft ertragen, nicht grundsätzlich in Frage gestellt haben. Die stoische Ethik, die auch in Florenz um 1400 ausgiebig rezipiert wurde,Ⱥ105 differenziert nämlich ausdrücklich zwischen unwillkürlichen, daher unvermeidlichen und somit ethisch weder guten noch schlechten emotionalen Spontanreaktionen und dauerhaften, dem menschlichen Willen prinzipiell zugänglichen Affekten. Selbst größte Tapferkeit, wie sie in der christlichen Tradition auch für Isaak durchgehend angenommen wird, bewahrt etwa nach Senecas (4 v. Chr. bis 65 n. Chr.) Auffassung nicht vor körperlichen Schockwirkungen. Diese können sich bei unmittelbarer Gefahr unwillkürlich und durch den Betroffenen nicht kontrollierbar einstellen, ohne daß dies das moralische Urteil über die Tapferkeit des Betreffenden auch nur im geringsten beeinträchtigen dürfte (Ira 2,2,1–2,ř,ř).Ⱥ106 Isaaks Zittern und Zappeln in höchster Todesgefahr ist in Brunelleschis Relief in diesem Sinne entsprechend der akuten Todesbedrohung menschlich durchaus verständlich und gerade daher doch kein Beweis gegen die christliche Annahme von Isaaks tief begründeter Tapferkeit. Im Augenblick höchster Todesbedrohung steht Isaaks Angst nach stoischer Affektpsychologie als unwillkürlicher emotioneller Schub nicht im Gegensatz zu seiner unbestrittenen Tapferkeit und Standhaftigkeit. Brunelleschis Darstellung des in höchster Todesgefahr leidenden Isaak, seiner Todespanik, seines Zappelns, Zitterns und Schreiens, läßt sich mit der stoischen Dialektik von grundlegender Tapferkeit und spontanen, unkontrollierbaren Reaktionen auf höchste Bedrohungen also durchaus auch christlich lesen. 105 Vgl. etwa Jіљљ Aёџіюћ KџюѦђ, „Stoicism in the Renaissance from Petrarch to Lipsius“, in: Grotiana 22–2ř (2001Ȧ2002), ř–27. 106 Vgl. Mюѥ Pќѕљђћѧ, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 51992 (11959), Bd. 1, 54–6ř. 88. 91. 141–15ř. ř07f.; Mюѥіњіљіюћ FќџѠѐѕћђџ, „Die pervertierte Vernunft. Zur stoischen Theorie der Affekte“, in: Philosophisches Jahrbuch 87 (1980), 258–280; Bџюё IћѤќќё, „Seneca and psychological dualism“, in: Passions & Perceptions. Studies in Hellenistic Philosophy of Mind. Proceedings of the Fifth Symposium Hellenisticum, hg. v. JюѐўѢђѠ BџѢћѠѐѕѤієȦMюџѡѕю C. NѢѠѠяюѢњ, Cambridge 199ř, 150–18ř, hier 164–18ř.
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Neben dem differenzierten typologischen Bezug zu Jesu Kreuzesopfer bleibt Abrahams Glaubensstärke, die auch im Zentrum der patristischen Auslegung des Opfers Abrahams steht, das eigentliche Thema von Brunelleschis Relief.Ⱥ107 Entgegen jedem väterlichen, sogar entgegen jedem menschlichen Gefühl muß Abraham bei Brunelleschi den Todesschrei des eigenen Sohnes aushalten, ohne sein Opfer abzubrechen. Die Ungeheuerlichkeit dessen, was Gott Abraham abverlangte, und die Größe von Abrahams Gottesfurcht nimmt Brunelleschi so ernst wie kaum jemand vor ihm und führt sie dem Betrachter bis an die Grenze des Erträglichen vor Augen. Indem Brunelleschi Isaaks erschütterndes Leiden über den Wortlaut der Bibel hinaus und entgegen dem Wortlaut der christlichen Tradition so brutal vorführt, indem er den Knaben kämpfen, flüchten und schreien läßt, macht er – von der Figur Abrahams aus gesehen – eindringlich, wie tief die grausame Forderung, die Gott an Abraham stellte, jeden Menschen eigentlich treffen muß. Neben dem Schock, den die Wahrnehmung des schreienden Isaak dem Betrachter impft, reicht Brunelleschi dabei ein kaum merkliches Verziehen, ein leichtes Zittern der seitlichen Unterlippe Abrahams, um deutlich zu machen, daß der in aller Drastik vorgeführte Schrecken des Augenblicks auch den Patriarchen nicht völlig ungerührt läßt, an dessen Miene und Habitus Brunelleschi ansonsten die gläubige Entschlossenheit unstrittig ablesbar macht. In diesem mimischen Detail wird Abrahams Tapferkeit als errungene Größe verdichtet erlebbar. Das an die Kehle seines Sohnes angelegte Messer Abrahams macht die Entschlossenheit zum Opfer augenfällig. Erst angesichts der drastischen Schilderung von Isaaks Leiden und der Andeutung von Abrahams Mitleidsfähigkeit läßt sich aber wirklich ermessen, welch ungeheure Überwindungsleistung Gott von Abraham forderte. In Leid und angedeutetem Mitleid unterstreicht Brunelleschi ohne Bruch mit dem Kern der christlichen Auslegungstradition die Ungeheuerlichkeit der Versuchung Abrahams und die Erhabenheit der von Abraham aufgebrachten Affektbewältigung. In Brunelleschis Gegenüberstellung von Isaaks Leiden und Abrahams unbeirrtem Tun wird die Größe des Glaubensgehorsams kontrastiv um so bewundernswerter und deutlicher, aus dem Abraham der Versuchung widerstand, sich angesichts des Opferbefehls Gottes selbst im äußersten Moment nicht erschüttern ließ und der Versuchung nicht nachgab, Gottes unbedingtem Befehl aus Mitleid mit seinem Sohn auszuweichen. Die handgreifliche Intervention des Engels zeigt schließlich, daß solche Gottesfurcht (Gen 22,12), solche be107 Vgl. auch RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 162.
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dingungslose Bereitschaft, Gott ganz zu gehorchen und alles für ihn zu opfern, durch Gottes Rettung verläßlich belohnt wird. Mit einem schreienden Isaak, der keinen Betrachter ohne Mitgefühl lassen kann, und mit einem mitleidsfähigen Abraham radikalisiert Brunelleschi in einem sichtbaren Medium, was Gregor von Nyssa in der oben schon erwähnten Abrahamspredigt mit derselben Intention ausgeführt hatte.Ⱥ108 Der genannten Ekphrasis vorangehend führt Gregor dort nämlich detailreich sowie an die Erfahrungswelt und Vorstellungskraft seiner Zuhörer anbindend die starken naturgemäßen Gefühle vor Augen, die Abraham in der mit Gottes Versuchung geforderten Entscheidung zwischen seiner Liebe zu Gott und der Neigung zur Natur – in dieser Gegenüberstellung ist Gregor einem bei seinem Bruder Basilius (řř0–ř79) überlieferten Gedanken sehr nahe – zu überwinden hatte.Ⱥ109 Die Versuchung Abrahams durch Gott präpariert Gregor als Ungeheuerlichkeit. Seine spekulative psychische Introspektion in die Wirkung der Versuchung, die Gott Abraham zugemutet hat, steigert er bis zu bitterer Ironie, um so die Dimension der Gottesfurcht Abrahams ermeßbar zu machen. So beginnt er den eigentlichen Bericht von Abrahams Opfer mit einer Beteuerung der eigenen Ergriffenheit vor diesem Thema: „Ich zittere, während ich die Grausamkeit der Versuchung darlege.“ Denn Gott habe Abraham immer von Neuem Erschütterndes zugemutet. Zunächst erweckte er in ihm die Hoffnung auf etwas Freudenreiches, indem er ihn beim Namen rief. Dann fachte er mit den Worten „deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebhast“ (Gen 22,1f.), als „Stachel der Rede“, der den Vater im Innersten traf, in Abraham die „Flamme der Natur“ an und entzündete die väterliche Liebe, nur um Abraham mit dem Befehl, ihm diesen geliebten, einzigen Sohn zum Brandopfer zu bringen, direkt anschließend um so stärker zu treffen. Gregor folgt hier sichtlich Motiven einer Predigt des Origenes, der einen ähnlichen Gedankengang mit Ausrufen wie „Genug der Qual!“ unterbricht.Ⱥ110 Auch ein Hymnus der griechischen Kirche schließt an diesen Gedankengang an:
108 Hier wie im folgenden zitiert nach der Übersetzung von Tѕђќёќџ Mюѕљњюћћ in vorliegendem Band (s. u. 775). 109 Zu diesem Gedanken bei BюѠіљіѢѠ, Sel., or. 7 (Übers. bei HђіѡѕђџȦRђђњѡѠ, Abraham [Anm. ř8], 281); bei OџієђћђѠ, Hom. in Gen 8,2f. (OџієђћђѠȦHђіѡѕђџ, Homilien [Anm. 44], 125f.) und bei anderen Kirchenvätern vgl. Lђџѐѕ, Opferung (Anm. 4ř), 68–92; DюѠѠњюћћ, Bindung (Anm. 44), 1řf. 110 OџієђћђѠ, Hom. in Gen 8,2 (OџієђћђѠȦHђіѡѕђџ, Homilien [Anm. 44], 125f.; vgl. Lђџѐѕ, Opferung [Anm. 4ř], 50–57 u. ö.; Wіљјђћ, Christianizing [Anm. 49], 72ř–7ř1, hier 7ř0; HђіѡѕђџȦRђђњѡѠ, Abraham [Anm. ř8], 154–158, besonders 157; siehe auch unten die Beiträge von Bюџяюџю Mюѕљњюћћ-BюѢђџ, ř14–ř24 und Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ, 195).
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[…] und bring ihn mir zum Opfer. Oh, welche Qual brachte ihm dieses Wort.Ⱥ111
Mit der rhetorischen Frage, was seine Zuhörer als liebende Väter auf einen solchen Befehl hin naturgemäß empfunden hätten, bezieht Gregor deren Vorstellungskraft ausdrücklich ein.Ⱥ112 Eindrücklich schildert er natürliche Reaktionen auf eine solche Nachricht, die von Niedergeschlagenheit bis zu dem Wunsch eines Vaters reichen, lieber selbst tot zu sein, als vom Tod des eigenen Kindes hören zu müssen. So trägt Gregor vor, welche Einwände sich in Abraham aus natürlichen Vatergefühlen gegen diesen Befehl Gottes eigentlich hätten wenden müssen, um Gott von seiner furchtbaren Forderung abzubringen. Da er um den Sinn des göttlichen Befehls gewußt und ganz auf die göttliche Liebe gesehen habe, habe Abraham aber alle natürlichen Regungen verleugnet und alle affekthaften Vorstellungen verworfen, um sich ganz Gott hinzugeben. Sarah habe er von seinem Auftrag nichts gesagt, da er sich ihre überwältigenden mütterlichen Gefühle vorgestellt habe und ihm daher klar gewesen sei, daß sie der Herausforderung nicht hätte standhalten können und daß sie mit allen Mitteln das von Gott befohlene Opfer zu verhindern versucht hätte. Einen neuen Stich habe Abraham dann erhalten, als Isaak ihn beim Aufstieg auf den Opferberg in „süßer Rede“ angesprochen habe: „Vater!“ Abraham sei auch hier „nicht von Tränen erstickt“, sondern habe „mit standhafter und unbewegter Seele“ geantwortet: „Was ist, mein Kind?“ (Gen 22,7). In seinem Hinweis, Gott werde sich „das Lamm zum Brandopfer schon ersehen“ (Gen 22,8), habe Abraham zum einen dem Knaben Mut gemacht, zum anderen sein prophetisches Wissen um die sichere Errettung bekundet. Zugleich habe er mit seiner Antwort die Versuchung in seiner Seele noch verlängert. Gregor erkennt, daß sich also auch Abraham offenbar nur zu gut vorstellen konnte, daß der Knabe den furchtbaren Opferbefehl kaum würde ertragen können, so daß er seinen Sohn so lange wie möglich vor dieser Gewißheit zu schonen versucht. Um die Größe der Versuchung Abrahams zu verdeutlichen, bringt Gregor – wenn auch nur beiläufig – die sonst kaum thematisierten ängstlichen Empfindungen Isaaks sowie Abrahams Einfühlung in das Leiden seines Sohnes ins Spiel, die der biblische Bericht vage andeutet. Eine intensive spekulative Introspektion in Abrahams auf die Probe gestelltes Gemüt gibt fast zeitgleich mit Gregor auch Johannes Chrysostomos, bei dem sich dieselbe Begründung findet, warum Abraham Sarah 111 Rom. Mel., cant. ř; zitiert nach HђіѡѕђџȦRђђњѡѠ, Abraham (Anm. ř8), 174. 112 Ähnlich OџієђћђѠ, Hom. in Gen 8,7 (OџієђћђѠȦHђіѡѕђџ, Homilien [Anm. 44], 1ř0).
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nichts von dem Opferbefehl gesagt habe. In einer seiner Predigten zur Genesis stellt Chrysostomos sogar die rhetorische Frage, wie Abrahams Hand bloß dazu habe fähig sein können, das Schwert zu halten – ein bis zu Rembrandts Darstellung des fallenden Messers Abrahams nachwirkendes Motiv –, während gewiß ein inneres Feuer seinen Verstand verzehrt habe. Und doch sei es Abraham gelungen, die Frage seines Sohnes, wo denn das Opfertier sei, mit starker Seele zu beantworten.Ⱥ11ř Folgt man der introspektiven Sicht des Origenes, Gregors von Nyssa und des Chrysostomos, so blieb bis zum Eingreifen des Engels die Versuchung in Abraham präsent, zur Durchführung von Gottes Befehl den Widerspruch zwischen seiner Liebe zu Gott und seinen widerstrebenden naturgemäßen Gefühlen als Vater aushalten und für Gott entschieden bleiben zu müssen. Damit aber zielt Gregors gesamte Vertiefung in die widerstreitenden Gefühle des Vaters und latent auch in die Gefühle des Sohnes sichtlich darauf, die Bewunderung für beide um so deutlicher herausstellen zu können, wie Gregor selbst betont: Wen von den beiden soll ich mehr bewundern: den, der um willen der Liebe zu Gott Hand an den Knaben legt, oder den, der dem Vater ‚bis zum Tode‘ gehorchte [Phil 2,8]? Sie übertreffen einander: der eine, indem er sich über die Natur erhebt; der andere, der für schlimmer als den Tod erachtet, sich dem Vater zu widersetzen.Ⱥ114
Hieran schließt Gregor die oben bereits zitierte Ekphrasis eines Bildes des Opfers Abrahams an: Oftmals habe ich auf einem Gemälde eine Darstellung dieser leidvollen Szene gesehen und konnte nicht ohne Tränen an dem Anblick vorbeigehen, so eindringlich führte mir die Kunst das Geschehen vor Augen: Isaak befindet sich vor dem Vater soeben auf dem Opferaltar, auf die Knie gegangen, die Hände auf dem Rücken verschränkt; er [Abraham] aber hat sich nach einem Kniefall auf beide Füße erhoben, zieht mit der linken Hand das Haar des Knaben zu sich heran, beugt sich hin zu seinem Gesicht, der erbarmungswürdig zu ihm aufblickt, streckt die mit dem Dolch bewaffnete Rechte zur
11ř JќѕюћћђѠ CѕџѦѠќѠѡќњќѠ, Hom. in Gen 47,2, in: PG 54 (1862), 4ř0; vgl. RѢёќљѝѕȦ OѠѡџќѤ, Isaac (Anm. ř8), 668f. 681, Anm. 77. Zu dem fallenden Messer Rembrandts und seinen literarischen Vorläufern vgl. die Beiträge von Bюџяюџю Mюѕљњюћћ-BюѢђџ, ř51. ř5ř und CѕџіѠѡіюћ Tҿњѝђљ, 502f. Variierend adaptiert wird das Motiv auch in frühen Korankommentaren (für Al Tabari [gest. 822 n. Chr.] erwähnt bei LђђњѕѢіѠ, Sacrifice [Anm. 57], 1ř8). Dazu, daß Abraham Sarah nicht informierte, vgl. JќѕюћћђѠ CѕџѦѠќѠѡќњќѠ, Abr., in: PG 50 (1862), 7ř9; vgl. HђіѡѕђџȦRђђњѡѠ, Abraham (Anm. ř8), 159–161. 114 Zitiert nach der Übersetzung von Tѕђќёќџ Mюѕљњюћћ im vorliegenden Band (s. u., 778); zur Bewertung des Textes siehe auch unten den Beitrag von Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ, 195.
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Schlachtung aus – und schon berührt die Spitze des Dolches den Leib: da ergeht an ihn von Gott her die Stimme, die das Werk aufhält.Ⱥ115
Hat Gregor zu Beginn seines Nachdenkens über den Opferbericht angemerkt, daß er angesichts der grausamen Prüfung Abrahams zittert, so steigert er die topische Darstellung seiner Ergriffenheit zu Beginn seiner Ekphrasis noch: Der Anblick des gemalten Abrahamopfers lasse ihn sogar Tränen vergießen. Mit der antiken Kunsttheorie offenbar eingehend vertraut, erinnert Gregor dabei an die medienspezifische Fähigkeit visueller Medien, eine Handlung so eindringlich vor Augen zu stellen, daß sie den Betrachter so stark bewege wie das Dargestellte selbst.Ⱥ116 Das Bild, das in allen Motiven offenbar einem oben bereits angesprochenen, vor allem in der byzantinischen Kunst vorkommenden ikonographischen Typ entspricht (Abb. 9),Ⱥ117 beschreibt er als Darstellung eines Augenblickseindrucks, dramatisch zugespitzt auf das unmittelbare Eingreifen des Engels. Dabei veranschaulicht Gregor zum einen die Entschlossenheit Abrahams, die er durch einen imaginierten Kniefall zusätzlich unterstreicht, den Abraham soeben ausgeführt habe. Zum anderen betont er die mitleiderregende Lage Isaaks, dessen Aufblicken er als „erbarmungswürdig“ bezeichnet. In einem Blickkontakt zwischen dem über den Sohn gebeugten Vater und dem aufblickenden Sohn bündelt Gregors Ekphrasis die gesamte vorangegangene theologische Kontrastierung der natürlichen menschlichen Gefühle und deren Überwindung in Abrahams Entschlossenheit. So macht Gregors Ekphrasis mit hohem Pathos den gesamten Argumentationsgang und die Intention seiner Predigt zu Abrahams Opfer rhetorisch überzeugend deutlich: Je unausweichlicher das jeweilige Medium mit sprachlichen oder visuellen Verdeutlichungsmitteln die Gefühle von Vater und Sohn, die angesichts des ungeheuerlichen Befehls Gottes nach menschlichem Maß zu erwarten sind, vor Augen führt, je stärkeres Mitgefühl es auslöst, desto begreifbarer wird dem Betrachter die Größe der Opferbereitschaft und des Glaubens Abrahams. Durchaus derselben Argumentations- und Affektstrategie wie Gregors Introspektion in all die Verwirrung und all das Leiden, das die Ver-
115 Zitiert nach der Übersetzung von Tѕђќёќџ Mюѕљњюћћ im vorliegenden Band (s. u., 778f.) 116 Zu den antiken Wurzeln dieses Konzepts vgl. VюљђѠјю ѣќћ RќѠђћ, „Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Ut-pictura-poesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), 171–208; für Italien um 1400 vgl. auch Mіѐѕюђљ Bюѥюћёюљљ, Giotto and the Orators. Humanist Observers of Painting in Italy and the Discovery of Pictorial Composition. 1350–1450, Oxford 1971, 54f. 70. 81f.; Lюћё, Viewer (Anm. 7ř), 4–10. 117 S. o. Anm. 89.
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suchung eigentlich in Abraham hätte auslösen müssen und von diesem glaubend überwunden wurde, folgt Brunelleschis unkonventionelle Betonung der zum Äußersten getriebenen Grausamkeit des Leidens Isaaks und der unerbittlichsten Entschlossenheit des an sich durchaus mitleidsfähigen Abraham. Wenn in Brunelleschis Relief zunächst Isaak die mitfühlende Aufmerksamkeit des Betrachters einnimmt, so erlebt man vor dem Relief doch letztlich wie in Gregors Predigt vor allem Abrahams Selbstüberwindung, seine gläubige Entschlossenheit, entgegen allen natürlichen Gefühlen Gottes ungeheuerlicher Forderung unbedingt zu gehorchen. Der tradierten Auffassung, daß Isaak sein Los nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich unbewegt ertragen habe, widerspricht Brunelleschi sichtlich, um die zum Äußersten entschlossene Glaubensstärke Abrahams eindrücklich vor Augen führen zu können. Mögen hierbei Motive der rabbinischen Tradition hineinspielen, so fehlt der gesamten Argumentation des Reliefs, das ja für eine christliche Taufkirche bestimmt war, doch die antichristliche Spitze des rabbinischen Topos. Statt dessen bietet das Relief dem Betrachter eine Anleitung, sich von der Geschichte des Opfers Abrahams ganz im christlichen Sinne in neuer Tiefe erschüttern zu lassen. Über diese Erschütterung angesichts des sichtbaren Leidens Isaaks und über die Sorge um dessen Unversehrtheit zielt Brunelleschis Relief letztlich auf die intensive Erfahrung der Erhabenheit Abrahams. Nirgends beschönigt Brunelleschi die brutale Provokation der biblischen Erzählung von Abrahams Opfer durch gewohnte Allegorisierungen, soteriologische Verbrämung oder gar ästhetisch-dekorative Verharmlosung, sondern setzt den Betrachter der ursprünglichen Schrecklichkeit des Berichts von der absoluten Forderung des allmächtigen Gottes an den Stammvater der Juden und Christen rücksichtslos aus. So hatte schon Melito von Sardes mit Blick auf Isaak als Typus des Kreuzesopfers formuliert: „auch als Typus bereitete er [Isaak] den Menschen Bestürzung und Erschrecken.“Ⱥ118 Wie Gott Abraham nicht schont, schont Brunelleschi den Betrachter nicht, sondern zwingt ihn, den sichtbaren Schrecken des Reliefs sehend und glaubend in der Abrahams-Erfahrung glaubensstarker Erhabenheit zu überwinden. So wird auch das ästhetische Ziel des Reliefs, die Erschütterung des sehenden und mitempfindenden Betrachters, als Nachvollzug des Glaubens Abrahams zugleich zur homiletisch religiösen Erbauung. Vergleicht man Brunelleschis Abraham mit den stumpf brutalen Soldaten und Schergen des „Bethlehemitischen Kindermordes“ Giovan-
118 Mђљіѡќ ѣќћ SюџёђѠ, Cat. in Gen Frg. 1 [Frg. 9] (zitiert nach Lђџѐѕ, Opferung [Anm. 4ř], 29).
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ni Pisanos in Pistoia (Abb. 11),Ⱥ119 so wird unübersehbar, wie Brunelleschi mit der knapp angedeuteten Irritation um Abrahams Lippen eine psychologisch differenzierte und menschlich überzeugende Charakterisierung des Patriarchen gelingt, in der durch alle Entschlossenheit hindurch die fortwirkende und im Moment des Todesschreies seines Sohnes kulminierende Versuchung Abrahams deutlich wird, dem natürlichen Mitleid und den Vatergefühlen den Vorzug vor dem Gehorsam gegenüber Gott zu geben. Nicht nur in diesem Detail ist Brunelleschis „Opfer Abrahams“ eine intensive Auseinandersetzung mit Giovanni Pisanos Relief. Bei der Modellierung des in höchster Todesangst zum Himmel schreienden Isaak-Kopfes scheint Brunelleschi all die im Todesmoment schreienden oder im Schmerz über den Tod hinaus verzerrt gebliebenen, nach oben verdrehten Kindergesichter Giovanni Pisanos vor Augen gehabt zu haben. Auch die Vehemenz von Brunelleschis Abraham lebt durchaus von demselben Impuls, den die entschlossene Vorwärtsbewegung des Soldaten in der Mitte von Giovanni Pisanos Relief vorführt. Vor allem aber die Konstellation, in der am rechten Rand von Giovanni Pisanos Relief eine Mutter mit einem mordenden Schergen um ihr Kind ringt, das in diesem Augenblick vor ihren Augen brutal erstochen wird (Abb. 12), hat Brunelleschi sichtlich ergriffen. Wie in seinem Relief Abraham mit lang gestrecktem Arm brutal zugreift, wie er das Messer hält, in welchem Winkel dieses am Körper seines Opfers ansetzt, wie Isaak im Augenblick höchster Todesgefahr schreit, als er das Messer schon spürt, und wie der Engel das Handgelenk Abrahams faßt, um das Töten noch abzuwenden: alles ist in Giovanni Pisanos schrecklicher Gruppe vorgeformt (Abb. 1ř).Ⱥ120 Bei aller Annäherung an Giovanni Pisano gewinnt Brunelleschis „Opfer Abrahams“ derselben Handlungskonstellation aber ein ganz neues Moment ab. Fährt das Messer bei Giovanni Pisano schon in den Leib des Säuglings, so verlegt Brunelleschi den tödlichen Schnitt ganz in die Vorstellung des Betrachters. Greift die Mutter bei Giovanni Pisano aus ihrer unterlegenen Position noch zu zaghaft, zu wirkungslos und schon zu spät nach dem Handgelenk des Schergen, so ist bei Brunelleschi der Engel mit dem Griff ans Handgelenk Abrahams ganz Herr 119 Gіќѣюћћі PіѠюћќ, Bethlehemitischer Kindermord, um 1298–1ř01, Marmorrelief, Kanzel, Pistoia, S. Andrea (Pќѝђ-HђћћђѠѠђѦ, Introduction [Anm. řř], Bd. 1, Abb. 17). 120 Vor Brunelleschi reagiert Barna da Siena (tätig um 1řř0–1ř50) in einer Darstellung am Rande der Gefangennahme Christi auf Giovanni Pisanos Handlungskonstellation (Fresko, San Gimigniano, Collegiata; Jюѐќя Wюњяђџє, „Ghiberti, Alberti, and the Modernity of Gothic“, in: Analecta Romana Instituti Danici 21 [199ř], 17ř–211, hier 197, Fig. 14).
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Abb. 11: Gіќѣюћћі PіѠюћќ, Bethlehemitischer Kindermord, um 1298–1ř01, Marmorrelief, Kanzel, Pistoia, S. Andrea.
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der Lage. Ist bei Giovanni Pisano der Scherge in seiner zerzausten finsteren Physiognomie und wilden Mimik ganz und nur ein brutaler, besinnungsloser Mörder, so ist bei Brunelleschi die Mimik Abrahams keinesfalls ungerührt von der Schrecklichkeit des eigenen Tuns, während die gesamte Gestalt Abrahams von seiner Patriarchenwürde und fast übermenschlichen Größe und Gottesfurcht kündet. Im Verdecken der tödlichen Klinge, im souveränen Eingreifen des Engels und in der Erhabenheit und Mitleidsfähigkeit Abrahams hat Brunelleschi bei allem Nachklingen der ‚terribilità‘ Giovanni Pisanos ein erlösendes Gegenbild zu dem unausweichlichen Entsetzen geschaffen, das die so aussichtslos um das Leben ihres Sohnes ringende Mutter in Giovanni Pisanos Relief schon seit hundert Jahren den Betrachtern vor Augen hielt. Mit seiner Rettung Isaaks aus derselben Todesnot, in die Pisano seine Kinder Bethlehems hundert Jahre zuvor gebannt hatte, hebt Brunelleschi die Schreckensstarre von Giovanni Pisanos Kindermartyrium auf. Indem Brunelleschi sein „Opfer Abrahams“ gleichsam als motivischen Typus zu Giovanni Pisanos „Kindermord“ anlegt, impliziert er neben der künstlerischen Hommage an den berühmten Vorgänger eine bis dahin nicht gesehene, durchaus aber theologisch begründbare typologische Anspielung zwischen einem Motiv des Alten und einem Motiv des Neuen Testaments. In Giovanni Pisanos Relief geht es wie bei Brunelleschi um das Töten von Kindern. Während Isaak bei Brunelleschi im Zeichen des Kreuzes Jesu vor der Vernichtung bewahrt wird, sterben die Kinder von Bethlehem als erste christliche Märtyrer für Jesus. Ebenso, wie die unschuldig getöteten bethlehemitischen Kinder in Exegese, Liturgie und Bild bereits früh als die ersten Märtyrer galten,Ⱥ121 wurde Isaak schon im Gebet eines der drei Jünglinge im Feuerofen (Dan ř,ř5) als „Gottesknecht“ bezeichnet, der sich für Israel opfern läßt, und so mit demselben Epitheton belegt wie die vom Martyrium bedrohten Betenden im Feuerofen selbst.Ⱥ122 Auch die vielen Darstellungen des Opfers Abrahams und anderer alttestamentlicher Errettungsszenen in der frühchristlichen Sepulkralkunst waren latent sowohl mit dem Martyriengedanken als auch mit der Erlösung durch die Taufe verbunden;Ⱥ12ř 121 Sѐѕіљљђџ, Ikonographie (Anm. 40), Bd. 1, 124–126. 122 Auch in der rabbinischen Tradition wurde Isaak immer wieder als Typus des Märtyrers betrachtet; vgl. KѢћёђџѡ, Bindung (Anm. ř1), Bd. 1, 77–81; Bd. 2, 56. 60. 6ř. 100f. 142–146; DюѠѠњюћћ, Bindung (Anm. 44), ř. 7; KђѠѠљђџ, Bound (Anm. 45), 104f. 12ř Zur Verbindung mit dem Martyriengedanken etwa durch ein enges Nebeneinander von Bildern des Opfers Abrahams und der drei Jünglinge im Feuerofen vgl. die Hinweise bei Pюћђљљі, Ikonographie (Anm. 22), 17f. 140–142; ѣќћ Eџѓѓю, Genesis (Anm. 22), Bd. 2, 152. 176f.; DюѠѠњюћћ, Bindung (Anm. 44), 9; zur Verbindung mit der
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Abb. 12: Gіќѣюћћі PіѠюћќ, Bethlehemitischer Kindermord (Detail: Mutter mit Kind und Scherge), um 1298–1ř01, Marmorrelief, Kanzel, Pistoia, S. Andrea.
Abb. 1ř: Fіљіѝѝќ BџѢћђљљђѠѐѕі, Das Opfer Abrahams (Detail: Abraham, Isaak und Engel), Messing, vergoldet, ca. 42 x ř8 cm, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.
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und in der patristischen Literatur wird Isaak etwa bei Cyprian (200– 258) als Vorbild im Leiden bezeichnet.Ⱥ124 Mit seinem Bezug auf Giovanni Pisanos „Bethlehemitischen Kindermord“ bot Brunelleschi denen, die den Ursprung des Motivs erkannten, zugleich mit einer besonders anspruchsvollen künstlerischen Auseinandersetzung mit einem berühmten Kunstvorbild eine weitere theologische Reflexionsdimension des Opfers Abrahams an: Brunelleschis „Opfer Abrahams“ stärkt wie ein Martyrienbild in der Bereitschaft zum äußersten Glaubenszeugnis. An die zentrale Szene anschließend, führt die weisende Geste des Engels nicht nur den Widder als Ersatzopfer vor, sondern schwebt auch lotrecht über dem Kopf des linken Dieners. Dessen Tätigkeit bezieht sich offensichtlich direkt auf den unmittelbar über ihm angebrachten Widder, versuchen doch beide, sich von Dornen zu befreien. Führte die Figurenfolge der unteren Zone von Brunelleschis Relief von der Wirklichkeit des Betrachters zum Drama der Hauptszene, so gelangt die Argumentation des Reliefs also zuletzt – wie ja auch bei Ghiberti – wieder dorthin zurück. Während sich in der Hauptszene ein Ereignis von gewaltigem Pathos und großer Heilsbedeutung ereignet, sind alle Figuren der unteren Zone mit profanen Tätigkeiten der Bedürfnisbefriedigung beschäftigt, löschen ihren Durst oder quetschen einen schmerzenden Dorn aus dem Fuß. In dieser Gegenüberstellung sowie in der Unterordnung dieser Zone unter die Hauptszene ist ein Argument unverkennbar: Angesichts des heiligen Geschehens der Hauptszene wertet Brunelleschi die banalen Verrichtungen der Diener und des Esels zunächst moralisch ab.Ⱥ125
Erlösung durch die Taufe vgl. den Hinweis bei SѝђѦюџѡ ѣюћ Wќђџёђћ, Iconography (Anm. 2ř), 2ř6. 124 CѦѝџіюћ, Bon. pat. 10 (vgl. DюѠѠњюћћ, Bindung [Anm. 44], 1ř); zu dem Vergleich des Opfers Abrahams mit einem Martyrium bei Origenes vgl. TѠѐѕѢєєћюљљ, Glaubensparadox (Anm. 49), 50. 125 Andres hält fest, die Diener seien „occupied by mundane activities“ (AћёџђѠ, Florence [Anm. 15], Bd. 1, ř66). Battisti sieht „eine menschliche Situation der Mühen und Entbehrungen“ (BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi [Anm. 4], 41). Mantovani hält fest, die Diener seien gezeigt in „una azione esclusiva, egoistica soddisfazione di bisogni elementari“ (Mюћѡќѣюћі, Sacrificio [Anm. 74], 22). Venturi hebt hervor: „la schena inferiore aludesse al paganesimo“ (zitiert nach ebd., 22). Scriabine sieht die Figuren der unteren Zone auf „satisfactions materiélles“ beschränkt (Mюџіћю Sѐџіюяіћђ, „La perspective temporelle dans les oeuvres de la renaissance“, in: Brunelleschi. La sua opera [Anm. 60], Bd. 1, ř25–řř1, hier řř0). Zu der Wertungsstrategie, in horizontaler Staffelung oder Tiefenstaffelung eine Szene durch eine kontrastiv darüber, davor oder dahinter angebrachte abzuwerten, in der visuellen Argumentation frühneuzeitlicher Bilder vgl. Wюџћѐјђ, Bilder (Anm. 1), 124–126; ein weiteres Beispiel bei Wќљѓєюћє Kђњѝ, Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996, 96–99.
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Die rabbinische Tradition – etwa der Midrash Leviticus Rabba (Mitte 7. Jh.) – sieht in den beiden Dienern Abrahams Sohn Ismael und seinen Diener Elieser, die ebenso wie der Esel blind gewesen seien für die Gotteserscheinung auf dem Opferberg und daher von Abraham am Fuß des Berges zurückgelassen wurden. Vergleichbar hiermit erkennt die christliche Tradition, z. B. bei Caesarius von Arles (gest. 542), in den beiden Knechten, aber auch in dem Esel Sinnbilder des jüdischen Volkes, das die Zeichen Gottes nicht erkenne.Ⱥ126 Schon Cyrill von Alexandrien (um ř75Ȧř80–444) legte die Rückkehr Abrahams zu den Dienern, denen die Schau des Opfers zunächst verborgen geblieben sei, als Gleichnis für die ausstehende Bekehrung Israels und Judas aus.Ⱥ127 In dieser Deutungstradition bezieht Brunelleschi die Figuren der unteren Reliefzone auf das Heilsgeschehen der Hauptszene. Dabei weitet er die Symbolik der Diener ganz offensichtlich auf alle Sünder aus, für die das bekehrungsunwillige Judentum in christlicher Deutung meist exemplarisch stand. Im Anschluß an William S. Heckscher hat Joanne Snow-Smith den Dornausquetscher und die anderen Figuren der unteren Reliefzone symbolisch gedeutet.Ⱥ128 Der Esel galt etwa bei Augustinus oder Ambrosius ohnehin ganz allgemein als Symbol sündhafter Dummheit und Verblendung.Ⱥ129 Und auch Dornen symbolisierten unabhängig von Auslegungen des Opfers Abrahams ganz allgemein die Erbsünde,Ⱥ1ř0 so daß der Diener, der sich offensichtlich einen Dorn in den Fuß getreten hat, ganz allgemein als Sünder erscheint.Ⱥ1ř1 In diesem 126 Vgl. ѣќћ Eџѓѓю, Genesis (Anm. 22), Bd. 2, 168f. 127 CѦџіљљ ѣќћ Aљђѥюћёџіђћ, Hom. in Gen; Glaph. in Gen; vgl. Lђџѐѕ, Opferung (Anm. 4ř), 1řřf., Anm. 2; KђѠѠљђџ, Bound (Anm. 45), 95; dem folgt etwa der Pictor in carmine, 1ř; vgl. ѣќћ Eџѓѓю, Genesis (Anm. 22), Bd. 2, 189f. 128 HђѐјѠѐѕђџ, Dornauszieher (Anm. 65); SћќѤ-Sњіѡѕ, Spinario (Anm. 65). 129 Zu dieser Symbolbedeutung des Esels vgl. LіѠђљќѡѡђ Wђѕџѕюѕћ-SѡџюѢѐѕ, „Esel“, in: LCI 1 (1968), 682; Vќљјђџ Pљюєђњюћћ u. a., „Esel“, in: RDK 5 (1967), 1484–1528, hier 149ř. 1509. Als Symbol der Häresie sieht den Esel in Brunelleschis Relief SћќѤ-Sњіѡѕ, Spinario (Anm. 65), 166; kritisch gegenüber der von Snow-Smith entwickelten symbolischen Deutung der unteren Reliefzone und gegenüber den Folgerungen hieraus RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 159–161. 1ř0 Vgl. Dќџќѡѕђю FќџѠѡћђџ, Die Welt der Symbole, Innsbruck 1961, 261. 296ff., unter besonderem Hinweis auf die Verfluchung der Menschen bei der Vertreibung aus dem Paradies in Gen ř,18; vgl. auch SћќѤ-Sњіѡѕ, Spinario (Anm. 65), 162f. 1ř1 Vgl. HђѐјѠѐѕђџ, Dornauszieher (Anm. 65), 291. 294; mit einer Verengung der Symbolbedeutung auf die Häresie auch bei SћќѤ-Sњіѡѕ, Spinario (Anm. 65), 162f. 166; zur grundsätzlichen Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten mittelalterlicher Darstellungen des Dornausziehers vgl. auch Aњђёіѐј, Dornauszieher (Anm. 65), 17–51. Amedicks Hinweis auf die Funktion von Dornauszieherdarstellungen in antiken und mittelalterlichen Kalenderbildern auch für Brunelleschis Relief (ebd., ř7; dieser Hinweis, auch mit Blick auf Brunelleschis Relief, erstmals bei Aљёђћѕќѣђћ, Werke
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Zusammenhang müssen wohl auch die extreme, unschickliche Verrenkung des rechten Dieners und seine Glatzköpfigkeit als Attribute von Sündhaftigkeit gelesen werden.Ⱥ1ř2 Die Figuren der unteren Reliefzone demonstrieren Sündhaftigkeit nun allerdings nicht bloß als statisches Schicksal, sondern versuchen in ihrem Tun ja gerade, den sündhaften Zustand zu überwinden. So führt der Dornausquetscher nicht bloß vor, daß er einen Dorn im Fuß hat, sondern liefert in seinem Versuch, ihn zu entfernen, eine symbolische Aufforderung zur Befreiung von der Sünde.Ⱥ1řř Brunelleschis subtile Verschränkung zwischen dem Dornausquetscher, dem gegen die Dornen ankämpfenden Widder und dem Engel wird so besser verständlich. Denn die Dornen, in denen sich der Widder bei Abrahams Opfer verfangen hatte, so erklärt Cyrill von Alexandrien, entsprechen den Sündern, von denen Jesus gekreuzigt wurde.Ⱥ1ř4 Mit dem Widder und der Hand des Engels über dem Kopf des Dornausquetschers erläutert Brunelleschis Relief also, daß die Überwindung der Sündhaftigkeit mit dem Kreuzestod des durch den Widder präfiguierten Christus ermöglicht ist.Ⱥ1ř5 Das Ausreißen des Dornes wird so zu einer eindrücklichen Metapher christlicher Buße als Abkehr von der Erbschuld.
1ř2
1řř
1ř4 1ř5
[Anm. 65], 17řf., hier 174; auch bei NіђѕюѢѠ, Reliefkunst [Anm. 4], 59) greift trotz des interessanten Hinweises auf die Korrelation mit dem jahreszeitlich passenden Widder vermutlich zu kurz, konnte das einzelne Wettbewerbsstück doch wahrscheinlich nicht auf die Anlage eines kalendarischen Zyklus rekurrieren. Zur negativen Bewertung extremer Bewegungen vgl. etwa die Hinweise bei MќѠѕђ BюџюѠѐѕ, Gestures of Despair in Medieval and Early Renaissance Art, New ork 1976, ř8; zur negativen Bewertung von Glatzköpfigkeit – allerdings erst für die weitere Folge des Quattrocento – vgl. Bюџяюџю Wіљј, Die Darstellung der Kreuztragung Christi und verwandter Szenen bis um 1300, phil. Diss. Tübingen 1969, 175. Vgl. auch den Hinweis auf die Glatzköpfigkeit des Schergen bei Aћёџђю PіѠюћќ, Enthauptung des Johannes, 1ř26–1řř6, Bronzerelief, Florenz, Südportal des Baptisteriums (RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs [Anm. 2], 129). Zur Tätigkeit des Dornausquetschers als Befreiung von Sünde vgl. Jђюћ AёѕѼњюџ, Influences antiques dans l’art du Moyen Age français. Recherches sur les sources et les thèmes d’inspiration, London 19ř9; vgl. SћќѤ-Sњіѡѕ, Spinario (Anm. 65), 165, mit Bezug zu Brunelleschis Relief. Vgl. Lђџѐѕ, Opferung (Anm. 4ř), 1řřf. Heckscher hat im Zusammenhang mit der Darstellung des Dornausquetschers in Brunelleschis Wettbewerbsrelief auf Dornauszieherfiguren in mittelalterlichen Abbildungen des triumphalen Einzugs Christi in Jerusalem hingewiesen, auf denen ebenfalls „feindlicher Widerstand“ symbolisiert sei (vgl. HђѐјѠѐѕђџ, Dornauszieher [Anm. 65], 294; im Anschluß daran SћќѤ-Sњіѡѕ, Spinario [Anm. 65], 164). Die Anordnung des Dornausquetschers unter dem triumphierenden Christus entspricht in diesen Darstellungen der Anordnung unter dem Widder in Brunelleschis Wettbewerbsrelief und weist wohl in beiden Fällen auf eine Überwindung des den Sünder bezeichnenden Dornausquetschers durch Christi Erlösungswerk. Hassel überzieht
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Auch der rechte Diener verrenkt sich nicht bloß nach Belieben, sondern kehrt sich im Augenblick des Schreis Isaaks um, weg von der – sündhaften – Welt, hin zu der Richtung, aus der ihn der Schrei Isaaks getroffen hat. So wendet er sich dem biblischen Geschehen des Opfers Abrahams und des darin präfiguierten Kreuzestodes Jesu zu. War ihm die Schau des Heilsgeschehens bisher versagt und hatte er am Fuße des Berges zurückbleiben müssen, so läßt ihn nun der Schrei Isaaks, in dem Brunelleschi den Schrei Jesu vom Kreuz voraushallen läßt, das eigentlich weit entfernte Opfer Abrahams von dem Ort aus mit den Augen suchen, von dem aus Abraham ja zum Opferberg aufgeblickt hatte (Gen 22,4). Zählt fast überall im Relief nur handgreifliches Tun, so öffnet an dieser Stelle die Erfahrung des Hörens das Sehen. So leitet die Gestalt des Wasserschöpfers den Betrachter an, das Anschauen der sichtbaren Erzählung von Abrahams Opfer als Umkehr, als Ausweg aus der Sündhaftigkeit der eigenen Lebenswelt zu begreifen. Im Hören auf Isaaks Schrei werden der Betrachter und der Diener wie die Jünger unter Jesu Kreuz in weit umfassenderem Sinn Zeugen des Heilsgeschehens, als dies für die fern des Hauptgeschehens und räumlich sowie zeitlich indifferent zu diesem verweilenden Diener in Ghibertis Relief festzustellen war. Brunelleschis sichtbare und imaginär hörbare Anleitung zur mitempfindenden Betrachtung der Darstellung des biblischen Geschehens korrespondiert nun damit, daß der biblische Bericht von Abrahams Opfer das Sehen ausdrücklich thematisiert. Nicht nur, daß Abraham nach dreitägiger Reise „seine Augen erhob und den Ort von ferne sah (vidit)“ (Gen 22,4), daß er seinem Sohn ankündigte, Gott werde „sich das Lamm zum Brandopfer schon ersehen (providebit)“ (Gen 22,8), und daß er, als er seine Augen nach dem Zuruf des Engels erhob, „einen Widder sah (vidit)“ (Gen 22,1ř). Auch die Namensgebung des Ortes, an dem das Opfer stattfinden sollte, macht Sehen zum Kernthema: „Abraham nannte diesen Ort: ‚Jahwe sieht (videt),‘ so daß man bis zum heutigen Tage sagt: ‚Auf dem Berge, wo Jahwe sehen wird (videbit)‘“ (Gen 22,14). Ist es hier der Vulgata nach Jahwe, der sieht, so heißt es in der Septuaginta, daß hier „der Herr sich zeigt (êfqh)“ beziehungsweise gesehen wird. Wie eine Zusammenfassung dieser Lesarten übersetzt die Vulgata den hebräischen Namen Morija, des Landes, in dem Abraham seinen Sohn
diesen Aspekt allerdings, wenn er in Brunelleschis Relief in der Figur des Dornausquetschers die „Zerstörung eines Götzenbildes“ bezeichnet sehen will (vgl. HюѠѠђљ, Dornauszieher [Anm. 65], 510); zu kritisch gegenüber einer allegorischen Deutung des Dornausziehers in Brunelleschis Relief RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 161.
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opfern soll, entsprechend der dort enthaltenen Wurzel „ra´ah“ (sehen) mit „Land des Sehens“ (terra visionis) (Gen 22,2).Ⱥ1ř6 Schon Origenes hat die Gedanken beider Textstellen miteinander verbunden: Und Abraham nannte jenen Ort: ‚Der Herr sieht‘. Denen, die wirklich hören können, wird ein deutlich erkennbarer Weg des geistlichen Verständnisses eröffnet. Denn alle diese Geschehnisse führen zur Schau, da es ja heißt: ‚Der Herr sieht‘. Aber die Schau, wie sie ‚der Herr sieht‘, vollzieht sich im Geist, damit auch du das, was geschrieben steht, im Geist siehst.Ⱥ1ř7
Beda Venerabilis (um 67ř–7ř5) läßt das Schauen des Menschen und das Angeschaut-Werden durch Gott einander auf dem Berg Morija begegnen: Dieser Berg heißt mit Recht Morija, d. h. Schau, weil der Herr seine Erwählten, die er behütet, um sie der ewigen Schau seiner Herrlichkeit teilhaftig werden zu lassen, gnädig anschaut und ihnen hilft, wenn sie sich in diesem Leben abmühen. Dies ist der Ort, an dem Abraham seinen Sohn dem Herrn darbrachte und es verdiente, aufgrund seines hingebungsvollen Gehorsams von ihm angeschaut zu werden. Daher empfing der Ort seinen Namen.Ⱥ1ř8
Wenn Brunelleschis Relief den Betrachter zur Schau des Opfers Abrahams anleitet, so antwortet es hiermit also auf die biblisch begründete Namensexegese des Ortes, an dem Abraham Isaak opfern sollte. In der Figur des rechten Dieners verkörpert sich der mit dem Namen des Opferberges eng verbundene Gedanke, daß die kontemplative Betrachtung einer Darstellung des Heilsgeschehens den Ort sichtbar macht, an dem Gott seinerseits den Glaubenden gnädig betrachtet. Auch das Wasserschöpfen des Dieners in Brunelleschis Relief kann nicht nur wörtlich als Darstellung der Befriedigung profaner Bedürfnisse gelesen werden. Nicht zuletzt die ursprüngliche Bestimmung des Reliefs für die Bronzetür einer Taufkirche legt es nahe, im Schöpfen von Wasser ein Sinnbild der Taufe als eines sakramentalen Aktes der Bekehrung zu sehen. In der Verbindung des Abrahamsthemas mit der Taufe folgt Brunelleschi offensichtlich Paulus, der die Taufe auf Christus als Abrahamsnachfolge begreift (Gal ř,6–29, besonders ř,27–29). Der gro1ř6 Vgl. auch HіђџќћѦњѢѠ, Quaest. Hebr. in Gen 21.ř0f. und 22,2–4; hierzu HђіѡѕђџȦ RђђњѡѠ, Abraham (Anm. ř8), 157f. 16ř; siehe auch oben den Beitrag von Fџіђёѕђљњ HюџѡђћѠѡђіћ, 9. Zur komplexen Exegese der Ortsbezeichnung und seiner zentralen Verankerung im Pentateuch vgl. Gђќџє SѡђіћѠ, Die „Bindung Isaaks“ im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre, Freiburg u. a. 1999, 118–120. 202–21ř. 1ř7 OџієђћђѠ, Hom. in Gen 8,10; zitiert nach HђіѡѕђџȦRђђњѡѠ, Abraham (Anm. ř8), 170; zu der Ortsbezeichnung vgl. auch Sѐѕњіѡѧ, Aqedat (Anm. 48), 17ř–176; ѣќћ Eџѓѓю, Genesis (Anm. 22), Bd. 2, 188. 1ř8 Bђёю, templ. 1; zitiert nach HђіѡѕђџȦRђђњѡѠ, Abraham (Anm. ř8), 168f.
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ßen Bedeutung, die der Beschneidung Isaaks (21,4) sowie der Beschneidungsvorschrift in der biblischen Abrahamsgeschichte (Gen 17,9–14; 17,2ř–27) zukommt, stellt Paulus entgegen, daß Abraham schon vor seiner Beschneidung für seinen Glauben gerechtfertigt wurde, so daß er zum Vater sowohl der beschnittenen wie der unbeschnittenen Glaubenden wurde (Röm 4,9–12). Wie Paulus nun die in der Taufe erlangte Abrahamsnachfolge der Unbeschnittenen zur Abrahamsnachfolge der Beschnittenen kontrastiert (Gal ř,6–29), setzt Brunelleschi den Isaakknaben, den er unübersehbar beschnitten darstellt, zu dem Hinweis auf die Taufe in spannenden Kontrast.Ⱥ1ř9 Mit der Erinnerung an die Taufe nimmt Brunelleschi zudem eine exegetische Verbindung zwischen dem Opfer Abrahams und der Taufe Jesu im Jordan durch Johannes, den Patron des Florentiner Baptisteriums, auf. Wie nämlich Gregor von Nyssa bemerkt, tritt die in der Abraham-Perikope vorkommende Formulierung von Isaak als dem Sohn, den Abraham liebhat (Gen 22,2), an verschiedenen Stellen des Neuen Testaments auf, an denen Jesus als „geliebter Sohn“ Gottvaters bezeichnet wird. Dies aber bezieht sich neben der Verklärung Christi (Mt 17,5; Mk 9,7) insbesondere auf den Bericht von der Taufe Jesu im Jordan (Mt ř,17; Mk 1,11). Und ein Melito von Sardes zugeschriebenes Fragment stellt das den Widder festhaltende „Gesträuch (des) Sabek, das ist der Vergebung,“ als Typus des Kreuzes und damit als Zeichen der Bereitschaft zum „Leiden um Christi willen“, also zum Martyrium, dem „Wasser der Vergebung“ als Zeichen der Taufe, durch die „Vergebung der Sünden gewährt wird,“ ähnlich einander gegenüber wie Brunelleschi den Dornbusch und die Quelle. In seinem Hinweis auf das „Wasser der Vergebung“ verknüpft Melito die Taufe ausdrücklich mit Ezechiels Vision von der Tempelquelle, die unter der Schwelle des Tempels hervorquillt, zu einem ungeheuren Strom anwächst und überallhin Leben bringt (Ez 47,1–12).Ⱥ140 Da die Bibel und im Anschluß an sie manche christliche Quellen wie etwa Hrabanus Maurus (um 780–856), die „Glossa ordinaria“ (12. Jh.), Rupert von Deutz (gest. 1129) und andere den Berg, auf dem Abraham sein Opfer
1ř9 Als „pictoral ‚sacra rappresentazione‘ of Salvation through Baptism“ bezeichnet die untere Reliefzone ohne weitere Belege für diese Verbindung SћќѤ-Sњіѡѕ, Spinario (Anm. 65), 166f.; vgl. auch UџѠѢљю Mіђљјђ, „Zum Programm der Paradiestür“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte ř4 (1971), 115–1ř4, hier 128; BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), ř2. Daß Isaak bei Brunelleschi beschnitten gezeigt ist, erkennt KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti [Anm. 2], Bd. 1, 45. Zur Kontrastierung von Beschneidung und Taufe vgl. auch Röm 2,11–1ř. 140 Mђљіѡќ ѣќћ SюџёђѠ, Frg. 4 [Frg. 12]; Lђџѐѕ, Opferung (Anm. 4ř), ř5f.; vgl. DюѠѠњюћћ, Bindung (Anm. 44), 10f.
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darbringt (Gen 22,14), mit dem Tempelberg in Jerusalem identifizieren (2Chr ř,1),Ⱥ141 liegt diese Verbindung zwischen Abrahams Opfer und Ezechiels Tempelquell nahe. Zu dem im biblischen Bericht von Abrahams Opfer zunächst als „Land Morija“ bezeichneten Hochland gehört aber auch Golgatha, der Ort des Kreuzesopfers Jesu, den andere Autoren wie etwa Diodor (gest. ca. ř94 n. Chr.), Theodosius (geb. vor 5ř1) oder Honorius Augustodunensis (gest. 1151) als den Ort des Opfers Abrahams identifizierten.Ⱥ142 Mit Blick auf die in der Quelle angesprochene Taufthematik gewinnt die Typologie von Brunelleschis „Opfer Abrahams“ neue Bedeutung. Auch Brunelleschis Zitat des „Bethlehemitischen Kindermordes“ Giovanni Pisanos ist mit der Taufthematik verknüpft, wurde doch das Thema der Kindertaufe immer wieder – etwa von Augustinus – anhand des Martyriums der bethlehemitischen Kinder diskutiert, in denen man „die mit Blut Getauften“ sah.Ⱥ14ř In dem für die Taufkirche von Florenz gedachten Relief verschränken sich die typologischen Bezüge rund um Abrahamsopfer, Kreuzestod, Martyrium, Tempelquelle und Jesu Seitenwunde als Quelle der TaufeȺ144 in vielfältigen Sinnschichten, die in Brunelleschis Relief als religiöses Deutungsangebot mannigfach mitklingen und eigene Exegesemöglichkeiten anregen, ohne sich zu linear eindeutigen Argumenten fügen zu müssen. Durch die Fortsetzung des Betrachterraums in fast vollplastischen Figuren, durch die Alltäglichkeit der Szene und durch die Erfahrung der Plötzlichkeit im Affekt des Erschreckens bindet die untere Reliefzone an die Lebenswelt und die multisensuelle Gegenwartserfahrung des Betrachters an und setzt diese fort. Unter der Heilshandlung der Hauptszene angeordnet und in der Erzählfolge vor diese gestellt, erklärt diese Zone die Alltagswelt symbolsprachlich und durch die Anordnung im Relief argumentierend zur erlösungsbedürftigen Zone der Sündhaftigkeit und Heilsvergessenheit. Das predigtartige Erleben des Reliefs mit einer an die Alltagswelt anknüpfenden Einleitung (exordium), einer erzählenden Darlegung des Sachverhalts (narratio), einer erörternden Darlegung (argumentatio) und einem im Schrei Isaaks fokussierten bewegenden Schluß (peroratio) leitet dazu an, die eigene Sündhaftigkeit 141 SѐѕѤюя, Verständnis (Anm. 48), 478f.; ѣќћ Eџѓѓю, Genesis (Anm. 22), Bd. 2, 171. 142 TѕђќёќѠіѢѠ, situ terr. sanct. 7 (vgl. HђіѡѕђџȦRђђњѡѠ, Abraham [Anm. ř8], 241); HќћќџіѢѠ AѢєѢѠѡќёѢћђћѠіѠ, Spec. Eccl., Domin. Pass. Dom., in: PL 172 (1854), 911 (vgl. RѢёќљѝѕȦOѠѡџќѤ, Isaac [Anm. ř8], 667. 680, Anm. 71; vgl. auch SѝђѦюџѡ ѣюћ Wќђџёђћ, Iconography [Anm. 2ř], 229. 2ř9; ѣќћ Eџѓѓю, Genesis [Anm. 22], Bd. 2, 172. 179). 14ř AѢєѢѠѡіћѢѠ, Serm. ř de Innocent.; vgl. auch Sѐѕіљљђџ, Ikonographie (Anm. 40), Bd. 1, 124. 144 Zur theologischen Beziehung zwischen der Seitenwunde Christi und dem Taufsakrament vgl. UџѠѢљю Mіђљјђ, „Taufe, Taufszenen“, in: LCI 4 (1972), 245–247, hier 244.
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und den eigenen Unglauben angesichts der sichtbaren Erzählung vom Opfer Abrahams zu überwinden. Im Zusammenspiel der Figur des Wasserschöpfers und der Figur des Dornausziehers, die auch an anderer Stelle gelegentlich das Taufthema begleitet und dabei wohl ebenfalls auf die in Taufe und Buße erreichbare Überwindung der Sünde verweist,Ⱥ145 führt die untere Reliefzone dem Betrachter Buße, Umkehr, Schau und Taufe appellhaft als angemessene Haltungen zu Abrahams Opfer vor. Der Dornausquetscher macht vor, daß man die Sünde ausreißen muß. Der Wasserschöpfer vermittelt ein tiefes Verständnis der Taufe und leitet dazu an, auf den aus dem Zentrum des Bildes hallenden Schrei Isaaks und den darin mitklingenden Schrei Jesu am Kreuz zu reagieren, sich von der Welt abzukehren, und die biblische Heilsoffenbarung zu betrachten. Als Ziel dieser Abkehr von der Sünde weist der Wasserschöpfer auf das erschütternde und erhabene Vorbild der Glaubensstärke Abrahams. Der in Brunelleschis schreiendem Isaak mitklingende Schrei Jesu am Kreuz leitet den Diener im Bild und den Betrachter vor dem Bild zur Betrachtung des Opfers Abrahams als Ursache und Ziel der eigenen Umkehr. Der sich von der Alltagswelt abkehrende Diener demonstriert so das Betrachten der sichtbaren biblischen Erzählung als Ausweg aus der Sündhaftigkeit der Welt. Dem unerschütterlich Glaubenden stellt die sichtbare Erzählung vom Opfer Abrahams schließlich die Teilhabe an der verläßlichen göttlichen Rettung als Lohn äußersten Glaubens in Aussicht. Die sichtbare Argumentation des Reliefs zielt also – ganz passend zur Thematisierung des Schauens im biblischen Bericht von Abrahams Opfer – auf eine Begründung der heilswirksamen Bedeutung der Schau des biblisch berichteten Heilsgeschehens. So trägt das Relief ganz grundsätzlich ein metamediales Argument für die Darstellung biblischen Geschehens in visuellen Medien vor. Was die am Fuß des Opferberges zurückgelassenen Diener nicht sehen, bei Brunelleschi immerhin aber hören konnten, darf der Betrachter im Medium Relief als sichtbare Predigt mit den Augen heilswirksam begreifen. So wird das geistli145 Einige Beispiele von Dornauszieherdarstellungen, die wohl das durch das Wasser der Taufe überwundene Böse bezeichnen, auf mittelalterlichen Taufsteinen bei Fќљјђ NќџёѠѡџҦњ, Medieval Baptismal Fonts. An Iconographical Study (Acta Universitatis Umensis 6), Stockholm 1984, 74–76. 1ř6f., Abb. 44. 76. Als Muster für einen Täufling fungiert der antike „Dornauszieher“ in Pinturicchios Taufe Christi (Aџћќљё ѣќћ SюљіѠ, Antike und Renaissance. Über Nachleben und Weiterwirken der alten in der neueren Kunst, Zürich 1947, 128, Abb. ř4), sowie für einen Täufling in Rubens’ Antwerpener Taufe Christi (Hђіћѧ Lюёђћёќџѓ, Antikenstudium und Antikenkopie [Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, phil.-hist. Klasse 46,2], Berlin 195ř, Abb. 140).
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che Sehen mit der Umkehr des Dieners das innere Thema des Reliefs. Im Zentrum seines Reliefs zeigt Brunelleschi den Ort von Abrahams Opfer ganz konform mit der Selbstauslegung des biblischen Textes als das „Land des Sehens“, wo sich in der geistigen Schau göttliches und menschliches Sehen verschränken. Im Medium Relief initiiert und demonstriert Brunelleschi als innersten Kern seiner Auslegung der Abrahams-Perikope die Heilswirksamkeit des Sehens.
Der humanistische Kontext Abweichend von der geläufigen Ikonographie des Opfers Abrahams aktualisiert Brunelleschis Relief verschiedene Bild- und Textquellen und integriert sie in einer komplexen Argumentation. Brunelleschi selbst ist diese komplexe Quellenkenntnis sowie das Selbstbewußtsein durchaus zuzutrauen, eine visuelle Predigt im Medium Relief eigenständig zu konstituieren, die argumentierend die als Thema vorgegebene biblische Erzählung auslegt und den Betrachter zu religiösen Haltungsänderungen auffordert. Aufgrund einer Quelle des 15. Jahrhunderts berichtet Giorgio Vasari (1511–1574) in seiner Vita Brunelleschis von dessen theologischen Interessen in direktem Zusammenhang mit der Nachricht von seiner Intellektualität. Brunelleschi, so erklärt Vasari, mühte sich […] um Auslegung der Heiligen Schrift, und ließ nicht ab, den Streitigkeiten und Predigten gelehrter Leute beizuwohnen. Hierbei hatte er durch sein Gedächtnis großen Gewinn.
Wegen seiner Vertrautheit mit der Heiligen Schrift habe ihn – einem Bericht Antonio Billis zufolge – der Mathematiker Paolo dal Pozzo Toscanelli (1ř97–1482), den Brunelleschi wohl 1424 kennenlernte, sogar „einen veritablen Hl. Paulus“ genannt.Ⱥ146 146 Codex Strozzino und Codex Petrei, Florenz, Biblioteca Nazionale, Maghliabechiano 25,6ř6; 1ř,89 (Il libro di Antonio Billi, hg. v. Aћћюњюџію Fіѐюџџю, Neapel 1974, ř1; vgl. BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi [Anm. 4], ř2řf.; SћќѤ-Sњіѡѕ, Spinario [Anm. 65], 16ř). Vom Codex Petrei geht wohl auch die Darstellung desselben Sachverhaltes aus bei Vasari (Gіќџєіќ VюѠюџі, Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahre 1567, 6 Bde. in 8 Teilbden., aus dem Ital. übers. v. LѢёѤіє SѐѕќџћȦEџћѠѡ FҦџѠѡђџ, Worms 198ř–1988 [Nachdr. der Ausg. 18ř2–1849], Bd. 2,1, 172f.). In einem Brief von 1425 rekurriert Brunelleschi selbst auf eine Passage aus einem Paulusbrief (vgl. AљђѠѠюћёџќ Pюџџќћѐѕі, „Brunelleschi ‚un nuovo San Paolo‘“, in: Paragone 12,14ř (1961), 47–58; Rќєђџ Tюџџ, „Brunelleschi and Donatello. Placement and Meaning in Sculpture“, in: Artibus et historiae 16,ř2 (1995), 101–140. 216f., hier 116f.). Aufgrund der seltenen Nennung Brunelleschis in humanistischen Quellen vermutet eine antihumanistische Tendenz bei Brunelleschi allerdings GіѢљіюћќ TюћѡѢџљі, „Rapporti
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Die intellektuelle Grundlage hierfür lag sicherlich darin, daß Brunelleschi als Sohn einer Familie von Notaren, Ärzten und Gelehrten zunächst in den ‚artes liberales‘ unterrichtet wurde, um passend zu seiner Herkunft Notar oder Arzt zu werden.Ⱥ147 Als Brunelleschi dann aber eine Künstlerlaufbahn als Goldschmied begann, konnte er auf Augenhöhe mit den gebildeten Florentiner Humanisten sprechen. Denen war als Kunstkennern das Kindermord-Relief Giovanni Pisanos im 40 Kilometer entfernten Pistoia gewiß bekannt, auf das Brunelleschis Relief sichtlich rekurriert. Dem grundsätzlichen Interesse der Florentiner Humanisten in Brunelleschis Umkreis an Kunst und ihrer Wirkung wird aber auch etwa die für die Ikonographie von Brunelleschis Relief wichtige Abrahamspredigt des Gregor von Nyssa gewiß nicht entgangen sein. Bekräftigt durch den griechischen Gelehrten und Diplomaten Manuel Chrysoloras (1ř5ř–1415), der in Florenz von 1ř97 bis 1400 griechische Grammatik und Literatur lehrte und auch für die dortige Entwicklung von Kunstkennerschaft wichtige Impulse setzte, begann Griechisch zum Bildungskanon der Florentiner Gelehrten zu gehören. So ist für einen von Brunelleschis späteren Auftraggebern, Ambrogio Traversari (1ř86–14ř9), einige Jahre später überliefert, daß er den griechischen Kommentar des Chrysostomos zu den Paulusbriefen derart fließend übersetzt habe, daß Niccolo Niccoli (1ř6ř–14ř7), dem er die lateinische Übersetzung diktierte, mit dem Mitschreiben kaum noch mitgekommen sei.Ⱥ148 Der hochgebildete Palla di Nofri Strozzi (1ř72–1462), der selbst Wichtiges zur Entwicklung der Florentiner Kunsttheorie beitrug, war maßgeblich daran beteiligt gewesen, Chrysoloras für Florenz zu gewinnen. 140ř wurden er und Matteo di Giovanni Villani zu Gutachtern bestimmt, denen man die Kontrolle der Auftragsausführung für die Bronzetür übertrug, um die sich Brunelleschi und Ghiberti mit ihren Reliefs des „Opfers Abrahams“ beworben hatten. So darf man – wenngleich einschlägige Quellen fehlen – mit gutem Grund vermuten, daß Strozzi und Villani auch schon 1401–1402 an Ausschreibung und Entscheidung des Wettbewerbs auf die eine oder andere Weise beteiligt waren und auf das ausgeschriebene Thema mit seinen komplexen Implikationen Einfluß nehmen konnten. Über seine Familie war auch Matteo di Giovanni Villani mit der Geschichte der frühen Florentiner Kunsttheorie verbunden, verfaßte doch sein Cousin, Filippo Villani (1ř25–1407), in den Jahren 1ř81 und 1ř82 del Brunelleschi con gli ambienti letterari fiorentini“, in: Brunelleschi. La sua opera (Anm. 60), Bd. 1, 125–144. 147 Vgl. Mюћђѡѡі, Life (Anm. 4), ř9, Zeile 87–92. 148 Vgl. BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), ř24.
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eine nach dem Vorbild und den kunsttheoretischen Prinzipien Plinius’ des Älteren (2ř–78 n. Chr.) angelegte Sammlung von Biographien berühmter Florentiner Maler von Cimabue (um 1240–1ř02) bis Taddeo Gaddi (1290–1ř66). Von Matteos Vater, Giovanni Villani (1280–1ř48), stammt eine weit über eine Lokalgeschichte hinausgehende „Cronica“, die in der nächsten Generation von Filippo und anderen Mitgliedern der Familie Villani fortgeschrieben wurde.Ⱥ149 Die Mitglieder dieses Kreises teilten eine hohe Wertschätzung für Kunst, die man in den gleichen Rang zu erheben begann wie die freien Künste. Im Anschluß an Giovanni Boccaccio (1ř1ř–1ř75) und Francesco Petrarca (1ř04–1ř74) betonte man die sprach- und insbesondere dichtungs- und rhetorikanaloge Natur visueller Medien und richtete besondere Aufmerksamkeit auf illusionistische Effekte und die damit erreichbaren emotionalen Wirkungen. So habe etwa Giotto, wie Filippo Villani in dessen Biographie erläutert, der Natur so sehr zu entsprechen gewußt, daß der Betrachter meine, das Gemalte lebe und atme. Handlungen und Bewegungen habe Giotto so dargestellt, daß sie zu sprechen, zu weinen oder zu frohlocken scheinen. Darin, dies wahrzunehmen, bestehe dann auch das eigentliche Vergnügen des Kunstkenners.Ⱥ150 Aus einem anderen Blickwinkel fokussiert in einem Brief an Demetrius Chrysoloras auch Manuel Chrysoloras auf Emotionsaspekte von Bildern. Kunstwerke bewundere man in ihren illusionistischen Qualitäten nämlich mehr als das, was sie jeweils nachahmten, da man in ihnen letztlich die Seelenregungen des Künstlers sehen könne. Unvermeidlich mache der Künstler nämlich, wenn er das Bild, das die dargestellten Gegenstände in der Imagination in seiner Seele erzeugten, im jeweiligen Kunstwerk ausdrücke, zugleich seinen aktuellen emotionalen Zustand sichtbar.Ⱥ151 In dieser, auf die Emotionsdarstellung, den Emotionsausdruck und die Emotionswirkung von Kunstwerken gerichteten Umgebung, die 149 Zu diesem Kreis und seiner Bedeutung für die Florentiner Kunst und Kunsttheorie vgl. Bюѥюћёюљљ, Orators (Anm. 116), 66–96; Mіёёђљёќџѓ KќѠђєюџѡђћ, Competitions (Anm. 4), 18řf. (mit Bezug auf den Wettbewerb um die Baptisterientüre). Die unmittelbare Anteilnahme der Florentiner Humanisten an der Entwicklung von Kunstwerken erhellt etwa aus einem Brief Leonardo Brunis (1ř69–1444) von 1424, in dem er für die soeben bei Ghiberti in Auftrag gegebene dritte Baptisterientüre erklärt, am liebsten befände er sich während deren Entstehung neben dem Künstler, damit dieser jede Bedeutung übernehme, auf die es in der dargestellten Geschichte ankomme (zitiert bei KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti [Anm. 2], Bd. 2, ř72f.). 150 Text u. Übers. bei Bюѥюћёюљљ, Orators (Anm. 116), 70. 147; vgl. Lюћё, Viewer (Anm. 7ř), 9f. 151 Manuel Chrysoloras , in: PG 46 (1866), 57–60; abgedr. u. übers. bei Bюѥюћёюљљ, Orators (Anm. 116), 81f. 150–152; vgl. CѦџіљ Mюћєќ, The art of the Byzantine Empire. 312–1433. Sources and Documents, New Jersey 1972, 254f.
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sich zudem eingehend mit der griechischen Tradition befaßte, wird man die zu dem gestellten Thema passenden Fragmente des Melito von Sardes, gewiß aber die Predigt des Gregor von Nyssa berücksichtigt haben, als man das Thema für den bedeutenden Wettbewerb um die zweite Bronzetür ausformulierte und vielleicht mit den Künstlern erörterte. Immerhin handelt es sich bei dieser Predigt Gregors um eine der charakteristischen patristischen Bildpredigten, die man in den Auseinandersetzungen um sakrale Bilder im Mittelalter immer wieder heranzog. Wer sich intellektuell mit Bildern befaßte, konnte dieses treffende Beispiel für die Emotionswirksamkeit von Bildern gar nicht übersehen, zumal Gregor von Nyssa auch an anderer Stelle einen locus classicus der christlichen Rezeptionsästhetik visueller Medien hinterlassen hat. In einer Predigt in der Kirche St. Theodor Martyr verglich Gregor von Nyssa die Bilder an der Wand mit einem redenden Buch und fügt hinzu, daß die Malerei zwar stumm sei, aber von der Wand sprechen könne.Ⱥ152 Die besondere Aufmerksamkeit der Florentiner Humanisten auf die Präsenz- und Emotionswirkungen visueller Medien wird Brunelleschi gewiß darin bestärkt haben, in seiner Forcierung der affektgeladenen Auslegung des biblischen Themas noch über Gregor und dessen ikonographische Bezüge hinauszugehen. Insbesondere der Detailrealismus, in dem Brunelleschi den Todeskampf Isaaks dabei zum Äußersten treibt, steht ganz im Einklang mit weiteren Ekphrasen in Schriften griechischer Kirchenväter wie etwa in der Euphemiapredigt, in der Asterius von Amasea (um 400) anhand eines Gemäldes des Martyriums der Hl. Euphemia die körperlichen Prozeduren der grauenhaften Marter in allen physischen und psychischen Details schildert und dabei – ähnlich wie Gregor – erklärt, ihm seien „die Tränen in die Augen“ geschossen.Ⱥ15ř
152 Gџђєќџ ѣќћ NѦѠѠю, S. Theod. Mart., in: PG 46 (186ř), 7ř7–740A; Übers. bei Mюћєќ, Empire (Anm. 151), ř6f.; vgl. HђћџѦ MюєѢіџђ, Art and Eloquence in Byzantium, Princeton 1981, 9. 114, Anm. 4. 15ř AѠѡђџіѢѠ AњюѠђћѠѢѠ, Homilies I–XIV, hg. v. CќџћђљіѠ Dюѡђњю, Leiden 1970, 15ř–157, Homilie 11; zur Verwendung dieser Homilie auf dem Konzil von Nizäa vgl. ebd., XVII. XX. 149; zur Bedeutung für die byzantinische Malerei vgl. MюєѢіџђ, Eloquence (Anm. 152), 22. ř5; erwähnt bei JќѕюћћђѠ MќљюћѢѠ, De historia ss. imaginvm et pictvrarvm […] libri IV, Leuven 1594, ř2r–řřv; zusammen mit der Abrahamspredigt des Gregor von Nyssa bei Gюяџіђљђ Pюљђќѡѡі, „Discorso intorno alle imagini sacre e profane“ (11582), in: Trattati d’arte del cinquecento fra manierismo e controriforma, hg. v. Pюќљю Bюџќѐѐѕі, ř Bde. (Scrittori d’Italia 219. 221f.), Bari 1960–1962, Bd. 2, 117–509, hier 2ř2; vgl. Hђіћђћ, Predigt (Anm. 1), 27. 211f., Anm. 178–192; Paleottis Text im Wortlaut zitiert JќѠђѝѕ Iњќџёђ in seinem Beitrag in vorliegendem Band (s. u., 411, Anm. ř4). Zur Bedeutung von Ekphrasen in der byzantinischen Literatur vgl. Aџњіћ HќѕљѤђє, „Ekphrasis“, in: Reallexikon zur byzantinischen Kunst, Bd. 2, hg. v. Mюџѐђљљ RђѠѡљђ, Stuttgart 1971, řř–75.
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Einer Umgebung, die neben den antiken Texten auch neuen Zugang zur griechischen Bildtheorie fand, konnten all die seltenen und ungewöhnlichen literarischen und ikonographischen Motive und ästhetischen Kategorien geläufig sein, die Brunelleschi mit seinem „Opfer Abrahams“ wachrief. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, daß Brunelleschis Zeitgenossen – wie Manettis Bericht zeigt, die spezifischen ästhetischen Qualitäten sichtlich zu schätzen wußten, auf die sich Brunelleschis Arbeit an diesem Relief konzentrierte: die raffinierten und ausdrucksstarken Einzelbewegungen und ihre hohe Präsenzwirkung, aber auch die Einbindung jeder Figur in die Gesamtwirkung, bei der jedes Detail beseelt wirke.Ⱥ154
154 „Aber als sie sein Relief sahen, waren sie alle überrascht und voller Bewunderung ob der Schwierigkeiten, die er sich vorgenommen hatte, wie etwa: die Haltung (attitudine) Abrahams und speziell die seines Daumens unter dem Kinn des Isaak, seine Lebhaftigkeit (prontezza) und die Draperie seines Gewandes; die Haltung (modo) und Vollendung (fine) des gesamten Körpers seines Sohnes; die Körperhaltung und Draperie des Engels, dessen Gestik und besonders die Art, wie er die Hand des Abraham ergreift; Haltung, Benehmen und Vollendung des Mannes, der sich den Dorn aus seinem Fuß zieht, und jenes Mannes, der in gebückter Haltung trinkt; und welchen Schwierigkeitsgrad doch jene Figuren aufwiesen und wie gut sie ihre Aufgabe (uficio) erfüllten, daß dort kein einziges Glied sei, das nicht beseelt wäre, bis hin zu den Eigenschaften und der Vollendung der Tiere, die dort zu sehen sind, und so jedes weitere Ding wie auch der gesamte Körper der Erzählung insgesamt (come tutto el corpo della storia insieme).“ „Ma quando e vidono la sua, tutti stupivano e maravigliavansi delle difficulta che gli aveva messo innanzi, come fu l’attitudine d’ Abram, l’attitudine di quel dito sotto el mento, la sua pronteza, e pannj, el modo et la fine di tutto quel corpo del figliuolo, el modo, e panni di quello angelo, e suoi reggimenti, e come gli piglia la mano, l’attitudine el modo et la fine di quello che si trae lo stecho del pie e cosi di quello che be[v]e chinato, e di quanta dificulta sono quelle figure, et quanto bene elle fanno l’uficio loro, che non ve menbro che non abbia spirito, e le conditionj e fine degli animalj che vi sono, e cosi ogni altra cosa come tutto el corpo della storia insieme“ (Mюћђѡѡі, Life [Anm. 4], 49, Zeile 277–286). Zur „prontezza“ als Kriterium, das im 16. Jh. auf Donatello angewandt wurde, vgl. Jќюѐѕіњ PќђѠѐѕјђ, „‚Prontezza‘. Zu Donatellos Georgsstatue und Albertis mutmaßlichem Selbstbildnis“, in: Zwischen den Welten. Beiträge zur Kunstgeschichte für Jürg Meyer zur Capellen. Festschrift zum 60. Geburtstag, hg. v. Dюњіюћ DќњяџќѤѠјі, Weimar 2001, 28–ř8; zum Bezug der „prontezza“ zur Ansichtsbezogenheit von Nischenskulpturen Donatellos vgl. auch Tюџџ, Placement (Anm. 146), 125; zur „difficultà“ in Brunelleschis Relief und deren zeitgenössischer Rezeption vgl. EџћѠѡ Gќњяџіѐѕ, „The Leaven of Criticism in Renaissance Art“, in: DђџѠ., The Heritage of Apelles. Studies in the art of the Renaissance, Oxford 1976, 110–1ř1, hier 121f.; den Zusammenhang von „difficultà“ und „storia“ in Manettis Text erkennt Bюѥюћёюљљ, Wirklichkeit (Anm. 84), 172–179.
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Brunelleschis Medienverständnis Unter Einsatz der stärksten Emotionalisierungsmöglichkeiten läßt Brunelleschis „Opfer Abrahams“ erstmals ein Relief als sichtbare Predigt argumentieren. Im Relief selbst gelingt Brunelleschi durch radikale Systematisierung medienspezifischer Anordnungsmöglichkeiten eine komplexe medienimmanente Auslegung sowie eine auf den Betrachter gerichtete Aktualisierung der biblischen Erzählung und ihrer soteriologischen Exegesetraditionen. In einem medienspezifischen Anordnungsverfahren verbindet Brunelleschi die Figuren und Figurationen in ihrer symbolischen und typologischen Bedeutung sowohl zu einer sichtbaren Erzählung als auch zu einem sichtbaren Argument, das eindrücklich an den Glauben des Betrachters appelliert. So hat die Anordnung der Figuren zueinander und in Beziehung auf den Betrachter – weit stärker als bei Ghiberti – bei Brunelleschi nicht nur erzählende, sondern auch erörternde und appellierende Funktion. Ansichten von Reliefs können zwar im Sinne des projektiven Illusionismus in flächige oder nahezu flächige Wahrnehmungsbilder überführt werden, unterliegen wegen ihrer grundsätzlichen Dreidimensionalität zunächst prinzipiell dem realräumlichen Illusionismus. Da ihre Darstellungsmittel den Realraum einbeziehen, sind sie haptisch wahrnehmbar, prinzipiell mehransichtig, mit der Bewegung des Lichts veränderlich und binokular erschließbar, wie schon Ghiberti in seinen „Commentarii“ betont.Ⱥ155 Mit dem Medium Bild teilt das Medium Relief also grundsätzlich die Möglichkeit, sichtbare Erzählung – und Sukzessivität generell – sowohl durch Anordnung von Teilen in der Bildebene beziehungsweise parallel zur Reliefgrundplatte, als auch durch Einstellung in einen illusionsräumlichen Zusammenhang zu konstituieren. Im Gegensatz zum Medium Bild einerseits und zum Medium Plastik andererseits bleiben dabei im Medium Relief realräumliche Tiefe und projektive Raumtiefe immer als nicht ineinander aufhebbare Anordnungssysteme bestehen. Die auch im Medium Bild gegebenen Möglichkeiten, durch die Komplexierung der Verknüpfung unterschiedlicher Ordnungssysteme der Bildebene oder des projektiven Illusionsraumes vom sichtbaren Erzählen zum sichtbar erörternden Argumentieren überzugehen,Ⱥ156 er155 Vgl. HѢџё, Treatise (Anm. 28), ř07ff. 156 Vgl. Wюџћѐјђ, Bilder (Anm. 1), 1ř1: „Durch die Verknüpfung mehrerer und unterschiedlicher Ordnungssysteme in der Komposition des Bildes wird es von einem ‚Argumentum‘ im Sinne einer bloßen Gegenstandsrepräsentation zu einem ‚Argumentum‘ im Sinne der zweiten rhetorischen Begriffsdeutung als erörternde Abhandlung. Grundlage dafür ist der Zeichenwert der Ordnung. Medienspezifisch wird er im Bild als Anordnung verwirklicht.“
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weitern sich im spezifischen Verhältnis des Mediums Relief zu planimetrischen Ordnungssystemen und der projektiven Illusionsräumlichkeit also um die medienspezifische Einbeziehung des realräumlichen Illusionsraumes, in dem die modellierten Figuren realräumlich präsent sind und die realräumliche Raum- und Körperillusion des jeweils – proportional verkleinerten – Abgebildeten wecken. Innerhalb der jeweiligen räumlichen – sowohl projektiv-illusionistischen als auch realräumlich-illusionistischen – oder aber der auf die Fläche bezogenen Anordnungssysteme – und diese Anordnungsmuster zugleich konstituierend – bringen Reliefs am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit ihre Elemente durch diverse Mittel der Aufmerksamkeitslenkung und des wechselseitigen Beziehens in immer komplexer werdende Zuordnungen. Neben der planimetrischen Verweisstruktur des Reliefs, die durch das Gefüge der Körperhaltungen (besonders der Interaktionen, Blicke und Zeigegesten) und durch deren illusionäre Bezüge auf den Betrachter konstituiert wird, dienen medienspezifische Darstellungsmittel diesem Zweck. Während im Medium Bild etwa Helligkeitsunterschiede die Aufmerksamkeit leiten, können im Medium Relief beispielsweise Kontraste der Oberflächenstruktur, differenzierte Plastizitätsgrade, dreidimensionale Formkontraste und -zusammenhänge sowie Dimensionsunterschiede in der Proportionierung die Zuwendung der Aufmerksamkeit lenken. Auch die vom Medium Bild her vertraute Tatsache, daß Orte, an denen der Betrachter größere semantische Dichte vermutet, rasch die Aufmerksamkeit anziehen, und Orte ‚interessanter‘, pathetisierter visueller Information die Aufmerksamkeit lange festhalten,Ⱥ157 wird zum Aufbau von Reliefs als Erzählung oder Argumentation nutzbar gemacht. Als Matrix, in der sich diese medienspezifisch modulierten Darstellungsmittel visueller Medien im Medium Relief als Erzähl- und Argumentationsmittel artikulieren, aktiviert Brunelleschi die im Medium Relief grundsätzlich verfügbaren Anordnungssysteme: ein planimetrisches, also grundplattenparalleles Anordnungssystem, ein von 157 Vgl. etwa die Darstellung des wahrnehmungspsychologischen Forschungsstandes unter besonderer Berücksichtigung von Beobachtungen der Augenbewegung bei FџюћѐќіѠ MќљћюџȦDђњђѡџіќѠ RюѡѠіјюѠі, „Some aesthetical aspects of visual exploration“, in: Eye Movements. From Physiology to Cognition. Selected / Edited Proceedings of the Third European Conference on Eye Movements, Dourdan, France, September 1985, hg. v. J. K. O’RђєюћȦA. LђѣѦ-Sѐѕќђћ, Amsterdam 1987, ř6ř–ř74, bes. ř64f. ř67. Vgl. auch Hђіћџіѐѕ TѕђіѠѠіћє, Die Zeit im Bild, Darmstadt 1987, ř0f., der auf die prinzipielle Differenz zwischen Aufmerksamkeitszuwendung und Augenführung überzeugend hinweist. Auf die Bedeutung der Augenbewegung für die sukzessive Wahrnehmung von Reliefs hat schon Ghiberti in seinen „Commentarii“ hingewiesen (vgl. HѢџё, Treatise [Anm. 28], ř08).
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der Grundplattenrichtung gelöstes Anordnungssystem, das in einem realräumlichen Illusionismus gründet, und ein Anordnungssystem, das auf projektiven Illusionismus zielt (Abb. 14 und 15).Ⱥ158 Jedes dieser Anordnungssysteme entwickelt er dabei stringent und schafft in ihnen gemeinsam Erzählung und Argumentation. Wie auch Ghiberti nutzt Brunelleschi zunächst in der Entfaltung der sichtbaren Erzählung die grundplattenparallele Anordnung von Figuren und Verweisgesten zum Aufbau einer planimetrisch entfalteten Verweis- und Erzählfolge. Die grundplattenparallele Anordnung dient ihm zudem zur hierarchisierenden Abwertung der Sündhaftigkeit, die in der unteren Reliefzone symbolisch repräsentiert ist, durch deren vertikale Unterordnung unter die Darstellung des eigentlichen Heilsgeschehens. Indem Brunelleschi die Figuren der unteren Reliefzone dann als einzige fast vollplastisch durchbildet und den Reliefrahmen überspielen läßt, folgt er einem realräumlichen Illusionismus, durch den das gesamte Relief an die Raum- und Körpererfahrung des Betrachters anbindet. In der Mehransichtigkeit des rechten Dieners steigert Brunelleschi dieses Prinzip. Noch stärker als Ghiberti in der Figur des Isaak oder in der virtuellen Bewegung des Messers zu Isaaks Kehle fordert Brunelleschi hier eine Interaktion zwischen dem Relief und der Bewegung des Betrachters als aktive Betrachterleistung und schafft so eine hohe Intensivierung der affektiven Einbeziehung des Betrachters. Die Elemente dieses realräumlichen Illusionismus ordnet Brunelleschi zugleich einem projektiven Illusionismus unter, der alle Teile des Reliefs verbindet. Zu dem Prinzip einer grundplattenparallelen Anordnung der Figuren neben- und übereinander und zu dem Prinzip einer 158 Diese Terminologie folgt EѢљђџ-KҿћѠђњҿљљђџ, Bildgestalt (Anm. 4), 140, Anm. 16ř; vgl. auch die Begriffe ‚reale Raumbezüge‘ und ‚bildhafte Projektion‘ bei MђѠѠђџђџ, Relief (Anm. 60), 148f. Brunelleschis Abstufung der Plastizitätsgrade in diesem Relief wurde oft ignoriert wie etwa bei WѢћёџюњ, Entwicklung (Anm. 59), 27; SђѦњќѢџ, Sculpture (Anm. 59), ř8; KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 44; ёђџѠ. Studies in Early Christian, Medieval, and Renaissance Art, New ork 1969, 285; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 91f. Brunelleschis innovative Ansätze zu einer illusionsräumlichen Koordination in diesem Relief, zu einer neuen Behandlung der Reliefgrade oder zu Ansätzen einer perspektivischen Auffassung erkennen dagegen Aџєюћ, Architecture (Anm. 74), 116; Oѡѡюѣіќ MќџіѠюћі, „Letture Donatelliane. L’Abramo ed Isaaco“, in: Bolletino di storia dell’arte 1 (1951), 7–19, hier 10; Cюџљќ LѢёќѣіѐќ Rюєєѕіюћѡі, „Prospettiva 1401“, in: Scritti in onore di Roberto Pane, Neapel 1969– 1971, 187–196, hier 194–196; AџѡѢџ RќѠђћюѢђџ, Studien zum frühen Donatello. Skulptur im projektiven Raum der Neuzeit, Wien 1975, 119; BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), 24; Rюєєѕіюћѡі, Brunelleschi (Anm. 4), 16. 52. 54; GіѢљіќ Cюџљќ Aџєюћ, Storia dell’arte italiana, Bd. 2, Florenz 1977, 91; Eџѐќљі, Tecnica (Anm. 60), 271f.; Pџђѣіѡюљі, Periodisierung (Anm. 11), hier 1ř8; EѢљђџ-KҿћѠђњҿљљђџ, Bildgestalt (Anm. 4), 29. 140, Anm. 16ř; NіђѕюѢѠ, Reliefkunst (Anm. 4), 55–58.
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Anordnung im Illusionsraum der Vollplastik, der mit dem Realraum des Betrachters verschränkt ist, tritt mit der Anordnung der Figuren in einem bloß projektiv wahrzunehmenden Illusionismus die Simulation einer virtuellen tiefräumlichen Staffelung von Vorder-, Mittel- und Hintergrund hinzu. Über und hinter den Figuren der unteren Reliefzone, die den Reliefrand annähernd vollplastisch überschneiden und so dem Betrachter zum Greifen nah sind, folgen abgeflachte und flach auf die Grundplatte montierte Figuren, deren Volumen nur noch teilweise realräumlich durchgebildet ist, ansonsten aber nur optisch suggeriert wird und nur visuell zu erfassen ist. Dem geringen Plastizitätsgrad dieser Figuren entspricht die grundplattenparallele Ausrichtung ihrer Gliedmaßen.Ⱥ159 Den geringsten Plastizitätsgrad weisen zuletzt der Berg und der Baum im oberen rechten Lappen des Vierpasses auf. Die in drei Graden von unten nach oben entwickelte Abnahme des realen Plastizitätsgrades, die den Anteil realräumlicher Illusion zugunsten projektiver Körperillusion schrittweise reduziert, macht eine Unterscheidung von Vorder-, Mittel- und Hintergrund als hintereinanderliegende, in sich jeweils grundplattenparallele Pläne sichtbar: Je greifbarer das Reliefelement, desto näher; je mehr bloß auf Sichtbarkeit rechnend, desto entfernter.Ⱥ160 Die Überschneidung des Reliefrahmens durch die Figuren der Diener, des Altarsockels durch den Eselsrücken und des Baumes durch Abrahams Mantel bestätigt als konventionelles Anordnungsmittel zur Klärung räumlicher Mikrostrukturen diese von vorne nach hinten führende Staffelung der Pläne. Ebenso ist die Kopfwendung des rechten Dieners ganz auf die Illusion angelegt, daß die dahinter hintereinanderliegenden Pläne projektiv illusionistisch weiter entfernt erscheinen als es der realräumliche Illusionismus vorgibt. Brunelleschi nutzt die durch Abnahme des Plastizitätsgrades erreichbare Unterscheidung von Vorder-, Mittel-, und Hintergrund dazu, die der biblischen Erzählung entsprechende räumliche Entfernung zwischen der Gruppe, die unterhalb des Opferberges zurückgeblieben ist, und der Opferszene begreifbar zu machen. Die Opferszene erscheint da159 Zur grundplattenparallelen Orientierung dieser Figuren vgl. EѢљђџ-KҿћѠђњҿљљђџ, Bildgestalt (Anm. 4), ř0; AћёџђѠ, Florence (Anm. 15), Bd. 1, ř66. 160 Ausgerechnet Ghiberti wird in den von 1447 an verfaßten „Commentarii“ die unterschiedliche Bedeutung der Binokularität für nahes und für fernes Sehen berücksichtigen und das Prinzip einer nahsichtigen haptischen Erfahrung der Wahrnehmung gegenüber einem fernsichtigen, auf Sichtbarkeit statt auf Tastbarkeit rechnenden Illusionismus beschreiben und wahrnehmungstheoretisch reflektieren (vgl. Dђѐіќ GіќѠђѓѓі, „Il Terzo Commentario e il pensiero prospettico del Ghiberti“, in: Ghiberti nel suo tempo [Anm. 4], Bd. 2, ř89–405, hier ř92–ř94; NіђѕюѢѠ, Reliefkunst [Anm. 4], 75f.).
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Abb. 14: Fіљіѝѝќ BџѢћђљљђѠѐѕі, Das Opfer Abrahams (Ansicht von rechts), Messing, vergoldet, ca. 42 x ř8 cm, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.
Abb. 15: Fіљіѝѝќ BџѢћђљљђѠѐѕі, Das Opfer Abrahams (Ansicht von unten), Messing, vergoldet, ca. 42 x ř8 cm, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.
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durch für den Betrachter nur im imaginierten Durchschreiten des Vordergrundes zugänglich. Diese Differenzierung der projektiven Bildtiefe gibt Brunelleschi zudem Gelegenheit zur Akzentuierung einer realräumlich-illusionistischen Anbindung der fast vollplastisch gebildeten untersten Reliefzone als der vordersten an den Betrachterraum. Zur Entfaltung des projektiven Illusionismus bietet Brunelleschis „Opfer Abrahams“ – außer rein optisch wahrzunehmenden Detaileffekten wie dem durch den durchsichtig erscheinenden Umhang Abrahams hindurch sichtbaren Baum – schließlich eine konsequente Ansichtigkeitsorientierung und empirische Fluchtlinienbeobachtung, wie sie im Medium Relief bis dahin noch nicht vorgekommen war. Da noch die linearperspektivisch konstruierten Reliefs der Florentiner „Paradiestür“, die Ghiberti Jahrzehnte nach Brunelleschis „Opfer Abrahams“ formt, ganz unabhängig von ihrem jeweiligen Anbringungsort auf mittige Frontalsicht ausgerichtet sein werden,Ⱥ161 und da sich aus einem mittigen Blickwinkel die sonst unvermeidlichen Verzerrungen der Körper vollständig aufheben, rechnen wohl auch Brunelleschis und Ghibertis Wettbewerbsstücke hauptsächlich mit zentraler Ansichtigkeit. Aus zentraler Frontansicht – aber nur aus dieser – sind die für eine Anmessung von Fluchtungen tauglichen Punkte in diesem Relief nun so verteilt, daß sich im unteren Bereich des Reliefs Aufsichten ergeben, im mittleren Normalansichten, im oberen Untersichten. Die Hufe des Esels sind so in Trapezform angeordnet, daß die hinteren Hufe nicht nur aufgrund ihres geringeren Plastizitätsgrades weiter hinter den vorderen Hufen zu stehen scheinen als sie von den realen plastischen Verhältnissen her tatsächlich voneinander entfernt sind. Darüber schließt die fast in Reliefmitte liegende, durch ein Gesims betonte Altarplatte bei mittiger Frontansicht – anders als bei erhöhten Betrachterstandpunkten, aus denen die ohne Unterzug senkrecht auf die Grundplatte aufsetzende linke Kante der Altarplatte und damit die Konstellation der realräumlich aperspektivisch nach hinten divergierenden Kanten dieser waagerechten Fläche sichtbar werden – des Reliefs horizontal so ab, daß die Oberkante der rechten Seite und die Oberkante der Stirnseite sich zu einer waagerechten Geraden zusammenziehen. Dies entspricht genau der Ansichtigkeit von zwei Kanten eines Quaders, die sich auf Augenhöhe 161 Dieses Prinzip entspricht nicht nur einer zunächst wenig erklärungsbedürftigen Darstellungsmethode, sondern auch der bis ins Quattrocento geläufigen Theorie des Sehens. Ein klares Bild ergab sich nach dieser Vorstellung nur, wenn das Sehobjekt dem Auge direkt gegenübersteht und die Sehstrahlen rechtwinklig auf das Auge treffen (vgl. SюњѢђљ . Eёєђџѡќћ, Giotto und die Erfindung der dritten Dimension. Malerei und Geometrie am Vorabend der wissenschaftlichen Revolution [engl. Originalausg. London 1991], München 2004, 9ř).
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des Betrachters befinden. Demselben Blickwinkel auf die grundplattenparallel vorzustellende Stirnseite eines Quaders entsprechend, verläuft auch die waagerechte Unterkante dieser Stirnseite nahezu parallel zur Oberkante derselben Fläche. Die Unterkante der rechten Seite des Altarblocks aber steigt nach rechts an, so daß zusammen mit der Oberkante dieser Wand der Eindruck einer in die Tiefe führenden Fläche entsteht. Wenngleich der Quader nur geringe realräumliche Tiefe im Relief einnimmt, entsteht insbesondere durch diese Fluchtung projektiv, doch linearperspektivisch stimmig die überzeugende Illusion eines soliden Altarsteines. Die hierdurch angedeutete flache Aufsicht auf die verdeckte Grundfläche des Altarblocks entspricht der mittleren Frontalsicht des Quaders. Die Aufsicht auf die Standfläche des Esels, die flachere Aufsicht auf die verdeckte Grundfläche des Altarblocks und die Normalansicht der Altarplatte sind damit so übereinander plaziert, daß sie der natürlichen Ansicht von Flächen entsprechen, die parallel zum Boden übereinander angeordnet sind: Die untere Fläche erscheint in steiler Aufsicht, die mittlere in flacherer und die auf Augenhöhe nur noch als durchgehende Gerade. Ebenfalls auf zentrale Frontansicht des Reliefs angelegt, folgen auch die weniger exakt vermeßbaren Figuren des Reliefs dem Ansichtigkeitsprinzip. Wie an Fußstellung und Oberschenkelneigung beider Diener sowie dem Rücken des rechten Knechtes ersichtlich, erscheinen die Figuren der unteren Reliefzone in Aufsicht. In Normalansicht sieht man den Widder, Isaak und Abraham in mittlerer Höhe, wobei an den Figuren von Vater und Sohn nach oben hin eine Tendenz zur Untersicht zunimmt. Der Engel schließlich ist am oberen Rand des Reliefs in leichter Untersicht gegeben. Durch diese ansichtsorientierte Ausrichtung, die noch ohne lineare Konstruktion der empirischen Beobachtung entspricht, legt Brunelleschi erstmals für das Medium Relief Grundzüge nicht nur einer projektiven Gegenstandsillusion, sondern auch einer projektiven Raumillusion an. Unter der „argumentativen Maske“ eines Einheitsraumes werden Figuren und Handlungen zusammengefaßt und auf ihr Gesehen- und Erschlossenwerden durch den Betrachter ausgerichtet.Ⱥ162 Im subtilen Zusammenspiel des grundflächenparallelen, des realräumlich-illusionistischen und des projektiv-illusionistischen Anordnungssystems leitet Brunelleschis Relief mit medienspezifischen Mitteln vom grundflächenparallelen syntaktischen Reihen einzelner Erzählschritte zum räumlich verschränkten parataktischen Verknüpfen argumentativer Be162 Zum Prinzip der argumentativen Maske s. u. Anm. 207.
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gründungszusammenhänge und deren Beziehung zum Betrachter.Ⱥ16ř So ist das gesamte Relief auf das ansichtige Gesehen-Werden durch den Betrachter und auf die Anleitung zur Reflexion des Gesehenen angelegt. Den biblischen Bericht von Abrahams Opfer und besonders die im Namen des Opferberges liegende Thematisierung des Sehens und Gesehen-Werdens auslegend, führt das Relief die Heilswirksamkeit des Sehens wirkungsvoll vor Augen und macht Sehen als Weg zu Bekehrung und Glauben erfahrbar. In der Annäherung an den projektiven Illusionismus und die optischen Werte der Reliefperspektive leitet das Sehen selbst Brunelleschis neues Verständnis vom Medium Relief. So haben Inhalt, Predigtprinzip, Darstellungsmethode und Medialität in Brunelleschis Relief dasselbe Thema: Das Sehen. Ein Vergleich mit Ghibertis Relief unterstreicht die Neuartigkeit von Brunelleschis Entfaltung der medienspezifischen Anordnungssysteme des Mediums Relief. Ghiberti konzentriert sich darauf, die Plastizitätsgrade ganz subtil zu differenzieren. Von feinst nuancierten Abstufungen des Flachreliefs in den Figuren der Diener und des Esels bis zu vollständiger Vollplastik in der Figur Isaaks nutzt Ghiberti eine breitere und zugleich feiner abgeschattete Palette von Plastizitätsgraden als Brunelleschi und setzt auf zahlreiche illusionistische Überschneidungen von Körpern und Körperteilen. Gelingen Ghiberti dabei etwa bei der Gruppe der beiden Diener, wo er die Plastizität von der rechten Ferse der vorderen Figur bis zum Basrelief des hinteren Fußes kontinuierlich verringert, fraglos famose Effekte,Ⱥ164 so wirkt diese Suggestion einer projektiv-illusionistischen räumlichen Mikrostruktur aber doch nur im engsten Nahraum. Nur Brunelleschi klärt die tiefräumliche Beziehung zwischen der Neben- und der Hauptgruppe und unterwirft das gesamte Relief einer koordinierten Raum- und Anordnungskonstitution. Nur bei Brunelleschi, nicht aber bei Ghiberti gibt es also Ansätze zur Illusion einer Ansichtigkeitseinheit des Ortes. Isaaks Körper formt Ghiberti als einzigen vollplastisch. Von starker Plastizität ist auch die Gestalt Abrahams und der Oberkörper des Engels. Wesentlich flacher bildet Ghiberti dagegen die Figuren der Diener,
16ř Dieselbe Funktion erkennen für die Linearperspektive im Medium Malerei etwa NђѢњђѦђџ, Blick (Anm. 10), ř5; Wюџћѐјђ, Bilder (Anm. 1), 1ř1–1ř5, bes. 1ř2. 164 Vgl. WѢћёџюњ, Entwicklung (Anm. 59), 8f.; EѢљђџ-KҿћѠђњҿљљђџ, Bildgestalt (Anm. 4), 26. 29. Zumindest ein Streben nach einem Raumkontinuum, gelegentlich aber sogar die Differenzierung von Vorder-, Mittel- und Hintergrund behaupten für Ghiberti WѢћёџюњ, Entwicklung (Anm. 59), 18–26, bes. 22; Pќѝђ-HђћћђѠѠђѦ, Introduction (Anm. řř), Bd. 1, řř; ёђџѠ., Bd. 2, 1; EѢљђџ-KҿћѠђњҿљљђџ, Bildgestalt (Anm. 4), 26; vgl. auch RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 91f.; NіђѕюѢѠ, Reliefkunst (Anm. 4), 54–58.
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deren realräumliche Distanz selbst das Volumen des zwischen ihnen stehenden Esels nicht berücksichtigt. Noch nicht einmal die Überschneidung des rechten Dieners durch den Esel ist plastisch konsistent geklärt. Geschehenslogik und Figurenfolge machen klar, daß gerade diese Gruppe in geringster Distanz zum Betrachter wahrgenommen werden soll. Doch gerade diese Gruppe ist besonders flach modelliert. Ghibertis Differenzierung von Plastizitätsgraden dient nicht der Ermöglichung eines umfassenden räumlichen Anordnungssystems. Ghiberti hebt, letztlich dem Figur-Grund-Unterscheidungsprinzip des Mediums Bild folgend, statt dessen die gemeinte Figur durch plastische Ausformung vom jeweils nichtgemeinten Grund ab. Dabei korrelieren Wichtigkeit und Plastizitätsgrad einer Figur. Wie in der Trecentotradition Maßstab und Plastizitätsgrad unabhängig bleiben von der räumlichen Position der jeweiligen Figur im Reliefraum und eher abhängen von der jeweiligen Wichtigkeit des Dargestellten,Ⱥ165 hebt Ghiberti die Figur Isaaks, in die er den entscheidenden inhaltlichen Akzent seines Reliefs legt, durch verstärkte Plastizität hervor. So ergibt sich in Ghibertis Relief letztlich eine Variante der aus der Malerei vertrauten Bedeutungsperspektive, die man vielleicht „Bedeutungsplastizität“ nennen könnte: Je bedeutender die Figur gegenüber der sie unmittelbar umgebenden Fläche, desto deutlicher hebt Ghiberti sie von dieser plastisch ab. Besonders ein vergleichender Blick auf die Ansichtigkeit der Eselsstandfläche und der Altarplatte zeigt, daß Ghiberti anders als Brunelleschi in seinem Relief weder Reliefgrade noch Ansichtigkeiten von Flächen oder Figuren zur Konstitution eines übergreifenden projektiven Illusionismus koordiniert. Aus mittiger Frontalsicht hat der Betrachter bei Ghiberti eine Aufsicht auf den gesamten Altarblock. Die im Relieffeld weit tiefer liegende Standebene des vorderen Dieners und des Esels müßte daher noch erheblich steiler ansteigen, um räumlich koordiniert zu wirken. Statt dessen reduziert sich diese Ebene auf eine fast waagerechte Linie und erscheint so beinahe in Normalansicht. Das Verhältnis einer unten im Relieffeld zu erwartenden Aufsicht und einer weiter oben im Relieffeld zu erwartenden Normalansicht, wie es dem natürlichen Sehen und seiner projektiv illusionistischen Abbildung entsprechen würde und wie es Brunelleschi vorführt, kehrt Ghibertis Wettbewerbsstück also geradezu um. Auch in der Ansichtigkeit der Körper gibt es bei Ghiberti etwa in der Relation von verlorenem Profil und Dreiviertel-
165 Vgl. etwa Aћёџђю PіѠюћќ, Jabal, der Hirtenkönig, Steinrelief, Florenz, Domopera (MюџіюєіѢљію BѢџџђѠі, Andrea, Nino e Tommaso scultori pisani, Mailand 198ř, 57).
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profil bei den beiden Dienern nur eine Nahraumkoordination von Figur zu Figur.Ⱥ166 Bei allem Bemühen um Räumlichkeit in der Mikrostruktur des Reliefs aktiviert Ghiberti zur Anordnung seiner Figuren im Relieffeld letztlich nur das planimetrische Anordnungssystem. In solcher Verräumlichung der Mikrostruktur kann kein Ansatz zur Gewinnung optischer Ganzheit gefunden werden,Ⱥ167 da überzeugende tiefräumliche Wirkungen erst mit der Verfügbarkeit übergreifender räumlicher Anordnungssysteme zu erreichen sind, die sich aus der Plastizität der Mikrostruktur nicht schlüssig entwickeln lassen. Die ersten Reliefs, die tiefräumliche Wirkungen suchen, staffeln die Figurengruppen bezeichnenderweise wie Brunelleschi in Plänen, die in sich je grundplattenparallel gebildet sind. Die systematische Erschließung von Raumtiefe entwickelt sich also gerade nicht durch eine in die Tiefe führende Erschließung des nahen Umraumes von je für sich verräumlichten Figuren. Die Systematisierung neuer räumlicher Anordnungssysteme im Medium Relief, die letztlich auf einen optisch koordinierten Ganzraum ausgehen, findet unabhängig von der spätmittelalterlichen Entwicklung zunehmender Verräumlichung der einzelnen Reliefelemente statt. Mit Brunelleschis Berücksichtigung koordinierter Ansichtigkeit beginnt die tiefräumliche Abstimmung der Figuren und Architekturen im Medium Relief. Auf eine Berücksichtigung der spezifischen Ansichtigkeitsabhängigkeit, die dem Medium Relief in seiner Zwischenstellung zwischen Vollplastik und Bild zu eigen ist, war Brunelleschi grundsätzlich schon durch seine frühesten Arbeiten vorbereitet. Unmittelbar vor seinem „Opfer Abrahams“ hatte er 1ř99–1400 mit seinen Reliefs für den Altar des Hl. Jakobus in der Capella di S. Jacopo im Dom zu Pistoia vorgeführt, wie sich für eine reliefierte Einzelfigur mit einem Minimum an realräumlicher Ausdehnung ein Maximum an vollplastischer Wirkung erreichen läßt. In Anlehnung an Skulpturen und Reliefs Arnolfo di Cambios (um 1240Ȧ45–1ř02Ȧ1ř10) oder Nicola Pisanos berücksichtigt Brunelleschi dort bereits ansichtsabhängige Verkürzungen, so daß die reliefierten Figuren von einem tieferliegenden Betrachterstandpunkt aus in projektiver Ansicht natürlich proportioniert erscheinen, ihre körperliche Präsenzwirkung gesteigert wird und ihre Gestik ausdrucksstärker wirkt.Ⱥ168 166 Vgl. KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 47. 167 So aber MђѠѠђџђџ, Relief (Anm. 60), 149. 168 Vgl. die Zusammenstellung der Abbildungen bei BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), Abb. 14–16; ausführlich Mюџѣіћ Tџюѐѕѡђћяђџє, Dominion of the Eye. Urbanism, art, and Power in Early Modern Florence, Cambridge 1997, 185–194; Tюџџ, Placement (Anm. 146), 101–109.
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Über hundert Jahre nachdem im Medium Bild erste Ansätze der empirischen Fluchtlinienbeobachtung in ganz verwandten Erschließungsschritten zur Koordinierung von Ansichtigkeit und Fluchtungen geführt hatten, erwächst also auch im Medium Relief die tiefräumliche Erschließung aus empirischer Ansichtigkeitsbeobachtung. Mit seiner systematischen Entwicklung einer medienspezifischen Alternative zu grundplattenparallelen Anordnungssystemen und der dadurch erreichten Umformung des Mediums Relief zu einem argumentierenden Medium arbeitet Brunelleschi für dieses Medium also die Ansichtigkeitsorientierung auf, die Giotto für das Medium Bild lange zuvor erreicht hatte.Ⱥ169 Giottos Darstellungen kontinuierlicher Räume gingen auf Forderungen ein, wie sie zuvor in mittelalterlichen Abhandlungen zur Optik erhoben wurden.Ⱥ170 Besonders die Wirkung des um 1266Ȧ1267 verfaßten „Opus maius“ des englischen Franziskanermönches Roger Bacon (um 1220 bis nach 1292) auf Giottos Neuerungen ist deutlich.Ⱥ171 In der Schlußpassage dieses Traktats wird ein tiefes Motiv für die Entwicklung ansichtigkeitsbezogener Körper- und Raumdarstellungen erkennbar, das Giottos empirische Fluchtlinienbeobachtungen – sofern der für die Franziskaner arbeitende Giotto von den Überlegungen des Franziskaners Bacon Kenntnis haben konnte – in religiösen Bildthemen wesentlich vorangetrieben haben dürfte und das noch in Brunelleschis medienhistorischer Weiterentwicklung des Mediums Relief als sichtbarer Predigt nachzuwirken scheint:
169 Vgl. das knappe, aber treffende Urteil bei Pџђѣіѡюљі, Periodisierung (Anm. 11), hier 1ř8; der Vergleich mit Giottos Raumkonstitution auch schon bei BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), 24. Zwischen der Ansichtigkeitsorientierung der Malerei und Brunelleschi vermitteln auch einige Reliefs Andrea Pisanos für die erste Baptisterientür, bei denen Ansichtsrichtigkeit allerdings nur an jeweils einem begleitenden architektonischen Detail demonstriert wird: Heimsuchung; Gefangennahme des Johannes; Besuch des Johannes im Kerker; Enthauptung des Johannes; Salome bringt Herodias das Haupt des Johannes, 1ř26–1řř6, Bronzereliefs, Florenz, Südportal des Baptisteriums (Aћѡќћіќ PюќљѢѐѐі, Die Bronzetüren des Baptisteriums in Florenz, München 1997, Abb. 20. 29f. řř. ř5). 170 Vgl. KљюѢѠ Bђџєёќљѡ, „Bacon und Giotto. Zum Einfluß der franziskanischen Naturphilosophie auf die bildende Kunst am Ende des 1ř. Jahrhunderts“, in: Medizinhistorisches Journal 1Ȧ2 (1989), 25–41, bes. řř; vgl. auch die Hinweise auf den Einfluß optischer Theorie auf die Praxis der Trecentomalerei in Farbgebung und Helldunkelverteilung bei PюѢљ HіљљѠ, The Light of Early Italian Painting, New Haven 1987, 54ff.; die Annahme eines starken Einflusses der optischen Theorie auf die malerische Praxis relativiert Tџюѐѕѡђћяђџє, Eye (Anm. 168), 2ř2–2ř5. 171 Vgl. Eёєђџѡќћ, Giotto (Anm. 161), u. a. 49f.; Bђџєёќљѡ, Bacon (Anm. 170), ř5–40.
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Wenn also Kunstwerke [opera artificialia] wie die Arche Noah, das Bundeszelt mit seinen Gefäßen und allen Gegenständen, und der Tempel Salomons, Ezechiels und Esras und andere derartige Dinge fast zahllos Eingang in die Schrift gefunden haben, so ist es unmöglich, den Literalsinn [literalis sensus] zu erfassen, wenn sich der Mensch diese Dinge nicht gemalt zu Bewußtsein bringt [nisi homo ad sensum habeat haec opera depicta] besser noch als körperliche Gebilde [figurata corporaliter]. Und so haben auch die Heiligen und Gelehrten des Altertums verschiedene Bilder und Gestaltungen verwendet, damit sich die literale Wahrheit [veritas literalis] dem Auge offenbare, und damit die geistige [spritualis] […]. Keiner könnte aber über die Darstellung von Körpern dieser Art Überlegungen anstellen oder Anweisungen geben, wenn er nicht bestens die Bücher über die Elemente von Euklid und [die] von Theodosius und Milleus und anderen Mathematikern kennen würde […]. O welch unaussprechliche Schönheit der göttlichen Weisheit würde aufleuchten, welch unendlicher Nutzen sich ergießen, wenn diese geometrisch faßbaren Dinge [geometricalia], die in der Schrift vorkommen, uns in körperlicher Form vor die Augen gebracht würden. Wir würden nach der Ausmerzung des Übels in der Welt durch die Sintflut der Gnade zusammen mit Noah und seinen Söhnen in die Höhe emporgehoben und mit allen beseelten Wesen, die nach Ort und Rang aufgereiht erscheinen [Gen 7,17]. Wir würden mit dem Heer des Herrn in der Wüste das Bundeszelt Gottes bewachen und den Schaubrottisch, den Altar und das Allerheiligste, und die Cherubim, wie sie die Versöhnungsopfer überschatten, und wir würden auch die übrigen Kultsymbole des Alten Volkes wie gegenwärtig vor uns sehen [Ex 25–27; ř6–ř9]. Und nach der Befestigung des unsicheren Zustandes eines wankenden Bundeszeltes würden wir den festgebauten Tempel des Herrn, der durch die Weisheit Salomons hergestellt wurde [1Kön 5–8; 2Chr 2–7], betreten. Und mit Ezechiel in geistigem Jubel würden wir das erblicken, was jener nur geistig geschaut hat [Ez 40–44], wie wir auch schließlich nach der Herstellung des neuen Jerusalems mit Esra und Nehemia einen noch größeren Tempel [Esra ř–6], mit noch mehr Zierrat geschmückt, betreten würden. Gewiß wäre die sinnliche Wahrnehmung [visio sensibilis] allein schon schön, doch schöner, wenn wir die Gestalt unserer Wahrheit [figuram nostrae veritatis] gegenwärtig sehen würden, am schönsten aber, wenn wir, angeregt durch die Sehorgane [visibilibus instrumentis], uns an der Betrachtung des geistigen und buchstäblichen Gehalts der Schrift erfreuen würden [scripturae intellectum spiritualem et literalem contemplantes gauderemus visibilibus instrumenti excitati], da wir [dann] wissen, daß nun alles in der Kirche Gottes vollendet ist und sich dieses unseren Augen als sichtbare Form [corpora sensibilia] darbietet. Und deshalb glaube ich, daß für einen Erforscher der Weisheit Gottes nichts angebrachter ist, als sich geometrisch konstruierte Gebilde [figurationes geometricas] dieser Art vor seine Augen stellen. O möge doch der Herr anordnen, daß dies so geschehe! […] Denn ohne Zweifel liegt die Wahrheit der irdischen Dinge im Sinn der Hl. Schrift
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[…] besonders jener Dinge, die zur Geometrie gehören, weil wir nichts ganz verstehen können, bevor man es uns nicht in Bildern vor Augen rückt; und deswegen ist in Gottes Hl. Schrift das Wissen über die Dinge aufbewahrt, dessen man sich über die geometrischen Darstellungen vergewissern muß, und das viel besser, als es bloße Philosophie ausdrücken könnte.Ⱥ172
Für Bacon lassen sich also der Literalsinn und mit ihm konsequent der für das Seelenheil des Betrachters entscheidende Spiritualsinn nur erfassen, wenn sie anschaulich und geradezu körperlich vor Augen gestellt werden.Ⱥ17ř Um dies im visuellen Medium Bild leisten zu können, müßten, so erkennt Bacon, nur die Regeln des Sehens beachtet werden, wie sie in der optischen Spezialdisziplin der „perspectiva naturalis“ mathematisch exakt gefaßt wurden. Der so mit den Mitteln der euklidischen Proportions- und Raumgeometrie, den Grundprinzipien der
172 „Cum igitur opera artificialia, ut arca Noae, et tabernaculum cum vasis suis omnibus, atque templum Salomonis et Ezechielis et Esdrae et huiusmodi alia pene innumerabilia ponantur in scriptura, non est possibile ut literalis sensus sciatur, nisi homo ad sensum habeat haec opera depicta, sed magis figurata corporaliter; et sic sancti et sapientes antiqui usi sunt picturis et figurationibus variis, ut veritas literalis ad oculum pateret, et per consequens spiritualis. Nam in veste Aaron, ut dicit scriptura, erat descriptus orbis terrarum et parentum magnalia. Et ego vidi Aaron sic figuratum cum veste sua. Sed nullus posset de huiusmodi corporum figuratione cogitare nec ordinare, nisi optime sciret libros Elementorum Euclidis et Theodosii et Millei et aliorum geometrarum […] O quam ineffabilis luceret pulchritudo sapientiae divinae et abundaret utilitas infinita, sic haec geometralica, quae continentur in scriptura, figurationibus corporalibus ante nostros oculos ponerentur. Nam sic mundi malitia diluvio gratiae deleta, attolleremur in sublimi cum Noe et filiis et omnibus animantibus suis locis et ordinibus collocatis. Et cum exercitu Domini in deserto excubaremus circa tabernaculum Dei, et mensam propositionis et altare, et sancta sanctorum, ac Cherubim obumbrantia propitiatorium, et caetera illius antiqui populi insignia tanquam praesentia videremus. Deinde tabernaculi vacillantis instabilitate vacuata fixum Domini templum Salomonica sapientia fabricatum intraremus. Et cum Ezechiele in spiritu exultationis ad sensum intueremur, quod ipse tantum spiritualiter intellexit, ut tandem reparata nova Jerusalem cum Esdra et Nehemia intraremus majorem domum pleniori gloria decorandam. Certe ipsa visio sensibilis esset pulchra, sed pulchrior quando figuram nostrae veritatis videremus praesentialiter, pulcherrima vero quando scripturae intellectum spiritualem et literalem contemplantes gauderemus visibilibus instrumentis excitati, quod scimus omnia nunc in ecclesia Dei esse completa, quae ipsa corpora sensibilia nostris oculis exhiberent. Et ideo nihil reputo studioso in sapientia Dei, quam huiusmodi figurationes geometricas ante eius oculos exhiberi. Utinam iubeat dominus quod haec fiant“ (Bђџєёќљѡ, Bacon [Anm. 170], ř5–ř7, Anm. 75; die Übersetzung folgt weitgehend Bergdolt. Vgl. auch SюњѢђљ . Eёєђџѡќћ, Die Entdeckung der Perspektive [engl. Originalausg. 1975], München 2002, 21–2ř; ёђџѠ., Giotto [Anm. 161], 46–49. 52). 17ř Bacon setzt hier die Forderung der Homiletik fort, die Predigt (sermo) solle körperlich (corporeus) werden, wie etwa Etienne de Bourbon (um 1190 bis um 1261) verlangte (vgl. Wќљѓєюћє Kђњѝ, Sermo Corporeus [Anm. 26], 7).
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Fluchtpunktperspektive, vermittelbare Literalsinn eröffnet nun für Bacon offensichtlich den Spiritualsinn dadurch, daß der Betrachter unter der argumentativen Maske der linearperspektivisch illusionierten Raumkontinuität die dargestellten Szenen als gegenwärtig erfährt. Wenn so die verschiedenen Episoden der als Heilsgeschichte verstandenen biblischen Geschichte und insbesondere die räumlichen Inbegriffe ihres sakralen Zentrums – Arche, Bundeszelt, Tempel Salomons, Tempel des neuen Jerusalem – in der Erlebnisgegenwart des Betrachters zusammentreffen, kann nach Bacon der Betrachter auch das Ziel der Heilsgeschichte, nämlich deren sichtbare Vollendung in der Kirche Gottes, als gegenwärtig erfüllt erleben. So sollen visuelle Medien mit Hilfe der Perspektive zu argumentierenden Medien christlicher Predigt ausgebaut werden, die den Betrachter einbeziehen und ihm so den Literalsinn und damit den Spiritualsinn der Heilsgeschichte anschaulich erfahrbar machen. In der theoretischen Vorgeschichte der linearperspektivischen Darstellung begründet sich die Forderung nach einer gemäß den Gesetzen der Optik konstruierten, ansichtsgebundenen Darstellung also aus einer medientheoretischen Grundlegung des frühneuzeitlichen Medienverständnisses vom Bild als sichtbarer Argumentation, die den Betrachter einbezieht. Mit der Schlußpassage von Roger Bacons Abhandlung zur Optik liegt offensichtlich der älteste erhaltene Beleg eines frühneuzeitlichen Bildverständnisses vor, in dem das medienspezifische Darstellungsmittel der Linearperspektive zur visuellen Argumentation eingesetzt werden soll. Im Medium Bild selbst dokumentiert sich dieses Medienverständnis dann bei Giotto Jahrzehnte nach seiner theoretischen Formulierung. Die religiös begründete rhetorisch-argumentative Wirkungsaufgabe visueller Medien als sichtbarer Predigt, die seit den Kirchenvätern als Forderung belegt ist,Ⱥ174 ohne aber in den medienpraktischen Konsequenzen weiter ausformuliert worden zu sein, ist offenbar eine wichtige treibende Kraft zur Entwicklung einer konsequenten Raumwirkung bis hin zur Fluchtpunktperspektive.Ⱥ175 Bacons Überlegungen zur Per-
174 Quellen zum mittelalterlichen Verständnis von visuellen Medien als „muta praedicatio“ bei L. GќѢєюѢё, „Muta praedicatio“, in: Revue Bénédictine 42 (19ř0), 168–171. 175 Einsichten zur fundamentalen Bedeutung der Linearperspektive für die Rhetorisierung des Mediums Bild bei Eёєђџѡќћ, Giotto (Anm. 161), 46–48. 84f.; Wќљѓєюћє Kђњѝ, Räume (Anm. 125), 88–99; Jќѕћ W. Dіѥќћ, „Donatello and the Theology of Linear Perspective“, in: Religion and the Arts ř (1999), 159–179; Gќѡѡѓџіђё Bќђѕњ, „Der Topos des Anfangs. Geometrie und Rhetorik in der Malerei der Renaissance“, in: Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, hg. v. Uљџіѐѕ PѓіѠѡђџђџȦMюѥ Sђіёђљ, MünchenȦBerlin 200ř, 49–59.
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spektive waren in Florenz ebenso wie die Schriften seiner Nachfolger zu Brunelleschis Zeit geläufig. Mehrere Bacon-Manuskripte sind dort im Quattrocento nachweisbar, und auch Ghiberti bezieht sich später in vielen Überlegungen und Zitaten des dritten Buches seiner „Commentarii“ auf die „perspectiva“ Bacons, ohne den Autor dieser Schrift allerdings beim Namen zu nennen.Ⱥ176 Es ist also durchaus wahrscheinlich, daß Brunelleschi Bacons Impuls zur Stärkung einer Predigtfunktion visueller Medien durch konsequente Durchgestaltung räumlicher Illusionswirkungen bewußt folgte, als er die Ansichtigkeit in allen Zonen seines „Opfers Abrahams“ koordinierte und so für das Medium Relief das nachholte, was Giotto für das Medium Bild etwa hundert Jahre zuvor erarbeitet hatte. Brunelleschi hat das in seinem „Opfer Abrahams“ Erreichte offenbar systematisch ausgebaut.Ⱥ177 161ř erwähnt der volkssprachige Dichter Domenico da Prato, Brunelleschi befasse sich mit der „prespettivo“.Ⱥ178 Leider erläutert da Prato nicht, ob dies bloß eine Befassung mit der Optik meint, die im Mittelalter oft als „perspectiva“ bezeichnet wurde,Ⱥ179 oder ob es sich bereits auf Versuche bezieht, die dort formulierten Regeln der geometrischen Optik für visuelle Medien aufzubereiten. Der in diesem Zusammenhang angebrachte Hinweis da Pratos auf Brunelleschis Streben nach Ruhm und Tugend macht es aber wahrscheinlich, daß Brunelleschi sich damals nicht rein rezeptiv mit älteren Theorien zur „perspectiva naturalis“, der Lehre von optischen Phänomenen, und dem menschlichen Sehvorgang, befaßte, sondern selbst an deren Weiterentwicklung zur „perspectiva artificialis“, arbeitete, der medialen Konstruktion eines räumlichen Wahnehmungseindrucks. Der nächste bedeutende Schritt auf dem Weg zur fluchtpunktperspektivischen Konstruktion eines Raumkontinuums ist dann mit dem „Georgsrelief“ (Abb. 16),Ⱥ180 das Donatello (1ř86–1466) um 1417 für die Ba176 Vgl. Eёєђџѡќћ, Giotto (Anm. 161), 90. 92. 95f.; für die Rezeption von Bacons Nachfolgern in Florenz im frühen Quattrocento vgl. Pюќљќ Gіюћёђяіюєєі, „Evoluzione della prospettiva tra 1ř00 e 1400. Il ruolo di Biagio Pelacani da Parma“, in: Archivio Storico per la province Parmensi, Parma, 46 (1994), 50ř–516. Zu weiteren, für Brunelleschi relevanten Quellen mittelalterlicher Optik in Florenz vgl. Gџюѧіђљљю Fђёђџіѐі VђѠѐќѣіћі, „A new Origin of Perspective“, in: Res. Anthropology and aesthetics ř8 (2000), 7ř–81. 177 Als „Vorstadium der perspektivischen Studien, für die Brunelleschi berühmt werden sollte“, erkennt Brunelleschis Relief BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), 24. 178 „[…] accompagnato da magnanima volontà nel vostro Fiore ti ralegri, trovandoti alcuna volta col prespettivo, ingegnoso uomo Filippo di ser Brunelesco, raguardevole di vertudi e di fama“ (TюћѡѢџљі, Rapporti [Anm. 146], hier 125). 179 So Eёєђџѡќћ, Giotto (Anm. 161), ř20f., Anm. 1. 180 Dќћюѡђљљќ, Der Hl. Georg befreit die Prinzessin, um 1417, Marmorrelief, ř9 x 120 cm, Florenz, Museo Nazionale del Bargello (SђѦњќѢџ, Sculpture [Anm. 59], Pl. 21[A]).
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sis des Tabernakels seiner „Georgsstatue“ in Or San Michele in Florenz schuf, in unmittelbarer Umgebung Brunelleschis und signifikanterweise wiederum im Medium Relief überliefert. Nach Auskunft Antonio Manettis hielt sich Donatello unmittelbar nach dem Wettbewerb um die zweite Bronzetür des Florentiner Baptisteriums zusammen mit Brunelleschi in Rom auf.Ⱥ181 Seine Verbindung zu Brunelleschi zeigt sich auch darin, daß er 1415 zusammen mit Brunelleschi für eine heute verschollene Skulptur für den Florentiner Dom bezahlt wurde.Ⱥ182 In seinem „Georgsrelief“ differenziert Donatello die bei Brunelleschi angelegte Möglichkeit, projektive Tiefenillusion durch Abstufung der Plastizitätsgrade vom Vordergrund zum Hintergrund zu erreichen, mit den medienspezifischen Möglichkeiten des ‚rilievo schiacciato‘ noch systematischer als dieser. Am rechten Rand des Reliefs führt Donatello an der Darstellung einer Loggia-Architektur, deren Säulen sich in die Tiefe des Relieffeldes projektiv verjüngen, sogar die älteste erhaltene Fluchtpunktperspektive vor.Ⱥ18ř Mit Donatellos Bronzerelief des „Tanzes der Salome“ (Abb. 17), das 142ř in Auftrag gegeben wurde und 1427 an seinen Bestimmungsort gelangte, entsteht dann die Illusion eines vollständig linearperspektivisch durchkonstruierten Interieurs, bei dem alle Tiefenzüge in einer Zu Donatellos Georgsrelief vgl. u. a. Pќѝђ-HђћћђѠѠђѦ, Introduction (Anm. řř), Bd. 2, 14; Gіќџєіќ CюѠѡђљѓџюћѐќ, „Sui rapporti tra Brunelleschi e Donatello“, in: Arte Antica e Moderna ř4–ř6 (1966), 109–122, hier 114; SђѦњќѢџ, Sculpture (Anm. 59), 65. Zu Brunelleschis Einfluß auf Donatello vgl. besonders die Hypothesen bei Gіюћѓџюћѐќ SѝюєћђѠі, „Un’ipotesi di ricerca. La ‚officina‘ figurativa Brunelleschiana“, in: Brunelleschi. La sua opera (Anm. 60), Bd. 1, 257–264, hier 260f. 181 Vgl. Mюћђѡѡі, Life (Anm. 4), 5ř, Zeile ř52–ř54; vgl. AћёџђюѠ TҦћћђѠњюћћ, „Donatello e Brunelleschi in polemica. Un conflitto artistico nella cerchia fiorentina di Leon Battista Alberti“, in: Leon Battista Alberti. Architettura e cultura. Atti di convegno internazionale Mantova, 16–19 novembre 1994, Florenz 1999, 45–66. Zu Brunelleschi und Donatello vgl. auch JюњђѠ Bђѐј, „Ghiberti giovane e Donatello giovanissimo“, in: Ghiberti nel suo tempo (Anm. 4), Bd. 1, 111–1ř4. 182 Vgl. Jќѕћ Pќѝђ-HђћћђѠѠђѦ, Donatello, Berlin 1986, ř1. 18ř Vgl. hierzu CюѠѡђљѓџюћѐќ, Rapporti (Anm. 180), 114; Rіѐѐюџёќ Pюѐѐіюћі, „Ipotesi omologie fra impianto fruitivo e struttura spaziale di alcune opere del primo Rinascimento fiorentino. Il rilievo della base del ‚S. Giorgio‘ di Donatello, la ‚Trinità‘ di Masaccio, l’‚Annunciazione‘ del Convento di S. Marco del Beato Angelico“, in: La prospettiva rinascimentale. Codificazioni e trasgressioni, hg. v. MюџіѠю Dюљюі Eњіљіюћі, 2 Bde., Florenz 1980, Bd. 1, 7ř–9ř, hier 74–78; Pќѝђ-HђћћђѠѠђѦ, Introduction (Anm. řř), Bd. 2, 1ř–15; Mюџѡіћ Kђњѝ, The Science of Art. Optical themes in Western art from Brunelleschi to Seurat, New HavenȦLondon 1990, 15f. Parallel hierzu entwickelte Donatello seit etwa 1410 in enger Auseinandersetzung und vielleicht auch in Kooperation mit Brunelleschi Prinzipien ansichtsabhängiger Verkürzungen zur Steigerung von Präsenzwirkung und gestischem Ausdruck vollplastischer Nischenfiguren (vgl. Tюџџ, Placement [Anm. 146]).
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Abb. 16: Dќћюѡђљљќ, Der Hl. Georg befreit die Prinzessin, um 1417, Marmorrelief, ř9 x 120 cm, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.
Abb. 17: Dќћюѡђљљќ, Tanz der Salome, 142ř–1427, Bronze, 60 x 60 cm, Siena, Baptisterium.
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sehr dichten Fluchtungszone konvergieren. Zur Konstruktion der Ansichtigkeit der Bodenplatten ist sogar schon die Diagonalpunktmethode eingesetzt. Subtil entwickelt Donatello diese Raumkonstellation in engem Zusammenklang mit der Dramatik der dargestellten Szene und verwickelt den Betrachter in eine komplexe sichtbare Argumentation.Ⱥ184 Auch wenn sich die Datierung dieses Reliefs nicht mehr genau fixieren läßt, bedeutet es doch zumindest für das Medium Relief eine völlige Neuerung. Manetti berichtet, daß Brunelleschi selbst das erfunden habe, „was die Maler heute Perspektive nennen.“ Öffentlich habe er die Wirkung der Linearperspektive im Medium Bild erstmals ausgerechnet an einer in situ präsentierten Außenansicht des Florentiner Baptisteriums demonstriert, gesehen durch das Portal des Florentiner Domes.Ⱥ185 Eine perspektivische Ansicht des Baptisteriums habe er im Eingang des Domes so plaziert, daß man durch ein in das Bild gebohrtes Guckloch hindurch von dessen Rückseite mit fixiertem Blick das Baptisterium habe sehen können. Habe man nun einen lotrecht gehaltenen Spiegel zwischen Bild und Abgebildetes geschoben, so sei in dem Spiegel das perspektivische Abbild des Baptisteriums dergestalt erschienen, daß die reale Ansicht und das Spiegelbild des Abbildes bruchlos ineinander übergegangen seien. Wann Brunelleschi sein verschollenes fluchtpunktperspektivisches Schaustück vorgeführt hat, ist nicht mehr genau festzustellen. Manettis detailreiche und daher glaubhafte Schilderung des Experiments und seine dezidierte Beanspruchung der Erfindung für Brunelleschi spricht aber dafür, dies vor die nicht genau datierbare Entstehung des „Salomereliefs“ Donatellos und vor die Herstellung des ältesten erhaltenen fluchtpunktperspektivischen Gemäldes, Masaccios (1401–1428) „Trinitätsfresko“ in S. Maria Novella in Florenz von 1425, anzusetzen. Eine Entstehung von Brunelleschis Demonstrationstafel zwischen 1424 und 1425 könnte zudem ein Motiv für Brunelleschis aufwendige Aufführung nahelegen, bezog sich der Blick von der Domtüre auf die Ostseite 184 Dќћюѡђљљќ, Tanz der Salome, 142ř–1427, Bronze, 60 x 60 cm, Siena, Baptisterium (Pќѝђ-HђћћђѠѠђѦ, Donatello [Anm. 182], 86–91; zur Perspektivkonstruktion und ihren Implikationen vgl. KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti [Anm. 2], Bd. 1, 244; RќѠђћюѢђџ, Studien [Anm. 158], 75–77; SѢѠюћћђ Lюћє, „Brunelleschi’s panels“, in: Dюљюі Eњіљіюћі, Prospettiva [Anm. 18ř], Bd. 1, 6ř–72, hier 70; Mюџѡіћ Kђњѝ, Science [Anm. 18ř], 15f.; NіђѕюѢѠ, Reliefkunst [Anm. 4], 82–84; Dіѥќћ, Donatello [Anm. 175], 170–177). 185 Mюћђѡѡі, Life (Anm. 4), 4ř, Zeile 14ř–20ř; vgl. KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 2ř4–240; Eёєђџѡќћ, Perspektive (Anm. 172), 11ř–1ř7; BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), 102–109. Vgl. Lюћє, panels (Anm. 184); Mюџѡіћ Kђњѝ, Science (Anm. 18ř), 9–14; TѕќњюѠ PѢѡѡѓюџјђћ, The Discovery of Pictorial Composition. Theories of Visual Order in Painting 1400–1800, New HavenȦLondon 2000, 7řf.
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des Baptisteriums in jenen Jahren doch auf aktuelle Veränderungen, die Brunelleschi ganz unmittelbar betrafen. Denn aus der Osttüre des Baptisteriums, die dem Domportal frontal gegenüberliegt, wurde in jenen Jahren gerade die älteste, von Andrea Pisano angefertigte Baptisterientür, entfernt und zum Südportal umgesetzt, um der Türe Platz zu machen, für die Brunelleschi 1401–1402 sein Relief des „Opfers Abrahams“ entworfen hatte, deren Ausführung dann aber letztlich doch Ghiberti überlassen wurde. Ghibertis Auftrag für diese Türe wurde 1424 abgeschlossen, so daß Brunelleschis Darstellung unweigerlich mit Blick auf die gerade erfolgte Anbringung von Ghibertis Baptisterientür anstelle der Türflügel Andrea Pisanos gelesen werden mußte.Ⱥ186 Angesichts dieser Aktualität stellt sich die Frage, welche Türflügel Brunelleschi in seiner perspektivischen Ansicht des Baptisteriums an dieser Stelle dargestellt hat. Die soeben fertiggestellte Türe seines Konkurrenten Ghiberti? Eine solche öffentliche Hommage darf man angesichts des lebenslangen Konflikts der beiden gewiß nicht annehmen.Ⱥ187 Oder zeigte seine Perspektivansicht des Baptisteriums vielleicht noch die bisherige Türe Andrea Pisanos, die durch Ghibertis Türe verdrängt wurde und der Brunelleschi mit seinem Perspektivbild dann gegen Ghibertis Eroberung dieses prominenten Platzes ein bleibendes Gedächtnis verschafft hätte? Zeigte Brunelleschi die Türe vielleicht geöffnet, so daß die Ausführung der Türflügel gar nicht zu identifizieren war, und ironisierte er so das gesamte Gerangel um deren neue Füllung? Da das von Manetti beschriebene Demonstrationsstück Brunelleschis verschollen ist, wird sich diese Frage wohl nicht mehr klären lassen, doch gleich welche Lösung Brunelleschi wählte, seine Darstellung der Osttüre des Baptisteriums war in jedem Fall eine öffentliche Stellungnahme zum Ausgang des Wettbewerbs von 1401–1402 und eine Erinnerung an sein eigenes Projekt für die Baptisterientür.Ⱥ188 So wird man 186 1425 sollte Ghiberti dann als Folgeauftrag mit der dritten Türe des Baptisteriums beginnen, der sogenannte Paradiestüre, die erst 1452 vollendet war und dann wiederum Ghibertis erste Baptisterientür in dem Portal, das dem Haupteingang des Domes direkt gegenüberliegt, an das Nordportal des Baptisteriums verdrängen sollte (vgl. Kђћћђѡѕ CљюџјȦDюѣіё Fіћћ, The Florence Baptistery Doors, London 1980, 95). 187 Besonders Manetti beschreibt diesen ständigen, oft intriganten Streit mit Ghiberti als Leitmotiv in Brunelleschis Biographie, der in der verordneten Zusammenarbeit an der Florentiner Domkuppel gipfelt, bei der es Brunelleschi schließlich gelingt, Ghiberti aus der Bauleitung zu verdrängen (vgl. Mюћђѡѡі, Life [Anm. 4], passim). 188 Andere Gründe für Brunelleschis Wahl des Sujets für seine Perspektivdemonstration z. B. bei SюњѢђљ . Eёєђџѡќћ, „Brunelleschi’s first perspective picture“, in: Arte lombarda 18.ř8–ř9 (197ř) (= Convegno Internazionale Premesse per un Repertorio Sistematico delle Opere e degli Artisti della Valle Intelvi, hg. v. CђѠюћќ Mюёђџћќ), 172–195, hier 174f.; ёђџѠ., Perspektive (Anm. 172), 120f.; Tџюѐѕѡђћяђџє, Eye (Anm. 168), 52–54.
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sicherlich am ehesten annehmen müssen, daß Brunelleschis Vedute an dieser Stelle seinen eigenen Entwurf für dieses Portal imaginierte, daß seine Demonstration des perspektivischen Sehens und Darstellens im Blick auf das Ostportal des Florentiner Baptisteriums also als später concettistischer Triumph seines eigenen Reliefkonzepts vom „Opfer Abrahams“ als „Ort des Sehens“ über Ghibertis bloß äußerlichen Erfolg angelegt war. Passend zu Brunelleschis lebenslangem Streben nach „fama“ muß eine solche Bezugnahme nicht nur als souveräner Akt stolzer Selbstbehauptung des Künstlers zu lesen gewesen sein.Ⱥ189 Im intermedialen Wechselspiel mit dem Relief von 1401–1402 und dem Ort, für den er dieses Jahrzehnte zuvor gefertigt hatte, warf ein solches Selbstzitat zudem ein ganz besonderes Licht auf Brunelleschis Perspektivdemonstration im Domportal. Weit über die bloße Kunststückhaftigkeit hinaus, die man Brunelleschis verschollener Inkunabel der Geschichte des künstlerischen Sehens sonst attestiert, knüpfte eine solche Verbindung zu seinem „Opfer Abrahams“ an die Vorgeschichte der frühneuzeitlichen Perspektivkunst in den mittelalterlichen Traktaten zur „perspectiva“ an, die stets getragen waren von metaphysischen Überlegungen zum Sehen und dessen göttlichem Ursprung.Ⱥ190 Eine solche Bezugnahme seiner perspektivischen Demonstration auf die 1401Ȧ1402 im Relief geschaffene eigene Veranschaulichung der biblischen Selbstauslegung vom Opfer Abrahams als dem Ort, an dem Gott und Mensch sich sehend begegnen, muß damit als missing link zwischen der theologisch und philosophisch gefärbten Vorgeschichte der Perspektive in der mittelalterlichen Optik und ihrer Entwicklung zu einer pragmatischen Anwendungstechnik in der Renaissance gelesen werden. Bezeichnenderweise entfaltet Brunelleschi an anderer Stelle eine Rechtfertigung seiner neuen Medienpraxis als metaphysisches Argument, das als Reflex auf eine Bibelstelle gelesen werden kann.Ⱥ191 Als Brunelleschi von dem Florentiner Mathematiker, Humanisten und Architekten Giovanni da Prato in einem Sonett beschuldigt wird, er versuche als wahr zu zeigen, was ungewiß sei, antwortet er seinerseits mit einem Sonett zur Sichtbarkeit des Unsichtbaren. Alessandro Parronchi hat darauf hingewiesen, daß sich dieser Gedanke bei Paulus vorgeformt findet, der ganz ähnlich die ästhetische Differenz zwischen irdischem und jenseitigem Sehen entfaltet: „Wir sehen nämlich jetzt durch einen Spiegel rätselhaft, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Sehen Stückwerk, dann aber werde ich ganz erkennen, wie ich auch 189 Zur humanistischen Quelle des Fama-Konzepts vgl. Mіёёђљёќџѓ KќѠђєюџѡђћ, Competitions (Anm. 4), 184–186. 190 Vgl. Fђёђџіѐі VђѠѐќѣіћі, Origin (Anm. 176). 191 Vgl. Pюџџќћѐѕі, Paolo [Anm. 146]; BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), ř25.
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ganz erkannt worden bin“ (1Kor 1ř,12). Versteht man die unter Verwendung eines Spiegels installierte Perspektivdemonstration Brunelleschis als Metapher dieser Differenzierung von irdischem und jenseitigem Sehen,Ⱥ192 so ergibt sich – beginnend mit der medienspezifischen Thematisierung der Verschränkung des göttlichen und des menschlichen Sehens am „Ort des Sehens“ in Brunelleschis ansichtsbezogenem „Opfer Abrahams“ und endend mit seiner Perspektivdemonstration in der Domtüre von Florenz – eine ganz vom biblischen Impuls getragene Begründung des Sehens als Thema und autonomes Mittel sichtbarer Medien wie Relief und Malerei. Erst mit dem „Trinitätsfresko“ in S. Maria Novella in Florenz sollte dann Masaccio, der mit Brunelleschi offensichtlich in gutem Kontakt stand,Ⱥ19ř die älteste geometrisch konstruierte Fluchtpunktperspektive im Medium Bild schaffen, die sich bis heute erhalten hat.Ⱥ194 Die Vorgeschichte dieser Konstruktion aber ist sichtlich aus Brunelleschis Relief des „Opfers Abrahams“ für das Florentiner Baptisterium erwachsen und weist mit der Plazierung seines Perspektivschaustücks gegenüber der Baptisterientür auf dieses zurück. Für die Weiterentwicklung und Transmission seiner Ergebnisse im Bereich der Perspektive kann man vielleicht annehmen, daß Brunelleschi nach der systematischen Erprobung medienspezifischer räumlicher Anordnungsmöglichkeiten in seinem „Opfer Abrahams“ seine Überlegungen zur Perspektive an Demonstrationsstücken, wie sie sich leicht in Ton oder Wachs ritzen und modellieren lassen, aber ebenso rasch korrigiert und wieder verworfen werden können, immer weiter ausgebaut und in seinem Umkreis vorgeführt hat. Auf solche ephemeren Vorführungen könnte sich dann die erwähnte Bemerkung Domenico da Pratos über Brunelleschis Befassung mit der Perspektive beziehen, die mit „fama“ verbunden sei.
192 So Tюџџ, Placement (Anm. 146), 116f. 19ř Vgl. den Hinweis, daß Brunelleschi 1427 zweimal als Zeuge bei Zahlungen zugunsten Masaccios verzeichnet ist, bei Pќѝђ-HђћћђѠѠђѦ, Donatello (Anm. 182), ř1. 194 Mюџѡіћ Kђњѝ, Science (Anm. 18ř), 17–21; Fљќџіюћ HѢяђџ, Das Trinitätsfresko von Masaccio und Filippo Brunelleschi in Santa Maria Novella zu Florenz, München 1990. In die unmittelbare Vorgeschichte der fluchtpunktperspektivischen Raumkonstitution dieses Bildes gehört auch das Bild Maria mit Kind und zwei Engeln, das 1422 datiert ist, dem erst 20-jährigen Masaccio zugeschrieben wird und in der Konstruktion des zentral stehenden Thrones bereits einer Fluchtpunktkonstruktion mit Diagonalpunkten folgt (hierzu Mюџѡіћ Kђњѝ, Science [Anm. 18ř], 16; Gюяџіђљђ Mќџќљљі, „La prospettiva in trono. La costruzione architettonica dei troni masacceschi rappresentati nel Trittico di San Giovenale e nel Polittico di Pisa“, in: Masaccio. Il trittico di San Giovenale e il primo’400 fiorentino, hg. v. Cюѡђџіћю Cюћђѣю, Mailand 2001, 161–181).
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Gerade das von Manetti berichtete gemeinsame Aufzeichnen antiker Architektur in Rom hätte ein Feld geboten, auf dem Brunelleschi dem jungen Donatello seine Erkenntnisse zu Projektionsgeometrie und Darstellungsfragen hätte erläutern können.Ⱥ195 Aus ephemeren Demonstrationen hätte Donatello die Anregung Brunelleschis dann der äußeren Form nach aufnehmen und seinem „Georgsrelief“ zitathaft einfügen können. Die präzise vermessene Architekturstaffage wirkt dort nämlich noch eigentümlich fremd, so daß man sie kaum für eine originäre Erfindung Donatellos halten mag, sondern in ihr tatsächlich wohl eher ein von Brunelleschis experimentellen Vorlagen angeregtes Versatzstück vermuten möchte. Einige Jahre später hätte Donatello die mittlerweile vollständig durchdrungenen Erkenntnisse Brunelleschis als durchgängig verstandenes Prinzip dann seinem „Tanz der Salome“ zugrundelegen können. Erst nachdem Brunelleschi seine Entdeckung in seinem Demonstrationsstück zur visuellen und concettistischen Rückeroberung des Ortes genutzt hatte, an dem er Ghiberti zwanzig Jahre zuvor das Feld überlassen hatte, und die Perspektive zur Mehrung seines Ansehens vor derselben städtischen Öffentlichkeit im Medium Bild demonstriert hatte, die über die Entscheidung des Reliefwettbewerbs 1401–1402 offenbar ja so zerstritten gewesen war,Ⱥ196 konnte es dann auch der junge Masaccio in seinem „Trinitätsfresko“ im Medium Bild öffentlich aufgreifen. Es spricht alles dafür, Brunelleschi die führende Rolle für diese gesamte Entwicklung in beiden Medien zuzuschreiben, wie dies schon die Brunelleschibiographie der „Uomini Singholari“, eine um 1480 entstandene, wohl ebenfalls von Antonio Manetti verfaßte Sammlung von Biographien berühmter Florentiner, erklärt. Dort heißt es, die Erfindung, Verkürzungen entsprechend der natürlichen Erscheinung anzulegen und die verschiedenen Darstellungsebenen hintereinander zurücktreten zu lassen, verdanke man nicht nur für das Medium Bild Brunelleschi, sondern auch für die Plastik.Ⱥ197 Für fast zwei Jahrzehnte hatte die von Brunelleschi 1401–1402 begonnene Entwicklung eines auf die Visualität des Mediums Relief gerichteten Medienverständnisses offensichtlich die Entwicklung der tiefräumlichen Erschließung visueller Medien zur Entfaltung neuer Argumentationsformen beherrscht, bevor die Malerei mit Masaccios Werk das Feld der fluchtpunktperspektivischen Illusion ganz zu ihrem eigenen machte.
195 Mюћђѡѡі, Life (Anm. 4), 52, Zeile ř59–ř67. 196 S. o. 26. 197 Codice Maglibiabecchiano, Cl. 17, Nr. 1501, in: FџђѦ, Vite (Anm. 4), 119f., hier 120, Zeile 14; FюяџіѐѧѦ, Brunelleschi (Anm. 4), 49; Tюџџ, Placement (Anm. 146), 106f.
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Nach der Durchsetzung dieses Prinzips auch im Medium Malerei hat gerade Ghiberti Brunelleschis Neuerungen dann verspätet, aber intensiv Schritt für Schritt nachvollzogen. An seinem um 14ř0 entstandenen Relief der „Geschichte Abrahams“ von der „Paradiestür“ des Florentiner Baptisteriums (Abb. 18),Ⱥ198 die 1452 anstelle der ersten von Ghiberti gefertigten, damals ihrerseits in das Nordportal versetzten Baptisterientür im Ostportal des Baptisteriums plaziert wurde, läßt sich angesichts des übereinstimmenden Themas aufzeigen, wie weit dieser Adaptionsvorgang zu diesem Zeitpunkt vorangekommen war. Das Relief gliedert sich in die Darstellung des Besuchs der drei Engel in der linken und des im vorliegenden Zusammenhang interessierenden Opfers Abrahams in der rechten Reliefhälfte. Die Trennung zwischen den beiden nacheinander zu lesenden Teilszenen erreicht Ghiberti durch das Voneinanderabkehren des Engels und des Esels in der Reliefmitte und durch die unterschiedliche Gestaltung der Landschaft, die links mit Bäumen den Lagerplatz Abrahams umgibt und sich rechts als Einöde zum Opferberg erhebt. Augenfällig sind hier Ghibertis motivische Übernahmen von seinem eigenen frühen „Opfer Abrahams“. Hier finden sich der Widder, die dialogisierenden Diener und deren Abtrennung von der Hauptszene durch eine Felsbarriere als erzählende Details wieder. Konzeptionell schließt sich Ghiberti aber auch an Brunelleschis Relief an und entwickelt wie dieser ein sichtbares Argument. Wie in Brunelleschis Relief läßt Ghiberti hier unterhalb des Opferaltares eine Quelle sprudeln, an der der Esel trinkt, ordnet die Diener unter der Opferszene in einer separaten Zone an und greift so am Hauptportal zur Taufkirche von Florenz Brunelleschis sichtbare Argumentation zur Taufe als Stufe im Aufstieg zur Überwindung der profanen Welt auf. Durch die Integration verschiedener Mittel zur projektiven Suggestion von Raumtiefe zwischen unterer und oberer Reliefzone kennzeichnet Ghiberti erzählend die Distanz zwischen der Gruppe der eher an die Betrachterwelt angeschlossenen Diener und der Opferszene und leitet wie Brunelleschi argumentierend zur Erfahrung eines meditierend zu überwindenden Abstandes des Betrachters von der Glaubenstat Abrahams. Hierzu ist nun auch in Ghibertis Relief die Verknüpfung von planimetrischer Flächenordnung, realräumlichem und projektivem Illusionismus wirksam, die Brunelleschis Relief begründet hatte. Wie Brunelleschi teilt Ghiberti die Szene in zwei übereinandergeordnete, in sich
198 Lќџђћѧќ Gѕіяђџѡі, Die Geschichte Abrahams, um 14ř0, Bronze, Paradiestür, Florenz, Baptisterium (KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti [Anm. 2], Bd. 2, Pl. 9ř; vgl. ebd., Bd. 1, 195; zur Datierung vgl. ebd., 209).
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jeweils weitgehend grundplattenparallele Pläne.Ⱥ199 Eine große Raumtiefe wird dabei durch die Höhenstaffelung im Relieffeld, durch linearperspektivische – nicht aber fluchtpunktperspektivische – Elemente und durch Überschneidungen bereits innerhalb des unteren Planes erschlossen. Sogar eine – allerdings ganz verhaltene – Randüberschneidung durch den Rücken des rechten Dieners ist hier zu beobachten. Spielt Ghiberti zur Illusionierung von Raumtiefe bereits in dieser Zone alle Plastizitätsgrade von vollplastischen Elementen bis zu ganz zart hingehauchtem ‚rilievo schiacciato‘ durch, so schränkt er seine Palette der Reliefierungsgrade in der oberen Reliefzone auf eine weit geringere Spannbreite nahe dem reinen ‚rilievo schiacciato‘ ein. Die untere Reliefzone erscheint mit einem hohen Anteil realräumlich-illusionistischer Reliefierung als Vordergrund von der oberen mit überwiegend projektiv-illusionistischer Reliefierung als Hintergrund räumlich weit getrennt. Während in Brunelleschis „Opfer Abrahams“ ähnlich wie um 1ř00 etwa bei Giovanni Pisano die Figuren im oberen Teil des Reliefs noch größer proportioniert sind als im unteren, steigert in Ghibertis spätem „Opfer Abrahams“ der Proportionsunterschied zwischen den Figuren des Vordergrundes und denen des Hintergrundes als besonders wirksames Anordnungsprinzip des projektiven Illusionismus die Vorstellung von Raumtiefe und bringt so Prinzipien im Medium Relief zur Geltung, die zuvor vor allem im Medium Malerei ausformuliert worden waren.Ⱥ200 Ähnlich wie Brunelleschi bringt Ghiberti einzelne Figuren nun in ansichtsgebundenen Bezug. Die Diener der unteren Zone sind in Aufsicht gezeigt, Abraham und Isaak in der oberen eher in Untersicht. Deutlich ist der Brunnen in der unteren Reliefzone in Aufsicht und der Opferaltar in der oberen Reliefzone in Normalansicht zu sehen. Doch gerade an diesen linearperspektivischen Versatzstücken berücksichtigt Ghiberti den Kern der Ansichtigkeitskonstitution von Brunelleschis „Opfer Abrahams“ noch nicht.Ⱥ201 Fraglos vereint Ghiberti in seinen wundervollen noch späteren Reliefs der „Paradiestüre“ in konsequent projektiv-illusionistischer Raumdarstellung alle anderen Mittel des Reliefillu199 Vgl. KюѡѕџѦћ Bљќќњ, „Lorenzo Ghiberti’s Space in Relief. Method and Theory“, in: The Art Bulletin 51 (1969), 164f., hier 164; zur Funktion und Theorie solcher Pläne bei Ghiberti vgl. KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 2ř2–2ř4. 200 Zu Ghibertis System der räumlichen Anordnung durch Differenzierung der Proportionen vgl. Bљќќњ, Space (Anm. 199). Vgl. auch die Analyse bei Mюџѡіћ Kђњѝ, Science (Anm. 18ř), 24–26. Erste Vorläufer zur Berücksichtigung der Proportionsunterschiede von Nah und Fern gibt es für das Medium Relief etwa im Silberaltar von Pistoia (vgl. NіђѕюѢѠ, Reliefkunst [Anm. 4], 5ř). 201 Daß diese Versatzstücke in Ghibertis Relief „unrelated to the principle of a consistent linear perspective“ sind, betont KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 248f.
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Abb. 18: Lќџђћѧќ Gѕіяђџѡі, Die Geschichte Abrahams, um 14ř0, Bronze, Paradiestür, Florenz, Baptisterium.
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sionismus mit einer fluchtpunktperspektivischen Konstruktion.Ⱥ202 Um 14ř0 aber laufen selbst am einzelnen Objekt wie etwa an dem Quellbecken die in die Tiefe führenden Kanten noch wie in der Darstellung des Opferaltares von Ghibertis frühem „Opfer Abrahams“ nach hinten auseinander, anstatt zu fluchten. In Motiven, in der Systematisierung räumlicher Anordnungssysteme und in der sichtbaren Argumentation nähert sich Ghiberti in seiner „Geschichte Abrahams“ von der „Paradiestür“ also zwar dem Relief Brunelleschis und den daraus entwickelten Prinzipien der ansichtsbezogenen Erschließung des Mediums Relief. Dessen frühen Stand wird Ghiberti in dieser Hinsicht aber erst in den folgenden Jahrzehnten erreichen und überholen. Und erst um die Jahrhundertmitte wird er mit seinen „Commentarii“ das Gebiet des ansichtsbezogenen Reliefs, auf dem ihm Brunelleschi und sein Kreis in der Praxis so lange weit vorausgewesen waren, zu seinem eigenen erklären, indem er die Quellen der von Brunelleschi entwickelten Raumillusionierung sichtbarer Medien in der mittelalterlichen Optik aufdecken und deren Konsequenzen für eine medienspezifische Berücksichtigung von Ansichtigkeit dann ausdifferenzieren wird.Ⱥ20ř Wie es schon in Brunelleschis „Opfer Abrahams“ die Illusion einer Einheit des Ortes gibt, nicht aber in Ghibertis Wettbewerbsbeitrag, sind auch nur in Brunelleschis Relief alle Ansätze zur Illusion einer Einheit der Zeit konsequent zusammengeführt.Ⱥ204 Wenn sich die Simultaneität des ersten Eindrucks, die allen visuellen Medien eigen ist, vor Brunelleschis wie vor Ghibertis Relief bei genauerer Betrachtung erst einmal entsprechend den Blick- und Handlungsrichtungen der Figurenfolge in eine Wahrnehmungsabfolge aufgelöst hat, können sich die im Relief dargestellten Handlungen in eine Abfolge von aneinander anschließenden Erzählschritten des repräsentierten biblischen Geschehens ordnen. Das Ausruhen der Diener, die Bewegung, mit dem sich der Widder mit seinem rechten Hinterhuf von dem Dornengestrüpp zu befreien ver202 Wundram hat die in Ghibertis ‚Paradiestür‘ entfalteten räumlichen Anordnungssysteme treffend zusammenfassend beschrieben: In der ‚Paradiestür‘ „[…] erreicht Ghiberti endgültig die nahezu unbegrenzte Tiefenerstreckung; hier vereinigen sich alle Mittel zur Verdeutlichung räumlicher Spannungen, Variabilität der Modellierungsgrade, Summierung raumschaffender Überschneidungen, mühelose Beherrschung von Verkürzungen, Tiefe der Vordergrundsbühne, freie Beweglichkeit der Figuren – zu Wirkungen, die die innerhalb der früheren Tür wahrnehmbare Entwicklungslinie aufzeigen“ (WѢћёџюњ, Entwicklung [Anm. 59], 1řf.; vgl. auch die ausgezeichnete Analyse bei Bљќќњ, Space [Anm. 199]). 20ř GіќѠђѓѓі, Commentario (Anm. 160), 401f. 204 Zu einem anderen Ergebnis kommt die Analyse der Zeitstruktur des Reliefs bei Sѐџіюяіћђ, Perspective (Anm. 125), ř29f.; vgl. auch NіђѕюѢѠ, Reliefkunst (Anm. 4), 57.
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sucht, Abrahams entschlossenes Ansetzen des Messers, Isaaks Schrei aus Todesangst und sein zappelnder Versuch, zu entkommen, das rettende Eingreifen des Engels und das Aufblicken Abrahams sind dabei als aufeinander folgende Stationen der Erzählung von Abrahams Opfer wahrzunehmen. Die Wahrnehmung der Teilhandlungen von Brunelleschis Relief erschöpft sich dann aber nicht wie bei Ghiberti in ihrer Einfügung in eine reihende Abfolge von Handlungen, die im Vor- und Nacheinander rund um einen zentralen Augenblick gruppiert sind. Mit den spezifischen Mitteln visueller Medien wird vielmehr die Illusion der synchronen Simultaneität der Handlungen aller Figuren des Reliefs hervorgerufen.Ⱥ205 Bemerkt man Isaaks Schrei und die Reaktion des rechten Dieners, ziehen sich – abgesehen von dem gleichsam zeitlosen Tun des linken Dieners und des Esels – alle Teilhandlungen momenthaft zu einem einzigen Augenblickseindruck zusammen, der suggeriert, alles geschehe gleichzeitig vor den Augen des Betrachters. Jenseits aller sukzessiven Figurenfolgen synchronisiert der Schrei Isaaks schlagartig alle Teilhandlungen des Reliefs zeitlich und räumlich und schließt sie mit dem Aufschrecken des Wasserschöpfers auch an die reale Gegenwarts- und Raumerfahrung sowie an die Affekte des Betrachters an: In dem Augenblick, in dem Abraham das Messer anlegt, schreit Isaak laut auf und versucht aufzuspringen, greift der Engel ein, versucht der Widder, sich mit dem kratzenden Hinterlauf zu befreien, schreckt der Wasserschöpfer auf und reißt den Zuschauer zur Betrachtung des biblischen Geschehens mit. Damit inszeniert Brunelleschi mit medienspezifischen Mitteln das Präsenzerlebnis der Geschichte vom Opfer Abrahams, von dem schon Augustinus berichtet: Ich weiß nicht wie, aber immer, wenn die Geschichte [von Isaak] gelesen wird, ist es, als würde sie in diesem Augenblick geschehen, so sehr bewegt sie den Geist.Ⱥ206
Um diese Aktualisierung der im Relief repräsentierten biblischen Erzählung für den Betrachter zu erreichen, die über die bloße Repräsentation einer inhaltlich fokussierten Erzählung weit hinausgeht, legt Brunelleschi über die sukzessive Folge des Reliefs als Erzählung die ‚argumenta205 Vgl. Aџєюћ, Architecture (Anm. 74), hier 116; BіюљќѠѡќѐјі, Spätmittelalter (Anm. 59), 80; Aџєюћ, Storia (Anm. 159), 89f.; BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), ř8; WѢћёџюњ u. a., Italien (Anm. 59), 42; Sѐџіюяіћђ, Perspective (Anm. 125), ř29. 206 „Nescio quomodo, quotiescumque legitur, quasi tunc fiat, ita afficit mentes audientium“ (AѢєѢѠѡіћѢѠ, Serm. de Vet. Test. 2,1, in: AѢєѢѠѡіћѢѠ, Sermones de Vetere Testamento. Id est sermones I, hg. v. CѦџіљљѣѠ Lюњяќѡ [CCSL 41], Turnhout 1961, 9; vgl. RѢёќљѝѕȦOѠѡџќѤ, Isaac [Anm. ř8], 670. 681, Anm. 78).
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tive Maske‘ Ⱥ207 einer räumlich koordinierten und zeitlich verdichtenden Simultaneität der Ereignisse. Durch Augenblickshaftigkeit von Bewegungen, haptisches Anknüpfen der vollplastisch ausgeprägten Figuren der unteren Reliefzone und Affektübertragung durch emotionalisierte Identifikationsträger knüpft Brunelleschis Relief an die aktuelle Wirklichkeitserfahrung des Betrachters körperlich, räumlich und zeitlich an und verleiht so dem biblischen Bericht wirksame Präsenz und gesteigerte Relevanz in der Gegenwart des Betrachters. Eine Tendenz zur Anbindung an die Gegenwartserfahrung des Betrachters läßt sich im ausgehenden Mittelalter auch für andere Medien wie geistliches Spiel oder Meditationsmedien beobachten. Für das Medium Bild ist eine solche Erweiterung mittelalterlichen Erzählens durch vielfältiges Anknüpfen an die Wirklichkeitserfahrung des Betrachters schon in Malereien um 1ř00 festzustellen, die ähnlich wie dann Brunelleschis Relief der biblischen Geschichte durch plastisches, räumliches, gestisches und – etwa in Versatzstücken der vertrauten Alltagswelt – motivisches Anknüpfen an die Raum- und Zeiterfahrung des Betrachters aktuelle Lebensbezüge verleihen.Ⱥ208 Dem biblischen Topos vom Opferberg Abrahams als Ort des Sehens und seiner Typologie des im Schrei Isaaks vorausklingenden Todesschreis Jesu am Kreuz konsequent folgend, entwickelt Brunelleschi aber weit über diese Tradition des Mediums Bild hinaus eine intensive Koordinierung des projektiven virtuellen Raumes mit dem Realraum und eine Synchronisierung der virtuellen Zeit mit der Betrachterzeit. Brunelleschis Schrei Isaaks durchgellt als erster isolierter Schrei seit dem Todesschrei der antiken Laokoonstatue wieder ein ganzes Kunstwerk. Einen isolierten Schrei, der alle Bildelemente koordinieren könnte, gibt es im Mittelalter nicht. Schreien – auch das Schreien zum Himmel – ist im Mittelalter vor allem in kollektives Klagen eingebunden und bildet – wie etwa beim „Bethlehemitischen Kindermord“ (Abb. 19)Ⱥ209 – eine durchgehende polyphone Kulisse langgezogener Klagelaute, vor der die dargestellten Einzelschrecken besonders imaginationswirksam werden. Brunelleschi aber eröffnet mit der Konzentration der gesamten Zeiterfahrung seines Reliefs auf die Wahrnehmung eines einzelnen, augenblicklichen Schreies ein in der Frühen Neuzeit immer mitzudenkendes neues, zeitlich ganz präsentisches Medienbewußtsein. 207 Zur Erweckung eines Augenblickseindrucks in visuellen Medien der Frühen Neuzeit als ‚argumentative Maske‘ vgl. Wюџћѐјђ, Bilder (Anm. 1), 1ř6. 208 Vgl. Bђљѡіћє, Narrative (Anm. 26), 152–154. 209 Bethlehemitischer Kindermord, frühes 5. Jh., Elfenbein, Berlin Dahlem, Staatliche Museen (MюєѢіџђ, Eloquence [Anm. 152], 28, Abb. ř); zur Darstellung des Schreiens im Mittelalter vgl. auch BюџюѠѐѕ, Gestures (Anm. 1ř2), passim.
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Die Anordnung der Bildelemente läßt sich als Sukzession einer Erzählfolge sehen, kann sich unter der Maske der Simultaneität der Erzählschritte aber auch zu einem Augenblickseindruck zusammenziehen und so aktualisierte Präsenz und Relevanz für die Gegenwart des Betrachters behaupten. Dieselbe Anordnung öffnet schließlich einen argumentierenden Begründungszusammenhang, der den Betrachter wie eine Predigt einbezieht und seine innere Haltung verändert. Als sichtbare Argumentation leistet das Relief eine erörternde Auslegung der Erzählung und bezieht sie auf Lebenshaltung und -praxis des Betrachters. In der Kontemplation der biblischen Szene hat der Betrachter von Brunelleschis „Opfer Abrahams“ Teil an der Erlösungserfahrung des Glaubens, erlebt vor dem auf Ansichtigkeit angelegten Kunstwerk das auf dem Opferberg zwischen Gott und Mensch stattgefundene Wechselspiel des Sehens und Gesehenwerdens. Die Schau des schonungslos grausam geschilderten biblischen Geschehens erschüttert, macht dem Betrachter so die Erhabenheit der Glaubensstärke Abrahams unmittelbar miterlebbar und ruft unter der Anleitung des sich umkehrenden Dieners und des Dornausquetschers zu Umkehr und Buße. Wie Ghiberti verknüpft auch Brunelleschi seine Figuren sichtlich zu einer konsistenten sichtbaren Erzählung. In diesem Sinne erklärt Manetti, an Brunelleschis Relief habe man besonders bewundert, wie gut die [Figuren] ihre Aufgabe (uficio) erfüllten, daß dort kein einziges Glied sei, das nicht beseelt wäre, bis hin zu den Eigenschaften und der Vollendung der Tiere, die dort zu sehen sind, und so jedes weitere Ding wie auch der gesamte Körper der Erzählung insgesamt (come tutto el corpo della storia insieme).Ⱥ210
Brunelleschis Darstellungsmittel entfalten darüber hinaus aber auch eine komplexe Vernetzung von Begründungszusammenhängen, in denen die Sachverhalte, die in der sichtbaren Erzählung vorgestellt sind, innerbildlich und in Wechselwirkung mit dem Betrachter ausgelegt werden. Als sichtbare begründende Erörterung wird das Medium Relief bei Brunelleschi zu einem argumentierenden Medium und folgt so der Entwicklung des Mediums Bild. Vom 1ř. bis zum 15. Jahrhundert hat sich das Medienverständnis sichtbarer Medien grundlegend verschoben. Während im Mittelalter offensichtlich überwiegend in Bildern repräsentiert oder – oft in eigentümlich entrückter Zeitlosigkeit – erzählt wurde, erschlossen sich um 1ř00 zunehmend Möglichkeiten, das Erzählen mit der Betrachtererfahrung zu synchronisieren und das Dargestell210 „[…] et quanto bene elle fanno l’ uficio loro, che non ve menbro che non abbia spirito, e le conditionj e fine degli animalj che vi sono, e cosi ogni altra cosa come tutto el corpo della storia insieme“ (Mюћђѡѡі, Life [Anm. 4], 49, Zeile 284–286).
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te im Bild und auf den Betrachter hin argumentierend auszulegen.Ⱥ211 Hypotaktische Ordnungssysteme,Ⱥ212 die Verwicklung des Publikums in visuelle Argumentationen als „Rhetorisch-Werden“ des BildesȺ21ř etwa mit Hilfe des Anknüpfens an die Erfahrungswelt des Betrachters und durch psychologisierenden Anschluß an dessen EmotionenȺ214 sowie die komplexe AllegorisierungȺ215 bekamen um 1ř00 leitende Bedeutung für die Entwicklung des Mediums Bild als eines argumentierenden Mediums und blieben dann konstitutiv für das Bildverständnis der gesamten Frühen Neuzeit.Ⱥ216 Neben dem neuen Zeit- und Raumverständis im Medium Relief, das Brunelleschi mit seiner Auslegung des biblischen Themas vom Sehen und seinem typologischen Verweis auf den Schrei des Gekreuzigten vorführt, entwickelt Brunelleschis „Opfer Abrahams“ seine Darstellungsmittel und Medienmechanismen zum Aufbau der sichtbaren Erzählung und der sichtbaren Argumentation teils aus der Übertragung von Medienmitteln aus dem Medium Bild, das seit Giotto zunehmend als Argumentationsmedium funktionierte, in das Medium Relief, teils aber auch schon aus Ansätzen der italienischen Reliefkunst des Trecento weiter. So findet sich das bei Brunelleschi wie bei Ghiberti zur Herstellung einer erzählenden Abfolge genutzte Verweissystem der Zeigegesten als gängiges Erzählmittel selbstverständlich schon in der mittelalterlichen Bild- und Reliefkunst. Bei der Erweiterung des Mediums Bild zu einem argumentierenden Medium in der italienischen Trecentomalerei diente gerade das System der Verweisgesten zudem der Visualisierung nicht nur erzählender, sondern auch begründender Abfolgen.Ⱥ217 In dieser medienhistorischen Tradition geht in Brunelleschis Relief nicht nur die Beziehung der Gesten, sondern auch die planimetrische Anordnung der Figuren und ihrer Körperteile nicht darin auf, die Erzählung zu konstituieren oder gar einer ornamentalen Wirkung zu dienen. Richtet schon die Komposition bewegter Figuren in einer Zeichnung des Bauhüttenbuches Villard d’Honnecourts (um 1225 bis um 1250) die Körperrichtungen der dargestellten Figuren streng an einem Diagonalraster 211 Zur „Argumentation“ in Bildern als begründender Erörterung seit um 1ř00 vgl. Bђљѡіћє, Narrative (Anm. 26), 154; Wќљѓєюћє Kђњѝ, Sermo Corporeus (Anm. 26), 266. 268. 212 Vgl. ebd., 271. 21ř Vgl. ebd., 268. 214 Vgl. Bђљѡіћє, Narrative (Anm. 26), 152. 215 Vgl. ebd., 154. 216 Zum ‚argumentum‘ als Prinzip visueller Medien in der Frühen Neuzeit vgl. Wюџћѐјђ, Bilder (Anm. 1), 111–1ř6, bes. 1ř1–1ř6. 217 Vgl. die Beispiele bei Bђљѡіћє, Narrative (Anm. 26), 154–156.
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aus (Abb. 20),Ⱥ218 so verspannt doch erst Brunelleschi die Kontur- und Körperrichtungen seiner Figuren parallel zu den Teilformen des Vierpaßrahmens so im Relieffeld, daß eine konsistente Flächengeometrie von Horizontalen, Vertikalen, Kreisformen und Schrägen die räumlich und zeitlich vereinheitlichte Gesamtwirkung des Reliefs unterstützt.Ⱥ219 Anders als bei Villard heben sich die parallelen Körperausrichtungen dabei aber nicht in einer ornamentalen Flächenwirkung auf, sondern treten in spannungsvoll verlebendigenden Kontrast zu den Teilen, die dieses Raster verlassen. Die Gestalt des Gott gehorsamen Abraham folgt dabei ganz streng den Ordnungsachsen der Rahmenform, während Isaak aus dieser auszubrechen versucht und die beiden Diener ein ganz von ihr verselbständigtes Eigenleben führen. Offenbar gewinnt mit Brunelleschis Geometrisierung die planimetrische Komposition also im Medium Relief bedeutungskonstituierenden Zeichencharakter. In der Tradition visueller Medien haben insbesondere die fast isoliert präsentierten Figuren des Dornausquetschers, des Wasserschöpfers und des Esels im Vordergrund des Reliefs Vorläufer, die ihrerseits oft schon darüber hinausgehen, als bloße Versatzstücke einer Erzählabfolge wahrgenommen zu werden,Ⱥ220 und vielmehr bereits als Identifikationsfiguren wirken, deren Körperhaltung ähnlich wie Brunelleschis Wasserschöpfer und Dornausquetscher eine modellhafte Aufforderung zu einer innerlich und äußerlich wirksamen Änderung von Lebenshaltungen vermittelt.Ⱥ221 Durch die Mehransichtigkeit seines Wasserschöpfers steigert Brunelleschi aber die Komplexität der argumentierenden Schlüsselposition und der emotionsleitenden Wirkung dieser Figur noch über diese Tradition hinaus. Indem der Dornausquetscher im Kontext der gesamten sichtbaren Argumentation als Aufforderung zur Überwindung der Sünde und 218 Vіљљюџё ё’HќћћђѐќѢџѡ, Studie menschlicher und tierischer Figuren, Bauhüttenbuch, um 1220–1240, Paris, Bibliotheque Nationale, ms. fr. 1909ř, fol. 19v (Abb. bei Bќђѕњ, Topos [Anm. 175], 5ř, Abb. 4). 219 Vgl. die Schemazeichnung zu Brunelleschis ‚Opfer Abrahams‘ bei Rюєєѕіюћѡі, Brunelleschi (Anm. 4), 5ř, Abb. 87. 220 Vgl. etwa die Gestalt eines mit dem Rücken zum Betrachter verehrend vor Johannes knienden Täuflings bei Lђќћюџёќ ёі Gіќѣюћћі (1ř58–1ř71), Szene aus dem Leben Johannes des Täufers, 1ř66–1ř76, Relief, Silberaltar, Florenz, Dom-Opera (Pќѝђ-HђћћђѠѠђѦ, Introduction [Anm. řř], Bd. 1, Fig. 61). 221 Mehr noch auf eine rein erzählerische Funktion beschränkt bleibt die an ähnlicher Stelle auftretende Figur des wassertrinkenden Bauern aus einer der Wunderlegenden des Hl. Franziskus in Gіќѡѡќ ёі BќћёќћђѠ Wunder der Quelle, um 1295–1ř07, Fresko, Assisi, Oberkirche (BђљљќѠі, Giotto [Anm. ř4], 21, Abb. ř6; vgl. JюѐќяѢѠ ёђ Vќџюєіћђ, Legenda aurea, übers. v. Rіѐѕюџё Bђћѧ, 2 Halbbde. in einem Bd., Jena 1925, Bd. 2, 247).
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der Wasserschöpfer als Aufforderung zur Bekehrung zu verstehen ist, nutzt Brunelleschi in diesen Vordergrundfiguren zudem das Argumentationsmittel der Komprimierung der sichtbaren Argumentation eines Reliefs in allegorischen Figuren, die im selben Relieffeld erscheinen. Vor Brunelleschi fand sich Analoges nur im Medium Bild, etwa in der Figur des Anglers in Giottos „Navicella“, deren Komposition anhand früher Folgedarstellungen dieses schon damals sehr prominenten Bildes recht sicher überliefert ist (Abb. 21).Ⱥ222 Als Allegorie des Menschenfischens (Lk 5,10) verdichtet die angelnde Gestalt, deren Position am unteren linken Bildrand der des Dornausquetschers in Brunelleschis Relief entspricht, ähnlich wie Brunelleschis Dornausquetscher und Wasserschöpfer allegorisch die gesamte visuelle Argumentation des Bildes.Ⱥ22ř Kannte die Malerei um 1ř00 bereits solche erörternden sichtbaren Argumentationen durch komplex verschränkte Allegorien,Ⱥ224 so nutzte sie im Medium Relief doch erstmals Brunelleschi. Traditionell ist in Brunelleschis Relief auch, daß die Anordnung von zwei übereinandergelagerten und gegeneinander abgeriegelten Registern argumentativ nicht nur als Abfolge, sondern auch als ethische Bewertung Zeichencharakter hat.Ⱥ225 Mit dieser horizontalen Teilung des Reliefs in zwei Register, die zeitliche und räumliche Trennung markieren und zugleich den Höhenunterschied zwischen den am Fuße des Berges Zurückgebliebenen und dem auf dem Berg stattfindenden Opfergeschehen deutlich machen, aktivierte Brunelleschi ein altes Schema. Besonders in den Zweizonenbildern der Buchmalerei diente es dazu, selbständige Szenen zu trennen oder den Zeit- und Raumbezug zwischen zwei Teilszenen zu differenzieren.Ⱥ226 Die Bandbreite an Raum- und Zeitrelationen, die durch solche Registerbildungen intendiert werden konnte, demonstrieren etwa zwei Reliefs auf einer toskanischen Kanzel des 222 Z. B. Aћёџђю ёю Fіџђћѧђ, Navicella, 1ř65, Fresko, Florenz, Santa Maria Novella, Gewölbe des Capellone delli Spagnole (AћёџѼ CѕюѠѡђљ, Chronik der italienischen Renaissancemalerei 1280–1580, Würzburg 1984 [frz. Originalausg. Fribourg 198ř], 55; vgl. auch ebd., 52–54). 22ř Vgl. Wіљѕђљњ PюђѠђљђџ, „Giottos Navicella und ihr spätantikes Vorbild“, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 5 (1941), 49–162, hier 1ř9–151. 224 Vgl. Bђљѡіћє, Narrative (Anm. 26), 154–156; Wќљѓєюћє Kђњѝ, Sermo Corporeus (Anm. 26), 266f. 225 Vgl. etwa die Positionierung des Sündenfalls unter einer Kreuzigungsszene, mittelrheinisch, Ende 10. Jh., Treibarbeit, Buchkastendeckel, Säckingen, Stiftskirche St. Fridolin (Sѐѕіљљђџ, Ikonographie [Anm. 40], Abb. ř70). 226 Vgl. etwa Tod und Krönung Mariens, nordöstliches Kronland, um 1195, Malerei auf Pergament, ř0,4 x 20,4 cm, Ingeborg-Psalter, Chantilly, Musée Condé, Ms. 1695, fol. ř4r (Hђџњюћћ Fіљљіѡѧ, Das Mittelalter I [Propyläen Kunstgeschichte 5], Berlin 1984, Abb. 92).
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Abb. 19: Bethlehemitischer Kindermord, frühes 5. Jh., Elfenbein, Berlin Dahlem, Staatliche Museen.
Abb. 20: Vіљљюџё ё’HќћћђѐќѢџѡ, Studie menschlicher und tierischer Figuren, Bauhüttenbuch, um 1220–1240, Paris, Bibliotheque Nationale, ms. fr. 1909ř, fol. 19v (Ausschnitt).
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12. Jahrhunderts im Dom von Cagliari. Eine horizontale Kante trennt dort auf der rechten Seite verschiedene Szenen derselben Erzählung zeitlich, nämlich eine „Taufe Christi“ von einer „Darbringung im Tempel“, während eine ebensolche Kante auf der linken Seite die irdische Sphäre und die himmlische Sphäre einer „Verklärung auf dem Berge Tabor“ räumlich und ontisch differenziert (Abb. 22).Ⱥ227 Auch in Darstellungen des Opfers Abrahams kommt eine solche räumlich und zeitlich differenzierende Registerstaffelung vor Brunelleschis Relief gelegentlich vor. So ordnet schon um ř50 eine Katakombenmalerei an der Via Latina einen Diener und einen Esel in diesem Sinne unter dem Opfer Abrahams an (Abb. 2ř).Ⱥ228 Die Darstellung des Abrahamsopfers in einem jüdischen Gebetbuch von 1ř48 trennt die Opferung dann von dem darunter gezeigten Diener mit Esel durch eine horizontale Barriere (Abb. 24).Ⱥ229 Wie Brunelleschi isoliert auch Giovanni Pisano seine Darstellung der Weihnacht (Abb. 5)Ⱥ2ř0 von der dahinter und darüber angebrachten Verkündungsszene räumlich und zeitlich, indem er Josef, eine Hebamme und Maria mit betontem Rückenprofil dieser Nebenszene den Rücken zukehren läßt. Brunelleschis Relief greift diese Schemata auf, nutzt sie aber durch eine neue gestische, erzählerische und argumentative Verschränkung der beiden Zonen in einer zweiten Wahrnehmungsebene zur Suggestion von Augenblickseindruck und räumlicher Koordination und damit zur wirkungsvollen Entfaltung der komplexen reliefimmanent auslegenden Erörterung des Gehalts der dargestellten Erzählung. Die in allem Anknüpfen an Tradiertes im Detail und grundsätzlich festzustellende Neuartigkeit von Brunelleschis Konzeption des Medi227 Kanzel, Toscana, 1159–1162, Steinrelief, Cagliari, Dom (ebd., Abb. ř05). 228 Das Opfer Abrahams, Fresko, um ř50, Wandmalerei, Rom, Via Latina, Katakombe, Cubiculum C (EёёѦ ѣюћ ёђћ Bџіћј, „Abraham’s Sacrifice in Early Jewish and Early Christian art“, in: NќќџѡȦTієѐѕђљююџ, Sacrifice [Anm. 57], 140–151, hier 141, fig. 2). 229 Das Opfer Abrahams, 1ř48, in: Machsor (jüdisches Gebetbuch), Pergamenthandschrift aus Hammelburg, Darmstadt, Hessische Landes- und Hochschulbibliothek, cod. orient. 1ř, fol. 202r (Rheinisches Bildarchiv Köln). Diese Anordnung wieder bei LѢјюѠ Cџюћюѐѕ, Opfer Abrahams, 1515Ȧ15ř0, Tafelmalerei auf Holz, 82 x 117 cm, Augsburg, öffentliche Sammlung, Bayerische Staatsgemäldesammlungen; Das Opfer Abrahams, in: Sammelhandschrift, Bingen, 1645, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Inventar-Nr. Ms. or. oct. ř150, fol. 19r. Ähnlich ist auch die Opferszene in der Neapel-Bibel von um 1ř90 von der Darstellung des Abschieds Abrahams und Isaaks von Diener und Esel in der unteren Bildzone durch ein Podest getrennt (Neapel-Bibel, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1191, fol. 11; BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi [Anm. 4], řř, Abb. 19). 2ř0 Gіќѣюћћі PіѠюћќ, Verkündigung an Maria, Geburt Jesu und Verkündigung an die Hirten, um 1298–1ř01, Marmorrelief, 84 x 102 cm, Kanzel, Pistoia, S. Andrea (Pќѝђ-HђћћђѠѠђѦ, Introduction [Anm. řř], Bd. 1, Pl. 16).
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Abb. 21: Aћёџђю ёю Fіџђћѧђ, Navicella, 1ř65, Fresko, Florenz, Santa Maria Novella, Gewölbe des Capellone delli Spagnole.
Abb. 22: Kanzel für die Epistellesung, Toscana, 1159–1162, Steinrelief, Cagliari, Dom.
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ums Relief wird besonders daran deutlich, daß eine Eingliederung von Brunelleschis „Opfer Abrahams“ in die übergreifende Struktur eines Zyklus von 20 Relieffeldern, wie er mit der Vorgabe der Vierpaß-Rahmenform entsprechend der ersten, von Andrea Pisano gefertigten Baptisterientür auch für die zweite Baptisterientür vorgesehen war, sichtlich Probleme aufgeworfen hätte, die bis dahin für das Medium Relief noch nicht aufgetreten waren.Ⱥ2ř1 Die Relieffelder der damals bereits vorhandenen Baptisterientür Andrea Pisanos und der dann von Ghiberti gefertigten zweiten Türe passen sich noch ganz einer Szenenfolge ein, die als fortlaufende Erzählung Relief für Relief mitgelesen werden kann. Nur die Ziermotive der Rahmenleisten und die vier unteren Relieffelder eines jeden Türflügels verlassen die Szenenfolge und regen eine über die Erzählung hinausgehende – knappe und durchaus konventionelle – Auslegung an. Die Löwenköpfe in den Zierleisten von Andrea Pisanos Tür verknüpfen als Adaptionen antiker und mittelalterlicher Türzieher und RahmenwerkmaskenȺ2ř2 die gesamte Türe zwar mit ihrem Bestimmungsort, dem vermeintlich antiken Bau des Baptisteriums, schaffen aber keine inhaltlich argumentierende Verbindung der Einzelszenen. Die aus der Erzählfolge herausgenommenen unteren acht Relieffelder mit Darstellungen der Tugenden lassen sich als Hinweise auf die Tugend des Johannes mit der in den anderen Feldern dargestellten Johanneslegende durchaus in Verbindung bringen. Die in den Rahmenleisten der zweiten, von Ghiberti gefertigten Baptisterientür angebrachten Prophetenköpfe erinnern dann – wie etwa in ebensolchen Zusammenstellungen der „Biblia pauperum“ üblich – an die exegetisch vertraute Notwendigkeit, in den neutestamentlichen Szenen der Relieffelder die Erfüllung der jeweiligen alttestamentlichen Typen zu sehen. Die unteren acht Relieffelder mit Darstellungen der Kirchenväter verweisen auf die der Auslegung des Neuen Testaments rechtgläubig stets zugrundezulegende Lektüre der Zeugnisse der Alten Kirche. Ansonsten aber folgt die zweite Baptisterientüre noch wie die erste einer streng geordneten erzählenden Reihung von in sich geschlossenen Einzelszenen. Schon allein unter formalem Aspekt hätten Rahmensprengungen wie in der unteren Zone von Brunelleschis Relief dieses vorgegebene übergreifende Ordnungsmuster von quadratischen Kassetten mit Vierpaßfeldern irritiert und eine kontinuierliche Lesbarkeit des Zyklus behindert. In dem vorgegebenen Ordnungsmuster hätten in sich autonom argumentierende und den Betrachter einzeln einbeziehende Reliefs wie
2ř1 Dieses Problem erkennt BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), 24. 2ř2 Zu dieser Tradition vgl. UџѠѢљю Mђћёђ, Die Bronzetüren des Mittelalters, München 198ř, 25–27. 4ř. 46. 5ř–55. 59.
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Abb. 2ř: Das Opfer Abrahams, Fresko, um ř50, Wandmalerei, Rom, Via Latina, Katakombe, Cubiculum C.
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Abb. 24: Das Opfer Abrahams, 1ř48, in: Machsor (jüdisches Gebetbuch), Pergamenthandschrift aus Hammelburg, Darmstadt, Hessische Landes- und Hochschulbibliothek, cod. orient. 1ř, fol. 202r.
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Brunelleschis „Opfer Abrahams“ einen übergreifenden Sinnzusammenhang nicht ohne weiteres zustandekommen lassen.Ⱥ2řř Für die Einbindung isoliert argumentierender Einzelszenen in übergreifende Ordnungssysteme hatten sich für das Medium Bild seit Giotto neuartige, nichtlinear vernetzende Anordnungssysteme entwickelt. Reihend erzählende Zyklen waren durch vielfältig vernetzte und den Betrachter einbeziehende Verweissysteme ergänzt worden. So wirken etwa in Andrea da Firenzes (tätig 1ř46 bis nach 1ř79) Ausmalung der Spanischen Kapelle in S. Maria Novella in Florenz die architektonische Gliederung des Raumes und die Gliederung durch Rahmenmotive mit den flächigen Anordnungssystemen innerhalb der einzelnen Bilder so zusammen, daß jede Einzelszene mit den Nachbarfeldern und dem Gesamten allegorisch argumentierend verschränkt ist.Ⱥ2ř4 Dagegen hatten sich im Medium Relief alle Zyklen noch im Trecento auf ein narratives Reihen wenig komplexer Einzelszenen analog zum vorgiottesken Erzählen in BildernȺ2ř5 beschränken können. Bis um 1400 bestand der aktive Anteil des Betrachters von Reliefs offensichtlich vor allem im mitlesenden und mitempfindenden Betrachten der Erzählfolge und höchstens im Aufdecken einer übergreifenden Abfolge, der sich die Einzelszenen in inhaltlicher – z. B. typologischer – Hinsicht einfügten.Ⱥ2ř6 Weder das einzelne Relief noch die übergreifenden Ordnungsmuster forderten bis dahin eine komplexe argumentative Erschließung. Erst nach Brunelleschis „Opfer Abrahams“ mußten zyklusübergreifend argumentierende Ordnungsmuster von Reliefzyklen zum Problem werden. Erst dann wurde wie im Medium Bild auch für das Medium Relief die Fluchtpunktperspektive zu einem wesentlichen Mittel übergreifender Ordnung komplexer visueller Argumentationen. Ein frühes Beispiel der im Laufe des Quattrocento entwickelten subtil argumentierenden Vernetzungen von Reliefs stellt etwa Filaretes Bronzetür für den Petersdom in Rom von um 14řř–1445 dar, in der ansichtsbezogene Reliefs in völlig unterschiedlichen Formaten durch Anordnung und Rahmenformen zu einer inhaltlich und medienreflexiv konsistenten
2řř Vgl. BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), 24. 2ř4 Ansätze zur Analyse der komplexen Struktur bei MюџіљѦћ Aџќћяђџє Lюѣіћ, The Place of Narrative. Mural Decoration in Italian Churches, 431–1600, ChicagoȦLondon 1990, 88–90. 2ř5 Vgl. Wќљѓєюћє Kђњѝ, Sermo Corporeus (Anm. 26), 267. Als Beispiel eines in Einzelszenen erzählenden Reliefzyklus sei Andrea Pisanos erste Baptisterientür genannt. 2ř6 Vgl. ebd.; ёђџѠ., Text (Anm. 26).
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Argumentation verknüpft werden, wie Andreas Thielemann darlegt.Ⱥ2ř7 Etwas später nutzte Donatello in den Bronzekanzeln für S. Lorenzo um 1465 die Linearperspektive zur Koordinierung der Einzelszenen untereinander, verschränkte die visuelle Argumentation der einzelnen Szenen durch eine auch inhaltlich und rhetorisch bindende antikisierende Ornamentik und schuf so einen neuen Bezug zwischen den komplex argumentierenden Einzelszenen und deren Ausrichtung auf den Betrachter. Noch Ghibertis „Paradiestür“ erfüllt durch die weitgehende Isolierung und Autonomisierung der einzelnen Relieffelder zwar eine wichtige Vorbedingung für neuartige Ordnungsmuster, entwickelt ein solches neues Anordnungsmuster aber selbst noch nicht. Die einzelnen Relieffelder sind hier durch ein gegenüber den ersten beiden Bronzetüren wesentlich vergrößertes quadratisches Format und durch ungestörte Reihung in vertikalen Bändern bildhaft autonomisiert. Der ehemals auf mehrere Relieffelder zu verteilende Erzählumfang wird jetzt durch Aufnahme mehrerer Szenen in einem Relieffeld komprimiert und innerhalb dieses Relieffeldes erzählend und argumentierend vernetzt. Doch weder untereinander noch auf die Betrachterposition hin ist die – für die Argumentation einzelner Reliefs elementare – Linearperspektive koordiniert. So befinden sich mit der „Geschichte Josephs“ und der „Geschichte Isaaks“ zwei zentralperspektivisch fluchtende Darstellungen zwar in Augenhöhe des Betrachters. Die dritte linearperspektivisch konstruierte Architekturszene aber, die „Begegnung Salomons mit der Königin von Saba“, ist in Wadenhöhe des Betrachters angebracht. Selbst auf dem Gipfel seines Schaffens erkennt Ghiberti also noch nicht die mit Brunelleschis „Opfer Abrahams“ gestellte Aufgabe, das neue Konzept vom Medium Relief als eines argumentierenden Mediums durch die Entwicklung einer übergreifenden Ordnungsstruktur schlüssig einzulösen. Stolz kommentiert Brunelleschi in seinem Relief selbst, daß er sich der Neuartigkeit und Bedeutung seines Konzeptes vom predigtartig argumentierenden Relief ganz bewußt ist. Durch Kontrast zum übrigen Relief demonstriert er nämlich in dem kleinen ‚Relief im Relief‘, das er auf der Vorderseite des Opferaltares zeigt (Abb. 25), eine metamediale Referenz seines neuen Medienverständnisses und kehrt sein Selbstverständnis als Schöpfer einer umwälzenden medienhistorischen Innovation hervor. In geradezu parodistischer Zuspitzung führt Brunelleschi dort vor Augen, daß er die Darstellungsprinzipien der romanischen 2ř7 Vgl. AћёџђюѠ Tѕіђљђњюћћ, „Altes und neues Rom. Zu Filaretes Bronzetür. Ein Drehbuch“, in: Sinnliche Intelligenz. Festschrift für Prof. Dr. Hans Ost, hg. v. Rюіћђџ BѢёёђȦ Rќљюћё KџіѠѐѕђљ (Wallraf-Richartz-Jahrbuch 6ř), Köln 2002, řř–70.
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Bronzereliefkunst als einer vergangenen Epoche stilkritisch vorführen kann, und akzentuiert in der Gegenüberstellung dieses als obsolet vorgestellten Reliefstils in didaktischer Eindeutigkeit die Modernität der von ihm im übrigen Relief eingesetzten Darstellungsmittel. Statt der in seinem „Opfer Abrahams“ sonst überall elaboriert vorgeführten hochgotischen Schüsselfalten, ergänzt um einige Ösenfalten, modelliert er im ‚Relief im Relief‘ streng parallel verlaufende flache Röhrenfalten. Unverkennbar ruft Brunelleschi hier Gestaltungsprinzipien der staufischen Romanik auf.Ⱥ2ř8 Statt der bewegten Haltung der anderen Figuren des „Opfers Abrahams“ zeigt Brunelleschi auf dem ‚Relief im Relief‘ starre Haltungen und eine grundplattenparallele Orientierung fast aller Körperteile, wie sie für die Reliefkunst vor dem 1ř. Jahrhundert charakteristisch ist. Während der Umhang Abrahams frei bewegt flattert und den dahinterstehenden Baum so kunstvoll überdeckt, daß der Umhang fast durchsichtig erscheint, biegt der Umhang des bärtigen Mannes im ‚Relief im Relief‘ unter der Wirkung des nahen Reliefrandes nach unten weg.Ⱥ2ř9 Die in der Weise mancher romanischer BuchmalereienȺ240 seitwärts geklappte Lehne der thronenden Figur schließlich ist demonstrativ an den rechten Rand des ‚Reliefs im Relief‘ gerückt, so daß sie als Beispiel atavistischer Klapperspektive direkt neben der verkürzt gezeigten rechten Altarseite der „Opferung Abrahams“ die Ansichtsgebundenheit der Brunelleschischen Gegenstandsrepräsentation als fortschrittliche Leistung ablesbar macht. Die Figuren des ‚Reliefs im Relief‘ heben sich nur an den Konturen plastisch vom Grund ab. Die Binnendifferenzierung in diesen Figuren geschieht wie in italienischen Reliefs des 12. Jahrhunderts durch kaum mehr als durch die Ritzzeichnung von Gewandfalten auf einer über der Grundplatte leicht erhöhten, grundplattenparallelen Fläche. In streng grundflächenparalleler Anordnung der Figuren auf einer gemeinsamen Standlinie werden die Figuren der Erzählung im ‚Relief im Relief‘ rein parataktisch reihend aufgezählt statt tiefräumlich staffelnd zu komplexeren Argumentationen verknüpft zu werden. Das ‚Relief im Relief‘ verweigert die entscheidenden medialen Errungenschaften von Brunel-
2ř8 Vgl. etwa Haltung und Faltenbildung bei BюџіѠюћѢѠ ѣќћ Tџюћі, Hl. Paulus, um 1180Ȧ1190, Bronze, Trani, Dom, Westportal (Aљяђџѡ Bќђѐјљђџ, Die Bronzetüren des Bonanus von Pisa und des Barisanus von Trani, Berlin 195ř, Abb. 12ř). 2ř9 Vgl. etwa den Umhang des Reitenden Propheten, um 11ř8, Verona, San Zeno, rechter Türflügel des Westportals (Mђћёђ, Bronzetüren [Anm. 2ř2], Tfl. 90). 240 Vgl. etwa den Sitz des diktierenden Mönches auf dem Frontispiz der Bible moralisée, Paris (?), zwischen 1226 und 12ř4, Malerei auf Pergament, ř7,4 x 26,2 cm, New ork, Pierpont Morgan Library, Ms. 240, fol. 1r (Oѡѡќ ѣќћ SіњѠќћ, Das Mittelalter II. Das hohe Mittelalter [Propyläen Kunstgeschichte 6], Frankfurt a. M. u. a. 1984, Abb. 94).
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leschis „Opfer Abrahams“ – differenzierte Plastizitätsgrade, Fluchtlinienbeschreibungen, Überschneidungen und damit jegliche Möglichkeit räumlicher Anordnung, hypotaktischer Argumentation oder konsequenter Anbindung an den Betrachterraum. Rätselhaft bleibt, welches Thema das ‚Relief im Relief‘ meint. Ein bärtiger Mann mit wehendem Umhang legt seine Rechte auf den Kopf einer halbnackten Jünglingsgestalt, die von der Hüfte an aus einem Erdklumpen herausragt. Über den Jüngling hält der Mann mit weit ausgestreckter Linker einen Gegenstand, der wie die Wurzel einer Pflanze aussieht. Der Jüngling lehnt sich weit zurück und richtet sich mit erhobenen Armen nach rechts. Dort thront eine Figur, deren Kopf ein Tuch bedeckt, hält in ihrer Linken ein Buch und macht mit der Rechten eine grüßende oder segnende Geste. Keine der bisher vorgeschlagenen Deutungen kann die Szene hinreichend erklären.Ⱥ241 Selbst die Frage, ob die rechts auf einem Thron mit Lehne sitzende Gestalt mit ihrem Mantel, dem um den Kopf gelegten Tuch, der grüßenden Geste und dem Buch mittelalterlichen Darstellungen antiker SibyllenȺ242 oder – trotz des fehlenden Bartes – vielleicht doch Prophetendarstellungen entsprechen soll,Ⱥ24ř oder vielleicht die ‚Ecclesia‘ darstellt, wie sie etwa an der Bronzetür des Lateranbaptisteriums zu sehen ist (Abb. 26),Ⱥ244 ist aus der unmittelbaren Anschauung nicht entscheidbar. Einige Einzelmotive geben aber Anlaß zu einer Annäherung an eine Deutung des ‚Reliefs im Relief‘. Da das ‚Relief im Relief‘ als Teil eines Altares erscheint, auf dem das Opfer Abrahams zelebriert wird, kann die dargestellte Begebenheit eigentlich nur vor dem Opfer Abrahams stattgefunden haben. Das Auflegen der Hand auf den Kopf kommt nun im Alten Testament in verschiedenen Zusammenhängen vor, die alle nach dem Opfer Abrahams stattfinden. Durch Handauflegen werden die Patriarchensöhne gesegnet und das jeweilige Vermächtnis an sie übergeben (Gen 48,1–22). Mit 241 Unterschiedliche Deutungen etwa bei Aљљюћ MюџўѢюћё, „Note sul sacrificio d´Isacco di Brunelleschi“, in: L’Arte 17 (1914), ř85f.; Mюћѡќѣюћі, Sacrificio (Anm. 74), 27–29; AљђѠѠюћёџќ Pюџџќћѐѕі, „L’Arcangelo Gabriele con la barba“, in: La Nazione 129 (18. August 1977), ř; Gіљяђџѡ, Iconography (Anm. 8ř); BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), ř2. ř8; es steht die Deutung noch aus, die angekündigt wird bei SћќѤ-Sњіѡѕ, Spinario (Anm. 65), 167, Anm. 6; eine Übersicht über die bisherigen Deutungen und ein eigener Versuch zuletzt bei RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 162–165. 242 Vgl. etwa Sibyllen, Relief, Grabmal des Hl. Ludger, Essen Werden (RѢёќљѓ WђѠђћяђџє, Frühe mittelalterliche Bildwerke, Düsseldorf 1972, Abb. 124). 24ř Vgl. etwa den Moses von der Davidseite des Dreikönigschreins, Köln, Dom (Ornamenta Ecclesia, hg. v. Aћѡќћ Lђєћђџ, Bd. 2, Köln 1985, 452). 244 Ecclesia, 1195–1196, Relief einer Bronzetür, Rom, Lateransbaptisterium (Mђћёђ, Bronzetüren [Anm. 2ř2], 19, Abb. ř).
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derselben Geste findet an verschiedenen Stellen des Alten Testaments die Weihe für sakral begründete Ämter statt. So sollten die Israeliten den Leviten die Hände auflegen, um sie durch Aaron vor Jahwe weihen zu lassen (Num 8,10f.). Moses legte auf Jahwes Geheiß Josua die Hand auf und stellte ihn vor den Priester Eleasar, um ihn so in sein Amt einzusetzen (Num 27,17–2ř; Dtn ř4,9).Ⱥ245 Zum anderen kommt das Handauflegen in Beschreibungen von Opfern vor, wo die Hand auf dem Kopf eines Opfers nach altjüdischem Ritus die Identifikation des Opfernden mit dem Opfer ausdrückt (Lev 1,4; 4,15, 16,21; 2Chr 29,2ř).Ⱥ246 In diesem Sinne findet sich der Gestus seit frühchristlicher Zeit gelegentlich auch in Darstellungen des „Opfers Abrahams“.Ⱥ247 Über die allgemeine Bedeutung des Handauflegens als eines zwischen Segen und Opferzeichen changierenden Zeremoniells hinaus läßt sich allerdings keine dieser Begebenheiten und keine ihrer tradierten Ikonographien mit der Darstellung des ‚Reliefs im Relief‘ in eindeutige Verbindung bringen. Eine ähnliche Konstellation wie die Figuren des ‚Reliefs im Relief‘ zeigt allerdings ein frühchristlicher Sarkophag des 1. Drittels des 4. Jahr-
245 Vgl. etwa die Darstellung in der Sarajevo-Haggadah, Katalonien, 2. Hälfte 14. Jh., Sarajevo, Nationalmuseum, fol. ř1v (Sюџіѡ Sѕюљђѣ-EѦћі, „Jerusalem and the Temple in Hebrew Illuminated Manuscripts. Jewish Thought and Christian Influence“, in: Pђџюћі, L’interculturalità [Anm. 47], Ravenna 2004, 17ř–191, hier 18ř, Abb. 4). 246 Vgl. GђіѠѐѕђџ, Parallelen (Anm. 89), Tfl. 1ř c, e; HюџѡњѢѡ GђѠђ, Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, München 1977, 95–97; hierzu sowie zum Vorangehenden vgl. RђћѼ PѼѡђџ, „L’imposition des mains dans L’Ancien Testament“, in: VT 7 (1977), 48–55; mit weiteren Bibelstellen zum Handauflegen. In der mittelalterlichen Liturgie hat das Handauflegen auf den Kopf außerdem etwa bei Taufe, Firmung, Krankensalbung oder Exorzismen seinen liturgischen Platz (vgl. FќџѠѡћђџ, Symbole [Anm. 1ř0], 496; OѠјюџ Hќљљ, „Handgebärden“, in: LCI 2 [1970], 214–216; Hђљєю KюіѠђџ-Mіћћ, Die Erschaffung des Menschen auf den spätantiken Monumenten des 3. und 4. Jahrhunderts [JAC.E 6], Münster 1981, 14–16). Eine Illustration des Fuldaer Sakramentars zeigt eine Taufszene, bei der die Hauptfiguren vergleichbar angeordnet sind wie in Brunelleschis ‚Relief im Relief‘, und bei der der Täufling ähnlich aus dem Taufbrunnen ragt wie der Jüngling (Martyrium des Hl. Bonifatius, Buchmalerei, Fuldaer Sakramentar, Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek; Dюѣіё Tюљяќѡ Rіѐђ, Morgen des Abendlandes, London 1965, ř06). 247 Zur „impositio manus“ in frühchristlichen Darstellungen des Opfers Abrahams vgl. Pюћђљљі, Ikonographie (Anm. 22); für das Fortleben des Gestus in diesem Kontext vgl. etwa Hl. Markus und Opfer Abrahams, um 1160–1170, Emailplatte, Louvre, Paris (Art resource [Anm. 66], suche: mark enamel louvre); Das Opfer Abrahams, Große Berliner Pyxis (SѐѕѤюя, Verständnis [Anm. 48], Abb. 78a); Opfer Abrahams, Buchmalerei, Millstätter Genesis, Kärntener Landesarchiv, fol. 29r (ebd., Abb. 75); Opfer Abrahams, 547, Mosaik, Ravenna, San Vitale (NќќџѡȦTієѐѕђљююџ, Sacrifice [Anm. 57], Abb. 8); die Hand des Engels auf dem Kopf Isaaks bei Guistode Menabuoi (1ř49–1ř90), Opfer Abrahams (1ř60–1ř70), Fresko, Padua, Baptisterium (Art resource [Anm. 66], suche: sacrifice isaac menabuoi).
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Abb. 25: Fіљіѝѝќ BџѢћђљљђѠѐѕі, Das Opfer Abrahams (Detail: Relief im Relief), Messing, vergoldet, ca. 42 x ř8 cm, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.
Abb. 26: Ecclesia, 1195–1196, Relief einer Bronzetür, Rom, Lateransbaptisterium.
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hunderts (Abb. 27)Ⱥ248 am Anfang einer Reihe alt- und neutestamentlicher Szenen. Thronend segnet ein bärtiger Mann mit der Rechten eine kleinere, starr vor ihm stehende Figur, auf deren Kopf ein anderer Bärtiger empfehlend seine rechte Hand legt. Eine weitere kleine Figur liegt davor starr am Boden. Analog zu antiken Darstellungen der Beseelung von Menschenfiguren, die Prometheus modelliert hat, ist diese Szene als Erschaffung Evas gedeutet worden, speziell als der Moment, in dem Eva durch Zusammenwirken der göttlichen Personen geschaffen und beseelt wird.Ⱥ249 Eine Verbindung einer solchen Szene zum „Opfer Abrahams“ ist durchaus denkbar, erscheint dieses doch auf anderen frühchristlichen Sarkophagen in Nachbarschaft zu ähnlichen Darstellungen der Erschaffung des Menschen.Ⱥ250 Nach dem vierten Jahrhundert kommt der ikonographische Typus der Erschaffung der Menschen durch zwei Männer, von denen der eine die Menschenfigur Adams oder Evas durch Handauflegen beseelt, während die andere eine Art Segensgestus ausführt, zwar nur noch selten vor, bleibt, wie ikonographische Teilübernahmen – etwa in der zwischen 1099 und 1120 entstandenen „Erschaffung Adams“ von Wiligelmo da Modena im Dom zu Modena (Abb. 28) – und Filiationen zeigen, offenbar aber weiter verfügbar.Ⱥ251 Auch weitere Details verknüpfen Brunelleschis ‚Relief im Relief‘ mit der Ikonographie der Erschaffung der Menschen. So ragt etwa in Meister Bertrams (erstmals erwähnt 1ř67, gest. 1414Ȧ1415) Darstellung der Erschaffung Adams von 1ř79 der Stammvater der Menschen wie der Jüngling in Brunelleschis ‚Relief im Relief‘ aus einem Erdklumpen hervor, aus dem er gerade geschaffen wird, und erhebt seine Arme ganz
248 Sarkophag, 1. Drittel des 4. Jahrhunderts, Relief, Vatikan, Museo Pio Cristiano, ehem. Lateran 104 (KюіѠђџ-Mіћћ, Erschaffung des Menschen [Anm. 246], Tfl. 7a; dort auch weitere Beispiele dieser Ikonographie). 249 Ebd., 10–18. 250 Vgl. etwa den zweizonigen Sarkophag eines Paares aus dem Adelsstand, Trinquetaille, erstes Drittel 4. Jh., Arles, Musée Lapidaire (DѢяѦ, Mittelalter [Anm. 40], 11). 251 Wіљієђљњќ ёю Mќёђћю, Erschaffung Adams, 1099–1120, Relief, Modena, Dom (Cѕіюџю FџѢєќћі, Wiligelmo. Le sculture del Duomo di Modena, Modena 1996, Tav. I). Die Beseelung Adams durch Handauflegen findet sich auch etwa im Sarkophag von Loudon, 6. Jh., ehem. Vienne (nördl. von Poitiers), Schloßpark Loudon, heute verschollen (KюіѠђџ-Mіћћ, Erschaffung des Menschen [Anm. 246], 28–ř0, Tfl. 11), oder bei GіѢѠѡќ ёђ MђћюяѢќі, Erschaffung Adams, 1ř60–1ř70, Fresko, Padua, Baptisterium (Art resource [Anm. 66], suche: creation adam menabuoi). Die Verfügbarkeit des Typus belegen auch ikonographische Variationen und Filiationen etwa in der Erschaffungsdarstellung der Narthex-Mosaiken in Venedig, S. Marco (KюіѠђџ-Mіћћ, Erschaffung des Menschen [Anm. 246], 118, Tfl. 44–45a), oder im Schöpfungsbild des AshburnhamPentateuch, 6.–7. Jh., Paris, Bibliothéque Nationale, Nouv. acq. lat. 2řř4, fol. 1v (ebd., 120, Tfl. 52a–b).
Der Schrei Isaaks im „Land des Sehens“
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Abb. 27: Die Erschaffung der Menschen, Sarkophag, 1. Drittel des 4. Jahrhunderts, Relief, Vatikan, Museo Pio Cristiano, ehem. Lateran 104.
Abb. 28: Wіљієђљњќ ёю Mќёђћю, Erschaffung Adams, 1099–1120, Relief, Modena, Dom.
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ähnlich (Abb. 29).Ⱥ252 Sogar die Konstellation, mit der Gottvater über dem aus der Erde hervorwachsenden Adam schon den beseelenden Segensgestus ausführt, hat in Brunelleschis ‚Relief im Relief‘ eine Parallele. Die eigentümliche Geste, mit welcher der bärtige Mann bei Brunelleschi mit seiner Linken eine Wurzel oder Pflanze über den aus der Erde hervorragenden Jüngling hält, wurde bei bisherigen Deutungsversuchen kaum beachtet. Eine verwandte Konstellation hierzu zeigt das erste Autorenbild des sogenannten „Wiener Dioskurides“, der sich damals noch in dem mit Florenz um 1400 diplomatisch und kulturell eng verbundenen Konstantinopel befand (Abb. ř0).Ⱥ25ř Vor den auf einem Stuhl sitzenden pflanzen- und magiekundigen Dioskurides (um 40–90 n. Chr.) tritt hier die Göttin „Heuresis“ und demonstriert die Wirkung einer Mandragora-Wurzel. Wie der Bärtige im ‚Relief im Relief‘ die Wurzel über den im Boden steckenden Körper des Jünglings hebt, hält hier die „Heuresis“ die Mandragora über einen Hund, der nach einer antik begründeten und im Volksbrauch des gesamten Mittelmeerraumes tief verankerten magischen Vorstellung die Mandragorenwurzel ausziehen muß, dann sofort der magischen Kraft der Zauberwurzel ausgeliefert ist und sich im Todeskampf krümmt. Der Bärtige in Brunelleschis ‚Relief im Relief‘ trägt die Pflanze wie die „Heuresis“ des „Wiener Dioskurides“ mit der Wurzel nach unten, wie es für den magischen Gebrauch der Mandragora vorgeschrieben war, bedeutete doch etwa nach Flavius Josephus (ř7Ȧř8 bis um 100 n. Chr.) „eine unmittelbare Berührung mit 252 Bђџѡџюњ ѣќћ Mіћёђћ, Erschaffung Adams, Schauseite des Grabower Altares, 1ř79, Hamburg, Kunsthalle (HюћѠ Pљюѡѡђ, Meister Bertram. Schöpfungsgeschichte, Stuttgart ř 1970, Abb. 6). Ähnlich wie der Jüngling in Brunelleschis ‚Relief im Relief‘ ragen gelegentlich Auferstehende bei Darstellungen des Jüngsten Gerichts oder von Wiedererweckungen halb aus der Erde (vgl. etwa Auferstehung der Toten, Ende 1ř. Jh., Mosaik, Florenz, Baptisterium, Kuppel; Rќѐѐќ SіћіѠєюљљіȦLюѠѠђ Hќёћђ, Il Battistero di Firenze, Fiesole 2000, 86, Abb. 7ř). Auf Giotto di Bondones Darstellung von Auferstehenden im Jüngsten Gericht, um 1ř0ř–1ř05, Fresko, Padua, Arenakapelle, weist hin RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 164f. Als Darstellung der Erweckung des Sohnes der Witwe von Sarepta durch Elia (1Kön 17,17–24) deutet Gіљяђџѡ, Iconography (Anm. 8ř), 196f. Gilbert weist aber selbst darauf hin, daß damit weder das Thronen der rechten Figur noch deren „mildness of reaction“ erklärt ist. 25ř PђёюћіќѠ DіќѠјѢџіёђѠ, Materia medica, Codex Anicia Juliana, 512 n. Chr., Österr. National-Bibliothek, fol. 4v (PђёюћіќѠ DіќѠјѢџіёђѠ, Der Wiener Dioskurides. Codex medicus graecus 1 der Österreichischen Nationalbibliothek, Bd. 1, Komm. von Oѡѡќ Mюѧюљ, Graz 1998, 22–24. 57, Taf. 4; eine Umzeichnung in: The Greek Herbal of Dioscurides, hg. v. Rќяђџѡ T. GѢћѡѕђџ, New ork 19ř4, Nachdr. ebd. 1959, 662). Zur Rolle des Hundes in der Magie der Mandragora vgl. HѢєќ Rюѕћђџ, „Die seelenheilende Blume. Moly und Mandragore in antiker und christlicher Symbolik“, in: Eranos-Jahrbuch 12 (1945), 117–2ř9, hier u. a. 188–191. 195f. (auch in: ёђџѠ., Griechische Mythen in christlicher Deutung, FreiburgȦBaselȦWien 1992, 164–2ř8); zur Symbolik der Mandragora vgl. auch Wќљѓєюћє Bџҿѐјћђџ, „Mandragora“, in: LCI ř (1971), 149f.
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Abb. 29: Bђџѡџюњ ѣќћ Mіћёђћ, Erschaffung Adams, Schauseite des Grabower Altares, 1ř79, Hamburg, Kunsthalle.
Abb. ř0: Heuresis überreicht eine Mandragora an Dioskurides, PђёюћіќѠ DіќѠјѢџіёђѠ, Materia medica, Codex Anicia Juliana, 512, Österr. National-Bibliothek, erstes Autorenbild, fol. 4v (hier: Umzeichnung aus Rќяђџѡ T. GѢћѡѕђџ [Hg.], The Greek Herbal of Dioscurides, New ork 19ř4, Nachdr. ebd. 1959, 662).
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der Wurzel den augenblicklichen Tod, es sei denn, man trage sie so in der Hand, daß die Wurzelspitze nach unten schaut.“Ⱥ254 Durch Allegorisierung besteht nun eine eigentümliche Verbindung zwischen der vielfältig ausfabulierten Magie der Mandragora und der Erschaffung Adams. Schon Augustinus nennt Adam „radix apostata“,Ⱥ255 eine verbreitete Analogie von Adam und Wurzel, die besonders in der gemeinsamen Herkunft aus dem Lehm der Erde gründet.Ⱥ256 Der byzantinische Theologe Michael Glykas (12. Jh.) Ⱥ257 bezeichnet die Mandragora als „Sinnbild der Stammeltern“. In einer durch das gesamte Mittelalter populären Allegorie führt der byzantinische „Physiologus“ aus, daß die Mandragora aus demselben Erdenmaterial entstehe wie Adam, denn „[…] ganz in der Nähe des Paradieses, dort wächst ein Kraut, das man Mandragora nennt.“Ⱥ258 Hildegard von Bingen (1098–1179) spricht diesen Bezug zwischen der Erschaffung Adams und der Entstehung der Mandragora noch klarer aus: „Die Mandragora ist aus jener Erde emporgewachsen, aus der einst Adam geschaffen wurde.“Ⱥ259 Aus einem Amalgam frühchristlicher Ikonographie und verbreiteter magischer Tradition entwirft Brunelleschi also offensichtlich die eigentümliche Szene seines ‚Reliefs im Relief‘ als Darstellung der Formung und Beseelung Adams, bei der eine der göttlichen Personen der Trinität vor dem Thron der anderen Adam erschafft – wobei auch denkbar ist, daß die thronende Figur die „Ecclesia“ bezeichnet, die mit der Heiligen Schrift in der Hand den Beginn des göttlichen Heilswirkens am Menschen betrachtet. Die Erschaffung Adams wird dabei entsprechend einer älteren Tradition mit der Magie der aus derselben Erde gezogenen Mandragora zusammengebracht. Vielleicht läßt sich die Darstellung der Mandragora hier über die Verbindung zur Erschaffung Adams hinaus auch auf die im Opfer Abrahams mitzudenkende Auferstehungshoffnung und das latent mit254 FљюѣіѢѠ JќѠђѝѕѢѠ, Bell. Jud. 6,6,ř; hier zitiert nach Rюѕћђџ, Mandragore (Anm. 25ř), 192. Den magischen Kontext erhellt auch ein Blick auf eine ganz ähnliche Konstellation in der Darstellung eines Exorzismus, bei dem ein Priester einen Zweig über den Kopf eines vor einem Thron knienden Besessenen hält (Köln, St. Heribert, Teufelsaustreibung, Dachscheibe 10, Heribertschrein. Lђєћђџ, Ornamenta [Anm. 24ř], ř21). 255 AѢєѢѠѡіћѢѠ, Ench. 99 (PL 40 [1861], 278D); vgl. Rюѕћђџ, Mandragore (Anm. 25ř), 20ř. 256 Vgl. ebd., 20ř–206. 257 Mіѐѕюђљ GљѦјюѠ, Bibl. Chron. I, in: PG 158 (1866), 120B; zitiert bei Rюѕћђџ, Mandragore (Anm. 25ř), 214. 258 Physiologus, hg. v. FџюћѐіѠѐѢѠ Sяќџёќћђ, Mailand 19ř6, 128 (Kap. 4ř, Zeile 4f.); übers. bei Rюѕћђџ, Mandragore (Anm. 25ř), 212; vgl. ebd., 21řf. 259 „Mandragora […] de terra illa, de qua Adam creatus est, dilata est.“ Hіљёђєюџё ѣќћ Bіћєђћ, Physica I, 56 (PL 197 [1855], 1151A); Rюѕћђџ, Mandragore (Anm. 25ř), 212; vgl. ebd., 21řf.
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schwingende Thema der Taufe beziehen, die Sündenvergebung und ewiges Leben vermittelt. Denn Neilos von Ankyra (gest. um 4ř0) erklärt: „[…] die mit Christus einst Auferstehenden sind Mandragoren.“Ⱥ260 Und Gregor der Große (um 540–604) vergleicht das Heil der gesamten Menschheit mit einer unterirdischen Wurzel, die durch quellendes Wasser wieder zum Leben erweckt werden kann.Ⱥ261 Unter dem Opfer Abrahams und über der an die Taufe erinnernden Quelle bestätigt die im ‚Relief im Relief‘ zusammen mit der Mandragora erscheinende Erschaffung Adams so die darüber dargestellte unerschütterliche Hoffnung Abrahams, wenn er seinen Sohn im Gottvertrauen opfere, könne Jahwe Isaak wiedererwecken. Auch mit dem zentralen Motiv von Brunelleschis „Opfer Abrahams“, dem auf Jesu Todesschrei am Kreuz vorausweisenden Schrei Isaaks, läßt sich die Magie der auf dem ‚Relief im Relief‘ offenbar soeben aus dem Boden gezogenen Mandragora verbinden, stößt diese Pflanze doch nach verbreiteter Meinung einen unerträglichen Schrei aus, wenn sie aus der Erde herausgerissen wird.Ⱥ262 Die tödliche Wirkung dieses Schreis vergleicht das „Trudperter Hohe Lied“ (40er Jahre des 12. Jahrhunderts) sogar ausdrücklich mit der Wirkung der Stimme Christi: Wer die Stimme [der Mandragora] beim Herausziehen vernimmt, der muß des Todes sein. […] Diese Wurzel sinnbildet Gott, dessen Bild Christus ist. […] Seine Stimme, das ist sein gewaltiges Urteil, das da tötet alle seine Widersacher.Ⱥ26ř
Wenngleich man die breite Verankerung des Mandragoramythos im volkstümlichen Aberglauben voraussetzen darf, so muß man doch bedenken, daß Brunelleschi die „Opferung Abrahams“ nicht für eine hermetische, im theologischen Deuten visueller Medien geübte kleine Gemeinschaft schuf, die mit der seltenen Ikonographie der Beseelung Adams und den differenzierten theologisch-allegorischen Deutungen des Mandragoramythos vertraut war, sondern für einen öffentlichen Wettbewerb und eine anschließende Anbringung an der Baptisterientür von Florenz. Er mußte daher damit rechnen, daß die damaligen Betrachter sein ‚Relief im Relief‘ und dessen Verflechtung mit den Hauptargumenten seines „Opfers Abrahams“ über vage Assoziationen 260 NђіљќѠ ѣќћ AћјѦџю, Fragment des Hoheliedkommentars, überliefert in der Katene des Prokop, in: PG 87,2 (Nachdr. um 1965), 17ř7A (übers. bei Rюѕћђџ, Mandragore [Anm. 25ř], 212; vgl. ebd., 225). 261 Gџђєќџ ё. Gџ., Moralia in Hiob 12,5,7 (PL 75 [1859], 989f.); übers. bei Rюѕћђџ, Mandragore (Anm. 25ř), 20ř. 262 Vgl. ebd., 200–202. 26ř Das St. Trudperter Hohe Lied, hg. v. Hђџњюћћ Mђћѕюџёѡ, HalleȦS. 19ř4, 125, 11Ȧř0 (übers. bei Rюѕћђџ, Mandragore [Anm. 25ř], 212; vgl. ebd., 2ř2f.).
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hinaus mit derselben Ratlosigkeit und Unsicherheit betrachten würden wie sie die bisherigen Versuche einer kunsthistorischen Entzifferung dieses Details gezeigt haben. Gerade aber wenn die ungewöhnliche, aus seltenen Bildquellen gespeiste Ikonographie nur mühsam, unvollständig oder gar nicht verstanden wurde, erreichte Brunelleschis ‚Relief im Relief‘, daß die Leistung der sichtbaren, das Sehen und die Emotionen der Betrachter unmittelbar in die Auslegung des biblischen Geschehens einführende Argumentation der übrigen Teile des „Opfers Abrahams“ durch Kontrast zur dunklen und nur schwer deutbaren Ikonographie eines als stilistisch veraltet vorgestellten ‚Reliefs im Relief‘ um so deutlicher vor Augen trat. Vor Brunelleschi kommt das Argumentationsmittel des ‚Reliefs im Relief‘ offensichtlich nur in der römischen Antike vor.Ⱥ264 Nach Brunelleschis Relief findet es sich etwa bei Donatello.Ⱥ265 Das analoge Argumentationsmittel des ‚Bildes im Bild‘ oder sogar der bildlichen Darstellung eines ‚Reliefs im Bild‘ findet sich im Medium Bild schon bei Giotto,Ⱥ266 bei dem bereits ein Bewußtsein für die stilistische Differenz zwischen der eigenen Malerei und der Darstellungsweise der jeweils zitierten Epo264 Vgl. etwa Triumph Marc Aurels über die Markomannen, Relief vom Marc-Aurel-Bogen, heute im Konservatorenpalast, Rom (PџюѦ BќяђџȦRѢяіћѠѡђіћ, Antique [Anm. 65], Kat. Nr. 167). 265 Vgl. etwa Dќћюѡђљљќ, Hl. Markus, Lünettenmedaillon, Florenz, San Lorenzo, Alte Sakristei (Gіќџєіќ CюѠѡђљѓџюћѐќ, Donatello, Mailand 196ř, Abb. 90). 266 So erscheint etwa im Begräbnis des Franziskus das Lettnerkreuz so über dem toten Franziskus, daß argumentativ die Konstellation der Erscheinung in San Damiano und der Stigmatisierung wiederholt wird (Gіќѡѡќ ёі Bќћёќћђ, Erscheinung in San Damiano, Stigmatisierung des Hl. Franziskus, Begräbnis des Hl. Franziskus, um 1295–1ř07, Fresko Assisi, San Francesco, Oberkirche; BђљљќѠі, Giotto [Anm. ř4], Abb. 22. ř8. 4ř); vgl. auch Aњяџќєіќ Lќџђћѧђѡѡі, Darbringung im Tempel, 1řř7 bis nach 1ř42, Tafelmalerei auf Holz, Florenz, Uffizien (Cюџљі, Malerei [Anm. 17], Abb. 62). Im Zusammenhang mit Brunelleschis ‚Relief im Relief‘ verweist auf spätere Darstellungen von Reliefs im Bild aus der Mantegnazeit Gіљяђџѡ, Iconography (Anm. 8ř), 198. Die einschlägige Literatur zum ‚Bild im Bild‘ behandelt leider weder Brunelleschis Relief noch die Zeit davor, bestätigt aber, wie ein solches Argumentationsmittel entsprechend im Medium Bild funktionierte (vgl. WќѢѡђџ KљќђјȦAћћђњюџіђ VђљѠ Hђіїћ, Paintings within Paintings, Rijksmuseum Amsterdam, 23.7.–12.9.1976, Beiheft, No. ř. 9; La peinture dans la peinture, hg. v. Pіђџџђ GђќџєђљȦAћћђ-Mюћђ Lђѐќў, Musée des Beaux-Arts de Dijon, 18.12.1982–28.2.198ř, 19ř; AћёџѼ CѕюѠѡђљ, „Le tableau dans le tableau“, in: Stil und Überlieferung in der Kunst des Abendlandes. Akten des 21. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte in Bonn 1964, Bd. 1: Epochen Europäischer Kunst, Berlin 1967, 15–29; eine Reihe von Beispielen aus Gemälden Mantegnas erörtert eingehend mit Verweisen auf ältere Beispiele Rіѐѕюџё LієѕѡяќѤћ, Mantegna. With a Complete Catalogue of the Paintings and Prints, Oxford 1986, 92f. ř97. 41ř). Ein gemaltes ‚Relief im Bild‘ auf einer antiken Triumphsäule dargestellt bei Gіќѡѡќ ёі Bќћёќћђ, Befreiung des Pietro d’Assisi, um 1295–1ř07, Fresko, Assisi, San Francesco, Oberkirche (BђљљќѠі, Giotto [Anm. ř4], Abb. 49).
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che spürbar ist. Ein dezidiertes metamediales Argument macht aber erst Brunelleschi aus diesen Anspielungen. Auch in inhaltlicher Hinsicht zeigt sich Brunelleschi somit durch den zugespitzten Kontrast zwischen den im ‚Relief im Relief‘ und den in den übrigen Teilen des „Opfers Abrahams“ entfalteten Inhalten und medienspezifischen Darstellungsmitteln kontrastiv als Erfinder eines neuen Medienverständnisses. Brunelleschis „Opfer Abrahams“ eröffnet an zentraler Stelle mit medienspezifischen Mitteln einen metamedialen Exkurs, der dem Betrachter die Virtuosität seines Umgangs mit allen historischen und aktuellen Mitteilungs- und Stilformen der Gattung Bronzerelief und zugleich die Überlegenheit seiner neuen Auffassung vom Relief als eines sichtbaren Argumentes sowie eines sehend verstehbaren Mediums pointiert argumentierend vor Augen stellt. Wo Ghiberti an der Vorderseite des Altarsteins seines „Opfers Abrahams“ ein reiches, an antiken Vorbildern und deren jüngerer Rezeption ausgerichtetes Akanthusornament zeigtȺ267 und so die Gelegenheit nutzt, ein Schaustück seiner handwerklichen Fertigkeit in verschiedenen Goldschmiedetechniken zu demonstrieren, um sich wohl auch für die mit dem fraglichen Auftrag verbundenen ornamentalen Portalfriese der Baptisterienportale zu empfehlen,Ⱥ268 nimmt Brunelleschis „Opferung Abrahams“ sichtbar Bezug auf den um 1400 von Filippo Villani ausgesprochenen Gedanken von einem mit Giotto begonnenen Fortschritt der neueren Kunst gegenüber derjenigen des Mittelalters.Ⱥ269 Auch durch den akzentuierten Kontrast der Stile eröffnet Brunelleschi eine neue Epoche. Die kontrastiv betonte Differenz verschiedener nebeneinander präsentierter Stile wurde wenige Jahrzehnte nach Brunelleschis „Opfer Abrahams“ in Malerei und Architektur ganz Europas zu einem gängigen Mittel der autoreflexiven metamedialen Demonstration der eigenen Zeitgenossenschaft und Innovativität im Verhältnis zum Alten und zum medial Möglichen.Ⱥ270 267 Vgl. KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 49; AћёџђѠ, Florence (Anm. 15), Bd. 1, ř65; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 1ř2–1ř7. 268 Zur Gestaltung dieser Friese vgl. besonders EѢљђџ-KҿћѠђњҿљљђџ, Bildgestalt (Anm. 4), 18ff. Als oberflächlichen, inhaltsleeren Ornamentalismus beurteilt Ghibertis Rankenwerk an dieser Stelle Mюћѡќѣюћі, Sacrificio (Anm. 74), 29. 269 Vgl. Fіљіѝѝќ Vіљљюћі, De Origine Civitatis Florentiae et Eiusdem Famosis Civibus, hg. v. GѢѠѡюѣќ Cюњіљљќ Gюљђѡѡі, Florenz 1847, 1–42, hier ř5f. 270 Hierzu zuletzt Sѡђѝѕюћ Hќѝѝђ, „Romanik als Antike und die baulichen Folgen. Mutmaßungen zu einem in Vergessenheit geratenen Diskurs“, in: Wege zur Renaissance. Beobachtungen zu den Anfängen neuzeitlicher Kunstauffassungen im Rheinland und in den Nachbargebieten, hg. v. Nќџяђџѡ NѢѠѠяюѢњ u. a., Köln 200ř, 88–1ř1; ёђџѠ., „Architekturstil und Zeitbewußtsein in der Malerei Stefan Lochners“, in: Hörsaal, Amt und Marktplatz. Forschung und Denkmalpflege im Rheinland. Festschrift für Udo Mainzer zum 60. Geburtstag, hg. v. CљюѢёію EѢѠјіџѐѕђћ u. a., Regensburg 2005, 57–70; siehe auch
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Direkt unter seinem pseudoromanischen ‚Relief im Relief‘, das mit der Formung und Beseelung Adams an zentraler Stelle an den göttlichen Ursprung der Bildhauerkunst erinnert, führt Brunelleschi seinen autoreflexiven Medienexkurs fort. In unübersehbarer Korrespondenz mit dem ‚Relief im Relief‘ zeigt Brunelleschi direkt unter diesem ein ebenfalls streng an Horizontale und Vertikale ausgerichtetes, gleichbreites flaches Kissen auf dem Rücken des Esels. Führt das ‚Relief im Relief‘ ein stilistisches Höchstmaß an Starre und Flächigkeit vor, so demonstriert das Kissen darunter das entgegengesetzte plastische Prinzip. Seine Form entsteht nicht wie die Formen des ‚Reliefs im Relief‘ durch penible Markierung aller Teilformen, sondern dadurch, daß ein umgeschnallter Gurt das weiche und nahezu amorphe Material einschnürt und so in einem einzigen Formungsakt in seiner elastischen Plastizierbarkeit wahrnehmbar macht. Neben dem detailrealistisch modellierten Gurt und der einen Stelle, an der das Material durchgewetzt ist, so daß die Füllung des Kissens nach außen quillt, erscheinen alle Partien dieses Kissens als kaum durchgestaltete Zufallsformen. Zusammen mit der akzentuierten Bewegung der Daumen Abrahams und des Dornausquetschers, die der modellierenden Tätigkeit plastischer Formungsprozesse entsprechen, und dem Feuer, das an eine der wichtigsten Voraussetzungen des Bronzegusses erinnert, zeigen Kissen und ‚Relief im Relief‘ – nahe dem Zentrum des „Opfers Abrahams“ dicht nebeneinander und aufeinander bezogen – elementare Prozesse plastischen Gestaltens: Die Formgebung an amorphem, plastizierbarem Material, die gleichsam graphische Ausarbeitung in der Ebene, die aus dem Tonklumpen hervorwachsende Formung der menschlichen Gestalt und schließlich deren gewissermaßen magische inspirierende Verlebendigung. In der Mitte seines Reliefs liefert Brunelleschi so den Maßstab sichtbar mit, nach dem die Modellierleistung seines „Opfers Abrahams“ im Kontext der damals aktuellsten Kunstbestrebungen der Internationalen GotikȺ271 gesehen werden sollte, und inszeniert sich damit selbstden Beitrag von CѕџіѠѡіћђ GҦѡѡљђџ in vorliegendem Band. Eine reiche Auswahlbibliographie zu solchen „Retrospektiven Tendenzen in der bildenden Kunst“ bietet KљюѢѠ Gџюѓ in http:ȦȦwww.histsem.uni-freiburg.deȦmertensȦgrafȦretro.htm (aufgerufen am 29.7.2006). 271 Zur Internationalen Gotik als der damals aktuellsten Strömung, auf deren avancierteste Entwicklungen sich sowohl Ghibertis als auch Brunelleschis Relief im Übergang zur Renaissance beziehen, vgl. AѢєѢѠѡ SѐѕњюџѠќѤ, Ghibertis Kompositionsgesetze an der Nordtür des Florentiner Baptisteriums (Abhandlungen der phil.-hist. Classe der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 18,4), Leipzig 1899, 4; KџюѢѡѕђіњђџ, Studies (Anm. 158), 286; ёђџѠ., Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, 48–64; Pџђѣіѡюљі, Periodisierung (Anm. 11), 1ř7f.; EѢљђџ-KҿћѠђњҿљљђџ, Bildgestalt (Anm. 4), 22; Jђюћћђ ѣюћ Wююёђћќіїђћ, „Ghiberti and the Origins of his International Style“, in: Ghiberti nel
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bewußt als Speerspitze eines Innovationsschubs im Medium Relief auf dem Weg zu einem aus seiner Sichtbarkeit heraus argumentierenden und emotional überzeugenden Medium. Erweist sich Ghibertis „Opfer Abrahams“ als narratives Relief, das als sukzessive Folge von Handlungsrepräsentationen ablesbar ist und die Entfaltung typologischer Bezüge durch Mehransichtigkeit sowie dekorative Stilmittel daran argumentierend anschließt, so zeigt sich Brunelleschis Werk als argumentierendes Relief von hoher Komplexität einschließlich einer metamedial reflektierten Demonstration der eigenen medienhistorischen Innovation. Die in Brunelleschis Wettbewerbsrelief betätigten Medienmittel und -mechanismen gehen über den Aufbau der Erzählfolge weit hinaus und überführen das gesamte Relief in eine medienimmanent auslegende Erörterung der sichtbaren Erzählung des Reliefs. Hierzu tragen das gestische Verweissystem als begründende und nicht nur als erzählende Abfolge ebenso bei wie die räumliche und zeitliche Anbindung an die Gegenwart des Betrachters durch die fast vollplastische Ausprägung der Figuren der unteren Reliefzone und durch die Affektübertragung mittels bewegter Einzelfiguren, die Anordnung nach oben und unten als ethische Bewertung, Symbole, Typologien, allegorische Komprimierung der visuellen Argumentation, haltungs- und verhaltensrelevante Handlungsaufforderungen durch Identifikationsträger und das ‚Relief im Relief‘ als medienhistorische Autoreferenz. Durch transitorische Momente in den Bewegungen, Zuspitzung der Handlungen und ihre synchronisierende und räumlich vereinheitlichende Verknüpfung zur Kontinuität eines Augenblickseindrucks und eines Einheitsraumes als argumentative Maske behauptet Brunelleschis Relief verstärkte Präsenz und Relevanz der sichtbaren Erzählung und ihrer sichtbaren argumentierenden Auslegung für die Gegenwart des Betrachters.
Kulturanthropologie In den Reliefs des „Opfers Abrahams“ von Ghiberti und Brunelleschi öffnet die anbrechende Frühe Neuzeit nicht nur eine neue medienhistorische Bandbreite, sondern zeigt auch ihr kulturanthropologisches Janusgesicht: mit Ghiberti ein optimistisches Antlitz, das im ornamentalen Schwung selbst die Brutalität der Abrahamslegende und des darin typologisch mitgedachten Kreuzesopfers heiter überspielt; mit Brunelsuo tempo (Anm. 4), Bd. 1, 81–87; WѢћёџюњ, Italien (Anm. 59), 41f.; AћёџђѠ, Florence (Anm. 15), Bd. 1, ř66; Wюњяђџє, Gothic (Anm. 120), 17ř–211; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 11ř–124.
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leschi eine Miene, die dem in der Geschichte Abrahams überlieferten Schrecken der absoluten Forderung Gottes nicht ausweicht und dessen kulturelle Wucht entfaltet. Beide reagieren damit in je spezifischer Weise auf die Dramatik der Stelle, für welche die Bronzetüre und damit das Siegerrelief bestimmt waren. Das Florentiner Baptisterium war nämlich der zentrale Ort des politischen und militärischen Selbstbewußtseins der Republik Florenz. Ganz im Einklang mit der von Paulus betonten, in die Abrahamsnachfolge einsetzenden, gemeinschaftsstiftenden Bedeutung der Taufe (1Kor 12,12–1ř; Gal ř,27–29), beschwor man in Florenz zu Krisenzeiten das Pathos der zentralen Taufkirche der Stadt. So rief etwa Dino Compagni (um 1255–1ř24) im Jahre 1ř01 angesichts bürgerkriegsähnlicher Zustände und äußerer Bedrohung seinen Mitbürgern im Baptisterium in Erinnerung, daß alle Bürger hier aus derselben Quelle gemeinsam die Taufe erhalten hatten und daher einander Einigkeit und Frieden schuldeten. Florentiner Humanisten wie Giovanni Villani – dessen Neffe Matteo di Giovanni Villani wie erwähnt vermutlich schon 1401–1402 auf das ausgeschriebene Thema der Bronzetür Einfluß nehmen konnte – sahen im Baptisterium zudem einen christianisierten Tempel des römischen Kriegsgottes Mars als identitätsstiftenden Nukleus von Florenz. Das Baptisterium war Identitätszentrum der Florentiner Bürgerschaft und zeremonieller Ausgangs- und Endpunkt der Kriegszüge der Stadt Florenz. Hier hingen in Friedenszeiten die Kriegsbanner der Florentinischen Truppen, hier wurde der trophäengeschmückte, von einem Olivenzweig und einem Palmzweig als höchsten Sieges- und Friedenszeichen gekrönte Kriegswagen aufbewahrt, den die Truppen als fahrbaren Altar auf ihren Feldzügen mitführten. Florentiner Truppen zogen aus der Kathedrale heraus durch das Baptisterium hindurch in den Krieg – am Ostportal in die Taufkirche hinein und am Nordportal hinaus –, um dann auf dem umgekehrten Weg im Triumph wieder in den zivilen Zustand der Stadt zurückzukehren.Ⱥ272 272 Zur Rolle des Baptisteriums und insbesondere seines Ostportals als Bezugspunkt städtischer Politik und florentinischen Kriegszeremoniells: Vќљјђџ Bџђіёђѐјђџ, Florenz. Oder. Die Rede, die zum Auge spricht. Kunst, Fest und Macht im Ambiente der Stadt, München 1992, 248–25ř. 257. 260. 265f.; zur humanistischen Marstempelthese vgl. Gђџѕюџё Sѡџюђѕљђ, Die Marstempelthese. Dante, Vilani, Bocaccio, Vasari, Borghini. Die Geschichte vom Ursprung der Florentiner Taufkirche in der Literatur des 13. bis 20. Jahrhunderts, München 2001. Im Kontext mit den Reliefs von Brunelleschi und Ghiberti vgl. KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, ř4; BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), ř1; RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 40–42. 54; NіђѕюѢѠ, Reliefkunst (Anm. 4), 48f. Zur Bedeutung Matteo di Giovanni Villanis für Wettbewerb und Auftrag vgl. KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 2, ř68f.; Mіёёђљёќџѓ KќѠђєюџѡђћ, Competitions (Anm. 4), 18řf.
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Während Ghiberti für diesen Ort den Augenblick des Triumphes im heiteren Ton der Befreiung und Erlösung Isaaks feierte und so den entstressenden Charakter des sakralen Friedensrituals instrumentierte, das im Durchschreiten dieses Portals zelebriert wurde, entwarf Brunelleschi mit der Demonstration der ungeheuren Macht, in welcher der Glaubende und Opferbereite göttliche Rettung auch aus höchster Not erfährt, für die umgekehrte Richtung ein Bild zur eskalierenden Streßkooperation des Gemeinwesens, die den Kriegsmut durch Gottvertrauen festigen konnte. Mögen vielleicht auch persönliche Gewalterfahrungen die Wucht der plastischen Arbeit Brunelleschis mitgeprägt haben,Ⱥ27ř so dürfte in Brunelleschis Betonung der tödlichen Bedrohung Isaaks, der unerschütterlichen Glaubensstärke Abrahams und der Macht Gottes, die solche Glaubenskraft zuverlässig belohnt, dabei vor allem das Bewußtsein einer aktuellen militärischen Bedrohung der Stadt formprägend geworden sein. Denn erst mit dem überraschenden Pesttod des Mailänder Herzogs Gian Galeazzo Visconti (1ř51–1402) am ř. September 1402 wurde nahe an der Entscheidungsphase des Wettbewerbs die Gefahr gebannt, daß die heranrückenden Mailänder Truppen die Stadt Florenz unmittelbar angreifen und daß dabei der 1401 ausgebrochene innerstädtische Streit um Krieg und Frieden die Einigkeit und die Verteidigungsfähigkeit der Stadt zersetzen könnte.Ⱥ274 Gerade in dieser Lage stimmte die Themenwahl des Wettbewerbs um die zweite Bronzetür des Florentiner Baptisteriums mit der Funktion des Baptisteriums und seiner Portale überein, zwischen Krieg und Frieden zu vermitteln und die kommunale Gemeinschaft in äußerster Streßeskalation und -relaxation sakral zu befestigen.Ⱥ275 Denn dieselbe Kollektiv- und Kriegs-Funktion wie das lokale Kriegs- und Friedens-Ze27ř So bezeugt etwa ein Dokument die rechtliche Beilegung einer Schlägerei, in die der mit Brunelleschi befreundete junge Donatello im Januar 1401 in Pistoia verwickelt war (vgl. LѢѐію Gюі, „Per la cronologia di Donatello. Un documento inedito del 1401“, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 18 [1974], ř55–ř57). 274 Zur Bedeutung des aktuellen Krieges zwischen Mailand und Florenz für die Themenwahl des Opfers Abrahams als Motiv der Rettung aus höchster Gefahr für den Wettbewerb um die zweite Baptisterientür vgl. Fџђёђџіѐј Hюџѡѡ, „Art and Freedom in Quattrocento Florence“, in: Essays in Memory of Karl Lehmann, New ork 1964, 114–1ř2, hier 124; SђѦњќѢџ, Sculpture (Anm. 59), ř9; KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 1, ř4; BюѡѡіѠѡі, Brunelleschi (Anm. 4), ř8; Pђџџіє, Paradiestür (Anm. 59), 15–17. 76, Anm. 1ř; NіђѕюѢѠ, Reliefkunst (Anm. 4), 46–49; relativierend: RюѢѡђџяђџє, Konkurrenzreliefs (Anm. 2), 24. 26–ř2. ř6f. 54. 62. 174f. 180f. 275 Zur Kulturtheorie der kollektiven Streßeskalation und -relaxation vgl. Hђіћђџ Mҿѕљњюћћ, Ästhetische Theorie der Renaissance. Leon Battista Alberti (phil. Diss. München 1968) (Habelts Dissertationen. Reihe Kunstgeschichte 6), Bonn 1981; ёђџѠ., Die Natur der Kulturen. Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, hg. v. Bюѧќћ Bџќѐј, WienȦNew ork 1996, bes. řř–70.
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remoniell am Florentiner Baptisterium beschwört auch der Segen, den Abraham zum Lohn seiner Glaubensstärke und Opferbereitschaft am Schluß der Opferperikope erfährt: Weil du dies getan hast und deinen einzigen Sohn mir nicht vorenthalten hast, will ich dich reichlich segnen. Ich werde deine Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne des Himmels und wie den Sand am Gestade des Meeres; deine Nachkommen sollen das Tor der Feinde besetzen. (Gen 22,16f.)
In der aktuellen Kriegsbedrohung übertrug die Abrahamsthematik, die der Wettbewerb für die nach Norden gerichtete zweite Baptisterientür vorgab, die biblische Verheißung vom „Tor der Feinde“ auf dieses Portal, wies es doch in Richtung der aus Mailand anrückenden Feinde. Mit der medialen Widmung dieses Ortes an das Abrahamsthema ließ sich der göttliche Abrahamssegen und die damit verbundene Verheißung an dessen Nachkommen, das „Tor der Feinde“ zu besetzen, medial über die in dieser Nachfolge – sowie durch die von Paulus als Abrahamsnachfolge verstandene gemeinschaftsstiftende Taufe (Gal ř,27-29) – glaubensstark geeinten, opferbereiten Florentiner herabrufen.Ⱥ276 Signifikanterweise änderte man schon bald nach dem für Florenz glücklichen Tod des angreifenden Mailänder Herzogs das Konzept und entschied, Ghiberti statt des bisher vorgesehenen alttestamentlichen Reliefzyklus einen neutestamentlichen Zyklus ausführen zu lassen, während sein „Opfer Abrahams“ zur möglichen künftigen Verwendung für eine später dem Alten Testament zu widmende Baptisterientür aufbewahrt werden sollte. Am ersten Jahrestag der Rettung verlagerte man dann hierzu passend den Bestimmungsort der mittlerweile an Ghiberti beauftragten zweiten Bronzetüre und sah vor, die damals am Ostportal befindliche Bronzetüre des Andrea Pisano an die Nordtüre zu versetzen, um die an Ghiberti beauftragte zweite Baptisterientüre mit ihrem neutestamentlichen Reliefzyklus direkt gegenüber der Kathedrale an der Osttüre montieren zu können.Ⱥ277 So rückte wahrscheinlich schon während der unruhigen Entscheidungsphase des Wettbewerbs von 1401Ȧ1402 die mit dem Auftrag verbundene Aufgabe kollektiver Identitätsfestigung und Streßkoordination nach dem Tod des zur Belagerung 276 Die politischen Konnotationen der Exegese der Erzählung vom Opfer Abrahams ist gerade wegen des enormen gemeinschaftskonstituierenden Kerns der gesamten Abrahamsgeschichte ein dringend aufzuarbeitendes Desiderat; vgl. etwa die Feststellungen zur Präsenz des Abrahamsthemas in der frühen protestantischen Herrscherikonographie am Hof Ottheinrichs von der Pfalz (1502–1559) bei Fџіѡѧ GџќѠѠђ, Image der Macht. Das Bild hinter den Bildern bei Ottheinrich von der Pfalz (1502–1559), Petersberg 200ř, passim. 277 KџюѢѡѕђіњђџ, Ghiberti (Anm. 2), Bd. 2, 402, doc. 6f.
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von Florenz heranrückenden Mailänder Herzogs zunehmend von dem ursprünglichen Kriegs- und Bedrohungsaspekt ab. Der kollektiven Koordination von Identität und Verteidigungsbereitschaft in Kriegszeiten hätte Brunelleschis Relief gewiß am besten entsprochen. Für Friedenszeiten aber, die sich mit der Rettung der Stadt nun abzeichneten, bot aber Ghibertis Relief die passende heitere Erlösungsstimmung. Ein Jahr später wurde dieser Stil dann seinerseits durch das Konzept von Ghibertis neutestamentlicher Bronzetür abgelöst, deren triumphaler Klang der Auferstehungsbotschaft nun an der dem Domportal gegenüberliegenden Baptisterienpforte zur Geltung kommen sollte. Schon Roger Bacon hatte seine medienhistorische Neukonzeption einer ansichtigkeitsbezogenen Bildrhetorik in der an den Papst gerichteten Widmung seines „Opus maius“ mit der Hoffnung begründet, durch Reform der Kenntnisse der Christen in Geometrie und Optik eine wirksamere visuelle Medialität entwickeln und so die Fähigkeit und Bereitschaft der Christen zur Gegenwehr gegen die immer weiter vordringenden und das Christentum ausrottenden Mohammedaner stärken zu können.Ⱥ278 Nimmt man dies und Brunelleschis Entwicklung des ansichtigkeitsgebundenen Reliefs 1401–1402 zusammen, so erweisen sich die militärischen Bedrohung und die Notwendigkeit zur kollektiven Koordination des Verteidigungswillens eines Gemeinwesens als wesentliche Antriebe zur medienhistorischen Entwicklung komplex argumentierender, überzeugender Medien am Beginn der Frühen Neuzeit. Dabei sind schon die alttestamentlichen Inhalte, die Bacon nennt, nicht nur Stoffe der medialen Umsetzung, sondern geben in ihrer identitätsstiftenden Bedeutung zugleich strukturelle Motive zur Medienentwicklung vor. Von der Arche Noah über das Bundeszelt des heimatlosen Volkes Israel bis zur Errichtung und Wiedererrichtung des Tempels in Jerusalem führt Bacon biblische Motive an, deren Kontrast von bedrohter Ortlosigkeit (Sintflut Ȧ Bundeszelt in der Wüste) bis zu ortsgebundenem Heil (Tempel von Jerusalem) nicht nur nach räumlich differenzierter virtueller Visualisierung verlangt, sondern den Gläubigen in der Vorstellung solcher Visualisierungen auch in ein mentales Verhältnis zur biblischen Topographie setzt, deren virtuelle und mentale räumliche Vergegenwärtigung sich nur in der Beteiligung des Gläubigen an der realräumlichen Bewegung erfüllen kann: in der Beteiligung am Kreuzzug zum virtuell simulierten, aber real existierenden und in seiner realen Existenz bedrohten Ort des Heils. Für Ghibertis Relief gibt der biblische Text vor allem das Gleichmaß der visuellen Erzählfolge und deren Zuspitzung in der direkten Rede 278 Referiert bei Eёєђџѡќћ, Giotto (Anm. 161), u. a. 47.
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des Engels vor. Für Brunelleschis Relief schafft die Bibel mit dem „Ort des Sehens“ als gleichsam zentralem Aug- und Fluchtpunkt des Textes eine mediale Strukturvorgabe zur Entwicklung des ersten ansichtsgebundenen Reliefs. In ihr können die Argumentation, die den biblischen Text sichtbar auslegt, die mitempfindende Betrachtung der Unerschütterlichkeit Abrahams sowie der Fürchterlichkeit seiner Tat, zur Erhabenheitserfahrung leiten, aus der die Umkehr des Betrachters und die Bereitschaft des Glaubenden zu rücksichtsloser, allem widerstehender Glaubensstärke folgen. Die Zuspitzung der Typologie im Schrei Isaaks als Vorverweis auf den Todesschrei Jesu am Kreuz gibt Brunelleschi zudem den Anstoß zur Synchronisierung von Relief und Betrachter. Mit ihrem Bezug auf Nachkommensverheißung und dem als Quintessenz der gesamten Abrahamserzählung gelesenen Versprechen an den Glaubensstarken, daß seine Nachfahren das „Tor der Feinde“ besetzen, bietet die biblische Vorgabe zudem die strukturelle Vorgabe zur realräumlichen Anbindung der virtuellen Visualisierung des biblischen Heilsgeschehens an die Lebenswelt und an das Verhalten der Betrachter im kriegszeremoniell hochsymbolisch bespielten Realraum des Baptisteriums von Florenz. Der Transfer des Abrahamthemas aus dem Sprachmedium der Bibel in das projektive und realräumliche Medium des Reliefs hat mit Brunelleschis Werk nicht nur der Exegese neue und bis dahin nicht konsistent verschriftlichte Aspekte des Themas aus dem Potential der Visualität heraus erschlossen, sondern auch in umgekehrter Richtung der medienhistorischen Entwicklung des Mediums Relief und insbesondere der Entwicklung von Perspektive als „Land des Sehens“, als Ort, an dem Gott und Mensch einander sehen und dem Glaubensstarken das Sehen und die Rettung Gottes gewiß ist, strukturell und kulturhistorisch bedeutende Impulse gegeben.
„Figura passionis“ Abraham und Isaak im Wiener Stundenbuch der Maria von Burgund. Affekt und religiöse Erinnerung in der frühniederländischen Malerei von CѕџіѠѡіћђ GҦѡѡљђџ Für Rudolf Preimesberger
In der niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts sind es oft Nebenhandlungen oder Randmotive, welche die Aufmerksamkeit der Betrachter zuerst auf sich ziehen. Diese sind in der Regel in anderen künstlerischen Medien fingiert, finden sich im Skulpturenschmuck der gemalten Architektur oder der Ausstattung eines Raumes: in der Musterung des Bodens, den Glasfenstern, der figürlichen Dekoration von Schränken, Truhen, Bänken und Stühlen, den Gefäßen und Gebrauchsgegenständen aus Metall und anderen Materialien. Von der Haupthandlung auch durch eine zurückhaltende monochrome Farbgebung unterschieden, zeichnen sich diese Motive zudem durch die detaillierte künstlerische Gestaltung aus. Zu den bekanntesten Beispielen gehören etwa der Niello-Boden mit den Szenen von David und Samson in Jan van Eycks ‚Verkündigung‘ in WashingtonȺ1 und der Skulpturenschmuck in den gemalten Bögen des Marienaltars und des Johannesaltars Rogier van der Weydens.Ⱥ2 Verortet das Bodenmosaik in van Eycks ‚Verkündigung‘ das 1
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Vgl. etwa Cюџќљ J. PѢџѡљђ, „Van Eyck’s Washington Annunciation. Narrative Time and Metaphoric Tradition“, in: The Art Bulletin 81 (1999), 117–125. Für kritische Lektüre einer früheren Version dieses Textes und wichtige Hinweise danke ich Susan Marti; mein Dank geht auch an Ulrich Heinen für Anregungen und intensive Gespräche. Erst nach Abschluß des Manuskripts erhielt ich Kenntnis von: Eяђџѕюџё KҦћіє, „Zur Wirklichkeit im Fensterbild der Kreuzannagelung des Wiener Stundenbuchs der Maria von Burgund“, in: Tributes in Honor of James H. Marrow. Studies in Painting and Manuscript Illumination of the Late Middle Ages and Northern Renaissance, hg. v. JђѓѓџђѦ F. HюњяѢџєђџ u. Aћћђ S. KќџѡђѤђє, London 2006, 271–28ř. Kюџљ M. BіџјњђѦђџ, „The Arch Motif in Netherlandish Painting of the Fifteenth Century“, in: The Art Bulletin 4ř (1961), 1–20 (Teil 1); 99–112 (Teil 2); Dіџј Dђ VќѠ, Rogier van
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neutestamentliche Ereignis in der großen heilsgeschichtlichen Tradition, bezeichnen van der Weydens gemalte Portale das Proszenium, vor dem sich die zentrale Handlung ereignet, die wiederum in verschiedene zeitliche Ebenen unterteilt ist. Die verschiedenen Formen mimetischer Repräsentation beziehen sich auf die komplexe Verschränkung liturgischer, historischer und aktueller Zeit. Solche narrativen Techniken und Strategien wurden in der kunstgeschichtlichen Literatur unterschiedlich bewertet. Erwin Panofsky hat am Beispiel dieser „realistisch“ gestalteten Motive seine einflußreiche Theorie eines „disguised symbolism“ entwickelt, eines Bildes, dessen außerordentliche mimetische Qualität auf einen komplexen theologischen Subtext verweise.Ⱥř Die jüngere Forschungsliteratur hat hingegen die ästhetisch-künstlerischen Funktionen der gemalten Architektur- und Ausstattungsmotive betont. Durch die Darstellung anderer künstlerischer Materialien im neuen Medium der Malerei werde die mimetische Leistungsfähigkeit der Malerei vor derjenigen älterer und aristokratischer Medien sichtbar vor Augen gestellt. Meine Studie baut auf diesen Arbeiten auf, hebt jedoch einen Aspekt hervor, der auch in neueren Arbeiten zur niederländischen Malerei bisher wenig Beachtung erfahren hat: Bei den in Stein, Holz oder Metall fingierten Randszenen handelt es sich meiner Meinung nach um Erweiterungen oder Exkurse, die gleichermaßen das gegebene Sujet ausschmücken und weiter entfalten wie sie auch der Wirkungssteigerung des Bildes dienen, an die Affekte und religiöse Erinnerung der Betrachter appellieren. Sie entsprechen, so möchte ich an der Stelle formulieren, jenen ‚pathos‘ oder ‚passio‘ erregenden Tropen und Figuren, die in den antiken rhetorischen Lehren unter dem Begriff der ‚amplificatio‘ zusammengefaßt werden. In dem bis weit in das 15. Jahrhundert hinein einflußreichsten rhetorischen Traktat, der damals Cicero zugeschriebenen ‚Rhetorica ad Herennium‘, wird ‚amplificatio‘ auf die Emotionser-
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der Weyden. Het volledige œuvre, Antwerpen 1999, 226–2řř (Marienaltar für die Kartause Miraflores); 285–290 (Johannesaltar); Rќяђџѡ SѢѐјюљђ, Rogier van der Weyden. Die Johannestafel. Das Bild als stumme Predigt (Das Kunststück, Fischer Taschenbuch 11990); wiederabgedruckt in: DђџѠ., Stil und Funktion. Ausgewählte Schriften zur Kunst des Mittelalters, hg. v. Pђѡђџ Sѐѕњіёѡ u. Gџђєќџ Wђёђјіћё, Berlin 200ř, 4řř–471. EџѤіћ PюћќѓѠјѦ, Early Netherlandish Painting. Its Origins and Character, 2 Bde., Cambridge, Mass. 195ř; vgl. auch: DђџѠ., Die Altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und Wesen, übers. und hg. v. Jќѐѕђћ Sюћёђџ u. Sѡђѝѕюћ Kђњѝђџёіѐј, 2 Bde., Köln 2001. Vorstellung und Begriff einer „verkleideten Symbolik“ (disguised symbolism) wird in Kapitel 5 diskutiert. Zur Entstehung und breiten Rezeption der Theorie vgl. das „Nachwort der Herausgeber“, in: PюћќѓѠјѦ, Altniederländische Malerei (Anm. ř), 55ř–559.
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regung der Zuhörer bezogen.Ⱥ4 In der Herennius-Rhetorik umfassen die Mittel der ‚amplificatio‘ neben den ‚loci‘ gerade auch die körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten, Mimik, GestikȺ5 und Stimme,Ⱥ6 die entsprechend variiert werden sollen, damit die Seelen der Zuhörer „entweder zum Zorn [ge]reizt oder zum Mitleid [be]wegt“ werden.Ⱥ7 Die Erzeugung von Affekten durch sprachliche und materielle Bilder aber ist auch in der religiösen Praxis zentral. Diese Überlegungen sollen im Folgenden hauptsächlich an Beispielen aus der Buchmalerei weitergeführt werden, einem Medium, das mit der Tafelmalerei in enger Beziehung steht, Details und Motive von auf Tafel gemalten Retabeln und Kompositionen in innovativer Weise verarbeitet oder oft auch anregt. Stundenbücher, um die es hier hauptsächlich gehen wird, sind allerdings Mittel privater Andacht und Meditation; die Illuminationen dieser Handschriften sind mit bestimmten Gebetsfolgen verbunden und stärker noch als die Tafelmalerei für die Nahsicht, den erforschenden, wandernden, umherschweifenden Blick bestimmt, der Lektüre, Meditation und Betrachtung vereint. Ein zentraler Platz in meiner Diskussion wird der Miniatur der Kreuzannagelung im Wiener Stundenbuch der Maria von Burgund zukommen, die, so werde ich argumentieren, sich bis in die einzelnen Motive hinein auf die meditative Praxis der kurzen Kreuz-Horen bezieht (2 und ř). Die zwei ganzseitigen Bilder einer lesenden Frau (vgl. Tafel 1 im Anhang) und der Kreuzannagelung (vgl. Tafel 2 im Anhang) im Wiener Stundenbuch Codex 1857, in der kunstgeschichtlichen Forschung einem Illuminator mit dem Notnamen „Wiener Meister der Maria von Burgund“ zugeschrieben, gehören zu den erstaunlichsten Leistungen der flämischen Buchmalerei des späten 15. Jahrhunderts. In der neueren Forschungsliteratur wird dabei hauptsächlich die sogenannte Frontispiz-Miniatur als ein Kunstwerk zitiert, das die mimetische Leistung der Malerei und den religiösen Gebrauch von Bildern und Artefakten
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[Cіѐђџќ], Ad C. Herennium de Ratione Dicendi (Rhetorica ad Herennium), übers. v. Harry Caplan, LondonȦCambridge 1964, 146f. (II.47): „Amplificatio est res quae per locum communem instigationis auditorum causa sumitur.“ Vgl. Bюџяюџю BюѢђџ, „Amplificatio“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1 (1992), 445–471, zum Auctor ad Herennium, 445–449. Zur Bedeutung der Rhetorica ad Herennium für die niederländische Malerei, vgl. Pђѡђџ PюџѠѕюљљ, „The Art of Memory and the Passion“, in: The Art Bulletin 81 (1999), 456–472. [Cіѐђџќ], Ad C. Herennium (Anm. 4), 200–205 (III.26–27), zur Gestik und Mimik (corporis gestus et vultus moderatio). Ebd., 196–201 (III.2ř–25), zur Flexibilität der Stimme (mollitudino vocis). Ebd., 196f. (III.2ř): „Amplificatio est oratio quae aut in iracundiam inducit, aut ad misericordiam trahit.“
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thematisiert.Ⱥ8 Die Miniatur zeigt eine in einem Stundenbuch lesende Frau vor einem Fenster, das nach einem Kirchenraum hin geöffnet ist. Dort sind – von der Lesenden unbeachtet – eine ähnlich gekleidete und geschmückte Frau und drei Hofdamen zu sehen, die einer überlebensgroßen Maria mit Kind huldigen. In einer bis dahin ungewöhnlichen Weise werden dabei die Bezüge zwischen privatem Gebet und liturgischer Handlung, innerem und äußerem Schauen anschaulich gemacht. Dabei wird zugleich zum Ausdruck gebracht, daß private Frömmigkeitsübungen in enger Abhängigkeit zur öffentlichen Liturgie stehen, wenn diese auch weit weniger reguliert und damit schwieriger faßbar sind. Nun hat schon Otto Pächt in einem kleinen, 1948 in London erschienenen Band zum Meister der Maria von Burgund auf den, wie er sagt, unterschiedlichen „Grad der Präzision“ aufmerksam gemacht, welche die Miniatur der Kreuzannagelung charakterisiere. Das Stilleben in der Randzone habe die „Intensität eines close-up“, während „das Leben selbst“ als „ferne Vision“ erscheine; dadurch werde der Eindruck ver8
Vgl. etwa HюћѠ Bђљѡіћє u. CѕџіѠѡіюћђ KџѢѠђ, Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, 225, Kat. 165. Die neuesten Forschungsergebnisse zu Codex 1857 der Österreichischen Nationalbibliothek sind von TѕќњюѠ Kџђћ zusammengefaßt worden: „Vienna Master of Mary of Burgundy“, in: Illuminating the Renaissance. The Triumph of Flemish Manuscript Painting in Europe, hg. v. TѕќњюѠ Kџђћ u. Sѐќѡ MѐKђћёџіѐј, Ausst.-Kat. Los Angeles 200ř, 1ř7–141, Kat. 19. Vgl. auch ebd., 126–128. Die Literatur zum Stundenbuch der Maria von Burgund und zum Wiener Meister der Maria von Burgund ist sehr umfangreich, ein ausführlicher Faksimile-Kommentar erschien 1969: Fџюћѧ Uћѡђџјіџѐѕђџ u. Aћѡќіћђ ёђ SѐѕџѦѣђџ, Gebetbuch Karls des Kühnen vel potius, Stundenbuch der Maria von Burgund. Codex Vindobonensis 1857 der Österreichischen Nationalbibliothek [Faksimile und Kommentar], Graz 1969; vgl. auch: The Hours of Mary of Burgundy: Codex Vindobonensis 1857, Vienna, Österreichische Nationalbibliothek, komment. v. Eџіѐ IћєљіѠ (Manuscripts in Miniature), London 1995. Zu den wichtigeren Arbeiten gehören weiter: Fџіђёџіѐѕ Wіћјљђџ, „Studien zur Geschichte der niederländischen Miniaturmalerei des XV. und XVI. Jahrhunderts“, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses ř2 (1915), 279–ř42 (zur Kreuzannagelung 28řf.); Oѡѡќ Pѫѐѕѡ, The Master of Mary of Burgundy, London 1948 (zu den „Fensterbildern“ 26–28); Gђџюџё IѠююѐ Lіђѓѡіћѐј, „Boekverluchters uit de omgeving van Maria van Bourgondië, c. 1475 – c. 1485“, in: Verhandelingen van de Koninklijke Vlaamse Academie voor Wetenschappen, Letteren en Schone Kunsten van België, Klasse der Letteren ř1 und 66 (1969); Aћћђ H. ѣюћ BѢџђћ, „The Master of Burgundy and his Colleagues. The State of Research and Questions of Method“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte ř7 (1975), 286–ř09; Oѡѡќ Pѫѐѕѡ u. Dюєњюџ TѕќѠѠ, Die illuminierten Handschriften und Inkunabeln der österreichischen Nationalbibliothek. Flämische Schule II, 2 Bde. (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Denkschriften 212), Wien 1990, 69–85 (zur Kreuzannagelung 75); Bќёќ Bџіћјњюћћ, Die flämische Buchmalerei am Ende des Burgunderreichs. Der Meister des Dresdener Gebetbuchs und die Miniaturisten seiner Zeit, 2 Bde., Turnhout 1997 (zu den „Fensterbildern“, Bd. 1, 22–řř).
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mittelt, als sei die „Randzone lebendig“, die „zentrale Szene jedoch lediglich ein Bild“.Ⱥ9 Der eigenartige Bildcharakter der Passionsszene wird darüber hinaus, so läßt sich hier anfügen, durch die in monochromen Farbtönen gegebene fingierte Skulptur der Opferung Isaaks am linken Rand der Miniatur hervorgehoben, die entsprechend der typologischen Literatur als „Nebenmotiv“ die zentrale ‚historia‘ der Passion Jesu begleitet. Als Schmuck eines mit der ersten Besitzerin und Leserin assoziierten gemalten privaten Oratoriums oder Gebetsraumes ruft die alttestamentliche Opferszene die Erinnerung an Christi Opfer hervor. Im Fenster des Oratoriums – und der meditativen Erinnerung – erscheint jedoch nicht die Kreuzigung, sondern die ungleich brutalere Szene der Kreuzannagelung, allerdings als eher blasses und unscharfes Bild. Dieses Spiel mit der Erwartungshaltung der Leserin soll hier ausführlich erläutert werden. In welcher Weise wurden die alten typologischen Bezüge für eine meditative, assoziative und affektive Lesart von Bildern fruchtbar gemacht, wie sie damals in dem burgundischen Hof nahestehenden aristokratischen Kreisen praktiziert wurde? Es wird im Folgenden hauptsächlich um Buchillustrationen gehen, die typologische Verfahren anwenden und in denen die Opferung Isaaks als ein Nebenoder „Schattenmotiv“ auf die größere Wirklichkeit der Passion Christi verweist. Typologie wird hier als dynamische visuelle Strategie aufgefaßt, die mit dem Mittel formaler oder gestischer Entsprechung bei den Betrachtern Erinnerungsbilder und die mit diesen Bildern verbundenen Affekte auslöst. Haltungen, Gesten und Figurenkonstellationen spielen bei der mittelalterlichen Typologie, in der Ereignisse des Alten und Neuen Testaments scheinbar willkürlich aufeinander bezogen werden, eine entscheidende Rolle. Ich bin dabei weniger an ikonographischen Fragestellungen interessiert – aufgrund welcher Vorbilder etwa in einzelnen Beispielen die Auswahl der alt- und neutestamentlichen Handlungen erfolgte –, als vielmehr daran, in welcher Weise die mimetischen Unterschiede zwischen alttestamentlichen Typen und neutestamentlichen Antitypen mit den Mitteln der Malerei auch ästhetisch zum Ausdruck gebracht werden. Typologisches Denken gründet auf mimetischen Differenzen.Ⱥ10 In einer häufig zitierten Stelle unterscheidet schon Ambrosius von Mailand im 4. Jahrhundert zwischen dem „Schatten im Gesetz“, dem „Bild 9
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Pѫѐѕѡ, Master (Anm. 8), 28: „The degree of precision with which the two sections of the illumination are executed stands in inverted proportion to their significance. The still-life in the borders has the intensity of a close-up while life itself seems to have the remoteness of a distant vision. One could also say: we get the illusion that the marginal zone is alive and the scene in the centre only a picture.“ Eџіѐѕ FюѠѐѕђџ, „Typologie“, in: RGG3 6 (1962), 1094–1098.
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im Evangelium“ und der „Wahrheit im Himmel“ (Umbra in lege | Imago in evangelio | Veritas in Caelestibus).Ⱥ11 Auch dem Züricher Reformator Zwingli zufolge war Christus schon in den alttestamentlichen Schriften „schattenhaft abgebildet“ (adumbratum esse). Zahlreiche andere Aussagen ließen sich anfügen. Solche theologischen Vorstellungen unterschiedlicher Wirkungen, Realitätsgrade und zeitlicher Ebenen wurden in der frühen niederländischen Malerei durch bestimmte künstlerische Techniken und kompositorische Strategien vermittelt. In der Miniatur der Kreuzannagelung des Meisters der Maria von Burgund sind, so meine These, die durch das Lesen der Kreuz-Horen hervorgerufenen Affekte, Erinnerungen und Bilder selbst zum künstlerischen Thema gemacht. Die von Pächt und anderen beobachtete detaillierte, „verlebendigte“ Darstellung des Oratoriums, welches als „trompe l’œil“ in einem fragmentarischen Ausschnitt im Vordergrund erscheint, entspricht dem Verfahren der ‚enárgeia‘, hier dem lebhaften Vor-Augen-Stellen des Kreuzes, wie es das Lesen der Kreuz-Horen charakterisiert. Die in monochromen Farben gemalte Isaak-Skulptur im Rahmen des Fensters signalisiert die emotionale Färbung des Bildes.Ⱥ12
Tränen eines Kirchenvaters Bilder der Opferung Isaaks wurden schon in frühchristlicher Zeit wegen ihrer Tränen hervorrufenden Wirkungen gepriesen. So berichtet im 4. Jahrhundert der große kappadozische Theologe Gregor von Nyssa von den Tränen, die ihm in die Augen stiegen, wann immer er „eine Darstellung dieser leidvollen Szene“ sah, „so eindringlich führte mir die Kunst das Geschehen vor Augen“.Ⱥ1ř Augustin umgekehrt erwähnt die 11 12
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Ich zitiere nach LќѢіѠ RѼюѢ, Iconographie de l’art chrétien, 1. Introduction générale, Paris 1955, 194. Zur zentralen Bedeutung des Kreuzes in der Meditation: MюџѦ CюџџѢѡѕђџѠ, The Craft of Thought. Meditation, Rhetoric, and the Making of Images, 400–1200, Cambridge 1998, 168f.; vgl. auch AћѠєюџ Kђњњюћћ, „Evidentia, Evidenz“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik ř (1996), řř–47. Vgl. Gџђєќџ ѣќћ NѦѠѠю, „De Deitate Filii et Spiritus Sancti“, in: Gregorii Episcopi Nysseni Opera (PG 46), Neudruck Turnhout 1959, 572C: „Saepenumero miserabilis huius rei imaginem in pictura vidi, nec absque lacrymis spectaculum praeterii, adeo perspicue atque evidenter ars pingendi oculis rem gestam subiecit. Procumbit Isaac ante patrem propter ipsum altare flexis genibus nixus, et manus retrosum habens adductas: ille vero post genuum curvaturam pedibus insistens, et sinistra manu capillum eius ad sese adducens, inclinato capite intuetur vultum miserabiliter ad ipsum oculos attollentis, ac dexteram armatam gladio dirigit ad caedem faciendam,
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weite Verbreitung der alttestamentlichen Opferszene in allen Medien und Gattungen der Kunst. Die Opferung Isaaks sei „so bekannt, daß sie einem, auch ohne daß man darüber gelesen oder danach gefragt hätte, in den Sinn kommt; in der Tat, sie wird in so vielen Sprachen gesungen und an so vielen Orten gemalt, daß sie auch auf die Ohren und Augen derjenigen trifft, die sie zu vermeiden versuchen.“Ⱥ14 Faßt man die beiden Aussagen zusammen, so läßt sich folgern, daß die Flut der Isaakbilder deren emotionalen Wirkungen keineswegs abgeschwächt hat. Im Gegenteil, die Tatsache, daß der alttestamentliche Bericht längst dem kulturellen Gedächtnis eingeschrieben war, schien beim Publikum eine noch stärkere Erschütterung zu bewirken. Noch im frühen 17. Jahrhundert hebt ja der holländische Dichter und Dramatiker Daniel Heinsius in seinem Traktat über die aristotelische Tragödientheorie ‚De tragoediae constitutione’ hervor, daß im Theater wie im tatsächlichen Leben „derjenige, der häufig Elend sieht, sich [immer wieder] erbarmt“, wie auch „derjenige, der sich oft schreckenerregende Dinge anschaut, sich schließlich weniger entsetzt“.Ⱥ15 Bei der Passage in der Homilie des Gregor von Nyssa handelt es sich um ein Musterbeispiel spätantiker Ekphrasis, einer umschreibenden oder beschreibenden (periegematikós, aphegematikós) Rede, welche ein Thema lebhaft (enargós) vor Augen stellt. Gegenstand der Ekphrasis ist hier ein Kunstwerk beziehungsweise ein in verschiedenen Medien weitverbreitetes Bild, dessen anschauliche und verdeutlichende Beschreibung durch Gregor von Nyssa auch in den Seelen seiner Leser Mitleid und Rührung erzeugen soll.Ⱥ16 Gregors Tränen
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ac iam gladii mucro corpus tangebat, et tunc demum divinitus ad eum editur vox quae rem agendam prohiberet, vox autem eiusmodi quaedam erat.“ Vgl. auch Gџђєќџ ѣќћ NѦѠѠю, „De deitate filii et spiritus sancti et in Abraham“, in: DђџѠ., Opera, Bd. 10Ȧ2: Sermones, hg. v. EџћѠѡ Rѕђіћ, Leiden u. a. 1996, 115–144, hier 1ř7–140. Vgl. die deutsche Übersetzung dieses Textes von Tѕђќёќџ Mюѕљњюћћ im Anhang zum vorliegenden Band. AѢџђљіѢѠ AѢєѢѠѡіћѢѠ, „Contra Faustum“, in: Sancti Aurelii Augustini opera, hg. v. JќѠђѝѕ ZѦѐѕю (CSEL 25), Wien 1891, 671, 10f.: „ita nobile, ut non lectum nec quaesitum animo occurreret, ut denique tot linguis cantatum, tot locis pictum et aures et oculos dissimulantis feriret.“ Dюћіђљ HђіћѠіѢѠ, De Tragoediae constitutione liber [Nachdruck der Ausgabe Leiden 1611], Hildesheim 1976, 2ř (Kap. II): „Medicus aegrum primo cum accedit, vehementer tangitur. Donec habitus affectum temperat et artem. Tyro hostem metuit ac horret, donec veteranus, animo et affectu consistit. Ita qui miserias frequenter spectat, miseratur, et quidem ut oportet. Qui frequenter ea quae horrorem movent, intuetur, minus tandem horret, et ut decet.“ Zur Ekphrasis vgl. RѢѡѕ Wђяя, „Ekphrasis Ancient and Modern. The Invention of a Genre“, in: Word & Image 15 (1999), 7–18, hier 11; Fџіѡѧ Gџюѓ, „Ekphrasis: Die Entstehung der Gattung in der Antike“, in: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis
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galten einerseits dem gehorsamen Knaben Isaak, der freiwillig das Brennholz zur Opferstätte trug, sich binden ließ und den Hals dem Messer seines Vaters darbot. Andererseits rief das Bild der Isaakopferung aber auch im Sinne einer ‚amplificatio‘ den Vergleich mit jenem größeren und tatsächlich ausgeführten Opfer hervor, das im Zentrum der neuen christlichen Heilslehre stand. Es waren folglich die bildlichen und semantischen Assoziationen des Isaakbildes mit der Opferung Jesu, die den Schmerz und die Tränen Gregors verursachten. Die Deutung Isaaks als Typus Christi wurde früh zum Gemeinplatz der exegetischen Literatur. Irenäus von Lyon, Tertullian, Origenes, Ambrosius, Augustin, Johannes Chrysostomos und viele andere haben die Sohnesopfer Abrahams und Gottvaters sowie die Opferbereitschaft Isaaks und Jesu aufeinander bezogen.Ⱥ17 Die typologischen Bezüge zwischen dem (beinahe) geopferten Isaak und dem (tatsächlich) geopferten Christus wurden in den darstellenden und bildenden Künsten seit dem frühen Christentum in vielfacher Weise zum Ausdruck gebracht. Isaak, der selbst das Holzbündel für das Brandopfer trug, verweist nach Augustin und anderen Exegeten auf Jesus, der freiwillig das Kreuz auf sich nahm. Wie Isaak gefesselt wurde, wurden auch die Arme des Erlösers gebunden. Bibelexegeten sahen sowohl im gefesselten Isaak als auch in dem mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangenen Widder Typen oder Vorbilder des Gottessohnes, dessen Hände und Füße an das Kreuz genagelt wurden.Ⱥ18 Sowohl Isaak als auch Christus stiegen beim Gang zur Opferstätte einen Berg hinan. Doch ungleich dem im letzten Moment geretteten Isaak wurde an Jesus das durch die Sünden der Menschen notwendig gewordene Opfer vollzogen. In nachreformatorischer Zeit haben neben anderen Autoren Konrad Braun, Giovanni Andrea Gilio, Johannes Molanus,Ⱥ19 Gabriele Paleotti,Ⱥ20
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von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Gќѡѡѓџіђё Bќђѕњ u. HђљњѢѡ PѓќѡђћѕюѢђџ, München 1995, 14ř–155; MѢџџюѦ Kџіђєђџ, Ekphrasis. The Illusion of the Natural Sign, Baltimore 1992; VюљђѠјю ѣќћ RќѠђћ, „Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Ut-pictura-poesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), 171–208. Für eine ausführliche Diskussion der exegetischen Tradition vgl. Cќћџюё RѢёќљѝѕ u. Sѡђѣђћ F. OѠѡџќѤ, „Isaac Laughing. Caravaggio, Non-Traditional Imagery and Traditional Identification“, in: Art History 24 (2001), 646–681. Vgl. auch LќѢіѠ Rіѐѕђќњђ, Tableaux sacrez des figures mystiques du tres-auguste sacrifice & sacrement de l’Euchariste, Paris 1601, 118–124. JќюћћђѠ MќљюћѢѠ, De historia SS. Imaginum et picturarum pro vero earum usu contra abusus: libri IV, Löwen 1594, 27. Gюяџіђљђ Pюљђќѡѡі, „Discorso intorno alle imagini“ [1582], in: Pюќљю Bюџќѐѐѕі, Trattati d’Arte del Cinquecento fra Manierismo e Controriforma, Bd. 2, Bari 1961, 2ř1f. (Dei varii effetti notabili causati dalle imagini pie e divote): „[…] ricordando prima che scrive
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Simone Maioli,Ⱥ21 Gregorio Comanini und Franciscus JuniusȺ22 die Stelle bei Gregor von Nyssa angeführt, um die emotionalen Wirkungen christlicher Bilder zu beweisen. Wie Gregor von Nyssa griffen auch die nachreformatorischen Bildkritiker auf die literarische Gattung der Ekphrasis und das Stilmittel der ‚amplificatio‘ zurück, diesmal um mit den Tränen des Kirchenvaters auch ihre Leser zum Weinen zu bringen. Der Rechtsgelehrte Konrad Braun beispielsweise nennt in seinem 1548 veröffentlichten Bildertraktat das Isaakbild des Gregor von Nyssa eine „figura passionis“, welche die biblische Historie „um so wirksamer vor Augen stelle“.Ⱥ2ř Giovanni Andrea Gilio bezieht sich in seinem 1564 erschienenen ‚Dialogo degli errori e degli abusi de’ pittori‘ auf die Stelle bei Gregor von Nyssa, um zu demonstrieren, daß die emotionale Wirkung eines Kreuzigungsbildes diejenige einer Darstellung der Opferung Isaaks bei weitem übertreffe: Wenn schon die gut gemachte Figur des Isaak, der zur Opferung auf den Altar gelegt wurde, den großen Gelehrten Gregor von Nyssa zum Weinen gebracht hat, wie viel mehr werden erst das Bild und die Figur des an das Kreuz gehefteten Erlösers die Betrachter zur Reue bewegen, leidend, von Schmerzen geplagt, gepeinigt, blutend, entstellt.Ⱥ24
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s. Gregorio Nisseno, allegato più volte nella settima Sinodo, che l’istoria d’Abraham, quando volse immolare il figliuolo suo Isaac, era stata così vivamente e pietosamente da un pittore ritratta, che, ogni volta che la mirava, si mutava talmente tutto, che non potea ritenere le lagrime: Vide, inquit, saepius inscriptionis imaginem et sine lacrymis transire non potui, cum tam efficaciter pictura ob oculos poneret historiam.“ Sіњќћђ Mюіќљі, Historiarum totius orbis omniumque temporum pro defensione sacrarum imaginum adversus Iconomachos libri seu centuriae sexdecim, Rom 1585, 21ř. FџюћѐіѠѐѢѠ JѢћіѢѠ, The Painting of the Ancients, Bd. 1: De pictura veterum according to the English translation (1638), hg. v. Kђіѡѕ Aљёџіѐѕ u. a., Berkeley u. a. 1991, [5ř]: „Saint Gregory Nyssen after an ample and most pathetical relation of Isaac his sacrifice, hath added these words: ‚I saw often in a picture,‘ sayth he, ‚the image of this fact, neither could I looke upon it without teares, so lively did Art put the historie before my eyes.‘“ CќћџюёѢѠ BџѢћѢѠ, „De imaginibus liber“, in: DђџѠ., Opera tria nunc primum aedita: De Legationibus libri quinque; De Caeremoniis libri sex; De Imaginibus liber unus, Mainz 1548, 129: „Gregorius Nissenus emphasim picturae, historiae Abrahae immolantis filium Isaac, declarans: ‚Vidi, inquit, saepius inscriptionis imaginem et sine lachrymis transire non potui, quum tam efficaciter pictura ob oculos poneret historiam. Procumbit enim ante aram Isaac genibus innixus, circumductas ferens in tergo manus. Ille vero a tergo pueri appraehendit ad se trahens, declinat ante faciem ad puerum, miserabiliter illum intuens; dexteram autem gladio obarmatam gestat, quam etiam ad caedem dirigit. Iamque gladii acies ipsum corpus propemodum attingit, cum illum divina vox a facto deterret.‘ Et de eadem figura alibi idem Nissenus: ‚Vidi, inquit, non infrequenter passionis figuram, neque sine lachrymis eiuscemodi figuram transii, cum scilicet opus artificii in personam significatum demonstratum esse viderem.‘“ Gіќѣюћћі Aћёџђю Gіљіќ, „Dialogo nel quale si ragiona degli errori e degli abusi de’ pittori circa l’istorie“ [1564], in: Bюџќѐѐѕі, Trattati (Anm. 20), 2, 1961, 41: „[…] perché,
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Gregor von Nyssa und seine frühneuzeitlichen Übersetzer und Interpreten hatten dabei jenes kanonische Bild der Opferung Isaaks vor Augen, das bis weit in die Moderne hinein die Isaak-Ikonographie dominierte. Der Mantuaner Theologe Gregorio Comanini, der sich an Brunus’ lateinischer Wiedergabe des Textes von Gregor von Nyssa orientiert, beschreibt dieses mit folgenden Worten: Isaak kniete mit hinter dem Rücken gebundenen Händen auf dem Altar; hinter dem Jüngling sah man den Vater, der den Knaben an den Haaren packte und ihn zu sich heran zog; er beugte sein Antlitz über dasjenige des von ihm so geliebten Knaben und blickte ihn voller Mitleid an, schwang aber dennoch mit der Rechten den nackten Dolch. Und fast schon berührte, ja durchbohrte die Spitze den Körper, als ihn die göttliche Stimme vom Opfer zurückhielt.Ⱥ25
Mit welchen künstlerischen Mitteln werden nun die inhaltlichen und optischen Assoziationen zwischen den zwei „Figuren der Passion“, der Isaakopferung und der Opferung Christi, in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Malerei dargestellt, die ja bekanntlich in nachreformatorischen Kunstkritiken selten Erwähnung fand?
Überraschungsmomente Wenden wir uns erneut der ‚Kreuzannagelung‘ des Wiener Meisters der Maria von Burgund zu, der einzigen Illustration des kurzen Kreuzoffiziums (vgl. Tafel 2 im Anhang). Das spektakuläre Stundenbuch wurde in gemeinsamer Arbeit von Nicolas Spierinc, einem der talentiertesten flämischen Schreiber, Lieven van Lathem, dem Hauptilluminator, und dem Wiener Meister der Maria von Burgund erstellt, die seit den frühen
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se moveva la ben fatta figura d’Isaac, posto su l’altare per esser sacrificato, il gran dotto Gregorio Nisseo a lagrimare, quanto maggiormente moverebbe a compunzione i riguardanti l’imagine e figura del Salvator nostro su la croce trafitto, addolorato, tormentato, appassionato, sanguinoso, difformato […].“ Gџђєќџіќ Cќњюћіћі, „Il Figino overo del fine della pittura“ [Mantua, 1591], in: Bюџќѐѐѕі, Trattati (Anm. 20), ř, 1962, ř09f.: „Quante volte Gregorio Nisseno (lo dice egli stesso nell’orazione della Deità del Figliuolo e dello Spirito Santo, e parimente in quella d’Abraamo) passava dinanzi ad una pittura, la quale efficacissimamente gli rappresentava una sacra istoria, tante volte sentiva trarsi il pianto degli occhi. E la pittura era tale: stava Isaac inginocchiato sopra l’altare et aveva legate le mani dopo le spalle; et a tergo del giovanetto vedevasi il padre, che, afferrato il fanciullo per li capelli, a sé lo traeva; et inchinando la sua faccia sopra quella del tanto da lui amato figliulo, compassionevolmente il guardava, ma stringeva tuttavia con la destra l’ignudo ferro. E già la punta quasi toccava e pungeva il corpo, quando la divina voce lo ritrasse dal sacrificio.“
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1470er Jahren öfters in gemeinsame Buchprojekte involviert waren. Da sich im Text des Stundenbuches wiederholt eine weibliche Fürbitteformel findet, kann man sicher davon ausgehen, daß der Codex 1857 einst einer Frau gehört hat.Ⱥ26 Das Stundenbuch enthält jedoch weder Wappen, Motti noch andere persönliche Devisen, und Fragen des ursprünglichen Besitzes wie auch der genauen Datierung bleiben im einzelnen ungeklärt. Von der Mehrheit der Forschung wird die ursprüngliche Besitzerin mit Maria von Burgund (1457–1482) identifiziert, dem einzigen Kind Karls des Kühnen aus seiner Ehe mit Isabella von Bourbon. Demzufolge wird das Buch von den meisten Autoren in die Zeit zwischen 147ř und 1480 datiert. In der jüngsten Publikation zur flämischen Buchmalerei schlägt Thomas Kren für das Wiener Stundenbuch eine Datierung um die Mitte der 1470er Jahre vor. Als Ort der Produktion käme Gent in Frage: Nicolas Spierinc ließ sich 1476 in Gent nieder, wo er mehrere Häuser besaß, und wahrscheinlich hielt sich auch der Wiener Meister in den Jahren in Gent auf. Maria von Burgund wie auch Marias Stiefmutter, Margarete von ork, bezogen Ende 1474 Residenz in der Stadt.Ⱥ27 Es ist aber auch die Vermutung geäußert worden, daß es sich beim Wiener Codex 1857 um ein Verlobungsgeschenk Karls des Kühnen an seine dritte Gemahlin, Margarete von ork, gehandelt hat. Wäre dies der Fall, so müßte die Handschrift erstaunlich früh, das heißt vor dem Juni 1468 entstanden sein.Ⱥ28 In unserem Zusammenhang wichtig ist ein bisher kaum kommentiertes Rand- oder Nebenmotiv: die als fingierte Skulpturengruppe dargestellte Opferung Isaaks in der gemalten Fensterarchitektur der Kreuzannagelung (vgl. Tafeln 2 und ř im Anhang). Der Opferung Isaaks in der Nische des linken Rahmens entspricht im rechten Rahmen Moses mit der an einem Pfahl befestigten ehernen Schlange; auch dieses alttestamentliche Ereignis ist als silberfarbene Skulptur wiedergegeben. Ein weiteres Mal ist die Isaakopferung auf der gegenüberstehenden Seite zu sehen, diesmal jedoch als farbiges Bild in van Lathems historisierter Initiale D, welche die Kreuz-Horen einleitet (Abb. 1). Das kleinteilige Bild zeigt die Isaakopferung in einer mit grünen Obstbäumen besetzten Landschaft; rechts hinten ist ein Schloß zu erkennen. Festgehalten ist derselbe dramatische Moment, der auch in der Nischenskulptur dargestellt ist. Abraham hebt das Schwert, während der Knabe Isaak 26 27 28
Vgl. etwa Codex Vindobonensis 1857, fol. ř6v: „pro mea peccatrice“. Bџіћјњюћћ, Buchmalerei (Anm. 8), Bd. 1, 22; UћѡђџјіџѐѕђџȦёђ SѐѕџѦѣђџ, Gebetbuch (Anm. 8), 4. KџђћȦMѐKђћёџіѐј (Anm. 8), 1ř7–141. PѫѐѕѡȦTѕќѠѠ, Handschriften (Anm. 8), 69–70; Bџіћјњюћћ, Buchmalerei (Anm. 8), Bd. 1, 22–24.
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in betender Haltung vor dem Holzbündel kniet, das er selbst den Berg hoch getragen hat. Ein kleiner roter Engel hindert Abraham, das Opfer zu vollziehen, während ein ebenso kleiner weißer Widder auf dem Felsenplateau links auf den glücklichen Ausgang der Geschichte verweist. Abraham und Isaak sind in prächtige zeitgenössische Gewänder gekleidet. Abraham trägt einen blauen, mit einem breiten Hermelinkragen geschmückten Mantel über einem Gewand aus Goldbrokat. Isaaks mit Gold gesäumtes rotes Gewand macht ihn zur auffälligsten Bildfigur. Es waren also Bilder jener berühmten alttestamentlichen Opferhandlung, welche die Benutzerin auf das Lesen der Heilig-Kreuz-Horen und das innere Schauen und Meditieren über das Heilige Kreuz und die Passion Christi vorbereiteten. Der zum Opfer bereite Isaak ist ein bekannter Typus für Christus und die Passion, wie auch die von Moses in der Wüste errichtete eherne Schlange in der mittelalterlichen Exegese wegen ihrer Heilwirkungen die Heilkraft des Kreuzes vorwegnahm.Ⱥ29 Die Opferung Isaaks war als Vorbild oder Präfiguration der Kreuzigung Christi in typologischen Schriften, sakralen Spielen und einer Fülle von Darstellungen in allen Medien und Gattungen der Kunst weit verbreitet.Ⱥř0 Isaak als Typus Christi kommt außerdem im Kanon der Messe eine zentrale Bedeutung zu.Ⱥř1 Die Miniatur der Kreuzannagelung des Meisters der Maria von Burgund ist nach dem kompositorischen Schema einer Armenbibel gestaltet, in welchem ein zentraler Antitypus von zwei Typen gerahmt wird. Als seitliche rahmende Szenen erscheinen die Opferung Isaaks und die eherne Schlange etwa in einer um 1ř20–ř0 in Oberösterreich entstandenen Handschrift in BudapestȺř2 wie auch in dem im 15. Jahrhundert in den Niederlanden gedruckten Blockbuch der ‚Biblia Pauperum‘ in der 29
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Zur Typologie von Isaaks Opferung (oder Abrahams Opfer): Kюџљ MҦљљђџ, „Abraham“, in: RDK 1 (19ř7), 82–102, hier 84–88; EљіѠюяђѡѡю LѢѐѐѕђѠі Pюљљі, „Abraham“, in: LCI 1 (1968), 20–ř5, hier 28–ř0. Zur weiten Verbreitung der Isaakopferung als Vorbild der Kreuzigung in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ikonographie, vgl. RќѠђњюџѦ Wќќљѓ, „The Effect of Typology on the English Mediaeval Plays of Abraham and Isaac“, in: Speculum ř2 (1957), 805–825; TѕќњюѠ Rђћёюљљ, „Visual Typology in the Abraham and Isaac Plays“, in: Modern Philology 81 (1984), 221–2ř2; RѢёќљѝѕȦOѠѡџќѤ, Isaac Laughing (Anm. 17), 646–681. Vgl. etwa CѕџіѠѡіћђ Mќѕџњюћћ, „Quelques observations sur l’évolution stylistique du canon de la messe romain“, in: VigChr 4 (1950), 1–19, hier 8: „[…] sicuti accepta habere dignatus es munera pueri tui iusti Abel et sacrificium patriarchae nostri Abrahae […].“ Budapest, Szépmüvészeti Múzeum, fol. 12r. Vgl. Biblia pauperum és elötte a Vita et passio Christi képei a Szépmüvészeti Múzeum kódexében, hg. v. Tҿћёђ Wђѕљі u. LќџѨћё Zђћѡюі, Budapest 1988; Gђџѕюџё Sѐѕњіёѡ, Die Armenbibeln des XIV. Jahrhunderts, Graz u. a. 1959, 156, Tafel 12.
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Abb. 1: Lіђѣђћ ѣюћ Lюѡѕђњ, Beginn der Kreuz-Horen mit historisierter Initiale D, in: Stundenbuch der Maria von Burgund, um 1470–1475, Pergament, 22,5 x 16,ř, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1857, fol. 44r (Photo: Wien, Österreichische Nationalbibliothek).
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Bibliothek der Erzdiözese Esztergom (vgl. Tafel 4 im Anhang).Ⱥřř Während sich jedoch in diesen wie auch in den meisten mir bekannten Exemplaren der Armenbibel die Opferung Isaaks und die eherne Schlange auf die Kreuzigung als das Hauptbild der christlichen Heilslehre beziehen, sind dieselben alttestamentlichen Vorbilder im Stundenbuch der Maria von Burgund einer Kreuzannagelung gegenübergestellt. Diese Verbindung zwischen Typen und Antitypus ist vergleichsweise selten und scheint auch jüngerer Herkunft zu sein. Die im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts in Nordhessen oder Westthüringen entstandene Bilderhandschrift der ‚Biblia Pauperum‘ im Vatikan zeigt die Kreuzanheftung als zentrales Medaillon zwischen der Opferung Isaaks und der Erhöhung der ehernen Schlange (vgl. Tafel 5 im Anhang).Ⱥř4 Im Medaillon ist dargestellt, wie zwei Männer Nägel durch Christi linke Hand und die Füße treiben. Christus ist mit Wunden übersät, das daraus entströmende Blut ist in raschen Pinselstrichen mit roter Farbe aufgetragen. Hinter dem Kreuz ist eine weitere Figur von beachtlicher Größe zu sehen, mit der vielleicht der Centurio gemeint ist. Die lateinischen und frühneuhochdeutschen Texte über der Kreuzannagelung besagen, daß „Christus martel loset uns von der trurigen helle [traurigen Hölle]“. Abraham wird mit dem himmlischen Vater verglichen, der uns durch das Opfer seines Sohnes „bewisete zeichen rechter liebe und ganczer mynne“. Die Kreuzannagelung wird mit einem Vers aus den Psalmen Davids kommentiert: „Sie durch gruben [durchbohrten] myn hende und myn fusse und zalten alle myn beyne [zählten all meine Knochen]“ (Ps 22,17f.). Die Szene der Kreuzannagelung muß die Aufmerksamkeit der Betrachterin besonders erregt haben. Sie wird in der Bibel nur ganz knapp erwähnt; ebenso ist sie als Illustration der kurzen Kreuz-Horen eher selten.Ⱥř5 Wie die Heilig-Geist-Horen sind die Kreuz-Horen ein sehr häufiger řř
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Biblia Pauperum. Faksimileausgabe des vierzigblättrigen Armenbibel-Blockbuches in der Bibliothek der Erzdiözese Esztergom, übers. v. GѼѧю Eћєљ, hg. v. EљіѠюяђѡѕ SќљѡѼѠѧ, Berlin 1967. Biblioteca Apostolica Vaticana, Codex Palatinus latinus 871, fol. 1řv. Biblia Pauperum. Armenbibel. Die Bilderhandschrift des Codex Palatinus latinus 871 im Besitz der Biblioteca Apostolica Vaticana, hg. v. CѕџіѠѡќѝѕ Wђѡѧђљ, übers. v. Hђіјђ DџђѐѕѠљђџ, StuttgartȦZürich 1995, 19. 94; Die Biblia Pauperum im Codex Palatinus Latinus 871: aus der Biblioteca Apostolica Vaticana. Mit einer kodikologischen Beschreibung der Handschrift, Mitteilungen über ihre Geschichte, der Transkription der Texte, sowie Erläuterungen versehen v. Kюџљ-AѢєѢѠѡ Wіџѡѕ, Zürich 1982, 70. Eine Kreuzannagelung als Hauptbild der kurzen Kreuz-Horen findet sich allerdings im Schwarzen Gebetbuch in Wien (Österreichische Nationalbibliothek, Codex 1856, fol. 14v). Es wird angenommen, daß das berühmte Stundenbuch zwischen 1466 und 1475 in Brügge, wahrscheinlich für Karl den Kühnen hergestellt wurde; vor 1476
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Bestandteil spätmittelalterlicher Stundenbücher. Sie bestehen aus einer gemäß den sieben Gebetszeiten in sieben Stanzen unterteilten Hymne, wobei an jede dieser Stanzen ein kurzer Vers und ein Gebet anschließen; die Laudes fehlen. Bei den kurzen Kreuz-Horen handelt es sich folglich nicht um eine gekürzte Version der viel längeren achtteiligen Horen des Heiligen Kreuzes, sondern um ein selbständiges Offizium.Ⱥř6 In der Regel ist den kurzen Kreuz-Horen lediglich eine Illustration mit der Kreuzigung vorangestellt. In einigen wenigen besonders aufwendig gestalteten Stundenbüchern sind jedoch alle sieben Kreuz-Horen illustriert. Die Miniaturen beziehen sich dann etwa auf die Gefangennahme Jesu (Mette), die Vorführung vor Pilatus (Prim), Verspottung und Geißelung (Terz), Kreuztragung (Sext), Kreuzigung (Non), Kreuzabnahme (Vesper) und Grablegung (Komplet).Ⱥř7 Es waren aber durchaus auch andere Kombinationen möglich, wie auch die Themen der Vollminiaturen durch weitere Motive in den Initialen und Bordüren ergänzt werden konnten.Ⱥř8 In einzelnen Stundenbüchern ist eine zentrale Kreuzigungsminiatur von sechs Randvignetten umgeben, die sich auf die Inhalte der übrigen Gebetszeiten beziehen.Ⱥř9 Im Stundenbuch der Maria von Burgund illustriert das Fensterbild der Kreuzannagelung den ersten Satz der Stanze zur Sext: „Hora sexta Iesus est cruci conclavatus – in der sechsten Stunde wurde Christus an das Kreuz geheftet“. Die wortwörtliche Wiedergabe dieses Satzes kon-
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ging dieses an den Herzog von Mailand, Galeazzo Maria Sforza. Vgl. PѫѐѕѡȦTѕќѠѠ, Handschriften (Anm. 8), 17–ř5 (mit Bibliographie). Vgl. Vіѐѡќџ LђџќўѢюіѠ, Les livres d’heures manuscrits de la Bibliothèque Nationale, Paris 1927, Bd. 1, XXVf.; Rќєђџ S. Wіђѐј, The Book of Hours in Medieval Art and Life, London 1988, 89–9ř; Aћћђ S. KќџѡђѤђє, „Inhalt und Form der Stundenbücher des Jean, Duc de Berry“, in: Die Brüder van Limburg. Nijmegener Meister am französischen Hof (1400– 1416), hg. v. Rќя DҿѐјђџѠ u. Pіђѡђџ RќђљќѓѠ, Ausst.-Kat. Nijmegen 2005, 1ř5–147, hier 1ř5–1ř7. Zu den Kreuz-Horen im Wiener Stundenbuch der Maria von Burgund vgl. IћєљіѠ, Hours (Anm. 8), 27–ř0. Die ersten Verse der Stanzen für die einzelnen Gebetsstunden lauten: „Deus homo captus est hora matutina“ (Codex Vindobonensis 1857, fol. 44v); „Hora prima ductus est usque ad Pilatum“ (fol. 45r); „Crucifige clamitant hora tertiarum“ (fol. 46r); „Hora sexta Jhesus est cruci conclavatus. Et est cum latronibus pendens deputatus“ (fol. 47r); „Hora nona Dominus Jhesus expiravit“ (fol. 48r); „De cruce deponitur hora vespertina“ (fol. 48r); „Hora completorii datur sepulturae“ (fol. 49r). Dazu ausführlich: Fџюћј O. Bҿѡѡћђџ, „Sehen – verstehen – erleben. Besondere Redaktionen narrativer Ikonographie im Stundengebetbuch“, in: Images of Cult and Devotion. Function and Reception of Christian Images in Medieval and Post-Medieval Europe, hg. v. Sҫџђћ KюѠѝђџѠђћ (Nordic Iconographic Symposia 14), Kopenhagen 2004, 89–148, hier 89. 9ř–112. Vgl. Wіђѐј, Book (Anm. ř6), 186f., Kat. ř4 (Walters Art Gallery Ms. W 288: Paris, um 1425–14ř0, fol. 108r); 188, Kat. ř9 (Walters Art Gallery Ms. W 251: Paris, um 1450).
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frontierte die Betrachterin in direkter Weise mit der Brutalität des Geschehens. Die Mechanismen solcher Affektübertragung werden in den reich bebilderten, um 1490 im ostfranzösisch-flämischen Umkreis entstandenen ‚Heures de Boussu‘ illustriert, die ebenfalls für eine Frau, Isabelle de Lalaing, hergestellt wurden. Dort findet sich eine Kreuzanheftung in der historisierten Initiale zur Sext, während das Hauptbild die Kreuztragung zeigt (Abb. 2 und vgl. Tafel 6 im Anhang).Ⱥ40 Die Randzier stellt die Wirkungen der Betrachtung dieser Darstellung im Wortlaut „vor Augen“: Über und unter den mit dicken, fast groben Pinselstrichen in schwarzer Farbe gemalten Leidenswerkzeugen, dem Hammer und den drei Nägeln, sind 24 Augen zu sehen, aus deren halbgeschlossenen Lidern durchsichtige, perlenartige Tränen fließen. Henry Martin hat diese zu Recht als die Augen der Töchter Jerusalems interpretiert, die Christus auf dem Weg nach Golgatha mit Weinen und Klagen begleiteten.Ⱥ41 Das Stiefmütterchen („pensée“), das sich in den Randdarstellungen zum Kreuzoffizium von der Prim bis zur Vesper findet, ist ein kunstvolles Erinnerungsmotiv. Die französisch denkende und fühlende Besitzerin wird dieses zum Anlaß genommen haben, sich die verschiedenen Szenen in ihr Gedächtnis einzuprägen, wie sie in der historisierten Initiale vorgestellt werden. Auch hier ist die Bordüre auf die meditative Erinnerung der Besitzerin bezogen sowie auf die durch die Gebetsübungen ausgelöste Emotion.Ⱥ42 Die in der Bibel nicht weiter ausgeführte Kreuzannagelung ist in der spätmittelalterlichen Meditationsliteratur mit großer Anschaulichkeit geschildert. Seit dem 15. Jahrhundert finden sich vermehrt Darstel40
41 42
Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms. 1185, fol. 196r. Vgl. Bҿѡѡћђџ, Sehen (Anm. ř8), 105–112; zur Kreuzanheftung, 106. 110f.; ёђџѠ., „Ikonographisches Eigengut der Randzier in spätmittelalterlichen Handschriften. Inhalte und Programm“, in: Scriptorium ř9 (1985), 197–2řř, hier 218–2ř6; HђћџѦ Mюџѡіћ, „‚Les Heures de Boussu‘ et leurs bordures symboliques“, in: Gazette des Beaux-Arts 52 (1910), 115–1ř8; HђћџѦ Mюџѡіћ u. Pѕіљіѝѝђ LюѢђџ, Les principaux manuscrits à peintures de la Bibliothèque de l’Arsenal à Paris, Paris 1929, 56. Mюџѡіћ, Heures (Anm. 40), 126. Zur Rolle von „pensées“ (Gedanken) als „puns“ oder visuelle Signale der Lektüre und Meditation, siehe CюџџѢѡѕђџѠ, Craft (Anm. 12), 16ř. Zur Funktion von Bordüren vgl. weiter Mіѐѕюђљ Cюњіљљђ, Image on the Edge. The Margins of Medieval Art, Cambridge, Mass. 1992; JюњђѠ H. MюџџќѤ, Pictorial Invention in Netherlandish Manuscript Illumination of the Late Middle Ages. The Play of Illusion and Meaning (Corpus of Illuminated Manuscripts 16), Paris u. a. 2005. Die Bordüren in Codex Vindobonensis 1857 sind ausführlich von Bџђѡ RќѡѕѠѡђіћ diskutiert worden: „The Rule of Metaphor and the Play of the Viewer in the Hours of Mary of Burgundy“, in: Image & Imagination of the Religious Self in Medieval and Early Modern Europe, hg. v. Rђіћёђџѡ FюљјђћяѢџє u. Wюљѡђџ Mђљіќћ (im Druck). Mein Dank geht an den Autor, der mir das unpublizierte Manuskript freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.
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Abb. 2: Kreuztragung (Illustration zur Sext der Kreuz-Horen), in: Heures de Boussu, ostfranzösisch-flämisch, um 1490, Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms. 1185, fol. 195v (Photo: Cliché Bibliothèque Nationale de France, Paris).
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lungen, die in oft brutal-realistischer Weise zeigen, wie Christus an das am Boden liegende Kreuz genagelt wird. In Stundenbüchern illustrieren Bilder der Kreuzannagelung die Sext oder Non des Offiziums der Passion (der langen Horen des Heiligen Kreuzes). Ⱥ4ř Neben vielen anderen Beispielen kann hier auf die ‚Kreuzanheftung‘ im Stundenbuch der Marguerite von Orléans hingewiesen werden (vgl. Tafel 7 im Anhang).Ⱥ44 Am Kreuzesstamm und am linken Kreuzesarm machen sich gleich zwei Schergen zu schaffen: Der eine streckt mit großem Kraftaufwand Jesu Glieder, um die Seile geschlungen sind, während der andere weit ausholt, um den Nagel einzuschlagen. Aus Jesu linker Hand spritzt reichlich Blut, sein Kopf ist ohnmächtig zur Seite gesunken. Oben rechts weist der Centurio seinen Begleiter auf das Geschehen hin; weiter unten deutet ein Soldat auf den Gehilfen, der eben einen Nagel durch Christi Füße treibt. Wie später im Wiener Stundenbuch der Maria von Burgund wird auch hier die vornüber gebeugte Maria von Johannes gehalten. Im bogenförmigen Abschluß der Miniatur sind die Schächerkreuze zu erkennen, im Vordergrund rechts würfeln drei Männer um Jesu Rock. Die breite Bordüre ist mit Granatapfelbäumen geschmückt, die in reicher Fülle Kerne abwerfen.Ⱥ45 Frauen, Männer und Kinder sammeln in Körben die Kerne ein; einige genießen die Samen, wie sich auch Schmetterlinge und Vögel am Fruchtfleisch laben. Auf nahezu gleicher Höhe wie der zeigende Centurio macht eine unter einem Granatapfelbaum stehende Frau ihre Begleiterin auf die im Bildfenster erscheinende Passionsszene aufmerksam; der zu den Frauen gehörende Junge scheint die u-förmige Umrahmung des Hauptbildes zu überschreiten. Weiter unten wird die Zeigegebärde von einer anderen Frau wiederholt. Die reiche Ernte der seit der Antike mit Unsterblichkeit und Auferstehungshoff4ř
44
45
Eine ‚Kreuzannagelung‘ als Illustration der Sext der Kreuz-Horen findet sich auch in den Belles Heures de Jean de Berry (New ork, The Metropolitan Museum of Art, Cloisters Collection, Acc. no. 51.1.1, fol. 141v). Vgl. JюњђѠ H. MюџџќѤ, Passion Iconography in Northern European Art of the Late Middle Ages and Early Renaissance. A Study of the Transformation of Sacred Metaphor into Descriptive Narrative, Kortrijk 1979, Abb. 115; Eяђџѕюџё KҦћіє, Die Belles Heures des Duc de Berry. Sternstunden der Buchkunst, Luzern 2004, 100–10ř; zur Unterzeichnung siehe DҿѐјђџѠȦRќђљќѓѠ (Anm. ř6), 15řf. Eяђџѕюџё KҦћіє, Französische Buchmalerei um 1450. Der Jouvenel-Maler, der Maler des Genfer Boccaccio und die Anfänge Jean Fouquets, Berlin 1982, 122–125; Les Heures de Marguerite d’Orléans. Reproduction intégrale du calendrier et des images du manuscrit latin 1156B de la Bibliothèque nationale (Paris), eingel. u. komment. v. Eџяђџѕюџё KҦћіє, Paris 1991; meine Beschreibung orientiert sich weitgehend an Bҿѡѡћђџ, Eigengut (Anm. 40), 209–211. Zur Symbolik und Ikonographie des Granatapfels: C. DѢѡіљѕ, „Granatapfel“, in: LCI 2 (1970), 198f.; Fџіђёџіѐѕ MѢѡѕњюћћ, Der Granatapfel. Symbol des Lebens in der Alten Welt (Schriften der Abegg-Stiftung Bern 6), Bern 1982. Siehe auch die bei Bҿѡѡћђџ, Eigengut (Anm. 40), 210, Anm. 15 angegebene Literatur.
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nung verknüpften Fruchtkerne verweist auf die lebensspendende Kraft von Jesu reichlich vergossenem Blut. Das eifrige Zusammenlesen, Auflesen und Sammeln (collocare, colligere) der Fruchtkerne ist aber auch eine Metapher der Meditation und Lektüre der von der Benutzerin des Gebetbuches aufgenommenen geistlichen Übung.Ⱥ46 Im ‚Speculum Humanae Salvationis‘ findet sich die Kreuzannagelung in Kapitel 2ř, unmittelbar nach der Kreuztragung in Kapitel 22; die letztere wird durch die Opferung Isaaks oder durch Isaak, der das Holzbündel zu seiner eigenen Opferung trägt, präfiguriert. Der Kreuzannagelung in Kapitel 2ř folgt als erste Szene die Erfindung der Schmiedekunst und Musik durch Jubal und Tubalcain, die Söhne Lamechs. Als Tubalcain nämlich mit den Hammerschlägen Töne erzeugte, erfand Jubal aus dem Getöse der Hämmer eine Melodie (Gen 4,21f.). In derselben Weise soll Christus das Einschlagen der Nägel in seine Hände und Füße mit einer „sehr süßen Melodie“ begleitet haben. Dabei bat er seinen Vater um Verzeihung für jene, die ihn kreuzigten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“Ⱥ47 Das Motiv von der süßen Melodie des Gebets, mit dem Christus das Hämmern seiner Glieder ans Kreuz begleitete, verwendet auch Ludolph von Sachsen in der ‚Vita Jesu Christi‘.Ⱥ48 In einem um 1470 in den Niederlanden gedruckten Blockbuch des ‚Speculum‘ ist dargestellt, wie drei Henkersknechte Christus an das Kreuz nageln, das diagonal in der Bildfläche erscheint (Abb. ř).Ⱥ49 Eben46 47
48 49
Dazu ausführlich CюџџѢѡѕђџѠ, Craft (Anm. 12), 16 (collocare), řř (colligere) und passim. Ich zitiere nach JѢљђѠ LѢѡѧ u. PюѢљ Pђџёџіѧђѡ, Speculum humanae salvationis. Texte critique. Traduction inédite de Jean Miélot (1448). Les sources et l’influence iconographique principalement sur l’art alsacien du XIVe siècle, 2 Bde., Mulhouse 1907–1909, Bd. 1, (48), ř1–41 (cap. XXIII): „Haec autem oratio, quae a Christo in crucifixione est prolata, | Fuit in Jubal, fratre Tubalcain, praefigurata. | Jubal et Tubalcain filii Lamech fuerunt, | Qui inventores artis ferrariae et musicae existerunt. | Quando enim Tubalcain cum malleis sonos faciebat, | Jubal ex sonitu malleorum melodiam inveniebat. | Ad talem ergo melodiam et malleorum fabricationem | Comparamus Christi orationem et crucifixorum malleationem: | Quando enim crucifixores Jesum ad crucem fabricabant, | Christus dulcissimam melodiam pro ipsis Patri suo decantabat: | ‚Pater, dimitte illis, quia nesciunt quid faciunt.‘“ Vgl. MюџџќѤ, Passion Iconography (Anm. 4ř), 165–167; Fџђёђџіј P. Pіѐјђџіћє, Literatur und darstellende Kunst im Mittelalter (Grundlagen der Germanistik 4), Berlin 1966, 176. LѢёќљѝѕ ѣќћ SюѐѕѠђћ, Vita Jesu christi domini, Lyon 1510, S 2r–T 4v (Buch II, Kap. 6ř [„De sexta“]). Zum niederländischen Blockbuch des Speculum Humanae Salvationis in der British Library (G. 11784) vgl. The Mirror of Salvation [Speculum Humanae Salvationis]. An Edition of British Library Blockbook G. 11784, übers. u. komment. v. Aљяђџѡ C. Lюяџіќљю u. Jќѕћ Sњђљѡѧ, Pittsburgh, Pa. 2002, 62; A Medieval Mirror. Speculum Humanae Salvationis, 1324–1500, hg. v. Aёџіюћ WіљѠќћ u. JќѦѐђ LюћѐюѠѡђџ, Berkeley 1984, 186. Die Illustration zur Schmiede des Tubalcain in dem um 1475 in Speyer gedruckten
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falls deutlich sichtbar ist das Gewand Jesu. Im niederländischen Blockbuch folgt auf die Kreuzannagelung als erster Typus die Schmiede des Tubalcain mit zwei am Amboß arbeitenden Schmieden; bei der mittleren Figur könnte es sich um Lamech, den Vater von Jubal und Tubalcain, handeln. Die Gegenüberstellung der Kreuzannagelung und der Schmiede des Tubalcain im Heilsspiegel mag bewirkt haben, daß sich in niederländischen Bildern der Kreuzanheftung gelegentlich das Motiv eines Kupferschmiedes findet, der die Nägel für die Kreuzigung schmiedet. Ein Kupferstich des Meisters mit den Bandrollen, der in den nördlichen Niederlanden zwischen 1450 und 1475 aktiv war, zeigt eine besonders brutale Kreuzannagelung: Einer der Knechte hämmert einen Nagel durch Jesu linke Hand, ein anderer festigt seinen rechten Arm am Holz, während ein dritter ein Loch in den Kreuzesschaft drillt; im Vordergrund hämmert ein Schmied auf dem Amboß die weiteren Nägel zurecht.Ⱥ50
Mnemotechnische Verfahren Die Frontispiz-Miniatur und die Miniatur der Kreuzannagelung des Stundenbuches der Maria von Burgund sind ähnlich aufgebaut. In beiden Illustrationen fungiert die fragmentarische Wiedergabe eines als privates Oratorium ausgestatteten Raumes als rahmende Bordüre, welche die betende und meditierende Betrachterin auf die im geöffneten Fenster dargestellte Handlung vorbereitet. Bei der ‚Kreuzannagelung‘ handelt es sich in gewisser Weise um eine ‚finestra aperta‘ im Sinne Albertis, die sich jedoch auf ein im Gebet oder in der Meditation erzeugtes inneres Bild hin öffnet, das allerdings von zeitgenössischen Passionsdarstellungen Anregungen erhielt. Bildraum und fingierter Betrachterraum sind dabei auf die aristokratische Benutzerin hin aktualisiert und in vielfältiger Weise aufeinander bezogen. Im Fensterbild der Kreuz-
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Spiegel der menschen Behältnis zeigt einen Zitherspieler zwischen zwei am Amboß arbeitenden Schmieden; abgebildet in Aѣџіљ HђћџѦ, The Mirour of Mans Salvacioun. A Middle English Translation of Speculum Humanae Salvationis. A Critical Edition of the Fifteenth-Century Manuscript Illustrated from Der Spiegel der menschen Behältnis, Speyer: Drach, c. 1475, Philadelphia 1987, 1ř0. Mюѥ LђѕџѠ, Geschichte und kritischer Katalog des deutschen, niederländischen und französischen Kupferstichs im 15. Jahrhundert, Bd. 4, Wien 1921 (Reprint NendelnȦLiechtenstein 1969), 61f., Nr. ř5; vierter Tafelband, 11ř, Nr. řř4. Bђџѡ Cюџёќћ, Manuscripts of the Speculum Humanae Salvationis in the Southern Netherlands (c. 1410 – c. 1470), Löwen 1996, 274. Die Schmiede des Tubalcain ist ebenfalls dargestellt im Randmedaillon der Miniatur der Kreuzannagelung des Schwarzen Gebetbuches (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Codex 1856, fol. 14v). Vgl. Anm. ř5.
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Abb. ř: Kreuzannagelung; Jubal und Tubalcain. Holzschnitt, 107 x 195 mm, in: Speculum Humanae Salvationis, gedruckt in den Niederlanden, um 1470, London, British Library G.11784, Kap. XXIII (Photo: London, British Library).
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annagelung entfaltet der Illuminator ein eigentliches visuelles Spiel mit den zeitlichen und örtlichen Assoziationen der beiden Räume. Die Präsenz der im Bild selbst nicht dargestellten weiblichen Benutzerin des Buches wird durch die im Vordergrund ausgebreiteten Devotionalien und Preziosen signalisiert: höfische Kostbarkeiten, die durch ihre dekorativen Elemente auf das „draußen“ sich abspielende brutale Geschehen verweisen und auf die Wiederholung desselben in der Meßliturgie und Passionsmeditation. Das kleine, am Rosenkranz befestigte Kreuz scheint in den Betrachterraum hineinzubaumeln; das vom unteren Bildrand abgeschnittene trompe-l’œil-Motiv gibt das Thema der Passionsandacht an. Das Kreuz ist dabei zugleich auch das Zeichen, mit welchem jede Meditation und Andacht beginnt.Ⱥ51 Das Stundenbuch rechts vorne, in fast greifbarer Nähe zur Bildgrenze, ist bei einer Seite geöffnet, die – als Miniatur in der Miniatur – den Gekreuzigten mit Maria und Johannes vorstellt. Damit wird nicht nur die im Bildfenster sichtbare dramatische Szene fortgeführt und ergänzt. Das bei der Kreuzigung und folglich dem Beginn der Kreuz-Horen aufgeschlagene Buch kommentiert das Medium der Buchmalerei und dessen enge Beziehung zu einem gesprochenen oder innerlich vergegenwärtigten Text. Golgatha ist als steil aufragender Hügel wiedergegeben, wobei die dreieckförmigen Flächen rauhen Gesteins in den unteren Fensterecken deutlich mit dem geschliffenen Marmorstein des Gesimses kontrastieren; dort findet sich das Kissen aus Goldbrokat von der ersten ganzseitigen Miniatur wieder. Der ans Kreuz geheftete Körper Christi erscheint prominent auf einer Diagonale im unteren Teil des Fensters. Im Bildrahmen variiert die Gebärde Abrahams, der den Arm mit dem Schwert in weitem Schwung ausholt, um seinen Sohn hinzurichten, die Geste des Henkersknechtes im Bild vor dem Fenster, der den Arm hebt, um den letzten Nagel durch Jesu linke Hand zu treiben. Gegenüber stützt Johannes die mit ausgestreckten Armen auf ihren Sohn hin stürzende Maria.Ⱥ52 Während im Hintergrund die beiden Schächer an die Kreuze gebunden werden, hat sich um die Szene der Kreuzanheftung ein Kreis von Zuschauern gebildet. Hinter Maria und Johannes ist eine weitere fromme Frau zu erkennen, während am rechten Bildrand ein Berittener – der Hauptmann, der sich bald darauf zu Christus bekehren wird – eine Gebärde des Erschreckens macht. Von unten steigt ein Zug von Männern
51 52
CюџџѢѡѕђџѠ, Craft (Anm. 12), 168f. Das Motiv ist möglicherweise vom Wiener Diptychon des Hugo van der Goes angeregt worden.
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und Frauen den Golgatha-Hügel hinauf, ihre Köpfe sind gleich hinter der Fensterbrüstung zu erkennen. Im Vordergrund redet ein Mann mit Schirmmütze auf einen elegant Gekleideten ein, der, den linken Arm an die Hüfte gelegt, zu Christus blickt. Der Begleiter eines Soldaten wendet sich zurück. Links vor dem Fenster ist eine Gruppe von Frauen zu sehen; zwei von ihnen wenden ebenfalls den Blick zum geöffneten Fenster und damit zur Besitzerin des Stundenbuches, die dadurch als anwesend erscheint. Typologische Gemeinplätze dienen hier dazu, die mimetische Leistung der „neuen“ Malerei zu erproben, einer Malerei, die selbst die materielle Kostbarkeit aristokratischer Kunstgattungen nachahmen kann. Der mit verschiedenen religiösen und sinnlichen Stimuli kostbar ausgestattete Meditationsraum – neben den schon genannten Objekten sind auch ein offenes Schmuckkästchen und ein Duftfläschchen zu sehen –, auf den sich der Bildraum bezieht, entspricht einer besonders reich ausgestatteten Marginalie, wie sie die Buchproduktion im Umkreis gerade dieses Meisters charakterisiert. In der Miniatur der Kreuzannagelung des Stundenbuchs der Maria von Burgund sind die üppigen Randdekorationen, wie sie andere Blätter des Stundenbuchs zeigen, durch einen gemalten Meditationsraum ersetzt, der zwischen dem aktuellen Raum der Betrachterin und dem im Fenster sichtbaren Passionsgeschehen vermittelt. Die als versilberte Bronzestatuetten gegebenen Figuren Abrahams, Isaaks und des Engels gehören diesem bildlichen Zwischenbereich an.
Farbe und Schatten In der Kreuzannagelungs-Miniatur nimmt der Meister der Maria von Burgund Darstellungsformen auf, wie sie damals auch in typologischen Manuskripten geläufig waren. Aus den Untersuchungen von Bert Cardon und anderen geht hervor, daß die in den großen typologischen Kompendien der ‚Biblia Pauperum‘ und des ‚Speculum Humanae Salvationis‘ entwickelten Figuren und visuellen Argumente in den bildenden und darstellenden Künsten der Niederlande bis weit ins 16. Jahrhundert hinein einflußreich blieben.Ⱥ5ř Zwischen 1450 und 1470 wurde in der unmittelbaren Umgebung des burgundischen Hofes eine ganze Anzahl von ‚Speculum Humanae Salvationis‘-Handschriften in lateinischer, flämischer und französischer Sprache geschaffen. Ebenfalls wissen wir 5ř
Cюџёќћ, Manuscripts (Anm. 50), ř22–řřř. Zu den typologischen Assoziationen der Opferung Christi im niederländischen Bereich vgl. auch MюџџќѤ, Passion Iconography (Anm. 4ř), passim.
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von gewobenen Teppichserien „des alten und neuen Testaments“, welche die Paläste burgundischer und französischer Herzöge und Fürsten schmückten. Typologische Argumente wurden weiter durch theatralische Spiele und Prozessionen sowie in katechetischen Lehrschriften verbreitet.Ⱥ54 Ein frühes Beispiel stellt eine 1455 in Brügge entstandene illuminierte Handschrift dar, der ‚Miroir de l’humaine salvation‘, der sich heute in Glasgow befindet (Abb. 4).Ⱥ55 Während die Zusammenstellung der Typen und Antitypen dem gängigen Repertoire eines ‚Speculum Humanae Salvationis‘ entspricht, ist die Gestaltung der einzelnen Blätter ungewöhnlich: Typus und Antitypen werden aneinander – in einzelnen Fällen auch übereinander gereiht – präsentiert, die individuellen Szenen sind voneinander durch eine Einfassung in Goldfarbe getrennt. Die Illustrationen stehen jeweils am Beginn der einzelnen Kapitel. Die Widmungsminiatur sowie die Szenenfolge mit der Verkündigung zeigen am oberen und unteren Rand dekorative Bordüren mit Akanthus- und Weinblättern, Blumen und feinen Ranken. Die Verkündigung markiert den Beginn der Heilsgeschichte und hat deshalb eine besondere Bedeutung; sie ist auch hervorgehoben durch eine reichere Dekoration. Bert Cardon hat vermutet, daß entweder der Übersetzer des ‚Speculum‘-Textes oder ein theologischer Berater an der Herstellung der Miniaturen beteiligt war. Dafür sprechen nach Cardon einerseits die eher unbeholfenen figürlichen Darstellungen, andererseits aber auch der sophistizierte Einsatz verschiedener Gestaltungsmittel für die Antitypen, die als buntfarbige Malerei die jeweiligen Reihen einleiten, und die Typen, die in Grisaillemalerei gegeben sind. Wie später im Stundenbuch der Maria von Burgund sind letztere als mit kostbaren Materialien geschaffene Skulpturen vorgestellt.Ⱥ56 Durch Farbe wird die emotionale Einstimmung des Betrachters verstärkt, wie sie auch als künstlerisches Mittel eingesetzt werden kann, um verschiedene Zeitebenen und damit auch unterschiedliche Wirklichkeitsgrade zu signalisieren. Farbe verlebendigt das dargestellte Ereignis, verleiht ihm Körperlichkeit und Aktualität.Ⱥ57 Die optisch-visuellen Unterschiede zwischen den Schatten des Alten Testaments (umbrae) und den Bildern des Evangeliums (imagines) 54 55 56
57
Cюџёќћ, Manuscripts (Anm. 50), ř2ř. Glasgow, University Library, Ms. Hunt. 60. Cюџёќћ, Manuscripts (Anm. 50), 265–287. ř95–ř97 (Appendix, Kat. Nr. XII). Vgl. dazu auch JюњђѠ H. MюџџќѤ, „Art and Experience in Dutch Manuscript Illumination around 1400. Transcending the Boundaries“, in: Journal of the Walters Art Gallery 54 (1996) (Essays in Honor of Lilian M. C. Randall), 101–117, hier 111. BђљѡіћєȦKџѢѠђ (Anm. 8), 60.
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Abb. 4: Kreuztragung; Isaak trägt das Opferholz; die Tötung des Erben des Weinbergbesitzers; die Traube aus dem Gelobten Land, in: Miroir de l’humaine salvation, Brügge, 1455. Glasgow University Library, Ms. Hunter 60, fol. ř2v (Photo: Glasgow, University Library).
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werden schon in der ungewöhnlichen Widmungsminiatur des ‚Miroir‘ in Glasgow thematisiert. Der Übersetzer, der sein Werk einem auf einem Thron sitzenden burgundischen Adligen präsentiert, weist mit der Linken auf die Personifikationen der in Licht gebadeten Kirche und der Synagoge, die mit verbundenen Augen im Schatten steht. Die Differenzen zwischen Altem und Neuem Bund treten umso deutlicher hervor, als auch die Grisaillen mit großem maltechnischen Aufwand gestaltet sind. Es handelt sich um eine mit Schwarz und Gold gehöhte Grau-inGrau-Malerei, die wie die farbigen Bilder mit Goldfarbe gemalte Motive – Nimben, Kronen, architektonische Elemente – enthält; am oberen Rand der Grisaille-Bilder zeigt sich jeweils ein blauer Himmel mit goldenen Sternen. Wie es auch bei anderen ‚Specula‘-Handschriften üblich ist, folgt in Kapitel 22 Isaak, der das Holzbündel für seine eigene Opferung trägt, als erster Typus auf die Kreuztragung Christi. Weitere Typen sind der von den bösen Winzern getötete Sohn des Gutsbesitzers (Mt 21,řř–ř9) und die Kundschafter, welche die Traube aus dem Gelobten Land auf ihren Schultern tragen (Num 1ř,24). Der stumme Dialog zwischen Maria und Jesus im ersten Bild wird im zweiten durch den Blickaustausch zwischen Abraham und Isaak wiederholt (Abb. 4). Abraham, der mit Schwert und Fackel den Weg vom Dorf weg zum Hügel voranschreitet, steht still und blickt auf seinen Sohn Isaak zurück, der, gebückt von der schweren Last des Holzbündels, den Blick seines Vaters erwidert. Als Präfiguration der Kreuzigung findet sich die Isaakopferung in anderen Stundenbüchern. In unserem Zusammenhang von besonderem Interesse ist die Kreuzigungsminiatur am Anfang der Kreuz-Horen im um die Mitte der 1470er Jahre entstandenen kleinen Stundenbuch der Sammlung Salting im Victoria and Albert Museum (vgl. Tafeln 8 und 9 im Anhang).Ⱥ58 Das Kreuzigungsbild ist von einer virtuos mit Silber und weißen Glanzlichtern auf Goldgrund gemalten Blumen- und Rankenbordüre umgeben. Unterhalb des Kreuzes schwingt ein bärtiger Mann mit Hut ein Schwert, wohl um den vor ihm mit verbundenen Augen knienden Jüngling zu enthaupten. Am oberen linken Rand, gegenüber der als groteske Figur wiedergegebenen ehernen Schlange, weist Abraham in kunstvoller Drehung mit dem Zeigefinger auf den am Kreuz hängenden Gottessohn, und zwar auf die Seitenwunde, aus der das heilbringende Blut fließt. Neben Abraham kniet in betender Haltung dessen eigener Sohn, der ebenfalls auf das Kreuzesopfer schaut. Auf der gegenüberstehenden Buchseite ist unten ein Heiliger in einem ruinösen, höh-
58
Bџіћјњюћћ, Buchmalerei (Anm. 8), Bd. 1, 159–162 (Zuweisung an den Dresdener Gebetbuchmeister); zur Kreuzigungsminiatur, Bd. 1, 161, Anm. 49; Bd. 2, Farbabb. 28.
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lenartigen Gebäude zu erkennen; er hält den Kopf in einer melancholischen Gebärde auf die rechte Hand gestützt. Es handelt sich um Petrus, der, einer apokryphen Legende zufolge, nach dem Verrat an Christus in eine dunkle Höhle geflüchtet sein soll, um Buße zu tun.Ⱥ59 An den Beginn der Kreuz-Horen ist auch hier ein Bild und Modell der Betrachtung gesetzt, an welchem sich der Betrachter und Leser bei der Rezitation der Gebete orientieren kann.
Aufgeschlagene Bücher In der Kreuzigungsminiatur des ‚Salting-Stundenbuches‘ verbindet sich typologische Argumentation mit Kunstfertigkeit und malerischer Virtuosität. Die Aufmerksamkeit des Illuminators galt zuerst dem in monochromen Farben gehaltenen, kostbare Materialien imitierenden Rahmen. Abraham in der linken Bordüre ist eine sehr effektvoll gestaltete Dreh- und Zeigefigur, eine gemalte Gebärde, die auf ein anderes, flaches und buntes Bild verweist. Die eherne Schlange selbst entspricht einer phantastischen Groteske; allein ihr Platz in der Komposition sowie deren traditionelle Verknüpfung mit der Opferung Isaaks ermöglicht es dem Betrachter, das alttestamentliche Motiv zu erkennen. Auf den ganz anderen Umgang mit typologischen Bezügen in der Malerei des 15. Jahrhunderts hat schon Wolfgang Kemp aufmerksam gemacht. Am Beispiel von Jan van Eycks ‚Verkündigung‘ in Washington spricht Kemp von einem „geschärften Sinn für vergangene Stilstufen und mediengerechte Artikulation“, von einer „praktizierten Kunstgeschichte“, welche die eigene Auffassung von Kunst und künstlerischem Medium aus dem Abstand gegenüber einer vergangenen Zeit definiere. Im Unterschied zu frühchristlichen und hochmittelalterlichen Werken, welche Szenen aus dem Alten und Neuen Testament immer wieder anders kombinierten und nebeneinander stellten, zeichnen sich nach Kemp die Werke des 15. Jahrhunderts durch hierarchische Relationen, Distanzierungen und Abwertungen aus. Der Abwertung alttestamentlicher Vorbilder entspreche eine kritische Bewertung traditioneller Medien und Gattungen der Kunst.Ⱥ60 Hier ließe sich allerdings einwenden, daß typologische Motive in der niederländischen Malerei – gemalte Skulpturen, Architekturen und Ornamente – gerade wegen ihres De59 60
Ausführlich zu diesem Motiv: Bџіћјњюћћ, Buchmalerei (Anm. 8), Bd. 1, ř59–ř61. Wќљѓєюћє Kђњѝ, Christliche Kunst, ihre Anfänge, ihre Strukturen, München u. a. 1994, 279–286; vgl. auch ёђџѠ., „Praktische Bildbeschreibung. Über Bilder in Bildern, besonders bei Van Eyck und Mantegna“, in: BќђѕњȦPѓќѡђћѕюѢђџ, Beschreibungskunst (Anm. 16), 99–119.
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tailreichtums und des künstlerischen Aufwandes der Gestaltung solche hierarchischen Zuordnungen durchbrechen. Als Rand- und Nebenmotive verweisen sie vielmehr auf beides: auf die Vielfalt verschiedener fingierter Medien und Materialien und auf die mimetischen Fähigkeiten der Malerei. Ebenso lassen sich im Medium der Buchmalerei mimetische und ornamentale Wirkungen von Bildern nicht voneinander trennen, wie es ja auch aus neueren Arbeiten zu Randdekorationen und Bordüren hervorgeht.Ⱥ61 Die „Fensterbilder“ des Wiener Meisters der Maria von Burgund scheinen vielmehr Medialität und Materialität von Tafelbildern und Buchbildern zu kommentieren, wie ja auch das Lesen und Betrachten eines Stundenbuches in beiden Miniaturen Thema der „Randdarstellung“ ist. In der Miniatur der Kreuzannagelung ist das Buch mit seiner schwarzen Samthülle auf der Sitzbank in der rechten unteren Bildecke präsentiert. Die leicht zerknitterten Seiten weisen Gebrauchsspuren auf. Dem aufgeschlagenen Buch entspricht auf der Bank links die geöffnete Schatulle, in der, in Brokat und Spitzen gehüllt, Schmuckstücke zu erkennen sind. In dem 1456 verfaßten, jedoch erst 1745 publizierten Manuskript ‚De viris illustribus‘ hat Bartolomeo Facio, Humanist am Hof von König Alfonso I. in Neapel, neben Gentile da Fabriano und Pisanello auch Jan van Eyck und Rogier van der Weyden zu den berühmtesten Malern gezählt. Neben vielen anderen Werken preist er auch einen von van Eyck gemalten „lebensähnlichen Hieronymus“ in einer „Bibliothek“, ausgeführt „mit erstaunlicher Kunst“. „Wenn du dich etwas von ihr entfernst, ergibt sich der Eindruck, als ziehe sich diese nach innen zurück und enthalte viele aufgeschlagene Bücher; diese erscheinen jedoch summarisch, trittst Du näher hinzu.“Ⱥ62 Bartolomeo Facio hebt hier die augentäuschenden Wirkungen von van Eycks Malerei hervor, die ja nach Francisco de Hollanda noch Michelangelo an erster Stelle mit der flämischen Malerei verband. Man male in Flandern, so soll Michelangelo allerdings kritisch
61
62
Vgl. die in Anm. 42 erwähnte Literatur. Zum Reichtum an parerga in der frühniederländischen Malerei vgl. RѢёќљѓ PџђіњђѠяђџєђџ, „Der zweite Phidias. Beobachtungen an van Eycks ‚Madonna des Kanonikus van der Paele‘“, in: Neue Zürcher Zeitung, 1ř.Ȧ14. November 199ř, 67f.; Bџђѡ RќѡѕѠѡђіћ, Sight and Spirituality in Early Netherlandish Painting, Cambridge 2005. Mіѐѕюђљ Bюѥюћёюљљ, „Bartholomaeus Facius on Painting. A Fifteenth-Century Manuscript of ‚De viris illustribus‘“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 26 (1964), 90–108, hier 102f.: „Hieronymus viventi persimilis. biblioteca mirae artis. quippe quae si paulum ab ea discedas videatur introrsus recedere et totos libros pandere. quorum capita modo appropinquanti appareant.“
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gegenüber Vittoria Colonna geäußert haben, „um das äußere Auge zu bestechen“ (enganar a vista exterior).Ⱥ6ř Eine Generation später hat der Wiener Meister der Maria von Burgund im Medium der Buchmalerei und auf einer geöffneten Seite das aufgeschlagene, für die Betrachterin und Leserin bereitgelegte Buch erneut zum Bildthema gemacht. Die auffällig blasse Malerei hebt dieses vom reichen malerischen Dekor ab, der aristokratische Pracht und Luxuriosität vermittelt. Das Gold der Seitenkanten kontrastiert mit der dunklen Buchhülle aus Samt, die Miniatur in der Miniatur ist ebenso undeutlich zu erkennen. Das Buch erscheint hier als eine Form der Aussparung oder Leerstelle;Ⱥ64 es bietet sich der meditativen und mnemotechnischen Arbeit der Besitzerin an. Das gemalte, am Anfang der Kreuzhoren aufgeschlagene Buch ist aber auch Emblem der künstlerischen Innovation jenes unbekannten Illuminators, der die mit den Gebeten verknüpften Bilder auf die religiöse Imagination einer fürstlichen Betrachterin hin aktualisierte. Das Motiv der Opferung Isaaks, das hier die persönlichen Gebete einer Frau begleitet und initiiert, findet sich auch in privaten und öffentlichen Altären. Der von Abraham geopferte Sohn sowie andere alttestamentliche Szenen, die sich auf Opfer und Tod beziehen, sind im gemalten architektonischen Schmuck der Gemälde van Eycks zu erkennen. Die Anhäufung solcher „beiläufiger“ Motive in dunklen, im Schatten liegenden Bereichen der Kompositionen hat wohl deren assoziative und affektive Wirkungen für damalige Betrachter erhöht.Ⱥ65 In van Eycks ‚Verkündigung‘ in Washington wurden dabei die typologischen Motive 6ř
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FџюћѐіѠѐќ ёђ Hќљљюћёю, Vier Gespräche über die Malerei geführt zu Rom 1538, hg. v. JќюўѢіњ ёђ VюѠѐќћѐђљљќѠ (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Neuzeit, N. F. 9), Wien 1899, 28f. (fol. 104v): „Pintam em Frandes propriamente pera enganar a vista exterior, ou cousas que vos alegrem ou de que não possaes dizer mal, assi como santos e profetas […]. – In Flandern malt man nämlich, um das äußere Auge durch Dinge zu bestechen, welche gefallen und denen man nichts Übles nachsagen kann, wie Heilige und Propheten […].“ Vgl. zu der Stelle PюѢљю NѢѡѡюљљ, „Decorum, Devotion and Dramatic Expression. Early Netherlandish Painting in Renaissance Italy“, in: Decorum in Renaissance Narrative Art, hg. v. FџюћѐіѠ AњђѠ-LђѤіѠ u. Aћјю Bђёћюџђј, London 1992, 70–77. Zum Begriff vgl. Wќљѓєюћє IѠђџ, Der Akt des Lesens, München ř1990, 266. In Jan van Eycks Madonna des Kanonikus Georg van der Paele zeigt das PilasterKapitell hinter dem Kreuz des Hl. Donatian ganz rechts Abraham, der von einem Engel gehindert wird, den knienden Isaak hinzurichten. Vgl. Jќѕћ L. Wюџё, „Disguised Symbolism as Enactive Symbolism in Van Eyck’s Paintings“, in: Artibus et Historiae 15 (1994), 9–5ř, hier ř8f. Fingierte Steinskulpturen mit den Opfern Abrahams und Jephtas schmücken den Thron der Madonna in van Eycks Dresdener Altar. Vgl. Aћѡїђ Mюџію NђѢћђџ, „Das geopferte Kind. Ikonographie und Programmatik des Dresdener Marienaltars von Jan van Eyck“, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlun-
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– der Schmuck des Niello-Bodens sowie die Medaillons mit Jakob und Isaak an der Rückwand – erst nachträglich angebracht.Ⱥ66 In der Kunst des späteren 15. Jahrhunderts macht sich erneut eine Hinwendung zu älteren typologischen und visuellen Verfahren bemerkbar; Ⱥ67 diese verbinden sich jedoch mit einer neuen Emotionalität, wie sie ja auch als Anforderung an das Historienbild gestellt wurde.Ⱥ68 Das Bildmotiv der Opferung Isaaks wird dabei besonders effektvoll auch in Darstellungen der Kindheit Jesu verwendet. Als alttestamentliches Bild des Gehorsams und der Gewalt kontrastiert es mit dem zarten Frieden der Ikonographie der Heiligen Familie und verstärkt die Hinweise auf Jesu Passion.Ⱥ69 Darüber hinaus wird im Medium der Malerei auf die Medialität und Materialität plastischer Bilder und Artefakte aufmerksam gemacht. Der kurze Hinweis auf drei herausragende Beispiele muß hier abschließend genügen. In dem um 1490 für einen unbekannten Auftraggeber – möglicherweise für die Haarlemer Johanniter – geschaffenen Altarbild des Geertgen tot Sint Jans im Rijksmuseum in Amsterdam wird das Thema der Heiligen Sippe von demjenigen der Opferung Christi überlagert (vgl. Tafeln 10 und 11 im Anhang).Ⱥ70 Ort der Handlung ist ein prächtiger, stark nach hinten fluchtender Kirchenraum. Eine steinerne Schranke trennt das Laienschiff vom Chor, davor befindet sich ein Altar. Im Vordergrund links sind Anna und Maria mit dem Jesuskind zu erkennen. In größerer
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gen Dresden 25 (1994–1995), ř1–4ř. Für den freundlichen Hinweis auf dieses Beispiel danke ich Ulrich Heinen. Im Infrarot-Reflektogramm der Unterzeichnung ist lediglich ein dekoratives Muster zu erkennen. Vgl. E. Mђљюћіђ Gіѓѓќџё, „Van Eyck’s Washington Annunciation. Technical Evidence for Iconographic Development“, in: The Art Bulletin 81 (1999), 117–125. Vgl. Cюџёќћ, Manuscripts (Anm. 50), ř22–řřř; MюџѦюћ W. AіћѠѤќџѡѕ, „Religious Painting from about 1420 to 1500: In the Eye of the Beholder“, in: From Van Eyck to Bruegel. Early Netherlandish Painting in the Metropolitan Museum of Art, hg. v. MюџѦюћ W. AіћѠѤќџѡѕ u. Kђіѡѕ CѕџіѠѡіюћѠђћ, Ausst.-Kat. New ork 199ř, 79–85, hier 80f. Die Zusammenhänge zwischen typologischen Verfahren und Verfahren der Emotionalisierung sind für die niederländische Malerei des späteren 15. Jahrhunderts m. W. bisher nicht untersucht worden. In der ‚Heiligen Familie‘ von Rogier van der Weydens ‚Miraflores-Altar‘ zeigen die gemalten Reliefs der Kapitelle die Opferung Isaaks, den Tod Absaloms und Longinus mit der Lanze. BіџјњђѦђџ, Arch (Anm. 2), 4. Das Gemälde ist kürzlich restauriert worden. Vgl. The Holy Kinship. A Medieval Masterpiece, hg. v. Aџіђ Wюљљђџѡ u. a., Amsterdam 2001; Netherlandish Art in The Rijksmuseum, 1400–1600, hg. v. Hђћј ѣюћ OѠ u. a., Amsterdam u. a. 2000, 70f., Kat. 1ř; J. E. Sћіїёђџ, „Geertgen schildert de voorouders van Christus“, in: Bulletin van het Rijksmuseum 5 (1957) ř, 85–94; Aљђѥюћёџђ MюѠѠђџќћ, Saint Jean Baptiste dans l’art, Paris 1957, 61–7ř.
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räumlicher Nähe zum Betrachter erscheint jedoch die außergewöhnlich prunkvoll gekleidete Elisabeth; sie hält den Johannesknaben auf dem Schoß, der sich mit einer emphatischen Geste zum kleinen Jesus hinwendet. Da nach der ‚Legenda Aurea‘ die zwölf Apostel den Ehen von Annas Töchtern mit Alpheus und Zebedaeus entsprungen sind, tollen diese als Kinder um die Gruppe der älteren heiligen Personen herum. Im Mittelgrund sind die späteren Apostel Simon (mit der Säge), Jakobus der Ältere und Johannes der Evangelist (mit dem Kelch) beim kindlichen Spiel dargestellt, das auf die an diesem Altar stattfindende Meßliturgie aufmerksam macht: Jakobus gießt aus einem kleinen Faß Wein in den Kelch des Johannes. Auf dem im Bild wiedergegebenen Opferaltar, vor der mit Reliefs des Sündenfalls geschmückten steinernen Schranke, ist schließlich eine auffällig verlebendigte Skulpturengruppe der Opferung Isaaks zu sehen (vgl. Tafeln 10 und 11 im Anhang). Abraham, der mit der Rechten das Schwert gegen seinen über alles geliebten Sohn schwingt, wiederholt die Geste des Engels, der Adam und Eva aus dem Paradies vertreibt. Die Goldfarbe der Gewänder hebt die Bedeutung der alttestamentlichen Opferszene hervor; der Ort, an dem sie stattfindet, verdeutlicht die Beziehung zum Meßopfer und zur Liturgie. Abrahams Gebärde bezeichnet auch den Punkt, in dem sich die Fluchtlinien der Bodenfliesen treffen. Geometrie und Perspektive dienen hier der Konstruktion eines sakralen Bildes, das in erster Linie die Wirksamkeit des eucharistischen Opfers demonstriert. In Hieronymus Boschs berühmtem Triptychon der ‚Anbetung‘ im Prado, das zwischen 1490 und 1510 datiert wird, ist es eine ungewöhnliche Goldschmiedearbeit, die an das Opfer Abrahams und das weit größere Opfer Gottvaters erinnert (vgl. Tafeln 12 und 1ř im Anhang).Ⱥ71 Die Gabe des ältesten Königs findet sich dabei in dem von Maria mit dem Jesuskind eingenommenen Bereich, der durch die das Dach stützenden Baumpfähle wie ein Bild im Bild erscheint. Die von einem roten Tuch hinterfangene, in Gold fingierte alttestamentliche Opferszene wird gleichzeitig vom kostbaren Marienmantel gerahmt. Die exzentrische Skulptur zeigt in ungewöhnlicher Zusammensetzung auf einem
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Das komplexe Werk kann hier nicht eingehend gewürdigt werden. Die Gabe (oder Krone) des ältesten Königs wird u. a. in folgenden Beiträgen diskutiert: Lќѡѡђ Bџюћё Pѕіљіѝѝ, „The Prado Epiphany by Jerome Bosch“, in: The Art Bulletin ř5 (195ř), 267–29ř, hier 278; LѦћћ F. JюѐќяѠ, „The Triptychs of Hieronymus Bosch“, in: Sixteenth Century Journal ř1 (2000), 1009–1041, hier 10řř–10ř6. Vgl. auch UџѠѢљю Nіљєђћ, „The Epiphany and the Eucharist. On the Interpretation of Eucharistic Motifs in Mediaeval Epiphany Scenes“, in: The Art Bulletin 49 (1967), ř11–ř16, sowie die bei BђљѡіћєȦKџѢѠђ (Anm. 8), 270–272 genannte Literatur.
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von Perlen gerahmten goldenen Plateau sowohl den zum Schlag ausholenden Abraham mit dem Engel als auch den das Opferholz tragenden Isaak sowie den Altar mit dem Widder. Das Motiv wird den Stiftern die in Grisaille gemalten Szenen der Passion in Erinnerung gerufen haben, die auf der Außenseite das Bild des Schmerzensmannes umgeben. Der südniederländische Künstler Pieter Coecke van Aelst (1502– 1550), der gleichermaßen als Maler, Bildhauer, Architekt und Entwerfer von Tapisserien und Glasmalereien tätig war, greift in seiner um 1540– 1550 geschaffenen ‚Heiligen Familie‘ ebenfalls typologische Verfahren auf, nicht zuletzt, um so seine Gewandtheit in verschiedenen Medien zum Ausdruck bringen zu können (vgl. Tafel 14 im Anhang).Ⱥ72 Sein schönes Andachtsbild stellt erneut die Wirkungsmacht jenes Bildes vor Augen, das seit dem späten 4. Jahrhundert den Betrachtern Tränen in die Augen treibt. Der Engel, der eigentlich Abraham vom Opfer zurückhalten sollte, scheint dem fingierten Tondo in Bronze entsprungen zu sein und blickt auf das Jesuskind, dessen Tod und Passion nicht abgewendet werden können. Der Widderkopf zeigt sich hier als ein Ornament in vergoldeter Bronze. Auf dem Gesims ist ein Stilleben mit Trauben bereitet, das auf die Eucharistie anspielt. Die Melancholie des Joseph schließlich verkörpert jene beispielhafte Wirkkraft von Darstellungen der Opferung Isaaks, die über das Gezeigte hinaus immer auch andere Bilder und damit neue und intensivere Affekte hervorrufen können.
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DќњіћіўѢђ HќљљюћёђџѠ-Fюѣюџѡ, M. LіѼѡюђџѡ-Pюџњђћѡіђџ, Rќєђџ Vюћ SѐѕќѢѡђ, HѼљѽћђ VђџќѢєѠѡџюђѡђ-Mюџѐў, „Une Sainte Famille attribuée à Pierre Coeck au musée communal de Louvain. Étude de l‘exécution picturale“, in: Arca Lovaniensis, Jaarboek ř (1974), 1ř5–167; HѼљѽћђ VђџќѢєѠѡџюђѡђ-Mюџѐў, MюѢџіѐђ SњђѦђџѠ, Rќєђџ Vюћ SѐѕќѢѡђ, „Usages relatifs aux volets de triptiques flamands au XVIe siècle. Quelques exemples pris dans l’oeuvre de Pierre Coeck d’Alost“, in: Archivum Artis Lovaniense. Bijdragen tot de geschiedenis van de kunst der Nederlanden opgedragen aan Prof. Em. Dr. J. K. Steppe, hg. v. MюѢџіѐђ SњђѦђџѠ, Löwen 1981, ř07–ř17; Stad in Vlaanderen. Cultuur en Maatschappij 1477–1787, hg. v. Jюћ ѣюћ ёђџ Sѡќѐј, Brüssel 1991, 558f., Kat. ř57. Ich möchte mich bei Linda Jansen bedanken, die mich auf diese Literatur hingewiesen hat.
Zu Gott gegen Gott Oder: Die Kunst, gegen Gott zu glauben Isaaks Opferung (Gen 22) bei Luther, im Luthertum der Barockzeit, in der Epoche der Aufklärung und im 19. Jahrhundert von Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ Einleitung Die tentatio Ⱥ1 ist ein Zentralthema der Theologie Martin Luthers. Da die theologische Wissenschaft nach Luther in der Schriftauslegung kulminiert, d. h. hier Ausgangs- wie Zielpunkt gleichermaßen hat, ist die tentatio auch ein wichtiges Zentrum seiner Exegese. Luther zufolge ist der Mensch nach der Rechtfertigung simul iustus et peccator. Daher ist die Versuchung (– bei Luther begegnet auch das Lexem „bekorung“Ⱥ2 –) eine Wesensbestimmung des GlaubendenȺř bis zum kurz bevorstehenden Jüngsten Tag und lebensweltliche Konkretion der apokalyptischen ql‹yij und zwar sowohl innerlich-psychisch als auch äußerlich-somatisch. Ein Christenmensch muß nicht nur täglich unter die Taufe kriechen, vielmehr ist er auch je und je neu dem Versucher ausgesetzt und muß stets erneut zwischen „Gott und Abegott“Ⱥ4 unterscheiden. Luther differenziert (im Anschluß an die altkirchliche und mittelalterliche Tradition) Versuchungen „des Fleischs, der Welt und des Teufels“.Ⱥ5 Die beiden ersteren bieten Ansporn zu Tatsünden, während die satanische Versuchung, die Luther (im Unterschied zur Tradition) zunehmend radikal 1
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Vgl. HќџѠѡ Bђіћѡјђџ, „Anfechtung III. Reformations- und Neuzeit“, in: TRE 2 (1978), 695–704 sowie J. A. Sѡђієђџ, „Versuchung. Kirchengeschichtlich“, in: TRE ř5 (200ř), 52–64. In beiden Artikeln weitere Literaturangaben. WA 2,122,ř5 u. ö. Vgl. Gџіњњ, DWb 1, 1428. WA 27,ř94,ř0. BSLK, 560,17. BSLK, 686,6f. Vgl. WA ř0ȦI,16,10f. Vgl. Aљяџђѐѕѡ PђѡђџѠ, Kommentar zu Luthers Katechismen, hg. v. Gќѡѡѓџіђё SђђяюѠѠ, Bd. ř, Göttingen 1991, 175–178.
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in den Mittelpunkt rückt, zum Unglauben Gott gegenüber anreizt. Der Teufel will die Menschen zu „Mißglauben, falsche[r] Vermessenheit und Verstockung“Ⱥ6 verführen. Zwar ist die Macht des Teufels durch das Versöhnungswerk Christi gebrochen dergestalt, daß er den Menschen nicht mehr ins Verderben stürzen kann. Gerade darum aber versucht der Satan um so heftiger und unabläßlich, den ihm entronnenen Menschen wieder in seinen Machtbereich zu ziehen, indem er dem Gewissen Sünde, Tod und Hölle vorhält und den Menschen mit allerlei Übeln plagt. Daher lautet die sechste Vaterunser-Bitte korrekt „Sondern erlöse vns von dem vbel“ und nicht (revidiert) „Sondern erlöse uns von dem Bösen“. Denn das bzw. der höllische Böse, der „altböse Feind“ (EKG 201,1), zuckt und wütet zwar noch, aber als Verkläger im Himmel kann er seit Karfreitag nichts mehr ausrichten (Apk 12,10: ‚VND ich höret eine grosse stimme Ȧ die sprach im Himel Ȧ Nu ist das Heil vnd die Krafft Ȧ vnd das Reich Ȧ vnd die Macht vnsers Gottes Ȧ seines Christus worden Ȧ weil der verworffen ist Ȧ der sie verklaget tag vnd nacht fur Gott‘Ⱥ7). Die Versuchung ist nach Luther nicht lediglich ein Störfaktor. Vielmehr ist sie positiv gewandt sub contrario Gewährleistung dafür, daß der Glaube im Heilsprozeß lebendig bleibt, d. h. seine Vitalität im Zuge der militia Christiana (Eph 6,16f.) einübt und unter Beweis stellt. Nur aufgrund der Tatsache, daß ein Christ stets aufs neue angefochten wird, kann die Wirkmächtigkeit des tröstlichen Wortes Gottes im Rahmen der experientia fidei erfahrbarȺ8 und somit die falsche securitas vermieden werden. Darum ist auch wahre Theologie nur aus der Versuchung bzw. aus dem Versuchtsein heraus möglich, denn: ‚qui non temptatus est quid scit ?‘ (Sir ř4,9). Die wahre, d. h. geistliche Versuchung – so Luther – trifft nur die Glaubenden.Ⱥ9 Den Sünder aber, der noch nicht mit dem Gesetz Gottes konfrontiert worden ist, das ihn seiner Sündhaftigkeit überführt, kennzeichnet es, daß er wie die Heiden allenfalls durch äußere, leibliche Versuchungen affiziert wird.Ⱥ10 Echte Versuchung aber überfällt erst die Glaubenden, worin erfahrbar wird, daß die fides niemals Besitz des Menschen sein kann. Der Glaube hat es vielmehr 6 7
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BSLK, 686,řř–ř5. Bibelzitate nach: Mюџѡіћ LѢѡѕђџ, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe, hg. v. HюћѠ Vќљѧ unter Mitarbeit v. Hђіћѧ Bљюћјђ, Textredaktion Fџіђёџіѐѕ KѢџ, 2 Bde. und Anhang, München 1972. WA 50,660,1–4. Vgl. Mіѐѕюђљ Wђіћџіѐѕ, „Die Anfechtung des Glaubens. Die Spannung zwischen Gewißheit und Erfahrung bei Martin Luther“, in: Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums, hg. v. CѕџіѠѡќѓ LюћёњђѠѠђџ u. a., Berlin u. a. 1997, 127–158. Vgl. hierzu Cюџљ Hђіћѧ RюѡѠѐѕќѤ, Der angefochtene Glaube. Anfangs- und Grundprobleme der Dogmatik, Gütersloh 21957, 2ř4.
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an sich, immer wieder auf den Grund des Trostes (mithin auf die Taufe) zurückgeworfen zu werden, womit jegliches einliniges Perfektibilitäts- und Fortschrittsideal ausgeschlossen ist. Denn – wie Luther im Anschluß an AugustinȺ11 formuliert: „proficientes semper sunt incipientes.“Ⱥ12 Ohne Versuchung kann ein Christenmensch daher nicht sein, und „ohne die Anfechtung bleibt jede Frömmigkeit Gotteslästerung.“Ⱥ1ř Darum bezeichnet es Luther als die „ferlichst anfechtung“, „wen kein anfechtung da ist“.Ⱥ14 Das (trügerische, letztlich scheinbare) Fehlen von Versuchung ist gar deren – wenngleich nicht zu Bewußtsein gekommene – schärfste Form: „Nulla tentatio omnis tentatio.“Ⱥ15 Unbeschadet der Tatsache, daß die Heilige Schrift das letztlich einzige remedium gegen die Versuchung ist, ist eben die Schrift zugleich generatrix der tentatio. Denn die Anfechtung ist es, die wiederum auf das Wort Gottes ‚merken lehrt‘ – nach Luthers Übersetzung von Jes 28,19: ‚Denn alleine die Anfechtung leret auffs wort mercken.‘ Darum gilt: „Solus ille populus, qui habet verbum et credit in Deum, est filius crucis et vexationis.“Ⱥ16 Nur so ist zu verstehen, weswegen das Leben eines Christenmenschen zwischen oratio, meditatio und tentatio oszilliert.Ⱥ17 Diese Trias ist ein Zirkel, der so lange seine Kreise zieht, bis die letzte Posaune erschallt. Der Schrift eignet damit dieselbe Dialektik, die auch das Handeln von deren Autor prägt, der ebenfalls in Anfechtung führt einerseits und zugleich Tröster ist (vgl. z. B. Jes 66,1ř; Joh 14,26) andererseits. Als „Deus […] absconditus et tectus“Ⱥ18 gesteht Gott, indem er „sich verkrich[t]“,Ⱥ19 innerhalb seines Werkes zur Linken und im Medium der Gesetzespredigt dem Satan (wie über Hiob) einen Machtbereich über den Menschen zu. Indem sich Gott des Verderbers bedient, führt er den Versuchten auf die Bahn des descensus ad inferos, um diesem seine Verlorenheit und Gottverlassenheit bewußt werden zu lassen. Dies wiederum ist die Voraussetzung dafür, zum Deus revelatus fliehen zu können, der sich im Evangelium kundtut. Hier einen mit Gottes Einheit nicht zu vereinba11 12 1ř 14 15
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Vgl. AѢєѢѠѡіћ, „Enarratio in Ps 60,ř“, CCSL ř9,766,4f.: „prouectus noster per tentationem nostram fit.“ WA 4,ř44,12f. Vgl. RюѡѠѐѕќѤ (Anm. 10), 261. WA 6,22ř,řř. WA ř,424,11. Vgl. LюѧюџѢѠ Sѝђћєљђџ, Schriften, Bd. 1: Schriften der Jahre 1509 bis Juni 1525, hg. und bearb. v. Bђџћёѡ Hюњњ und Wќљѓєюћє HѢяђџ (QFRG 61), Gütersloh 1995, 2řř: „Deßhalben ist auch das die größt anfechtung, do kain anfechtung ist.“ WA 4ř,672,29f. WA 50,659,4. Vgl. OѠѤюљё BюѦђџ, „Oratio, Meditatio, Tentatio. Eine Besinnung auf Luthers Theologieverständnis“, in: LuJ 55 (1988), 7–59. WA ř1ȦI,55ř,28f. WA 17ȦI,6ř,2řf.
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renden Dualismus oder gar einen Widerspruch sehen zu wollen, trifft die Sache nicht. Denn Luther ist es gerade um das In- und Miteinander des zur Linken wie zur Rechten wirkenden Gottes zu tun, der in die Hölle führt und wieder heraus (1Sam 2,6). Darum vergleicht Luther Gott mit der Sonne, die sich zuweilen unter Wolken verbirgt, ohne dadurch aufzuhören, ein und dieselbe zu sein.Ⱥ20 Nach Luther sind Versuchungen Gottes und des Teufels zu unterscheiden, wobei er die patristische Differenzierung aufgreift, der zufolge Gott anficht, damit der Angefochtene bestehe und siege, der Teufel aber, damit jener verderbe:Ⱥ21 „Sic deus tentat te, ut fortiter perstes, econtra diabolus, das du umbfallest.“Ⱥ22 Gleichwohl kommt bei Luther – im Sinne der sechsten Vaterunser-Bitte – deutlicher zum Vorschein, daß Gott auch dort aktiv Urheber der Versuchung ist, wo vordergründig der Teufel wirkt.
Luthers Lektüre von Gen 22 Von zentraler Bedeutung bezüglich des Lutherschen Verständnisses von tentatio ist die Art und Weise, wie der Reformator Gen 22 als Prediger und KommentatorȺ2ř auslegt. Das starke Interesse Luthers an diesem Text liegt nicht nur darin begründet, daß Abraham in der paulinischen Theologie bekanntermaßen eine zentrale Rolle spielt (Röm 4,1ff.; Gal ř,6ff.) und die christliche Auslegungstradition sich durch die Jahrhunderte hindurch mit Gen 22 intensiv befaßt hat.Ⱥ24 Es hat vielmehr vor allem da20 21
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Vgl. RюѡѠѐѕќѤ (Anm. 10), 242. Vgl., um nur ein Beispiel zu nennen, AњяџќѠіѢѠ, De Abraham, lib. 1, cap. 8, CSEL ř2Ȧ1, 545, 14f.: „aliter deus temptat, aliter diabolus. diabolus temptat ut subruat, deus temptat ut coronet.“ WA ř7,ř10,5f. Vgl. Pђѡђџ Mђіћѕќљё, Die Genesisvorlesung Luthers und ihre Herausgeber (FKGG 8), Stuttgart 19ř6 sowie Uљџіѐѕ AѠђћёќџѓ, Lectura in Biblia. Luthers Genesisvorlesung (1535–1545) (FSÖTh 87), Göttingen 1998. Vgl. weiter Pђѡђџ Mђіћѕќљё, „Die Verarbeitung von Luthers ‚Supputatio annorum mundi‘ in der von Veit Dietrich herausgegebenen Genesisvorlesung“, in: ZKG 51 (19ř2), 1ř8–168. HюћѠ Vќљѧ, „Wie Luther in der Genesisvorlesung sprach“, in: ThStKr 100 (1927Ȧ28), 167–196. Oѡѡќ Aљяџђѐѕѡ, „Alte Notizen zu Luthers Genesisvorlesung“, in: ThStKr 10ř (19ř1), 71–84. Fђџёіћюћё CќѕџѠ, „Zur Chronologie und Entstehungsgeschichte von Luthers Genesisvorlesung und seiner Schrift ‚Von den konziliis und kirchen‘. Ein Beitrag zur Bedeutung der Tischredenüberlieferung für die Lutherforschung“, in: Lutherstudien zur 4. Jahrhundertfeier der Reformation, Weimar 1917, 159–169, hier: 159–166. Zu Luthers Interpretation von Gen 22 vgl. Tѕђќёќџ JҫџєђћѠђћ, „Der Mensch vor Gott in der Genesisvorlesung Luthers“, in: LuJ 71 (2004), 1ř1–158, hier 149–158. Vgl. zum Sachzusammenhang: Dюѣіё Lђџѐѕ, „Isaaks Opferung in der Auslegungsgeschichte“, in: ThZ 5 (1949), ř21–ř28. DђџѠ., Isaaks Opferung christlich gedeutet. Eine
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mit zu tun, daß wohl an keiner Figur der alttestamentlichen Erzählwelt Wesen und Dynamik der tentatio so gut aufgewiesen werden können wie eben an Abraham. Denn Abrahams Biographie gleicht – so Luther – einer Kette von tentationes: „Sein leben ist doch lauter anfechtung“Ⱥ25 – zunächst der Befehl, Gut, Heimat und Familie zu verlassen, um in ein Land zu gehen, das Gott Abraham erst noch zeigen will (Gen 12,1), sodann die Verheißung, von Sarah trotz ihres vorgerückten Alters noch Nachwuchs zu erhalten und nicht irgendeinen, sondern den Sohn der Verheißung (Gen 17,16; 18,10): tzt haben wir gehört, wie der gute Abraham bisher ynn mancherley anfechtung und versuchung Gottes gestanden ist und nie keine gewisse stet gehabt hat, Es ist schlecht beschrieben, aber so reichlich angezeigt, das freilich nicht viel Legenden also geschrieben sind […]. Sein leben ist doch lauter anfechtung, mus alles gehen ym glauben, noch mus er weib, kind, gros gesind, dazu gelt und gut haben, doch ymer dahyn stellen, das es Gott hynneme, hat sein weyb Sara offt müssen ynn die fahr geben, dazu hat yhm Gott die magd Hagar mit dem son hyn genomen, das land gehet auch dahyn, das er nicht ein fues breit hat.Ⱥ26
Glaube und tentatio sind nach Luther nicht nur gleichursprünglich. Vielmehr gilt: Je stärker ersterer, desto intensiver auch letztere. Denn was die Anfechtung betrifft, praktiziert Gott, paulinisch gesehen, Orthotomie. Nach 1Kor 10,1ř mutet Gott jedem – je nach Intensität seines Glaubens – auch die jeweils passende Infragestellung desselben in der individuell zumutbaren Stärke zu. ‚Gott ist getrew Ȧ der euch nicht lesset versuchen Ȧ vber ewer vermögen Ȧ Sondern machet Ȧ das die Versuchung so ein ende gewinne Ȧ das jrs künd ertragen.‘ Da Abraham jedoch Prototyp des Glaubenden ist, exemplum fidei schlechthin, ist er auch und zugleich Inbegriff des Angefochtenen. Darum nimmt es nicht wunder, daß Luther einerseits sagt, das Leben Abrahams sei einer Kette von Versuchungen gleichzuachten, zugleich aber hervorhebt: „Tota vita eius exemplum fuit fidei.“Ⱥ27 Mit dem göttlichen Befehl indes, seinen Sohn Isaak zu opfern, findet die Kette der Versuchungen Abrahams nicht nur eine Fortsetzung, sondern zugleich ihren Höhepunkt. „Hie aber greifft er [scil. Gott] yhn [scil. Abraham] auffs höchste an, nimpt yhm das höchste gut, denn er nichts
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auslegungsgeschichtliche Untersuchung (BHTh 12), Tübingen 1950. Fџіђёџіѐѕ NђѢяюѐѕђџ, „Isaaks Opferung in der griechischen Alten Kirche“, in: Amt und Gemeinde ř7 (1986), 72–76. Mіѐѕюђљ MђђѠ, „Isaaks Opferung in frühchristlicher Sicht, von Clemens Romanus bis Clemens Alexandrinus“, in: Aug. 28 (1987), 259–272. WA 24,ř79,25. WA 24,ř79,19–2ř.25–29. WA 14,298,11.
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liebers auff erden hat, des er auch ursach hatte, Denn er war ein einigs kind und hatte von yhm Gottes wort und verheissung, das von yhm solt komen der samen, dadurch alle völcker solten gesegnet werden.“Ⱥ28 Was die tentatio anlangt, erkennt Luther in der Abrahamserzählung deutlich eine klimaktische Struktur. Innerhalb der bisherigen tentationes war dem Erzvater abverlangt worden, kontrafaktisch zu glauben, also gegen Empirie und Augenschein den promissiones Glauben zu schenken, mithin das ihm von Gott Verheißene nichtsehend zu antizipieren,Ⱥ29 kurz: sich an die promissioȺř0 zu klammern. War es schon paradox, die Heimat zu verlassen, ohne zu wissen, wohin die Reise geht, paradox auch, der neunzigjährigen Sara ins Gesicht zu schauen und in ihr eine künftige Mutter zu erblicken, so spitzt sich nun die Paradoxie nochmals zu. Denn in Gen 22 konfrontiert Gott Abraham mit völlig Neuem, nämlich mit einem Befehl, der in absolutem Widerspruch zu der dem Erzvater gegebenen promissio steht, die zu glauben ohnehin schon schwer genug fällt. Es handelt sich um „tentatio longe maxima, prae qua priores fere nihil sunt.“Ⱥř1 Luther arbeitet an Gen 22 heraus, daß sich der den Glaubenden versuchende Gott in einen radikalen Selbstwiderspruch („contradictio“Ⱥř2) begibt, indem er „widder sich selbs redet.“Ⱥřř Aber das gröste ist, das Gott hie widder sich selbs redet, das ist ein retzlin, das niemand raten kan denn der heilige geist, Denn Gott hat gepoten, man sol nicht tödten, nu heisset ers hie selbs, so doch Isaac nichts verschuldet hatte, Item, hat yhm zuvor verheissen von Isaac den samen zu geben, das wort muste Abraham gleuben, Also das sein hertz so stund: Der son mus ein vater vieler kinder werden und sol ausgebreytet werden ynn alle welt, wie stellet sich denn Gott also? nu wird er wetterwendisch und redet das widderspiel und mus der son ytzt sterben, was wil doch hieraus werden? Was kan die vernunfft da sagen? Sie ist gantz geschlagen, das sie nicht weys, wo hynaus, und mus sagen, es sey nu aus.Ⱥř4
28 29 ř0 ř1 ř2
řř ř4
WA 24,ř79,řř–ř80,6. Vgl. Jќќѝ Bќђћёђџњюјђџ, „Abraham bei Luther“, in: Unless some one guide me … Festschrift for Karel A. Deurloo (ACEBT Supplement Series 2), Maastricht 2001, ř69–ř74. Vgl. OѠѤюљё BюѦђџ, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Darmstadt 1989 (Göttingen 11971). WA 4ř,200,ř2–201,1. WA 4ř,202,16–18: „Haec tentatio non potest vinci, et longe maior est, quam a nobis possit compraehendi. Est enim contradictio, qua ipse Deus sibi ipsi contradicit, hoc carni impossibile est intelligere.“ Vgl. WA 4ř,201,ř0–ř2: „Deus enim manifeste hic sibi ipsi contradicit: quomodo enim conveniunt haec: ‚in Isaac vocabitur tibi semen‘, et: ‚tolle filium tuum, et macta eum‘“. Vgl. AѠђћёќџѓ (Anm. 2ř), 109. WA 24,ř82,1ř. WA 24,ř82,12–21.
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In der contradictio, die darin besteht, daß Gott Widerworte gegen sein eigenes Wort der Verheißung spricht, manifestiert sich Gott – so Luther – als ein Willkür-Herrscher, als Tyrann. „Deus, qui antea summus amicus videbatur: nunc videtur factus inimicus et Tyrannus.“Ⱥř5 Gott wendet sich also mit dem Befehl, Abraham solle sich auf die Reise begeben, um seinen Sohn Isaak zu töten, wie ein Lügner sowohl gegen das Tötungsverbot (Ex 20,1ř) und somit gegen den DekalogȺř6 als auch gegen seine promissiones – d. h. gegen Gesetz und Evangelium zugleich. Die Versuchung ist demnach Resultat der Kollision von Wort Gottes und Wort Gottes. Hier wird zum einen die menschliche ratio zu Boden geschlagen, aber – und dies ist das Entscheidende – auch der fides das Fundament entzogen, indem Gott seiner eigenen promissio widerspricht, das Evangelium also vorenthält, das doch Grund des Glaubens ist. Auf der Probe stehen in dieser Versuch(ung)s-Anordnung demnach nicht nur Glaube und Vertrauen Abrahams, sondern ebenso die veracitas Dei und die Wahrheit seiner Verheißungen. Die Kontrafaktizität des Glaubens wird greifbar darin, daß Abraham dort, wo nichts zu hoffen und der Grund des Glaubens ferne ist, kontradiktorisch, ja geradezu renitent, gegen Gott an Gott festhält und Widerstand leistet gegen den Deus absconditus. So soll nach Luther jeder Glaubende „ad deum contra deum“Ⱥř7 fliehen. Denn noch dort, wo Gott sein glaubenstiftendes Wort, aus dem heraus allein die tentatio überwunden werden kann, zurückzieht, soll der Angefochtene an der Verheißung Gottes festhalten. Anders als in der patristischen Tradition steht darum bei Luther nicht so sehr der Aspekt des nachzuahmenden Gehorsams Abrahams im Vordergrund. So ř5 ř6
ř7
WA 4ř,202,41f. Sіњќћ MѢѠѫѢѠ, Richtige vnd Reine Auslegung des Ersten Buchs Mosy / von den dreyen Grossmechtigen Reichen / Nemlich / der Natur durch Schepffung: des Teuffels durch Adams Fall: vnd Christi durch offenbarung des Euangelij. Darin zum aller Ersten der Heuptgrund der gantzen Christlichen Weisheit / vnd Seligmachender Warheit / geoffenbaret vnd beschrieben wird, Magdeburg 1576 (Herzog August Bibliothek [fortan: HAB] Wolfenbüttel C 117b Helmst. 2°), 248r führt die Kollision des göttlichen Befehls mit dem Dekalog detailliert aus, wenn er sagt: „Sihe Ȧ diese sache ist gleichwol gantz vnd gar vngereimpt wider das Erste Ȧ Vierdte vnd Fünffte gebot Ȧ darin Gott seine Göttliche Warheit vnd Gerechtigkeit rühmet Ȧ das wenn er das Leben verheisset Ȧ do wil er nicht haben Ȧ das er sich des Todes versehe. Vnd wenn er heisset Ȧ die Kinder lieben vnd Neeren Ȧ so wil er nicht haben Ȧ das man sie Tödten sol. Wie wenns ein betrieglich gespenst were Ȧ vnd nicht ein warhafftiger befehl Gottes ? Oder Ȧ wie wenn ichs etwan mit Sünden gegen Gott hette verderbet Ȧ vnd jm für diesen Son zu wenig gedanckt Ȧ oder mein datum gar zu sehr auff jn gesetzt Ȧ darumb mir jhn Gott wider nemen [korr. aus nennen] wil Ȧ etc. Solche vnd dergleichen harte Stösse Ȧ hat ohn zweiffel Abraham nach dem fleisch gefühlet.“ WA 5,204,26f.
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thematisieren Ambrosius und Augustin z. B. ausführlich die probatio von Abrahams oboedientia, während der Glaube des Patriarchen eine nachgeordnete Rolle spielt.Ⱥř8 Vielmehr ist es die fides, die Luther zuvörderst interessiert – der Umstand, daß Abraham gegen Gott an der ihm von diesem gegebenen Verheißung festhält, obgleich Gott selbst an dieser nicht festhält. Darum hat Luther innerhalb der poimenisch ausgerichteten applicatio seiner Auslegung von Gen 22 die Regel aufgestellt, daß der Glaubende gegen Gottes zweites Wort, also gegen die tentatio, aufbegehrend, sich immer an dessen erstes verbum, mithin an das der Verheißung klammern soll. „Darümb hat Gott die weise, das er wil uber dem ersten wort halten, das er gered hat, Was nu hernach dawidder laut, wil er, das wirs uns nicht annemen, sondern gewis seien, es sey Gottes versuchung.“Ⱥř9 Hieraus resultiert folgender Imperativ bezüglich des Umgangs mit einander widerstreitenden Aussprüchen Gottes: „Darümb halt fest bey dem ersten wort und las das ander alles gehen, allein das lasse nicht faren.“Ⱥ40 Entscheidend ist, daß es Luther gelingt, die Versuchung aus deren Situation selbst heraus, d. h. (im Falle von Gen 22) in der sich dehnenden Zeit dreier Tage zu thematisieren. Was thut aber der Herr? er heisset yhn auff einen berg gehen, den er yhm weisen wil, das waren drey gantze tagereysen. Es were ja noch leichter, wenn es ja sein solt, das er bald davon keme, aber er martert yhn noch weiter, nympt noch zeit dazu, das er wol gepraten wird und sich durchfressen mus, das freylich ein stück odder zehen sind gewesen, die yhm das hertz puchend gemacht haben.Ⱥ41
Nicht zuerst von deren Ausgang her interpretiert Luther die Versuchungsgeschichte Abrahams. Vielmehr ist es ihm darum zu tun, seine Leser und Hörer in die Situation Abrahams hineinzuversetzen, sie mit ř8
ř9
40 41
Vgl. AѢєѢѠѡіћ, De civitate Dei XVI, ř2, CCSL 48, 5ř6, 1–4: „Inter haec, quae omnia commemorare nimis longum est, temptatur Abraham de immolando dilectissimo filio ipso Isaac, ut pia eius oboedientia probaretur, saeculis in notitiam proferenda, non Deo.“ Vgl. AњяџќѠіѢѠ, De Abraham, lib. 1, cap. 8, CSEL ř2Ȧ1, 546, 6–8: „[…] sed temptabat adfectum patris, si dei praecepta praeferret filio nec paternae pietatis contemplatione uim deuotionis inflecteret.“ Einen Überblick über die Interpretation von Gen 22 in der Alten Kirche bietet folgendes Werk: TѕђџђѠію HђіѡѕђџȦCѕџіѠѡіюћю RђђњѡѠ, Biblische Gestalten bei den Kirchenvätern: Abraham, Münster i. W. 2005, 154– 174. WA 24,ř8ř,24–26. Vgl. WA 4ř,20ř,19–22: „Sic in omnibus aliis tentationibus faciendum est, ubicunque enim contrarium a promissione experimur, certo statuamus, cum se aliter ostendit Deus, quam promissio sonat, esse eam tantum tentationem, nec ideo hunc baculum promissionis patiamur nobis extorqueri e manibus.“ WA 24,ř84,15f. WA 24,ř81,14–19.
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dem angefochtenen Patriarchen gleichzeitig werden zu lassen und sie so zu lehren, daß Gott – auch der anfechtende – in der Zeit erfahren wird. Dies ist der Skopos von Gen 22. Erst so wird es dem Leser bzw. Hörer möglich, die erzählte Zeit von Gen 22 mitzuerleben, sie zu durchschreiten, sie gleichsam auf der Bühne szenisch nachzuvollziehen und hierbei der Tatsache ansichtig zu werden, daß der Zeitraum von drei Tagen einer retardatio gleichkommt, aus der eine ungeheure Intensivierung der tentatio und der Gotteserfahrung resultiert.Ⱥ42 Die von Luther bewerkstelligte Vergleichzeitigung des Lesers mit dem Text wird konkret greifbar auch in der Tatsache, daß Luther die affektive Situation Abrahams genau unter die Lupe nimmt. Abraham ist keineswegs insofern ein nachzuahmendes Vorbild, daß er in völliger Ataraxie, von seinen Affekten unbeeindruckt agiert. Ganz im Gegenteil ist er zutiefst bestimmt durch „die natürliche neygunge und bewegung“Ⱥ4ř. Bekanntermaßen propagiert Luther die Heiligen – mithin auch die dramatis personae der biblischen Texte – nicht in erster Linie als moralische Vorbilder. Vielmehr bieten die Heiligen nach Luther exempla fidei und sind bestimmt von all den humanen Konditionen sowie den hieraus resultierenden Schwächen und Stärken.Ⱥ44 Hierin besteht die Solidarität der Heiligen und der gegenwärtig Glaubenden, die aufgrund ihres Glaubens ebenfalls sancti sind. Darum läßt Luther anhand der Figur Abrahams das Humanum aufscheinen, sprich: die väterliche Liebe seinem Sohn gegenüber und den durch den Tötungsbefehl kausierten tiefen Schmerz. Gleichzeitig verwahrt sich Luther gegen die Geringschätzung der Affekte durch den zeitgenössischen mystischen Spiritualismus Karlstadtscher und Müntzerscher Provenienz, der der Ansicht ist, man habe im Rahmen der Übung von Gelassenheit nicht nur die Sphäre des Leiblich-Sündlich-Weltlichen hinter sich zu lassen, sondern mit ihr auch die durch diese bestimmten Affekte. „Es ist nicht, wie etliche meynen, das man so gar verachten sol alle ding, das wir keine schmertzen noch leyd sollen haben odder fülen.“Ⱥ45 Dies führt dazu, daß Luther zunächst narrativ breit und ausführlich davon spricht, daß Abraham auf der Dreitagesreise „wol gepraten wird und sich durchfressen mus“Ⱥ46. (Darum
42
4ř 44 45 46
Diesen Aspekt hebt auch die lutherisch-orthodoxe Exegese von Gen 22 hervor. Vgl. Dюѣіё RѢћєіѢѠ, PRAELECTIONES in GENESIN MOSAICAM […], Wittenberg 1608 (HAB Wolfenbüttel 817.47 Theol.), 647. WA 24,ř80,10f. Vgl. hierzu auch AѠђћёќџѓ (Anm. 2ř), 111. WA 24,ř80,11–1ř. WA 24,ř81,17f. Vgl. WA.TR 1,422,19 (Nr. 859); 522,16–18 (Nr. 10řř); 2,6ř4,44 (Nr. 2754a).
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spielt genau diese Verletzung der väterlichen Liebe auch im geistlichen Theaterspiel, das Gen 22 zum Gegenstand hat, eine zentrale RolleȺ47). Den Höhepunkt erreicht der Schmerz Abrahams indes auf dem Berge Morija zu dem Zeitpunkt, an dem Isaak seinen Vater darauf aufmerksam macht, daß zwar Feuer und Holz vorhanden seien, das Schaf für das Brandopfer aber noch fehle (Gen 22,7). Nach Luther hat Mose das sich während der Opfervorbereitung zwischen Vater und Sohn entspinnende Gespräch vor lauter Tränen nicht aufzeichnen können („prae lachrymis non potuit scribere“Ⱥ48) und bedient sich daher der Ellipse. (Simon Gedicke wird später im Anschluß hieran sagen, daß die Kunst der Rhetorik keine Mittel bereithält, um die ineffabilitas dieser Gesprächssituation zwischen Vater und Sohn zu überwinden.Ⱥ49) Bildet Gen 22 eine Klimax innerhalb der von Anfechtungsgeschichten gespickten Abrahams-Erzählung, so ist Gen 22,7 die Klimax innerhalb der Klimax: „Das wort wird yhm ein glüender spies ym hertzen gewesen sein, Als solt er sagen: Ach, lieber son, schweyg stille, es möcht mir das hertz brechen. Das mus er auch noch fressen und das hertz wol kochen.“Ⱥ50 Bildet Gen 22 den tentativen Höhepunkt der Abrahamserzählung, so ist im Redewechsel zwischen Vater und Sohn in Gen 22,7 der affektive Höhepunkt erreicht.
47
AћёџђюѠ LѢѐюѠ, Ein schöne vnd tröstliche Comoedia / in Reim weis gestellet / wie Abraham seinen Son Jsaac / aus Gottes befelh / zum Brandopffer opffern solte / Zu ehren der Durchleuchtigen Hochgebornen Fürstin / Fraw Catharinen / Hertzogin zu Sachssen etc., Leipzig 1551 (HAB Wolfenbüttel Lo 5164.1), hier die Rede Abrahams F 6r: „Menschen natur angeborn ist Jch selbst beken zu dieser frist Das sie ja lieb haben mus die Welche zur welt gebracht hat sie Also ist mirs wol in meim hertz Ein grosse pein Ȧ jammer vnd schmertz Das meinen liebsten son Jsac Jch nu auch opffern sol zu tag.“ Marginal: „p£qoj“ 48 Vgl. WA 4ř,216,12. Vgl. Sіњќћ Gђёіѐјђ, GENESIS Oder AVszlegung des Ersten Buchs Mosis […] Dritter Theil, Leipzig 1611 (HAB Wolfenbüttel C 122 Helmst. 2° [2]), 287r. 49 Vgl. Gђёіѐјђ (Anm. 48), 287r: „Sie schweigen aber beyde stille in diesem so wundersamen Handel Ȧ oder viel mehr kan es keine Menschliche Weißheit außsinnen Ȧ auch keines Menschen Beredsamkeit außsprechen Ȧ was domals Vater vnd Sohn miteinander geredet Ȧ welchs sonder zweiffel von dem befehlich Gottes Ȧ von der Aufferstehung der Todten vnd vom ewigen Leben gewesen ist Ȧ Oder aber wie es vorerwehnter Lutherus darfür helt Ȧ es hat Moses dasselbe Gespreche ohne Weinen nicht setzen noch beschreiben können Ȧ wie auch Gregorius Nyssenus meldet.“ 50 WA 24,ř81,ř2–ř4. MѢѠѫѢѠ (Anm. ř6), 249r noch etwas drastischer: „Gros wunder ists Ȧ das Abraham nicht drüber vmbgefallen ist.“
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Ingens vero hic motus, et vehemens p£qoj est, quod Moses noluit praeterire. Isaac victima alloquitur patrem, et irritat illam storg¾n fusik¾n, quasi dicat: Tu mihi es pater, et parens vicissim: tu mihi filius. Haec penetrarunt et perculerunt haud dubie animum paternum.Ⱥ51
Anders indes die patristische Exegese von Gen 22, etwa bei Gregor von Nyssa: Zwar ist auch hier in aller Deutlichkeit von der Schwere der tentatio die Rede und davon, daß nicht nur die göttliche Formulierung des Opferbefehls Abraham im Innersten trifft und perturbiert, sondern auch seine Unterredung mit Isaak (Gen 22,7). Aber den eigentlichen Skopos der Erzählung sieht Gregor doch in der vorbildlichen patientia und tranquillitas Abrahams, näherhin darin, daß er sich, auf den Berg Morija hinansteigend, „˜stès kaˆ ¢kline‹ yucÍ“ („constanti atque tranquillo animo“)Ⱥ52 mit seinem Sohn unterredet habe. Bei aller Akzentuierung also der affektiv-psychischen Angegriffenheit Abrahams präsentiert Gregor den Patriarchen demnach doch hauptsächlich als ein Vorbild gelungener Selbstbeherrschung, das – ganz im Sinne des Ideals stoischer Affektkontrolle und -überwindung – den ersten vehementen „ictus“ der Affekterregung schrittweise und souverän überwindet.Ⱥ5ř Bei Luther und den barock-lutherischen Auslegern indes ist die mit dem Tötungsbefehl verbundene affektive Perturbation Abrahams nicht eine solche, die dieser schrittweise durch geeignete Kontrollmechanismen in den Griff zu bekommen hätte oder auch nur könnte. Vielmehr hält sich umgekehrt die der göttlichen tentatio geschuldete Spannung, der Abraham unterliegt, drei Tage lang durch, und mehr noch: sie steigt bis zu dem Punkt, an dem Isaak, mit seinem Vater den Berg Morija hinansteigend, die alles entscheidende Frage stellt.
51 52 5ř
WA 4ř,215,20–2ř. PG 46, 571AȦ572A.
Vgl. v. a. PG 46, 569AȦ570A. Vgl. hierzu etwa Sђћђѐю, De ira, lib. 2, 4. Eine andere Akzentuierung indes läßt Origenes’ Interpretation von Gen 22 erkennen, der nicht von der tugendhaften Affektsteuerung spricht, sondern – anders als Gregor und vergleichbar mit Luther und seinen Erben – Abrahams innerliche perturbatio während des Anstiegs auf den Berg Morija angesichts der Frage Isaaks nach dem Opfertier thematisiert. OџієђћђѠ, Werke, Bd. 6Ȧ1, hg. v. W. A. BюђѕџђћѠ, Leipzig 1920, 81. „‚Dixit‘ inquit ‚Isaac ad Abraham patrem suum: Pater‘. Et haec in tempore a filio prolata tentationis est vox. Quomodo enim putas immolandus filius per hanc vocem viscera paterna concussit? Et quamvis Abraham rigidior esset pro fide, reddit tamen etiam ipse affectionis vocem et respondit: ‚quid est, fili?‘ At ille: ‚ecce‘ inquit ‚ignis et ligna, ubi ovis ad holocaustum?‘ Ad haec respondit Abraham: ‚Deus providebit ipsi sibi ovem ad holocaustum, fili‘. Movet me Abrahae satis diligens et cauta responsio.“
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Zwar kann Luther davon sprechen, daß Abraham, Gott gehorsamend, seine väterliche Liebe der Liebe zu Gott unterordnet.Ⱥ54 Diese Unterordnung bedeutet jedoch keineswegs, daß sich Abraham des Affektes der väterlichen Liebe im Sinne von Gelassenheit oder Ataraxie begibt.Ⱥ55 Vielmehr besteht die elterliche Liebe, die storg», fort und steht in einem eklatanten Widerspruch zur Liebe Gott gegenüber. Aus der Analyse der affektiven Befindlichkeit Abrahams ergibt sich eine weitere Einsicht in die paradoxale Struktur der Versuchung: Gottes Befehl an Abraham, Isaak als Opfer darzubringen, widerstreitet nicht nur dem Gesetz wie dem Evangelium, sondern zudem der affektiven Disposition eines Vaters und mithin dem Gesetz der Natur.Ⱥ56 Luther vermeidet es, die tentatio nur von deren Ausgang her, d. h. post factum, zu betrachten und somit zu entschärfen. Nur so kann in voller Radikalität wahrgenommen werden, daß die dem Glauben aufgebürdete Zumutung darin besteht, in der Gegenwart der Versuchung und der Gottesferne an der Zukunft Gottes und seiner Rettung festzu54
55 56
Vgl. WA.TR 1,422,1ř–15: „Dies Exempel Abrahams ubertrifft weit allen Verstand menschlicher Natur, daß er uberwand die väterliche Liebe, so er zu seinem eingebornen Sohn Isaac trug.“ Ähnlich Jќѕюћћ Gђџѕюџё, Sämtliche Leichenpredigten nebst Johann Majors Leichenrede auf Gerhard, kritisch hg. und kommentiert v. J. A. Sѡђієђџ (Doctrina et Pietas I, 10), Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, 186f. unter Zitation von Gregor von Nyssa (PG 46, 570): „Zum Andern hat Abraham hierinnen seine Lieb gegen Gott bewiesen. Jsaac war jm ein lieber Son Ȧ aber Gott der Herr war jhm noch viel lieber Ȧ darumb als er vernahm Ȧ daß Gott diesen Sohn forderte Ȧ da überwandt er die natürliche Lieb Ȧ durch Gottes Lieb. Respiciens ad caritatem divinam statim Naturae est oblitus & excussis affectionibus Naturae perturbatricibus tanquam terreno onere totum sese dedit Deo, spricht Nyssenus über diese Historiam.“ Vgl. WA 4ř,206,1f.: „Quomodo existimas cor Abrahae hic affectum fuisse ? habuit enim carnem, nec, ut saepe dixi, fuit ¥storgoj.“ Vgl. WA TR 1,422,17. Diesen Aspekt aufnehmend, formuliert Gђёіѐјђ (Anm. 48), 280r: „Sintemal solcher Befehl nicht allein vnerhört vnd vnbreuchlich allen vorgehenden Patriarchen Ȧ sondern er leufft auch stracks 1. Wieder die Natur. 2. Wieder Gottes Gesetz. ř. Wieder Gottes verheissung Ȧ also daß Abraham mit Gott wieder GOtt zu streiten gehabt hat.“ Vgl. ebd., 282v. Vgl. zudem Gђџѕюџё, Leichenpredigten (Anm. 54), 185: „Abraham ist kein Stoicus gewesen Ȧ daß er die natürlichen affect vnd die Väterliche storgas oder Liebe allerdings abgelegt Ȧ sondern es hat sich Fleisch vnd Blut auch im jhm gereget“. Hierbei bezieht sich Gerhard auf die patristische Auslegungstradition, wenn er (ebd., 185f.) fortfährt: „wie denn die beyden alten Kirchenlehrer Origenes vnd sein Discipul Gregor. Nyssenus in der erklärung dieser Historien darüber gleichsam streiten Ȧ welcher vnter jhnen am artigsten vnnd beweglichsten des Abrahae affecten beschreiben könne.“ In der Art und Weise jedoch, wie Abraham seine väterliche Liebe der Liebe zu Gott unterordnet, besteht die Differenz der Sichtweise Gerhards zu derjenigen der Väter: Es ist allen voran der Glaube, der hier wirkt, nicht die Tugendhaftigkeit: „Aber er hat durch folgende drey Mittel Ȧ nemblich durch Glauben Ȧ Liebe vnd Hoffnung solche natürliche affecten vnnd zuneygungen überwunden (ebd., 186).“
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halten. Und nur so kann dieser Text als ein solcher gepredigt werden, der den Hörern einen Weg weist, wie sie sich in der Situation der tentatio zu verhalten haben. Daher konfrontiert Luther seinen Hörer mit einer Szenerie, die ihm noch bevorsteht: mit der Todesstunde, in der es durchaus zu einer der Abrahamschen ähnlichen Erfahrung der Ferne des gestern noch nahen Gottes kommen kann. Weil uns Gott das Euangelion gibt und tröstet, so ist es alles lieblich, Wie aber, wenn er spricht am tod: ich wil dein nicht? hastu nu fast gemeynet, du stehest feste und gleubest an Christum, das er dein ist, so kömpt dir nu ein spies yns hertz, das Gott sagt: Ich wil dir Christum nicht geben, darümb gib mir yhn her und bleib du alleine, Was kan da das hertz anders sprechen denn: es ist verloren? und wens schön sagt: hastu mir yhn doch geredt, so sagt er wol widder: Ich bin Gott, mag ichs nicht machen wie ich wil?Ⱥ57
Aus seelsorglichen Gründen ist Luther daran gelegen, Einblick in die Befindlichkeit Abrahams während der drei Tage seiner Reise zu gewähren – Trostlosigkeit, Gottesferne –, damit der potentiell angefochtene Glaubende lernen möge, was in einer solchen Situation zu tun ist. Nicht getan ist es dagegen mit einer Anweisung, wie man nach dem glücklichen Ausgang auf die zurückliegende Krisensituation blicken kann in dem Bewußtsein, es habe sich ja ‚nur‘ um eine Versuchung gehandelt. Welch grundstürzende Bedeutung genau diesem Aspekt innerhalb der Lutherschen Hermeneutik zukommt – die Heilige Schrift nicht im Sinne der distanzierten ‚Draufsicht‘, sondern aus der Perspektive der von den biblischen Textwelten selbst geschaffenen Situation heraus zu buchstabieren – wird deutlich daran, wie Luther einen Gen 22 durchaus verwandten Text interpretiert, nämlich die Jona-Erzählung. Sich in die Befindlichkeit Jonas, kurz bevor dieser von den Schiffsleuten ins Meer geworfen wird, vertiefend, sagt Luther: Also sihet hie Jona wol, das nichts mehr furhanden ist denn der bitter todt, gibt sich dreyn und spricht selbst eyn urteyl uber seyn eygen leben: ‚Werfft mich yns meer‘, als solt er sagen: Jch mus sterben: Es wird sonst nicht stille. Denn du must abermal Jona hie nicht ansehen, als uns die geschicht ansihet. Denn weyl wyr fur uns haben die gantze geschicht, wie er ist erlöset worden, dunckt es uns geringe und bewegt uns wenig. Aber du must sehen, wie Jona zu mut ist ynn diesem stos: der sihet nicht eyn füncklin mehr vom leben noch von der erlösunge, sondern eytel tod, tod, tod ist da, das er mus am leben verzagen und sich dem tod ergeben (WA 19,217,6–15).
Gott also ficht die Glaubenden an und versucht sie, indem er sich auf das Feld der Widersprüchlichkeit begibt und seinem zuvor geäußerten Wort widerspricht, ja seine promissio widerruft. Die Aufgabe des Glauben57
WA 24,ř8ř,8–15.
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den – und dies ist die schwerste, die er haben kann – besteht darin, in den Streit mit Gott einzutreten und nicht nur ihn selbst, sondern Gott in seinem Widerspruch zu überwinden. Dies aber kann nur durch Widerspruch gegen die göttliche Widerrufung seiner Verheißung geschehen, also dadurch, daß der Glaubende Gott derart widerspricht, daß er sich nicht auf das Feld von dessen Widersprüchlichkeit begibt. Auf diesem nämlich würde er sich notwendigerweise verlieren. Wo nu der tod her fiele und Gott lies sich hören odder fülen, er wölte ungnedig sein und mich nicht haben, dennoch sol ich nicht wancken noch zurück treten, ob auch Moses odder ein Engel odder gleich Christus keme, doch sol ich daran halten, denn das wort Gottes kan nicht liegen, Spricht aber dein hertz: ja, ist doch das auch Gottes wort? Antwort du: Er wirds wol machen und deuten, wie ers meynet. Also müssen wir yhn uberwinden mit seinem eygenem wort, das ist fast der höhiste kampff und streit, wilchen die heiligen veter wol geübt haben.Ⱥ58
Es zeigt sich: Luther interpretiert Gen 22 im Kontext von anderen Texten des ersten Buches Mose – an dieser Stelle: vor den Kulissen der Erzählung vom Sieg Jakobs über Gott im Kampf am Jabbok (Gen ř2,2ř–řř). Die lutherische Tradition hat ganz im Sinne Luthers eben diesen Gedanken des Selbstwiderspruches des in Anfechtung führenden Gottes stark gemacht. Valerius Herberger etwa legt Abraham folgende Worte in den Mund: „Aber Gott hat zu verlieren seine Wahrheit! da mag er zusehen, wie er sein Wort halte.“Ⱥ59 Die reformierte Auslegungstradition dagegen neigt – übrigens stärker als Calvin selbstȺ60 – dazu, Gen 22 dahingehend zu glätten und damit auch z. T. zu entschärfen, daß gesagt wird, Gott begebe sich keinesfalls in einen Widerspruch oder nur scheinbar in einen solchen. So formuliert David Pareus (1548–1622):Ⱥ61 „Deus cum sit optimus & sapientissimus, sibi contrarius esse non potest.“ Ⱥ62 Im Vordergrund steht hierbei das Theorem von der immutabilitas Dei, das es nach reformierter Sicht der Dinge nicht zuläßt, in der für Luther charakteristischen Weise davon zu sprechen, daß Gott seine Verheißung zurückzieht.
58 59 60
61 62
WA 24,ř86,17–24. VюљђџіѢѠ Hђџяђџєђџ, Magnalia Dei. Die großen Thaten Gottes, 1.–4. Teil, HalleȦS. 1854 (11602–22), ř50. Vgl. JќѕюћћђѠ Cюљѣіћ, Commentarius in Genesin, CR 2ř, ř11. Vgl. zu Calvins Exegese von Gen 22 Wіљљђњ Bюљјђ, „Calvins Auslegung von Genesis 22“, in: Théorie et pratique de l’exégèse. Actes du troisième colloque international sur l’histoire de l’exégèse biblique au ѥѣі e siècle, hg. v. Iџђћю BюѐјѢѠ u. FџюћѐіѠ Hієњюћ, Genf 1990, 211–229. Vgl. Kюџљ Fџіђёџіѐѕ UљџіѐѕѠ, „Pareus, David“, in: BBKL 6 (199ř), 15ř2–15ř6. Dюѣіё PюџђѢѠ, IN GENESIN Mosis COMMENTARIVS […], Frankfurt a. M. 1615 (HAB Wolfenbüttel 12.1ř Th.), 1279.
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Nicht verwunderlich ist es daher, daß Caspar Olevian (15ř6–1587)Ⱥ6ř nur im Rahmen eines Irrealis vom Selbstwiderspruch Gottes reden kann: Jn dieser versuchung vnnd probierung war diß das aller schwerest Ȧ daß es sich ansehen ließ als wann Gott jm selbst zu wider were Ȧ dieweil er jhm gebeut daß er den son schlachten vnd tödten sol Ȧ von welchem er jhme doch zuuor sein wort der verheissung gegeben hatte Ȧ daß von demselben der heiland der welt herkommen sollte.Ⱥ64
Darum neigen die reformierten Exegeten dazu, die Versuchungsgeschichte Abrahams von deren Ende her zu lesen, wobei hervorgehoben wird, daß es sich eben nur um eine Erprobung und darum auch nur um eine scheinbare Widersprüchlichkeit in Gott gehandelt habe. Auch nach Luther ist das Theologumenon von der immutabilitas Dei im Kontext der Interpretation von Gen 22 von Bedeutung, aber doch in anderer Weise: „Derhalben wer ynn der anfechtung wil gelert sein, der ergreiffe die sprüche, das Gott nicht leugt noch wancket, was er ein mal sagt, Was aber darnach dawidder lautet, ist darauff zu weisen und deuten, das er den glauben versucht, das las yhn aus deuten, Es ist aber ein schweer stück.“ Ⱥ65 Die reformierte Lesart neigt dazu, mit Hilfe der Lehre von der Unveränderlichkeit Gottes, gleichsam von außen an den Text von Gen 22 herantretend, rational zu argumentieren: Gottes Einheit und Wahrheit verbieten es, ihn für wandelbar zu halten. Ziel ist es hierbei, zu verhindern, daß eine Gott nicht angemessene Vorstellung von Wandelbarkeit im Sinne eines Mißverständnisses Platz greift. Bei Luther ist dies, wie das soeben angeführte Zitat zeigt, anders. Hier ist der Hinweis darauf, daß Gott nicht wankt, Teil des aufmüpfigen Widerspruches, der aus der Situation der Versuchung heraus vom Angefochtenen selbst Gott gegenüber in Anschlag gebracht wird. Keineswegs aber liegt Luther daran, den Widerspruch zu lösen, indem er auf den Ausgang der Geschichte verwiese. Vielmehr stellt er die Diskrepanz zwischen der promissio einerseits und der Versuchung andererseits Gott anheim: „das las yhn aus deuten.“ Ⱥ66 Abraham also begibt sich mit Gott in einen Streit, indem er an dessen promissio festhält, obgleich die empirisch vorfindliche Situation hierzu in keiner Weise Anlaß gibt. Aber mehr noch – und hier wird die 6ř 64
65 66
Vgl. Vќљјњюџ Wіѡѡњҿѡѧ, „Olevian, Caspar“, in: BBKL 6 (199ř), 1197–1200. CюѠѝюџ Oљђѣіюћ, Predig Von Abrahams glauben vnd gehorsam da er seinen Sohn Jsaac Gott auffopfferte / Gene. am 22. Hebre. am 11 Zur begrebnüß der Durchleuchtigsten Hochgebornen Fürstin vnd Frawen / Frawen Marien Pfaltzgreffin bey Rhein / Hertzogin in Bayern Gebornen Marggreffin von Brandenburg / den 2. Nouem. Ann 1567. zu Heydelberg in der Stadt kirchen gethon, Heidelberg 1567 (HAB Wolfenbüttel ř12.40 Th. [9]), A řr. WA 24,ř86,27–ř1. WA 24,ř86,ř0.
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Auslegung von Hebr 11,17–19 im Kontext von Gen 22 virulent: Abraham vermag den Widerspruch zwischen dem ihm von Gott gegebenen Tötungsbefehl und der promissio aufzulösen, indem er zur Auferstehungshoffnung Zuflucht nimmtȺ67 dergestalt, daß er (im Sinne von Lk 18,29f., aber auch der Hiob-Erzählung [vgl. Hi 42,10]) hofft, Isaak in der Zeit wiederzubekommen, mithin unmittelbar nach dessen Abschlachtung. Nur so – und hierin folgen die barock-lutherischen Autoren dem Reformator – können die Worte, die Abraham an seine Knechte richtet, recht verstanden werden: ‚Jch vnd der Knabe wollen dort hin gehen Ȧ Vnd wenn wir angebetet haben Ȧ wollen wir wider zu euch komen‘ (Gen 22,5). Genau dieses Motiv findet sich im übrigen auch bei Augustin, wenn er sagt: „Verum tamen Abraham confestim filium, cum fuisset immolatus, resurrecturum credidisse laudandus est.“ Ⱥ68 Insofern handelt es sich hier67 68
Vgl. WA 4ř,204,2řf.: „Intellexit igitur Abraham articulum de resurrectione mortuorum, et per eum solum solvit hanc contradictionem.“ AѢєѢѠѡіћ, De civitate Dei XVI, ř2, CCSL 48, 5ř6,1řf. Ähnlich Gђёіѐјђ (Anm. 48), 28řv, der in Abrahams Worten an die am Fuße des Berges zurückgelassenen Knechte Abrahams Glauben an die sofortige resurrectio Isaaks nach der Opferung gespiegelt sieht: „[…] wollen wir wieder zu euch kommen Ȧ denn er gleubte Ȧ das Gott den Jsaac wol könte von den Todten erwecken.“ Genau diesen Aspekt kleidet das biblische Theaterstück LѢѐюѠ’ (Anm. 47), 6r in folgende Rede Abrahams ein: „Jst solchs müglich gewest dem hern Das er so leicht herfür kan bringn Den Jsaac Ȧ dem mus gelingn Er kan warlich auch leichtlich ebn Jhm widergeben bald sein lebn Ob er auch gleichwol zehnmal stürb Vnd an mancherley tod verdürb. Erstlich hat Gott aus erden klos Den menschen schon geschaffen blos Himel vnd erd Ȧ all creatur Aus nichts gemacht vnd bracht herfur Ey wie ein armer Gott das sein Müste Ȧ welcher vor zeit allein Solch wunder hette können thun Vnd solchs nicht mehr könde nun.“ Vgl. auch Gerhards Leichenpredigt auf Heinrich Rentzel über Gen 22: Gђџѕюџё, Leichenpredigten (Anm. 54), 187f.: „Endlich hat Abraham zur auffopfferung deß Jsaacs sich daher so willig finden lassen Ȧ weil er die gewisse Hoffnung hatte Ȧ Gott könte Jsaac widerumb aufferwecken Ȧ wenn er schon zu Pulver vnd Aschen verbrennet were Ȧ darumb spricht er zu seinen Knechten Ȧ die er am Berge zurück ließ: Jch vnnd der Knab wöllen dorthin gehen vnd beten Ȧ vnd wenn wir angebetet haben Ȧ wöllen wir widerumb zu euch kommen Ȧ mit welchen Worten er gnugsam zu erkennen gibt Ȧ er habe die gewisse hoffnung Ȧ GOtt werde den Jsaac widerumb von den Todten so bald auffwecken Ȧ daß er zugleich mit jhme widerumb zu den Knechten werde kommen. Vnd noch klährer zeuget von solcher Hoffnung deß Abrahae S. Paulus Rom. 4. Er hat gegleubet Gott dem Herrn Ȧ der da lebendig machet die Todten Ȧ vnd
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bei nicht um eine Vertröstung im pejorativen Sinne oder gar um eine Ausrede, sondern um den Glauben daran, daß Gott um willen der Erfüllung seiner Verheißung die für den Jüngsten Tag in Aussicht gestellte resurrectio carnis in die Zeit, in das Hier und Jetzt, hineinscheinen und im Sinne einer Prolepse vor der Zeit Wirklichkeit werden läßt. Ein Wunder ist vorgezogenes Eschaton. Aber weil der Glaube zum Kleinglauben degeneriert, wenn er Gott den modus der Erfüllung seiner Verheißung vorschreibt, ist Abraham von der Gewißheit getrieben, daß Gott Isaak, wenn nicht unmittelbar oder kurz nach dessen Opferung, so doch am Jüngsten Tage auferwecken wird.Ⱥ69 Der von Gott versuchte Abraham ist nach Luther mit einem Disputanten in einer akademischen Disputation zu vergleichen, der es mit zwei einander ausschließenden Obersätzen („propositiones“Ⱥ70) und zwei aus ihnen folgenden conclusiones, die ebenfalls einander widerstreiten, zu tun hat: „Isaac erit semen et pater regum et populorum: Isaac morietur, non erit pater populorum.“Ⱥ71 Diese Widersprüche mit dem Handwerkszeug der Logik und der Vernunft auflösen zu wollen, ist schlechthin ausgeschlossen. Dies gelingt vielmehr nur, wenn man den propositiones eine solche These entgegensetzt, die im Sinne der Logik des Glaubens den Satz vom Widerspruch bereits durchbrochen hat. „Sed verbum conciliat haec duo: Quod mortuus vivit, et vivens moritur.“Ⱥ72 Dies wiederum ist nur möglich, wenn man die logica sacra vom zweiten Glau-
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rüffet dem Ȧ das nicht ist Ȧ daß es sey. Gleicher gestalt sollen auch Christliche Eltern Ȧ denen Gott der Herr jhre Kinder durch den Todt weg nimbt Ȧ die Hoffnung von der Aufferstehung der Todten im Hertzen gewiß fassen Ȧ vnnd sich dessen trösten Ȧ daß Gott der Herr die Leiberlein jhrer Kinder Ȧ welche sie jhm folgen lassen Ȧ auß dem Staub der Erden Ȧ zu seiner zeit Ȧ widerumb aufferwecken Ȧ vnd zu trewen Handen jhnen widerumb zustellen werde.“ Dieser Topos findet sich sogar noch bei Johann David Michaelis, dessen in vielerlei Hinsicht merkwürdige Mittelposition zwischen Spätorthodoxie und Neologie einer eigenständigen Analyse wert wäre. Vgl. Jќѕюћћ Dюѣіё MіѐѕюђљіѠ, deutsche Uebersetzung des Alten Testaments, mit Anmerkungen für Ungelehrte. Der zweite Theil welcher das erste Buch Mose enthält, GöttingenȦGotha 1770, II, 104: „Jch begreife nicht, wie der Glaube Abrahams sich hierbey habe helfen, und den Befehl Gottes mit seiner Zusage vereinigen können, wenn er nicht die Auferstehung aus den Todten zu Hülfe nahm, und vest hoffete, Gott werde, den zum Opfer gebrachten Jsaak so gleich wieder auferwecken, und zum Vater unzähliger Nachkommen machen. Glaubte er das, so konnte er V. 5. mit Wahrheit, und ohne einigen frommen Betrug zu seinen Knechten sagen, er wolle mit Jsaak wider zu ihnen zurück kommen.“ Vgl. WA 4ř,204,26–28: „Hi nescio quam diu iacebunt dispersi, sed iterum vivificabuntur, sive hoc fiat me vivo adhuc, sive mille annos post meam mortem.“ So auch MѢѠѫѢѠ (vgl. u. Anm. 78). WA 4ř,216,řř. WA 4ř,216,řřf. WA 4ř,216,ř5f.
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bensartikel her formuliert, der den Satz vom Widerspruch theo-logisch durchkreuzt: Gott ist Mensch. Daraus allein kann auch folgen: Tod ist Leben („Mors non est mors, sed vita“Ⱥ7ř). Wer aber mit Abraham die logica fidei erlernt hat, beginnt zu singen, indem er ein mittelalterliches Lied trällert, es jedoch – und allein dies ist jetzt noch sachgemäß – zuvor einer inversio unterzieht, es so dem Bereich der lex entreißt und zur Verkündigung des euangelium avancieren läßt.Ⱥ74 Die fides erzwingt eine Umformulierung des Gesanges ‚media vita in morte sumus‘: „Euangelium autem et fides invertunt hanc cantionem, et sic canunt: Media morte in vita sumus, te redemptorem laudamus, suscitasti nos de morte et salvasti nos.“Ⱥ75 In diesem Gesang eignet sich der Glaubende die Allmacht Christi an, der des Todes Tod ist (EKG 65,1; vgl. Hos 1ř,14), so daß Luther sagen kann: Der Glaube ermordet den Tod, verdammt die Hölle und wird dem Teufel zum Teufel. Die „virtus“ des Glaubens „est mortem occidere, infernum damnare, esse peccato peccatum, diabolo diabolum“Ⱥ76. In dieser Hinsicht ist die Auferstehungshoffnung, obgleich Abraham sie Gott im Kampf abringen muß, der einzig mögliche Trost, den Gott Abraham gewährt. Nu must dennoch dis beydes war sein: Abraham gleubte und wuste nichts anders denn der son müste sterben, widderümb auch das er solt ein vater werden vieler völcker, Wie reymen sich die zwey zu samen? Also, wie es Sanct Paulus ausleget, er hat müssen also dencken: Gott ist allmechtig und warhafftig, der son ist schön hyn, den mus ich lassen faren, Aber Gott hat noch soviel, wenn ich und alle welt tod weren, kan er yhn widder auffwecken auch uber hundert jar und zum vater machen. Also lesset yhm Gott nicht mehr denn den einigen trost, daran er sich ynn der höhisten versüchung helt, das yhn Gott widder lebendig machen würde, wenn yhm es gefiele, darümb das Gott nicht liegen kann.Ⱥ77
So betrachtet ist Gen 22 nicht nur ein Beispieltext für die Versuchung Gottes im Sinne eines genitivus subjectivus, sondern – negative – auch im Sinne eines genitivus objectivus. Abrahams Glaube reicht so weit, daß er nicht daran zweifelt, Gott werde seine Verheißung wahrmachen, auch wenn Isaak geopfert wird. Luther zufolge versucht der Mensch Gott, wenn er Gottes promissiones außerhalb der von ihm gesetzten äußeren Bedingungen auf den Prüfstand stellt, Gott also Zeit und modus der Erfüllung des Verheißenen vorschreiben will. Genau dies jedoch tut 7ř 74 75 76 77
WA 4ř,218,40. Vgl. WA 4ř,219,ř7f.: „[…] et canamus: media morte in vita sumus, quem laudabimus, nisi te Deum nostrum? Haec Euangelica cantio, altera legalis est.“ WA 4ř,219,2–4. WA 4ř,219,29f. WA 24,ř82,22–ř1.
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Abraham nicht, sondern hält an dem Glauben fest, daß Gott das Zugesagte erfüllen wird, stellt es ihm jedoch anheim, wie er seine promissio zu Stand und Wesen bringen will.Ⱥ78
Gen 22 spiritualistisch entziffert: Jacob Böhme Jacob Böhme (1575–1624) hat sich in seinem Genesis-Kommentar, im ‚Mysterium magnum‘, intensiv mit Gen 22 auseinandergesetzt. Böhme greift in vielerlei Hinsicht auf die traditionelle Exegese zurück, die seiner Sicht der Dinge zufolge in der Grundaussage kulminiert, Gen 22 handele von der göttlichen Prüfung der Standhaftigkeit des Glaubens Abrahams.Ⱥ79 Böhme beansprucht aber zugleich, den wahren, inneren, ja tieferen Sinn dieser Perikope zu entziffern. Auch Böhme geht es bei der Interpretation von Gen 22 um die Herausarbeitung der Thematik des Kampfes – freilich eines anderen als bei Luther. Nicht die dem Glaubenden gegebene promissio, durch den Glauben und mit Hilfe des göttlichen Wortes den Deus absconditus zu überwinden, ist Böhmes Thema, sondern derjenige Kampf, den jeder Christenmensch gegen sich selbst zu kämpfen hat. Die Opferung Isaaks versinnbildlicht in Böhmes Perspektive die Selbstaufopferung des alten, fleischlich gesinnten Menschen und seines amor sui, mithin die abnegatio sui und die mortificatio carnis. „Dieser eigene Wille muß GOtte geopfert werden, daß er die eigene Liebe im Feuer GOttes verlasse, und seine Eigenheit gantz übergebe, und nicht mehr ihme selber wolle und lebe Ȧ sondern Gott.“Ⱥ80 An eine lange Auslegungstradition anknüpfend, kombiniert Böhme Gen 22 mit Röm 8,ř2 (‚Welcher auch seines eigen Sons nicht hat verschonet Ȧ Sondern hat jn fur vns alle da hin gegeben‘) sowie Joh ř,16 (‚ALso hat Gott die Welt geliebet Ȧ das er seinen eingeboren Son gab Ȧ Auff das alle die an jn gleuben Ȧ nicht verloren werden Ȧ sondern das ewige Leben haben‘) und sieht in der Bereitschaft Abrahams, seinen geliebten Sohn zu opfern, typolo78
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Diesen Sachverhalt kleidet später Simon Musäus in eine direkte Rede, die er Abraham in den Mund legt: „Die vmbstende aber der zeit Ȧ Weise Ȧ vnd Ort Ȧ Wenn Ȧ Wie vnnd Wo es Gott thun wolle Ȧ lasse ich seiner vnmesslichen Weisheit befohlen sein. Denn ob ich jn gleich jtzt nach Gottes befehl tödte vnd zu Aschen verbrenne Ȧ so muss er doch durch krafft Göttlichs Worts wider lebendig werden Ȧ vnd Kinder zeugen Ȧ wenn er auch gleich tausent Jar in der Erden were gelegen. Denn Gottes Wort vermag alles. Gleich wie er durch Gottes wort von mir vnd meiner alten Sara Ȧ vber die krafft der Natur geboren ist Ȧ also sol er auch durch GOttes Wort von Toden wider auffstehen“ (MѢѠѫѢѠ [Anm. ř6], 248v). Jюѐќя BҦѕњђ, Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730, hg. v. WіљљEџіѐѕ PђѢѐјђџѡ, Bd. 8, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992, 490. Ebd., 491.
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gisch die Nichtverschonung Christi durch Gott vor Augen gemalt. Doch erweitert Böhme diese Typologese durch einen weiteren Antitypos dergestalt, daß er sich das Motiv der Nichtverschonung in der Bereitschaft des Christen, den ihm noch anhaftenden alten Menschen zu bekämpfen, aktualisieren läßt. Und wie Abraham seines Sohnes nicht schonete und ihn in Tod wolte geben, also auch schonete GOtt seines Sohns nicht, und gab ihn in Tod für uns: Also auch sollen wir unser und unsers eigenen Willens nicht schonen, sondern lieber wollen alles verlassen, was der eigene Wille hat besessen und beliebet, und allem zeitlichen Wesen um GOttes Willen gerne wollen absterben.Ⱥ81
Die sich aufdrängende Problematik dieser Art der Exegese, die darin besteht, daß Isaak gerade nicht geopfert wird, löst Böhme dadurch, daß er diesen Aspekt des Erzählzusammenhanges nicht auf den durch Isaak verkörperten alten Menschen, sondern auf den neuen, geistigen bezieht, der die fleischliche Existenz überwunden hat und seine abgelegte adamische Seinsweise nun anhand des Widders als eine hinter ihm liegende zu betrachten fähig ist. Und deutet erstlich an, daß der rechte Seelen Mensch in Christo und seinen Kindern in diesem Brandopfer GOttes nicht solte sterben, sondern nachdeme er den Willen seiner Selbheit hat GOtt ergeben; so thut ihme GOtt die Augen auf, daß er hinter sich den Widder, als des wilden bösen Fleisches Willen, ersiehet und kennen lernet.Ⱥ82
Trotz dieses deutlich spiritualistisch geprägten Ansatzes aber trägt Böhme eine ganze Reihe traditionell vorgegebener Topoi weiter – so die Parallelisierung des das Brennholz transportierenden Isaak mit dem sein Kreuz bzw. die Sünden der Menschen tragenden Christus,Ⱥ8ř die Identifikation des Berges Morija mit GolgathaȺ84 sowie die Zusammenschau der drei Tage währenden Reise mit der drei Tage umfassenden Zeitspanne von Karfreitag bis Ostern. Im Vordergrunde steht bei Böhme gleichwohl durchgängig die letztlich einzig und allein durch Buße, Selbstverleugnung und Übung von mystischer Gelassenheit zu erreichende Überwindung des radikalen Gegensatzes von Geist und Fleisch. Darum sieht Böhme an Abrahams Ergreifen des Messers und seiner Entschiedenheit, Isaak den tödlichen Stoß zuzufügen, die Radikalität des einem jeden Christen notwendigen Bußernstes abgebildet. In Böhmes Sicht der Dinge ist Gen 22 mithin kein Text, der Angefochtene tröstet und diese die
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Ebd., 499. Ebd., 500. Ebd., 495. Ebd., 492.
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Kunst lehrt, mit Gott gegen Gott in einen geistlichen Kampf einzutreten, um zu obliegen, sondern eine Erzählung, von der zuvörderst im Sinne der Bußpredigt Gebrauch zu machen ist. Es muß aber so weit mit dem bußfertigen Sünder kommen, als alhie mit Abraham und Jsaac, da Jsaac schon gebunden auf dem Holtze lag, und Abraham das Messer fassete ihn zu schlachten; also gar muß es ein Ernst seyn, daß der sündige Mensch die Sünde bindet mit allen Sinnen und Gemüthe, und sich in Proceß gantz einergiebet, daß er nun will der Sünden sterben, und sie im Glauben und Vertrauen zu GOtt in Christi Tod opfern. Er muß das Messer mit Abraham in die Hand nehmen, das ist, das Werck der ernsten Busse der Sünden zu sterben gantz ins Gemüth fassen zu thun; Jns Thun muß es kommen, und nicht nur vor den Altar treten, und sagen: Jch bin ein Sünder, GOtt hat Christum für mich geopfert.Ⱥ85
Zur Interpretation von Gen 22 durch lutherische Theologen der Barockzeit Blickt man in die (weitenteils noch unerforschte) Auslegungsgeschichte des Alten Testaments im Luthertum des ausgehenden 16. und des 17. Jahrhunderts,Ⱥ86 fällt ins Auge, daß auf die Interpretation von Gen 22 große Mühe gewandt worden ist und zwar sowohl im Bereich der Kommentarliteratur als auch in der Predigt. Entgegen einem immer noch gängigen Mißverständnis sei daran erinnert, daß die fortlaufende Exegese ganzer alttestamentlicher Bücher – auch und gerade in Form von Predigten – nicht nur im reformierten Bereich, sondern ebenso im Luthertum weit verbreitet war. Einen prominenten Sitz im Leben hatte die Exegese des Alten Testaments in den Wochenpredigten, in denen ausgewählte Schriften fortlaufend ausgelegt wurden.Ⱥ87 Vergleicht man das diesbezüglich einschlägige Quellenmaterial mit Luthers Auslegungen von Gen 22, wird rasch zweierlei sichtbar: Einerseits, wie eng man sich bei der Interpretation dieser Schlüsselperikope an Luther anlehnte, und andererseits, wie sehr man darum bemüht war, bestimmte Aspekte der Exegese des Reformators zu vertiefen und zu bereichern. Im folgenden seien diesbezüglich einige Aspekte erläutert. 85 86
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Ebd., 497f. Vgl. J. A. Sѡђієђџ, „Doctrinal Development of the Reformation Legacy: Hermeneutics and Interpretation of the Sacred Scripture in the Age of Orthodoxy“, demnächst in: Mюєћђ Sюђяҫ (Hg.), Hebrew Bible, Old Testament. The History of its Interpretation, Bd. ř, Göttingen 2006. Vgl. EџћѠѡ Kќѐѕ, „Die ‚Himlische Philosophia des heiligen Geistes‘. Zur Bedeutung alttestamentlicher Spruchweisheit im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts“, in: ThLZ 115 (1990), 706–720, bes. 706.
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Zunächst fällt auf, daß die lutherisch-orthodoxen Prediger Luthers Programmatik aufgreifen und alles daran setzen, die Hörer mit der Situation des Textes zu vergleichzeitigen und diesen gewissermaßen zu inszenieren. Zu diesem Behufe bedient man sich recht häufig des rhetorischen Stilmittels der oratio ficta. Simon Musäus (1521–1576)Ⱥ88 z. B. malt die Schärfe des Abraham von Gott Abverlangten dadurch vor Augen, daß er Gott mit folgender direkter Rede auftreten läßt: Kom her Ȧ lieber Abraham (spricht er) ich wil dir zu der Letzte Ȧ einen solchen Dienst aufflegen Ȧ den du mir ausrichten solt Ȧ nicht durch einen andern Diener Ȧ sondern mit deinen eigenen henden. Da soltu mir als ein Priester opffern Ȧ nicht ein Vieh Ȧ wie bisher offt geschehen ist Ȧ sondern einen Menschen Ȧ vnd zwar nicht einen schlechten Menschen Ȧ einen Dienstknecht Ȧ oder Dienstmagd aus deinem Hause Ȧ daran nicht viel gelegen Ȧ sondern deinen Sohn: Nicht den vngeratenen Jsmael Ȧ sondern Jsaac den Einigen Ȧ welchen du billich hertzlich lieb hast Ȧ vnd wie deinen Augapffel zu rath heltest Ȧ nicht allein vmb seiner Frömigkeit willen Ȧ sondern am aller meisten Ȧ das auff jm stehet die verheissung von Christo Ȧ der Welt Heiland Ȧ vnd von der ausbreitung deines gantzen Geschlechts. Denselbigen soltu mir Opffern Ȧ nicht schlechts zum Danckopffer Ȧ wie man mit den Erstgebornen pflegt zu thuen Ȧ vnd sie mit Gelde oder Vieh zu lösen Ȧ vff das sie lebendig bleiben Ȧ sondern zum Brandopffer Ȧ das er geschlachtet Ȧ vnd zu Aschen vnd Puluer verbrand werde Ȧ etc.Ⱥ89
88 89
Vgl. Tѕђќёќџ Mюѕљњюћћ, „Musäus (Meusel), 1. Simon“, in: RGG4 5 (2002), 1591 sowie Iћєђяќџє DќџѐѕђћюѠ, „Musäus, Simon“, in: BBKL 6 (199ř), ř76–ř80. MѢѠѫѢѠ (Anm. ř6), 247rȦv. Vgl. NіѐќљюѢѠ Sђљћђѐјђџ, IN GENESIN, PRIMVM LIBRVM MOYSI, COMMENTARIVS ITA SCRIPTVS, VT DOCENTIBVS ET DISCENTIBVS COELESTEM DOCTRINAM MAGNO VSVI POSSIT […], Leipzig 1569 (HAB Wolfenbüttel
C 116 Helmst. 2°), 550: „Quam grauis haec tentatio fuerit, ostendunt singulae particulae, Tolle, inquit Deus. Sed quid? num pecudem? non, sed hominem. At quàm hoc est tragicum, homicidium committere, & sanguinem innocentem fundere, & aspergere manus cruore humano? Qualem uero hominem? num seruum? Durum profecto esset, iugulare seruum fidelem. Sed nec seruum, uerum filium. Heu qualis haec uox, quàm horrenda, crudelis […]. Quo fulmine, quanto ictu & pulsu animus Abrahae hac uoce percussus est? Sed superat ille hunc arietem, & audit mandatum Dei. Qualem uero filium? num alienum? non: sed tuum. Num Ismaelem degenerem? non, sed vnicum, quem ardenter amas, filium promissionis, in quo spes & opes tuae omnes sitae sunt […]. Quo autem genere sacrificij? num ut primogenita offerebantur, in donum & gratiarum actionem? non, sed eo genere sacrificij, quo totum comburitur, & flammis in cinerem redigitur.“ Ähnlich Aяџюѕюњ Cюљќѣ, BIBLIA TESTAM. VETERIS ILLUSTRATA […], DresdenȦLeipzig 21719 (Privatbesitz), I, 290b: „Jam non occidendus tantum erat Isaac, sed Parens ipse jussus est eum occidere, non per alios, sive hostes, sive amicos; foedandae erant ipsae manus paternae sanguine filii. Nec solum caedes filii unici eidem praecipiebatur, sed offerre eum in holocaustum debuit, hoc est, ligare, strui lignorum imponere, jugulare, ignem subtus accendere, & tamdiu versare, usque dum in cineres & favillas resolvatur, atque sic omnis simul
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Auch Simon Gedicke (1551–16ř1) verweilt ausführlich bei Gen 22,1f. und amplifiziert Gottes Rede an Abraham, indem er deren Teile einzeln durchgeht und unter Anwendung des Stilmittels der interrogatio Fragen formuliert und zwar in ansteigender Intensität – zunächst zwei Fragenpaare, schließlich drei Fragen. Den sämtlich negativ beantworteten Fragen korrespondieren zwei klagende exclamationes („Ach“). Damit rückt dieser Text in die Nähe der Klagepsalmen, in denen Klage und Frage ebenfalls häufig miteinander verwoben sind. Um die unsägliche Schwere dessen zu illustrieren, was Gott von Abraham fordert, bedient sich auch Gedicke (Selnecker zitierend) der enumeratio partium: Tolle nunc, sagt Er Ȧ Nim nu Ȧ was denn ? Etwa ein Vieh Ȧ Schaff oder Ochse ? Nein Ȧ sondern einen Menschen. Ach das ist tragicum, schrecklich Ȧ ein Todtschlag begehen Ȧ vnschüldig Blut vergiessen Ȧ vnd seine Hende blutrustig machen. Denn Gott hat selbs sein Gesetz auff dem Berg Synai lassen erschallen Ȧ Non occides, Du solt nicht tödten. Was sol denn nu Abraham für ein Menschen nehmen? Sol er den Knecht hinnehmen? Es were fürwar ein schweres Ȧ einen trewen Knecht erwürgen Ȧ der solchs nicht verdienet […]. Aber nein Ȧ nicht den Knecht sondern filium, den Sohn Ȧ Ach Gott Ȧ was ist das für eine stimme Ȧ wie schrecklich Ȧ wie abschewlich ist dis wort Ȧ daß einer sein Sohn schlachten vnd abthun sol. Denn dis ist wieder alle natürliche vnd Väterliche Liebe Ȧ daß einer sein Fleisch vnd Blut hassen vnd hinrichten sol. Was aber nu für ein Sohn ? Ein frembden Ȧ den man etwa zum Sohn auffgenommen vnd adoptiret? oder sol Abraham nemen einen ex vernaculis, so in seinem Haus geboren ? Nein Ȧ Sondern tuum deinen Sohn Ȧ der von deinem Leibe aus dir gezeuget Ȧ der eine Seule ist deines gantzen Geschlechts Ȧ Sols den wol Jsmael sein ? Denn das ist je sein Sohn Ȧ den er gezeuget Ȧ Nein Ȧ Sondern unicum deinen einigen Sohn.Ⱥ90
In der von Musäus rhetorisch kunstvoll komponierten Gottesrede erfährt der biblische Text eine ungeheure amplificatio, wobei der Parallelismus von negationes und kontrastierenden affirmationes (sechsmaliges „nicht – sondern“) eine intensive Emphase produziert. Dadurch gelingt es, den Text gleichsam auf die Bühne zu holen, den Prediger als Schauspieler (in verschiedenen Rollen!) auftreten zu lassen und hierbei hör- und erlebbar werden zu lassen, daß die Anfechtung, von der hier geredet wird, in der Tat eine dramatische Klimax der Abrahams-Erzählung darstellt. Alle anderen Anfechtungen, die Abraham getroffen haben – so Musäus – sind „noch zuuerbeissen Ȧ gegen diesen harten befehl
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ipsius spes & consolatio etiam in Semine in fumum abeat. Neque hoc statim facere debebat, sed in terra Moria.“ Gђёіѐјђ (Anm. 48), 279rȦv.
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Ȧ von Jsaacs Opfferung“, gegen diese „Anfechtunge Ȧ vber alle Anfechtungen“Ⱥ91. Ähnlich äußert sich Vincentius Schmuck.Ⱥ92 Blickt man von hieraus zurück in Luthers Exegese von Gen 22, so fällt ein Aspekt in derselben auf, der ohne Berücksichtigung von dessen Wirkungsgeschichte im späteren 16. und beginnenden 17. Jahrhundert nur eine marginale Bedeutung zu haben scheint. Luther spricht mehrfach davon, daß Gott mit Abraham spielt, indem er ihn anficht.Ⱥ9ř Dies kann Luther an anderer Stelle auch derart wenden, daß der zum Tanz auffordernde Gottvater der strafende ist, während der zürnende Blick die Freundlichkeit Gottes verheißt: Ach wie ein trostlicher Gott ist das! Item si dicet: ‚cave, si tibi choream excito und pfeiff dir, ßo werd ich dir ein schlappen geben, wen ich aber sauer sehe, ßo werd ich dich anlachen, vorlasse dich kuhnlich drauff‘. Alßo spilett Gott mitt uns, und wir seint seine liben kindlen, ehr tentzelt mitt uns und steupett uns.Ⱥ94
Diese Identifikation des die Menschen anfechtenden Handelns Gottes mit spielerischer Tätigkeit avancierte in der nachreformatorischen Exegese von Gen 22 zu einem festgeprägten Topos. Luther wie seinen Erben ist es im Rahmen der Bezeichnung der göttlichen Versuchung als Spiel darum zu tun, neben dem Aspekt der freiwilligen Bindung Gottes an seine Verheißung und mit diesem paradox vermittelt die schlechthinnige Unverfügbarkeit und Freiheit Gottes den Menschen und jeglicher Kontingenz gegenüber zu thematisieren. Man wird nicht zu weit gehen, wenn man vermutet, daß sich von hier aus die rhetorische inventio geradezu aufdrängen mußte, den vorgegebenen Erzählzusammenhang spielerisch-theatralisch darzubieten, in der Predigt also Anleihen zu machen beim Redegestus der Bühne. Hiermit wurde der Tatsache, daß es sich Luther zufolge in Gen 22 um ein Spiel handelt, rhetorisch Rechnung getragen. Wenn man die Tatsache hinzunimmt, daß sich der Stoff 91 92
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MѢѠѫѢѠ (Anm. ř6), 247v. VіћѐђћѡіѢѠ SѐѕњѢѐј, Historia ABRAHAE. Außlegung des achtzehenden / neunzehenden / zwantzigsten / ein / zwey / vnd drey vnd zwantzigsten Capitels im ersten Buch Mose / Darinnen zuföderst das ernste gericht Gottes wider die Sodomiter / vnd dere [sic!] schrecklicher vntergang / hernach aber Abrahams wandern / Jsaacs geburt / vnd wie er sollen geopffert werden / vnd letzlich der Sara tod vnd Begräbnis beschrieben wird. Geprediget […], Leipzig 1607 (HAB Wolfenbüttel ř26.9 Th.), 747: „Also hat Abraham seine anfechtung auch in seinem alter Ȧ vnd da jhm der Jsaac geborn gewesen Ȧ noch nicht alle gehabt Ȧ er hat ferner dran gemüst Ȧ vnd eine newe vber die andere haben Ȧ ja das schwereste ist jhm biß hieher gesparet Ȧ vnd ist jhm nach diesen Geschichten zu handen kommen Ȧ da er sichs am wenigsten versehen.“ Vgl. WA 14,298,1řf.: „[…] ludit cum eo tanquam cum puero.“ Vgl. WA 24,ř79,29f.; ř80,26f. WA 4,656,29–řř.
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von Gen 22 auch im Rahmen des geistlichen Schultheaters schon recht früh großer Beliebtheit erfreute,Ⱥ95 schließt sich der Kreis. Das Schauspiel dürfte neben der Musik das wohl geeignetste Medium sein, menschlichen Affekten zur Darstellung zu verhelfen. Da nicht nur Luther, sondern auch die ihm folgenden Generationen, wie unten noch deutlich werden wird, darauf bedacht waren, die affektivpsychische Disposition des angefochtenen Abraham unter die Lupe zu nehmen, nimmt es nicht wunder, daß sie auf Elemente des Redegestus der Bühne zurückgriffen. Andreas Lucas macht in der Vorrede zu seiner Gen 22 traktierenden Komödie darauf aufmerksam, daß die Darbietung eines Stoffes auf der Bühne nicht nur dafür Sorge trägt, daß die Rezipienten effizienter belehrt werden. Vielmehr würden zudem die Affekte der Zuschauer in nachhaltigerer Weise angesprochen.Ⱥ96 Da es zur Programmatik der lutherischen Hermeneutik hinzugehört, nicht die kognitive Seite des Menschen allein anzusprechen, sondern vor allem den affectus fideiȺ97 zu nähren, wird auch von hier aus verständlich, welchen sachlichen Grund es hat, daß die Prediger beim Theater in die Schule gehen. Das geistliche Theaterspiel nämlich greift Luthers homiletische und katechetische Programmatik des Fürbildens und Vor-Augen-Malens auf und setzt diese auf der Bühne um.Ⱥ98 95
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Vgl. z. B. LѢѐюѠ (Anm. 47) sowie Jюѐќя FџђѦ, Ein Andächtig / Biblisch / schön / vnd lustig spiel / Wie Abraham Jsaac seinen sun / auffopffern solte / vnnd von austreibung Agar der magdt / sampt Jsmaheln ihrem sun / Auch von verderbung / Sodome vnd Gomorre / etc. Menigklichem fruchtbar / auch nutzlich zu lesen vnnd zu hören, Straßburg o. J. (HAB Wolfenbüttel 109.2 Eth.). Vgl. LѢѐюѠ (Anm. 47), B 2r: „Auch weil sonderlich solche vnd der gleichen Comoedien vnd Historien Ȧ so sie agirt vnd gehandelt Ȧ die leute offtmals mehr bewegen vnd lehren Ȧ dann wenn sie schon auch sonst vielmals dauon hören Ȧ oder dieselbigen auch selbst lesen Ȧ ist mir kein zweiuel Ȧ diese meine Comoedia Ȧ ob sie gleich gantz alber Ȧ schlecht vnd einfeltig […] werde doch bey etlichen (wo nicht allen) raum vnd stadt finden Ȧ jren nutz vnd frommen zu schaffen.“ WA ř9ȦII,5,ř9f.: „Affectus fidei exercendus est in articulis fidei, non intellectus philosophiae. Tum vere scietur, quid sit: Verbum caro factum est.“ Dies wird explizit greifbar bei FџђѦ (Anm. 95), A 2r: „Allein darumb Ȧ das zucht vnd ehr Ȧ Gotsforcht Ȧ der Eltern weise lehr. Gehn ihren kindern trewlich Ȧ fein Ȧ (Darinn sie lehren ghorsam sein.) Vor würt gebildt Ȧ darzu gemeldt Ȧ Wie Got noch in der alten welt. Sein gnad thet Abraham vnd Loth Ȧ Die alzeit hielten sein geboth. Dann sollichs spil vns zeiget an Ȧ Die gnad so vns Gott hat gethan. Vnd ist das glaublich als bschehen Ȧ
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Um begreifbar werden zu lassen, daß die aus menschlicher Sicht schärfste nur denkbare Versuchung durch Gott aus der Perspektive dessen, der sie auferlegt, lediglich ein Spiel ist, in dem sich die absolute Freiheit und Unverfügbarkeit Gottes zur Erfahrung bringen, zieht Musäus (im Anschluß an LutherȺ99) eine Analogie aus dem Bereich des alltäglichen Umgangs von Eltern mit kleinen Kindern herbei. Versuchung ist wie ein Spiel eines Vaters mit seinem kleinen Kind. Das ist doch je ein geschwinder vnd vnbegreifflicher Handel Ȧ vnd gleichwol sagt Moses Ȧ Gott habe den Abraham nur Versucht Ȧ das ist Ȧ Veterlich mit jm gespielet Ȧ Eben wie ein freundtlicher lieber Vater Ȧ mit seinem kinde schertzet Ȧ Gibt jm einen Apffel Ȧ vnd greifft doch wider darnach Ȧ als wolte er jn wider aus seinen henden winden vnd reissen. Wenn aber das Kind fest helt Ȧ so lesset jn der Vater wider gehen Ȧ vnd sagt: O liebes Kind Ȧ du hast gewunnen Ȧ vnd bist stercker denn ich Ȧ Jch gönne dir nicht allein diesen Apffel Ȧ sondern auch das gantze Erbgut meines Hauses. Zwar für vnsern augen ist es ein grober vnd fehrlicher Schertz Ȧ wenn einer sagt: Knie nider Ȧ vnd lasse dir den Kopff abhawen Ȧ dem er doch zuuor das Leben vnd alle Gnade hatte verheissen. Aber für Gott ists gar ein geringer schertz Ȧ als dem nicht allein die Sterbenden lebendig bleiben Ȧ sondern die lauter Nichts sind Ȧ Etwas werden.Ⱥ100
In der Perspektive Gottes erscheint auch die existentiellste tentatio lediglich als spielerisch und scherzhaft, deren sich Gott bedient, um seine gnädig-barmherzige Bundestreue als eine solche in Erscheinung treten zu lassen, die auf einer höheren Ebene noch einmal umgriffen ist von seiner durch das bleibende Gegenüber des Schöpfers zum Geschöpf bedingten Freiheit. Zugleich aber ist Teil dieser Freiheit Gottes auch, daß Gott den Versuchten nicht sich selbst überläßt, sondern sich wie ein mit seinem Kind spielender Vater diesem aus Freiheit gefangen und geschlagen gibt – um willen der Treue seiner promissio gegenüber. Kritisch zum Vergleich der Anfechtung mit einem Spiel äußert sich die reformierte Auslegungstradition. Sie lehnt – wiederum aufgrund des Theorems der göttlichen Unwandelbarkeit – die Bezeichnung des anfechtenden Handelns Gottes als Spiel strictissime ab. Darum sagt
Des mag die Bibel yeder bsehen. Wiewol der text des klarlich zeigt Ȧ Vnd diss histori wol ereugt. So ists doch solche anmut nit Ȧ Als so man spilt die sach darmit.“ 99 Vgl. WA 4ř,202,ř7–40. 100 MѢѠѫѢѠ (Anm. ř6), 247v. Zum Motiv des Spiels mit dem Apfel vgl. LѢѡѕђџ, WA 4ř,218,25f.
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Pareus: „Simulat vel ludit, qui imperat vt fiat, & tamen non vult fieri; non autem qui imperat, non vt fiat, sed vt tentetur aliorum obedientia.“Ⱥ101 Analysiert man die Predigten Vincentius Schmucks (1565–1628) über Gen 22, so wird erkennbar, daß die rhetorische Ausgestaltung des Befehls an Abraham, Isaak zu opfern, keine Marotte darstellt, sondern letztlich in der Machart des zu predigenden Textes und der Art, wie dieser den Befehl formuliert, verankert ist. Schmuck beobachtet, daß den Worten Gottes an Abraham selbst bereits eine starke und das Herz des Adressaten wie ein Schwert treffende EmphaseȺ102 eignet, schon, wenn davon die Rede ist, daß Isaak Abrahams einziger Sohn ist und der Vater ihn liebhat. „Vnd damit man sehe Ȧ das jhm Gott habe wollen wehe thun Ȧ so sind alle wort in diesem befehl sonderlich gescherfft Ȧ das sie wie spiesse dem Abraham hetten mögen durchs hertz dringen.“Ⱥ10ř Die Schärfe der Anfechtung, die Abraham auferlegt wird, spiegelt sich in der Rhetorik Gottes. Es wäre – so Schmuck – schon heftig genug gewesen, hätte Gott Abraham in Aussicht gestellt, daß Isaak, der Sohn der Verheißung, sterben werde. Die Schwere der göttlichen Zumutung jedoch besteht darin, daß Abraham selbst Hand an seinen Sohn legen soll. „Denn wenn Gott gesaget hette Ȧ Dein Sohn sol dir sterben Ȧ in dreyen tagen sol er tod sein Ȧ were das nicht eim Vaterhertzen jammers gnug gewest ?“Ⱥ104 Ähnlich formuliert Gedicke: „Quem diligis, den du lieb hast Ȧ damit verwundet der versuchende HErr seinem grossen Freunde daß Hertz im Leibe noch mehr Ȧ dieweil er das verordnete Schlachtkind einen solchen Sohn nennet Ȧ den Abraham lieb hat.“Ⱥ105 Die Worte Gottes treffen Abraham im Innersten und wühlen seine Affekte auf. Auch dies gehört zum lutherischen Verständnis von Versuchung: Die tentatio konkretisiert sich 101 Dюѣіё PюџђѢѠ, OPERVM THEOLOGICORVM Tomus I. [– II.], Frankfurt a. M. 1628 (HAB Wolfenbüttel 121.ř–4 Theol. 2°), I, 289. 102 So auch Cюљќѣ, Biblia (Anm. 89), 290a: „TOLLE FILIUM TUUM UNIGENITUM, QUEM DILIGIS, ISAAC, ET VADE AD TERRAM MORIA, ET OFFERES EUM IN HOLOCAUSTUM, in quo verbum nullum est, quod non acutus fuerit gladius in corde Abrahami.“ Vgl. zudem Aџћќљё Mђћєђџіћє, CATECHISMUS PATRIARCHALIS, Das ist: Das erste Buch Mose / Nach dem CATECHISMO LUTHERI in die Häuptstück der Christlichen Lehr also resolviret, daß fast bey allen vnd jeden versiculn der Capitel / man sich seines Catechismi erinnern kan / Der erste Theil / Darin die Historie der Ertzväter / vor vnd nach der Sündfluth / vnd sonderlich des Patriarchen Abrahams […] erkläret wird […], Altenburg 16ř6 (HAB Wolfenbüttel 697.76 Theol. [1]), 591: „Ach dz war ein schrecklich Wort Ȧ das einem Vater tieff ins Hertz schneidt Ȧ vnd gleichsam als ein Donnerkeul VaterHertz vnd Muth zuschellern pflegt.“ Mengering zitiert hier aus Selneckers Postille (vgl. Anm. 89), der wiederum stillschweigend Gregor von Nyssa ausschreibt. Vgl. u. S. 775. 10ř SѐѕњѢѐј, Historia Abrahae (Anm. 92), 755. 104 Ebd. 105 Gђёіѐјђ (Anm. 48), 279v.
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darin, daß die menschlichen Affekte in einen Konflikt mit dem Glauben geraten. Im Anschluß an OrigenesȺ106 sagt Gedicke darum: Das ist Ȧ Sihe welch ein groß Gewicht der versuchung ist dis Ȧ des Vaters Hertz vnnd Affecten werden durch wiederholung der liebreichen süssen Namen erweckt vnd angezündet Ȧ damit die rechte Hand des Vaters gleichsam zu rücke gehalten Ȧ vnnd Jsaac für grosser liebe nicht auffgeopffert werde Ȧ Ja daß die gantze fleischliche Ritterschafft sich aufflehne wieder den Glauben des Gemüths.Ⱥ107
Bezüglich der von lutherischen Predigern intendierten Wirkfunktion, die Situation von Gen 22 möglichst intensiv und die Affekte der Hörer ansprechend zu schildern, ja zu inszenieren, lassen sich im wesentlichen zwei rhetorische Strategien erkennen, die durchaus nebeneinander verfolgt werden. Einerseits die narrative Dehnung der Zeit durch amplificatio des vorgegebenen Erzählzusammenhangs, um spürbar werden zu lassen, daß die Versuchung ihren Ort im Raum der Reise zum Berg Morija und in der Zeit von drei Tagen hat,Ⱥ108 andererseits jedoch die verdichtende, gedrängte enumeratio partium des Abraham Befohlenen. So formuliert Schmuck z. B. folgendes Summarium: Er [scil. Abraham] sol jhn [scil. Isaak] hinweg führen Ȧ vber zwo Tagereisen weit Ȧ vnd da sol er jhn schlachten mit seiner hand Ȧ er sol jhn wie ein Schaf zurichten zum Opffer Ȧ vnd darnach auff ein Scheiterhauffen legen Ȧ anzünden Ȧ mit haut vnd haar Ȧ fleisch vnd bein Ȧ zu pulffer verbrennen Ȧ das nichts daruon komme.Ⱥ109
106 Vgl. OџієђћђѠ, „Homilia 8 in Genesin“, PG 12, 204f. Auf diese Stelle nimmt auch Bezug: Jќѕюћћ Gђџѕюџё, COMMENTARIUS super GENESIN, IN QVO Textus declaratur, quaestiones dubiae solvuntur, observationes eruuntur, & loca in speciem pugnantia conciliantur. Editio novißima & emendatior, Jena 165ř, 4řř. 107 Gђёіѐјђ (Anm. 48), 279v. 108 S. o. S. 204f. Vgl. auch Gђёіѐјђ (Anm. 48), 281: „Diese drey Tag vnd Nacht vber hat sich der fromme Vater müssen krencken in seinem Hertzen Ȧ Sintemal dis freylich ein bitterer schmertzlicher verzug ist Ȧ wie jener sagt Ȧ wenn das Supplicium auffgezogen wird Ȧ vnd vbet man fast Barmhertzigkeit Ȧ wenn man dem jenigen Ȧ der zum Todte verurtheilet ist Ȧ bald hinrichtet.“ Vgl. Mђћєђџіћє (Anm. 102), 596f.: „Was diese drey Tage vber der gute Abraham für Angst vnd Anfechtung in seinem Hertzen mag gefühlet vnd außgestanden haben Ȧ mögen die jenigen bedencken Ȧ die dergleichen erfahren Ȧ wie solches Alcuinus de Immolat. Abrah. vns mit solchen worten erkläret vnd zu verstehen gibt: Longitudine temporis tentatio augetur, per triduum enim crescentib. curis paterna viscera cruciantur, & prolixo spatio pater filium intuetur, cibum cum eo sumit, tot noctibus pendet puer in amplexu patris, cubat in gremio, & per singula momenta in paterno affectu dolor occidendi filii cumulatur.“ Der Alkuin-Beleg findet sich: PL 100, 545AȦB. 109 SѐѕњѢѐј, Historia Abrahae (Anm. 92), 755.
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Zugleich aber lädt Schmuck seine Hörer dazu ein, die „lange weile der Reise“Ⱥ110 im Blick zu behalten. Dies entspreche insofern der Intention des Textes, als dieser Abrahams Reisevorbereitungen und Reise detailliert beschreibe und dem Leser dadurch Raum schaffe für die angemessene Meditation der Anfechtung, die Abraham zu tragen hat. „Jn solcher weile vnd vmbstendlicher erzehlung aller sachen Ȧ hat Moses nichts anders thun wollen Ȧ als den Leser auffhalten Ȧ die grösse vnd hoheit des kampffs Ȧ den Abraham allhie außgestanden Ȧ zu bedencken.“Ⱥ111 Ähnlich wie Luther will Schmuck verhindern, daß Gen 22 mit ausschließlicher Fokussierung auf den Skopos der Auflösung der Versuchung durch die Intervention des Engels gelesen wird. Als eine konkrete Weisung, wie ein Christenmensch sich verhalten soll, wenn er in ähnliche Befindlichkeit wie Abraham gerät, kann – so Schmuck – Gen 22 nur dann buchstabiert werden, wenn man vom Ausgang der Geschichte zunächst einmal abstrahiert. Wir wissen zwar, daß die Geschichte eine Prüfungsgeschichte ist. Aber Abraham hat dasselbe dergestalt nicht wissen können Ȧ Gott hat jhm nicht gesagt Ȧ Jch wil dich versuchen Ȧ sondern er hat jhm einen stracken befehl gethan Ȧ Opffere deinen Sohn zu eim Brandoffer Ȧ den hat Abraham für sich gehabt Ȧ auch nicht anders wissen können Ȧ als Gott wolte seinen Sohn verbrannt haben.Ⱥ112
Nur wenn man das, was weitenteils für den Skopos von Gen 22 gehalten wird, vorerst beiseite setzt, wird erkennbar, daß es zum Versuchtsein hinzugehört, weder aus noch ein zu wissen. Und nur derjenige, der dies weiß, die Befindlichkeit des Abraham also von innen zu betrachten fähig ist, kann sich Gen 22 als einen Lehr- und Trosttext aneignen, der einen Weg weist, wie man sich in ähnlicher Anfechtung mit Gott gegen Gott zu verhalten hat. „Denn wenn man also stecket in der noth vnd in der prob Ȧ man sihet vnd weis nicht mehr als das man leiden muß Ȧ wie es aber einen außgang nemen werde Ȧ das ist vns verborgen.“Ⱥ11ř Besonderes Augenmerk richtet Schmuck, hierin ebenfalls Luther vergleichbar, auf den Affekt-Haushalt Abrahams. Obgleich sich Abraham nach außen nichts anmerken läßt, ist deutlich, daß er innerlich von einem unsäglichen Schmerz geplagt wird. wir [werden] wol kaum mit gedancken erreichen Ȧ viel weniger mit worten außsprechen Ȧ wie es in Abrahams hertzen vntereinander gegangen Ȧ vnd mit was schweren gedancken vnd anfechtungen er gerungen hat. Men-
110 111 112 11ř
Ebd., 769. Ebd., 797f. Ebd., 760. Ebd., 760f.
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schen fleisch opffern Ȧ Kinder würgen Ȧ schlachten vnd verbrennen Ȧ vnd Gott damit dienen Ȧ das war nie erhort worden.Ⱥ114
Der Romanist Erich Auerbach hat anhand von Homers Odyssee und Gen 22 bleibend gültig und exemplarisch die Unterschiede zwischen der griechisch-antiken und der biblischen Erzählweise herausgearbeitet. In der Odyssee – so Auerbach – werden sowohl die äußeren Vorgänge als auch die affektive Disposition der handelnden Personen detailliert beschrieben, und es bleibt „nichts verborgen und unausgesprochen“Ⱥ115. In Gen 22 dagegen werden sämtliche Umstände von Ort und Zeit verschwiegen, es herrscht eine absolute Adjektiv-Armut, Personenbeschreibungen fehlen. Es wird nur das Notwendigste mitgeteilt, „damit hervortrete, wie schrecklich die Versuchung Abrahams ist, und daß Gott sich dessen wohl bewußt ist“Ⱥ116. Während Homer die Gefühlslage und Affekte der Aktanten (– „ihre Affekte sind zwar heftig, aber einfach“Ⱥ117 –) breit vor dem Leser ausfaltet, bleiben die Affekte Abrahams in Gen 22 im Verborgenen, treten gerade darum aber umso heftiger durch Aposiopesis in Erscheinung. Hierin liegt das Geheimnis der einmaligen Tiefund Hintergründigkeit biblischer Texte als Bedingung der Möglichkeit unvergleichlich intensiver Interpretations-Anstrengungen, die bestrebt sein müssen, das vom Text selbst Verschwiegene zur Sprache zu bringen und sichtbar zu machen. Der absoluten Konzentration auf das Wesentliche im Erzählgang von Gen 22 korrespondiert – und hiervon bekommt man einen Eindruck, wenn man sich mit den Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts befaßt – die Bemühung, interpretatorisch Licht in diejenigen Dinge zu bringen, die der Text selbst im dunkeln beläßt. Was Auerbach jedoch nicht wirklich bewußt gewesen sein dürfte, ist der Umstand, daß er mit seiner Analyse der orthodoxen Sicht der Dinge sehr nahe steht. So ist z. B. Schmuck der Ansicht, daß gerade der tiefgründigen rhetorischen simplicitas der biblischen Texte – ganz im Unterschied zu den Idealen der antik-heidnischen Rhetorik eines Cicero oder Demosthenes – eine unvergleichliche efficacia in bezug auf die Erregung der Affekte auf seiten der Hörer und Leser zueigen ist. „[…] ein einiges Wort in der Bibel Ȧ wie schlecht es auch ist Ȧ greifft viel besser hinein Ȧ vnd beweget sehrer Ȧ als jhre [scil. Ciceros und Demosthenes’] grosse beredsamkeit Ȧ wie man
114 Ebd., 765f. 115 Eџіѐѕ AѢђџяюѐѕ, „Die Narbe des Odysseus“, in: DђџѠ., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946, 7–ř0, hier: 10. 116 Ebd., 15. 117 Ebd., 17.
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spüret Ȧ wenn man mit Gewissen zuthun hat Ȧ dieselben entweder zu schrecken Ȧ oder aber wiederumb zu trösten.“Ⱥ118 Daß Abraham sich trotz des Umstandes, daß er im Innersten getroffen ist, hat auf Reisen begeben können, ist, so Schmuck, „ein wunder“Ⱥ119, auch angesichts der Tatsache, daß biblisch gesehen Traurigkeit nicht nur krank macht, sondern gar tödliche Folgen haben kann (Sir ř0,25). „Denn man weis was natürliche affecten sein vnd thun.“Ⱥ120 Daß Abraham trotz seiner melancholischen Verfassung die zusätzlichen Strapazen der Reise durchhält, verdankt sich dem Befehl Gottes, der einerseits die Ursache für Abrahams descensus ad inferos ist, der ihn andererseits jedoch und zugleich auch aufrecht hält.Ⱥ121 Da die Schwere der affektiven perturbatio Abrahams – wie Polykarp Leyser d. Ä. (1552–1610)Ⱥ122 betont – in den Bereich der ineffabilitas fällt,Ⱥ12ř nimmt es nicht wunder, daß der biblische Text von ihr schweigt. Doch indem Schmuck die Abrahamserzählung mit der Josephsgeschichte synoptisch liest, kommt er zu der Ansicht, es liege durchaus nahe, anzunehmen, daß sich Abraham während der Reise – ähnlich wie Joseph angesichts der ihm selbst unerträglich werdenden Verstellung seinen Brüdern gegenüber (Gen 4ř,ř0) – zurückgezogen hat, um zu weinen. „Wenn Abraham hie auch also etlich mal were
118 VіћѐђћѡіѢѠ SѐѕњѢѐј, Historia Creationis. Außlegung des Ersten vnd Andern Capitels im Ersten Buch Mose. Darinnen die Historia der Schöpffung aller dinge / vnd insonderheit des Menschen / auch die einsetzung des Ehestandes / vnd des Menschen herrligkeit vor dem fall / beschrieben wird […], Leipzig 160ř (HAB Wolfenbüttel ř26.7 Theol. [1]), 15. 119 SѐѕњѢѐј, Historia Abrahae (Anm. 92), 799. Vgl. auch Gђёіѐјђ (Anm. 48), 28řr: „Am dritten Tage hub Abraham seine Augen auff Ȧ kein wunder were es Ȧ das Abraham in den dreyen Tagen gestorben were Ȧ für grosser Angst vnd Hertzeleid Ȧ denn mit den trawrigen schwermütigen Gedancken der auffopfferung seines Sohns Ȧ ist er zu Bette gangen Ȧ vnd wieder auffgestanden Ȧ damit hat Er sich müssen krencken Tag vnd Nacht.“ 120 SѐѕњѢѐј, Historia Abrahae (Anm. 92), 799. 121 Vgl. ebd., 770f.: „Weil es Gottes befehl ist gewest Ȧ vnd er hat gehört Ȧ das sein HErr vnd Schöpffer jhm gesagt hat Ȧ Nim deinen Sohn Ȧ gehe mit jhm dahin Ȧ vnd opffere jhn Ȧ Nu wolan Ȧ so hat ers gethan Ȧ vnd hat sich damit durchgerissen durch alle anfechtung Ȧ das er hat gedacht vnd gesagt Ȧ Gott wils haben.“ 122 Vgl. Tѕђќёќџ Mюѕљњюћћ, „Leyser, Polykarp“, in: NDB 14 (1985), 4ř6. 12ř Vgl. PќљѦјюџѝ LђѦѠђџ, Isaacus […] Hoc est Theologica expositio quartae partis Geneseos, quae continet historiam ISAACI, Filii Abrahae secundùm promißionem, Leipzig 1608 (HAB Wolfenbüttel 450.9 Theol. [1]), 89: „Ambulavit Abrahamus triduum, quàm varias autem ac difficiles cogitationes toto illo triduo in corde suo volverit, nulla mens humana cogitando assequi, nedum verbis exprimere poterit: ita ut verè mirum sit, patrem illum senem & filÒstorgon, non exstinctum fuisse, tàm acerbo & diurno dolore. Sed fides & obedientia haec omnia superant.“ Vgl. auch Gђёіѐјђ (Anm. 48), 280r.
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dahinden blieben Ȧ vnd hette abgeweinet Ȧ Ja wenn jhm das hertz gar gebrochen were Ȧ were kein wunder.“Ⱥ124 Luther hatte, wie oben gezeigt, die affektive Klimax von Gen 22 in der Szene loziert, in der Isaak seinen Vater nach dem zu opfernden Schaf fragt. Auch hierin folgen die lutherischen Exegeten des 17. Jahrhunderts dem Reformator. Gedicke etwa notiert: „Groß wunder ists Ȧ daß Abraham nicht drüber vmbgefallen ist.“Ⱥ125 War schon Luther bestrebt, den Leser bzw. Hörer von Gen 22 mit der narratio zu vergleichzeitigen, ja ihn in den Text hineinzusprechen, so setzt sich dies etwa bei Gedicke dergestalt fort, daß nun auch die affektive Involviertheit der Rezipienten ausführlich zum Thema wird. Wer den Text von Gen 22 eingehend meditiert, gewinnt Anteil an Abrahams Schmerz. Denn also sprach Jsaac zu seinem Vater Ȧ als er noch nichts vom göttlichen Befehl wuste Ȧ Abraham mein Vater Ȧ Abraham antwortet hie bin ich Ȧ mein Sohn Ȧ wie ist diß doch so ein hertzlich sehnlich Gesprech Ȧ welchs man kaum ohne seufftzen Ȧ zähren vnd thränen Ȧ gedencken Ȧ lesen Ȧ oder hören kan Ȧ Es weinet einem das Hertz im Leibe Ȧ vnd müssen einem die Augen vbergehen Ȧ wenn man nur höret die Wort erzehlen Ȧ geschweige denn Ȧ wenn man denselben in warer furcht vnd hertzlicher andacht ein wenig nachdenckt. Wie meinen E. L. wol Ȧ daß jhm das Hertz im Leibe für grosser Liebe mus vbergangen vnd gebrochen sein Ȧ da er den lieblichen Vaters Namen höret? Wie mus dis dem Abraham wunden durchs Hertz geschnitten haben ? Mit wz hertzbrechenden Worten gibt er seinem Son antwort Ȧ der ein Stab war seines Alters Ȧ den er jetzund solte hinrichten.Ⱥ126
Während, wie wir gesehen haben, die patristische Tradition eher geneigt ist, den Aspekt des Gehorsams Abrahams zum Leitmotiv der Exegese von Gen 22 zu erheben, konzentrieren sich die lutherischen Ausleger auf die perturbatio Abrahams. Sie besteht darin, daß die Widersprüchlichkeit Gottes nicht nur einen Konflikt des Glaubenden mit Gott, eine Kampfsituation hervorruft, sondern sich auch als affektiver Konflikt konkretisiert. Abraham kämpft nicht nur mit Gott gegen Gott, sondern es streiten auch seine natürlichen Affekte mit dem affectus fidei: die natürliche Vaterliebe zum Sohn mit der Liebe zu Gott. Auch diesbezüglich 124 SѐѕњѢѐј, Historia Abrahae (Anm. 92), 800. Vgl. MѢѠѫѢѠ (Anm. ř6), 249r: „so ist daraus leicht zu ermessen Ȧ wie kümmerlich es zugangen sey Ȧ das er offt für angst besonders vom Wege abgetretten Ȧ auff seine Knie gefallen Ȧ vnnd sein Gebet mit heissen Threnen vnnd Seufftzen gethan Ȧ GOtt wolte jn durch seinen Geist im Glauben stercken Ȧ vnd die vbrige Anfechtunge helffen vberwinden.“ Vgl. Gђёіѐјђ (Anm. 48), 28řr: „Drumb ist abzunehmen Ȧ das Abraham weder zu sehr noch zu lengsam die drey Tage vber gegangen sey Ȧ Dieweil er freylich mit vnausseglichem Schmertzen vmbgeben Ȧ vnd offt beseits gangen von seinen Geferten Ȧ geweinet vnd gebetet Ȧ vnd der bedeutung dieses Befehlichs inniglich nachgedacht.“ 125 Gђёіѐјђ (Anm. 48), 285r. 126 Ebd.
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ist mit Händen zu greifen: Die lutherischen Ausleger betrachten diese Situation nicht von deren Ausgang her – etwa unter dem Hinweis, man müsse die fleischlichen Affekte einfach durch den Gehorsam Gott gegenüber überwinden –, sondern gleichsam von innen. Der unsägliche Konflikt zwischen den natürlichen Affekten und dem Glauben kann nur aus dem Weg geräumt werden, wenn der Kampf mit Gott aufgenommen wird und der Glaube mit Hilfe der Waffe der göttlichen promissio deren Autor, den Deus tentans überwindet. Erst aus dieser Perspektive kann gesagt werden: Die Weißheit lies Abraham fest sein wieder das Väterliche Hertz gegen dem Sohn Ȧ das ist Ȧ er vberwand sein Väterlich Hertz mit GOTTes Wort Ȧ vnd die Kinderliebe mit Gottes Liebe Ȧ vnd hat das jenige gethan Ȧ was Christus gebeut Ȧ daß man den Sohn oder die Tochter nicht mehr lieben sol als GOTt. Denn Gott wil vber alle Creaturen geliebet sein.Ⱥ127
Bemerkenswert ist, daß Schmuck in seiner um Multimedialität bemühten Predigtweise nicht nur bestrebt war, eine Affinität der praktischen Rhetorik zur Bühne als Medium der tractatio biblischer Stoffe herzustellen. Vielmehr nimmt Schmuck auch Bezug auf ikonographische TraditionenȺ128 und intensiviert dadurch Bildlichkeit und Behältlichkeit seiner Rede zugleich. Im Rahmen seiner Predigten über Gen 22 hält Schmuck inne, um eine verbreitete bildliche Darstellung der Opferungsszene richtigzustellen. Nicht selten werde Isaak (– im Widerspruch zu Gen 22,9 –) vor oder auf dem Altar kniend dargestellt, während Abraham ein Schwert in der Hand halte. Diese Abbildungsweise – so Schmuck – ist jedoch abzulehnen, da sie 1. die einschlägigen jüdischen Opferpraktiken nicht beachte und 2. einen Übersetzungsfehler der Vulgata in das Medium ‚Bild‘ prolongiere. Die Vulgata übersetzt ʺʬʫʠʮ(Gen 22,10; vgl. Gen 22,6; Ri 19,29; Prv ř0,14) mit ‚gladium‘ statt mit ‚cultrum‘ (Schlachtmesser; Luther: Messer), wie es – auch nach Johann Gerhard (1582– 16ř7)Ⱥ129 – angemessener wäre. Denn nicht Ȧ wie die Maler diese Geschicht zu malen pflegen Ȧ Jsaac gekniet hat für oder vff dem Altar Ȧ vnd sein Vater außgeholet mit eim Schwert […] darzu vielleicht die alte Version vrsach gegeben, die pro cultro setzet
127 Ebd., 280v. 128 Vgl. als Überblick EљіѠюяђѡѕ LѢѐѐѕђѠі Pюљљі, „Abraham“, in: LCI 1 (1968), 20–ř5, hier: 2ř–ř0. GђџѡџѢё Sѐѕіљљђџ, Ikonographie der christlichen Kunst, 4 Bde., Gütersloh 1966– 1980, Bd. 1, 104. řř8; Bd. 2, 1ř–17. 92. 1řř–1ř8 (und die dazugehörigen Abbildungen); Bd. 4,1, 115. 144. 29ř. ř18. 129 Gђџѕюџё, Commentarius (Anm. 106), 4ř8: „An vocula ʺʬʫʠʮ reddenda per gladium? Ita reddit vulgatus Interpres, unde Abraham vulgò pingitur cum gladio ad feriendam Isaaci cervicem extenso. Sed rectius vertitur per cultrum.“ Vgl. Gђёіѐјђ (Anm. 48), 284r.
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gladium […]. Sondern wie man ein Schaf auff die Schlachtbanck leget Ȧ vnd die Priester im alten Testament die Opffer auff den Altar Ȧ also hat Abraham auch seinen Sohn Jsaac auff den Altar Ȧ oben auff das holtz Ȧ wie Moses sagt Ȧ der lenge nach geleget […] vnd sein Vater hat das Schlachtmesser ergriffen Ȧ jhm wie einem Viehe Ȧ also ligend vnd gebunden Ȧ die keele abzustechen.Ⱥ1ř0
Um die Frage zu beantworten, ob Schmuck hiermit Anteil an der Ingangsetzung einer ikonographischen Neuorientierung bezüglich der Visualisierung von Gen 22 hat, bedürfte es näherer Untersuchungen. Cranachs Werkstatt jedenfalls pflegte Abraham nicht mit einem Messer, sondern – dem Wortlaut der Vulgata folgend – mit einem Schwert darzustellen. Dies gilt sowohl für die Illustrationen zum ersten Teil des von Luther übersetzten Alten Testaments (152ř [vgl. Abb. 1]) als auch für diejenigen zum Bibeldruck aus dem Jahre 1545 (vgl. Abb. 2). Die beiden Holzschnitte unterscheiden sich jedoch insofern, als derjenige aus dem Jahr 152ř Isaak ungebunden und knieend,Ⱥ1ř1 der 1545er den Sohn Abrahams aber bäuchlings und gefesselt auf dem Brennholz liegend darstellt,Ⱥ1ř2 womit zumindest eine der beiden auch von Schmuck geforderten Korrekturen erledigt ist. Auffällig aber ist, daß Cranach die alte ikonographische Tradition fortschrieb, obgleich Luther schon 15ř9 in seiner Genesisvorlesung die Abbildung Abrahams mit einem Schwert kritisiert hatte.Ⱥ1řř Matthäus Merians Kupferstich zu Gen 22 (Abb. ř) indes hätte Schmuck nichts zu wünschen übriggelassen.Ⱥ1ř4 Die Perikope Gen 22 ist für Luther und seine Erben nicht zuletzt darum von so zentraler Bedeutung, weil in ihr – und hierbei kann man sich auf eine bis in die Alte Kirche zurückreichende Auslegungstradition berufen – Opfer, Tod und Auferstehung Christi präfiguriert werden. Auch zur Beschreibung dieses Sachverhaltes werden im übrigen Kategorien des Schauspiels bemüht. Valerius Herberger (1562–1627) spricht davon, daß in Gen 22 „als in einer Comödie gewiesen [wird], was Gott mit dem Messias […] für ein Spiel wird treiben“Ⱥ1ř5. Frühneuzeitlich gelten all diejenigen Schauspiele als Komödien, deren Handlungen einen guten Ausgang nehmen. Eine weitere Motivation, Gen 22 einer Komö1ř0 SѐѕњѢѐј, Historia Abrahae (Anm. 92), 804. 1ř1 Druckgraphiken Lucas Cranachs d. Ä. Bestandskatalog der Druckgraphiken Lucas Cranachs d. Ä. anläßlich der Ausstellung: ‚Im Dienst von Macht und Glauben‘, Wittenberg 1998, 207, Tafel 108. 1ř2 Heilige Schrifft 1545 (Anm. 7), I, 60. 1řř Vgl. WA 4ř,215,2f. 1ř4 MюѡѡѕѫѢѠ Mђџіюћ, Die Bilder zur Bibel. Mit Texten aus dem Alten und Neuen Testament, hg. v. Peter Meinhold, Hamburg 1965, ř8. 1ř5 Hђџяђџєђџ, Magnalia Dei (Anm. 59), ř5ř.
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Abb. 1: LѢѐюѠ Cџюћюѐѕ, Holzschnitt (152ř) zu Gen 22 im ersten Teil des von Luther übersetzten Alten Testaments (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Inc. App. B 52 [aus dem Besitz Johann Melchior Goezes]).
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die gleichzuachten, besteht in folgendem: So wie es die Komödie u. a. an sich hat, transparent zu sein für Konstellationen bzw. Personen des alltäglichen Lebens und durch die verfremdende Inszenierung gerade umso deutlicher auf Bekanntes verweist, so eignet auch der Erzählung Gen 22 eine solche Transparenz in bezug auf den Erzählzusammenhang der Passionsgeschichte. Johann Gerhard nennt Gen 22 ebenfalls eine KomödieȺ1ř6 und bezeichnet diese Perikope zudem als ein „praeludium“Ⱥ1ř7 zu Karfreitag. Im wesentlichen verweist Gen 22 in zweifacher Hinsicht auf die Passionsgeschichte. Einerseits läßt die Verschonung Isaaks auf die resurrectio Christi insofern vorausblicken, als Isaak im Herzen Abrahams bereits drei Tage lang tot gewesen ist und aufgrund des Eingreifens des Engels gleichsam aufersteht.Ⱥ1ř8 Andererseits wird in der Opferung des Widders, der anstelle Isaaks auf den Opferaltar gelegt wird, die stellvertretende Selbstaufopferung des Hohenpriesters Chri-
1ř6 Vgl. Gђџѕюџё, Commentarius (Anm. 106), 440. 1ř7 Ebd., 441. 1ř8 Vgl. WA 14,ř07,7–9: „Isaac imponitur altari, vincitur et debebat offerri, Et in corde patris tantum erat, ac si mortuus esset, tamen adhuc vivus permansit, et aries moritur pro Isaac“. Vgl. Jќѕюћћ Gђџѕюџё, Postilla: Das ist / Erklärung der Sontäglichen vnd fürnehmesten Fest=Euangelien / vber das gantze Jahr […], Jena 161ř, ř Teile und Appendix (HAB Wolfenbüttel 419–420 Theol.), Teil 1, 245. Hier heißt es in der Predigt über den zwölfjährigen Jesus im Tempel (1. Sonntag nach Epiphanias): „Die vorigen zween Tage war Christus im Hertzen seiner Eltern verlohren vnd gestorben Ȧ aber am dritten Tage ward er mit grossen Frewden von jhnen wiederumb funden: Ebener massen wie vorzeiten Jsaac zween Tage im Hertzen seines Vaters Abraham allbereit todt war Ȧ da er Befehl empfangen Ȧ diesen seinen Sohn zu opffern Ȧ vnd sie also drey Tage mit einander giengen Ȧ aber am dritten Tage vernahm er Ȧ daß es nur eine Versuchung gewesen Ȧ vnd daß an Jsaacs stat ein Widder zu opffern Ȧ Genes. 22. Also auch Christus ist biß an den dritten Tag im Grabe blieben Ȧ vnd für den Augen der Jünger wars mit jhm aus vnd verlohren Ȧ aber am dritten Tage ist er wiederumb frölich vnd siegreich aufferstanden Ȧ vnd nach seiner Aufferstehung mitten vnter seine Jünger getreten.“ Vgl. weiter Sюљќњќ GљюѠѠіѢѠ, PHILOLOGIA SACRA, QUA TOTIUS SS. VETERIS ET NOVI TESTAMENTI SCRIPTURAE TUM STYLUS ET LITERATURA, TUM SENSUS ET GENUINAE INTERPRETATIONIS RATIO ET DOCTRINA LIBRIS QUINQUE expenditur ac traditur […], Leipzig 171ř, 459: „Isaacum a parente
Abrahamo ex humili obedientia oblatum eundemque (qui in corde patris habebatur pro jamdum mortuo) in vita conservatum, Gen. XXII, 2. 12. typum gessisse Christi, in mortem a coelesti Patre pro nobis traditi, Rom. VIII, ř2. exque mortuis reducti, insinuatur Hebr. XI, 19. ubi dicitur, quod Abraham receperit Filium suum ™n parabolÍ […].“ Vgl. Cюљќѣ, Biblia (Anm. 89), I, 291b: „De resurrectionis figura videndum. Eam in redivivo filio suo conspicabatur Abraham, qui per triduum in corde Patris mortuus erat, sed postea vivus Patri redditus est.“ An diese Sicht der Dinge schließt sich (unter Bezugnahme auf Glassius und Calov) noch der Hamburger Philologe Johann Christoph Wolf an. Vgl. Jќѕюћћ CѕџіѠѡќѝѕ Wќљѓ, CVRAE PHILOLOGICAE ET CRITICAE, TOMVS IV. IN X. POSTERIORES S. PAVLI EPISTOLAS, Basel 1741, 762.
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Abb. 2: LѢѐюѠ Cџюћюѐѕ, Holzschnitt zu Gen 22 in der Luther-Bibel aus dem Jahre 1545 (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Scrin. C 99:1 [aus dem Besitz Johann Melchior Goezes]).
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stus, des Lammes Gottes (Joh 1,29.ř6), angeschaut.Ⱥ1ř9 Neutestamentlicher Ausgangspunkt für eine derart intensive typologische Beleuchtung von Gen 22 ist in erster Linie Joh 8,56Ⱥ140 (‚Abraham ewer Vater ward fro Ȧ das er meinen tag sehen solt Ȧ vnd er sahe jn Ȧ vnd frewet sich‘). Die Szenerie von Gen 22 wird recht häufig in allen Details fruchtbar gemacht für den typologischen Konnex mit dem Neuen Testament, so z. B., wenn der das Brennholz tragende Isaak (im Anschluß an die patristische Tradition [z. B. Ambrosius, Augustin und Isidor von SevillaȺ141]) wie in der Biblia pauperumȺ142 als Versinnbildlichung des sein Kreuz selbst schleppenden Christus (Joh 19,17) interpretiert wird.Ⱥ14ř Nicht nur im Hinblick auf die 1ř9 Vgl. hierzu z. B. Hђџњюћћ Hђіћџіѐѕ FџђѦ, Therobiblia. Biblisch Thier-, Vogel- und Fischbuch (Leipzig 1595), hg. v. Hђіњќ Rђіћіѡѧђџ (Naturalis historia bibliae 1), Graz 1978, hier: Tierbuch, 49v–51r, bes. 50r: „Bey diesem Opffer ist nicht allein der grosse starcke Glaub Abrahae vnd der löbliche Gehorsam des Jsaacs zu mercken Ȧ vnd wie Gott Abrahae Spruch Ȧ DOMINVS PROVIDEBIT, GOTT wird jhm ersehen ein Schaf zum Brandopffer Ȧ so bald war macht vnd erfüllet Ȧ sondern auch wie Jsaac Ȧ vnd auch der Wieder ein Vorbild ist Jesu Christi Ȧ der hernach zu Jerusalem an stat des Jsaacs Ȧ ist gecreutziget vnd geopffert worden.“ 140 Vgl. z. B. Gђџѕюџё, Commentarius (Anm. 106), 440f.: „Abraham exultavit, ut videret diem meum. Hunc diem Christi, h. e. Filii Dei adventum in carnem, ipsius in his terris conversationem, miracula, passionem, mortem, resurrectionem, (quae interpretatio colligitur ex Hebr. 5. v. 7.) hunc, inquam, diem Christi vidit Abraham, non tantùm in promissione Genes. 12. v. ř. cap. 18. v. 8. nec tantùm in apparitione Genes. 18. v. 2. sed etiam ac cumprimis in hac sacrificii oblatione, ubi praeludium aliquod eorum, quae die parasceves Christo obventura erant, in Spiritu praevidit.“ Daß die Verknüpfung von Joh 8,56 und Gen 22 patristischen Ursprungs ist, wird u. a. deutlich anhand von IџђћѫѢѠ, Adversus haereses 4, 5, 5, FC 8Ȧ4, 42,12–15. OџієђћђѠ, Commentarii in epistulam ad Romanos 4, 7, FC 2Ȧ2, 240,15f. 141 Vgl. AњяџќѠіѢѠ, De Abraham, lib. 1, cap. 8, CSEL ř2Ȧ1, 549,20 und AѢєѢѠѡіћ, De civitate Dei XVI, ř2, CCSL 48, 5ř7,ř5–ř7: „Propterea et Isaac, sicut Dominus crucem suam, ita sibi ligna ad uictimae locum, quibus fuerat et inponendus, ipse portauit.“ Vgl. weiter IѠіёќџ ѣќћ Sђѣіљљю, Quaestiones in Vetus Testamentum, cap. 18, PL 8ř, 250B: „Et sicut Isaac ipse sibi ligna portavit, quibus erat imponendus, ita et Christus gestavit in humeris lignum crucis, in quo erat crucifigendus.“ 142 Vgl. Biblia Pauperum. Armenbibel. Die Bilderhandschrift des Codex Palatinus latinus 871 im Besitz der Biblioteca Apostolica Vaticana, bearb., übers. und komment. v. CѕџіѠѡќѝѕ Wђѡѧђљ bzw. Hђіјђ DџђѐѕѠљђџ, Stuttgart u. a. 1995, 1řr. Wie nachhaltig diese typologische Interpretation gewirkt hat, wird u. a. darin sinnenfällig, daß in Frankreich Darstellungen des zum Opfer schreitenden Isaak belegt sind, die diesen nicht mit Holzscheiten, sondern mit dem Kreuz auf dem Rücken zeigen. Vgl. Kюџљ MҦљљђџ, „Abraham“, in: RDK 1 (19ř7), 82–102. 14ř Vgl. Gђёіѐјђ (Anm. 48), 284v. Vgl. weiter LђѦѠђџ (Anm. 12ř), 91, der den das Brennholz tragenden Isaak „typus Christi, qui crucem suam portavit usque ad locum supplicii“ nennt. Vgl. weiter Sюљќњќ GљюѠѠіѢѠ, Prophetischer Spruch=Postill Erster Theil / Darinnen auff alle vnd iede Fest= vnd Feyr=Tage durchs gantze Jahr / zweene Prophetische Sprüche / Einer aus dem Esaia / der ander aus der folgenden Propheten einem / erkläret / mit dem gewöhnlichen Evangelio verglichen / vnd zu Christlichem Nutzen / im Glauben vnd
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Abb. ř: MюѡѡѕѫѢѠ Mђџіюћ, Kupferstich zu Gen 22.
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Analyse der Erzählung von der Versuchung Abrahams und deren theologische und poimenische Auswertung ist es nötig, mit diesem gleichzeitig zu werden. Vielmehr ist diese Gleichzeitigkeit ebenso Bedingung der Möglichkeit, die prophetischen mysteria von Gen 22 zu entschlüsseln. Darum sagt Johann Gerhard: „Ut haec mysteria in Isaaci immolatione nobis proposita devotè contemplemur, cum Abrahamo ascendamus in montem Moriah, dicentes cum Sponsa coelesti. Cant. 4. v. 6. Vadam ad montem myrrhae & collem thuris.“Ⱥ144 Die Einzelheiten dieser keineswegs erst innerhalb der lutherischen Orthodoxie, sondern bereits bei Luther selbst sich findenden Typologese von Gen 22 sind nun hier nicht das Thema. Gleichwohl soll an einem Beispiel gezeigt werden, daß sich die christologische Interpretation von Gen 22 nicht nur aufgrund von neutestamentlichen Perspektivierungen nahelegt, sondern zudem anschlußfähig bezüglich der rabbinischen Auslegungskunst ist. In Johann Gerhards ‚Postilla Salomonaea‘, einer umfänglichen Predigtsammlung über sämtliche Teiltexte des Hohenliedes, findet sich zum Karfreitag eine Predigt über Hld 4,6 (‚Jch wil zum Myrrhenberge gehen vnd zum Weyrauchhügel‘). Von dieser Stelle aus kommt Gerhard u. a. auf Gen 22 zu sprechenȺ145 und sieht im Anschluß an eine lange
Leben / angeführet werden. Am Ende ist die Erklärung des LIII. Capitels Esaiae / von dem Leiden / Sterben / vnd Aufferstehung Christi; wie auch das XXXIII. Cap. Ezechielis / von dem H. Predig=Ampt / vnd andern Lehr=Puncten / angefüget […], Jena 1642 (Bibliothek des Fachbereichs Evang. Theologie der Universität Hamburg G VI v řř1), 294: „Jsaac der einige Sohn Abrahams Ȧ den er lieb hatte Ȧ ließ sichs in der Arbeit sawr werden Ȧ da er das Holtz auff seiner Schultern zum Berge Moriah trug Ȧ mit welchem er solte zu Aschen vnd Pulver verbrandt Ȧ vnd Gotte also geopffert werden Ȧ 1. B. Mos. 22. v. 6. Aber das war nur Schattenwerck gegen dem rechten Antitypo vnd vollkommenen Gegenbilde Christo Jesu. Der muste in höchster Mattigkeit sein Creutzploch vnd Joch selbst zur Scheddelstett tragen Ȧ Joh. 19. v. 17. Noch nicht war aber dieses die rechte Last Ȧ die jhm auff seiner Seelen lag Ȧ sondern die Sünde der gantzen Welt Ȧ vmb welcher willen er mit der Last des Göttlichen Zorns schier zur Höllenglut getrucket vnd gesencket wurde.“ Zur typologischen Deutung von Gen 22 bei Hülsemann vgl. Sѣђћ GџќѠѠђ, „Fünffeckichte Brustwehr, Schmerzens-Schauspiel, gespießte Fledermauß. Die Passionsbetrachtung im Pentagonum Christianum des Johann Hülsemann“, in: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, hg. v. J. A. Sѡђієђџ in Verbindung mit Rюљѓ Gђќџє Bќєћђџ, Uљџіѐѕ Hђіћђћ, Rђћюѡђ Sѡђієђџ, Mђљѣіћ Uћєђџ und Hђљђћ Wюѡюћюяђ-O´KђљљѦ (Wolfenbütteler Arbeiten zu Barockforschung 4ř), Wiesbaden 2005, ř91–404, hier: 402. 144 Gђџѕюџё, Commentarius (Anm. 106), 444. 145 Vgl. hierzu wie zum folgenden NіђљѠ Bюѐј, „‚Die alten Hebreer haben recht und wol gesagt …‘. Johann Gerhard und die jüdische Schriftauslegung“, in: Von Luther zu Bach. Bericht über die Tagung 22.–25. September 1996 in Eisenach, hg. v. Rђћюѡђ Sѡђієђџ, Sinzig 1999, 179–186. In seinem Genesis-Kommentar nimmt Gerhard umgekehrt von Gen 22 ausgehend Hld 4,6 in den Blick. Vgl. Anm. 144.
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diesbezügliche Tradition und LutherȺ146 in Morija eine typologische Vorabbildung Golgathas.Ⱥ147 Grund hierfür ist im Sinne eines Bindegliedes 2Chr ř,1, wo zu lesen steht, daß der salomonische Tempel just an dem Orte errichtet wurde, wo Isaaks Nicht-Opferung stattgefunden hat. Dieser Berg Morija Ȧ sage ich Ȧ vnd was auff demselben geschehen Ȧ ist ein Vorbild gewesen des bittern Leidens vnd Sterbens Christi Jesu Ȧ welches er auff dem Berge Golgatha oder Scheddelstet vmb vnsert willen ausgestanden […] weil die Auffopfferung Jsaacs Ȧ das Opffer Davids Ȧ vnd alle Opffer altes Testaments Ȧ so im Tempel geopffert worden Ȧ auff das einige Versöhnopffer Ȧ so Christus am Stamm des Creutzes seinem himmlischen Vater dargebracht Ȧ gedeutet haben.Ⱥ148
Eine Identifikation der Lokalitäten Morija und Golgatha kommt unter dem (klassischen) Hinweis darauf zustande, daß Golgatha Teil des mehrere Berge umfassenden Gebirges Morija sei.Ⱥ149 Sehr häufig nimmt 146 Vgl. WA.TR 5,ř9ř,15–17 (Nr. 589ř): „Immolatio Isaac. Isaac, filius unigenitus Abrahae, offertur Deo in monte Moria, ubi templum postea Deo condidit, ita Deus se ipsum offert ¢nt…lutron pro nobis etc.“ 147 Vgl. Gђџѕюџё, Commentarius (Anm. 106), 441. 148 Jќѕюћћ Gђџѕюџё, POSTILLA SALOMONAEA, Das ist Erklärung etlicher Sprüche aus dem Hohenlied Salomonis auff die Sontägliche vnd vornembste Fest Evangelia durchs gantz Jahr gerichtet, vnd Jn der Kirchen S. Michaelis beÿ der Vniversitet Jehna in den ordenlichen Freÿtagspredigten der Gemeine Gottes fürgetragen, 2 Bde., Jena 16ř1 (UB Leipzig St. Thomas 644), I, 6ř7. Vgl. Mюџѡіћ Cѕђњћіѡѧ, HISTORIA Der Passion vnsers lieben HERRN vnd Heilands Jesu Christi / Wie dieselbe von den Vier Euangelisten einhellig beschrieben ist. Aus den Predigten des weilandt Ehrwirdigen / Achtbarn vnd Hochgelarten Herrn Doctoris MARTINI CHEMNITII […] zusammen gezogen / Durch Melchiorem Newkirchen / Pastorn zu S. Peter binnen Braunschweig, Wolfenbüttel 1590 (ULB HalleȦS. AB 155680), 147v: „Darneben gibt dis auch feine gedancken: Dieser ort Ȧ da Christus ist gecreutzigt worden Ȧ ist eben die stete Ȧ da Abraham seinen Son Jsaac hat wollen aus Gottes befehl Ȧ schlachten vnd opffern Ȧ im Lande Moria Ȧ welchen ort Abraham darnach heist Ȧ der HErr sihet Ȧ an welchem ort auch hernach der König Dauid zur zeit der Pestilentz einen Altar gebawet Ȧ vnd geopffert hat Ȧ dadurch Gott zubewegen Ȧ das er die grewliche geschwinde Pestilentz von seinen Vnterthanen abwendete. An diesem ort ist Christus darnach gecreutziget worden Ȧ damit zubeweisen Ȧ dz hie jetzt in Christo alle solche figuren des alten Testaments erfüllet sein worden Ȧ vnd er das rechte Opffer sey Ȧ dadurch Gottes zorn gestillet Ȧ vnd der ewige tod von vns genomen.“ 149 Vgl. Gђџѕюџё, Commentarius (Anm. 106), 441: „Si quis obvertat, Christum crucifixum esse in monte calvariae extra Hierosolymam, non in monte Moriah intra urbem, in quo fuit arx Sionis extructa, notandum est ex Diodoro Siculo, montem Moriah in plures colles & monticulos fuisse divisum.“ Vgl. auch SѐѕњѢѐј, Historia Abrahae (Anm. 92), 81ř: „Dasselbe Opffer wil Gott verrichtet haben Ȧ in dem Lande Morija Ȧ das ist Ȧ zu Jerusalem Ȧ auff eim Berge: Eben an dem ort hat auch der HErr Christus den Todt leiden vnd sich opffern lassen müssen Ȧ auff dem Berge Calvaria, an der Scheddelstat Ȧ welcher Berg des gebirgs Morija ein stück gewesen ist.“ Vgl. Gђџѕюџё, Postilla (Anm. 1ř8), Teil 1, ř41: „Ferner hatte vorzeiten vmb dieselbe Gegend Ȧ Nemlich im Lande Moria Ȧ Abraham seinen Sohn Jsaac Gott dem Hђџџћ auffopffern wol-
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Gerhard, v. a. bei der Exegese alttestamentlicher Texte, Rücksicht auf die rabbinische Auslegungstradition. Bekannt ist, daß die jüdische Exegese zur Zeit der Entstehung der neutestamentlichen Schriften innerhalb der Interpretation von Gen 22 den Aspekt der Bereitschaft Isaaks zur freiwilligen Selbstaufopferung sehr stark in den Vordergrund rückt.Ⱥ150 Innerhalb der rabbinischen Tradition ist mehrfach die Rede davon, daß die Opferung Isaaks wirklich stattgefunden hat (vgl. etwa jTaan 2:1 [65a], BerR 56,9 u. ö.). Hiermit verbindet sich zuweilen eine soteriologisch motivierte Lesart von Gen 22, z. B. im Targum Schir HaSchirim. Hier (1,1ř) ist davon die Rede, daß der Bindung Isaaks eine sühnende Bedeutung zukommt. Denn nachdem das Volk Israel von Jhwh abgefallen war und das goldene Kalb angebetet hatte, begab sich Mose auf den Berg Sinai, um Fürbitte für das Volk zu halten. Währenddessen erinnert sich Jhwh an die Bindung Isaaks und läßt daraufhin von seinem Zorn und der Israel zugedachten Strafe ab.Ⱥ151 Daß diese targumische Auslegungstradition keineswegs eine nur randständige Bedeutung hat, zeigt sich daran, daß sie in das täglich zu betende jüdische MorgengebetȺ152 eingegangen ist. Zudem ist auch im Midrasch Bereschit Rabba (Parascha 56) von der sühnenden Relevanz der Bindung Isaaks die Rede, wenn Rabbi Jochanan dem Patriarchen Abraham folgende an Gott gerichtete Worte in den Mund legt: „[…] deshalb len Ȧ Gen. 22. Weil nun hierinnen Jsaac ein Vorbild Christi gewesen Ȧ so wolte er auch eben am selbigen Orte sich Gott auffopffern Ȧ zu geschweigen jetzo dessen Ȧ daß jhrer viel aus den Vätern dafür halten Ȧ daß Adam eben an demselbigen Ort Golgata soll begraben ligen Ȧ an welchem Christus gecreutziget ist Ȧ anzuzeigen Ȧ daß er als der andere himlische Adam wiederumb vns erwerben wolle Ȧ was wir in dem ersten Adam verlohren haben.“ 150 Vgl. HюћѠ Mюџѡіћ ѣ. Eџѓѓю, Ikonologie der Genesis. Die christlichen Bildthemen aus dem Alten Testament und ihre Quellen, Bd. 2, München u. a. 1995, 148 sowie PюѢљ M. ѣюћ BѢџђћ, „Das Evangelium und die Bindung Isaaks“, in: KuI 11 (1996), 74–81, hier: 78f. 151 „Zu dieser Zeit sprach der Herr zu Mose: Geh, steig herab von hier, dein Volk hat gesündigt. Laß mich allein, so daß ich sie austilgen kann. Daraufhin stand Mose vor dem Herrn im Gebet und erbat Gnade von ihm. Und der Herr erinnerte die Bindung Isaaks, wie er von seinem Vater auf dem Berg Morija an den Altar gebunden war, und der Herr ließ sich erweichen und sein Zorn beruhigte sich und er ließ seine Schechina [seine Gegenwart] unter Israel wie zuvor wohnen“ (zit. nach Bюѐј [Anm. 145], 185). Vgl. zum Zusammenhang: LѢјюѠ KѢћёђџѡ, Die Opferung/Bindung Isaaks. Bd. 1: Gen 22,1–19 im Alten Testament, im Frühjudentum und im Neuen Testament, Bd. 2: Gen 22,1–19 in frühen rabbinischen Texten (WMANT 78Ȧ79), Neukirchen-Vluyn 1998, v. a. Bd. 2. 152 „Gedenke der Bindung [Isaaks], gedenke, wie unser Vater [Abraham] seinen Sohn Isaak auf den Altar gefesselt hat und wie er sein Mitleid überwand, um deinen Willen mit ganzem Herzen zu erfüllen, so werde dein Mitleid deinen Zorn auf uns bezwingen und dein Erbarmen vor das Maß deines Gerichtes kommen“ (zit. nach ebd.).
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bitte ich dich, Ewiger, unser Gott! wenn die Nachkommen Jizchaks in Sünden und böse Handlungen gerathen, sei ihnen seiner Akeda (Opferwilligkeit) eingedenk und erbarme dich ihrer!“Ⱥ15ř Indem Gerhard Hld 1,1ř typologisch auf Christus hin auslegt, nimmt er Bezug auf den soeben skizzierten Zusammenhang: Der Berg Moriah hat seinen Namen von der Myrrhen Ȧ wie in der Chaldaischen Bibel vom Onkelos vertiret, an demselben Ort zu befinden Ȧ dieweil auff demselben viel Myrrhen Ȧ Aloe vnd Zimmet gewachsen. Jn solcher Historia ist Jsaac ein Vorbild gewesen des himlischen Jsaacs Christi JEsu Ȧ welcher auff dem Berge Golgatha Ȧ so nahe beym Berge Moriah gelegen Ȧ vnd in vnserm Hohenlied der Myrrhenberg genennet wird Ȧ seinem himlischen Vater zum süssen Geruch sich aufgeopffert Eph. 5. Dannenhero auch die Chaldaische Dolmetschung dieses vnsers Sprüchleins vns auff dieselbe Historiam zurück weiset. [Marginal:] Recordatus est Dominus inclinationis Isaaci, qui ligatus fuerat à Patre suo in monte Moriah super altare.Ⱥ154
Gerhard weiß also, daß er mit seiner Auslegung, der zufolge sich in Gen 22 der Versöhnungstod Christi typologisch vorabbildet, in der Nähe der rabbinischen Exegese steht. Dies äußert sich auch darin, daß Gerhard im Anschluß an die rabbinische Tradition das Motiv der freiwilligen Bereitschaft Isaaks, als Opfer dargebracht zu werden, als Vorabbildung der bereitwilligen Selbsthingabe des Sohnes Gottes interpretiert.Ⱥ155 Hieran liegt Gerhard auch sonst: Nämlich zu zeigen, daß es trotz aller Differenzen zwischen der jüdischen und christlichen Sicht der Dinge einen frappierenden consensus der lutherischen Exegese und derjenigen der ‚alten Hebräer‘ gibt.Ⱥ156 15ř Der Midrasch Bereschit Rabba. Das ist die haggadische Auslegung der Genesis (Bibliotheca Rabbinica 2. 4f. 8. 10f.), Leipzig 1881 (Reprint Hildesheim u. a. 1992), 270. 154 Gђџѕюџё, Postilla Salomonaea (Anm. 148), 429f. Vgl. ähnlich Jќѕюћћ Gђџѕюџё, Erklährung der Historien des Leidens vnnd Sterbens vnsers HErrn Christi Jesu nach den vier Evangelisten, hg. v. J. A. Sѡђієђџ (Doctrina et Pietas I,6), Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, ř11. 155 Vgl. ebd., 57 im Anschluß an Midrasch Bereschit Rabba, Parascha 55 (zu Gen 22,1): „Da Jsaac das Holtz tregt Ȧ darauff er solte zum Brandopffer geschlachtet werden Ȧ vnd als sie kamen an die Stete Ȧ die jhm Gott saget Ȧ bawet Abraham daselbst einen Altar Ȧ vnd leget das Holtz darauff Ȧ vnnd band seinen Sohn darauff Ȧ nicht zwar Ȧ daß sich der Sohn geweigert Ȧ denn wie die vornemsten der Hebreer rechnen Ȧ ist er das mal bey ř7. Jahr alt gewesen Ȧ vnd hette gar leicht entfliehen mögen Ȧ aber darumb band er jhn Ȧ damit nicht in der Schlachtung das Holtz zum Opffer geordnet Ȧ verworffen würde. Das ist nun das gröste vnnd vornehmste im Leiden Christi Ȧ daß er williglich gelitten Ȧ aus grosser Liebe Ȧ welche er gegen das arme menschliche Geschlecht getragen.“ 156 Vgl. J. A. Sѡђієђџ, „Die Rezeption der rabbinischen Tradition im Luthertum (Johann Gerhard, Salomo Glassius u. a. ) und im Theologiestudium des 17. Jahrhunderts. Mit einer Edition des universitären Studienplanes von Glassius und einer Bibliographie
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Die hermeneutische Bedeutung typologischer Auslegung beschränkt sich bei Luther und seinen Erben keineswegs auf die christologische Interpretation des Alten Testaments. Vielmehr ist die Typologese Teil der ihr noch einmal übergeordneten Programmatik der geistlichen, figürlichen und mystischen Hermeneutik, der es darum zu tun ist, alle Texte der Heiligen Schrift im Sinne der analogia fidei so auszulegen, daß die Botschaft des Heiligen Geistes anschaulich werde und sich den Herzen einbilde, d. h. einpräge.Ⱥ157 Hierfür sei aus der von Luther ausgehenden Auslegungstradition zu Gen 22 noch ein zentrales Beispiel kurz vorgestellt. Der Umstand, daß Esel und Knechte im Tale verbleiben, Abraham und Isaak jedoch den Berg Morija hinansteigen, wird von Luther (wie von der lutherischen Tradition) per allegoriam folgendermaßen geistlich interpretiert. Im Esel und den Knechten gelangen der alte Adam,Ⱥ158 die menschliche Vernunft, die sich in Glaubensdingen nicht zur Richterin aufschwingen darf,Ⱥ159 und das Gesetz zur Abbildung, das lediglich über den Leib zu herrschen,Ⱥ160 im Gewissen aber nichts zu suchen hat.Ⱥ161 In Abraham und Isaak aber bilden sich die fides und die durch diese frei gewordene conscientia ab.Ⱥ162 „Darüm soll der Esel unten auf Erden
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der von ihm konzipierten Studentenbibliothek“, in: CѕџіѠѡіюћђ Cюђњњђџђџ u. a. (Hgg.), Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. Beiträge zur Tagung Kloster Zinna 29.9.–01.10.1997 (Chloe řř), Amsterdam 2000, 191–252. Vgl. J. A. Sѡђієђџ, Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla. Mit Edition zweier christologischer Frühschriften Johann Gerhards (SHCT 104), Leiden u. a. 2002, 147–208. Vgl. WA 14,ř08,22. Vgl. Sђљћђѐјђџ (Anm. 89), 552. Vgl. CюѠѝюџ GќљёѡѤѢџњ, Die Fürnemsten / schöne vnd Tröstliche Allegorie vnnd Geystliche Bedeutunge / des Ersten Buchs Moysi / von allen fürnehmen Patriarchen vonn Adam an biß auff Joseph / darinn nach geystlicher erklärung Christus sampt seinem Reich vnnd Regimennt / vnnd der standt / wesen vnd gestalt / der jetzigen waren Christlichen Kirchen erkläret vnd angezeygt wirdt / Sehr nützlich vnnd tröstlich zu diesenn zeytthen zu lesen […]. Mit einer tröstlichen Vorrede Philippi Melanthonis. Jn wöllicher der vnnderschiedt warer vnnd falscher Kirchen angezeygt wirdt, Frankfurt a. M. 1552 (HAB Wolfenbüttel 250.10 Theol. [1]), P 2v: „Das ist Ȧ wir sollen den alten Adam vnser fleisch vnd blut Ȧ nicht zu hoch in Göttlichen sachen steigen lassen Ȧ Sonnder denselbigen im gehorsam niderig vnd demütig halten.“ Nur auf diese Weise – so Goldtwurm – ist gewährleistet, daß die Vernunft den Glauben nicht verdirbt. WA 14,ř09,9–11: „Ita lex non est zu furen uber die conscientiam, sed solum super corpus, ut externam honestam conversationem gerat.“ Vgl. Mђћєђџіћє (Anm. 102), 598 unter Bezug auf Luthers Tischreden: „Der Esel soll vnten auff Erden bleiben vnd seine Last tragen Ȧ h. e. Der Leib sol dem Gesetz vnterworffen bleiben Ȧ aber das Gewissen sol mit Jsaac auff den Berg steigen Ȧ dz ist Ȧ nichts vom Gesetz vnd Wercken wissen Ȧ sondern allein an dem Evangelio hangen.“ Vgl. SѐѕњѢѐј, Historia Abrahae (Anm. 92), 782f.: „Vnd also sol man auch dem Esel Ȧ vnserm alten Adam thun Ȧ den sündlichen lüsten Ȧ affecten vnd gedancken Ȧ das
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bleiben und seine Last tragen, das ist, der Leib mit seinen Gliedern soll dem Gesetz unterworfen sein; aber das Gewissen soll mit Isaac auf den Berg steigen, das ist, nichts vom Gesetz und Werken wissen, sondern allein an dem Euangelio hangen, das die Seligkeit verheißet Allen, die an Christum gläuben.“Ⱥ16ř Mag man diese Auslegung für gewollt oder gar für erzwungen halten, so ändert sich dieser Eindruck rasch, wenn man folgendes in Betracht zieht. Die soeben skizzierte Allegorese steht in Konkurrenz zu einer anderen, die vor allem im Bereich der Alten Kirche verbreitet war. Nicht nur Isidor von Sevilla und mit ihm andere, sondern auch die ‚Glossa ordinaria‘ meinten, im Esel die „stultitia Judaeorum“Ⱥ164 symbolisiert sehen zu können. An diesem Beispiel zeigt sich, wie die reformatorisch-hermeneutische Neuorientierung auch eine solche bezüglich der Allegorese mit sich brachte und eine De-Antijudaisierung der Exegese nach sich zog, wie sie z. B. auch in der Auslegung der Passionsgeschichte sinnenfällig wird.Ⱥ165
Zur Exegese von Gen 22 im Zeitalter der Aufklärung und im 19. Jahrhundert Zum Schluß sei noch ein Ausblick gestattet, der mit der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts zu tun hat. Wir haben gesehen, daß Luther und seinen Erben daran gelegen ist, Gen 22 so zu interpretieren, daß hierbei der Perspektive des in tiefster Anfechtung steckenden Abraham Rechnung getragen wird. Diesen Zusammenhang greift später Sören KierkegaardȺ166 in ‚Furcht und Zittern‘ auf. Er plädiert dafür, Gen 22 nicht
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man dieselbe auff den Berg Gottes nicht lasse Ȧ sondern vnten an binde. Wenn man für Gott treten vnd beten wil Ȧ so sol man sich aller frembder gedancken entschlahen Ȧ vnd das hertz zu Gott alleine richten Ȧ das vns der Esel im Gebet nicht verwirre. […] der Glaub allein Ȧ der kan den Berg auffsteigen Ȧ der ist Gott willkommen vnd angenem Ȧ nicht die elenden werck Ȧ die wir doch wie der Esel gezwungen thun Ȧ wie solche allegoriam der Herr Lutherus im deutschen Genesi, vnd in der Epistel an die Galater anführet Ȧ vnd dieses als Sprichwortsweise brauchet Ȧ Asinus maneat in valle, der Esel sol im Thal oder vnten am Berge bleiben.“ WA.TR 6,1ř8,17–21 (Nr. 6709). IѠіёќџ ѣ. Sђѣіљљю, Quaestiones in Vetus Testamentum, cap. 18, PL 8ř, 250C: „Asinus autem ille insensata est stultitia Judaeorum. Ista insensata stultitia portabat omnia sacramenta, et quod ferebat nesciebat.“ Vgl. hierzu Eџѓѓю (Anm. 150), 169. Vgl. J. A. Sѡђієђџ, „Nachwort“, in: Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 154), 479–505, hier: 498f. Vgl. hierzu HюџѡњѢѡ RќѠђћюѢ, „Die Erzählung von Abrahams Opfer (Gen 22) und ihre Deutung bei Kant, Kierkegaard und Schelling“, in: NZSTh 27 (1985), 251–261.
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vom „Ausgang“Ⱥ167 her zu lesen, sondern den „Schmerz der Prüfung“Ⱥ168 sowie „die Angst, die Not, das Paradox“Ⱥ169 stark zu machen. Wo ich über ihn [scil. Abraham] reden sollte, würde ich zuerst den Schmerz der Prüfung schildern. Zu dem Ende würde ich einem Egel gleich alle Angst und Not und Qual heraussaugen aus dem Leiden eines Vaters, damit ich es beschreiben könnte, was Abraham litt, indessen er bei alledem dennoch glaubte. Ich würde daran erinnern, daß die Reise drei Tage währte und ein gut Stück des vierten, ja, diese dreieinhalb Tage sollten unendlich viel länger werden als die paar tausend Jahre, die mich und Abraham scheiden.Ⱥ170
Nur so kann man nach Kierkegaard dem ‚Dennoch‘ des Glaubens Abrahams ansichtig werden. Demgemäß arbeitet Kierkegaard heraus, daß die „Doppelbewegung“ und der Glaube Abrahams „kraft des Absurden“Ⱥ171 darin bestehen, daß dieser nicht in „Resignation“Ⱥ172 verfällt, er darum Isaak nicht aus falsch verstandener Gottesliebe sofort und „hier zu Hause“Ⱥ17ř opfert, aber auch nicht den ihn prüfenden Gott verwirft, sondern das „Paradox“Ⱥ174 aushält und sich auf den Weg einer Dreitagesreise macht.Ⱥ175 Diese Reise muß der Leser gleichsam mitvollziehen, um die Befindlichkeit des Versuchtseins von innen heraus kennenzulernen. Ähnlich wie bei Luther besteht die Glaubens-Paradoxie des Kierkegaardschen Abraham darin, daß er glaubt, Isaak in der Zeit wiederzubekommen, gleichwohl aber, falls dies nicht geschehen sollte, festhält an der Gewißheit, daß sich die promissio Gottes spätestens am Jüngsten Tag erfüllen wird. Kierkegaard wendet – hierin einen hermeneutischen Grundsatz Johann Georg HamannsȺ176 übernehmend – den biblischen Text biographisch, liest ihn als Dechiffrierung seiner eigenen Lebensgeschichte und sieht an der Stelle Abrahams sich selbst, an derjenigen Isaaks aber Regine stehen. Immanuel Kant (1724–1804) hat bekanntlich im ‚Streit der Fakultäten‘, seine vom moralischen Sittengesetz als Auslegungsnorm bestimm-
167 SҦџђћ Kіђџјђєююџё, Gesammelte Werke, hg. v. EњюћѢђљ HіџѠѐѕ und HюѦќ GђџёђѠ, Abt. 4, Köln 21986, 68. 168 Ebd., 56. 169 Ebd., 69. 170 Ebd., 56. 171 Ebd., ř4. 172 Ebd., řř. 17ř Ebd., ř5. 174 Ebd., ř6. 175 Ebd., ř5. 176 Vgl. hierzu OѠѤюљё BюѦђџ, „Wer bin ich? Gott als Autor meiner Lebensgeschichte. Zum 250. Geburtstag von Johann Georg Hamann am 27. August 1980“, in: ThBeitr 11 (1980), 245–261.
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te Hermeneutik auf Gen 22 anwendend, eben diesen Text, dessen Spannung nihilierend, gleichsam neu erzählt. Abraham hätte, ausgehend vom Axiom der Unmöglichkeit eines Selbstwiderspruches Gottes, letzterem von vornherein Widerstand leisten müssen: Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: ‚Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden‘, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallte.Ⱥ177
Kant also unterwirft Abraham und den Erzählzusammenhang von Gen 22 einer moralischen Rezension der sich als autonom definierenden Vernunft, setzt dabei jedoch offenbar den an Abraham ergangenen göttlichen Befehl als real-historisch voraus, während Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) – vergleichbar mit und offenbar im Anschluß an den Deisten Thomas Morgan, dessen Werk ‚The moral philosopher‘ Reimarus besaßȺ178 – die vernünftige Undenkbarkeit, ja „Unanständigkeit“, mithin die historische wie moralische Unmöglichkeit eines solchen Befehls darzutun versucht. „Kann Gott wohl eine Handlung befohlen haben, die ihm ein Greuel ist, und die in der Schrift so oft verdammt wird?“Ⱥ179 Reimarus erhebt die menschliche ratio zur alleinigen Richtschnur für die Interpretation der biblischen Erzählung, erkennt in ihr das ausschließliche Prinzip der Beurteilung dessen, was historisch notwendig einerseits und unmöglich andererseits ist und unterstellt dem als Urvernunft definierten Gott totale Widerspruchslosigkeit. Der Befehl zur Tötung des eigenen Kindes verträgt sich nicht nur nicht mit den „Vollkommenheiten des höchsten Wesens, und den Pflichten der Menschen gegeneinander“.Ⱥ180 Vielmehr würde dies auch „ein schädliches Beyspiel der
177 IњњюћѢђљ Kюћѡ, Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, 9 Bde., Berlin 1968, hier: Bd. 7, 6ř, Anm. 178 Vgl. TѕќњюѠ Mќџєюћ, The Moral Philosopher. Vols. I–III London 1738–1740. Faksimile-Neudruck in einem Band, hg. und eingeleitet v. Gҿћѡђџ GюѤљіѐј, Stuttgart-Bad Cannstatt 1969, vol. 2, 127f.: „I had urged, that as the Matter of this Command is contrary to the Law of Nature, to the Moral Perfections of God, and to all the Affections, Passions, and Sentiments which God himself has implanted in human Nature, it must be unreasonable and incredible in itself, and in the Nature and Reason of Things.“ Vgl. Auktionskatalog der Bibliothek von Hermann Samuel Reimarus. Redigiert v. Johann Andreas Gottfried Schetelig Hamburg 1769 und 1770, hg. v. der Reimarus-Kommission der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e. V. Hamburg und der Lessing-Akademie e. V. Wolfenbüttel, Hamburg 1978Ȧ1980, Bd. 1, 79 (Nr. 927–929: „The moral philosopher. Lond. 7ř8–740. ř Voll. Engl. B.)“ 179 Hђџњюћћ SюњѢђљ RђіњюџѢѠ, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, hg. v. Gђџѕюџё Aљђѥюћёђџ, Frankfurt a. M. 1972, Bd. 1, 2ř8. 180 Ebd.
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Nachahmung“Ⱥ181 bieten, was nicht mit Gottes Gerechtigkeit in Einklang zu bringen wäre. Dergestalt bricht Reimarus in jeglicher nur denkbarer Hinsicht mit der Auslegungstradition, lehnt es ab, anzunehmen, daß Gott, der Allwissende, der Versuchung bedarf („Gott als ein Hertzenskündiger braucht keine Versuche“Ⱥ182), und hält es für „unbedachtsam […], in solchen Greueln ein Vorbild des allergrösten Geheimnisses des Christlichen Glaubens zu suchen“Ⱥ18ř. Abraham, der in der reformatorischen Tradition als das exemplum fidei par excellence gilt, mutiert bei Reimarus zum Inbegriff einer durch keinerlei Aufklärung erleuchteten Geisteshaltung höriger Blindheit: „Wenn Menschen einmal die Richtschnur gesunder Vernunft verlassen, so sind sie in Gefahr, es sey durch eigene Einbildung, oder durch blinden Glauben, zu den gröbsten Irrthümern und Frevelthaten unsinnig hingerissen zu werden.“Ⱥ184 Den Grund dafür, daß dieser an vernünftig-moralischen Maximen gemessen völlig absurde Text im Kanon der alttestamentlichen Schriften zu stehen gekommen ist, sieht Reimarus einzig und allein in der Tatsache, daß der geistig unbedarfte Kompilator des ersten Buches Mose aus heterogenen Quellen geschöpft hat und nicht im Stande war, die für diese Arbeit eigentlich notwendige Kritikfähigkeit an den Tag zu legen.Ⱥ185 Weit weniger radikal, aber die Spannungen des Textes ebenfalls deutlich glättend, interpretiert der Hallenser Neologe, Urenkel August Hermann Franckes und Konrektor der Franckeschen Stiftungen August Hermann Niemeyer (1754–1828) Gen 22. Niemeyer hat sich zu diesem Text nicht nur in seiner mehrfach aufgelegten und verbreiteten ‚Charakteristik der Bibel‘ geäußert, sondern zudem das Libretto zu Johann Heinrich Rolles (1716–1785) ‚Abraham auf Moria. Ein religiöses Drama für Musik‘ verfaßt.Ⱥ186 Einerseits steht Niemeyer klar erkennbar insofern in der lutherischen Auslegungstradition, als er seinen Lesern Abraham als Exempel des Glaubens vor Augen stellt. Andererseits aber rückt Niemeyer doch sehr viel stärker den Aspekt des Gehorsams des Patriarchen in den Vordergrund, knüpft insofern an die patristische Tradition
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Ebd. Ebd., 2ř9. Ebd. Vgl. ebd., 240. Ebd., 2ř9. Vgl. ebd., 241: „Ich sehe hier keinen andern Weg, wie diese Erzehlung (oder Haggadah) unter die übrigen hat gerahten können, als daß der Geschichtschreiber seine Sammlung, aus verschiedenen alten Chroniken, ohne Reflexion und Critik, zusammen getragen.“ 186 [AѢєѢѠѡ Hђџњюћћ NіђњђѦђџ (Textdichter)] Ȧ [Jќѕюћћ Hђіћџіѐѕ Rќљљђ (Komponist)], Abraham auf Moria. Ein religiöses Drama für die Musik. Von dem Verfasser der Charakteristik der Bibel, Leipzig 1777 (ULB HalleȦS. Goe 2ř19).
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an und empfiehlt Abraham als ein nachzuahmendes Vorbild, das sich in ruhiger Ergebenheit in den Willen Gottes schickt: „Ohnfehlbar ists jenes vollkommne Ruhen in dem Willen des HErrn, jene stille Ueberzeugung, was seine [scil. Gottes] Vorsicht beschließe, müsse allemal gut seyn, und wenn auch die ganze Natur dafür bebe, so sey es doch Pflicht, sich ganz zu unterwerfen.“Ⱥ187 Hatten Luther und seine Erben von einem Kampf des glaubenden Abraham mit dem ihn versuchenden Gott und zugleich von einem Konflikt des Patriarchen mit seiner ihm natürlich eignenden väterlichen Liebe gesprochen, so reduziert Niemeyer dies auf eine innerliche Auseinandersetzung in Abraham, auf „den Kampf in Abrahams Seele“.Ⱥ188 Das „väterliche Gefühl“, das sich über Gottes Opferbefehl zunächst „empört“Ⱥ189 indes, überwindet Abraham durch die ihm eignende, letztlich moralisch begründete „Stärke des Geistes“, die in der „feste[n] Ueberzeugung“Ⱥ190 kulminiert, daß es eben Gott ist, der diesen Befehl ausspricht. So nimmt es nicht wunder, daß das Luthersche Motiv des glaubenden Abraham, der – selbst schwach – die Macht der göttlichen promissio im Glauben gegen Gott in Anschlag bringt, mithin den ihm durch den Opferbefehl zugemuteten Konflikt auf Gott selbst zurückwirft, bei Niemeyer nicht zu finden ist. Der Bereitschaft, seinen Sohn zu opfern, geht nach Niemeyer die Selbstaufopferung des Abrahamschen Willens voran. „So muß man den Gehorsam des Helden ansehn, um ihn in seiner ganzen Größe zu kennen, wie er so seinen Willen ganz dem höheren immer guten Willen der Gottheit aufopfern kann.“Ⱥ191 Zwar trifft es zu, daß Niemeyer ausführlich die affektiven Folgeerscheinungen des göttlichen Befehls in Abraham zur Sprache bringt, und ähnlich wie in der barock-lutherischen Auslegungstradition bezeichnet Niemeyer auch die mit der Anrede „Mein Vater!“ eingeleitete Frage Isaaks, wo denn das Opfertier sei, als einen „Schlag […] an Abrahams Herz“.Ⱥ192 Anders indes als in der lutherischen Auslegungstradition spiegelt sich in dieser inneren Konfliktlage nicht gleichsam der höhere Konflikt, den Abraham mit Gott austrägt. Vielmehr ist diese stark akzentuierte affektive Disposition Abrahams nur gleichsam die Folie, vor deren Hintergrund die obsiegende Moralität des Patriarchen umso deutlicher zum Leuchten kommt. „Jch sehe hier den Gottesverehrer in seiner ganzen Stärke, sehe die Religion in ihrer ganzen Kraft. Glaube und Gehorsam auf der höchsten Stufe! Er weiß es, Gott redet, und Gott 187 188 189 190 191 192
AѢєѢѠѡ Hђџњюћћ NіђњђѦђџ, Charakteristick der Bibel. Zweyter Theil, HalleȦS. 51795, 171. Ebd., 162. Ebd. Ebd., 16ř. Ebd., 165. Ebd., 166.
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muß man mehr als Menschen, auch mehr als sich gehorchen.“Ⱥ19ř Nach Niemeyer überwindet Abraham sich selbst und zwar aufgrund seiner moralischen Integrität. Luther zufolge siegt Abraham über Gott, indem er mit Gott dessen Verheißung gegen den Autor eben dieser ins Feld führt und darum letzteres behält. Die innere Zerrissenheit Abrahams ist nach Niemeyer also nur eine vorübergehende, und ihr – und dies ist allemal wichtiger – korrespondiert keine Widersprüchlichkeit in Gott, worin sich das letztlich rationalistische Axiom zur Geltung bringt, daß von Gott sämtliche contradictiones fernzuhalten sind. Damit hängt eng zusammen, daß Niemeyer Abraham mit Hiob parallelisiert – und zwar dergestalt, daß er Hiob ebenfalls als ein exemplum tranquillitatis präsentiert, dessen Worte Abraham im Munde führt, indem er sagt: „der HErr gab ihn [scil. Isaak], der HErr nimmt ihn, sein Name sey gelobt“.Ⱥ194 Dabei wird jedoch mit keinem Wort erwähnt, daß die zitierten Worte Hiobs einen schärfer wohl kaum denkbaren Kontrast in der Tatsache finden, daß dieser Gott zugleich anklagt, ja klagend gegen ihn aufbegehrt. Wie Abraham – so Niemeyer – soll sich ein jeder Mensch in „Gelassenheit“Ⱥ195 klaglos in den Willen Gottes schicken. Auch wenn die Leiden der Christen „tausendmal schrecklichere“ wären als sie es tatsächlich sind, dürften „wir dennoch den Mund vor ihm nicht aufthun […], und wenn er uns vernichten wollte, [müßten] wir es ohne Widerrede dulden“.Ⱥ196 Kurz: Dem gehorsamen Christen ist es wie Abraham um „Unterwerfung“Ⱥ197 zu tun, und er darf gewiß sein: „solcher Gehorsam bleibt nicht unbelohnt“.Ⱥ198 Wie stark hier der Lohngedanke im Vordergrund steht, wird auch deutlich daran, daß Niemeyer (ähnlich wie Johann David MichaelisȺ199) die Wiederholung der göttlichen Verheißungsworte nach ausgestandener Prüfung als Belohnung apostrophiert, die Gott Abraham zuteil werden läßt: „Solches Anhangen an Gott, solcher Gehorsam gegen den, der nichts Böses wollen kann, verdient den Lohn, der ihm bald darnach angekündigt wird. ‚Durch deinen Saamen sollen alle Völker gesegnet werden, weil du meiner Stimme gehorchet hast.‘“Ⱥ200 Ziel der göttlichen Versuchung, die nach Niemeyer letztlich einem pädago19ř 194 195 196 197 198 199
Ebd., 169. Ebd., 168. Ebd., 172. Ebd., 17ř. Ebd., 174. Ebd., 175. Vgl. MіѐѕюђљіѠ (Anm. 68), I, 52, hier die Übersetzung von Gen 22,18: „und in deinem Saamen sollen alle Geschlechte der Erden sich für geseegnet halten. Und dis alles zur Belohnung dafür, daß du mir gehorchet hast.“ 200 NіђњђѦђџ (Anm. 187), 169.
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gischen Prozeß gleichkommt, ist es, einen Stoizismus höherer Ordnung einzuüben, der in einer solchen Ataraxie kulminiert, die im Unterschied zur stoischen Sicht der Dinge die Affekte nicht dadurch unter Kontrolle bringt, daß diese gewissermaßen der Sublimation zum Opfer fallen, sondern bestrebt ist, affektive Ausgeglichenheit zu erreichen. Heiden haben schon eine solche Größe bewundert, so wenig sie in ihren wankenden Lehrgebäuden Kraft fanden, sie zu üben. Jhr Stoicismus ist nur ein Schatten davon. Wo das Gefühl der Menschheit betäubt ist, da ist Gelassenheit nur Fühllosigkeit. Die Ruhe, von der wir reden, die wir in Abraham gesehen haben, war eine andre. Sie war es, die dem allerempfindlichsten Schmerzen eines Vaterherzens das Gegengewicht hielt […].Ⱥ201
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) hat sich in der ‚Philosophie der Mythologie‘ und in der ‚Philosophie der Offenbarung‘ eingehend mit Gen 22 befaßt. Anders als Kant und Reimarus liest Schelling diesen Text nicht von den Prämissen der moralischen bzw. historisch argumentierenden Vernunft her, sondern entziffert ihn im Kontext seines Theorems von der prozessualen Selbstexplikation Gottes im Alten Bund, die sowohl den absoluten Monotheismus als auch den Polytheismus aus sich herausgesetzt hat. Die Selbstvervielfältigung Gottes ist nach Schelling nicht nur die Bedingung der Möglichkeit der Präsentwerdung des Ewigen in der Geschichtlichkeit, sondern auch der Grund dafür, daß – wie Schelling, sich von der sog. UrkundenhypotheseȺ202 schroff absetzend, entfaltet – in der Genesis von ‚Elohim‘ und ‚Jhwh‘ die Rede ist. Elohim ist der Name des allgemeinen Gottes, den auch die Heiden noch fürchten; Jehovah ist hingegen nur der, der von den Abrahamiten als der schlechthin Eine Gott unterschieden wird. Daß der Wechsel der Namen auf einem reellen Unterschied beruht, erhellt besonders auch noch aus solchen Umständen, daß es z. B. Elohim, der allgemeine Gott war, der auch der Gott der Heiden ist, durch den Abraham versucht wird, seinen Sohn nach Weise der Heiden zum Brandopfer zu bringen; dagegen ist es der erscheinende Jehovah, der ihn von dieser Handlung zurückruft.Ⱥ20ř
In Schellings Rede von Gott A (Jhwh) und Gott B (Elohim), dem „absolut Einen“ und dem „relativ Einen“, der als „Seyender“ stets „Werdender“Ⱥ204 ist, lebt letztlich der Luthersche Topos von der in Gottes versuchendem Handeln sich dokumentierenden göttlichen contradictio in religionsphilosophischer Brechung weiter. Auf den ersten Blick, so Schelling, 201 Ebd., 176. 202 Vgl. Oѡѡќ KюіѠђџ, Einleitung in das Alte Testament, Gütersloh 51984, 47–50. 20ř Fџіђёџіѐѕ Wіљѕђљњ JќѠђѝѕ Sѐѕђљљіћє, Philosophie der Mythologie. Nachschrift der letzten Münchener Vorlesung, hg. v. AћёџђюѠ RќѠђџ u. a., Stuttgart-Bad Cannstatt 1996 (Schellingiana 6), 126. 204 Ebd., 129.
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mag es so scheinen, als sei es „unmöglich, daß derselbe Gott, der nach der Sündfluth ausgesprochen: Ich will des Menschen Leben rächen an einem jeglichen Menschen, von Abraham das Leben des eigenen Sohnes fordere“Ⱥ205. Dem jedoch setzt Schelling vermittels eines impliziten Rückgriffes auf die dialektisch-paradoxale Verhältnisbestimmung von deus absconditus und deus revelatus entgegen, daß conditio sine qua non von Gottes Offenbarung dessen Sich-Ungleich-Sein ist: „Die Offenbarung ist also von Seiten Gottes nicht möglich, ohne daß er im Bewußtseyn unmittelbar ein anderer, ja sich selbst ungleicher ist.“Ⱥ206 Gott kann nach Schelling nur und ausschließlich in diesem Sich-Ungleich-Sein gefaßt werden, was allerdings eine Entgrenzung der Vernunft und die Verabschiedung sämtlicher den Erzählzusammenhang von Gen 22 auf einen vernünftigen Nenner bringenden Erklärungen schlechterdings voraussetzt. Denn nur so kann begriffen werden, daß der Abraham versuchende Elohim, der das „Ungöttliche“Ⱥ207 repräsentiert, durch den „Malach Jehova“Ⱥ208, also den intervenierenden Engel, nicht einfach in seine Schranken gewiesen oder gar ersetzt wird, sondern diese Dualität der gegenläufigen, ja widersprüchlichen göttlichen Prinzipien notwendig zur Wesensbestimmung Gottes gehört und Bedingung der Möglichkeit seines Schöpferseins sowie seines Geschichtshandelns ist. Denn der, der bloß Elohim genannt wird, ist für sich nicht der wahre Gott; aber dieser Elohim + die zweite Persönlichkeit kann der wahre Gott heißen. Hier erscheint wieder das allbekannte Verhältnis, daß derselbe Gott als der eine setzt oder fordert, was er als der andere aufhebt oder verbietet, wie schon in der Natur es offenbar ist, daß ein und derselbe Gott, als der eine etwas setzt oder bejaht, als der andere es wieder aufhebt, verneint, zu erscheinen verbietet. So ist es auch hier. Der Elohim, der den Abraham versucht, ist nicht der wahre Gott in der Sollizitation; er wird erst zum wahren Gott in der Aufhebung der Sollizitation; und weil bei der Sollizitation auch schon die Aufhebung vorausgesetzt wird, insofern kann er auch in der Sollizitation der wahre Gott genannt werden […]. Von der andern Seite ist auch die aufhebende Persönlichkeit für sich nicht der wahre Gott; denn als der wahre Gott erweist er sich erst in der Aufhebung der Sollizitation.Ⱥ209
Ähnlich wie Luther die Relation zwischen Deus absconditus und Deus revelatus definiert, zeichnet auch Schelling anhand von Gen 22 das dia205 Fџіђёџіѐѕ Wіљѕђљњ JќѠђѝѕ Sѐѕђљљіћє, Philosophie der Offenbarung, [hg. v. Kюџљ Fџіђёџіѐѕ AѢєѢѠѡ Sѐѕђљљіћє], Stuttgart 1858 (Reprint Darmstadt 1959), 2 Bde., hier: Bd. 2, 122. 206 Ebd., 12ř. 207 Fџіђёџіѐѕ Wіљѕђљњ JќѠђѝѕ Sѐѕђљљіћє, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, 2 Bde., hg. v. Wюљѡђџ E. Eѕџѕюџёѡ (PhB 445), Hamburg 1992, 486. 208 Ebd. 209 Ebd., 486f.
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lektische Verhältnis von Gott A und Gott B in den Farben der paradoxalen Grundaussagen der altkirchlichen Zwei-Naturen-Lehre. Weder Gott A noch Gott B sind für sich genommen wahrhaft Gott. Vielmehr erhält der jeweils eine erst durch den jeweils anderen – gleichsam perichoretisch – „in der Zusammenwirkung“Ⱥ210 das wahre Gottsein des einen Gottes. „Also nur beide zusammen sind der wahre Gott.“Ⱥ211 Damit hängt aufs engste zusammen, daß Schelling in Gen 22 den hermeneutischen Schlüssel, ja die Richtschnur, für die angemessene Interpretation nicht nur des Alten Testaments insgesamt, sondern für die Entzifferung der göttlichen Offenbarung insgesamt sieht: Diese Erzählung von der Versuchung des Abraham ist nun gleichsam urbildlich für die Erklärung des ganzen Alten Testaments; sie ist der Kanon für die Erklärung des Alten Bundes und so für die Erklärung der Offenbarung überhaupt.Ⱥ212
Denn Offenbarung – so Schelling – kann nur dort stattfinden, wo die Spannung zwischen Gott A und Gott B (biblisch gesprochen: zwischen Gott, der in die Hölle führt einerseits und aus der Hölle errettet andererseits [1Sam 2,6]), sich für einen Moment ausgleicht. Offenbarung aber könnte nicht sein, wäre diese innergöttliche Spannung nicht vorhanden, die sich entlädt, um sich je neu aufzubauen und so fortan. Wo die beiden Elektrizitäten in der höchsten Spannung sich ausgleichen, da ist Lichterscheinung. Die Erleuchtung, die dem Bewußtsein im Alten Testament zuteil wird, ist auch eine solche, die aus einer momentanen Aufhebung der Spannung hervorgeht; eben darum setzt die Offenbarung diese Spannung immerwährend voraus.Ⱥ21ř
Es bedarf kaum des Hinweises darauf, daß Kierkegaards ‚Furcht und Zittern‘, aber auch Schellings Exegese von Gen 22 nur angemessen entzifferbar sind, wenn man die lutherische Auslegungsgeschichte zu Gen 22 mit im Blick hat. Zugleich aber fällt auf, daß Schelling zwar den in der zeitgenössischen aufklärungs-theologischen Exegese, aber auch bei Schleiermacher untergegangenen Aspekt der auf Gott selbst zurückfallenden, ja in ihm gründenden Paradoxie und Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit neu aufgreift und eigenständig verarbeitet. Kierkegaard indes nimmt sich anders als sein Lehrer Schelling zusätzlich der Topik der durch Abrahams Glaubensrenitenz zu überwindenden Widersprüchlichkeit Gottes an.
210 211 212 21ř
Ebd., 487. Ebd. Ebd., 488. Ebd., 491f.
,In summa angustia animi‘ – Jakobs Kampf mit Gott Luthers Auslegung von Gen ř2 auf dem Hintergrund der patristischen Tradition von Aљђѥюћёђџ Dќяяђџѡ-DѢћјђџ Das Buch Genesis berichtet in Kap. ř2 davon, wie der Erzvater Jakob sich darauf vorbereitet, seinem Bruder Esau zu begegnen, von dem er nichts Gutes zu erwarten hat. In der Nacht vor ihrem Zusammentreffen bringt Jakob alles, was er hat, über den Jabbok und bleibt allein: „Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach“ (v. 25). Mit diesen Worten beginnt der Bericht eines Zwischenfalls, der den Kontext der Kapitel Gen ř2 und řř unterbricht. So unvermittelt tritt der rätselhafte „Mann“ auf die Bühne und beginnt einen Kampf mit Jakob, daß der Leser der biblischen Erzählung kaum weniger überrascht ist als der Protagonist dieses Abschnittes. Auch am Ende ist die unerwartete Begegnung Jakobs und des Mannes überraschend, da sich herausstellt, daß es Gott selbst gewesen ist, der mit Jakob gerungen hat: „Ich habe Gott von Angesicht gesehen und meine Seele ist genesen“ (v. ř1), stellt Jakob fest. Daß Jakob ein wenig begriffsstutzig ist, erst jetzt zu erkennen, wer es war, der ihn angegriffen hat, ist man versucht, Jakob aus der höheren Warte des Lesers vorzuhalten. Jakob hatte doch vorher schon einen eindeutigen Hinweis auf die Identität seines Gegners erhalten, als der ihm einen neuen Namen verliehen hatte: Jakob solle nunmehr „Israel“ heißen: „denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist obgelegen“ (v. 29). Daß Jakob nicht gleich versteht, was mit diesem neuen Namen gemeint ist, sollte man ihm aber nicht zum Nachteil anrechnen. Auch die Ausleger haben gerade diesen Vers sehr unterschiedlich verstanden und übersetzt. Bedeutet Israel „Gottesfürst“Ⱥ1 oder „Der, der Gott schaut“Ⱥ2, 1 2
Vgl. HіђџќћѦњѢѠ, Hebraicae quaestiones in libro Geneseos (CCSL 72, 40f.). Z. B. bei AѢџђљіѢѠ AѢєѢѠѡіћѢѠ, De civitate Dei XVI, ř9 (CCSL 48, 545): „Interpretatur autem Isarel ‚uidens Deum‘, quod erit in fine praemium sanctorum omnium.“ Diese Übersetzung ist bei den Vätern weit verbreitet, wie auch Hieronymus bezeugt, der
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oder, mit einer Übertragung Luthers: „‚Gottes kempffer‘, ‚Qui luctans cum Deo vincit‘“ ?Ⱥř Die Erzählungen vom Kampf Jakobs und von der Opferung Isaaks (Gen 22) stehen einander in Luthers Auslegung sehr nahe. Als Thema beider Erzählungen wird von Luther Gottes Handeln als Versucher der Menschen ausgemacht; es ist Gottes „fremdes Werk“, um das es in beiden geht: Gottes Handeln, durch das er sich den Menschen fremd macht. Es geht um Gottes Zorn, der an die Stelle seiner Gnade tritt, Gottes Gericht, das sich dunkel vor die hellen Verheißungen schiebt. Die Kirchenväter hingegen fassen die Erzählung über Jakobs Kampf nicht dezidiert unter die Überschrift der Versuchung. Es sind andere Aspekte, die die altkirchlichen Ausleger dieses Textes leiten: Die Frage nach der Tugend Jakobs beispielsweise, oder auch die Identifikation von Jakobs Gegner mit dem präexistenten Christus. Der Rückblick auf die Auslegungstradition der Kirchenväter zeigt – so kann einleitend zusammengefaßt werden –, daß die Auffassung von Jakobs Kampf als VersuchungȺ4 eine Besonderheit Luthers ist. Die gleichlautende thematische Einordnung von Gen 22 und ř2 kann mithin auch als Ausdruck von Luthers eigenständigem hermeneutischen Ansatz verstanden werden, den Luther bei gleichzeitiger Wertschätzung der Väter als Gesprächspartner in der theologischen Argumentation geltend macht. Im folgenden sollen einige Grundzüge der altkirchlichen Auslegung von Gen ř2 rekonstruiert werden. Mein Interesse ist dabei allerdings vor allem auf Luthers Verständnis dieses Textes gerichtet. Es stellen sich mir dabei zwei Fragen: Erstens welche Neuansätze im Vergleich mit den Kirchenvätern bei Luther sichtbar werden (dazu Abschnitt II.); und zweitens, wie diese Neuansätze in den Zusammenhang von Luthers Theologie und seiner Hermeneutik einzuordnen sind (III.). – Zunächst soll jedoch Luthers Auslegung von Gen ř2 im Zusammenhang mit den Grundeinsichten seiner Theologie dargestellt werden (I.). Luther erblickt in Jakob, der am Jabbok mit Gott kämpft, ein Vorbild. Indem sich der Angefochtene dieses Bild vor Augen hält, kann er erkennen, daß Gott zu überwinden ist, auch wenn er uns augenscheinlich ins Verderben stürzen will. Die Auslegung von Jakobs Kampf, die Luther in seiner Genesisvorlesung und in einigen Predigten vorgetragen hat, will zeigen, wie der Gläubige auf dem Kampfplatz der Versuchung bestehen
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kritisiert, sie sei „omnium paene sermone detritum“ (Quaest., 41, 10), obwohl sie mit dem hebräischen Konsonantenbestand nicht vereinbar sei. WA 24,577,16. Vgl. zum Unterschied zwischen altkirchlichem und reformatorischem Verständnis der Versuchung: Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ, „Versuchung III. Kirchengeschichtlich“, in: TRE ř5 (200ř), 52–64.
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kann, wie jeder einzelne Gott in dieser Situation seinen Segen abringen kann. In welchem Kontext Luther Jakobs Kampf – und auch die anderen biblischen Versuchungsgeschichten – versteht, ist eindrücklich formuliert im Sendbrief, den Luther seiner Schrift „Vom Mißbrauch der Messe“ (1521) voranstellt.Ⱥ5 Der Brief ist an die „Augustiner zu Wittenberg“ adressiert, die „yn yhrer samlung den mißbrauch der Messen hab[en] angefangen ab tzthun.“Ⱥ6 Luther bringt zum Ausdruck, daß er über diesen Schritt zwar „hoch erfrewet“ ist.Ⱥ7 Er fragt jedoch: „Was wirt aber geschehen, ßo yhr yn der gantzen welt von allen menschen, auch von den frummen, klugen, heyligen und weyßen, alle hon, schmach, laster und unehre leyden werd und als gottis lesterer geacht werden“?Ⱥ8 Luther gibt den Mönchen in Wittenberg zu bedenken, daß nur mit einer unerschütterlichen Gewißheit ein solcher „Sturm“ zu überwinden istȺ9 und verweist mit eindringlichen Worten auf seine eigene Erfahrung: „O wie mit viel grösser mühe und arbeyt, auch durch gegründte heylige schrifft, hab ich meyn eygen gewissen kaum konnen rechtfertigen, das ich, eyner alleyn, widder den Bapst habe dürffen auff tretten, yhn fur den Antichrist hallten, die Bischoff fur seyn Aposteln, die hohen schulen fur seyn hurr heußer!“Ⱥ10 Luthers Herz habe oft „getzappellt, [ihn] gestrafft und [ihm] furgeworffen yhr eynick sterckist argument: Du bist alleyn klug?“Ⱥ11 Hier nun verweist Luther auf das Vorbild Jakobs: [E]s muß mit solchen gewissen glawben und vertrawen gehandelt werden, das wyr nicht alleyn die urteyl der gantzen welt als strew und sprew achten, ßondern das wyr ym todt wider den teuffel und alle seyn macht, auch gegen dem gericht gottis zu streytten geschickt seyn und mit Jacob gott durch eyn solchen starcken glawben uberwinden.Ⱥ12
Der Kampfplatz, auf dem der Mensch gegen Gott zu bestehen hat, ist das Gewissen, das „uns mancherley weyß tzu sunder fur gott mach[t] unnd ewig verdamm[t], es sey denn, das [es] mit dem heyligen, starcken
5 6
7 8 9 10 11 12
WA 8,482f. WA 8,482,5f. Unter dem „Mißbrauch“ ist zu verstehen, was Luther an der römischen Abendmahlstheologie kritisierte: Einerseits die Auffassung des Abendmahls als verdienstvoller Wiederholung des Opfers Christi; andererseits die Lehre von der durch den Priester bewirkten Transsubstantiation der Elemente. WA 8,482,7. WA 8,482,16–18. WA 8,482,2ř. WA 8,482,28–ř2. WA 8,48ř,1f. WA 8,48ř,12–16.
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und warhafftigen wort gottis allenthallben wol verwart unnd beschyrmet [ist]“.Ⱥ1ř Diese Sätze fassen ein Kernstück der Theologie Luthers zusammen und enthalten auch alle Grundzüge von Luthers Auslegung des Kampfes, den Jakob zu durchstehen hat. Als Motto ließe sich über den gesamten Zusammenhang die Übersetzung stellen, die Luther zum Namen „Israel“ gibt, der Jakob nach dem Kampf verliehen wird: Israel bedeutet, wie Luther in einer Predigt ausführt: „‚Gottes kempffer‘, ‚Qui luctans cum Deo vincit‘“.Ⱥ14 In seinem Kampf am Jabbok gewinnt Jakob gegen keinen geringeren Gegner als Gott selbst. Im Kampf Gott zu überwinden heißt aber für Luther nicht „seine gewalt uberwinden, sondern das jhenige, das er ynn unserm gewissen ist und gefület wird, uberwinden, Wie die schrifft redet, das sich Gott verwandlet, wenn wir verwandlet werden, Er ist on wandel an yhm selbs, noch verwandlet er sich uns so wunderlich, das machet, das sich unser gewissen verwandlet“.Ⱥ15 Der Glaubende – so Luther – überwinde „nicht seine [scil. Gottes] Majestet, sondern sein werck, das er an uns thut.“Ⱥ16 Die einzige Waffe, die in solchem Kampf hilft, ist der Glaube an Gottes Verheißungen, an das Evangelium, der sich durch kein „zweites“ Wort, das auf die Zusage des Heils folgen mag, beirren läßt. Dem Angefochtenen legt Luther Worte kämpferischer Gewißheit in den Mund: sum baptisatus, sum absolutus, accepi pignus salutis meae, corpus et sanguinem Domini in coena. Nihil igitur aliud videre, nec audire volo. Sed vivam et moriar in hac fide, sive Deus, sive angelus, seu Diabolus contrarium dicat.Ⱥ17
Die Situation des Glaubenden zeichnet sich nun aber dadurch aus, daß Gott immer wieder ein zweites Wort auf die Zusage seiner Gnade folgen läßt, das die Gültigkeit der Gnadenzusage in Zweifel zieht. Wie Luther selbst sich solchen Infragestellungen immer wieder ausgesetzt fühlte, die sein Herz „zappeln“ ließen, findet sich in seinem Brief an die Wittenberger Augustiner deutlich ausgedrückt. Im Kern von Luthers Auslegung steht die Spannung zwischen Gottes Verheißung und ihrer augenscheinlichen Infragestellung. Daraus ergibt sich für den, der an Gottes Wort glaubt, die folgenschwere Frage, wie der Gegensatz zwischen Verheißung und Infragestellung zu überbrücken sei. Die einzig mögliche Antwort ist nach Luther ein Fest- und Durchhalten des Glaubens, der am Wort allein hängt. Es ist dies der 1ř 14 15 16 17
WA 8,48ř,21–2ř. WA 24,577,16f. WA 24,578,28–ř2. WA 24,579,10f. WA 44,98,5–9.
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zentrale Gedankengang für die Auslegung von Gen ř2 wie für diejenige der „Opferung Isaaks“, der auch in der Interpretation anderer biblischer Versuchungsgeschichten wiederkehrt. Inwiefern ist diese Auffassung des Kampfes Jakobs genuin Luthersch? Um diese Frage zu klären, sollen nun einige Kirchenväter zu Wort kommen. Ich ziehe sie heran als ein Gegenüber, mit dem Luthers Auslegung ins Gespräch gebracht werden kann. Sachgemäß kann die Darstellung der altkirchlichen Exegese anhand von drei Aspekten gegliedert werden, die die Väter an Gen ř2 entdecken: Erstens wird der Kampf allegorisch als eine Vorausverkündigung der Menschwerdung und des Kreuzes Christi gedeutet. Zweitens wird Gen ř2 moralisch ausgelegt. Dabei erscheint Jakob vor allem als Vorbild des Kampfes eines Christen um Tugend. Der dritte Aspekt, den die altkirchlichen Ausleger verfolgen, ist die Fragestellung, was der Kampf Jakobs über das Handeln Gottes besagt: Welche Absicht verfolgt Gott damit, Jakob in einen Kampf zu verwickeln? 1. Die allegorische Deutung des Kampfes, den Jakob am Jabbok führt, auf Menschwerdung und Kreuz Christi ist bei den Vätern relativ häufig anzutreffen. Gen ř2 wird so beispielsweise bei Justin dem Märtyrer in seinem „Dialogus cum Tryphone“Ⱥ18 verstanden. Ansatzpunkt für ihn und andere VäterȺ19 ist, daß Jakobs Gegner im Text anfänglich als „Mann“ bezeichnet wird (v. 24), Jakob nach dem Kampf aber bekundet, er habe „Gott von Angesicht“ gesehen (v. ř0). In diesem Wechsel der Bezeichnungen für das Gegenüber Jakobs sei ausgedrückt, daß Menschheit und Gottheit in Christus zusammenkommen. Einen prophetischen Hinweis auf die Passion erblicken einige Väter wiederum darin, daß Jakob seinen Gegner niederringt. Beispielhaft für dieses Verständnis ist Augustin. In „De civitate Dei“ führt er aus: „Nam quod ei [scil. Christo] praeualuit Iacob, utique uolenti, ut mysterium figuraret, significat passionem Christi“.Ⱥ20 Als Gesprächspartner für den Vergleich mit Luthers Auslegung soll Hilarius von Poitiers zu Wort kommen. Er geht in seiner Abhandlung „De Trinitate“Ⱥ21 dem Zusammenhang von Jakobs Kampf mit der Menschwerdung Gottes in Christus und mit der Passion nach. Hilarius 18
19
20 21
JѢѠѡіћѢѠ MюџѡѦџ, Dialogus cum Tryphone, hg. v. MіџќѠљюѣ Mюџѐќѣіѐѕ (PTS 47), BerlinȦ New ork 1997. Gen ř2 wird im Zusammenhang der cap. 55. 58 und 126 thematisiert (159f.168–172.287–289). Vgl. zum Beispiel die Deutung des Kampfes bei JќѕюћћђѠ CюѠѠіюћѢѠ, De incarnatione Domini contra Nestorium (CSEL 17); Gen ř2 wird in lib. VII, cap. 9, ř64–ř66 thematisiert. AѢџђљіѢѠ AѢєѢѠѡіћѢѠ, De civitate Dei XVI, ř9 (CCSL 48, 545,5f.). HіљюџіѢѠ PіѐѡюѣіђћѠіѠ, De Trinitate V,19 (CCSL 62, 169f.).
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stellt fest, daß Jakob im Kampf der Stärkere sei; sein Gegner sei ihm hilflos unterlegen. Daraus ergibt sich für Hilarius die Frage, warum Jakob um den Segen seines Gegners bittet, den er vom Unterlegenen auch ohne jede Bitte einfordern könnte. Dies sei nur dadurch zu erklären, daß Jakob in „uisu fidei“ etwas anderes wahrnehme als mit „corporis oculis“.Ⱥ22 Zwar und allerdings sei der Mann, den Jakob „in gestu luctae [s]uae“ halte, ein „hom[o] infirmu[s].“ Für Jakobs Wahrnehmung aber sei „hic […] homo Deus uerus“. Hilarius hebt die Differenz hervor zwischen dem, was Jakob tut, und dem, was er empfindet. Er führt – Jakob anredend – aus: „Infirmis secundum te homo est, sed anima tua secundum uisum Deum saluata est“. Jakob konnte, so Hilarius, zwischen körperlicher Wahrnehmung und geistlicher Wirklichkeit unterscheiden. Darum habe er sich nicht durch die ‚infirmitas‘, die ‚inbecillitas‘ seines Gegners irreführen lassen und trotzdem den Segen von ihm demütig erbeten. Den Schluß dieses Gedankenganges bildet nun seine „allegorische“ Anwendung: Daß der Mann, den Jakob als Gott erkennt und von dem er den Segen erlangt, Jakob dennoch körperlich unterlegen ist, erklärt sich nach Hilarius nämlich allein dadurch, daß hier das „Mysterium“ der Passion Christi abgebildet sei.Ⱥ2ř Auch in Luthers Auslegung ist die Beobachtung zentral, daß Jakob mit Gott ringt. Unser Text – so führt Luther aus – „agit de sublimi illa tentatione, qua dimicandum est Patriarchae Iacob non cum carne et sanguine, aut cum Diabolo: sed adversus Deum ipsum.“Ⱥ24 Dabei ist allerdings zu beachten, daß Luther, wenn er wie im Zitat vom Kampf gegen „Gott“ spricht, zwar einerseits selbstverständlich die Person des Sohnes im Blick hat. – In seiner Genesis-Vorlesung führt Luther z. B. explizit aus, daß der Mann, mit dem Jakob gekämpft hat, „Christus, Dominus noster“ gewesen ist.Ⱥ25 – Aber andererseits darf nicht übersehen werden, daß Luther in der Auslegung von Gen ř2 vor allem am Lehrstück De Deo interessiert ist: Reflexionen über die hinter dem Angriff auf Jakob stehende Absicht Gottes, also über die Zielsetzung der tentatio, bilden den theologischen Fluchtpunkt von Luthers Auslegung; dies allerdings so, daß immer unterschieden wird zwischen der Perspektive des Angefochtenen selbst und der Perspektive des theologischen Nachdenkens über die Anfechtung.
22 2ř 24 25
De trin., ebd., 169,12f.: „Non hoc corporis oculis tui cernis, quod uisu fidei tuae sentis.“ Jakobs Gegner „subditur […] secundum carnem“. Dies geschieht „ad mysterium passionis in carne.“ (De inc., ebd., 170,15f.; Hervorhebung durch mich.) WA 44,9ř,ř–5. Vgl. WA 44,96,ř9f.; 102,17f.
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Weiterhin entsprechen sich Luther und die zitierten Väter in der Feststellung, daß der Kampf erst dann seinen wahren Charakter offenbart, wenn er mit den Augen des Glaubens gesehen wird. Erst dann ist nämlich die Identität des Gegners zu erkennen. Jedoch ist besonders bei Hilarius Jakob als der souverän Deutende verstanden. Jakob ist der unangefochtene Sieger, der durch eine Leistung gläubiger Wahrnehmung im Unterlegenen Christus erkennt. Aus vorbildlicher Demut sieht er sich dazu genötigt, von ihm den Segen zu erbitten. Der Angriff ist für Jakob nach Hilarius jedoch kein Problem, geschweige denn eine Anfechtung; er ist der Sieger, sein Gegner, ein „schwacher Mann“, liegt hilflos in Jakobs „Kampfgriff“. Bei Luther stellt sich der Ablauf des Kampfes umgekehrt dar: Er sieht in Jakob denjenigen, der nur um ein Haar davonkommt. Aus seiner existenzbedrohenden Unterlegenheit rettet ihn nur der Glaube, der die unwandelbare Gnade Gottes in höchster Not erkennt und als das einzig Rettende ergreift, auch dann, wenn sich Gott so stellt, als wolle er ihn „erwürgen“.Ⱥ26 Bei Luther ist der Glaube immer in dieser Weise verstanden: als stark in seiner Schwäche, als ein glimmender Docht, der fast verloschen ist (vgl. Jes 42,ř), aber zugleich „proximum est, ut incendatur.“Ⱥ27 Der Glaube ist, wie in diesem Bild zum Ausdruck kommt, immer darauf angewiesen, erneut entzündet zu werden. Das Kreuz Christi ist bei Luther im Vergleich mit den zitierten Vätern in genau entgegengesetzter Weise der Schlüssel zum Verständnis des Kampfes: Bei ihm ist es Jakob und nicht sein Gegner, der im Kampf zu einem Exempel des Kreuzes wird: Gott stellt sich Jakob gegenüber, der die Bedrohung durch Esau fürchtet, als wolle er ihn nun obendrein selbst „gar erwürgen“. Daran knüpft Luther die Deutung auf das Kreuz an, indem er feststellt, Gott habe „[a]lso auch mit Christo“ getan: „als er yhn wolt zu einem könige machen, hub ers an mit grossen wundern und krafft, aber da ers am besten solt sein, lesset er yhn am creutz sterben als einen verzweivelsten böswicht“.Ⱥ28 Es geht Luther nicht um die gläubige Schau des Gekreuzigten, sondern um die Erfahrung des Glaubenden: Wenn er Gott bittet, ihn vom Tode zu erretten, so wird er von Gott zunächst in den Tod hineingeführt.Ⱥ29 Dadurch erfährt der Glaubende, daß er auf die göttliche Verheißung angewiesen ist, die in Christus gegeben ist. Nicht die – tendenziell distanzierte – Schau des Gekreuzigten, son-
26 27 28 29
Vgl. WA 24,574,6. WA 44,101,17f.; vgl. WA 44,100,řřf. WA 24,574,17–19. Vgl. ebd.
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dern die unmittelbare – und ohnmächtige – Angewiesenheit auf ihn ist die Weise der Vergegenwärtigung Christi, die Luther im Blick hat. 2. Augustin ist beispielhaft für den zweiten Aspekt der patristischen Exegese von Gen ř2: der Auffassung Jakobs als eines moralischen Vorbildes. Von Augustin ist eine Predigt „De luctatione Iacob cum angelo“Ⱥř0 überliefert, in der das gesamte Kap. ř2 ausgelegt wird. In dieser Predigt vertritt Augustin eine Deutung des Kampfes am Jabbok nach dem sensus moralis. Es geht Augustin um Jakobs Rolle in diesem Kampf, die ihm als Vorlage dient, um daraus die rechte Weise abzuleiten, in der sich Christen zu den Kämpfen ihres Alltags verhalten sollen. Er fragt: „Quid est ergo quod luctabatur et uult tenere?“Ⱥř1 Einen Hinweis gewinnt Augustin aus Mt 11,12: Das Himmelreich leidet Gewalt, und die ihm Gewalt antun, reißen es an sich. – Wie kann sich aber der einzelne Christ derart des Reiches Gottes bemächtigen und daran „festhalten“, wie es Jakob getan hat? Augustin fordert seinen Zuhörer auf: „Luctare, ut teneas Christum, ut diligas inimicum. Tenes enim Christum hic, si inimicum dilexeris.“Ⱥř2 Feindesliebe also ist das Mittel, um wie Jakob den Kampf zu bestehen, der „tenuit fortiter et perseuerauit et de manibus non amisit quod amisit Adam.“Ⱥřř Die Auffassung Jakobs als eines Vorbildes, aus der moralisch-adhortative Aussagen abgeleitet werden, ist mit einer zweiten Argumentationslinie eigentümlich verquickt. Augustin knüpft sie an den Ruf von Jakobs Gegner: „Laß mich los, denn es ist bereits morgen“ (v. 27) an, den er wiederum allegorisch auslegt. Daß Christus, der eigentlich der Kämpfer ist, nicht berührt werden will, kann nicht im Literalsinn gemeint sein, vermutet Augustin, da Christus sich ja zu Lebzeiten auch hat berühren lassen. Diese Aufforderung muß also „figurate“, sinnbildlich, zu verstehen sein. Einen gleichlautenden Ausspruch findet Augustin in Joh 20,17. Dort versucht Maria Magdalena, den auferstandenen Christus festzuhalten, der ihr entgegnet: „Berühre mich nicht! denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater.“ Ausgehend von dieser Schriftstelle stellt Augustin fest: Illa mulier ecclesia erat. Et hoc est: ‚Noli me tangere‘, noli me carnaliter tangere, sed qualis sum aequalis patri. Quamdiu autem non me intellegitis aequalem patri ‚noli me tangere‘, quia non me, sed carnem meam tangis.Ⱥř4
ř0 ř1 ř2 řř ř4
AѢџђљіѢѠ AѢєѢѠѡіћѢѠ, Sermones de Vetere Testamento, Sermo V (CCSL 41,51ff.). Sermo V, ebd., 57,227. Ebd., 57,229–2ř1. Ebd., 59,277f. Ebd., 58,251–254.
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Augustin formuliert also ausgehend von der Aufforderung „Laß mich los!“ die Notwendigkeit einer Glaubensgewißheit. Ein „Festhalten“ der Nächstenliebe ist nur dann möglich, wenn damit ein Festhalten Christi im Glauben verbunden ist. Aber Jakob hält doch immerhin seinen Gegner leiblich fest. Dieser vom Text Gen ř2 ausgehend gemachte Einwand bringt Augustin dazu, seinen Gedankengang nochmals zu erweitern, indem er feststellt: [P]er carnem nos prius benedicit dominus. Norunt fideles quid accipiunt, quia per carnem benedicuntur. Et sciunt quia non essent benedicti, nisi caro illa crucifixa daretur pro saeculi uita.Ⱥř5
Augustin stellt einen Bezug zum Abendmahl zwar nicht explizit her, aber es kann wohl gesagt werden, daß die leibliche Nießung des Abendmahls im Hintergrund dieser Aussage steht. Augustin betont dabei, daß erst der Glaube an die lebenschaffende Kraft des Kreuzes das „Wissen“ (scientia) der Gläubigen begründet, das das „leibliche“ Festhalten Christi zu einem fruchtbringenden geistlichen Festhalten macht, indem es zugleich ein Festhalten der Nächstenliebe ist. Ein weiterer Zug der Erzählung, den Augustin allegorisch auslegt, ist das Nebeneinander von Segen und Verletzung als Ergebnis des Kampfes. Jakob errang dadurch den Segen, daß er seinen Gegner festhielt, wurde aber auch durch Berührung seines Gegners an einer Hüfte lahm. Durch Anwendung der Allegorese wird die tiefere Bedeutung dieses Umstandes für Augustin verständlich. Er führt aus: „Pars arida Iacob christianos malos significat, ut in ipso Iacob et benedictio sit et claudicatio.“Ⱥř6 Wie die Kirche ein corpus permixtum ist, ist auch Jakob gesegnet und „verdorrt“ zugleich. Jakob, der zu Israel wird, ist also in dieser Geschichte auch eine Figur der Scheidung: Zwischen wahren und „schlechten“ Christen. Oder auch – so in Augustins De civitate Dei ausgeführtȺř7 – eine Figur der Scheidung zwischen den Juden und den Christen. Der Gedankengang, den Augustin in Anlehnung an Gen ř2 entwikkelt, folgt insgesamt einem vom Glauben zur Tat verlaufenden Gefälle. Jakob wird bei Augustin zu einem Vorbild im Kampf um die Verwirklichung der Nächstenliebe, in dem der Christ immer vom Scheitern bedroht ist. Dieser potentiellen Bedeutung von Gen ř2, die auch von anderen Vätern immer wieder aufgenommen wurde, geht Luther nicht nach. Bei ihm geht es nicht zuerst um das Tätigwerden des Glaubens, sondern darum, den Glauben selbst in der Situation der Anfechtung nicht zu
ř5 ř6 ř7
Ebd., 58,27ř–276. Ebd., 59,280f. De civitate Dei XVI, ř9.
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verlieren. Die Beziehung zum Nächsten, auf den sich die Tätigkeit des Christen richtet, ist für Luther nicht der Schlüssel zum Verständnis von Gen ř2; Jakob ist nicht als der vorbildlich Handelnde verstanden. Es ist vielmehr Jakobs Gottesbeziehung, die im Vordergrund steht, und diese Beziehung wird durch Gottes Handeln an Jakob gestiftet. Die Bewegung, die Luther unter dieser Perspektive an Jakob – und genauso an Abraham angesichts des Opferbefehls – wahrnimmt, hat deshalb keine unmittelbar ethische Valenz. Es ist vielmehr die Bewegung hin zum Wort der göttlichen Verheißung, um die es geht. Luther zieht dementsprechend aus Gen ř2 die Aufforderung, ein Christ müsse bereit sein, „in hanc arenam descendere, et certamen cum Deo suscipere“, denn: „ubi conspicitur et viget usus harum [scil. Dei] promissionum“. Dem, der sich weigert, in die „arena“ zu treten, muß nach Luther eines klar sein: „Ibi tua culpa stertendo et oscitando amittis certissimas promissiones et Christum ipsum“,Ⱥř8 denn solange das Wort der Verheißung „nicht versucht ist, so ist es kald und schmeckt nicht.“Ⱥř9 Denselben Gedanken kann Luther auch anhand des Gegensatzes von Vernunft und Glaube entfalten: Es ist demnach Gottes mit der Versuchung verfolgte Absicht, „das er die vernunfft zuschanden mache, wilche nicht gleuben, sondern wissen wil, wie, wo und wenn, auff das der glaube rawm habe und lasse Gott machen.“Ⱥ40 – Luther erkennt den Glaubenden als mere passive vor Gott gestellt: Entblößt von jeder Möglichkeit, selbst zu handeln, ist der Mensch auf Gottes Gnadenhandeln angewiesen. Eine Auslegung des Kampfes am Jabbok im Sinne des sensus moralis würde diesen Zusammenhang nur verschleiern. Eine solche Auslegung muß unter der Voraussetzung, daß der Mensch als mere passive erkannt ist, als unsachgemäße, dem Text nicht entsprechende Verkürzung erscheinen. ř. Der dritte Aspekt, unter dem die Väter Gen ř2 betrachten, kann an Auslegungen der griechischen Theologen Johannes Chrysostomos und Clemens Alexandrinus verdeutlicht werden. Sie stellen Mutmaßungen darüber an, welche Absicht Gottes hinter dem Kampf mit Jakob steht. Diese Perspektive unterscheidet sich von Auslegungen nach dem sensus moralis und fragt nach dem im engeren Sinne theologischen Gehalt der Erzählung. Clemens Alexandrinus widmet sich in seinem Werk über den Paidagwgo ,j Ⱥ41 Jakobs Kampf am Jabbok. Der Bericht in Gen ř2 gilt Cle-
ř8 ř9 40 41
WA 44,104,ř4–ř7. WA 24,576,7. WA 24,574,27–29. CљђњђћѠ AљђѥюћёџіћѢѠ, Paedagogus I, VII (GCS 12,121ff.).
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mens als ein Beispiel für das Handeln des göttlichen „Pädagogen“, also Christi, an den Menschen. Über den ‚Mann‘, der mit Jakob gekämpft hat, führt Clemens aus, ou-toj h=n o` a;nqrwpoj o` a;gwn kai. fe,rwn( o`
suggumnazo,menoj kai. avlei,fwn kata. tou/ ponhrou/ to.n avskhth.n VIakw,b)Ⱥ42 Er hat Jakob als a lv ei,pthj Ⱥ4ř – damit ist der Übungsleiter an einer Athletenschule gemeint – und als paidagwgo.j th/j avnqrwpo,thtojȺ44 unterrichtet. Als er von Jakob nach seinem Namen gefragt wird, antwortet der Pädagoge nicht; für Clemens ein Zeichen dafür, daß es sich bei Jakobs Gegenüber um den göttlichen lo g, oj handeln müsse, der vor der Inkarnation noch namenlos sei. Vermittelt durch den Logos schaut Jakob Gott und kann sagen, er habe „Gott von Angesicht gesehen“. Clemens versteht die Gottesschau Jakobs parallel zu einer im weitesten Sinne philosophischen Einsicht: Es geht um die Erkenntnis der „Menschlichkeit“, um Fortschritt in der Athletenkunst ethischer Lebensführung. Auf diesem Weg wird Jakob durch den Logos geführt, der ihn anleitet, gleichsam wie in Übungen zur leiblichen Ertüchtigung. Johannes Chrysostomos ist als Ausleger von Gen ř2 in einer Hinsicht mit Clemens von Alexandrien zu vergleichen: Darin nämlich, daß er den Kampf Gottes mit Jakob als Ausdruck von Gottes pädagogischem Handeln am Menschen auffaßt. Jakob soll zu einer bestimmten Erkenntnis gelangen – und das Medium, das dazu dient, ist der Kampf. Jakobs Kampf ist allerdings bei Clemens als zeitloser Ausdruck einer allgemeinen Wahrheit verstanden. Bei Chrysostomos dagegen wird er im Rahmen des sensus historicus ausgelegt. In einer Homilie über das gesamte Kapitel ř2 der GenesisȺ45 leitet Chrysostomos die Auslegung unseres Abschnittes ein, indem er ausruft: Mega,lh h` tou/ Despo,tou [scil. Qe,ou]
filanqrwpi,a) VEpeidh. ga.r e;melle th.n pro.j to.n avdelfo.n suntuci,an poih,sasqai( – von dem er, wie aus dem Kontext klar wird, nichts Gutes zu erwarten hatte – i[na ma,qh| dia. tw/n pragma,twn( o[ti ouvde.n avhdej uvposth,setai( evn sch,mati avnqrw,pou palai,ein meta. tou/ dikai,ou [scil. VIakw,b] katade,cetai)Ⱥ46 Was die Absicht Gottes betrifft, sagt Johannes, dies alles sei getan worden, i[na th.n deili,an evxe,lhtai th/j tou/ dikai,ou 42 4ř
44 45 46
Ebd., 12ř,28f. Das Nomen avlei,pthj nimmt das stammgleiche Verb avlei,fw aus dem vorhergehenden Satz wieder auf: Daß Jakob durch seinen Gegner „gesalbt“ wird, ist im Kontext der biblischen Erzählung einerseits auf den Segen zu beziehen, den Jakob fordert und erhält; andererseits, im Kontext von Clemens‘ Gedankengang, verweist es auf das antike gumna,sion. Ebd., 12ř,ř0. JќѕюћћђѠ CѕџѦѠќѠѡќњќѠ, Homiliae in Genesim, Homilia 58 (PG 54,506–51ř); die vv. 25–řř werden 509–511 thematisiert. Ebd., 509.
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yuch/j( kai. pei,sh| evkto.j pa,shj avgwni,aj th.n pro.j to.n avdelfo.n suntuci,an poih,sasqai.Ⱥ47 Der Lernerfolg wird dann in Jakobs neuem Namen Israel festgehalten, den Johannes als Zusage Gottes übersetzt: ~O ga.r tosau,thn ivscu.n proslabw.n( w`j kai. meta. Qeou/ dunhqh/nai palai/sai, se( pollw/| ma/llon tw/n avnqrw,pwn perie,sh|( kai. avcei,rwtoj a[pasi genh,sh|)Ⱥ48 – Daß Gott Jakob diese Erkenntnis eröffnet, ist Ausdruck seiner sunkata,basij,Ⱥ49 mit der er sich an unsere avsqe,neia avnqrw,pinhȺ50 anpaßt und uns in seinem Handeln Belege vor Augen stellt für seine oivkei,a filanqrwpi,a.Ⱥ51 Johannes Chrysostomos erweist sich durch die Betonung des Literalsinnes, die seine Erwägungen bestimmt, als ein antiochenischer Theologe. Er bemüht sich um ein Verständnis von Jakobs Kampf am Jabbok im Kontext seiner Furcht vor Esau, also ausgehend von Jakob als einer historischen Gestalt innerhalb eines bestimmten und besonderen Konfliktes. Chrysostomos stellt Jakob in angstvoller Erwartung des Zusammentreffens mit seinem Bruder dar und bezieht Gottes Handeln auf diese konkrete Situation. Allerdings ist ebenfalls zu beachten, daß Gottes Handeln durch einen allgemeinen Begriff interpretiert wird, durch den theologischen Leitbegriff der „Rücksichtnahme“Ⱥ52 Gottes. – Clemens von Alexandrien geht es dagegen gar nicht um die Dimension historischer Einmaligkeit, sondern darum, anhand der biblischen Erzählung eine allgemeine Wahrheit darzustellen. In seinem Verständnis macht der Text die überzeitliche inhaltliche Bestimmung von Gottes Pädagogik anschaulich. Jakob selbst erscheint bei Clemens als Beispiel des „Athleten“ im Kampf um die „Menschlichkeit“, an dessen Stelle auch jeder andere stehen könnte; er wird also zur Projektionsfläche für Clemens’ Gedankengang, der allegorisch entfaltet wird. Da Luther seinen Auslegungen den sensus litteralis der Heiligen Schrift als einziges tragfähiges Fundament zugrundegelegt wissen will, ist zu vermuten, es werde sich eine ungleich größere Nähe zur Auslegung des Antiocheners Johannes Chrysostomos als zu Clemens von
47 48
Ebd. Ebd. Vgl. den Wortlaut von Gen ř2,29 in der Septuaginta: ei=pen de. auvtw/| ouv klhqh,setai
49
e;ti to. o;noma, sou Iakwb avlla. Israhl e;stai to. o;noma, sou o[ti evni,scusaj meta. qeou/ kai. meta. avnqrw,pwn dunato,j) Der von Chrysostomos verwendete Begriff „sunkata b, asij“ kann sowohl die „attem-
50 51 52
peratio“ bzw. „accommodatio“ Gottes an menschliche Beschränkungen bedeuten als auch die Kondeszendenz Gottes in der Inkarnation. Vgl. A patristic Greek lexicon, ed. GќђѓѓџђѦ Wіљљіюњ HѢєќ Lюњѝђ, Oxford 1961 s. v. Anstatt mit „Rücksichtnahme“ ließe der Begriff sich unmittelbarer übersetzen als „Herablassung“. JќѕюћћђѠ CѕџѦѠќѠѡќњќѠ, Homilia 58, PG 54, 510. Ebd. Vgl. Anm. 49.
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Alexandrien feststellen lassen. Mit Chrysostomos teilt Luther erwartungsgemäß das Interesse am Kontext der Erzählung. Als eine Versuchungsgeschichte ist Gen ř2 erst dadurch charakterisiert, daß der Angriff auf Jakob im Widerspruch steht zu Gottes Verheißung: „Und siehe ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hin ziehst“ (Gen 28,15), die zuerst in Jakobs Traum von der „Himmelsleiter“ gegeben und dann vor seinem Weggang von Laban wiederholt wird (Gen ř1,ř). Auf diese Verheißung gestützt, betet Jakob um die Errettung vor Esau (Gen ř2,10–1ř) und wird daraufhin angegriffen. Dieser KontextȺ5ř erst macht den Kampf zu einer schweren Anfechtung; und Luther geht es darum, Jakob in dieser konkreten Situation zu verstehen. Er stellt fest: „Jacob ist blöd und verzagt fur dem bruder, so kömpt Gott und wil yhn stercken und machet yhn noch krencker, Das were mir ein guter trost, wenn ich ym schlam erbeyte, und er steckete mich vollend gar hynein, Gott schreckt yhn und machet yhm angst, Er aber hebt an zu ruffen und beten, so kömpt er und wil yhn gar erwürgen.“Ⱥ54 Es zeigt sich aber zugleich, wie für Luther diese Begebenheit den bloß historischen Kontext des Konfliktes zwischen Jakob und Esau sprengt: In ihr wird offenbar, in welcher Weise und mit welcher Absicht Gott an den Gläubigen handelt. Darin entspricht Luthers Auslegung der insbesondere bei Clemens aber auch bei Chrysostomos beobachteten Tendenz, nach der hinter den Ereignissen liegenden Absicht Gottes zu fragen. Ein Unterschied zwischen Luther und Chrysostomos besteht jedoch darin, wie jeweils das Eingreifen Gottes mit dem Ablauf der Ereignisse in Beziehung gesetzt wird. Chrysostomos orientiert sich an der Logik der Historie, die lautet: Jakob fürchtet Esau; diese Furcht nimmt ihm Gott. Bei Luther dagegen erscheint diese Logik durch
5ř
54
Es ist auffällig, daß die Verheißung Gottes Gen 28,15 und das von Jakob darauf abgelegte „Gelübde“ ( rdn rdywv. 20) sich wie ein roter Faden durch den Erzählzusammenhang bis Gen řř zieht. Der Befehl, von Laban fortzugehen Gen (ř1,1ř), bezieht sich explizit darauf zurück. Und dieser Befehl zusammen mit Gottes Verheißung (28,15) wird wiederum Gen ř2,10ff. von Jakob seinem Bittgebet zugrundegelegt. Der nächtliche Angriff auf Jakob ist auf diesen Zusammenhang bezogen. Bei der Konfrontation mit Laban wird in Gen ř1,24 ein sehr entschiedenes Eingreifen für Jakob berichtet. Im Rahmen der Konfrontation mit Esau besteht die göttliche Intervention im Angriff auf Jakob. Auch die ‚überschüssige‘ Auskunft Gen ř2,2f. und Jakobs Aussage řř,10 hängen m. E. damit zusammen: als eine ‚Vorwegnahme‘ des Kampfes und als Ausdruck dessen, was Jakob in dieser Nacht erkannt hat. Merkwürdig ist dabei, daß im Falle Labans auf der Seite von Jakobs Verfolger ein ‚Umdenken‘ durch die göttliche Intervention hervorgebracht wird, in Kap. řř aber Jakob selbst derjenige ist, der die Beziehung zu seinem Bruder neu bewertet im Rückgriff auf das „Sehen von Gottes Angesicht“. WA 24,57ř,ř4–574,6.
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das Handeln Gottes durchbrochen und lautet nun vielmehr: „Deus vult stergken Iacob […] et cum vult stergken, facit eum furchtßamer“.Ⱥ55 Als Erklärung für dieses vom Standpunkt vernünftiger Betrachtung inadäquat erscheinende Handeln Gottes trägt Luther vor, Gott wolle, daß die Vernunft zuschanden werde, damit Jakob „durch und ynn der schwacheit zur höhisten stercke“ komme. Gott steht Jakob bei, indem er dafür sorgt, daß „yhn das zappeln ynn der letzten not“ dazu treibt, „allein am wort zuhalten.“Ⱥ56 Luther bemüht sich also darum, die Bestimmung von Gottes Willen aus dem Kampf gegen Jakob abzulesen, die konkrete Situation Jakobs coram Deo zu rekonstruieren – und geht damit über eine bloß ‚buchstäbliche‘, dem sensus historicus entsprechende Auslegung des Textes hinaus. Jedoch verfährt er dabei charakteristisch anders als beispielsweise Clemens Alexandrinus, der den Zwischenfall am Jabbok als einen sportlichen Wettstreit versteht und damit seiner Bedrohlichkeit und Tiefe entkleidet. Daß die Versuchung ein „Spiel“ sei, kann Luther gleichwohl sagen. Er zeichnet das Bild eines Vaters, der seinem Kind spielerisch einen Apfel nimmt, über den sich das Kind gerade freut, jedoch nicht in der Absicht, daß das Kind „aufugiat et aversetur patrem, sed ut magis incitetur ad patrem amplectendum“. Der Ruf des Kindes: „mi pater, redde, quod abstulisti“ ist dann auch der Ausdruck der ungebrochenen, neu entfachten Liebe des Kindes, auf den hin der Vater den Apfel zurückgibt. Am Ende können sich beide über das Spiel freuen: das Kind, „cum videt patri voluptati esse amorem et lusum puerilem“; der Vater, weil er an der Reaktion des Kindes dessen Liebe erkennt.Ⱥ57 Soweit stimmt Luthers Bild mit dem überein, das Clemens in einer Athletenschule situiert. Gott ist dort der wohlwollende Übungsleiter, hier der liebevolle Vater. Luther bleibt dabei aber nicht stehen. Über Gottes Handeln an Jakob zu sagen: „immensa bonitate […] agit cum […] Iacob, eumque exercet, quasi colludens suavissime“, ist für Luther nur dann angemessen, wenn auch die Perspektive Jakobs zur Sprache gebracht wird: „Sed ludus hic immensus dolor et summa angustia animi est.“ Daß es sich letztenendes doch um ein Spiel handelt, ist erst nach dem Kampf zu sagen, „quando veniet ad Phanuel“.Ⱥ58 In diesem Kampf stoßen also „immensa bonitas“ und „immensus dolor“ aufeinander; der Deus „colludens suavissime“ versetzt Jakob in „summa angustia ani-
55 56 57 58
WA 14,44ř,22. WA 24,576,17–19. WA 44,97,4–9. WA 44,96,41–97,2.
,In summa angustia animi‘ – Jakobs Kampf mit Gott
25ř
mi“. Es zeigt sich hier, welche Vertiefung die Interpretation des Kampfes am Jabbok bei Luther erfährt.Ⱥ59 Die drei vorgestellten beispielhaften Aspekte der Väterauslegung haben gezeigt, in welcher Weise Luther sich von den Vätern und der von ihnen autorisierten Tradition unterscheidet. Nun ist in einem abschließenden Schritt das Ergebnis zu erheben. Die Differenz zwischen Luther und den Vätern kann dabei ausgehend von drei Beobachtungen formuliert werden: Zum einen bezieht Luther in einer Weise das Kreuz Christi auf Jakobs Kampf am Jabbok, in der sein theologischer Neuansatz zum Ausdruck kommt. Zum anderen vertritt Luther eine Hermeneutik des Exempels, die mit diesem Neuansatz kompatibel ist. Drittens finden beide Gedankengänge ihre tiefere Begründung in Luthers Erkenntnis, daß Gottes Handeln in paradoxa zum Ausdruck kommt. 1. Luther sieht das Kreuz Christi, wie beschrieben, nicht darin abgebildet, daß Jakob seinen Gegner besiegen kann und dieser ihm kraftlos (imbecillus) unterlegen ist. Vielmehr ist es Jakob, der im Kampf der Unterlegene ist. Jakob muß um sein Leben fürchten. Und mehr noch muß er fürchten, daß Gott sich von ihm abgewandt hat. Er steht gewissermaßen auf Messers Schneide zwischen seiner augenscheinlichen Gottverlassenheit und der Verheißung, die ihm gegeben wurde; an Jakob zeigt sich in dieser Situation also, wie Gott „sich stellet, wenn er erhöret, nemlich also, als wölt er uns gar verderben“.Ⱥ60 Damit aber verweist uns Jakobs Erfahrung auf das Kreuz Christi, da Gott hier wiederum so handelt, wie bereits an Jakob. Wir sind an das Kreuz gewiesen, weil für uns erst hier zu erkennen ist, daß diese Weise göttlichen Handelns ein Handeln zum Heil ist. Bei Luther ist die Erzählung Gen ř2 also nicht in allegorischer Weise auf die Passion Christi gedeutet. Schließlich geht es ihm nicht darum, einzelne Züge der Erzählung auf die Taten Christi hin zu deuten, also einen äußerlichen Bezug zwischen Gen ř2 und der Passion herzustellen. Der Bezug, den Luther sieht, ist vielmehr im Innersten des Patriarchen zu suchen, nämlich dort, wo er die „ultima et gravissima tentatio diffidentiae et desperationis“Ⱥ61 zu bestehen hat und dadurch selbst zum Abbild des Gekreuzigten wird. An Jakob ist nach Luther zu sehen, wie Gott „tötet und wieder lebendig macht“Ⱥ62, wie Gott als Versucher handelt, um den Glauben zu wecken. In gleicher Weise wie im Kampf Jakobs, sieht Luther auch in der „Opferung Isaaks“ (Gen 22) das Kreuz abgebildet: Abraham muß es ertragen, daß die Verheißung 59 60 61 62
Das Bild des spielenden Vaters wird von Luther ähnlich auch in der Auslegung von Gen 22 verwendet: Vgl. WA 4ř,2ř0,16ff. WA 24,574,10f. WA 44,97,27f. Vgl. 1Sam 2,6.
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segensreicher Nachkommenschaft anscheinend von Gott aufgehoben wurde. Luther ruft weiterhin Israels Geschick beim Auszug aus Ägypten als Paralleltext auf. Wie mit Jakob, so „thet er [scil. Gott] mit den kindern Israel auch: da er sie aus Egypten füren wolte, lies er sie durch Pharaonem erger angreiffen und plagen denn yhe vormals.“Ⱥ6ř Auch das Haus Israel befand sich in der gleichen Situation wie Jakob, als es am Ufer des Roten Meeres stand, unmittelbar durch die Wagen und Rösser Ägyptens bedroht.Ⱥ64 Und auch die syrophönizische Frau, die Christus um die Heilung ihrer Tochter bat, mußte erfahren, wie sich Gottes Ja unter einem augenscheinlichen Nein verbirgt.Ⱥ65 Luther meidet auf diese Weise eine solche allegorische Auslegung, die Gefahr läuft, Jakobs Versuchung zu veräußerlichen. Luther versteht die Versuchung Jakobs im Kampf mit Gott, wie gezeigt worden ist, durchgehend nicht moralisch: Es geht Luther nicht darum, Jakob als Beispiel für bestimmtes Handeln, etwa das „Festhalten der Nächstenliebe“, zu empfehlen. Der Erzvater ist in Luthers Auffassung auch ein denkbar schlechtes Beispiel für das menschliche Handeln. Denn Jakob bleibt im Kampf mit Gott überhaupt keine Möglichkeit, sein Handeln selbst zu bestimmen. Jakob muß den Kampf mit Gott aufnehmen, um am Leben bleiben zu können. In der Situation des Kampfes gilt: „vivit [scil. Iacob] solo verbo“, durch das Wort der Verheißung Gottes, an dem er festhalten muß. Auf diesen einzigen Lebensvollzug ist Jakob radikal angewiesen, darin ist sein Glaube – und also auch er als ganze Person – „infirmissima pariter et fortissima“,Ⱥ66 so daß er Gott am Ende überwinden kann. Für eine moralische Auslegung des Textes bleibt angesichts des Kampfes kein Raum: Jakob ist eben darin ein Beispiel für
6ř 64 65
66
WA 24,574,11–1ř; vgl. Ex 5,9. WA 24,574,1ř–16; vgl. Ex 14,8f. Vgl. Mt 15,21–28. Eine Auslegung Luthers zu diesem Text findet sich u. a. WA 17Ȧ II,200–204 in einer Predigt aus der Fastenpostille von 1525. In dieser Predigt ist es das „Cananisch weyb“ das in der Zuversicht zu Christus kommt, „er werde synem gerüchte nach auch gnediglich mit yhr“, beziehungsweise mit ihrer besessenen Tochter, „handeln“. Der Frau gegenüber aber „stellet sich Christus aller ding anders“ als erwartet, „als wollt er yhren glauben und gute zuversicht feylen lassen.“ Die Frau muß also denken: „Es mus nicht war seyn. Er ist deyn feynd und will deyn nicht“; sie muß es ertragen, daß „sich Gott also ernst und zornig erzeygt und seyne gnade so hoch und tieff verbirget“. Die Frau aber „lesst doch nicht abe, hellt sich an das wort, ob es [ihr] gleich aus dem hertzen will mit gewalt gerissen werden.“ Die Frau ist für Luther ein Vorbild für das Bestehen der Anfechtung. Wie die kanaanäische Frau müsse der angefochtene Christ „das tieffe heymliche Ja unter und uber dem Neyn mit festem glauben auff Gotts wort fassen und hallten“. WA 44,101,16f.
,In summa angustia animi‘ – Jakobs Kampf mit Gott
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die Christen, daß er alles fahren läßt außer den Glauben – und nicht aufgrund seines Handelns. 2. In der Weise, wie Luther Jakob betrachtet, zeigt sich eine eigenständige Hermeneutik der biblischen exempla. Diese Hermeneutik kann Luther finden, gerade weil er sich von einer moralisierenden Engführung frei hält. Jakob ist bei Luther den Christen nicht etwa immer einen Schritt voraus auf dem Weg der Tugenden; er geht unmittelbar neben dem einzelnen Angefochtenen und besteht seinen Kampf um den Glauben nicht anders, als es zu jeder Zeit jeder tun muß, der an Christus glaubt. Luther versteht das biblische exemplum Jakobs also nicht als ein dem einzelnen nur äußerlich bleibendes Vorbild, sondern stellt die innere Verwandtschaft jedes Glaubenden mit Jakob am Jabbok heraus. Das angefochtene Gewissen kann sich bei Jakob trösten; trostreich wird die biblische Erzählung vom Kampf Jakobs aber nur dann, wenn sich der Angefochtene in diese Erzählung hineinbegibt, sich also mit Jakob identifiziert; diese Identifikation macht sichtbar, daß Jakob meinen Kampf gekämpft und bestanden hat – daß ich selbst Jakobs Kampf wiederhole. So kann Luther dem angefochtenen Glaubenden die Worte in den Mund legen: „Ego non solus sum, qui tentor de ira Dei, de praedestinatione, de diffidentia, Ich bins nicht allein, Omnes sancti, quotquot crediderunt unquam, aut credunt etiamnum in filium DEI, experiuntur hosce agones tentationum, quibus vel ipsi, vel tota Ecclesia exercetur.“Ⱥ67 Luther gelangt dazu, das Leid unter der Versuchung und Gottes gute Absicht dahinter hart aufeinanderstoßen zu lassen. Jakob ist, während er mit Gott selbst kämpfen muß, in „summa angustia animi“, während doch Gott mit ihm ein ‚höchst liebliches Spiel‘ spielt.Ⱥ68 Die tröstende Wirkung der biblischen exempla liegt genau in diesem Nebeneinander, dieser Überkreuzung zweier Perspektiven: Die Erzväter haben die „agones tentationum“ erfahren und konnten dabei nicht um das bevorstehende gute Ende, um Gottes ‚spielerische‘ Absicht wissen. Sie haben sich aber auf die Verheißungen Gottes verlassen, haben daran in aller Not festgehalten und haben die Versuchung durchgestanden. Angesichts ihres guten Beispiels kann ich also betrachtend vorwegnehmen, was mir als eigene Erfahrung noch fehlt. Ich kann den Blick dafür schärfen, daß Gottes Versuchung mir letztenendes als ein liebliches Spiel aufgehen wird. Allerdings ist Gottes Handeln nie derart auf einen festen und sicheren Begriff zu bringen, daß der Glaube vor erneuter Versuchung gefeit wäre.
67 68
WA 44,111,17–21. Vgl. o. S. 252.
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Der einzelne kommt aber deshalb in die Lage, das Geschick des Patriarchen nachzuerleben, weil Gott als der eigentlich Handelnde an allen Glaubenden so handelt, wie er an Jakob – und auch an Christus – gehandelt hat. Dadurch, daß Gott allen, die ihr Gewissen nicht durch „Werkerei“ ihm gegenüber verschließen, als Versucher erfahrbar wird, ist die innere Solidarität zwischen Jakob und jedem Christen hergestellt. Indem Luther darauf bedacht ist, herauszustellen, wie sich das Kreuz Christi in Jakobs Erleben abbildet – und damit potentiell im Erleben jedes Glaubenden –, wendet er eine hermeneutica crucis auf die biblischen exempla an. ř. Luthers Hermeneutik erfährt ihre Begründung durch eine bestimmte Reflexion über die Absicht Gottes, die hinter seinem Handeln als Versucher steht. Luther faßt Gottes Absicht in die paradoxe Formulierung: „Deus vult stergken Iacob […] et cum vult stergken, facit eum furchtßamer“.Ⱥ69 Paradox ist, daß Gott, der Jakob im Glauben stärken will, als Mittel dazu die Schwächung Jakobs bis aufs äußerste wählt. Ebenso paradox ist das Handeln Gottes an Christus: Ihn wollte er „zu einem könige machen“, aber in dieser Absicht „lesset er yhn am creutz sterben als einen verzweivelsten böswicht“.Ⱥ70 Das Kreuz Christi ist also der Ort, an dem sich die heilwärtige Paradoxie, in der Gottes Handeln erscheint, verdichtet. Die wahre Theologie, im Sinne Luthers theologia crucis, muß also eine paradoxal verfaßte Theologie sein. In der Versuchung zeigt sich im Leben des Christen, daß Gottes Handeln derart kreuzweise zu den menschlichen Erwartungen steht. In der Versuchung handelt Gott an uns so, wie er an Christus gehandelt hat, mit der Absicht, das Gewissen zum Glauben an sein Gnadenwort zu befreien, die Vernunft „zuschanden“ und dadurch den Glauben lebendig zu machen.Ⱥ71 Weil Gottes Handeln nur das eine Ziel verfolgt, den Glauben zu stärken, der an nichts als am Evangelium hängt, durchbricht es den Ablauf der Ereignisse: Gott macht Jakob „furchtsamer“, wenn es eigentlich darum ginge, ihn für die Begegnung mit seinem Bruder zu stärken; Christus stirbt als ‚verzweifelter Bösewicht‘ am Kreuz, um dadurch als wahrer Sohn Gottes offenbar zu werden. Gottes Handeln vollzieht sich also nicht im Rahmen historischer Rationalität, ist nicht als „zweckopti-
69 70 71
WA 14,44ř,22; Hervorhebung durch mich. WA 24,574,17.19. Vgl. WA 24,574,26–29 und zudem WA 44,100,26–28: „Nec mirum est, quod homo in hoc paroxysmo [graece: paroxusmw/|] ratione nihil potest definire aut consulere. Pugnat enim ibi spiritus ipse, et adest spiritus sanctus, adiuvans infirmitatem, et nisi adesset, procederet tentatio contra definitionem.“
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mierte“, behutsame Lenkung zum Besseren zu verstehen;Ⱥ72 dem Angefochtenen bleibt vielmehr nur ein einziger Schritt, der in den Glauben an das Wort der Gnade führt. Dieser einzige Schritt setzt weder einen Weg zu Gott fort, noch zieht er weitere Schritte auf diesem Weg nach sich. Die Vorstellung, ein langsam aufsteigender Weg würde den Glaubenden immer näher an Gott heranführen, steht im Hintergrund des moralischen Verständnisses von Jakobs Kampf. Eine solche Lesart ist auf dem Fundament der Lutherschen Theologie aber nichts weiter als eine Verkürzung des Anspruches, den die biblische Geschichte von Jakobs Kampf an uns stellt. Die tiefe Bedeutung der Versuchung Jakobs – und ebenso auch Abrahams – ist vielmehr nur dann richtig verstanden, wenn sie erstens nicht äußerlich-allegorisch auf das Kreuz Christi bezogen wird, sondern im Sinne konkreter Erfahrung. Zweitens ist in der Versuchung nicht das Handeln des Menschen herauszustellen, sondern das Handeln Gottes, der durch das Wort des Gesetzes schwächt, wen er stärken will für die Umkehr zum Wort der Gnade.
72
Dies ist die Pointe der Deutung von Gen ř2 bei Johannes Chrysostomos: sunkata,basij Gottes meint ja eine „Anpassung“ des göttlichen Handelns an die Bedürfnisse der Menschen, an ihre Erwartungen hinsichtlich des Ablaufs der Ereignisse.
Dramatisches Symbol konfessioneller Grundhaltungen zwischen Glaube und Politik Die Opferung Isaaks in frühen reformierten Auslegungen von Huldrych Zwingli bis Jean Crespin von Dюћіђљ Bќљљієђџ Gab es im Reformationsjahrhundert so etwas wie eine spezifisch reformierte Exegese? Die Frage nach den Umrissen einer (hier vorerst nur mehr heuristisch zu unterstellenden) frühreformierten Sicht auf das Isaakopfer führt zwingend zu ihrer zuspitzenden Verallgemeinerung: Waren reformierte Schriftauslegungen wesentlich verschieden von anderen Interpretationen, etwa von im Umfeld der tridentinischen Reform entstandenen oder gar von im zeitgenössischen Luthertum verfassten Kommentaren? Sollte das Feld frühneuzeitlicher Bibelexegese tatsächlich von jener Diskrepanz zwischen hohem programmatisch-konfessionellem Anspruch und bescheidener lebensweltlicher Einlösung ausgenommen bleiben, die Helga Schnabel-Schüle in Bezug auf die Kirchenzuchtsmodelle der beiden protestantischen Konfessionen einmal so treffend als „den großen Unterschied und seine kleinen Folgen“Ⱥ1 bezeichnet hat? Diese Fragestellung und ihre Aufarbeitung zählt sicherlich zu den grundlegenderen unter den reformationshistoriographischen Problemen. Doch trotz oder vielleicht gerade wegen seiner elementaren Natur gelangt es nur selten ins Bewusstsein und noch einmal seltener in die publizierten Diskussionsbeiträge der Fachwelt. Angesichts der stets weiter anschwellenden Flut von Veröffentlichungen zum sogenannten Konfessionalisierungsparadigma ist es zwar eigentlich kaum zu glauben, dass die Relevanz der Konfessionsbindung für den Zugang zu biblischen Texten bisher erst in sehr beschränktem Umfang als Thema 1
Hђљєю Sѐѕћюяђљ-Sѐѕҿљђ, „Der große Unterschied und seine kleinen Folgen. Zum Problem der Kirchenzucht als Unterscheidungskriterium zwischen lutherischer und reformierter Konfession“, in: Krisenbewußtsein und Krisenbewältigung in der Frühen Neuzeit – Crisis in Early Modern Europe. Festschrift für Hans-Christoph Rublack, hg. v. Mќћіјю Hюєђћњюіђџ u. Sюяіћђ Hќљѡѧ, Frankfurt a. M. 1992, 197.
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historischer Forschung auftauchte. Die im Wesentlichen durch Gerhard Ebeling,Ⱥ2 David SteinmetzȺř und etliche Calvinspezialisten, genannt sei hier stellvertretend Richard Stauffer,Ⱥ4 mit ihren Schülerkreisen während der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gleichsam in zwei 2
ř
4
Zu einem maßgeblich durch Ebelings Publikationen mitangeregten ersten Aufschwung der Auslegungsgeschichte innerhalb der deutschsprachigen evangelischen Theologie s. Aљяџђѐѕѡ BђѢѡђљ, „Kirchengeschichte als Geschichte der Heiligen Schrift. Ein tragfähiges Modell?“, in: Historiographie und Theologie. Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch, Konzeption von KѢџѡ NќѤюј, hg. v. Wќљѓџюњ Kіћѧіє, Vќљјђџ Lђѝѝіћ u. Gҿћѡѕђџ Wюџѡђћяђџє (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 15), Leipzig 2004, 10ř–120, hier 109: „Die auslegungsgeschichtliche Forschung, die Karl Holl noch 1920 ‚zu den allervernachlässigsten Gebieten‘ der Theologie rechnen mußte, hat nach 1945 einen deutlichen, mitunter gar als zeitgenössische ‚Modesache‘ verdächtigten Aufschwung erfahren, teils in einer Fülle von Einzelarbeiten, teils auch in der Gründung zweier einschlägiger Publikationsreihen“. Wie in der zugehörigen Fußnote ausgeführt, handelt es sich um die 1955 gegründeten „Beiträge zur Geschichte der neutestamentlichen Exegese“ (BGNE), die ab 1959 als „Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese“ (BGBE, bislang ř4 Bände) fortgeführt wurden, sowie um die „Beiträge zur Geschichte der biblischen Hermeneutik“ (BGBH), die von 1955 bis 1971 neun Bände zeitigten. Steinmetz hat sich in nachdrücklicher – und mutatis mutandis Ricœurs Forderung nach einer zweiten Naivität nicht unähnlicher – Weise um einen unvoreingenommeneren post-kritischen Zugang zur vor-kritischen Exegese verdient gemacht, für die er gegenüber der kritischen Exegese sogar partielle Überlegenheit reklamierte. Besonders pointiert sind seine beiden frühen programmatischen Veröffentlichungen: Dюѣіё Sѡђіћњђѡѧ, „Theology and Exegesis. Ten Theses“, in: Histoire de l‘exégèse au ѥѣі e siècle. Textes du colloque international tenu à Genève en 1976, hg. v. Oљіѣіђџ Fюѡіќ u. Pіђџџђ Fџюђћјђљ (EPhH ř4), Genf 1978, ř8ř; Reprint in: A guide to Contemporary Hermeneutics: Major Trends in Biblical Interpretation, hg. v. Dќћюљё K. MѐKіњ, Grand Rapids MI 1986, 27; und in: Rіѐѕюџё A. MѢљљђџ, „Biblical Interpretation in the Era of the Reformation: The View from the Middle Ages”, in: Biblical Interpretation in the Era of the Reformation. Essays Presented to David C. Steinmetz in Honor of His Sixtieth Birthday, hg. v. Rіѐѕюџё A. MѢљљђџ u. Jќѕћ L. TѕќњѝѠќћ, Grand Rapids MI 1996, ř– 22. Ferner: Dюѣіё Sѡђіћњђѡѧ, „The Superiority of Pre-critical Exegesis”, in: Theology Today ř7 (1980–81), 27–ř8. Zu den von Steinmetz betreuten auslegungshistorischen Doktorarbeiten von Steven Farmer und Timothy Wengert s. unten Anm. 8f. Hervorzuheben ist als ein Meisterwerk der Calvinforschung vor allem Rіѐѕюџё SѡюѢѓѓђџ, Dieu, la création et la Providence dans la prédication de Calvin (BSHST řř), Bern u. a. 1978. Forschungsgeschichtlich bedeutsam ist auch Dіђѡђџ Sѐѕђљљќћє, Calvins Auslegung der synoptischen Evangelien (FGLP 10, ř8), München 1968. Da die exegetischen Werke Calvins auch seine Predigtweise, seine Rhetorik und weitere Felder berühren, die alle zu den zentralen Gebieten der Calvinforschung gehören, und zudem auch in zahlreichen Einleitungen zu älteren und neueren Editionen erläutert werden, ist eine Nennung selbst der wichtigsten Literatur hier nicht angängig. Als knappe aktuelle Einführung dienlich ist Jќѕћ L. TѕќњѝѠќћ, „Calvin as a biblical interpreter“, in: The Cambridge Companion to John Calvin, hg. v. Dќћюљё MѐKіњ (Cambridge Companions to Religion o. Nr.), Cambridge 2004, 58–7ř.
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Etappen geleistete Verwissenschaftlichung des Zugangs zu reformatorischer Bibelkommentierung wirkte methodisch zwar mehrmals bahnbrechend. Nichtsdestoweniger verblieb sie, wohl auch gerade wegen dieser allererst zu leistenden methodologischen Pionierarbeit, zumeist innerhalb der Grenzen (früh-)protestantischen Schrifttums. Konfessionsvergleichende Studien zur jeweiligen Auffassung von überblickbaren, konkreten Abschnitten der Bibel in der Frühneuzeit blieben augenscheinlich trotz einiger teils sehr gehaltvoller Studien noch immer weitgehend Desiderat. Erkenntnis hemmend dürfte gerade von reformierter Seite her der Umstand gewirkt haben, dass reformierte Theologiegeschichtsschreibung, zumal seit der Wort-Gottes-Theologie des 20. Jahrhunderts, sich oft mit der Darstellung der theologischen Schriftlehre oder Hermeneutik einzelner Reformatoren wie Zwingli, Bullinger oder Calvin begnügte. Die in solchen Abrissen anscheinend obligate Feststellung eines seit je von den Reformierten als konfessionsexklusiv erhobenen Anspruchs, nämlich eines foederaltheologisch bedingt im Vergleich zum Luthertum größeren Respekts vor dem Alten Testament, leistete nolens volens der Illusion Vorschub, damit sei bereits reale Exegesegeschichte geschrieben. Ob eigentlich und mit welchen Mitteln dieser Anspruch im Vergleich zu lutherischen oder auch katholischen Kommentierungen und Predigten der Zeit eingelöst werden konnte, seine empirische Verifizierbarkeit also, ist nur von wenigen Autoren – zu nennen ist hier etwa Bernard RousselȺ5 – je ernsthaft aufgeworfen, geschweige denn planmäßig überprüft worden.Ⱥ6 Aber auch wo reformierte Forscher vertieft und 5
6
Bђџћюџё RќѢѠѠђљ, „De Strasbourg à Bâle et Zurich: une ‚Ecole rhénane‘ d‘exégèse (ca. 1525–1540)“, in: RHPR 68 (1988), 19–ř9. DђџѠ., „La Bible de 15ř0 à 1600“, in: Le temps des Réformes et la Bible, hg. v. GѢѦ BђёќѢђљљђ u. Bђџћюџё RќѢѠѠђљ (Bible de tous les temps 5), Paris 1989, 215–2řř. Als einer der ersten hat Roussel die starken Affinitäten der frühesten oberdeutsch-reformierten Kommentare untereinander genauer dokumentiert. Auf einen vertieften Vergleich der zu diesen Affinitäten zählenden Dominanz des Alten Testaments mit der ihrerseits als relativ einheitlich dargestellten Kommentierungspraxis des „groupe de Wittenberg“ (1989: 210f.) verzichtet jedoch auch er. Anders steht es bei der komparativen Lektüre einzelner Perikopen in der Auslegung frühneuzeitlicher Autoren, die als konfessionstypisch gelten können, zu der etliche Literatur meist kleineren Umfanges existiert. Exemplarisch seien hier genannt: CѕџіѠѡіћђ CѕџіѠѡ-ѣќћ Wђёђљ, „Das Schriftverständnis von Zwingli und Erasmus im Jahre 1522“, in: Zwing. 16 (198ř), 111–125. DіђѠ., „Die Perikope von Martha und Maria bei Erasmus und den Reformatoren“, in: Zwing. 27 (2000), 10ř–115. DіђѠ., „Zur Christologie von Erasmus von Rotterdam und Huldrych Zwingli“, in: Reformierte Retrospektiven. Vorträge zur zweiten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, hg. v. Hюџњ KљѢђѡіћє u. Jюћ RќѕљѠ (Emder Beiträge zum Reformierten Protestantismus 4), Wuppertal 2001, 1–2ř. Rіѐѕюџё SѡюѢѓѓђџ, „L’exégèse de Genèse 1Ȧ1–ř chez Luther et Calvin“, in: DђџѠ., Interprètes de la Bible: études sur les réformateurs
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mit Kompetenz Kommentare und Predigten untersuchten, galt ihr Interesse oft eher dem theologischen Gehalt, einer vom Auslegungskontext abstrahierenden (und tendenziell daher illusionären) Essenz der Texte, statt dem exegetischen Genre als solchem. Selbst bei diesem rudimentären Forschungsstand scheint es jedoch nicht zu gewagt, aufgrund der faktisch gerade auch in theologicis zu beobachtenden Transkonfessionalität des alteuropäischen Kulturraumes deren Auswirkungen auch beim Herzstück protestantischer Existenz in der Bibelauslegung zu erwarten. Alles spricht dafür, dass auch die Exegesegeschichte durch jene stimulierende Rivalität mit der Folge einer sektoriellen Parallelität geprägt wurde, die – insgesamt und nicht ohne notwendige Differenzierungen – als historiographische Leitpostulate bei der Erschließung frühneuzeitlicher Konfessionalisierungsvorgänge gelten können. Schon allein aufgrund der Tatsache, dass jeweils auf denselben Text Bezug zu nehmen war, aber auch angesichts des in gut humanistischem Duktus vornehmlich philologisch-historisch orientierten und daher letztlich recht begrenzten exegetischen Instrumentariums der Zeit sind Überschneidungsmengen zwischen reformierten und lutherischen Kommentaren und zwischen beiden mit katholischen Exegesen überaus wahrscheinlich. Nicht weniger als einen sich gesamthaft verstrebenden und die meist nur vordergründig trennenden konfessionellen, sprachlichen und geographischen Schranken letztlich übergreifenden Kontinent einer „Europe de l’exégèse au ѥѣіe siècle“ beobachtet das durch methodologische Luzidität und umfassenden Quellenzugriff neue Maßstäbe setzende Werk Jean-Pierre Delvilles zur Geschichte der Exegese im Reformationsjahrhundert.Ⱥ7 Ausgehend von einer linguistisch orientierten Analyse der Auslegung der matthäischen Parabel von den Arbeitern im Weinberg in fünfzig Kommentaren von Erasmus (1516) bis Salmerón (1597) wird hier erstmals ein konkretes Modell der schräg und teils sogar gegenläufig zu den kirchenpolitischen Konfessionslinien verlaufenden transkonfessionellen Rezeption unter Exegeten entwickelt. Zwei sozusagen gleichzeitig im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts beginnende neue Auslegungstypen, eine skopusorientierte, dezidiert theologisch ausgerichtete Exegese im Gefolge Luthers und eine lexikalisch-philologisch und möglichst ebenso textnah wie aber auch bereits
7
du ѥѣі e siècle (ThH 57), Paris 1980, 59–85. Dюѣіё C. Sѡђіћњђѡѧ, „The Judaizing Calvin“, in: Die Patristik in der Bibelexegese des 16. Jahrhunderts. Vorträge, gehalten anläßlich eines Arbeitsgespräches vom 20. bis 23. März 1994 in der Herzog-August-Bibliothek, hg. v. ёђњѠ., Wiesbaden, 1999, 1ř5–145. Jђюћ-Pіђџџђ Dђљѣіљљђ, L’Europe de l’exégèse au ѥѣіe siècle. Interprétations de la parabole des ouvriers à la vigne (Matthieu 20,1–16), Louvain, Presses Universitaires Ȧ Universitaire Pers, 2004.
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textkritisch vorgehende Kommentierungsweise im Anschluss an Erasmus treffen sich ungefähr ab der Jahrhundertmitte zu einem neuen dritten Weg, bei dem der vielsprachige und (in biographischer Staffelung) multikonfessionelle Berner Neutestamentler Wolfgang Musculus eine nicht geringe Rolle spielt. Dieser kombinierende Weg wird daraufhin laut Deville sowohl auf protestantischer wie auch auf katholischer Seite tonangebend. Die konfessionellen Verstehensmomente im engeren, lehrmäßigen Sinne spielen bei der Ausbildung und der Transmission dieser Typen in dieser Sicht zwar teils eine bedeutende Rolle, so wird etwa der erasmisch-lexikalische Zugang sowohl für einen möglichst literalen wie auch einen mehrfachen Schriftsinn in Anspruch genommen. Doch werden sie zugleich auch deutlich relativiert, indem insbesondere die beiden protestantischen Konfessionen in dieser Perspektivierung nahe beieinanderliegen und der ihnen gemeinsame skopuszentrierte Zugang auch in die katholische Kommentarlandschaft ausstrahlt. Während Delville trotz eines breiten historischen Horizontes primär textlinguistisch und gattungsgeschichtlich interessiert vorgeht, mögen künftige Studien vielleicht mehr geographisch oder sprachräumlich oder auch theologiegeschichtlich geartete Typenbildungen aufweisen. Der historiographische Erwartungshorizont verdeutlicht sich dessen ungeachtet zunehmend. Sollte in der erst noch zu vollbringenden Kärrnerarbeit präziser Einzelstudien ein spezifisch reformiertes Gesamtprofil alt- und neutestamentlicher Exegesen aufzuweisen sein, wird es aller Voraussicht nach keine exklusiven, sondern fortwährend und selbst in der wechselseitigen (ohnehin ja oft mehr moralisch als theologisch gewendeten) Polemik transkonfessionelle Konturen aufweisen. Der im Koordinatenfeld von Väterauslegungen, christlichem Humanismus und aufkeimender Hebraistik gegebene überkonfessionelle Referenzrahmen schloss freilich auch innerkonfessionelle Rezeptionsvorgänge nicht aus, sondern im Gegenteil umso klarer ein. Auch für diese Selbstrezeptionsprozesse sind wir bei der Erkundung der selten begangenen Landschaft der Auslegungsgeschichte des sechzehnten Jahrhunderts nicht völlig ohne systematisch erprobte Anleitung. In ihren theologiegeschichtlichen Arbeiten haben Timothy WengertȺ8 für die Exegesen Melanchthons und vor allem Craig FarmerȺ9 für die Auslegungen des Berner Neutestamentlers Wolfgang Musculus eindrücklich gezeigt, dass exegetische Texte der Frühneuzeit ihren partikulären Gehalt in eben dem Maße offenbaren, in dem sie in ihrem diachronen konfes8 9
TіњќѡѕѦ Wђћєђџѡ, Philip Melanchthon‘s Annotationes in Johannem in Relation to its Predecessors and Contemporaries (THR 220), Genève 1987. Cџюіє Fюџњђџ, The Gospel of John in the Sixteenth Century. The Joannine Exegesis of Wolfgang Musculus (Oxford Studies in Historical Theology o. Nr.), New ork u. a. 1997.
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sionellen Kontext situiert werden können, da die frühen protestantischen Kommentatoren einander gerne, ja im Grunde höchst regelmäßig, aufgreifen, zitieren und so oft beinahe unmerklich weiterentwickeln. Insbesondere Farmers Werk ist hierzu aufschlussreich, indem es in der Darstellung der Auslegung der johanneischen Ich-bin-Worte Christi den Weg der Perikopen und teils einzelner Verse von Zwingli bis Musculus und Calvin konsequent verfolgt. Es bringt so die historische Perspektivität einer nur als evolutive Bearbeitungsfolge zu begreifenden Varianz frühreformierter Exegesen erstmals zum Vorschein.Ⱥ10 Diese intrakonfessionelle Selbstrezeption betraf einerseits konkrete Motive oder spezifische theologisch-exegetische Anliegen bis hin zu unverwechselbaren einzelnen Formulierungen. Hinter solchen gleichsam dinghaft-material bestimmbaren autorezeptiven Vorgängen stand allerdings ein weiterer Prozess fortlaufender innerkonfessioneller Wiederaneignung. Wenngleich er oft nur indirekt zu fassen ist, da er sich nicht zwingend in terminologischen oder doktrinären Differenzbestimmungen artikulierte, wurde er dennoch mindestens so wirksam, weil und indem er konfessionell spezifische Haltungen vermittelte. So wie der reformatorische Bruch etwas weniger markant in lehrmäßigen Differenzen im engeren Sinne bestand als man lange dachte, jedoch historisch höchst real und folgemächtig wurde, indem er unüberbrückbare Unterschiede in der sozusagen vorwissenschaftlich religiösen Wirklichkeitswahrnehmung widerspiegelte, so ist die konfessionelle Charakteristik frühkonfessioneller Bibelkommentare mutmaßlich nur dann zu eruieren, wenn hypothetisch davon ausgegangen wird, dass einerseits die behandelten philologischen Analysen und theologischen Topoi in konfessionsbedingter Weise voneinander abweichen konnten, umgekehrt aber auch mit transkonfessionell mehr oder minder identisch angewandten exegetischen Mitteln klar differierende theologische, frömmigkeitliche und kirchenpolitische Einstellungen kommunizierbar waren. Eine solche konfessionelle Mentalitäten sowohl in sich reflektierende als auch mitgenerierende Aneignung von Gen 22 bei im Übrigen konfessionstranszendierenden Auslegungspunkten soll nun unter Bezug auf eine Gesamthypothese zum religiösen Horizont von Kinderopfern nachgezeichnet werden. Dieser Bezug wird anhand von vier Themenfeldern entfaltet, die deutlich eine historische Entwicklung vom Reformator Zürichs bis zum Genfer Unternehmerautor Jean Crespin, mithin von 10
Prägnant bringt diesen Sachverhalt in retrospektiver Sichtweise auf den Punkt TѕќњѝѠќћ, Calvin (Anm. 4), 71: „Though in his own day and in the centuries to follow, Calvin has been regularly lionized for his brilliance as a biblical interpreter, a longer and more comparative study could demonstrate in detail just how unoriginal the elements of his exegesis often are.“
Die Opferung Isaaks in frühen reformierten Auslegungen
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den Anfängen der Reformation bis zu ihrer definitiven Europäisierung gegen Ende des mittleren Jahrhundertdrittels erkennen lassen. Es handelt sich um eine Umbildung, die von der Gotteslehre oder Theologie im eigentlichen Sinne über eine ethisch orientierte Anthropologie und Ekklesiologie schließlich hinführt zu einer Kirchenpolitik, die sich aus der Überzeugung speist, radikale Konfessionalisierung der Bürger sei die einzig legitime Artikulation reformatorischen Glaubens und legitimiere daher jedes Opfer. Ein Beispiel des Verständnisses von Gen 22 aus der späten, bereits aufklärungsnahen Orthodoxie wird zur abschließenden Ergänzung eingebracht. Es ergibt sich folgende Gliederung: Abraham und die (1) (2) (ř) (4) (5) (6)
Opferung des Kindes Einheit Gottes Einheit von Glaube und Werken Einheit von Glaube und Institutionsverzicht Einheit von Bekenntnis und Öffentlichkeit Einheit von Glaube und Pflicht
Als Hauptquellen dienen Auslegungen oder Predigten zu Gen 22 bei sieben Autoren, nämlich die von seinen Schülern edierten Vorlesungen Zwinglis,Ⱥ11 sodann die seine exegetischen Linien weiterführenden und zugleich mit Gelehrsamkeit stark vertiefenden Kommentare zweier zentraler Exponenten der nächstfolgenden Generation, die als erste reformierte Fachexegeten gelten können,Ⱥ12 Conrad Pellikan1ř und Wolfgang 11
12
HѢљёџѦѐѕ ZѤіћєљі, Farrago annotationum in Genesim ex ore Huldryci Zuinglii per Leonem Iudae et Casparem Megandrum exceptarum, hg. v. Lђќ JѢё u. KюѠѝюџ Mђєюћёђџ, Zürich (Froschauer) März 1527. Moderne Edition in: HѢљёџђіѐѕ ZѤіћєљі, Exegetische Schriften 1 = Sämtliche Werke 1ř, hg. v. EёѤіћ Kҿћѧљі (CR 100), Zürich 196ř, 1–290. Pellikan war Gräzist, Hebraist und Bibliker mit Schwerpunkt auf dem Alten Testament in Zürich von 1526 bis 1556; zu seiner Vita s. Eџіѐѕ Wђћћђјђџ, „Pellikan, Konrad“, in: BBKL 7 (1994), 180–18ř. Seine von 15ř2–15ř9 in insgesamt sieben Bänden mit einem Index erschienenen Commentaria bibliorum gelten als der einzige Gesamtkommentar zur Bibel aus der Reformationszeit. Wolfgang Müslin oder Musculus wirkte als Pfarrer in Augsburg bis 1549 und anschließend aufgrund des Interims bis zu seinem Tod 156ř als Bibliker mit Schwerpunkt auf dem Neuen Testament am Lectorium in Bern. Die aktuellste, auch eine von seinem Sohn Abraham verfasste vita einbeziehende und allgemein umfassendste Biographie bietet Rђіћѕюџё Bќёђћњюћћ, Wolfgang Musculus (1497–1563). Destin d’un autodidacte lorrain au siècle des Réformes (THR ř4ř), Genf 2000. Die Arbeit entstand im Umfeld des Lehrstuhls für Neuere Kirchengeschichte der ev.-theol. Fakultät der Universität Bern, der insbesondere in den 1990er Jahren als ein inoffizielles Zentrum der Musculusforschung wirkte. Von den einschlägigen Publikationen von RѢёќљѓ DђљљѠѝђџєђџ sei hier sein Beitrag zur Augsburger und Berner Musculus-Ausstellung von 1997 genannt: „Wolfgang Musculus (1497–156ř). Leben und Werk“, in: Berner
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Musculus,Ⱥ14 und schließlich bibelbasierte Werke der Genfer Leitgestalten Farel,Ⱥ15 CalvinȺ16 und BezaȺ17 sowie Crespins,Ⱥ18 ergänzt durch eine Predigt des spätorthodoxen Alttestamentlers und EthikersȺ19 Johann Rudolf Rudolf.Ⱥ20 Hinzu kommen Interpretationen von Jer 7 21 und Jak 2 22 bei einzelnen dieser Autoren.
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Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 59 (1997), 219–2ř9; Reprint in: DђџѠ., Kirchengemeinschaft und Gewissensfreiheit. Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte der reformierten Schweiz: Ereignisse, Gestalten, Wirkungen (BSHST 71), Bern 2001, 9–28, mit zahlreichen Hinweisen auch zum exegetischen Werk. Kќћџюё Pђљљіјюћ, Auslegungen zum Pentateuch, handschriftliche (frühneuhoch-)deutsche Urfassung, undatiert, Ms Zentralbibliothek Zürich [fortan: ZBZ] Car I 97. Diese vermutlich als Vorlesungsmanuskript zu betrachtende Niederschrift erschien in lateinischer Übersetzung als Commentaria bibliorum […] Tomus primus in quo continentur v. libri Mosis, Zürich (Froschauer) 15ř2. Wќљѓєюћє MѢѠѐѢљѢѠ, In Mosis Genesim plenissimi Commentarii, in quibus ueterum et recentiorum sententiae diligenter expenduntur, Basel (Herwagen) August 1554. GѢіљљюѢњђ Fюџђљ „A Mes Tres Chers Freres En Nostre Seigneur Tous les amateurs de la saincte parolle [etc.]“, in: DђџѠ., Du vraye usage de la croix de Jesus-Christ, suivi de divers écrits du même auteur, Genève 1865; zit. nach Dюѣіё ђљ Kђћѧ, Les bûchers du roi. La culture protestante des martyrs (1523–1572) (Coll. Époques), Seyssel 1997, 72. Jђюћ Cюљѣіћ, Trois sermons sur le sacrifice d’Abraham, gehalten vom 1. bis 11. Juni 1560, Genf (Jacques Bourgeois) 1561. Bibliographische Referenz: Bibliotheca Calviniana. Les œuvres de Jean Calvin publiées au ѥѣіe siècle, hg. v. Rќёќљѝѕђ Pђѡђџ, Jђюћ-FџюћѷќіѠ Gіљњќћѡ, Bd. 2, Genf 1994, Nr. 61Ȧ26. Die derzeit erhältliche moderne Ausgabe stammt aus dem 19. Jahrhundert: Ioannis Calvini Opera quae supersunt omnia [fortan: CO] 2ř, hg. v. Jќѕюћћ Wіљѕђљњ BюѢњ, EёѢюџё CѢћіѡѧ, EёѢюџё RђѢѠѠ (CR 51), Braunschweig 1882, 741–784. Beigezogen wurde zudem die akademische lateinische Kommentierung: In primum Mosis librum commentarius, Genf (Robert Estienne) 1554, in: CO 2ř (s. oben), ř09–ř20. TѕѼќёќџђ ёђ Bѽѧђ, Abraham sacrifiant, hg. u. eing. v. MюџєѢђџіѡђ SќѢљіѼ (Collection Texte), Mugron 1990. Jђюћ CџђѠѝіћ, „Traité des afflictions et persecutions, qui avienent ordinairement aux Fideles“, in: DђџѠ., Premier Livre de l’Histoire Ecclesiastique et des Actes des Martyrs, comprenant les choses plus remarquables avenues en l’Eglise du Fils de Dieu, depuis la persecution esmeue contre les Chrestiens sous l’Empire de Neron […] iusques au temps de Iean Wiclef, in: DђџѠ., Sіњќћ GќѢљюџѡ, Histoire des martyrs persecutez et mis a mort pour la verite de l’Evangile, depuis le temps des Apostres iusques à present. Comprinse en douze livres contenant les Actes memorables du Seigneur en l’infirmité des siens non seulement contre les effors du monde, mais außi contre diverses sortes d’assauts et heresies monstrueuses, en la plupart des provinces de l’Europe. Nouvelle et derniere Edition, Genf (Pierre Aubert), 1619, ř2–40. Der gebürtige Zofinger Rudolf (1646–1718) war Alttestamentler, Didaktiker und Ethiker an der Berner Hohen Schule, s. Eџіѐѕ Wђћћђјђџ, „Rudolf, Johann Rudolf“, in: BBKL 15 (1999), 1214–1216, mit Literaturhinweisen. Jќѕюћћ RѢёќљѓ RѢёќљѓ, Merck- und Wunder-würdige Glaubens-Prob Abrahams/ In Gehorsam-williger Vollstreckung Göttlicher Befehle von Aufopfferung seines Sohnes Isaacs vorgestellet In einer Feyrlichen Rede auff das jährlicher Gewohnheit nach/ gehalten Schul-Faest zu Bern den 7. May 1696, Bern 1696.
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Abraham und das Opfer des Kindes – das Kindesopfer als substitutives Symbol 2Ⱥ 1 2Ⱥ 2
„Das größte Opfer, mehr als die eigene Hingabe des Menschen, ist das Opfer dessen, der die eigene Zukunft repräsentiert“ – das Opfer des eigenen Kindes. Diese von Hartmut Gese in einem Text zur Komposition der AbrahamserzählungȺ2ř beinahe im Nebensatz aufgestellte These trägt Entscheidendes zum Verständnis nicht allein entsprechender Passagen der Hebräischen Bibel, sondern auch der frühen reformierten Lektüre von Gen 22 bei. Sie erklärt zunächst einmal, warum Kinderopfer in der Bibel weit klarer abgelehnt werden als der Suizid: Ein Kindesopfer vernichtet potentiell unendlich mehr als ein Selbstopfer. Die im Kind und nach altorientalischem Verständnis besonders im Sohn liegende „Hoffnung auf Nachkommenschaft und Segnung“Ⱥ24 übertrifft letztlich den Wert selbst der eigenen physischen Existenz. Kinderopfer finden daher ein ausnehmend harsches Urteil, auch wo sie unter Israels Nachbarn praktiziert werden; und praktiziert wurde die Verbrennung von Säug-
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22
2ř 24
HѢљёџѦѐѕ ZѤіћєљі, Jeremias Propheta, Ms ZBZ S 429, 67v–190v, Mitschrift v. unbekannt, Zürich (nicht vor) 15řř; zit. nach der von Mюѥ Lіђћѕюџё erstellten Transkription zur Edition der Exegetischen Werke Zwinglis im Corpus Reformatorum. Jђюћ Cюљѣіћ, Praelectiones in librum prophetiarum Jeremiae et Lamentationes, Genf (Jean Crespin) August 156ř. Bibliotheca Calviniana, Les œuvres de Jean Calvin publiées au ѥѣі e siècle, hg. v. Rќёќљѝѕђ Pђѡђџ, Jђюћ-FџюћѷќіѠ Gіљњќћѡ, Bd. 2, Genf, Droz. 1994, Nr. 6řȦ19. Moderne Ausgabe: CO ř8, hg. v. EёѢюџё RђѢѠѠ, Aљѓџђё EџіѐѕѠќћ, GѢіљљюѢњђ BюљёђћѠѝђџєђџ (CR 66), Braunschweig 1888. HѢљёџѦѐѕ ZѤіћєљі, Brevis et luculenta […] in epistolam beati Iacobi Expositio […], hg. v. Lђќ JѢё, Zürich (Froschauer) März 15řř. Der Titel der Auslegung stammt von Jud, nicht von Zwingli; zit. nach der von Mюѥ Lіђћѕюџё erstellten Transkription zur Edition der Exegetischen Werke Zwinglis im Corpus Reformatorum. Dieser gedruckten Edition der Vorlesung entsprechen die handschriftlich überlieferten Scholien zum Jakobusbrief: In epistolam divi Iacobi appostoli [sic] scolia […], Ms ZBZ V 821, not. v. JќѕюћћђѠ Sѐѕљђєђљ, hg. v. Lђќ JѢё, Zürich ř. Februar 15ř2. Kќћџюё Pђљљіјюћ, In omnes apostolicas epistolas, Pauli, Petri, Iacobi, Ioannis et Iudae d. Chuonradi Pellicani Tigurinae ecclesiae ministri Commentarij, ad collationem optimorum quorumque interpretum conscripti et aediti, in usum theologiae apostolicae studiosorum, Zürich (Froschauer) 15ř9. Jђюћ Cюљѣіћ, Commentarius in Iacobi Apostoli Epistolam, in: DђџѠ., Commentarii in epistolas canonicas, Unam Petri. Unam Joannis. Unam Jacobi. Petri alteram. Judae unam. Ad Eduardum VI. Angliae Regem, Genf (Jean Crespin) 27. Jan. 1551, 105–1ř9. Moderne Ausgabe: CO řř, hg. v. E. RђѢѠѠ, A. EџіѐѕѠќћ (CR 55), Braunschweig 1896; Text der Widmung an Edward VI. von England: CO 14, hg. v. EёѢюџё CѢћіѡѧ, EёѢюџё RђѢѠѠ (CR 42), Braunschweig 1875, Nr. 144ř, ř0–ř7. HюџѡњѢѡ GђѠђ, „Die Komposition der Abrahamserzählung“, in: DђџѠ., Alttestamentliche Studien, Tübingen 1991, 29–51, hier 41. So formuliert sozusagen gut alttestamentlich ZѤіћєљі, Farrago (Anm. 11), 144, 14f. zu Gen 22,2: „spes posterioritatis et benedictionis“.
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lingen ohne Zweifel recht intensiv, wie nicht allein aus polemischen Berichten aus Israel, sondern auch durch archäologische Funde der letzten Jahrzehnte bekannt ist. Israel und die Propheten seines Gottes lehnten diese Opfer umgekehrt zunehmend ab. Selbst der Gott Israels blieb gegen die affektiven Wirkungen des Kinderopfers keineswegs gefeit, wie sein Volk bei der Belagerung des Königs von Moab erfahren musste, der kurz vor der Kapitulation zum Letzten griff, denn da nahm er seinen erstgeborenen Sohn; der nach ihm König werden sollte, und opferte ihn als Brandopfer auf der Mauer. Nun erhob sich ein grosser Zorn wider Israel, sodass sie von ihm ablassen und in ihr Land zurückkehren mussten (2Kön ř,27).
Selbst ein durch Israel nur indirekt erzwungenes Kinderopfer erweckt Gottes Beachtung, negative Beachtung freilich, also seinen Zorn. Die jüngeren Texte der Hebräischen Bibel sind sich in dieser Ablehnung des Kinderopfers demzufolge einig, so sehr, dass es im ältesten Christentum auf der Ebene der Ritualpraxis schon gar nicht mehr thematisiert wurde, wohingegen die mit dem Alten Testament befasste Exegese der Alten Kirche wiederum eine klare Verwerfung vertrat, welcher Sicht sich auch das Mittelalter und die Reformation anschlossen. Diesem breiten Strom biblischer und dann kirchlicher Ablehnung folgen die Reformatoren der eidgenössischen Republiken im Allgemeinen und ihr frühester im Besonderen. Zwingli weiß sich der deuteronomistischen Traditionsschicht im Jeremiabuch, der wir die auch in diesem Zusammenhang bedeutsamen Tempelreden der Kapitel 7 und 19 verdanken, gänzlich verpflichtet. Der Tophet, die phönikische Stätte ritueller Kinderverbrennung, ist dem Reformator Zürichs ein Gräuel, und den Moloch verabscheut er geradezu, als wäre er selbst der biblische ProphetȺ25 (– wie er sich ja auch in der Tat zunehmend mit dem Propheten als singularetantum persönlich identifizierte). Zwingli weiß in der Kommentierung von Jer 19,ř1 aus der rabbinischen Tradition sogar, wie diese Kinderopfer und die dazu vorgängig erforderliche Eindämmung elterlicher Beschützungsreflexe überhaupt praktisch möglich wurden, nämlich nur mittels grausamer Überlistung: Tophet ara erat in excelsis iuxta vallem filiorum hinnom. […] Illic erexerunt idolum aeneum concavum, quod igne calefiebat, cuius brachiis imponebant infantes, qui, cum igne cruciarentur, sacerdotes clamabant, ne clamorem et vagitum infantis parentes audirent. Hoc erat sacrificium huius idoli. Haec Rabi Salomon.26 25
In der Tat identifizierte sich der Reformator ja auch zunehmend persönlich mit „dem“ (als Singularetantum verstandenen) Propheten und bereitete so, unter anderem und anderen, den Weg für das enorm predigerzentrierte Amtsverständnis Bullingers.
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Die Frage drängt sich daher auf, wieso trotz dieser die gesamte Zeit der Formung und Nutzung des Kanons hindurch einhelligen Missbilligung das aus alten Schichten der Textgeschichte stammende Opfer Isaaks in der Endgestalt der Bibel erhalten blieb? Kulturgeschichtlich argumentierende Antworten sind sicherlich naheliegend. Respekt vor der im Orient bis heute so zentralen Weitergabe durch mündliche Tradition, zugleich auch bereits eine sakrale Achtung vor dem verschriftlichten Text sind in Anschlag zu bringen. Doch in solchen kulturtechnologischen Konfigurationen kann nicht der letzte Grund dafür liegen, dass die massivste und frappanteste Form religiösen Opfers in erzählerisch überhöhter Form den Weg in die Isaaksgeschichte wie auch in diejenige der namenlosen Tochter Jephtas in Ri 11 gefunden hat. Die erzählte Erinnerung an Kinderopfer erscheint vielmehr als ein glänzendes rhetorisches Mittel zur Verbildlichung äußerster religiöser Hingabe. Besser als mittels Kinderopfer wäre die gänzliche Bedingungslosigkeit religiöser Hingabe kaum darstellbar. Eingängiger als durch die dramatisch wirkende Weitergabe narrativer Elemente könnte sie zudem kaum kommuniziert werden. Es ist kein Zufall, dass die Christen genau diese Bildlichkeit ihrerseits wieder aufgreifen und ins Zentrum der ebenfalls narrativ vorgehenden theologischen Interpretation der Hinrichtung ihres Glaubensstifters stellen. Da sich religiöse Hingabe nun aber niemals genau gleich artikuliert, weil sie stets andere Konkretionen dessen findet, was ihr unbedingt gilt, kann Gen 22 als eine Art Lackmustest der zentralen Werte seiner vorkritischen Ausleger gelesen werden. Was sie in ihrer Kommentierung mit dem Opfer Abrahams auf Morija gleichsetzen, um ihren Lesern möglichst viel anschauliche Vergleichsmöglichkeiten für die Gefühle und Nöte des Patriarchen zu bieten, wovon sie sprechen, wenn sie die enorme Zerrissenheit des Erzvaters erläutern, wozu sie implizit oder direkt ihre Leser in der Erklärung dieses Passus auffordern: Daran liegt ihnen wirklich, dort erscheinen letzte Werte, die für sie nicht verhandelbare religiöse Größen darstellen. Zur adäquaten Profilierung der Geschichte der Auslegung von Gen 22 ist also, so die dem Folgenden zugrundeliegende Hypothese, nicht eigentlich das Kinderopfer zentral, sondern was ihm gleichgesetzt wird. Das Opfer eines Kindes fungiert als dramati-
26
ZѤіћєљі, Jeremias Propheta (Anm. 21) zu 7,ř1, fol. 95r. Max Lienhard notiert als eine mögliche Quelle Nikolaus von Lyras Postilla in Jeremiam (zu 7,ř1): „Erat enim ydolum ereum et interius concavum et intra concavitatem illam fiebat ignis fortis et quando ydolum erat ignitum ponebatur puer qui offerebatur in manibus eius et tunc sacerdotes percutiebant fortiter tympana ne parentes pueri audirent clamorem pueri et compaterentur.“
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sches Substitut für den eigentlich auf dem Spiel stehenden religiösen Wert. Die frühreformierten Kommentatoren scheinen sich über diesen Zusammenhang zumindest ansatzweise Rechenschaft abgelegt zu haben, auch wenn die exegetische Instrumentalisierung größtenteils, wie wir noch sehen werden, nicht eigens als solche thematisiert wird. Es liegt in der Logik einer Verweisung von der Auslegung des größtmöglichen aller Opfer auf die Letztwerte ihres Interpreten, wenn Pellikan schon zum ersten Vers von Gen 22 in absoluter Weise festhält: Est [enim] hoc sacrificium Abrae totius legis veteris memorabilißimum opus, et nouae legis exemplar, clarum certißimumque.Ⱥ27
Die Schlachtung Isaaks ist laut Pellikan das eminenteste Opfer des gesamten alten Bundes. Ebendarum kann es allein auf das Opfer des Neuen verweisen. Auch Calvin bringt ein instrumentales Verständnis des Kindesopfers in der Auslegung von Jer 7 zur Sprache. Er fasst dieses Kapitel, wie vor ihm schon Pellikan,Ⱥ28 als eine Art Midrasch zu Gen 22 auf.Ⱥ29 Nicht das Kinderopfer habe Jeremia im Blickpunkt, es gehe ihm viel27 28
29
Pђљљіјюћ, Commentaria (Anm. 1ř), 28a. Ebd., 11: „Et angelus Domini de coelo clamauit, dicens: Abraam Abraam. Qui respondit Adsum. Consequenter maxima tentatione deuicta magnanimiter, adeptaque uictoria carnis, docuit Deus non se tam pueri occisionem statuisse, quam fidei exemplar posteris Abraae, et adeo toti mundo, ut discerent, fides et obedientia ad uerbum Dei, quantum Deo placeant. Clamauit autem angelus de coelo, ne a satana, uirtutis inimico et fidei, prohibitus crederetur, quod ut sanctißimum fidei opus, daemon postea eatenus hominibus commendauit, et in ualle Gehinnom, contra Dei uerbum, filiorum sacrificia Iudaeis persuaserit ut uideamus quam periculosum sit et impium, hominum facta etiam sanctißimorum, non fidem et sine uerbo Dei uelle sectari. Hoc loco autem repitio nominis Abraam Abraam, bonum nuntium et fauorem Dei significat, et ut iam paratum ad Domini uoluntatem, impetu uocis diuinae, patris dexteram ad filij necem extentam, cohiberet, fide uoluntateque contentus.“ Cюљѣіћ, Praelectiones (Anm. 21), 70ř: „Fuit haec horribilis et prodigiosa etiam amentia, quod patres non pepercerint filiis suis, sec coniecerint in ignem oportuit enim ita abripi diabolico furore, ut exuerent omnes humanos affectos. Et tamen fuit illis probabilis ratio, ut putabant. Nam hic zelus laude dignus erat Deum praeferri liberis. Quum ergo ita coniicerent in ignem suos liberos, potuit species illa zeli simplices decipere: deinde accessit etiam praetextus ab exemplo, quod scilicet Abraham paratus fuerit filium suum mactare. Sed hinc apparet quid proficient homines, ubi rapiuntur inconsiderato zelo. Hic enim ab exordio mundi fuit fons omnium superstitionum, ubi scilicet homines excogitarunt sibi varios cultus, et hanc licentiam sibi dederunt, ut quisque pro arbitrio Deo placaret. Quod ad exemplum spectat, excaecati fuerunt quum non distinguerent inter se et Abraham, quia ille iussus fuerat offerre filium suum: ipsi autem absque mandato idem tentabant. Haec fuit praepostera temeritas, quia si spectatur factum Abrahae, obedivit Deo: non potuit errare, quum sciret placere Deo tale sacrificium. Quum autem Iudaei aemularentur eius zelum, praeter stultitiam fuit etiam hoc in ipsis culpabile, quod Dei mandatum negligerent, vel pro nihilo ducerent.“
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mehr um die Einzigartigkeit des göttlichen Opfergebotes an Abraham. Die Jerusalemer Tempelelite verwechsele sich mit dem Glaubensvorbild schlechthin, mit Abraham. Wegen dieser Anmaßung werde sie vom Propheten gescholten. Calvin setzt hier den Sinn des Opfers Isaaks mit dem für ihn sehr hoch stehenden Wert des Glaubensgehorsams in eins. Diese identifikatorische oder substitutive Sicht auf das Isaakopfer haben die Reformatoren selbstredend nicht erfunden. Sie setzen auf ihre Weise die gerade bei Gen 22 gleichsam klassisch ausgeprägten Interpretationstechniken der bisherigen Bibelauslegung fort. Für die frühchristlicheȺř0 und altkirchlicheȺř1 und damit auch für die mittelalterliche Auslegung ist der Nachweis zentral, dass der Nazarener der Messias sei. Gen 22 wird daher fast durchwegs typologisch auf Isaak als den Typus Christi hin gelesen. Nicht das Opfer an sich steht im Mittelpunkt, sondern, dass es mit der Kreuzigung Jesu identifiziert werden kann und, nach Ansicht der Väter, damit identifiziert werden muss. Diese Typologie wird über das Mittelalter hindurch intensiviert, einesteils durch Dramen und Mysterienspiele, die diese Typologie aufgreifen, andererseits auch durch die Ikonographie, die vom Spätmittelalter an die Passion Isaaks in unmittelbare Nähe zu derjenigen Christi plaziert und so beide miteinander identifiziert. Auch Zwingli, ein in vielem vollkommen mittelalterlicher Christ, sieht die Isaakgeschichte teils in dieser typologischen Optik,Ⱥř2 wie überhaupt die Typologie für ihn und viele der frühreformierten Autoren ein wichtiges Mittel war, die föderale Einheit beider biblischen Testamente zu betonen. Doch liegt der primäre Akzent bei seiner Sicht auf Gen 22 in der 1527 erschienenen Farrago annotationum in genesim weniger auf der Kohärenz der Bibel, sondern vielmehr auf derjenigen Gottes selbst, die so als der Grundwert erscheint, der auf dem Spiel steht. Zwingli eröffnet damit eine Linie, die einem besonderen Anliegen seiner Theologie entspricht, eine Linie freilich, die so nahe am Duktus des biblischen Textes selbst liegt, dass sie kaum als exklusiv zwinglisch oder zwinglianisch apostrophiert werden kann. Sie erscheint mehr oder minder deutlich vermutlich in den Auslegungen aller Konfessionen. ř0
ř1 ř2
MіђѐѧѦѠљюѤ C. PюѐѧјќѤѠјі, „The Sacrifice of Isaac in early patristic exegesis“, in: The Sacrifice of Isaac in the three monotheistic religions. Proceedings of a symposium on the interpretation of the Scriptures held in Jerusalem, March 16–17, hg. v. FџѼёѼџіѐ MюћћѠ 1995 (SBF, Analecta 41), Jerusalem 1995, 101–121. Lіћќ Cієћђљљі, „The Sacrifice of Isaac in patristic exegesis“, in: The Sacrifice (Anm. ř0), 12ř–126. ZѤіћєљі, Farrago (Anm. 11), 147,ř5–149,4 (zu V. 5) weist sich in einem längeren Exkurs über gründliche Kenntnisse der typologisch-allegorischen Lesart aus. Maßgeblich dazu noch immer EёѤіћ Kҿћѧљі, Zwingli als Ausleger von Genesis und Exodus, Zürich 1950 (Diss., Teildruck).
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Abraham und die Einheit Gottes (Theologie) Mit der im Rahmen seines Genesiskommentars anfallenden Aufgabe, die Erzählung des Isaakopfers auszulegen, begegnete Zwingli ein Problem, das in seiner von der essentiellen Einheit Gottes geprägten Theologie so eigentlich gar nicht vorkommen konnte: Gott widerspricht hier seiner früheren auf die Geburt und damit die Existenz Isaaks hin gegebenen Verheißung und somit sich selbst. Diese Diskrepanz zwischen Gen 15 und Gen 22 liegt so klar vor Augen, sie entspricht so eindeutig dem Skopus des Textes, dass kein Ausleger sie zu ignorieren vermöchte. Das exegetische Prozedere in Zwinglis Farrago erscheint darum als ein Unternehmen zur Wahrung des ihm teuren Grundwerts göttlicher Wesenseinheit bei gleichzeitiger Anerkenntnis der im Bibeltext gegebenen Infragestellung dieser Einheit. Die erarbeitete Lösung stellt weder die Grundlinien seines Denkens noch den Bibeltext in Frage, sondern sucht einen alternativen, sozusagen dritten Weg, einen Weg, den die ihm folgenden Ausleger anschließend weiter ausbauen werden. Die Erarbeitung dieses Weges erfolgt nur bedingt linear, da er, den Gattungsgesetzen des Kommentars gehorchend, die Versabfolge respektiert. So stellt der Reformator schon beim V. 1 vorab klar, dass Gottes Versuchungshandeln nur ΦΑΌΕΝΔΓΔ΅ΌЗΖ erfolge, seine Präszienz dadurch in keiner Weise als geschmälert anzusehen sei und das Ganze allein zum Zwecke der eruditio geschehe.Ⱥřř Mit diesem Stichwort der Erziehung ist der auch mit Blick auf andere Perikopen angewandteȺř4 Zwinglische Schlüssel zum Problem also bereits eingangs stichwortartig präsentiert. Doch dient der folgende Rest des Kapitels in einer Weisung zur Begründung und Präzisierung dieser Lösung, die als so systematisch wie in einer Homilie nur möglich bezeichnet werden darf. Zwingli konfrontiert die Leser in der Auslegung von V. ř zunächst in aller Deutlichkeit mit der Frage nach der Kohärenz und damit Glaubwürdigkeit Gottes: „Quis me certum reddet an haec vox, hoc verbum, dei sit an impostoris?“Ⱥř5
řř
ř4
ř5
ZѤіћєљі, Farrago (Anm. 11), 14ř,10–14: „Tentavit Deus Abraham. ̝ΑΌΕΝΔΓΔ΅ΌЗΖ omnia intelligenda sunt; nihil enim deum latet, nihil eum fugit, qui novit omnia. Non ergo sic tentat, ut exploret ea quae prius nescierit; sed fidem nostram tentat deus, ut nos erudiat, ut Abrahae fidem illustrem ac manifestam faciat nobisque huiusmodi exempla ad imitanda proponat.“ Ebd., 14ř,14–19: „Sic factum est in Chananaea Matth. 15. et in muliere profluvio sanguinis laborante. Quibus exemplis docemur et confirmamur, ut nullis tentationibus, nullis pressuris, nullis castigationibus quamlibet magnis a deo divellamur; nam diligentibus deum omnia ad bonum cooperantur.“ Ebd., 144,ř4f.
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Er antizipiert damit eine Skepsis des Hörers oder Lesers gegenüber dem mit hebraistischen und gräzistischen AusführungenȺř6 zu V. 2 in seiner Intensität und Unausweichlichkeit herausgehobenen göttlichen Befehl, die im Namen der Humanität Gottes zu gewärtigen sei.Ⱥř7 Obgleich der Terminus impostor für Gott zweifellos auffällig ist und hier zu Zwecken aufrüttelnder Provokation eingesetzt wird, verbleibt Zwingli damit durchaus im Kontext spätscholastischen Denkens. Die theoretische Möglichkeit und praktische Unmöglichkeit, die zu verteidigende Legitimität und zu beweisende Illegitimität eines mendacium dei ist ein nicht zu unterschätzender Gegenstand zeitgenössischer Theologie, der in verschiedenen Flügeln und Kontexten auftaucht, zumal bei mehr oder minder nominalistisch argumentierenden Autoren, ein Gegenstand, der unter anderem die Sehnsucht nach Verlässlichkeit und insbesondere Heilsgewissheit der Zeit in sich kondensiert.Ⱥř8 So wie die Kommentatoren regelmäßig, über die Grenzen der Konfession hinweg und teils sehr findigȺř9 im Rahmen von Gen 22 die Frage diskutieren, mit welchem ř6 ř7
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Ebd., 14ř,ř1–144,15. Ebd., 144,29–ř5: „Dicis: quomodo tam inhumanae et crudelissimae iussioni credere aut obtemperare pius vir potuit? nonne mentem eius subire debuit haec cogitatio: ecce, vox haec dei esse non potest, quae te filium proprium occidere iubet, in quo tibi tanta posteritas a deo promissa est? Ad hunc modum etiam hodie quidam inter Christianos dicant: quis me certum reddet, an haec vox, hoc verbum, dei sit an impostoris?“ Als führender Autor in diesem Feld darf Gregor von Rimini bezeichnet werden. Vgl. zu den verschiedenen und mit unterschiedlichem Nachdruck operierenden Argumentationsweisen gegen die Möglichkeit einer Lüge bei Gott die Ausführungen in Jќѿљ Bіюџё, „La toute-puissance divine dans le Commentaire des Sentences de Jean Mair“, in: Potentia Dei. L’onnipotenza divina nel pensiero dei secoli ѥѣі e ѥѣіі, hg. v. GѢіёќ A. Cюћѧіюћі u. a., Mailand 2000, 25–41; Dюћіђљ Bќљљієђџ, Infiniti Contemplatio. Grundzüge der Scotus- und Scotismusrezeption im Werk Huldrych Zwinglis (SHCT 108), Leiden u. a. 200ř, 488f. Cюљѣіћ, Trois sermons (Anm. 16), 768, bietet eine originelle Lösung, die zudem auch den ambitiösen Charakter in der auf Affektenbewältigung zielenden reformierten Lesart von Gen 22 in unerwarteter Weise aufdeckt. Im Verhalten Abrahams sei zwar vordergründig „quelque infirmité“ zu sehen, denn „il semble bien qu’il y ait eu de la fiction, en ce qu’il dit, qu’il reviendra avec son fils apres qu’ils auront adoré et sacrifié.“ Dennoch sei seine Handlungsweise nicht wirklich überraschend. Calvin handle einfach wie ein Mensch, der seine gesamte emotionale und damit auch intellektuelle Energie auf die eine große Herausforderung ausrichte, die er im gegebenen Moment vordringlich zu bewältigen habe. In diesem Zustand könnten im Gespräch dann „eschapper beaucoup de choses mal à propos, tellement que nous meslerons l’un avec l’autre.“ Die erfolgreiche Bewältigung der Hauptaffekte könne zu einem ansonsten zerstreut-desorientierten Auftreten führen: „Abraham a eu tellement toutes ses affections arrestees a faire ce que Dieu luy commandoit, qu’il a esté là comme un homme ravi, par maniere de dire.“ Calvin argumentiert also in Richtung moralischer Entlastung aufgrund geistlicher Überlastung. Als Beispiel hierfür führt
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Recht Abraham seinen Sohn so knapp an Informationen über die bevorstehende Expedition gehalten habe und ob dies schon als eigentliche Lüge zu betrachten sei,Ⱥ40 so diskutierte auch schon die spätmittelalterliche Schultheologie regelmäßig und teils unter expliziter Behandlung der Opferung Isaaks,Ⱥ41 inwieweit Gott lügen könne. Vielleicht wegen dieser gewissen Regularität des von ihm selbst auch andernorts diskutierten Betrügertopos greift Zwingli kurz darauf die krassere, obschon zugleich eigentlich noch klassischer mittelalterliche Auffassungsweise der Versuchung durch den Teufel auf. Interessanterweise führt er die Vorstellung, hinter dem Opferbefehl könnte der Teufel stecken, als ein der ratio humana, dem gesunden Menschenverstand, geschuldetes Hirngespinst ein.Ⱥ42 Er tut dies nicht allein im Sinne einer Infragestellung dieses Verstandes, sondern auch aufgrund der Alltäglichkeit der Vorstellung als solcher. Der Teufel gehört zur Normalbesetzung der mittelalterlichen Mysterienspiele, in welchen der als gleichsam autonom hypostasierte Versucher einerseits den Schöpfer entlastet, andererseits die Handlung dramatisiert. Wohl nicht zuletzt wegen dieser starken Verankerung im kollektiven Imaginären bleibt der personifizierte Böse auch über Zwingli hinaus der reformierten Exegese erhalten. Musculus etwa weiß gar von der
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er anschließend die konzentrierte Vorbereitung auf das Sterben vor, die durch nichts abgelenkt werden wolle. Ein Bezug zum Martyrium ist hierbei nicht zwingend im Blick. ZѤіћєљі, Farrago (Anm. 11), 145,ř8–146,4 (zu V. 5): „Nihil opus est hic curiosis quaestionibus involvi, peccaveritne Abraham mentiendo. Nam filium, quum immolaturus esset, quomodo ambo reverti potuerunt ? Tametsi synekdocha defendere Abraham potest (nam ipse rediturus erat, etiamsi filium occidisset), tamen mentitus non est. Neque enim mentitur, qui secretum aliquod caelat, ne quid periculi inde nascatur.“ Zwingli verweist im Folgenden auf Mose, der sich hütete, dem Pharao den definitiven Auszug vorherzusagen, sondern sich damit begnügte, einen dreitägigen Ausflug anzukündigen. Letzteres gilt etwa für JќѕюћћђѠ Eѐј, Chrysopassus Praedestinationis, Augsburg (Miller) 1514, Centuria quarta, [Cap.] CXIIII. MѢѠѐѢљѢѠ, Commentarii (Anm. 14), 5ř2, übernimmt auch diesen Argumentationsgang bis ins Detail: „Cogitet igitur diligens ac pius lector, quam grave pondus tentationis huius primo statim gradu paterno sit pectori impositum. An ad ista ratio humana, non dico, obiecit, sed obijcere non potuit? Estne vox ista vox Dei? Si princeps aliquis tale quid praeciperet, pro tyranno, omniumque mortalium odio dignus haberetur. Quis credat hoc a Deo praecipi, quod crudele est et inhumanum? Vox ista Dei non est, sed maligni spiritus. Deus cum sit philanthropus, non poterit crudele quid exigere ab homine. Absit igitur, ut obediam Satanae misanthropo, constituamque me omnium mortalium et ipsius Domini Dei mei odio dignum. Erat hic primus tentationis huius gradus, quem maiore cum laude superavit Abraham, quam si nihil illius sensisset.“
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Versuchung auch des jungen Isaak durch den Teufel, und das gleich in zwei Versionen, einer islamischen und einer jüdischen,Ⱥ4ř wie der Berner Exeget überhaupt am präzisesten Auskunft über die Versuchungen gibt, indem er etwa deren klassische Zehnzahl in der jüdischen Kommentierung anführt.Ⱥ44 Bei Beza übernimmt die Person Satans schließlich nicht weniger als eine zentrale dramatische Rolle. Freilich integrieren Zwingli wie auch seine direkten und indirekten Schüler den Teufelsglauben in ihre Auslegung allesamt in der Absicht seiner letztlich umso klareren
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Ebd., 5ř6: „Saraceni Mechae habitantes […] dicunt Isaacum in ascensu montis non fuisse patrem evestigio comitatum, sed post illum aliquandiu solum ascendisse, et inter ascendendum occurisse illi diabolum sub specie certi cuiusdam amici, percontatumque esse, quonam iret: et cum respondisset, Ad Abraham patrem meum, qui me in monte expectat: suggessisse illi. Ne ascendas ad patrem, immolabit enim te Deo. Isaac respondisse. Sine illum. Si voluntas Domini est, fiat. Quo responso accepto, diabolum ab eo discessisse ad tempus. Postea vero, priusquam ad Abrahamum pervenisset, secundo illi ad eundum modum occurrisse, ijsdemque verbis, ne ad patrem ascenderet, monuisse. Tum Isaacum ira percitum, raptum lapidem in faciem diaboli iecisse, ad tentatorem a se fugasse. Et in memoriam facti huius habent in consueto peregrini et incolae regionis, ut quoties eum locum transeunt, quisque lapidem cumulo qui illic est injiciat, quasi diabolum ad exemplum Isaac eo iactu a se pellat. Talia miseri comminiscuntur, ignorantes scripturas. Isaac non est patrem e longinquo sequutus, sed simul pergebant, inquit Moses. Tale et illud est quod Iudaei in libro lelamdenu legunt ad hunc modum: Dixit Rabbi Iohanan, cum ipsi pariter ambularent, venit Satan, stetitque ad dexteram Isaac, et ait ei: O iniuriam patiens fili mulieris iniuriam patientis. Quot afflictionibus afflicta est mater tua, antequam ei advenires? Senex iste insanit, et idcirco vadit ad immolandum te. Vertit se Izaac, et dixit patri suo: Pater, vide quid iste mihi dicat. Dixit ei pater ipsius: Ne respicias in eum. Non enim venit nisi ad subvertendum et prophanandum nos. Huiusmodi enim est opus eius a seculo. Haec ibi.“ Ebd., 5ř1: „[…] non est statim initio vocationis, sed circa finem cum fide factus esset robustior, tentatus a Domino, ut posteris omnibus illustre esset fidei ac pietatis exemplar. Recensent Ebraei decem tentationes, quibus a Deo tentatum fuisse Abrahamum dicunt. Utpote cum evocaretur ex patria: deinde, cum fame coactus descenderet in Aegyptum: tertio, cum Sarah in domum Pharaonis esset ablata: quarto, cum invaderet reges Orientales: quinto, cum iungeretur ipsi Hagar, eo quod nulla amplius spes prolis esset ex Sarah: sexto, cum senex iam circuncideretur: septimo, cum Abimelech auferret ipsi Saram, octavo, cum Hagar uterum ex ipso gestans profugisset: nono, cum Ismaelem primogenitum suum et haereditate et domo excludere iuberetur: decimo, cum unicum filium suum Isaacum in holocaustum iussu Dei offerendum domo educeret. Verum scriptura nihil horum tentationem vocat, praeter id quod iussus est immolare Isaacum. Quare de ijs quae Ebraei hic recensent, non est nobis aliter sentiendum, quam quomodo in scripturis habetur. Quod e patria sua evocatus fuit, non erat tentatio, sed serium mandatum, quemadmodum et Ismaelis eiectio. Reliqua exercitia fidei vocari possunt potius, quam tentationes Dei.“
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Verwerfung. Eigentlich ist und bleibt es bei ihnen Gott, der versucht. Gott versagt sich so nicht, er versucht.Ⱥ45 Er lügt auch nicht, er prüft:Ⱥ46 Tota fidelium vita tentatio est, quae non nisi a Domino infertur piißimo patre, qui et vireis vincendi administrat fidelibus et electis.
So, mit besonderer Deutlichkeit, der EingangssatzȺ47 in Pellikans Kommentar.Ⱥ48 Ist eine irgendwie geartete Ausgliederung der Versuchung aus dem Wesen Gottes hinaus in widersprüchlich oder zumindest kontrafaktisch zu diesem zu denkende Eigenschaften oder gar in eine weitere Person hinein für Zwingli nicht statthaft, steht er im Fortgang des Kommentars nun freilich umso stärker in einer Bringschuld, die tatsächliche Lösung des Problems vorzulegen. Sein Plan erscheint auf den ersten Blick simpel. Die Einheit Gottes ist Zwingli ein Glaubensgegenstand, der nicht zu beweisen ist, es sei denn durch das diese Einheit bezeugende Gotteswort, welches aber wiederum nur durch Glauben erfasst werden kann. In der philosophischen Begründung erscheint die Sache freilich nicht mehr ganz so einfach, was schon daran zu erkennen ist, dass Zwingli zur Erklärung dieser Einheit jene technische Hilfsfiguren beizieht, die auch in seinen christologischen Schriften begegnen, und die darauf hindeuten, dass das Verständnis von Einheit, das hier erscheint, mit demjenigen seiner mehr dogmatischen oder theologischen Werke in enger Verbindung steht. Man könnte es charakterisieren als ein Verständnis von Einheit als Fächerung, nämlich der Auffächerung verschiedenartiger, scheinbar kontradiktorischer Attribute innerhalb eines Wesens. Der scotistische Gottesbegriff, von dem Zwingli generell und besonders in seinem Einheitsverständnis in hohem Maße abhängt, spricht von formalitates innerhalb einer forma, von weder ganz real noch nur rational
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Die Differenz zwischen einem Täuschungsmanöver und einer göttlichen Versuchung unterstreicht MѢѠѐѢљѢѠ, Commentarii (Anm. 14), 5ř1: „Sciendum igitur est, alio fine tentare Deum, et alio hominem. Homo tentat experimenti capiendia gratia, ut quod ignorat cognoscat. Deo nihil huius necesse est. Sunt enim illi cognita omnia omnium mortalium consilia, ingenia, studia et corda, quantu[m]vis profunda et abscondita. Quare cum tentam hominem, aut tentat eo fine, ut quod in illo praeclarum est elucescat, aut ut sua[m] ipsius imbecillitate[m] ipse homo tentatione superatus agnoscat. Posterioris tentationis exemplum habetur Deut. 8. Prioris vero hic in Abrahamo.“ Auch ёђ Bѽѧђ, Abraham sacrifiant (Anm. 17), 97, lässt Abraham in diesem Sinne sich äußern: „Mais le faisant, je ferois Dieu menteur: Ȧ Car il m’a dict, qu’il me feroit cest heur Ȧ Que de mon filz Isac il sortiroit Ȧ Un peuple grand qui la terre impliroit.“ Pђљљіјюћ, Commentaria (Anm. 1ř), 27b. Zwingli und seine Schülerschaft folgen somit jener Sinnwendung, die schon die biblische Redaktion der alten Kinderopferszene bei deren Integration in die Abrahamerzählung gegeben hat.
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von der Grundform unterschiedenen Aspekten, die daher, immer in derselben Terminologie, formal von ihr differieren.Ⱥ49 So werden Gottes Attribute miteinander in Verbindung gebracht, ohne zu selbständigen Hypostasen zu werden, aber auch ohne zu bloßen Epitheta zu schwinden; und somit in aller Verschiedenheit, ohne einander ins logische Gehege des Kontradiktorischen zu kommen, in versöhnter Verschiedenheit sozusagen.Ⱥ50 Auf diesem Konzept beruht Zwinglis lapidare Feststellung nach erfolgter Schilderung der Widersprüchlichkeit der Befehle Gottes an Abraham:Ⱥ51 Quae omnia solius dei, quo mirabilis esset in oculis nostris, fuerunt opera.
Die Einheit der Werke Gottes ist also gegeben durch die Einheit Gottes selbst. Erscheint dieses Einheitsverständnis in den christologischen Schriften zum Abendmahl, die diesem im März 1527 erscheinenden Kommentar wenig später folgen werden, mit einer um systematisierende Objektivierung bemühten Färbung, findet es sich hier im Genesiskommentar in stärkerer Zuspitzung auf den Menschen, dem diese Einheit so plausibel sein muss, dass er sie bedingungslos glaubt. Solchen Glauben kann er nicht von sich aus aufbringen; er bedarf dazu göttlicher Hilfe, deren Entfaltung Zwingli in eine seiner bevorzugten Formeln zusammenfasst, nämlich in jene eines tractus dei patris in corde fidelium. Diese sehr klassisch Zwinglische Figur ist hier also paradoxerweise notwendig, weil just die an sich einfache und ganz undialektische Vorstellung des Wesens Gottes die menschliche Fassungskraft Abrahams überfordert und daher ein unmittelbares Geistwirken in ihm und jedem Gläubigen erfordert. Das Paradoxon bestimmt insofern auch die weitere Entwicklung der reformierten Exegese, als es gleich zu Beginn drastisch aufzeigt, dass dem Individuum hier Etliches auf die Schultern geladen wird, sehr viel mehr jedenfalls, als es in der klassisch typologischen Exegese noch der Fall gewesen war. Der tractus dei patris erscheint somit als Hilfestellung bei einer ambitiösen geistlichen Erziehungsaufgabe, die in der Kommentierung des laufenden V. ř wie auch der folgenden Verse etliche Male eindringlich entfaltet wird. Der rhetorisch-humanistischen 49 50
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Zu Terminologie und Hintergründen: Bќљљієђџ, Infiniti Contemplatio (Anm. ř8), 218–ř62 und 424–459. Diese Lösung ermöglicht nicht zuletzt die im Spätmittelalter immer populärer werdende Lehre von der Kommunikation der Idiome beider Naturen Christi, die Zwingli in seiner Christologie so gut wie unverändert übernimmt. ZѤіћєљі, Farrago (Anm. 11), 145,15–21. 28f. (zu v. ř): „Quae omnia solius dei, quo mirabilis esset in oculis nostris, fuerunt opera. Nisi enim se intellectui ipsius Abrahae sic ingessisset, ut is non ambigeret hanc vocem dei esse; frustra fuisset imperatum. Ut, inquam, vox ista dei soli Abrahae notissima erat, caeteris vero omnibus impostoris esse visa fuisset, sic, quae de fide in Christum, de verbo dei deque innocentia Christiana a piis dicuntur, non capient, qui fidem potius docti sunt quam experti.“
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Ausformung seiner scholastisch konzipierten Theologie entsprechend, hält Zwingli die Weckung von Affekten für die Hauptabsicht der hier sich artikulierenden göttlichen Pädagogik. Sie bezweckt mittels einer Art affektiver Schocktherapie Glaubensfestigung, einer Therapie, für die Gott sich dem Menschen einerseits akkommodiert, indem er ganz ungöttlich und humano more zu schwören unternimmt,Ⱥ52 sich ihm andererseits entfremdet, indem er das in solchen Schwüren Versprochene zu vernichten befiehlt. Geht alles gut, und schlussendlich geht es ja auch gut, vergrößert Gott so Konstanz und Perseveranz bei Abraham und den Glaubenden. Doch werden diese eben darum auf eine mehr als harte Probe gestellt, die sie, mit Gottes Hilfe zwar, aber eben letztlich doch sie, erst einmal bestehen müssen. Wenn Zwingli selbst einräumt, dass so manche in der Christenheit dazu zumindest zeitweise faktisch nicht in der Lage seien, indem sie Gottes Stimme vorerst verkennten oder überhörten, macht ihm das keine Sorgen. Im Gegenteil betrachtet er diesen Sachverhalt als ideale Plattform für antipäpstliche Polemik. Zum einen nämlich betrachtet er die Verblendung als Folge einer tyrannisch operierenden Verführung der Ungebildeten hin zu päpstlichen Erfindungen. Zum andern hält er verführerische Tyrannei eben darum für langfristig sinnlos. Jede noch so massive Terrorherrschaft vermöge die siegreiche Kraft der Gnade Gottes noch weniger zu unterdrücken als die doch bereits offensichtliche Unerbittlichkeit der natürlichen – im vorliegenden Falle der elterlichen – Affekte der Menschen.Ⱥ5ř Wolfgang Musculus bringt eine Generation später diese Auslegung einer mittels Geistesgabe plausibel werdenden Identität der Stimme Gottes in einer theologisch dichten Passage seines sowohl philologisch als auch theologisch beeindruckenden Pentateuchkommentars von 1554 auf den Punkt:Ⱥ54 52 5ř
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Ebd., 151, 24f. (zu v. 15): „Nam quandoquidem inter homines omnis controversiae finis est iuramentum, voluit deus cum Abraham humano more agere.“ Ebd., 145,21–29 (zu v. ř): „Ingerit ergo sese summus ille pastor sic suarum ovium mentibus, ut de voce eius intus loquentis nihil dubitent, imo alienorum voces ne admittunt [sic] quidem. Iam vide, quam stupidi, quam amentes, nedum stulti, sunt principes tyranni, qui contra deum coniurarunt ac pugnant, qui simplicem plebeculam a voce dei prohibent atque, ut papisticis commentis credant, cogunt. Stultius enim faciunt, quam qui adfectus naturae conarentur evellere aut qui hominem vi cogere tentarent, ne se, vitam liberosque tueretur. Plus enim valet gratia, vox et tractus dei patris in corde fidelium quam natura.“ MѢѠѐѢљѢѠ, Commentarii (Anm. 14), 5ř8 (zu v. ř). Der Praefatio voran geht eine den Subtitel erläuternde Liste der „Autorum nomina, quibus in hoc Opere interpres usus est. Abenezra. R[abbi] Abon. R[abbi] Abraham. Ambrosius. Aquila. Arrianus. Augustinus. Basilius. Bernardus. Berosius. M[artinus] Bucerus. Burgensis. Caluinus. Capnio. Chaldaeus paraphrastes. Chrysostomus. Dionysius. Ebraei. Ebr¿ae Concordantiae author. Euseb[ius] Caesariensis. *Abr[aham] Ezra. Gala rasaia. Ga-
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Geminum uerbum habebat de Isaaco. Promissionis unum, immolationis alterum.
Einheit Gottes und Glaube Abrahams werden in der Lösung perfekt ineinander verflochten.Ⱥ55 Auch bei Musculus ist dieser Glaube an Gottes Einheit durch seinen Geist gegeben:Ⱥ56 Spiritus Dei pectus Abrahae gubernans, spiritus est fidei. Is occulto quodam et infallibili sensu cor illius ad credendum diuinis oraculis indudebat.
Die Kraft dieses Geistes schafft den Glauben an die Einheit des doppelten Gotteswortes:Ⱥ57 Primum credebat utrumque cum promissionis tum immolationis uerbum, esse uerbum Dei.
1554 schließt sich auch Calvin in seinem lateinischen Kommentar zur Genesis dieser Terminologie fast nahtlos an.Ⱥ58
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latinus. Germanicus interpres. Graeca exemplaria. Gregorius papa. R[abbi] Hakados. Herodotus. Hieronymus. R[abbi] Ionathan. Ionatha[n] filius Vzielis. Iosephus. Iudaei. R[abbi] D[auid] Kimhi. Kimhi pater et filius. Lactantius. Latinus interpres. M[artinus] Lutherus. Lyranus. Magister Sententiaru[m]. Masores. Mercurius Trismegistus. Midrach Tehilim. Monsterus. R[abbi] Nahman. Oecolampadius. Origenes. S[anctus] Pagninus. Paraphrastes Ionath[an]. Plinius. Recentiores. R[abbi] Salomo. Septuaginta interpretes. Strabo. Symmachus. Tertullianus. Thalmud. Thargum. Theodotio. Thomas Aquinas. R[abbi] Tiberitae. Tigurinus interpres. Vulgata Latina editio.“ Zur wichtigen Rolle des Musculus in der Exegesegeschichte s. Dђљѣіљљђ, L’Europe (Anm. 7), ř24–ř29. MѢѠѐѢљѢѠ, Commentarii (Anm. 14), 5ř8 (zu v. ř); im Anschluss an obiges Zitat (Anm. 54) fährt Musculus fort: „De utroque nihil dubitabat, esse uerbum Dei quod acceperat, quamuis magna illi contrarietas inesse uideretur. Tam credidit esse uerbum Dei, quod dictum ipsi erat, Tolle filium tuum unicum quem diligis Isaac, et offer illum in holocaustum quam quo fuerat facta promissio, quod in Isaaco uocandum esset ipsi semen multitudine par stellis coeli, etc. Illi itaque inobediens esse nolebat, de isto dubitare non poterat.“ Ebd., 5ř8 (zu v. ř), Fortsetzung: „Si dicas, unde certus erat, esse uerbum Dei, et non satanae, quo filium a Deo singulari gratia toties promissum et mirabiliter contra naturae uires praestitum, denique benedictionis promissione sanctificatum immolare iubebatur: eadem ratione quaeras, unde certo cognouerit esse uerbum Dei, quo terra Canaan ipsi haereditario promittebatur, cum esset in illa peregrinus: item quo semen promittebatur, cum Sarah esset sterilis, et praeterea per aetatem quoque ad gignendum inepta. Spiritus Dei pectus Abrahae gubernans, spiritus est fidei. Is occulto quodam et infallibili sensu cor illius ad credendum diuinis oraculis indudebat.“ Ebd., 5ř8 (zu v. ř), Fortsetzung: „Prodest plurimum fidem et obedientiam Abrahae utranque in hoc praesenti exemplo admirabilem diligenter inspicere. Primum credebat utrumque cum promissionis tum immolationis uerbum, esse uerbum Dei. Deinde ut isti obedientia[m], ita illi fidem ueritatis adhibebat. Credebat Deu[m] ueracem esse in promissis, ueritatem Dei nullis posse rationibus irritam reddi.“ Jђюћ Cюљѣіћ, In primum Mosis librum commentarius (Anm. 16), ř12 (zu v. 1): „Speciem tentationis designat Moses, quod scilicet verbi sui fidem in sancta anima contrario verbi sui ariete perculerit. Ideo enim nomine ipsum compellat, ne ambiguus
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Die von Calvin im Juni 1560 gehaltenen und im Folgejahr veröffentlichten drei Predigten über das Opfer AbrahamsȺ59 betonen dann noch einmal deutlicher die menschlich-subjektive Komponente.Ⱥ60 Es handelt sich um französische Predigten, die einen Teil eines größeren Predigtzyklus zur Abrahamserzählung darstellen, der wiederum einen Abschnitt eines Predigtzyklus zum gesamten Genesisbuch bildet.Ⱥ61 Die Rolle des menschlichen Subjekts wird in diesen drei Predigten klarer sichtbar, da sie zwar in den Grundlinien der Exegese von 1554 folgen, doch trotz ihrer Homilienform einen zusammenhängenden Gedankengang entfalten, während der Kommentar knapp und drakonisch den Versen folgt.Ⱥ62 Nachdem der erste Sermon das unüberbietbar große psychologische Problem Abrahams dargelegt und daraus christliche Bereitschaft zur Bewältigung aller relativ dazu stets als geringer deklarierten Probleme mitsamt Verfolgungsrisiko eingefordert hat, bietet der zweite Sermon die eigentliche Lösung. Sie folgt den reformierten Grundlinien durchaus – Gott ist nicht konträr zu sich selbst –Ⱥ6ř, geht an einem Punkt aber doch weiter. War bei Zwingli und seinen Zürcher Nachfolgern die Unfähigkeit, zu glauben, eine wesenhaft passiv strukturierte Schwäche, wenngleich sie als der scheinbar leistungfähigen ratio des Menschen geschuldete Größe auftritt, wird sie bei Calvin nun zur Stärke, zur falschen Stärke freilich. Calvin spricht nicht mehr eigentlich von Unglauben, sondern von prudence, dem Vertrauen auf die eigene Vernunft:Ⱥ64 Et voila ceste maudite sagesse des hommes qui est la plus grande ennemie de la foy, qui tousiours veut avoir la vogue.
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sit mandati autor. Nisi enim certo persuasus fuisset Abraham vocem esse Dei, quae filium Isaac occidi iubebat, facile solutus fuisset molestia: fretus enim certa Dei promissione, quasi Satanae fallaciam repudiasset: ita nullo negotio discussa tenatio fuisset.“ Cюљѣіћ, Trois sermons (Anm. 16). Die kirchenpolitischen Implikationen der Botschaft dieser drei Predigten werden unten in Teil (5) gesondert aufgegriffen. Ein Teil dieses Zyklus ist in einer exzellenten neuen Edition greifbar: Jђюћ Cюљѣіћ, Sermons sur la Genèse, chapitres 1,1–20,4, hg. v. Mюѥ Eћєюњњюџђ (Supplementa Calviniana XIȦ1–2), Neukirchen-Vluyn 2000. Für Gen 22 ist die neueste Ausgabe noch immer diejenige des Corpus Reformatorum (s. oben Anm. 16). Literatur zu Calvin als Prediger nennen Rіѐѕюџё SѡюѢѓѓђџ, Dieu (Anm. 4), 15, Anm. 2ř; Eћєюњњюџђ, Introduction Ȧ Bibliographie, in: Sermons sur la Genèse (Anm. 61), VII–LVII Ȧ LVIII–LXVIII. Cюљѣіћ, Trois sermons (Anm. 16), 758: „Et quant à ce discord qu’il pouvoit trouver entre ce commandement qui luy estoit fait et les promesses qui luy avoyent esté données […]. Mais quand ces pensees nous viendront en fantasie, que la chose ne se peut faire, qu’il y a comme du contredit, que nous concluyons Si est-ce que Dieu accomplira ce qu’il a dit.“ Ebd., 765.
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Diese prudence wägt ab, versucht zu verstehen, welche Konsequenzen das Befolgen der Befehle Gottes haben könnte, bevor sie sie ausführt. Der Gehorsam wird so in prudence, also eben vorsichtig, reflektiert. Wer so agiert, der wolle, bemerkt Calvin „être plus sage et avisé“Ⱥ65 als Gott.Ⱥ66 Die Menschen sollten aber nicht so spitzfindig sein, „pas si aigus que ces sages mondains“, sondern ihre Pflicht einfach tun, und zwar im Vertrauen auf die Providenz Gottes, die für alles zu seiner Zeit sorgen werde. Kurz: „La vraie sagesse […], c’est de n’être trop sages.“Ⱥ67 Wie solcher Gehorsam verwirklicht werden könne, erläutern der dritte und antizipierend bereits der erste Sermon, nämlich mittels unbeirrbarer Selbstverleugnung, einem Schlüsselkonzept calvinischer Ethik. Calvin betont freilich auch, dass christlicher Gehorsam Sohnesliebe und nicht sklavische Untertänigkeit zu bedeuten habe.Ⱥ68 Sie entspringt zwar einem freiwilligen Blindsein für die Einflüsterungen der prudence, aber nicht aus knechtischer Unterwerfung, sondern im Vertrauen auf die unermessliche Macht Gottes.Ⱥ69 Die Predigtreihe, die als Manuale calvinischer Spiritualität in nuce bezeichnet werden kann, bildet einen fulminanten Schlusspunkt in der Serie früher reformierter Ansätze, die in der Opfergeschichte in Frage gestellte Einheit Gottes und seines Redens zu wahren – eine Serie, die sich mehr und mehr der Ethik zuneigt, weil die Einheit Gottes eben nicht diskutabel, sondern als solche entgegenzunehmen sei. Zwar rezipiert diese Kette reformierter Ausleger durchweg mittelalterliches Erbe. Nicht nur die Insistenz Zwinglis auf der essentiellen Einheit Gottes selbst angesichts polarer Eigenschaften, sondern auch und gerade die dezidiert antispekulative Zuspitzung der Gehorsamsfrage bei Calvin greift ein urklassisches Postulat spätmittelalterlicher Frömmigkeit auf. 65 66
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Ebd., 767. Etymologisierend könnte man ergänzen, in Calvins Augen werde göttliche providentia durch menschliche providentia, providence durch prudence, Vorhersehung durch Vorsicht zu substituieren versucht. Cюљѣіћ, Trois sermons (Anm. 16), 767. So besonders ebd., 774f. Ebd., 758: „Puis’qu ainsi est que les promesses de Dieu ne nous apportent pas à veue d’oeil ce qu’elles contienent, il faut (comme i’ai desia dit) que nous montions par dessus le monde quand il est question de croire. Est qu’est-ce que cela? Assavoir, que nous ne mesurions pas la vertu de Dieu qui est infinie, à ces moyens que se presentent et lesquels nous comprenons. Ebd., 778: „Ici donc nous avons à noter en premier lieu, quand nous doutons de la resurrection qu’il nous faut eslever les yeux à la puissance infinie de Dieu, et ne douter pas qu’il ne soit puissant pour nous retirer du sepulchre et de pourriture.“ Zum Zusammenhang von Infinität als theologischer Kategorie und Providenzglauben Calvins s. SѡюѢѓѓђџ, Dieu (Anm. 4), 111f., mit den anschließenden Ausführungen zur Scotismusrezeption im Predigtwerk Calvins, 112–116.
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Augenfällig lässt sie sich durch den nicht erst seit Jean Gerson mit Vehemenz geführten Kampf contra curiositatem inspirieren, letztlich wohl sogar in diesen Kampf direkt einreihen.Ⱥ70 Doch das vom Mittelalter geerbte Grundproblem der allein für Verlässlichkeit bürgenden Einheit Gottes wird insgesamt frühmodern gelöst. Es erfolgt nicht allein eine zunehmende Betonung der Integrationskraft des glaubenden Subjekts, sondern in diesem Zuge dann auch eine reformatorische Neubestimmung seiner Leistungsmöglichkeit.
Abraham und die Einheit von Glaube und Werken (Ethik) Schon bei Zwingli erscheint die Opferung Isaaks nicht allein im Kontext des Genesiskommentars. Dieser verweist vielmehr auf eine Schrift, die sich seit jeher einen eher zweifelhaften Ruf in der Christenheit gefallen lassen musste, bei den Reformierten aber von Beginn weg neue Beachtung, ja Hochschätzung fand, nämlich den Jakobusbrief. Von den für diese Studie untersuchten Autoren kommentieren ihn nicht weniger als drei in eingehender Weise. Zwinglis Vorlesung erscheint postum 15řř; sie ist zudem in einer zweiten Abschrift von 15ř2 überliefert; Pellikan kommentiert den Brief im letzten Band seines Kommentars zur Gesamtbibel von 15ř9; und Calvin erklärt Jakobus in einem Kommentar zu den sog. katholischen Briefen, der 1551 mit Widmung an Edward VI. von England publiziert wird.Ⱥ71 Beza übersetzt zudem immerhin den Brief in seiner Gesamtausgabe des Neuen Testaments von 1565.Ⱥ72 Der auffällige Einsatzwille für dieses Stiefkind des Kanons ist zweifellos konfessionell motiviert. Er erklärt sich einerseits durch das dezidiert integrale Kanonsverständnis, das hier tatsächlich eine reale innerprotestantisch-konfessionelle Differenz im Zugang zur Bibel bewirkte und aufgrund dessen etwa Pellikan nicht nur einen Kommentar zu Jakobus, sondern gleich den einzigen vollständigen Bibelkommentar der Reformation schuf.Ⱥ7ř Er beruht andererseits aber auch auf dem dezidier-
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Dass die Warnung vor leerer curiositas bei Calvin eine beachtliche Rolle spielt, speziell auch im Zusammenhang mit seiner Lehre von der Gnadenwahl, ist bekannt; es sei hier nur verwiesen auf den sehr bekannten Abschnitt Inst. III, 24, 4; einen Passus, in dem nicht zufälliger Weise dem auch von Gerson so geschätzten Bernhard von Clairvaux das Wort erteilt wird. Zu den bibliographischen Nachweisen s. oben Anm. 22. Moderne Edition: Jesu Christi domini nostri Novum Testamentum. Ex interpretatione Theodori Beze impressa Cantabrigiae a. d. 1642 in officina Roberti Danielis (Societas bibliophilorum britannicae et externae o. Nr.), Berlin 1886. S. oben Anm. 12.
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ten Willen zu einer Ethik, die Werke nicht nur in der Praxis des Glaubens, sondern auch in der theologischen Reflexion darüber verankert sehen will. Dazu bieten die Verse über das Isaakopfer gegen Ende des zweiten Kapitels dieses Briefes einen idealen Ausgangspunkt. Es dient das Kinderopfer hier erneut zur Legitimation eines zentralen religiösen Wertes, der sich zum Kinderopfer als solchem letztlich kontingent verhält, nämlich der reformierten Ethik, die auf Heiligung Wert legt – jenen Wert, der durch Abrahams Opfer hier beglaubigt werden soll. Die reformierten Kommentatoren steigen im Allgemeinen im Stil eines gut humanistischen argumentum mit grundsätzlichen hermeneutischen Überlegungen in den Briefkommentar ein, indem sie vorgängig zur Einzelexegese die allgemeine Absicht und Ausgangslage, sozusagen den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Verfassers bestimmen. Zwingli erkennt sie in der Abwehr zweier Extreme, die beide auf ihre Weise die glaubensbedingte Rechtfertigung nicht ernst nehmen, indem sie den Werken entweder zuviel oder zuwenig Wert beimessen. Die einen landen so in der Selbstgerechtigkeit, die andern beim Libertinismus.Ⱥ74 Wenden sich Paulus und Petrus vor allem gegen die ersteren, so unternimmt Jakobus einen literarischen Kampf gegen die Letzteren. Er hilft so laut Zwingli den Gläubigen ihren Weg zwischen Skylla und Charybdis zu finden, einen Weg der Mitte, der wie auch in anderen Kontexten bei Zwingli durch ethisches Maßhalten charakterisiert ist:Ⱥ75 Christen müssen in Bezug auf die Werke gegen beide Seiten Maß halten, nicht nur der 74
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ZѤіћєљі, Brevis […] expositio (Anm. 22), 548f.: „Hic locus, quoniam salutem operibus tribuere videtur, fecit, ut haec epistola canonicis scripturis a quibusdam veteribus non sit connumerata. Sed si scopus totius epistolae diligentius consideretur et sancti viri mens in deum ardentissima, nihil minus quam opera iustificare dixisse Iacobum palam fiet, maxime si a fide seiuncta fuerint. Atque hic a multis in utranque partem peccatur. Alii enim fidem ab operibus separant, ut Iudaei omnes, pharisaei, hypocritae, pontificii, iustitiarii, qui ex lege et operibus iustitiam quaerunt. Et hi ad dexteram aberrant Christi gratiam spernentes, imo Christi meritum et iustitiam negantes et abolentes, ut suam statuant, hominum genus pessimum, et quibus cum prophetis, Christo et apostolis negotium semper fuit, peiores iis, de quibus mox dicemus, imo saepe peiores sceleratissimis et maximis peccatoribus, qui eos in regno dei antevertunt. Alii vero fidei charitatis opera adimunt inani tantum fidei vocabulo gloriantes, quum interim non Christo, sed sibi vivant et mundo, libertatem Christi velamentum scelerum suorum faciunt ,rursus crucifigentes sibimetipsis Christum‘ [Hebr 6,6] et sanguinem eius pedibus conculcantes ac ludibrio exponentes [vgl. Hebr 10,29], sues scilicet ac porci rursum ad coeni volutabrum redeuntes, postquam fuerint loti [vgl. 2Petr 2,22], et hi ad sinistram declinant.“ Zwingli verwendet in seinen exegetischen Schriften die Wortfamilien modus / moderatio / moderari und temperatio / temperari nicht nur im Sinne einer sittlichen oder medizinischen Diätetik im Bezug auf konkrete Handlungen, sondern zuweilen auch auf einer Metaebene im Sinne eines Plädoyers für genügend inneren Abstand gegenüber den eigenen allgemeinethischen und auch frömmigkeitlichen Anstrengungen.
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Überbewertung, sondern auch der Unterschätzung der Werke wehren.Ⱥ76 Andernfalls stilisieren sie heuchlerisch etwas zur fides hoch, was gar keine ist, und die es von ihrem wahren Gegenstück, das vor Gott gerecht macht, zu unterscheiden gilt. Keinesfalls lehnt Jakobus hier nach Zwingli die rechtfertigende fides ab, sondern im Gegenteil vermittelt er Kriterien zu deren lebensnaher Verifikation, indem er konkrete Gehorsams- und Liebeshandlungen als Zeichen für den wahren Glauben benennt. Das prominenteste dieser Exempel, so Zwingli mit Jakobus, ist Abraham bei der Opferung seines Sohnes, indem er dort unübertrefflich zeigt, was lebendiger Glaube ist. Diese Interpretation der Werke als Anzeichen wahren und somit rechtfertigenden Glaubens sieht Zwingli exegetischphilologisch unterstützt durch eine lexikalische Identifikation des griechischen Verbums der Mitwirkung in Jak 2,9 mit dem gleichnamigen Verb in Gal 2,8. An beiden Orten bedeute ΗΙΑΉΕ·ΉϧΑ eine Mitwirkung am Handeln einer Person im Sinne einer Zeichenhandlung, die dieses Handeln beglaubigt.Ⱥ77 Von dieser abstrakt-humanistischen Grundannahme ausgehend bringt Zwingli dann konkretere und einprägsamere Beispiele. So vergleicht er etwa den Glauben mit einer Weinkanne. Sagt einer im Wirtshaus: „Reicht mir noch eine Kanne!“, meint er damit keineswegs die Kanne als solche, denn erhält er eine andere als eine volle 76
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ZѤіћєљі, Brevis […] expositio (Anm. 22), 550: „Porro inter hos electi filii dei, regia via inter metum et spem incedunt morbum suum humiliter agnoscentes, unde in eis generatur peccati horror et pudor, salutis desiderium excitatur. Rursus quum charitatem illam pientissimi patris, qua eos ab aeterno complexus est, perpendunt, et quod illorum gratia filium unigenitum in hunc mundum misit, fiduciam certam et spem in deum concipiunt, in quem se totos coniiciunt. Summa illis cura est, ut patrem tam beneficum nusquam offendant, sed ut ad voluntatem illius se totos componant, mundo sint mortui et deo vivant [Röm 6,10]. Haec vero fides quoniam ex deo est per spiritum sanctum in corde credentium excitata, sine charitate esse non potest, quae se in usus proximorum totam effundit et ita filios dei accendit, ut patrem suum in coelis beneficentia in omnes referant. Iacobus ergo quum fidem iustificare negat, non de vera illa, viva et efficaci perque charitatem operante fide [Gal 5,6] intelligit, cui in scripturis iustificatio et salus tribuitur, sed eam, quam iactant quidam, qu¿ non fides, tametsi eam ita adpellent, est, sed potius opinio, taxat et reprobat, quam et idcirco mortuam fidem adpellat, quod charitate, quae vera vita est, careat.“ Ebd., 551: „Fidei nihil derogare Iacobum et hoc probat, quod dicit: ̽ ΔϟΗΘΖ ΗΙΑφΕ·Ή ΘΓϧΖ σΕ·ΓΖ ΦΙΘΓІ, Ύ΅Ϡ πΎ ΘЗΑ σΕ·ΝΑ ψ ΔϟΗΘΖ πΘΉΏΉЏΌ. Fides adiumento fuit factis illius, et ex factis fides perfecta fuit. Quibus verbis manifestum fit, quod neque operibus seorsim aliquid tribuit neque vult, quod opera fidem faciant, sed energiam fidei ex operibus probat et fidem operum effectorem et quasi authorem facit. Hoc enim ΗΙΑΉΕ·Ήϧ hic significare puto (quemadmodum et in Galatis [2,8], dum Paulus dicit: ̳ΑΉΕ·φΗ΅Ζ ̓νΘΕУ πΑφΕ·ΉΗΉ Ύ΅Ϡ πΑ πΐΓϟ. Qui efficax fuit et vim suam ostendit in Petro, idem et in me vim suam exeret. Sentit enim, quidquid per Petrum effectum est, non ex ipsius viribus, sed deo authore perfectum) vim exerere, efficere et operari aliquid ut authorem, sed per alium aut in alio.“
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Kanne, fühlt er sich fraglos missverstanden. Eine Weinkanne ohne entsprechenden Inhalt ist in dieser Situation überhaupt keine Kanne, weil sie den Durst nicht löscht. Ebenso ist Glaube ohne Werke für Jakobus überhaupt kein Glaube, weil er nicht gerecht machen kann. So wie man bei einem Haus mit Fenstern voller Spinnweben sagen kann „hier wohnt niemand“, ist es richtig zu sagen, dass ein Glaube ohne tätige Liebe tot bleibt.Ⱥ78 Auch Calvin lenkt seine Exegese in diese Richtung, greift damit aber dann nicht mehr die lutherische Relativierung des Briefes an, sondern die sechste Sitzung de iustificatione des zur Zeit der Kommentarabfassung tagenden Konzils von Trient.Ⱥ79 78
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Ebd., 550f.: „Exemplis duobus [sc. Abraham ac Rachab] arctissime stringit hypocritas et vanam fidem explodit, quod in hoc notatur, quod dicit: ,Homo inanis‘, symbolica loquutione ostendens fidem mortuam ac vanam esse, qua quidam gloriantur. Vas vinarium sive vacuum sit sive plenum, cantarum adpellamus, sed ex ipso sermone et cirumstantiis satis intelligimus, quum de cantaro quis aut vino loquatur. Quum enim dicit: Pr¿be cantarum et infunde, facile capimus vinum, non cantarum vacuum postulari; quum vero dicit: Ablue cantarum, de vacuo vase dici quis non intelligit? Sic fidem vocamus donum illud coeleste [Eph 2,8], quo iustificantur et salvantur electi et quod per charitatem, dum tempus est, efficaciter operatur. Nihilominus et fidem adpellamus opinionem istam vanam et mortuam, qua quidam tument multa de fide, de deo deque divinis rebus sonantes. Quemadmodum vasa quo sunt minus plena, hoc, dum volvuntur et quassantur, magis crepitant et sonum aedunt vehementiorem. Huiusmodi homines vanos ac fidei vacuos inanes vocat. Qui deo pleni sunt, solidi sunt et constantes, deinde ope ac consilio in reliquos exundant. Symbolicae loquutiones, quae Germanis frequentes sunt, ut sunt urbaniores, ita rem graphice deliniant. Quum quis cruorem in pisce coagulatum dicit, omnes intelligunt piscem iamdudum mortuum esse et ab eo abstinent emptores, sermo tamen civilior est, quam si dixisset piscem esse mortuum. Quum praetereuntes domum fenestras pertusas conspicimus et omnia telis aranearum plena, dicimus: Hic nemo habitat. Certissimo itaque argumento nititur Iacobus. Quasi diceret: Ubicunque non sunt opera charitatis et facta fide digna, illic fidem abesse certissimum est. Neque contra sequitur: Opera adsunt, ergo fides adest. Nam et hypocritae absque fide opera multa faciunt, eaque valde speciosa. Non ergo fidem veram impugnat Iacobus, sed ostendit fidem illic nullam esse, ubi desunt opera, rursus ubi fides sit, illic opera sequi certissime.“ Cюљѣіћ, Commentarius (Anm. 22), 406 (zu 2,20): „Quum fidem dicit cooperatam fuisse operibus, et ex illis perfecta: iterum ostendit, non esse hic quaestionem de salutis nostrae causa, sed utrum opera necessario fidem comitentur. Nam hoc sensu dicitur cooperata fuisse operibus, quia otiosa non fuit. Dicitur ex operibus fuisse perfecta, non quod inde suam perfectionem accipiat, sed quod vera esse inde comprobetur. Nam quod ex his verbis sophistae putidam suam distinctionem fidei formatae et informis eliciunt, longa refutatione non indiget. Formata enim adeoque expolita erat Abrahae fides ante filii immolationem. Opus autem illud non fuit quasi extrema manus: quoniam multa deinde sequuta sunt quibus fidei suae incrementa monstravit Abraham. Quare neque fuit illa fidei eius perfectio, neque tunc primum formam induit.“ Während die Frage nach Mehrbarkeit der Gnade in der mittelalterlichen
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Den auf die sozialen Aspekte des Glaubens ausgerichteten Sinn von Jak 2 unterstreicht besonders Pellikan, wenn er anhand der anderen Exempelfigur für lebendigen Glauben bei Jakobus erklärt, warum die Werke auch im reformatorischen Glaubensverständnis so bleibend wichtig sind: Indem Rahab, die Hure, die Spione Israels bei sich übernachten lässt, rettet sie ihnen das Leben. Die Werke nützen also dem Nächsten, sie sind tätiger Ausfluss der Barmherzigkeit und Wohltätigkeit:Ⱥ80 Tantum ualet apud deum misericordia et beneficentia in proximum, ut mulier, ut meretrix, ut alienigena hospitalitatis officio commendata, meruerit in catalogo piorum, in catalogo ciuium, in catalogo probatissimorum patriarchum annumerari.
Bereits Zwingli weiß, etwas weniger nachdrücklich, aber doch deutlich von ihr zu sagen:Ⱥ81
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Hochscholastik zumeist im Anschluss an das dritte Buch der lombardischen Sentenzen christologisch dekliniert wird, spielt das nunmehr unter Berufung auf Jak 2 allgemein anthropologisch-soteriologisch begriffene incrementum acceptae iustificationis und das augmentum gratiae in den Capita 7 und 10 der Sessio VI eine nicht geringe Rolle bei der argumentativen Grundlegung der canones 24 und ř2; vgl. Enchiridion Symbolorum, hg. v. Hђіћџіѐѕ Dђћѧіћєђџ, Aёќљѓ SѐѕҦћњђѡѧђџ, Freiburg i. Br. u. a. ř6 1976, Nr. 15ř1. 15ř5. 1574. 1582. Pђљљіјюћ, In omnes apostolicas epistolas (Anm. 22), 696f. (zu v. 12): „Similiter et Raab meretrix, nonne ex operibus iustificata est, suscipiens nuncios, et alia uia eijeciens? Sicut enim corpus sine spiritu mortuum est, ita et fides sine operibus mortua est. Tantum ualet apud deum misericordia et beneficentia in proximum, ut mulier, ut meretrix, ut alienigena hospitalitatis officio commendata, meruerit in catalogo piorum, in catalogo ciuium, in catalogo probatissimorum patriarchum annumerari. Raab Iudaea non erat, meritorio diversorio praefecta erat, quaestu non admodum probato uictum parans, et tamen in diuinis libris iustitiae laudem promeruit, non ex fide tantum, quod persuasum haberet eo remuneratore nulli sua benefacta perire, praesertim quod in bonos, aut certe dei respectu conferretur, sed ex eo quod contempto periculo uitae suae, exploratorum uitae consuluit, quod nuncios quos exploratum miserat dux Israelitarum, ne perirent furtim alia uia emiserit. Poterat inire gratiam non mediocrem apud suos, si, quod ipsi erat in manu, prodidisset exploratores, sed maluit seruire uoluntati diuinae quam suo compendio: neque diffidebat, quin ab illo praemium copiosius rependeretur quam ab hominibus. Quemadmodum igitur Abraham non ex fide nuda iustitiae laudem promeruit, sed ex fide factis comprobata: ita et Raab frustra credidisset deum Israelitarum esse uerum deum, nisi, cum esset obiecta occasio, factis declarasset sese ex animo credere: alioqui fides, ut dixi, quae friget absque charitate, nec se profert quum res postulat, ne fides quidem est, tantum est inane fidei nomen. Etenim quemadmodum corpus anima destitutum mortuum est et inutile: ita fides, si desit charitas non otiosa, mortua est et inefficax.“ ZѤіћєљі, Brevis […] expositio (Anm. 22), 550: „Quod in posteriori exemplo videre est, quum fidem meretricis Rachab ex beneficentia et charitate in exploratores non fuisse vanam arguit, quorum saluti non consuluisset, si vitam suam magis quam deum dilexisset. Sed facto insigni et arduo prorumpit fides: Vitam contemnit propriam, ut proximorum tueatur; se in periculum dat, ut caeteros servet. An non evidens animi
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Vitam contemnit propriam, ut proximorum tueatur; se in periculum dat, ut caeteros servet.
Diese Formulierung hat ihrerseits das Verdienst, dass sie einmal mehr die exegetische Instrumentalisierung des Opfergedankens erhellt: Wie bei Jakobus werden in der reformierten Exegese das Kinderopfer Abrahams und das Selbstopfer Rahabs funktional parallelisiert, weil es letztlich weder um das eine noch um das andere geht, sondern um den zu ihnen kontingenten Wert tätiger Liebe.
Abraham und die Einheit von Gottvertrauen und Institutionsverzicht (Ekklesiologie) Bei der Darstellung der frühreformierten Bewältigung des extremen Opfers in Gen 22 drängt sich die Frage auf, was denn eigentlich in Zürich und generell den reformierten Republiken konkret zu opfern war. Worin unterschieden sich die jüngst reformierten eidgenössischen Orte von katholischen Städten oder Territorien; was hatten sie wirklich aufzugeben oder gar schmerzlich loszulassen. Unter ökonomischen Gesichtspunkten wird man vermuten dürfen, dass der Verzicht auf Reisläuferei, also auf gut bezahlte Söldnerdienste für die Mächte Europas, besonders Frankreichs und der Kurie, die Städte zwar schwächte, doch nicht ganz in demselben Maße, wie sie die ländlichen Orte der Eidgenossenschaft treffen musste. Umgekehrt stärkte die Reformation den neuen Produktionszweig des Buchdrucks und -handels, der insbesondere für Basel, aber auch für Zürich eine gewisse auch ökonomisch bedeutsame, wenngleich letztlich deutlich sekundäre Rolle erlangte. Ganz generell gilt die Reformation eher als Zeit wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwungs und nicht etwa der materiellen Beschränkung oder Opfer. In ihrer subjektiven Wahrnehmung jedoch hatten die protestantisch gewordenen Orte dennoch eine Menge preiszugeben, vor allem an territorialer Sicherheit und überhaupt an außenpolitischen Berechenbarkeiten, doch auch an inneren, insbesondere an kirchlich-institutionellen Stabilitäten. Bei den äußeren Ungewissheiten ist insbesondere an die außenpolitisch-militärische Situation zu denken, die für Zürich und die gesamte reformierte Schweiz mit der Reformation merklich prekärer geworden war.Ⱥ82 Ebenso drängend, wenn nicht drängender aber war zweifelsohne das Emp-
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bene fidentis deo argumentum est parentes, patriam, vitam denique suam contemnere, ut deum lucrifacias.“ Zwar war Zürich von Kriegsgelüsten keineswegs frei, nicht nur zu Zwinglis Lebzeiten und Einflussnahme, sondern auch noch und insbesondere im Dreißigjährigen Krieg. Doch muss man objektiv gesehen wohl die reformierte Eidgenossenschaft als
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finden eines Verzichtes auf innere, institutionell-geistliche Sicherheiten, die der Christenheit während Jahrhunderten zur Verfügung gestanden und sie in ihrer Selbstwahrnehmung zutiefst geprägt hatten. Die traditionelle Volksfrömmigkeit stand nur noch sehr teilweise zur legitimen Disposition, eine neue, reformatorische Spiritualität hingegen konnte sich erst sehr allmählich durchsetzen. Die alte Auffassung der apostolischen Sukzession wurde weitgehend vergeistigt, doch neue Strukturen institutioneller Art wurden erst allmählich aufgebaut. Die Stützung durch jahrhundertealten theologischen, aber auch kirchenrechtlichen Traditionsbezug entfiel, doch eine neue, konstruktive Mittelalterperspektivierung kam erst in der zweiten Jahrhunderthälfte. Was Wunder, dass in Zürich die Reformation oft mit dem Auszug aus Ägypten verglichen wurde,Ⱥ8ř wo das alte Land längst nicht mehr, das neue aber noch nicht in Sicht war und sich die Frage an die zweite Generation der Reformatoren zu stellen begann, ob das neue Israel so eigentlich überhaupt existenzfähig sei, ob mithin dieser kirchlich-gesellschaftliche Aufbruch eigentlich wirklich realistisch und machbar sein könne.Ⱥ84 In diesem Licht dürfte eine Besonderheit der Kommentare zum Kinderopfer Abrahams zu verstehen sein, die in der altkirchlich-mittelalterlichen Typologie so nicht vorkommt, und die auch sonst erst einmal eher sonderbar wirkt, nämlich die Reprojektion und Antizipation der entsprechenden paulinischen Beschneidungsanalogien in die Zusagen Gottes gegen Ende von Gen 22. Gott wiederholt in Gen 22,15–18 seinen Schwur aus Gen 15 und 17, er verdoppelt gleichsam sein Versprechen. Pellikan deduziert daraus eine explizite Auffächerung der beiden Versprechen, die er rhetorisch eindringlich darlegt:Ⱥ85
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stärker von ihrem katholischen Umfeld bedroht einschätzen als dass umgekehrt von ihr selbst Gefahr ausging. Zu dieser praktisch seit Beginn der oberdeutschen Reformation topischen Referenz auf den biblischen Exodus, s. Bђџћёѡ Hюњњ, Zwinglis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988, 20–22. In diesem Licht sind die meisten der Prophetenkommentare in der Zürcher Reformation zu verstehen. Pђљљіјюћ, Commentaria bibliorum […] Tomus primus (Anm. 1ř), 29b: „Capite quintodecimo benedixit Dominus Abrae primum, pro filiis iuxta carnem, in terris, sermone tantum: hîc secundo benedicitur, pro filiis iuxta fidem, de coelis, interposito iuramento, et addita causa oblationis filii, ut sint secunda firmiora primis, hoc loco, quod et aliâs saepe. Latior enim, firmior, et efficatior est benedictio secunda, priore: sicut et filij secundum fidem nobiliores sunt, filijs iuxta carnem, et latius diffunduntur, et ampliori gratia benedicuntur, scilicet post Christi passionem, et arenae maris aequantur ac stellis. Poßidebunt pii quoque toto in orbe portas impiorum, pellet et destruet fidei ueritas, omne mendatium, ueri Dei cultus, idolatriam: redundabit benedictio seminis Abrae in omneis genteis: omnisque altitudo mundi huius humi-
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Mit dem eÿd bestätigt got die vorigen zuosag, am 15. c[apitel] beschähen, mit worten und zeichen, das gschicht um des gloubens und der gehorsam willen, und ist dise ander beschnÿdung groeßer und sterker, als auch größer ist glaub dan das fleÿsch. Streckt sich auch wÿter uß die benedÿung der kinden hier im glouben, dan die bündnÿß isaacs in der beschnÿdung. Noch Christi opfer so werden die gots kinder gemert alls der sand am meer und die sternen on zaal, die gloubigen werden uberwinden alle figend, und underwaerfen inen all sünd, hell, und todt. Wohrheit wurt uberwunden die lügen, der recht gotsdienst die abgötterÿ, die benedÿung abraams wurt sich ußbreiten in alle völker, die werden zuonenn in der schoß abra¿, on end, un rich der himmlen. Aller hochmuot dieser welt, wurt dem gebenedeÿten som abrah¿ hier underworfen werden, Das gots wort wurt uberwÿnden die wÿsseit, gwallt, und boßheit der ganzte wellt, das ist gschähen und wurt volkumlicher gschähen.
Es handelt sich um offensichtliche Überbietungsrhetorik, die plausibel zu machen sucht, wie sehr „geistliche“ Institutionen „fleischliche“ Gegenstücke nicht nur an Wert, sondern auch an Kraft zu überbieten vermögen. Die augenfälligen Antonyme (Glaube-Beschneidung, Wahrheit-Lüge, rechter Gottesdienst-Abgötterei) erinnern an herkömmliche konfessionelle Polemik, doch muss man sich fragen: Kann soviel Eindringlichkeit aus gänzlich allgemeinen Erwägungen kontroverstheologischer Natur kommen? Schlägt hier nicht das Herz eines Kirchenmannes, eines im konkretesten, nämlich im lokal-geographischen Sinne kirchlich gebundenen Auslegers über alle Gelehrsamkeit (für die ja gerade Pellikan bekannt ist) hinaus? Zwar äußert sich schon Zwingli bereits ähnlich, doch weit weniger klar und mehr nebenbei im Stil einer ergänzenden „Fußnote“.Ⱥ86 Bei Pellikan wird Abraham nun aber zum herausragenden Stifter kollektiven Glaubensmutes, der auf Beschneidungssymbolik und äußerliche Institutionalisierungsaspekte verzichtet, weil und indem er sie im Glauben hinter sich lässt, ja geradezu überwindet. Mit großem symbolischem Nachdruck wird eine der kommunikativen Absicht Pellikans mit einiger Wahrscheinlichkeit ähnliche Lesart der Opferung Isaaks von einer der prominentesten Politikergestalten des deutschen Protestantismus der Jahrhundertmitte vorgeschlagen, nämlich von Ottheinrich (1502–1559), Landesvater des Fürstentums
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liabitur semini Abrae, praeualebitque uerbum Dei, sapientiae, potentiae, malitiaeque uniuersae huius mundi.“ ZѤіћєљі, Farrago (Anm. 11), 152,21–2ř (zu v. 17f.): „Duplicem esse promissionem, carnalem scilicet et spiritualem, satis ex superioribus puto esse auditum. Quandoque autem spiritualem praeponit, ut cap. xvii, quandoque temporalem, ut hic.“ Ob die Umdrehung der Kapitel als Missverständnis von Seiten der Schreiber zu begreifen ist?
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Pfalz-Neuburg und von 1556 an Kurfürst als Pfalzgraf bei Rhein.Ⱥ87 Der Pfalzgraf hatte das Fehlen einer äußerlichen, nämlich dynastischen Absicherung zu bewältigen, das nicht nur seinen Status als eines politisch potenten Fürsten zu unterminieren, sondern darüber hinaus auch seine konfessionspolitischen Pläne zu delegitimieren drohte. Mit Hilfe von Gen 22 und einer Handvoll fähiger Künstler in seinen Diensten machte er allem Anschein nach aus der Not eine reine Tugend. Das Ausbleiben männlichen Nachwuchses, so Ottheinrichs vermutlich planvoll ausgesandte, wenngleich nie verbal explizierte Botschaft, war nicht etwa eine göttliche Strafe für sein seit 15ř8 offensichtliches Ausscheren aus der Riege der altgläubigen Fürsten im Südosten des deutschen Reichsteils – sondern im Gegenteil eine Art Beglaubigung seiner reformatorischen landesväterlichen Frömmigkeit, die trotz des Ausbleibens leiblichen Nachwuchses nach dem Vorbild des großen Patriarchen Anspruch auf reiche geistliche Nachkommenschaft erheben konnte und wollte. In der Hofikonographie lassen sich auffallend viele Spuren dieses Programms erkennen. Schon im wohl 15ř7–ř9 ausgestatteten Rittersaal der Schlossanlage in Neuburg an der Donau findet sich eine Jörg Breu d. J. zugeschriebene Glasmalerei mit Isaaks Opfer auf dem Berg Morija.Ⱥ88 Hauptstück des Programms ist die Darstellung der Opferung IsaaksȺ89 in einem der „sechs große[n] typologische[n] Wandbilder mit Szenen aus dem Leben der alttestamentlichen Patriarchen“Ⱥ90 in der Neuburger Schlosskapelle, die der Maler Hans Bocksberger ab 154ř gestaltete (vgl. Tafel 15 im Anhang).Ⱥ91 Der Graf ließ das Motiv aber nicht nur in der baulichen Ikonographie, sondern auch im Tischzeremoniell aufscheinen; er ließ sie einerseits in die langen Tafeltücher, andererseits sogar in die Serviette jedes einzelnen Tischgastes einweben. Damit erlangte die Botschaft eine gewisse sozusagen protokollarische Unausweichlichkeit für die Besucher zu Hofe.Ⱥ92 Die beiden Interpretationen offenbaren ceteris imparibus mehrere interessante Gemeinsamkeiten. Beide entstanden im Umfeld einer nicht mehr völlig pionierhaft herausgeforderten, aber in einem konkreten Territorium definitiv zu etablierenden Reformation. Pellikan schreibt vermutlich während oder direkt nach dem Zweiten Kappeler Krieg, als die 87
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Zum Folgenden s. Fџіѡѧ GџќѠѠђ, Image der Macht. Zum Bild hinter den Bildern bei Ottheinrich von der Pfalz (1502–1559), Diss. Universität Halle-Wittenberg 2002, Petersberg 200ř. Für den Hinweis danke ich Prof. Dr. Ulrich Heinen. Ebd., 157. Ebd., 156f. Ebd., 21. Ebd., 20f. Ebd., 157.
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Enttäuschung in Zürich so groß war, dass Bullinger überlegte, die Stadt zum Ausstieg aus dem „ewigen“ Bund der Eidgenossen zu bewegen.Ⱥ9ř Ottheinrich lancierte sein ikonographisches Programm während und nach dem Wechsel der Konfession bei ihm selbst und damit bei seinen bis anhin gut altgläubigen Fürstentümern. Beide hatten einen just in dieser Übergangs- oder Krisensituation doppelt verunsichernden Mangel an institutioneller Sicherheit, kirchlich-juridischer oder staatspolitischdynastischer Art, zu bewältigen. Abrahams Verzichtbereitschaft auf seinen sichtbaren und aktuell anwesenden Sohn zugunsten einer großartigen, aber gegenwärtig äußerst fernen Verheißungsperspektive figuriert bei beiden für einen zunächst aufgedrängten, nun aber willig aufgegriffenen und sogar geistlich überhöhten Verlust oder Mangel an äußerlich sichtbarer, sozusagen dinglicher institutioneller Sicherheit. Erneut also ist hier eine Funktionalisierung der Opfergeschichte zu beobachten. Abrahams Gestalt dient zur Schaffung kollektiver Identität in der über längere Zeit riskant bleibenden Umwandlung und Neufindung der helvetischen reformierten Kirchenrepubliken ebensowie des lutherischen Fürstentums Pfalz-Neuburg. Diese FunktionalisierungȺ94 der Opferdramatik geht insofern einen Schritt weiter als in den ersten beiden hier beobachteten Interpretationsfeldern, als sie nicht mehr der Legitimierung einer zwar bereits konfessionell gefärbten, aber letztlich sehr universell formulierten theologischen Position dienen, sondern einen konkreten, geographisch und politisch eingrenzbaren Raum und dessen spezifische kirchenpolitische Lage und deren Herausforderungen ansprechen. Diese sozialgruppenspezifische, nämliche „landeskirchliche“, Konkretisierung verbleibt freilich ihrerseits in engen Grenzen. Zum einen wird sie nicht als solche expliziert. Erst durch Kontextualisierung ist eine Be-
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Hђіћџіѐѕ BѢљљіћєђџ, Rathschlag wie man möge vor kriegen syn und der V orten tyranny abkummen, Ms ZBZ F 95, 122ff. BџѢѐђ Gќџёќћ, The Swiss Reformation (New Frontiers in History o. Nr.), Manchester u. a. 2002, 1ř7 mit Anm. 24. Eine entsprechende Terminologie wählt auch das interessante Plädoyer des Kunsthistorikers TѕќњюѠ PюѐјђіѠђџ, „Zum Austausch von Konfessionalisierungsforschung und Kunstgeschichte“, in: ARG 9ř (2002), ř17–řř8. Er zeichnet eine durch das Referat der Resultate jüngerer Untersuchungen gut dokumentierte aktuelle kunsthistorische Tendenz, in der Bedeutungsanalyse frühneuzeitlicher Kunst einen eher (ř27) „bildimmanent geführte[n] Aufweis von ‚Konfessionalisierung‘“ zu ergänzen durch die wachsende Erkenntnis, dass ein Werk zuweilen (ebd.) „eine konfessionalistische Qualität […] erst auf der Ebene des ‚Funktionierens‘ einlösen“ könne. Es gelte dabei, (ř29) „einen Dialog der Disziplinen zu gestalten, der über die reine Stilordnung hinausweist“, indem (řř1) „räumliche Kategorien wie Enge, Weite und Höhe“ (řř2) auch politik- und religionshistorisch erklärt und so religiöse Kunst und insbesondere „das Innere des Kirchenraums als Abbild politischer Ordnung vor einer – idealiter – gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit“ besser begreiflich werden ließen.
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zugnahme auf das lebensweltliche Umfeld erschließbar.Ⱥ95 Zum anderen aber und vor allem bemüht sich die angestrebte Dienstbarmachung für konfessionspolitische Zwecke in der Richtung des biblischen Textes zu argumentieren, statt ihn direkt zu modifizieren oder ihm offen zu widersprechen.Ⱥ96 Angesichts einer dramatischen Verschärfung der konfessionellen Konflikte wurde in diesen beiden Punkten bald schon weniger zurückhaltend gedacht und geschrieben.
Abraham und die Einheit von Bekenntnis und Öffentlichkeit (Politik) Noch einmal wesentlich deutlicher und konkreter wird die opferungsparänetische Applikation von Gen 22 schließlich ab den späten vierziger Jahren bei den frankophonen Reformierten. Spätestens seit Mitte der 95
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Insgesamt scheint die hier aufgegriffene Interpretation Grosses gut abgestützt. Der allgemeine Interpretationsrahmen zum Sinn der Aufträge ist kohärent präsentiert, vgl. GџќѠѠђ, Image (Anm. 87), Kap. 2.4. „Thesenformulierung“, programmatisch zusammengefasst S. 40: „Unter der Prämisse, Pfalzgraf Ottheinrich als Absender zu sehen, wird das Programm folgend als Schilderung religiöser Kollektivvorstellungen gedeutet, in denen das Verhältnis zu Gott und den Untertanen bestimmt wird, welches damit als visionäre Ausdeutung der Fürstenherrschaft anzusehen ist. Heilsgeschichtlich betrachtet, erscheint dabei ein definitorisches Koordinatensystem der Herrschaft: Zum einen ein prozessuales Geschichtsmodell vom Wirken Gottes in der Welt und der Kontinuität von Herrschaft. Zum anderen zeigt sich ein konstituierendes Gesellschaftsmodell zur Legitimation von Obrigkeit, in dem jeder Person eine Position im ordo zugewiesen wird. Die Deutung des Kapellenprogramms soll also stärker aus den sozialen Gegebenheiten und damit auch an seinen funktionalen Aspekten ausgerichtet werden. Religion wird im folgenden also eher unter seinem [sic] kollektiv-politischen Aspekt betrachtet, denn aus der Perspektive individueller Glaubensbeziehungen.“ Sie korrespondiert zudem der auch von PюѐјђіѠђџ, Austausch (Anm. 94) herausgestellten historiographischen Öffnung zu den politischen Aspekten konfessioneller Entwicklungen. Zudem ist auch die im Haupttext erwähnte Zahl der Darstellungen des Isaakopfers zu signifikant, als dass dahinter ein programmatischer Wille fehlen könnte. Stärker spekulativ erscheint es, wenn S. 155f., ein dieser Darstellung der Isaakopferung an der Kapellenwand benachbartes Wandbild mit Lot und seinen Töchtern auf den biographisch späten Entschluss Ottheinrichs zur Reformation in Beziehung setzt. Der Pfalzgraf habe damit zum Ausdruck bringen lassen wollen, dass er sich, ähnlich wie Lot durch seine Töchter, durch die verführerischen Kräfte Bayerns zu lange von seinem pflichtgemäßen Vorhaben habe abhalten lassen, aber ebenso wie der Betrunkene letztlich zu entschuldigen sei. Die Motivation zur Unterscheidung der beiden Beschneidungsarten verdankt sich der Kommentierungstradition zu Röm 2,28f.; vgl. dazu SѢѠі HюѢѠюњњюћћ, Römerbriefauslegung zwischen Humanismus und Reformation. Eine Studie zu Heinrich Bullingers Römerbriefvorlesung von 1525 (SDGSTh 27), Zürich u. a. 1970, 258–262.
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dreißiger Jahre, besonders nach der berüchtigten affaire des placards vom 18. Oktober 15ř4 war es für Protestanten gefährlich geworden, in Frankreich zu leben, falls sie ihren Glauben offen bekennen wollten. Sie wurden vor die ebenso unangenehme wie einschneidende Wahl gestellt, zu dissimulieren oder zu emigrieren, falls sie sich und die Ihren nicht ständiger Todesgefahr aussetzen wollten. Die erste dieser Optionen wurde von Genf, und dort vor allem von Calvin, strikt abgelehnt. Schon in der ersten Auflage der Institutio von 15ř6 entwickelt Calvin eine Spiritualität des Martyriums für die französischen luthériens, wie sie damals noch hießen. Ab den frühen vierziger Jahren wird die Sache dann zu einem seiner politischen und literarischen Hauptanliegen. Calvin setzt so gut wie alles daran, dass seinen französischen Glaubensgenossen jegliche theologische Legitimation einer heimlichen evangelischen Existenz radikal abgeschnitten wurde. Sie sollen entweder, wie er selbst, für immer ihre Heimat verlassen, oder aber bereit werden, falls nötig auf den Scheiterhaufen zu gehen. Zum Zwecke seines Kampfes gegen die heimlichen Protestanten sowie gegen alle weiteren moyenneurs (Kompromissler) und temporiseurs (Zeitschinder) bedient sich der Pikarde hauptsächlich der biblischen Figur des Pharisäers Nikodemus, der nur des Nachts zu seinem neuen Rabbi zu kommen wagte. Von ihr ausgehend wurde die bekämpfte Gruppe abwertend zu Nikodemiten abgestempelt.Ⱥ97 Daneben gibt es freilich noch eine weitere biblische Szene, mit deren Hilfe derselbe Zweck verfolgt wurde, nämlich Abrahams Bereitschaft zur Opferung Isaaks. Die erste allgemein bekannte Stelle, in der Abraham, wenngleich ohne expliziten Bezug zum Kindesopfer, in diesem Kontext erscheint, ist ein Rundschreiben Farels aus Murten von 15ř2. Farel stellt ihn als Beispiel für Glaubensmut auch unter drohender Verfolgung hin und erwähntȺ98 den Patriarchen lequel, contre esperance sans doubter rien ès sainctes promesses de Dieu, lequel je vous prie, mes tres chiers frayres, que suyuez et imitez, car vous verrez la gloire et puyssance de Dieu.
Die nächste Nennung Abrahams im frankophonen Raum ist nur kurz und scheint eher beiläufig, ist aber von Wichtigkeit, nicht nur weil sie aus einer bedeutenden Schrift Calvins stammt,Ⱥ99 sondern vor allem, weil 97
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Die umfassendste Monographie zur konfessionellen Bipolarisierung des Königreichs entgegen einer recht breiten und auf beide Seiten hin integrativ ausgerichteten Strömung zugunsten einer Reform innerhalb der gallikanischen Kirche bietet TѕіђџџѦ Wюћђєѓѓђљђћ, Ni Rome ni Genève: des fidèles entre deux chaires en France au ѥѣі e siècle (Bibliothèque littéraire de la Renaissance: série ř, ř6), Paris 1997. Fюџђљ, A Mes Tres Chers Freres (Anm. 15), 188. Jђюћ Cюљѣіћ, Petit traicté monstrant que c’est que doit faire un homme fidele cognoissant la verité de l’Evangile, quand il est entre les papistes, in: CO 6, hg. v. Wіљѕђљњ BюѢњ, EёѢюџё
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sie zentrale Elemente der weiteren Entwicklung vorwegnimmt. Der Leidensdruck Abrahams wird auf die Verfolgungssituation in Frankreich bezogen, sein Beispiel als Aufforderung zur Verfolgungsbereitschaft verstanden und sein Gehorsam als Ermutigung betrachtet, in dieser Extremlage sich gänzlich der Vorsehung Gottes anzuvertrauen. Seiner Lichtgestalt gegenüber steht als dunkle Folie des Misstrauens Madame la Prudence charnelle, deren Absicherungsbedürfnis zu ihrer Gehorsamsbereitschaft in keinem Verhältnis steht. Zumindest indirekt abhängig von dieser ersten Calvinschen Lektüre von Gen 22 ist wohl das prominenteste und vermutlich bekannteste Beispiel der französischen Rezeption der Opferung Isaaks, das auch literaturgeschichtlich wichtige Drama Abraham sacrifiantȺ100 des Nachfolgers Calvins im Genfer Antistitium, Théodore de Bèze. Der burgundische Adlige war zum Zeitpunkt seiner Uraufführung 1548 in Lausanne soeben nach längeren inneren Kämpfen ins Berner Territorium eingewandert, wo er an der Lausanner Akademie Gräzist und Neutestamentler werden konnte. Der Abraham im Drama gleicht denn auch dessen Verfasser, was die Beschreibung der Auswanderung angeht, mehr oder CѢћіѡѧ, EёѢюџё RђѢѠѠ (CR ř4), Braunschweig 1867, 570f. (modernisierende Ausgabe: Jђюћ Cюљѣіћ, Œuvres choisies, hg. v. Oљіѣіђџ Mіљљђѡ, Paris 1995, 172f.): „Or apres que toutes ces tergiversations sont abbatues, ma dame la prudence charnelle s’ingere pour iouer son roule, et produit une raison fort peremptoire. Qu’adviendroit-il si chacun se vouloit declarer pour servir à Dieu purement? Ie respon en un mot que s’il plaisoit à Dieu, il s’en pourroit ensuyvre beaucoup de persecutions, et [571] que les uns seroyent contrainctz de s’en fuyr, quittans tous leurs biens; les autres seroyent monstrez au doigt; les autres mis en prisons; les autres banniz; les autres mesme laisseroyent la vie. I’entens, comme i’ay dict, si Dieu le permettoit. Mais nous devrions faire cest honneur à Dieu de luy commettre ce qui en pourroit advenir, esperant qu’il y donneroit tel ordre que le mal que nous craingnons n’adviendroit pas. Car c’est le refuge où nous meine par son exemple nostre pere Abraham: lequel ayant le commandement de tuer son propre filz, quand il est interrogué au chemin de ce qu’il veut faire, dit: Le Seigneur y provoira. C’est certes une sentence laquelle doit estre escrite en nos cœurs, pour nous venir au devant en memoire, incontinent que nous sommes confus en quelque chose et quasi venus à l’extremité.“ Gen 22 erscheint zudem bereits im zweiten überhaupt veröffentlichten, dem ersten eigentlich theologischen, Calvinschen Werk, wenngleich noch exklusiv im Zuge der Beweisführung für die Auferstehung und Unsterblichkeit der Seele (eine Thematik, die Calvin in seinen Predigten zu Gen 22 freilich ebenfalls wiederaufnimmt): Jђюћ Cюљѣіћ, „Vivere apud Christum non dormire animis sanctos qui in fide Christi decederunt, quae vulgo Psychopannychia dicitur“, in: CO 5, ed. G. Baum, EёѢюџё CѢћіѡѧ, EёѢюџё RђѢѠѠ (CR řř), Braunschweig 1866, 19ř; in der französischen Übersetzung des Autors: „Traité par lequel il est prouvé que les ames veillent et vivent après qu’elles sont sorties des corps, contre l’erreur de quelques ignorants qui pensent qu’elles dorment jusques au dernier jugement“, in: Œuvres Françoises de J. Calvin, éd. P. L. Jюѐќя, Paris 1842, 52. 100 Zu den Editionen s. oben Anm. 17.
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minder perfekt: Abrahams Auszug aus Chaldäa und Bezas Flucht aus Paris entsprechen sich sozusagen durchgehend.Ⱥ101 Das Drama reiht sich wiederum in die Tradition der Mysterienspiele, das es mittels calvinischer Frömmigkeit erklärt; es wirkt zugleich aber auch als eine Art szenischer Trostpredigt. Ein gut Teil des kathartischen Effektes der Tragödie bestand fraglos in der Bestärkung und Aufrichtung der Emigranten unter den Zuschauern, die einen nicht unbeträchtlichen Teil unter ihnen ausgemacht haben müssen. Durch das in der Genfer Gesellschaft und wohl auch im ganzen frankophonen Protestantismus populäre Stück, das heute als wichtige Etappe in der Geschichte des französischen Dramas gilt, erfährt das Verständnis von Gen 22 einen neuen und nun finalen Schritt reformierter Konfessionalisierung. Auswanderung ist als Problem nur im Calvinismus wichtig, ein Emigrationsdrama lutherischer Provenienz wäre kaum wahrscheinlich gewesen und kam wohl nicht zufälligerweise nicht zu Stande. Zwar gibt es einige auf Drängen der Genfer angefertigte anti-nikodemitische Gutachten von Seiten zeitgenössischer deutscher Lutheraner, doch insgesamt blieben die im Reich agierenden Glaubensgenossen in diesem Punkt zurückhaltend. Nikodemismus war einfach nicht ihr Thema; sie hatten, speziell nach 1548, genügend andere Sorgen – auch wenn gerade die Debatte um das Interim letztlich an die französischen Debatten über die Legitimität befristeter Zugeständnisse zur Wahrung des Religionsfriedens erinnert. Die Konfessionalisierungsprozesse waren so oder so und dies- und jenseits der Vogesen kaum mehr aufzuhalten. Calvin stand zum Zeitpunkt der Abfassung und Uraufführung des Dramas seinem Autor noch relativ distanziert gegenüber. Im Laufe der folgenden Jahre lernte er ihn jedoch umso mehr schätzen und folgte in 101 Dђ Bѽѧђ, Abraham sacrifiant (Anm. 17), Monolog Abrahams, 58: „Depuis que j’ay mon paÊs delaissé,Ȧ Et de courir ³à et là n’ay cessé, Helas mon Dieu, est il encor’un homme,Ȧ Qui ait portée de travaux telle somme ? Depuis le temps que te m’as retiré Ȧ Hors du paÊs ou tu n’es adoré, Helas mon Dieu, est il encor’un homme,Ȧ Qui ait receu de biens si grande somme ? Voila comment par les calamitez,Ȧ Tu fais cognoistre aux hommes tes bontez: Et tout ainsi que tu fis tout de rien,Ȧ Ainsi fais tu sortir du mal le bien, Ne pouvant l’homme à l’heure d’un grand heur,Ȧ Assez au clair cognoistre ta grandeur: Las j’ay vescu septante et cinq années,Ȧ Suyvant le cours des tes predestinés, Qui on voulu que prinsse ma naissance,Ȧ D’une maison riche par suffisance: Mais quel bien peult l’homme de bien avoir,Ȧ S’il est contrainct, contrainct (dy-je) de veoir En lieu de toy, qui terre et cieulx as faicts,Ȧ Craindre et servir mille dieux contrefaicts? Or donc sortir tu me fis de ces lieux,Ȧ Laisser mes biens, mes parens et leurs dieux, Incontinent que j’eus ouy ta voix:Ȧ Mesmes tu scais que point je ne scavois, En quel endroict tu me voulois conduire:Ȧ Mais qui te suyt, mon Dieu, il peult bien ire, Qu’il va tout droict: et tenant ceste voye,Ȧ Craindre ne doibt que jamais il fourvoye.“
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seinem eigenen – oben bereits angesprochenen – PredigtzyklusȺ102 Bezas migrationsstimulierender Interpretation der Opferungsbereitschaft Abrahams zumindest indirekt, indem er nicht nur wie dieser (und wie er 154ř selbst in Ansätzen) aus der psychologischen Entscheidungssituation des Patriarchen einen gesellschaftlich-politischen Entscheidungszwang für die zeitgenössischen Protestanten ableitete, sondern nun auch eine gewisse dramatische Inszenierung dieses Konfliktes mit homiletischen Mitteln ausarbeitete.Ⱥ10ř Doch denkt Calvin um 1560 bereits ungleich stärker in gesamtgesellschaftlichen oder umfassenden kirchenpolitischen Kategorien als der Poet von 1548, der sich soeben aus jener verführerischen Pariser jeunesse dorée losgerissen hatte, in der ein mehrheitsfähiger oder auch nur öffentlich artikulationsfähiger Protestantismus noch schlicht undenkbar war. Es darf als sicher angesehen werden, dass die Predigten Calvins zu Gen 22 wie der Zug der gesamten Genesispredigten von 1559Ȧ60 die ihrer Entstehung unmittelbar vorausgehenden politischen Veränderungen in Frankreich widerspiegeln, die bereits zum unmittelbaren Vorfeld der 1562 beginnenden Religionskriege gehören. Nach einer längeren Zeit relativer Ruhe für die Protestanten unter Heinrich II. drohte nun der bei dessen Ableben 1559 noch minderjährige Franz II. zunehmend unter den Einfluss der militant katholischen Lothringer Familie der Guise zu gelangen. Eine gegen diese Entwicklung gerichtete Verschwörung der protestantischen Aristokraten unter Führung des Prinzen Condé wurde im Februar 1560 ent- und am 16. März im Schloss von Amboise erbarmungslos aufgedeckt, was zu einer merklichen Stimmungsverschlechterung mit entsprechend verschärfter Wiederaufnahme der antiprotestantischen Repressionen führte. In den Augen Calvins war dieser Umschwung selbstverständlich bedauerlich und gefährlich. Eben deswegen jedoch macht er es nun zum zentralen Anliegen seiner Predigten, unter keinen Umständen vom einmal erkannten Willen Gottes abzuweichen und einen in seinen Augen grundfalschen Pragmatismus zuzulassen. Ein hervorragend geeignetes Exempel zur biblischen Legitimation dieser Botschaft war ihm Abrahams unbedingter Gehorsam in Gen 22, welches Kapitel just im Sommer 1560 an die Reihe des als lectio continua organisierten Predigtplans kam. In der Mitte der mittleren Predigt, also in der Mitte des gesamten Dreierzyklus, bei der Auslegung von V. 8a, erklärt Calvin, worin konkret das von ihm geforderte blinde 102 Cюљѣіћ, Trois sermons (Anm. 16). 10ř Dies ist die einleuchtende Hauptthese des Artikels von HѢяђџѡ BќѠѡ, „La mise en scène genevoise d’Abraham sacrifiant“, in: ETR 76 (2001), 54ř–561. S. auch: Wіљљђњ Bюљјђ, „Calvins Auslegung von Genesis 22“, in: Théorie et pratique de l’exégèse. Troisième colloque international sur l’histoire de l’exégèse biblique au ѥѣі e siècle, hg. v. Iџђћю BюѐјѢѠ u. FџюћѐіѠ Hієњюћ, Genf 1990, 211–229.
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Vertrauen auf die Vorsehung Gottes und das vertrauenslose vernunftgeleitete Zaudern bestehen. Dabei spricht er drei soziale Gruppen an: „Einen [jeden] König, einen [jeden] Prinzen und alle Obrigkeiten“,Ⱥ104 sodann die „Diener am Wort Gottes“ und besonders ihren Gefallen an einem Mittelweg zwischen den Konfessionen,Ⱥ105 sowie schließlich auch den Bürger als Privatmann, der nicht zu den „öffentlichen Personen“Ⱥ106 gehört, sondern als Familienoberhaupt und Haushaltsvorstand agiert. Die Versuchung der adeligen oder bürgerlichen Obrigkeiten sieht er dar-
104 Cюљѣіћ, Trois sermons (Anm. 16), 765f.: „Car voila Dieu qui commandera à un roy, et à un prince, et à tous magistrats de faire qu’il soit honnoré, et que son service soit maintenu purement. Or là dessus on regarde que le monde est si revesche qu’à grand peine en peut-on iouir on regardera, Comment il y aura tant de murmures contre nous et puis il faudra si on tient telle rigueur, que tout rompe. Car on void comme les hommes ne se laissent pas aisément manier. Il y viendra donc des troubles. Et puis quand on void ainsi les dificultez, il se faut moderer en quelque sorte: autrement on void bien qu’on n’en pourrait venir à bout. Voila, di-ie, les tentations qu’auront ceux qui devroyent s’opposer au mal. Or qu’avient-il? Communement ceux qui semblent estre les mieux advisez et prudens iusques au bout, voudront parler et moyenner en telle sorte qu’il n’y ait ni chair ni poisson, comme on dit. Et là dessus voila Dieu qui sera reculé. Premierement il y a ce mal, qu’on ne luy obeit pas rondement comme on doit! et puis on le despouille de l’honneur qui luy appartient. Car si on allegue: O il y pourra advenir telle chose. Et Dieu est-il mort? N’a-il pas prevue à tous les inconveniens qui pourroyent advenir? Et si on dit ô il ne faut pas que cela aille ainsi, car il y a un tel mal qui s’en ensuyvroit. Et n’est-ce pas accuser Dieu de folie, et le despouiller de sa vertu, comme s’il ne povoit tenir la main pour faire qu’on ne suyve par tout où il veut, et cependant qu’on ait bonne issue et heureuse?“ 105 Ebd., 766: „Autant en est-il des Ministres de la Parole de Dieu: car il y en a bien peu qui se puissent acquitter de leur devoir. Il est vray qu’il y a beaucoup de vices qui les empesche: mais ceste maudite prudence et diabolique regne en beaucoup, lesquels ne voudront point esmouvoir beaucoup de haines, beaucoup de troubles: et là dessus plieront à tous vents, où ils trouveront moyen de deguiser la doctrine de l’Evangile: comme auiourd’huy il y en a beaucoup. Car d’où est venue ceste sorcelerie de deux qui ont voulu moyenner entre la Papauté et la Chrestienté, sinon qu’ils on regardé, O comment? Et changer ainsi les choses, il faudrait faire comme un monde nouveau, ô cela ne pourroit estre, car on a veu desia les apparences que tout ira en ruine. Ainsi il faut qu’on se contente d’y aller à demi, et de nager entre deux eaux. Voila comme la doctrine de Dieu est corrompue: et cependant (comme nous avons monstré) quand il y aura ainsi quelque commencement à mal, les choses iront tousiours en pis, en sorte qu’on y pourra pas donner ordre quand on voudra.“ 106 Ebd.: „Et il ne faut pas aller aux personnes publiques: mais quand un homme devra gouverner sa famille, et bien reigler sa maison, tousjours il pensera: O si ie fay ce que Dieu ordonne, il me pourra advenir telle chose: ou bien quand un homme devra gagner sa vie, il regardera: O si i’y vay en telle simplicité, ie seray comme une brebis entre la gueule des loups: car il y a tant de finesses et de ruses au monde, que ie seray trompé à tous les loups: chacun en attrape de son costé, et si ie ne fay le semblable que sera-ce? ô si ie me fay mouton ou brebis, il est certain qu’on me mangera la laine sur le dos. Voila que chacun pense, comme s’il n’y avoit point de Providence de Dieu.“
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in, zu sehr auf das politisch Machbare, das beim Volk Willkommene und die eigene Beliebtheit zu achten statt Gott rundheraus zu gehorchen. Dies führt zu einem Vermitteln zwischen den beiden immer polareren Konfessionsblöcken, für dessen entschiedene Abkanzelung der Reformator hier jene Vokabel verwendet, die für diesen Zweck in der Polemik bei ihm selbst und weiteren Autoren bekannt ist: moyenner. Moralisch noch gravierender sind die Konsequenzen der Kompromissbereitschaft in Calvins Augen bei den Pfarrern, weil vor allem sie zugunsten dieser „Hexenkunst“ des Ausgleichs die Lehre verfälschen. Und selbst der Privat- und Geschäftsmann traut sich laut dem Reformator nicht, die notwendige Lauterkeit christlichen Lebenswandels mit vorbehaltlosem Vertrauen anzustreben, weil er befürchtet, so den ganzen Finessen und Listigkeiten der Wölfe dieser Welt ausgeliefert zu sein wie „ein Schaf, dem man die Wolle auf dem Rücken wegfrisst“. Allen diesen Versuchen in den verschiedenen Lebensfeldern, den Willen Gottes situativ zu leben, setzt Calvin sein Verständnis der Unerbittlichkeit des göttlichen Gebotes entgegen: Die Christen brauchen zwar nicht mehr wie der Patriarch ihr Kind zu schlachten, aber die Pflicht zum Bekenntnis ihres Glaubens, und zwar des öffentlichen Bekenntnisses auch vor den Feinden des Glaubens, gilt ebenso unbedingt wie der Opferbefehl an Abraham.Ⱥ107 Erneut kommt es hier zu einer Substituierung des Kindesopfers, in diesem Falle durch das Opfer der Lippen, nämlich das unverschlüsselte Bekenntnis des Glaubens, mitsamt den entsprechenden 107 Ebd., 766f.: „Et au reste, quand il seroit question d’exposer nostre vie, comme auiourd’huy combien qu’il ne soit pas dit à chacun de nous, Pren ton fils, voire ton fils unique Isaac, et que tu le tues: toutesfois en general Dieu commande que luy facions hommage, en confessant qu’il nous est Pere et Sauveur. Nostre Seigneur Iesus Christ veut que nous luy soyons tesmoins voire devant les plus pervers, et devant les plus grans tyrans du monde: car il ne veut pas que nous le confessions seulement devant ceux qui desirent que son Regne aviene mais devant ses ennemis qui luy contrarient, devant les persecuteurs. Voila donc la confession qu’il requiert de nous. Et là dessus qu’aviendra-il? ô il y en a qui diront: Et dequoy profiteroit ma mort? Et quand ie me feray tuer on n’en parlera plus au bout de trois iours, mesmes cela ne fera qu’apporter scandale à plusieurs. Car beaucoup diront: Or il se fust bien passé de cela nous estions à repos, on ne nous demandoit rien, et voici maintenant une persecution esmeue, voila qu’il a profité de s’avancer ainsi. Voire: mais Dieu n’a-il rien entendu quand il a voulu, et qu’il a commandé qu’on luy fit sacrifice de la confession de foy, et qu’il a voulu qu’on mesprisast sa vie pour l’honneur de son sainct nom? Ne savoit-il pas bien ce qui devoit advenir? Et pensons-nous estre plus sages et advisez que luy? Et ainsi ce n’est point sans cause que i’ay dit, que nous devons retenir cestre doctrine entre autres, quand il est dit: Mon fils, Dieu se pourvoira d’un sacrifice: car c’est autant comme si nous etions exhortez par le sainct Esprit de ne point estre trop discrets (comme on dit) et de n’estre point trop provoyables pour disputer. Et comment? Que se pourroit-il faire? mais que nous ayons cela tout resolu que Dieu a parlé, et il sait comme il peut besongner.“
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Konsequenzen bis in den Bereich alltäglicher Privatheit einerseits, öffentlicher Martyriumswilligkeit andererseits. Es finden sich in dieser Predigt somit drei Einflusslinien, nämlich die bereits beobachtete altreformierte Akzentuierung der Einheit des göttlichen Willens, die antispekulative Theologie Calvins sowie die von Genf aus sehr maßgeblich mitbetriebene antinikodemitische Verhärtung in der innerfranzösischen Konfessionalisierung. Letztere beiden Linien kommen in Calvins Wirken sehr zeitnahe auch an anderer und sehr prominenter Stelle zusammen, nämlich in der Confession de Foy von 1559.Ⱥ108 Antinikodemitisches Bibelverständnis findet sich zudem in den Predigten des emigrierten Pikarden vielfach, weil es sowohl mit dem reformierten Grundimpetus der Kreaturrelativierung als auch mit dem calvinischen Verständnis von Gewissensfreiheit eng zusammenhängt.Ⱥ109 Calvin steht also zwar durchaus in einer reformatorisch-exegetischen Tradition, doch eine wachsende Kontextualisierung macht sich deutlich bemerkbar. Der Konfessionalisierungdruck in Genf machte freilich hier noch nicht Halt. Die calvinistische Theologie und auch Publizistik ging wider Erwarten auf dem Weg konkreter Identifikation des Opfers Abrahams mit konfessionspolitischen Zielen noch einen Schritt weiter, einen
108 „Confession de foy [de] 1559“, Art. 8, in: Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirche, hg. v. Wіљѕђљњ NіђѠђљ, München 19ř8, 66–75. Der zweite Teil des Art. 8 wirkt seinerseits auffällig „politisch“, 68: „Et ainsi en confessant que rien ne se fait sans la providence de Dieu, nous adorons en humilité les secrets qui nous sont cachés, sans nous enquerir par dessus notre mesure: mais plustot appliquons à nostre usage ce qui nous est monstré en l’Escriture saincte, pour estre en repos et seureté, d’autant que Dieu, qui a toutes choses suiettes à soy, veille sur nous d’un soin paternel, tellement qu’il ne tombera point un cheveu de nostre teste sans son vouloir, et cependant tient les diables, et tous nos ennemis bridés: en sorte qu’ils ne nous peuvent faire aucune nuisance sans son congé.“ Der entsprechende Art. 1ř der 1561 in Kraft gesetzten und dem Bekenntnis von 1559 weitgehend folgenden Ecclesiarum Belgicarum Confessio bringt die Abkehr von unnützer curiositas und Vorsehungsglauben explizit zusammen, s. Bekenntnisschriften, 124: „Quae vero ita agit, ut humanum excedant sensum, in ea nolumus curiose ultra quam fert captus noster inquirere.“ 109 Das haben Autoren wie Hans Scholl oder Olivier Millet deutlich betont, treffend auch WіљѕђљњѢѠ H. Tѕ. Mќђѕћ, „God calls us to his service“. The relation between God and his audience in Calvin’s sermon on Acts (THR ř45), Genf 2001, 1ř6: „The complicated problem is closely connected with the centre of Calvin’s reformatory pursuit: the reestablishment of the pure cultus Dei und the freedom of conscience. The issue is not only complicated as a historical phenomenon, but also because of the many themes related to the one central word, Nicodemism.“
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Schritt zuviel vielleicht. Der berühmte Genfer Buchhändler,Ⱥ110 Verleger und zeitweise auch Mitarbeiter Calvins Jean Crespin, der ab 1554 mit seinem Livre des Martyrs (ab 1582 Histoire des Martyrs) das mit Abstand bedeutendste Martyrologium des kontinentalen Protestantismus in zahlreichen Neuauflagen mit permanenten Erweiterungen und Aktualisierungen redigierte und herausgab, stellt vermutlich den absoluten Gipfelpunkt calvinistischer Aneignung des Textes dar. Im Traité des afflictions qui avienent aux Fideles zum Ausgang des ersten Buches dieses Martyrologiums baut er in rhetorischer Steigerung die folgende Frage auf:Ⱥ111 La plus grande et honorable chose que fit onques Abraham, et par laquelle il a monstré avoir une plus grande crainte de Dieu, et par consequent acquit plus de louange, fut quand, pour obeir au commandement de Dieu, il fut tout incontinent prest de tuer et sacrifier son propre fils. Ie demande, attendu que nostre vie nous est tousiours plus chere et precieuse que n’est celle d’autrui, si les martyrs, qui pour l’honneur de Dieu sont si prodigues de leur sang, ne sont pas dignes de plus grande, ou pour le moins semblable, louange?
Die Opferlogik wird hier zum paradoxen Paroxysmus gesteigert. Sie wird so sehr instrumentalisiert, dass eine explizite Relativierung des Analogats Abraham unumgänglich ist. Paradox wirkt diese Relativierung, weil sie eben mittels expliziter Analogisierung des Kinder- und des Selbstopfers geschieht. Die Logik des Bibeltexts wird so verlassen, indem das Selbstopfer dem Sohnesopfer übergeordnet wird. Eine in der frühen reformierten Exegese bis dahin fruchtbare Spannung zwischen Textnähe und Opferinstrumentalisierung muss hier wohl als aufgesprengt bezeichnet werden.Ⱥ112 110 Zu Leben und Werk(en) s. Jђюћ-FџюћѷќіѠ Gіљњќћѡ, Bibliographie des éditions de Jean Crespin 1550–1572 (Livre, idées, société 2), 2 Bde., Verviers 1981. DђџѠ., Jean Crespin. Un éditeur réformé du ѥѣі e siècle (THR 186) Genève 1981. 111 CџђѠѝіћ, Traité des afflictions (Anm. 18), ř4a. Der zitierte Passus ist unverändert aus der Ausgabe von 1570 übernommen. Umgekehrt kann Crespin Abraham aber gerade auch als Beispiel möglicher ökonomischer Erfolge von Auswanderern präsentieren, und zwar, unter Anführung von Gen 1ř,2 und 14,14 in den Marginalien, im selben Traité, ř5b: „[…] est-il souvent advenu que les persecutions ont esté occasion aux fideles de grands biens. Comme à Abraham, qui eut plus de bien et de puissance entre les estrangers qu’il n’en avoit eu oncques en son pays.“ 112 Dieser Befund ist zwar einerseits dahingehend zu relativieren, dass Crespin hier nicht als berufener Ausleger, sondern im Rahmen einer bewusst auf den Publikationsmarkt orientierten und rhetorisch konzipierten Argumentation schreibt. Doch ist andererseits ebenso eindeutig, dass Crespin generell – trotz der vor allem zu Beginn ihrer Verbreitung diskutierten heiklen Frage, ob protestantische Martyrologien nicht eine neue Form von Werkgerechtigkeit propagierten – wenig Scheu hegte, meritorische und langfristig lohnende Funktionen von Verfolgungsleiden zu
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Abraham und die Einheit von Glaube und Pflicht (Aufklärung) Ergänzend sei ein Beispiel funktionalisierender Lesart des Isaakopfers aus dem Ausgang der reformierten Orthodoxie und somit auch des konfessionellen Zeitalters angeführt, eine 1696 an der Berner Hochschule durch dessen Ethikprofessor Rudolf Rudolf (1648–1717)Ⱥ11ř gehaltene akademische Festrede über die Merck- und Wunder-würdige GlaubensProb Abrahams / In Gehorsam-williger Vollstreckung Göttlicher Befehle von Aufopfferung seines Sohnes Isaacs.Ⱥ114 Abraham wird hier zu einem Ideal junger Berner Patrizier, zu einem Vorbild, das um des höheren Zieles willen selbst den spätestens seit dem Berner Vorgänger Rudolfs namens MusculusȺ115 in diesem Zusammenhang „bekannten Schweitzer-Helden
betonen. Er tut dies insbesondere auch in eben jenem Traité des afflictions, indem er Abrahams Opfertat relativiert, ř6a: „Car pour nous corriger, et couvrir nostre vergogne, à fin aussi que nous ne fussions point abysmez par l’apprehension et horreur de son iugement, en lieu de nous punir iustement pour nos pechez, il [Dieu] nous fait souffrir pour sa iustice, et son sainct Nom, et met ce titre honorable comme un voile au devant de nos pechez, et de nostre honte pour nous. Premierement il change la punition, qui nous estoit deuë pour nos forfaits, en une certaine recompense que nous devons esperer des travaux et peines que nous souffrons pour iustice. En apres il tourne le deshonneur que nous devions recevoir par la vengeance, et iustice qui se devoit publiquement faire de nous, à cause de nos iniquitez, en un honneur immortel, que nous recevons de Dieu, et de ses Anges, d’avoir courageusement soustenu les tourmens, qui nous sont ordonnez pour la confession de sa parole et de son Nom. Tiercement il pourvoit au repos de nostre conscience, laquelle en lieu de tristesse et regrets, qu’elle auroit si elle pensoit souffrir pour ses offenses, se resiouit et glorifie, sentant en soimesme que pour la verité, et la gloire de Dieu, elle endure.“ 11ř Zur Biographie vgl. oben Anm. 19. 114 RѢёќљѓ, Merck- und Wunder-würdige Glaubens-Prob Abrahams (Anm. 20). 115 MѢѠѐѢљѢѠ, Commentarii (Anm. 14), 5ř2: „Deinde additur, Quem diligis. Sciebat utique Abraham, esse Isaac filium suum, esse unicum, esse dilectum. Quorsum attinebat haec occinere? Scilicet penetrandi erant hisce ueluti aculeis omnes paterni pectoris nerui. Reperias qui suapte manu occiderit filium, uerum immorigerum, ideoque non dilectum, sed exosum. Unicum vero et dilectum filium occidere, omnes natura cum humanae, tum paternae vires superat. Quare si princeps aliquo servo suo fideli semper & integro praecipiat, dicens, Tolle filium tuum unicum quem diligis, et occide illum, quis non exclamet, Tyrannicum, inhumanum, crudele. Quis non dicat eiusmodi principem hostem esse communis naturae. Horrendum auditu etiamnum est, quod praefectus Ducis Austriae Wilhelmum Thell, quod arte sagittandi praestaret, eo adegit, ut charissimi filii vertici impositum pomum procul constitutus, misso iaculo feriret. Quid si iussus esset filiolum suum cruento ferro mactare. At hoc praecipiatur Abrahae.“
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Wilhelm Tell“Ⱥ116 an konsequenter Risikobereitschaft übertrifft.Ⱥ117 Auch sein Sohn Isaak, bis anhin von den Auslegern eher vernachlässigt, avanciert nun zum „schönen Lehr- und Sitten-Spiegel“Ⱥ118 für die „erwünschte studierende Jugend“, die sich unter die „Abrahamskinder Ȧ erben der verheissung Ȧ und hiemit Isaacs brüder“ zählen darf, so dass „höchste billichkeit“ ihnen nun Nachfolge „im glaube Ȧ wort und wercke“ nahe legen kann. Diese „Höchste Billigkeit“ des Heiligungsstrebens ist als Losung für die angesprochenen Jünglinge von ihrem biblischen Altersgenossen Isaak abgeleitet. Mittelbar jedoch wird sie aus dem Pflichtbewusstsein Abrahams gefolgert, dem ein theologisches Hauptgewicht der Rede zukommt. Die klassisch zwinglisch-reformierte und dann auch allgemein reformatorische Frage zu Gen 22 Ist dann Gott im selbst zuwider Ȧ wann er einerseits will Ȧ dass Abraham seinen Sohn auffopfere; anderseits aber nicht will Ȧ daß er auffgeopferet werde?
wird in ihrer knappen und klaren „Antwort. Keineswegs“ mit einer Unterscheidung zwischen menschlicher Pflicht und göttlicher Absicht begründet. Es gelte, den „geoffenbareten willen des befehls“Ⱥ119 vom 116 RѢёќљѓ, Merck- und Wunder-würdige Glaubens-Prob Abrahams (Anm. 20), 15: „Ein barbarisches Versuch-stück ware esȦ daß jener ehr-hersch-und raachsüchtige langschöffer Grisler [sic] dem bekannten Schweitzer-Helden Wilhelm Tell auffgetrungenȦ mit einem pfeil nach einem apffelȦ auff seines eigenen kinds scheitel gesessenȦ von ferne zu schiessen: wiewol dieser durch Göttliche wunder-schickung ziel-richtig abgeflogene pfeil nicht ein mord- sondern ein glücks-pfeil gewesen. Dabey aber leichtlich zu erachtenȦ daß das kind seinem lieben Vatter das hertz mit unzaehlbaren liebespfeilen verwundetȦ ehe und bevor der Vatter seinen bogen auff dasselbe losgedrucket. Aber was ist das alles gegen dem das Gott dem Abraham selbst zu thun gebotten?“ 117 Rudolfs Text folgt Musculus zwar nicht wörtlich, aber eine Paraphrase ist unschwer zu erkennen, die insbesondere die Relativierung des nationalen Helden durch den biblischen Heroen übernimmt. 118 RѢёќљѓ, Merck- und Wunder-würdige Glaubens-Prob Abrahams (Anm. 20), ř0: „Endlich auch duȦ o wehrteȦ und erwünschte studierende Jugend ! hast dich zu belehren in der edlen tugend. DaȦ da habt ihr vielgeliebten Lehr-jünger einen schönen Lehr- und Sitten-Spiegel an IsaacȦ den ihr wol nimmer auß der acht setzenȦ und auß der gedächtnuß verliehrenȦ sondern zu heilseifriger nachfolg euch stets vorstellen sollen. Durch den göttlichen gnaden-beruff seyt auch ihr AbrahmskinderȦ erben der verheissungȦ und hiemit Isaacs brüder. So will dann die höchste billichkeit erforderenȦ daß ihr euch als solche im glaubeȦ wort und wercke erweisindt. Laßt euch seynȦ Isaac ruffe euch zuȦ wie dort der Apostel. FolgentȦ folgent mir nach, liebe brüderȦ und sehet auff dieȦ die also wandlenȦ wie ir mich für habt.“ 119 Ebd., Fernere Erklärung, 4ř: „Ist dann Gott ihm selbst zuwiderȦ wann er einerseits willȦ dass Abraham seinen Sohn auffopfere; anderseits aber nicht willȦ daß er auffgeopferet werde ? Antwort. Keineswegs, dieweilȦ wann Gott dem Abraham befiehltȦ daß er den Isaac auffopfereȦ will er dadurch nicht anzeigenȦ was er bey sich be-
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„verborgenen willen der rathschlüsse Gottes“ abzugrenzen. Diese Begründung erinnert einerseits von ferne an mittelalterliche Differenzierungen wie diejenige zwischen voluntas antecedens und consequens oder zwischen potentia ordinata und absoluta, andererseits auch bereits an die spätmoderne Differenzierung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Sie dürfte sich aber unmittelbar Lutherscher Quelle oder zumindest Terminologie verdanken, indem sie der Unterscheidung von Deus revelatus und absconditus folgt. Es lässt sich somit in dieser Rede erkennen, dass gerade das Feld der Bibelauslegung transkonfessionelle Offenheit mit sich brachte; eine sehr helvetisch gefärbte Rede konnte ohne Weiteres eine der überaus charakteristischen Figuren lutherischer Theologie zu einem Stützpunkt ihrer Argumentation werden lassen.Ⱥ120 Andererseits ist ebenso offensichtlich, dass ein auf Erfüllung der Pflicht beruhendes Konzept nicht oder nur höchst bedingt dem Denken Luthers oder auch der anschließenden OrthodoxieȺ121 entspringt, sondern schlossen und iemit wolle gehalten oder nicht gehalten haben,Ȧ Sondern alleinȦ was er wolle, daß Abrahams Pflicht seye. Hingegen wann Gott sagt: Lege deine Hand nicht an den Knaben etc. offenbaret er was sein rathschluß und will seye des wercks und außgangs halber. Auch ist hoch nothwendig zu unterscheiden zwischen dem geoffenbareten willen des befehlsȦ und dem verborgenen willen der rahtschlüsse GottesȦ jener sieht auff unsere pflichtȦ dieser aber auff den ausgang des wercks.“ 120 Ein instruktives und in seiner vollständigkeitsbedachten, beinahe geschwisterlichen Arglosigkeit berührendes Dokument dieser interkonfessionellen Öffnung der Auslegungsarbeit um 1700 ist das Repertorium der Bibelkommentare von Jќѕюћћ Kюџљ PќђѡіѢѠ. Es atmet den Geist eines Daniel Ernst Jablonksi, den Geist der ganzen besonders von Hannover und Berlin aus betriebenen innerprotestantischen Verständigungsversuche um die Jahrhundertwende: M. Johann Caroli Poetii, Verbi divini & Eccles. Waldkirchens. Ministri Bibliotheca portatilis exegetico-biblica, h. e. Commentariorum omnium tam generalium, quam specialium in universa Biblia Sylloge, Qui unquam vel idiomate Hebraeo, vel Graeco, vel Latino, vel Teutonico & Anglico &c. prodierunt, A SANCTIS ECCLESIAE PARTIBUS, RABBINIS, LUTHERANIS, REFORMATIS, PONTIFICIIS, ANGLIIS &c. E multis multorum Auctorum Libris atque Catalogis in compendium redacta, juxta ordinem Alphabeticum conscripta, nec-non ita aucta & adornata, Ut plerisque Bibliorum Commentatoribus, quantum reperiri potuit, adjectas cernat Lector circumstantias, nullibi alias sic obvias: scil. I. Quis unumquemque Commentarium. ΅) sumptibus Ά) typis promoverit ? II. Ubi, s. quo loco. III. Quando, vel quo anno? IV. Qua forma & materia? accedit ad haec quae hos inter scriptores ē.) optima, Ĕ.) novissima sit editio? quorum prius () lari, posterius vero (d) nari signavimus forma, Ex instinctu quorundam Bibliognosiae Amatorum in lucem edita Cum Potentiss. Polon. Regis & Sereniss. Saxon. Elect. PRIVILEGIO. Typis & Sumptibus JOH. CHRISTOPH BRANDENBURGERI, 170ř. Die Bibliographierung der Kommentare zur Genesis findet sich auf den Seiten 28–ř5. 121 Bei der 1684 veröffentlichten Berner Revision der Piscatorbibel, also der 1602 bis 1604 erschienenen Bibelübersetzung des Herborner Exegeten Johann Piscator, hat Rudolf freilich daran mitgewirkt, alle Spuren einer berühmten und berüchtigten Unterscheidung Piscators zu verwischen, die der in der Rede von 1696 vorgenommenen Unterscheidung irgendwie ähnelt, nämlich zwischen einer wie allen Menschen auch
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frühaufklärerische Wurzeln tragen dürfte, Wurzeln, die auch ansonsten Rudolfs, besonders durch eine zweibändige eudämonistische Ethik ausgezeichnetes, theologisches Wirken prägten.Ⱥ122 Auch bei ihm steht das Opfer nicht als solches, sondern in der daraus abgeleiteten Pflichtethik im Zentrum.
Prekarisierung konfessioneller Lebenswelt – Konfessionalisierung exegetischer Leseräume In der reformierten Auslegung, soweit sie von uns hier beobachtet wurde, wird das Handeln Abrahams in Gen 22 funktional auf unterschiedliche, aber zur Opferung Isaaks letztlich kontingente Themen bezogen. Einzig dort, wo typologische Momente ins Spiel kommen, die dann einen aktualisierenden Bezug weit über das Neue Testament hinaus beinhalten können, erlangen die von den Auslegern als historisch betrachtete konkrete Person Abrahams ebenso wie diejenige Isaaks ein bestimmtes Gewicht. Doch erscheinen typologische Erwägungen nicht als zentrale Zielgedanken, sondern eher als Digressionen in den Exegesen früher reformierter Autoren. Zudem stellen sie bereits einen ersten, entscheidenden Schritt zu einer christologischen oder kirchlichen Funktionalisierung dar. Erst recht wird dann in den maßgeblichen, skopusorientierten Kommentarteilen das Opfer im Blick auf andere theologische Themen beleuchtet. Entlang der vier (oder fünf) hier abgeschrittenen Auslegungsfelder lassen sich dabei zwei entscheidende Linien im Zugang der Reformierten zum Opfer Isaaks identifizieren. Christus als Pflicht und Schuldigkeit auferlegten oboedientia vitae und einer allein heilsrelevanten oboedientia mortis Christi. Die Ablehnung dieser Unterscheidung atmet noch orthodoxen Geist und entspricht Verdammungen von 160ř (französischer synode national in Gap) bis 1675 (Formula Consensus Helvetica, Art. 16) und zeigt auch Respekt gegenüber der durchgehenden Ablehnung der korrespondierenden Begriffe der justitia activa und passiva im orthodoxen Luthertum. S. dazu die Ausführungen von RѢёќљѓ DђљљѠѝђџєђџ, „‚Das Heilig wort Gottes in der Haubstatt‘. Zum theologie- und kirchengeschichtlichen Hintergrund der Berner Piscatorbibel“, in: Zwing. 16 (1985Ȧ2), 500–516; Reprint in: DђџѠ., Kirchengemeinschaft und Gewissensfreiheit (Anm. 12), 29–50. 122 Jќѕюћћ RѢёќљѓ RѢёќљѓ, Ethica duobus libris comprehensa: quorum prior, aretologia, […] posterior, eudaemonologia, […] edisserit. Opera et studio Philareti [= Pseudonym], Amsterdam 1696. Schon lange zuvor hatte er einen Schüler über den auch in den Katechismusanalysen der Zeit so zentralen, überlicherweise ebenfalls bereits stark individualethisch gewendeten Gewissensbegriff dissertieren lassen. Bђюѡ LѢёѤіє BђџѠђѡѕ, De conscientia hominis. Sub praesidio Johannis Rudolphi Rudolphi, [Bern?] 1686. Insgesamt steht die Forschung über Rudolfs theologische Entwicklungslinien und Positionen bislang noch in den Anfängen.
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Eine erste Verstehenslinie ergibt sich aus der Beobachtung, dass sämtliche Autoren auf Einheit insistieren. Mit Zwingli beginnt die lange – außerhalb des exegetischen Feldes weit über die Reihe der hier untersuchten Autoren hinaus andauernde – Reihe reformierter Autoren, die auf die Einheit des Wesens Gottes abheben, eine Einheit, die sich in Ansätzen schon bei dem Zürcher Reformator und nachhaltiger bei Wolfgang Musculus als Einheit der Stimme Gottes darstellt; eine Konzeption, die auch Calvin, freilich bereits stärker vorsehungstheologisch-applikativ, wiederum aufgreift. Sämtliche hier untersuchten Interpreten unterstreichen auch, wenngleich mit jeweils unterschiedlichen Nebenakzenten, die Einheit zwischen Bekenntnis und Handeln im Glauben. Bereits das pure Faktum einer Auslegung des Jakobusbriefes darf als klares Bekenntnis zu einer solchen Theologie der praktisch-reformatorischen Einheit von Glauben und Heiligung verstanden werden, erst recht die dahingehende gegenständliche Auslegung. Die frankophone Reformation schließlich hat ein so vitales Interesse an der Einheit von Herzensüberzeugung und Öffentlichkeitswirkung ihres Glaubensbekenntnisses, dass sie – unter Berufung auf den Opfergang von Morija – diese Einheit notfalls unter Preisgabe des Lebens zu wahren bereit ist und dazu nachhaltig aufruft. Die Wahrung der relativen Einheit polarer Aspekte theologischer Sachverhalte hat indes nichts Außergewöhnliches, sondern gehört zu den bekannten Charakteristika reformierter Theologie. Sie ist in dieser Hinsicht der mittelalterlichen Scholastik verbunden, mit dem entscheidenden Unterschied freilich, dass sie die teils spannungsvollen Polaritäten nicht mittels einer wie auch immer gearteten Staffelung zu denken unternimmt, also weder als mystischen Stufenanstieg noch als gradualen Perfektionierungsweg noch als Austarierung scheinbar widersprüchlicher Autoritäten noch auch als Überstieg von natürlicher zu geoffenbarter Erkenntnis Gottes. Die Einheit wird vielmehr im Glauben gewahrt. Die exegetische Konkretisierung und Bewährung dieser Einheitstheologie an einem so außergewöhnlichen, ja extremen Text wie Gen 22 lässt erahnen, welch ambitioniertes Programm damit gefahren wurde, das keineswegs als aus sich heraus plausibel erschien. Die Fähigkeit zu dieser Wahrung der Einheit bedarf laut den frühen reformierten Auslegern vielmehr der Erziehung zur Überwindung jener Affekte und Reflexe, die hier kurzweg trennen möchten. Diese Erziehung ist Erziehung zum Glauben, der somit faktisch ein Wachstum kennt. Theologisch, nicht chrono- oder psychologisch betrachtet, ist dieses Wachstum keinesfalls gradual, etwa als Überschritt von ungeformtem zu geformtem Glauben, zu verstehen; es geht vielmehr um reformatorisch konsistent gedachte Zunahme der Gnade im Glaubenden. Dennoch resultieren die reformierten Exegesen in der Forderung einer Identifikation
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mit Abrahams Gehorsam, die in den oft predigtnahen Kommentaren vermittels einer pädagogisch orientierten Dramatik vorgetragen wird, die sich an die religiöse Leistungsfähigkeit des Einzelnen richtet. Dem individuellen glaubenden Subjekt wird so Einiges auf die Schultern geladen, nämlich die Regulierung der Affekte, die beim Verzicht auf vernunftgeleitete Ergründung innergöttlicher Divergenzen unabdingbar wird. Es zeigt sich somit auch in diesem Abschnitt der Auslegungsgeschichte, und zwar mit selten eindrücklicher Beispielhaftigkeit, dass die Einforderung des angesprochenen Verzichtes sich zwar vormodernen Motivationen verdankt, die ihrerseits aber in Richtung Moderne weisende Effekte zeitigen.Ⱥ12ř Freilich ist diese Dialektik wie auch das dahinter stehende theologische Anliegen der Wahrung der Einheit in den Auslegungen Luthers sehr ähnlich zu finden, zumindest was die Einheit Gottes mit sich selbst angeht. Wo Zwingli und die Reformierten eine Pädagogik der Affektenbewältigung aus humanistischen Quellen übernehmen, rezipieren Luther und seine Schüler eine Anfechtungspraxis, die sich eher monastischer Herkunft verdankt.Ⱥ124 Die Absicht ist jedoch nahezu deckungsgleich; es überschneiden sich hier spezifisch konfessionelle Aspekte mit zumindest innerprotestantisch wirksamen transkonfessionellen Motiven. Der Beitrag der Geschichte der Exegese zur Ideengeschichte besteht hier daher mindestens ebenso sehr darin, die pastoralpsychologisch-dramatischen Implikationen reformierter theologischer Grundanliegen sichtbar werden zu lassen, als darin, diese Grundanliegen als solche klarer zu erhellen. Die Auslegungsgeschichte gibt ja einen zwar nicht unumschränkten, aber doch recht weit gehenden Einblick in die Predigtwirklichkeit und damit, bei aller gebotenen methodischen Vorsicht, auch in die Seelenverfassung derer, die sie hörten und sich mit ihren Ansprüchen auseinander zu setzen hatten. Eine zweite und wohl etwas spezifischer konfessionelle Entwicklungslinie ist aus den theologischen Aspekten der Kommentare nicht direkt ableitbar. Sie ergibt sich erst aus den kontextuellen Bezügen der Texte, die von einer städtisch-territorialen Reformation in voller Aufbruchsstimmung über die zunehmende Wahrnehmung der lange anhaltenden Risiken des Unternehmens Reformation bis hin zu einer klar minderheitlichen und entsprechend bedrohten Form protestantischen Kircheseins hinüberwechseln. Je prekärer die äußere Situation, desto deutlicher werden politische Implikationen der Auslegungen, desto ausgeprägter und umfangreicher gestalten sich die auf die Hörer und ihre 12ř Dies gegen Hans Blumenberg in Anschlag gebracht zu haben, ist das bleibende Verdienst von Hђіјќ AѢєѢѠѡіћѢѠ Oяђџњюћ, Contra vanam curiositatem. Ein Kapitel der Theologie zwischen Seelenwinkel und Weltall (Theologische Studien 1ř), Zürich 1974. 124 Vgl. dazu den Beitrag von Johann Anselm Steiger in diesem Band.
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konkrete Lebenswirklichkeit Bezug nehmenden Erklärungen, Verdeutlichungen und Exkurse, desto eindeutiger entwickelt sich auch eine adaptive Identifikation Abrahams mit dem aktuellen kirchlichen Kontext, aufgrund deren die biblische Gestalt zunehmend instrumentalisiert erscheint, bis hin zum expliziten Versuch, die Opferhandlung des Patriarchen rundweg und gegen den Sinn des biblischen Textes zu relativieren. Diese wachsende Politisierung dürfte, zumindest in ihrer Gesamtheit, ein Spezifikum reformierter Lektüre westeuropäischer Prägung des Isaakopfers darstellen. Es stellt sich die Frage, ob die calvinistisch-reformierte Exegese von Gen 22 sich in diese Richtung entwickelte, weil sie ihr religiös-geographisches Umfeld – in dem beim Stichwort Menschenopfer ab der entscheidenden Hinrichtung der cinq escoliers [Theologiestudenten] de Lausanne 155ř in Lyon spontan wohl gar nichts mehr Anderes als das Martyrium assoziiert werden konnte – unmittelbar dahin führte, oder ob sie einen eher indirekten und langfristig wirksam werdenden Reflex mehrerer auf den Antinikodemismus zentrierter theologischer Grundlinien darstellt. Von Interesse ist zudem die ebenfalls offene Frage, ob die Absenz explizit politischer Motive in der lutherischen und vermutlich auch der katholischen und traditionell-humanistischen Exegese nicht auch ihrerseits eine Funktion ihres jeweiligen Umfelds darstellt, nämlich eine Funktion der Deckungsgleichheit von partikulärkirchlichem und obrigkeitlichem Bekenntnis innerhalb monokonfessioneller Territorien. Isaaks Gehorsam gegenüber dem leiblichen Vater und Abrahams Gehorsam gegenüber dem himmlischen Vater erinnern in ihrer letztlich wechselseitigen Verweisung durchaus an die im Luthertum wie auch im deutschsprachigen Reformiertentum besonders enge Verbindung zwischen dem vierten (reformiert: fünften) und dem ersten Gebot.Ⱥ125 125 Instruktiv herausgearbeitet haben diesen Konnex Rќяђџѡ BюѠѡ, Honor your Fathers. Catechisms and the Emergence of a Patriarchal Ideology in Germany, c. 1400–1600 (SMRT 71), Leiden 1997; und, brillant von Bildquellen aus argumentierend, Oљіѣіђџ CѕџіѠѡіћ, Les yeux pour le croire. Les Dix Commandements en images (ѥѣ e–ѥѣіі e siècle), Paris 2004. Es wäre auch in diesem Zusammenhang aufschlussreich, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in den eidgenössischen Orten aufgeführten Isaak-Dramen zu untersuchen. Hemmann Haberer von Brugg (1505–1577), Landschreiber an der Grafschaft Lenzburg von 15ř7–1554 und später von 1571–1577 Stiftsschreiber in Zofingen, verfasste und inszenierte 1562 in Lenzburg einen komödiantischen, Gen 15–22 behandelnden Fünfakter „Abraham“, mit Chorlied nach jedem Aufzug. Vier Jahre später unternahm der Schaffhauser Schulmeister Sebastian Grübel (1528–1595) mit Schülern in Schaffhausen eine Aufführung einer dramatisierten „Immolation Isaaks“. Beide Stücke scheinen sich an die 1547 publizierte lateinische „Immolatio Isaac“ in fünf Akten des Ingolstädters Hieronymus Ziegler anzulehnen, einer der Zentralfiguren des gegenreformatorischen Dramas, während von einem Einfluss des zumindest geographisch näher stehenden Konfessionsgenossen Beza in der Forschung jedenfalls bislang nicht die Rede war. S. dazu Jюјќя Bюђѐѕѡќљё, Geschichte der
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Die Nichtanwesenheit politischer Interpretamente wäre in dieser Sichtweise ein konkaves Gegenstück zu einer sozusagen konvex dazu sich verhaltenden militanten Konfessionalisierung in der bikonfessionellen Lebenswelt des trotz aller Dynamik minoritären Calvinismus.Ⱥ126
Deutschen Literatur in der Schweiz, Frauenfeld 1887, ř66f. M. Bюћѕќљѧђџ, „Hemmann H. von Brugg. Landschreiber und Dramatiker“, in: Brugger Njbl 70 (1960), 27–ř6. 126 Methodisch resultiert aus vorliegender Skizze, dass zur bisherigen Entwicklung der Exegesegeschichte, die in Richtung einer immer präziseren und umfassenderen Aufarbeitung der Rezeptionsprozesse innerhalb einer bestimmten Konfession führte, zwei weitere Untersuchungsaspekte in Betracht zu ziehen wären. Zum einen erscheint ein möglichst breit interkonfessionell komparatistischer Blick, wie er im vorliegenden Sammelband präsentiert wird, überaus vielversprechend. Zum andern ist der Einbezug des kirchlichen und politischen Hintergrundes überall dort konstitutiv zum Verständnis diachroner Verschiebungen im intrakonfessionellen Kommentierungsprofil, wo ansonsten deren „konfessionalistische Qualität“ (PюѐјђіѠђџ, Zum Austausch [Anm. 94], ř27) nicht zu entbergen wäre.
Abraham, der leidende Vater Nachwirkungen Gregors von Nyssa in Exegese und Dramatik (im 16. bis 18. Jahrhundert) von Bюџяюџю Mюѕљњюћћ-BюѢђџ 1. Einleitung Erich Auerbach charakterisiert die Erzählweise des Elohisten in Gen 22 als hintergründig und tiefsinnig. Es werde „nur dasjenige an den Erscheinungen herausgearbeitet, was für das Ziel der Handlung wichtig ist, der Rest bleibt im Dunkel; die entscheidenden Höhepunkte der Handlung werden allein betont, das Dazwischenliegende ist wesenlos; Ort und Zeit sind unbestimmt und deutungsbedürftig; die Gedanken und Gefühle bleiben unausgesprochen; sie werden nur dem Schweigen und fragmentarischen Reden suggeriert; das Ganze, in höchster und ununterbrochener Spannung auf ein Ziel gerichtet, und insofern viel einheitlicher, bleibt rätselvoll und hintergründig.“Ⱥ1 Diese Poetik der Aussparung, welche die Erzählung der Opferung Isaaks in Gen 22 regiert, hat den Scharfsinn der Exegeten seit den Kirchenvätern herausgefordert und Dichter dazu angeregt, das Geschehen als Schauspiel in szenischen Dialogen darzustellen. Während sich die Kommentatoren bemühen, die Kommunikation zwischen Gott und Abraham theologisch im Einklang mit anderen biblischen Aussagen zu deuten oder die Konsequenzen aus der tentatio Abrahami für das Gottesverständnis herausarbeiten, regen Spekulationen, wie der göttliche Auftrag auf Abraham, Sara und Isaak gewirkt haben und mit welchen Affekten der schwer geprüfte Vater seinem Schöpfer begegnet sein mag, Bühnendichter dazu an, das Geschehen aus menschlicher Sicht zu schildern. Jacob Pontanus (1542–1626) hat die Immolatio Isaac als dramatischen Dialog seiner Poetik angehängt und in veränderter, gekürzter Form in
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Eџіѐѕ AѢђџяюѐѕ, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1959, 14.
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Barbara Mahlmann
seinen Colloquia sacra herausgegeben.Ⱥ2 Pontanus nennt im dritten Band seiner Schülergespräche, Progymnasmata latinitatis, die Quelle, die ihn zu seiner lyrischen Dramatisierung der widerstreitenden Gefühle Abrahams und Saras inspiriert hat, die Oratio de Deitate filii et spiritus Sancti Gregors von Nyssa (um řř5–ř94). Der Kirchenvater berichtet darin, daß die bildliche Darstellung der Opferung Isaaks ihn zu Tränen gerührt habe.Ⱥř Daran erinnert sich der Magister in einem Schülergespräch mit dem Titel Nundinae, das den Leser in das bunte Treiben des Augsburger Stadtmarkts einführt, den Schüler mit ihrem Lehrer an einem schulfreien Nachmittag besuchen. Beim Anblick einer Darstellung, wie Abraham auf Gottes Befehl seinen Sohn opfert, geht es ihm geradeso wie Gregor: Lacrimae illi cadebant quandoquidem in memoriam redibat admirandae illius & omnibus saeculis, omnibusque linguis praedicandae obedientiae atque fidei: quarum virtutum documenta eo tam illustri facto Patriarcha dedit. Ⱥ4
Im Kommentar zu diesem Schülerdialog zitiert Pontanus sodann Gregors eigene Worte: Disertissimè historiam hanc & euidentissimè describit ipse Nyssenus oratione de deitate filij & spiritus sancti (in qua item Abrahamum maximis laudibus extollit) utique talem omnino, qualem depictam seu in peristro-
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Jюѐќя PќћѡюћѢѠ SJ, Poeticae institutiones libri tres. Eiusdem Tyrocinium Poeticum, Ingolstadt 1594, „Tyrocinium poeticum“, 526–56ř (nach dieser Ausgabe zitiere ich im folgenden die Immolatio Isaac); ёђџѠ., Colloquiorum sacrorum libri IV cum notis […], Augsburg 1609 (Exemplar der Stadtbibliothek Augsburg), hier Colloquium IX, 9, S. 81–90. Gџђєќџ ѣќћ NѦѠѠю, Oratio de deitate filii et spiritus sancti. Cui inserta est laudatio constantis fidei justi Patriarchae Abrahami, in: PG 46, 55ř–576, bes. 566–574. Eine textkritische Ausgabe haben EџћѠѡ Rѕђіћ und Fџіђёѕђљњ Mюћћ besorgt: Gregorii Nysseni sermones pars III, Leiden u. a. 1996, 115–144, bes. 1ř1–14ř. Gђџѕюџё MюѦ sieht in diesem Bericht „aus eigener Anschauung“ „zum ersten Mal ein uneingeschränkt positives Verhältnis zur Kunst innerhalb und außerhalb der Kirche.“ Vgl. MюѦ, „Gregor von Nyssa“, in: TRE 20 (1990), 26ř, 10f. 12–15. Es gab derartige Darstellungen schon im 2. und ř. Jahrhundert: „die 1854 von de Rossi entdeckte [Calixtus-] Katakombe ist mit Fresken des 2. und ř. Jh. dekoriert, die die Opferung Isaaks, Szenen der Jona-Gesch[ichte] und Episoden aus dem Leben Jesu darstellen.“ Vgl. Gюяџіђљљђ Sђё-Rюїћю, „Katakomben II. Christliche Katakomben“, in: RGG 4 4 (2001), 851–85ř, hier 852. Auf ein Dekkenfresko mit entsprechenden Szenen aus dem ř. und frühen 4. Jahrhundert in der Katakombe SS. Marcellino e Pietro weist GѢћѡџюњ Kќѐѕ hin (Frühchristliche Kunst. Eine Einführung, Stuttgart u. a. 1995, 87 und Tafel 18). JюѐќяѢѠ PќћѡюћѢѠ SJ, Progymnasmatvm latinitatis, sive dialogorum Liber Tertius, seu Libri tertij pars prior. Cvm annotationibvs, de variis rervm generibvs, erstmals Ingolstadt 1594. Ich zitiere aus der erweiterten postumen Ausgabe Frankfurt 16ř0, Bd. III, Teil 1, ř47: „Tränen flossen ihm herab, als ihm nämlich Abrahams bewundernswerter und auf ewig und in allen Sprachen preiswürdiger Gehorsam und Glauben ins Gedächtnis kam. Von diesen Tugenden lieferte der Patriarch durch diese so berühmte Tat einen Beweis.“
Abraham, der leidende Vater
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mate, seu in pariete viderat. Quid autem videnti contingebat? quod nobis quoque contingeret, si ea pietate essemus, qua ille fuit. Audiamus igitur,
(L¸MGRQ SROODYNL HMSL JUDIMK HLMNRYQD WRX SDYTRX NDL RXMN DMGDNUXWL WKQ THYDQSDUK OTRQHMQDUJZ WK WHYFQKX-SR>\LQDMJRXYVKWKQL-VWRULYDQ Saepenumero huius casus depictam aspexi imaginem, neque sine lacrymis spectaculum praeterire potui, cum artificium rem gestam ipsis oculis manifestè subijceret.Ⱥ5
David Höschel (1556–1617), der Rektor des St. Anna-Gymnasiums, hat die Oratio des griechischen Kirchenvaters 1591 – also drei Jahre vor der Publikation des dritten Progymnasmata-Bandes – auf der Grundlage eines Augsburger Codex herausgegeben.Ⱥ6 Wahrscheinlich hat Pontanus diese Einzeledition der Rede in der Edition seines lutherischen Kollegen studiert; vielleicht kannte er auch die Handschrift.Ⱥ7 Denkbar ist auch, daß Pontanus die Rede Gregors in dieser Edition mit seinen Griechischschülern im Unterricht durchgenommen hat. Es ist nicht ersichtlich, ob 5
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PќћѡюћѢѠ, Progymnasmata latinitatis (Anm. 4), Bd. III, 1, ř50. „Mit größtem rhetorischem Geschick und höchst anschaulich beschreibt diese Geschichte der Nyssener in der Rede über die Gottheit des Sohnes und des Heiligen Geistes, in der er ebenso Abraham mit größten Lobreden hervorhebt, ja ganz einen solchen Abraham, wie er ihn auf einer Tapete oder Wand abgebildet sah. Was aber geschah mit ihm, als er diese Szene sah? Das, was auch uns widerfahren würde, wenn wir von derselben Frömmigkeit erfüllt wären wie er. Hören wir also: ‚Oftmals habe ich die figürliche Abbildung dieser Szene angeschaut, und nie konnte ich an diesem Schauspiel ohne Tränen vorübergehen, da die künstlerische Gestaltung die Geschichte handgreiflich vor Augen brachte.‘“ – Pontanus’ lateinische Übersetzung weicht von derjenigen des Laurentius Sifanus ab; der jesuitische Humanist hat wahrscheinlich direkt aus dem Griechischen übersetzt. Oratio S. Gregorii episcopi Nysseni de filii et spiritus sancti deitate e codice m. s. Reipublicae Augustanae nitori atque integritati restituta studio & operâ DюѣіёіѠ HќђѠѐѕђљіі, Augsburg 1591. Mir liegt das Exemplar der BSB München vor. Hoeschel stützte sich auf den Clm ř70 aus dem 10. Jahrhundert. Vgl. die Praefatio von EџћѠѡ Rѕђіћ zu GџђєќџіѢѠ NѦѠѠђћѢѠ, Sermones III (Anm. ř), 106–108. Rhein findet es bemerkenswert, daß Hoeschel offenbar weder von Sifanus’ zweisprachiger Ausgabe noch von der Leipziger Ausgabe des Joachim Camerarius wußte. Sifanus’ Edition war in Köln 1568 erschienen, die Ausgabe des Camerarius in Leipzig 1564. Vgl. Rѕђіћ, Praefatio, 100–10ř. Pontanus und Höschel publizierten beide in dem vom katholischen Stadtpfleger Marcus Welser gegründeten Verlag „Ad insigne pinus“. Daher ist es wahrscheinlich, daß beide ihre wissenschaftlichen Publikationen kannten. Zu Höschel vgl. Tѕђќѝѕіљ Sѝіѡѧђљ, Templum Honoris Reseratum, in quo L. illustrium aevi hujus, orthodoxorum, ac beate defunctorum Theologorum Philologorumque imagines exhibentur […], Augsburg 167ř, ř28–ř44 (mit Porträt); Sіђєѓџіђё Sѝџіћє, „David Hoeschel 1556–1617. Rektor am Gymnasium bei St. Anna in Augsburg und Gräzist“, in: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben, Augsburg 196ř; Lђќћѕюџё Lђћј, Augsburger Bürgertum im Späthumanismus und Frühbarock (Schriftenreihe des Stadtarchivs Augsburg 17), Augsburg 1968.
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Pontanus auch die lateinische Übersetzung Gregors von Laurentius Sifanus (ca. 1510–1579) bekannt war, die, zusammen mit dem griechischen Text der „hauptsächlich“ von Sifanus ins Lateinische übersetzten Werke Gregors erstmals 1562, sodann verbessert 1571 in Basel bei Nicolaus Episcopius erschienen war.Ⱥ8 Sifanus nahm seine lateinische Übersetzung der Rede Gregors 1568 auch in ein Sammelwerk auf. Sie erlebte im Rahmen von Werkausgaben Gregors im 17. Jahrhundert mehrere Neuauflagen und wurde neben dem griechischen Text in Mignes Patrologia graeca wiederabgedruckt.Ⱥ9 Ähnlich wie Pontanus erinnert auch Cornelius a Lapide (1567–16ř7) in seinem Kommentar zu Gen 22 an die bildkünstlerische Tradition, den dramatischen Höhepunkt der Geschichte darzustellen, also den Augenblick, in dem der Engel erscheint und Abraham daran hindert, Isaak zu töten. Auch Cornelius zitiert Gregors Erklärung, welche Wirkung der Anblick dieser Darstellung auf ihn hatte: Vidi, inquit, saepius descriptionis eius (immolationis Isaac) imaginem et sine lachrymis transire non potui, cum tam efficaciter et ad viuum ob oculos historiam eius rei poneret.Ⱥ10
Ob Gregors Oratio auch schon vor den ersten gedruckten Ausgaben Luther, Zwingli, Calvin und Beza bekannt war und ihre Exegese von Gen 22 beeinflußt hat, muß hier offen bleiben. Möglich ist es, wenn man sich die enorme handschriftliche Verbreitung dieser Rede Gregors im 16. Jahrhundert vor Augen führt, die Ernst Rhein allein mit der in ihr enthaltenen Ekphrasis über die Opferung Isaaks zu erklären versucht.Ⱥ11 Wer aber wie Theodor Beza (1519–1605), Hieronymus Ziegler (1514–1562),
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Sifanus befaßte sich nach 1556 zwei Jahre mit der Übertragung der Werke des Kirchenvaters Gregor von Nyssa, wozu ihm Johann Jakob Fugger vier Handschriften Gregors zur Verfügung stellte, welche die Grundlage für seine Übersetzung darstellen. Sifanus widmete die Erstausgabe seiner Opera Gregorii seinen Schülern Markus und Hans Fugger, den Söhnen von Anton Fugger. Von 1570 bis 1579 bekleidete Sifanus die Griechischprofessur der Universität Ingolstadt. Vgl. Hђіћѧ Sѐѕњіѡѡ, „Sifanus, Laurentius Hubert“, in: BBKL [www.bautz.deȦbbkl] 24 (2005), 1ř66–1ř76. Vgl. die Angaben bei Hђіћѧ Sѐѕњіѡѡ (Anm. 8); Bibliographie zu Gregor von Nyssa. Editionen – Übersetzungen – Literatur, hg. v. Mюџєюџђѡђ AљѡђћяѢџєђџȦFџіђёѕђљњ Mюћћ, Leiden u. a. 1988, 2řf. 28f. ř1. ř2f. 46f. 50f. 5řf. 58–60. 75f. 87f. Die Daten zur Überlieferung und Editionsgeschichte in PG 46, ř9–42 sind veraltet. Commentaria in Pentatevchvm Mosis, Auctore R. P. Cќџћђљіќ ю Lюѝіёђ e Societate Iesv. […], Antwerpen 16ř0 (erstmals 1616), 197. Auch Cornelius a Lapide benutzt Sifanus’ Übersetzung offenkundig nicht. Rѕђіћ, Praefatio, in: GџђєќџіѢѠ NѦѠѠђћѢѠ, Sermones III (Anm. ř), 109. Er kennt knapp hundert Handschriften der Oratio. Die Abraham-Ekphrasis wird in allen Gruppen von Handschriften textidentisch überliefert, während der Rahmenteil erhebliche Überlieferungsfehler aufweist.
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Jacob Frey (vor 1520–1562), Andreas Lucas (fl. 1551),Ⱥ12 Georg Rollenhagen (1542–1609) oder Jacob Pontanus die Geschichte von Isaaks Opferung im 16. Jahrhundert als Drama bearbeitet hat, konnte in Gregors empfindsamer, anschaulicher Nacherzählung so etwas wie einen Archetypus für eine Bühnenfassung sehen.Ⱥ1ř Eine rhetorische AnalyseȺ14 dieses Nucleus zu einem Abraham- und Isaak-Drama soll daher das Fundament für die folgenden Interpretationen neuzeitlicher Abraham- und Isaak-Dramen abgeben.Ⱥ15
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Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ zitiert in seinem Beitrag in diesem Band aus den Dramen von Andreas Lucas und Jacob Frey (vgl. Sѡђієђџ, „Zu Gott gegen Gott“, Anm. 47, 95– 98), während ich für meine vergleichende Analyse Beza und Pontanus ausgewählt habe. Auch in der lutherischen Exegese von Gen 22 war Gregors Oratio bekannt. Johann Anselm Steiger zitiert die Gregor-Erwähnungen von Simon Gedicke und Johann Gerhard (Sѡђієђџ, Zu Gott gegen Gott, Anm. 54 und 56). Dazu Fџіѡѧ Rђѐјљіћє, Immolatio Isaac. Die theologische und exemplarische Interpretation in den Abraham-Isaak-Dramen der deutschen Literatur insbesondere des 16. und 17. Jahrhunderts, Diss. Münster 1962, 1ř0–178. Ähnlich folgenreich mag Gregors Bildbeschreibung für die Behandlung des Sujets in der Kunstgeschichte gewesen sein. Hinweise auf frühchristliche und mittelalterliche Darstellungen der Opferungsszene geben Rђѐјљіћє, Immolatio Isaac (Anm. 1ř), 25f. und Dюѣіё Lђџѐѕ, Isaaks Opferung christlich gedeutet. Eine auslegungsgeschichtliche Untersuchung (BHTh 12), Tübingen 1950, 117. Zum Bildungshintergrund Gregors von Nyssa, besonders seiner rhetorischen Schulung und seinem Rhetorikverständnis vgl. CѕџіѠѡќѝѕ Kљќѐј, Untersuchungen zu Stil und Rhythmus bei Gregor von Nyssa. Ein Beitrag zum Rhetorikverständnis der griechischen Väter (Beiträge zur klassischen Philologie 17ř), Frankfurt a. M. 1987, bes. 122ff. und Eјјђѕюџё Mҿѕљђћяђџє, „Gregor von Nyssa“, in: Gestalten der Kirchengeschichte, hg. v. Mюџѡіћ GџђѠѐѕюѡ, Bd. 2, Berlin u. a. 1984, 49–6ř, bes. 5ř–54. Forschungsliteratur zur Oratio und zu Gregors Interpretation von Gen 22 gibt es nicht, wenn man von der Anfang des 20. Jahrhunderts mehrfach erörterten Autorfrage einmal absieht. Friedhelm Mann hat die vielfach akzeptierte These zurückgewiesen, daß Gregor sich auf die teilweise textidentischen Ausführungen von Ephraem Syrus (um ř06–ř7ř; vgl. den Artikel von Pђѡђџ BџѢћѠ, in: RGG 4 2 [1999], 1ř52) gestützt und sie in seine Rede montiert habe. Für ein derartiges „furtum“ gebe es kein Vorbild. Angesichts der rhetorischen Meisterschaft Gregors hält es Mann für plausibler, Ephraem von Gregor abhängig zu denken. Mюћћ, Praefatio, in: GџђєќџіѢѠ NѦѠѠђћѢѠ, Sermones III (Anm. ř), 110–11ř. Die Auffassung, daß Gregor und Ephraem vielleicht eine gemeinsame Vorlage hatten, vertritt Lerch, wobei er die Art und Weise, wie Gregor seine Gen 22-Exegese auf sein Hauptthema, die Göttlichkeit des Sohnes und des Heiligen Geistes, bezieht, für wenig gelungen hält. Lђџѐѕ, Isaaks Opferung (Anm. 1ř), 115–117. Nichts zur Frage trägt bei HѢєќ WђіѠѠ, Die großen Kappadocier Basilius, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa als Exegeten. Ein Beitrag zur Geschichte der Exegese, Braunsberg 1872, 10ř–108.
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2. Abrahams Größe in Gregors Oratio Gregor hat, nach der Entscheidung seiner älteren Schwester Macrina, ein zurückgezogenes, der Askese geweihtes Leben zu führen, vermutlich nicht mehr dieselbe gründliche Ausbildung in der Rhetorik erhalten wie sein älterer Bruder Basilios. Die Tatsache, daß er selbst ř55–ř57 Rhetorik unterrichtete, rief bei Gregor von Nazianz Kritik hervor. Im Rückblick beurteilte Gregor seine weltlichen Aktivitäten als Lehrer selbstkritisch.Ⱥ16 Nachdem er ř72 zum Bischof von Nyssa geweiht worden war, betrachtete er die „Absage an alle rhetorische Kunst“, welche allein heidnische Redner für ihre sophistischen Lügen bräuchten, und die „Ablehnung der Rhetorik“ als „Gütesiegel der orthodoxen Beweisführung“.Ⱥ17 Aber er praktizierte die Kunst, die er ebenso wie Basilios bei den nicht-christlichen Lehrern der zweiten Sophistik gelernt hatte, doch, zumal vor Zuhörern, denen, wie er schreibt, die biblischen Geschichten offenbar nicht bekannt waren (D>JQZVWDHL?QDLWRL SROORLY ).Ⱥ18 Was aber macht ein Lehrer, damals vermutlich nicht anders als heute, der seine Zuhörer dazu bringen will, die Heilige Schrift lesend und hörend kennenzulernen? Er bemüht sich um eine einfühlsame, mitreißende Nacherzählung, wobei er phantasievoll die Lücken in der biblischen Erzählung auffüllt und an das Vorstellungsvermögen seiner Zuhörer appelliert. Ein charakteristisches Ausdrucksmittel Gregors ist die Analogie, die mit Metaphern und Vergleichen evoziert wird.Ⱥ19 Gregor erregt SDYTR XQG ]K OR seiner Zuhörer, um sie für die Botschaft der Erzählung von Abrahams Opferbereitschaft empfänglich zu machen.Ⱥ20 Die Geschichte zeigt nach Gregors Interpretation die übermenschliche Größe Abrahams, die seiner Position als durch den Gottesbund auserwählter Stammvater der Juden und Christen entspricht. Gregors Nacherzählung macht e negativo die Paradoxie nachvollziehbar, daß die Heilige Schrift in menschlichen Worten überliefert ist, aber die unaussprechliche Erfahrung der deitas vermitteln will. Gott spricht durch den Schleier der L-VWZULYD, die in menschliche Worte gekleidet ist. Gregor untersucht die Beschaffenheit dieses den Menschen allein zugänglichen Schleiers, um seinen Zuhörern eine Ahnung von dem unfaßbaren Verhältnis zwischen Abraham und Gott
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Zur Ausbildung Gregors s. Kљќѐј, Untersuchungen (Anm. 14), 82–89. Ebd., 15řf. PG 46, 565C; Rѕђіћ (Hg.), GџђєќџіѢѠ NѦѠѠђћѢѠ, Sermones III (Anm. ř), 1ř1, 1–ř: „Da nun wahrscheinlich den meisten der Inhalt der Geschichte unbekannt ist, will ich sie euch kurz, so gut ich kann, erzählen.“ Kљќѐј, Untersuchungen (Anm. 14), 16ř. Dieselbe Zielsetzung arbeitet Klock in der rhetorischen Analyse der Fastenhomilie De beneficentia heraus. Vgl. ebd., 17ř–178.
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zu vermitteln, das durch die tentatio und Abrahams übermenschlichen Gehorsam bestätigt worden sei.Ⱥ21 Gregors Bemerkung über die Wirkmacht der bildkünstlerischen Darstellung von Gen 22,10, die Pontanus und Cornelius a Lapide zitiert haben, ist Teil einer phantasievollen, einfühlsamen Exegese des in Gen 22,1–19 nur bruchstückhaft berichteten Geschehens. Gregors Exkurs über die übermenschliche Größe Abrahams wird in einer Folge von Szenen entfaltet, in denen Dialogpartien mit Appellen an die Vorstellungskraft der Zuhörer abwechseln.Ⱥ22 Die Nacherzählung von Gen 22 wird unterbrochen von Fragen an seine Zuhörer und an Gott, der Abraham den unbegreiflichen Befehl gegeben hat. Gregor leuchtet in die menschliche Psyche hinein, um den außerordentlichen, unauslotbaren, schwer auszuhaltenden Gegensatz zwischen der Größe Gottes (THLRYWK - deitas) und der physischen und psychischen Begrenztheit des Menschen emotional nachvollziehbar zu machen. Damit verstärkt er rhetorisch das Bewußtsein der Gläubigen, daß sie sicher größere Probleme gehabt hätten als seinerzeit Abraham, Gottes Befehl zu begreifen und auszuführen, daß sie mithin als schwache Menschen weit unter dem Stammvater der Juden und Christen stünden, dessen Geschlecht Gott durch das Versprechen einer reichen Nachkommenschaft privilegiert habe. Indem Gregor den Gegensatz zwischen Gott und den Menschen veranschaulicht und die Gottesnähe Abrahams mit der Gottferne Saras konfrontiert, gewinnt er eine neue Perspektive, um das Erlösungsgeschehen und die göttliche Trinität zu würdigen. Angesichts des ungeheuren Abstandes zwischen Gott und den Menschen erscheinen das Entgegenkommen des Schöpfers, ihnen seinen Sohn zu senden, und die Göttlichkeit dieses zum Opfer für alle Menschen bereiten Sohnes umso überwältigender. Die Leser und Zuhörer werden durch die in die Rede über die Göttlichkeit der drei Personen eingeschobene Nacherzählung der Opferung Isaaks dazu angeregt, das Verhältnis zwischen Gott, dem Versucher, und Abraham, dem ihm Willfahrenden, mit den zwischenmenschlichen Beziehungen Abrahams zu Isaak und zu Sara zu vergleichen und das durch die tentatio erprobte Verhältnis Abrahams zu Gott mit dem zwischen Gottvater und dem Sohn in Beziehung zu setzen. Das Wesen Gottes, der Abraham mit dem Befehl, ihm seinen Sohn zu opfern, auf die Probe stellt, übersteigt menschliches Begreifen ebenso wie das Wesen der Vater-Sohn21
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Aљёђћ A. MќѠѠѕюњњђџ, „Disclosing but not Disclosed. Gregory of Nyssa as Deconstructionist“, in: Studien zu Gregor von Nyssa und der christlichen Spätantike, hg. v. HѢяђџѡѢѠ R. DџќяћђџȦCѕџіѠѡќѝѕ Kљќѐј, Leiden u. a. 1990, 99–126, hier 108–112. Die folgende Analyse stützt sich auf die historisch-kritische Editon der Oratio von EџћѠѡ Rѕђіћ (in Sermones III [Anm. ř]) und zieht darüber hinaus die griechisch-lateinische Ausgabe in PG 46 heran (55ř–576).
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Beziehung zwischen dem Schöpfer und dem Erlöser Christus. Gregors phantasievolle Schilderung, wie Abraham auf Gottes Weisung reagiert habe, führt gleichfalls vor Augen, daß sogar dem von Gott auserwählten Urvater der Gläubigen gar nichts anderes übrig blieb, als den unbegreiflichen Ratschlüssen Gottes zu glauben, zu vertrauen und zu gehorchen, weil kein Räsonnieren dazu hinreichen würde, die Tötung seines Sohnes Isaak als sinnvollen Schritt auf dem Wege zur Erfüllung der göttlichen Verheißung zu verstehen.Ⱥ2ř Gregors Zusammenfassung der Vorgeschichte Abrahams (PG 46, 565Ȧ566C–D; Rhein, 1ř1,ř–1ř2,1) dient dazu, Abraham den Zuhörern menschlich näher zu bringen. Wem Gott im hohen Alter gleichsam contra naturam noch einen Sohn schenkt, der wird ein besonders zärtliches Vaterherz besitzen. Umso grausamer ist dann die göttliche tentatio. Erwähnt werden Abrahams Vertreibung aus der Heimat und seine Ansiedlung in der Fremde, Gottes Verheißung und der dauerhafte, treue Glaube des Patriarchen an die Erfüllung der promissio, obwohl die realen Chancen zu ihrer Einlösung sich anscheinend verringerten, je älter Abraham und Sara wurden. Gleichwohl sei die Hoffnung in ihnen wach geblieben. Der Akzent der Vorgeschichte liegt auf der sich vergrößernden Spannung zwischen der Verheißung und ihrem Aufschub: Der Erzvater […] hält fest an der Hoffnung der Verheißung. Eine Probe des Festhaltens an Gott brachte für den Mann der zeitliche Aufschub des Erhofften mit sich. Die Verheißung aber bestand darin, daß Abraham der Vater eines Volkes werden sollte [Gen 17,5; 12,2].Ⱥ24
Die Geburt Isaaks wird als „THLYDGXQDYPHZDMSRWHYOHVPD und WRX THRX
GZUHDY (Wirkung göttlicher Kraft und Geschenk Gottes) interpretiert. Phantasievoll schildert Gregor, inspiriert von Gen 21,7, wie die Brüste Saras von Milch überquollen. Er stellt sich vor, wie Isaaks äußere Schönheit und Stärke mit seiner Tugendhaftigkeit korrespondierten:
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Insofern illustriert Gregors Interpretation des Verhältnisses Abrahams zu Gott die auch andernorts vertretene Auffassung, daß Gott in seiner Unendlichkeit unfaßbar und für den Menschen unerkennbar sei. Vgl. Mҿѕљђћяђџє, Gregor von Nyssa (Anm. 14), 60 und AћѡѕќћѦ Mђџђёіѡѕ, „The Idea of God in Gregory of Nyssa“, in: Studien zu Gregor von Nyssa (Anm. 21), 127–147, bes. 127–129. Ich benutze, wie schon in Anm. 18, hier und im folgenden die Übersetzung, die Tѕђќёќџ Mюѕљњюћћ von Gregors Oratio de deitate für diesen Sammelband angefertigt hat. Eine andere gedruckte deutsche Übersetzung ist meines Wissens nicht nachweisbar. Theodor Mahlmann hat meiner Arbeit über die Gregor-Bezüge in der Exegese und Dramenliteratur der Frühen Neuzeit durch wertvolle Anregungen und kritische Diskussion viele Impulse gegeben, wofür ich ihm hier danke.
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Und schon befand sich der Knabe in der Blüte der Jugend, auf dem Gipfel der Reife, ein süßer Anblick seinen Eltern, an Reife zunehmend, dem Gipfel entgegen, wobei zusammen mit den Tugenden der Seele die Schönheit des Leibes wuchs.
Dann richtet sich Gregor erstmals an das Vorstellungsvermögen der Zuhörer: Wie sich wohl die Eltern dazu verhielten, das erwägt, indem ihr bei euch selbst überlegt: wie dem Vater zumute ist, wenn er den Sohn spielen sieht oder er sich eifrig betätigt in der Ringerschule, im Schulunterricht, in den Wissenschaften, den hocherfreulichen Zusammenkünften der Gleichaltrigen.Ⱥ25
Vor diesem Hintergrund häuslichen, familiären Glücks führt Gregor die Geschichte von Abrahams Versuchung und Gehorsamsprobe ein. „Damit tritt an den Erzvater die Versuchung heran und die Probe, wem er mehr zugesteht: der Liebe zu Gott oder der Neigung zur Natur.“Ⱥ26 Unter dem Vorzeichen dieser Frage sieht Gregor die tentatio, imaginiert sich also eine Gegenkraft, die er der Stimme der Natur zuschreibt und die Pontanus als Personifikation in sein Drama einführen wird, während Beza in seiner Tragédie und Calvin in seinem Genesiskommentar den teuflischen Versucher als Gegenstimme einführen. Gregors Nacherzählung von Gen 22,2 – also des göttlichen Auftrags, der aus drei Imperativen besteht – ist in sich ein kleines Drama, das dazu bestimmt ist, bei den Zuhörern die Spannung auf das Folgende zu steigern.Ⱥ27 Gregor steuert rhetorisch effektvoll retardierend auf einen ersten Höhepunkt der Erzählung zu, nämlich auf die Worte, mit denen Gott Abraham auf die Probe stellt: „Opfere ihn mir!“ Gregor beginnt mit der Offenbarung seiner eigenen Gemütsbewegung angesichts der Zumutung, mit der Gott den erwählten Stammvater seines Volkes konfrontiert habe: „Ich zittere, während ich die Grausamkeit der Versuchung darlege.“ Unerträglich lang braucht Gregor, bis er den Auftrag, Isaak als holocaustum zu opfern, formuliert. Gott nähert sich in Gregors Nacherzählung dem nichts Schlimmes ahnenden Abraham in vier Schritten und weckt jedesmal unterschiedliche emotionale Reaktionen des Vaters. Zuerst ruft er Abraham bei seinem Namen, dann fordert er ihn auf, den 25
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Sifanus’ lateinische Übersetzung hebt die emotionale Wirkung durch den zweimaligen Gebrauch von „afficereȦaffecti esse“ hervor: „Quomodo autem affectos fuisse parentes […] vt afficiatur pater […]“ (PG 46, 567A). Diese Perspektive auf die Erzählung von Abrahams tentatio steht im Mittelpunkt der patristischen Exegese. Vgl. Lђџѐѕ, Isaaks Opferung (Anm. 1ř), 85f. Simon Gedickes amplificatio von Gen 22,2 durch die divisio der Befehle in Anordnungen, die in Abraham unterschiedliche Erwartungen wecken, scheint von Gregors Nacherzählung inspiriert zu sein. Vgl. das Zitat in Sѡђієђџ, Zu Gott gegen Gott, 207.
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Sohn zu nehmen, erst dann erfolgt die Weisung, Isaak ihm zum Opfer zu bringen, und zuletzt verdeutlicht Gott, daß er von Abraham fordere, seinen Sohn leibhaftig zu töten. Die Namensnennung erweckt nach Gregor in Abraham die Hoffnung auf „eine zweite Gnade“ (nach der Gnade der Geburt Isaaks). Der erste Teil des Befehls „Nimm mir deinen Sohn!“ entspreche vielleicht der langgehegten Erwartung Abrahams, er solle sich um die Eheschließung Isaaks kümmern: „Denn er vermutet ja so etwas, nämlich daß er geheißen wird, eine Ehe zu stiften, ja die Eheschließung zu beschleunigen, damit der Segen für seine Nachkommenschaft zu seinem Ziel komme.“ Der „Zusatz“, auf den Gregor dann die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer lenkt, besteht in Epitheta, die auf das empfindsame Vaterherz zielen: „Nimm mir […] deinen geliebten Sohn, den einzigen!“ Gregor veranschaulicht diese Wirkung durch aggressive, invasive Metaphern: „Du siehst den Stachel der Rede, wie er den Vater im Innersten sticht, wie er die Flamme der Natur anfacht, wie er die Liebe erweckt und ihn ‚geliebten‘ und ‚einzigen Sohn‘ nennt, um durch solche Benennungen die Liebe zu ihm zu entzünden.“ Gott ruft mit seinen Worten die natürliche Zärtlichkeit des spät Vater gewordenen Abraham wach. Wie dieser auf Gottes Ansprache reagiert haben könnte, imaginiert Gregor in einem aus zwei Fragen und zwei göttlichen Antworten bestehenden Minidialog. Abraham ist gespannt auf das, was Gott ihm noch eröffnen werde. „Weiter: ‚Und dann? Was soll ich mit ihm tun?‘ – ‚Opfere ihn mir!‘“ Wie Gregors Zuhörer aus der Vorgeschichte wissen, hat Abraham allen Grund, Gott für den spätgeborenen, wohlgeratenen Sohn dankbar zu sein. Daher kann er, nach Gregors Vorstellung, sich diesen zweiten Imperativ gar nicht anders deuten als in bonam partem. Gewiß will Gott von ihm eben das, was Hanna in 1Sam 2 Gott aus Dankbarkeit dafür, daß er ihr Gebet erhört und sie habe Mutter werden lassen, gelobt hat, nämlich daß er, Abraham, Isaak seinem Gott zum Priesterdienst weihe. Das, was Hanna beschließt, nämlich Samuel fortzuschicken und ihn im Haus des Herrn für immer seinem Dienst zu übergeben, ist, nach Gregors Ausmalung von Abrahams Gedanken, vermutlich auch das, was Gott von Abraham fordere: ein geistliches Opfer.Ⱥ28 „Befiehlst du, den zum Priester einzusetzen, den zu opfern du aufträgst?“ 28
In der modernen Exegese von Gen 22 schlägt André Wenin, mit Rücksicht auf die interne Chronologie der kanonischen AT-Texte, eine andere Richtung des Vergleichs vor. Hanna habe sich bei ihrem Gelöbnis Abraham zum Vorbild genommen. Samuels Eltern hätten mit diesem Opfer ebenfalls Hoffnungen für die Zukunft Israels verbunden. AћёџѼ Wђћіћ, „Les ‚sacrifices‘ d’Abraham et d’Anne. Regards croisés sur l’offrande du fils“, in: ETR 76 (2001), 51ř–527. Auf die religionsgeschichtliche Pro-
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Darauf macht Gott dem Vater jedoch unmißverständlich klar, was er von ihm fordert, ohne weitere Erklärungen hinzuzufügen: ein physisches Opfer. Die Übergabe, die Gott anordnet, solle total sein, er wolle ein Holocaustum, so daß vom Sohn nichts mehr übrig bleibt: „TX PDNDL L-HUHL RQGLDTXVLYDR-ORNDXWRXYPHQRQ“. „Nicht als Priester, sondern als Opfer und Weihegabe, die bei der Opferung völlig verbrannt wird. ‚Opfere ihn mir‘, spricht er, ‚als Ganzopfer [holocaustum] auf dem Berg, den ich dir zeigen werde!‘“ Dann läßt Gregor seine Zuhörer raten, wie wohl Abraham auf diese Zumutung reagiert haben könnte. Zu diesem Zweck sollten sie sich vorstellen, wie sie als Väter auf eine derartige Anordnung reagiert hätten. „Was empfindet ihr, wenn ihr diese Erzählung hört, die ihr alle Väter seid und von der Natur in der Liebe zu euren Kindern unterrichtet? Ihr wißt bestimmt, wie ein Vater die Kunde von der Opferung seines einzigen Kindes aufnimmt.“ Gregor appelliert an das Mitgefühl seiner Zuhörer und legt ihnen die Protestworte des menschlichen Abraham in den Mund. Er schildert in Form rhetorischer Fragen, wie gewöhnliche Väter mit Gottes Anweisung umgehen würden. Sie wären entsetzt, würden sich am liebsten abwenden und Gott erst einmal nach einem Grund für ein solches Opfer fragen. Ein gewöhnlicher Vater würde mit Gott rechten, indem er ihm seine Inkonsequenz vorwerfen würde, ihm einen Sohn geschenkt zu haben, damit er zum Stammvater seines Geschlechts werden könne, und dann vom Vater die Ermordung dieses Sohnes zu verlangen. Der imaginäre Vater würde Gott beschuldigen und ihm einen Fehler in seinem Plan vorwerfen. Gregor malt sich die Protestfragen Abrahams unter der Voraussetzung aus, daß er, eingedenk der promissio, von Gott eigentlich andere, zweckmäßigere Anordnungen erwartet hätte (PG 46, 567Ȧ568C– D und 569Ȧ570A; Rhein, 1řř,29–1ř4,19). Durch die Tötung wären jedoch weitere Vorkehrungen sinnlos, die sich auf die Realisierung der Verheißung richten würden, vor allem die Hochzeitsvorbereitungen. Die Hochzeitsfreuden werden in Gregors Phantasie mit der Trauer über den Tod, das Hochzeitsfeuer wird mit dem Scheiterhaufen kontrastiert.
blematik des Kinderopfers, für welches ja Hannas sublimiertes Opfer Samuels als Priester ein Ersatz zu sein scheint, geht Wenin allerdings nicht ein. Mit den biblischen Diskursen des Kinderopfers setzt sich, allerdings ohne das sublimierte Opfer Hannas in 1Sam 1 in Relation zu Gen 22 zu rücken, Otto Kaiser auseinander. Oѡѡќ KюіѠђџ, „Den Erstgeborenen deiner Söhne sollst du mir geben. Erwägungen zum Kinderopfer im Alten Testament“, in: Denkender Glaube. Festschrift für Carl Heinz Ratschow, hg. v. Oѡѡќ KюіѠђџ, BerlinȦNew ork 1976, 24–48. Den Hinweis auf Kaisers Abhandlung verdanke ich Theodor Mahlmann.
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Wer ist angesichts dieser Stimme nicht niedergeschlagen, wendet die Ohren ab, möchte angesichts dieses Befehls nicht lieber tot sein als das Wort mit dem Herzen aufnehmen? Würde er nicht mit ihm gerechtet und eben die Natur als Anwalt vorgeschickt und gesagt haben: ‚Warum befiehlst du das, o Herr? Hast du mich deswegen zum Vater gemacht, um mich zum Kindsmörder abzurichten? Hast du mich deshalb diese süße Gabe schmekken lassen, um aus mir der Welt eine Erzählung zu machen? Mit eigener Hand soll ich den Knaben schlachten und das mir verwandte Blut dir darbringen? Und du befiehlst dies und erfreust dich an solchen Opfern? Ich soll den Sohn töten, von dem ich begraben zu werden erwartete? Solch ein Brautgemach soll ich ihm errichten? Eine solche Hochzeitsfreude soll ich ihm bereiten? Und ich werde dazu kein Hochzeitslicht entzünden, sondern ein Begräbnisfeuer. Wird man mir denn dafür Kränze winden? Werde ich so ‚Vater‘ der ‚Völker‘ sein, dem noch nicht einmal ein Kind zugestanden wird?‘Ⱥ29
Nach dieser Vergegenwärtigung, wie ein normaler Mensch auf Gottes tentatio reagiert hätte, hat Gregor ausgiebig Gelegenheit, Abrahams übermenschliche Größe zu demonstrieren (PG 46, 569Ȧ570A–B; Rhein, 1ř5,1–9). Nichts dergleichen habe Abraham gedacht, vielmehr habe er „die leidenschaftlichen Vorstellungen der Natur“ verworfen und sich ganz Gott hingegeben. Nicht einmal Sara habe er von Gottes Auftrag benachrichtigt. Hätte doch Adam auch Eva kraftvoll Widerstand geleistet, anstatt ihrer unheilvollen Aufforderung Folge zu leisten! Damit leitet Gregor zur Gegenüberstellung der Glaubensstärke Abrahams mit Saras beschränktem Horizont über. Abraham tat gut daran, sein Vorhaben Sara zu verschweigen, hätte sie doch aus mütterlicher Liebe leicht Abrahams Gottesliebe erschüttern können (PG 46, 569Ȧ570B; Rhein, 1ř5,1–9). Gregor malt sich aus, was geschehen wäre, wenn Sara in Abrahams Vorhaben eingeweiht worden wäre. Sicher hätte sie ihn durch ihre Klagen weich gemacht (569–570B–C; Rhein, 1ř5,10–17). Ja, hätte sie nicht versucht, Isaak vor dem Zugriff des Vaters zu schützen und ihre Arme um ihn geschlungen, wenn sie bemerkt hätte, daß Abraham Anstalten machen würde, ihn zu töten? 29
PG 46, 567 und 570. Ich zitiere die Übersetzung von Laurentius Sifanus. „Quis non obstupuisset et attonitus fuisset ad hanc vocem? quis aures non avertisset? quis in iusso accipiendo potius emortuus non esset quam in cor admitteret orationem? an non meritò ac iure cum eo expostulasset, ipsam naturam pro se patronam opponens? ac dixisset, ‚Cur haec Domine iubes? iccircone patrem fecisti, vt filij percussorem redderes? idcircone me huius doni dulcedinem gustare fecisti, ut mundo fabulam me efficeres? Meis ipsius manibus filium trucidabo, et cognatum sanguinem tibi litabo? et tu haec jubes, et talibus victimis delectaris? Interficiam filium, a quo me sepultum iri speravi? Ejusmodine ei construam thalamum? […] Itane ero pater gentium, cui neque filii unius esse patrem concessum sit?‘” Zu Pontanus’ Versifizierung dieser hypothetischen Überlegung s. unten, Kapitel 6.
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Gregor wechselt nach dieser Veranschaulichung der wehrhaften Mutter die Perspektive und läßt diese selbst sprechen (PG 46, 569Ȧ570B– C; Rhein, 1ř5,17–1ř6,18). Massiv ist ihre Drohung, Abraham gäbe als Mörder ihres einzigen Sohnes ihr, der Mutter, Gelegenheit, der Welt über ihn nur Nachteiliges, Böses zu berichten. Für Isaak, diesen EinzigGeborenen, gebe es keinen Ersatz.Ⱥř0 Schone der Natur, mein Mann, und gib der Welt keine Gelegenheit, Böses von dir zu erzählen! Dieser ist mein Einzig-Geborener, einziger in Wehen zur Welt gebrachte Isaak, einziger in meinen Armen; dieser ist mein Erstund Letzt-Geborener.
In sechs anaphorische Fragen kleidet sie ihre Vision ein, wie trostlos und leer ihr Familienleben wäre, wenn der Sohn, dieses einzige Gottesgeschenk, die Freude ihres Alters, tot wäre. Sie würde sich lieber selbst als Opfer anbieten, wäre mit ihrer Tötung einverstanden, nur um nicht erfahren zu müssen, wie dieser einzig geliebte Sohn getötet worden sei: Wen werden wir nach ihm bei Tische sehen? Wer wird zu mir mit süßer Stimme sprechen? Wer mich ‚Mutter‘ nennen? Wer im Alter pflegen? Wer nach dem Tod einkleiden? Wer dem Leibe ein Grab geben? Du siehst die Blüte des Jünglings – sähest du diese bei einem Feind, hättest du dich fraglos des Liebreizes erbarmt. Dieser ist die Frucht langen Gebetes, dieser der Zweig vom Stamme, dieser der letzte des Geschlechts, dieser Stab und Stütze des Alters. Wenn du gegen diesen den Dolch zückst, dann tu mir Armer die Liebe: Richte den Dolch zuerst gegen mich und dann tu, was dir bei diesem richtig scheint. Ein Grabhügel sei beiden gemeinsam, gemeinsamer Staub bedecke die Leiber, ein gemeinsamer Grabstein berichte das Leiden. Möge Saras Auge weder Abraham als Kindsmörder noch Isaak als von väterlicher Hand hingeschlachtetes Kind sehen!
Das dreimalige „NRLQRYQ–NRLQKY–NRLQKY“ führt vor Augen, wie unzertrennlich die Mutter am Sohne hängt: Lieber wolle sie mit ihm zusammen begraben sein, als Zeugin eines so grausamen, trostlosen Mordes zu werden. Gregor macht seinen Zuhörern die Gefühle von Isaaks Mutter glaubhaft, um so mehr, da er die Vorgeschichte der tentatio mit der Vorstellung, wie überglücklich die Greisin über dieses Gottesgeschenk war, ausgemalt hat. Umso klüger habe Abraham gehandelt, als er seiner Gemahlin das, was Gott ihm zu tun aufgetragen hatte, verschwiegen habe. Nur dies allein erfahren wir vom Erzähler: wie er den Packesel vorbereitet, seine Diener instruiert und sie beizeiten vor dem geplanten Opfer zurückläßt, weil sie Verdacht schöpfen könnten (PG 46, 570D; Rhein,
ř0
Man beachte den aus einem Molossus und Creticus gebildeten Prosarhythmus der Klauseln am Periodenende: NDLSUZ W RNDLX ^VWDWR.
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1ř6,18–1ř7,ř). Die Worte Isaaks, der sich nach dem Opfertier erkundigt, deutet Gregor als zweite Versuchung, nicht weniger stark als die erste, göttliche. Gregor stellt sich vor, wie die schlichte Anrede, die „süße Rede ‚Vater!‘“ Abraham hätte wankend machen müssen. Stattdessen wird Abraham jedoch bei dieser Ansprache nicht von Tränen überwältigt, obwohl er sich doch vorstellen mag, daß Isaak in Kürze gar nichts mehr werde sagen können. Abraham bewahre seine Fassung, indem er bewußt zurückfrage: „Was ist, mein Kind?“ Im folgenden gilt Gregors Bewunderung der verständnisvollen Haltung Isaaks. Wieder füllt Gregor, an die Phantasie der Zuhörer appellierend, die Lücken der Erzählung mit phantasievollen Erwägungen, welche Fragen an den Vater für einen ungeduldigen, wißbegierigen, doch respektvollen Sohn während der dreitägigen Reise denn nahegelegen hätten (PG 46, 571Ȧ572A–B; Rhein, 1ř7,16–1ř8,2). Da nimm mir wahr das Verständige zugleich und Überlegte an dem Jüngling, wie er das anscheinend vom Vater Übersehene, ohne ihn zu verletzen, in Erinnerung ruft, indem er dem Vater weder Unverstand noch Vergessen vorwirft, sondern ihn erinnert, indem er freilich das Versehen in Erfahrung bringen will. Denn er sagt: ‚Siehe, hier ist das Holz, das Feuer, das Schwert; wo ist aber das Opfertier?‘
Abrahams Antwort kann nach Gregor auf unterschiedliche Weise interpretiert werden: Entweder wolle Abraham dem Sohn mit dem Hinweis auf Gottes providentia Mut machen und ihn für das kommende Opfer stärken oder er betätige sich als Seher, indem er auf Gottes weise providentia vertraue, dennoch für die Einlösung der promissio zu sorgen. Die Sachlichkeit der Erzählung, wie Abraham, an der Stätte des Opfers angekommen, die nötigen Vorbereitungen trifft, deutet Gregor als erneute Bestätigung der übermenschlichen Stärke Abrahams. Jeder andere wäre in seiner anfänglichen Bereitschaft zu gehorchen, wankend geworden, je näher der fatale Moment gerückt wäre (PG 46, 571Ȧ572B; Rhein, 1ř8,6–11). Dann habe der Vater Hand an den Sohn gelegt, und die Natur habe nicht dagegen rebelliert. Jedenfalls verrate der Erzähler nichts der Art, was sich jeder phantasiebegabte Zuhörer ausmalen würde. An die Zuhörer richtet Gregor die Frage, über die sich Ausleger gestritten hätten, wen von beiden man mehr bewundern solle, den Vater oder den Sohn. Je näher Gregor in seiner Paraphrase dem Wendepunkt kommt, umso mehr verlangsamt sich das Tempo seiner einfühlsamen, durch kontrafaktische Ausmalung angereicherten Schilderung. Anstatt sich kontinuierlich dem dramatischen Höhe- und Umschlagspunkt der actio zu nähern, wie Abraham zum Stich aushole und der Engel ihm Einhalt gebiete, schildert Gregor, zur Erhöhung der Spannung seiner Zuhörer,
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wie oft er selbst von bildlichen Darstellungen dieser nun folgenden Szene zu Tränen gerührt worden sei. Die climax der actio, wie sich Abrahams Gehorsam erweist und die himmlische Stimme die Ausführung des göttlichen Befehls verhindert, gibt Gregor als Beschreibung einer gemalten Szene wieder (570–571C–D): Oftmals habe ich auf einem Gemälde eine Darstellung dieser leidvollen Szene gesehen und konnte nicht ohne Tränen an dem Anblick vorbeigehen, so eindringlich führte mir die Kunst das Geschehen vor Augen. Isaak befindet sich vor dem Vater soeben auf dem Opferaltar, auf die Knie gegangen,Ⱥř1 die Hände auf dem Rücken verschränkt; er [Abraham] aber hat sich nach einem Kniefall auf beide Füße erhoben, zieht mit der linken Hand das Haar des Knaben zu sich heran, beugt sich hin zu seinem Gesicht, der erbarmungswürdig zu ihm aufblickt, streckt die mit dem Dolch bewaffnete Hand zur Schlachtung aus, und schon berührt die Spitze des Dolches den Leib: da ergeht an ihn von Gott her die Stimme, die das Werk aufhält.
Indem Gregor die Wirkung der bildlichen Darstellung schildert, steuert er die Rezeption seiner Zuhörer in die von ihm gewünschte Richtung. Aber mit dieser Bildbeschreibung endet auch Gregors Paraphrase der Erzählung. Die kontrafaktischen Dialoge und direkten Reden Abrahams und Saras dienten nur dazu, per X-SRWXYSZVLQ und e contrario die übermenschliche Größe Abrahams ins rechte Licht zu setzen. Nachdem die Stimme Abraham daran gehindert habe, das Opfer zu vollziehen, habe es weder für den glücklichen Vater noch für den vom gewissen Tode befreiten Sohn mehr Gelegenheit gegeben, Eigenschaften zu zeigen, die Menschenmaß übersteigen. Stattdessen lenkt Gregor die Erzählung wieder auf das Thema seiner Rede über die Göttlichkeit des Sohnes und des Heiligen Geistes zurück. Dabei beobachtet er sich selbst als orator und sein Redetempo, das einer dramatischen actio angemessen sei, die auf ihren glücklichen Wendepunkt zueile. Die Erzählung von Abrahams Opfer wird in ihrer ursprünglichen Intention als Exkurs und Exemplum charakterisiert. Gregors Rede aber habe sich, dem spannenden Inhalt gemäß, verselbständigt und sei wie ein schwer bezähmbares Fohlen, mit übermütigen Seitensprüngen und Eskapaden eigene Wege gegangen. Gregor beobachtet an sich selbst, wie sich die Wirkmacht der Rhetorik gerade an einem biblischen Text entzündet habe, der aufgrund der erzählerischen Lücken das Verständnis auf eine harte Probe stelle. So, wie die graphische Inszenierung des Moments, in dem Abraham zum tödlichen Stoß ř1
Das ist unbiblisch. Vgl. Gen 22,9: „Abraham […] legte ihn auf den Altar oben auf das Holz […].“ Zur knienden Haltung, die untypisch für ein jüdisches Opfer ist, und zum Schlächterwerkzeug vgl. Sѡђієђџ, Zu Gott gegen Gott, 218, Anm. 1ř1 und 1ř4 und die Abbildungen 1–ř.
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ausholt, Gregor gewöhnlich zu Tränen gerührt habe, hätte ihn der Strom seiner Phantasie, mit der er den biblischen Text so ausschmücke, daß den Zuhörern die Übermenschlichkeit Abrahams deutlich werden müsse, beinahe von seinem ursprünglichen Ziel fortgerissen. Aber Gregor hält den Zug der Rhetorik, die sich ganz den Erfordernissen des aptum anschmiegt, mit einem Mal an. Mit der Stimme aber verhielt es sich folgendermaßen. Denn wir haben die Rede angestrengt auf den rechten Weg zurückgebracht, wie ein ungehorsames und schwer zu zügelndes Fohlen, das vom rechten Weg abweicht, viel herumtanzt und nach beiden Seiten umherspringt. Denn das hatten wir uns vorgenommen zu zeigen: daß der Apostel mit dem Wort [Hebr 6,1ř] bezeugt, daß der Vater nicht größer ist als der Sohn. Denn dort stellt die Schrift den Engel dem Wort Gottes voran und fügt die Stimme hinzu. Denn der Engel des Herrn rief ihn an und sprach: ‚Weil du solches getan hast und hast deines ‚geliebten [Gen 22,1 (Mt ř,17; 17,5)] Sohnes nicht verschont‘ [Gen 22,16 (Röm 8,ř2)], habe ich bei mir geschworen [Hebr 6,14], alles zu tun, was der Verheißung des Wortes [Hebr 6,1ř] zu entnehmen ist.
Von der Lebhaftigkeit seiner Diktion, den Perspektiven- und Sprecherwechseln und den Fragen, profitiert indes noch die folgende Didaxe, warum der Sohn unmöglich kleiner sein könne als der Vater. Dies gibt Gregor seinen Zuhörern in einer Reihe von Fragen zu raten auf. Er selbst gibt mit einer Reihe von Zitaten aus dem Neuen Testament die kunstvolle Antwort: Wer nun ist es, der Abraham ansprach? Nicht der Vater? Aber du würdest nicht sagen, daß jemandes Engel der Vater ist. Also der eingeborene Gott [Joh 1,18], von dem der Prophet spricht: ‚Er wird genannt werden „Engel des großen Rats“ [Jes 9,5].‘ Dies aber ist Paulus keineswegs unbekannt, der im Paradies in das Unaussprechliche eingeweiht wurde [2Kor 12,5]: daß von ‚dem Eingeborenen‘ [Joh 1,18] diese Verheißung eidlich bekräftigt wurde. Paulus aber sagt: Als ‚Gott‘ [, das heißt] ‚das Wort‘ [Joh 1,1] ‚dem Abraham die Verheißung gab, schwor er bei sich selbst‘. Wie also sagen diese [Häretiker], größer als der Sohn sei der Vater, während Paulus sagt, daß ‚er nichts Größeres hatte [, bei dem er schwören konnte]‘.
Im kurzen Schlußteil erörtert Gregor die Frage nach der Göttlichkeit des Heiligen Geistes und wie von ihm in der Bibel die Rede ist. Zuletzt appelliert er an seine Zuhörer, mit Hilfe Christi und vermöge der Gabe des Heiligen Geistes zu Forschern nach der göttlichen Wahrheit und so der deitas teilhaftig zu werden (PG 46, 575Ȧ576C; Rhein, 142,1–144,1ř).
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ř. Der Sinn für Theatralik. Die Exegese Zwinglis, Calvins, Luthers und des Cornelius a Lapide Ähnlich wie Gregor von Nyssa, vielleicht sogar von ihm und anderen KirchenväternȺř2 inspiriert, heben die Exegeten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts die theatralische Qualität des Berichts über Gottes Versuchung Abrahams und der beispiellosen Selbstüberwindung des Vaters hervor. Huldrych Zwingli versteht die Erzählung in Gen 22 als exemplum, das uns die Motive veranschaulicht, weswegen Gottes Sohn sich für uns geopfert habe. Dies ist uns zum Beispiel geschehen, damit es uns keineswegs unglaubwürdig erschiene, daß Gott seinen Sohn für uns hingab, da wir sehen konnten, daß Gott dies [auch] von Abraham verlangt hat. Isaak ist nämlich Typus Christi.Ⱥřř
Zwingli rekonstruiert diesen Schluß als argumentum a minori ad maius: Wenn Abraham aus Liebe zu Gott dazu bereit war, seinen Sohn seinem Befehl entsprechend zu opfern, um wieviel größer ist dann Gottes Liebe zu den Menschen, da er seinen Sohn zum Opfer für die Sünden der Menschen hingegeben hat. In seiner Exegese von Gen 22,1–19 lenkt Zwingli die Aufmerksamkeit auf einige theatralische Momente der Gestaltung. Gottes Anrede an Abraham könne ein Erzähler nur in Analogie zu einer menschlichen Gesprächssituation beschreiben. Gottes Appell als tentatio zu bezeichnen, unterstellt ihm, wie ein menschlicher Versucher eine Prüfung intendiert zu haben, deren Ausgang ein Mensch freilich noch nicht habe voraussehen können. Diese Redeweise sei bei Gott jedoch inadäquat, da Gott jemanden nicht derartig versucht, um das herauszubekommen, was er vorher noch nicht wußte; vielmehr stellt Gott unseren Glauben auf die Probe, um uns zu ř2
řř
Eine Synopse der patristischen Kommentare bringt CќџћђљіѢѠ ю Lюѝіёђ in seinem Kommentar zur Genesis. Ambrosius’ Auslegung von Gen 22, Augustinus’ Sermones, Chrysostomus’ Homilien (bes. Nr. 47 und 49) sind die am häufigsten genannten patristischen Quellen. HѢљёџіѐѢѠ ZѢіћєљіѢѠ, Farrago annotationum in genesin ex ore Huldrici Zuinglii per Leonem Iudae et Casparem Megandrum excerptarum (Zürich 1527), in: HѢљёџіѐі ZѢіћєљі Opera completa editio prima, hg. v. Mђљѐѕіќџ SѐѕѢљђџȦJќѕюћћђѠ SѐѕѢљѡѕђѠѠ, Bd. 5, Zürich 18ř5, cap. XXII, 98–106, hier 99 [im folgenden zitiert als Farrago]. Ich übernehme Orthographie und Zeichensetzung der Erstausgabe (Zürich: Froschauer 1527), die mir in einem Exemplar der Johannes a Lasco-Bibliothek (Emden) zugänglich war, das auch elektronisch aufrufbar ist. Hier steht die zusammenfassende Deutung auf S. 2ř8: „Nobis ergo haec facta sunt in exemplum, ut incredibile nobis haudquaquam esset, quod Deus daret filium suum [Joh ř,16] pro nobis [Röm 8,2ř], quum uideremus hoc Deum ab Abrahamo exegisse. Isaac enim typus Christi est.“ Die typologische Deutung wird später in Zwinglis Kommentar zu Gen 22,6 vertieft (1527, S. 247; 18ř5, S. 102).
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bilden: [uns] Abrahams Glauben zu veranschaulichen und ihn offenbar zu machen und uns Beispiele dieser Art zur Nachahmung zu empfehlen.Ⱥř4
Aus der Versuchung Abrahams sollen wir nach Zwingli lernen, uns durch keine Versuchungen von Gott losreißen zu lassen, eingedenk seiner großen Liebe, die sich in der Menschwerdung und Erlösungstat seines Sohnes manifestiere. Aus der tentatio Abrahams sei zu lernen, wie Gott unsere Glaubensstärke auf die Probe stellt. Auch wir sollten uns völlig seiner Gnade anvertrauen, auch wenn wir während der Prüfung den Eindruck haben, als weise uns Gott ab. Die Worte, in denen Gott Abraham den Befehl erteilt, sind nach Zwingli so gewählt, daß sie den greisen Vater hart treffen mußten. Denn er sei deswegen von besonders zärtlichen Gefühlen für Isaak, „qui a laeticia nomen habet [Gen 21,6]“, erfüllt, weil Gott ihm so spät einen Sohn geschenkt habe, durch den er, wie Abraham glaubt, seine promissio erfüllen werde.Ⱥř5 Zwingli regt seine Leser dazu an, sich emotional in die Rolle des zärtlich liebenden Vaters zu versetzen: „Schau, wie die einzelnen Worte den Vater erregen und ihm größten Schmerz zufügen!“Ⱥř6 Kein Affekt dürfe aber so heftig sein, daß er nicht zu überwinden wäre, wenn Gott dies wünschen würde. Auch die Liebe der Eltern zu ihren Kindern müßte Gott zuliebe hintangestellt werden.Ⱥř7 Zwingli ruft seine Leser dazu auf, sich vorzustellen, welche Qualen der göttliche Befehl bei einem gewöhnlichen Vater hätte auslösen müssen: Wie erschaudert und zittert das Herz des gottesfürchtigsten Vaters, während er einen so harten Befehl hört: ‚Schlachte deinen Sohn, den du einzig liebst, Isaak, den du als Greis von deiner Gemahlin, gemäß der Verheißung Gottes, empfangen hast!‘ Die väterlichen Gefühle werden jedoch gleich darauf durch die häufigen, wiederholten, überaus zärtlichen Anrufungen erregt.Ⱥř8 ř4
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Ebd. „Non ergo sic tentat, ut exploret ea, quae prius nescierit: sed fidem nostram tentat Deus, ut nos erudiat: ut Abrahae fidem illustrem ac manifestam faciat nobisque huiusmodi exempla ad imitandum proponat“ (Farrago, 18ř5, 99). Farrago, 1527 (Anm. řř), 240: „Erat autem Isaac unicus filius, scilicet promißionis, atque ob id patri multo charissimus: quod uel in senecta sibi ex coniuge natus, uel quod in eo spes posteritatis & benedictionis promissa esset. Illum ipsum Isaac accipe, qui a laeticia nomen habet, erga quem magno amore & gaudio adficeris.“ Farrago, 18ř5, 99. Diesen Aspekt der tentatio hebt auch Gregor hervor. Auch im folgenden (Anm. ř6–ř8) ist noch die aemulatio mit Gregors Oratio offensichtlich. Farrago, 1527 (Anm. řř), 240: „Vide quàm singula uerba adfectus mouent patri, doloremque summum incutiunt.“ Vgl. Farrago, 18ř5, 99. Farrago, 1527 (Anm. řř), 240f.; Farrago, 18ř5, 100. Farrago, 1527 (Anm. řř), 245f. „Ut horret, ut tremit cor pientissimi patris, dum tam durum audit imperium: iugula filium illum tuum unice dilectum Isaac, quem ex uxore, ex promissione Dei, in senectute tua suscepisti? Suscitantur autem subinde paterni adfectus crebris & repetitis appellationibus, ijsque dulcissimis.“ Vgl. Farra-
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Die Bereitschaft Abrahams (v. ř), unverzüglich den Befehl Gottes auszuführen und sich auf die Reise zu begeben, hält Zwingli für erklärungsbedürftig. Einem Leser könnten Zweifel kommen, ob denn Abraham als „pius vir“ tatsächlich einem so unmenschlichen, grausamen Befehl habe Glauben schenken und gehorchen könne. Die Stimme könne doch gar nicht von Gott sein, da der Befehl doch die Verheißung reicher Nachkommenschaft zunichte mache. Zwingli schreibt den Verdacht, daß Gott seiner früheren Verheißung zuwiderhandeln und sich widersprechen könnte, der „humana ratio“ zu. Ihr könnte es so scheinen, als wäre die Stimme in Gen 22,2 die „vox seductoris diaboli“, also eines Betrügers („impostor“).Ⱥř9 Wer hier argwöhne, die Stimme könnte von einem Betrüger stammen, argumentiere so wie einige zeitgenössische Christen, die das, was sie nicht begreifen könnten, schlicht bezweifelten.Ⱥ40 Die Größe Abrahams zeige sich eben darin, daß er sicher gewesen sei, die Stimme, die ihm diesen Befehl gab, sei identisch mit derjenigen, die ihm reiche Nachkommenschaft versprochen habe, obwohl die Vernunft doch die Annahme nahelegen würde, daß jene Stimme, welche das Opfer des Sohnes forderte, „uox Seductoris diaboli“ sei.Ⱥ41 Dagegen sei Abraham prompt zum Aufbruch bereit gewesen. Zwingli schmückt den biblischen Text mit der Vorstellung aus, wie Abraham sein Schwert gürtete, das er benötigen würde, um den Sohn zu töten, und bei den Reisevorbereitungen wahrscheinlich einen ebenso großen Schmerz empfunden habe, als ob er sich das Schwert ins eigene Herz stoßen würde.Ⱥ42 Zwingli glaubt, daß die biblische Erzählung, je näher sie dem Höhepunkt kommt, zu einer Lektüre anrege, die affektiv das Leiden Abrahams nachvollziehe: Die biblischen Geschichten müssen so gelesen werden, daß wir auch die Leidenschaften derer empfinden, mit denen Gott zusammenwirkte; aber auf eine solche Weise, daß sie [die biblischen Geschichten] ebenfalls unseren Glauben anregen sollen. Es ist nämlich nützlich, die Versuchungen
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41 42
go, 18ř5, 102. Als „dulcissimae“ werden die Charakterisierungen Isaaks in Gen 22,2 als geliebter, einziggeborener Sohn bezeichnet. Mit „subinde“ weist Zwingli auf den Dialog in Gen 22,7 voraus. Farrago, 1527 (Anm. řř), 242; Farrago, 18ř5, 100. Farrago, 1527 (Anm. řř), 241. „Dicis: Quomodo tam inhumanae & crudelissimae iussioni credere, aut obtemperare pius uir potuit? nondum mentem eius subire debuit haec cogitatio; Ecce uox haec Dei esse non potest, quae te filium proprium occidere iubet, in quo tibi tanta posteritas a Deo promissa est? Ad hunc modum etiam hodie quidam inter Christianos dicunt: Quis me certum reddet an haec uox, hoc uerbum, Dei sit an impostoris ?“ Farrago, 18ř5, 100. Farrago, 1527 (Anm. řř), 242; Farrago, 18ř5, 100. Farrago, 1527 (Anm. řř), 242: „gladium educit: paulò minore haud dubie dolore, quàm si per suum ipsius cor traheret“. Farrago, 18ř5, 100.
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zu kennen und das, was die Leidenschaften vermögen und wie groß ihre Macht sei, aber nicht nur deswegen, damit man dies intellektuell weiß, sondern damit man davon affiziert werde und zum Mitleid mit den anderen bewogen werde.Ⱥ4ř
Besonders die Erzählung bis zum Vollzug des Opfers und Eingreifen des Engels (v. 6–9) regt nach Zwingli die Phantasie des Lesers an, sich vorzustellen, wie der Vater auf der dreitägigen Reise in Anwesenheit des nichts ahnenden Sohnes gelitten habe. Wir sollen uns ausmalen, was in Abraham während der drei Tage vorgegangen sei, wie sein Schmerz durch die täglichen Gespräche und die häufigen Blickkontakte ständig zugenommen habe und die einander widerstreitenden Gedanken sein Innerstes hätten zerreißen müssen.Ⱥ44 Dieser durch die tentatio geprüfte Vater erweckt nach Zwingli menschliches Mitgefühl und lädt so zur Nachahmung ein. Die tentatio müsse gefühlt werden, damit wir Mitleid mit Abraham bekämen. Auch Gott habe die Qualen seines Sohnes für uns nachfühlbar gemacht, indem er ihn als Menschensohn habe leiden lassen, der seinen Brüdern gleich sei (nach Hebr 2,17), mit dem wir uns solidarisch im Leiden fühlen und auf dessen barmherziges Mitgefühl mit menschlichen Schwächen wir nach Hebr 4,15 hoffen dürften.Ⱥ45 Vor allem die schlichte, kurze Anfrage Isaaks „Pater mi“ (v. 7) müsse Abraham furchtbar gepeinigt haben, während er alles für das Opfer vorbereitete, dies aber dem Sohn verheimlichte. Das Beispiel von Abrahams Gehorsam, trotz der vorstellbaren Anfechtungen durch das dreitägige Beisammensein mit Isaak, solle uns lehren, alle Widerwärtigkeiten im Vertrauen auf Gott zu ertragen. „Wenn du deine Frau oder deine Kinder mehr liebst als Christus, bist du für Christus nicht geeignet.“Ⱥ46 In den Worten „Extenditque manum, & arripuit gladium ad mactandum filium suum“ (Gen 22,10) komme zum Ausdruck, wie sehr Abraham seine Gefühle bezwungen habe, indem er seinen Händen befahl, wider sein Gefühl das auszuführen, was sie nicht wollten. 4ř
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Farrago, 1527 (Anm. řř), 244 (zu Gen 22,4): „Sic enim legendae sunt sacrarum scripturarum historiae, ut etiam sentiamus adfectus eorum, quibus cooperatus Deus: sed ita, ut in nobis quoque fidem excitent. Prodest quidem nosse tentationes & adfectus quid possint, quantáque sit eorum uis: sed non solum ut scias, sed ut afficiaris, caeterisque miseraris.“ Farrago, 18ř5, 101. Farrago, 1527 (Anm. řř), 246: „sed cum filio trium dierum itinere cogitur pergere pater, ut ex quotidiana & crebra allocutione, ex aspectu frequenti, dolor animi subinde augescat: ac uiscera paterna, collidentibus cogitationibus, crudelius discerpantur.“ Farrago, 18ř5, 102. Farrago, 1527 (Anm. řř), 244 und Farrago, 18ř5, 101; hier auch die Anspielungen auf die beiden Stellen aus dem Hebräerbrief. Farrago, 1527 (Anm. řř), 247: „Si uxorem, si liberos plus ames [Mt 10,ř7; Lk 14,26] quàm Christum, Christo commodus non es.“ Vgl. Farrago, 18ř5, 102.
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Zwingli stellt sich vor, wie unter diesen Umständen Abrahams Hände ihren Dienst hätten versagen und er selbst hätte ohnmächtig werden müssen. Wenn Isaak aber ohnmächtig geworden wäre, hätte der Vater geschwind zuschlagen müssen, um das Opfer zu vollziehen.Ⱥ47 Die Anrede des Engels, durch die Abraham an der Ausführung des Befehls gehindert wurde, interpretiert Zwingli tragödientheoretisch als Eingriff eines THRYDMSRPKFDQK : so komme Gott, der den glücklichen Ausgang im voraus wisse, denen, die an ihn glauben, zu Hilfe.Ⱥ48 Der Engel habe an Gottes Statt gesprochen, dem wiederum menschliche Eigenschaften unterstellt würden, indem ihm die Einsicht zugeschrieben werde, die der Allwissende freilich schon immer hatte und haben mußte: Abraham habe handelnd zu erkennen gegeben, daß er Gott mehr liebe als seinen Sohn, was Gott durch die Bekräftigung und Erneuerung seiner promissio honoriert habe. In der Anrede vermittels des Engels habe sich Gott wiederum der menschlichen Kommunikationsweise angepaßt, indem er Abraham, der ihm ohnehin seinen Glauben bewiesen habe, mit einem Eid die Einlösung der Verheißung versicherte. Rührend sei auch die Erkenntnis, daß Gott Abrahams Willen, seinen Sohn zu töten, schon für die vollzogene Tat selbst nahm.Ⱥ49 Wenn der Leser den biblischen Text auf die von Zwingli vorgeführte Weise, mit allen Sinnen, also auch mit seiner Vorstellungskraft, affektiv nachvollziehe, sei er in der Lage zu ermessen, welche Glaubenskraft einem Menschen, der auf Gott vertraue, zuwachsen könne. Daraus sei die Handlungsmaxime abzuleiten, stets darauf zu bauen, daß Gott in der ärgsten Anfechtung schon für den glücklichen Ausgang sorgen werde, auch wenn kein Mensch in der Lage wäre, sich die Mittel dazu auszumalen. In Luthers Exegese der Abraham-Vita ist die göttliche tentatio dramaturgischer Höhepunkt einer Reihe von Zumutungen, die eine Erfüllung der göttlichen promissio immer unglaubwürdiger erscheinen ließen.Ⱥ50 Durch diese Versuchung, welche die göttliche Verheißung vernünftigem Nachdenken fragwürdig erscheinen läßt, erweist sich Gott 47
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Farrago, 1527 (Anm. řř), 249; Farrago, 18ř5, 10ř. Vielleicht amplifiziert Zwingli hier die Feststellung Gregors: „RX MNDMQWLEDLYQHLWZs¸JLQZPHYQZsK-IX YVL“ (PG 46, 571B). Übersetzung: „Die Natur widerstrebte dem Geschehen nicht“. Farrago, 1527 (Anm. řř), 249; Farrago, 18ř5, 10ř. Farrago, 1527 (Anm. řř), 25ř (zu Gen 22,16): „Hic uidemus uoluntatem & adfectum pro opere à Deo reputari.“ Farrago, 18ř5, 105. Mюџѡіћ LѢѡѕђџ, Genesispredigten, gehalten von 152ř bis 1524 (sie sind in Nachschriften Georg Rörers und Stephan Roths 1527 im Druck erschienen), in: WA 24, zu Gen 22 die Seiten 478–505, hier ř79f. Ich beziehe mich dankbar auf Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџs Analyse von Luthers Exegese in diesem Sammelband (Zu Gott gegen Gott, bes. 188–20ř).
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als unberechenbar. Steiger sieht den Skopus der biblischen Erzählung in der Demonstration von Abrahams beispielhaftem Glauben. Mittel zu diesem Zweck sei der lakonische Bericht des Mose, wie sich Abraham für die Opferreise rüstete und nach drei Tagen an der bezeichneten Stelle ankam. Aus Moses Worten schließt Luther, daß Abraham den göttlichen Auftrag drei Tage lang geheim gehalten, den Sohn also nicht auf den bevorstehenden Opfertod vorbereitet habe, vermutlich um dem Sohn langes Leiden durch die ängstliche Vergegenwärtigung des Zukünftigen zu ersparen.Ⱥ51 Was Mose verschweigt, malt sich Luther aus: Währenddessen sei Abraham bestimmt siebenmal gestorben, in Gedanken an die bevorstehende Opferung.Ⱥ52 Mit der Frage Isaaks (Gen 22,7f.) erreichen die Anfechtungen Abrahams ihren affektiven Höhepunkt:Ⱥ5ř Ungeheuer aber ist hier der Aufruhr, heftig die Leidenschaft, die Mose nicht übergehen wollte. Isaak redet als Opfer den Vater an und rührt in ihm die natürliche Vaterliebe auf, als wenn er sagte: ‚Du bist mein Vater‘, und umgekehrt der Vater: ‚Du bist mein Sohn‘.Ⱥ54
Die letzten Schritte bis zur Vollstreckung des Opfers (v. 9), also die Errichtung des Altars, die Aufschichtung des Holzes und die Fesselung Isaaks, bezeichnet Luther als Epitasis, die zum dramatischen Höhepunkt in v. 10 überleite.Ⱥ55 Die Zäsur zwischen dem Emporrecken des Arms und dem Eingreifen des Engels wird von Luther tragödientheoretisch als dramaturgischer Wendepunkt markiert. Epitasis heißt in der Dramentheorie Donats die Phase in der Handlungskurve eines Dramas, welche der Katastrophe vorausgeht.Ⱥ56 Hier versetze der Erzähler die Leser in die höchste Spannung. Sobald Mose zu diesem dramatischen Höhepunkt gelange, verstumme er, weil die Sache größer ist, als daß sie mit Hilfe der Beredsamkeit vorgetragen werden könnte, oder weil er [Mose] vor Tränen nicht mehr schreiben konnte. So aber läßt er Erstaunen und Bewunderung in den Gemütern der Zuhörer zurück und will, daß diese selbständig die Geschichte erwägen, die er mit Worten nicht darstellen kann.Ⱥ57
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Mюџѡіћ LѢѡѕђџ, In Genesin enarrationum reverendi Patris, Domini Doctoris LѢѡѕђџі, bona fide et diligenter collatarum per VіѡѢњ TѕђќёќџѢњ, Tomus II continens historiam S. Patriarchae Abrahae (1550), hier der Titel des Drucks Nürnberg 1556, in: WA 4ř,200–270, hier 215. Ebd., 218. Sѡђієђџ, Zu Gott gegen Gott (Anm. 12), 194. LѢѡѕђџ, WA 4ř,215. Die Anlehnung an Gregor (PG 46, 570D–571A) kann kaum bezweifelt werden. LѢѡѕђџ, WA 4ř,216. Oљіѣіђџ Mіљљђѡ, „Exegèse évangélique et culture littéraire humaniste: entre Luther et Bèze, L’Abraham sacrifiant selon Calvin“, in: ETR 69 (199řȦ4), ř67–ř80, hier ř7ř. WA 4ř,216. Die „Tränen“ erinnern wieder an Gregor.
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Was Mose nicht habe ausmalen können, ergänzt Luther, indem er das christliche Wissen von Christi Erlösungstod den Gläubigen zum Trost aufruft. Zwar habe Abraham den Widerspruch (contradictio) zwischen der Verheißung, daß Isaak der angekündigte fruchtbare Same sei, und der Tatsache, daß ein toter Isaak unmöglich mehr Stammvater des Gottesvolkes sei, nicht mit der Vernunft auflösen können – wir aber können dies mit Hilfe des Evangeliums von Christi Erlösungstod, und Abraham sei hier sein Glaube an das, was er noch gar nicht habe wissen können, zu Hilfe gekommen. Abraham sei sich sogar dessen mehr als sicher gewesen: „Redigo filium in cinerem, tamen non moritur.“Ⱥ58 In Anbetracht der „stupenda res“, daß der Vater das Messer zücke, um seinen einziggeliebten Sohn zu schlachten, hätte Luther, wie er sagt, weder Zuschauer, noch Mitspieler und Schlächter sein mögen, weil die Gedanken und Gefühle des Vaters in jenem Augenblick unerträglich gewesen sein müssen. Zu einer Erklärung dieser res stupenda sei allein Paulus in der Lage (2Kor 6,9).Ⱥ59 Gott habe mit der Geschichte von Abrahams tentatio ein „spectaculum“ präsentieren wollen, das uns vor Augen führe, wie bei Gott Tod und Versuchung nur ein Spiel seien, um wie ein Vater die Kräfte seines Sohnes im Hinblick auf spätere Fälle zu erproben und uns den rechten Glauben zu lehren, „mortem esse vitam“.Ⱥ60 Abraham agiere auf einer imaginären Weltbühne, auf welcher Gott und die Engel von ihren himmlischen Plätzen als spectatores zuschauten und nach Belieben in das Spiel eingreifen können: „Deus ipse in coelo et omnes angeli fuerunt spectatores.“Ⱥ61 Luthers Auslegung von Gen 22 zeigt Gespür für die dramaturgische Potenz des Stoffs. Seine Paraphrase lädt dazu ein, sich die Erzählung von Abrahams Opfer als Schauspiel vorzustellen. Olivier Millet vermutet, daß Calvin die Anregung, das in Gen 22 lakonisch berichtete Geschehen mit Hilfe tragödientheoretischer Fachtermini und Theatermetaphern wiederzugeben, von Luthers soeben referierter Auslegung erhalten habe.Ⱥ62 Hubert Borst hält es für wahrscheinlich, daß Calvin durch Bezas Tragödie Abraham sacrifiant für die Theatralik der mosaischen Erzählung sensibilisiert worden sei.Ⱥ6ř Calvins Commentarius in Genesim wurde 1554 publiziert,Ⱥ64 also vier Jahre, nachdem der zweite 58 59 60 61 62 6ř 64
WA 4ř,219; vgl. Sѡђієђџ, Zu Gott gegen Gott (Anm. 12), 200f. WA 4ř,217.219. WA 4ř,219f. WA 4ř,22ř. Mіљљђѡ, Exégèse (Anm. 56), ř7ř. HѢяђџѡ BќѠѡ, „La mise en scène Genèvoise d’Abraham sacrifiant“, in: ETR 76 (2001), 54ř–561, hier 544ff. JќюћћђѠ CюљѣіћѢѠ, Commentaria in Pentateuchum, „Primus Mosis liber Genesis vulgo dictus“, in: Opera omnia, tom. 2ř (CR 51), ř09–ř20. Calvins Kommentar zur Genesis
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Band von Luthers Genesisauslegung zu den Kapiteln 17–24 erschienen war.Ⱥ65 Denkbar ist auch, daß Calvin die Farrago von Huldrych Zwinglis Genesis-Annotationen von 1527 kannte. Calvin charakterisiert, ähnlich wie Luther, die tentatio von Abrahams Gehorsam als letzten Akt einer Reihe von Versuchungssituationen, indem Abraham eine im Vergleich mit früher viel schwerere Prüfung habe bestehen müssen („severius quam antea probatum fuisse Abrahae fidem“).Ⱥ66 Die Betonung der risikoreichen lebenslangen Exilsituation („Instabilem vitam per continua exsilia egerat usque ad annum octogesimum“) verdankt sich vielleicht der Inszenierung dieser Fluchtsituation in Theodor Bezas 1550 aufgeführter Tragödie.Ⱥ67 Wesen und Zielrichtung der göttlichen tentatio werden von Luther schon im Kommentar zu v. 1 herausgearbeitet. Calvin grenzt aber, anders als Luther, diese besondere Prüfung des Glaubens und Gehorsams Abrahams durch Jahwe von der List Satans ab, der auf die cupiditates und das schwache Fleisch ziele.Ⱥ68 Zu dieser Opposition könnte ihn Zwingli angeregt haben, der sich ähnliche Gedanken über die gewöhnliche Bedeutung von tentatio macht und die Machenschaften eines Betrügers wie Satan von der auf Erweis des Glaubens zielenden göttlichen Prüfung unterscheidet. In seiner Analyse der Anrede Gottes (v. 2) und des Dialogs zwischen Abraham und Isaak (v. 7f.) weist Calvin auf die ungeheuren Seelenqualen Abrahams hin und malt sie ähnlich aus wie Zwingli. Der göttliche Befehl habe ihn erschüttert, weil er die Aussicht auf Erfüllung der Verheißung zunichte zu machen drohte.Ⱥ69 Mit Isaaks Frage an den Vater habe Gott die Versuchungssituation noch einmal zugespitzt, ohne daß Abraham in seinem Entschluß wankend geworden wäre. In seiner Antwort
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erschien erstmals unter dem Titel In primum Mosis librum, qui Genesis vulgo dicitur, commentarius Johannis Calvini und gleichzeitig in französisch Commentaire sur le premier livre de Moyse, dit Genèse in Genf 1554. Der vollständige Genesiskommentar Mosis libri quinque cum commentariis. Genesis seorsum, reliqui quatuor in formam harmoniae digesti erschien erstmals 156ř in Genf. Vgl. Bibliographia Calviniana. Les oeuvres de Jean Calvin publiées au XVIe siècle, hg. v. Rќёќљѝѕђ PђѡђџȦJђюћ-FџюћѷќіѠ Gіљњќћѡ, Bd. 1, Genf 1991, Nr. 54Ȧ8 und 54Ȧ2; Bd. 2, Genf 1994, Nr. 6řȦ16, 101ř–1016. WA 42, editorische Vorrede; zu Gen 22: WA 4ř,200–270; Mіљљђѡ, Exegèse (Anm. 56), ř68. Cюљѣіћ, Commentarius (Anm. 64), ř11; dazu Mіљљђѡ, Exegèse (Anm. 56), ř7ř. Cюљѣіћ, Commentarius (Anm. 64), ř11; Tѕђќёќџ Bђѧюs Tragédie Abraham sacrifiant wird hier nach der historisch-kritischen Ausgabe zitiert: Tѕђќёќџ ёђ Bѽѧђ, Abraham sacrifiant. Edition critique avec Introduction et Notes, hg. v. Kђіѡѕ CюњђџќћȦ Kюѡѕљђђћ M. HюљљȦFџюћѐіѠ Hієњюћ, Genf 1967, v. 49–78. Dazu unten, Kapitel 5. Mіљљђѡ, Exegèse (Anm. 56), ř70f.; Cюљѣіћ, Commentarius (Anm. 64), ř11f. und ř14. Ebd., ř1ř zu Gen 22,2 „Tolle nunc filium tuum“: „Duriter quidem ejus animum quassari et violenter percelli oportuit, quum intus confligerent Dei mandatum et promissio.“
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stelle Abraham die Sorge für ein Opfertier ganz der göttlichen Vorsehung anheim: „Deus providebit“.Ⱥ70 Je mehr sich Calvin dem Wendepunkt nähert, umso nachdrücklicher äußert er sich zu Moses schlichtem Stil und der Theatralik, ja Melodramatik der Opferszene. Die erzählerische simplicitas stehe in einem umgekehrten Verhältnis zum emotionalen Streß Abrahams, der die Phantasie mächtig anrege und Mitleid errege. Calvins Kommentar hebt die besondere ‚Ästhetik des Pathos‘ hervor, die durch Moses lakonische Erzählung erreicht werde. Der Kommentator rühmt die „wunderbare […] Einfachheit der Erzählung [wie Abraham und Isaak den zum Opfer bestimmten Ort erreichten], die aber größere Heftigkeit in sich birgt, als wenn sie alles nach Art der Tragiker übertreiben würde.“Ⱥ71 Abraham bleibe selbst im Moment, als er seinen Sohn fesselt und die Spannung einen Höhepunkt erreicht, sich selbst gleich. Obwohl der bloße Anblick des opferbereiten Sohnes den Vater an der physischen Ausführung hätte hindern müssen, sei seine Greisenhand zum tödlichen Streich fähig gewesen.Ⱥ72 Die Intervention des Engels in dem Moment, als Abraham zum Hieb ausholt, deutet Calvin als dramaturgischen Umschlag, durch den der Sieg und Triumph des Gehorsams eingeleitet werde und die Trauer sich in Freude verkehre. Er vergleicht diesen Wendepunkt mit der Technik der griechischen Tragiker, durch einen Deus ex machina eine unverhoffte, glückliche Lösung zu ermöglichen. Die durch einen von Gott gesandten Engel herbeigeführte Wende in v. 11f. hält Calvin für den Archetyp, der von den griechischen Tragikern nachgeahmt worden sei, aber durch die heidnische Mythologie seine dramaturgische Überzeugungskraft verloren habe. Hier habe der Teufel als Nachäffer Gottes seine Hand im Spiel: Die Dichter führen in ihren Erzählungen, sobald die Lage [der handelnden Personen] hoffnungslos ist, einen Gott ein, der plötzlich durch einen Kunstgriff erscheint. Es kann sein, [daß das so zu erklären ist,] daß der Teufel versucht hat, mit Erdichtungen dieser Art die wunderbaren, erstaunlichen Offenbarungen Gottes zu verdunkeln: wenn er unvermutet erschien, um den Seinen Hilfe zu bringen. Diese Geschichte [von Isaaks Opferung und Errettung] mußte sicher bei allen Völkern bekannt und berühmt sein, aber durch Satans List wurde die göttliche Wahrheit nicht nur entehrt und in eine Lüge verkehrt, sondern sogar in einen mythischen Erzählstoff verwandelt, wodurch sie noch mehr Anlaß zum Gespött bieten würde.Ⱥ7ř 70 71 72 7ř
Ebd., ř16. Ebd., ř17: „Mira quidem est Mosis in narrando simplicitas, sed quae plus vehementiae continet quam si tragice omnia exaggeraret.“ Ebd. Ebd.: „Poetae in suis fabulis, ubi res desperatae sunt, Deum aliquem inducunt qui subito ex machina apparet: fieri potest ut eiusmodi figmentis miros et stupendos Dei occursus obscurare conatus sit Satan: dum suis ad opem ferendam ex inopinato af-
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Calvin glaubt, hier die Urszene für eine bei den griechischen Tragikern beliebte dramaturgische Technik entdeckt zu haben. Mit dem mythischen Erzählstoff könnte Euripides’ Iphigenie in Aulis gemeint sein, da Artemis als dea ex machina Iphigenie rettet, indem sie die zum Opfer bereite Tochter Agamemnons durch eine Hirschkuh ersetzt.Ⱥ74 Wieviel glücklicher und überzeugender sei die Erscheinung des Engels, der die Ermordung Isaaks abwendet und Abrahams Absicht, das Opfer dem göttlichen Befehl entsprechend auszuführen, als Beweis seines Gehorsams anerkennt, als die plötzliche Einführung antiker Götter, die einen Dramenhelden aus einer menschlich aussichtslosen Lage befreien, was immer wie eine äußerliche Notlösung wirke. Im Falle Abrahams sei Gottes Eingreifen tatsächlich durch die Stimme des Engels bezeugt. Gott löste, anders als der heidnische Bühnengott, nicht eine drohende, durch menschliche Fehler und Mißgeschick verursachte Katastrophe auf, sondern lehre uns, daß wir bei einer göttlichen tentatio nichts aus eigener Urteils- oder Willenskraft vermögen, sondern Gott „solo suo nutu“ uns die Weise zu handeln oder mit dem Handeln aufzuhören vorschreibe. Während der heidnische Deus ex machina vom Dichter erfunden wird, um etwas wieder ins Lot zu bringen, greift Gott, der Schöpfer und Spielleiter, selbst in ein Geschehen ein, das er zur Erprobung von Abrahams Gehorsam veranlaßt hat. Durch den Vergleich der dramatischen Szene vor dem Wendepunkt in Gen 22,7–10 mit einem in Worten unfaßlichen Schauspiel und mit der antiken Tragödientheorie akzentuiert Calvin eine theologische Botschaft, die radikaler und unerbittlicher ist als diejenige Luthers. Während Luthers Abraham aus dem paradoxen Wort, welches den Kern des Evangeliums zusammenfaßt, daß der Tote lebt und der Lebende stirbt, Trost schöpfen konnte, verzichtet Calvins Abraham auf jeglichen Anspruch auf eine vernünftige Lösung des Phänomens, daß Gott gleichsam in zwei Personen auftrete, die ihm Widersprüchliches offenbaren, indem er unbeirrt, komme, was wolle („mordicus“), an der promissio festhalte und in seiner Liebe zu Gott nicht wankend werde.Ⱥ75 Abraham ist gleichsam ein übermenschlicher Held in einem weniger zur Furcht als zur Bewunderung anregenden spectaculum. Vermittels seiner literarhistorischen und tragödientheoretischen Überlegungen gelangt Calvin zum gleichen Ergebnis wie Gregor von Nyssa: Die Stimme in Gen 22,11 und 15 erkennt Abrahams Gehorsam an und bestätigt seine
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fulsit. Nota certe et celebris omnibus populis esse debebat haec historia: verum astu Satanae non modo adulterata fuit Dei veritas et conversa in mendacium, sed etiam tracta ad fabulandi materiam, quo maiori ludibrio foret.“ Vgl. dazu Mіљљђѡ, Exegèse, ř77. BќѠѡ, La mise en scène (Anm. 6ř), 559. Cюљѣіћ, Commentarius (Anm. 64), ř1řf.
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deitas. Einer so starken Versuchung setze Gott die Gläubigen jetzt nicht mehr aus, da sie nun am Glauben an die Heilkraft von Christi Kreuzestod Halt und Trost finden können, aber auch wir müßten uns auf analoge Versuchungssituationen gefaßt machen, die uns nach Abrahams Beispiel „ad plenam sui abnegationem [Mt 16,24]“ führen sollen.Ⱥ76 Wie wir gesehen haben, nimmt auch Zwingli das poetologische Verfahren der Tragiker, einen „Deus ex machina“ einzusetzen, zu Hilfe, um die Wende zum Guten zu beschreiben, die das Dilemma Abrahams, entweder durch seinen Gehorsam zum Mörder seines Sohnes oder infolge seiner väterlichen Gefühle zum Verächter von Gottes Wort zu werden, auf unvorhersehbare Weise auflöst und den LeserȦZuhörer aus ihrer Spannung sowie die handelnden Personen von ihren Konflikten befreit. Millet ist darin rechtzugeben, daß der Zugang humanistisch gebildeter Exegeten zum biblischen Text ihre Schulung in der antiken Rhetorik verrate. Dies verbindet sie aber auch mit Gregor von Nyssa, dessen Selbstbeobachtung als ErzählerȦRedner besonders eindrücklich von seinem Training in der Kunst effektvoller persuasio zeugt. Die inventio überzeugender und mitreißender Argumente und Darstellungsmittel fiel in den Aufgabenbereich des Redners. Zwingli, Luther und Calvin bemühen sich, der inventio-Technik des biblischen Erzählers auf die Spur zu kommen. Sie arbeiten mit Hilfe poetologischer Begriffe die Wirkungen heraus, die von der Inszenierung des Geschehens von der Erteilung des Befehls bis zur Vorbereitung des Opfers und zur Intervention des Engels auf das Vorstellungsvermögen gewöhnlicher LeserȦZuhörer ausgingen. Dabei betonen sie die Größe Abrahams, indem sie ausmalen, welche Anfechtungen (der Natur oder des Teufels) der Vater Isaaks habe überwinden müssen, bevor er den göttlichen Befehl ausführte. Dadurch laden sie den Leser dazu ein, sich mit der Vaterrolle Abrahams zu identifizieren, mit ihm, dem Opfer der göttlichen tentatio, zu fühlen und seinen Sieg über die Gefühle zu bewundern. Auch Cornelius a Lapide partizipiert an der humanistischen Bildungstradition, die, trotz verschiedener konfessioneller Ausrichtung, bei protestantischen und jesuitischen Gelehrten dieselbe war. Die pro-
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Ebd., ř14 und ёђџѠ., „Argumentum in Genesim“, 10: „[…] ab evangelio faciendum est exordium, quod unum Christum nobis proponit cum sua cruce, et in eo nos detinet.“ Hier zieht Calvin, ähnlich wie später Beza, eine Parallele zwischen Abraham und dem gläubigen Menschen, der es, dank Christi Kreuzestod, nicht mehr so schwer habe. Dieser Gedanke führt m. E. gerade von einer allegorisch auf die passio Christi bezogenen, typologischen Interpretation von Gen 22 weg und zu einer tropologischen, die für die Glaubensflüchtlinge näher lag. Dazu s. BќѠѡ, La mise en scène (Anm. 6ř), 55ř–558.
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testantischen und jesuitischen Exegeten stellen sich mit ihrem Ehrgeiz, in der biblischen eloquentia die Weisheit des geoffenbarten Worts zu finden, in die Tradition der Kirchenväter. Wie diese verwenden sie die aus dem Studium der antiken Autoren erworbene rhetorische Analysetechnik dazu, um die oratorische und narratologische Besonderheit des biblischen Textes herauszustellen. In seinem Genesiskommentar referiert Cornelius wichtige Deutungstraditionen seit der Patristik und prüft ihren Beitrag zum Verständnis des Textes. Wie in einem Brennspiegel, in dessen Focus die Väterkommentare zum Leuchten kommen, bündelt Cornelius die Beobachtungen älterer Exegeten zum Affektzustand Abrahams, über den sich der Bibeltext zwar ausschweigt, den man aber aus den direkten Anreden (Gottes, des Sohnes und des Engels) erraten könne. In des Cornelius a Lapide Kommentar zu Gen 22,1–19 finden wir einige der Topoi wieder, auf die Zwingli, Luther und Calvin mit ihrem Blick für die Bühnenhaftigkeit des tentatio-Geschehens ebenfalls großen Wert legten.Ⱥ77 Cornelius unterscheidet die göttliche tentatio, welche auf die Prüfung der Tugend ziele („ut eius virtutem in animo latentem ostenderet“), von der teuflischen Versuchung zur Sünde, die den Menschen in das höllische Reich (gehenna) locken soll. Nach Cornelius bildet die göttliche tentatio den Höhepunkt einer aus zehn Schritten bestehenden Versuchungssituation, aus der Abraham endlich in Gen 22,19 schwer geprüft, aber siegreich hervorgehe.Ⱥ78 Die Worte des göttlichen Befehls, besonders die Charakterisierung Isaaks im hebräischen Text als des einziggeborenen Sohnes versetzen Abraham schmerzhafte Stiche.Ⱥ79 Die psychisch verletzende Wirkung, die Zwingli und vor ihm schon Gregor von Nyssa mit derselben Metaphorik umschreibt, wird von Cornelius in sieben stimuli klassifiziert, 77 78
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CќџћђљіѢѠ ю Lюѝіёђ, Commentaria (Anm. 10), 192–199. Ebd., 19ř: „Notant Hebraei [die jüdischen Ausleger], Abraham decies fuisse tentatum a Deo. Primo, cum iussus est relinquere patriam & cognatos, & ire peregrinus in terram ignotam. Secundo, cum ob famem iussus est peregrinari in Aegyptum. Tertio, cum ei ablata est vxor a Pharaone, ipseque periculum vitae, vxor pudicitiae subijt. Quarto, cum ob iurgia famulorum coactus est diuelli a Lot, quem quasi filium aluerat & diligebat. Quinto, cum quatuor reges fortissime debellauit, vt Lot captiuum liberaret. Sexto, cum Agar, quam vxorem duxerat, iam ex se grauidam, impulsu Sarae domo eiecit. Septimo, cum senex iussus est circumcidi. Octauo, cum per regem Abimelech ablata est ei vxor. Nono, cum rursum uxorem Agar & filium Ismaelem, primo Sarae instinctu, tum Dei iussu domo expulit. Decimo, cum iussus est immolare filium suum Isaac: & quia haec omnium fuit grauissima, ideo hanc solam Moses vocat tentationem.“ Ebd., 194. „Hebraea magis pungunt et stimulant animum Abrahae, habent enim: ‚Tolle nunc filium tuum, vnicum tuum, quem dilexisti Isaac‘; & Septuag.: ‚Tolle filium tuum, illum dilectum tuum, quem dilexisti, illum Isaac‘.“
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welche die Versuchungssituation erlebbar machen.Ⱥ80 Gott befiehlt Abraham, ihm den Sohn zum Opfer zu bringen, den er aus der Perspektive des Vaters als einziggeborenen rühmt und den der Vater über alles liebe. Allein die Nennung des Namens „Isaac“ mache Abraham bewußt, daß der Lachende [Gen 21,6] sich jäh in einen Unglücklichen verwandeln und die Freude des Vaters sich in Trauer verkehren müsse. Der Befehl, Isaak zum Opfer darzubringen, drohe die Erfüllung der promissio zunichte zu machen, und provoziere daher Abraham dazu, die Verläßlichkeit Gottes mit der promissio in Frage zu stellen. Cornelius merkt zu v. ř an, daß Abraham offenbar Sara nicht über seinen Plan, mit Isaak auf die Reise zu gehen und ihn töten zu wollen, informiert habe. Er gibt, ähnlich wie Gregor von Nyssa, zu bedenken, daß Sara vermutlich versucht hätte, Abrahams Plan zu vereiteln und Isaak vor ihm zu schützen, wenn sie eingeweiht worden wäre, meint aber, sich darin von Gregor zu unterscheiden.Ⱥ81
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Ebd. „Quot hic verba, tot sunt stimuli, tot tentationes. Primo, ‚tolle‘ ait. Non boues, non famulos sed ‚filium‘. Secundo, eumque ‚vnicum‘. si multos haberes, facile vnum e multis dares, iam vnigenitum habes, eumque mihi immolari deposco. Tertio, ‚quem diligis‘, hebraice, ‚quem dilexisti‘. scilicet continuo hucusque sine vlla amoris cessatione vel imminutione; tum quia Isaac erat suauissimis moribus, patris reuerentissimus & obedientissimus; tum quia genuerat eum pater in senectute per miraculum: tum quia per Isaac promissa erat Abrahae maxima posteritas, omnisque benedictio, & Christus ipse, per quem vitam aeternam sperabat. Quare filium suum offerendo, simul etiam omnes spes suas, omniaque bona sibi promissa, Deo offerebat. Quarto, ‚Isaac‘, q. d. Da mihi tuum Isaac, tuum risum, tuum gaudium, tuum corculum. Hoc nomen mire feriebat & sauciabat patris aures & animum; iam enim futurus erat non Isaac, sed Abel; non Benjamin, sed Benoni [Gen ř5,18]; non risus, sed luctus; vide Origen. Homil. 8. Quinto, ‚offeres‘, non ait, Dabis eum offerendum, sed tu tuis manibus eum trucidabis, cremabis, immolabis. Sexto, ‚mihi‘ (hoc enim hîc intelligitur) [klare Anlehnung an Gregors Oratio] sciebat Abraham Deum humanas victimas detestari: sciebat in Isaac sibi semen, omniaque bona esse promissa; nonne ergo dicere poterat: quomodo ergo, ô Domine, horum omnium quasi oblitus aut poenitens, meum tuumque Isaac occidi, tibique immolari iubes? Septimo, ‚in holocaustum‘, vt nec corpus, nec pars vlla corporis patri relinquatur, sed totus Isaac in cineres redigatur, & quasi annihiletur. Octauo, ‚tolle nunc‘, non cras, non mane, sed nunc, hac nocte, hac hora. Ecce tibi, quot quantisque modis tentatus & probatus Abraham, quantum obedientiae palmam tulit? vide quam excelso & constanti animo haec omnia deuorauerit & superauerit […]. Hanc vide eius promptitudinem & celeritatem: nam eadem ipsa nocte obediuit & exiuit, vt immolaret Isaac.” Cornelius verweist auf AѢєѢѠѡіћѢѠ, Sermo LXXII (= PL ř8, 26–ř2 [Sermo II]). Cornelius a Lapide mißversteht Gregor von Nyssa hier, denn Gregor erkennt genau wie er, daß Sara versucht hätte, Isaak vor dem Schicksal zu bewahren, wenn Abraham ihr von seinem Plan und Gottes Auftrag erzählt hätte. Vgl. CќџћђљіѢѠ ю Lюѝіёђ, Commentaria (Anm. 10), 195: „Sarae hîc non fit mentio; vnde videtur ea inscia (vtpote quae nimis tenere suum diligebat Isaac) haec omnia fecisse Abraham. […]
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Cornelius stellt sich vor, wie Abraham während der dreitägigen Reise in eine Krise geraten sei.Ⱥ82 Den göttlichen Befehl habe er im Ohr, die Liebe zu Isaak, der von seinem Schicksal nichts ahne, im Herzen getragen. Fides und amor patris gerieten in einen unerträglichen Gegensatz. Cornelius betont ebenfalls die erschütternde Wirkung von Isaaks Frage (v. 7). Das Gespräch mit dem Sohn verletze Abrahams Seele und reiße die durch den göttlichen Befehl zugefügte Wunde erneut auf.Ⱥ8ř Cornelius arbeitet den Gedanken aus, den wir bei Gregor von Nyssa, aber auch bei Zwingli und Luther kennengelernt haben, wonach es für einen empfindsamen Menschen leichter zu ertragen sei, sich selbst ein Leid zuzufügen oder freiwillig Schmerzen zu erleiden, als einem geliebten Menschen Schmerzen zufügen zu müssen: „Abraham hätte es lieber vorgezogen, selbst zu sterben und geopfert zu werden, als den Sohn zu opfern. Natürlich wünschen sich nämlich Väter, daß die Söhne sie überleben“ und ihre Familie auf diese Weise natürlich fortgepflanzt werde.Ⱥ84 Cornelius a Lapide greift in seinem Kommentar zu v. 10 Gregors Frage auf, wessen Tugend höher zu bewerten sei, Abrahams oder Isaaks. Mit Rücksicht auf die Dauer der emotionalen Anfechtung, die Intensität des Schmerzes und das Vorherwissen, was er seinem Sohn zufügen müsse, votiert er für Abrahams Überlegenheit, denn schließlich habe Gott in der tentatio Abrahams Gehorsam auf die Probe stellen wollen, nicht aber Isaaks Opferbereitschaft.Ⱥ85 Cornelius wertet abschließend den übermenschlichen Gehorsam Abrahams als Beispiel, an dem sich Kinder orientieren könnten, wenn ihre Eltern sie zur Folgsamkeit ermahnten. Kinder beherzigten eine Lehre umso bereitwilliger, je mehr es ein Praeceptor verstehe, sie emotional überzeugend zu vermitteln. In diesem Zusammenhang verweist der
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Nyssenus & Procopius putant, Saram consciam & consentientem fuisse immolationi filij.” Ebd., 195. „Per triduum ambulat Abraham, vt per totam viam cogitationibus discerpatur, hic vrgente praecepto, illinc filij affectu reluctante: vt per omnia haec spatium certaminis accipiant, hinc affectus, inde fides; hinc amor Dei, inde amor carnis; hunc praesentium gratia, inde futurorum expectatio, iubetur quoque Abraham monti conscendere, vt loci altitudo fidei & obedientiae in operando sublimitatem significaret.“ Ebd.: „Hoc colloquium cum filio mire rursum sauciauit animum Abrahae, fecitque vt vulnus illi a Deo inflictum recrudesceret.“ Ebd., 196: „Maluisset Abraham ipse mori et immolari, quam immolare filium[;] naturaliter enim patres optant filios superstites sibi, quia per eos stirps & familia patris propagatur, vt morte filij, non modo se, sed etiam suae posteritatis spem emori & extingui sentiant […].“ Ebd., 197.
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jesuitische Exeget auf das Beispiel von Gregors Tränen angesichts der graphischen Darstellung des in v. 10 geschilderten Wendepunktes. Übereinstimmend heben die Exegeten die menschliche Not Abrahams hervor, indem sie seine Konflikte ausmalen, mit dem Ziel, seine übermenschliche Größe zu rühmen. Die konfessionellen Differenzen verschwinden angesichts der Prüfungssituation, in der sich Abraham glorreich bewährt, so daß sein Gehorsam und Gottvertrauen vorbildlich für alle Gläubigen werden. Dieser Befund der Exegese im 16. und 17. Jahrhundert regt dazu an, die Dramatisierungen protestantischer und jesuitischer Autoren auf ihre Gemeinsamkeiten zu befragen. Mein Textcorpus umfaßt folgende sechs Dramen: – Theodor Beza (1519–1605): Abraham sacrifiant (Lausanne 1550) – Jacobus Jacomotus (154ř–1615): Abrahamus sacrificans. Tragoedia Gallicè à Theodoro Beza iam olim edita, recens verò Latinè a Ioanne Iacomoto Barrensi conversa (Genf 1598) – Jacobus Pontanus SJ (1542–1626): Immolatio Isaac (Ingolstadt 1594) – Actio sacra de Abrahamo filium suum Isaac offerente (Fulda, wahrscheinlich um 1590) – Johann Caspar Lavater (1741–1801): Abraham und Isaak. Ein religiöses Drama (Winterthur 1776) – Johann Jakob Bodmer (1698–178ř): Der Vater der Gläubigen. Ein religiöses Drama (Zürich 1778)
Beza, Jacomotus, der anonyme jesuitische Autor der Fuldaer Actio sacra, und der Augsburger Jesuit Jacob Pontanus haben die dramaturgischen Qualitäten des Stoffs genutzt, indem sie die psychische Konfliktsituation Abrahams ausmalen, die Rolle Saras ausgestalten und Isaaks Verhalten bis zum tödlichen Hieb als Folge eines Lern- und Reifungsprozesses vorstellen. Sie konzentrieren sich alle auf die Veranschaulichung und Zuspitzung der göttlichen tentatio, bleiben aber nicht dabei stehen, nur ihre Wirkung auf Abraham zu veranschaulichen, sondern beziehen Sara und Isaak in die dramatische actio mit ein. Sie alle bringen ihre zwischen Angst und Gottvertrauen hin- und herschwankenden Gefühle zum Ausdruck. Sie malen auf ähnliche Weise aus, wie Sara auf Abrahams Reisepläne reagiert und wie sich der Knabe Isaak von seinem anfänglichen Entsetzen zum gehorsamen, gottergebenen Mustersohn des schwer geprüften, aber auch von Gott ausgezeichneten Vaters wandelt. Dabei gehen sie von einer Anthropologie der Geschlechter aus, der zufolge die Frau stärker von der Natur bestimmt werde und Anfechtungen weniger Widerstandskraft entgegensetzen könne als der Mann. Die meisten frühneuzeitlichen Dramatiker können sich nicht vorstellen,
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daß Abraham seine Frau über den göttlichen Auftrag hätte aufklären und sich mit ihr gemeinsam über die Ausführung beraten können. Beza, Jacomotus und die jesuitischen Dramatiker zeichnen ein Bild Isaaks, das dem Ideal eines gehorsamen, einsichtsvollen Sohnes entspricht, der dazu konditioniert ist, Konflikte zwischen Pflicht und Neigung aufgrund der Ausrichtung seines Denkens und Fühlens auf Gott und seine moralischen Gebote selbstverständlich zu Lasten der natürlichen Empfindungen und Triebe zu lösen. Jean Jaquemots (Jacomotus) Latinisierung wird von den Herausgebern der Tragédie Bezas, Abraham sacrifiant, lediglich erwähnt,Ⱥ86 sie ist aber bisher weder mit Bezas Original verglichen noch in der Geschichte des neulateinischen Dramas behandelt worden.Ⱥ87 Pontanus’ Dramatisierung und die Fuldaer Actio sacra wurden von Fritz Reckling untersucht, aber nicht mit Bezas französischem Abraham-Drama verglichen.Ⱥ88 Dabei ist es denkbar, daß Bezas Schauspiel zumindest in der lateinischen Übertragung von 1599 auch den Jesuiten bekannt war. Noch wahrscheinlicher ist, daß Ähnlichkeiten in der Charakterisierung Abrahams, Saras und Isaaks auf die gemeinsame Kenntnis von Gregors phantasievoller Exegese in seiner Oratio zurückzuführen sind. Johann Caspar Lavater hat aus Gen 22 ein Familienrührstück gemacht, in dem sich alle Mitglieder dieser wegen Abrahams Auszeichnung durch Jahwe heiligen Familie über ihre religiösen Gefühle und ihre Liebe zueinander aussprechen. Zwischen beiden Affekten gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied. Daher ist der Konflikt zwischen Gottesgehorsam und Vaterliebe für Lavaters Abraham schier unerträglich. Hin- und hergerissen zwischen natürlichem Widerwillen und Unterwerfungsbereitschaft leidet Abraham mehr und länger als Isaak, umso mehr, da er, gegen die Familiensitte unbegrenzter Offenheit, den Auftrag allen verschweigt. Während die älteren Autoren ähnlich wie Gregor von Nyssa sich vorstellen, wie sich Isaaks Natur gegen den Gottesgehorsam des Vaters aufbäumt und er erst im Dialog mit Abraham einen Lernprozeß durchmacht, ist Lavaters Isaak vor allem vom Ehrgeiz 86
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Bѽѧђ, Abraham sacrifiant (Anm. 67), hier „Introduction“, 12. Jean Jaquemot (154ř– 1615) wird im Rahmen der Bullinger-Briefwechsel-Edition im Korrespondentennetz Heinrich Bullingers aufgeführt (vgl. Website der Heinrich Bullinger-Edition). Abraham sacrificans liegt in zwei Drucken vor, die bei Jacob Stoer 1598 in Genf erschienen und im Exemplar der Berner Stadt- und Universitätsbibliothek zusammengebunden sind. (a) Abrahamvs sacrificans Tragoedia Gallicè à Theodoro Beza iam olim edita, recens verò Latinè à Ioanne Iacomoto Barrensi conversa, angehängt an: Tѕђќёќџі Bђѧюђ Emblemata mit fortlaufender Paginierung; (b) Abrahamus sacrificans Tragoedia […] cui addita sunt duae odae ex Gallice eiusdem Tѕђќёќџі Bђѧюђ Latine factae ab eodem Iќюћћђ Iюѐќњќѡќ cum aliquot aliis poematis. Rђѐјљіћє, Immolatio Isaac (Anm. 1ř).
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beseelt, Abraham nachzueifern, in der Hoffnung, daß sich Gott auch ihm einmal offenbaren werde. Als der Engel eingreift und in Gen 22,15 die Verhinderung des tödlichen Hiebs mit einem Jahwe-Zitat begründet, glaubt sich Isaak am Ziel seiner Wünsche. Bodmers Abraham-Drama knüpft an seine und Wielands frühere epische Gestaltungen der Erzväter Abraham und Noah an.Ⱥ89 Sie sind Heroen aus einer archaischen Vorzeit, vergleichbar mit den Helden Homers, glaubensstark, prinzipienfest, entscheidungsfreudig und zupakkend. Bodmers Abraham wankt im Glauben nicht, sondern erteilt seinem Diener Elieser, Isaak und zuletzt auch Sara Lektionen im rechten Gottesglauben, der zu einer überlegenen Einschätzung irdischer, daher vorübergehender Anfechtungen führen müsse. Ähnlich wie Gregor seinen Zuhörern durch den Vergleich mit den Gefühlen gewöhnlicher Väter und Mütter die Gottesnähe Abrahams nahebringen wollte, zieht Bodmer wieder stärker als Lavater eine Grenze zwischen dem von Gott ausgezeichneten Übervater Abraham und seinen Anvertrauten, die ihm nur mit äußerster Überwindung folgen können. Im Unterschied zu den humanistischen Schuldramen konnten Lavaters und Bodmers Schauspiele in Zürich wegen der strengen geistlichen Zensur nicht aufgeführt werden.Ⱥ90 Mir ist hier nicht an einer chronologisch oder geographisch erschöpfenden Wirkungsgeschichte der Opferung Isaaks als Bühnenhandlung gelegen, auch die konfessionellen Unterschiede spielen in den folgen-
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Jќѕюћћ Jюѐќя Bќёњђџ, Der Noah. In zwölf Gesängen, Zürich 1752. Bodmer feilte unermüdlich an diesem Epos, das unter dem Titel Noachide bis 1781 in mehreren überarbeiteten Auflagen erschien. Wieland bemühte sich während seines Aufenthalts im Hause Bodmers von Oktober 1752 an die „Schönheiten“ dieses biblischen Epos auf der Grundlage der modernen Ästhetik zu begründen und arbeitete gleichzeitig nach Bodmers Plan ein eigenes Epos aus: Der gepryfte Abraham, das im Herbst 175ř in Zürich erschien und 1762 in einer Neuauflage herauskam. Vgl. CѕџіѠѡќѝѕ Mюџѡіћ Wіђљюћё, Poetische Jugendwerke und Prosaische Jugendwerke, Akademieausgabe, Bd. 1, Teil 2 und ř, hg. v. Fџіѡѧ HќњђѦђџ, Berlin 1909f.; Jќѕюћћ CюѠѝюџ MҦџіјќѓђџ, Die Schweizerische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1861, 154–16ř und 19ř–195; Wќљѓєюћє Bђћёђџ, Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, Stuttgart 197ř, 58–61; TѕќњюѠ C. SѡюџћђѠ, Christoph Martin Wieland. Leben und Werk, I, Sigmaringen 1987, 19–61; Sѣђћ-Aюєђ JҫџєђћѠђћ, Hђџяђџѡ JюѢњюћћ, Jќѕћ MѐCюџѡѕѦ und HќџѠѡ TѕќњѼ, Wieland. Epoche – Werk – Wirkung, München 1994, ř2–ř5. Im Lavater-Nachlaß der Zentralbibliothek Zürich habe ich keine Indizien zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dieses Dramas gefunden. Zur Theaterzensur in Zürich vgl. Hђџњюћћ SѐѕѢљѡѕђѠѠ, „Zürcher Markt- und Schauspielbelustigungen“, in: Zürcher Taschenbuch N. F. 54 (19ř4), 100–1ř1; TѕќњюѠ Bҿџєђџ, Aufklärung in Zürich. Die Verlagsbuchhandlung Orell, Gessner, Füssli & Comp. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1997, 161–174.
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den Analysen kaum eine Rolle.Ⱥ91 Leitend beim Vergleich der sechs Dramen ist vielmehr die Frage, welche Details der dramatischen Bearbeitung sich möglicherweise den Anregungen Gregors von Nyssa oder der humanistischen Exegese verdanken. Denn Gregors hypothetische Überlegungen, was ein gewöhnlicher Vater und was eine von Abraham informierte Sara gegen das Sohnesopfer eingewendet hätten, kehren in unterschiedlicher Dramaturgie wiederȺ92 und zwar – mit Ausnahme der Fuldaer Actio sacra, in der Sara und Isaak einen neuen Spielraum bekommen, und Bodmers Lavater-Replik, die als Parodie nur zum Teil dramaturgisch durchgearbeitet ist – mit deutlichen Anklängen an Gregors Argumentation. Einzig Pontanus nennt Gregors von Nyssa Oratio als Prätext und folgt seiner Argumentation stellenweise wortgetreu. In den anderen Fällen werden wir nur aufgrund der argumentativen Ähnlichkeit diesen Prätext ins Spiel bringen, ohne die Abhängigkeit entstehungsgeschichtlich beweisen zu können. Ich fasse die von Gregor ausgeführten Punkte zusammen, auf die sich in den folgenden Dramenanalysen die Aufmerksamkeit richten wird: Die tentatio wird als Kulmination vergangener Prüfungen bewertet. Der Auftrag, den Sohn zu schlachten, ist umso härter, da dessen späte Geburt schon ans Unwahrscheinliche grenzte und den Eltern als einziger Weg zur Erfüllung der Verheißung erschien. Der Auftrag in Gen 22,2 wird in Einzelbefehle zerlegt, die in Abraham unterschiedliche Erwartungen wecken, die jedoch durch die Pointe des Holocaustum sämtlich getäuscht werden.
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Fritz Reckling konzentriert sich im analytischen Teil auch nur auf den deutschen Sprachraum und auf den Zeitraum von 15řř bis 1725. In seiner exzellenten Quellenbibliographie bezieht er andere europäische Sprachen und Länder ein und zählt Dramen aus späterer Zeit auf. Lavaters und Bodmers Bearbeitungen von Gen 22,1–19 werden jedoch nicht erwähnt. Rђѐјљіћє, Immolatio Isaac (Anm. 1ř). Ein anderes, sehr interessantes Textcorpus aus neun Abraham-Isaak-Dramen von 1449 bis 16ř5 legt Beatrice Perregaux ihrer theaterwissenschaftlichen Untersuchung zugrunde. Kriterien für ihren Vergleich sind die Fragen nach Indizien für Christus-Analogien (in der typologischen Deutungstradition), nach der Darstellbarkeit und Bühnenwirksamkeit Gottes, der Einführung von Gegenspielern und Gegenkräften, der Funktion Saras und nicht-biblischen Figuren und Handlungselementen. BѼюѡџіѐђ PђџџђєюѢѥ, „Théodore de Bèze, Abraham sacrifiant (1550). Rupture et innovation“, in: Sondierungen zum Theater – Enquêtes sur le théâtre. Zehn Beiträge zur Theatergeschichte der Schweiz, hg. v. AћёџђюѠ Kќѡѡђ (Schweizer Theaterjahrbuch 56), Basel 1995, 1ř–50. Im Aktanten-Analysemodell, das Béatrice Perregaux in ihrer Dramenanalyse verwendet, stellen diese von Gregor ausphantasierten Gegenstimmen (ein gewöhnlicher Vater – eine protestierende Mutter) in verschiedenen Dramen „opposants“ dar, welche die biblische Handlung „konterkarieren“. Vgl. PђџџђєюѢѥ, Théodore de Bèze (Anm. 91), 29–ř6.
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Die Reaktionen eines gewöhnlichen Vaters werden hypothetisch mit Abrahams gehorsamem Vollzug konfrontiert. Der Widerstand Saras wird ausgemalt, die den Sohn nicht mit Abraham ziehen ließe, wenn sie von Abraham über den Inhalt des Auftrags informiert worden wäre. Isaaks Frage am dritten Reisetag wird als neue, nochmal stärkere tentatio gewertet. Der kurze Dialog vermittelt eine Ahnung von den Qualen, die Abraham während der gemeinsamen Wanderung erlitten haben müsse. Die simplicitas des mosaischen Berichts steht, je mehr er sich dem Höhepunkt nähert, im Gegensatz zur emotionalen Tragik. Eine ausführlichere Erzählung wäre der rührenden, erschütternden Wirkung eher abträglich. Die Frage stellt sich, wer mehr zu bewundern sei, der Vater oder der Sohn.
4. Theodor Beza und Jacobus Jacomotus Von den vier Schultheaterstücken des 16.Ȧ17. Jahrhunderts ist Theodor Bezas (1519–1605) Tragödie Abraham sacrifiant das berühmteste. Mit diesem sprachlich schlichten, aber expressiven Bibeldrama in drei Akten beginnt die neuzeitliche Geschichte der französischen Tragödie.Ⱥ9ř 1550 wurde dieses französische Schauspiel von Schülern der Académie von Lausanne, wahrscheinlich zur Preisverleihung im Mai oder Oktober 1550 aufgeführt.Ⱥ94 Bis 1598 erschienen elf weitere Drucke.Ⱥ95 Das Stück wurde
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BќѠѡ, La mise en scène (Anm. 6ř), 54ř. „Rappelons qu’à cette époque, le genre de la tragédie n’est pas encore défini en France; il naít précisement vers 1550, avec la redécouverte des auteurs tragiques grecs – notamment Euripide – et sous l’influence de pièces italiennes.“ Früher wurde nur ein Mistère du Viel Testament aufgeführt, in Paris 15ř9 und 1542, dessen Text Beza wahrscheinlich ebenso wie die Tragödie von Hieronymus Ziegler Isaaci Immolatio (154ř) bekannt war. Vgl. CюњђџќћȦHюљљȦHієњюћ, Bèze, Abraham sacrifiant (Anm. 67), 1ř; RюѦњќћё LђяѽєѢђ, La tragédie religieuse en France. Les débuts (1514–1573), Paris 1929, 20f. TѕѼќёќџђ ёђ Bѽѧђ, Abraham sacrifiant (Anm. 67), „Introduction“, ř1; außerdem Hђћџі VѢіљљђѢњіђџ, Histoire de l’église réformée du pays de Vaud sous le régime Bernois, Tome premier, Lausanne 1927, 479–489 (als wahrscheinliches Datum der Erstaufführung wird der 1. Oktober 1550 genannt); De l’Académie à l’Université de Lausanne 1537–1987. 450 ans d’histoire, hg. vom MѢѠѼђђ ѕіѠѡќџіўѢђ ёђ љ’Aћѐіђћ EѣѾѐѕѼ, Lausanne 1987, 62 (hier wird die Aufführung auf Mai 1550 datiert). CюњђџќћȦHюљљȦHієњюћ, Bèze, Abraham sacrifiant (Anm. 67), ř9–41; PюѢљ-F. GђіѠђћёќџѓ, Théodore de Bèze, Genf 1949, 52–54 (von 1550 bis 1928 zählt Geisendorf ř6 Ausgaben).
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ins Englische,Ⱥ96 Italienische, Lateinische, Deutsche und Niederländische übersetzt.Ⱥ97 Es ist Bezas erste geistliche Dichtung. In der dramatischen Darstellung von Abrahams schwerster Glaubensprüfung transformiert Beza eigene Anfechtungen, die ihn 1548 dazu bewogen, aus religiösen Gründen Frankreich für immer zu verlassen. Am ř. Oktober 1548 hatte Beza seine Heimat in Frankreich, Freunde und Kirchenpfründe aufgegeben, da er 15ř5 von seinem Lehrer Melchior Wolmar in die protestantische Lehre eingeführt worden war. Am 2ř. oder 24. Oktober traf er in Genf ein und heiratete Claudine Dosset, die seit 1546 seine Lebensgefährtin war, nach reformiertem Ritus.Ⱥ98 Im August 1549 fragte Pierre Viret (1511–1571) im Auftrag Calvins bei Beza an, ob er die Griechischprofessur an der 15ř7 gegründeten Hohen Schule in Lausanne übernehmen wolle. Calvin und Guillaume Farel waren glücklich über seine Zusage, und Beza begann mit dem Unterricht im November 1549. Er leitete die Akademie von 1552 bis 1554 als Rektor. Am ř. April 1549 war Beza in Frankreich für verbannt erklärt und sein Vermögen konfisziert worden. Am ř1. Mai wurde Beza in effigie auf der Place Maubert in Paris verbrannt.Ⱥ99 Da die Hohe Schule in Lausanne vor der Gründung der Genfer Akademie im Jahr 1559 die einzige protestantische Ausbildungsstätte für französischsprachige Studenten war, wurde sie gern von französischen Glaubensflüchtlingen aufgesucht.
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Nur von Arthur Goldings Übersetzung gibt es eine kritische Ausgabe. AџѡѕѢџ Gќљёіћє, A Tragedie of Abraham’s Sacrifice (1577), hg. v. Mюљѐќњ Wіљљіюњ Wюљљюѐђ, Toronto 1906. Pіђџџђ-AћёџѼ SюѦќѢѠ, Etudes littéraires sur les écrivains français de la Réformation, 2 Bde., Paris 1881, Bd. 1, 28ř; GђіѠђћёќџѓ, Bèze (Anm. 95), 54. Lebègue versucht die Übersetzer zu identifizieren und nennt als zweiten lateinischen Versifikator neben Jacomotus Jacques Brunon. Nathan Chytraeus (154ř–1598) habe Bezas Tragödie ins Deutsche übersetzt. Vgl. LђяѽєѢђ, La tragédie religieuse (Anm. 9ř), ř1ř. Chytraeus hat in Preces et soliloquia (hg. v. CѕџіѠѡќѝѕ Pђѧђљ, Herborn 1592) Gebete aus Predigten Calvins ins Deutsche übersetzt (Nathan Chytraeus 1543–1598. Ein Humanist in Rostock und Bremen. Quellen und Studien, Bremen 1991, 1ř4 [Bibliographie, Nr. 154). Eine Abraham-Tragödie in Chytraeus’ Übersetzung ist nicht überliefert (vgl. ebd.). Jќѕюћћ Wіљѕђљњ BюѢњ, Theodor Beza, aus handschriftlichen Quellen dargestellt, Erster Theil, Leipzig 184ř, 118–1ř7; GђіѠђћёќџѓ, Bèze (Anm. 95), 26–ř1 und ř7–ř9. Nach Geisendorf (26f.) ist das einzige autobiographische Zeugnis, das über die Gründe für die Flucht nach Genf berichtet, ein Brief an Melchior Wolmar, den Beza in der zweiten Auflage seiner Poemata 1569 abdruckte. Über die Beziehung zu Melchior Wolmar schreibt Oљіѣіђџ Fюѡіќ, „Theodor Beza“, in: Gestalten der Kirchengeschichte, hg. v. Mюџѡіћ GџђѠѐѕюѡ, Bd. 6, Stuttgart u. a. 1981, 255–276, hier 256. Ebd., 29f.; CюњђџќћȦHюљљȦHієњюћ, Introduction (Anm. 67), 9–11; Jіљљ Rюіѡѡ, „Beza, Theodor“, in: TRE 5 (1980), 765–774, hier 765; LђяѽєѢђ, La tragédie religieuse (Anm. 9ř), 292–296; Oљіѣіђџ Fюѡіќ, „Les débuts de l’Ecole de Lausanne“, in: De l’Académie à l’Université de Lausanne (Anm. 94), 50.
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In der Vorrede zum Abraham sacrifiant, die auf den 1. Oktober 1550 datiert ist, distanziert sich Beza von der weltlichen Dichtung, deren erotische Themen und antikisierende Formen ihn nun mit Scham erfüllten. Beza spielt hier auf seine 1548 in Paris erschienenen Poemata juvenilia an, eine Sammlung lateinischer Sylvae, Elegien, Epigrammata und Epitaphia, die er in einem Kreis junger Humanisten in den dreißiger Jahren in Orléans und, nach Erwerb seines Lizentiats in der Jurisprudenz, in Paris gedichtet hatte.Ⱥ100 Er bekennt, daß er immer eine Neigung zur Poesie gehabt habe und dies auch nach seiner conversio nicht bereue. Allerdings sei zu bedauern, daß er sein von Gott gegebenes Talent verwendet habe „en choses desquelles la seule souvenance me fait maintenant rougir“.Ⱥ101 Von der modernen Dichtkunst und ihren weltlichen, meist erotischen Themen, die ihn einst begeistert hätten, spricht er nurmehr mit Verachtung. Er wertet sie ab als „ces malheuereuses inventions ou imitations de fantaisies vaines et deshonnestes“, „fictions et flatteries“, „ces fureurs poétiques à l’antique, pour distiller la gloire de ce monde“.Ⱥ102 Die Poetik der biblischen Tragödie, die er im folgenden skizziert, zeichnet sich aus durch radikale Kehrtwendungen, weg von der höfischen Kultur, vom antiken Gattungskanon und vom Stilideal der aemulatio veterum.Ⱥ10ř Die biblische Erzählung vom Opfer Abrahams habe er als Tragödie inszeniert, die Einteilung in „actes“ mit bukolischen Zwischenspielen entspreche aber den modernen „Comedies“. Mit Rücksicht auf die Bühne habe er nur Kleinigkeiten der biblischen Erzählung („quelques petites circonstances de l’histoire“) geändert.Ⱥ104 In seiner dramaturgischen Deu100 Benutzte Ausgabe: Tѕђќёќџ Bђѧю VђѧђљіѢѠ, Poemata, Leiden 1757. Dieser Nachdruck folgt der erweiterten editio tertia von 1599. Eine zweite Auflage erschien 1569. Zu den Poemata juvenilia und ihren klassisch-römischen Vorbildern vgl. BюѢњ, Beza (Anm. 98), I, 67–81 und 9ř–102; GђіѠђћёќџѓ, Bèze (Anm. 95), 19–24. Entzückend finde ich die poetische Liebeserklärung des Autors an die römischen Autoren, die in dem in Hendecasyllabi komponierten Gedicht „Ad Bibliothecam“ enthalten ist (abgedruckt von BюѢњ, Beza [Anm. 98], 96f.). 101 Bђѧю, Abraham sacrifiant (Anm. 67), „Aux lecteurs“, 46. Auch vor seinen Lausanner Kollegen leistete Beza im November 1549 Abbitte für diese „Jugendsünde“. Mit dem Hinweis auf den Druck seiner Poemata juvenilia begründete er, daß er sich unwürdig fühle, die Griechischprofessur in Lausanne zu übernehmen (GђіѠђћёќџѓ, Bèze [Anm. 95], ř8). 102 Ebd., 49. Eine Übersetzung bei BюѢњ, Beza (Anm. 98), 1ř8–14ř. 10ř Bђѧю, Abraham sacrifiant (Anm. 67), „Aux lecteurs“, 49. 104 Am gravierendsten ist sicher die Einführung Satans, was an den Anfang des Buches Hiob erinnert. Vgl. BќѠѡ, La mise en scène (Anm. 6ř), 548. Beza hält es, anders als mehr als 2ř0 Jahre später sein Kollege Johann Caspar Lavater, nicht für nötig, seine Entscheidung zu begründen, eine biblische Geschichte als Drama auf die Bühne zu bringen und mit Rücksicht auf die Bühnenwirkung vom Bibeltext abzuweichen. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob Beza die Dialogi sacri Sebastian Castellios (1515–156ř) kannte, deren erstes Buch erstmals in Basel 154ř zweisprachig
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tung habe er sich an „conjectures“ angelehnt, die seinem Stoff und dem Personal angemessen schienen.Ⱥ105 Um eine größere affektive Wirkung zu erzielen, habe er in seiner Tragödie einfache Begriffe in der Muttersprache und leicht verständliche Gesten verwendet, nach dem Vorbild griechischer Chöre. Nichts liege ihm jedoch ferner als die gelehrte Nachahmung antiker Gattungen und Schreibweisen. Auch in der Orthographie bevorzuge er die allgemein gebräuchliche.Ⱥ106 Wodurch die lateinische Übersetzung des Genfer Pfarrers und Dichters Jean Jacuemot veranlaßt wurde, entzieht sich unserer Kenntnis. Er gehörte zur „vénérable Compagnie des Pasteurs de Genève“ und war ein enger Mitarbeiter Bezas. Bis 1591 war er als Sekretär für die Register der Compagnie zuständig, wurde nach Neuchâtel berufen, taucht aber seit 1596 wieder in den Registern der Genfer Pastoren auf.Ⱥ107 Die Geschichte (lateinisch und französisch) publiziert wurde und die 1545 in lateinischer Sprache in vier Büchern herauskamen. Castellios Bibeldialoge waren für den Anfängerunterricht in der lateinischen Sprache gedacht und behaupteten sich im Lateinunterricht bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Castellio hielt sich in seiner Dialogfassung der Erzählung in Gen 22,1–19 geradezu puristisch eng an den Wortlaut der Vulgata und hat auf die Ausleuchtung der emotionalen Reaktionen Abrahams und Isaaks ganz verzichtet. Vgl. SѼяюѠѡіђћ CюѠѡђљљіќћ, Dialogues sacrés – Dialogi sacri [Premier livre], hg. v. Dюѣіё AњѕђџёѡȦѣђѠ GѼџюџё, Genf 2004, 82–85. Castellio hatte eine ähnliche Karriere als humanistischer neulateinischer Dichter in Lyon hinter sich wie Beza. Er hatte sich, ebenfalls unter dem Einfluß Calvins, schon 15ř8 von der weltlichen Dichtkunst abgewandt und begann eine Karriere als Schulrektor am Collège de Rive in Genf. 1541 entzweite sich Castellio aber mit Calvin. Als Bezas Tragédie aufgeführt wurde, war Castellio Korrektor bei Johannes Oporin in Basel; erst 155ř wurde er dort zum Griechisch-Professor ernannt. Castellios und Bezas Zugangsweisen zur poetischen Behandlung von Gen 22,1–19 sind diametral entgegengesetzt. Es könnte sein, daß die Rivalität und erbitterte Feindschaft zwischen Castellio und dem vier Jahre jüngeren Théodore de Bèze auch auf ihr unterschiedliches Selbstverständnis als Exegeten und poetische Bearbeiter biblischer Stoffe zurückzuführen ist. Vgl. HюћѠ R. GѢєєіѠяђџє, Sebastian Castellio. Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz, Göttingen 1997, 29–54. 105 Darin sehe ich eine Anspielung auf die zeitgenössische Exegese, vor allem Zwinglis Farrago, aus der Beza seine Gestalt Satans entlehnt haben könnte. Zwinglis Spekulation, daß Abraham angesichts des opferbereiten Sohnes hätte schwach, ja ohnmächtig werden müssen, veranlaßte Beza vermutlich zur Regieanweisung, daß Abraham im Schreck das Schlachtmesser aus der Hand fällt (Bђѧю, Abraham sacrifiant [Anm. 86], 108; dazu unten). 106 Bђѧю, Abraham sacrifiant (Anm. 67), Aux lecteurs. 107 Häufig wird Jaquemot in den Régistres de la Compagnie des pasteurs de Genève erwähnt (Bd. 6: 1589–1594, hg. v. Sюяіћђ CіѡџќћȦMюџіђ-CљюѢёђ JѢћќё, Genf 1980 und Bd. 7: 1595–1599, hg. v. Gюяџіђљљю CюѕіђџȦMіѐѕђљ Gџюћёїђюћ, Genf 1984). Welche Position Jacomotus an der Genfer Akademie innehatte, konnte ich nicht ermitteln. Hђћџі VѢіљљђѢњіђџ führt ihn nicht in seiner Geschichte der reformierten Kirche der Waadt (Anm. 94) auf. RюѦњќћё LђяѽєѢђ geht in seiner Geschichte religiöser Schauspiele (Anm. 9ř) ebenfalls nicht auf seine Bibeldramen ein. Mehrmals erwähnt ihn GђіѠђћ-
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von Abrahams übermenschlichem Gottesgehorsam in einer existentiellen Krisensituation war für das Genfer Publikum in den neunziger Jahren vermutlich ebenso aktuell wie 48 Jahre früher für den jungen Glaubensflüchtling Beza selbst. Genf war von katholischen Mächten umgeben.Ⱥ108 Der politisch ehrgeizige Herzog Karl Emanuel von Savoyen (1562–16ř0) erbte 1580 den Thron und bedrängte Genf seit 1582 militärisch, getragen von der Hoffnung, die Stadt mit Gewalt zur römisch-katholischen Kirche zurückzuführen.Ⱥ109 Genf entschloß sich 1589 zu einer Offensive gegen Savoyen, welche Theodor Beza schon 1582 als ein durch die biblische Geschichte gut bestätigtes „remède nécessaire ordonné de Dieu“ rechtfertigte;Ⱥ110 erlitt aber 159ř eine Niederlage, woraufhin Bern das Bündnis mit Genf kündigte, mit Savoyen Frieden schloß und dem Herzog seine Eroberungen von 15ř6 zurückgab. Als Heinrich von Navarra 1589 die französische Thronfolge übernahm, drohte Philipp II. Frankreich mit Krieg und meldete selbst Ansprüche auf die französische Krone an. Die Konversion Heinrichs IV. zum Katholizismus im Juli 159ř war ein Akt, der von politischer Klugheit diktiert wurde, seinen „geistlichen Vater“ Théodore de Bèze und die Genfer jedoch irritierte, war doch Frankreich seit 1589 zum wichtigsten Bündnispartner Genfs geworden. Die Kommunikation des Königs mit Beza riß trotzdem nicht ab. Das Edikt von Nantes, das im März 1598 den Hugenotten in Frankreich eine gewisse Glaubens- und Bewegungsfreiheit gewährte,Ⱥ111 entsprach dezidiert den politischen Wünschen des Genfer Reformators. 1596 verbreitete sich das Gerücht in Europa, Beza sei gestorben und vor seinem Tode in den Schoß der römischen Kirche zurückgekehrt.Ⱥ112 Franz von Sales (1567–1622), seit 159ř Propst und Priester am Dom von Annecy, nominell Bischof von Genf, wurde beauftragt, in Chablais, dem Teil Savoyens, der an den Genfersee grenzte, den Katholizismus wiedereinzuführen. Diese Provinz war seit 15ř6 unter der Herrschaft Berns, wurde aber schon 1564 im Vertrag von Lausanne an Savoyen zurückgegeben. Die Ausübung
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ёќџѓ (Bèze [Anm. 95], v. a. ř29 und řř9). Von einer Aufführung des Abrahamus sacrificans oder der beiden lateinischen Bibeldramen des Jacomotus (s. unten Anm. 114f.) ist mir nichts bekannt. GђіѠђћёќџѓ, Bèze (Anm. 95), ř29 und ř68–ř71; Rќяђџѡ M. Kіћєёќћ, „Genf“ in: TRE 12 (1984), ř71; Fюѡіќ, Beza (Anm. 98), ř74; Wіљљіюњ E. Mќћѡђџ, „De l’éveché à la Rome protestante“, in: Histoire de Genève, hg. v. PюѢљ GѢіѐѕќћћђѡ, Toulouse 1974, 159–164. Vіѣіюћђ Mђљљіћєѕќѓѓ-BќѢџєђџіђ, François de Sales. Un homme de lettres spirituelles, Genf 1999, ř27. Zitiert von Mќћѡђџ, De l’éveché à la Rome protestante (Anm. 108), 161; Fюѡіќ, Beza (Anm. 98), 274. Coexister dans l’intolérance. L’édit de Nantes (1598), études rassemblées par Mіѐѕђљ Gџюћёїђюћ, Genf 1998. GђіѠђћёќџѓ, Bèze (Anm. 95), ř99–402.
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ihres protestantischen Bekenntnisses wurde den Bewohnern unter Karl Emanuel verwehrt. Vor den Toren Genfs hatten die Bewohner unter Belagerungen und Plünderungen savoyischer und spanischer Truppen zu leiden, während die Versorgungslage in Genf immer prekärer wurde. Mittellose Réfugiés aus dem Umland und aus Savoyen vertriebene Pastoren suchten in Genf Zuflucht. Unter Anwendung militärischer Gewalt und mit Hilfe von Bestechung machte die Rekatholisierung von Chablais und Gex seit 1596 gute Fortschritte. Gespräche, die Franz von Sales mit dem 78jährigen Beza in Genf führte, um ihn zum Abfall zu bewegen, hatten, obwohl vergeblich, einen Propagandaeffekt, sind aber nur in katholischen Quellen überliefert. Im Oktober 1598 wurden die letzten reformierten Bewohner aus Chablais und Gex vertrieben.Ⱥ11ř In dieser Situation, als die Genfer sich isoliert fühlten und Beza die Errungenschaften der Reformation akut gefährdet sah, publizierte Johannes Jacomotus zwei eigene lateinische Bibeldramen, welche die unsichere Lage der reformierten Stadt mit der Situation der Israeliten im Alten Testament und der ersten Christen verglich. Die reformierte Minderheit wird von Jacomotus mit den von den Moabitern bedrohten IsraelitenȺ114 und den von der römischen Besatzungsmacht und den jüdischen Hohenpriestern bedrängten Christen, über die am Beispiel des Schicksals von Petrus und Paulus die Apostelgeschichte handelt, in Analogie gesetzt.Ⱥ115 In zwei Bänden mit meist lateinischen, manchmal französisch11ř Ebd., 40ř–408; Fџіђёџіѐѕ Wіљѕђљњ BюѢѡѧ, „Franz von Sales“, in: BBKL 2 (1990), 104– 108; Kюџљ SѢѠќ Fџюћј, „Franz v. Sales“, in: LThK 3 4 (1995), 52–54. Vgl. auch in Régistres de la Compagnie des pasteurs, Bd. 6 und 7 (Anm. 107) den Vorspann VII–X und VI–XI. 114 Ehvd, sive 7XUDQQRNWRYQR Tragoedia, Auctore Jќюћћђ Jюѐќњќѡќ Barrensi. Cum aliquot poematis Latinogallicis. Apvd Ioannem Tornaesivm, Genf 1597. Der Prätext ist Ri ř,12–ř1. Jacomotus schickt seiner Tragödie einige Übersetzungen französischer Gedichte voraus, die sich auf die protestantische Kirche in Frankreich und das Edikt von Nantes beziehen. „Ode de M. [Antoine de la Roche] de Chandieu, sur ses miseres des Eglises Fran³oises, qui ont esté si long temps persecutees. – Deploratio persequutionum, quibus Ecclesiae in regno Gallico reformatae fuerunt multis annis vexatae“; „Cantique, sur la paix donne aux Fran³ois l’an 1598, par la prouesse & vaillance de Henry III Roy de France & de Nauarre. 1598“ (62–84 und 84–101). Vgl. Iџђћђ Dіћєђљ, „Antoine de la Roche Chandieu“, in: RGG 4 2 (1999), 100. 115 Agrippa Ecclesiomastix. Tragoedia Auctore Iќюћћђ Iюѐќњќѡќ Barrensi, Genf 1597. Das Argumentum stammt aus Apg 12,1–19 und wird von Jacomotus zusammengefaßt: „Sathanas impatientissime ferens Christi regnum ministerio Apostolorum vbique propagari, animum Summi Pontificis Ierosolymitani extimulat: Qui ex totius Synedrij sententia Herodem Agrippam Iudaeae regem rogat vt illos omnes e medio tollendos curet, quicunque Christi nomen inuocabant. Rege vero sentiente, a primariis Christianae religionis Antistitibus initium fieri, Jacobus frater Ioannis causa pro tribunali regio dicta summo supplicio afficitur: Petrus autem in carcerem coniectus liberatus ab Angelo coelitus misso. Quod miraculum Rex obscurare conatur caesis custodibus, quasi se passi essent muneribus corrumpi [erweitert Apg 12,19].“
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lateinischen Gelegenheitsgedichten werden Jaquemots Beziehungen zu französischen Hugenotten und zum Umkreis des französischen Königs Heinrich IV. sichtbar.Ⱥ116 Der lateinischen Fassung von Bezas Abrahamus sacrificans ist ein Brief Bezas an Johannes Jacomotus vom 1. Januar 1598 vorangestellt,Ⱥ117 in dem jener sein frühes Drama „ab exitu laetissimo“ als Comoedia charakterisiert, aber „ab argumenti sanctissimi grauitate“ als Tragoedia qualifiziert.Ⱥ118 Das Stück sei, wie ein Freund dem Autor berichtet habe, vom Publikum gut aufgenommen, in Frankreich mehrfach mit Erfolg aufgeführt und sogar in deutsche Verse übertragen worden.Ⱥ119 Der greise Beza war offenbar mit Jacomotus’ lateinischer Übersetzung einverstanden. Er ermunterte ihn sogar: „Adde, detrahe, immuta quidquid tibi videbitur”.
116 Musae Neocomenses, Genf 1597; Variorum poematium [!] liber. Avctore Iќюћћђ Iюѐќњќѡќ Barrensi, Lyon 1601 (Exemplar aus dem Besitz Johann Caspar Hagenbuchs [1700– 176ř] in der Zentralbibliothek Zürich). Nicht zugänglich waren mir JюѐќњќѡѢѠ, Lamentationes prophetae Jeremiae, variis lyricorum versuum generibus expressae, cum aliquot sacrae scripturae canticis, Genf 1591 (Exemplar in der HAB Wolfenbüttel). Jacquemot wird außerdem ein Chronicon Eucharisticum zugeschrieben, das eine poetische Relation der „Escalade“ enthält, des Versuchs von seiten des Herzogs von Savoyen und Piemont, Genf in einem Überraschungsangriff zu erobern, der aber erfolgreich von den im Glauben standhaften Genfern abgewehrt worden sei. JќюћћђѠ JюѐќњќѡѢѠ, Ob liberatam a perfidiosissima sceleratorum latronum coniuratione Genevam, Genf 160ř (Exemplar der HAB Wolfenbüttel). Mir war nur die deutsche Übersetzung zugänglich: Das schöne danckgesang Welches ein Stat Genff/ nach gegäbnem sig/ in der vfsätzlichen Mordnacht/ 12 XBR. Diß 1603. Jars gesungen hat. Vß dem latinischen Chronico Eucharistico I. Iacomoti in Tütsche Melody des 8. Psal. Amb. Lobwassers trüwlich vbersetzet (Exemplar der ZB Zürich). 117 Bezas Brief trägt die Unterschrift: „Geneuae ex Musaeo nostro Calendis Ianuarij anno vltimi illius temporis 1598 ineunte, qui vtinam piis & bonis omnibus felix illuxerit“ (in: TѕђќёќџѢѠ Bђѧю, Abraham sacrificans. Tragoedia Gallice […] olim edita, recens latine a Joanne Jacomoto conversa, Genf 1598 [Anm. 87]). Bezas Brief enthält keine Anspielungen auf die politische Lage. Nur in seinem Widmungsgedicht an den mährischen Adeligen Georg Sigismund Prakschicki von Zastrisell, einen gemeinsamen Schüler Bezas und Jacomotus’ an der Genfer Akademie, spricht Jacomotus von den uneinnehmbaren Felsen („rupes inaccessas“), auf denen die Genfer Kirche stehe („Et celsa PHOEBI templa PalvdioȦ Ducente gaudes visere, nil pauensȦ Rupes inaccessas & altiȦ Terrificas HELICONIS vmbras“). 118 TѕђќёќџѢѠ Bђѧю, Abraham sacrificans. Tragoedia Gallice […] olim edita, recens latine a Joanne Jacomoto conversa, Genf 1598 (Anm. 87), Widmungsbrief: „Theodorvs Beza Iohanni Iacomoto fratri ac symmystae suo charissimo, Gratiam & Pacem a domino.“ 119 Ebd. „Respondit ille [Zastrisellus] sic tamen istud & tum placuisse, & multis postea probatum, vt & in publicum prodierit, & multis Galliae locis magno cum applausu exhibitum, immo etiam non ita pridem, ab eruditissimo quodam Germanicis quoque numeris fuerit expressum“. Vgl. auch Anm. 97.
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Ihm sei auch die von Jacomotus beabsichtigte Akzentverschiebung zugunsten der ernsten, tragischen Szenen recht.Ⱥ120 Der Inhalt der Tragédie wird von Beza im Prolog zusammengefaßt: „Estranges passions“ seien zu sehen, die irdisch-weltlichen Ursprungs seien („La chair, le monde, et ses affections“) und nur durch den Glauben besiegt werden könnten.Ⱥ121 Die Handlung ist auf drei Akte aufgeteilt, die durch „pauses“ unterbrochen werden, in denen Abraham sich mit der Truppe der Hirten im Wechselgesang unterhält. Akt I endet mit der widersprüchlichen Reaktion Abrahams auf die Aufforderung des Engels. Zwar gelobt er schließlich Gehorsam, bekennt aber spontan, wie sehr ihm die Ausführung des Befehls zuwider sei und fragt zurück, durch welche Schuld er eine solche Kampferklärung – d. h. die drohende Zurücknahme der Verheißung – verdient habe. Im zweiten Teil hat Abraham die Aufgabe, die gemeinsame Reise vor Sara zu rechtfertigen, ohne sie über den Zweck zu informieren, und ihre Angst um Isaak mit der Ermahnung zu Gottvertrauen zu zerstreuen. Der dritte, ausführlichste Teil beginnt mit dem dritten Reisetag, als Isaak den Vater nach dem Opfertier fragt; zur selben Zeit bittet Sara Gott daheim um zusätzliche Kraft. Bevor Abraham den Sohn endlich über das Opfer aufklärt und sich anschickt, ihn zu schlachten, gerät er in eine Krise, auf deren Höhepunkt er das Schlachtmesser fallen läßt, während Isaak gebunden auf dem Altar liegt. Die Tragödie schließt nach der Erneuerung der Verheißung durch den Engel, ohne daß die Erscheinung des Widders im Gebüsch kommentiert wird. Abraham, Isaak und Sara reagieren psychologisch verständlich auf Gottes tentatio. Sie äußern Zweifel, Abneigung, Bestürzung und Trauer, überwinden ihre Vorbehalte aber, indem sie alles Gott anheimstellen. Die Zuschauer erfahren nicht, woher ihre plötzliche Bereitschaft zur Selbstüberwindung rührt oder was genau ihnen die Kraft dazu gibt. Interpreten haben Bezas „Rhetorik der simplicitas“ hervorgehoben,Ⱥ122 die dem Ernst der Situation gerecht wird. Beza verzichtet auf burleske Szenen, wie sie für die spätmittelalterlichen Bibelspiele charakteristisch
120 Ebd.: „[…] & mihi quidem certe tum demum ista non displicuerint, si meum illum Abrahamum cum socculis meis prodeuntem, tu cothurnatum gradientem produxeris, & haec non mea, sed tua potiùs apparuerint.” 121 Bђѧю, Abraham sacrifiant (Anm. 67), 57. Calvin spielt vielleicht auf diese Stelle in seinem Kommentar zu Gen 22,1 an: „Nec illi certamen erat cum carnis passionibus, sed quum totum se addicere Deo cuperet, ipsa eum pietas et religio huc illuc distrahebat“ (Cюљѣіћ, Commentarius [Anm. 64], ř11). 122 CюњђџќћȦHюљљȦHієњюћ, Introduction (Anm. 67), ř5 und mit dem treffenden Hinweis auf Eџіѐѕ AѢђџяюѐѕs Beobachtung der Lückenhaftigkeit der Erzählung (vgl. Anm. 1) auch BќѠѡ, La mise en scène (Anm. 6ř), 551.
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waren,Ⱥ12ř und vermeidet es, Abraham zum Kommentator seines Handelns zu machen. Beza hat in einer Reihe von Exklamationen (v. 8řř. 845. 885. 9ř0. 9ř9 und 949: „A a a a“, „hélas“ und „mon Dieu“), während welcher das stumme Spiel den Zuschauern Aufschluß über das, was passiert, geben muß, auf anrührende Weise ein Stilmerkmal des biblischen Berichts umgesetzt, das nach Gregors Beobachtung im kurzen Dialog in Erscheinung tritt (Gen 22,7), von Luther und Calvin jedoch eher mit polemischem Bezug auf die Praxis der heidnisch-antiken Beredsamkeit hervorgehoben wird:Ⱥ124 Was Gott fordert und was sich auf der Bühne vollzieht, ist nicht ausdrückbar, ein ineffabile. Die widersprüchlichen Gefühle Abrahams und Isaaks vor und nach dem Opfer lassen sich nicht in Worte fassen. Der Schmerz Saras beim Abschied von Vater und Sohn, der Kummer Abrahams, als er Isaak gestehen muß, daß Gott sein Opfer verlange, das fassungslose Entsetzen, mit dem der Sohn auf die Nachricht reagiert, und das unfaßbare Glück, das Vater und Sohn überströmt, als der Engel des Herrn den tödlichen Hieb verhindert, all diese Emotionen verlangen das stumme Spiel, weil sie die Ausdrucksfähigkeit der Figuren übersteigen. Schlichte Ausrufe künden von Emotionen mehr denn eloquente Selbstreflexionen. Als sich Isaak ins Unvermeidliche fügt, seinen Widerstand aufgibt und sich vom störrischen Kind zum erwachsenen Gläubigen wandelt, stammelt Abraham (v. 885f.): A a a a, et qu’est-ce, et qu’est cecy? Miséricorde, o Dieu, par ta mercy.
Abraham küßt Isaak, dann bittet er ihn um Entschuldigung, daß er ihn – allein aus Gehorsam – töten müsse. Als er schließlich seine schwache Hand mit dem Messer anspricht (v. 927f.), entfällt es ihm. Or est-il temps, ma main, que t’esvertues, Et qu’en frappant mon seul filz, tu me tues. (Ici le cousteau luy tombe des mains).
Hierfür lieferte Beza vielleicht Zwinglis Beobachtung das Vorbild, wonach Abraham übermenschliche Willenskraft aufwenden mußte, um seine Hände, die ihm am liebsten ihren Dienst versagt hätten, zum Gewaltstreich zu zwingen.Ⱥ125
12ř Dazu PђџџђєюѢѥ, Théodore de Bèze (Anm. 91), ř9–42. 124 LѢѡѕђџ, WA 4ř,216,11f.; Cюљѣіћ, Commentarius (Anm. 64), ř17 (s. oben Anm. 71). 125 ZѤіћєљі, Farrago, 1527 (Anm. řř), 249: „Nonne debebant concidere brachia ? Nonne cadere debuit exanimis Abraham?“ ZѤіћєљі, Farrago, 18ř5, 101 (s. Anm. 47 und den dortigen Verweis auf Gregor von Nyssa).
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Jacomotus’ Tragödie ist länger und wortreicher.Ⱥ126 Er erweitert die dramatische actio um die Vorgeschichte von Saras ganz unwahrscheinlicher Mutterschaft.Ⱥ127 Sara klärt die Zuschauer im ersten Akt ausführlich über ihr spätes Mutterglück auf. Auch Abraham hält im zweiten Akt die Geburt Isaaks für ein Wunder und betont, wie wichtig eine gute Erziehung sei, um ihn vor Verderben zu schützen. Er und Sara äußern ihre Freude über den wohlgeratenen Sohn, den Träger der göttlichen Verheißung, und danken Gott. Die Stimme, die Abraham den Auftrag zur Tötung Isaaks erteilt, ertönt am Ende des zweiten Aktes. Jacomotus hat Abrahams Widerspruch (v. 290–ř04) um fünf auf 20 Verse erweitert. Am Anfang und am Ende dieser 20 Verse erklärt sich Abraham aber bereit, dem Befehl Folge zu leisten, weil er weiß, daß wahrer Glaube sich im Gehorsam erweisen muß. Der dritte Akt wird durch das Streitgespräch zwischen Abraham und Sara beherrscht, die sich nicht so schnell fügt wie bei Beza, sondern in ihrer mütterlichen Besorgnis eher Gregors fiktiver Sara ähnelt. Im vierten Akt, der Abraham und Isaak alleine auf dem Berg Morija vorführt, kommentiert Abraham ausführlich seine emotionalen und körperlichen Zustände. Abraham beobachtet in der Szene vor dem Vollzug des Schlachtopfers sich selbst: Heu heu! Tremor quid ima rursus viscera Pulsat recurrens? Quid fremunt praecordia, Haeretque lingua faucibus?, meum alloqui Quum conor Isacum?Ⱥ128
Auch Isaaks Reden sind in Jacomotus’ viertem Akt beinahe doppelt so lang wie in Bezas Tragödie. Isaak findet, obwohl Abrahams Offenbarung ihn zuerst überwältigt, alsbald die Kraft, mehrmals inbrünstig und wortreich zu seinem Schöpfer zu beten und seinem zunehmend gehemmten Vater Mut zuzusprechen. Von Abraham hören wir bei Jacomotus, wie er das Opfer vorbereitet und dabei zittert und bangt. 126 Raymond Lebègues abschätzigem Urteil über Jacomotus’ Stil vermag ich mich nicht anzuschließen. Seine lateinischen Verse sind kunstvoll. Abrahams, Saras und Isaaks Emotionen gibt er plastisch wieder, was in meiner Gegenüberstellung ausgewählter Passagen aus diesem lateinischen Text mit Bezas französischem Original deutlich werden soll. LђяѽєѢђ, La tragédie religieuse (Anm. 9ř), ř1ř. 127 Vielleicht schlägt sich darin ein Einfluß Gregors nieder. Aber auch Calvin geht in seinem Genesiskommentar, der erst nach Bezas Tragödie publiziert wurde, auf die Entbehrungen im Exil ein, die Abraham schon hinter sich hatte, als Gott ihn abermals und härter als je zuvor versuchte (Cюљѣіћ, Commentarius [Anm. 64], ř10f.). 128 JюѐќњќѡѢѠ, Abrahamus sacrificans (Anm. 117), 29v. Übersetzung: „Weh, o weh! Wie kommt der Schauder abermals wieder und greift mein Innerstes an! Wie zittert das Herz, versagt mir die Sprache, wenn ich meinen Isaak anzusprechen versuche!“
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Regieanweisungen fehlen.Ⱥ129 Was Beza in die Regieanweisung verlegt, bringt Jacomotus in Form einer pathetischen Apostrophe. Als Abraham zum Schlag ausholen will, redet er seine Rechte an: „Ach, zitterst du? Schreckst Du davor zurück, mit dem rasenden Schwert deinen Sohn auszulöschen?“Ⱥ1ř0 Als Isaak ihm Mut zuspricht, beschwört Abraham abermals seine Hand: „Wag’s beherzt, meine Rechte, was zögerst du?“Ⱥ1ř1 In diesem Augenblick ruft ihn der Engel an. Jacomotus hat Abrahams und Isaaks schlichten Ausruf „O Dieu! O Dieu!“ durch ein Gotteslob ersetzt und fügt Abrahams Erklärung hinzu, daß Isaak nun, von Banden befreit, lernen werde, Gott zu vertrauen, während der Sohn Gott dafür dankt, daß er ihm, dem Todgeweihten, das Leben wiedergeschenkt habe, und ihn auch künftig um seinen Beistand bittet, ihm zu gehorchen. Abraham. O sancte parens, quid audio? Quibus precor, Tuum perenne laudibus veham decus. Istis solutus ergo vinculis, Patri, Mecum supremo, nate, disces fidere. Isacvs. Te laudo, cuncta qui Deus potens regis:Ⱥ1ř2 Qui me petentem mortis inferas domos [vgl. Hi 17,1ř; Ps 116,ř] Vitae redonas, fac tuos lubens sequar Vbique ductus, teque fac solum inuocem.Ⱥ1řř
Die Elemente, die in Gregors Oratio zu einem tieferen emotionalen Verständnis der existentiellen Situation der tentatio führen, hat Beza mit Geschick szenisch umgesetzt. Jacomotus vertieft die theologische Problematik der tentatio, indem er aus Abrahams und Saras Perspektive stärker den Kontrast zwischen dem vergangenen Familienglück und der Gefahr seiner Zerstörung hervorhebt und die Widerstandskräfte, die Gregor mit den natürlichen Neigungen der Eltern erklärt hat, verstärkt.
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Ebd., ř2v. Ebd.: „Heu, heu trepidas ? & saeuienti extinguereȦ Horrescis ense filium ?“ Ebd., ř2v: „Immitis aude dextra, quid moras trahis ?“ Diese Zeile kehrt 1680 bei Joachim Neander (1650–1680) fast wörtlich übersetzt wieder: „Lobe den Herrn, der alles so herrlich regieret“ (EG ř17,2). Die Anlehnung an Jacomotus wird dadurch gesichert, daß Neander ausdrücklich auf Isaak anspielt: „lobe mit Abrahams Samen“ (EG ř17,5), der ja bei Jacomotus dieses Lob ausspricht (Hinweis von Theodor Mahlmann). 1řř JюѐќњќѡѢѠ, Abrahamus sacrificans (Anm. 117), fol. řřr. Übersetzung: „Abraham: O heiliger Vater! Was höre ich? Ich gelobe: mit Lob will ich deinen ewigwährenden Ruhm erheben! Da du nun, mein Sohn, von diesen Fesseln befreit bist, wirst du mit mir lernen, dem höchsten Vater zu vertrauen. – Isaak: Dich, Gott, der du alles mächtig regierst, lobe ich: Du, der du mich, der schon zu den Häusern der Unterwelt eilte, dem Leben wieder schenkst, mache, daß ich freiwillig überall deinen Anweisungen folge und dich allein anrufe!“
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Je gelehrter die Dialoge sind, umso mehr geht aber ihre emotionale Appellkraft verloren. In seinem ersten Monolog richtet sich Abraham an Gott und erinnert sich an die früheren Stationen seines Exils (v. 49–78). Hier präsentiert sich Abraham als ein von Gott Ausgezeichneter und schwer Geprüfter zugleich. Der Erzvater findet sein Schicksal seit Verlassen seiner Heimat, wo Gott nicht verehrt werde, riskant und beklagenswert. Beza lädt gleich hier die Schauspieler und Zuschauer in Lausanne, die zum großen Teil Glaubensflüchtlinge waren, zur Identifikation mit seinem Abraham ein,Ⱥ1ř4 konnten sie doch nachvollziehen, was es bedeutete, wie Abraham es rückblickend schilderte, nur um Gott zu dienen, Heimat, Familie und Besitz zu verlassen.Ⱥ1ř5 Abrahams Bereitschaft, in Situationen, die nach menschlichem Ermessen riskant sind, allein Gott zu vertrauen, ist aufgrund seiner Erfahrungen in Ägypten und im erst zu besiedelnden Südland, besonders aber seit seiner Trennung von Lot (Gen 12f.) mehrfach auf die Probe gestellt worden. Dieser Abraham hat zwar Gott zuliebe die Heimat verlassen, wo falsche Götter verehrt werden, ist aber durch die vergangenen Prüfungen in Ägypten geschwächt. Noch hält er, im Gedenken an Gottes Wohltaten, an seinem Glauben am Eintreffen des Verheißenen fest, obwohl das in Aussicht gestellte Land längst nicht in Sicht ist und er um die Sicherheit seines einzigen Sohnes bangt (v. 15ř–164 und 180–188). Im Bewußtsein, daß auf Isaak das Gewicht des göttlichen Versprechens ruht, ist Abraham besorgt um das Wohl des Sohnes und empfiehlt es auch Sara. Da ist Satan zur Stelle, im Gewand eines Mönchs, und erhebt Anspruch auf die irdische Herrschaft. Zwar weiß er, daß Gott Abraham durch sein Versprechen ausgezeichnet hat, aber was nütze ihm seine Hoffnung auf Erfüllung, wenn es ihm an „ferme perseverance“ fehle und seine „asseurance“ schwinde (v. 259–262)? Die Funktion der Stimme der Natur und des gesunden, auf das irdische Wohl konzentrierten Menschenverstands schreibt Beza Satan zu, der ein unüberwindlicher 1ř4 Diese captatio benevolentiae an seine Zuschauer heben alle modernen Interpreten von Bezas Tragédie hervor, z. B. VѢіљљђѢњіђџ, Histoire (Anm. 94), I, 479; SюѦќѢѠ, Etudes (Anm. 9ř), Bd. 1, 280. 28ř; GђіѠђћёќџѓ, Bèze (Anm. 95), 52; CюњђџќћȦHюљљȦ Hієњюћ, Bèze, Abraham sacrifiant (Anm. 67), 17; MюџєѢѼџіѡђ SќѢљіѼ, „Le théàtre et la Bible au XVIe siècle“, in: Le temps des Réformes et la Bible, hg. v. GѢѦ BђёќѢђљљђȦ Bђџћюџё RќѢѠѠђљ, Paris 1989, 642f.; BќѠѡ, La mise en scène (Anm. 6ř), 550. 560. 1ř5 Der Untertitel des Schauspiels in einem Lyoner Druck, der undatiert ist, aber zwischen 155ř und 1561 zu datieren wäre, spielt auf die Bedeutung der Abraham-Handlung für die Glaubensflüchtlinge an: „Tragédie fran³aise à tout chrétien pour trouver consolation au temps de tribulation et d’adversité“ (Bђѧю, Abraham sacrifiant [Anm. 67], das Titelblatt auf S. 4ř, s. im textkritischen Apparat die Variante zum Titel der Erstausgabe).
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Herrscher zu sein wähnt und sich damit brüstet, daß diejenigen, die selbst Machtfunktionen ausüben, als Lasterknechte besonders abhängig von ihm seien. Zu seinem Reich gehören weltliche und geistliche Herrscher. Seit dem Fall der ersten Menschen übt Satan sein Métier aus. Er will Gott, dessen Autorität im Himmel er durchaus anerkennt, auf Erden die Herrschaft abspenstig machen. Satan gründet sein Selbstbewußtsein auf die Erfahrungstatsache, daß sich Gott mit ihm die Herrschaft teile und ihm, dem Teufel, die Vollmacht gebe, die Menschen zu verführen und Götter zu erschaffen. Beza, v. 201–210
Jacomotus, fol. 12v–13r
Sathan. Dieu est aux cieux par les siens honoré: Des miens je suis en la terre adoré,
Sathan. Non vllus orbe cernitur toto locus, Quem non pererrans vsque lustrem, nec labor Nec cura lassat inquies, dum cogere Mortale quaero sub meum iugum genus. Fulgente Olympo regna seruent Caelites: Modo suum me terra principem colat. Coelo phalanges Angelorum promptius Dei capessant iussa summi, dum meis Subiecta tellus imperiis parens tremat. Dieu est au ciel: et bien, je suis en terre. Coelo Deus sedet, solum solus rego. Dieu fait la paix, et moy je fais la guerre. Est ille pacis auctor, bella concito. Dieu regne en hault; et bien, je regne en bas, Illi vnio concors placet, mihi iurgia. Dieu faict la paix, et je fais les debas. Forti creauit ille cuncta Numine: Dieu a creé et la terre et les cieux: Maiora praesto quum Deos plures creem. J’ay bien plus faict; car j’ay creé les dieux. Coelo corusca luce fulgidi nitent, Dieu est servy de ses Anges luisans, Altumque circumstant Dei thronum Ne sonst aussi mes Anges relusans? Alites: At purpurata turba seruorum est mihi, Queis ora rubra clarius gemmis micant, Auroque quod rutilis probatur ignibus.1ř6
Allein Abraham wage es, ihm den Krieg zu erklären (v. 247). Satan aber glaubt, bei dem Alten leichtes Spiel zu haben, ebenso bei Sara, einer 1ř6 Übersetzung: „Kein Ort ist auf der ganzen Erde, den ich nicht auf meinen Streifzügen aufsuche! Weder Mühe noch unruhige Sorge ermüdet mich, wenn ich das Geschlecht der Sterblichen unter mein Joch zu zwingen suche. Mögen die Götter im glänzenden Olymp ihre Herrschaft wahren: wenn mich nur die Erde als ihren Herrscher ehrt! Mögen im Himmel die Heerscharen der Engel ganz bereitwillig die Befehle des höchsten Gottes empfangen: Wenn nur das meinem Befehl unterworfene Erdreich mir zitternd gehorcht! Im Himmel residiert Gott – ich allein regiere die Erde! Er ist der Urheber des Friedens – ich zettele die Kriege an! Ihm gefällt treuliche Eintracht – mir der Streit! Mit seinem starken göttlichen Wesen hat er alles geschaffen. Größeres vollbringe ich, wenn ich mehrere Götter schaffe. Blitzend glänzen sie am Himmel im schimmernden Licht, und den hohen Gottesthron umstehen die En-
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schwachen Frau, und nachdem ihm schon Ismael zugefallen sei, werde ihm Isaak wohl auch nicht entgehen, obwohl sich seine Eltern, wie Jacomotus hinzufügt, mit seiner Erziehung so große Mühe geben. Beza, v. 246–268
Jacomotus, fol. 14r–16r
Nunc aggredi Abramum paro: solus mihi Nam bella mouere cum suis audet: Iam saepe sum frustra illum adortus, nam meis Resistit vsque fortior conatibus. Parere sed quò pertinaciùs senex Recusat, eo ferocius lacessere Subinde pergam, donec oppressus cadat Datisque supplex obsequatur legibus. Sic crebro ariete pulsa tandem moenia Turresque corruunt, & assiduo impetu Torrentis vndae, adesa moles mergitur. Vray est qu’il a au vray Dieu sa fiance, Fouet quidem Abramum Deus, atque Vray est qu’il a du vray Dieu l’alliance, pluribus Vray est que Dieu luy a promis merveilles, Augere bonis pergit meliora posteris Et desja fait des choses nompareilles: Annis daturum pollicitus, & foedere Hunc secum amico iunxit: at Deus sua Si dicta mutet, ecce mox ruet miser Abramus: illi nil fides, nec viuida Prodesse quicquam spes poterit, ni manserit Idem per omne tempus, & immotus velut Mais quoy? S’il n’a ferme perseverance, Rupes medio aequore quam procella Que je rompray l’asseurance qu’il a. verberat. De deux enfans qu’il a, l’un je ne crains: Cunctas sed explicabo fraudes ilicet, L’autre à grand’ peine eschappera mes Illius vt subacta corruat fides. mains: Duos habet ecce liberos, alter meis Iam paret vltro nutibus: vix retia La mere est femme: et quant aux serviteurs,Vitabit alter tensa, quamuis optimis Illum parentes artibus forment. Sara Sont simples gens, sont bien povres paMox fracta rebus asperis dabit manus. steurs Imbellis iste sexus, & constans parum Bien peu rusez encontre mes cautelles. Vernaeque vilis turba, quae pascit pectus Gregesque Abrami, scilicet repellere Meos valebit impetus, & abditas Cauere fraudes1ř7. Mais maintenant assaillir je pretens Un Abraham, lequel seul sur la terre Avec les siens, m’ose faire la guerre. De faict, je l’ay maintes fois assailli, Mais j’ay tousjours à mon vouloir failli: Et ne veis onc vieillard mieux resistant. Mais il aura des assaults tant et tant, Qu’en brief sera, au moins comme j’espere, du rang de ceux desquels je suis le pere.
gel. Ich aber habe eine purpurne Schar von Dienern, denen die roten Visagen greller als Perlen und Gold glänzen, das im Feuer geläutert wird.“ Als „fulgida stella“ wird in einem Gedicht, das in Johann Jacob Wicks Zürcher Nachrichtensammlung enthalten ist, der Komet vom Herbst 1577 bezeichnet. Vgl. Jќѕюћћ Jюѐќя Wіѐј, Das XV. Buoch begryfft die Nüwen Zyttungen Wunder vnd Zeichen die sich in disem 1577. Jar zuo getragen vnd verloffen habennd (Zürich, ZB: Ms. F 26, fol. 216a). Die purpurata turba der Kardinäle als servi des Teufels ist ein beliebter Topos reformatorischer Polemik.
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Dieser Satan stellt sich also die Ausgangslage so vor wie im Prolog zum Buch Hiob, wo er mit Gott verhandelt und von ihm die Erlaubnis bekommt, auf diesen Gottesknecht zeitlebens einwirken zu dürfen. Bei Jacomotus erkennt der Teufel, welche Chance sich ihm durch Gottes tentatio bietet, Abraham zu verführen. In der Tragédie und der lateinischen Version ergeht sich Satan in langen, selbstgefälligen Monologen an das Publikum. In der lateinischen Version ist er geradezu geschwätzig. Sein göttlicher Gegenspieler erscheint nur vermittels des Engels. Als dieser Abraham die göttliche Anordnung überbringt, er solle Gott seinen geliebten, einziggeborenen Sohn an einem Ort, den Gott ihm nennen werde, zum Brandopfer darbringen, reagiert Abraham zwiespältig: Er gelobt Gehorsam, bittet aber um Entschuldigung, wenn ihm „ceste nouvelleȦ Me semble fascheuse et nouvelle“, und fleht um die nötige Kraft (la vertu), den widerwärtigen Befehl zu vollziehen (v. 290– 295). Im lateinischen Text stellt Abraham seinen physischen Widerwillen fest und zweifelt an der nötigen Körperkraft.
1ř7 Übersetzung: „Jetzt schicke ich mich an, Abraham anzugreifen, denn er allein mit den Seinen wagt mir den Krieg zu erklären. Schon oft habe ich ihn vergeblich attakkiert, denn um so tapferer widersteht er meinen Versuchen. Aber je hartnäckiger der Greis mir zu gehorchen sich weigert, um so heftiger will ich fortfahren, ihn ständig zu quälen, bis er niedergedrückt fällt und flehend den Gesetzen, die ich gegeben habe, gehorcht. So fallen ja auch, häufig mit dem Rammbock berannt, Mauern und Türme, und der Fels versinkt, von der unermüdlichen Wucht der brausenden Welle verzehrt. Zwar ist Gott Abraham gnädig und fährt fort, sein Gut immer weiter zu mehren; er hat ihm versprochen, ihm später noch Besseres zu geben und sich ihn als Freund durch einen Bund verbunden. Aber wenn Gott seine Zusagen ändert, ja dann wird der arme Abraham bald fallen. Ihm wird weder der Glaube noch die lebendige Hoffnung etwas nützen können, wenn er nicht derselbe bleibt zu jeder Zeit und unbewegt wie ein Fels mitten im Meer, den der Sturm peitscht. Aber ich werde ihm gleich den ganzen Betrug erklären, damit sein Glaube unterliegt und fällt. Er hat ja zwei Kinder. Der eine von beiden gehorcht freiwillig schon meiner Weisung – kaum wird der andere meinen ausgespannten Netzen entgehen, obschon ihn die Eltern in den besten Künsten unterrichten. Sara wird bald, vom Unglück vernichtet, mir die Hand reichen. Schwach ist ihr Geschlecht und zu wenig beständig die kümmerliche Schar der Haussklaven, die Abrahams Herden weidet, unvermögend nämlich, meine Angriffe abzuwehren und sich vor verborgenen Listen zu hüten.“
ř58 Beza, v. 290–304 Brusler! Brusler! Je le feray. Mais, mon dieu, si ceste nouvelle Me semble facheuse et nouvelle, Seigneur, me pardonneras tu? Helas, donne moy la vertu D’accomplir ce commandement. Ha bien cognoy-je ouvertement Qu’envers moy tu es courroucé. Las Seigneur, je t’ay offencé. O dieu qui as faict ciel et terre, A qui veux tu faire la guerre? Me veux tu donc mettre si bas? Helas mon filz, helas, helas! Par quel bout doy-je commencer? La chose vault bien le penser.
Barbara Mahlmann Jacomotus, fol. 15r O summe rector, imperas meum tibi Cremari Isaacum! Promptus obsequar tuis Iussis: sed, ô faue benignus, & meo Rebelliones pelle cunctas pectore: Et talibus attonitam imperiis mentem erige: Nam mihi per ossa currit ima languidus Tremor, labantque genua. Robur annue, Quod nulla vincat irruens tentatio. Fac me tuis parere iussis ocyus. Quod quaeso, nostrum crimen inflammat, Deus, Tuos furores? Bella quae miseri mihi Inferre paras, tremende rerum conditor? Quid? filium vnicum senis tremula manu Parentis imperas iugulari, & ignibus Funestam aduri victimam? Fateor, potens Orbis dominator, me meis poenis graues Culpis mereri: parce, nec suo, precor, meam Orbare senectutem velis solatio. Sed, quid queror? Sunt recta cuncta quae iubes Parere semper vera tibi debet fides.1ř8
Die Bedenken gegen den himmlischen Befehl, die Gregor einem beliebigen Vater in den Mund legt, äußert Bezas Abraham unter dem Einfluß Satans. Abraham bekundet zwar mehrfach seinen Gottesgehorsam, aber in den Einwänden gegen den göttlichen Befehl offenbart sich sein Vaterherz. Fortan muß er einen harten Kampf mit seinem teuflischen Widersacher bestehen, der ihm nach Morija folgt. Abwechselnd repräsentiert dieser Satan die Stimme der Vernunft, die sich gegen den irrationalen Befehl richtet, und die der natürlichen Neigung, die sich an Gottes Härte stößt. Er glaubt, sein Spiel fast gewonnen zu haben, als Isaak die Frage nach dem Opfertier stellt und Abraham zögert, ihm die Wahrheit zu sagen. Satan übernimmt hier genau die von Zwingli charakterisierte
1ř8 Übersetzung: „O Höchster Lenker, du gebietest, dir meinen Isaak zu verbrennen! Bereitwillig will ich deinen Befehlen folgen, aber, o Gütiger, gewähre mir Gnade und treib aus meinen Herzen allen Aufstand! Und richte meinen durch solche Befehle erschütterten Sinn auf! Denn mir fährt ins innerste Gebein das ermattende Zittern und wanken die Knie. Gewähre mir Kraft, damit keine Versuchung, die mich überfällt, siege! Mach, daß ich deinen Befehlen sofort gehorche! Wie, wenn unser Verbrechen deinen Zorn, o Gott, entflammt? Zu welchen Kriegserklärungen an mich Armen bist du, schrecklicher Schöpfer der Dinge, bereit? Wie? Den einzigen Sohn des greisen Vaters befiehlst du mit zitternder Hand zu schlachten und als unseliges Opfer im Feuer zu verbrennen? Ich gestehe, mächtiger Herrscher der Welt, daß ich wegen meiner Schuld schwere Strafe verdiene. Verschone mich! Mögest du es nicht wollen, mein Alter seines Trostes zu berauben. Aber wozu beklage ich mich? Alles ist recht, was du befiehlst. Der wahre Glaube ist verpflichtet, dir immer zu gehorchen.“
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Rolle des Betrügers, der in Abraham das Mißtrauen gegen die göttliche Stimme schürt und sich an Gottes Stelle in sein Herz schleichen will, um ihn vom Vollzug des Opfers abzubringen. Mit Isaak allein in der gebirgigen Wildnis, ist Abraham den bohrenden Selbstzweifeln ausgesetzt, die Satan verstärkt und manchmal auch schürt, so daß der Erzvater in diesem Kampf zu erliegen droht. Nur vor Sara und den Hirten tritt Abraham mit der Autorität des von Gott ausgezeichneten Stammvaters auf und macht sich zum Anwalt der wunderbaren, unbegreiflichen Allmacht Gottes. Beza konfrontiert Abraham im zweiten Akt mit einer von schlimmen Vorahnungen geplagten Mutter. Sie versucht sein Geheimnis zu erforschen, wogegen Abraham an das nötige Gottvertrauen appelliert. Nicht ganz so vehement wie Gregors fiktive Sara, die von Abraham leichtsinnigerweise ins Vertrauen gezogen worden ist, wehrt sich Bezas Mutterfigur dagegen, Isaak fortzulassen. Aus Furcht, Isaak könnte auf der Reise sterben, beschwört sie Abraham, ohne Rücksicht auf die Worte des Engels, das Opfer doch daheim zu vollziehen. In den dritten Teil blendet Beza noch ein Gebet der verlassenen Sara ein, der die vergangenen drei Tage wie eine Ewigkeit vorkommen, und die um „force nouvelle,Ȧ Pour souffrir une peine telle“ (v. 699f.) bittet. Direkt danach hören wir, wie Abraham an der Opferstätte Gott sein Leid klagt und an Gottes Wesen zweifelt, da er sich in seinen Anordnungen anscheinend widerspreche (v. 705–711 und 71ř–725). Isaak wird im folgenden Zeuge des inneren Kampfes Abrahams gegen die Einflüsterungen Satans. Er bemerkt Abrahams Angst, erforscht ihre Ursache, und als der Vater ihm in v. 8ř6–840 offenbart, daß er zum Opfer ausersehen sei, protestiert er in drei Einwürfen. Als er merkt, daß dem Vater die Kraft zum sofortigen Vollzug des Opfers schwindet, überwindet der Jüngling jedoch seine Angst und spricht dem immer zaghafteren Vater Mut zu. In Bezas Drama verdient mehr als Abraham noch Isaak die Palme für seine besondere Standhaftigkeit, was der Vater, nachdem ihm das Messer aus den Händen gefallen ist (nach v. 928), staunend anerkennt: „En petit corps un esprit autant fort“ (v. 9ř7). Gegenüber Sara, Isaak und den Hirten tritt Abraham glaubensstark und prinzipienfest auf. Nur wenn er allein ist oder sich zum Gebet zurückzieht, wird er von Zweifeln überwältigt. Je vorbildlicher er als öffentliche, von Gott legitimierte und privilegierte Person auftritt, umso stärker fallen die Skrupel auf, mit denen er kämpft, sobald er allein ist. Beza und Jacomotus haben im zweiten Teil das Streitgespräch zwischen Abraham und Sara in kontrastreich pointierten Stichomythien wiedergegeben. Ähnlich wie in Gregors Oratio will Sara Isaak nicht fortlassen, weil sie um sein Leben bangt und im Todesfall das göttliche Versprechen für unerfüllbar hält. Vor der sorgenden Mutter spielt
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Abraham seine Rolle als Träger der Verheißung, der mit Jahwe in einem einzigartig engen Vertrauensverhältnis steht. Abraham wehrt mit heroischer Selbstüberwindung Saras Bedenken ab, die er jedoch in Bälde – in der Gebirgseinsamkeit und unbeobachtet – selbst, von Zweifeln gequält, wiederholen wird. Sara eröffnet ihre Einwände folgendermaßen: Beza, v. 433–463 Sara. Je vous pry ne vous esbair Si le cas bien fascheux je trouve. Abr. Au besoin le bon cueur s’esprouve. Sara. Il est vray: mais en premier lieu, Scachez donc le vouloir de Dieu. Nous avons cet enfant seulet Que est encores tout foiblet: Auquel gist toute l’asseurance De nostre si grande esperance.
Jacomotus, fol. 19r–20r
Sara. Ne, te precor, mirere, si mecum mihi Res angit ista pectus, atque longius Si terret iter, quod ingredi natum iubes. Abramus. In rebus aduersis suos Deus probat. Sara. Haec esse vera credo, sed priùs velim Te scire, tale si Deus quicquam imperet. Hunc natum habemus vnicum, & tenellulum Nostrae senectutis columen in quo sita est Beatitatis illius fiducia, quam rector arcis igneae potens tuis Promisit olim se daturum posteris. Abr. Mais en Dieu. Sara. Mais laissez moy Abr. Non in puero talis sita est fiducia, dire. Sed in Deo qui nescit vnquam fallere, Abr. Dieu se peult-il jamais desdire? Decreta nec mutare, quae semel suo Partant asseurée soyez Verax reclusit ore. Quare filio Que dieu le garde, et me croyez. Timere Isaco desine: hunc tuebitur Vbique summi Numinis certus favor. Sara. Mais Dieu veult-il qu’on le hazarde? Sara. Quid? Hunc Deus obiici periculis iubet? Abr. Hazardé n’est point qui Dieu garde. Abr. Tutante Deo nusquam est periculum Sara. Je me doubte de quelque cas. bonis. Abr. Quant à moy, je n’en doubte pas. Sara. Subesse quiddam huic suspicor negotio. Sara. C’est quelque entreprise secrette. Abr. At mens mihi nihil suspicatur anxia. Abr. Mais telle qu’elle est, Dieu l’a faicte. Sara. Arcana res est ista valde quam paras. Sara. Aumoins si vous scaviez ou c’est. Abra. Quaecunque sit tandem, illa sit Deo Abr. Bien tost le scauray si Dieu plaist. auspice. Sara. Il n’ira jamais jusques là. Sara. Sed quis locus sit iste nec scis, nec viam, Abr. Dieu pourvoira à tout cela. Abr. Iter Deus monstrabit, & locum mihi. Sara. Mais les chemins sont dangereux. Sara. Illuc tenellus ire non quibit puer. Abr. Qui meurt suyvant Dieu, est heureux. Abr. Hunc ducet, auctor & comes viae Deus. Sara. S’il meurt, nous voila demeurez. Sara. Sed plena multis sunt periculis loca. Abr. Les mots de Dieu sont asseurez. Abr. Pulchrum sequentem iussa Caelitum Sara. Mieux vault sacrifier icy. mori. Abr. Mais Dieu ne le veult pas ainsi. Sara. Erit senectus orba nostra si perit. Sara. Or sus, puis que faire le fault, Abr. Viuet beatus vsque qui moritur Deo. Je prie au grand Seigneur en hault, Sara. Hîc tutius iussas cremabis victimas. Monseigneur, que sa saincte grace Abr. Verum supero visum est aliter Diuum Tousjours compaignie vous face: patri. Adieu mon filz. Sara. Haec ergo si decreta sunt Coelestium Magno parenti, & ire tecum filium Vias perignotas tenellulum velit, Migrate securi fauore Numinis.1ř9
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In seiner Antwort auf Saras Einwände greift Abraham im französischen Text jeweils ein zentrales Wort Saras auf (hazarder, douter, entreprise secrette etc.) und gibt ihm eine andere Wendung, im Einklang mit Gottes Forderung. In den lateinischen Versen argumentiert Sara grundsätzlicher, indem sie an die Verheißung erinnert und in Isaak die lang ersehnte Stütze ihres Alters sieht, die sie (wie die rebellierende Sara in Gregors Oratio) nicht einfach preisgeben will. Sara zweifelt an der göttlichen Provenienz des Opferauftrags, weil die Tötung Isaaks die Einlösung des göttlichen Versprechens unmöglich zu machen droht. Daß Gott sein Versprechen auch auf andere Weise einlösen könnte als vermittels des Sohnes, ist für die Mutter unvorstellbar. Abraham belehrt sie, nicht auf Isaak zu vertrauen und nicht ihre Hoffnung auf ihn als Stütze ihres Alters zu setzen, sondern auf Gott, der seine Beschlüsse nie abändere. Sobald Abraham allein ist, droht jedoch seine Selbstdisziplin, die er gegenüber Sara an den Tag legte, zu kippen. Nachdem Isaak Abraham nach dem Opfertier gefragt hat, bleibt Satan beiden auf den Fersen, bis Abraham zum tödlichen Schlag ausholt. In der französischen Tragödie ist Satan aber nur Nachäffer Abrahams. Je näher er ihm rückt, je tiefer Abraham in die seelische Krise stürzt, umso weniger muß Satan selbst
1ř9 Übersetzung. „Sara. Wundere dich bitte nicht, wenn mir diese Reise das Herz abdrückt, und umso mehr, wenn der Weg, den der Junge auf dein Geheiß betritt, schrecklich ist. – Abr. Gott prüft die Seinen im Unglück. – Sara. Ich glaube, daß dies wahr ist, aber zuvor will ich, daß du erkennst, ob Gott etwas derartiges befiehlt. Wir haben diesen einzigen, noch kleinen Sohn, als Stütze unseres Alters. In ihm ist das Vertrauen auf unser Glück gegründet, das der mächtige Herr der Feuerburg deinen Nachkommen einst zu gewähren versprach. – Abr. Nicht auf den Knaben ist solches Vertrauen gegründet, sondern auf Gott, der nicht täuschen kann, seine Ratschlüsse nicht ändern, die er, der wahrhaftige, ein für allemal selbst zugesagt hat. Daher: hör auf, um deinen Sohn Isaak zu fürchten: den wird die sichere Gnade des höchsten Gottes überall schützen. – Sara. Wie? Ordnet Gott an, diesen Sohn Gefahren auszusetzen? – Abr. Unter göttlichem Schutz besteht für Gute keine Gefahr. – Sara. Ich habe den Verdacht, daß hinter diesem Auftrag etwas verborgen ist. – Abr. Mein ängstlicher Verstand meldet mir keinerlei Verdacht. – Sara. Dies ist ein riesengroßes Geheimnis, das du im Schilde führst. – Abraham. Gleich, was es ist, möge es so sein, wenn Gott es so vorgesehen hat. – Sara. Aber du weißt nicht, welcher der bestimmte Ort ist! Ebensowenig den Weg dorthin. – Abraham. Gott wird mir den Weg und den Ort zeigen. – Sara. Der zarte Knabe wird ihn nicht gehen können. – Abraham. Ihn wird Gott führen, Urheber und Wegbegleiter. – Sara. Aber voller vieler Gefahren sind die Gegenden. – Abraham. Es ist schön, für den, der die Befehle der Himmlischen befolgt, zu sterben. – Sara. Wenn Isaak dabei zugrundegeht, wird unser Alter einsam und verwaist sein. – Abraham. Der wird glücklich leben, der für Gott sogar stirbt. – Sara. Daheim wirst du sicherer die anbefohlenen Opfer verbrennen! – Abraham. Aber anders schien es dem höchsten Vater der Götter. – Sara. Wenn das also der Ratschluß des großen Vaters im Himmel ist und er will, daß der zarte Knabe völlig unbekannte Wege mit dir gehen soll – so geht, sicher durch Gottes Gnade.“
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reden. Er verstärkt echoartig mit kurzen spaßigen Kommentaren die Selbstzweifel, mit denen sich Abraham in Selbstgesprächen quält. Er gibt dem Erzvater diese Zweifelargumente jedoch nicht ein. Quält sich Abraham einmal ganz besonders, frohlockt Satan. Beschwört er aber Gottes Gnade, reagiert Satan frustriert. „Grace, ce mot n’est point en mon papier“ (v. 77ř). Als Abraham Gott um Erbarmen anfleht und seinem Sohn endlich das entsetzliche Geständnis macht, gibt sogar Satan zu, von Mitgefühl bewegt zu werden (v. 844). Als Isaak seinen Widerstand aufgegeben hat und sich dem Vater willig preisgibt, reagiert Satan mit Verblüffung: „Mais je vous pry, qui eust pensé cela?“ (v. 878). Und als Isaak sich binden läßt, sich dabei mit der Aussicht tröstet, daß Gott ihn kraft seiner Verheißung reicher Nachkommenschaft sein Hinscheiden wunderbar entgelten lassen werde, dann den Vater um Verzeihung für etwaige Vergehen bittet und Gott um Beistand seiner unglücklichen Mutter anfleht, gibt sich Satan endlich geschlagen: „Jamais, jamais enfant mieux ne parla.Ȧ Je suis confus, et fault que je m’en fuie“ (v. 906f.). In der lateinischen Version haben Satans Verse auf Morija den doppelten Umfang. Der Teufel läuft zu überdimensionaler, grotesker Form auf. Satans Funktion ist hier die eines Betrügers, der Abraham um die Verheißung und damit um den Jahwe-Bund bringen will. Er ist mehr als nur Echo-Affe. Alle Argumente, mit denen ein Mensch am göttlichen Opferbefehl zweifeln kann, trägt dieser Teufel vor. Er möchte Abraham diesen Befehl partout verdächtig machen. Mit den Einreden Satans und den Selbstgesprächen Abrahams in Anwesenheit des Teufels inszeniert Beza die Zweifel, die auch Gregor, Zwingli und Luther mit Rekurs auf Natur und Vernunft vorbringen. Jacomotus weitet diese Selbstzweifel aus, so daß bisweilen der Eindruck entsteht, er sei Opponent in einer Disputation über die Frage: Kann Gott die Schlachtung des Sohnes wollen? Die Zweifelargumente häufen sich und stürzen Abraham in eine Krise, die Geist und Körper lähmt. Nach Isaaks Frage (Gen 22,7) setzt Abraham unter Satans Einfluß zu seinem ersten Argument an. Kann denn Gott mit sich selbst uneins sein?
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Beza, v. 713–719
Jacomotus, fol. 26r–v
Abr. Comment? Comment? Se pourroit-il bien faire, Que Dieu dist l’un, et puis fist du contraire? Est-il trompeur? Si est-ce qu’il a mis En vray effect, ce qu’il m’avoit promis. Pourroit-il bien maintenant se dedire? Si fault-il bien ainsi conclure et dire, S’il veut ravoir le filz qu’il m’a donné.
Abr. Num dicta mutas quaeque sanxisti prius Decreta nunc refigis? An dispar tibi? Dubiusque mox promissa praestas, mox datam Fallis fidem? Dedisti Isacum qui meae Charum senectutis foret solatium. Nunc largiores abnuens vitae moras, Migrare terris ecce vix natum iubes Et immiserabilem trucidari fero Mucrone patris, & ignium rogis Crudelium tibi cremari victimam.140
Sogleich stockt aber Abrahams Rede, denn ihm kommt zu Bewußtsein, daß er dabei ist, mit Gott nach menschlichem Ermessen rechten zu wollen. Als „croyant idéal“ und „élu“ besinnt er sich auf seine Pflicht, Gott zu gehorchen, denn einem armem Sünder stehe es nicht zu, Gottes geheime Ratschlüsse zu ergründen (v. 720–724).Ⱥ141 Der Teufel ist frustriert: „Mon cas va mal“ (v. 725). In der lateinischen Fassung ereifert sich Satan über Abrahams Widerstandskraft gegen seine „tentationis impetus saeuos“ und setzt sogleich noch ein Argument nach – dies fehlt bei Beza. Mit seinen widersprüchlichen Anordnungen unterminiere Gott den Glauben aller künftigen Geschlechter! Einem solchen Gott könnte kein vernünftiger Mensch glauben! Sathan. Quid? Ergo primae vicit ille fortior Tentationis impetus saeuos, licet Vix inueniri possit vlla durior? Nam, quaeso, secum si deus pugnantia Edicat, aut sententias mutet suas. Quis crediderit Deum esse? Quis tali Deo Fidat. Sed altera nunc aggrediar illum via.Ⱥ142
140 Übersetzung: „Abraham. Änderst du etwa deine Anweisungen, die du vormals festgesetzt hast? Widerrufst du jetzt deine Ratschlüsse? Bist dir ungleich? Stellst das Verheißene so bald in Frage, brichst so bald das gegebene Versprechen? Du hast mir Isaak als lieben Trost des Alters gegeben. Nun brichst du ein längeres Leben ab, befiehlst du doch, der gerade Geborene solle die Erde verlassen, ihn erbarmungslos mit dem grausamen Schwert des Vaters zu schlachten und für dich als Opfer auf dem grausam lodernden Scheiterhaufen zu verbrennen.“ 141 BќѠѡ, La mise en scène (Anm. 6ř), 548. 142 Übersetzung: „Satan. Wie? Hat er mit großer Kraft die wütenden Attacken meiner ersten Versuchung besiegt, obwohl eine härtere kaum erfunden werden kann? Wenn Gott nämlich mit sich Widerstreitendes verkündet oder seine Urteile abändert, wer könnte denn bitte noch an seine Existenz glauben? Wer könnte einem solchen Gott vertrauen? Nun aber will ich ihn auf einer anderen Schiene attackieren.“
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Es könnte ja sein, daß mich ein Traum oder ein böser Engel mit dieser fixen Idee, Isaak schlachten zu müssen, in die Irre führt, wendet Abraham daraufhin ein. Denn Gott wolle doch keine Menschenopfer, da er den Brudermörder Kain verflucht habe (Gen 4,11)! Er gebe sich, setzt Jacomotus den Gedanken fort, mit Tieropfern zufrieden. Beza, v. 727–732
Jacomotus, fol. 26v–27r
Abr. Mais il peult estre aussi que j’imagine Ce qui n’est point: car tant plus j’examine Ce cas icy, plus je le trouve estrange. C’est quelque songe ou bien quelque faulx ange Qui m’a planté cecy en la cervelle: Dieu ne veult point d’offrande si cruelle.
Abr. O! vana me fortasse ludunt somnia, Fictasque Daemon objiciens imagines, Et monstra menti horrenda me vult impium Contaminare caede nati dexteram.
Mauldit-il pas Cain n’ayant occis Qu’Abel son frere? et j’occiray mon filz! Satahn: Jamais, jamais.
Nonne Deus offerri vetat sibi hostias Tales, & humano cruore altaria Foedare, contentus iugulatis bestiis: Quid! Nonne deuouit Cainum atrocibus Diris, & esse iussit omnibus vagum, Trepidumque terris, quòd suum peremerat Fratrem?14ř
Aber auch diese neue Anfechtung wehrt Abraham ab, immun gegen die hämische Verstärkung seiner Worte durch Satan, die bei Jacomotus fehlt, und bittet Gott wegen seiner erneuten Zweifel abermals um Verzeihung. Satan gelingt es aber, Abraham zu seinem ersten Argument zurückzubringen. Früher fragte sich Abraham, ob Gott ein Betrüger sein könne. Nun äußert er die Befürchtung, er könnte durch sein Handeln Gott zum Lügner stempeln. Denn wenn er Isaak getötet haben würde, hätte er Gott auch die Grundlage entzogen, sein Versprechen reicher Nachkommenschaft aus Isaaks Samen zu erfüllen.
14ř Übersetzung: „O vielleicht narren mich eitle Träume, und ein Dämon spiegelt mir Wahnbilder und irrsinnige Hirngespinste vor und will, daß ich frevelhaft mit dem Mord an meinem Sohn mir die Hand verunreinige. Verbietet Gott nicht, ihm solche Opfer darzubringen und die Altäre mit Menschenblut zu beschmutzen, weil er mit geschlachteten Tieren zufrieden ist? Wie? Hat er nicht Kain gräßlicher Rache geweiht und befohlen, unstet und furchtsam auf der ganzen Erde herumzuirren, weil er seinen Bruder ermordet hatte?“
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Beza, v. 743–747:
Jacomotus, fol. 27r–v
Abr. Mais le faisant, je ferois Dieu menteur. Car il m’a dict, qu’il me feroit cest heur Que de mon filz Isac il sortiroit Un peuple grand qui la terre empliroit. Isac tué, l’alliance est desfaicte. Las est-ce en vain, Seigneur, que tu l’as faicts? Las est-ce en vain, Seigneur, que tant de fois Tu m’as promis, qu’en Isac me ferois Ce que jamais à autre ne promis? Las pourroit-il à neant estre mis Ce dont tu mm’as tant de fois asseuré?
Abr. At, ô meum si macto filium effluent Promissa in auras facta quondam: nec tuis Posthac habebitur fides sermonibus, Benigne Coelitum parens. Venientibus Seclis Isacum pluribus praedixeras Patrem futurum gentibus, quae totius Per orbis incolae plagas vellent tuis Se subdere ultro legibus. Sed si datur Iam letho Isacus ista vanescent statim, Sacraeque nostri sanctiones foederis. An fluxa possunt esse quae verax tuo Deus reclusisti ore, quaeque es saepius Testatus euentura, monstrans syderum Innumera per coelos micantium agmina [Gen 15,5], Et portuosis littoribus curui maris Stratas arenas [Gen 22,17]? Heu mihi tantae prius Spes facta prolis occidet?144
Las est-ce en vain qu’en toy j’ay esperé?”
Angesichts der Zumutung, Isaak schlachten zu müssen, stellt sich Abraham seine frühere Entscheidung, Ismael, den Sohn Hagars, aus seinem Haus zu verjagen, in einem neuen Lichte dar. Einmal habe er den älteren Sohn vertrieben, nun sei sogar er im Begriff, den jüngeren zu töten. Müsse er sich nicht den Vorwurf gefallen lassen, Henker und Schlächter (bourreau, v. 761–764), ja Mörder (meurtrier, v. 774) zu sein! Ein weiteres Argument, den Befehl nicht vollziehen zu müssen, entspringt der erhitzten Phantasie Abrahams. Er stellt sich in v. 777–78ř vor, wie er von Morija alleine zu Sara zurückkehrt, wie diese ihn als Mörder anklagen und niemand ihm glauben würde, wenn er sich auf den göttlichen Befehl beriefe. Fortan wäre er aus der menschlichen Gesellschaft verstoßen. Sara werde künftig mit ihrem Jammer das leere Haus erfüllen, indem sie sich vergeblich die vergangenen Mutterfreuden ins Gedächtnis ruft. Lieber 144 Übersetzung: „Abr. Aber o, wenn ich meinen Sohn schlachte, wird sich die einst gegebene Verheißung in Luft auflösen, und man wird fernerhin Zusagen keinen Glauben schenken, seliger Vater im Himmel! Für weitere kommende Jahrhunderte hattest du vorhergesagt, Isaak werde Vater der Völker [Gen 17,4] sein, die sich als Einwohner in allen Erdteilen willig deinen Gesetzen unterwerfen. Aber wenn nun Isaak dem Tode überlassen wird, werden sofort diese deine Vorhersagen und die heiligen Bekräftigungen des Bundes mit uns verschwinden! Kann denn das hinfällig sein, was du wahrhaftig mit eigenem Munde wiedereröffnet und dessen Eintreffen du häufiger bezeugt hast, indem du auf die unzähligen Scharen der am Himmel glänzenden Sterne und die breiten Sandstrände an hafenreichen Küsten des wogenden Meeres verwiesest? O wird die mir zuvor gemachte Hoffnung auf so zahlreiche Nachkommenschaft untergehen?“
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möge Gott ihn sterben lassen, als ihn so zum Mörder zu machen! Dies könne Gott doch nicht wollen, daß er mit eigener Hand, grausamer als wilde Tiere, das Blut seines Sohnes vergieße! Damit überträgt Jacomotus Saras Forderung bei Gregor auf Abraham, der sie aber an Gott richtet. Beza, v. 761–765 und 777–783 Abr. De deux enfans, l’un j’ay chassé moymesme, De l’autre il fault, o douleur tresextreme! Que je sois dict le pere et le bourreau! Bourreau, helas! Helas ouy bourreau! […] Qu’un autre soit de mon filz le meurtrier. Hélas Seigneur, fault-il que ceste main Vienne à donner ce coup tant inhumain? Las que feray-je à la mere dolente, Si elle entend ceste mort violente? Si je t’allegue, helas, qui me croira? S’on ne le croit, las, quel bruit en courra? Seray-je pas d’un chacun rejetté, Comme un paton d’extreme cruauté? Et toy, Seigneur, qui te vouldra prier?
Jacomotus, 27v–28r Abr. Heu, Heu! senectus haec mea Languebit orba liberis? tibi obsequens Paruum Ismaelem nuper expuli aedibus Cum matre Agare, nunc meum imperas tibi Offerri Isacum, meque propria manu Crudeliorem vis quibuslibet feris Nati cruorem fundere, & tremulos focis Artus cremare corporis tenelluli. […] O, quum reuerti me mea solum viderit, Quid dicet vxor? Quum perisse filium Sciet genitoris interemptum dextera? Quum luctuosas horridis vlulatibus Replebit aedes mater, atque saepius Suas Isacum delitias frustra vocans Fletus acerbos fundet? O, tantos quibus Verbis dolores leniam? Si te, Deus, Hanc imperasse dixerim caedem meis Habere quis volet fidem sermonibus?145
Jeden dieser Einwände gegen die Rechtmäßigkeit und den Sinn des Sohnesopfers quittiert Abraham in Bezas Drama jedoch – zum Verdruß Satans – mit Selbstvorwürfen und reumütiger Umkehr zum unbegreiflichen Gott. Eine ungeheure emotionale Verwirrung bemächtigt sich des Erzvaters. Sie äußert sich in Bezas Tragödie in einer Reihe rhetorischer Fragen. Sie gipfeln in der Frage nach dem Sinn der Erwählung und dem Wunsch, selbst zu sterben: Ay-je vescu, vescu si longuement, Pour me mourir si malheureusement? 145 Übersetzung: „Weh! Mein Alter wird von Kindern verwaist dahinsiechen. Dir gehorchend habe ich neulich den kleinen Ismael mit seiner Mutter Hagar aus dem Haus gejagt. Jetzt befiehlst du mir, dir meinen Isaak zu opfern und willst, daß ich mit eigener Hand grauenhafteres Blut als das etwelcher Tiere, das Blut meines Sohnes, vergieße und auf dem Altar die bebenden Glieder seines zarten Körperchens verbrenne! Wenn mich meine Gattin allein zurückkehren sieht – o weh, was wird sie sagen? Wenn sie erfahren wird, daß ihr Sohn umgekommen – durch die Hand seines Erzeugers gemordet ist? Dann wird die Mutter das Trauerhaus mit schrecklichem Jammern erfüllen und bittere Tränen vergießen, wenn sie öfter ihren Liebling Isaak vergeblich ruft. O mit was für Worten soll ich so großen Schmerz lindern? Wenn ich sagen werde, du, Gott, habest diesen Mord befohlen, wer wird meinen Reden glauben schenken wollen?“
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Fendez mon cueur, fendez, fendez, fendez, Et pour mourir plus long temps n’attendez! Plustost on meurt, tant moins la mort est greve (v. 791–795).
Satan triumphiert: tiefer könne Abraham nicht fallen (v. 796).Ⱥ146 Abraham merkt, daß sein Körper und seine Gefühle ihn zu überwältigen drohen, und bittet Gott um die Kraft, auch an das scheinbar Unmögliche zu glauben, während er “chair” und “affections” beschwört, ihn loszulassen (v. 811–816). Isaak spürt die Angst des Vaters und nötigt ihm endlich das Geständnis ab, daß er das Opfer sein solle. Bei Jacomotus bekommt Abraham einen Schwächeanfall. Die Hände zittern ihm und die Knie werden ihm weich. Am liebsten würde er gleich sterben.Ⱥ147 Abrahamus. Nunc totus ecce horresco: nunc tremunt manus: Nunc genua labant. Nunc illa mentis robora Quondam nihil pauentis ecce corruunt. Et me tuos ductus volentem, ceu prius Sequi dolor, qui tantus imis insitus Pectoribus haeret, haud sinit. O citius veni Mors vecta bigis! quid miserum tardas senem Tot soluere curis? quo ruis velocius, Hôc esse soles mortalibus minus grauis.
Neu ist Bezas dramaturgischer Einfall, den Tiefpunkt der psychischen Krise Abrahams mit Isaaks heroischer Überwindung seiner natürlichen Todesangst zu verbinden. Isaak geht dem Vater mit gutem Beispiel voran, indem er sich zum Sterben bereiterklärt und Abraham ermahnt, seinen Auftrag schnell zu vollziehen. Isaak wächst in dem Moment über sein Alter hinaus, als Abraham aus Mitleid zu versagen droht. Der Fuldaer Jesuitendramatiker greift dieses Motiv auf und erhebt Isaak zur Identifikationsfigur seiner jugendlichen Zuschauer. Wie diese könne sich Abraham an Isaaks magnanimitas ein Beispiel nehmen.
146 JюѐќњќѡѢѠ, Abrahamus sacrificans (Anm. 117), 27v: „Prostratus ecce nunc iacet, nisi nouamȦ Inspiret illi vim Deus: mox, mox fides,Ȧ Et tanta cordis obstantia excidet.“ Übersetzung: „Da liegt er nun hingestreckt, es sei denn, Gott bläst ihm neue Kraft ein. Bald, bald werden sein Glaube und seine große geistige Widerstandskraft schwinden.“ 147 JюѐќњќѡѢѠ, Abraham sacrificans (Anm. 117), 28v. Übersetzung: „Sieh da, ich schaudere ganz und gar: Jetzt zittern mir die Hände, jetzt wanken die Knie. Jetzt werden die Kräfte meines Verstandes, den früher nichts schreckte, zunichte. Der Schmerz, der so tief in meiner Brust sitzt, erlaubt mir nicht, daß ich wie vormals willentlich deiner Lenkung folge. O Tod, komm schnell auf Rennwagen gefahren! Was zögerst du, den elenden Greis aus so vielen Qualen zu erlösen! Je schneller du zu mir eilst, um so erträglicher pflegst du uns Sterblichen zu sein.“
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Gregors Frage, wer mehr zu bewundern sei, der Vater oder der Sohn, verwandelt Beza durch seine Vergegenwärtigung der Seelenqualen Abrahams und des Sohnes, der an der Angst und Verzagtheit des Vaters wächst, in die Frage, wer von beiden in der Prüfungssituation mehr leide. Abrahams Leiden dauern länger, denn er ist Opfer von Satans Angriffen. Abraham schlägt schließlich Satan in die Flucht; Isaak ringt sich zur Überwindung der Todesfurcht durch und weckt sogar Satans Mitgefühl. Bei Jacomotus gesteht Satan wortreich, daß er angesichts von Isaaks Großmut aus seiner gewohnten Rolle falle, sich an menschlichem Leiden und an irdischen Katastrophen zu ergötzen, und gegen seine Gewohnheit sogar Mitleid empfinde. Beza, v. 841–844
Jacomotus, fol. 32r
Satan. Ennemy suis de Dieu et de nature, Mais pour certain ceste chose est si dure, Qu’en regardant ceste unique amitié Bien peu s’en fault que n’en aye pitié
Sathanas: Quidquid per omnes accidit terrae plagas Immane, triste, turpe, detestabile, Caedes cruentae, bella, parricidia, Male suada, fames, pestis furens, incendia, Venena poclis mixta, fraudes impiae, Direptiones vrbium, libidines Regum superbae, plebium aestus feruidi. Truces inimicitiae, irreconciliabilis Fratrum simultas, stupra, perfidiae, insolens Incestus, atque rupta vincla foederum, Haec cuncta me me recreant spectacula: Meam sed istius miserandae lacrymae Questùsque lamentabiles mentem mouent.148
148 Übersetzung: „Satan. Was immer auch überall auf Erden Ungeheures, Trauriges, Schimpfliches, Verwünschtes geschieht: Blutiger Mord, Kriege, Vatermord, böse Nachrede, Hungersnot, wütende Pest, Brände, Giftmischerei, gottloser Betrug, Verwüstung von Städten, hochmütige Gelüste der Könige, heftige Wut der Völker, grausame Feindschaft, unversöhnlicher Bruderzwist, Ehebruch, Treubruch, schamloser Inzest und gebrochene Verträge: All diese Schauspiele erfrischen mich. Aber die Tränen eines Erbarmungswürdigen, seine rührseligen Klagen – die rühren mich.“
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5. Die Fuldaer Actio sacra Auf den Schulbühnen der Jesuiten wurden im Zeitraum von 1569 bis 1772 dreißig Dramen, welche entweder Abrahams Gehorsam oder das mustergültige Verhalten des folgsamen Sohns Isaak ins Zentrum stellten, aufgeführt.Ⱥ149 Ich habe zum Vergleich mit Beza und Jacomotus zwei jesuitische Dramatisierungen der Erzählung in Gen 22 ausgewählt. Die Actio sacra de Abrahamo filium suum Isaac offerente ist eine jesuitische Bearbeitung eines Stücks von Jacob Schöpper (1514–1554) mit dem Titel Tentatus Abrahamus, das in Dortmund 1551 erschien und bis 1564 zwei weitere Auflagen erlebte.Ⱥ150 Die Actio sacra ist in einer Fuldaer Jesuitenhandschrift überliefertȺ151, die außer einigen kurzen Bibeldialogen, die den direkten Kontext der Actio sacra bilden, auch eine Reihe fünfaktiger Dramen (Tragödien und Tragikomödien) zu alttestamentlichen Stoffen und Heiligenlegenden enthält.Ⱥ152
149 Jђюћ-Mюџіђ Vюљђћѡіћ, Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande. Répertoire chronologique des pièces représentées et des documents conservés (1555–1771), 2 Bde., Stuttgart 198řf., vgl. im Register „Abraham“ und „Isaak“. 150 Dies haben Recklings Forschungen ergeben (Rђѐјљіћє, Immolatio Isaac [Anm. 1ř], 168–170). Schöpper war Priester an der Marienkirche in Dortmund. In der älteren Forschungsliteratur werden ihm Sympathien mit dem Luthertum unterstellt. Seine sämtlichen Werke wurden 1590 auf den Index librorum prohibitorum gesetzt (ebd., 65). Mir lag Schöppers Drama leider nicht vor. 151 Fulda, Hess. Landesbibliothek: 4 Cod. C 18, fol. 155v–171v. Nicht erwähnt in Vюљђћѡіћs Répertoire chronologique (Anm. 149). 152 Hier die Liste der längeren, größtenteils aus fünf Akten bestehenden Dramen: Comoedia Elisabeth Filia Regis Hungariae et Landgrauus Thuringae coniunx (1575), ein Georgspiel (Tragicomoedia qua sub persona D. Georgij celeberrimi Equitis & magno Martyris Generosorum nobilium institutio ac mores describuntur) von 1586, SVSANNA ACTIO TRAGICO-COMICA E SACRARUM litterarum deprompta (1575), eine Bearbeitung von George Buchanans Iephtes-Tragödie (Tragoedia Iepthes) von 1588, Eustachius Tragoedia Sacra Viennae coram Serenissimis Archiducibus Austriae acta (1584) und eine Tragikomödie über Absalom, den rebellischen Sohn Davids. Unmittelbar vor unserer Actio sacra de Abrahamo sind drei Bibeldialoge eingerückt. Heliodorus, ein nach dem 2. Makkabäer-Buch inszenierter Dialog, steht auf den Blättern 125r–1ř5v; neben dem Titel steht das Datum der Erstaufführung: „Fuldae in renovatione studiorum 28. Octobris a. 87 exhibita“. Es folgt Abelus a Caino occisus, ein Dialog in einem Akt (fol. 1ř6r–142r), und vor unserer Actio sacra steht ein zweiteiliger Dialog De Abrahamo misericorde & pio (nach Gen 17; fol. 142v–15řr). Die beiden zuletzt genannten Dialoge sind in der Handschrift undatiert. Der Actio sacra de Abrahamo folgen der Dialog Jacob a patre Isaac benedictus (nach Gen 27f.) und der Dialogus de Manna et Petra (nach Ex 16f.), der 1581 aufgeführt wurde (fol. 171r–195v). Das letzte Drama in dieser Handschrift ist die erwähnte Tragikomödie Absalon (fol. 196r–2ř2r).
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Auf der ersten Seite der Fuldaer Actio sacra befindet sich eine Eintragung von anderer Hand: 1640.Ⱥ15ř Dieses Datum verweist aber möglicherweise auf eine erneute Aufführung der Actio sacra (wahrscheinlich im Fuldaer Jesuitengymnasium), die wahrscheinlich im letzten Fünftel des 16. Jahrhunderts entstanden ist. Darauf deutet die Nachbarschaft der Actio sacra mit anderen Bibeldramen derselben Zeit in der erwähnten Fuldaer Handschrift hin. Die Actio sacra de Abrahamo besteht aus vier Akten. Der Prolog, Epilog und die Gebete Abrahams sind in Hexametern gestaltet; die Szenen, die als „comica“ gekennzeichnet sind und in denen Diener und Bettler auftreten, sind in jambischen Sprechversen geschrieben. Eine Szene – die Klage des ägyptischen Bettlers Giora zu Beginn des zweiten Akts – ist in elegischen Distichen komponiert.Ⱥ154 Eine Regieanweisung vor Beginn des dritten Akts „Canitur“ deutet auf die Existenz mindestens eines Chors hin, dessen Verse jedoch nicht überliefert sind. Die Überbringung des göttlichen Befehls in Gen 22,2 und Abrahams Reaktion sind im ersten Akt gestaltet. Die Reise nach Morija, die Vorbereitung des Opfers und die glückliche Abwendung des tödlichen Hiebs sind nach biblischem Vorbild in der ersten und dritten Szene des dritten Akts inszeniert. Abrahams Majordomus Eliezer ist biblisch (Gen 15,2); die Diener Sergius und Thaar, die Abraham und Isaak begleiten, und die Bettler Giora und Magier, die von Sara bewirtet werden, sind dagegen erfundene Gestalten plautinischen Zuschnitts. Der Anteil komischer Szenen mit nicht-biblischem Personal, welches das Handeln Abrahams und Saras aus der Dienerperspektive begleitet, sich aber jeder religiösen oder moralischen Deutung enthält, überwiegt die Dialoge, denen Stellen aus Gen 22,1–19 zur Vorlage dienen. Der zweite und vierte Akt spielen gewissermaßen im Vorhof zum biblischen Geschehen, das sich menschlicher Wahrnehmung und Vernunfterklärung entzieht. Die nicht-biblisch fundierten Szenen bringen die actio Abrahams nicht den Zuschauern näher, sondern entrücken sie eher dem Begreifen, weil sie das Geschehen nicht deuten, ja von der Dramatik der tentatio und dem fast tragischen Ausgang, so wenig wie die Hirten und Bettler, eine Vorstellung haben. Saras Mildtätigkeit gegenüber dem ägyptischen Bettler Giora ist ein Beispiel für gute Werke und rührt, während Isaaks Liebe zu seinem Vater, Abrahams Gottvertrauen und Gottes Liebe zu seinem Stammvater sich menschlichem Begreifen entziehen und Erstaunen und Bewunderung erregen. Das Drama schließt mit der glücklichen Rückkehr von Vater und Sohn zu Sara, die bereits den Tod beider be15ř Rђѐјљіћє, Immolatio (Anm. 1ř), 168. 154 Ebd. Hexameter-Verse sind charakteristisch für die frühen Jesuitendramen in Fulda.
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fürchtet hat. Im Epilog wird die Opferung Isaaks als Präfiguration des Erlösungsgeschehens interpretiert. Bezüge zu Gregors Oratio sind nicht erkennbar. Die Actio sacra verdient hier dennoch Beachtung, weil Pontanus von ihr möglicherweise einzelne Charakteristika (die vorbildliche Haltung Isaaks) übernommen hat. Auch hier weiß Abraham, daß er, der Flüchtling, im Bunde mit einem Gott ist, der ihm reiche Nachkommenschaft verheißen und ihm im hohen Alter einen Sohn geschenkt hat. Als der Engel ihm befiehlt, er solle diesen Sohn auf dem Gipfel eines fern liegenden Berges in einem Brandopfer schlachten, lehnt sich der Vater spontan dagegen auf, denn die Vernunft bemerkt, daß die Anordnung der Verheißung zuwiderlaufe und nun der Sohn als Erbe ihm keinen Nutzen mehr bringen könne. Folglich ist Abraham von gutem Rat verlassen: „hinc amor ille paternusȦ Avocat a nati crudeli caede parentem.“ Sogleich wägt Abraham jedoch die väterliche Neigung gegen seine wahre Pflicht ab und beurteilt seine väterliche Liebe nach dem Maßstab der Liebe zu Gott, die alle Zuneigungen zu Irdischem übertreffe. Er bekennt seinen Glauben an die wunderbare, gewisse Erfüllung der göttlichen Verheißung, auch wenn der Sohn von grausamen Todesschatten umgeben sei. „Contra spem certa in domino spe laetor“ [Röm 4,18; Ps ř2,11]. Der erste Schritt auf dem Weg zum Vollzug der Anordnung besteht im Beschluß, sie Sara zu verheimlichen, weil sie Isaak zärtlich liebe und er die Quelle ihrer Lebensfreude sei. Noch bevor Abraham Sara über den Reiseplan aufklären kann, ist sie (in I, 2) von schrecklichen Vorahnungen erfüllt. Sie erkundigt sich, ob der göttliche Befehl sich tatsächlich auf Isaak beziehe. Sie stellt dieselbe Frage, die Isaak an der Opferstätte in Gen 22,7 stellen wird: „Quaenam ergo victima erit Holocausti?“ Abrahams Antwort gleicht derjenigen, die er seinem Sohn geben wird: „hanc sibi Dominus paratam habet“ (v. 201f.). Saras Rat, er solle vorsichtshalber ein Opfertier mitnehmen, lehnt Abraham mit dem Hinweis auf das göttliche oraculum ab. In der Abschiedsszene (I, 5) stimmt Sara zwar Abrahams Maxime zu, „Nobis domino parere necesse est“, aber schweren Herzens und seufzend (v. ř28–řř0): „Sara. […] si iussit obire,Ȧ Vos decet obsequio illius mandata fideliȦ Verum ach, ach.“ Isaak tröstet sie auf kindlich fröhliche Art mit der Aussicht auf baldige Rückkehr. Abraham gibt ihr Anweisungen, wie sie während seiner Abwesenheit das Haus besorgen solle. Sie solle den Bedürftigen zu essen und zu trinken geben und das Los der Armen durch großzügige Gaben erleichtern. Er kenne den guten Willen seiner geliebten Gemahlin. Zärtliche Abschiedsworte werden ausgetauscht, Sara bricht in Tränen aus, als sie scheiden müssen, und gesteht ihre Angst.
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Im zweiten Akt tut sie zwar ihre Pflicht, indem sie einen Bettler aufnimmt, aber zwischendurch eilen ihre sorgenvollen Gedanken zu Mann und Kind. Sie bekräftigt betend ihr Gottvertrauen, daß beide unversehrt zurückkehren werden, trotz ihrer unglücklichen Vorahnungen (II, 5). Am dritten Tage erreichen Abraham und Isaak den Fuß des hohen Bergs, den Gott dem Vater bezeichnet habe, worüber Isaak froh ist (III, 1). Als Abraham seinem Herzen Luft macht und gesteht, welche Seelenqualen er erleidet („quantis stimulis agitatus oberro“), wundert sich Isaak: „Wieso sprichst du so mit dir selbst, Vater? Fühlst du dich etwa unwohl?“ Abraham beruhigt den Sohn: „Es ist nichts, was dich oder dein Schicksal betreffen könnte.“Ⱥ155 Den beiden Dienern verspricht Abraham, in Kürze zu ihnen zusammen mit Isaak vom Bergesgipfel zurückzukehren, „si visum est superis“. Isaak erweist sich als folgsam und trägt bereitwillig das Holz auf seinen Schultern. Abraham mahnt zur Eile, um rasch Gottes Anordnungen auszuführen. Der Diener Thaar, den mit seinem älteren Kollegen Abraham und Isaak am Fuß des Berges zurückgelassen haben, findet dies unbegreiflich hart (III, 2). Als Isaak, auf dem Gipfel angekommen, den Vater nach dem Opfertier fragt: „Ast ubi nunc sacri est holocausti victima“, klagt Abraham: Höchster Gott, welch große Seelenqualen bedrängen mich. Obwohl mein abweichendes Vernunfturteil meinen Verstand verrückt, werde ich trotzdem mit treuem Gehorsam an Gottes Befehlen festhalten, es sei denn, meine wenig widerstandskräftige Natur würde dagegen rebellieren, denn der Allmächtige bewahrt mir die Treue und wird mich nicht mit einer illusorischen Hoffnung betrügen.Ⱥ156
Je näher Abraham dem Moment kommt, da er Isaak das Schreckliche offenbaren muß, umso länger verweilen Sohn und Vater bei der Errichtung des Altars. Isaak, der erleichtert ist, seine schwere Reisigbürde los zu sein, schleppt mit dem Vater Steine und Rasenstücke herbei. Schließlich ist alles bereit, nur „Haec quoque iam restat, tantum tibi victima ubi illa?“ Abraham macht eine Andeutung, worauf Isaak in ihn dringt, ihn aufzuklären. In drei Hexametern versichert der Vater den Sohn seiner innigsten Zuneigung, dann offenbart er ihm Gottes Willen, mit dem er ihm die Aussicht zunichte mache, daß Isaak lang leben werde. Nein,
155 Actio sacra III, 1: „Quid, pater, haec tecum loqueris ? Num incommoda sentisȦ Ulla ? A. nihil, fili, est, quod te aut tua tangat.“ 156 Ebd., III, ř: „A. summe Deus, quantis animi maeroribus angor, Quam diversa meam mutat sententia mentem, Nilominus mandata Dei servabo fideli Obsequio, licet ipsa caro malesana repugnet Namque fidem servat nec me spe ludet inani Omnipotens.“
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die väterlichen Hände sollen, wie die himmlischen Mächte es wünschten, den Sohn als Opfer schlachten. Isaak reagiert mit Verwunderung: „Egon pater, pater optime?“ Daraufhin tröstet Abraham den Sohn, ein besseres Leben werde ihm im Himmel bereitet, daher solle er den Augenblick der grausamen Tötung tapfer ertragen. Isaak beruhigt den Vater. Wie konnte er glauben, daß das von Gott bestimmte Los dem Sohn schwer erträglich wäre? Er sei doch so von kleinauf erzogen worden, im Gottvertrauen habe ihn sein Vater doch unterwiesen. Daher wolle er furchtlos den Opfertod ertragen, weder Flammen noch Verwundungen erschreckten ihn. Der Vater solle aufhören zu weinen und zu klagen. „Denn ich müßte glauben, daß ich umsonst geboren wurde und widerrechtlich mein Leben genieße, wenn mich der Befehl dies zu erleiden verdrießen sollte; mich wird Gott durch ein glücklicheres Los erfreuen.“Ⱥ157 Abraham bewundert Isaaks Standhaftigkeit. Gott verleihe ihm die Kraft dazu. Isaak zufolge besteht die höchste pietas im Gottesgehorsam. Isaak ermuntert daher Abraham, sein furchtsames Zaudern zu überwinden. Seine Seele sehne sich nach dem Himmel, Irdisches sei ihr verhaßt. Abraham solle ihm die Augen verbinden, das Messer ergreifen und es ihm unverzüglich in die Kehle stoßen. Abraham dankt Gott, dem Herrn über Leben und Tod, dafür, daß sein Sohn für ihn ein geeignetes, wohlgefälliges Schlachtopfer ist. „Nimm, höchster Vater, dieses lebende Ganzopfer an.“Ⱥ158 Endlich erscheint der Engel und ermahnt Abraham, innezuhalten, den Sohn zu verschonen und ihn der Mutter zurückzubringen. Abraham wundert sich über die große göttliche Milde und staunt über den unerforschlichen göttlichen Willen: „Quam vere inscrutanda homini divina voluntas!“ Isaak, der schon in Aussicht auf das himmlische Leben mit dem irdischen abgeschlossen hatte, braucht eine Weile, um die glückliche Wende zu begreifen. In seinem Dankgebet offenbart er die Visionen, die er in seiner Todeserwartung schon hatte. Rechtzeitig erscheint ein Widder im dornigen Gesträuch, den die beiden an Isaaks Stelle auf dem Altar verbrennen können. Isaak kommentiert die tentatio: „iam claro lumine cernoȦ Ut Deus ipse suos famulos formetque probetque.“ Der Engel erneuert die göttliche Verheißung, und Abraham und Isaak haben kein größeres Verlangen, als möglichst schnell zu Sara zurückzukehren und sie von ihren Ängsten zu erlösen. Im vierten Akt kündigt Sergius Sara die Ankunft Abrahams und Isaaks an. Abraham klärt sie darüber auf, in welcher Gefahr sie beide schwebten. Sie möge 157 Ebd., III, ř: „Isaac. […] Namque ego me frustra genitum et vitalibus auris Contra iura frui credam, si iussa pigeret Ista pati, me sorte Deus meliore beabit.“ 158 Ebd., III, ř: „Abr. Hoc tibi, summe parens, holocaustum suscipe vivum.“
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alles erfahren, denn nach der Bekräftigung der Verheißung werde sie nie mehr Grund zur Trauer haben. Sara erklärt, daß auch die traurigste Erzählung ihre große Freude nicht mehr trüben könne. Wir erleben aus Saras Perspektive, die allerdings auf eine so grausame tentatio nicht gefaßt war, das Geschehene noch einmal. Abraham ist ein geschickter Erzähler mit Sinn für Spannung. Als ich aus treuer Dienstfertigkeit, wie es sich gehört, den Befehl des Herrn ausführen wollte, indem ich dabei war, den Hals [Isaaks] vom Gewand zu entblößen, kam der Sohn mir nach zum entzündeten Opferfeuer. Ich war schon weinend zum brennenden Altar hinaufgestiegen und zückte das Schwert auf das fromme Haupt, als Gott von der Frömmigkeit seiner beiden Ministranten gerührt war und sprach ‚geh geschwind‘ und rief vom Himmel herabkommend: ‚Lege das Messer nieder, töte den sanftmütigen Sohn nicht!‘Ⱥ159
Der Epilog erklärt den vorbildlich gottesfürchtigen Abraham zum Abbild Gottvaters und Isaak zur Präfiguration Christi: So wie nämlich der Erzvater seinen Sohn am wenigsten verschont hat, übertrug Gott auf sehr ähnliche Weise seine Liebe auf den Sohn. Er wollte nicht, daß jener von unserer Niederträchtigkeit (sordes) überwältigt würde, sondern daß er durch seinen schrecklichen Tod die verhängten Strafen von uns nehme und die Welt durch sein vergossenes Blut errette. Gleich wie Isaak Abraham keinerlei Widerstand leistete, sondern freiwillig den Weisungen des Vaters folgte, so fügte sich Christus selbst in allem dem ewigen Vater und widersprach ihm nicht in einem einzigen Punkt.Ⱥ160
Der Epilog schließt mit der Ermahnung, die Taten des Erzvaters Abraham durch unseren festen Glauben an die durch Christi Erlösung erneuerte Verheißung eines ewigen Lebens nachzuahmen. 159 Ebd., IV, scena ultima. „Cum iam servitio, ut dignum est, mandata fideli Exequerer domini denudans guttura veste, Post me succensos natus veniebat ad ignes. Iamque ego flagrantes plorans ascenderem ad aras, Nudatoque pium nati caput ense petebam, Quum Deus amborum motus pietate ministorum: ‚I‘, dixit, ‚celer‘ et veniens clamitabat ab alto: ‚Pone, pater, cultros, mitem ne interfice natum!‘“ 160 Ebd. „Epilogus: […] Sicut enim nato minime patriarcha pepercit [Röm 8,ř2], Persimili ratione Deus permisit amorem In natum, a nostris superari sordibus illum Terribili noluit commissa piacula morte Tollere et effuso mundum salvare cruore. Et velut Abramo nequaquam restitit Isaac, Verum sponte sua patris est mandata secutus, Aeterno patri sic ipse per omnia Christus Sese submisit, nec contradixit in ullo.“
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6. Jacob Pontanus Jacob Pontanus’ Immolatio Isaac ist eines der „Dramata duo“, mit dem das Tyrocinium poeticum im Anhang der Poeticae institutiones schließt.Ⱥ161 Das Drama wurde am 29. Juni 1590 im Dillinger Kolleg uraufgeführt.Ⱥ162 In der ersten Fassung, die 1594 in Ingolstadt gedruckt wurde, besteht die Immolatio Isaac aus dreizehn Szenen, die von einem Prologus mit einer Inhaltsangabe („Argumentum“) und einem Epilogus eingerahmt werden. In den Dialogen sowie im Prolog und Epilog fehlt – entgegen der Erwartung, die das Aufführungsdatum am Peter- und Paulstag weckt – der typologische Bezug, der im Hebräerbrief (11,17–19) hergestellt wird. Der Epilogus ermahnt die Zuschauer, sich an Abrahams Gehorsam ein Beispiel zu nehmen und ihr Vertrauen auf Gott zu setzen, gleich, was er seinen Gläubigen befehlen werde. Die dritte, vom Dichter selbst besorgte Ausgabe der Poeticae institutiones (Ingolstadt 1600) gliedert den lyrischen Dialog Immolatio Isaac in zwei Akte und setzt die Zäsur nach der siebten Szene, in der sich Abraham von Sara verabschiedet und sie schweren Herzens im Ungewissen läßt über den göttlichen Befehl und das bevorstehende Isaak-Opfer.Ⱥ16ř Pontanus kündigt im Prolog die Inszenierung eines biblischen Stoffs an, „Grauitatis multae plenum, ac suauitudinis“. Wie außergewöhnlich 161 Das andere ist die Komödie Stratocles. JюѐќяѢѠ PќћѡюћѢѠ, “Immolatio Isaac”, in: DђџѠ., Poeticae institutiones (Anm. 2), “Tyrocinium poeticum”, 526–56ř (nach dieser Ausgabe zitiere ich im folgenden Pontanus’ Isaak-Drama). Zur Überlieferung des Stratocles und der Immolatio Isaac vgl. Fіёђљ Rѫёљђ, Lateinische Ordensdramen des XVI. Jahrhunderts. Mit deutschen Übersetzungen (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts, Reihe Drama 5), Berlin u. a. 1979, 556–559. In diesem Band ist Stratocles mit deutscher Übersetzung und Kommentar abgedruckt (296–ř65 und 559–562), nicht aber die Immolatio Isaac, wie Valentin irrtümlich behauptet (Répertoire chronologique, Bd. 1 [Anm. 149], ř4, Nr. 292). 162 Bђџћѕюџё DѢѕџ, Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, Bd. 1, Freiburg i. Br. 1907, ř51; Vюљђћѡіћ, Répertoire chronologique (Anm. 149), Bd. 1, Nr. 292. Handschriftlich ist die Immolatio Isaac überliefert im Codex Dillingensis XV 221, fol. 209r–2ř1r und im Cod. Dill. XV 4ř9 (Nachweise bei Rѫёљђ, Ordensdramen [Anm. 161], 557f.); außerdem Rђѐјљіћє, Immolatio Isaac (Anm. 1ř), 67, vgl. auch 67–72 und 171–178. Valentin hält weitere Aufführungen dieses Dramas (oder einer Bearbeitung) 1590 in Fribourg (Nr. 294), 1591 in Dillingen (Nr. ř07), 1595 in Luzern (Nr. ř64) und 16ř8 in Köln (Nr. 120ř) für wahrscheinlich. Vgl. Vюљђћѡіћ, Répertoire chronologique, Bd. 1 (Anm. 149), Nr. 294. ř07. ř64. 120ř). Vor 1590, dem Jahr, als Pontanus’ Immolatio Isaac in Dillingen aufgeführt wurde, verzeichnet Valentin nur vier Dramen, die Abrahams Gehorsam oder die Opferung Isaaks im Titel führen (Nr. 62: Immolatio Isaaci, Wien 1569; Nr. 119: Edmund Campionus: Abrahami sacrificium in Filio Isaaco, Prag 1576; Nr. 170: Abraham sive oboedientia, Trier 1581 und Nr. 278: Abrahami res gestae, Köln 1589). 16ř Jюѐќя PќћѡюћѢѠ, Poeticarum Institutionum libri tres, Ingolstadt 1600, 557–592.
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Gottes Liebe zu Abraham, „singulare Hebraeorum decus“, war, komme durch das Wunder der unwahrscheinlich späten Vaterschaft zum Ausdruck. Dieser spätgeborene Sohn sollte der Hoffnungsträger sein, durch den Gott sein Versprechen reicher Nachkommenschaft wahrmachen wollte. Pontanus macht Isaak zu einem Jüngling, der schon die toga virilis trägt, entsprechend der Feststellung Gregors von Nyssa, daß Isaak zum Zeitpunkt der tentatio den „Gipfel der Reife“ erreicht habe. Um den göttlichen Befehl auszuführen, habe Abraham vergessen (oder verdrängen) müssen, daß er Vater sei. Er habe die Ausführung des göttlichen Auftrags und diesen selbst geheimgehalten und sich mit niemandem darüber beraten. Jacob Pontanus hat in seinem lyrischen Drama daher den inneren Kampf Abrahams dramatisch zugespitzt.Ⱥ164 Sara und Isaak werden, da sie von der Prüfung indirekt mitbetroffen sind, ebenfalls mit psychologischem Scharfblick charakterisiert. Für die Vergegenwärtigung der Zweifel am göttlichen Auftrag und der Bedenken der ängstlichen Mutter hat Gregor mit seinen kontrafaktischen Argumenten, welche nur die Göttlichkeit Abrahams beweisen sollten, das Muster geliefert. Vorbild für Pontanus’ Schilderung der Seelenlage ist außerdem die euripideische Tragödie, die in Pontanus’ Tragödienpoetik im Vergleich mit den Dramen des Sophokles aufgewertet wird.Ⱥ165 Pontanus verlegt die Handlung stärker als der Autor der Fuldaer Actio sacra nach innen, indem er in der ersten Szene die glücklichen Empfindungen der greisen Eheleute angesichts der befriedigenden Entwicklung ihres Sohnes, der gesund, tüchtig, verständig und liebevoll ist, vorführt und nach dem göttlichen Befehl an Abraham abwechselnd die psychischen Kämpfe Abrahams und die Sorgen Saras um Isaak darstellt. Die Eifersucht Saras auf Hagar und die Geschichte Ismaels werden dabei konsequent ausgeblendet. Pontanus hat den Gewissenskonflikt des Vaters zwischen göttlichem Auftrag, also seiner Pflicht, und der natürlichen Vaterliebe in eine dramatisch-allegorische Aktion umgesetzt. Wir sehen und hören, wie Abrahams Willen von zwei Personifikationen bearbeitet wird. Natura und Ratio reden im Wettstreit auf ihn ein, bis sich die Stimme der Vernunft durchsetzt. Das Drama beginnt mit dem Rückblick der greisen Eheleute auf die Jahre vor der Geburt Isaaks. Sehnsüchtig und gottergeben hätten sie auf Nachwuchs gehofft. Sie sind Gott für sein spätes Geschenk eines äußer164 Bюџяюџю Mюѕљњюћћ-BюѢђџ, „Jacob Pontanus in Augsburg. Seine Schülergespräche, seine Poetik und sein Drama ‚Opferung Isaaks’, in: Jakob Bidermann und sein „Cenodoxus“. Der bedeutendste Dramatiker aus dem Jesuitenorden und sein erfolgreichstes Stück, hg. v. HђљњѢѡ Gіђџ (Jesuitica 8), Regensburg 2005, 15–59, bes. 45–58. 165 Ebd., 44f. und 52.
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lich wohlgeratenen, auch an Tugenden musterhaften Sohnes dankbar. Isaak sei wahrhaftig, klug, gerecht, nüchtern und folgsam. Seine Rede und sein Anblick verscheuchten die Kümmernisse des Alters, schwärmt Abraham. Dieser einzige Sohn sei ihm mehr wert als mehrere Kinder, da Gott durch ihn dem Erzvater reiche Nachkommenschaft versprochen habeȺ166 (Szene 1 und 2). Sara erklärt in Szene 4 ihrem Sohn, warum ihre mütterliche Liebe stärker sei als die des Vaters: Das Kind sei unerwartet gekommen, als Sara schon die Hoffnung auf Nachwuchs aufgegeben hatte, und ähnele hinsichtlich seines ingenium und seiner mores Abraham sehr, „ut lac lacti non sit similius“.Ⱥ167 Umso stärker beunruhigt sie ein Traum, den sie als Vorzeichen einer Isaak drohenden Todesgefahr deutet. Sara hielt auf ihrem Schoß ein hübsches Böcklein umfangen, das ihr trotz ihrer Fürbitte Abraham raubte, um es mit gezücktem Schwert Gott zum Opfer darzubringen.Ⱥ168 Isaak versucht, die Mutter mit dem Argument zu beruhigen, daß Träume häufig trügerisch seien und Furchtsame grundlos schreckten.Ⱥ169 Er sehe nicht ein, wieso das Böcklein für ihn und die, die es halte, für Sara stehen solle. Alpträume plagten oft Leute, die im Wachzustand von keiner Gefahr behelligt würden. Als aber Abraham in der fünften Szene den Auftrag erhält, ins Gebirge zu reisen und Gott den eigenen Sohn zu opfern, ist beiden bewußt, daß Sara infolge ihres Traumes von Angst und Unruhe erfüllt ist. Nachdem die himmlische Stimme Abraham den Befehl zum Opfer Isaaks erteilt hat, tritt erstmals die personifizierte Natura auf, welche, wie bei Gregor, Anwältin der urwüchsigen Vaterliebe ist. Abraham kennt sie, wie jeder Vater. Natura schürt sein Mißtrauen: Diese Stimme habe mit ihrem grausamen Befehl Abraham getroffen, als stamme sie von Gottes Feind. Wenn sie aber doch Gottes Stimme wäre, widerspräche sie seiner früheren Verheißung, so als hätte Gott vergessen, daß er einst Abraham ausgezeichnet habe. Dieser Gott sei mit sich selbst uneins. Beide würden sie untergehen, wenn Abraham der Stimme Folge leiste. Er werde den Verlust seines Sohnes nicht ertragen können und Sara ebensowenig.Ⱥ170 Aber bei Abraham beißt Natura auf Granit; seine außergewöhnliche Standfestigkeit hebt auch Gregor hervor. „Natura. Anne silicesȦ Circum praecordia geris ?“Ⱥ171 166 PќћѡюћѢѠ, Immolatio Isaac (Anm. 2), 1. Szene, 529. 167 Ebd., 5řř. 168 Ebd., 4. Szene, 5ř5; Mюѕљњюћћ-BюѢђџ, Pontanus (Anm. 164), 48 (dort auch Übersetzungen der zitierten Szenen). 169 PќћѡюћѢѠ, Immolatio Isaac (Anm. 2), 5ř6. 170 Ebd., 5ř8f. 171 Ebd., 5ř9.
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In der sechsten Szene beschimpft Ratio, von der Abraham Hilfe erwartet, die Natura als „impostrix“. Abraham schenkt eher der Vernunft Gehör, die allerdings, wider die menschliche Einsicht, zum Vertrauen auf Gottes Allmacht rät, da er auch gegen die Naturgesetze das einmal Versprochene verwirklichen könne: „Schneller würde das ganze Schöpfungswerk zusammenbrechen, als daß sich die göttlichen Verheißungen als falsch erwiesen.“Ⱥ172 Es sei keineswegs sicher, daß Isaak wirklich sterben müsse, obwohl sich die Natura nichts anderes denken kann und folglich die Erfüllung der Verheißung für unmöglich hält. Aber Gott könnte Abraham noch einen weiteren Nachkommen schenken, wendet Ratio ein. Natura wolle Abraham in dieser Krise nicht verlassen. Sie rät ihm, sich sogleich mit Sara zu beraten, denn das Schicksal des Sohnes gehe sie beide an. Abraham jedoch nimmt sich vor, sich vor Sara und seinen Dienern zu verstellen, auch wenn dies schwer sei.Ⱥ17ř Pontanus konzentriert sich in den folgenden Szenen auf den Kampf in Abrahams Seele zwischen den natürlichen Vatergefühlen und der Verpflichtung gegenüber dem göttlichen Bundesgenossen. Die Dialoge mit der furchtsamen Sara und dem mustergültigen, wohlerzogenen Sohn vergegenwärtigen, wieviel Überwindung es Abraham kostet, den Befehl zu vollziehen, an dessen göttlichem Ursprung und wörtlicher Bedeutung er selbst jedoch gar nicht zweifelt. Natura und Ratio bleiben abwechselnd bis zur 12. Szene auf der Bühne anwesend. Gegen die Einsprüche der Natur, die an den natürlichen Vater appelliert, der, Gregor von Nyssa zufolge, an der Durchführung des Befohlenen hätte scheitern müssen, hat die göttliche Ratio einen schweren Stand. Als Abraham in der siebten Szene Sara über die bevorstehende Reise aufklären muß, fühlt er die Neigung, ihr den göttlichen Befehl und seinen Gewissenskonflikt zu offenbaren, beherrscht sich aber, mit Rücksicht auf die Ratio. Rührend ist Abrahams vergeblicher Versuch, seinen Schmerz vor Sara zu verbergen und eine heitere Miene aufzusetzen. So traurig haben Isaak und Sara den Vater noch nie gesehen. Ratio warnt ihn jedoch davor, der Versuchung nachzugeben und der Gemahlin den wahren Grund für seine Traurigkeit zu offenbaren. Es kostet Abraham große Mühe, sich zu verstellen, um Sara in Sicherheit zu wiegen und Isaaks Sorge um den Vater zu zerstreuen.Ⱥ174 Schließlich macht sich Abraham mit Isaak und zwei Dienern in der 8. Szene auf den Weg. Natura beherrscht diese Szene allein und hetzt gegen „haec praeceptioȦ Inuisa, atrox, horrenda, nec opinabilis“, die Abra172 Ebd., 541: „Citius machinaȦ Mundi euanescet omnis, quam fallaciaȦ Diuina sint promissa.“ 17ř Ebd., 542. 174 Ebd., 544f.
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ham zum Mörder mache. Natura wiederholt exakt die Einwände, mit denen in Gregors Oratio der gewöhnliche Vater rebellieren würde: Ist der Vater dazu geschaffen, zum Mörder an seinem Sohn zu werden? Hat er deswegen diesen Auftrag von dir empfangen, um zur Mär des Volkes zu werden? Soll er mit seinen Händen sein Innerstes als Opfer morden? Kannst du, Gott, dich also an derartigen Opfern erfreuen? Der Greis wird doch den nicht umbringen, von dem er begraben zu werden hofft? Nun aber wird er diesem ein solches Hochzeitsfest bereiten und anstelle der Brautfackeln ihm zum Begräbnis einen Scheiterhaufen errichten? Wie kann Abraham zum Vater der Völker werden, dem nicht einmal erlaubt ist, Vater eines einzigen Sohnes zu sein?Ⱥ175 Gregor von Nyssa (Sifanii versio) 176 Idcircone patrem fecisti, ut filii percussorem redderes? Ut vulgi fabula fieret, ideo hoc tulit Idcircone me hujus doni dulcedinem gustaAbs te munus? Suisne manibus victimam re fecisti, ut mundo fabulam me efficeres? Sua viscera caedet? Meis ipsis manibus filium trucidabo, et cognatum sanguinem tibi litabo? Et tu haec jubes, et talibus victimis delecErgo istiusmodi Sacrificijs delectari potes Deus? taris? A quo se tumulandum confidebat senex, Interficiam filium, a quo me sepultum Hunccine iugulabit? Atque has ipsi nuptias iri speravi? Ejusmodi ei construam thaParans, pro taedis funestum accendet ro- lamum? Talemne ei laetitiam nuptiarum gum? praeparabo? Et ejus nomine accendam non taedam nuptialem, sed rogum sepulchralem? […] Quo pacto gentium pater, qui filij Itane ero pater gentium, cui neque filii uniNec unius quidem esse pater permittitur? us esse patrem concessum sit? Pontanus (546) An parricida ut esset, factus est pater?
Natura setzt ihre Hetzrede mit Spekulationen über Saras Abwehr fort, die natürlich wäre, wenn sie von Abraham in den göttlichen Auftrag eingeweiht worden wäre. Mit ihren Armen würde sie Isaak schützend umfassen und an Abraham appellieren:
175 Ebd., 546. 176 Zum Zweck eines übersichtlichen Vergleichs der Versifikation des Pontanus mit Gregors Oratio zitiere ich hier Sifanus’ Übersetzung. Vgl. Gџђєќџ ѣќћ NѦѠѠю, Oratio, in: PG 46, 567D–570A.
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Pontanus (546f.)
Gregor von Nyssa (PG 570B–C)
Naturam respice & hominem esse te scias. […]
Parce naturae, o vir, ne prava de te narrandi mundo praebens occasionem: Unicus hic mihi partus est, unicus in pariendo Isaac, in ulnis solus: hic mihi partus et primus et postremus.
Hunc solum & unum habes natum, abstine manus Cruentas a carne tua, ne ne polluas Tam infanda caede mucronem, ne obsecro mei Partus dolores hac mercede remuneres, Neue educationi haec solue praemia. Hunc peperi primum, eundemque peperi ultimum. Praeter quem non est miserae ullum solatium. Nulla soboles restat, quae me matrem vocet. Quis nunc sedebit in medio nostrum ad epulas? Quis turbatos leniat, iratos mitiget? Quis iam nostrae curam senectutis gerat? Carentes luce quis sepulcris inferat?
Considera formam iuuenis, quam hostis quoque Reuereatur. Considera animique indolem, Vitam integram, mores incorruptißimos. Hic scilicet precum mearum fructus est, Haec illa nostri generis illa immensitas.
Tepefac prius in me ferrum, deinde quod lubet Huic facito, & communi ambos compone tumulo.
Ah ne intuear necatum a patre filium, Neue suos Abrahamum iugulantem liberos.
Quem post hunc in mensa conspiciemus? Quis me dulci illa voce appellabit? Quis matrem nominabit? Quis colet atque curabit senectutem? Quis mortuam obvolvet ad sepulturam? Quis corpori addet sepulcrum? Vides florem juvenis, quem si quis in inimico videret, pulchritudinis omnino misereretur. Hic longum precum fructus, hic ramus est successionis, hae generis sunt reliquiae, hic baculus est senectutis. Si in hunc gladium fers, hanc mihi miserae veniam da, in me primum utere gladio, et tunc fac quod videtur in hoc: communis amborum tumulus esto, communis contegat corpora pulvis, communis titulus utriusque cladem prodat, ne videat oculus Sarrae nec Abrahamum filium suum interficere, nec Isaacum filium manibus paternis trucidari.
Pontanus hat seiner „disputatrix callidißima“ die Argumente und Beredsamkeit Gregors verliehen. Die Rolle der Ratio entwirft Pontanus allerdings selbst, zu deren freiwilligen „captivi“ sie Abraham zählt. Ratio triumphiert am Ende dieser neunten Szene, noch bevor Isaak mit seiner Frage nach dem Opfertier Abrahams Stärke einem letzten Test unterwirft. Ratio lobt Isaaks Gehorsam: gegenwärtig würde man wenige Söhne dieser Art finden – leichter wäre es, weiße Raben und schwarze
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Schwäne zu finden.Ⱥ177 Zweimal fragt Isaak den Vater nach dem Opfertier. Beim zweiten Mal findet ein Szenenwechsel statt. Prompt ist die Natura abermals zur Stelle. „O durum imperium! O durißima neceßitas!“Ⱥ178 Nachdem Natura und Ratio ihre Meinungen ausgetauscht haben, ob Abraham und Isaak nun unglücklich oder glücklich seien, versucht Abraham Isaak davon zu überzeugen, daß der Entschluß, den Gott über seinen Opfertod gefällt habe, zwar seiner Verheißung zuwiderläuft, daß aber die göttliche Aufforderung, den eigenen Sohn zu töten, diesen auch vor allen anderen auszeichne. Daher solle Isaak den Vater nicht grausam finden, sondern vielmehr gottesfürchtig. Gott habe ihm zwar Nachkommenschaft versprochen, es sich aber anscheinend anders überlegt und wünsche nun, daß der Vater ihm den Sohn in der Blüte seiner Jugend zum Opfer bringe, wogegen man sich nicht auflehnen dürfe.Ⱥ179 Alle Menschen müssen einmal sterben. Isaak solle stolz darauf sein, daß Gott ihn dazu ausersehen habe, anders zu sterben als andere, nämlich – mit deutlicher Anspielung auf das letzte der sieben Worte Jesu am Kreuz (Lk 2ř,46) – „inter preces & vota vultȦ Ad se transferre spiritum tuum.“ Nun findet der Kampf zwischen Natura und Ratio in Isaaks Seele statt. Isaak gehorcht widerstrebend, denn in so jungen Jahren sterben zu müssen, sei schrecklich. Auch Abraham gibt zu, beim Vollzug des Befehls gegen die Natur zu handeln.Ⱥ180 Trotz der Hetzreden der Natura fügt sich Isaak dem Willen Gottes, was Ratio ausdrücklich gutheißt. Ratio stellt die Frage Gregors an das Publikum, wer mehr Bewunderung verdiene, der Vater oder der Sohn.Ⱥ181 Pontanus unterwirft Isaak einem Lernprozeß. Er gewinnt, ähnlich wie in der Fuldaer Actio sacra, rasch seine Fassung wieder, ermuntert alsbald den Vater zum geforderten Opfer, was diesem das Herz zerreißt, und verlangt sehnlich danach, schnell zu sterben. Mit zärtlichen Wor177 PќћѡюћѢѠ, Immolatio Isaac (Anm. 2), 550. 178 Ebd., 552. Zwischen Isaaks Frage und dem Ausruf der Natura liegt der Wechsel von der 11. zur 12. Szene. 179 Ebd., 55ř. „A. […] promiseratȦ Deus id mihi: sed aliter quando visum est ei,Ȧ Nempe vt te sibi restituam [emendiert aus „se tibi“] hoc ipso tempore,Ȧ Iuuentutis in ipso flore, haud me refugereȦ Ac detrectare iussa domini conuenit.“ Theodor Mahlmann machte mich auf den Textfehler aufmerksam. Könnte dieser lapsus linguae („se tibi“), der doch wohl eher Pontanus selbst zuzuschreiben ist als seiner persona dramatis Abraham, vielleicht darauf hindeuten, wie schwer es dem Dichter fiel, ein Argument zu finden, mit dem Abraham den göttlichen Befehl seinem Sohn hätte plausibel machen können? 180 Ebd. „I. Tametsi naturà iniucundum est emori,Ȧ Et inprimis nostra aetas exhorret necem,Ȧ Tamen sic de me statuas, mi pater, velim,Ȧ Aequo, ac libenti animo voluntatem DeiȦ Atque tuam complexurum […].“ – „A. O magne dominator, pareo iußis tuis,Ȧ Quanquam natura reclamet“ (55řf.). 181 Ebd., 554.
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ten verabschiedet sich Isaak von Sara. Dagegen verliert Abraham zunehmend seine Fassung. Als er erklärt, er wünsche, lieber selbst zu sterben, als den mörderischen Befehl auszuführen, ruft ihn Ratio zur Räson: „Ne quid nimis, Abrahame.“Ⱥ182 Ähnlich wie in Bezas Tragödie gestaltet Pontanus die Aristie des Sohnes als Gegengewicht zur Schwäche Abrahams. Zwar fällt ihm das Messer nicht aus der Hand, aber auch Pontanus’ Abraham klagt darüber, wie ihm die Hand erstarre und die Finger ihm steif würden und muß sich abermals von Ratio ermahnen lassen, er zögere zu lange.Ⱥ18ř Die beschwörenden Einreden von Natura und Ratio veranschaulichen die seelische Zerreißprobe, der Vater und Sohn ausgesetzt sind. Solange sie dauert, leiden die Zuschauer mit ihnen; sobald Isaak und schließlich auch Abraham die Stimme der Natur überwunden haben, verdienen sie Bewunderung. Abrahams Widerstreben angesichts des zum Sterben bereiten Sohnes und der Ermahnungen der Natur dauert allerdings bis zum tödlichen Streich im letzten Vers der 11. Szene an. Isaaks Ungeduld, so schnell wie möglich zu Gott zu gelangen („proficisci ad dominum“) orientiert sich an Bekenntnissen frühchristlicher Märtyrer. Zweifellos ist Abrahams Prüfung schwerer als die des Sohnes, aber Abraham besteht sie. Gleichwohl dürfte es dem Leser schwerfallen, die Frage der Ratio zu beantworten, weil Pontanus uns, ähnlich wie Gregor, den Gehorsam Isaaks ebenso überzeugend vor Augen stellt wie Abrahams Gottesgehorsam. Nur dauert Abrahams Kampf länger als der Isaaks, weil er schwerer ist. Als der Engel Abraham zu Anfang der 12. Szene Einhalt gebietet, zweifelt dieser an seinem Geisteszustand: „Sumne an non sum, qui paulò ante fui ? num meiȦ Sum compos ?“Ⱥ184 Sogleich triumphiert die Natur, da sie sich für die Siegerin hält, und dankt Gott für das Wunder, Isaak verschont zu haben. Der Engel, der im Namen Gottes spricht, zeichnet Abraham zwar (gemäß Gen 22,12) wegen seines übermenschlichen Gehorsams aus und wiederholt die promissio als „mercedem virtuti“, Natura jedoch versteht das mitleidige Einlenken Gottes als erneute Chance: „Io, io DeusȦ Has misericors conciliat nobis ferias.“Ⱥ185 Sara empfängt in der 1ř. Szene die glücklichen Heimkehrer mit Erleichterung und erfährt von Abraham voller Staunen, welcher Gefahr ihr Sohn ausgesetzt war. Natura darf mit ihren scheinbar berechtigten Befürchtungen die Sympathie der Zuschauer für ihre Sicht beanspruchen. Pontanus hat 182 18ř 184 185
Ebd., 555. Ebd., 556. Ebd., 557. Ebd., 558.
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eine menschliche, sympathische Stimme der Natur geschaffen: Natura vertraut nur dem Zeugnis ihrer Sinne, und ihre Induktionsschlüsse vom Bekannten auf das Unbekannte, vom Vergangenen auf das Zukünftige klingen verführerisch.Ⱥ186 Was die Ratio dagegen empfiehlt, irritiert (aus der Sicht der Natur) durch blanke Widervernunft. Die übermenschliche Instanz erscheint in ihren Ratschlägen unmenschlich. Daher ist Natura zuversichtlich, daß sie sich mit ihren Bedenken durchsetzen werde. Was nach menschlichen Begriffen nefas eines Tyrannen ist, taugt nach Ansicht der Ratio jedoch nicht als Maßstab zur Beurteilung göttlichen Handelns. „Natur. Warum also befahl er ein so ungewöhnliches, grausames Unrecht? – Vernunft. Von wegen Unrecht, welch ein gottloses Wort. Gott kann nichts anordnen, dessen Ausführung nicht auch am besten wäre.“Ⱥ187 Die Gottesvorstellung, die Ratio Abraham vermittelt, übersteigt menschliche Einsicht. Ratio stimmt indes nicht genau mit der stoischen Position überein; Natura ist allerdings ebensowenig Anwältin der epikureischen Position. Dazu ist Ratio zu unmenschlich und Natura zu menschlich dargestellt. Ratio fordert die Überwindung der von der Natur gesteuerten Affekte. Sie rät, die Stimme der Natur zu ignorieren, obwohl diese – anders als die opiniones der stoischen Affekte – nur zum Verhalten gemäß den natürlichen Regungen der Elternliebe mahnt. In seinen Colloquia sacra hat Pontanus den Gegensatz zwischen Abraham und Isaak in der Szene vor dem Opfer noch vertieft.Ⱥ188 Als Abraham dort seinem Sohn erklärt, daß er geopfert werden solle, kann Isaak zunächst nicht glauben, daß der Befehl, ihn zu töten, von Gott komme, da dieser doch Menschenopfer – zumal das Blut Unschuldiger – ablehne, Abrahams Glauben schon durch die Verzögerung der Vaterschaft zur Genüge geprüft habe und dem Vater noch im hohen Alter reiche Nachkommenschaft versprochen habe.Ⱥ189 Isaak läßt sich gleich186 Ebd., 5. Szene, 5ř8f.; Mюѕљњюћћ-BюѢђџ, Pontanus (Anm. 164), 49f. 187 PќћѡюћѢѠ, Immolatio Isaac (Anm. 2), 6. Szene, 540. „Natura. Cur ergo iußit tam insolitum ac dirum nefas? Ratio. Eia nefas, O verbum impium: nihil potest Praecipere Deus, quod factu non sit optimum […].“ 188 JюѐќяѢѠ PќћѡюћѢѠ, Colloquiorum sacrorum libri IV (Anm. 2), hier IX, 9, 81–90. 189 Ebd., 86: „I. Stupenda memoras & quae fando ad aures nostras quidem non peruenerunt. Scimus odisse Deum humanas victimas, cruoreque hominum, praesertim insontium, neutiquam gaudere. Ille fidem & spem tuam longioreque procrastinatione exercuit, meque tibi, vt per filios, ac nepotes amplificatorem posteritatis pro singulari munere donauit. Quid ita? horum omnium tamquam inmemor, aut poenitudine ductus me immolari abs te iubet? […] quamvis hic flos aetatis, in quo ego sum, propter uitae suauitatem, quam primam gustare incipio, ab interitu vehementer abhorreat, verum vt abs te docear, & morti vicinus cum veritatem didicero, laetius occumbam.“
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wohl auch im Colloquium sacrum durch Abrahams Gehorsam belehren und rührt den Vater mit seiner Ermunterung, den göttlichen Auftrag endlich auszuführen und ihn zu töten, zu Tränen.
7. Johann Caspar Lavater Abraham und Isaak ist das einzige Bibeldrama, das Johann Caspar Lavater (1741–1826) 1776 publiziert hat. Seit 1775 war er Pfarrer an der Zürcher Waisenhauskirche; 1778 wurde er als Diakon an die St. Peter-Kirche berufen und 1786 dort zum Pfarrer gewählt. Seine Tagebücher, die seit 177ř überliefert sind, enthalten Proben einer eloquenten Selbstbeobachtung und Gewissensprüfung. Nach seiner Rückkehr aus Deutschland, wo Lavater 176ř Johann Joachim Spalding und Moses Mendelssohn kennengelernt hatte, trug sich der Zürcher mit der Idee, ein „gedicht“ oder „Lied von der Seligkeit der verklärten Christen“ zu schreiben, „worinn die unsterblichkeit mit einer philosophischen und christl. Theilnehmung […] besungen wird“.Ⱥ190 Statt eines Liedes in der Manier von Klopstocks Messias erschienen von 1768 bis 177ř in 25 Briefen Lavaters Aussichten in die Ewigkeit in drei Bänden. 1778 folgte ein vierter Band mit Zusätzen, welche auf Einwände befreundeter Gelehrter reagieren.Ⱥ191 Seit 1780 versuchte Lavater, biblisches Geschehen episch und lyrisch zu veranschaulichen und darin Klopstocks Messias, mit dem ihn sein Lehrer Bodmer bekannt gemacht hatte, an historischer Detailtreue und altisraelischem Kolorit zu überbieten. Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn ist eine Paraphrase der Apokalypse in Hexametern. Von 178ř bis 1786 erschien Jesus Messias, oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen. 1794 folgte die Idylle Joseph von Arimathea in achtfüßigen Jamben, eine empfindsame Nachdichtung des letzten Kapitels im Johannesevangelium.Ⱥ192 Von 1779 bis 1782 entstand Lavaters Jugendautobiographie.Ⱥ19ř Von 1786 190 Zitiert nach UџѠѢљю CюѓљіѠѐѕ-Sѐѕћђѡѧљђџ, „Einleitung“ zu ihrer Ausgabe von Jќѕюћћ CюѠѝюџ Lюѣюѡђџ, Aussichten in die Ewigkeit (DђџѠ., Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe 2), Zürich 2001, XVIII; UџѢљю CюѓљіѠѐѕ-Sѐѕћђѡѧљђџ, „Lavaters Aussichten in die Ewigkeit in Briefen an Johann Georg Zimmermann“, in: Alte Löcher – neue Blicke. Zürich im 18. Jahrhundert: Außen- und Innenperspektiven, hg. v. HђљњѢѡ HќљѧѕђѦȦSіњќћђ ZѢџяѢѐѕђћ, Zürich 1998, 20ř–216. 191 HюћѠ WѦѠљіћє, „Die Literatur“, in: Zürich im 18. Jahrhundert, hg. v. ёђњѠ., Zürich 198ř, 1ř1–188, bes. 170–174. 192 Jќѕюћћ CюѠѝюџ MҦџіјќѓђџ, Die Schweizerische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1861, ř60–ř6ř. 19ř Lavaters Jugend von ihm selbst erzählt, hg. v. OѠјюџ Fюџћђџ, Zürich 19ř9. Dazu s. Mюѥ Wђѕџљі, „Lavater und das geistige Zürich“, in: Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, hg. v. Kюџљ PђѠѡюљќѧѧіȦHќџѠѡ Wђієђљѡ
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bis 1789 führte Lavater ein Tagebuch, das er an seinen Sohn Heinrich richtete, der in Göttingen Medizin studierte. Es ist unter dem Titel Noli me nolle in dreizehn handgeschriebenen Heften im Lavater-Nachlaß überliefert.Ⱥ194 Aus ihm las er einem erlesenen Freundeskreis vor. In den Ansprachen an den Sohn stilisiert er sich als Gottsucher, der mit seinen intensiven Gotteserfahrungen dem Sohn ein Beispiel geben möchte. Lavaters Reflexionen über Christus, seine emotionalen Beziehungen zum Erlöser, sein Glaube daran, daß Christus sich auch in der Gegenwart durch Wunder offenbaren könne, und seine sinnliche Vergegenwärtigung der Ewigkeit knüpfen an das Johannesevangelium, die Paulusbriefe und die Johannesapokalypse an. Die überirdischen Wesen und biblischen Gestalten stellt sich Lavater nicht als immaterielle Geisterwesen, sondern eher als Übermenschen vor. Auch sie haben Sinneserfahrungen, welche aber, durch die Begegnung mit dem Göttlichen, die gewöhnlicher Sterblicher an Intensität und Reichtum übertreffen.Ⱥ195 Die Aussichten in die Ewigkeit enthalten den Schlüssel zu Lavaters Auslegung von Gen 22,1–19 in seinem Drama Abraham und Isaak. Lavater erhebt in den 25 Briefen an den Arzt Johann Georg Zimmermann den Anspruch, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und der Wiederauferstehung von Leib und Seele, die theologisch mit der Erlösungstat Christi begründet wurde, mit Hilfe naturwissenschaftlicher Forschung und der Leibnizschen Monadologie zu erklären. Zu dem Zweck trägt Lavater aus der Bibel, der Naturgeschichte und naturphilosophischer Spekulation Gründe für das Weiterleben von Körper und Seele nach dem leiblichen Tod zusammen.Ⱥ196 Aus den Contemplations de la nature des Genfer Arztes Charles Bonnet (1720–179ř) übernahm Lavater die Vorstellung, daß sich der Mensch, ein aus Leib und Seele bestehendes Wesen, mit dem Ganzen der Natur nach einem Plan der Vorsehung stetig höherentwickelt. Der Tod unterbreche nur diese Entwicklung, insofern die Seele beim Absterben ihrer leiblichen Hülle die Möglichkeit erhält, in einen vollkommeneren Körper zu schlüpfen. Der Tod gleiche dem (AGP ř1), Göttingen 1994, 9–2ř, hier 17 und 22; Gђџѕюџё Eяђљіћє, „Genie des Herzens unter dem genius saeculi. Johann Caspar Lavater als Theologe“, ebd., 22 und 40. 194 Eine Analyse präsentiert SіяѦљљђ SѐѕҦћяќџћ, Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 68), Tübingen 1999, 127–151. Leider geht sie nicht auf Bezüge zu Lavaters poetischen Darstellungen des Vater-Sohn-Verhältnisses in seinen Dichtungen Abraham und Isaak und Jesus Messias ein. 195 WѦѠљіћє, Die Literatur (Anm. 191), 174–177 und 185. 196 CюѓљіѠѐѕ-Sѐѕћђѡѧљђџ, „Einleitung“ zu Lюѣюѡђџ, Aussichten in die Ewigkeit (Anm. 190), XXf.; GіѠђљю LѢєіћяҿѕљ-Wђяђџ, „‚… zu thun … was Sokrates gethan hätte‘: Lavater, Mendelssohn und Bonnet über die Unsterblichkeit“, in: Das Antlitz Gottes (Anm. 19ř), 114–148.
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Zustand der Verpuppung einer Raupe, der Bedingung für die Entstehung eines neuen, höheren Lebewesens sei, und die himmlische Auferstehung sei als Ziel der Palingenesie der Menschenseele vorstellbar. Lavater übersetzte den zweiten Teil von Bonnets Palingénésie philosophique 1769 ins Deutsche, der außerbiblische „Beweise“ enthält, d. h. Analogieargumente aus der biologischen Lehre von der Evolution der Arten, für die christliche Vorstellung eines ewigen Lebens nach dem Tode. Über Bonnets Abhandlung, die Leibniz’ Monadenlehre weiterdenkt, schreibt Lavater voller Begeisterung, „Sein Buch ist izt meine Bibel – es macht mir aber die Bibel noch schäzbarer.“Ⱥ197 Lavater widmete seine BonnetÜbersetzung Moses Mendelssohn, dessen Phädon Lavater zum Nachdenken über „Ewigkeit“, „Unsterblichkeit“ und die Fortexistenz der „abgeschiedenen Geister“ angeregt hatte,Ⱥ198 in der kühnen Absicht, mit Bonnets naturgeschichtlichen Argumenten den jüdischen Philosophen von der Überlegenheit der christlichen Erlösungs- und Auferstehungslehre zu überzeugen. Die Aussichten in die Ewigkeit, diese Spekulationen über das Weiterleben von Körper und Seele nach dem leiblichen Tode, sind das theologische Hauptwerk Lavaters, das von Goethe und Herder gelobt, aber von Zürcher Theologen als spinozistisch verurteilt wurde.Ⱥ199 Sein Drama Abraham und Isaak liefert zu diesen Spekulationen die Anschauung. Denn die Prüfung Abrahams ‚funktioniert‘ nach Lavater, weil Abraham und mehr noch Isaak den Tod als Durchgang zu neuem Leben zu begreifen lernt. In den Aussichten in die Ewigkeit nennt Lavater Abrahams „Aufopferung seines Sohnes“ bereits als Beispiel für seine Befolgung des göttlichen Willens, der durchaus Teil des Gesamtplans der Natur sei, jedes Wesen zu seiner „Vollkommenheit“ zu bringen.Ⱥ200 In seinem Drama sind Abraham, Isaak und Sara eine durch die wunderbaren Offenbarungen des Bundesgottes geadelte Familie. Emotionale Anteilnahme verdienen die Mitglieder dieser göttlichen Familie aufgrund ihrer extremen Sensibilität: Ihre Sinneswahrnehmungen beziehen sich auf ihre natürliche Umgebung, schließen aber Übersinnliches mit ein und sind eine Quelle überschwenglicher Gefühlsoffenbarungen. Abraham und Isaak sind wie Christus selbst außergewöhnliche Menschen. Wem sich Gott offenbart, der empfängt außergewöhnliche Kräfte. Nach Manifestationen des Göttlichen suchte Lavater in seiner Gegenwart selbst. Insofern ist Isaaks Wunsch, wie Abraham den Un197 Zitiert von CюѓљіѠѐѕ-Sѐѕћђѡѧљђџ in Lюѣюѡђџ, Aussichten in die Ewigkeit (Anm. 190), 18, Anm. 65. 198 LѢєіћяҿѕљ-Wђяђџ (Anm. 196), 116f. 199 CюѓљіѠѐѕ-Sѐѕћђѡѧљђџ, Einleitung (Anm. 190), XXXIf. und XLIf.; LѢєіћяҿѕљ-Wђяђџ (Anm. 196), 118. 200 Lюѣюѡђџ, Aussichten in die Ewigkeit (Anm. 190), 6. Brief, 6ř und 67f.
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sichtbaren schauen zu dürfen, eine Projektion der eigenen Sehnsucht nach übernatürlichen Geistoffenbarungen. Johann Caspar Mörikofer schreibt über das Drama Abraham und Isaak, „daß Lavatern vielleicht in keinem andern Gedichte [!] die lebendige Darstellung seiner höchsten Sehnsucht, des Anschauens Gottes, so wohlgelungen wie hier“ sei.Ⱥ201 Isaak liebt und bewundert seinen Vater, weil sich Gott diesem direkt offenbart hat. Der Sohn dürstet danach, von der Hand des Vaters zu sterben, in der Hoffnung, dadurch wie dieser der Begegnung mit Gott teilhaftig zu werden. Über eine Aufführung von Lavaters Drama ist nichts bekannt; sie ist angesichts der geistlichen Zensur in Zürich unwahrscheinlich. Abraham und Isaak war, ähnlich wie Bodmers historisch-politische Schauspiele, für die individuelle Lektüre gedacht. In seinem „Vorbericht“ begründet Lavater die Wahl des Sujets. Durch seine Erklärung, wie sein Drama entstanden sei, widerlegt er Bedenken, die tentatio Abrahams könne nicht in poetischer Sprache dem Denken und Fühlen nahegebracht werden. Ich dachte mir gern Abraham in der Situation, in welcher ihn die Schrift zeigt, ich fühlte mich gern in sein Herz und seine Lage, seine Gesinnungen, seinen Glauben hinein – und schrieb, und mir war wohl beym Schreiben, und las – und einigen edlen Menschen war wohl beym Lesen – und ich darf denken, daß noch manchem wohl dabey werden dürfte.Ⱥ202
Voraussetzung für die wohlwollende Rezeption dieses religiösen Dramas sei der gemeinsame Glaube an Abrahams Glauben. Das Drama besteht aus drei „Handlungen“. Die Offenbarung des Engels und die Mitteilung Abrahams an seinen Sohn, daß er ihm auf eine Opfer-Reise folgen solle, stehen im Zentrum des ersten Akts. Im zweiten Akt werden die Reisevorbereitungen im Morgengrauen dargestellt. Die Abschiedsszene ist Teil eines Morgenmahls, das an das letzte Abendmahl Christi erinnern soll. Die Schwierigkeit Abrahams, Isaak am Ziel der Opferreise darüber aufzuklären, daß er ihn gemäß dem göttlichen Auftrag töten müsse, füllt mehr als die Hälfte des dritten Akts. Der Vollzug des Opfers, einer archaischen Handlung, die nach Abrahams Überzeugung Gott doch nicht wollen könne, wird durch sorgfältige, aufwendige Vorbereitungen und gefühlvolles Voneinander-Abschied-Nehmen retardiert. Abrahams Rückblicke auf die Stationen seines Lebens werden durch überschwengliche Lobpreisungen Gottes unterbrochen. Abraham ist zwar durch Gottes Offenbarungen ausgezeichnet, aber die Empfäng201 MҦџіјќѓђџ (Anm. 192), ř60. 202 Jќѕюћћ CюѠѝюџ Lюѣюѡђџ, Abraham und Isaak. Ein religiöses Drama, Winterthur 1776, Vorbericht (datiert auf den 11. Juli 1775).
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lichkeit für Gottes Manifestationen in der Natur – „des Nachts beym Mondenschein“ oder „im Morgenthau des Frühlings und an der stillen Mondnacht“ – verbindet ihn mit gewöhnlichen Menschen: „Abraham. Sarah! Wer Ihn an solchen Abenden nicht fühlt – nicht nahe fühlt, der wird Ihn nie empfinden!“Ⱥ20ř An Gen 15,1–6 anknüpfend, lokalisiert Lavater die Gottesoffenbarung in Raum und Zeit und erklärt sie als Traumvision. Den Vergleich der unzählbaren Nachkommen Abrahams mit den unzählbaren Sternen (Gen 15,5) verlegt Lavater in die freie Natur, wo „jedes Blümchen, jeder Halm, und jeder Tropfen Thau“ dem Erzvater das Leben und Gottes Präsenz veranschaulicht habe.Ⱥ204 Sara war die erste, der Abraham seine wunderbare Begegnung mit Gott mitteilte. Isaak wünscht sich nichts sehnlicher, als daß sich Gott ihm wie dem Vater zeige.Ⱥ205 Gott und seine Offenbarungen sind das Tagesgespräch. Aber wie unbegreiflich er sogar für Abraham, den Auserwählten ist, erfährt er in der Versuchungsszene. Wie Gregor von Nyssa zerlegt Lavater den göttlichen Auftrag in eine Reihe von Einzelbefehlen, die in Abraham bestimmte Erwartungen wecken, die freilich alle überboten werden.Ⱥ206 Die Stimme verlangt von Abraham zunächst ganz unbestimmt ein Opfer, es solle aber kein Tieropfer sein, sondern ein besonderes Brandopfer, und nicht vor Abrahams Hütte, sondern „auf einem Berge […] drey Tagesreisen weit von hier“. Als Abraham sich nach dem Tier erkundigt, das Gott sich „zum Brandopfer“ wünsche, erfährt er endlich, daß Isaak das Brandopfer sein solle, das Abraham selbst schlachten solle. Je deutlicher Gottes grausamer Auftrag wird, umso mehr manifestiert er seine Allmacht durch Donnerschläge, Erdbeben und plötzliche Finsternis. Sofort regen sich Zweifel, ob der Auftrag tatsächlich von Gott komme, da Abraham es nicht fassen kann, wie sich die göttliche Verheißung mit dem Befehl, Isaak zu schlachten, vertrage. Diesen Zusammenhang formuliert auch Zwingli zu Gen 22,ř.Ⱥ207 Um sich zu überzeugen, daß der Engel ein göttlicher Bote sei, versucht Abraham ihn am „Saum seines Kleides“ zu fassen. Lavater inszeniert mit dieser Geste Zwinglis Stimme des Zweiflers: „Quis me certum reddet an haec uox, hoc uerbum, Dei sit an impostoris?“Ⱥ208 Der Engel ermahnt ihn zum Gehorsam und zum Glauben. Sein Verweis auf Mt 22,ř2 vermag den Vater noch nicht zu trösten, wird aber im dritten
20ř 204 205 206 207 208
Lюѣюѡђџ, Abraham und Isaak (Anm. 202), 11. Ebd., 15. Ebd., 21. Ebd., ř1–ř4. ZѤіћєљі, Farrago, 1527 (Anm. řř), 241. Ebd.; Lюѣюѡђџ, Abraham und Isaak (Anm. 202), ř7.
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Akt Isaak die nötige Zuversicht geben. Abrahams Gefühlsverwirrung kommt in seinem Stammeln zum Ausdruck. Lavaters Kommunikationsideal, das er in seinem Zürcher Freundeskreis kultivierte, ist grenzenlose Offenheit und schonungslose Aufrichtigkeit. Vor Freunden und Angehörigen Geheimnisse zu haben, zerstört das gegenseitige Vertrauen. Für alle Handlungen können Gründe gegeben werden, und ihre Erklärung wird auch aus dem Bedürfnis nach Anteilnahme gefordert. Eine menschengerechte Begründung verlangt Abraham daher auch vom Engel. Die dramatische Spannung erwächst aus Abrahams Versuchen, Isaak und Sara aus zärtlicher Schonung den Inhalt des Auftrags zu verheimlichen, obwohl sie vom Vater einen genauen Bericht von der Erscheinung erwarten. Lavaters Abraham plaudert tatsächlich mehr aus als es nach Gregors Ansicht klug und zweckmäßig war, weil Isaak und Sara, ihrer Gewohnheit nach, forschend in ihn dringen. „Sarah. Von Isaak, sprach sie nichts von Isaak die Stimme der Erscheinung? Abraham. Sie sprach von Isaak […].“ Abrahams Tränen und der Ton seiner Stimme beunruhigen Sara.Ⱥ209 Als Isaak die erste Hälfte des göttlichen Auftrags erfährt: „Nimm Isaak, diesen deinen Eingebornen, den du lieb hast“, ist er entzückt und glaubt sich seinem Ziel nahe, wie der Vater Gott sehen zu dürfen.Ⱥ210 Wie in Bezas Tragödie, wünscht sich Sara, daß Abraham Opfertiere aus seiner Herde mitnähme. Böse Vorahnungen vom nahen Tod eines Angehörigen kündigen sich nicht wie in der Immolatio des Pontanus durch einen prophetischen Traum an, sondern sie umschweben Saras und Abrahams Stirn. Sara, Isaak und die Hausknechte lesen dem Erzvater seine Gefühle und Gedanken von seiner Miene ab. Sara stellt beim Morgenmahl ihrem Gatten ähnliche Fragen wie in Bezas Tragödie. Neu, aber auch typisch für diese Familie, die kommunikative Isolation nicht erträgt, ist die Anhänglichkeit der Mutter: Am liebsten würde sie Vater und Sohn begleiten. Die Reisevorbereitungen, von denen alle im Haus Zeugen sind, fügen sich mit Abrahams aus Gregors Sicht äußerst leichtsinnigen Enthüllungen zu einer Indizienkette zusammen, die das Bevorstehende beinahe schon erraten lassen: Von Isaak habe die Stimme gesprochen, Abraham verlange ein scharf gewetztes Schlachtmesser, aber lehne die Mitführung eines Opfertiers ab, und das geheimnisvolle Opfer solle fern vom Haus vollzogen werden. Daher kommen Abrahams und Saras Bekräftigung der Verheißung und ihres festen Glaubens daran, daß Isaak ihr Hoffnungsträger sei, in der Abschiedsszene einer kontrafaktischen Beschwörung des Unvorstellbaren gleich. Nur Isaak freut sich auf
209 Ebd., 50 und 52. 210 Ebd., 7ř.
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die Opferreise, da er von ihr eine Initiation in die von Gottes Präsenz beherrschte Welt des Vaters erhofft. Der dritte Akt spielt auf dem Berg Morija. Vater und Sohn arbeiten schwer, um den Opferaltar zu errichten. Isaak glaubt noch, während er die Glut in der Opferpfanne anbläst, an ein Wunder, das ein geeignetes Opfertier herbeizaubern werde. Abraham scheut sich, Isaak zu eröffnen, daß er vorhabe, ihn zu schlachten. Länger als in der Fuldaer Actio sacra und in Pontanus’ Immolatio wird der Moment der Enthüllung hinausgezögert. Am liebsten sähe es Abraham, Isaak würde sein Vorhaben erraten. Aber in einer Familie, in der Offenheit und Vertrauen herrschen und alle Handlungen durch Liebe und Rücksicht motiviert werden, kommt der Sohn nicht auf den Gedanken, daß Abraham ihm etwas zuleidetun könnte. Für wahrscheinlicher hält Isaak, daß Abraham sich selbst Gott zum Opfer bringen wolle. Als Abraham dies jedoch ablehnt, fragt Isaak dreimal: „Bin ich, bin ich es?“Ⱥ211 Mit einem so brutalen, unmenschlichen Gott, der seinem Vater befiehlt, ihm den Sohn zu schlachten, hat Isaak jedoch nicht gerechnet. Seine Natur wehrt sich zunächst gegen das Entsetzliche, bevor er sich gehorsam entkleiden läßt. Abrahams Hinweis: „Gott – der ja der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist – ist nicht ein Gott der Todten, sondern der Lebendigen“ (Mt 22,ř2), tröstet ihn. Der Glaube, daß der Tod, den Gott angeordnet hat, nicht endgültig sei, sondern nur die Passage zu neuem, höheren Leben, hält Vater und Sohn in dieser Prüfungssituation aufrecht. Während der Opfervorbereitung beobachtet Isaak, wie aus einer Puppe ein zarter Schmetterling schlüpft und sich in die Lüfte erhebt. Die Erneuerungs- und Schöpfungskraft in der Natur, die er im Kleinen bemerkt, weckt in Isaak die Hoffnung auf Auferstehung vom Tode. Die Natur mit ihren biologischen Entwicklungsgesetzen wird für Isaak zur Lehrmeisterin einer Glaubenswahrheit. Abraham. […] Der kriechende Wurm ist zum fliegenden Vogel geworden. Wunderbare Verwandlung. […] So führt Gott durch den Tod ins neue, freyere Leben! So führt er von Leben zu Leben! […] Isaak. Sind wir vielleicht izt noch Würmer, die am Staube der Erde kriechen? Und heben uns einst, wann dieser Körper hinfällt, mit freyem kühnem Schwung über die Wolken, sind einst vielleicht den himmlischen Boten ähnlich […].Ⱥ212
Lavater konstruiert hier ein Argument aus der natürlichen Theologie, das aus den Gesetzen der Natur, aus Gottes Schöpfung, eine Glaubenswahrheit a posteriori bestätigt. Wer nichts von einer biblischen Offenbarung weiß oder sie für zweifelhaft hält, müßte sich durch empirische
211 Ebd., 122f. 212 Ebd., 10ř.
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Zeugnisse der Palingenesie in der Pflanzen- und Tierwelt davon überzeugen lassen, daß es keinen endgültigen Tod gebe, sondern Sterben nur den Übergang bildet zu einer höheren Stufe des Lebens. Mit einem ähnlichen Argument hoffte Lavater 1769 Moses Mendelssohn von der Wahrheit des Christentums zu überzeugen und zur Konversion zu veranlassen.Ⱥ21ř Die Natur müsse, glaubte Lavater, die Wirkung des Erlösungsgeschehens a posteriori auch demjenigen bezeugen, der den Offenbarungsgehalt des Neuen Testaments ablehnte. Der Wurm, der sich als Schmetterling entpuppt, ist ein Beispiel für die „philosophische Palingenesie“, für die Charles Bonnet Belege sammelte. In seiner Abhandlung La palingénésie philosophique, die Lavater übersetzt hat,Ⱥ214 entwickelte Bonnet auf der Grundlage seiner physiologischen Nervenpsychologie eine Theorie der Höherentwicklung natürlicher Wesen bis zur Unsterblichkeit. Die Seelen bleiben, wenn der Körper stirbt, erhalten und kumulieren ihre Kräfte, um damit künftige Lebewesen auszustatten, in die die Seele als nächste schlüpft. Nach Lavaters Ansicht hatte Bonnet die Unsterblichkeit der Seele mit Hilfe seiner physiologischen Psychologie bewiesen. Auf dem fortgeschrittenen Niveau der Naturforschung war, wie Lavater glaubte, das Dogma vom ewigen Leben nach dem Tode empirisch nachvollziehbar geworden, welches in der biblischen Offenbarung noch durch Wunder beglaubigt werden mußte. In seinem Drama führt Lavater die natürliche Verwandlung eines Wurms in einen Schmetterling als Präfiguration eines christlichen Dogmas ein, das Abraham und Isaak noch gar nicht kennen konnten. Lavater ersetzt die typologische Deutung der Opferung Isaaks durch ein zeitgemäßes Argument aus der natürlichen Theologie, welches Isaak und seinem Vater bereits eine Vorahnung von der Erlösungstat durch Christus und ihrer biologisch wohltätigen Folgen vermitteln konnte. „Gott ist nicht Gott der Todten, ist Gott der Lebenden“ ist die Maxime, die Abraham den Mut verleiht, nach zwei vergeblichen Versuchen den Dolch emporzuheben; mit diesem Wort aus Mt 22,ř2 auf den Lippen, kniet Isaak auf dem Steinaltar, in Erwartung des tödlichen Hiebs.Ⱥ215 21ř MќѠђѠ MђћёђљѠѠќѕћ, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 7, hg. v. Sіњќћ RюѤіёќѤіѐѧ, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, 1–64; Aљђѥюћёђџ Aљѡњюћћ, Moses Mendelssohn. A Biographical Study, London 197ř, Kapitel ř, 194ff. und 201ff.; JѢљіѢѠ H. SѐѕќђѝѠ, Moses Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1979, 95ff. 214 CѕюџљђѠ Bќћћђѡ, La palingénésie philosophique, 2 Bde., Genf 1769; Philosophische Palingenesie. Aus dem Französischen übers. und mit Anmerkungen hg. v. Jќѕюћћ CюѠѝюџ Lюѣюѡђџ, 2 Teile, Zürich 1770; der zweite Teil, der, wie gesagt, Mendelssohn gewidmet ist, hat die Überschrift: „Philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum. Samt desselben [d. h. Bonnets] Ideen von der künftigen Glückseligkeit des Menschen“. 215 Lюѣюѡђџ, Abraham und Isaak (Anm. 202), 1ř5.
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Nachdem die Stimme des Engels ihn verhindert hat, interpretieren Abraham und Isaak die glückliche Wende als Auferstehung vom Tode. Die Erfahrung: „Ich habe Gott gesehen! Ich war schon todt, und bin lebendig wieder. Ich habe Gott gehört – Gott nicht der Todten! Gott der Lebendigen!“ erfüllt Isaak mit „Auferstehungsfreude“. „Gott, Dich hab ich gesehen – Dich Auferstehungswonne vorgefühlt.“Ⱥ216 Die Verkündigung des Engels in Gen 22,15, daß Gott mit Abrahams Willen zum Vollzug des Opfers zufrieden sei und ihn als Zeugnis seines Gehorsams anerkenne, erfährt Isaak wonnetrunken als die lang ersehnte Schau des Erlösers und glaubt sich nun dem Vater ebenbürtig.Ⱥ217 Tatsächlich zitierte der Engel in Gen 22,15 den Herrn (in der Ich-Rede). Dies brachte Gregor von Nyssa auf die Idee, den Engel, der Abraham ansprach, (gemäß der Septuaginta-Übersetzung von Jes 9,5) mit dem „Engel des großen Rats“ zu identifizieren, den Jesaja gleichgesetzt habe mit dem „eingeborenen Gott“.Ⱥ218 Isaak vollzieht bei Lavater diese Gleichsetzung nach: Der Engel, dessen Stimme er und Abraham zugleich gehört haben und der den Herrn zitierte, wird von ihnen mit dem Erlöser, also mit Christus, gleichgesetzt. Abraham und Isaak wünschen sich einen Gott mit menschlichen Zügen, den sie lieben, verehren und dessen Anordnungen sie verstehen können. Der unerforschliche Gott, der eine Brutalität anordnet, ist ihnen unerträglich. Einen Gott, der seine eigene Verheißung zunichte zu machen droht und der in seinen Ratschlüssen unberechenbar ist, halten Abraham und Isaak nicht aus. Daher trösten sie sich mit der Vorstellung eines Gottes, der Vater eines Erlösers sein werde. Deswegen bietet ihnen das Wort Jesu an die kasuistischen Sadduzäer (Mt 22,ř2) ein Trostargument.Ⱥ219 Diese Offenbarung bestätigt, was Isaak schon durch Naturbeobachtung entdeckt hat. Die Natur lehrt Isaak am Beispiel des Schmetterlings, wie neues Leben entstehe, daß Sterben nur Verwandlung zu höherem Leben sei, daß der Schöpfer mithin sich um Lebendiges mehr kümmere als um Totes. Die Larve, die sich zum Schmetterling verwandelt, gleicht dem, der nach Hebr 11,12 erstorben ist, aber aus dessen Leib so viele geboren werden wie es Sterne am Himmel gebe. Lavaters Drama ist ein später Versuch, die Forderung Zwinglis umzusetzen, man solle die 216 217 218 219
Ebd., 1ř7 und 151. Ebd., 145f. Vgl. den letzten Abschnitt in Theodor Mahlmanns Übersetzung und Anm. 11. Auch in den Aussichten in die Ewigkeit zitiert Lavater Mt 22,ř2 dreimal, als biblischen Beleg für die von Bonnet formulierte Theorie der biologisch unendlichen Höherentwicklung der Menschen. Lюѣюѡђџ, Aussichten in die Ewigkeit (Anm. 190), 95. 100. 622.
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biblischen Worte empfindsam nachvollziehen. Dazu verhilft die freie Natur, in der sich Gott Abraham gezeigt hat und die für das Verständnis der tentatio mehr als nur Kulisse ist: ein Gleichnis, das die affektive Aufnahme des Evangeliums vom ewigen Leben, das durch Christi Erlösung möglich geworden ist, erleichtert. Die Manifestationen Gottes in der Natur sind Beispiele aus dem Buch der Natur, das in Lavaters Drama dem modernen, bibelkritischen Leser hilft, die Konditionierung zum blinden Gottesgehorsam, die am Beispiel der tentatio Abrahams vorgeführt wird, als Angebot aufzufassen, überall nach Zeugnissen für die wohltätigen Folgen der Erlösungstat zu suchen. Lavaters menschlich schwacher Abraham, der den Saum des Engels zu haschen sucht, um sich über seine göttliche Herkunft zu vergewissern, radikalisiert Tendenzen der Humanisierung, die Beza in der Gegenüberstellung mit dem an Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung zunehmenden Sohn schon auf die Spitze getrieben hat.
8. Johann Jakob Bodmer Lavaters Lehrer Bodmer war mit diesem Mitleid erregenden Erzvater nicht einverstanden. Seine theologisch und wirkungspoetologisch akzentuierte Kritik trug er in einem Gegenentwurf vor. Sein aus fünf Szenen und einer Erzählung bestehendes religiöses Drama ist eine Parodie.Ⱥ220 In früheren Parodien wählte sich Bodmer Gotthold Ephraim Lessing als Propagator einer neuen Poetik des sozial nützlichen Mitleids und veranschaulicht in Form einer parodistischen Lessing-Korrektur, wie ein Drama beschaffen sein müsse, damit es zur moralisch-politischen Bildung des Publikums beitragen könne.Ⱥ221 In seinem Polytimet rügte Bodmer 1760 die Konzeption eines kindlich schwachen Helden in Lessings Einakter Philotas (1759) und hielt ihm das Ideal eines verantwortungsbewußten, friedfertigen Herrschers entgegen, der eher seiner vom französischen classicisme inspirierten Poetik der Bewunderung 220 Darauf hat Hans Wysling hingewiesen (WѦѠљіћє, Die Literatur [Anm. 191], 147). Mir lag das Exemplar der ZB Zürich vor: Jќѕюћћ Jюјќя Bќёњђџ, Der Vater der Gläubigen. Ein religiöses Drama, Zürich 1778. Auf der Titelblattvignette ist abgebildet, wie sich Isaak und Abraham umarmen, während Abraham mit der rechten Hand himmelwärts weist. 221 Jќѕюћћ Jюјќя Bќёњђџ, Polytimet. Ein Trauerspiel. Durch Lessings Philotas, oder unerathenen Helden veranlaßt, Zürich; ёђџѠ., Odoardo. Ein Pendant zu Emilia. In einem Aufzuge, und Epilogus zur Emilia Galotti. Von einem längst bekannten Verfasser, Augsburg 1778. Dazu vgl. Kюѡїю FџіђѠ, Der Zürcher & der Sachse oder wie Johann Jakob Bodmer Gotthold Ephraim Lessing parodiert. Lizentiatsarbeit im Fach Neuere Deutsche Literatur, Universität Bern 2006.
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und der Erhabenheit entsprach.Ⱥ222 Auch an der Statur Odoardo Galottis in Lessings Emilia Galotti nahm Bodmer Anstoß, indem er diesem bürgerlichen Trauerspiel gleichsam einen sechsten Akt hinzufügte, in dem Odoardo einsieht, daß die Tötung seiner Tochter (die sich Bodmer als Selbstmord denkt) politisch nutzlos gewesen sei und eine direkte Rache am Prinzen, dem Verführer Emilias, und seines Helfers Marinelli die politisch vernünftigere Tat gewesen wäre. Abraham wäre nicht der Erzvater, wenn er in der Reaktion auf die tentatio menschliche Schwächen gezeigt hätte. Ein Abraham, der am Sinn und an der göttlichen Herkunft des Auftrages zum Sohnesopfer zweifeln könnte und der sich davor scheut, Isaak über das ihm anbefohlene Holocaustum aufzuklären, würde zwar, ähnlich wie die tränenreiche Sara, Mitleid erregen, aber ein Geschehen profanieren, in dem Bodmer eine Offenbarung und Epiphanie des Göttlichen sieht, deren nur der von Gott als Stammvater seines Volkes privilegierte Patriarch würdig sei. An Bodmers Abraham prallen daher die Bedenken gewöhnlicher Väter und Mütter auf ähnliche Weise ab wie an Gregors Abrahamgestalt. Bodmer übernimmt von seinem Zürcher Schüler Lavater das Motiv Isaaks, seinem Vater nachstreben und wie er Gott leibhaftig schauen zu wollen. Die gemeinsame Reise zur Opferstätte und die Bereitschaft, sich vom Vater auf dem Altar schlachten zu lassen, deutet auch Bodmer als Initiation des Sohnes in den Gottesbund. Isaak berichtet Sara nach der Heimkehr voller Stolz, daß sich ihm durch die Stimme des Engels Gott sinnlich offenbart habe. Allerdings hält Bodmers Abraham den Ehrgeiz des Jünglings, Gott wie eine Menschengestalt sehen zu können, für frevelhaft. Er übt Kritik an Isaaks (von Lavater übernommener) Theologie ohne Transzendenz, die sich in der Hoffnung äußert, Gott sinnlich wahrnehmen zu können. Gott prüfe auch den rechten Glauben: Falsch wäre es, sich den Herrn menschlich vorzustellen, wie es Lavaters heilige Familie fordert. Isaak muß von diesem, Gott herabsetzenden Glauben kuriert werden: Isaak. O ! meine Seele wollte sich an einen Gott gehalten haben, der fühlbarer bey mir wäre, den ich menschlicher geniessen könnte. Gott kann, so dacht ich in der Hoheit meiner Seele, wenn es ihm beliebt, den Menschen zu dem oder jenem Gipfel der Gemeinschaft mit ihm erheben, oder er kann sich zu ihm in dem niedern Grade, den er fassen mag, herablassen. Ach! Einen Gott wollte meine Seele, der Mensch ist, doch allmächtig, herrlich, und Gott. 222 Zu Bodmers Konzeption des idealen, moralisch und politisch mustergültigen Helden vgl. Aљяђџѡ Mђіђџ, Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politischklassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts (Das Abendland NF 2ř), Frankfurt a. M. 199ř.
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Abraham. Was für Worte flossen dir, mein Sohn, von den Lippen? Einen Gott, sagst du, der Mensch und Gott ist? Sind das Worte, dabey du etwas denkest, und kannst du Gott und Mensch in Eins vermischt dir denken?Ⱥ22ř
Abraham findet dieses Verlangen vermessen, weil die Vorstellung eines menschlichen Gottes den Glauben an die menschliches Begreifen übersteigende Erfüllung der Verheißung schwächen könnte: „Der Glaube an die Verheissungen hat mehr Verdienste als der an die Erscheinungen.“Ⱥ224 Isaak solle dieses Begehren Gott anheimstellen, denn schnell seien Menschen vom unerforschlichen Gott überfordert. Bodmers Abraham ist theologischer Lehrer. Er zieht seinen Hausknecht Elieser ins Vertrauen und klärt ihn über Inhalt und Zweck der Reise auf. Auch will er Sara den Auftrag nicht verheimlichen. Beide sollen lernen, den Tod für gering zu achten, im Vertrauen auf Gottes Ratschluß, kraft seiner Allmacht trotzdem die promissio wahrzumachen. Elieser bringt einige der Argumente vor, die Gregor hypothetisch einem gewöhnlichen Vater zuschreibt: Elieser. Wie, wenn Gott dich prüfen wollte, ob du dem ewigen Gesetze der Vaterliebe, die er in die Herzen gepräget hat, Treue halten wolltest? Gehe zurück an den Ort, wo die Erscheinung stand, flehe daß der dir das Vaterherz gab, der den Sohn dir gab, diesen Kelch der Bitterkeit dir abnehme [Mt 26,ř9], flehe daß Er, aller Welt gerechter Richter, die Unschuld nicht bluten lasse, daß ihn nicht gereue dein Erbarmen zu sehen. Abraham. Ihm sollt’ ich Vorstellungen machen? Der ewigen Weisheit? Mit ihr sollt ich rechten; sie sollte mir antworten? Und kann ich ihr antworten?Ⱥ225
Wie bei Lavater, begreift Abraham den irdischen Tod nur als Beginn einer Verwandlung zu höherem Leben, wie es das Beispiel des Schmetterlings lehrt. Nichts Erschaffenes vergeht, es ändert nur Ort und Gestalt. Es ist nicht Tod, wenn die Raupe in den Papillon übergehet, und Verwandlung sollte es heissen, wenn die irdische Gestalt in ätherische umgekleidet wird.Ⱥ226
Abraham dringt zu einer mit dem gütigen Gott verträglichen Interpretation des Sohnesopfers vor, so als wüßte er bereits von der Existenz eines stellvertretend für die Menschen leidenden Erlösers. Gott lasse Isaak nicht zur Strafe für irgendeine Schuld sterben, vielmehr fordere er Isaak aus Liebe zu sich. „Es ist Güte, daß er ihn aus dem Leben des Todes in seine Herrlichkeit fodert. Der Unschuldige ist dem Tode verlobt, wie der Schuldige. Isaak stirbt, weil der Mensch sterblich ist.“Ⱥ227 Für Abraham ist der Vollzug des Tötungsbefehls kein Hinderungsgrund, an die promis22ř 224 225 226 227
Bќёњђџ, Der Vater der Gläubigen (Anm. 220), 1. Szene, 11. Ebd. Ebd., 26. Ebd., 27. Ebd.
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sio zu glauben, denn für Gott, den „Regierer der Natur“ ist nichts unmöglich; „er hat nicht mehr Mühe von dem Todesschlafe aufzuwecken, als zu erschaffen.“Ⱥ228 Hat er nicht Isaak aus dem erstorbenen Leibe der Sarah kommen lassen? Das war, mir einen Sohn wie aus Stein erzeugen [Mt ř,9].Ⱥ229
Gott vollbringe „ohne unsern Dienst […], was in seinem Plan ist“. Auch wenn er das „Scheiden aus dem Leibe des Todes befiehlt“, versiege nicht „die Urquelle alles Lebens“Ⱥ2ř0 Die Einweihung Saras in den Opferbefehl begründet Abraham damit, daß auch sie lerne, ihre Liebe nicht an Irdisches zu hängen und im Vertrauen auf ein Leben nach dem Tod Gott zu gehorchen. Sollt ich sie nicht an der Prüfung, die Gott mir vorgelegt hat, Theil nehmen lassen, daß sie dem Ewigen ihren Gehorsam, ihren Glauben an seine Worte bewähren kann, wiewohl es Stacheln in das Mark ihrer Gebeine seyn werden?Ⱥ2ř1 Gottes Worte bleiben fest wie die Berge, die er gegründet hat [Ps 87,1; ř6,7]; aber wird der schärfste Verstand des Menschen von gestern ihm die Wege vorbezeichnen, durch welche er sie erfüllen soll? Gottes Weisheit ordnet unser Schicksal zu ihrem Endzwecke, sie würkt im Dunkeln, und du siehest die Kette nicht, die alles verbindet. Isaak mag durch den Tod von uns genommen werden, aber Gott kann ihn lebendig zu sich nehmen, wie er Enoch zu sich genommen hat [Gen 5,24]. Welche blinde Zärtlichkeit der Mutter, die dann sich wollte grämen, die das Herz gegen den Ewigen sich empören liesse!Ⱥ2ř2
Tadelnswert findet Abraham, Gott nach menschlichem Ermessen vorschreiben zu wollen, daß er seine promissio im Einklang mit der mütterlichen Zuneigung an Isaak erfüllen solle. Die Einsicht, daß Abrahams und Isaaks Gott „nicht ein Gott der Todten, sondern der Lebendigen“ [Mt 22,řř] sei, richtet schließlich Sara auf, und sie lernt, ihre Leidenschaften, ihre stürmische Mutterliebe, zu besiegen: […] ich soll der mütterlichen Brust befehlen, daß sie nicht in Wallungen, in Unruh aufströme. (Sie gießt einen Bach Thränen.) Möchte ich mich gelehnet auf deinen Glauben, Abraham, emporheben! Bitte du für mich den Ewigen, der mich aus Staube gemachet hat, daß er dem Fleische den Ungestüm verzeihe, den mein Geist zuerst verurtheilt. – Ist ihm so, soll ich den verheissenen Erben weggeraft, und die Verheissungen, die dir in ihm gegeben werden, unerfüllt sehen und anbeten?Ⱥ2řř 228 229 2ř0 2ř1 2ř2 2řř
Ebd., ř7. Ebd., 29. Ebd., ř0. Ebd., ř1. Ebd., ř0. Ebd., ř6. Am Ende dieser Lektion im Gottesgehorsam bereut sie: „Hab ich Isaak vielleicht zu sehr geliebt ?“ (ebd., ř8).
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Bodmer weigert sich, das Geschehen auf Morija zu inszenieren, sondern läßt es die beiden Rückkehrer der Mutter erzählen. Bodmer bricht mit der dramatischen Illusion, wahrscheinlich aus Angst, daß eine Zerlegung der Aktion in einzelne Schritte – die schweißtreibende Arbeit bei der Errichtung eines Steinaltars, die Präparierung Isaaks als Opfer und das Eingreifen des Engels – und das Spiel mit der Erwartung der ZuschauerȦLeser, die Lavater durch extreme Retardierungen anspannt, das transzendente Ereignis in Gen 22,10–15 profanieren würde. Isaak habe sich als folgsamer Schüler des Vaters erwiesen, indem er dem eigenen Tod in Erwartung, daß er dadurch nicht von Gott getrennt würde, freudig entgegensah.Ⱥ2ř4 Bodmer gestaltet die tentatio auch als Prüfung Isaaks. Da er standhaft blieb, gab sich der Herr „ihm in der Gestalt des Menschen zu schauen“ und ließ seine Stimme „wie die Stimme des Menschen […] hören.“Ⱥ2ř5 Isaak erweist sich als würdiger Träger der Verheißung. Kämpfe gegen innere oder äußere Feinde müssen diese von Gott privilegierten Ausnahmemenschen nicht bestehen. Ihr Gottvertrauen ist selbstverständlich, weil sie nicht fürchten, daß Gott sich wie ein Mensch verhalte.
2ř4 Ebd., 44. 2ř5 Ebd., 47.
Gehorsam und Begnadung Die ‚Opferung Isaaks‘ als gemalte Kunsttheorie von JќѠђѝѕ Iњќџёђ Seit langem weiß man davon, daß Andrea del Sartos ‚Opferung Isaaks‘ (vgl. Tafel 16 im Anhang) eine Anspielung enthält, eine Allusion auf die vielleicht berühmteste, in der Renaissance bekannte Skulptur der Antike, nämlich auf die im Januar 1506 in Rom entdeckte ‚Laokoon-Gruppe‘ (vgl. Tafel 17 im Anhang), von der neuerdings wieder behauptet werden kann, sie sei keine Originalschöpfung der Zeit um ř0 v. Chr., sondern die römische Kopie einer hellenistischen Bronze des mittleren zweiten Jahrhunderts v. Chr.Ⱥ1 Erstmalig wurde die enge Verbindung des Bildes mit der Skulptur von dem Kunstschriftsteller Francesco Scannelli behauptet und auch beschrieben und zwar in seinem ‚Microcosmo della Pittura‘ von 1657. In diesem lobt Scannelli das Gemälde als eines der gelungensten und der am besten gearbeiteten des Künstlers Andrea del Sarto,Ⱥ2 den schon Vasari „maestro senza errori“ habe nennen können.Ⱥř Besonders bewundernswürdig findet Scannelli die graziöse und delikate Natürlichkeit der Figuren (‚la gratiosa, e delicata naturalezza‘) und kommt schließlich darauf zu sprechen, wie gut es dem Maler mit den Mitteln des frühen Rafael gelungen sei, die starken Empfindungen der antiken Köpfe des ‚Laokoon‘ in seinem ‚Isaakopfer‘ nicht nur wiederzugeben, sondern sie dort noch affektuös zu steigern. Scannelli versteht 1
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Bђџћюџё Aћёџђюђ, Laokoon und die Gründung Roms (Kulturgeschichte der antiken Welt ř9), Mainz 1988, 11. Vgl. auch ёђџѠ., „Das Laokoon-Problem“, in: Il Cortile delle Statue. Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan. Akten des internationalen Kongresses zu Ehren von Richard Krautheimer Rom, 21.–2ř. Oktober 1992, hg. v. MюѡѡѕіюѠ Wіћћђџ u. a., Mainz 1998, 161–16ř, hier 16ř. Marmorkopie nach einem pergamenischen Bronzeoriginal der Zeit um 140Ȧ1ř9 vor Christus. Der hier gedruckte Aufsatz entspricht dem Vortragstext und ist nur durch einige Fußnoten ergänzt worden. Eine eingehendere Untersuchung möchte ich folgen lassen. FџюћѐђѠѐќ Sѐюћћђљљі, Il Microcosmo della Pittura. Saggio bibliografico, appendice di lettere dello Scannelli e indice analitico, hg. v. GѢіёќ GіѢяяіћі (Gli storici della letteratura artistica italiana 15), Mailand 1966, Bd. 2, 174. (EG
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die „Laoconti“ – wie er sie nennt – als „reliquie singolari dell’antichità“, die der Welt allein dazu erhalten geblieben seien, um den nachgeborenen Künstlern ein sicheres Modell absoluter Vollkommenheit zu geben.Ⱥ4 Dem allusiven Rekurs auf die Skulptur mußte im Gemälde Andrea del Sartos schon deshalb ein hoher Grad selbstreferentiellen Bedenkens zukommen, weil der Künstler den bei Scannelli so deutlich formulierten Anspruch der „assoluta perfezzione“, also der letzten Vollkommenheit, natürlich aus der ‚Naturalis Historia‘ des Plinius hatte kennen können, denn dort stand für jeden zu lesen, daß der ‚Laokoon‘ allen anderen Werken sowohl der Malerei als auch der Bildhauerkunst vorzuziehen seiȺ5 – „in Laocoonte, qui est in Titi imperatoris domo, opus omnibus et picturae et statuariae artis praeferendum“.Ⱥ6 Unzweifelhaft war es die Kenntnis dieser Stelle, die Giuliano da Sangallo am 1ř. Januar 1506 in die Lage versetzte, die Skulptur noch am Tag ihrer Auffindung, das heißt „auf Anhieb“,Ⱥ7 als „Laocoonte“ zu identifizieren.Ⱥ8 Und natürlich darf man die Vertrautheit mit der bei Plinius mitausgesprochenen Eminenz des Werkes dafür verantwortlich 4
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Ebd., 174: „Ed in fatti il pensiero è di gran proposito disposto con bonissimo intendimento, e le figure d’eccelente compitezza, che dimostrano esspressione spiritosa, e propria; dove non meno il vestito Abramo, che l’ignudo Isaac palesano unitamente un ben ricercato studio di gratiosa, e delicata naturalezza, & ad imitatione del primo Rafaello fa conoscere essersi servito per esprimere uno spirito più affettuoso dell’una, e l’altra testa de’ Laoconti, reliquie singolari dell’antichità, conservate al Mondo per sicuro modello d’assoluta perfettione […].“ C. PљіћіѢѠ SђѐѢћёѢѠ ё. Ä., Naturkunde. Lateinisch-deutsch, Buch ř6: Die Steine, hg. u. übers. v. Rќёђџіѐѕ KҦћіє in Zusammenarb. m. Jќюѐѕіњ Hќѝѝ, Darmstadt 1992, ř7. Ebd., ř6. Vgl. Aћёџђюђ, Gründung (Anm. 1), 55, der die Stelle als „Schmeichelei“ des älteren Plinius gegenüber dem Imperator Titus interpretiert. MюѡѡѕіюѠ Wіћћђџ, „Zum Nachleben des Laokoon in der Renaissance“, in: Jahrbuch der Berliner Museen 16 (1974), 8ř–121, hier 99: „Er wußte den Namen der entdeckten Statuengruppe auf Anhieb und nicht sein Begleiter Michelangelo.“ Siehe auch die Quellenzusammenstellung bei Gђџњюћ Hюѓћђџ, Die Laokoon-Gruppen. Ein gordischer Knoten (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg. 1992, Nr. 5), Stuttgart 1992, 9–20. Cюџљќ Fђю, Miscellanea Filologica, critica e antiquaria, Rom 1790, Bd. 1, ř29 [Francesco di Sangallo 1567]: „La notizia, ch’io ho delle statue antiche di Fiorenza, si è in questo modo: che io era di pochi anni la prima volta ch’io fui a Roma, che fu detto al papa, ch in una vigna presso a S. Maria Maggiore s’era trotvato certe statue molto belle. Il papa comandò a un palafreniere: va, e di a Giuliano da S. Gallo, che subito li vada a vedere. E così subito s’andò. E perchè Michelangelo Bonarroti si trovava continuamente in casa, che mio padre l’aveva fatto venire, e gli aveva allogato la sepoltura del papa; volle, che ancor lui andasse; ed io così in groppa a mio padre, e andammo. Sceso dove erano le statue: subito mio padre disse: quello è Laocoonte, di cui fa mentione Plinio. Si fece crescere la buca, per poterlo tirar fuori; e visto, ci tornammo a desinare: e sempre si ragionò delle cose antiche, discorrendoancora di quelle di Fiorenza […].“ Hiernach HюћѠ Hђћџіј BџѢњњђџ, The Statue Court in the Vatican Bel-
Gehorsam und Begnadung. Die ‚Opferung Isaaks‘ als gemalte Kunsttheorie
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machen, daß der damals regierende Papst, Julius II., die Figur sofort nach ihrer Auffindung für sich beanspruchte, sie noch im März des Jahres 1506 erwarb, um sie dann „nella villetta del Belvedere“ des Vatikan aufstellen zu lassenȺ9 – äußerst prominent zwischen weiteren berühmten Antiken, nämlich dem Apollo von Belvedere und der Venus felix – und zudem in „una cappella“.Ⱥ10 Alles, was an dieser mit Nachdruck durchgeführten Aneignung und anschließenden Exposition nicht der politischen Selbstdarstellung des Papstes zu schulden war, das heißt des von Julius II. gerne bemühten Vergilverweises,Ⱥ11 läßt sich auf den durch Plinius begründeten Ruf zurückführen, der ‚Laokoon‘ sei das beste aller antiken Kunstwerke. Der damit verbürgte Rang der Skulptur mußte der Renaissance Anreiz und Anlaß zur künstlerischen Auseinandersetzung bieten. Wer auch immer sich nach der Wiederentdeckung der Figurengruppe – direkt oder indirekt – mit dem ‚Laokoon‘ auseinandersetzte, konnte gar nicht anders, er mußte sich – gerade wegen der bei Plinius
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vedere (Acta Universitatis Stockholmiensis. Stockholm Studies in History of art 20), Stockholm 1970, 75. Aћёџђюђ, Gründung (Anm. 1), 40. EџћѠѡ Sѡђіћњюћћ, Die Sixtinische Kapelle, Bd. 2: Michelangelo, München 1905, 76–78. BџѢњњђџ (Anm. 8), 75. Vgl. „Sommario del viaggio degli Oratori Veneti che andarono a Roma a das l’obbedienza a papa Adriano VI 152ř“, in: Relazioni degli Ambascatori Veneti al Senato, hg. v. EѢєђћіќ Aљяѽџі. Serie II.a – Bd. III.o., Florenz 1846, 77–120, hier 115f.: „Nel primo ingresso del suddetto giardino, a man manca, v’è come una cappelletta incastrata nel muro; dove sopra una base di marmo è l’Apollo, famoso nel mondo; figura molto bellissima e degna; di grandezza naturale, di marmo finissimo. Alquanto più in là, ma pure in quella faccia la quale va a volta, e in simile loco e sopra una simil base, alta da terra quanto un altare, dirimpetto a un perfettissimo pozzo, vi è il Laocoonte, per tutto il mondo celebrato; figura di grandissima eccellenza, di grandezza d’un comune uomo, con una barba irsuta, tutto ignudo; si vegono li nodi, le vene, e i proprii nervi da ogni parte, che più in un corpo vivo non si potria vedere; nè gli manca che lo spirito. Sta seduto con li due puttini, uno per banda; ambidue, insieme con lui, cinti dai serpenti, che dice Virgilio (ut in eo). E in questo si vede tanta eccellenza dell’artefice, che non si potria dir meglio; e si vede manifestamente languire e morire, e si vede uno dei puttini da lato destro, cinto strettissimamente a traverso dal biscinone, ben due volte intorno; una delle quali gli traversa le tettine, e stringegli sì il cuore, che vien morto; l’altro puttino a mano sinistra, cinto ancor lui da un altro biscione, volendosi tirare dalla gamba col suo braccietto il rabido serpente, nè potendosi per modo alcuni ajutare, sta con la faccia lagrimosa, gridando verso il padre, e tenendolo con l’altra mano pel braccio sinistro. E veggendo il misero padre più acerbamente percosso che lui, si scorge in questo puttino il doppio dolore: l’uno per vedersi la morte propinqua; l’altro, perchè il padre non lo può ajutare; e sì languisce, che poco gli manca a mandar fuora lo spirito. È impossibile che arte umana arrivi a fare tanta opera e cosi naturale. Ogni cosa è integra, salvo che al Laocoonte manca il braccio destro. Mostra di etate anni quaranta, e somiglia messer Girolamo Marcello da San Tommaso; li due putti pajono di otto e nove anni.“ Aћёџђюђ, Gründung (Anm. 1), 40–42.
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expliziten Nennung der beiden in der Renaissance miteinander konkurrierenden Künste – auf das Feld medialer Selbstthematisierung begeben. Und es mag hier unterstellt werden, daß sich die Malerei mehr noch als die Bildhauerei dazu herausgefordert fühlte, dieses beste Werk der Antike mit den eigenen Mitteln, so gut es ging, zu überbieten. In diesem Sinne scheint Andrea del Sartos ‚Opferung Isaaks‘ auch eine Antwort auf die damals vieldiskutierte Frage, „qual sia più nobile, o la scultura o la pittura“, geben zu wollen. Seine Stellungnahme zur paragone-Debatte setzt nun allerdings das Erkennen der antiken Vorlage mit Notwendigkeit voraus. Denn erst mit der Eröffnung dieser selbstbezüglichen Betrachtungsebene läßt sich am Kunstwerk die womöglich intendierte Wechselbeziehung zwischen typologisch ausgerichteter Heilsgeschichte und selbstreflexiver Antikenüberbietung für eine Deutung des Bildes fruchtbar machen. Umso erstaunlicher erscheint es, daß dieser offenkundige, im Gemälde selbst angelegte Interpretationsansatz bisher noch nicht eingehender bedacht wurde. Das Gemälde ist trotz seiner Prominenz bis heute nicht monographisch bearbeitet worden, eine tiefergehende Deutung fehlt. Doch sei hier, bevor auf einige Interpretationsansätze eingegangen wird, das Bild selbst ein wenig genauer in den Blick genommen – und dies anhand der wenigen literarischen Quellen, die wir besitzen. Gemalt wurde die ‚Opferung Isaaks‘ zwischen 1527 und 15ř0, und das in drei Versionen. Ein unvollständiger, wohl erster, vom Maler aus unbekannten Gründen verworfener Versuch hing früher in Lyon und hängt heute in Cleveland, eine kleinere Replik des Dresdener Bildes wird im Prado aufbewahrt. Giorgio Vasari berichtet, daß es der Kunstagent des französischen Königs in Florenz, Giovan Battista della Palla, gewesen sei, der das Bild bei Andrea im allerhöchsten Auftrage bestellt habe. Soviel wir wissen, sollte es der Ausstattung eines der königlichen Appartements dienen. Der Codice Magliabechiano unterrichtet wiederum darüber, daß die ‚Opferung Isaaks‘ Andreas letztes Bild gewesen sei – „l’ultima opera che ej facessj“.Ⱥ12 Der Maler erlag 15ř0 im Alter von nur 44 Jahren der damals in Florenz grassierenden Pest – nur kurz nach der Wiedereroberung der Stadt durch kaiserliche Truppen und dem Ende der repu-
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Il Codice Magliabecchiano cl. XVII.17 contenente notizie sopra l’arte degli antichi e quella de’firorentini da Cimabue a Michelangelo Buonarroti scritte da Anonimo Fiorentino, hg. v. Cюџљ FџђѦ, Berlin 1892, 108f. [Andrea del Sarto], hier 109: „Et l’ultima opera che ej facessj fu un quadro d’altezza ř braccia, entrouj dipinse un sacrifitio di Habram et Isac con certj pastorj, nel quale dimostro, che ben possedeua l’arte, che era excellente maestro, che è opera da essere tra l’antiche rare opere connumerata. Laquale hebbe poi il marchese di Peschara per mezo di Filippo Strozzi.“
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blikanischen Regierung.Ⱥ1ř Das Bild mißt 21ř cm in der Höhe und 159 cm in der Breite und kam 1746 nach Dresden, und zwar, wie so viele Bilder der Sammlung August des Starken, aus der Galleria Estense in Modena. Dorthin war die ‚Opferung Isaaks‘ aus Medici-Besitz gelangt im Tausch gegen einen Correggio und einen damals als echt gehandelten Raffael.Ⱥ14 Die Vorgeschichte des Bildes ist kompliziert und bis heute nicht gänzlich geklärt, doch darf man es ein Faktum nennen, daß der Auftraggeber, Franz I., das Bild niemals erhalten hat und es auch niemals in den königlichen Räumlichkeiten hing, was – um es vereinfachend zu sagen – mit einem plötzlichen Umschwung der politischen Verhältnisse in Florenz zu tun hatte, einer Wende, die besonders auch die französischen Interessen in Italien betreffen mußte. So wurde etwa Giovan Battista della Palla, nach der Rückkehr der Medici 15ř0, umgehend wegen politischer Umtriebe verhaftet. Neben der Erwähnung des ‚Isaakopfers‘ bei Giorgio Vasari – er nennt das Bild „una cosa tanto rara“Ⱥ15 – und jener bei Francesco Scannelli – „una delle più eccelenti operationi, c’habbia mai manifestato il raro talento d’Andrea del Sarto“,Ⱥ16 verdanken wir die vielleicht ausführlichste literarische Würdigung des Gegenstandes einem deutschen Autor, nämlich dem Schriftsteller August Wilhelm Schlegel. In seinem Dialog ‚Die Gemälde‘ aus dem Jahr 1798 läßt er seine Protagonistin Louise in einer längeren Passage über die ‚Opferung Isaaks‘ berichten – und es ist hier ein wenig ausführlicher auf den Text Schlegels einzugehen. Dabei möchte ich dem sehr ausführlichen Zitat meine Beobachtungen gleichsam als Kommentar hinzu- und dann hintanfügen. „Abraham“, so heißt es dort, steht hinter dem niedrigen, schräg in das Bild hineingestellten Opfersteine oder Altar. Sein Kopf ist zurück nach oben gewendet, woher der Engel kommt. Den rechten Arm streckt er mit dem Messer aus, um das Opfer zu vollbringen; der linke reicht über die Brust hin, hinter dem Kopfe des Sohnes weg, und hält diesem die gebundnen Hände auf dem Rücken zusammen, im Begriff nachzulassen. [Anzumerken wäre hier, daß die dunkel getönte Hand Abrahams sich in einem gelungenen und natürlich gewollten Kontrast von der hellen Haut des Jungen abhebt – Vasari bezeichnet Isaak 1ř
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Rюѓѓюђљђ Mќћѡі, Andrea del Sarto, Mailand 1965, 177, Anm. 171. LѢёѤіє ѣќћ PюѠѡќџ, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, Erste bis siebte Aufl., Freiburg i. Br. 189ř–19ř0, Bd. 4, 2, ř91–ř9ř. Die staatliche Gemäldegalerie zu Dresden. Vollständiges beschreibendes Verzeichnis der älteren Gemälde, hg. im Auftr. d. Ministeriums f. Volksbildung. Erste Abt.: Die romanischen Länder Italien Ȧ Spanien Ȧ Frankreich und Russland, DresdenȦBerlin 1929, ř9f. Gіќџєіќ VюѠюџі, Le vite de’più eccelenti pittori, scultori ed architettori, 7 Bde., Florenz 1881, Bd. 5, 50f. Sѐюћћђљљі (Anm. 2), 174.
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bedeutungsvollerweise auch als ‚ignudo candidissimo‘.] Das linke Bein hat mit einem Schritt zur Seite fest auf der Erde Wurzel gefaßt, und berührt in dieser Richtung unter dem Knie die Spitze des Steines. Das andre ist zum Theil hinter diesem und dem Knaben verborgen. Er trägt ein violetgraues Unterkleid mit weitläuftigen hinaufgeschobnen Aermeln, die nur die Hände unbedeckt lassen. Darüber ein Gewand von schönem gelblichtem Roth, auch in einer mehr regelmäßigen Form; es umgiebt den Rücken, und hat weite Oeffnungen, woraus die Aermel hervorgehen, am Halse schlägt es sich um wie zu einem Kragen, fügt sich auf der Brust zusammen, und ist nach hinten zu hinaufgeschürzt. Die Beine zeichnen sich durch die graue Kleidung, [das heißt sie sind durch das Gewand zu erkennen] vom Knie an sind sie bloß, und die Füße in Sandalen. Der Knabe ist nackt. Er kniet mit dem linken Beine auf dem Altar, mit dem rechten steht er auf der Erde. [Bemerkenswert erscheint mir hier die Form des Altars, der doch mehr danach aussieht, als handele es sich um einen Statuensockel, um ein Piedestal, von dem der skulptural wirkende Knabe gerade herabgestiegen zu sein scheint.] Das Gesicht [Isaaks] dreht sich nach vorn, mit dem angstvollen Auge schaut er grade aus. Da die ganze Handlung hinter seinem Rücken vorgeht, ahndet er mehr als daß er es wüßte. Zwar ist der Mund vom Schrecken weit geöffnet, und die Augenbrauen spannen sich in der Ecke nach der Nase zu stark hinauf: aber das Edle der Züge bleibt völlig erkennbar. Der Unterleib ist von der Furcht eingezogen, ohne krampfhafte Zuckung: da er die Hände auf dem Rücken hat, wird der schöne Körper in weichen Schatten völlig sichtbar. Die vorgedrängten Schultern sind von einem unbeschreiblich lieblichen und wehmüthigen Ausdruck; der Rücken steht in dieser Lage ein wenig über den vordern Arm hervor, und dieß vollendet gleichsam die Todesangst. Keine kalte vollkommne Zeichnung nur: sie ist in das warme Leben übergegangen. Schmerz und Schönheit halten sich rührend die Wage, und der himmlische Knabe zerreißt das Herz nicht, da der Bote von oben her schon als ein rettender jüngerer Bruder in der Luft schwebt, und das Ohr und Auge des Vaters nun erreicht. [Zu beachten ist hier vielleicht der Kunstgriff Andreas, die Körper- und besonders die Beinhaltung des ‚putto‘ jener des Isaak anzugleichen und sie gewissermaßen in luftiger Wendung zu wiederholen.] Noch hat Abraham die Worte [des Engels] nicht verstanden. Er blickt in die Höhe, wie von dem Werk aufgeschreckt, das er mit Kraft und Verzweiflung unternommen hat; eine Spur von Unwillen veredelt sein Antlitz. Er hat graue Haare (am Barte sind sie fast weiß) ohne ein Greis zu seyn. Die herrlichste Gewalt des Mannes zeichnet sich in seiner Gestalt, in den Sehnen des Halses und der Hand, die das Messer faßt. Der linke Arm, der dunkel über das rothe Gewand hinreicht, und der andre, der in einiger Verkürzung daraus hervorgeht, machen eine bewundernswürdige Wirkung, da beyde schöne Farben sich abschneiden, ohne grell gegen einander abzustehen. Das einzige vielleicht, was an der kräftigen Figur weniger würdig erscheint, ist das mit zu sichtbarem Nachdruck von ihr abgestellte linke Bein. Der Körper des Knaben ist bescheiden gefärbt, ein wenig blaß gehalten, als wenn das unschuldige Blut, das vergossen werden soll, zurückgetreten wäre; doch keine steinerne Behandlung. [Hier gibt es
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auch andere Meinungen, so findet etwa der Kunsthistoriker John Sherman die Darstellung ‚strikingly sculptural‘.Ⱥ17] Der Engel füllt den kleinen Raum zwischen dem Kopfe des Abraham und der obern Ecke des Bildes aus, und ist ein geflügeltes Kind, das gute Bothschaft bringt. Man könnte ihn sich größer und ernster denken: der mahlerische Kontrast gewinnt aber durch die Verschiedenheit der drey Figuren. Die Landschaft im Hintergrunde kann nur für einen bunten Holzschnitt gelten. [Eine Meinung, die wohl zu relativieren wäre. Doch nun kommt das eigentlich Entscheidende der Beschreibung!] Andrea del Sarto hat Abraham als den Laokoon des Christenthums vorgestellt. Nicht daß ihm bloß bey der Zeichnung des Isaak die Söhne Laokoons gegenwärtig gewesen seyn möchten: nein, dem Gedanken und dem Geiste nach. Dieser ist nicht der fromme Abraham im langen Gewande, welcher dem Gott der Liebe mit schmerzvoller Ergebung das Liebste zum Opfer bringt. Der Glaube ist mächtig in ihm, weil er selber mächtig ist. Die Kraft hat den Gehorsam in ihm geschaffen.Ⱥ18
Um nun der angesprochenen Vorstellung des einen Kunstwerks im anderen – dem Gedanken und dem Geiste nach – ein wenig näherzukommen, wird man danach fragen müssen, was das Bild del Sartos und sein dargestelltes Thema eigentlich mit der ‚Laokoon-Gruppe‘ gemeinsam haben. Rein formal glaubte der Archäologe Karl Sittl in seinen ‚Empirische[n] Studien über die Laokoongruppe‘ von 1895 an eine Motivübernahme, wollte und konnte dafür aber keine tiefere Begründung liefern. 1907 sprach Fritz Knapp dem Kopf Abrahams Ähnlichkeit mit dem des Laokoon zu und meinte zudem „im Isaak eine offenbare Studie nach dem rechten Knaben“ der Statuengruppe erkennen zu dürfen.Ⱥ19 Doch auch Knapp machte kein Angebot zu einer Interpretation des ‚Isaakopfers‘. In der neueren Literatur hat sich die These der Motivübernahme aufgrund einer Vorzeichnung Andreas in den Uffizien auf den Isaak konzentriert, dessen Haltung man nun allgemein im älteren der beiden Söhne Laokoons vorgebildet glaubt. Doch auch die Kunsthistoriker, die sich im 20. Jahrhundert eingehender mit Andrea del Sarto auseinandergesetzt haben, das heißt Sydney Joseph Freedberg, John Sherman, Serena Padovani oder auch Antonio Natali, entschlagen sich in Anbetracht und im Wissen um diese Referenz jedes Deutungsversuchs. Abgesehen von den in der Literatur erwähnten motivischen Ähnlichkeiten scheint mir vor allem die Verteilung der besonders deutlich gekennzeichneten Größenverhältnisse vergleichbar zu sein. Es handelt 17 18
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Jќѕћ Sѕђџњюћ, Andrea del Sarto, 2 Bde., Oxford 1965, Bd. 1, 111. AѢєѢѠѡ Wіљѕђљњ Sѐѕљђєђљ, Die Gemählde. Gespräch [1798], hg. v. Lќѡѕюџ Mҿљљђџ (Fundus-Bücher 14ř), AmsterdamȦDresden 1996, 51–54. Vielen Dank an Tristan Weddigen für die Hinweise! Fџіѡѧ Kћюѝѝ, Andrea del Sarto (= Künstler-Monographien 90), BielefeldȦLeipzig 1907, 118.
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sich um einen eigentümlichen Maßstabsbruch, der sich in beiden Werken greifen läßt. Mißt man den Laokoon an seinen Söhnen, wirkt die Figur des trojanischen Priesters ungleich größer, ja um so viel größer, daß man von gänzlich voneinander geschiedenen Proportionierungen sprechen möchte. Gerade dieses divergierende Maßverhältnis hat Andrea in seine ‚Opferung Isaaks‘ übernommen, denn auch hier erscheint der Körper Abrahams ungleich gewaltiger als jener Isaaks. Dazu kommt der Kunstgriff, den annähernd lebensgroßen Abraham in Untersicht zu bieten, was die beschriebene Größendifferenz noch deutlicher hervortreten läßt. Vielleicht kann man sich resümierend der Meinung Richard Försters anschließen, der 1906 in einem Aufsatz mit dem Titel ‚Laokoon im Mittelalter und in der Renaissance‘ davon sprach, daß die „Verwandtschaft“ der beiden Kunstwerke nicht im Sinne einer Abhängigkeit gedeutet werden dürfe,Ⱥ20 sondern mehr als Anspielung verstanden werden müsse, als eine Anspielung allerdings, bei der Andrea weniger die Ähnlichkeit der Figuren als mehr die Ähnlichkeit der Situationen im Auge gehabt habe. Damit legte Förster zwar eine Spur, doch bemühte auch er sich nicht weiter, die Vergleichbarkeit der verschiedenen Opfersituationen zu erläutern. Doch was hatte Andrea del Sarto wirklich vor Augen gehabt, welchen ‚Laokoon‘ zitierte er in seinem Bild? Sehr wahrscheinlich kannte der Maler das Original im Vatikan nicht, auch wenn in der Forschung immer wieder von einer Romreise Andreas die Rede ist. Eher wird man annehmen dürfen, daß ihm eine Kopie des Werkes vertraut war, nämlich jene Nachbildung Baccio Bandinellis (vgl. Tafel 18 im Anhang), die 1525 nach Florenz gelangte, um dort auf Geheiß Clemens’ VII. im Hof des Palazzo Medici aufgestellt zu werden. „Parve questa opera tanto buona a Sua Santità, che egli mutò pensiero et al re si risolvé mandare altre statue antiche e q(ue)sta a Firenze […] ordinò che ponesse il Laoconte nel palazzo de’ Medici nella testa del secondo cortile, il che fu l’anno 1525.“ Ein kurzer Blick auf die Vorgeschichte dieses erstaunlichen Auftrags, der Baccio Bandinelli laut Vasari nicht wenig Ruhm einbrachte,Ⱥ21 20 21
Rіѐѕюџё FҦџѠѡђџ, „Laokoon im Mittelalter und in der Renaissance“, in: Jahrbuch der preussischen Kunstsammlungen 27 (1906), 149–178, hier 176. Gіќџєіќ VюѠюџі, Le Vite de’ piú eccellenti pittori scultori e architettori, Bd. 6, Teil ř, Mailand 1964, 7–86 [Baccio Bandinelli kommentiert von Dђѡљђѓ Hђіјюњѝ], hier 26–29: „Era tornato di Francia il cardinale Bernardo Davizio da Bibbiena [Legat am französischen Hof], il quale vedendo che ’l re Francesco non aveva cosa alcuna di marmo dé antica né moderna, e se ne dilettava molto, aveva promesso a sua maestà di operare col papa sé che qualche cosa bella gli manderebbe. Dopo questo cardinale vennero al papa due ambasciatori dal re Francesco, i quali vedute le statue del Belvedere, lodorono [II, 429] quanto lodar si possa il Laoconte. Il cardinal de‘ Medici e Bibbiena
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kann möglicherweise den Weg zu einer politischen Deutung des Gemäldes zumindest vorzeichnen, denn es war letztlich eine diplomatische Verwicklung, die den Medici-Papst Leo X. dazu veranlaßte, den Bildhauer mit der Nachbildung des ‚Laokoon‘ zu betrauen. Nach der Niederlage der päpstlichen Truppen bei Marignano, 1515, hatte sich Franz I., einem venetianischen Gesandtschaftsbericht zufolge,Ⱥ22 die Auslieferung des ‚Laokoon‘ von Leo X. erbeten – eine anmaßende Bitte könnte man meinen, die der Papst zwar zu erfüllen versprach, auf die er aber dann doch nur insofern einzugehen bereit war, als er 1520 den Auftrag für die
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che erano con loro, domandorono se il re arebbe cara und simile cosa; riposono che sarebbe troppo gran dono. Allora il cardinale gli disse: ‚A sua maestà si manderà o questo o un simile che non ci sarà differenza.‘ E risolutosi di farne fare un altro a immitazione di quello, so ricordè di Baccio, e mandato per lui lo domandò se gli bastava l’animo di fare un Laoconte pari al primo. Baccio ripose che non che farne un pari gli bastava l’animo di passare quello di perfezzione. Risolutosi il cardinale che vi si mettesse mano, Baccio mentre che i marmi ancora venivano, ne fece uno di cera, che fu molto lodato; et ancora ne fece un cartone di biacca e carbone della grandezza di quello di marmo. Venuti i marmi e Baccio avendosi fatto in Belvedere fare una turata con un tetto per lavorare, dette principio a uno de‘ putti del Laconte, che fu il maggiore, e lo condusse di maniera, che ‚l papa e tutti quegli che se ne intendevano rimasono satisfatti, perché dall’antico al suo non si scorgeva quasi differenza alcuna. Ma avendo messo mano all’altro fanciullo et alla statua del padre, che è nel mezzo, non era ito molto avanti, quando morí il papa. Creato di poi Adriano sesto, se ne tornò col cardinale a Firenze, dove s’intratteneva intorno agli studi del disegno; morto Adriano VI e creato Clemente settimo, andò Baccio in poste a Roma per giungere alla sua incoronazione, nella quale fece statue e storie di mezzo relievo per ordine di Sua Santità. Consegnategli di poi dal papa stanze e provisione, ritornò al suo Laoconte, la quale opera con due anni di tempo fu condotta da lui con quella eccellenza maggiore che egli adoperasse già mai. Restaurò ancora l’antico Laoconte del braccio destro, il quale essendo tronco e non trovandosi, Baccio ne fece uno di cera grande che corrispondeva co‘ muscoli e con la fierezza e maniera all’antico e con lui s’univa di sorte, che mostrò quanto Baccio intendeva dell’arte, e questo modello gli serví a fare l’intero braccio al suo. Parve questa opera tatno buona a Sua Santità, che egli mutò pensiero et al re si risolvé mandare altre statue antiche e q(ue)sta a Firenze, et al cardinale Silvio Passerino cortonese legato di Fiorenza, il quale allora governava la città, ordinò che ponesse il Laoconte nel palazzo de‘ Medici nella testa del secondo cortile, il che fu l’anno 1525. Arrecò questa opera gran fama a Baccio, il quale, finito il Laoconte, si dette a disegnare ima storia in un foglio reale aperto per satisfare a un disegno del papa, il quale era di far dipingere nella cappella maggiore di San Lorenzo di Firenze il matirio di San Cosimo e Damiano in una faccia, e nell’altra quello di San Lorenzo quando da Decio fu fatto morire su la graticola.“ „Sommario del viaggio degli Oratori Veneti che andarono a Roma a das l’obbedienza a papa Adriano VI 152ř“, in: Aљяѽџі (Anm. 10), 77–120, hier 116: „Il re di Francia dimandò in dono quest’opera a papa Leone, essendo a Bologna. Il papa gliela promise: ma per non privare il Belvedere deliberò di farne fare una copia per dargliela; e già sono fatti li putti, che sono lì in una camera; ma il maestro, se anche vivesse cinquecento anni, e ne avesse fatti cento, non potria mai dar cosa eguale.“
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Nachbildung der Gruppe an Bandinelli vergab.Ⱥ2ř Der Wunsch des französischen Königs ging dahin – so kann man den Viten weiter entnehmen –, in Fontainebleau ein neues Rom, wenn nicht zu begründen, so zumindest doch den Anspruch auf die Nachfolge des römischen Imperiums deutlich zu manifestieren – wie hieß es bei Vasari – „fece in detto luogo quasi una nuova Roma“.Ⱥ24 Das konkret mit dem ‚Laokoon‘ verbundene Anspruchsdenken sollte sich allerdings erst 1540 erfüllen, als von Francesco Primaticcio eine Bronzekopie angefertigt wurde, die das Original in der Materialität zu überbieten versuchte.Ⱥ25 Bemerkenswert an dem Umstand ist, daß die Statuengruppe offenbar immer als aussagekräftiger Gegenstand einer herrschaftlichen Ikonographie begriffen wurde. Nachweislich zuerst unter Julius II., der die Figur auf jene Gründungsmythe Roms bezog, die in der Aeneis Vergils niedergelegt ist und in der der Tod des Laokoon – nach den Worten von Bernhard Andreae – den auslösenden „Moment der Gründung Roms verkörpert“.Ⱥ26 Julius stilisierte sich ja bekanntermaßen als Nachfolger Julius Caesars, überhaupt als Statthalter des Geschlechts der Julier, und damit als Nachfahre des Aeneassohnes Julus. Die Skulptur des ‚Laokoon‘ galt der Renaissance als römisches Original, und man glaubte in den Versen Vergils die ausschlaggebende Quelle, das heißt den Ursprung des Werkes, vor sich zu haben. Das in der Aeneis beschriebene Opfer des trojanischen Priesters galt den humanistischen Vergilexegeten als das erste Vorzeichen für die spätere Flucht des Aeneas und damit als das erste prodigium der sich dann in Rom vollendenden und immer wieder erneuernden göttlichen Vorsehung. Ähnliches konnte natürlich überall da behauptet werden, wo sich ein Potentat dazu anschickte, das Erbe der römischen Machtfülle für sich in Anspruch zu nehmen, ob nun in Florenz oder in Fontainebleau. Wenn man dies bedenkt und sich zudem vergegenwärtigt, daß Andrea del Sarto für den König von Frankreich nicht irgendein ‚Isaakopfer‘, sondern ein ‚Isaakopfer‘ mit Laokoonallusion malte, und man 2ř
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Wќљѓєюћє LіђяђћѤђіћ, „Clemens VII. und der ‚Laokoon‘“, in: Opere e giorni. Studi su mille anni di arte europea dedicati a Max Seidel, hg. v. KљюѢѠ BђџєёќљѡȦGіќџєіќ BќћѠюћѡі, Venedig 2001, 465–478, hier 465. Siehe auch Gђќџє Sюѡѧіћєђџ, „Der ‚Statuenhof‘ Clemens VII. im Garten des Palazzo Medici in Florenz. Zur Laokoon-Zeichnung der Albertina (Inv. 48v) und zu Folio 28v im Codex Geymüller der Uffizien (A 7818v)“, in: Ars naturam adiuvans. Festschrift für Matthias Winner zum 11. März 1996, hg. v. Vіѐѡќџію ѣќћ FљђњњіћєȦSђяюѠѡіюћ Sѐѕҿѡѧђ, Mainz 1996, 208–227, hier 217. VюѠюџі (Anm. 15), Bd. 7, 408. „[…] che fece in detto luogo [Fontanableo] quasi una nuova Roma, con grandissima soddisfazione di quel Re.“ Sюљѣюѡќџђ SђѡѡіѠ, „Laocoonte di bronzo, Laocoonte di marmo“, in: Wіћћђџ (Anm. 1), 129–160, hier 129f. Aћёџђюђ, Gründung (Anm. 1), 41.
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noch zusätzlich unterstellt, daß der Maler davon wissen mußte, daß das Werk Baccio Bandinellis niemals mehr nach Frankreich gelangen würde, liegt die Annahme nahe, die beschriebene Anspielung als eine bewußte Bezugnahme auf das uneingelöste Versprechen der MediciPäpste zu begreifen. Das umso mehr, als die Skulptur gerade deshalb in Florenz verblieb, um im dortigen Familienpalast die intendierten politischen Aussagen monumental zu bekräftigen, also einerseits mit Bezug auf Vergil Assoziationen der Gründungsmythe Roms auszulösen, wie auch andererseits auf den bei Plinius erwähnten Rang des Kunstwerks hinzudeuten und damit den ehemaligen Aufstellungsort, nämlich den Palast des gnadenreichen Imperators Titus zu evozieren, mit dem sich der Palazzo Medici nun zu messen hatte.Ⱥ27 In diesem Sinne kann man vielleicht von einer Ersatzfunktion des ‚Isaakopfers‘ sprechen. Denn das Bild wollte den Kenner – das heißt den königlichen Connaisseur – wohl auf jenen Affront des uneingelösten Versprechens der Medici aufmerksam machen, verzichtete aber nicht darauf, den expliziten Hinweis auf den Verlust der antiken Skulptur mit der malerischen Darlegung des heilsgeschichtlichen Opferthemas zu überformen. Der Maler exponierte offenbar den ‚Laokoon‘ im Bild deshalb so deutlich, um den Rekurs selbst wieder mit den Mitteln der Malerei vergessen zu machen, das heißt mit eigener Kunst zu überbieten. Allein schon aus diesem Grund würde man zu kurz greifen, wollte man die Nutzung der Antikenreferenz im Gemälde Andreas allein auf die hier nur in aller Kürze angedeuteten ‚politischen‘ Motive reduzieren. Das Bild scheint darüber hinaus Stellung zu den kunsttheoretischen Themen der Zeit zu nehmen. Es läßt sich kaum übersehen, daß für die Kunstschriftsteller des 16. Jahrhunderts der ‚Laokoon‘ zu der vielleicht wichtigsten Anleitung zur Darstellung stärkster Affekte avancierte. So konnte etwa Giovanni Andrea Gilio den Künstlern seiner Zeit empfehlen, sich bei der Darstellung der Passion Christi am ‚Laokoon‘ zu orientieren, und zwar besonders an jenen in der Skulptur vorbildlich dargestellten Affekten Angst, Schmerz und Erschrecken – „l’angustia, il dolore et il tormento“.Ⱥ28 In ähnlicher Weise konnte Lodovico Dolce den Malern dazu raten, doch darauf zu achten, die Empfindungen – „gli affetti e le passioni“ – der Betrachter, nach dem jeweils gewählten Su27
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Ebd., ř7 mit Hinweis auf das Laokoon-Fresko des Filippino Lippi in Poggio a Caiano. Dazu auch Mюџію Bђџяюџю, „El Laocoonte y el tema del sacrificio entre el Renacimento y la Contrareforma“, in: Goya 269 (1999), 112–124, hier 116. Gіќѣюћћі Aћёџђю Gіљіќ, „Dialogo nel quale si ragiona degli errori e degli abusi de’pittori circa l’istorie“, in: Trattati d’arte del cinquecento fra manierismo e controriforma, hg. v. Pюќљю Bюџќѐѐѕі, ř Bde. (Scrittori d’Italia 219, 221, 222), Bari 1960–1962, Bd. 2, 1–115, hier 41f.
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jet anzuregen, so wie das die guten Dichter und Prediger schon immer getan hätten. Wolle ein Maler die „riguardanti“ aufwühlen, könne, ja müsse er sich – so meinte Dolce – la „statua del Laocoonte […] a Roma in Belvedere“ zum Vorbild nehmen.Ⱥ29 Und auch Francesco Doni zitierte in seinem Beitrag zur paragone-Debatte den ‚Laokoon‘ gerade an jener Stelle, wo er darüber streiten ließ, welche der Kunstgattungen über die stärker affektauslösende Potenz verfüge.Ⱥř0 Den Zuschlag erhielt deshalb die Bildhauerei, weil Doni die bewundernswürdige Statue des ‚Laokoon‘ dazu besonders befähigt fand, das tiefste Mitgefühl auszulösen und dabei den Betrachter in einem solchen Maße zu rühren, daß dieser sich schlichtweg dazu genötigt sehe, das Dargestellte und die Dargestellten gegen jede bessere Vernunft für lebendig zu erachten, eine Wirkung, welche auch die beste Malerei niemals hervorzurufen in der Lage sei.Ⱥř1 Zum Ende des Jahrhunderts wird dann der Jesuit Antonio Possevino in seinen ‚Bibliothecae selectae‘ (159ř) der „ars pictoris“ die Imitation des „Laocoonte“ eben dazu nahelegen, Leid und Schmerz zur Darstellung zu bringen.Ⱥř2 Die Figur sei vor allem bei der Wiedergabe von Heiligenmartyrien ein taugliches Exempel.řř 29
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Mюџј W. RќѠјіљљ, Dolce’s „Aretino“ and Venetian Art Theory of the Cinquecento, New ork 1968, 208 (Lodovico Dolce in einem Brief an Gasparo Ballini): „Un’ altra parte vuol havere il Dipintore non men necessaria di tutte l’altre. Questa è, che le dipinture, ch’ egli fa, movano gli affetti e le passioni dell’animo, in modo, che i riguardanti, o si allegrino, o si turbino secondo la qualità de’ soggetti: come fanno i buoni Poeti, e gli Oratori. Laqual parte, che fosse ne’ Dipintori antichi, ci può servire lo esempio della statua del Laocoonte, ch’è a Roma in Belvedere.“ Siehe VюљђѠјю ѣќћ RќѠђћ, Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians. Studien zum venezianischen Malereidiskurs (Zephir 1), Emsdetten 2001, 228. [Aћѡќћ FџюћѐђѠѐќ Dќћі], Disegno del Doni, partito in piv ragionamenti, ne qvali si tratta della scoltvra et pittvra […], Venedig 1549, ř6rȦv: „O che mirabili essempi ci sono dell’arte statuaria; come ci mostra anchora la mirabile inventione di Laocoonte: che posto che l’huomo l’habbia veduto infinite volte, hoggi di piu si commove a misericordia del miserabil dolore, che mostra il padre de suoi figliuoli per vedergli divorare da serpenti, volgendosi ambidue verso il lor padre a domandare aiuto con gesti tanto vinti dal dolore intollerabile; che per allegri che sieno gl’huomini, subito che veggon tale inventione si turbono tanto che parloro da serpenti esser morsi ne medesimi luoghi; & sono sforzati a contorcersi, & muoversi a pietà di quelle statue, come se fossero vive, a i quali mirabili subietti la pittura non s’appressò gia mai.“ PќѠѠђѣіћќ, Aћѡќћіќ (S. J.), Antonii Possevini Societatis Iesu Bibliothecae Selectae. Pars Secunda. Qua agitur de ratione studiorum, Rom 1593, Bd. 2, ř17 (1 E–2 B): „Sanè verò quando in veterum gentilium statuis acerbitas illa doloris exprimi potuit, quemadmodum in Vaticano Laocoonte cernitur, tantum non expirante, ac prae dolore se, filiosque serpentibus vinctos dirissimè torquente, quis neget id effici posse in eo, in quem omnium dolorum, ac diritatum genera omnia irruperunt? sic ergo Blasium pectinibus ferreis excarnificatum, Sebastianum pluribus sagittis confossum: Laurentium in craticula torridum, lacerum, visceribus diffusis deformem pingendum esse, nemo
Gehorsam und Begnadung. Die ‚Opferung Isaaks‘ als gemalte Kunsttheorie
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Obwohl die hier genannten Dialoge und Traktate ausschließlich nach Andrea del Sartos ‚Opferung Isaaks‘ niedergeschrieben wurden,Ⱥř4 können sie doch beredtes Zeugnis dafür ablegen, wie sehr der ‚Laokoon‘ nach seiner Auffindung als „exemplum doloris“ verstanden wurde und – was es natürlich ebenso zu beachten gilt – auch der durch Plinius geadelte Artefakt als solcher die theoretischen Auseinandersetzungen zum paragone mitbestimmte.Ⱥř5 Und es kann wohl kein Zweifel daran bestehen, daß Andrea del Sarto den Bezug zum ‚Laokoon‘ deshalb hervorhebt, weil er den affektiven Gehalt des antiken Kunstwerks für sein Gemälde aktivieren möchte. Dies setzt aber – und hier würde ich von gemalter Kunsttheorie sprechen – eine kennerschaftliche Wahrnehmung des Gemäldes voraus, eine reflektierte Auseinandersetzung mit antiker Kunst, also die Vorbildung und Befähigung des Betrachters zur Einordnung und Differenzierung, die der Maler in Florenz und wohl mehr noch am französischen Hof erwarten konnte, ja aufgrund der
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sanae mentis non dixerit. Quorsum autem mihi obieceris Stephanum lapidatum sine lapidibus. Blasium integris membris, ac formosum, in equuleo sine sanguine, Iacobum Apostolum sine fuste in capite, Sebastianum sine sagittis, Laurentium in igne candidum? Sanè quoniam (aiunt) ars, & musculorum, atque venarum monstratio, postulant, ut ita fiat. At ego summam esse artem constantissimè assero, quae rem ipsam imitetur, martyria in martyribus, fletum in flentibus, dolorem in patientibus, gloriam, & laetitiam in resurgentibus exprimat, & in animis figat. haec nimirum substantia artis est: haec, quae arti formam indit, quod videlicet inspectione dignum est.“ Vgl. JђћѠ BюѢњєюџѡђћ, Konfession, Bild und Macht. Visualisierung als katholisches Herrschafts- und Disziplinierungskonzept in Rom und im habsburgischen Schlesien (1560–1740) (Hamburger Veröffentlichungen zur Geschichte Mittel- und Osteuropas 11), HamburgȦMünchen 2004, 122. Zum Isaakopfer als affektauslösendem Paradigma Gюяџіђљђ Pюљђќѡѡі, „Discorso intorno alle imagini sacre e profane“ (1. Ausg. 1582), in: Bюџќѐѐѕі (Anm. 28), Bd. 2, 117– 509, hier 2ř1f.: „E perché dissegnamo nei al suo luogo raccontare altri molti essempi degli effetti causati dalle imagini profane, per ora staremo solo in quegli delle pitture sacre e morali, ricordando prima che scrive s. Gregorio Nisseno, allegato più volte nella settima Sinodo, che l’istoria d’Abraham, quando volse immolare il figliuolo suo Issac, era stata così vivamente e pietosamente da un pittore ritratta, che, ogni volta che la mirava, si mutava talmente tutto, che non potea ritenere le lagrime: Vidi, inquit, saepius inscriptionis imaginem et sine lacrymis transire non potui, cum tam efficaciter pictura ob oculos poneret historiam; e soggiungono quei Padri nel concilio: Si tanto doctori peperit utilitatem et lacrymas, quanto magis rudibus hominibus utilis erit? Narra nella detta sinodo s. Asterio, vescovo di Amasea, d’una pittura fatta del martirio di s. Eufemia, ove era così bene espressa l’acerbità della passione e la grandezza della fortezza sua, che facea muover le lagrime: Lacrymas, inquit, fundo, nam tam exacte sanguinis guttas pictor defluentes dipinxerat, ut iuraveris a labiis profluere.“ Lђќѝќљё D. Eѡѡљіћєђџ, „Exemplum Doloris. Reflections on the Laocoon Group“, in: Essays in Honor of Erwin Panofsky, hg. v. Mіљљюџё MђіѠѠ, 2 Bde. (De Artibus Opuscula 40), New ork 1961, 121–126, hier 126.
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Joseph Imorde
geschilderten Umstände vielleicht sogar erwarten mußte. Andrea del Sartos letztes Gemälde wird man also als ein hervorragendes Beispiel jener Kunstauffassung begreifen dürfen, die sich nicht nur der eigenen Medialität besonders bewußt war, sondern es auch verstand, diese Medialität im Bild selbst zu bedenken. Gerade das sich darin offenbarende Vordrängen der Selbstthematisierung der Kunst gegenüber ihrer Aufgabe wird dann die katholische Reform des späteren 16. Jahrhunderts zum Problem machen. So weist Gabriele Paleotti in seinem ‚Discorso intorno alle imagini sacre e profane‘ von 1582 darauf hin, daß es vom Maler falsch gehandelt sei, wenn er sich selbst und seine eigene Vortrefflichkeit herauszustreichen versuche und dabei die heiligen Bilder nur zum Anlaß nehme, die eigene Kunstfertigkeit und Strebsamkeit unter Beweis zu stellen. Viel wichtiger sei es, sich darüber Gedanken zu machen, wer das Bild anschaue und ob es diesem dabei zum Nutzen gereiche. Die Forderung nach künstlerischer „humilitas“ gipfelt bei Paleotti, in deutlicher Anlehnung an die tradierte Predigttheorie,Ⱥř6 in der Vorstellung einer vollkommenen Hingabe an die Aufgabe,Ⱥř7 in der Relativierung selbstbezüglicher künstlerischer Leistungen zugunsten der vorrangig zu erfüllenden Unterweisungs- und Erbauungsfunktionen.Ⱥř8 Nun ließe sich an diesem Punkt die Frage stellen, ob Andrea del Sarto diesen Anspruch an den christlichen Maler nicht gleichsam im Vorausblick zu unterlaufen bestrebt war, indem er die Opferung des antiken Kunstideals auf dem Altar der heilsgeschichtlichen Historie durch Gottes Einspruch selbst zu verhindern suchte? Ist es nicht so, daß die im Gemälde zum Leben erweckte Skulptur als „Gemaltes“ fortbestehen kann, weil der Maler den Allmächtigen zum Richter im Wettstreit der Künste herbeizitiert hat? Und entscheidet sich
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Etwa Jќѕюћћ BюѝѡіѠѡ SѐѕћђѦђџ, „Die Heilsbedeutung der Predigt in der Auffassung katholischer Prediger. Ein historischer Beitrag zur Theologie der Predigt“, in: Zeitschrift für katholische Theologie 84 (1962), 152–170, hier 156, mit Verweis auf einen anonymen Prediger des Cod. Angers 401, fol. 172r: „Qui audit praedicatorem, audit Deum.“ Siehe UџѠ Hђџѧќє, Geistliche Wohlredenheit. Die katholische Barockpredigt, München 1991, 260, mit Verweis auf Iєћюѧ Eџѡљ (OESA), Rorantis Coeli et Amantis Die Deliciae I (Pacis Oliva), Nürnberg 1700, in der „Vorred An den großgünstigen Leser“ (A iii): „Ein Prediger, der sich selbsten mit hohen Worten flattiret, wird von keinem Geist GOttes angeblasen.“ BюѢњєюџѡђћ (Anm. řř), 112. Siehe Wќљѓєюћє Kђњѝ, „Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik“, in: DђџѠ., Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin 1992, 11. Dort bezogen auf eine Stelle bei Pюљђќѡѡі (Anm. ř4), Bd. 2, 117–509, hier 49ř–50ř. Vgl. zur Position Paleottis die differenzierte Meinung bei Uљџіѐѕ Hђіћђћ, Rubens zwischen Predigt und Kunst. Der Hochaltar für die Walburgenkirche in Antwerpen, Weimar 1996, 29–ř9.
Gehorsam und Begnadung. Die ‚Opferung Isaaks‘ als gemalte Kunsttheorie
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der paragone hier vielleicht auch wieder anspielungsreich am Begriff des Lebens, das heißt der Lebendigkeit des Kunstwerkes?Ⱥř9 Daß sich auch das 18. Jahrhundert wieder gegen die diskursive Selbstthematisierung der Kunst aussprechen konnte, möchte ich anhand einer ebenso gesuchten wie kurzen Schlußpointe deutlich machen: 1777 wettert der Kunstschriftsteller Johann Heinrich Merck im ‚Teutschen Merkur‘Ⱥ40 gegen die Herren, „die Alles zu Laokoons und Vatikanischen Apollo’s umschaffen wollen“. Diese Künstler wüßten einfach nicht, „daß in einem Flammländischen Bauernstück mehr richtige Zeichnung, mehr Beobachtung der Natur, mehr physiognomische Wahrheit stecke, als in den zusammengeleimten Nasen und Ohren der neuen klassizistischen Antikentrödler.“ Hätte Merck Adrian Brouwers Bild ‚Bauernrauferei beim Kartenspiel‘ gekannt (vgl. Tafel 19 im Anhang), ein Gemälde, das hundert Jahre nach Andrea del Sartos ‚Isaakopfer‘ entstand und auch in Dresden aufbewahrt wird, wäre er vielleicht zu einem anderen Urteil gekommen. Auch hier eröffnet der ‚Laokoon‘-Verweis eine Ebene kennerschaftlicher Beurteilungsmöglichkeit,Ⱥ41 die das Motiv in Spannung versetzt und den erkennenden Betrachter in ein Gespräch verwickelt, in ein Gespräch über die Kunst und ihre möglichen Bedeutungsgehalte, in ein Gespräch über Alludierung und Autoreferentialität. Wie hatte Johann Heinrich Merk richtig sagen können: „[…] ohne Erfahrung ist kein Genuß, und der Kenner sieht nur so weit als er selbst Künstler ist“.Ⱥ42
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Siehe zur Kategorie der Lebendigkeit Fџюћј Fђѕџђћяюѐѕ, „Kohäsion und Transgression. Zur Dialektik lebendiger Bilder“, in: Animationen, Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, hg. v. Uљџіѐѕ PѓіѠѡђџђџȦAћїю Zіњњђџњюћћ, Berlin 2005, 1–40. Jќѕюћћ Hђіћџіѐѕ Mђџѐј, „An den Herausgeber des T. M.“, in: Der Teutsche Merkur 19 (1777), 49–59, hier 55. Leichter greifbar in ёђџѠ., „An den Herausgeber des Teutschen Merkur (Über Kunst und Künstler)“, in: DђџѠ., Werke, hg. v. AџѡѕѢџ Hђћјђљ, Frankfurt a. M. 1968, ř77. Vgl. Hюћћќ-Wюљѡђџ KџѢѓѡ, „Metamorphosen des Laokoon. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschmacks“, in: Pantheon 42 (1984), ř–11, hier 10. Den Hinweis verdanke ich Jҿџєђћ Mҿљљђџ, der in der Einführung der Dresdener Tagung „Imitatio Artis“ Brouwers Bild mit dem Laokoon verglich. Mђџѐј (Anm. 40), 59.
„Veelderleye ordinantien van lantschappen met fyne historien“ Die Opferung Isaaks in der niederländischen Landschaftskunst des 16. Jahrhunderts von NіљѠ Bҿѡѡћђџ Man könnte auf die Idee kommen, daß ihn das Thema nicht losließ. Gleich in mehreren Zeichnungen hat sich Hans Bol (15ř4–159ř) nämlich der Opferung Isaaks angenommen. Eines dieser Blätter, das die Szene vor einem weiten Landschaftsausblick situiert, ist ausweislich einer oben unter der Signatur angebrachten Datierung im Jahr 1570 entstanden (Abb. 1).Ⱥ1 Das mit der Feder in schwarzbrauner Tusche ausgeführte Blatt zeigt hinter einer sanft ansteigenden Vordergrundbühne den Blick in ein weit sich erstreckendes Flußtal. Die Landschaft, in der zahlreiche teils winzige Staffagefiguren angebracht sind, ist mit viel Liebe zum Detail gestaltet. So sind Reisende vor der in der Ferne gelegenen Stadt gezeigt, und den Flußlauf beleben miniaturhaft kleine Boote. Durch eine dezente Lavierung werden die Lichteffekte unterstrichen und die Dramatik der am Himmel sich ballenden Wolken. An einer Stelle bricht die dichte Wolkendecke auf und läßt einen Engel sichtbar werden, der, obwohl noch fern am Himmel, die Aufmerksamkeit des im Schwerthieb wie erstarrt wirkenden Abraham auf sich zieht. Die Zeichnung setzt damit die Details der biblischen Erzählung getreu um, in der es explizit heißt, daß der Engel Abraham aus dem Himmel angerufen habe – „Et ecce Angelus Domini de cœlo clamavit“ (Gen 22,11). Auch einige der zahlreichen Details der Zeichnung, die sich erst bei genauem Hinsehen erschließen, illustrieren getreulich den Text der biblischen Erzählung. So ist im Gestrüpp, rechts am Bildrand, wenn auch nicht – wie in der Bibel vermerkt – hinter Abraham, doch jener mit den Hörnern im Ge1
Hans Bol, Abrahams Opfer, Feder in Schwarzbraun, laviert und an einigen Stellen weiß gehöht, 199 × 290 mm, bezeichnet: „Hans Bol 1570“, Berlin, SMPK Kupferstichkabinett, KdZ 5ř2. Vgl. Pђѡђџ DџђѦђџ, in: Pieter Bruegel d. Ä. als Zeichner, Kupferstichkabinett, Berlin 1975, 20, Nr. 4.
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büsch hängende Widder gezeigt, dessen Abraham plötzlich ansichtig wurde – „viditque post tergum arietem inter vepres herentem cornibus“ (Gen 22,1ř). Als textgetreue Ergänzung der Szenerie lassen sich auch einige der links im Hintergrund angedeuteten kleinen Staffagefiguren deuten. So sieht man da einen Wartenden, der sich auf sein Reittier stützt und zwei weitere Figuren, die augenscheinlich im Gespräch begriffen sind. Man mag hierin Abrahams zwei Begleiter sehen, die mit dem Esel zurückgeblieben sind und sich nun mit einer weiteren Person unterhalten – „dixitque ad pueros suos expectate hic cum asino“ (Gen 22,ř.5). Gerade die Vielzahl der erzählerischen Details, die für die Zeichnungen und Stiche Bols charakteristisch ist, macht den besonderen Reiz dieses Blattes aus. Ganz anders ist eine Zeichnung aufgefaßt, die ausweislich der oben angebrachten Datierung nur drei Jahre später entstand (Abb. 2).Ⱥ2 Das nur knapp halb so große Blatt ist mit schnellen Federstrichen angelegt, in denen sich die virtuose Sicherheit des geübten Zeichners verrät. In ihrer gesamten Anlage entspricht diese heute in Florenz aufbewahrte Zeichnung der drei Jahre früher entstandenen Version in Berlin. Wieder ist die Gruppe von Vater und Sohn zur Rechten auf einem ansteigenden Felsplateau angeordnet, das, mit einem Baumpaar bestanden, den Blick in ein weites Flußtal erlaubt. Bei aller Skizzenhaftigkeit der Anlage begegnet sogar wieder die Dreiergruppe mit dem Esel, diesmal ganz vorne links auf dem Weg. Hoch oben am Himmel, der mehr durch eine dezente Lavierung als durch Federstriche modelliert ist, begegnet auch wieder der mahnende Engel. Trotz der schnellen und skizzenhaften Ausführung sind doch in der weiten Flußlandschaft bei genauer Betrachtung wieder zahlreiche Details auszumachen, so zum Beispiel Reisende mit Lasttieren, Wanderer und Schiffe. Kompositionell und stilistisch fügt sich das Blatt zu einer Reihe von Zeichnungen aus dem Jahr 157ř.Ⱥř In all diesen meist kleinformatigen Blättern wiederholt sich die gleiche skizzenhaft lockere Zeichenweise: Mit spitzer Feder sind alle Formen schnell umrissen, Boden und Bergzüge sind flüchtig schraffiert, besonders den Bäumen fehlt jede feinere, lineare Durcharbeitung. Man
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Hans Bol, Landschaft mit der Opferung Isaaks, Feder in Braun, laviert, 117 × 185 mm, bezeichnet: „Hans Bol 157ř“, Florenz, Galleria degli Uffizi, Inv. 6ř6. Vgl. Hђіћџіѐѕ Gђџѕюџё Fџюћѧ, Niederländische Landschaftsmalerei im Zeitalter des Manierismus, 2 Bde., Graz 1969, Bd. 2, Nr. ř1ř. Gut vergleichbar ist die im Format beinahe identische Gebirgslandschaft mit Fluß: Flucht nach Ägypten in der Kunstsammlung der Universität Göttingen. Vgl. Zeichnungen von Meisterhand. Die Sammlung Uffenbach, hg. v. Gђџё Uћѣђџѓђѕџѡ, Göttingen 2000, 92f., Nr. 28.
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Abb. 1: HюћѠ Bќљ, Abrahams Opfer, Feder in Schwarzbraun, laviert und an einigen Stellen weiß gehöht, 199 × 290 mm, Berlin, SMPK Kupferstichkabinett.
Abb. 2: HюћѠ Bќљ, Landschaft mit der Opferung Isaaks, Feder in Braun, laviert, 117 × 185 mm, Berlin, SMPK Kupferstichkabinett.
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sollte kaum glauben, daß die beiden themengleichen Blätter tatsächlich vom selben Künstler ausgeführt wurden. Hans Bol zählt zu den wenigen Niederländern, die der italienische Kunstschriftsteller Giorgio Vasari (1511–1574) bei der Abfassung seiner Sammlung von Künstlerviten überhaupt der Erwähnung für wert befand.Ⱥ4 Tatsächlich war Bol auf dem speziellen Gebiet der Landschaft einer der produktivsten Künstler seiner Zeit. Zahlreiche Zeichnungen, Miniaturen und Gemälde in Wasser- und Ölfarben legen davon beredt Zeugnis ab. 1572 hatte Bol die von den Spaniern eroberte und zerstörte Stadt Mecheln verlassen und war nach Antwerpen übergesiedelt, wo er 1574 in die Lukasgilde aufgenommen wurde.Ⱥ5 Zwischen dem Entstehen des Berliner Blattes und der Florentiner Zeichnung liegt demnach Bols Weggang aus seiner Heimatstadt Mecheln. Die Beobachtung nun, daß sich sein Zeichenstil mit der Übersiedlung nach Antwerpen deutlich verändert, fügt sich zu einer von dem Kunstschriftsteller Karel van Mander 1604 überlieferten Anekdote. Dieser berichtet, daß Bol, in Antwerpen angekommen, das Malen auf Leinwand aufgab, da er sah, daß man seine Leinwandbilder kaufte, sie durch Kopieren vervielfältigte und diese Kopien dann als Originalwerke verkaufte, und wo er sich allein damit befaßte, Landschaften und kleine Kompositionen in Miniatur zu malen, indem er sagte: ‚Laßt sie jetzt auf dem Daumen pfeifen und mir das nachmachen!‘Ⱥ6
Miniaturbilder Bols sind aus jenen Jahren nicht erhalten, dafür jedoch zahlreiche Zeichnungen in der Art des Florentiner Blattes. Bei aller Skizzenhaftigkeit, die diesen Werken eigen ist, wirken sie doch so überlegt komponiert wie detailliert durchgearbeitete Landschaftsgemälde. So scheint auch in diesen Blättern auf kleinstem Raum eine Fülle von Einzelheiten zusammengedrängt, wodurch der Maler wohl die Schaulust 4
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Gіќџєіќ VюѠюџі, Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori ed architettori, hg. v. Gюђѡюћќ MіљюћђѠі, Bd. 7, Florenz 1881, 586: „Ma, quanto al fare bellissimipaesi, non ha pari Iacopo Gimer, Hans Bolz, & altri tutti d’Anuersa, e valent’ uomi.“ Zur Biographie vgl. A. A. ѣюћ SѢѐѕѡђљђћ, „Bol, Hans“, in: Saur Allgemeines Künstlerlexikon (AKL). Die bildenden Künstler aller Zeiten und Völker, Bd. 12, München 1996, ř59f.; Kюџђљ ѣюћ Mюћёђџ, The Lives of the Illustrious Netherlandish and German Painters, from the first edition of the Schilder-boeck (1603–1604). Text and Commentary, hg. v. HђѠѠђљ Mіђёђњю, Bd. 4, Doornspijk 1994, 208–218, mit weiterer Literatur; Hђіћџіѐѕ Gђџѕюџё Fџюћѧ, „Hans Bol als Landschaftszeichner“, in: Kunsthistorisches Jahrbuch Graz 1 (1965), 19–67. Cюџђљ ѣюћ Mюћёђџ, Das Leben der niederländischen und deutschen Maler, übers. v. Hanns Floerke, Bd. 2, München 1906, 59; Kюџђљ ѣюћ Mюћёђџ, Het Schilder-Boeck, Haarlem 1604, 260v: „T’Antwerpen begon hy het Doeck-schildere[n] heel te verlaten, siende datse zijn doecken cochten, en vast copieerden, en ghelijck voor de zijn vercochten, en heeft hem heel begheven te maken Landtschappen en Historikens van Verlichterije, segghende: Laetse nu op den duym fluyte[n], en my dit nae doen.“
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seines Publikums anzusprechen suchte. Die trotz der lockeren Strichführung geschlossen wirkende Ausführung erhebt die kleine Szene zu einem Zeugnis seiner künstlerischen Virtuosität, die durch die stolze Hervorhebung seiner Signatur noch unterstrichen wird. Derartige kleine Zeichnungen wurden seinerzeit als Artefakte – als Kunstwerke – geschätzt und gesammelt, um die Hand eines Künstlers zu dokumentieren.Ⱥ7 Doch welche Bedeutung kam dabei der Staffage zu? Dafür gilt es den Blick auf die Werke seiner Zeitgenossen zu richten, denn Bol war bei weitem nicht der einzige Künstler, der die Opferung Isaaks als Staffage in seinen Landschaften einsetzte. Von Pieter van der Borcht (1545–1608), einem Zeitgenossen und Landsmann Bols, sind gleich mehrere Kupferstiche mit Darstellung der Opferung Isaaks überliefert. Van der Borcht war im Gegensatz zu Bol nicht am direkten Absatz seiner Zeichnungen an Sammler interessiert, sondern – soweit heute bekannt – beinahe ausschließlich als Vorlagenzeichner für Buchillustrationen und Kupferstiche tätig.Ⱥ8 Seit 1564 arbeitete er regelmäßig für den Buchverlag Christoph Plantins, für den er zahlreiche Illustrationsfolgen entwarf. Dorthin begab er sich auch, nachdem er 1572 mit seiner Familie in höchster Not aus Mecheln geflüchtet war. „Petrus noster cum uxore ambo morbo correpti et prolibus nudi ad nos venerunt“, notierte Plantin in sein Diarium.Ⱥ9 Der Verleger half seinem Vorlagenzeichner in den folgenden Jahren, sich wieder eine Existenz aufzubauen. 1580 wurde van der Borcht Freimeister der Antwerpener Lukasgilde, was ihm ermöglichte, nun auch selbst als Verleger tätig zu werden.Ⱥ10 Er spezialisierte sich dabei auf Darstellungen von Szenen aus dem Alten Testament und gab zum Beispiel 1586 eine Serie von zehn Blättern zum Leben Abrahams heraus. Dabei bediente er sich zumeist des auch von Hans Bol gepflegten Bildschemas mit einer erhöhten Vordergrundzone, hinter der sich eine weite Landschaft mit hochgezogenem Horizont erstreckt. Auch die dieser Folge entstammende Darstellung der Opferung Isaaks bedient sich
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NіљѠ Bҿѡѡћђџ, Die Erfindung der Landschaft. Landschaftskunst und Kosmographie im Zeitalter Bruegels (Rekonstruktion der Künste 1), Göttingen 2000, 21–28; Kюѡџіћ AѐѕіљљђѠ-SѦћёџюњ, „‚und sonderlich von großen stuckhen nichts bey mihr vorhanden ist.‘ Die Sammlung Praun als kunst- und kulturgeschichtliches Dokument“, in: Die Kunst des Sammelns. Das Praunsche Kabinett, Nürnberg 1994, ř5–55, hier 48. Uљџіјђ HюћѠѐѕђ, „Borcht, Pieter van der“, in: AKL (Anm. 5), 677. LѼќћ Vќђѡ, The Golden Compasses. A history and evaluation of the printing and publishing activities of the Officina Plantiniana at Antwerp, Bd. 2, Amsterdam 1972, 212, Anm. 2. Pѕіљіѝѝђ Fђљіѥ RќњяќѢѡѠȦTѕђќёќџ FџюћѐќіѠ Xюѣіђџ ѣюћ LђџіѢѠ, De Liggeren en andere historische archieven der Antwerpsche Sint Lucasgilde, Bd. 1, Antwerpen 1864, 271.
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des Kompositionsmodells der einseitigen Ausblicklandschaft (Abb. 3).Ⱥŗŗ Der Hügel im Vordergrund, auf dem die Opferung stattfindet, wirkt dabei nur als eine Randkulisse ohne jeden räumlichen Eigenwert. Der Blick gleitet von der nahsichtigen Vordergrundzone über den Stein, auf dem die Signatur angebracht ist, und die Vater-und-Sohn-Gruppe in die Landschaft hinein, die in bildparalleler Schichtung mit Gebäuden, Hügelketten und Bäumen geradezu möbliert wirkt. Größter Wert ist allerdings auf die erzählerische Ausgestaltung gelegt. So werden rechts Vater und Sohn gezeigt, die sich unter Zurücklassung des Esels und ihrer Begleiter zu der Opferstätte begeben. Diese ist wiederum mit dem obligaten Widder staffiert, der ganz der Erzählung gemäß in Abrahams Rücken gezeigt ist. Von dort nähert sich zwischen den Ästen der Bäume auch der mahnende Engel. Die Szene mit der Opferung Isaaks findet sich auch in van der Borchts Illustrationen zu den von Henri Janssen Barrefeldt edierten ‚Imagines et figurae bibliorum‘ (Abb. 4).ȺŗŘ Die dreißigste der insgesamt hundert Bibelillustrationen zeigt wiederum auf einer schmalen Vordergrundbühne vor einem weiten Landschaftsausblick das biblische Geschehen, ohne daß diesmal dessen dramatischer Höhepunkt illustriert wäre. Vielmehr knien Abraham und der errettete Isaak vor dem lodernden Altar, in dessen Flammen der geopferte Widder gezeigt ist. Der Engel ruht sichtlich entspannt auf einer Wolke, bereit, Abraham zum zweiten Mal anzusprechen. Eine in der Himmelszone angebrachte Beischrift bestimmt die dargestellte Szene als Illustration zu „Genes[is] XXII, ŗ3ȃDZ „viditue post tergum arietem inter vepres herentem cornibus uem adsumens obtulit holocaustum pro filioȃ. Augenscheinlich ist das Gewicht der Darstellung auf Gottes Zufriedenheit mit Abrahams Gehorsam gelegt, die auch in der Stichunterschrift angesprochen wird.Ⱥŗ3 Sie wird im Bild zudem durch die Geste des Engels zum Ausdruck gebracht, der, auf die Sterne über seinem Kopf deutend, zugleich auf Gottes Versprechen hinweist, Abrahams Samen zu mehren wie die Sterne am Himmel – „benedicam tibi et multiplicabo ŗŗ
ŗŘ
ŗ3
Pieter van der Borcht, Opferung Isaaks, Kupferstich, ŘŝŖ Ƽ 3śś mm, aus einer Folge mit zehn Blättern mit Landschaften mit der Geschichte Abrahams und der Hagar. Vgl. Fџіђёџіѐѕ Wіљѕђљњ Hђіћџіѐѕ HќљљѠѡђіћ, Dutch and Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts, ca. 1450–1700, Amsterdam [ŗşśŖ], Bd. 3, ŗŖŖ, Nr. ŗŞş–ŗş4, hier Nr. ŗşŗ. Pieter van der Borcht, Landschaft mit der Opferung Isaaks, Radierung, ŗŞ3 Ƽ Řśś mm. BezeichnetDZ „PE. V. BORH ŗśŞŘȃ, Blatt 3Ŗ aus den ŗŖŖ Illustrationen zu Hђћџі JюћѠѠђћ Bюџџђѓђљёѡ, „Imagines et figurae bibliorumȃ. Vgl. HќљљѠѡђіћ (Anm. ŗŗ), Bd. 3, şş, Nr. ŗ–ŗŖŖ, hier Nr. 3Ŗ. „Explorata fides Abrahæ satù, ariete natus | Mutetur, proprio innocuas nec sanguine dexras [sic Ƿ] | ommaculet pater, haud etenim magis ulla onanti | Victima grata animi, uam puri ǭ para voluntas.ȃ
Opferung Isaaks in der niederländischen Landschaftskunst
Abb. ř: Pіђѡђџ ѣюћ ёђџ Bќџѐѕѡ, Opferung Isaaks, Kupferstich, 270 × ř55 mm.
Abb. 4: Pіђѡђџ ѣюћ ёђџ Bќџѐѕѡ, Landschaft mit der Opferung Isaaks, Radierung, 18ř × 255 mm.
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semen tuum sicut stellas caeliȃ (Gen ŘŘ,ŗŝ). Diese Verschiebung des dargestellten Moments sollte auch in van der Borchts Œuvre die Ausnahme bleiben. So wählte er in einer anderen Darstellung, die dem biblischen Personal auch weit mehr Raum gewährt, wieder den dramatischen Augenblick, in dem Abraham das Schwert schon gegen den sich in sein Schicksal fügenden Isaak erhoben hat (Abb. ś).Ⱥŗ4 Auch diese Radierung aus einer Serie mit Bildern zum Alten estament ist um weitere Szenen ergänzt. So sieht man rechts vor dem Landschaftsausblick Vater und Sohn zur Opferstätte schreiten, während der Esel mit den beiden wartenden Begleitern im al gezeigt ist. Im nterschied zu den anderen Blättern van der Borchts spielt die Landschaft hier nur eine untergeordnete Rolle, womit das Blatt eine Sonderstellung einnimmt. Zumeist nämlich spielt in den Darstellungen zum Alten estament und den zahlreichen Bibelillustrationen, die van der Borcht herausgab – genau wie auch in den Bildern Hans Bols – die Landschaft eine zentrale Rolle.Ⱥŗś Das gilt auch für eine ganze Reihe von Radierungen, die der Antwerpener Verleger Hieron¢mus ock (um ŗśŗŖ–ŗśŝŖ) edierte und in denen van der Borchts Drucke und die Zeichnungen Bols einen Vorläufer finden. Eine Radierung ist mit dem Herstellervermerk „H. ќѐј ѓђ[cit]ȃ und der Jahreszahl ŗśśŗ versehen (Abb. Ŝ).ȺŗŜ Auf einem erhöhten Vordergrundplateau, das als offener Weg weiter anzusteigen scheint, sind wiederum Abraham und Isaak gezeigt, wobei der Vater das Schwert erhoben hat und sich gerade nach dem Engel umdreht, der, von den Strahlen der Sonne hinterfangen, aus den Wolken herniederfährt. Nach links öffnet sich die Landschaft zu einem Ausblick in ein bewaldetes Flußtal, über dem sich steile Felsen erheben. Das Blatt gehört zu einer ganzen Serie von Drucken, die auf Entwürfen von Matth¢s ock (um ŗśŖş–ŗś4Ş) basieren, dem Bruder des Radierers und Verlegers. Auf dem itelblatt der ŗśśŞ erschienenen Serie heißt esDZ Vielerlei Landschaftsdarstellungen, darin gezeigt sind berühmte Historien aus dem Alten und Neuen estament und aus zahlreichen unterhaltenden Dichtungen, den Malern und anderen Liebhabern der Künste sehr von Nutzen.Ⱥŗŝ ŗ4
ŗś ŗŜ ŗŝ
Pieter van der Borcht, Opferung Isaaks, Radierung, ŘŝŖ Ƽ 3śś mm, Blatt 3Ŗ aus einer Illustrationsfolge zum Alten estament. Vgl. HќљљѠѡђіћ (Anm. ŗŗ), Bd. 3, ŗŖŖ, Nr. ŗŞş–ŗş4, hier Nr. ŗş3. Hђіћџіѐѕ Gђџѕюџё Fџюћѧ, Niederländische Landschaftsmalerei im Zeitalter des Manierismus, Ř Bde. (ext u. afeln), Graz ŗşŜş, Bd. ŗ, Řŗ3. Hieron¢mus ock, Landschaft mit Abraham und Isaak, Radierung, ŘŖŗ Ƽ ŘŞş mm. Vgl. HќљљѠѡђіћ (Anm. ŗŗ), Bd. 3, ŗŝŝ–ŗŝş, Nr. Ş–Řŗ, hier Nr. Ş. „Variae variarum regionum typographiae adumbrationes/ in publicum pictorum usus a/ Hieronimo ock delineatae et/ in aes incisae et editae. Veelderleye ordinantien van lantschappen, met fyne historien/ daer in gheordineert, wt den ouden ende
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Abb. 5: Pіђѡђџ ѣюћ ёђџ Bќџѐѕѡ, Opferung Isaaks, Radierung, 270 × ř55 mm.
Abb. 6: HіђџќћѦњѢѠ Cќѐј, Landschaft mit Abraham und Isaak, Radierung, 201 × 289 mm.
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Diese Graphikfolge erfreute sich augenscheinlich beim Publikum großer Beliebtheit, denn Karel van Mander erwähnt in seinem ‚SchilderBoeck‘ ausdrücklich die atsache, daß Hieronymus ock viele Arbeiten seines früh verstorbenen Bruders vervielfältigt habe, besonders zwölf kleine Landschaften, „die sehr gerne gesehen sindȃ, was wohl nichts anderes heißen kann, als daß sie beim Publikum noch ein halbes Jahrhundert später Anklang fanden.ȺŗŞ Innerhalb dieser Serie, zu der auch das Blatt mit der Opferung Isaaks gehört, gibt es gleich noch eine zweite Darstellung der Geschichte von Abraham und Isaak, wobei diesmal ein anderer, weit weniger dramatischer Moment gewählt ist (Abb. ŝ).Ⱥŗş „Abraham filĉ immolationem paratȃ erläutert eine Beischrift in der Ecke neben dem Herstellervermerk. Im Vordergrund der weiten Hügellandschaft lagern, im Gespräch mit einem Dritten, die Begleiter Abrahams bei dessen Esel. Vater und Sohn schreiten im Hintergrund einen sich in die Höhe windenden Bergpfad hinan, wobei der Sohn das Weihrauchgefäß und ein Reisigbündel trägt. Vielleicht wegen der geringeren Eindeutigkeit der dargestellten Szene hielt der Verleger es in diesem Fall für nötig, eine Beischrift anzubringen, die dem Betrachter bei der Identifizierung des dargestellten Geschehens zu helfen vermochte. Daß die Geschichte von Abraham und Isaak innerhalb dieser Serie von zwölf Blättern gleich zweimal vertreten ist, führt unweigerlich zu der Frage nach der Bedeutung der Staffagefiguren. Zur Beantwortung dieser Frage gilt es unter anderem den Herstellungsprozeß näher zu betrachten, was gerade im Falle des Hieronymus ock gut möglich ist, da zu etlichen der in seinem Verlag erschienenen Drucke auch die Vorzeichnungen erhalten sind. Vermittels des Vergleiches von Vorzeichnung und ausgeführtem Stich lassen sich in einigen Fällen Rückschlüsse auf die Intentionen des Verlegers ziehen, die auch im Kontext der Bewertung der künstlerischen Freiheiten des zeichnenden Entwerfers von Interesse sind. Zu den bekanntesten Vorlagenzeichnern, die für seinen Verlag tätig waren, zählte fraglos Pieter Bruegel d. Ä. (um ŗśŘŞ–ŗśŜş). Nach der Rückkehr von einer mehrjährigen Italienreise hatte Bruegel sich in der prosperierenden Metropole Antwerpen niedergelassen und war dort
ŗŞ
ŗş
niewen testamente,/ ende sommighe lustighe Poetereyen, seer beuaem voer Schil-/ ders, ende andere liefhebbers der consten.ȃ Zit. n. іњќѡѕѦ A. RієєѠ, Hieronymus Cock 1510–1570. Printmaker and Publisher in Antwerp at the Sign of the four Winds, Diss. Yale ŗşŝŗ, Řŝ3, Nr. 3Ş–śŖ. Vюћ Mюћёђџ, Leben (Anm. Ŝ), Ř3ŘrDZ „Hy was doch self seer inventijf van Lantschappen, en heeft self verscheyden dingen ghehetstDZ maer evenwel veel van Mathijs zijn broeders dinge[n] insonderheyt ŗŘ. Landtschapkens, die van yeder nochgeern worden ghesien.ȃ HіђџќћѦњѢѠ ќѐј, Landschaft mit Abraham und Isaak auf dem Weg zur Opferstätte. Radierung, ŘŖŗ Ƽ ŘŞş mm. Vgl. HќљљѠѡђіћ (Anm. ŗŗ), Bd. 3, ŗŝŝ–ŗŝş, Nr. Ş–Řŗ, hier Nr. ŗ4.
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Abb. 7: HіђџќћѦњѢѠ Cќѐј, Landschaft mit Abraham und Isaak auf dem Weg zur Opferstätte, Radierung, 201 × 289 mm.
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zunächst als Vorlagenzeichner für Hieronymus ock tätig geworden. Bis ungefähr ŗśŜŖ, nach welchem Jahr er sich zunehmend der Malerei zuwandte, hatte er insgesamt dreiundvierzig Entwürfe für Kupferstiche geliefert.ȺŘŖ Leider sind keine Dokumente erhalten, die darüber Auskunft geben könnten, wie Hieronymus ock ihm die gezeichneten Entwürfe honorierte, doch steht zu vermuten, daß Bruegel ein nicht unbeträchtliches Einkommen aus seiner ätigkeit zog.ȺŘŗ Was allerdings die Würdigung seiner ätigkeit als Entwerfer angeht, so scheint diese zumindest anfangs eher gering gewesen zu sein. Noch ŗśśŝ, nach Jahren der Zusammenarbeit, nachdem schon etliche Stiche nach Bruegels Entwurf in seinem Verlag erschienen waren, hatte ock kein Problem damit, eine Komposition Bruegels im Druck als Erfindung des damals weithin bekannten Malers Hieronymus Bosch auszuweisen. Die erhaltene Vorzeichnung des Stiches mit den großen Fischen, die die kleinen fressen, ist in der rechten unteren Ecke mit dem Namen Bruegels und der Jahreszahl ŗśśŜ versehen. Der die Zeichnung getreulich umsetzende Stich zeigt an der gleichen Stelle, über dem Monogramm des Kupferstechers Pieter van der Heyden, die Aufschrift „Hieronĉmus Bos. inventorȃ.ȺŘŘ Mit den Rechten, die ein Entwerfer an seiner Idee hatte, war es augenscheinlich nicht weit her, und auch die künstlerischen Freiheiten, die ein Entwurfszeichner hatte, waren wohl eher gering. Der Einfluß des Herausgebers auf die Graphik kann hingegen kaum überschätzt werden. Schließlich war es der Verleger und nicht etwa der Zeichner oder der Kupferstecher, der die Initiative ergriff, eine Graphik zu edieren.ȺŘ3 Mit Beginn des ŗŜ. Jahrhunderts war jedoch, neben den Vorlieben der Verleger, ein neuer bestimmender Faktor für die Motive und Darstellungen der Druckgraphik aufgekommen. Erstmals traten, gefördert durch die Konkurrenz unter den Herausgebern, die Wünsche und Forderungen einer breiteren Öffentlichkeit in den Vordergrund. Ihre Interessen und ihren Geschmack galt es zu treffen, wenn sich die hohen Investitionen rentieren sollten, die bei der Herausgabe eines Kupferstiches anfielen. Ein Beleg dafür findet sich schon in der ersten Zusammenarbeit Pieter Bruegels mit dem berühmten Verleger, die durch ein von ock selbst radiertes Blatt mit der ‚Versuchung hristi‘ dokumentiert wird. Die Vorlage für diese Radierung lieferte eine Zeichnung, die Bruegel von seiner ŘŖ Řŗ ŘŘ Ř3
Pieter Bruegel the Elder, Drawings and Prints, hg. u. bearb. v. Nюёіћђ M. OџђћѠѡђіћ, New York ŘŖŖŗ, 3–ŗŗ. Bҿѡѡћђџ, Erfindung (Anm. ŝ), 3ŗ. OџђћѠѡђіћ (Anm. ŘŖ), ŗ4Ŗf., Nr. 3Şf. Zu den anderen in der Druckgraphik jener Zeit wirksamen Einflußsphären vgl. Jюћ ѣюћ ёђџ Sѡќѐјѡ, inDZ Stadtbilder in Flandern. Spuren bürgerlicher Kultur 1477–1787, Renaissanceschloß Schallaburg ŗşşŗ, ŗŞ4f.
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Italienreise mitgebracht hatte: Die ‚Waldlandschaft mit fünf Bären‘.Ⱥ24 Die Landschaft der Zeichnung ist, wenn auch durch den Druck seitenverkehrt, genau übernommen. Nur die Bären sind weggelassen. An ihre Stelle hat der Stecher und Verleger Cock eine Szene aus der Bibel gesetzt: Die Versuchung Christi in der Wüste. Bei einem Vergleich zwischen der Zeichnung und der Radierung zeigt sich, daß Cock sich in allen Details der Landschaft und ihrer kleinteiligen Staffage getreu an sein gezeichnetes Vorbild hielt. Einzig die Szene im Vordergrund ist ausgetauscht. Wo bei Bruegel die Bären spielten, zeigt Cock die Versuchung Christi. Die im Evangelientext erwähnte Wüste als Waldlandschaft zu imaginieren, entsprach der ikonographischen Tradition, und eines traditionellen Themas scheint es in Cocks Augen bedurft zu haben. Augenscheinlich war er jedoch auch an der Darstellung einer menschenfernen Wildnis interessiert, wie sie Bruegels Zeichnung vorführt. Daß sich gerade in jenen Jahren ein schnell wachsender Markt für Landschaftsgraphiken entwickelte, wird auch in der weiteren Zusammenarbeit Cocks und Bruegels ablesbar. Nur ein Jahr nach der ‚Waldlandschaft mit der Versuchung Christi‘ erschien 1555 in Cocks Verlag nämlich eine ganze Landschaftsserie, die Folge der sogenannten zwölf ‚Großen Landschaften‘.Ⱥ25 Auf elf der Blätter ist – anders als noch auf der ‚Waldlandschaft mit der Versuchung Christi‘ – Pieter Bruegel als Entwerfer genannt. Den meisten Blättern ist dabei ein Thema gegeben: Der Gang nach Emmaus, der Heilige Hieronymus in der Einöde etwa, die Flucht nach Ägypten oder die büßende Maria Magdalena. Davon, wie Bruegel die Stechervorlage für diese Serie konzipierte, gibt die in Antwerpen aufbewahrte ‚Landschaft mit drei Pilgern‘ einen guten Eindruck, die der Radierung ‚Evntes in Emaus [sic!]‘ zugrunde liegt.Ⱥ26 Bruegel nahm augenscheinlich auf die spätere Seitenverkehrung des Stiches Rücksicht und gab den Wanderern ihre Pilgerstäbe auf der Zeichnung in die linke Hand. Doch trotz der genauen Vorarbeit wurde auch diese Zeichnung ähnlicher inhaltlicher Korrektur unterzogen wie die frühe Waldlandschaft. Der Stecher fügte nämlich – vermutlich auf Weisung des Verlegers – mehrere Dinge hinzu, die auf der Zeichnung nicht vorgegeben waren. Neben einem Boot auf dem Fluß hat er am Horizont eine untergehende Sonne ergänzt und den Kopf des mittleren Pilgers mit einem Nimbus versehen. Diese beiden letztgenannten Hinzufügungen stehen im direkten Zusammenhang mit dem Titel des Stiches ‚Evntes 24 25 26
OџђћѠѡђіћ (Anm. 20), 108–110, Nr. 15f. Ebd., 120–1ř5, Nr. 22–ř4. Zur Datierung der Serie vgl. RієєѠ (Anm. 17), ř19; HюћѠ Mіђљјђ, Pieter Bruegel. Die Zeichnungen, Turnhout 1996, 18. Kюџљ Aџћёѡ, „Frühe Landschaftszeichnungen von Pieter Bruegel d. Ä.“, in: Pantheon 25 (1967), 97–104, hier 100.
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in Emaus‘.Ⱥ27 Die in der Bibel berichtete Begegnung zweier Männer mit dem auferstandenen Christus (Lk 24,1ř–ř1), auf die durch die Beischrift angespielt wird, war allem Anschein nach nicht von Bruegel konzipiert. Nicht nur, daß auf der Zeichnung die – dem Bibeltext entsprechende – untergehende Sonne fehlt, auch der Nimbus ist bei Bruegel nicht vorgegeben. Daß Bruegel, als er den mittleren Wanderer zeichnete, nicht an die biblische Historie dachte, wird auch dadurch wahrscheinlich gemacht, daß eine Darstellung Christi in der Tracht des 16. Jahrhunderts mehr als ungewöhnlich ist. Vermutlich bedeutete in Cocks Augen eine nicht durch christliche oder mythologische Staffage legitimierte Landschaft, die nicht einmal die Stätten der Antike zeigte, ein verlegerisches Risiko. Tatsächlich waren derartige Blätter in Antwerpen noch nicht ediert worden. Zumal die Waldlandschaft mit der Versuchung Christi darf als ästhetisches Experiment eingeschätzt werden, denn eine solche nahsichtige Waldansicht war vordem in Antwerpen nicht im Druck herausgegeben worden. Doch bedeuteten sie in der Kunst jener Tage schon längst keine Neuigkeit mehr. Zahlreiche deutsche Künstler hatten sich schon ein halbes Jahrhundert zuvor in ihren graphischen Arbeiten mit der Landschaft auseinandergesetzt, und diese Blätter waren, auch im Antwerpen Cocks und Bruegels, begehrte Sammelobjekte.Ⱥ28 Diesen Markt versuchte Cock sich zu erschließen und begann, bevorzugt Landschaftsgraphiken mit figürlicher Staffage herauszugeben, wobei die Figuren allerdings beinahe beliebig austauschbar waren. Einen Beleg dafür, daß es dem Verleger im wesentlichen um abwechslungsreiche Landschaftsszenen mit einer beliebigen Staffage ging, liefert eine zufällig erhaltene Zeichnung, die für eine der Landschaften aus der Serie die Vorlage abgab, zu der auch die beiden Darstellungen der Geschichte von Abraham und Isaak zählen (Abb. 8).Ⱥ29 Bei der Umsetzung der von Matthys Cock gezeichneten ‚Landschaft mit dem Heiligen Christophorus‘ wurde nämlich nur die
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Daß Bruegel auf die seinen Stichen beigegebenen Unterschriften keinen Einfluß hatte, sie oft nicht einmal kannte, vermochte Konrad Renger überzeugend nachzuweisen: Kќћџюё Rђћєђџ, „Verhältnis von Text und Bild in der Graphik. Beobachtungen zu Mißverhältnissen“, in: Wort und Bild in der niederländischen Kunst und Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts, hg. v. Hђџњюћ VђјђњюћȦJѢѠѡѢѠ Mҿљљђџ HќѓѠѡђёђ, Erftstadt 1984, 151–161, hier 152f. Bҿѡѡћђџ, Erfindung (Anm. 7), 20–46; ёђџѠ., „De verzamelaar Abraham Ortelius“, in: Abraham Ortelius (1527–1598) cartograaf en humanist, Museum Plantin-Moretus, Antwerpen 1998, 169–180. Matthys Cock, Landschaft mit dem Hl. Christophorus, Feder in Braun, grau laviert, 151 × 2ř5 mm, Amsterdam, Slg. van Regteren Altena. Vgl. RієєѠ (Anm. 17), 275, unter Nr. 45.
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Abb. 8: MюѡѡѕѦѠ Cќѐј, Landschaft mit dem Hl. Christophorus, Feder in Braun, grau laviert, 151 × 2ř5 mm, Amsterdam, Slg. van Regteren Altena.
Abb. 9: HіђџќћѦњѢѠ Cќѐј, Landschaft mit Hero und Leander, Radierung, 222 × ř10 mm.
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Landschaft in die Radierung übernommen (Abb. 9).Ⱥř0 Der Christophorus mit dem Christkind auf seinen Schultern ist durch Hero und Leander ersetzt. Die Heilige Szene ist gegen eine ‚unterhaltende Dichtung‘ – eine Historie aus der antiken Mythologie – ausgetauscht. Es ging hier also offenbar weniger darum, welche Geschichte dargestellt wurde, als darum, die Landschaft mit einer Historienszene anzureichern. Diese Beliebigkeit der figürlichen Staffage legt nahe, daß es Cock mehr um die Landschaften selbst ging als um die klein dargestellten Historien. Schon der Titel der Serie betont dieses Interesse: ‚Variae variarum regionum typographiae adumbrationes – Veelderleye ordinantien van lantschappen‘. ‚Vielerlei unterschiedliche Landschaften‘ preist er an. Die darin gezeigten Historien werden erst in zweiter Linie erwähnt. Das sich hier andeutende Interesse an der Landschaft findet auch in anderen von Cock edierten Serien seinen Ausdruck. So in der Folge der zwölf ‚Großen Landschaften‘, in einer Serie von Radierungen nach Entwürfen Hans Bols oder in den sogenannten ‚Kleinen Landschaften‘, die 1559 und 1561 erschienen.Ⱥř1 Auch wenn Cock, was den Umfang seiner Produktion angeht, an der Spitze steht, war er bei weitem nicht der einzige niederländische Verleger, der Landschaftsgraphiken edierte. Auch seine Konkurrenten, wie Gerard de Jode oder Bartholomeus de Momper hatten eine beträchtliche Zahl von Landschaften nach Entwürfen von Hans Bol und anderen Künstlern im Angebot.Ⱥř2 Selbstverständlich waren all diese Landschaften mit Staffagefiguren versehen, und natürlich waren die Szenen der biblischen Historie oder der klassischen Mythologie entnommen. Dabei konnten der Heilige Christophorus, Hero und Leander oder Abraham und Isaak in der Landschaft dargestellt sein, solange die Szenen nur abwechslungsreich gestaltet waren. Innerhalb der Serie, zu der auch die beiden Landschaften mit Abraham und Isaak gehören, war Cock vor allem um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen biblisch und mythologisch staffierten Blättern bemüht. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß es stets galt, aus dem breiten Spektrum möglicher Themen solche figürlichen Szenen auszuwählen, die zum Gehalt der Landschaft paßten. So war zum Beispiel für die in dieser Form nie illustrierte Waldeinsamkeit die Versuchung Christi ein durchaus passendes Motiv, und auch die Wahl von Hero und Leander paßt zu der schroffen Felsř0 ř1
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HіђџќћѦњѢѠ Cќѐј, Landschaft mit Hero und Leander, Radierung, 222 × ř10 mm. Vgl. RієєѠ (Anm. 17), 275, Nr. 45, mit weiterer Literatur. Vgl. Graven Images. The Rise of Professional Printmakers in Antwerp and Haarlem, 1540– 1640, Mary Land Leigh Block Gallery, Northwestern University, Evanston, Illinois 199ř, hg. v. TіњќѡѕѦ RієєѠȦLюџџѦ Sіљѣђџ, Evanston 199ř, 20f. RієєѠ (Anm. 17), 216. 218.
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küste noch besser als die vom Zeichner zunächst vorgesehene Christophorusfigur. Das Bemühen um die Auswahl einer passenden Staffage sollte später von Karel van Mander sogar zur allgemeinen kunsttheoretischen Forderung erhoben werden. Van Mander war es übrigens auch, der den Begriff Staffage („stoffacie“) in die Kunstliteratur einführte.Ⱥřř Ausführlich äußert er sich 1604 in seinem ‚Schilder-Boeck‘ über die ideale Ausstattung von Landschaftsbildern mit Figuren, wobei er sie meist als „cleyn beelden“ oder „beeldekens“ beschrieb. Ausdrücklich betont er in diesem Zusammenhang auch, daß es für einen Maler unerläßlich sei, mit den darzustellenden Historien vertraut zu sein – „Dat goet is, zijn Historie te vorweeten“.Ⱥř4 Ausdrücklich lobt van Mander die von Plinius bezeugten Bemühungen des Malers Studius auf diesem Gebiet und fordert dazu auf, die Figürchen in den Landschaften vor allem abwechslungsreich und in der richtigen Größenrelation zu gestalten und sie passend zur Landschaft auszuwählen.Ⱥř5 Um bei der Auswahl geeigneter Historien einen Anhaltspunkt zu geben, umfaßte sein Handbuch für angehende Maler nicht nur die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler und eine gereimte Anweisung für den Umgang mit Pinsel und Farbe, sondern auch eine ‚Uytleggingh op den Metamorphosis Pvb. Ovidii Nasonis‘ – eine ‚Auslegung der Metamorphosen Ovids‘. Dieses Buch sei für Maler, Dichter und Kunstliebhaber gleichermaßen von Nutzen, heißt es auf dem Titelblatt. Das Vorwort führt dazu näher aus, daß Maler mit Hilfe dieser Schrift ihre Darstellungen von Szenen aus Ovid nicht nur selbst verstehen lernten, sondern daß sie gar in die Lage versetzt würden, anderen ihre Bilder zu erklären.Ⱥř6 Sorgsam, Buch für Buch, versucht van Mander die klassischen Erzählungen als Gleichnisse von allgemeiner Gültigkeit auszudeuten, meist ohne den ‚heidnischen Fabeln‘ einen christlichen Sinn zu unterlegen. Die biblischen Historien in gleicher Weise zusammenzufassen oder anzugeben, mußte van Mander überflüssig erscheinen, denn eine mehr řř
ř4
ř5 ř6
Van Mander gebrauchte den Begriff allerdings noch nicht im heutigen Sinne von Figurenstaffage, sondern für die Ausschmückung von Historienbildern mit Nebenfiguren, Architekturen und ähnlichem. Vgl. Sюяіћђ Sѡџюѕљ-GџќѠѠђ, Begriffsgeschichte und Erscheinungsformen, München 1991, ř2. Vgl. auch ebd., 28–52, zu „Wortgebrauch und Begriffsbildung in der Kunsttheorie“. Kюџђљ ѣюћ Mюћёђџ, Den grondt der edel vry schilder-const, hg. v. HђѠѠђљ Mіђёђњю, Bd. 1, Utrecht 197ř, ř7v. Zu dem Phänomen, daß der Begriff „stoffagie“ erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts regelmäßig zur Bezeichnung der Figurenstaffage verwandt wurde, vgl. Sѡџюѕљ-GџќѠѠђ (Anm. řř), 51f., „Staffage.“ Vюћ MюћёђџȦMіђёђњю (Anm. ř4), ř7v–ř8r. Für die Staffage galt vor allem das Gebot der Vielfalt, vgl. Sѡџюѕљ-GџќѠѠђ (Anm. řř), 54. Vюћ Mюћёђџ, Schilder-Boeck (Anm. 6), 1r.
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als gute Bibelkenntnis konnte er bei seinem niederländischen Publikum fraglos voraussetzen. Gerade seine Haarlemer Mitbürger, zumal die reformierten Bewohner der nördlichen Provinzen der Niederlande, waren durch Bibellesung, Psalmgesang und Exegese, sowohl im Gottesdienst als auch in Schule und Haus, nicht nur mit dem Neuen Testament, sondern auch mit den Erzvätern, Richtern, Königen und Propheten vertraut.Ⱥř7 Doch auch ein halbes Jahrhundert zuvor durfte der Verleger Hieronymus Cock im katholischen Antwerpen mit einem durchaus verständigen Publikum rechnen. Nicht nur, daß der regelmäßige Gottesdienstbesuch das gesellschaftliche Miteinander prägte und eine ungeheure Bildervielfalt in den Kirchen der Stadt den Interessierten die christliche Ikonographie vor Augen führte, in Antwerpen wurde auch viel gelesen. Das Interesse an Gedrucktem war, zur großen Verwunderung ausländischer Besucher, bei den Niederländern ganz allgemein außerordentlich hoch. Davon zeugen beispielsweise die Memoiren des spanischen Offiziers Alonso Vázquez, der unter Alexander Farnese in den Niederlanden gedient hatte und in Antwerpen stationiert war: „Die Bewohner dieses Landes“, schreibt er um das Jahr 1580, „hegen eine große Liebe zur Literatur, die sie eifrig studieren, vor allem die klassische Literatur; und sie sind sehr gewandt im Gebrauch der beiden einheimischen wie auch fremder Sprachen. Das Deutsche, Latein, Französisch und Niederländisch beherrscht man durch das tägliche Sprechen gründlich.“Ⱥř8 Eines hebt der spanische Offizier ganz besonders hervor: Selbst die Frauen konnten in den Niederlanden lesen, und sie machten von dieser Fähigkeit reichlich Gebrauch: Die niederländischen Frauen sind sehr wißbegierig […]. Sie lesen gerne, und da es niemanden gibt, der ihre Lektüre in irgendeiner Weise kontrolliert, bekommen sie allerhand ketzerische und verbotene Bücher in die Hand, die sie lesen.Ⱥř9
Der spanische Offizier fürchtete sogar, daß sich diese allgemeine Lesefähigkeit nachteilig auf das Seelenheil auswirken könne, da so viele
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Sіњќћ Sѐѕюњю, Überfluß und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im goldenen Zeitalter, München 1988, 104. „De bewoners van deze streken […] hebben veel liefde voor de letteren, die zij ijverig bestudeeren, vooral de klassieke letteren, en zij zijn zeer bedreven in het gebruik van de beide inheemsche talen en van vreemde talen. Het Duitsch, Latijn, Fransch en Nederlandsch kent men grondig door het dagelijksch spreken ervan.“ Jќѕюћ BџќѢѤђџ, Kronieken van spaansche soldaten uit het begin van dentachtigjarigen oorlog, Zutphen 19řř, 90. „De Nederlandsche vrouwen zijn weetgierig […]. Zij lezen gaarne, en dar er nun iemand is die die belet of eenig toezicht op haar lectuur uitoefent, krijgen zij allerlei kettersche en verboden boeken in hande en lezen die.“ BџќѢѤђџ (Anm. ř8), 111.
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„ketzerische und verbotene Bücher“ für geringste Preise – ja, beinahe geschenkt – in allen Buchhandlungen zu erwerben waren.Ⱥ40 Auch Graphiken konnte man in Antwerpen allerorten erwerben, und gerade Landschaften mit winzigen Staffagefiguren scheinen, wie erwähnt, beim Publikum größten Anklang gefunden zu haben. Wie beliebt derartige Blätter waren, läßt sich nicht nur an der Tatsache ablesen, daß beinahe jeder Verleger Landschaften im Angebot hatte, sondern auch daran, daß einige der von Hieronymus Cock verlegten Landschaftsgraphiken kopiert wurden und als Raubdrucke in anderen Verlagen erschienen: Androuet du Cerceau (1520– nach 1551) kopierte Ende der fünfziger Jahre Cocks Ansichten römischer Ruinen, und der Holländer Claes Jansz. Visscher (1587–1652) druckte die ‚Kleinen Landschaften‘ nach. Der aus Verona stammende Radierer Battista Pittoni (1508–158ř) und andere Meister in seinem Umkreis kopierten verschiedene Landschaften nach Matthys Cock und wiederum die Ansichten römischer Ruinen.Ⱥ41 Gleich zwei italienische Raubdrucke existieren auch von den ‚Kleinen Landschaften‘.Ⱥ42 Beleg der weiten Verbreitung und langanhaltenden Nachwirkung der bei Cock erschienenen Stiche ist schließlich auch die zu Beginn besprochene Zeichnung Hans Bols (Abb. 1), die augenscheinlich in unmittelbarer Auseinandersetzung mit der Radierung Cocks entstand. Bol nutzte offensichtlich Cocks ‚Landschaft mit Abraham und Isaak‘ als Vorlage für seine gezeichnete Komposition (Abb. 6). Dabei muß ihm gerade die Geschichte von Abraham und Isaak als besonders passende Staffage für diese spezifische Landschaft erschienen sein. Es ist nämlich sicherlich kein Zufall, daß er auf seiner 1570 angefertigten Variation des Themas nicht nur die Landschaft, sondern auch die Staffage übernahm und diese sogar noch beibehielt, als er drei Jahre später nochmals seine eigene Fassung dieser Landschaft variierte. Warum ihm gerade diese Geschichte so gut zu dieser spezifischen Landschaft zu passen schien, läßt sich nur vermuten. So fällt zum Beispiel auf, wie sehr Bol sich bemühte, Figur und Landschaft zueinander in Beziehung zu setzen. Das Baumpaar zum Beispiel, das so exponiert auf der Felskante steht und optisch zwischen Himmel und Erde vermittelt, nimmt explizit auf die Figurengruppe Bezug. Auch lassen gerade in der späteren Zeichnung der steile Bergpfad und seine Distanz zu der fernen Stadt die in der Bibel erwähnte dreitägige Wanderung anschaulich werden. Diese Sensibilität im Umgang mit Staffage und Landschaft läßt darauf schließen, daß Bol über eine Kenntnis der Historien verfügte, wie van 40 41 42
„Deze boeken zijn te geef, en daerom gaan zij naar de boekwinkels waar zij ze kosteloos krijgen.“ Ebd., 111. RієєѠ (Anm. 17), 257ff., Nr. 1–25, u. ebd. 2ř0, Anm. ř9. Ebd., 212.
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Mander sie später fordern sollte. Leider ist das Wissen über die Käufer derartiger Landschaftszeichnungen besonders für das 16. Jahrhundert bislang recht beschränkt. Dennoch ist davon auszugehen, daß die in den Bildern angelegten Bezüge von Landschaft und figürlicher Staffage sich zumindest dem gebildeten Publikum erschlossen haben.Ⱥ4ř In jedem Falle läßt sich, innerhalb der allgemeinen Begeisterung für Darstellungen der den Menschen umgebenden Natur, zumindest auf seiten der Künstler eine große Sensibilität für das Zusammenspiel von Figur und Landschaft bemerken. Gerade in Bols Variationen der Radierung Cocks wird dieses Phänomen greifbar. Für eine solche bergige Überschaulandschaft mit nahsichtiger Vordergrundbühne war die Opferung Isaaks die ideale Staffage, um die Betrachtung der Landschaft zu vertiefen.
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Der Emblematik kam in der frühen Neuzeit eine Schlüsselrolle für das gesamte allegorisierende Denken und Artikulieren zu, das als universelles Auslegungsprinzip die inhaltliche Bedeutung aller Formen des bildlichen und textlichen Mitteilens durchdrang. So läßt sich für jedes frühneuzeitliche Bild annehmen, daß Gestaltung und Aussehen nur einen Teil seiner Bedeutung konstituieren, während das andere durch den Betrachter realisiert wurde. CюџѠѡђћ Pђѡђџ Wюџћѐјђ, Sprechende Bilder – sichtbare Worte. Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1987, 254. Vgl. Wќљѓєюћє Kђњѝ, „Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik“, in: DђџѠ., Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln 1985, 7–27, bes. 22; ёђџѠ., „Kunstwerk und Betrachter: Der rezeptionsästhetische Ansatz“, in: HюћѠ Bђљѡіћє u. a., Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 1986, 20ř–221, bes. 209. Ausführlich dazu auch die Arbeiten von Uљџіѐѕ Hђіћђћ, bes. Rubens zwischen Predigt und Kunst. Der Hochaltar für die Walburgenkirche in Antwerpen (Diss. Köln 1994), Weimar 1996, sowie ёђџѠ., „Zur bildrhetorischen Wirkungsästhetik im Barock“, in: Bildrhetorik. Das Bild im Spannungsfeld von Ästhetik und Pragmatik, hg. v. Jќюѐѕіњ Kћюѝђ, Baden-Baden 2006 (im Druck).
Ein Bibeltext im Gattungs- und Medienwechsel Deutschsprachige Abraham-und-Isaak-Schauspiele der frühen Neuzeit von Hans Sachs, Christian Weise und Johann Kaspar Lavater von Rюљѓ Gђќџє Bќєћђџ 1. Der alttestamentliche Prätext aus narratologischer Perspektive Die Geschichte von Abrahams Versuchung im 22. Kapitel der Genesis ist – literaturwissenschaftlich gesehen – ein prosaischer Erzähltext kürzeren Umfangs.Ⱥ1 Sie wird von vier Haupt-, zwei Nebenfiguren und zwei tierischen Randfiguren getragen. Im Zentrum stehen Abraham und Isaak. Zu ihnen gesellen sich Gott, der gleich im ersten Vers zu jenem spricht und den Befehl zur Opferung von dessen Sohn erteilt, und der Engel des Herrn, der die Tötung Isaaks im letzten Moment verhindert und anschließend dem Vater die Verheißung der künftigen glücklichen Schicksale von dessen Nachfahren macht. Hinzu kommen die beiden Knechte, die Abraham und Isaak auf der Reise begleiten, sowie als tierische Nebenfiguren der Esel und der Widder in der Hecke, der dann tatsächlich geopfert wird. Die Handlung ist an zwei Schauplätzen situiert, am Anfang und am Ende in Beerseba, im ausführlicheren Mittelteil auf dem Berg Jahwe-Jire. Die erzählte Zeit umfaßt schätzungsweise sieben bis acht Tage, zuerst den Tag, an dem Abraham das Opfer befohlen wird, und jeweils drei Tage für die Hin- und für die Rückreise, zwischen denen sich das zentrale Opferungsgeschehen abspielt. Das Erzähltempo 1
Den folgenden Erzählanalysen liegen zugrunde: MюѡіюѠ MюџѡіћђѧȦMіѐѕюђљ Sѐѕђѓѓђљ, Einführung in die Erzähltheorie (C. H. Beck Studium o. Nr.), München 62005. Jҿџєђћ H. PђѡђџѠђћ, Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte (Metzler Studienausgabe o. Nr.), StuttgartȦWeimar 199ř. Zum Medienwechsel vgl. zusammenfassend Rюљѓ Gђќџє Bќєћђџ, „Medienwechsel“, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. v. AћѠєюџ Nҿћћіћє, StuttgartȦWeimar 22001, 420 mit weiterführender Literatur.
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ist geprägt von mehreren Szenen, die genauer dargestellt werden, von Gottes Anrede an den Vater, der Zurüstung zur Abreise, dem Opfer und der Verheißung, und von dazwischenliegenden, stark gerafft gestalteten Phasen der Narration. Die Erzählzeit für die im Ganzen sehr knapp präsentierte Geschichte hingegen beschränkt sich auf wenige Minuten. Die Versuchung Abrahams wird in ihrer alttestamentlichen Fassung von einem Er-Erzähler präsentiert. Dieser berichtet von dritten Personen, nicht auch von sich selbst, und gewinnt keine eigenen Konturen als Subjekt der Narration. Sein raum-zeitliches Verhältnis zu den dargestellten Vorgängen und Figuren ist völlig unkonkret; jedenfalls besteht zwischen ihm und den Geschehnissen eine große Distanz. Die narratorische Sichtweise hingegen ist klar zu bestimmen. Der Erzähler verfügt nicht über die Fähigkeit, in das Innere auch nur einer seiner Figuren zu blicken. Das Erzählverhalten ist weder auktorial – der Narrator gibt keinerlei eigene Wertungen oder Kommentare ab – noch personal – er berichtet nicht aus der Perspektive einer der beteiligten Figuren –, sondern neutral. Schließlich enthält der Text lediglich zwei Darbietungsarten, nämlich den einfachen, handlungsreferierenden Erzählerbericht und die direkte Rede.
2. Der alttestamentliche Prätext im Gattungs- und Medienwechsel Eine Dramatisierung dieses epischen Textes nun zeitigt vielfältige Konsequenzen für dessen Aufbau, Handlung, Figuren und sonstige Gestaltungselemente. Grund dafür sind der Gattungswechsel von der Erzählung zum Schauspiel und der Medienwechsel von der Darbietung mittels des Buches zur theatralischen Realisierung auf einer Bühne. Der Text verändert sich bei der Dramatisierung unausweichlich, da er in die Darstellungstechniken und -konventionen des Dramas transformiert werden muß. Bestimmte Elemente der Narration müssen zwangsläufig umgestaltet oder gar fallengelassen werden. Dafür bieten die neue Gattung und das andere Medium innovative Potentiale der produktiven Fortschreibung und spezifischen Akzentuierung des Textes im jeweiligen poetologischen und ideologischen Kontext. Drei Beispiele hierfür aus der frühen Neuzeit sollen im folgenden exemplarisch analysiert werden.Ⱥ2 Die Texte datieren, zeitlich weit ge2
Zum Abraham- und Isaak-Drama der frühen Neuzeit vgl. Fџіѡѧ Rђѐјљіћє, Immolatio Isaac. Die theologische und exemplarische Interpretation in den Abraham-Isaak-Dramen der deutschen Literatur insbesondere des 16. und 17. Jahrhunderts, MünsterȦWestf.: phil. Diss. [masch.] 1962.
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streut, vom Anfang, aus der Mitte und vom Ausgang der Epoche. Es handelt sich um Hans Sachsens „Tragedia […] Die opferung Isaac“ von 15řř,Ⱥř Christian Weises Schauspiel „Das Ebenbild eines gehorsamen Glaubens“ von 1682Ⱥ4 und Johann Kaspar Lavaters Drama „Abraham und Isaak“ von 1776.Ⱥ5 Die Auswahl gerade dieser drei Beispiele aus der Vielzahl an einschlägigen Texten des 16. bis 18. Jahrhunderts ist relativ zufällig. Sie gehorcht noch vor allem der pragmatischen Prämisse, die ihren Autoren nach bekanntesten und am ehesten kanonisierten deutschsprachigen Abraham-und-Isaak-Schauspiele der Zeit in den Blick zu nehmen. Als wichtiger aber darf gelten, daß es sich um drei außerordentlich unterschiedliche theatralische Umsetzungen des biblischen Themas handelt, die vielfältige Beobachtungen über die differierenden Realisierungen und die divergierenden Konsequenzen des Gattungs- und Medienwechsels ermöglichen. Jede Theatralisierung der Abraham-und-Isaak-Geschichte nun sieht sich mit dem diffizilen Problem konfrontiert, daß die Handlung des Textes, sofern sie nicht bloß in einem kleinen Dramolett auf der Bühne umgesetzt wird, schwerlich die Grundlage eines abendfüllenden Schauspiels abzugeben vermag. Die Dramatisierung erfordert somit zwingend die Ergänzung zusätzlicher Handlungselemente.
ř. Divergierende Dramatisierungen der Handlung des Prätextes Solch zusätzliche Handlungselemente können zuerst einmal aus anderen Teilen des Alten Testaments rekrutiert werden. Diese Strategie wählt Sachs. Der zweite Akt seiner „Tragedia“ führt den Befehl Gottes an Abraham vor, den Sohn zu schlachten, und der dritte bringt das Opfergeschehen selbst auf die Bühne. Der erste Akt jedoch rollt die Vorgeschichte des hochbetagten kinderlosen Ehepaars Abraham und Sarah aus Gen 18 auf, dem vom Herrn die Geburt eines Sohnes verkündigt wird.
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5
HюћѠ SюѐѕѠ, „Tragedia, mit neun person zu agiern. Die opferung Isaac. Hat ř actus“, in: HюћѠ SюѐѕѠ, hg. v. Aёђљяђџѡ ѣ. Kђљљђџ, Bd. 10 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 1ř1), Tübingen 1876, 59–75. CѕџіѠѡіюћ WђіѠђ, Das Ebenbild Eines gehorsamen Glaubens, Zittau 1682. Zu Weise vgl. grundlegend CљюѢѠ-Mіѐѕюђљ Oџѡ, Medienwechsel und Selbstreferenz. Christian Weise und die literarische Epistemologie des späten 17. Jahrhunderts (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 9ř), Tübingen 200ř. Jќѕюћћ KюѠѝюџ Lюѣюѡђџ, Abraham und Isaak. Ein religioses Drama, Winterthur 1776.
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Darüber hinaus können zusätzliche, im Prätext überhaupt nicht vorhandene Elemente in die Handlung eingeführt werden. Sachs bedient sich auch dieser Strategie an zwei Stellen seines Textes. Im Anschluß an Gottes Befehl, den Sohn zu opfern, entfaltet der Nürnberger eine längere Szene, in der Abraham seiner Frau sein Vorhaben mitteilt und sich mit ihr darüber in eine ausführliche Auseinandersetzung verstrickt.Ⱥ6 Zuerst weigert sie sich strikt, der Opferung des Sohnes zuzustimmen. Sie steht damit – wie bereits im ersten Akt anläßlich der Ankündigung von Isaaks Geburt – für eine skeptische Haltung, die dem bedingungslosen Glauben Abrahams gegenübergestellt wird. Während die Zweifel der Frau in Gen 18 ausdrücklich erwähnt werden – sie lacht über Gottes Worte –, handelt es sich im zweiten Akt von Sachsens „Tragedia“ um eine Ergänzung des Autors ohne biblische Grundlage, da Sarah in Gen 22 ja nicht einmal eine Erwähnung findet. Abraham entgegnet ihr, daß dem Befehl Gottes ohne Wenn und Aber zu gehorchen sei. Im folgenden Disput trägt sie eine Reihe von Argumenten gegen die Opferung des Buben vor, die Abraham, der sich in seiner Position auch nicht nur ein bißchen bewegt, freilich allesamt schroff zurückweist. So zweifelt Sarah daran, daß ihm überhaupt Gott erschienen sei, und vermutet, daß ihm der „Sathan […] auß neid und haß […] ein gspenst und phantasey“ vorgegaukelt habe.Ⱥ7 Auch wendet sie ein, daß es jeder Vernunft widerspreche, wenn Gott ihnen als altem Ehepaar zuerst auf wunderbare Weise Isaak schenke, um ihn ihnen dann wieder wegzunehmen. Des weiteren behauptet sie, daß die Opferung mit der Verkündigung künftigen Segens von Abrahams Geschlecht inkompatibel sei und die Ermordung eines Sohnes durch seinen Vater unbillig und unrecht. Der Mann antwortet ihr, indem er auf zentrale Positionen der lutherischen Theologie verweist. Der Mensch müsse sich ohne zweiflerische Fragen dem Willen Gottes unterwerfen: Laß dir gefallen, was Gott thu! Wann [scil. weil] Gott ligt an den Wercken nicht, Sonder nur auff den ghorsam sicht. Den will Gott allein von uns haben. […] Darumb, lieber gemahel mein, Vertraw Gott! gib dich willig drein Und thu weder zweifeln noch sorgen […].Ⱥ8
Ferner hält er Sarah vor, fälschlicherweise die Werke Gottes mit „menschlich augen“ anzusehen, welche freilich blind für dessen höhe-
6 7 8
Vgl. SюѐѕѠ (Anm. ř), 65–69. Ebd., 66. Ebd., 68.
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re Weisheit seien.Ⱥ9 Der Dialog in Sachsens geistlichem Spiel, das offenkundig unmittelbar im Dienste der Vermittlung und Verbreitung der reformatorischen Lehren steht, konfrontiert in der Figur Abrahams einen rechtgläubigen Protestanten mit der rationalistischen Position eines zweiflerischen Vernünftlers, der sich nicht gehorsam in den oft für Menschen kaum nachvollziehbaren Willen Gottes fügen kann und will. Daneben ergänzt Sachs einen weiteren kurzen Dialog zwischen den beiden Knechten vor der Opferungsszene. Darin stellen die zwei jungen Männer die weltlichen Reichtümer Abrahams und Sarahs deren offenkundigem Gram gegenüber, den sie sich nicht zu erklären vermögen, da sie ja nicht in die bevorstehende Tötung des Sohnes eingeweiht sind. Diese Szene zögert nicht bloß spannungssteigernd die Vorbereitung von Isaaks Opferung hinaus, sondern führt gleichzeitig in Form eines Gesprächs die Erkenntnis vor, daß weltliche Güter keineswegs vor schweren Prüfungen durch Gott schützten. In Christian Weises Zittauischem Schuldrama werden wie bei Sachs zusätzliche alttestamentliche Passagen aus dem weiteren Kontext von Gen 22 ergänzend um die eigentliche Abraham-und-Isaak-Geschichte herum gruppiert. Allerdings greift der Barockautor auf andere Textstellen als Sachs zurück, vor allem auf das Verhältnis des Patriarchen zu Hagar und seinem illegitimen Sohn Ismael und auf den Bund mit König Abimelech. Weise entspinnt dabei eine reiche und vielfältige Dramenhandlung, in die auch zahlreiche, von ihm frei erfundene Szenen und Geschehnisse eingehen. Dazu zählen der Versuch Abimelechs, Abraham mit dem von ihm verstoßenen, unehelichen Sohn Ismael auszusöhnen und verschiedene bösartige Intrigen von dessen ägyptischer Frau. Auf das Zentralthema, die Dramatisierung von Gen 22, entfallen in diesem bunten, oft burlesken Schauspiel mit seinen diversen Handlungssträngen nur relativ wenige Szenen. Gleichzeitig werden damit die wenigen Schauplätze der Abraham-und-Isaak-Geschichte, die bei Sachs genau erhalten bleiben, sozusagen multipliziert. Der Text spielt in einem raschen Wechsel in den unterschiedlichsten Räumen und Örtlichkeiten. Gegenüber der engeren biblischen Vorlage und Sachsens „Tragedia“ ist auch das Personal des Stücks bedeutend erweitert. Weise ergänzt, wie bereits angedeutet, mehrere Figuren aus dem Alten Testament und erfindet zur Ausstaffierung der reichhaltigen Handlung zahlreiche weitere Personen. Insgesamt sieht die Liste der Mitspieler mehr als fünfzig Rollen vor. Ein bedeutender Teil davon rekrutiert sich aus der Dienerschaft von Abraham, Abimelech und Ismael.
9
Ebd., 67.
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Den zahlreichen Mägden und Knechten kommt jedoch keinesfalls eine nebenrangige Bedeutung zu. Vielmehr bestimmen sie weite Strekken des Dramas, teils mit geradezu grobianischen Szenen.Ⱥ10 Weises „Ebenbild eines gehorsamen Glaubens“ präsentiert sich als eine teilweise sogar derb-drastische Komödie, in die ein einzelner ernsthafter, aber keineswegs thematisch dominanter Handlungsstrang eingelegt ist. Hier allerdings wird, sowohl im Befehl Gottes als auch bei der Opferszene, sehr nahe am biblischen Text der unbedingte Gehorsam Abrahams gezeigt. Das barocke Schuldrama erfüllt somit wenigstens zum Teil belehrende Funktionen, indem es in der Theatralisierung der Versuchung des Patriarchen eine zentrale Passage des Alten Testaments und einen außerordentlich wichtigen dogmatischen Sachzusammenhang der lutherischen Theologie auf der Bühne vorführt. Die besondere innovatorische Qualität der dramatischen Vermittlungsleistung liegt freilich in der Einbettung in eine bunte humoristische Komödienhandlung, welche – so Weise in der programmatischen Einleitung – die „Besserung“ der „Zuschauer“ durch deren angemessene „Belustigung“ anstrebt.Ⱥ11 Das Mißverhältnis zwischen dem knappen Ausgangstext und den äußeren Anforderungen einer Theateraufführung wird also, ganz anders als bei Sachs, zugunsten einer dramatischen Umsetzung aufgelöst, wo das notwendige docere, insbesondere im Blick auf das jugendliche Publikum, in ein sehr stark akzentuiertes delectare eingeschlossen wird. Eine wiederum völlig differente Variante wählt knapp einhundert Jahre später Lavater. Die Handlung seines Dramas beschränkt sich präzise auf die Geschehnisse von dem Abend, an dem Abraham den Befehl Gottes zur Opferung des Sohnes erhält, bis zur Verkündigung der künftigen günstigen Schicksale von dessen Geschlecht durch den Engel auf dem Berg Jahwe-Jire. Auch die Topographie bleibt weitgehend unangetastet, abgesehen von ein paar Szenen, die in Abrahams Haus spielen. Das Personentableau beschränkt sich auf den Patriarchen, Isaak, die beiden Knechte, die mit ihnen reisen, einen weiteren Bedienten, einige Mägde, die allerdings nur in stummen Rollen ein paar hauswirtschaftliche Verrichtungen zu erledigen haben, die Stimme Gottes und den auf dem Berg sprechenden Engel. Zur Figurenkonstellation im biblischen Prätext gibt es nur einen einzigen, freilich markanten Unterschied. Sarah kommt eine tragende Rolle neben Abraham und Isaak zu, bevor die beiden sich auf ihren Weg machen. Diese drei Personen erscheinen vor dem Publikum als außerordentlich gut funktionierende, homogene Kleinfamilie mit 10 11
Vgl. z. B. WђіѠђ (Anm. 4), ř9f. Ebd., [)0(5]r.
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einer geradezu fanatischen religiösen Orientierung und Lebensweise. Konstitutiv für die ausführlichen Gespräche der drei sind fast durchweg der Wunsch nach größtmöglicher Nähe zu Gott und dessen vielfältigen Emanationen in den diversen Erscheinungen der Natur. Anders gesagt, die dürre Handlung der biblischen Vorgabe wird nicht durch zusätzliche dramatische Geschehnisse und Vorgänge ergänzt oder umrahmt, sondern der Prätext wird durch beinahe ausufernde Dialoge zwischen dem Vater, dem Sohn und in den beiden ersten Akten auch der Mutter ausgefüllt. Im dritten Akt beispielsweise besprechen und kommentieren Abraham und Isaak über viele Druckseiten hinweg die gemeinsame Aufschichtung jedes einzelnen Steins für den Opferungsaltar. Das Erzähltempo wird somit – abgesehen von der Rückkehr nach Beerseba, die bei Lavater fehlt – im Gegensatz zu den Dramen Sachsens und Weisens im dramatischen Aufbau insgesamt möglichst genau imitiert, die einzelnen Handlungssequenzen aber erscheinen stark gedehnt. Die Integration Sarahs in das Schauspiel hat dabei, nochmals im Kontrast zur „Tragedia“ des Nürnberger Dichters, nicht die Konsequenz ihrer Einweihung in die bevorstehende Tötung Isaaks, so daß auch in dieser Hinsicht Lavaters Version der Vorlage viel näher steht.
4. Divergierende Dramatisierungen der Erzählperspektive des Prätextes Ebenfalls sehr unterschiedlich präsentieren sich in den drei Texten die dramatischen Umsetzungen der spezifischen Erzählperspektive von Gen 22. Gleich ist lediglich, daß die unbestimmbare raum-zeitliche Distanz zum Geschehen im Prätext sich in die direkte Präsenz der Handlung auf der Illusionsbühne wandelt. Große Differenzen zwischen Sachs, Weise und Lavater jedoch bestehen hinsichtlich Redeform und narratorischem Verhalten. Die Er-Form und das neutrale Erzählverhalten, das heißt der Verzicht auf explizite Bewertungen des Geschehens durch den Narrator, wären eigentlich fast ideale Voraussetzungen für eine Theatralisierung. In einem Schauspiel vermag sich ja kein Erzähler selbst zu Wort zu melden. Stattdessen läuft eine bestimmte Abfolge von Handlungen und sozialkommunikativen Äußerungen fiktiv auf der Bühne ab. Kommentare und Erläuterungen dazu sind in der Regel nur auf der Ebene der Figurenrede möglich, welche freilich jederzeit durch eine andere Person im Drama zurückgewiesen oder relativiert werden kann. Bei Lavater gibt es ebensowenig wie im biblischen Prätext eine spezifische Stimme, welche über eine absolute Deutungsmacht hinsichtlich der dargestellten Ereignisse verfügt. Keine der beteiligten Figuren maßt
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sich an, eine uneingeschränkt gültige und dabei umfassende Analyse und Interpretation der Geschehnisse vornehmen zu können. Der zugrundeliegende epische wie der mehrstimmige dramatische Text fordern die Rezipienten zu eigenen Erklärungen heraus. Sachs hingegen umrahmt sein Schauspiel mit hinführenden und mit abschließenden Worten eines Ehrenholds. In einer Einleitung begrüßt derselbe das Publikum zum bevorstehenden geistlichen Spiel und erzählt „kürtzlich“ dessen „argument“, also die Grundlinien der Handlung.Ⱥ12 Er hebt dabei den Gehorsam Abrahams als zentrales Lehrstück des Dramas hervor, ohne freilich nähere theoretische Reflexionen hierzu folgen zu lassen. Zuletzt ermahnt er das Publikum, „still und züchtig“ das nun beginnende Stück zu verfolgen, um sodann das Wort an Abraham zu übergeben.Ⱥ1ř Am Ende des Dramas tritt der Ehrenhold erneut auf, nun um den Zuschauerinnen und Zuschauern in vier Punkten eine Auslegung des eben geschauten Spektakels vorzulegen.Ⱥ14 Er bringt dabei nicht theologisch originelle Argumente vor, sondern vermittelt vielmehr gängige und in der Tradition vorformulierte Interpretationen des Prätextes aus der Exegese und der Homiletik seiner Zeit. Er zieht aus dem eben abgelaufenen Schauspiel erstens den Schluß, daß man Gott in jeder Situation vertrauen solle und auf die Erfüllung aller seiner Verheißungen rechnen dürfe. Zweitens könne Abraham als Vorbild eines gehorsamen Christen gelten, der den Befehlen Gottes ohne Widerrede und Zweifel folge. Drittens sei Sarah ein Exempel der widerspenstigen menschlichen Vernunft, die sich nicht in den Willen des Herrn füge und die unter dem Zeichen des Kreuzes erst zu einem einfältigen Glauben finden müsse. Viertens und letztens folgt eine typologische Auslegung. Isaak, der das Holz für seine eigene Opferung auf dem Nacken getragen habe, sei eine alttestamentliche Vorausdeutung auf die Leiden Jesu Christi, welcher im Neuen Bund unschuldig alle Sünden der Menschen auf sich genommen habe. Der dramatische Text wird damit durch eine Figur, welche außerhalb des eigentlichen theatralischen Geschehens, außerhalb der fiktiven Authentizität der Bühnenhandlung steht, ganz im Sinne und zugleich im Dienste der lutherischen Theologie in spezifischer Weise gedeutet. Auch Weise überführt das neutrale Erzählverhalten im biblischen Prätext nicht in eine äquivalente dramatische Gestaltung. Das „Ebenbild eines gehorsamen Glaubens“ wird eingeleitet durch ein prospektives Vorspiel mit Gesang. In einem Chorstück wird das Publikum unter an-
12 1ř 14
SюѐѕѠ (Anm. ř), 59. Ebd., 60. Ebd., 74f.
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derem aufgefordert, „[i]n Abrahams Wegen zu gehen“, es wird aber auch in einer Arie Bezug auf den Spielort Zittau und seinen „Landes=Vater“ genommen sowie auf die reichlich anwesende studierende Jugend, die an „Kunst und Tugend“ wachsen solle.Ⱥ15 Zuletzt beschließt der Erzengel Gabriel das Vorspiel mit einem Monolog, der den theologischen Skopus des Schauspiels konzise auf den Punkt bringt. Die „Anwesenden“ mögen aus dem folgenden Drama „erkennen“, was „der theure Mann Abraham vor köstliche Früchte seines Glaubens davon getragen“ habe. Dieser Satz ist schon in seiner Formulierung eine klare Stellungnahme für die protestantische Theologie. Abraham wird von Gott nicht für ein Werk, sondern für seinen unerschütterlichen Glauben belohnt. Noch deutlicher zeigt sich das in einem der folgenden Sätze Gabriels. Der Patriarch habe „gegläubet“, und „solches“ habe „der allgewaltige GOtt in Ansehung des zukünfftigen Messiae Ȧ als eine Gerechtigkeit angenommen.“ Abraham wird also nach dieser Deutung Röm 4,9 folgend in seinem Verhalten allein durch den Glauben gerechtfertigt. Er handelt dabei offenkundig nach einem theologischen Grundsatz, der erst später vom Messias formuliert werden wird. Da Gott jedoch in seiner Allwissenheit bereits zu Abrahams Zeit Kenntnis von der Rechtfertigungslehre besitzt, tut dieser in seinem Glauben das Richtige. Für die Menschen, die nach dem Auftreten des Messias leben wiederum, kann der Patriarch als „Exempel“ gelten. Sie sollten für ihren eigenen Glauben aus den „Begebenheiten“ lernen, „wodurch der allein weise GOtt“ – hier also wie bei Sachs der Verweis auf die Unerfindlichkeit der Ratschlüsse des Herrn – „diese unvergleichliche Standhaftigkeit Ȧ den andern Sterblichen zur Probe Ȧ versuchet hat.“Ⱥ16 Der bei Sachs und Weise zu beobachtenden Einführung von Figuren in das Abraham-und-Isaak-Thema, welche die Deutungsmacht an sich ziehen, steht in beiden Fällen der Erhalt einer ausschließlich äußerlichen Sichtweise auf die dramatis personae gegenüber. In dieser Hinsicht bleibt also der Ausgangstext in seiner spezifischen Form der Präsentation der dargestellten Geschehnisse in den Zieltexten erhalten. Sowohl der Nürnberger als auch der Zittauer Dichter verzichten auf einen Blick in das Innere des Patriarchen mittels der gängigsten theatralischen Technik der Introspektion, des Monologs. Dabei kennt Sachs durchaus die Strategien der Durchbrechung der fiktiven Authentizität des Bühnengeschehens, zu denen die Rede einer Figur mit sich selbst ja zählt. So läßt er am Beginn des zweiten Aktes den auftretenden Herrgott in einer kurzen, beiseite gesprochenen Szene mit dem Publikum paktieren: 15 16
WђіѠђ (Anm. 4), A[1]v. Ebd., Aiij r.
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Abraham will versuchen ich, Ob ich in find gehorsamlich, Das er nachvolge meinem wort, Was ich im gebiet an dem ort. Es wird im hertzlich bitter sein. Nun ich will zu im gehn hinein.Ⱥ17
Auf einen Monolog aber, in dem etwa Abraham nach dem Befehl Gottes mit sich und seinem Schicksal haderte, verzichtet Sachs. Der Patriarch antwortet Gott schlicht und ergeben: Ja, lieber Herr, ich will es thon, Dir opfern Isaac, mein sohn, Gehorsamlich nach deinem wort An disem angezeigten ort.Ⱥ18
Daraufhin ruft er Sarah zu sich und beginnt mit ihr den bereits erwähnten Disput, in dem er kein bißchen von seiner Position, den Befehlen des Herrn ohne Einschränkungen zu willfahren, abweicht. Ein Monolog, der Abraham die Möglichkeit einer Eröffnung seines Inneren geben und zugleich die Illusion des tatsächlichen Bühnengeschehens durchbrechen würde, ist verzichtbar, weil Abraham ohne Bedingungen und Zweifel seinem Glauben folgt. Das, was er Sarah gegenüber in Worten vertritt, stimmt völlig mit seinen inneren Überzeugungen überein. Ähnliches ist auch bei Weise zu beobachten. Gegen alle anderslautenden Reden – beispielsweise das umlaufende Gerücht, Ismael wolle Isaak hinterhältig ermorden lassen – baut Abraham die ganze vielfältige Dramenhandlung hindurch immer auf ein vollkommen ungebrochenes „Vertrauen zu Gott“.Ⱥ19 Diese fiducia bewährt sich ohne Einschränkungen auch im Moment der Versuchung. Nach Gottes Befehl, den Sohn zu opfern, spricht Abraham einen kurzen Monolog. Er tut damit vor dem Publikum seine Entscheidung kund, dem Willen des Herrn ohne Einschränkungen und ohne jeden Widerstand Folge zu leisten. Er beginnt seine Erklärung mit den Worten: Ach HERR Ȧ du hast mir den Sohn gegeben Ȧ du hast Macht denselben wieder hinzunehmen Ȧ auff dein Wort ist mein dürrer Stam[m] fruchtbar worden Ȧ auff dein Wort mag er wiederum niedergeschlagen werden.Ⱥ20
Daraufhin verkündet Abraham seinen Entschluß, tatsächlich am folgenden Tag aufzubrechen und in jeder Hinsicht Gottes Befehl zu gehorchen. Dieser Monolog dient natürlich – so wie in der abendländischen
17 18 19 20
SюѐѕѠ (Anm. ř), 64f. Ebd., 65. WђіѠђ (Anm. 4), 16 u. ö. Ebd., 144.
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Dramatik weithin üblich – in einer spezifischen Hinsicht dazu, das Publikum zum Mitwisser eines Plans zu machen, den er vor den übrigen Figuren verbergen muß, nämlich der Opferung Isaaks. Alle übrigen in dem Selbstgespräch vorgetragenen Entschlüsse aber läßt er ohne Änderungen auch die übrigen Personen des Dramas in dessen weiterem Verlauf wissen. Insbesondere nützt er den Monolog nicht dazu, um nur die geringsten Zweifel an seinem Gehorsam gegenüber Gott und dessen Befehlen zu äußern. Auch bei Weise ist somit ein direkter Blick in die emotionalen Befindlichkeiten der Figuren innerhalb des spannungsreichen dramatischen Geschehens nicht vorgesehen. Anders formuliert, die Übernahme der bloß äußerlichen Sichtweise auf die Personen aus dem biblischen Prätext ist Programm. Sowohl Sachsens als auch Weises Abraham brauchen sich nicht in einem Monolog als innerlich Zerrissene vor dem Publikum zu präsentieren, weil sie es nicht sind – und den Forderungen Gottes ohne Zweifel Folge leisten. Ein Widerstreit der Affekte zwischen Gehorsam und Vaterliebe wird allenfalls im Dialog einmal angedeutet – so gesteht Abraham bei Sachs gegenüber Sarah in einem einzigen Vers ein, daß ihm Isaaks Opferung sauer werden dürfte –, oder die Dienerschaft bemerkt an dem Patriarchen eine betrübte Miene und wundert sich darüber. Die weitestgehende Ausblendung von Abrahams affektiver Zerrissenheit zugunsten einer Pointierung seines Gehorsams im Sinne der Rechtfertigungslehre dürfte mit dem unmittelbaren Rezeptionskontext und mit dem spezifischen Publikum zu erklären sein. Sachsens „Tragedia“ datiert aus der Zeit der Propagierung und Ausbreitung der lutherischen Theologie, und Weises Schauspiel richtet sich vorrangig an Gymnasiasten. Bei Lavater und somit im Kontext der Empfindsamkeit ist eine Dramatisierung der biblischen Vorlage wie bei den beiden älteren Dichtern nicht mehr denkbar. Während Abraham bei Sachs und Weise wie im Prätext einen knappen Befehl erhält, den er sofort ohne jede weitere Diskussion umzusetzen sich entschließt, ergibt sich im Schauspiel des Schweizers der Entschluß Abrahams, Isaak zu töten, erst aus einem längeren Gespräch mit der Stimme Gottes. Die Differenzen zu den lutherisch-theologischen Grundlagen der beiden früheren Dramen zu dem Thema sind evident. Abraham, Isaak und Sarah formulieren immer wieder ihren Wunsch nach größtmöglicher Nähe zum Herrn. Die Schönheiten der Natur und die Erzählung der einstigen Ankündigung von Isaaks Geburt vermitteln den dreien das Gefühl einer großen Annäherung an Gott.Ⱥ21 Als höchstes emotionales Ziel ihres Lebens steht ihnen aber eine
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Bei Weise hingegen suchen die Figuren nach einer Begegnung mit Gott nicht in der ‚wilden‘ Flora und Fauna und ergötzen sich allenfalls an den Schönheiten einer ge-
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direkte Kommunikation mit dem Herrn vor Augen. Eine seltsame Mischung eines alttestamentlichen mit einem aufgeklärt-physikotheologischen Gottesbild verbindet sich hier mit dem Gefühlskult jener Jahre, der über die menschlichen Beziehungen hinaus auch in das Verhältnis des Gläubigen zu seinem Schöpfer getragen wird. Zwischen der Stimme Gottes und Abraham nun entwickelt sich bei Lavater ein längeres Gespräch. Erst nach und nach gibt der Herr seinen Wunsch zu erkennen, sowohl hinsichtlich des Opfers selbst als auch der genauen Umstände. Der Patriarch widersetzt sich dem Befehl nicht direkt, beklagt ihn jedoch wie das eigene grausame Schicksal mit vielen Exklamationen. Schließlich verfällt er darauf, der Stimme einen Handel vorzuschlagen, nämlich statt Isaaks gerne selbst als Opfer sterben zu wollen. Nun wiederholt Gott unerbittlich seinen Befehl und zieht sich dann zurück. Der folgende kurze Monolog zeigt einen Abraham, der – sich am Boden windend – den grausamen Wunsch des Herrn immer wieder in Frage stellt und schließlich sogar mit den Worten „Erbarmer! bist Du’s, bist Du’s nicht – Erbarmer!“ daran zweifelt, ob ihm tatsächlich sein Schöpfer erschienen sei.Ⱥ22 Hierauf zeigt sich ein Engel, der das tiefste Verständnis für die Qualen des Patriarchen aufzubringen vermag, ihm aber deutlich macht, daß es unabdingbar erforderlich sei, den Befehlen des Herrn zu gehorchen. Durch Ausrufe Abrahams wie „kannst du es wollen, Gott! ihn soll ich schlachten?“ fühlt sich der Engel argumentativ derart in die Enge gedrängt, daß er etwa aufstöhnt: „O laß mich und gehorch! und glaub – und schlachte, was Gott dich schlachten heißt!“Ⱥ2ř Die Versuchung Abrahams auf der Bühne der Empfindsamkeit gerät damit zu einem Drama des inneren Kampfes des Patriarchen mit sich selbst, der in dem weiteren ausführlichen Gespräch mit dem Engel bis in alle Einzelheiten entwickelt wird. Abraham bietet unter anderem nochmals seinen eigenen Tod statt der Opferung Isaaks an oder prognostiziert, daß er die Hand gegen seinen Sproß höchstwahrscheinlich nicht zu erheben in der Lage sein werde.Ⱥ24 Der Engel beharrt auf der Notwendigkeit, Gottes Willen zu erfüllen, und verspricht Kräftigung durch den Herrn im Augenblick der Tötung Isaaks, so daß Abraham sich endlich zum Gehorsam durchringt und im Anschluß an Lk 22,42 sagt: „Mein Wille nicht, Dein [also Gottes] Wille soll geschehn!“Ⱥ25 Damit ist der Entschluß gefaßt, der ihn aber nach dem Abgang des Engels
22 2ř 24 25
zähmten Natur, also eines Parks bzw. „Lust=Garten[s]“, ohne diesen theologisch zu deuten, vgl. ebd., 80. Lюѣюѡђџ (Anm. 5), ř6. Ebd., ř7. Ebd., ř6–41. Ebd., 41.
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nicht davon abhält, in mehreren Monologen über die Hintergründe des grausamen Wunsches seines Herrn zu spekulieren. So fragt er sich zum Beispiel, ob er dafür gestraft werde, daß er seinen spätgeborenen Sohn allzu sehr liebe.Ⱥ26 Damit ist eine signifikante Differenz zwischen äußerlichem Gehorsam und innerlichem Widerstand eröffnet. Lavater wendet sich damit nicht explizit gegen die biblische Vorlage, da diese ja über die emotionale Befindlichkeit Abrahams keinerlei Informationen bietet. Eine dramatische Umsetzung, in welcher der Patriarch nicht mit seinem harten Los gehadert hätte, wäre im Rahmen der aufgeklärt-empfindsamen Theologie des Autors aber offenbar undenkbar gewesen. Mehr noch, die Psychologisierung des Prätextes eröffnet weitere Möglichkeiten, zusätzliche Motivierungen des Patriarchen für die tatsächliche Ausführung seiner Tat einzuführen. So erhält Abraham am nächsten Morgen gleich nach dem Aufwachen in einem neuerlichen Monolog die Chance, seine Haltung und Befindlichkeit gegenüber Gottes Befehl nochmals vor dem Publikum zu entfalten. Er ruft aus: Jch habe sie verweint, verschlummert die Todesängste, die mich durchglühten! – Anbethung Dir! Du Stärke meiner Ohnmacht! Anbethung Dir! o Du mein Gott!Ⱥ27
Die Kraft zum Gehorsam speist sich also keineswegs allein aus dem Glauben Abrahams und aus der Unterstützung Gottes. Vielmehr tritt ein entscheidender weiterer – und zwar ein psychohygienischer – Impuls dazu. Der reichliche Tränenerguß und die Nachtruhe haben einen Teil der Last von Abraham genommen. Eine solche dramatische Motivierung der folgenden Geschehnisse wäre noch bei Sachs und Weise vollkommen unvorstellbar gewesen, so wie diese Theatralisierung natürlich mit der reformatorischen und lutherisch-orthodoxen Theologie absolut unvereinbar ist.
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Vgl. ebd., 42. Ebd., 67.
Die Opferung Isaaks im Genesiskommentar des Jesuiten Benito Perera (15ř5–1610)Ⱥ1 von MюџіѢѠ RђіѠђџ Blinde Leute, die gegen die Grausamkeit Abrahams wettern, wenn sie das gezückte Schwert sehen, und den Engel Gottes nicht wahrnehmen, der ihn lobt und ihm sagt, daß sein Opfer dem Herrn der Heerscharen wohlgefällig ist. Franz von SalesȺ2
1. Der Autor und sein Werk Ich habe mich oft gewundert und darüber nachgedacht, hochwürdigster Kardinal Enrico Gaʻtani, warum wohl die Wissenschaft der Heiligen Schriften heute so wenige Liebhaber und Anhänger hat, wo sie doch an sich die liebenswürdigste und für Christenmenschen erstrebenswerteste ist („maxime amabilis maximeque Christianis hominibus expetenda“). Unter den verschiedensten Gründen scheint es mir vor allem einer zu sein, der, von anderen abgesehen, Leute mit ungenügendem Urteilsvermögen von diesem ehrenvollen und göttlichen Studium abhält. Viele nämlich nehmen irrigerweise an, das Studium dieser Disziplin werde ihnen keinen Ruhm einbringen oder keine Früchte eintragen, oder sie fliehen davor, weil sie Lust und Vergnügen des Menschen überhaupt für eitel und leer erachten […].
So beginnt Benito Perera (lateinisch: Benedictus Pererius) die Widmungsvorrede zu seinem Genesiskommentar,Ⱥř der über tausend Seiten in Folio umfaßt. Er fährt dann fort, es gebe nur drei Lockmittel zu einem 1
2
ř
Für eine kritische Lektüre des Manuskripts und gute Hinweise danke ich Kollegen Rudolf Mosis. Sr. Theresia Heither danke ich für Material zur Kirchenväterauslegung. Fџюћѧ ѣќћ SюљђѠ, „Über die Liebe im Urteilen“, in: DђџѠ., Geistliche Schriften (Deutsche Ausgabe der Werke des Hl. Franz von Sales 12), Eichstätt 199ř, 18ř–185, hier 18ř. Ich habe folgende Ausgabe benützt: BђћђёіѐѡѢѠ PђџђџіѢѠ, Commentariorum et dissertationum in Genesim tomi quatuor, Mainz 1612. Neben den o. g. Namensformen findet man auch „Pereira“ oder „Pereyra“, die von FџюћѐіѠѐќ Dђ PюѢљю Sќљѩ allerdings nicht gebilligt werden: Diccionario historico de la compañía de Jesús, Bd. ř, RomȦMadrid 2001, ř088.
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gelehrten Studium, nämlich „Honor, Utilitas et Voluptas“ „Prestige, Gewinn und Freude an der Sache“. Wo auf diese Vorteile keine Aussicht sei, werde kaum noch einer die geistigen Anstrengungen und die körperlichen Mühen gelehrter Forschung auf sich nehmen. „Freilich, Prestige und Gewinn ziehen die Menschen stärker an als die Freude an der Sache, wenn diese von jenen gesondert und geschieden ist.“ Die Freude an der Sache allein bringt die Menschen nicht einmal zum Bibelstudium. Wie man sieht, handelt es sich hier um höchst aktuelle Überlegungen. Benito Perera wurde 15ř5 in Ruzafa im Erzbistum Valencia geboren. Sein Vater war Spanier, seine Mutter Portugiesin. 1551 trat er in den Jesuitenorden ein und wurde als begabter Schüler zum Studium nach Rom geschickt. Dort hatte Ignatius von Loyola 1551 das „Collegium Romanum“ gegründet, das bald zum wichtigsten Studienhaus der Jesuiten wurde, heute die Päpstliche Universität Gregoriana. In diesem Haus stieg Perera zum Professor auf und unterrichtete zunächst von 1558–1567 Physik und Philosophie, anschließend Theologie. Erst dann, sozusagen als Krönung seiner Laufbahn, ging er zur Bibelwissenschaft über, der „liebenswürdigsten und für Christenmenschen erstrebenswertesten Wissenschaft“. Diese unterrichtete er von 1576 bis 1597. Noch als Philosophieprofessor verfaßte er eine Ratio studendi. Darin bezeichnet er die Erkenntnis der Wahrheit als das eigentliche Ziel des Studiums und erinnert mit Verweis auf Aristoteles an das Prinzip: „Amicus Plato, sed magis amica veritas.“Ⱥ4 In der Tradition Quintilians geht es ihm um die Kultivierung von Intelligenz, Gedächtnis und Urteilsvermögen, aber so, daß nicht Drill, die Aneignung von Wissen und die Fortschritte in den Fachdisziplinen die Hauptsache sind, sondern Geistes- und Charakterbildung.Ⱥ5 Perera arbeitete auch an der 1599 fertiggestellten jesuitischen Studienordnung (Ratio studiorum) mit. 1610 starb er in Rom. Die Vielfalt seiner Lehrfächer spiegelt sich auch in seinen Werken. Er schrieb über Logik, Physik und Metaphysik,Ⱥ6 über Magie, Traumdeutung und Astrologie. Das zuletzt genannte Werk wurde unter dem Titel 4 5
6
Vgl. Aristot. EN I 6,1 (1096a 14ff.). Vgl. Jќѕћ W. O’MюљљђѦ SJ, Die ersten Jesuiten, Würzburg 1995, 249f. Zu Quintilian und der Nachwirkung seines Bildungsideals vgl. Oѡѡќ Sђђљ, Quintilian oder Die Kunst des Redens und Schweigens, Stuttgart 1977 (1987). O’Malleys Werk zeigt, daß Seels Urteil, der Jesuitenorden sei „der formalistischen Systemrhetorik verhaftet“ gewesen und habe dem quintilianischen Geist „am fernsten“ gestanden (ebd., 266), nicht zutrifft. Vgl. auch CѕюџљђѠ E. O’Nђіљљ, „Humanismo“, in: Diccionario historico (Anm. ř), 2 (2001), 1967–1971. Vgl. Mюћѓџђё BюѢњ, „Metaphysik III.“, in: TRE 22 (1992), 645–65ř, hier 645; EљіѠюяђѡѕ њюџію Rќњѝђ, Die Trennung von Ontologie und Metaphysik. Der Ablösungsprozeß und seine Motivierung bei Benedictus Pererius und anderen Denkern des 16. und 17. Jahrhunderts, Diss. Bonn 1968. Gedruckt wurde nur sein philosophisches Hauptwerk „De commu-
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The Astrologer anatomized sogar ins Englische übersetzt (London 1661, 1675). Er kommentierte viele Bücher des Alten wie des Neuen Testaments.Ⱥ7 Aber als sein Opus magnum gilt der Genesiskommentar in vier Bänden. Der erste davon erschien in Rom 1589, der letzte 1599. Elf Jahre habe er aufgewendet zur Abfassung dieses Werkes, schreibt der Autor in der Vorrede an den Leser im vierten Band. Mehrere Nachdrucke, unter anderem in Lyon, Köln und Mainz, beweisen die Verbreitung dieses Riesenwerks. Auch Cornelius a Lapide benutzt es für seinen GenesisKommentar ausgiebig. Die ersten beiden Bände sind Kardinal Enrico Gaʻtani gewidmet, der dritte, 1595 publizierte, der auch Gen 22 enthält, dem ersten Kardinal der Jesuiten, Francisco de Toledo († 1596), selbst einer der bedeutendsten Exegeten des 16. Jahrhunderts.Ⱥ8 Den vierten Band schließlich hat Perera Kardinal Caesar Baronius gewidmet, dem großen Kirchenhistoriker. Schon diese Widmungsträger weisen auf die hohe Bedeutung des Werkes hin. Perera wurde von seinen Zeitgenossen, katholischen wie protestantischen, allgemein geachtet „wegen seiner immensen Gelehrsamkeit, der Unabhängigkeit seines Urteils und dem Primat von Beobachtung und Erfahrung in seinen naturwissenschaftlichen Untersuchungen“.Ⱥ9 Aber nicht nur für naturwissenschaftliche Untersuchungen, sondern auch für die Auslegung des Buches Genesis stellt Perera in der Praefatio zum Gesamtwerk die Regel auf, keine Erklärung dürfe „veris rationibus et experimentis contraria“ sein. Man könne also nicht mit Berufung auf Schriftstellen die Unbeweglichkeit des Himmels oder die Nichtexistenz der Antipoden behaupten. Auf diesen Grundsatz und die Autoriät Pereras berief sich 1616 auch Galileo Galilei.Ⱥ10
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nibus omnium rerum naturalium Principiis et Affectionibus“, das 1562 erschien, als der Autor gerade 27 Jahre alt war. Vgl. KљюѢѠ Rђіћѕюџёѡ, Bibelkommentare spanischer Autoren (1500–1700) (Medievalia et humanística 5), 2 Bde., Madrid 1990Ȧ1999, hier Bd. 2, 177–182. Rіѐѕюџё Sіњќћ lobt ihn uneingeschränkt (Histoire Critique des principaux commentateurs du Nouveau Testament, Rotterdam 169ř [ND Frankfurt a. M. 1969], 605f.). Nach HѢєќ HѢџѡђџ, Nomenclator literarius theologiae catholicae, 6 Bde., Innsbruck ř190ř–191ř (ND New ork 1962) gilt er neben Juan Maldonado als „alterum Hispaniae sidus splendidissimum“ (III, 247f.). Wie Perera lehrte er am Collegium Romanum zunächst Philosophie und Theologie. Seine Ernennung zum Kardinal erfolgte 159ř. Vgl. Rђіћѕюџёѡ, Bibelkommentare (Anm. 7), Bd. 2, ř40–ř44. FџюћѐіѠѐќ Dђ PюѢљю Sќљѩ, „Perera, Benito“, in: Diccionario historico (Anm. ř), ř (2001), ř088. Entsprechende Urteile sind zitiert bei HѢџѡђџ (Anm. 8), III, 469–47ř. Vgl. Wюљѡђџ Bџюћёњҿљљђџ, Galilei und die Kirche. Ein „Fall“ und seine Lösung, Aachen 1994, 79f. Leider hielt sich Galilei nicht an den Rat guter Freunde, er solle seine Auffassung als Hypothese erklären – was es tatsächlich war – und sich auf die astronomische und mathematische Seite der Angelegenheit beschränken.
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Benito Perera gehört in die Reihe der großen spanischen Exegeten, die der Jesuitenorden im 16. Jahrhundert hervorgebracht hat.Ⱥ11 Altersgenossen Pereras waren Manuel de Sá (1528–1596), Juan Maldonado (15řř– 158ř), Francisco de Toledo (15ř4–1596), Juan de Mariana (15ř6–1624) und Francisco de Ribera (15ř7–1591). Etwas älter war Alfonso Salmerón (1515–1585), etwas jünger Luis de Alcázar (1554–161ř).Ⱥ12 Den Werken dieser humanistisch gebildeten Exegeten hat der zeitgenössische Protestantismus wenig Gleichwertiges an die Seite zu stellen. Nach dem Urteil Richard Simons freilich ist Perera ƺ im Unterschied zu Maldonado ƺ nur ein gelehrter, nicht auch ein kritisch arbeitender Exeget. Dieses Urteil sei hier vollständig zitiert: Der Jesuit Pererius hat ein großes Buch mit Quaestionen über die Genesis geschrieben. Darin findet sich viel Gelehrsamkeit. Und auch wenn der Autor es sich nicht zur Aufgabe gemacht hat, jedes Wort des Textes zu erklären, so bleibt sein Werk doch sehr nützlich, da er die gestellten Fragen mit gutem Urteil löst und die großen Schwierigkeiten klärt, die in der Schrift begegnen. Er bemüht sich hauptsächlich darum, die Meinungen der Väter zu referieren, die er sorgfältig gesammelt hat. Aber da die Väter nicht immer dem Literalsinn der Schrift gefolgt sind, ist der größte Teil dieses Werkes unnütz für diejenigen, die nur den Literalsinn suchen.Ⱥ1ř
David Lerch tut Perera in seiner Auslegungsgeschichte unserer Perikope mit wenigen Zeilen ab. „Pererius ist ein Kompilator. […] Als Materialsammlung ist sein Kommentar wertvoll, da er auch heute schwer zugängliche Autoren zitiert.“Ⱥ14 Zum Inhalt meint Lerch lediglich: „Pererius geht auf die Fragen der scholastischen Ausleger ein, behandelt sie aber so ausführlich und umständlich, zitiert dazu Autorität um Autorität, sodaß auch seine Auslegung in formaler Hinsicht den Vergleich mit den guten Leistungen orthodoxer Ausleger nicht aushält.“Ⱥ15
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Vgl. MюѢџіѐђ Gіљяђџѡ, „Biblia Sagrada“, in: Diccionario historico (Anm. ř) 1 (2001), 4ř7– 445, hier 4ř8–440. Er spricht vom „goldenen Jahrhundert der katholischen Exegese“ (156ř–1660). Einen Überblick über die Exegese der Jesuiten im 16.Ȧ17. Jahrhundert, der mehr als die Namen und Werke bietet, gibt Vіѐѡќџ Bюџќћі, La contre-Reforme devant la Bible, Lausanne 194ř (ND 1986), 245–287. Dort S. 262–267 auch zu Pererius. Das katholische Gegenstück bot fast gleichzeitig AѢєѢѠѡіћ Bђю, La Compagnia di Gesù e le scienze sacre (Analecta gregoriana 29), Rom 1942, 115–14ř. Pererius wird hier allerdings nur genannt, nicht gewürdigt (1ř1). Vgl. die Angaben und das Werkverzeichnis zu diesen Autoren im Diccionario historico (Anm. ř) und bei Rђіћѕюџёѡ, Bibelkommentare (Anm. 7). Rіѐѕюџё Sіњќћ, Histoire critique du Vieux Testament, Rotterdam 1685 (ND Frankfurt 1967), 42ř. Dюѣіё Lђџѐѕ, Isaaks Opferung christlich gedeutet. Eine auslegungsgeschichtliche Untersuchung (BHTh 12), Tübingen 1950, 242. Ebd., 244. Mit „orthodoxer Auslegung“ meint Lerch die Auslegung der protestantischen Orthodoxie, in der „die vorreformatorischen Elemente stark zur Geltung ka-
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2. Die Auslegung von Gen 22 Der Kommentar des Pererius zu Gen 22, „De Immolatione Isaac“ überschrieben, umfaßt über zwanzig doppelspaltige Folio-Seiten.Ⱥ16 Er beginnt nach dem lateinischen Text der Perikope mit der Praefatio, die eine Kuriosität enthält, nämlich eine auf Philo und Josephus basierende Nacherzählung des biblischen Geschehens.Ⱥ17 Sie ist im Anhang zu diesem Aufsatz vollständig in deutscher Übersetzung wiedergegeben. In dieser Nacherzählung erhält die Geschichte romanhafte Züge, besonders deutlich in der Umarmung am Schluß.Ⱥ18 Sein Vorgehen begründet Pererius damit, daß diese beiden jüdischen Autoren „einige Umstände jener Begebenheit zum Ausdruck brachten, die in der mosaischen Erzählung übergangen sind, die Erläuterung der Sache aber bedeutender und ansprechender machen“. Nach der Lektüre des Kommentars wird deutlich, daß diese Nacherzählung zugleich die narrative Zusammenfassung der eigenen Interpretation des Pererius darstellt. Philo und Josephus werden von ihm ƺ und er folgt hier einer seit den Vätern etablierten Tradition ƺ als Autoritäten im Rang von Kirchenvätern behandelt.Ⱥ19 Daß die Lückenhaftigkeit der Erzählung ein charakteristisches Element des biblischen Erzählstils ist, dem man nicht einfach durch Auffüllen, Ergänzen und Nachtragen begegnen kann, war Pererius noch nicht klar. Diese Einsicht brach sich erst Bahn, als man die biblischen Erzählungen nicht mehr einfach unterschiedslos für mehr oder weniger genaue Berichte hielt. Erst lange nach Pererius wurden Beobachtungen möglich, wie sie Erich Auerbach in seinem berühmten Vergleich der Erzählwei-
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men, ja oft das Übergewicht hatten“ (ebd., 275). Dazu zählt er etwa Johann Piscator (1546–1625), Johann Gerhard (1582–16ř7) oder Abraham Calov (1612–1686). Der Kommentar ist in Sinneinheiten eingeteilt, die durchnumeriert sind. Auf diese Abschnittseinteilung beziehen sich die Stellenangaben im Text. Vgl. Philo, de Abr. 167–207; Jos. ant. 1,222–2ř6. Vgl. Jos. ant. I 2ř6. Auf die Parallele der hellenistischen Romane hat LќѢіѠ H. Fђљёњюћ hingewiesen: „Hellenizations in Josephus’ Jewish Antiquities: The Portrait of Abraham“, in: DђџѠ.ȦGќѕђі Hюѡю (Hgg.), Josephus, Judaism, and Christianity, Detroit (Mich.) 1987, 1řř–15ř, hier 147. Vgl. z. B. Xen. Eph. V 12,6; 1ř,ř. Vgl. auch LќѢіѠ H. Fђљёњюћ, Josephus as a Biblical Interpreter: The ̞qedah, in: JQR 75 (1985), 212–252. Zu Josephus vgl. GѢѠѡюѣђ BюџёѦ, „Le souvenir de Josèphe chez les Pères“, in: RHE 4ř (1948), 179–191. Zu Philo vgl. Dюѣіё T. RѢћію, Philo in Early Christian Literature: a Survey (CRINT IIIȦř), Assen 199ř; ёђџѠ., Philo and the Church Fathers (VigChrS ř2), Leiden 1995; Gќѡѡѓџіђё SѐѕіњюћќѤѠјі, „Philo als Prophet, Philo als Christ, Philo als Bischof“, in: Fќљјђџ Sіђєђџѡ (Hg.), Grenzgänge. FS Diethard Aschoff, Münster 2002, ř6–49. Philo verlor seinen Status als ‚Kirchenlehrer h. c.‘ erst etwa hundert Jahre nach Pererius mit J. A. Fabricius (RѢћію [Anm. 19], ř1).
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se unserer Perikope mit der einer Szene aus Homers Odyssee gemacht hat.Ⱥ20 Auf die Nacherzählung folgt der Kommentar in Form von 15 disputationes. Darin will Pererius die Geschichte nach eigener Auskunft „subtiliter, copiose et diligenter quoad possumus“ auslegen (Praef.). Die Kommentargattung der „Disputationen“ steht in der Tradition der „Fragen und Antworten“ (zht»mata kaˆ lÚseij). Diese literarische Form ist sehr alt; schon Philo und die Kirchenväter haben sie aus der paganen Gelehrtentradition übernommen und auf exegetische Probleme aller Art angewandt.Ⱥ21 Die mittelalterliche Kommentartradition hat sie ausgebaut und verfeinert.Ⱥ22 Man könnte die Entwicklung der christlichen Exegese beschreiben als ein allmähliches Überhandnehmen dieser Gattung, die mit ihrer Alleinherrschaft endet. Dabei darf man freilich nicht außer acht lassen, daß auch die Art von Fragen, die der Ausleger stellt, von Belang ist, und daß darin ebenfalls eine Entwicklung festzustellen ist. Bestimmte Fragen, insbesondere die theologischen, werden heute vom Exegeten gar nicht mehr gestellt oder mit einer erschreckenden Leichtfertigkeit und Ignoranz behandelt.Ⱥ2ř Um nun einen Überblick über die von Pererius behandelten Fragen zu geben, lasse ich die Überschriften der 15 Disputationen zu Gen 22 in Übersetzung folgen: 1. Über den Zeitpunkt der Opferung Isaaks [d. h. Isaaks damaliges Alter]. 2. Wie ist zu verstehen, was Mose zu Beginn dieser Geschichte schreibt, daß nämlich Abraham von Gott versucht wurde, als ihm die Opferung seines Sohnes geboten wurde? ř. Über den Ort der Opferung Isaaks. 4. Wie schwerwiegend jenes göttliche Gebot zur Opferung Isaaks war und voller Schwierigkeiten, und wie bitter und grausam es Abraham erscheinen konnte, wenn man nach menschlichem Ermessen urteilt.
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21
22 2ř
Eџіѐѕ AѢђџяюѐѕ, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, TübingenȦBasel 91994 (11946), 5–27. Vgl. MюџіѢѠ RђіѠђџ, Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments. Eine Einführung (UTB.W 2197), Paderborn 2001, 99f. Vgl. Hђіћџіѐѕ DҦџџіђȦHђџњюћћ DҦџџіђѠ, „Erotapokriseis“, in: RAC 6 (1966), ř42– ř70; GѢѠѡюѣђ BюџёѦ, „La littérature patristique des Quaestiones et Responsiones sur l’Écriture saint“, in: RB 41 (19ř2), 228–2ř6. 515–5ř7; 42 (19řř) 14–ř0. 211–229. ř28–ř52. Bardy geht auch auf das Mittelalter ein. Vgl. auch BюѠіљ SѡѢёђџ, Schola Christiana, Paderborn 1998, 128f. 201–20ř; Aћћђљіђ VќљєђџѠȦCљюѢёіќ Zюњюєћі (Hgg.), Erotapokriseis. Early Christian Question-and-Answer Literature in Context (Contributions to Biblical Exegesis and Theology ř7), Löwen 2004. Vgl. Gіљяђџѡ Dюѕюћ, L’exégèse chrétienne de la Bible en Occident médiéval XIIe–XIV e siècle, Paris 1999, 1ř1–1ř4. 284–287. Eine Reihe von Beispielen zu unserer Perikope zitiert AћёџђюѠ Mіѐѕђљ, Gott und Gewalt gegen Kinder im Alten Testament (FAT ř7), Tübingen 200ř, 246f.
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5. Woher wußte Abraham denn so gewiß, daß jene Vision und jenes Gebot zur Opferung seines Sohnes von Gott kamen und nicht eine Illusion oder die Täuschung eines Dämons waren? 6. Hat Abraham gelogen, als er zu seinen Knechten sagte: „Wir werden zu euch zurückkehren“ (Gen 22,5)? 7. Über Abrahams bewundernswerte Kraft der Tugend und die Größe und Standhaftigkeit seines Herzens sowie über die Sanftmut und den Gehorsam Isaaks. 8. Über die göttliche Verhinderung der Opferung Isaaks, und warum Gott befahl, Isaak zu opfern, wo er diese Opferung doch gar nicht wollte und kurz darauf verbot. 9. Ob es möglich ist, daß Gott eine neue Erkenntnis aufgrund von Erfahrung gewinnt, wie es die Worte in 22,12 anzudeuten scheinen: „Denn nun habe ich erkannt, daß du Gott fürchtest.“ 10. Über jene Worte: „[…] daß du den Herrn fürchtest und mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten hast.“ Warum sagt er: „daß du Gott fürchtest“ und nicht besser „daß du Gott liebst“? Und war jene Tat von sich aus eine vollkommene Tat der Liebe? 11. Über die Vorzüglichkeit jener Tat Abrahams, wenn man sie mit einigen ähnlichen Taten vergleicht, die von Heiden rühmend erzählt werden. 12. Über jene Worte: „Und der Engel des Herrn rief Abraham ein zweites Mal zu und sprach: ‚Ich schwöre bei mir selbst, spricht der Herr: Weil du das getan und mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten hast […]‘“. 1ř. Über die außerordentlich weitgehenden Verheißungen, die Gott Abraham macht aufgrund jener herausragenden Tat. 14. Hier wird jener Argumentationsgang im ř. Kapitel des Galaterbriefs behandelt, in dem der heilige Paulus aufgrund dieser Verheißung argumentiert, die rechtfertigende und heiligmachende Gnade sei nicht aus dem Gesetz des Mose zu erlangen, sondern aus dem Glauben und der Gerechtigkeit Christi. 15. Wer zeigte bei dieser Tat das höhere Verdienst und die hervorragendere Tugend: Abraham oder sein Sohn Isaak?
Wie man sieht, gehen die 15 Disputationen am Text entlang und machen den Eindruck einer gewissen Vollständigkeit. Dabei sind die Fragen nicht an der literarischen Gestalt des Textes interessiert, sondern an seiner Sache, in mittelalterlicher Terminologie: nicht an der superficies verborum, sondern an der res, die durch die verba bezeichnet wird.Ⱥ24 Da es aber um die Sache geht, von der der Text handelt, muß eine Aussage in einem bestimmten Text stets im Licht der übrigen Aussagen betrachtet werden, die sich im kanonischen Text des Alten und Neuen Testaments dazu finden lassen. Deshalb fragt Pererius im Zusammenhang mit der Aussage, daß Gott Abraham „versuchte“, nicht nur, worin diese Versuchung genau bestand und wozu sie dienen sollte, sondern auch, 24
Vgl. SѡѢёђџ, Schola Christiana (Anm. 21), 208–214.
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in welchem Sinn überhaupt von Gott gesagt werden kann, daß er einen Menschen „in Versuchung führt“.Ⱥ25 Dabei zieht er alle einschlägigen Aussagen im Alten und Neuen Testament heran. Die Aufgabe des Kommentators sieht er in erster Linie darin, die theologische und moralische Bedeutung des damals Geschehenen herauszuarbeiten. Zu diesem Zweck berücksichtigt er nicht nur die Bezüge zum Neuen Testament, sondern auch die jüdische Exegese, die schon im Mittelalter als Hilfe zum Verständnis des Literalsinns betrachtet wurde. Und auf den Literalsinn will er sich beschränken (lib. I, 24). a. Theologische Fragen und der Skopus der Geschichte In der Versuchung wurde er treu befunden. Sir 44,20
Betrachtet man die zitierten Leitfragen der 15 Disputationen im Hinblick auf die moderne Kommentarliteratur, so stellt man schnell fest, daß so gut wie keine ganz obsolet geworden ist. Eine Reihe davon ist freilich in die systematischen Fächer ausgewandert, in die Ethik, in die Dogmatik, in die Philosophie und die Fundamentaltheologie. Das gilt etwa von der Frage, ob Gott zu neuen Erkenntnissen kommen kann. Pererius widmet ihr die ganze 9. disputatio und referiert sorgfältig und korrekt die bisher vorgeschlagenen Antworten.Ⱥ26 Die erste löst das Problem philologischrhetorisch („nunc cognovi“ = „nunc cognoscere feci“);Ⱥ27 eine andere löst es durch eine philosophische Unterscheidung (Wissen Gottes von Ewigkeit ƺ konkretes Wissen); eine weitere sieht metaphorischen Sprachgebrauch oder eine Akkommodation Gottes, der sich nach menschlicher Weise ausdrückt. Pererius findet, daß die philosophische Lösung dem Text „einen ziemlich frostigen Sinn“ („valde frigidam sententiam“) gibt. Die beiden anderen Lösungen seien „per se probabiles“, er ziehe aber die erste vor (5ř). Dieses differenzierte Urteil ist charakteristisch, und es ist bemerkenswert, daß die von Pererius bevorzugte Lösung nicht nur die traditionell christliche Lösung ist, sondern auch die traditionell jüdische, die wir seit dem Jubiläenbuch fassen können.Ⱥ28
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Zur Sache vgl. Bђџћё WіљљњђѠȦMюџіѢѠ RђіѠђџ, „Versuchung“, in: LThK 3 10 (2001), 7ř7f. Die Auslegungsgeschichte ist gründlich aufgearbeitet von Jђюћ LќѢіѠ Sјю, „Et maintenant, je sais (Genèse 22,12)“, in: V. Cќљљюёќ Bђџѡќњђћ (Hg.), Palabra, prodigio, poesia. In Memoriam P. Luis Alonso Schökel, S. J. (AnBib 151), Rom 200ř, 117–144. Er geht auch auf Pererius ein (1ř4–1ř6). So z. B. Aug., civ. 16,ř2. Thomas Waleys spricht von einer antonomasia (s. u. Anm. řř, dort 119). Vgl. Jub 18,16; LAB (Ps.-Philo) ř2,4; BerR 56,7. Sјю, Et maintenant (Anm. 26), 121–12ř. 127–1ř1.
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Eine seit der Aufklärung ganz neu virulent gewordene Frage ist die der 5. disputatio, woher Abraham denn wußte, daß es Gott war, der dieses ungeheuerliche Ansinnen an ihn stellte, und nicht eine Illusion oder die Täuschung durch einen Dämon. Immanuel Kant war der Meinung: „Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: ‚Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden‘“.Ⱥ29 Aber nur wer sein Vorurteil für das oberste philosophische Prinzip erklärt, kann sagen: „Kein Beweis wird mich überzeugen, daß Gott Derartiges von mir verlangen kann.“Ⱥř0 Diesen Einwand hat Kant selbst gesehen, wie er an anderer Stelle beweist, wo er schreibt: „Daß einem Menschen seines Religionsglaubens wegen das Leben zu nehmen unrecht sei, ist gewiß, wenn nicht etwa (um das Äußerste einzuräumen) ein göttlicher, außerordentlich ihm bekannt gewordener Wille es anders verordnet hat.“Ⱥř1 Was Kant hier als „Äußerstes“ einräumt, ist die Antwort der mittelalterlichen Tradition, die dieses Problem am Beispiel unserer Perikope zu diskutieren pflegt.Ⱥř2 Die entscheidende Frage ist doch die, die Pererius stellt. Seine Antwort lautet: Gott kann eine entsprechende Gewißheit durch sein Licht vermitteln, und belegt dies mit einem langen Zitat von „Thomas Anglus“ (27).Ⱥřř Auch Sören Kierkegaard stellt in dem Buch „Furcht und Zittern“ 29
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IњњюћѢђљ Kюћѡ, „Der Streit der Fakultäten“, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 7, Berlin 1917, 6ř. Vgl. Fџюћѧ W. Nіђѕљ, „Wann sind Väter bereit, ihre Söhne zu opfern?“, in: KatBl 1ř0 [2005], 89–96, hier 90: „Als historisch-kritisch geschulte Leser, die durch das Feuer der Aufklärung gegangen sind, glauben wir ja nicht mehr daran, dass Gott in einem wörtlichen Sinn die Opferung Isaaks fordert. Und das unterscheidet uns wesentlich von den meisten christlichen Leserinnen und Lesern, die in der vorkritischen Zeit diese Geschichte gelesen und meditiert haben“. Die Heilige Schrift hat sich gefälligst nach dem „Feuer der Aufklärung“ zu richten! Das hat Jќѕћ HђћџѦ NђѤњюћ überzeugend ausgeführt in: The Philosophical Notebook of John Henry Newman, hg. v. EёѤюџё Sіљљђњ, Bd. 2, Löwen 1970, 1ř9–147. Übrigens haben auch die Kirchenväter, besonders Augustinus, das Problem schon gesehen und behandelt. Vgl. TѕђџђѠію HђіѡѕђџȦCѕџіѠѡіюћю RђђњѡѠ, Biblische Gestalten bei den Kirchenvätern: Abraham, Münster 2005, ř52f. IњњюћѢђљ Kюћѡ, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 4.2.4. (in der Ausgabe v. Kюџљ Vќџљѫћёђџ, Hamburg 1956, 211). Kurz darauf erwähnt Kant auch unsere Stelle in Gen 22. Gründlich nachgezeichnet ist diese Diskussion von IѠюяђљљђ Mюћёџђљљю, Das IsaakOpfer. Historisch-systematische Untersuchung zu Rationalität und Wandelbarkeit des Naturrechts in der mittelalterlichen Lehre vom natürlichen Gesetz (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters NF 62), Münster 2002. Dieser „Thomas Anglus“ ist Thomas Waleys OP († ca. 1ř49) (s. u.), was Pererius weiß. Sein Werk wird oft Thomas von Aquin zugeschrieben, unter dessen gedruckten Werken man es finden kann: TѕќњюѠ ѣќћ AўѢіћ, „Postilla seu expositio aurea in librum Geneseos“, in: Opera omnia, Paris 1876, Bd. ř1. Das oben genannte Zitat ebd., 118.
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von 184ř, das unserer Perikope gewidmet ist, die Frage: „Wie wird denn der Einzelne gewiß, daß er das Recht dazu [d. h. zu einer Tat, die im Widerspruch zu allem Ethischen steht] hat?“Ⱥř4 Und Kierkegaards Antwort ist der des Pererius ganz ähnlich: Hier kann es nur rätselhaft und wunderbar zugehen; es ist „das Paradox, das keine Vermittlung duldet“.Ⱥř5 Überhaupt findet man das eigentliche Anliegen und die theologischen Fragen des Pererius weit mehr bei Kierkegaard wieder als in der modernen exegetischen Fachliteratur. Nehmen wir gleich die Hauptsache, die Frage nach dem Skopus der Erzählung, als Beispiel: Was ist das Hauptthema und das eigentliche Anliegen unserer Geschichte? Für Pererius ist Gottes Befehl an Abraham, er solle seinen Sohn opfern, „quasi tentamentum quoddam et experimentum animi ac virtutis Abrahae: quo scilicet praecellens eius fides et obedientia notior omnibus atque illustrior existeret“, also eine Art Experiment Gottes mit Abraham und ein Test, der den überragenden Glauben und Gehorsam Abrahams noch mehr zum Leuchten bringen sollte, und zwar für alle Welt („omnibus“) (disp. 2 [4]).Ⱥř6 Der Testcharakter erklärt auch, daß Gott etwas befiehlt, was er, wie der Ausgang zeigt, gar nicht wirklich will: Das Ganze dient eben der „probatio virtutis Abrahae“ (disp. 8 [47]). Die Außerordentlichkeit des Tests ist Pererius dabei sehr wichtig. In der 4. disputatio zählt er alles auf, was Abraham den Auftrag Gottes ungeheuerlich und zweifelhaft erscheinen lassen mußte. Er lobt die entsprechende „exaggeratio“ bei OrigenesȺř7 und zitiert sie (21).Ⱥř8 Den Schluß der disputatio bildet ein langes Philo-Zitat.Ⱥř9 ř4 ř5 ř6
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SҦџђћ Kіђџјђєююџё, Furcht und Zittern, übersetzt v. EњюћѢђљ HіџѠѐѕ (GTB 614), Gütersloh 1986, 67. Ebd., 72. Letzteres betont auch die jüdische Tradition, die in Jub 18,16 erstmals bezeugt ist: „Und ich habe es sie alle wissen lassen (manifestavi), daß du mir glaubenstreu warst in allem, was ich dir gesagt habe“ (Das Buch der Jubiläen, hg. v. KљюѢѠ Bђџєђџ [JSHRZ IIȦř], Gütersloh 1981, 420). Nach dem Midrasch Tanchuma sagt Gott zu Abraham: „(Ich tat das) um den Völkern der Welt bekannt zu geben, dass ich dich nicht grundlos erwählt habe“ (mit Verweis auf Gen 22,12) (zitiert nach Bіђѡђћѕюџё [Anm. 67]). Ebenso David Kimchi: „Die Wahrheit ist, daß diese Versuchung geschah, um der Welt die vollkommene Liebe Abrahams zu zeigen“ (zitiert nach: Sѐѕњіѡѧ, Aqedat [Anm. 67], 75). So auch Augustinus: „tentatur Abraham […] ut pia eius oboedientia probaretur, saeculis in notitiam proferenda, non Deo“ (civ. 16,ř2). Vgl. JюњђѠ L. KѢєђљ, Traditions of the Bible. A Guide to the Bible As It Was at the Start of the Common Era, Cambridge (Mass.) 1998, ř02f. „Pulchre hoc exaggerat Origenes“ (21). Als rhetorischer Terminus technicus ist exaggeratio ein Synonym zu amplificatio. Orig. in Gen h. 8. Entsprechendes bieten auch die jüdischen Midraschim: BerR 55, 7; TanB 44 zu Gen 22,1, aber auch der Talmud: bSanh 89 b. Philo, de Abr. 192–199.
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Dem Herausstellen der unvergleichlichen Prüfung, die Abraham mit überragender Herzensgröße bestand, dient auch der religionsgeschichtliche Vergleich, den Pererius in der 11. disputatio durchführt. Er behandelt das Kindesopfer des Königs von Moab (2Kön ř,27) (60)Ⱥ40 und geht ausführlich auf die „Iphigenie in Aulis“ des Euripides ein. Außerdem zitiert er einige der klassischen exempla von Männern, die sich selbst für das Gemeinwohl geopfert haben, wie etwa der athenische König Kodros.Ⱥ41 Abraham übertrifft sie alle „difficultate rei gestae, altitudine animi et virtutis excellentia“ (disp. 11 [61]). Philos Ausführungen zu dieser Frage werden breit zitiert (61–6ř).Ⱥ42 So kommt Pererius zur selben Auffassung wie Kierkegaard, der schreibt: „Wenn man ein wenig näher zusehen will, so zweifle ich sehr, daß man in der ganzen Welt eine einzige Analogie finden wird, ausgenommen eine, die später ist“.Ⱥ4ř Kierkegaards Schrift kann überhaupt als ein Versuch verstanden werden, die von Pererius herausgestellte Besonderheit und Einzigartigkeit Abrahams noch genauer zu bestimmen. Das tut er, indem er Abraham vom tragischen Helden absetzt. Der tragische Held opfert sich oder sein Kind dem Allgemeinen und bleibt so im Bereich des Ethischen. Abraham dagegen kann mit keiner ethischen Kategorie mehr erfaßt werden. Denn ethisch gesehen ist Abraham ein Mörder.Ⱥ44 Nur eine absolute Pflicht gegen Gott ƺ und das bedeutet für Kierkegaard Glauben ƺ kann seine Tat rechtfertigen und zur bewundernswürdigen machen.Ⱥ45 Bei diesen Darlegungen greift Kierkegaard wie Pererius auf die „Iphigenie in Aulis“ des Euripides zurück, dazu auf die Geschichte Jiftachs in Ri 11.Ⱥ46 Anstelle Jiftachs verwendet Pererius die pagane Variante Idomeneus (60).Ⱥ47 Von Kierkegaards Überlegungen her erscheint auch die Fragestellung der letzten disputatio des Pererius nicht mehr grotesk: ob Abraham 40 41 42 4ř 44 45
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Auf dieses geht er noch einmal ein in der letzten Disputation. Es sei, da von Gott nicht befohlen, ihm auch nicht angenehm gewesen (99). Pererius bezieht sich auf Cic. Tusc. I 116 und Iustin (Pompeius Trogus) II 7 (d. 11. [59f.]). Philo, de Abr. 178–191. Kіђџјђєююџё, Furcht (Anm. ř4), 60. Mit der Ausnahme meint er Maria, vgl. ebd., 70f. Pererius schreibt: „Si praeceptum illud ab homine quopiam esset datum, proculdubio iniquissimum fuisset“ (28). Pererius zitiert Thomas v. Aquin, STh IȦ2 100,8 ad ř: „Abraham, cum consensit occidere filium, non consensit in homicidium, quia debitum erat eum occidi ex Dei mandato.“ Vgl. Kіђџјђєююџё, Furcht (Anm. ř4), 61f. Vgl. Serv. zu Verg. Aen. ř,121; Der Neue Pauly 5 (1998), 894f. Daß Pererius auf die Geschichte Jiftachs nicht eingeht, ist umso merkwürdiger, als Hugo von St. Viktor einen eigenen Traktat darüber verfaßt hat, in dem er auf die Parallele eingeht: De filia Jephthe (PL 177, ř2ř–řř4).
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oder Isaak in dieser Sache das höhere Verdienst zukommt. Schon in der 4. disputatio hatte Pererius die ganze Furchtbarkeit des göttlichen Befehls in Gen 22,2 dargelegt und den Schmerz, den er Abraham bereiten mußte. Er steht dabei in bester jüdischer und christlicher Tradition und hat in Kierkegaard einen Nachfolger. Dieser schreibt: „Wo ich über ihn [Abraham] reden [d. h. predigen] sollte, würde ich zuerst den Schmerz der Prüfung schildern. Zu dem Ende würde ich einem Egel gleich alle Angst und Not und Qual heraussaugen aus dem Leiden eines Vaters, damit ich es beschreiben könnte, was Abraham litt, indessen er bei alledem dennoch glaubte.“Ⱥ48 Genau so hat es Gregor von Nyssa gemacht.Ⱥ49 Wegen dieser Furchtbarkeit der Prüfung ist es für Pererius auch wahrscheinlich, daß Abraham Sara von Gottes Befehl nichts sagte: aus Rücksicht (disp. 1). Für Kierkegaard kann Abraham von seinem Auftrag und Vorhaben gar nicht reden, er muß schweigen. Diesem Schweigen widmet er eine eigene, tiefsinnige Abhandlung mit einer schönen Deutung von Abrahams Antwort an Isaak in Gen 22,8: „Gott wird sich das Opferlamm aussuchen, mein Sohn.“Ⱥ50 Er versteht Abrahams Auskunft als Ironie: Er sagt nichts und dennoch etwas, vor allem aber: nicht die Unwahrheit. Pererius begnügt sich in diesem Fall mit einem ausführlichen Zitat des Ambrosius, der darin eine unbewußte Prophezeiung sieht.Ⱥ51 In seiner Nacherzählung der Geschichte läßt er Abraham antworten: „Mein Sohn, auch wenn hier kein Opfertier („animal ad sacrificium“) vorhanden ist, Gott wird schon ein Opfer („victima“) vorsehen. Denn für ihn ist alles möglich, auch das, was Menschen nicht fertig bringen.“ Die moderne Kommentarliteratur bleibt meistens bei der Auffassung des Ambrosius. So etwa W. Zimmerli: „Abraham ahnt nicht, was er damit vorwegnehmend sagt.“Ⱥ52 Allerdings geht Ambrosius im An-
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Kіђџјђєююџё, Furcht (Anm. ř4), 56. Vgl. ebd., 17f. Greg. Nyss., De deitate (Opera XȦ2, 1ř2,19–140,18). Er sagt: „Es überläuft mich kalt, wenn ich die Härte der Prüfung schildern soll“ (Opera XȦ2, 1řř,1f.). Vgl. auch: Greg. Nyss., In Pulch. (Opera IX, 467,22–469,20). Kіђџјђєююџё, Furcht (Anm. ř4), 91–1ř8. Zu Gen 22,8: 1ř2–1ř7. Vgl. Sѕіњќћ Bюџ-Eѓџюѡ, Narrative Art in the Bible (Journal for the Study of the Old Testament, Suppl. Ser. 70), London 1989, 76: „This response reveals Abraham’s delicacy (he tries to avoid hurting his son unnecessarily), honesty (he is reluctant to lie to his son) and deep religious feeling (he places absolute trust in God).“ Ambr., Abr I 8 (74) (CSEL ř2Ȧ1, 550). Vgl. Joh 11,50f.: Kaifas redete prophetisch, als er sagte, es sei besser, ein Mensch sterbe für das Volk. Wюљѡѕђџ Zіњњђџљі, 1. Mose 12–15 (ZB.AT 1.2), Zürich 1976, 111. Vgl. Gђџѕюџё ѣќћ Rюё, Das 1. Buch Mose. Genesis (ATD 2Ȧ4), Göttingen 1987, 191: Seine Antwort „enthält eine Wahrheit, die Abraham selbst noch nicht bewußt ist“.
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schluß an Origenes noch einen Schritt weiter und sieht in dem von Gott vorgesehenen Opfer zugleich Christus.Ⱥ5ř In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage der 10. disputatio bei Pererius, warum der biblische Text in Gen 22,12 auf die Furcht Gottes abhebt und nicht auf die Liebe zu ihm. Pererius antwortet, die Liebe zu Gott dürfe nicht nach Analogie der Freundschaft begriffen werden, sondern müsse mit tiefster submissio, reverentia und mit tremor verbunden sein. Er untersucht das Motiv der Furcht in der Heiligen Schrift, und verweist unter anderem auf Jes 6 und Ps 2,11: „Dient dem Herrn mit Furcht, und jauchzt ihm zu mit Zittern.“Ⱥ54 Das ist der Text, der in Phil 2,12 aufgenommen wird und Kierkegaard den Titel seiner Schrift lieferte. Pererius geht auch auf den Einwand ein, warum Abraham nicht lieber sich selbst tötete ƺ „zur Ehre Gottes“ „nach Art der christlichen Märtyrer“ ƺ und ob es nicht schwerer sei, sich selbst als einen andern zu opfern (55). Er antwortet: Nicht für einen Frommen und wenn es um den einzigen Sohn geht (56). Auch Kierkegaard erwägt die Frage und erklärt die Selbstopferung für die geringere Tat. Denn: „Eins ist es, bewundert werden, ein anderes, ein weisender Stern werden, der den Geängstigten rettet.“Ⱥ55 In der letzten disputatio führt Pererius zusammenfassend vier Faktoren an, die Abraham seine Aufgabe schwerer machen mußten als Isaak: 1. Abraham liebte Isaak mehr als dieser sich selbst lieben konnte. 2. Abraham konnte das ganze Gewicht des Falls besser ermessen als Isaak. ř. Abraham mußte annehmen, daß die an ihn ergangenen Verheißungen damit erledigt seien.Ⱥ56 4. Drei Tage lang hat er alles vor Augen und soll am Ende mit eigener Hand den Sohn töten, rituell zerlegen und schließlich verbrennen, was schlimmer ist als selbst den Tod erleiden.Ⱥ57
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Orig., in Gen h. 8,6; Ambr., Abr I 8 (74) (CSEL ř2Ȧ1, 550). Die übliche Übersetzung: „Küßt seine Füße mit Zittern“ beruht auf einer Konjektur. Kіђџјђєююџё, Furcht (Anm. ř4), 19. Damit stimmt nicht recht zusammen, daß Pererius in der 5. disputatio nach Hebr 11,19 annimmt, Abraham habe mit einer Auferstehung Isaaks gerechnet (ř1). Zu den mit Isaaks Tod erledigten Verheißungen gehört nach disp. 10 (56) auch die Hoffnung auf ewiges Leben durch Christus. Diesen Aspekt betont neuerdings Kќћџюё Sѐѕњіё, „Die Rückgabe der Verheißungsgabe. Der ‚heilsgeschichtliche‘ Sinn von Gen 22 im Horizont innerbiblischer Exegese“, in: MюџјѢѠ Wіѡѡђ (Hg.), Gott und Mensch im Dialog. FS Otto Kaiser (BZAW ř45Ȧ1), Berlin 2004, 270–ř00. Die rituelle, geradezu priesterliche Sorgfalt betonen Philo (Abr. 198) und Josephus (ant. 1,2ř1), aber auch die Targumüberlieferung. Der Midrasch Rabba 55,7 zu Gen 22,2 läßt Abraham einwenden: Wie kann es ein Opfer ohne Priester geben? Er erhält zur Antwort: „Du bist Priester auf ewig“ (Ps 110,4). Die Deutung von Ps 110 auf Abraham ist im Judentum traditionell.
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So bewährt sich Abraham in der äußersten, kaum noch erträglichen Prüfung. Diese Deutung unserer Perikope, die im großen Strom der jüdischchristlichen Tradition steht, hebt also die Furchtbarkeit von Abrahams „Versuchung“ hervor und begreift ihn als „Zeugen“, den man zwar bewundern, im letzten aber nicht nachahmen kann, ganz im Sinne Kierkegaards.Ⱥ58 Zwar sind der Glaube und der Gehorsam Abrahams für alle Frommen vorbildlich, aber die extreme Erprobung dieser Haltungen ist allein ihm zugedacht (9. 12. 46). Kein anderer könnte sie bestehen. Unter den modernen Exegeten findet man diese Sicht noch wieder bei Gerhard von Rad.Ⱥ59 Claus Westermann dagegen meint, wer die Geschichte als „Lobrede auf Abraham (Kierkegaard)“ verstehe, der habe sie „nicht verstanden“. „Die Erzählung zielt nicht auf das Rühmen eines Menschen, sondern auf das Rühmen Gottes.“Ⱥ60 Dann hätte die gesamte jüdische und christliche Tradition die Geschichte „nicht verstanden“. Ein anderer Ausleger sieht in der Geschichte „ein Paradigma narrativer Theologie, das besagen will: was hier an einem Einzelschicksal illustriert wird, kann überall und jederzeit wahr sein“, weil „jeder echte Christ gleich Abraham versucht wird und Leid ertragen muß.“Ⱥ61 Das ist nur die halbe Wahrheit, denn Abrahams Versuchung hat durchaus etwas Einmaliges, nicht jedem „echten“ Christen Zugemutetes. Wieder ein anderer meint, in dieser Geschichte gehe es mehr darum, „den Leser Anteil nehmen zu lassen an der Ratlosigkeit, dem Schmerz und der Einsamkeit der beiden Betroffenen und daran, wie sie an ihrem Gott litten […]. Sie sollten sich in die Lage ihres Vaters Abraham hineinversetzen und in ihm sich selbst und ihre Fragen an Gott wiederfinden.“Ⱥ62 Das soll das Anliegen des sogenannten „Elohisten“ sein. Aber ganz abgesehen von der Frage, ob der Text überhaupt auf den Elohisten zurückgeht: Von der „Ratlosigkeit“ der Protagonisten, ihrem Leiden an Gott und ihren „Fragen an Gott“ ist im Text nicht die Rede. Zu Recht heißt es in einer neueren Untersuchung: „Die Erzählung setzt sich nicht mit dem (schier unfaßbaren) Gottesbefehl auseinander, etwa indem sie ihn revidiert, sondern exemplifiziert an Abraham die äußerste Herausforderung, die
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Vgl. Kіђџјђєююџё, Furcht (Anm. ř4), 89. Vgl. ѣќћ Rюё, Genesis (Anm. 52), 194. Auch Zіњњђџљі (Anm. 52), 108–115 deutet traditionell. CљюѢѠ WђѠѡђџњюћћ, Genesis (BK.AT IȦ2), Neukirchen 1981, 447. Tіњќ Vђіїќљю, „Das Opfer des Abraham ƺ Paradigma des Glaubens aus dem nachexilischen Zeitalter“, in: ZThK 85 (1988), 129–164, hier 157. Er spielt an dieser Stelle Luther gegen Luther aus. JќѠђѓ Sѐѕюџяђџѡ, Genesis 12–50 (NEB.AT 16), Würzburg 1986, 168.
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Erprobung der Gottesfurcht in der Befolgung des göttlichen Willens.“Ⱥ6ř Eine andere Untersuchung wiederum möchte den Gedanken des „Gehorsams“ von unserer Geschichte ganz fern halten: „Gen 22 in seiner ursprünglichen Form, vor allem ohne die Vv. 15–18, ist eine Erzählung über die Gottesfurcht Abrahams und die Abgründigkeit, auch die Selbstwidersprüchlichkeit des Göttlichen, HWHs. Es geht um die Gottesfurcht Abrahams und nicht um seinen Gehorsam“.Ⱥ64 Aber daß es hier um „die Selbstwidersprüchlichkeit“ des Gottes Israels geht, läßt sich sowenig aus dem Text erheben wie die Sonderung von Gottesfurcht und Gehorsam und die Behauptung, es gehe nur um erstere. Die minutiösen philologischen und literaturwissenschaftlichen Untersuchungen münden in der modernen Exegese nicht selten in merkwürdig kurzschlüssige theologische Aussagen, sofern solche überhaupt noch gemacht werden. Moderne Probleme und Gedanken werden mit einer erstaunlichen Naivität in den Text hineingelesen, und dies allen Subtilitäten eines narrative criticism und anderer Analysemethoden zum Trotz.Ⱥ65 Die alten Exegeten, die ganz naiv davon ausgingen, daß sich alles genau wie erzählt auch zugetragen hat, kamen zu sachgemäßeren theologischen Deutungen als die heutigen. Bei all dem können wir uns mit Kierkegaards Bemerkung trösten: „Die Geschichte von Abraham nun hat die merkwürdige Eigenschaft, daß sie immerfort herrlich bleibt, wie ärmlich man sie auch verstehe […]“.Ⱥ66
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Gђќџє SѡђіћѠ, Die „Bindung Isaaks“ im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre (HBS 20), Freiburg i. B. 1999, 178. Mіѐѕђљ, Gott (Anm. 2ř), ř1ř. Hervorhebungen von A. Michel. Gђќџє SѡђіћѠ hat selbst den Nachtragscharakter der VV. 15–18 stark in Frage gestellt (Bindung [Anm. 6ř], 216–224). Den Grund dafür hat R. Wюљѡђџ L. MќяђџљѦ, The Bible, Theology, and Faith. A Study of Abraham and Jesus (Cambridge Studies in Christian Doctrine o.Nr.), Cambridge 2000 überzeugend herausgearbeitet: Der Text ändert seine Bedeutung je nach dem kulturellen, religiösen und literarischen Kontext, in dem man ihn liest. Seine eigene, reflektiert christliche Lektüre nimmt die theologischen Fragen ernst und ist anregend traditionell. Kіђџјђєююџё, Furcht (Anm. ř4), 24.
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b. Jüdische Exegese bei PereriusȺ67 Dem Volke Israel ist der Glaubensumweg erspart worden, und dies alles nur, weil Abraham Gott gehorsam gewesen ist. Hans Joachim SchoepsȺ68
Die sogenannte historisch-kritische Bibelexegese zeigt an der traditionellen jüdischen Exegese so wenig Interesse wie an der Väterexegese. Beide werden als „vorkritisch“ abgeurteilt. Jüdisches beachtet man bestenfalls im Zusammenhang mit religionsgeschichtlichen Studien und als „Hintergrund“ neutestamentlicher Autoren, Patristisches unter dem Gesichtspunkt der Auslegungsgeschichte. Das sieht bei Pererius noch ganz anders aus. Seine Wertschätzung von Philo und Josephus haben wir schon kennengelernt. Diese jüdischen Autoren sind für ihn nicht religionsgeschichtliche Quellen, sondern sachkompetente Autoren im Rang von Kirchenvätern. In allen theologischen und exegetischen Fragen werden sie als Diskussionspartner ernstgenommen und können gegen die höchsten Autoritäten unter den christlichen Auslegern recht bekommen. 67
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Die frühjüdischen und die rabbinischen Texte zu Gen 22 sind gründlich aufgearbeitet in zwei Untersuchungen: Rќљѓ-Pђѡђџ Sѐѕњіѡѧ, Aqedat Jishʋ aʋ q. Die mittelalterliche jüdische Auslegung von Genesis 22 in ihren Hauptlinien (Judaistische Texte und Studien 4), Hildesheim 1979 (sehr übersichtlich); LѢјюѠ KѢћёђџѡ, Die Opferung/Bindung Isaaks, 2 Bde. (WMANT 78Ȧ79), Neukirchen-Vluyn 1998. Beide verzichten auf die Targumim. Diese zitiere ich nach PюѢљ NюѢњюћћ, Targum – Brücke zwischen den Testamenten. Targum-Synopse ausgewählter Texte aus den palästinischen Pentateuch-Targumen, Konstanz 1991, 126–149; Rќєђџ Lђ DѼюѢѡ, Targum du Pentateuque. Tome I: Genèse (SC 245), Paris 1978, 214–22ř (kommentiert). Die Midraschim zitiere ich nach folgenden Übersetzungen: Midrasch Rabbah, Genesis, translated by Rabbi Dr. H. Fџђђёњюћ, London ř198ř; HюћѠ Bіђѡђћѕюџё, Midrasch Tanhuma B über die Tora, genannt Midrasch Jelammedenu, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980; AѢєѢѠѡ WҿћѠѐѕђ, Aus Israels Lehrhallen, Bd. 1, Leipzig 1907 (ND Hildesheim 1967), 49–60 (eine andere Version des Midrasch Tanchuma). Den Text des Midrasch Rabba (BerR) zu Gen 22 findet man ausführlich kommentiert und übersetzt bei KѢћёђџѡ (Anm. 67), Bd. 2, 66–197. Interessante Hinweise und Textbeispiele bietet auch Rќљѓ Sѐѕњіѡѧ, „Typen und Traditionen jüdischer Exegese veranschaulicht am Beispiel von Gen 22“, in: AћѠєюџ Fџюћѧ (Hg.), Streit am Tisch des Wortes? Zur Deutung und Bedeutung des Alten Testaments und seiner Verwendung in der Liturgie (Pietas liturgica 8), St. Ottilien 1997, ř7–7ř. Nützliche Übersichten bieten KѢєђљ, Traditions (Anm. ř6), 296–ř26; EџћѠѡ DюѠѠњюћћ, „‚Bindung‘ und ‚Opferung‘ Isaaks in jüdischer und patristischer Auslegung“, in: JAC.E ř4 (2002), 1–18, hier 2–8. Einen Vergleich patristischer und rabbinischer Auslegungen bietet die Untersuchung eines jüdischen Autors: EёѤюџё KђѠѠљђџ, Bound by the Bible. Jews, Christians and the sacrifice of Isaac, Cambridge 2004. HюћѠ Jќюѐѕіњ SѐѕќђѝѠ, Israel und Christenheit. Jüdisch-christliches Religionsgespräch in neunzehn Jahrhunderten, MünchenȦFrankfurt a. M. 1961, 189.
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Neben Philo und Josephus erwähnt Pererius auch mittelalterliche jüdische Kommentatoren. Diese kann er jedoch, wie es scheint, nur aus zweiter Hand zitieren.Ⱥ69 Dasselbe gilt von haggadischen Werken wie der Weltchronik Seder Olam Rabba. Auf diese bezieht sich Pererius für die Angabe, Isaak sei zum Zeitpunkt des Geschehens bereits ř7 Jahre alt gewesen.Ⱥ70 Dagegen vertrete Ibn Esra die Meinung, Isaak sei erst zehn oder zwölf Jahre alt gewesen.Ⱥ71 Pererius entscheidet sich dann für die Angabe des Josephus, der Isaaks Alter auf 25 Jahre ansetzt. Denn „in Fragen der jüdischen Geschichte wiegt die Autorität des Josephus mehr als irgendeine Überlieferung der Hebräer“ (ř). Immer wieder bezieht sich Pererius auf bestimmte Ansichten der „Hebräer“, ohne zu sagen, woher er sie kennt. Dabei handelt es sich durchweg um Überlieferungen der jüdischen Traditionsliteratur, die uns in den Midraschim, Targumim und in den beiden Talmuden bezeugt sind. Wahrscheinlich hat Pererius manche Kenntnisse durch Erkundigungen und Gespräche mit jüdischen Gelehrten erlangt. Das Targum Onkelos, das er als „chaldäische Version“ bezeichnet, konnte er mit lateinischer Übersetzung in der Complutenser oder in der Antwerpener Polyglotte lesen.Ⱥ72 Gehen wir die einzelnen Traditionen durch, die er heranzieht. Da ist zunächst die Angabe, die Opferung Isaaks habe am ersten Tag des siebten Monats stattgefunden, „der teils unserem September entspricht, teils dem Oktober“ (ř). Dieser Tag werde von den Juden mit Hörnerschall begangen „zur Erinnerung […] daran, wie Isaak von der Tötung durch seinen Vater befreit wurde und an seine Stelle als Opfertier ein Widder trat“ (68).Ⱥ7ř Mit dem Hörnerschall ist das Blasen des Schofar an Neujahr gemeint, das im Midrasch mit unserer Perikope begründet wird.Ⱥ74 Und noch heute heißt es im Musafgebet für das Neu69 70 71
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Ibn Esra zitiert Pererius in 2 nach Toletus, in 105 nach Paulus von Burgos. Raschi („Rabbi Salomo“) zitiert er in 98 offensichtlich nach Nikolaus von Lyra. Diese Angabe haben auch BerR 55,4 und TanB 42 zu Gen 22,1. Vgl. KѢєђљ, Traditions (Anm. ř6), ř20. Pererius hat seine diesbezüglichen Kenntnisse aus zweiter Hand und ist hier offenkundig ungenau informiert. Ibn Esras Ausführungen sind zitiert bei Sѐѕњіѡѧ, Aqedat (Anm. 67), 1ř6: „Das Wahrscheinlichste ist, daß er dreizehn Jahre alt war und daß ihn sein Vater zwang und gegen seinen Willen band.“ Zu diesen Ausgaben vgl. Fђџћюћёќ DќњіћєѢђѧ RђяќіџюѠ, Gaspar de Grajal (1530– 1575). Frühneuzeitliche Bibelwissenschaft im Streit mit Universität und Inquisition (RST 140), Münster 1998, 21–45. Zur jüdischen Sicht des Ersatzopfers durch den Widder vgl. Sѐѕњіѡѧ, Aqedat (Anm. 67), 161–168. Vgl. BerR 56,9 und TanB 46 zu Gen 22,1ř. Darauf weist schon Hieronymus in seinen „Hebraicae quaestiones“ zu Gen 22,14 hin: CCSL 72Ȧ1,27.
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jahrsfest: „Gedenke uns, Ewiger, unser Gott, des Bundes, der Gnade und des Schwures, welche du unserem Vater Abraham auf dem Berge Morija zugeschworen; es erscheine vor dir die Bindung, als unser Vater Abraham seinen Sohn Isaak auf dem Altare band und sein Erbarmen bezwang, um deinen Willen mit ganzem Herzen zu erfüllen; so möge dein Erbarmen deinen Zorn von uns abwenden […].“Ⱥ75 Am Schluß der 2. disputatio zählt Pererius die zehn Versuchungen Abrahams auf, deren letzte und größte nach jüdischer Tradition die zur Opferung Isaaks ist.Ⱥ76 Bei der Behandlung von Gen 22,10f. zählt er die zehn (oder acht) göttlichen „Gesichte und Erscheinungen“ auf, deren letzte beide der Befehl zur Opferung des Sohnes und seine Widerrufung sind (disp. 8 [44]). Zur Frage der Etymologie von „Morija“ zieht Pererius die Angaben des Hieronymus heran,Ⱥ77 dazu Rupert von Deutz und Oleaster, und kommt zu dem Schluß, die Sache sei unsicher (14f.). Darüber ist auch die moderne Forschung nicht hinausgekommen. Die Midraschim bieten verschiedene volksetymologische Erklärungen an, die als theologische Deutungen von Interesse sind.Ⱥ78 Aber Pererius kennt oder beachtet sie nicht. Die Identifikation des Berges der Opferung mit dem „Berg Morija“ steht für Pererius wegen 2Chr ř,1 fest, ebenso die mit dem Zion und der Tenne des Jebusiters Arauna. Die weiteren jüdischen Identifikationen mit dem Berg des Opfers von Kain und Abel und dem Berg, auf dem Noach nach der Sintflut opferte, lehnt er ab (16).Ⱥ79 Zu V. 14 schreibt er: Das Sprichwort „Der Herr wird sich sehen lassen“ bedeute bei den Hebräern: Selbst in großer Not wird Gott helfen, wie er auch Abraham ge-
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Zitiert nach: Sidur Sefat Emet. Mit deutscher Übersetzung v. Rabbiner Dr. Sђљіє Bюњяђџєђџ, Basel 1989, 245. Vgl. TanB zu Gen 22,11 (Bіђѡђћѕюџё [Anm. 67], 120): Danach bittet Abraham Gott: „Auch du, wenn die Kinder Isaaks vor dir sündigen, gedenke ihrer der Fesselung Isaaks, ihres Vaters, [wegen] und vergib ihnen und befreie sie aus Nöten.“ Es folgt der Hinweis auf den Neujahrstag. Vgl. Jub 17,17f. (mit BђџєђџѠ Kommentar in den JSHRZ IIȦř [Anm. ř6], 418); 19,2f. 8; mAv 5,ř; TanB 4ř zu Gen 22,1; TanB 46 zu Gen 22,2. Zur Einteilung der Abrahamerzählungen in zehn Versuchungen und sieben Verheißungen, die bis in die moderne jüdische Exegese aufgenommen wird, vgl. Rіѐѕюџё J. Cљіѓѓќџё, „Genesis“, in: The New Jerome Biblical Commentary, London 1989, 19. Hebraicae quaestiones in libro Geneseos (CCSL 72, 26). Vgl. BerR 55,7 und TanB 45 zu Gen 22,2. Vgl. Targum Pseudo-Jonathan zu Gen 22,9: „[…] und Abraham baute dort den Altar (wieder auf), den Adam (einst) errichtet hatte und der zerstört worden war durch die Wasser der Sintflut. Noah hatte ihn wieder aufgebaut, aber er war zerstört worden durch das Geschlecht des Streites.“ Zitiert nach: NюѢњюћћ, Targum (Anm. 67), 1ř1f. In den Midraschim steht nichts davon.
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holfen hat.Ⱥ80 Und es gebe jüdische Stimmen, die meinten, das „Auf dem Berg wird der Herr sich sehen lassen“ sei prophetisch gesprochen im Hinblick auf den salomonischen Tempel, „in dem Gott die Gebete der zu ihm Flehenden in besonderer Weise erhören wollte“, wie es Salomo in seinem großen Tempelweihgebet erbeten hatte (1Kön 8, 22–5ř) (70). Pererius zitiert die „chaldäische“ Version, d. h. das Targum Onkelos, dessen Text an dieser Stelle vom hebräischen stark abweicht. Das Erscheinen Gottes auf dem Berg wird hier durch einen Hinweis auf den künftigen Tempelgottesdienst ersetzt (72).Ⱥ81 Eine weitere jüdische Überlieferung referiert Pererius am Ende der 5. disputatio, wo es um die Frage geht, woran Abraham den von Gott bestimmten Berg eigentlich erkannte. Ohne Kommentar erwähnt Pererius die Meinung der „Hebräer“, Abraham habe auf dem Berg eine Feuersäule erblickt, die nur ihm und Isaak sichtbar wurde, nicht aber seinen Begleitern (ř4).Ⱥ82 Lächerlich findet Pererius dagegen die Überlieferung, der an Isaaks Stelle geopferte Widder gehöre zu den Dingen, die am sechsten Schöpfungstag geschaffen wurden.Ⱥ8ř Für die Symbolik derartiger Theologumena hat er offenbar kein Verständnis. Pererius geht, wie die jüdische und christliche Tradition, davon aus, daß Isaak sich von seinem Vater freiwillig binden und opfern ließ.Ⱥ84 Das schließt er schon aus dem Alter Isaaks, der imstande gewesen sei, das 80
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Sѐѕњіѡѧ, Aqedat (Anm. 67), 178 faßt die jüdische Sicht zusammen: „Die auf dem Opferberg ruhende Gegenwart Gottes nimmt Israel unter ihren besonderen Schutz, sühnt die Nachkommen Isaaks und bewahrt sie vor der Vernichtung, um ihnen am Ende der Zeiten beizustehen und die endgültige Erlösung zu erwirken“. Vgl. NюѢњюћћ, Targum (Anm. 67), 1ř4–1ř7; Lђ DѼюѢѡ, Targum (Anm. 67), 220 (zu Gen 22,14); KѢєђљ, Traditions (Anm. ř6), ř20–ř22. Statt mit der „Feuersäule“ mit der „Wolke“ verbunden finden wir diese Tradition in BerR 56,1f. und TanB 46 zu Gen 22,4. Mit der „Feuersäule“ ist die Tradition in MHG Wa 22,4 belegt (vgl. KѢћёђџѡ, Opferung [Anm. 67], 1ř7). Auch David Kimchi erwähnt sie als „alte Überlieferung“ (vgl. Sѐѕњіѡѧ, Aqedat [Anm. 67], 69). In der sinaitischen Katene wird „ein Hebräer“ zitiert, der meint, Abraham habe über dem Berg einen Stern stehen sehen wie die Magier über dem Haus der Geburt Christi (Mt 2,2.9): CCSG 2,160f. Vgl. mAv 5,6; bPes 54 a. Diese Überlieferung fehlt im Midrasch Rabba (BerR) und im Midrasch Tanchuma (TanB) ed. Bietenhard, ist aber erwähnt in der von AѢєѢѠѡ WҿћѠѐѕђ zitierten Version (58) und im Targum Pseudo-Jonathan zu Gen 22,1ř (vgl. NюѢњюћћ, Targum [Anm. 67], 1ř5; Lђ DѼюѢѡ, Targum [Anm. 67], 221). So schildert es auch eindrucksvoll Gregor von Nyssa in De deitate (Opera XȦ2, 1ř7,15–1ř8,19). Die freiwillige Selbsthingabe Isaaks fanden die Christen in mehreren von ihnen hochgeschätzten frühjüdischen Schriften vor: 4Makk 1ř,12; 16,20; LAB (Pseudo-Philo) 18,5; ř2,1–4; 40,2; Jos. ant. 1,2ř2. Vgl. 1Klem ř1,ř: „Isaak ließ sich, da er erkannte, was geschehen sollte, zuversichtlich und gern zur Opferung führen.“ Auch Jdt 8,26 „wie er [Gott] Isaak prüfte“ impliziert Freiwilligkeit.
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gesamte Brennholz zu tragen, und der, wenn er sich hätte wehren wollen, leichtes Spiel gehabt hätte mit dem alten Mann. Abraham fesselte Isaak nur, damit er nicht unwillkürlich zurückzuckte vor dem Messer. Diese Argumente begegnen auch in der jüdischen Kommentarliteratur.Ⱥ85 Abrahams Rede vor der Bindung und Isaaks Antwort, die ihnen Josephus, die Midraschim und Targumim in den Mund legen,Ⱥ86 erscheinen Pererius von der Sache her plausibel: „Jene letzte Handlung kann nicht ohne Gespräch, Ermutigung und Trost vor sich gegangen sein“ (4ř). Isaaks Bereitschaft, sich zu opfern, vergleicht er mit der Iphigenies und zitiert dazu die einschlägigen Verse des Euripides: „Ich gebe für mein Vaterland und für ganz Hellas | mich freudig hin: Man soll geleiten mich an den | Altar der Göttin und als Opfertier mich schlachten, | da ja die Gottheit diese Forderung erhoben!“Ⱥ87 Pererius kommentiert: „Das ist nun zwar eine dichterische Erfindung; aber nicht einmal diese Fiktion kommt der einfachen Wahrheit der Tugend Isaaks gleich, der seinen Hals freiwillig dem väterlichen Messer darbot“ (d. 7 [41]). Und gegenüber der Theatralik, mit der Euripides Agamemnon schildert, sticht Abrahams Verhalten ab: „kein Stöhnen, keine Tränen, kein Abwenden des Gesichts, kein verhülltes Haupt“; und selbst muß er zum Opfermesser greifen (ř9). In der letzten disputatio stellt Pererius ohne Bezug auf die jüdische Auslegung fest, man könne der Meinung sein, die Leistung Isaaks sei größer als die Abrahams. In Wirklichkeit aber sei es umgekehrt.Ⱥ88 Darauf läßt er die bereits genannten vier Argumente folgen und fährt dann zur Bekräftigung dieser Auffassung fort: „Im übrigen überliefern auch die Hebräer, damals sei ihm ein Dämon in Gestalt eines Engels erschienen, und habe ihn mit gewichtigen Worten von der Opferung seines Sohnes abgeschreckt, da dies eine gottlose Tat von unerhörter Grausamkeit und gegen Gottes Willen sei. Und damit bringen manche die Worte des Paulus in Verbindung: ‚Durch Glauben brachte Abraham seinen Erstgeborenen Isaak dar, als er versucht wurde‘ [vgl. Hebr 11,17]. Das ‚als er versucht wurde‘ beziehen sie auf diese schwere Versuchung durch
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Vgl. Sѐѕњіѡѧ, Aqedat (Anm. 67), 1ř4–141. Jos. ant. 1,2ř2; BerR 56,8 und TanB zu Gen 22,9 (bzw. 12). Eine entsprechende Rede auch in LAB (Pseudo-Philo) ř2,ř; die Freiwilligkeit, mit der sich Isaak opfert, ist auch in 18,5 und 40,2 betont. Vgl. Rќєђџ Lђ DѼюѢѡ, La nuit pascale (AnBib 22), Rom 196ř, 15ř–194; NюѢњюћћ, Targum (Anm. 67), 126–149; Jќћ D. LђѣђћѠќћ, The Death and Resurrection of the Beloved Son. The Transformation of Child Sacrifice in Judaism and Christianity, ale University 199ř, 17ř–199 (eigenwillig). Eur., Iph. Aul. 155ř–1556. Übersetzung: D. Ebener. So sehen es auch mittelalterliche jüdische Ausleger, die diese Frage behandeln: Sѐѕњіѡѧ, Aqedat (Anm. 67), 97–100.
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den Dämon“ (97). Das von Pererius knapp zusammengefaßte Auftreten des Satan, der Abraham von seinem Vorhaben abbringen will, wird in den Midraschim und im Talmud in Form eines Dialogs ausführlich geschildert.Ⱥ89 Die traditionelle jüdische Exegese unserer Perikope ist demnach bei Pererius gut und zutreffend repräsentiert, auch wenn seine Informationsquellen teilweise im dunkeln liegen. Sein Kommentar bietet viel mehr davon als die Postilla litteralis des Nikolaus von Lyra, der in dieser Hinsicht alle mittelalterlichen Kommentare christlicher Ausleger übertrifft.Ⱥ90 Auch wo er sich nicht ausdrücklich auf Überlieferungen der „Hebraei“ bezieht, sind Einflüsse jüdischer Auslegungstraditionen erkennbar, wie wir mehrfach bemerkt haben. Die meisten Deutungen und Ausschmückungen lassen sich durch die Midraschim und Targumim belegen. Nur zwei, freilich sehr bezeichnende Auslassungen fallen auf. Die starke jüdische Tradition, die Abraham das Opfer seines Sohnes tatsächlich ausführen und Isaak danach wieder zum Leben erweckt werden läßt,Ⱥ91 erwähnt Pererius mit keinem Wort. Es fehlen auch Hinweise auf die Verbindung des Geschehens auf Morija mit dem jüdischen PessachȺ92 und der Liturgie des großen Versöhnungstags (Jom Kippur).Ⱥ9ř Im übrigen sind die Wiedergaben durchweg sachlich und freundlich gehalten, auch dort, wo Pererius eine Deutung ablehnt. In allem Wesentlichen jedenfalls stimmt seine Interpretation mit der jüdischen überein. Von antijüdischer Polemik findet sich zumindest in unserem Zusammenhang keine Spur.Ⱥ94 Im Gegenteil, Pererius scheint ihr sogar bewußt aus dem Weg zu gehen, wie seine Behandlung der Isaak-Typologie beweist, 89
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Vgl. bSanh 89b; BerR 56,4 und TanB 46 zu Gen 22,6. Besonders ausführlich ist die Version bei WҿћѠѐѕђ, Lehrhallen (Anm. 67), 5ř–55. Sowohl die Argumente des Pererius als auch die Tradition vom Auftreten des Teufels finden sich bei mittelalterlichen jüdischen Exegeten: Sѐѕњіѡѧ, Aqedat (Anm. 67), 10ř–111. Welcher Ausleger diese Überlieferung mit Hebr 11,17 in Verbindung brachte, weiß ich nicht. Vgl. Hђџњюћ Hюіљѝђџіћ, Rashi and the Christian scholars, Pittsburgh (Pennsylvania) 196ř. In diesem schönen Werk eines Rabbiners ist die Hälfte Nikolaus von Lyra gewidmet. Vgl. Sѐѕњіѡѧ, Aqedat (Anm. 67), 15ř–161; KѢћёђџѡ, Opferung (Anm. 67), Bd. 2, 1–65. Diese Auffassung könnte bereits in LAB (Ps.-Philo) 18,5 vorliegen. Diese Tradition hat übrigens eine bemerkenswerte Sachparallele in der indischen Überlieferung, in einer apokryphen Erzählung des Mahâbhârata. Vgl. Kќћџюё MђіѠіє, „Krieg und Gewalt im Hinduismus“, in: Aёђљ Tѕђќёќџ KѕќѢџѦ u. a. (Hgg.), Krieg und Gewalt in den Weltreligionen, Freiburg i. B. 200ř, 67–82, hier 7řf. Diese Verbindung stellt bereits das Jubiläenbuch her: Jub 17,15–18,19. Vgl. KѢћёђџѡ, Opferung (Anm. 67), 86–88. Näheres bei Lђ DѼюѢѡ, Nuit pascale (Anm. 86), 1ř1–212. Vgl. Sѐѕњіѡѧ, Aqedat (Anm. 67), 1ř–16. Das gilt auch von seiner „Disputatio contra Iudaeos“ im Rahmen der Auslegung von Gen 49,8–12.
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auf die wir gleich zu sprechen kommen. In all dem setzt Pererius eine Tradition fort, die im 12. Jahrhundert mit Petrus Comestor und den Viktorinern beginnt.Ⱥ95 c. Bezüge zum Neuen Testament Abraham brachte Gott seinen sterblichen Sohn als Opfer dar, ohne daß er zu sterben brauchte. Gott lieferte seinen unsterblichen Sohn um der Menschen willen dem Tod aus. OrigenesȺ96
Explizite Bezugnahmen auf unsere Perikope finden wir im Neuen Testament in Hebr 11,17–19 und Jak 2,21. Auch Röm 8,ř2 „der doch seinen eigenen Sohn nicht geschont hat“ ist wegen seiner Stichwortverbindung zu LXX Gen 22,12.16 als deutliche Anspielung auf diese Perikope zu werten.Ⱥ97 Diese Stelle wiederum zieht Joh ř,16 nach sich: „Denn so hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einziggezeugten Sohn dahingab […]“. Pererius zitiert diese Stellen, wo es sich ergibt, geht aber nicht eigens darauf ein. Er zieht jedoch noch weitere Texte aus dem Neuen Testament heran, entweder im Zusammenhang mit typologischen Bezügen oder weil die Diskussion einer theologischen Sachfrage darauf führt. Letzteres ist der Fall beim Thema der Versuchung, das in der 2. disputatio behandelt wird. Wie kann Gott einen Menschen in Versuchung führen, wo es doch im Vaterunser heißt: „Und führe uns nicht in Versuchung!“ und Jakobus ausdrücklich erklärt, Gott versuche niemanden (Jak 1,1ř) ? Ist das „Versuchen“ nicht ein Proprium des Teufels ? Pererius löst das Problem mit der traditionellen Unterscheidung von zwei Formen der Versuchung je nach Intention und Zweck: Der Teufel versucht mit anderer Absicht als Gott. Die Versuchungen des Teufels läßt Gott nur zu. Letztlich dienen aber alle Versuchungen der Bloßstellung der Bösen und der Bewährung und Vervollkommnung der Guten. Auch Ca95
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Zu Petrus Comestor vgl. die gründliche und differenzierte Untersuchung von LќѢіѠ H. Fђљёњюћ, „The Jewish Sources of Peter Comestor’s Commentary on Genesis in His Historia scholastica“, in: DђџѠ., Studies in Hellenistic Judaism (AGAJU ř0), Leiden 1996, ř17–ř47. Zum Mittelalter insgesamt vgl. Dюѕюћ, L’exégèse (Anm. 22), ř76–ř87. Orig., in Gen h. 8,8. Vgl. HђіѡѕђџȦRђђњѡѠ, Abraham (Anm. ř0), 169. ř56f. Vgl. HюћѠ-Jќюѐѕіњ SѐѕќђѝѠ, Paulus. Die Theologie des Apostels im Lichte der jüdischen Religionsgeschichte, Tübingen 1959, 144–152. Schoeps meint sogar, Paulus habe seine Sühnetheologie nach dem Modell der Aqedath Jischaq entwickelt. Diese These hat eine anhaltende Diskussion ausgelöst. Vgl. Pѕіљіѝ R. DюѣіђѠȦBџѢѐђ D. Cѕіљѡќћ, „The Aqedah: A Revised Tradition History“, in: CBQ 40 (1978), 514–546; C. T. Rќяђџѡ HюѦѤюџё, „The Sacrifice of Isaac and Jewish Polemic against Christianity“, in: CBQ 52 (1990), 292–ř06.
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jetans Meinung wird zitiert; danach ist das von Gott ausgesagte „in Versuchung führen“ als Metapher zu verstehen wie sein Zürnen, Schmerzempfinden und Bereuen. Außerdem weist Pererius darauf hin, daß auch Christus versucht wurde bis hin zum Kreuz, an dem er sich von Gott verlassen fühlte (Mk 15,ř4). Doch durch Paulus wissen wir, daß Gott niemanden über seine Kräfte hinaus „testet“ (1Kor 10,1ř). Von diesen Überlegungen her kommt Pererius zu dem Schluß, daß die Versuchung Abrahams einem doppelten Zweck diente: Sie sollte einerseits Abrahams Glauben und Gehorsam prüfen und andererseits auf das Opfer Christi vorausweisen (12; vgl. 46). Die Frage der 5. disputatio, wie Abraham annehmen konnte, jener Gott, der ihm die große Nachkommenschaft durch Isaak verheißen hatte, könne jetzt die Opferung eben dieses Sohnes verlangen, löst Pererius u. a. mit dem Hinweis auf Hebr 11,19: Abraham rechnete mit der Wunderkraft Gottes, die sogar Tote erwecken kann. Das ist auch ein jüdischer Topos.Ⱥ98 Auch die Frage der 6. disputatio nach der ‚Lüge‘ Abrahams bei seiner Auskunft den Knechten gegenüber („Wir werden zurückkehren“) (Gen 22,5) wird schon bei Augustinus mit Hinweis auf Hebr 11,19 beantwortet.Ⱥ99 Pererius zitiert als weitere Lösungsmöglichkeit die des Ambrosius, der hier eine unbewußte Prophetie annimmt (ř6),Ⱥ100 und als dritte „eine neue und scharfsinnige, voller metaphysischer Subtilität“, die Cajetan und „über 200 Jahre“ vor ihm „Thomas Anglus“ (= Thomas Waleys OP, † ca. 1ř49) vorgeschlagen hätten: Die übernatürlichen Möglichkeiten Gottes bleiben in der Alltagsrede unberücksichtigt (ř7f.).Ⱥ101 Die Wahl zwischen diesen Möglichkeiten überläßt Pererius dem Leser. In der modernen Kommentarliteratur liest man gelegentlich, die ganze Frage sei „töricht“Ⱥ102 oder „fehl am Platze“.Ⱥ10ř In der 2., 8. und 11. disputatio geht Pererius auf die Frage der Typologie ein, die für ihn ein Element des Literalsinns ist. Unter allen Präfigurationen des Kreuzesopfers Christi sei keine klarere als diese. „Denn 98 Vgl. Sap 16,1ř; Tob 1ř,2; 2. Benediktion des Achtzehngebets. Indirekt scheint dieser Topos auch in BerR 56,1 zu Gen 22,4 auf, wo unter den Belegstellen für die Rettung am dritten Tag auch Hos 6,2 und Jona 2,1 zitiert werden. 99 Aug., civ 16,ř2. 100 Ambr., Abr I 8 (71): „prophetavit quod ignorabat“. So auch BerR 56,2 zu Gen 22,5 und Raschi: „Er weissagte, daß sie beide wiederkehren würden“ (zitiert nach Sѐѕњіѡѧ, Aqedat [Anm. 67], 67. 125). Dagegen geht Ibn Esra von einer wissentlichen Lüge Abrahams aus (vgl. Gen 27,19). Vgl. Sѐѕњіѡѧ, Aqedat (Anm. 67), 12řf. Ebd., 119–1ř0 zu Abraham als Typ des Propheten. 101 Vgl. TѕќњюѠ ѣ. AўѢіћ, Postilla (Anm. řř), 119. 102 So Zіњњђџљі, 1. Mose 12–15 (Anm. 59), 111. 10ř So WђѠѡђџњюћћ, Genesis (Anm. 60), 4ř9.
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hier ist deutlich vorgebildet, mit welcher Liebe Gott seinen einziggezeugten Sohn für unser Heil dem Tod überliefert hat [vgl. Joh ř,16], und wie groß wiederum der Gehorsam Christi war, der Gott seinem Vater gehorsam war bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz [vgl. Phil 2,8]“ (47). Beides, die Liebe Gottes wie der Gehorsam Christi, ist dabei in Abraham vorgebildet.Ⱥ104 Aber Pererius bezieht auch Isaak in die Typologie mit ein, dessen Holztragen seit dem 2. Jahrhundert auf das Kreuztragen Christi bezogen wird:Ⱥ105 „Deswegen hat auch Isaak, wie der Herr sein Kreuz, das Holz für sich zum Opferplatz getragen, auf das er selbst gelegt werden sollte“ (12). Und selbstverständlich sieht Pererius in dem Widder, den Abraham im Dorngesträuch hängen sieht, Christus vorausgebildet, „der, bevor er geopfert wurde, mit jüdischen Dornen gekrönt wurde“ (12). Zu dem „Hängen“ des Widders zitiert Pererius die Ausführungen des Ambrosius, der darin einen Hinweis auf Christi Hängen am Kreuz sieht (65).Ⱥ106 Die schwierigen textkritischen und semantischen Fragen (z. B. das „sabek“ der Septuaginta) behandelt er sachkundig und ausführlich (65–68). Die jüdisch-christliche Auseinandersetzung allerdings, die sich mit dieser Typologie seit Meliton von Sardes verknüpfte, erwähnt Pererius mit keinem Wort, und dies wohl kaum deshalb, weil er nicht darum gewußt hätte. Die jüdische Tradition nämlich sah in der Bereitschaft Abrahams, Gott seinen Sohn zu opfern, die Liebe Gottes zu Israel und die Zusage seines Schutzes begründet. Demgegenüber wiesen die frühen Christen darauf hin, daß es ja gar nicht zur wirklichen Opferung kam und Isaak deshalb lediglich der unvollkommene Typus Christi gewesen sei. Isaak wurde durch den Widder „ausgelöst“, Christus dagegen hat uns als das wahre Schlachtopfer „ausgelöst“.Ⱥ107 Diesem Streit geht Pererius dadurch aus dem Weg, daß er Philos Auffassung übernimmt, nach der Abrahams Tat, obwohl sie gar nicht zur Ausführung kam, doch als 104 Zu Abraham als Typos Gottes wie Christi bei den Vätern vgl. HђіѡѕђџȦRђђњѡѠ, Abraham (Anm. ř0), ř55–ř61. 105 Iren., haer IV 5,4 (FC 8Ȧ4, 42); Orig. fragm. in der sinait. Katene: CCSG 2,167; Tert., adv. Marc. III 18,2 (CCSL 1,5ř1f.); adv. Iud. 10,6; 1ř,21 (CCSL 2,1ř76.1ř88f.). 106 Ambr., Abr. I 8 (77f.). Greg. Nyss., de trid. (Opera IX 275, 1–14). Zum „Hängen“ des Widders und der dabei vorausgesetzten Lesart vgl. MюџєѢђџіѡђ Hюџљ, La Genèse (La Bible d’Alexandrie 1), Paris 1994, 195; CCSG 2, 182–184; Fџюћѧ NіјќљюѠѐѕ, „Zur Ikonographie des Widders von Gen 22“, in: VigChr 2ř (1969), 197–22ř, hier 215–222. 107 Vgl. Rќяђџѡ L. Wіљјђћ, „Melito, The Jewish Community at Sardis, and the Sacrifice of Isaac“, in: TS ř7 (1976), 5ř–69. Den griechischen Text der beiden hier behandelten Meliton-Fragmente bietet die sinaitische Katene: CCSG 2,171f. 180. Sollten die jüdischen Traditionen, die die Opferung Isaaks als tatsächlich vollzogen annehmen, eine Reaktion auf die christliche Sicht sein? Dieser Auffassung ist der jüdische Forscher KђѠѠљђџ, Bound (Anm. 67), 128. Vgl. ebd., 119–1ř7.
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„vollständig und vollkommen“ zu gelten habe.Ⱥ108 Der Schlußsatz seiner Nacherzählung gibt den entsprechenden Satz Philos wörtlich wieder: „Diese Tat wird nicht nur in den heiligen Schriften als vollgültige Tat überliefert, nicht anders als wäre sie tatsächlich zur Ausführung gekommen, sie muß auch in den Herzen der verständigen und frommen Leser eingemeißelt stehen.“ Im Zusammenhang mit der Frage nach der Identität des Berges Morija erwähnt Pererius auch die Identifizierung mit Golgota. Als Beleg für diese Auffassung zitiert er eine Predigt des Augustinus, in der dieser sich wiederum auf Hieronymus beruft. Trotz dieser Autoritäten wagt es Pererius, diese Identifizierung vorsichtig abzuweisen: Der Kalvarienberg sei außerhalb der Stadt gelegen, aber vielleicht ein Teil desselben Bergmassivs gewesen wie der Tempelberg (16). Wie recht Pererius mit seiner Skepsis hatte, beweist die heutige Erkenntnis, daß der hier bemühte „Hieronymus“ ein irischer Mönch des 7. Jahrhunderts warȺ109 und die Augustinus-Predigt, der Pererius das Zitat entnommen hatte, unecht ist.Ⱥ110 Die Identifizierung selbst ist auch anderswo bezeugt.Ⱥ111 Sie als rein typologisch-symbolische aufzufassen, fiel Pererius nicht ein. Er ist auch zurückhaltend gegenüber der Auffassung, die Wendung in V. 14 „Gott wird sich auf dem Berg sehen lassen“ sei eine Prophetie, daß der Sohn Gottes auf jenem Berg „als Erlöser der Welt“ erscheinen werde. Er erwähnt sie und fügt hinzu, auch die Septuaginta habe diese Stelle ähnlich interpretiert, indem sie ein Passiv statt eines Aktivs setzte und darin mit dem hebräischen Text übereinkomme.Ⱥ112 Darauf zitiert er 108 Philo, de Abr. 177. Das ist auch die Ansicht David Kimchis, zitiert bei Sѐѕњіѡѧ, Aqedat (Anm. 67), 159. 109 Nämlich (Ps.-)Hier., in Mc C. zu Mk 15,22 (PL ř0,6ř8). Vgl. Bђџћѕюџё BіѠѐѕќѓѓ, „Wendepunkte in der Geschichte der lateinischen Exegese im Frühmittelalter“, in: Sacris erudiri 6 (1954), 189–281, hier 199–202. 257–259. 110 Es ist der Sermo VI (b), De immolatione Isaac, den Migne in der PL im Appendix „Sermones supposititia“ führt: PL ř9, 1749–1751, hier 1751. Die nächste Predigt zitiert Pererius auch in 11, ř5 und 48 als „Augustinus“. 111 So in dem griechischen Dialogos pros Joudaious eines Anonymus aus dem 6. Jahrhundert VIII (CCSG ř0,77f.) und in der sinaitischen Katene (anonym): CCSG 2,156. Ebd., 169f. ein Fragment von Euseb von Emesa. Belege aus Pilgerberichten des 6.–8. Jahrhunderts für einen Altar am Fuß von Golgota, den Abraham errichtet haben soll, gibt IѠюяђљ SѝђѦюџѡ ѣюћ Wќђџёђћ, „The Iconography of the Sacrifice of Abraham“, in: VigChr 15 (1961), 214–255, hier 229. 112 Statt „Dominus videbit“ (= Vulgata) habe die LXX „visus est sive apparuit: per passivum vertentes, non autem per activum, in quo differunt a Latina versione et congruunt cum Hebraea versione: Verum ab utraque differunt, quod ex futuro faciunt praeteritum, fortasse quia moris est linguae Hebraeae futurum ponere pro praeterito“ (72). Daß „visus est“ und „apparuit“ Vetus Latina-Lesarten sind, weiß Pererius offenbar nicht. Zu den Lesarten vgl. Hюџљ, La Genèse (Anm. 106), 195.
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noch die „chaldäische“ Version, die hier einen ganz abweichenden Text habe und auf den künftigen Tempelgottesdienst hinweise (72). Mit dieser Feststellung schließt Pererius die 11. disputatio, ohne weiter auf die christlich-typologische Deutung einzugehen. In der 14. disputatio behandelt Pererius Gal ř, weil Paulus dort aufgrund der in Gen 22,17 bekräftigten Verheißung argumentiert, daß die Rechtfertigung nicht durch das Gesetz des Mose, sondern durch den Glauben an Christus erlangt wird. Das größte Problem steckt in Gal ř,16. Dort bezieht sich Paulus darauf, daß die Verheißungen Abraham und seinem „Samen“ gegeben sind. Aus dem Singular „Same“, den auch Gen 22,17 hat, schließt Paulus, daß es sich um den Messias, also Christus handeln müsse.Ⱥ11ř Das scheint auf den ersten Blick sophistisch („leve admodum ac frivolum“), meint Pererius. Denn das entsprechende Wort sei in der übertragenen Bedeutung „Nachkommenschaft“ ein „Singulare tantum“ und ein „Collectivum“. Aber das sei natürlich auch einem Gelehrten wie Paulus klar gewesen. Das entsprechende hebräische Wort könne jedoch je nach Kontext auch einzelne Personen meinen, z. B. in Gen 4,25 und Gen 21,1ř. Und diese Bedeutung sei auch für 22,17 anzunehmen. Denn diese Verheißung könne weder alle noch viele Nachkommen Abrahams betreffen, also müsse sie sich auf einen einzelnen seiner Nachkommen beziehen. Damit ergibt sich für Pererius freilich noch ein weiteres Problem: Wenn eine einzelne Person gemeint sein muß, warum dann nicht David oder Salomo (vgl. Ps 72,17)? Wie kommt Paulus darauf, daß hier der Messias gemeint ist? Cajetans Antwort, Paulus habe eben den Heiligen Geist, der auch die Schrift inspiriert habe, genügt Pererius nicht. Sie sei nicht „conveniens proposito Pauli“, der hier gegen Juden bzw. judaisierende Christen argumentiere. Die Antwort, die Pererius schließlich gibt, ist überraschend modern: Paulus wußte von seinem Lehrer Gamaliel, daß diese Verheißung allgemein auf den Messias gedeutet wird (94).Ⱥ114 Im übrigen beziehe sich der 72. (71.) Psalm nur „figurate“ auf Salomo, „proprie“ aber auf Christus; denn seine weitreichenden Verheißungen hätten sich nur in ihm erfüllt (95). Nirgends wird die Modernität des Pererius so deutlich wie in diesem Argumentationsgang. Denn hier kann er nicht auf Vätertexte zurückgreifenȺ115 und argumentiert auf dieselbe Weise wie ein historisch-
11ř Zu dieser rabbinischen Argumentationsfigur mit Hilfe des Numerus vgl. JќѠђѝѕ BќћѠіџѣђћ, Exégèse Rabbinique et exégèse Paulinienne, Paris 19ř9, 147f. 298f. (zu Gal ř,16). 114 Pererius verweist auf verwandte messianische Weissagungen: Gen 49,10; Ps 22,28; Jes 11,10; Hag 2,8. 115 Hieronymus bemerkt in seinem Galaterkommentar zur Stelle zwar, daß semen im Hebräischen nur im Singular vorkommt, geht aber auf das Problem des Pererius
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kritischer Exeget heutzutage. Die historische Hypothese, mit der er das gestellte Problem löst, kann sich auch auf dem heutigen Forschungsstand sehen lassen.
ř. Traditionsverbundenheit und Modernität Der Kommentar des Pererius zu Gen 22 steht einerseits deutlich in der Tradition der mittelalterlichen Kommentarliteratur, weist aber andererseits nach Form und Inhalt viele Elemente auf, die dem Humanismus angehören und in die Zukunft weisen. Zu diesen Elementen gehören das philologische Interesse an der Bedeutung schwieriger Wörter, an Textvarianten und -versionen sowie das geographische Interesse. So bezieht sich Pererius in seinen Ausführungen über den Tempelberg und seine Geschichte auf die „Descriptio Terrae Sanctae“ des Dominikanermönches Burchard (Borchard) (17). Diese Palästinabeschreibung „ist der bedeutsamste Text aus der Kreuzfahrerzeit und war während der folgenden drei Jahrhunderte das klassische Handbuch der Geographia Sacra, da es nicht nur Devotionsgegenstände beschreibt, sondern mit wissenschaftlichem Ernst territorialgeschichtliche Beobachtungen anstellt“.Ⱥ116 Aber die Neuerungen des Humanismus greifen tiefer. Das zeigt sich, wenn man die Fragen betrachtet, die Pererius stellt, und die Antworten, die er gibt, und diese mit einem typisch scholastischen Genesiskommentar vergleicht, den er kennt und unter dem Namen „Thomas Anglus“ oder „Angelus“ mehrfach zitiert. Dieser Kommentar wird häufig Thomas von Aquin zugeschrieben, aber Pererius weiß offenbar, daß sein wahrer Verfasser der kurz nach 1ř49 verstorbene Dominikaner Thomas Waleys (Wallensis) ist, der in Oxford wirkte.Ⱥ117 Von den Themen der 15 Disputationen bei Pererius begegnen fast alle bereits bei Waleys. Auch die Einzelfragen und Argumente bei Waleys hat Pererius großenteils übernommen. Aber zwei Themen und Fragenkomplexe fehlen bei nicht ein (vgl. PL 26,ř90BȦC). Das gilt auch von den übrigen Vätern. Für Auskünfte dazu danke ich Dr. Martin Meiser, Mainz. 116 Oѡѕњюџ KђђљȦMюѥ KҿѐѕљђџȦCѕџіѠѡќѝѕ Uђѕљіћєђџ, Orte und Landschaften der Bibel, Bd. 1, Einsiedeln-Zürich 1984, 450. 117 Vgl. Sіњќћ, Histoire critique du Vieux Testament (Anm. 1ř), 41ř; DђџѠ., Histoire critique des principaux commentateurs du Nouveau Testament (Anm. 8), 476f. Zum Autor vgl. BђџѦљ SњюљљђѦ, „Thomas Waleys O. P.“, in: AFP 24 (1954), 50–107. „Like other members of his Order, he combined his duties as theologian and preacher with a love for pagan antiquity“ (ebd., 50). Hinsichtlich der Zuschreibung des Genesiskommentars ist sie allerdings unsicher (ebd., 57). Ich sehe aber keine andere Identifikationsmöglichkeit. So auch Dюѕюћ, L’exégèse (Anm. 22), 118.
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Waleys noch vollständig: der religionsgeschichtliche Vergleich der 11. disputatio und die Behandlung von Gal ř in der 14. disputatio. Derartige Probleme und Fragestellungen sind dem Mittelalter noch fremd. Andererseits läßt Pererius auch etwas vollständig weg, was in mittelalterlichen Kommentaren gewöhnlich eine wichtige Rolle spielt: die Allegoresen. Diese skizziert Waleys in zwei Reihen: „pro mysteriis“ und „moraliter“. Die erste Reihe sieht in der Geschichte eine Allegorie für das Opfer des Gottessohnes, in der der Packesel für das mit dem Kultgesetz beladene Volk der Juden steht und die beiden Jungknechte für Priester und Propheten. Die zweite Reihe sieht in der Geschichte eine Allegorie auf das „holocaustum devoti affectus, quod fit in monte contemplationis“.Ⱥ118 In dieser Allegorese steht der Packesel für die „vita activa“, die beiden Jungknechte für den „rationalis intellectus et rationalis affectus“, die an dem Opfer auf dem Berg der Kontemplation keinen Anteil haben.Ⱥ119 Eine entsprechende Allegorese skizziert auch Nikolaus von Lyra in seiner Postilla moralis.Ⱥ120 Auf Allegoresen dieser Art verzichtet Pererius nach Auskunft der Einleitung seines Kommentars aus zwei Gründen: Erstens könne man mit Allegoresen nicht dogmatisch argumentieren,Ⱥ121 und zweitens gebe es so viele mystische Sinne, wie sie sich einer ausdenken kann und will („quanta est hominum ad eos sensus fingendos solertia et ubertas ingenii“) (lib. I, 6). Deswegen kümmert er sich auch um Philos Allegoresen nicht und behält nur eine äußerst restriktive Auswahl typologischer Bezüge bei. Das ist die Haltung der kritischen Exegese geblieben bis ins 19. Jahrhundert hinein. Danach konnte man auch mit Typologien nicht mehr viel anfangen. Auch die scholastische Kommentarform mit ihren sachlich geordneten und durchnumerierten Fragen und Unterfragen, wie man sie bei Thomas Waleys findet, ist bei Pererius zugunsten einer am Text entlanggehenden Anordnung aufgesprengt. Nach Bedarf schiebt er exegetische Erläuterungen ein, die mit der Überschrift der entsprechenden disputatio nichts zu tun haben, da er den ganzen Text auslegen will. Das kommt der modernen Kommentarform schon recht nahe. Noch deutlicher zeigt sich die Modernität des Pererius im kritischen Umgang mit den früheren Auslegern. Er zitiert namentlich alle wichtigen Kirchenväter, die sich zu unserem Text geäußert haben, und weist auch darauf hin, wenn sie uneins sind, wie etwa in der Frage, ob Abraham Sara etwas von Gottes Befehl gesagt hat (d. 1 [ř]). Er zitiert die 118 Vgl. Vulg. Gen 22,2: Vade in terram Visionis atque offer eum ibi holocaustum. 119 Text in der in Anm. řř zitierten Ausgabe 121f. 120 Den Text findet man in der Ausgabe seiner großen Postille, die 1617 in Douai erschien. Zu dieser Postilla moralis vgl. Hюіљѝђџіћ, Rashi (Anm. 90), 141f. 121 Vgl. Thomas v. Aquin, STh I 1,10 ad 1.
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wichtigsten mittelalterlichen Kommentare: Rupert von Deutz († 1129Ȧř0), Thomas Waleys († 1ř49), Nikolaus von Lyra († 1ř49), Paulus von Burgos († 14ř5), Alphonsus Tostatus († 1455). An diese Reihe schließen sich die humanistisch geprägten Kommentare an: Cajetan (Thomas de Vio) († 15ř4), Fran³ois Vatable († 1547), Luigi Lippomani († 1559), Hieronymus Oleaster (Jerónimo de Azambuja) († 156ř), Juan de Ribera († 1591). Protestantische Autoren begegnen, soweit ich sehe, nirgends. Freilich wäre auch wenig in Frage gekommen, was Pererius hätte benutzen können. Außer den Kommentaren der Reformatoren ƺ im Fall von Luther und Zwingli lediglich Hörernachschriften ƺ war an großen Genesiskommentaren nur das Werk von Wolfgang Musculus († 156ř) erschienen.Ⱥ122 Der Kommentar von Johannes Merker (Jean Mercer) († 156ř), dem Nachfolger von Vatable in Paris, erschien erst 1598 ƺ zu spät für Pererius.Ⱥ12ř Das Neue gegenüber dem Mittelalter besteht nun nicht nur darin, daß diese Autoren namentlich mit bibliographischen Angaben und genauen Belegstellen zitiert, sondern auch diskutiert werden. Meinung wird gegen Meinung gesetzt und entweder entschieden, welche die beste ist, oder es werden mehrere Möglichkeiten offengelassen. Derartiges ist im Mittelalter nur in Ausnahmefällen möglich, in der „kritischen“ Exegese dagegen eine Selbstverständlichkeit. Trotz solcher Neuerungen jedoch ist Pererius ein konservativer Ausleger. In allen wichtigen Punkten bleibt er bei der alten, von den Vätern begründeten Deutungstradition. Diese findet man in einem einzigen Satz zusammengefaßt bei Cyrill von Alexandrien, der von Abraham sagt: „Er hat das geistige Opfer dargebracht,Ⱥ124 indem er den natürlichen Gesetzen Ade gesagt, den Stachel der unausbleiblichen Kindesliebe niedergetreten und nichts Irdisches der Liebe zu Gott vorgezogen hat.“ (ΔΕΓΗΉΎϱΐΊΉ ·ΤΕ Θϲ ΏΓ·ΎϲΑ ϡΉΕΉϧΓΑ, Ύ΅Ϡ ΘΓϧΖ ΘϛΖ ΠϾΗΉΝΖ ΑϱΐΓΖ πΕΕЗΗΌ΅ ΠΕΣΗ΅Ζ, Ύ΅Ϡ ΘϛΖ ΦΔ΅Ε΅ΘφΘΓΙ ΠΏΓΗΘΓΕ·ϟ΅Ζ Δ΅ΘφΗ΅Ζ Θϲ ΎνΑΘΕΓΑ, Ύ΅Ϡ ΘЗΑ πΔ·ΉϟΝΑ ΓЁΈξΑ ΘϜ ΉϢΖ ΌΉϲΑ ΦΑΘΔ΅ΕΉΒΣ·ΝΑ Φ·ΣΔϙ.)Ⱥ125 Und ich bin der Meinung: Auch von den heutigen Einsichten her haben wir keinen Grund, diese Deutung aufzugeben. Das gilt auch von der weitergehenden Folgerung, die schon Irenäus zieht: „Mit Recht nehmen auch wir, die wir denselben Glauben haben wie Abraham, das Kreuz 122 Vgl. Lђџѐѕ, Isaaks Opferung (Anm. 14), 156–202 (Reformatoren). 228f. (Musculus). Der Kommentar von Musculus erschien in Basel 1554. Ich danke Daniel Bolliger für die Vermittlung des Textes. 12ř Jќюћћі Mђџѐђџі in Genesim […] commentarius nunc primum in lucem editus, addita Th. Bezae praefatione, Genf 1598. Dazu Lђџѐѕ, Isaaks Opferung (Anm. 14), 210–212. 124 Cyrill denkt wohl an Röm 12,1. 125 Cyr. Alex., Glaph. in Gen (PG 69, 148A). Auch zitiert in der sinaitischen Katene: CCSG 2,170.
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auf uns wie Isaak das Holz und folgen ihm [Christus] nach“.Ⱥ126 Dabei spielt es keine Rolle, ob man diese Geschichte als historischen Bericht begreift wie die Väter und noch Pererius oder als Legende.Ⱥ127 In diesem Zusammenhang darf man auch daran erinnern, daß diese Perikope zum festen Bestand der Lesungen in der Osternachtsfeier gehört, und dies seit ältester Zeit.Ⱥ128 Auch in einem bis heute gebräuchlichen Gebet des römischen Meßkanons, das aus dem 4. Jahrhundert stammt, wird des Opfers „unseres Vaters (lat.: Patriarchen) Abraham“ gedacht.Ⱥ129 Werfen wir von diesem Befund her noch einmal einen Blick auf die Urteile von Richard Simon und David Lerch, von denen wir ausgegangen waren. Beide werden unserem Autor nicht gerecht. Pererius ist kein Kompilator, der nur Quellen sammelt und Autoritäten zitiert; er argumentiert und urteilt. Und sein Hauptanliegen ist es nicht, die Meinungen der Väter und ihre Allegoresen zu referieren; er beschränkt sich vielmehr auf den Literalsinn. Zu diesem rechnet er auch die traditionellen typologischen Bezüge auf Christus.Ⱥ1ř0 Und er ist mehr an Fragen der Kritik interessiert, als Simon bei seinem Blättern bemerkt hat. Was er mit seinem Werk beabsichtigte, war, dem Leser in allen für die Auslegung des biblischen Textes wichtigen Fragen die bedeutenden Gesichtspunkte, Argumente und Antworten der bisherigen Exegese ƺ jüdischer wie christlicher ƺ vorzuführen und ihm ein eigenes, begründetes Urteil zu ermöglichen. Das hat er auch erreicht. Und bei aller Ausführlichkeit kann man ihn nicht einmal weitschweifig nennen. Wenn ihm gewisse Gesichtspunkte noch fehlten, Probleme nicht aufgingen und Dinge unwichtig schienen, die andere sehr wichtig nehmen (oder umgekehrt), so kann man ihm daraus keinen Vorwurf machen. Das geht uns allen so.
126 Iren. haer. IV 5,4 (FC 8Ȧ4, 42). Griechischer Text in der sinaitischen Katene: CCSG 2,151. Der Text auch bei Prokop (ebd.) mit einer Korrektur: „Laßt auch uns […] ihm nachfolgen“ (¢kolouqîmen). 127 Zur Frage der Geschichtlichkeit und der modernen Forschungspositionen vgl. Aљюћ R. Mіљљюџё, „Abraham“: in: ABD 1 (1992) ř5–41, hier ř6–40. Millard hält freilich an der Möglichkeit fest, daß es sich um eine „reale Person“ handelt, „deren Lebensgeschichte, wie immer überliefert, zuverlässig bewahrt ist“ (ebd., 40). 128 Vgl. HюћѠїҦџє юѢѓ ёђџ MюѢџ, Feiern im Rhythmus der Zeit, Bd. 1 (Handbuch der Liturgiewissenschaft 5), Regensburg 198ř, 72. 9ř (Listen). 129 Vgl. JќѠђѓ AћёџђюѠ JѢћєњюћћ, Missarum Sollemnia, Bd. 2, Wien 41958, 284–286. Es ist das Gebet „Supra quae“, heute Teil des Ersten Hochgebets. 1ř0 Das tut auch Richard Simon selbst noch: SюѠѐѕю Mҿљљђџ, Kritik und Theologie. Christliche Glaubens- und Schrifthermeneutik nach Richard Simon (1638–1712) (MThS 66), St. Ottilien 2004, 248–255. Der Grund dafür sind also wohl kaum „die Auseinandersetzungen mit den Schwärmern seiner Zeit“ (ebd.).
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Anhang: Die auf Philo und Josephus basierende Nacherzählung der Perikope bei Pererius Abraham liebte seinen Sohn Isaak über die Maßen. Denn dieser war sein einziges Kind, das ihm im Greisenalter, als auf Nachkommenschaft schon keine Hoffnung mehr war, durch eine übernatürliche Gunst Gottes geschenkt worden war. Die Zuneigung des Vaters wurde auch durch den Knaben seinerseits gesteigert, indem dieser sich eifrig um die Tugenden mühte, vor allem aber dadurch, daß er seine Eltern und Gott in Ehren hielt. Der Gedanke an einen solchen Erben seiner Güter ließ Abraham unbeschwert den Tod erwarten. Aber Gott dachte seinem Glauben und seinem Gehorsam eine Anfechtung zu. Er erschien ihm und erinnerte ihn an all die Gaben, die er bisher von ihm empfangen hatte, und befahl ihm, seinen Sohn ihm als Opfer darzubringen auf dem Berg Morija, der drei Tagesreisen entfernt war. Abraham, der seinen Sohn unsäglich liebte, widersprach nicht und ging unverzüglich, als sei ihm etwas ganz Leichtes und Erfreuliches befohlen, an die Ausführung des Auftrags. Er hätte es für frevelhaft gehalten, Gott in irgendeiner Sache ungehorsam zu sein, da doch alles, was im Menschen Gutes ist, nur Seine Gunst und Gabe ist. So überwand er durch die größere Liebe zu Gott die Liebe zu seinem Sohn. Also verheimlichte er seiner Frau sowohl den Auftrag Gottes als auch seinen Entschluß zur Schlachtung des Knaben, teilte auch keinem der Hausgenossen etwas von dem Gotteswort mit, nahm aus seiner zahlreichen Dienerschaft die ältesten und treusten mit sich und tat so, als wolle er eine heilige Handlung der üblichen Art verrichten. So nahm er Isaak und die beiden Knechte mit sich und zog zu dem Berg, auf dem später der salomonische Tempel gebaut wurde. Zwei Tage lang wanderte er in Begleitung der Knechte. Am dritten Tag, als der Berg von ferne in Sicht kam, ließ er sie in der Ebene zurück und stieg allein mit dem Knaben, der das Holz trug, auf den Berg. Er trägt Steine zusammen und errichtet einen Altar, aber nirgends ist ein Opfertier zu sehen. Da sagt Isaak: „Sieh, Vater, hier ist Feuer und Holz, aber wo ist das Opfertier?“ Welcher andere wäre, im Bewußtsein seines geheimen Vorhabens und bei klarem Verstand, bei diesen Worten nicht erschüttert in Tränen ausgebrochen und hätte seinen Vorsatz enthüllt, da er nicht mehr imstande gewesen wäre, sein Gefühl zu zügeln? Aber jener stand wie ein Fels, unbeweglich und ohne Änderung der Haltung des Körpers oder des Sinnes; sein Gesicht blieb gefaßt, noch gefaßter sein Verstand. „Mein Sohn“, sagte er, „auch wenn hier kein Opfertier zur Hand ist, Gott wird sich schon ein Opfer vorsehen. Denn für ihn ist alles möglich, auch das, was Menschen nicht fertigbringen.“ Mit diesem Wort ergreift er geschwind den Sohn und legt ihn auf den Altar. Dieser indessen wehrt
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sich nicht, obwohl er schon erwachsen war und fünfundzwanzig Jahre zählte. Schon war das Messer ergriffen und die erhobene Rechte des Vaters zuckte, um den Sohn abzustechen, da ruft ihn ein Engel aus der Höhe an und verhindert die Tat. Er befiehlt, dem Knaben kein Unrecht anzutun, und redet ihn dabei zweimal mit „Abraham“ an, um ihn an der Ausführung der Schlachtung zu hindern. Darauf verschaffte ihnen Gott überraschend ein Opfertier. Sie aber, wie sie sich unverhofft wieder hatten und von ihrem eigenen Glück und dem ihrer Nachkommen hörten, den Verheißungen Gottes, fühlten sich wie neu geboren und fielen sich in die Arme. So wurde der Knabe auf wunderbare Weise am Leben erhalten, indem Gott die Tugend des Vaters belohnte und mit dem Freund wetteiferte in gegenseitigen Liebeserweisen (officia). Diese Tat wird nicht nur in den heiligen Schriften als vollgültige Tat überliefert, nicht anders als wäre sie tatsächlich zur Ausführung gekommen, sie muß auch in den Herzen der verständigen und frommen Leser eingemeißelt stehen.
Die Sprache der Künstler Der künstlerische Diskurs Rembrandts und seiner Zeitgenossen über die „Opferung Isaaks“ von CѕџіѠѡіюћ Tҿњѝђљ In der kunsttheoretischen Literatur der frühen Neuzeit wurde darüber gestritten, ob die Malerei, Literatur oder Musik am besten geeignet sei, das menschliche Drama – wie es in Historien aufgezeichnet ist – zu versinnbildlichen.Ⱥ1 Sind diese Darstellungen gleichwertig – ut pictura poesis – oder gibt es eine Königsdisziplin, fragte man sich. Manche Kunsttheoretiker waren der Ansicht, daß die Gestaltungsmittel der Maler denen der anderen medialen Vermittler überlegen seien, weil sie das ganze Drama in einem einzigen Moment zu verdichten vermögen, während die anderen Künste sie erst im zeitlichen Nacheinander mit vielen Worten und in vielen unterschiedlichen Szenen entfalten könnten.Ⱥ2 In seiner berühmten monumentalen Komposition ‚Das Opfer Abrahams‘ (Abb. 1) mit fast lebensgroßen Figuren hat Rembrandt zu zeigen versucht, daß Künstler in der Tat die ganze Tragik dieser Geschichte in einem einzigen Bild zusammenfassen können.Ⱥř Als Abraham die Opferhandlung ausführen will, hat sich der Himmel geöffnet. Der Engel ist niedergefahren. In einer Haltung, die auf eindrucksvolle Weise das Herabfliegen und zugleich Ruhe ausdrückt, schwebt er über Abraham, 1
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ř
Ralf Georg Bogner, Nils Büttner, Joseph Imorde, Vanessa von der Lieth, Marius Reiser und Johann Anselm Steiger stellten mir die Manuskripte Ihrer Vorträge, die sie auf dem Emder Symposion gehalten haben, zur Verfügung. Dafür bin ich ihnen zu Dank verpflichtet, weil ich so trotz meines Fernbleibens einen Gesamteindruck von dem Gedankenaustausch erhielt und ihre Ergebnisse reflektieren konnte. RђћѠѠђљюђџ W. Lђђ, Ut pictura poesis. The humanistic Theory of Painting, New ork 1967; Triumph und Tod des Helden. Europäische Historienmalerei von Rubens bis Monet, hg. v. Eјјђѕюџё MюіȦAћјђ Rђѝѝ-Eѐјђџѡ, Ausst.-Kat. Köln u. a. 1987f. Aяџюѕюњ BџђёіѢѠ, Rembrandt, bearb. v. HќџѠѡ GђџѠќћ, LondonȦNew ork 1969, 498; CѕџіѠѡіюћ Tҿњѝђљ, Rembrandt. Mythos und Methode, Königstein i. T. u. a. 1986, 9; A Corpus of Rembrandt Paintings. Stichting Foundation Rembrandt Research Project, bearb. v. JќѠѢю BџѢѦћ u. a., Den Haag u. a., Bd. 1ff., 1982ff., A 108.
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umfaßt mit der Rechten dessen Handgelenk, mit der erhobenen Linken gebietet er Einhalt. Durch den plötzlichen Zugriff fällt das Messer aus Abrahams Hand. Denn Abraham hatte das Messer schon aus der Scheide gezogen und es erhoben, um Isaak zu schächten. Der reichverzierte, gekrümmte Dolch ist dem von Verzweiflung und Schrecken gezeichneten Abraham aus seiner Hand geglitten, fällt herab, zielt noch wie ein Pfeil auf die Kehle des Knaben, wird sie aber nicht treffen, sondern zu Boden fallen. Der bis auf das Lendentuch entkleidete Isaak liegt mit angewinkelten Beinen und auf den Rücken gedrehten Armen auf dem Boden, mit dem Rücken gegen den Scheiterhaufen gedrückt, auf dem sein Leichnam nach der Schlachtung verbrannt werden sollte. Auf den Körper des Knaben trifft der Blick des Betrachters zuerst, denn hell leuchtet dessen Haut im Licht auf. Der Anblick des bloßen Körpers mit dem heruntergedrückten Kopf wirkt schockierend. Mit seiner Linken drückt Abraham den Kopf nach unten, so daß sich die Kehle für den Schnitt beim Schächten vorwölbt, und bedeckt zugleich mit der Hand die Augen seines Sohnes. Diese Gebärde wirkt durch ihre Entschlossenheit grausam, zugleich aber auch schützend, als wolle er dem Knaben den Anblick des Messers im Augenblick des Tötens ersparen. Im Verismus der Darstellung berührt sich Rembrandt hier mit Caravaggio (Abb. 20). In dessen Gemälde drückt Abraham Isaak so brutal auf den Opferstein, daß dieser vor Schmerz und Angst aufschreit. Damit verglichen zeigt Rembrandts Werk bei aller Grausamkeit noch menschliche Züge: Abraham ist – wie es eine jüdische Legende schildert – bei seiner furchtbaren Aktion grau geworden; seine Augen blicken starr vor Schrecken, Spuren von Tränen laufen seine Wange herab (Abb. 7 und 8). Er ist noch so sehr von Gottes unmenschlicher Forderung gezeichnet, daß sich die Freude über die Rettung noch nicht in seinem Gesicht abzeichnet. Im Hintergrund gibt Rembrandt links unter den dunklen Wolken einen Ausblick auf eine Berglandschaft wieder und zeigt so den langen Weg zur Opferstätte, den Abraham und Isaak gemeinsam gingen – die delikat gemalte Landschaft erinnert dabei an die Werke von Hercules Seghers. Einem Schüler hatte Rembrandt ursprünglich – wie erst kürzlich eindrucksvoll von Marcus Dekiert durch sensationelle Infrarotreflektographie-Untersuchungen belegt werden konnte – den Auftrag gegeben, sein eindrucksvolles monumentales Gemälde exakt zu kopieren (Abb. 2).Ⱥ4 Ursprünglich war also auch der Engel genau so angelegt wie in dem St. Petersburger Gemälde (Abb. ř, 4 und 5).Ⱥ5 Dann aber wurde
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Vgl. dazu MюџѐѢѠ Dђјіђџѡ, Rembrandt. Die Opferung Isaaks (Monographien der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen o. Nr.), München 2004. Ebd., ř9ff. u. Abb. 24–27.
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der Mitarbeiter von Rembrandt offenbar beauftragt, die Komposition zu ändern. Der Engel sollte sich Abraham nun nicht mehr von der Seite, sondern vom Rücken her nähern, so daß die Überraschung des Erzvaters um so verständlicher würde. Solche Variationen der ursprünglichen Kompositionen Rembrandts in den Kopien fortgeschrittener Mitarbeiter gehörten zur Werkstattpraxis. Sie waren die Weise, wie die Schüler sich von dem Vorbild lösten und lernten, wenigstens im Detail zu neuer Gestaltung zu kommen. In der kunsthistorischen Literatur werden diese oft allzu hochgestochen schon als „aemulatio“ bezeichnet, also mit einem Begriff belegt, der bei van Mander nicht einmal vorkommt. Ich würde hier bescheidener von einer Variation sprechen. Bei diesem Umwandlungsprozeß spielte eine Zeichnung, die sich heute in London befindet, eine entscheidende Rolle (Abb. 6). Sie galt lange als Original Rembrandts, wurde dann dem Mitarbeiter, der das Münchener Bild schuf, zugeschrieben und wird neuerdings wieder als Vorlage des Meisters angesehen.Ⱥ6 Die schwankende Beurteilung hängt damit zusammen, daß die Strichführung durch die Lavierungen teilweise überdeckt wurde. Die sehr summarische Zeichnung gibt die gleich gestalteten Motive nur sehr ungenau wieder, die Proportionen sind dabei stark verzeichnet. Die Hände Abrahams befinden sich hier beinahe auf gleicher Höhe. Dadurch weist das Messer mit seinem Schaft nicht mehr auf den Hals Isaaks, sondern auf den Bauch, bzw. das Geschlecht Isaaks. Man kann diese Abweichungen damit erklären, daß man die Zeichnung als ersten Entwurf für das St. Petersburger Gemälde auffaßt. Rembrandt wäre dann im Laufe des Schaffensprozesses sowohl bei der Wiedergabe des Engels, der Landschaft (ohne Widder) und des Messers zu einer anderen Lösung gelangt. Oder man hält die Zeichnung für die Vorzeichnung des Münchener Gemäldes. Dann kann man die Veränderung der Armhaltung und die doppelte Wiedergabe des Messers als nicht intendierte Verzeichnung auffassen. Da es Rembrandt auf die Haltung des Engels ankam, hätte er dann nur das Messer ein zweites Mal gezeichnet. Das Münchener ‚Abrahamsopfer‘ trägt die Aufschrift „Rembrandt verandert en overgeschildert 16ř6“.Ⱥ7 Diese Notiz hat zu den abweichendsten Interpretationen geführt. Das Rembrandt-Research-Project kam zu dem Ergebnis, das Bild sei von einem Schüler gemalt, im übrigen aber
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Vgl. Oѡѡќ BђћђѠѐѕ, The Drawings of Rembrandt. A Critical and Chronological Catalogue, 6 Bde., London 1957, Bd. 1, Nr. 90; Mюџѡіћ RќѦюљѡќћ-KіѠѐѕ, Drawings by Rembrandt and his Circle in the British Museum, London 1992, 56–58. Dђјіђџѡ (Anm. 4), Abb. 49. Vgl. zu dieser Unterschrift die erhellenden Bemerkungen ebd., 48ff.
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auch nicht (von Rembrandt) verbessert worden, weil sich im Röntgenfoto keine einschneidenden Veränderungen aufweisen ließen.Ⱥ8 Wer tiefgreifende eigenhändige Eingriffe Rembrandts in die Bildstruktur erwartet, die als geniale Interventionen auf den ersten Blick für jedermann erkennbar sind, verkennt die Form seiner Korrekturen.Ⱥ9 Mit von Hubert von Sonnenburg und Marcus Dekiert bin ich darin einig, daß die eigenhändigen Eingriffe Rembrandts, die sich auf der Farboberfläche zu erkennen geben, ganz gering sind.Ⱥ10 Sie konzentrieren sich m. E. auf einzelne Verdeutlichungen und auf die Figur Isaaks. Der Schüler hat einen relativ groben Malstil (rauhe Manier), die Pinselstriche bleiben stehen, strukturieren kräftig durch ihren ornamentalen Charakter. Rembrandt läßt diese Struktur im Mittelgrund des Schulbildes stehen, akzentuiert hier und da in der Handschrift des Schülers, aber glättet die Malweise bei der Gestalt Isaaks, so daß – wie auch sonst im Werk Rembrandts – der Unterschied zwischen geglätteter und rauher Malweise als Mittel der Akzentuierung eingesetzt wird.Ⱥ11 Die Veränderung des Engels hat der Schüler im rauhen Stil vorgenommen. Gerade dadurch und durch die Verzeichnungen kommen Furcht und Schrecken, kommen die Überraschung und die Verzweiflung Abrahams, der die Rettung noch nicht wahrnimmt, noch stärker zum Ausdruck als in der eigenhändigen Fassung Rembrandts. Das wird besonders beim Vergleich der Antlitze Abrahams deutlich. Wie kommt Rembrandt dazu, Abraham nicht nur als den Glaubenshelden abzubilden, der im Vertrauen auf Gott sein Wort erfüllt, sondern als einen in seinen Grundfesten erschütterten, verzweifelten greisen Vater, dem die Tränen über die Wangen laufen (Abb. 7 und 8) und der – da er sich selbst überwinden muß – Isaak in seiner Verzweiflung wie ein Stück Schlachtvieh behandelt, dessen Kehle durch brutales Herunterdrücken zum Schächten mit dem Opfermesser freigelegt wird? Welche Bedeutung hat diese Geschichte für ihn selbst, aber auch für seine Zeitgenossen? Wie haben seine Kollegen auf diese provozierende Darstellung reagiert?
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Vgl. die Kommentare bei BџѢѦћ u. a., Corpus (Anm. ř), zu A 108. Dort auch die Röntgenaufnahme der Münchener Fassung. Die Röntgenaufnahme ist auch abgebildet bei Dђјіђџѡ (Anm. 4), Abb. 2ř. Vgl. CѕџіѠѡіюћ Tҿњѝђљ, „Rembrandt als Lehrender und Lernender“, in: Desipientia. 4Ȧ1 (1997), 24–ř6. Gespräch 1990; HѢяђџѡ ѣќћ SќћћђћяѢџє, Rembrandt / Not Rembrandt in the Metropolitan Museum of Art. Aspects of Connoisseurship, Bd. 1: Paintings. Problems and Issues, New ork 1995, ř6. Vgl. Cѕ. Tҿњѝђљ, Lehrender (Anm. 9), zur Korrektur auf Zeichnungen 29f., zum Münchener Bild řř.
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Als Rembrandt und seine Werkstatt sich mit dem Thema beschäftigten, setzten sie sich mit einem Sujet auseinander, das in der internationalen Graphik, Malerei und Bildhauerei zu den beliebtesten und am häufigsten abgebildeten aus dem Alten Testament gehörte und seit der frühen Christenheit immer wieder behandelt worden war. Schon in den Katakomben und auf den frühchristlichen Sarkophagen war es verbildlicht worden. Man sollte also meinen, daß die Weise, wie dieses Thema im Umkreise Rembrandts verstanden und gedeutet worden ist, geklärt sei. Das Gegenteil scheint der Fall. Dafür sind drei Gründe maßgeblich. Wir wissen nicht, wie Rembrandt und sein Kreis die AbrahamGeschichte verstanden haben – da hierüber keine schriftlichen Zeugnisse überliefert sind. Und bei der Auslegung der Geschichte schieden sich seit der Reformation die Wege. Wie in Rembrandts Umkreis diese Geschichte ausgelegt und ihre Verbildlichung durch Rembrandt rezipiert wurde, ist noch nicht ausreichend untersucht. Schließlich ist weder die ältere Bildtradition, von der Rembrandt ausging, noch die, von der er sich absetzte, vollständig erschlossen, noch ist untersucht, welchen Einfluß literarische und theatralische Inszenierungen hatten. Darum hier einige Anmerkungen zu dieser Problematik. Diese abgründigste aller Vätergeschichten verzichtet darauf, uns einen Blick in Abrahams Inneres zu geben. Sie berichtet nur, wie Gott Abraham versucht und ihn auffordert, seinen einzigen Sohn auf einem Berge im Lande Morija zu opfern. Am Morgen macht sich Abraham mit Isaak und zwei Dienern auf den Weg. Schweigend gehen Vater und Sohn drei Tage lang ihren Weg. Als Abraham im Angesicht des Berges die Diener zurückgelassen hat, fragt ihn Isaak ein einziges Mal, wo sich das Opfertier befinde. Abraham antwortet ausweichend, Gott werde es sich ersehen. Auf dem Berge schichtet Abraham die Holzscheite auf, bindet seinen Sohn und legt ihn auf die Holzscheite. Dann streckt er seine Hand aus und nimmt das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. Da ruft der Engel Jahwes vom Himmel herab und spricht: Abraham! Abraham! Er antwortet: Hier bin ich. Und er spricht: Strecke deine Hand nicht aus gegen den Knaben und tue ihm nichts, denn jetzt weiß ich, daß du gottesfürchtig bist. Als Abraham seine Augen erhebt, sieht er als Opfertier einen Widder, der sich im Gebüsch verfangen hatte. Der Engel wiederholt in einer zweiten Ansprache die Verheißungen Gottes an Abraham und beendet sie mit der Zusage, daß in Abraham alle Völker gesegnet sein sollen. In den ‚Jüdischen Altertümern‘ von Flavius Josephus werden einige Details anders berichtet, die dann vor allem in der barocken Bildtradi-
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tion auch des Rembrandtkreises Einfluß ausüben sollten.Ⱥ12 Das Gespräch zwischen Abraham und Isaak findet hier erst auf dem Opferplatz statt. Isaak erweist sich als frommer Sohn seines Vaters, der sich in Gottes Entscheidung fügt. Gott selbst unterbricht die Opferhandlung. Als Isaak gerettet ist, umarmen sich Vater und Sohn und opfern den Widder. Für die spätere Rezeption Abrahams und die Interpretation der Geschichte in der bildenden Kunst ist es wichtig, wie Abraham im Neuen Testament gesehen wird. Bei Paulus ist Abraham vor allem ein Vorbild des Glaubens, weil er der Verheißung vertraut hat (Gen 15,6) und ihm dies zur Gerechtigkeit gerechnet ist. Wegen seines standfesten Glaubens während der Versuchung ist er Stammvater Christi und sind in ihm alle Heiden gesegnet (Gal ř,16 unter Berufung auf Gen 22,18). Im Brief an die Hebräer wird Abrahams Lebensweg ebenfalls als Vorbild für den Glaubenden interpretiert.Ⱥ1ř Abraham folgte der Berufung und zog aus in das Land, das er erben sollte, ohne zu wissen, wo er hinkäme. „Durch den Glauben opferte Abraham den Isaak, da er versucht ward, und gab dahin den Eingeborenen, da er schon die Verheißungen empfangen hatte […] und dachte, Gott kann auch wohl von den Toten auferwecken; daher er auch ihn zum Vorbilde wiederbekam.“Ⱥ14 Für die mittelalterlichen Darstellungen wurde die typologische Interpretation, die die Kirchenväter der Erzählung gaben, prägend.Ⱥ15 Sowohl der Widder wie Isaak können als Vorbild Christi gedeutet werden, der Baum (in der ‚Vulgata‘: Strauch), in dem sich der Widder verfing, als Kreuz. Spätestens seit dem 10. Jahrhundert wird auch in der Kunst das Opfer Abrahams deutlich dem Kreuzigungsbild zugeordnet und seit dem 12. Jahrhundert der holztragende Isaak als Typus der Kreuztragung Jesu abgebildet.Ⱥ16 Beide Szenen wurden in den illustrierten und im Spätmittelalter in den gedruckten Versionen der ‚Biblia pauperum‘ und dem ‚Speculum humanae salvationis‘ als Präfigurationen der erwähnten neutestamentlichen Szenen aufgenommen. Sie hatten also neben ihrer wörtlichen noch eine typologische Bedeutung. Nach der typologischen Auslegung sind die Ereignisse des Neuen Testamentes in denen des Al12
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CѕџіѠѡіюћ Tҿњѝђљ, „Die Rezeption der Jüdischen Altertümer des Flavius Josephus in den holländischen Historiendarstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts“, in: Wort und Bild in der niederländischen Kunst und Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts, hg. v. Hђџњюћ VђјђњюћȦJѢѠѡѢѠ Mҿљљђџ HќѓѠѡђёђ, Erftstadt 1984, 17ř–204; ёђџѠ., „Die Rezeption der Jüdischen Altertümer des Flavius Josephus in den holländischen Historiendarstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts“, in: Im Lichte Rembrandts, hg. v. CѕџіѠѡіюћ Tҿњѝђљ, MünchenȦBerlin 1994, 194–206. Hebr 10,8–19. Hebr 11,17–19. EљіѠюяђѡѕ LѢѐѐѕђѠі Pюљљі, „Abraham“, in: LCI 1 (1968), 20–ř5, vgl. bes. 2řff. Ebd., 29f.
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ten Testamentes vorgebildet, das Alte Testament wird also nicht historisch gesehen. Theologisch bedeutsam ist nur der vorbildliche Sinn. Neben Werken, die die Geschichte typologisch interpretieren, stehen also auch solche, in denen ihr Wortsinn betont ist.Ⱥ17 So wurde in den Historienbibeln die Geschichte nach ihrem wörtlichen Sinn weitererzählt, Ergänzungen aus der antiken Geschichte kamen hinzu. In Schedels reich illustrierter Weltchronik aus dem Jahr 149ř sind zwar beide Szenen ‚Isaak trägt das Holz‘ und ‚Die Opferung Isaaks‘ abgebildet (Abb. 9). Der Text im Buch erzählt die Geschichte jedoch nur nach: Der soteriologische Gehalt wird nicht in der Präfiguration entdeckt, sondern im Gehorsam Abrahams: durch seinen Gehorsam wurde Abraham Vorfahre Christi: In dem Lxxxxviiij. Iar des alters Abrahe ist im got erschynnen verhayssende das im ein sun von seinem weyb Sara geporn wurd, den hieß er ysaac nennen. do nw ysaak Xxv. alt was und got Abrahans gehorsam beweren wolt do gepote er sein¾ sun im zeopffern. der flisse sich eylend die geheisse gottes zeerfüllen. Und do er zu d’ schlachtung des suns und auch zu dem altar zugetretten was. do erkennet er des menschen gehorsam. Und rueffet Abrah¬. Du solt nit außstrecken die hand in das kind: Nw hab ik erkannt ds du den herrn fürchtest. Und bracht pald unvürsehenlich einen wider zum opfer herfür. Und als abraham got gehorsam erschine in aufopferĀg seines suns ysaac, do beschahe im dise süsse verhayssung vç Cristo. also das got sprach zu im. in deinem namen werden gebenedeyet alle völcker dan du bist gehorsam gewest meiner stym.Ⱥ18
Wichtig für die Entfaltung einer wörtlichen Interpretation waren m. E. auch die Summarien. Die antike Tradition, Erzählungen und Beschreibungen kurz in ihrem Inhalt wiederzugeben und in ein paar Stichworten ihren gesamten Inhalt zusammenzufassen, förderte m. E. das wörtliche Verständnis beim Leser. In antiken Büchern waren den Kapiteln kurze Zusammenfassungen vorangestellt. Von nicht wenigen antiken Büchern kennen wir heute nur noch die Summarien. 17
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Vgl. hierzu CѕџіѠѡіюћ Tҿњѝђљ, „The Iconography of the Pre-Rembrandtists“, in: AѠѡџіё Tҿњѝђљ, The Pre-Rembrandtists, mit einem Vorwort v. Wќљѓєюћє SѡђѐѕќѤ u. einem Beitr. v. CѕџіѠѡіюћ Tҿњѝђљ, E. B. Crocker Art Gallery, Sacramento 1974, 126– 147, hier 126ff.; ёђџѠ., „Die Ikonographie der Amsterdamer Historienmalerei in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts und die Reformation“, in: Vestigia Bibliae. Jahrbuch des Deutschen Bibel-Archivs 2 (1980), 127–158; ёђџѠ., „Die Reformation und die Kunst der Niederlande“, in: Luther und die Folgen für die Kunst, hg. v. Wђџћђџ Hќѓњюћћ, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, München 198ř, ř09–ř21; Pђѡђџ ѣюћ ёђџ Cќђљђћ, Bilder aus der Schrift. Studien zur alttestamentlichen Druckgraphik des 16. und 17. Jahrhunderts (Vestigia Bibliae 2ř), Bern u. a. 2002, bes. 219ff. Hюџѡњюћћ Sѐѕђёђљ, Schedelsche Weltchronik, Nürnberg 149ř (fotomech. Nachdr. München 1965), XXIIV.
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Da dieser Brauch auch auf die Bibel übertragen wurde, stellte man den Kapiteln der Bibel eine Zusammenfassung der Historie in ihrem wörtlichen Sinn voran. Die ‚Biblia Sacra iuxta Vulgatam Clementinam‘ (1502) faßt die Geschichte der Opferung Isaaks im ‚Summarium‘ sehr knapp zusammen: „Oblatio Isaac (22)“. In den Kapitelüberschriften heißt es dann: „Deus tentat Abrahae obedientiam“ und „Dei iuramentum ad Abraham“.Ⱥ19 Die ersten Bibelübersetzungen in die Volkssprachen waren Übersetzungen nach der ‚Vulgata‘. In der ‚Kölner Bibel‘ wird dem gesamten Text der Genesis nicht nur eine kurze Übersicht über die wichtigsten Themen der einzelnen Bücher der Bibel vorangestellt, sondern auch darauf verwiesen, daß vor den einzelnen Kapiteln kurze Summarien als Titel abgedruckt sind.Ⱥ20 Die Überschrift über Gen 22 lautet: Dat. XXII. Capittel wo abraham gehorsam was gade to offeren sinen eynigen gebor¾ sone ende wo en got dar vmb louede ende ghebenedyede en ende Isaac.
Im späten Mittelalter wurde häufig der Weg Abrahams und Isaaks zur Opferstätte wiedergegeben und dann der Augenblick abgebildet, wo Abraham das Opfer mit dem Messer bzw. Schwert („arripuit gladium“ in der ‚Vulgata‘) vollziehen will, aber durch die Intervention des Engels an seiner Tat gehindert wird. Auch die ‚Kölner Bibel‘, etwa aus den Jahren 1478Ȧ1479, die für das Illustrationsprogramm der in Venedig und Lyon erscheinenden ‚Vulgata‘-Ausgaben grundlegend wurde, enthält die Darstellung des Weges zur Opferstätte wie das Opfer, wenn auch simultan in einem Bild (Abb. 10). Werden beide Szenen simultan abgebildet, so wird meist die Holztragung im Vordergrund wiedergegeben, während die Opferung im Hintergrund auf dem Berge geschieht. Das neue Verständnis für den geschichtlichen Zusammenhang zeigt sich in der Entwicklung der graphischen Einzelblätter und Serien, in denen diese Szene abgebildet ist. Waren bereits vor der Reformation von Schongauer, Dürer, und Lucas Cranach Serien zum Marienleben, zur Passion und zu den Heiligen herausgegeben worden, hatte Lucas van Leyden schon vor der Reformation das Leben von alttestamentlichen Helden in Serien illustriert: Nach der Reformation setzte sich die erzählerische Interpretation der Bibel in der Graphik schlagartig durch, und es wurden einzelne biblische Bücher oder das ganze Alte undȦoder Neue Testament illustriert; oder es wurde die Geschichte einzelner biblischer Helden, etwa Abrahams, Lots, Noahs etc., in einer Folge von Illustrationen behandelt. Außerdem wurden viele Szenen in Einzelblättern 19 20
Zitiert nach d. Neudr., 6. Aufl. 1972. De Keulse Bijbel 1478Ȧ1479 = Die Kölner Bibel, Köln 1478Ȧ1479; benutzt wurde die Faksimileausg. m. Sonderbd. v. Sюѝђ ѣюћ ёђџ WќѢёђ, De Keulse Bijbel 1478/1479 in het licht der historie [mit engl. u. deutscher Übers.], Alphen a. d. Rhijn u. a. 1979.
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verbildlicht. Zu dieser Hausse trug sicher die Reformation bei, und zwar durch die kritische Einstellung nicht nur Zwinglis, sondern anfänglich auch Luthers zur Stiftung von Altären. Da damit vielen Künstlern ein für ihre Existenz wichtiges Arbeitsgebiet entzogen wurde, wandten sich die Werkstätten einem Themen- und Arbeitsbereich verstärkt zu, der durch die Reformation ins Zentrum der Diskussion gerückt war: der Erschließung der Heiligen Schrift. In der Graphik wird die Opferung Isaaks dabei eine der häufig dargestellten alttestamentlichen Szenen. Wenn sie mit einem Text versehen wird, so wird meist der wörtliche Sinn der Historie nacherzählt. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Darstellung ein Einzelblatt oder Teil einer Serie oder einer Bilderbibel ist. Insofern förderten diese Illustrationen ein wörtliches Verständnis der biblischen Historien. Hierfür gebe ich einige Beispiele: Hans Sebald Beham gibt 1526 bei Hans Hergot zu Nürnberg ‚Die fürnehmsten Hystorien oder geschicht des Ersten buchs Mose‘ in drei Einblattdrucken heraus, die aus 169 Blöcken erstellt sind. Die vierzehn Kapitel der Geschichte Abrahams (Gen 12–25) – von seiner Berufung bis zu seinem Tode – sind auf 42 Holzschnitten wiedergegeben. Drei davon sind der Opferung Isaaks gewidmet (Abb. 11–1ř). Eine Bildunterschrift faßt den Inhalt der jeweils wiedergegebenen Szene kurz in eigenen Worten zusammen. Abraham leget das holz auff seine(n) sun Isaac zum opfferȦ Gene 22 Abraham setzt seyn sun Isaac auf das holtz und fasset das schwertȦ Gene 22 Der Engel sprach zu AbrahamȦ tu dem knaben nichts da sahe er hino im ein widerȦ Gene 22
Im 16. Jahrhundert setzt sich in den illustrierten Bibeln und Bilderbibeln die Darstellung der Opferung Isaaks als Vordergrundszene durch. Sie wird ein fester Bestandteil der Illustrationsprogramme von Bilderbibeln, jedoch nun wegen Abrahams gehorsamen Verhaltens in einer dramatischen Situation. Im Hintergrund wird jetzt meist nicht mehr die Holztragung Isaaks wiedergegeben, sondern ab und zu in der weiten Landschaft die beiden Knechte, die Vater und Sohn am Fuße des Berges zurückgelassen hatten. In den Bilderbibeln wird wie in den Summarien der Kapitelüberschriften die Geschichte nur kurz zusammengefaßt, so etwa in der Überschrift von Hans Holbeins d. J. ‚Historiarum Veteris Testamenti Icones‘ (15ř9 [Abb. 14]): Abrahae fides tentatur. Filium suum Isaac immolare iubetur. Angelus Abraham acclamat, ne filium occidat.
In der französischen Unterschrift wird dieser Inhalt in Reimform gebracht, wobei auch hier allein der wörtliche Sinn der Geschichte betont wird.
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Dieu commanda à Abraham de faire De son enfant Isaac sacrifice: Au mandemant voulant doncq satisfaire, Dieu fut content desa Foy & Iustice.Ⱥ21
In der einflußreichen, typenbildenden BilderbibelȺ22 mit den Illustrationen von Bernard Salomon (Abb. 15) ist die Geschichte in einem Vierzeiler kurz zusammengefaßt: Abraham Gotts gehaiß wolt thun und opfern seinen lieben sun: Gott sicht sein gleubig hertz und willen Last in solch opfer nit erfüllen.
Derselbe Text mit leichten orthographischen Abwandlungen findet sich dann auch bei dem Holzschnitt von Virgil Solis in dessen 1560 erschienenen ‚Biblischen Figuren‘ (Abb. 16).Ⱥ2ř Fast alle Texte unter graphischen Blättern und unter den Holzschnitten von Bilderbibeln preisen den Glauben beziehungsweise den Gehorsam Abrahams. Abrahams Affekte, der Konflikt zwischen Vaterliebe und Gottesgehorsam wird nicht angesprochen. Die Geschichte wird in ihrem Wortsinn verstanden. Obwohl wir generalisierend sagen können, daß die Autoren der Texte, die bei den graphischen Werken wiedergegeben sind, die Neigung haben, den wörtlichen Sinn der Geschichte zusammenzufassen, so ist die typologische Deutung gerade bei dieser Geschichte keinesfalls vergessen. Das zeigt sich bei den Texten, die Fischart zu den ‚Biblischen Historien‘ Stimmers (Abb. 17) geschrieben hat. Auch 21 22 2ř
Zur Wiedergabe des Wortsinns in den Unterschriften der Bilderbibeln vgl. Cѕ. Tҿњѝђљ, Ikonographie (Anm. 17), ř12f.; zu Holbein vgl. ѣюћ ёђџ Cќђљђћ (Anm. 17), 69ff. Zu den Bilderbibeln und ihren Unterschriften vgl. ebd., 118, Abb. 67. Die Neuen Biblischen Figuren, die 1560 in Frankfurt herausgegeben wurden, sind zweisprachig. Sie haben eine lateinische Überschrift und eine deutschsprachige Unterschrift, die beide die Opferung Isaaks als Glaubenstat deuten: „Abraham Gottes geheyß wolt thunȦ Und opffern seinen lieben sohnȦ Gott sicht sein gläubig hertz und willenȦ Läßt ihn solch opffer nicht erfüllen.“ In den Figure del vecchio testamento con versi toscani, per Dюњіюћ Mюџюѓѓі nuovamente composti, illustrate, Lyon 1554, lautet die Unterschrift unter dem Opfer Abrahams: „Hai qui L’esempio dell’ obedienza, Tra tutti gl’altri a’l Mondo senza pare: Contrario in tutt’ à l’humana prudenza: Che sempre cerca I figliuoi conseruare. Conform’ à Dio ogni tua intelligenza, Ne voler de suoi detti contrastare. Fa sempre lieto quel che Dio richiede: E con Abram tien viua la tua fede.“
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Fischart gibt in der Unterschrift den wörtlichen Sinn der Geschichte wieder: Wie Abraham im zucken warȦ wollt nun sein Son aufopfern gar: da ruft der EngelȦ das er hörtȦ Ain Widder jm dafür beschert Was Got bewärtȦ dasselb er ehrt.
Die Überschrift aber gibt die typologische Interpretation wieder: „Andeitung des unschuldigen opfers Christi.“ Einen ähnlichen Befund haben wir bei den Unterschriften in den graphischen Werken der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Meist geben sie den wörtlichen Sinn wieder, doch wird von einigen Autoren auch die typologische Bedeutung angegeben. Diese uneinheitliche Tendenz bei der Auslegung der alttestamentlichen Geschichten ist nicht verwunderlich. Die Reformation hatte zwar durch ihr Prinzip ‚allein die Schrift‘ der Schriftauslegung innerhalb der einzelnen theologischen Disziplinen ihren dominierenden Rang gegeben. Luther, ähnlich Calvin, stellte fest, daß der recht verstandene, auf Christus gedeutete wörtliche, historische Sinn der Bibel der eigentliche Inhalt der Erzählungen ist. Das führte zu einem neuen Verständnis auch des Alten Testamentes. Die alttestamentlichen Erzählungen sind Beispiele (Exempel) dafür, was Glauben und Unglauben für positive bzw. negative Früchte tragen. Sie zeigen Menschen, die den Gesetzen Moses „folgen und andere, die ihnen nicht folgen – und aller beider Strafe und Lohn.“Ⱥ24 Für Luther liegt der christologische Sinn des Alten Testamentes darin, daß durch das Scheitern in der Werkgerechtigkeit alle Menschen zu Christus geführt werden.Ⱥ25 Bei vielen alttestamentlichen Geschichten – die Opferung Isaaks gehört dazu – verwandte Luther jedoch weiterhin die mittelalterliche typologische Deutung.Ⱥ26 Gleichwohl ist Luthers exegetischer Ansatz – den er mit vielen humanistisch gebildeten Theologen teilte – für die weitere Entwicklung des Themas in der bildenden Kunst wichtig. Der eigentliche wörtliche Schriftsinn kann nach Luther durch die Erklärung der Wortbedeutung und durch die Erhellung historischer Beziehungen gefunden werden, wie etwa die Randbemerkungen in der Bibelübersetzung zeigen. Um den wörtlichen historischen Schriftsinn der Bibel zu erfassen, wandte 24 25 26
Luthers Vorrede auf das Alte Testament in: BIBLIA. das ist. Die gantze Heilige Schrifft. Deutsch, übers. v. Mюџѡіћ LѢѡѕђџ, Wittenberg 1545. Vgl. ebd. Vgl. Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ, Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla. Mit Edition zweier christologischer Frühschriften Johann Gerhards (SHCT 104), Leiden u. a. 2002, 147–178.
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man sich in steigendem Maße der Erforschung der Realien der biblischen und heidnischen Antike zu. Besonders die Frage nach den historischen Zusammenhängen und Abläufen wird erforscht. So wurde dann auch von Theologen darauf hingewiesen, daß Abraham Isaak zuerst hätte schächten müssen – daß wir uns die Opferung Isaaks also analog zu der Opferung von Tieren vorstellen müßten.Ⱥ27 Auch auf die Bibelillustrationen wirkte sich das neue Verständnis des Textes aus. Luther forderte eine textgetreue wörtliche Darstellung der Historie. Deshalb hat er selbst „die Figuren in der wittenbergschen Biblia zum Teil selbst angegeben, wie man sie hat sollen reissen oder malen und hat befohlen, daß man aufs einfältigst den Inhalt des Textes sollt abmalen und reissen“.Ⱥ28 Die erste Ausgabe des Luthertextes mit Illustrationen folgt zwar noch der mittelalterlichen Tradition,Ⱥ29 aber in der Wittenberger Ausgabe von 1545 (Abb. 18) sind – offensichtlich beeinflußt von Hans Holbeins Holzschnitt in dessen ‚Historiarum Veteris Testamenti Icones‘, Lyon 15ř8 – gegenüber der mittelalterlichen Tradition drei Motive korrigiert.Ⱥř0 Isaak liegt gebunden auf dem Opferholz und kniet nicht vor dem Altar. Der Engel fällt Abraham nicht in den Arm, sondern ruft vom Himmel her. Der Widder hat sich in einem Strauch, und nicht im Gestrüpp eines Baumes verfangen. Ein Detail ist aber trotz Luthers richtiger Übersetzung nicht korrigiert: Der Künstler gibt auch ein Schwert statt eines Messers wieder. Luthers Versuch, die Ikonographie textwidriger Bibelillustrationen zu verbessern, war nur ein recht geringer Erfolg beschieden. Die Künstler benutzten beim Entwurf ihrer eigenen Darstellungen ältere Vorbilder und überlieferten dadurch weiter textwidrige Motive. Das ist schon vereinzelt bei den Wittenberger Bibeln zu beobachten, aber dann ver-
27 28
29
ř0
Vgl. dazu Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџs Beitrag in vorliegendem Band, 217f. Dies berichtet Christoph Walther, der als Korrektor in der Druckerei Hans Lufft mit Luther zusammenarbeitete (referiert nach Pѕіљіѝѝ Sѐѕњіёѡ, Die Illustration der Lutherbibel. 1522–1700. Ein Stück abendländische Kultur- und Kirchengeschichte, Basel 1962, 25ff.). Vgl. die verkleinerte Kopie von Hans Holbein d. J. für die bei Thomas Wolff in Basel gedruckten ersten drei Teile des Alten Testaments, Basel 1524; Abb. bei Sѐѕњіёѡ (Anm. 28), 158f., Abb. 1. Der traditionelle Bildtyp, in dem der Engel Abraham an der Schulter berührt, seinen Arm packt oder das Schwert festhält, ist eine für den Betrachter sofort ablesbare Visualisierung des Inhalts des durch den Engel vermittelten göttlichen Wortes. Diese nicht textgetreue Wiedergabe ist nicht die Darstellung eines späteren Momentes von Gen 22,11, wie RќѦюљѡќћ-KіѠѐѕ (Anm. 6) suggeriert.
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mehrt bei den in Frankfurt und anderen Orts gedruckten Ausgaben.Ⱥř1 So wurde dann auch im 16. und 17. Jahrhundert bis zum Erscheinen von Merians Bilderbibel (Abb. 19) der traditionelle Bildtyp in der Graphik weiter überliefert: Isaak kniet vor oder auf dem Altar, Abraham holt mit dem Schwert aus. Der Engel greift meist ein und hält das Schwert, den Arm oder die Hand auf. Die Neigung zu enzyklopädischer Erforschung schlägt sich in einer außerordentlichen Gründlichkeit nieder, mit der die Realien erfaßt werden. Im Zusammenhang damit werden die geschichtliche Umwelt und die Sprache des Alten und Neuen Testaments bearbeitet. Das Interesse an den Hilfsmitteln zur Schriftauslegung wächst, die antike und altorientalische Geschichte wird herangezogen, die biblische Geographie und Archäologie sowie die biblische Chronologie werden erforscht. Auch die Kultur-, Natur- und Rechtsgeschichte der Bibel gewinnen eigene Bedeutung, ebenso wird der Geschichte anderer Religionen Beachtung zuteil. Parallelen aus der gesamten alten Literatur werden gesammelt und publiziert. Der Hang zu Erklärungen und lehrhaften Illustrationen wird immer stärker. Es erscheinen auch Landkarten, etwa des gelobten Landes oder zu den Reisen der Patriarchen. So gab Abraham Ortelius 1586 in Antwerpen eine Karte heraus über die Reisen und das Leben Abrahams. Die einzelnen Stationen des Erzvaters sind in 22 Rundbildern wiedergegeben, die um eine Landkarte gruppiert sind, die das Land Kanaan wiedergibt. Das 19. Rundbild zeigt dort die Opferung Isaaks.Ⱥř2 Merians Kupferstich in seinen ‚Icones biblicae‘ (1625) ist – wenn man von Holbeins Holzschnitt (15ř8) und dem Holzschnitt der Wittenberger Bibelausgabe von 1545 absieht – die früheste mir bekannte Darstellung in der graphischen Kunst, in der die traditionelle Ikonographie korrigiert wird und die Szene nach den Vorschriften für ein Brandopfer wiedergegeben ist. In dem erklärend hinzugefügten deutschen Gedicht des reformierten Theologen Johann Ludwig Gottfried wird als Opferwerkzeug ein Messer erwähnt und darauf hingewiesen, daß die Opferung mit dem Schächten begann:Ⱥřř
ř1
ř2 řř
Die Forderung nach textgetreuer Darstellung blieb ein fester Topos, der noch im Holland des 17. Jahrhunderts eine Rolle spielte und auch noch im 18. Jahrhundert erhoben wurde. Aяџюѕюњ OџѡђљіѢѠ, Theatrum Orbis Terrarum – Abrahami Patriarchae Peregrinatio et vita, Antwerpen 1586. MюѡѡѕѫѢѠ Mђџіюћ, Icones biblicae praecipuas S. Scripturae historias eleganter et graphite repraesentantes. Biblische Figuren etc. mit Versen und Reymen in dreyen Sprachen, 4 Bde., Straßburg, 1625, 1627, 16ř0, 1629, 44f. Zu Merians Ausgabe vgl. ѣюћ ёђџ Cќђљђћ (Anm. 17), 197ff. Das deutsche Gedicht umschreibt in einfachen Worten, daß Abra-
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Er wust auffs allergewissestȦ daß was Gott verheisset kann er auch Thun. Gott versucht AbrahamȦ heißt sein Sohn Isac Tödten Der die Verheissung hattȦ der Alt war da in NöhtenȦ Doch zweiffelt er gar nichtȦ ergreifft das Messer baldtȦ den Jüngling schechen will. Diß ißt des Glaubens Gstalt:
Es ist wohl kein Zufall, daß Matthäus Merian mit seinem großen enzyklopädischen Interesse auch in diesem Detail die exegetischen Erkenntnisse verarbeitet hat. Falls dies wirklich die früheste textgemäße druckgraphische Wiedergabe der frühen Neuzeit sein sollte, so ist daran zu erinnern, daß in der Malerei die Ikonographie schon vorher korrigiert worden ist und zwar von Caravaggio, der um 160ř zeigt, wie Abraham seinen Sohn mit einem Messer schächten will (Abb. 20). Allerdings folgt Caravaggio weiterhin der Bildtradition darin, daß er Isaak vor dem Opferstein knien läßt. Gleiches beobachten wir um 1611 bei Rubens (Abb. 21), der ebenfalls darstellt, wie Abraham seinen Sohn mit dem Messer schächten will. Auch Rubens verändert dabei nicht die traditionelle Haltung Isaaks vor dem Opferstein. Von diesem Schema weicht Pieter Lastman in einer Grisaille von um 1612 ab (Abb. 22). Isaak liegt – nur noch mit einem Lendentuch bekleidet – mit den auf dem Rücken gebundenen Händen auf dem aufgeschichteten Holz.Ⱥř4 Abraham drückt seinen Kopf nach unten, als ein von Putti begleiteter Engel vom Himmel in einer Lichtbahn herabfährt und – auf Gott verweisend – durch seine Worte die Handlung unterbricht. Abraham, der schon das Schwert über der Kehle Isaaks hält, schaut mit offenem Mund zu ihm empor. In Lastmans 1616 datiertem Gemälde im Louvre (Abb. 2ř) ist der gebundene Isaak gerade dabei, sich auf den Holzscheit zu legen, wobei Abraham ihn kräftig nach unten drückt und schon sein Schwert erhoben hat.Ⱥř5 Da berührt der Engel, der auf einer dunklen Wolke herangeflogen ist, von hinten mit seiner Linken Abrahams Schulter und weist den erstaunt emporblickenden Abraham auf Gottes Entscheidung. In einem dritten Gemälde (um 1620), nur durch graphische Kopien überliefert (Abb. 24), ist der Engel Abraham, der sein Schwert erhoben hatte, vom Rücken her in den Arm gefallen und hält diesen mit seiner Linken festȺř6. Mit seiner Rechten zeigt er zum Himmel. Abraham dreht
ř4 ř5 ř6
ham trotz des Opferbefehls Gottes Verheißung glaubt. Vgl. dazu den Aufsatz von Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ in vorliegendem Band. AѠѡџіё Tҿњѝђљ, Pieter Lastman. Der Lehrer Rembrandts [im Druck; erscheint 2006], Nr. 21. Ebd., Nr. 22. Ebd., Nr. 2ř.
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sein Haupt um und blickt zu ihm empor, ebenso Isaak, der vor den Holzscheiten hockt, halb kniend, halb sitzend, seine Hände faltet, eben noch bereit, sich opfern zu lassen. Hinter Abraham sieht man den Widder, der sich im Gebüsch verfangen hat, und unter den dunklen Wolken die weite Gebirgslandschaft, durch die Abraham und Isaak gezogen sind. Bei seinen Entwürfen für das Deckengemälde der Jesuitenkirche in Antwerpen korrigiert Peter Paul Rubens wohl unter dem Einfluß von Pieter Lastmans Gemälde die traditionelle Ikonographie und nutzt die Wiedergabe von Isaak auf den Holzscheiten des Altars, um seine Meisterschaft zu demonstrieren, selbst bei kühnen Darstellungen, die aus Untersicht betrachtet werden, Verkürzungen überzeugend wiederzugeben (Abb. 25). Anderthalb Jahrzehnte später nimmt sich Rembrandt – der mit Rubens um die Krone der Malerei stritt – des Themas in seinem monumentalen Bild an und schuf etwas völlig Neues (Abb. 1). Er ist von Lastmans Grisaille ausgegangen, doch war in seiner Werkstatt offensichtlich auch Lastmans Komposition aus der Zeit um 1620 bekannt. Die Gebärde des Engels, der Abrahams Arm zurückhält, übernimmt Rembrandt aus der durch van Someren überlieferten Komposition, den fast waagerecht liegenden, dem Opfertod schon preisgegebenen Isaak aus der Grisaille, von der Rembrandt auch die überspitzte Erzählweise aufgreift.Ⱥř7 Verglichen mit der älteren Bildtradition, vor allem der nordeuropäischen Graphik, spitzt schon Lastman die Opferungsszene zu, deutet den Konflikt an, in dem sich Abraham befindet. Es ist aber noch ein weiter Weg bis zu Rembrandts dramatischer Darstellung, in der auch die väterlichen Gefühle und der Konflikt, in den Abraham geraten ist, wiedergegeben sind. Dafür erhielt Rembrandt wahrscheinlich nicht nur Anregungen aus Berichten über Caravaggios Komposition. Er dürfte auch durch Gedichte und Theaterstücke über dieses Thema inspiriert worden sein. Dort wird nämlich der innere Widerstreit der Gefühle Abrahams beim Opfer seines Sohns beschrieben. Aus der Umgebung Rembrandts und seiner Lehrer wähle ich zwei Gedichte über Abraham von Joost van den Vondel. Sie sind zwar früher entstanden als Rembrandts Bilder, aber gerade darum interessant, weil sie so Einfluß auf seine Ikonographie haben konnten. Das eine stammt aus einer Darstellung der ‚Helden Gottes‘, ř7
Das von Rembrandt nur korrigierte Schulwerk in München lehnt sich in der Gebärde des Engels bezeichnenderweise stärker an die im Stich nach Lastman überlieferte Komposition an. JќѠѢю BџѢѦћ, „Rembrandt and the Italian Baroque“, in: Simiolus 4 (1970), 28–48, hier ř8, verweist für den Engel der vorliegenden Grisaille auf den Engel in Caravaggios Gemälde Der hl. Matthäus in Rom, San Luigi dei Francesi, Contarelli-Kapelle.
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in der Vondel die Vita der alttestamentlichen Helden enzyklopädisch entfaltet.Ⱥř8 Der Drucker Pers hatte Vondel Beischriften zu einer Reihe von Kupferstichen von Johannes Sadeler nach Crispijn van den Broek dichten lassen. Die in insgesamt ř8 Gedichten erarbeitete exemplarische Bedeutung der dargestellten biblischen Gestalten faßte Vondel im Titel, in der Einleitung und oft auch in den Schlußversen der einzelnen Gedichte zusammen. Seine Gedichte über die ‚Helden Gottes‘ leitet Vondel apologetisch ein. Nach einer Widmung an die Helden des Alten Testaments selbst und an den Liebhaber der Künste und Literatur, Dr. Johann Fonteyn, wendet er sich an den aufmerksamen und verständigen Leser und verteidigt sich gegen mögliche Kritik. Die alttestamentlichen Figuren seien gute Vorbilder. Paulus möge ihn nicht mit verfinsterten Augenbrauen ansehen, denn er male die herrlichen Taten der alttestamentlichen Helden für die gläubigen Christen. Natürlich wisse er, daß zwischen den Figuren des Alten und des Neuen Testamentes ein Unterschied sei. Die einen seien unter dem Gesetz, die anderen unter dem Evangelium gewesen. Das Gesetz enthielt allein den Schatten der künftigen Dinge, mit Christus sei das Alte vergangen und alles neu geworden.Ⱥř9 Vondel weist dann auf die typologische Bedeutung der alttestamentlichen Szenen hin: Wenn ich Abraham, der schon innerlich gestorben war, das Messer ziehen sehe, um seinen eigenen Sohn zu opfern: dann assoziiere ich, wie Gott die Welt so liebte, daß er seinen eigenen Sohn in den schändlichen Kreuzestod gab, und ich wundere mich sowohl über Gottes Liebe zum menschlichen Geschlecht als auch über Jesu kindlichen Gehorsam gegenüber seinem himmlischen Vater.Ⱥ40
ř8
ř9 40
JќќѠѡ ѣюћ ёђћ Vќћёђљ, De Helden Godes, Amsterdam 1620; benutzt wurde: DђџѠ., Volledige dichtwerken en oorspronkelijk proza, Amsterdam 19ř7, hg. v. Aљяђџѡ VђџѤђѦ, neu hg., komm u. eingel. v. Mіђјђ B. SњіѡѠ-VђљёѡȦMюџіїјђ SѝіђѠ, Amsterdam 1986, 110ff., das Gedicht über Abraham ebd., 114, ebenso das Gedicht über Isaak; sowie: JќќѠѡ ѣюћ ёђћ Vќћёђљ, De werken van Vondel. Volledige en geïllustreerde tekstuitgave, hg. v. J. F. M. Sterck u. a., 10 Bde., Amsterdam 1927–1940, Bd. 2, 1620–1627, ř01–ř91 (im folgenden zitiert nach: Digitale Bibliotheek voor de Nederlandse Letteren [DBNL]: http:ȦȦwww.dbnl.orgȦ) Vgl. den Auszug im Anhang dieses Aufsatzes. „Aenden opmerckenden en verstandigen Leser: Zie ick Abraham al bestorven het mes trecken om zijnen eenigen Isaäc te offeren: my schiet in den zin hoe God de Vader de weereld alzo lief gehad heeft dat hy zynen eenigen Zone gaf tot den smadelycken dood des kruysses, en ick verwonder my beyde over Gods vaderlijcke liefde tot het menschelijck geslacht, en Iesus kinderlycke gehoorzaemheyd neffens zynen Hemelschen Vader.“ Vюћ ёђћ Vќћёђљ, Helden (Anm. ř8); benutzt wurden: DђџѠ., dichtwerken (Anm. ř8), 111; ёђџѠ., werken (Anm. ř8), Bd. 2, 1620–1627, ř09f.
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Die alttestamentlichen Helden verbinden gemeinsame Tugenden. Aber sie unterscheiden sich auch durch besondere Eigenschaften, so wie sich auch Edelsteine trotz ihres Glanzes durch Besonderheiten voneinander unterscheiden. Das wird dann exemplifiziert und bei Abraham seine Bereitschaft hervorgehoben, in die Fremde zu ziehen und dann selbst noch seinen einzigen, ihm lieben Besitz zu opfern. So ist er denn auch ein Vorbild für alle, die emigrieren. Vondel erwähnt in seiner Unterschrift zwei traditionelle Motive, die nicht im biblischen Text, sondern aus der Bildtradition stammen und sich auch in dem Kupferstich von Sadeler nach van den Broek (Abb. 26) finden, zu dem dieses Gedicht als Beischrift konzipiert ist: Abraham hat die Arme Isaaks aneinander gebunden, so daß diese sich überkreuzen. Und der Engel fällt Abraham in den Arm. Da in dem Kupferstich Sadelers nach van den Broek Abraham entsprechend der ‚Vulgata‘ ein Schwert benutzt, beschreibt auch Vondel das Schlachtwerkzeug als Säbel. Abraham wird in dem ihm gewidmeten Gedicht als der gläubige Erzvater präsentiert. Als Ich-Erzähler stellt er dem Leser vor, wie er Gottes Gebot folgt, um des Friedens willen nachgibt, die Engel bewirtet, voll Vertrauen selbst die neunzigjährige Sarah schwängert und mit welcher Gelassenheit er, als seine Ehefrau erzürnt war, seiner [!] Hagar mit Ismael das Geleit gab. Aber alle diese – zugegeben – großen Schwierigkeiten waren ein Kinderspiel angesichts des von allen Seiten hart andrängenden Sturmes, in dem das Schiff meines Glaubens Schiffbruch zu erleiden schien, als Gott mit seiner Donnerstimme seinen Abraham findet und fordert: Geht, opfert mir dein einziges Kosekind. Das war eine Wunde im Herz nach so viel harten Schlägen. Ich geb zu denken, was dieses einen Vater alles zu ertragen kostet. Helfe Gott! Was begann damals für eine Zeit von Widerwärtigkeit, Wie kämpften der Glaube und das väterliche Gemüt, als ich, auf dem heiligen Felsen, von Traurigkeit geradezu verschlungen, beide Arme meines Isaaks kreuzweise gebunden hatte, und – in Gott getröstet – den Säbel herauszog, bereit, um von dem süßen Schatz das Haupt vom Leibe abzuschlagen. Gewiß, wäre nicht ein Engel dazwischengeschossen, und hätte der nicht meinen Arm aufgehalten, den Felsen hätte ich begossen mit dem Blut, worin Gottes Güte mir seinen Segen versprochen und zugesagt hatte. Aber wenn du fragst, welche Hoffnung mich in solchen Nöten gestärkt hat: Das Leben, kann, dachte ich, den Toten leicht auferwecken, und der einen Klumpen beseelte, kann den, der vor dem Altar fiel, wieder eine lebendige Seele einblasen. Ihr Frommen, das ist für euch! Haltet stets standfest diese Fußspur ein, und folgt mir, dem Vater aller Heiligen.41
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Vondel schildert die Verwirrung, den Widerstreit, in den Abraham gerät, als väterliche Liebe und Gehorsam gegen Gott miteinander streiten. Es ist nicht zuerst die Gottesfrage, die ihn zerreißt, sondern der Kampf zwischen väterlicher Liebe und Gottesgehorsam. Da er – wie der Hebräerbrief sagt – darauf hoffte, daß Gott, der aus einem Klumpen Erde den Menschen erschuf, auch den Geopferten wieder zum Leben erwecken würde, wurde sein Gottesgehorsam nicht in Frage gestellt. In dem Gedicht über Isaak reflektiert Vondel dann auch die Gefühle, die Sara gehabt haben müßte, wenn sie dies alles vorausgesehen hätte.Ⱥ42 Die Vorlage eines weiteren Abraham-Gedichts von Vondel stammt noch aus dem 16. Jahrhundert; denn er übersetzt hier aus dem Französischen und zwar den Abschnitt über die Opferung Isaaks aus Guillaum de Saluste, Seigneur du Bartas (1544–1590) berühmter ‚Weltgeschichte‘.Ⱥ4ř
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4ř
„Der geloovigen vader“, ѣюћ ёђћ Vќћёђљ, Helden (Anm. ř8); ёђџѠ., dichtwerken (Anm. ř8), 114; ёђџѠ., werken (Anm. ř8), Bd. 2, 1620–1627, řř1, Vers 12–ř4; für den niederländischen Text s. u. (Anhang). Diese Spekulation schließt in Vondels Isaak-Gedicht („De beloofde“) an Isaaks Schilderung seiner Geburt und der Freude an, die seine Mutter jauchzen ließ: „O, riepze, geeft dat schaep te kussen aen zijn vaer, Dat langh verwachte loth, mijn blyschap, is ’t eens daer? O reyckt dat popken hier. maer hadze in haerder zielen Geheymplaetze eens gedroomt, dat ick voor ’t mes zou knielen Dat in mijns vaders schee’ wierd vande roest gheknaeghd, Die inval had terstond haer vrolyckheyd verjaeghd. Hoewel den Hemel liet de zaeck zo wyd niet komen Dat my van ’t lichaem wierd het jeughdigh hooft ghenomen.” („Oh, rief sie, gebt dieses Schaf seinem Vater, daß er es küsse, das langerwartete Los, meine Freunde, ist es da? Oh, reicht das Püppchen her. Aber hätte sie in den finstersten Ecken ihrer Seele einst geträumt, daß ich vor dem Messer knien sollte […] dieser Einfall hätte ihr sofort die Fröhlichkeit verjagt. Obwohl der Himmel die Sache nicht so weit kommen ließ, daß mir von dem Körper das jugendliche Haupt genommen wurde.“) Vюћ ёђћ Vќћёђљ, Helden (Anm. ř8); benutzt wurden: DђџѠ., dichtwerken (Anm. ř8), 114; ёђџѠ., werken (Anm. ř8), Bd. 2, 1620–1627, řřř, Vers 5–10. GѢіљљюѢњ ёђ SюљѢѠѡђ ёѢ BюџѡюѠ, „Les Pères“, in: Seconde Sepmaine ou l’Enfance du monde, Genf 1584. Vondels Übers. in: JќќѠѡ ѣюћ ёђћ Vќћёђљ, De vaderen, ofte het tweede deel vande derde dagh der tweeder weke, vervatende Abrahams offerhande, Amsterdam 1616; benutzt wurde: DђџѠ., dichtwerken (Anm. ř8), 48ff.; ёђџѠ., werken (Anm. ř8), Bd. 1, 1605–1620, 47ř–497 (vgl. auch das Glossar zu S. 47ř in DBNL [Anm. ř8]). In der ersten Semaine schildert Bartas die Schöpfungsgeschichte, in der zweiten wollte er die Weltgeschichte bis zu ihrem Ende darstellen. Vier Tage hat er beschrieben bis zur Zerstörung Jerusalems unter Zedekia. Auch Zacharias Heyns (1619, Neuaufl. 1621) und Wessel van Boetselaar (1622) übersetzten Bartas ins Niederländische.
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Vorangestellt ist eine Inhaltsangabe, dann schließt sich ein kurzes Sonett an, in dem erneut der Inhalt zusammengefaßt wird – ausgeschmückt mit allegorischen Figuren: den drei Kardinaltugenden und dem Tod. Schließlich folgt – nach einer apologetischen Einleitung in Form einer ‚Allocutio‘ an Bartas – die gereimte Übersetzung. Der Aufbau folgt jedesmal der alttestamentlichen Erzählung. Das Gedicht schmückt sie aber aus, indem es wort- und bildreich den Konflikt schildert, in den Abraham durch Gottes Befehl mit seinen natürlichen Herzensneigungen gerät, und die Reaktionen Isaaks ausmalt. In den einzelnen Stationen der Geschichte wird die Auseinandersetzung zwischen den Affekten der Betroffenen und Gottes Forderung – die jeweilige Situation reflektierend – nun weiter vertieft. Vondels Nachdichtung von Bartas’ Gedicht beginnt mit einem Lobpreis auf das innige Verhältnis zwischen dem vorbildlichen Abraham und seinem geliebten Sohn Isaak, seinem frommen, aufmerksamen, klugen, frühreifen Kind, das dem Beispiel seines Vaters immer folgt. Ausgerechnet Abraham wird von Gott versucht, aber nicht, um ihn straucheln zu lassen, sondern um ihm das Siegel der Standhaftigkeit aufzudrücken, denn Abraham hat diese Tugend schon vielfältig in seinem Leben geübt. Nachts befiehlt ihm Gott, auf den Berg Salem zu steigen und ohne Mitleid das Blut seines Sohnes zu vergießen, Isaak das Leben zu nehmen, ihn mit seinem Messer zu durchschneiden und seinem Fleisch das Verbrennen zu gönnen, so daß die zarten Knochen in den Flammen brennen. Abrahams Erwachen wird dramatisch geschildert. Er reagiert wie jemand, der im Schlaf träumt und, das Auge halb geöffnet, glaubt, einen gräßlichen Geist zu sehen, und sich daher erst eine halbe Stunde ängstlich unter der Decke verbirgt und keinen Atem zu holen wagt. Die natürliche Herzensneigung tut in einer solchen Situation ihre Wirkung, auch bei Abraham. Er ist völlig entsetzt. Sein Angesicht ist schon totenbleich und ängstlich. Eine eisige Kälte läßt all seine Glieder erstarren, er erblaßt, und der Todesschweiß bricht ihm aus dem ganzen Körper. Stimme, Augen und Gehör versagen ihm. Als er wieder etwas zu sich kommt, rinnen ihm zwei Tränen aus den Augen, und er klagt über den grausamen Befehl, daß er guten Mutes einen zarten, unbewaffneten Jüngling grausam niederschlagen, einen Blutsverwandten töten und seine Hände in dem Blute seines lieben Sohnes mörderisch beschmutzen solle. Nach dieser sehr emotionalen Wiedergabe der väterlichen Affekte Abrahams schildert Vondel mit Bartas den inneren Monolog, den der Erzvater führt.
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Abrahams Herzensneigungen – wie der Erzvater sie nach den Vorstellungen des Dichters gehabt haben muß – liefern ihm insgesamt elf Argumente, diesem Befehl Gottes nicht zu gehorchen. Er kann sich an dem unschuldigen, süßen und lieben Isaak, einem Sohn, der von seinem Vater und jedermann so geliebt wird, nicht vergreifen. Das ist gegen die Natur. Lieber wolle er sich selbst opfern als Isaak auf dem verfluchten Altar. Es ist völlig unmöglich, daß ein Vater so mit seinem Sohn umgehe. Die Vorstellung allein ruft Abscheu hervor. In Grausamkeit darf man Gott nicht folgen. Gott darf sich auch nicht widersprechen, und in diesem Befehl widerspricht er seiner eigenen Verheißung. Abraham malt sich dann realistisch aus, wie er das Opfer vollziehen müsse, und dies als ekelerregende Tat: Soll ich ihm seine Brust zerschneiden und ihm mit blutiger Faust das Herz rausreißen, während das Leben daraus schwindet? Soll ich derjenige sein, der solch eine wüste Tat beginnt, den geweihten Altar mit seinen zerhackten Gliedmaßen bedecken? Sein Fleisch und seine Knochen braten, so daß die glitschigen Eingeweide knisternd vor mir zu Staub und Asche verbrennen? Schon der Gedanke an solches kann den Geist eines Vaters erschüttern. Das ist schon für den Willen zu grausam, ganz zu schweigen davon, es auszuführen […].Ⱥ44
Wieder erinnert Abraham an die natürlichen väterlichen Affekte: Dies ist für den Willen zu grausam. Wenn Gott dies fordere, werde er sich selbst und seinen Verheißungen untreu. Gott darf sich nicht selbst widersprechen. Darauf antwortet der Geist Gottes, Gott stehe über den Gesetzen, die er den Menschen gebe, sei selbst nicht an sie gebunden. Darauf fragt sich Abraham, ob Gott etwa wie die Götzen erwarte, daß man ihm durch das unmenschliche Opfern menschlicher Gebeine dienen solle. Die Natur Gottes sei anders. Dies seien böse Eingebungen, die zur Gottlosigkeit führten. Schließlich überwindet der Geist Gottes das Schwanken Abrahams, und dieser erkennt, daß die Forderung von dem Gott kommt, der ihm so oft erschien, in Notfällen Schutz bot, der Gott, der ihn liebt, der ihn vielemal in seiner Angst getröstet hat. Es 44
„Doorwonden syne borst en met bebloede vuyst Hem ’thert uytrucken t’wyl daert leven uyt verhuyst? Sal ick d’aenvangher zyn van sulck een woest beleeden, t’Ghewyde Altaer beslaen met syn ghescherfde leden? Syn vleesch en beenen braen, dat t’slibbrigh inghewandt Al sperkende voor my tot stoffe en asch verbrandt? ’Ghedacht alleen van sulcx can s’Vaders gheest ontroeren, ’Tis voor de wil te wreedt, ick swygh van uyt te voeren […].“ Vюћ ёђћ Vќћёђљ, vaderen (Anm. 4ř); ёђџѠ., werken (Anm. ř8), Bd. 1, 1605–1620, 482f., Vers 1ř7–144.
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kann nicht der Satan sein. Abraham sieht ein, daß er diesem Befehl gehorchen muß. Nachdem er die Nacht mit diesen Gedanken verbracht hat, bricht Abraham mit seinem Sohn zur letzten Station, zum Heiligen Berg auf. Als Isaak ihm auf dem Wege fragt, wo denn das Opferlamm sei, wird Abraham das Herz eingeschnürt, beginnt der innere Kampf zwischen der natürlichen Liebe und dem Glauben, zwischen Fleisch und Geist in ihm von neuem. Erneut beklagt er seines und seines Sohnes Elend und bricht in lautes Weinen aus. Er kann seine natürliche Liebe zu Isaak und seinen Eifer für Gott nicht miteinander vereinigen. Aber schließlich obsiegt der Geist Gottes, der auf die Allmacht Gottes weist, der aus dem Tode erretten kann. Seine Gesetze kann der Mensch nicht ergründen. Auch steht Gott über den Gesetzen. Er will keine heidnischen Opfer. Abraham ist zeitweilig zerrissen zwischen seinem natürlichen Gefühl, seiner Liebe zu seinem Sohn, und dem Befehl Gottes, der ihn an dem Befehl zweifeln läßt, weil Gott sich widerspricht. Schließlich glaubt er Gott gegen Gott, weil Gott einerseits über seinen Gesetzen stehe, aber als Allmächtiger auch auf bisher ungedachte Weise seine Verheißung wieder wahr machen könne, weil er – auch hier klingt wieder der Hebräerbrief mit – den, den er als Opfer bestimmt habe, wieder zum Leben erwecken könne.Ⱥ45 Jetzt kann sich Abraham mit Isaak auf den Weg machen. Als sie den Heiligen Berg von weitem sehen, lassen sie die beiden Knechte hinter sich. Nun kommt eine erneute Unterbrechung. Auf Isaaks Frage, wo denn das Opfertier sei, antwortet Abraham, Gott selbst werde für das Schlachtopfer sorgen, bricht aber darauf erneut in Tränen aus, und der Kampf zwischen der natürlichen Zuneigung und dem Glauben beginnt aufs neue. Abraham klagt – zu dem Altar emporsteigend – über die unerträgliche Zumutung Gottes. Erst als er am Altar angekommen ist, hat er seine innere Ruhe wiedergefunden und bindet liebevoll die Arme Isaaks. Als Isaak ihn aber darauf fragt, wie er diese Strafe verdient habe, ob er je eine so ruchlose Tat getan habe, die eine solche Opferung rechtfertige, antwortet Abraham ihm, Gott, der das Leben auch wieder schenken könne, rufe ihn. Er küßt ihn ein letztes Mal. Nun fordert Isaak ihn auf, nicht länger zu zögern, zu heulen und zu weinen. Der Vater verändert darauf sein trauriges Gesicht und hat – da er von ferne das Bild des anderen Isaak, in dessen Blut dieses Opfer rein gewaschen sein möge, sieht – das Schwert emporgehoben, als die Stimme Gottes ihn trifft. Nach der Rettung opfern sie den Widder.
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Während im vorangestellten Sonett der Engel Abraham in den Arm fällt und ihn an der Opferhandlung hindert, ist es in Bartas Gedicht die Stimme Gottes.
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Vondel preist mit Bartas Abrahams Glauben und setzt ihn ab gegen den wüsten und durch die Menschen ersonnenen Götzendienst der Heiden, welche ihre Kinder dem Teufel und nicht Gott geopfert haben. Der Dichter deutet Abrahams Opfer typologisch. Isaak verweise auf Jesus Christus, das Lamm Gottes, vorbestimmt als Brandopfer zum Erlaß unserer Sünden. Nachdem Vondel sein Gedicht und seine Übersetzung des BartasGedichtes veröffentlicht hatte, übten diese Werke Einfluß aus auf die kurzen Bildunterschriften zweier in Amsterdam herausgegebener Bilderbibeln. Johannes Vollenhove, „Vondels Sohn in der Kunst“, verfaßte Vierzeiler zu den vereinfachten Merian-Kopien von Schut in Nicolaus Visschers Ausgabe aus dem späten 17. Jahrhundert (Abb. 27),Ⱥ46 die nun auch den inneren Konflikt, in den Abraham gerät, betonen: Welch ein Befehl ! So weit zu gehen mit Isaak ? Ihn zu binden ?Ȧ Zu schlachten, kerben, durch Altarfeuer zu verschlingen?
Und auch Reyer Anslo brachte in seiner für die Bilderbibel mit MerianKopien von Danckertsz. und Visscher verfaßten Vierzeiler die widersprüchlichen Gefühle Abrahams zum Ausdruck (Abb. 28): Wer denkt nicht in seinem Herzen, wie Abrahams Herz sinnt? Die Liebe mit ihrer Pflicht, der Glauben mit seiner Vernunft Streiten hier gegeneinander, wo das Schwert erhoben ist. Der Glaube hofft, wenn die Hoffnung es schon aufgegeben hat.Ⱥ47
In der Amsterdamer Dichtkunst zu Rembrandts Lebzeiten wurde über die Gefühle Abrahams in dieser Konfliktsituation nachgedacht: Abraham ist gespalten, verzweifelt, erstorben, er weint, schreit, hat ein verheultes Gesicht usw. Durch wessen Vermittlung Rembrandt mit diesen Auslegungen in Kontakt gekommen ist, wissen wir noch nicht. Aber zweifellos hat er sie gekannt und verarbeitet. Er malt einen weinenden, von Schmerz und Verzweiflung gezeichneten Abraham, der trotz seiner Affekte gehorsam ist – einen Abraham, der die Rettung noch nicht begriffen hat. Rembrandt verdichtet also die widersprüchlichen Gefühle Abrahams in der Darstellung eines einzigen Momentes, während Vondel mit Bartas die ganze Erzählung vom Beginn bis zum Ende erzählt und die widersprüchlichen Gefühle auf verschiedene Zeitpunkte verteilt. Wie sehr Abraham aber verwirrt ist, weiß Rembrandt noch durch ein weiteres Motiv zum Ausdruck zu bringen, das in Theaterstücken über Abraham vorgeformt war: Abraham läßt das Messer fallen. In Théodore de Bèze „Abraham sacrifiant“ von 1550 lautet der Text: 46 47
Vюћ ёђџ Cќђљђћ (Anm. 17), 22ř. Ebd., 224.
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Abraham […] Or est-il temps, ma main, que t’esvertues, Et qu’en frappant mon seul filz, tu me tues. [Regieanweisung:] Ici le cousteau luy tombe des mains. Isaac: Qu’est ce que j’oy mon pere? helas mon pere! Abraham: A, a, a, a. […].Ⱥ48
Rembrandt hat ungeheuer kühn in den dreißiger Jahren mehrmals Gegenstände in einer transitorischen Bewegung abgebildet, um das unerwartete göttliche oder himmlische Eingreifen zu verbildlichen, eine künstlerisch ja schwierige Aufgabe.Ⱥ49 Er war sich der Bedeutung seiner 48
49
Barbara Mahlmann-Bauer ging während der Emder Tagung auf dieses Motiv in Theaterstücken ein. Ihr verdanke ich auch die folgenden Nachweise. Die erwähnte Stelle ist zitiert nach: TѕѼќёќџђ ёђ Bѽѧђ, Abraham sacrifiant. Edition critique, eingel. u. annot. v. Kђіѡѕ Cюњђџќћ u. a., Genf 1967, 108, v. 92řff. In der lateinischen Fassung Abrahamus sacrificans, Lausanne 1598, von JюѐќяѢѠ JюѐќњќѡѢѠ, einem Kollegen Bezas an der Akademie von Lausanne, fehlt die Regieanweisung, aber Abraham spricht seine rechte Hand in dem Moment an, wo er losschlagen möchte: „Abr. Immitis aude dextra, quid moras trahis? Angelus. Abrame, Abrame. Abr. Cur paratum me tuis Obtemperare nutibus impedis Deus? […]“ Schon JѢљіѢѠ Hђљё, „Rembrandt and the Book of Tobit“, in: DђџѠ., Rembrandt’s Aristotle and other Rembrandt Studies, Princeton, N. J. 1969, 104–129, hier 122f., Anm. 29, wies bereits auf dieses Theaterstück hin. Held zeigt, daß es am 1ř. 12. 1595 in Leiden von „quelques enfans“ aufgeführt wurde. Es habe einen solchen Eindruck gemacht, daß mehrere Besucher weinten, wie J. J. Scaliger an Monsieur de Thou schrieb, der gerade eine kleine Tragödie verfaßte (JќѠђѝѕ JѢѠѡѢѠ Sѐюљієђџ, Lettre francaises inédites, hg. v. Pѕіљіѝѝђ TюњіѧђѦ ёђ LюџќўѢђ, Paris 1979, ř11f.). Rembrandt habe höchstwahrscheinlich von Huyghens den Hinweis auf dieses Motiv bekommen, denn dieser erwähne in seinem Tagebuch, daß er als Schüler an einer Aufführung dieses Stücks teilgenommen und daß sein älterer Bruder die Rolle des Isaak gespielt habe (lat. Text bei J. A. Wќџѝ, in: Bijdragen en mededeelingen van het historisch genootschap 18 [1897], 1–122, hier ř0). Dabei beschreibe auch er die Wirkung dieses Stücks auf die Zuschauer mit dem rhetorischen Topos, einige Zuschauer hätten während der Aufführung geweint. Es sei sicher kein Zufall, daß Huyghens in seinem Tagebuch Rembrandts „vivacitas affectuum“ preist und Rembrandt in seinem Schreiben an Huyghens betont, er habe die „meeste ende naetuereelste beweechgelickheyt“ erreicht. Schließlich hat auch der Jesuit Jacobus Pontanus in seiner Theaterfassung das Motiv variiert, wenn er Abraham das Erstarren von Hand und Fingern in dem Augenblick bemerken läßt, in dem er das Schwert ergreifen soll: „Eheu quam torpida manus, quam digiti rigent?“ JюѐќяѢѠ PќћѡюћѢѠ, „Immolatio Isaac“, in: DђџѠ., Poeticarum institutionum libri tres. Tyrocinium poeticum, Ingolstadt 1594, 526–56ř, hier 556, 11. Szene. In der Mitte der dreißiger Jahre experimentiert Rembrandt mit einer Darstellung von transitorischen Motiven und Ereignissen. Im Auferstehungsbild der Passionsserie läßt ein in Panik davonstürmender Wächter sein Schwert fallen (BџђёіѢѠ [Anm. ř], 516; Cѕ. Tҿњѝђљ, Mythos [Anm. ř], 58; BџѢѦћ u. a., Corpus [Anm. ř], A127). Im Gemälde Der Engel verläßt die Familie des Tobias erschrickt Anna so sehr, als sich der Engel als himmlisches Wesen zu erkennen gegeben hat, daß ihr der Stock, auf den sie sich stützte, entgleitet (Paris, Louvre; BџђёіѢѠ [Anm. ř], 50ř; Cѕ. Tҿњѝђљ, Mythos [Anm. ř], 15; BџѢѦћ u. a., Corpus [Anm. ř], A121). Ähnlich lassen in der Verkündigung
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Bildlösung offensichtlich bewußt, wenn er sein monumentales Bild noch einmal von einem Mitarbeiter kopieren und dabei in wichtigen Punkten nochmals zuspitzen ließ: Die Verzweiflung und der Schmerz des greisen Erzvaters sind noch kräftiger akzentuiert. In der definitiven Version der Münchener Fassung hat sich der Engel Abraham nicht von der Seite genähert, sondern vom Rücken, weshalb Abraham ihn auch noch nicht gesehen haben kann. Bei der St. Petersburger Fassung umfaßt er sanft die Hand des Erzvaters, in der Münchener greift er kräftig zu. Rembrandts dramatisches Bild und die von ihm verbesserte Werkstattfassung machten Furore. Sie forderten zur Auseinandersetzung und zur Kritik auf. Sowohl Govaert Flinck (Abb. 29) wie ein unbekannter Schüler, der Reinier Gherwen nahesteht (Abb. ř0), ließen in ihren Bildern – die bald darauf entstanden sein müssen – textgemäß den Engel die Opferhandlung allein durch sein Wort unterbrechen.Ⱥ50 Jan Lievens schuf in seiner Antwerpener Zeit dramatische Kompositionen, in denen er mit Rembrandts Werken wetteiferte (Abb. ř1, vgl. auch ř2).Ⱥ51 Isaak, ein junger Knabe, liegt ausgestreckt auf dem Opferstein, als der Engel dem zur Tat entschiedenen Abraham in den Arm fällt und ihn auf Gottes Beschluß weist. Der Erzvater schaut erstaunt nach oben. Noch ist die Rettung bei ihm nicht durchgedrungen. Zerfurcht ist noch sein Gesicht, vom Schrecken gezeichnet. Doch der kleine Isaakknabe begreift es, streckt dem Engel die Arme entgegen, ähnlich wie der wiedererweckte
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an die Hirten (B. 44) diese ihre Hirtenstäbe vor Schrecken fallen, als der Engel vom Himmel her erscheint. Bei der Blendung Simsons spritzt das Blut (Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut; BџђёіѢѠ [Anm. ř], 501; Cѕ. Tҿњѝђљ, Mythos [Anm. ř], 12; BџѢѦћ u. a., Corpus [Anm. ř], A116). Als Belsazar im Gastmahl des Belsazar die Worte an der Wand sieht, stößt er vor Schrecken einen Pokal um, aus dem sich der Wein auf die Tafel ergießt (BџђёіѢѠ [Anm. ř], 491; Cѕ. Tҿњѝђљ, Mythos [Anm. ř], 11; BџѢѦћ u. a., Corpus [Anm. ř], A110). Ganymed, von Zeus entführt, uriniert vor Angst (Dresden, Gemäldegalerie; BџђёіѢѠ [Anm. ř], 471; Cѕ. Tҿњѝђљ, Mythos [Anm. ř], 98; BџѢѦћ u. a., Corpus [Anm. ř], A11ř). In Flincks Bild (Abb. 29) kniet Abraham hinter Isaak, der mit auf den Rücken gebundenen Händen auf dem Opferstein liegt. Erschrocken und geblendet fährt Abraham vor dem Engel zurück, der ihm – auf einer Wolke schwebend – auffordert, das Opfer nicht zu vollziehen. Das aus dem Futteral gezogene Messer liegt unterhalb der Hand Isaaks auf dem Boden (Jќюѐѕіњ W. ѣќћ Mќљѡјђ, Govaert Flinck 1615–1660, Amsterdam 1965, Nr. 7a). Der unbekannte Schüler (Abb. ř0) gibt Abraham und Isaak ähnlich wie auf dem St. Petersburger Bild wieder, nur daß Abraham sein Messer in den Händen hält und sich damit dem Halse Isaaks schon bedrohlich genähert hat. Da spricht ihn von einer dunklen Wolke, auf die er sich bequem mit seinem linken Arm lehnt, der Engel an (Wђџћђџ SѢњќѤѠјі, Gemälde der Rembrandt-Schüler, 5 Bde., Landau i. d. Pfalz 198ř– 1990, Bd. 4, 2961, Nr. 1901). HюћѠ Sѐѕћђіёђџ, Jan Lievens, hg. u. ergänzt v. RѢёќљѓ E. O. Eѐѕюџѡ, Amsterdam Ŷ197ř, Nr. ř; SѢњќѤѠјі, Gemälde (Anm. 50), Bd. 4, 178ř, Nr. 1194 (Farb-Abb.).
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Lazarus seine Arme dem Heiland zustreckt. Das Leben ist erneut geschenkt. In einem weiteren, wohl ebenfalls in Antwerpen geschaffenen Bild von Jan Lievens ‚Abraham und Isaak umarmen sich nach der Opferung‘ (Abb. ř2) sind die väterlichen Gefühle Abrahams, dem sein Sohn durch die Ablösung des Menschenopfers durch das Tieropfer wiedergeschenkt worden ist, auch in der Gebärdensprache ergreifend ausgedrückt.Ⱥ52 Jan Lievens hat bei der Schilderung dieses Momentes auf die ‚Jüdischen Altertümer‘ von Flavius Josephus zurückgegriffen. Dort heißt es: Als Gott so gesprochen hatte, führte er ihnen plötzlich einen Widder zum Opfer zu. Jene aber, die sich wider Erwarten einander wiedergegeben sahen und der Verheißung so großen Glückes teilhaftig geworden waren, umarmten sich gegenseitig, schlachteten das Opfertier und kehrten zu Sarah zurück.Ⱥ5ř
In drei entscheidenden Motiven unterscheidet sich der Bericht des Josephus von der Bibel: Gott selbst ruft Abraham, in der Bibel ist es ein Engel. Bei Josephus umarmen sich Abraham und Isaak nach der Rettung, die Bibel schweigt über die Gefühle Abrahams und Isaaks. Nach Josephus opfern Abraham und Isaak den Widder, nach der Bibel opfert nur Abraham. Lievens hat sich durch die ‚Jüdischen Altertümer‘ inspirieren lassen, gleich mehrmals die Szene darzustellen, in der Vater und Sohn die Rettung feiern – in einer nicht erhaltenen Grisaille, in dem Braunschweiger Gemälde und in einem ihm zugeschriebenen Bild in der Sammlung Carlisle, Castle Howard. In dem großartigen Braunschweiger Bild knien Abraham und Isaak vor der Opferstätte. Sie umarmen sich gegenseitig, noch vom Schrecken und der Opferszene gezeichnet. Isaak ist noch entblößt. Dankbar richten sich ihre Augen empor zu dem unbegreiflichen Gott, der dieses Opfer von ihnen verlangte und sie errettete. Dabei hat Lievens Abraham im verlorenen Profil als Rückenfigur dargestellt. Wir sehen die Geschichte mit den Augen Abrahams, umarmen mit ihm den wiedergewonnenen Sohn. Lievens hat die zeitliche Abfolge der Geschichte umgedreht. Der Bock scheint schon geschlachtet und geopfert worden zu sein. Das Brandopfer steigt zum Himmel. Damit macht Lievens deutlich, daß hier das Tieropfer schon das Menschenopfer abgelöst hat, zugleich ist das Tieropfer ein Symbol für die Dankbarkeit Abrahams und Isaaks, ein Opfer des Alten Testaments, das überboten ist durch das Opfer ihres Gehorsams und ihres Glaubens, der in den nach oben gerichteten Blicken zum Ausdruck kommt. So sind das Messer, das abge-
52 5ř
Sѐѕћђіёђџ (Anm. 51), Nr. 2; SѢњќѤѠјі, Gemälde (Anm. 50), Bd. 4, 1782, Nr. 1199. Vgl. dazu auch Cѕ. Tҿњѝђљ, Rezeption (Anm. 12), 19řf. Zur Textquelle vgl. FљюѣіѢѠ JќѠђѝѕѢѠ, Die jüdischen Altertümer, I, 1ř, 4.
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zogene Schaffell und der Opferstein mit den brennenden Holzscheiten auch eine Darstellung einer alten, vergangenen Welt. Sie visualisieren geradezu drastisch, was Gott von Abraham gefordert hatte und was er nach den Opferregeln mit Isaak hätte tun müssen. Lievens’ Bildlösung machte auf Zeitgenossen einen tiefen Eindruck: Philips Angel beschrieb 1642 in seinem „Lof der Schilderkonst“ ausführlich eine Grisaille Lievens’, die dem Braunschweiger Bild verwandt gewesen sein muß: Ⱥ54 Die ungewöhnliche Darstellung basiere ganz auf einer Stelle im 1ř. Kapitel von Flavius Josephus’ ‚Jüdischen Altertümern‘, wo dieser beschreibe, wie – als Gott durch sein Eingreifen die Handlung Abrahams abgebrochen hatte – Vater und Sohn einander umarmten und küßten, was der große Geist sehr schön (wenn auch sehr drastisch) ausgebildet habe. Er lasse das Brandopfer brennen, während sie einander umarmten. Es sei nämlich grundsätzlich zugestanden, daß jemand, um zu zusätzlicher Kenntnis der Geschichte zu kommen, mehr als ein Buch durchlese, und sei es eines, das das Geschehen breiter beschreibt oder 54
Vgl. PѕіљіѝѠ Aћєђљ, Lof der Schilderkonst, Leyden 1642, 48f.: „Soo yet bysonders, doch natuerlicx heb’ ick bevonden in een graeutje van Jan Lievensz. daer hy de offerhanden des Patriarchs Abraham in affghemaelt hadd’, doch gansch onghemeen, en evenwel eygentlick, volgens de beschryvinghe Iosephi den Ioodschen Hystori Schrijver, in ’t Eerste Boeck op ’t leste vant 1řde Cappittel, alwaar hy seyt, dat, na Godt het voornemen van Abraham ghestudt hadd’, sy malkanderen (als van nieuws ghevonden) omhelsden, en kuste, het welcke dese groote Geest seer aerdich (hoewel rou) uyt gebeelt heeft, latende den Brantoffer smoocken, terwijle sy den ander omvatten. Siet! deze vryheyt is gheoorloft dat yemandt om tot meerder veranderlicke kennise der Hystorien te komen, meer als een Boeck doorlesen mach, het sy een die het breeder beschrijft, of uytleyt, waer van den Schilder door syn goet oordeel dat hy heeft, het eyghenlicxste en seeckerste moet nabootsen, want dat hier Abraham Isaack omhelst heeft, is ghelooffelick, schoon de Bybel daer gheen ghewach van en maect, want Isack was Abraham (door het ghebodt Godts) los ghestelt, ende soo hy de begheerte Godts ghehoorsamelick na-quam, ghenoechsaem als verlooren, maer hem, die door de ghenoechsame ghehoorsaemheyt, die hy in de ghewillige op-offeringhe sijns zoons betoont hadde, wederom ghegeven zijnde, heeft buyten twijffel in dien oude Vaders herte so groote vreughde doen ontstaen, alsser te voren een harde en droeve indruck gheweest is, en syn zoon buyten twijffel (dien hy als van de doodt sach weder komen) daerom in sijn armen ghenomen, ende aen de borst ghedruckt: want Christus, voorstellende by Luce 15 Cap. vers. 20. van de Verlooren zoon, ghetuyght, dat wanneer de Vader hem van verre sach komen, is hem te ghemoet gheloopen, ende om den hals ghevloghen, siende synen zoon weder tot hem komen die verlooren was gheweest. Siet, Christus willende uyt-drucken de toe-gheneghentheyt die een Vader tot syn weder ghevonden zoon draeght, stelt hem syn zoon om-vattende, ons voor; hoeveel te meer dan Abraham die sijn zoon wederkreegh, in welcke die belofte gheschiet waren, dat alle gheslachten in hem souden gheseghent werden, als hy hem nu buyten ghevaer vondt. Soo dat sulcke onghemeene eyghentlickheden gheoorloft syn, ende ten hooghsten prijsselijck, wanneer een Schilder die betracht.“
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auslegt, wovon der Maler auf Grund seines guten Urteils das sicherste und wahrscheinlichste ausbilden darf. Die Argumentation von Angel, weshalb die Darstellung dieser von der Bibel nicht erwähnten Episode statthaft sei, ist interessant. Auch sie geht von den Affekten Abrahams aus: Daß der Vater seinen Sohn umarmt habe, sei angesichts dessen, was er vorher durch Gottes Forderung durchlitten habe, wahrscheinlich. Denn wenn Jesus schon den Vater des Verlorenen Sohns seinen wiedergewonnenen Sohn umarmen läßt, um die Zuneigung, die ein Vater für seinen Sohn hat, auszudrücken, um wieviel wahrscheinlicher ist es, daß Abraham, der seinen Sohn wiederbekam, in dem alle Geschlechter gesegnet werden sollten, Isaak umarmte, als er sah, daß dieser außer Gefahr war. So seien bei solchen dichterischen Ausschmückungen Besonderheiten erlaubt, und es sei sogar zu preisen, wenn ein Maler sie verwendet. Die ‚Jüdischen Altertümer‘ halfen Lievens also, die alte Geschichte neu zu sehen und durch die Darstellung eines späteren Moments, in dem die vorangehende Geschichte noch nachklingt, sowie durch die Erfindung von sprechenden Gebärden neu zu gestalten. Als Rembrandt 1645 die Radierung ‚Abraham und Isaak vor dem Opfer‘ (Abb. řř) schuf, ging er ebenfalls von dem Bericht des Flavius Josephus aus.Ⱥ55 Während nämlich das Gespräch zwischen Vater und Sohn nach dem biblischen Bericht auf dem Wege zur Opferstelle stattgefunden hat, gibt Rembrandt es an der Opferstätte wieder, wo es Flavius Josephus ansiedelt. Nach Josephus ist das Gespräch von großer Glaubensstärke getragen, Vater und Sohn verhalten sich in stoischer Gelassenheit. Rembrandt gibt Abraham völlig erstarrt wieder, Isaak starrt vor sich hin, seine Augen sind verschattet. Die Zuneigung zwischen Vater und Sohn hat Rembrandt hier nicht thematisiert.Ⱥ56 55 56
JќѠђѝѕѢѠ (Anm. 5ř), I, 1ř, 2ff. Es gehört zu den einflußreichen Themen, die erstmals von Rembrandt in einer Einzelszene behandelt wurden, und ist ein typisches Rembrandt-Thema. Denn neben den Höhepunkten hat Rembrandt immer wieder – vor allem im Früh- und Spätwerk – Augenblicke der Historie ausgewählt, in denen sich das Künftige ankündigt oder das entscheidende Ereignis nachklingt, etwa im Dialog. So erzielt er bei geringster Handlung ein hohes Maß an innerer Spannung. Zu solchen Szenen wurde er häufig durch altertümliche Simultandarstellungen angeregt. So auch hier. Die einzelnen Stationen auf dem Weg zur Opferstätte sind in der mittelalterlichen Kunst ausführlich geschildert worden, z. B. in einer Altartafel, die dem Meister von Frankfurt zugeschrieben wird (1947 im Londoner Kunsthandel, Abb. D. I. A. L. 71 C 28. [Decimal Index to the Art of the Low Countries [D. I. A. L.], hg. v. Rijksbureau voor Kunsthistorische Dokumentatie in Den Haag; der D. I. A. L. ist ein ikonographischer Fotokatalog, in dem die erfaßten Werke der niederländischen Kunst ikonographisch nach Themen geordnet sind und mit einer Codenummer versehen sind, die das Thema bestimmt. Die Opferung Isaaks etwa hat die oben zitierte Code 71C 28]. Von einem Werk, in dem die einzelnen Stationen der Opferung simultan wiedergegeben waren, scheint
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Lievens’ verschollenes Gemälde ‚Abraham und Isaak umarmen einander nach der Opferung‘ übte einen großen Einfluß auf die Kunst aus. Caravaggio und Rembrandt hatten gezeigt, wie Abraham in seinem seelischen Zwiespalt geradezu zur Gefühllosigkeit erstarrt war und mit grausamer Härte den Befehl Gottes umsetzte. In Lievens’ Bild war die väterliche Seite Abrahams, seine Liebe zu seinem „enig troetel-kind“ (Vondel) verbildlicht worden durch die Gebärdensprache Abrahams, und die Künstler des Rembrandtkreises kamen nicht darum herum, sich damit auseinanderzusetzen. Einer der ersten, der Lievens’ Bild-Erfindung auf die Szene ‚Abraham und Isaak vor der Opferung‘ übertrug, war Jan Victors (Abb. ř4).Ⱥ57 Beeinflußt von Lievens’ Bildlösung läßt er Abraham sich bei dem Gespräch vor dem Opfer über Isaak beugen und seine Zuneigung und Verzweiflung auch durch seine Gebärdensprache ausdrücken. Seine Linke legt der Vater liebevoll um die Schulter seines Sohnes und faßt ihn bei der Rechten. Isaak schaut ihm in die Augen und findet sich in sein Schicksal. Für die Szene der Opferung Isaaks fand dann Ferdinand Bol in seinem monumentalen Gemälde mit lebensgroßen Figuren aus dem Jahre 1646 eine neue Bildsprache für das liebevolle Verhältnis zwischen Vater und Sohn (Abb. ř5).Ⱥ58 Das Bild ist von Rembrandts St. Petersburger Bild und dem Münchener Werkstattbild geprägt. Der vor Verzweiflung und Schrecken erstarrte Abraham läßt das Messer fallen, als der Engel, auf einer Wolke vom Himmel schwebend, ihn anspricht. Aber nach Lievens’ Bildlösung des Braunschweiger Bildes ließ sich die Gebärdensprache zwischen Vater und Sohn nicht mehr so kühl, jeder Emotion entzogen, darstellen. Isaak sitzt hier auf dem Opferstein und schmiegt sich an Abraham. Der drückt den Kopf seines Sohnes mit seiner Linken an sein Herz, wodurch er das Messer vor dem Blick des Sohnes verbirgt. Isaak streckt seinen linken Arm aus und legt seine Hand auf die Brust Abrahams. Die Haltung der Beine Isaaks hat Bol aus Lastmans Pariser Opferung Abrahams entlehnt. Reinier van Gherwen hat die Szene Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre ähnlich gestaltet (Abb. ř6).Ⱥ59 Isaak sitzt auf dem Opfer-
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Rembrandt angeregt zu sein. In den mittelalterlichen Werken ist das Gespräch dem biblischen Bericht gemäß auf dem Weg zur Opferstelle dargestellt (so etwa in Lucas van Leydens Holzschnitt B. ř). SѢњќѤѠјі, Gemälde (Anm. 50), Bd. 4, 2601, Nr. 174ř (Farb-Abb.). Aљяђџѡ Bљюћјђџѡ, Ferdinand Bol (1616–1680). Rembrandt’s Pupil, Doornspijk 1982, Nr. 4, Tafel 8. SѢњќѤѠјі, Gemälde (Anm. 50), Bd. 2, 1279 (Nr. 818, Farb-Abb.): „Das Münchener Gemälde ist frühestens in den vierziger Jahren entstanden. Der Datierungsvorschlag
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stein. Abraham kniet hinter ihm, umfaßt vorsichtig und zärtlich seine Arme und spricht ihm ruhig zu. In der Rechten hält er das Schlachtmesser. Isaak neigt sein Haupt auf die linke Schulter und legt damit seinen Hals bloß. Über der Gruppe schwebt in einer dunklen Wolke bereits der Engel heran. Schon durch die formale Gestaltung erinnert die Darstellung an „Christus auf dem kalten Stein“. Als Nicolaes Maes sich in einer Zeichnung dem Thema zuwandte, versuchte er erst, Lievens’ Bildlösung ‚Abraham und Isaak umarmen einander‘ auch auf die Opferszene zu übertragen. Vater und Sohn knien beide. Liebevoll legt Abraham seine Rechte um Isaak, der sein Haupt auf das Knie Abrahams legt. Abraham faßt mit seiner Linken nach dem Schwert. Da erscheint ihm der Engel. Wie sollte er ihn plazieren, wie sollte er den Engel eingreifen lassen, scheint sich der Schüler gefragt zu haben. Viermal hat er das Haupt des Engels skizziert (Abb. ř8).Ⱥ60 Dann ging er offensichtlich dazu über, die Darstellung aus Aktstudien zu entwickeln (Abb. ř7).Ⱥ61 Isaak zeigt er in seinem Gemälde schräg in den Raum gestaffelt auf dem Opferstein liegend, die Hände gebunden (Abb. ř9).Ⱥ62 Neben ihm läßt er wieder Abraham knien, der diesmal mit seiner Rechten sein Schwert zieht. Über der Gruppe schwebt ein lächelnder Engel, der schon auf den guten Ausgang hinweist, bevor er überhaupt eingegriffen hat. Am überzeugendsten ist hier die farbliche Gestaltung. Als Rembrandt 1655 das Opfer Isaaks in seiner Radierung (Abb. 40) darstellte, blieb er nicht unberührt von der Gebärdensprache, die Lievens, Bol und Victors mittlerweile gefunden hatten, um die Zuneigung zwischen Vater und Sohn auszudrücken, und weicht in einem entscheidenden Teil vom wörtlichen Text ab: Isaak kniet. Abraham drückt seinen Sohn, den er zu verlieren fürchtet, fest an sich. Isaak ist nicht länger ausgestreckt wie ein Opfertier. Er kniet in unschuldiger Ergebenheit neben seinem Vater, der das Haupt seines Sohnes an sich preßt. Es ist eine Geste, die unendlich viel menschlicher ist als die in der früheren Version. Trotz dieser Abweichung vom wörtlichen Text, die den künstlerischen Dialog, der in Rembrandts Umkreis stattfand, verarbeitet, schließt sich Rembrandt in einem Detail dem wörtlichen Text genau an. Er versteht die Opferung nämlich als Schächtung. Abraham hält ein Messer. Vor
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läßt sich etwas präzisieren: da die Figur Isaaks in Formcharakter und in der Haltung an Rembrandts Aktradierung B. 19ř und gleichzeitige Akt-Zeichnungen von Samuel van Hoogstraten […] erinnert, dürften Reynier van Gherwen diese Arbeiten bekannt gewesen sein.“ Wђџћђџ SѢњќѤѠјі, Drawings of the Rembrandt School, New ork, 11 Bde., 1979–1992, Bd. 8, 4154, Nr. 1855 (m. Abb.). Ebd., Bd. 8, ř970, Nr. 1765b. SѢњќѤѠјі, Gemälde (Anm. 50), Bd. ř, 2007, Nr. 1ř16 (Farb-Abb.).
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Isaak ist eine Schale aufgestellt, um das Blut aufzufangen. Jacob Rosenberg beschrieb das Bild eindrucksvoll: Der Engel nähert sich vom Rücken Abrahams, ergreift seine beiden Arme mit einer Umarmung, die kräftig und zugleich im hohen Maße symbolisch ist. Obwohl sein Gesicht dem Abrahams nahe ist, und sein machtvoller Griff die Opferhandlung beendet, wird der Engel von dem Patriarchen nicht gesehen. Diagonale Strahlen von Licht durchdringen die wolkige Atmosphäre, welche die Gruppe umgibt, die, wie die Erscheinung des Engels, die göttliche Gnade symbolisieren, die sich auf Abraham in diesem geheiligten Moment herabläßt. Der Vater hat noch nicht völlig die Bedeutung dieser gesegneten Erscheinung erkannt. Wie er nach innen auf die unbekannte Stimme lauscht, ist sein Gesicht noch immer von dem Eindruck der erlittenen Qualen gezeichnet.Ⱥ6ř
Mit diesem Meisterwerk erreicht der fruchtbare Dialog Rembrandts mit seinen Schülern und Weggenossen über die Opferung Isaaks einen Höhepunkt. Ein später Schüler hat nach dieser Komposition im noch nicht beherrschten Malstil des späten Rembrandt eine Variation geschaffen (Abb. 41).Ⱥ64 Es ist ein bescheidener Epilog, der bei den anderen Rembrandtschülern keine Reaktion mehr hervorruft. Der Diskurs, der im Kreis um Lastman und Rembrandt über die Opferung Isaaks geführt wurde, zeigt, wie durch eine Auseinandersetzung mit antiken und modernen literarischen Schilderungen der Opferung Isaaks die Ausbildung der Affekte des Vaters und des Sohnes stärker ins Blickfeld geraten und zu ganz neuen, meist textgetreueren Bildlösungen führen. Der biblische Text wird beim Wort genommen. Die neuen Bildlösungen werden aber später erneut korrigiert, um angemessener die Affekte der beiden Erzväter wiederzugeben. Das genaue, wörtliche Verständnis der Geschichte war dabei eine wichtige Voraussetzung für die Bildlösungen, die Lastman, seine Schüler Rembrandt und Lievens sowie die Rembrandtschule im Dialog fanden. Da die Opferung Isaaks jedoch von einzelnen Autoren, die auf die Künstler großen Einfluß ausübten, christologisch gedeutet wurde, hängt die Art, wie sie von den Malern selbst und später von den Betrachtern ihrer Werke interpretiert wurde, von ihrem eigenen Vorverständnis des Sinns der alttestamentlichen Geschichten ab.
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Jюѐќя RќѠђћяђџє, Rembrandt. Life and Work, LondonȦNew ork ŷ1968, 176 (Übers. aus d. Engl.). Abb. bei SѢњќѤѠјі, Gemälde (Anm. 50), Bd. 4, ř04ř, Nr. 1976.
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Anhang Joost van den Vondel Aenden opmerckenden en verstandigen Leser. […] Hier zyn voor al goede voorgangers van noode om geen slimme gangen te gaen. De alderbeste, en veylighste zijn schriftuurlycke, en zulcke die de heylige Geest heeft doorluchtigh gemaeckt: ’t welck zijn de Heyligen des ouwden en nieuwen verbonds. Die van ’t ouwde verbond brengen wy hier, als op het tooneel, voor eerst te voorschyn. Geen ware Godgeleerde zal ons hierom met donckere wynbrouwen stuyrs aenzien: want wy doen effen het zelfde dat de Godgeleerde schryver tot den Hebreen al over lange dede, als hy [aenmerckende dat al wat voorhenen geschreven ons tot leeringe naegelaeten was] de Vaderen des ouwden verbonds optelde, en haer heerlijcke daden elck in ’t byzonder den geloovigen Christenen op het rycxste voor oogen schilderde, en als een goed huys heere niet alleen nieuw, maer oock ouwd uyt zijn trezoor voortbracht. Hier over was hy zoo weynigh te berispen als Christus zijn Meester, die hem op dusdanige wyze was voorgegaen. Wilmen ons voorwerpen, dat men de voorbeelden des ouwden en nieuwen verbonds met onderscheyd moet aenmercken: dat wy de Heyligen, die voor, en onder de wet leefden, moeten naevolgen alleen in ’t gene daer in zy ons als naevolghlycke voorbeelden zijn naegelaeten: zulckx staen wy toe, en dit heeft oock de gedachte schryver omzichtigh aengemerckt, als eener die wel verstond, dat de wet door Moses gegeven, maer genade en waerheyd door Iesus Christus geworden was: dat de wet de schaduwe van toekomende goederen, en niet het beeld der dingen zelve behelsde. Hier most gewisselijck op gepast zijn. Die dat niet dede zoude lichtelijck een mengelmoes vande wet, en het Euangelie maecken, en een verboden Mosaïsche, met een geoorloofde Christelijcke Godsdienst te zamen smelten. Nu in Christus dood het voorhanghsel des Tempels gescheurt is, weten wy dat de donckere schaduwen des wets voor het licht van d’Euangelische waerheyd wycken moeten: dat de vergaderinge der geloovigen niet alleen te Ierusalem, maer aen alle oorden der weereld heylige handen tot God magh opheffen. Christus des wets eynde jont alle dingen een ander aengezicht. In hem is het ouwde vergaen, en het is al nieuw geworden. (Vюћ ёђћ Vќћёђљ, Helden [Anm. ř5]; ёђџѠ., dichtwerken [Anm. ř5], 111; zitiert nach: DђџѠ., werken [Anm. ř5], Bd. 2, ř08f.)
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Der geloovigen vader.
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Zo yemand meten wil mijn heylighe voetstappen, Dat hy zijn ooghen weyde in al myn ballinghschappen: Dat hy aenmerck hoe ick om vree mijn Broeder wyck: Hoe trouw ick hem ontboey, myn huys ghehoorzaem yck. Dat hem ter herten gae hoe gastvry ick my draghe, En d’Eng’len legher in de schaduw van myn haghe: Met wat medoogen ick ophoude Sodoms roe: Met welck een vast gheloove ick legh my zelven toe Te zwang’ren Sara, met een eenighe eerstgheboren: Met wat ghelatenheyd ick in mijn Egaes toren Myn Hagar geef ’t gheley sampt haeren Ismael. Doch al dees’ zwarighe’en zijn niet dan kinderspel Ten aenzien van die storm, doen hard van alle zyden Het scheepken mijns gheloofs schip-brekingh scheen te lyden, Als met dees donderstem God zijnen Abram vind, En spreeckt: gaet offert my uw eenigh troetel-kind. Dat was een wonde in ’t hert na zo veel herde slaghen: Ick geef te dencken hoe ’t een vader al kost draghen. Help God! wat ginger doen een thy van tegenspoed, Hoe worstelde ’t gheloove en ’t Vaderlijck ghemoed, Als ick op d’heyl’ge klip van droefheyd schier verslonden, Beyde ermen kruyswijs van myn Isack had gebonden, En trock, in God getroost, den sabel uyt bera’en Om van die zoetebol ’t hoofd vanden buyck te slaen. vs. Ghewis’lyck hadder niet een Enghel toegheschoten, En mynen erm verlet, de steenrootze ick begoten Zoude hebben met dat bloed, waer in Gods goedigheyd My zijnen zeghen had beloofd en toegezeyd. Maer vraeghdy wat myn hoop noch voede in zulcke nooden: Het leven, dacht ick, kan verwecken licht den dooden, En die een klomp bezielde, hem die voor ’t altaer viel Inblazen wederom een levendighe ziel. Ghy vromen dat ’s u voor! standvastigh allegader Dit voetspoor houd, en volght my aller heyl’gen Vader. (Vюћ ёђћ Vќћёђљ, Helden [Anm. ř5]; ёђџѠ., dichtwerken [Anm. ř5], 114; zitiert nach: DђџѠ., werken [Anm. ř5], Bd. 2, řř1)
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Abb. 1: Rђњяџюћёѡ, Opferung Isaaks, 16ř5, Leinwand, 19ř × 1ř2,5 cm, St. Petersburg, Eremitage.
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Abb. 2: RђњяџюћёѡѤђџјѠѡюѡѡ Ѣћё Rђњяџюћёѡ, Opferung Isaaks, 16ř6, Leinwand, 195 × 1ř2,ř cm, München, Alte Pinakothek.
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Abb. ř: RђњяџюћёѡѤђџјѠѡюѡѡ Ѣћё Rђњяџюћёѡ, Opferung Isaaks (Detail, Infrarotreflektographie), 16ř6, München, Alte Pinakothek, in: Dђјіђџѡ (Anm. 4), Abb. 24. „Die ehemals linke Schwinge des Engels erscheint als deutlich konturierter heller Fleck unmittelbar unterhalb des heutigen Engelkopfes“ (Dђјіђџѡ S. 54).
Abb. 4: RђњяџюћёѡѤђџјѠѡюѡѡ Ѣћё Rђњяџюћёѡ, Die Opferung Isaaks (Detail, Infrarotreflektographie), 16ř6, München, Alte Pinakothek, in: Dђјіђџѡ (Anm. 4), Abb. 25. „Der vormals rechte Flügel wird vom jetzt vorhandenen rechten Flügel überschnitten; deutlich ist die obere Kontur des ‚alten‘ Flügels zu verfolgen, ebenso die vormalige ‚Abtreppung‘ des Gefieders im unteren Teil“ (Dђјіђџѡ S. 54).
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Abb. 5: RђњяџюћёѡѤђџјѠѡюѡѡ Ѣћё Rђњяџюћёѡ, Die Opferung Isaaks (Detail, Infrarotreflektographie), 16ř6, München, Alte Pinakothek, in: Dђјіђџѡ (Anm. 4), Abb. 26. „Die Aufnahme zeigt vor dem dunklen Fond der Innenseite der aktuellen linken Schwinge deutlich die Form der Einhalt gebietenden Hand, wie man sie von der ersten Fassung kennt“ (Dђјіђџѡ S. 55).
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Abb. 6: Rђњяџюћёѡ, Abrahams Opfer, rote Kreide über schwarzer Kreide, mit grauer Lavierung auf einem Papier mit leicht brauner Lavierung, 19,7 × 14,7 cm, London, British Museum, Department of Prints and Drawings.
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Abb. 7: Rђњяџюћёѡ, Abrahams Opfer (Detail: Kopf), St. Petersburg, Eremitage.
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Abb. 8: RђњяџюћёѡѤђџјѠѡюѡѡ Ѣћё Rђњяџюћёѡ, Abrahams Opfer (Detail: Kopf), München, Alte Pinakothek.
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Abb. 9: Abrahams Opfer, Holzschnitt, in: Hюџѡњюћћ Sѐѕђёђљ, Schedelsche Weltchronik, Nürnberg 149ř, XXIIv.
Abb. 10: Abrahams Opfer, Holzschnitt, 11,9 × 18,5 cm, in: Hђіћџіѐѕ QѢђћѡђљљ oder BюџѡѕќљќњѫѢѠ ѣюћ Uћѐјђљ, Die Kölner Bibel, Köln ca. 1478Ȧ79.
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Abb. 11: HюћѠ Sђяюљё Bђѕюњ, Abraham und Isaak auf dem Weg zur Opferstätte, 1526, Holzschnitt, in: Die fürnehmsten Hystorien oder geschicht des Ersten buchs Mose, (drei Blätter mit 169 Blöcken; das Blatt mit der Opferung Abrahams ist 29,4 × 26,4 cm groß und enthält 47 Blöcke), Nürnberg 1526.
Abb. 12: HюћѠ Sђяюљё Bђѕюњ, Abrahams Opfer. Er faßt das Schwert, Holzschnitt, in: Die fürnehmsten Hystorien oder geschicht des Ersten buchs Mose, (s. Abb. 11), Nürnberg 1526.
Abb. 1ř: HюћѠ Sђяюљё Bђѕюњ, Abrahams Opfer. Der Engel greift ein, Holzschnitt, in: Die fürnehmsten Hystorien oder geschicht des Ersten buchs Mose, (s. Abb. 11), Nürnberg 1526.
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Abb. 14: HюћѠ Hќљяђіћ ё. J., Abrahams Opfer, Holzschnitt, 6,0 × 8,8 cm, in: Historiarum Veteris Testamenti Icones, Lyon 15ř8.
Abb. 15: Bђџћюџё Sюљќњќћ, Abrahams Opfer, Holzschnitt, ca. 6,0 × 8,0 cm, in: Wol gerissnen und geschnidten figuren, Lyon 1554.
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Abb. 16: Vіџєіљ SќљіѠ, Das Opfer von Isaak, Holzschnitt, ca. 7,5 × 10,5 cm, in: Biblische Figuren, Frankfurt a. M. 1560.
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Abb. 17: TќяіюѠ Sѡіњњђџ, Abrahams Opfer, Holzschnitt, ca. 6,0 × 8,ř cm, in: Neue künstliche Figuren biblischer Historien, Basel 1576. Abb. 18: Abrahams Opfer, Holzschnitt, in: Biblia. das ist Die gantze Heilige Schrifft. Deutsch, übers. v. Mюџѡіћ LѢѡѕђџ, Wittenberg 1545. S. o. S. 221, Abb. 2. Abb. 19: MюѡѡѕѫѢѠ Mђџіюћ ё. Ä., Abrahams Opfer, Radierung, 10,6 × 14,8 cm, in: Icones biblicae, Straßburg 1629f. S. o. S. 22ř, Abb. ř.
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Abb. 20: Cюџюѣюєєіќ, Abrahams Opfer, Leinwand, 104 × 1ř5 cm, Florenz, Galleria degli Uffizi.
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Abb. 21: Pђѡђџ PюѢљ RѢяђћѠ, Abrahams Opfer, um 1610Ȧ11, Holz 141 × 110 cm, Kansas City, Missouri, William Rockhill Nelson Gallery and Atkins Museum of Art.
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Abb. 22: Pіђѡђџ LюѠѡњюћ, Abrahams Opfer, monogrammiert links unten: PL, um 1612, Grisaille, Holz, 40 × ř2 cm, Amsterdam, Museum Het Rembrandthuis (als Leihgabe des Instituut Collectie Nederland).
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Abb. 2ř: Pіђѡђџ LюѠѡњюћ, Abrahams Opfer, 1616, Holz, ř5 × 41 cm, Paris, Louvre.
Abb. 24: Jюћ ѣюћ Sќњђџђћ nach Pіђѡђџ LюѠѡњюћ, Abrahams Opfer, Schabkunstblatt.
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Abb. 25: Pђѡђџ PюѢљ RѢяђћѠ, Abrahams Opfer, 1620, Holz 50 × 65 cm, Paris, Louvre.
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Abb. 26: J. Sюёђљђџ nach CџіѠѝіїћ ѣюћ ёђћ Bџќђј, Abrahams Opfer, Kupferstich, in: JќќѠѡ ѣюћ ёђћ Vќћёђљ, De Helden Godes, Amsterdam 1620.
Abb. 27: Pіђѡђџ HђћёџіѐјѠѧ. SѐѕѢѡ nach MюѡѡѕѫѢѠ Mђџіюћ ё. Ä., Abrahams Opfer, Radierung, 6,5 × 9,7 cm, in: Afbeeldingen van de Heilige Historien, Amsterdam o. J.
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Abb. 28: Kopie nach MюѡѡѕѫѢѠ Mђџіюћ ё. Ä., Abrahams Opfer, Radierung, ca. 11,4 × 15,1 cm, in: Bybel Printen, Amsterdam o. J. [kurz nach 1650].
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Abb. 29: Gќѣюђџѡ Fљіћѐј, Abrahams Opfer, Holz, 48 × ř8 cm, Amerikanische Privatsammlung.
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Abb. ř0: Unbekannter Rembrandtschüler (Rђіћіђџ ѣюћ GѕђџѤђћ ӓ), Abrahams Opfer, Leinwand, 205 × 158 cm, ehem. Amsterdam, Kunsthandlung J. Goudstikker.
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Abb. ř1: Jюћ LіђѣђћѠ, Abrahams Opfer, Leinwand, 250 × 176 cm, Rom, Palazzo Doria.
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Abb. ř2: Jюћ LіђѣђћѠ, Abraham und Isaak umarmen einander nach der Opferung, um 16ř9, Leinwand, 180 × 1ř6 cm, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich Museum.
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Abb. řř: Rђњяџюћёѡ, Abraham und Isaak vor dem Opfer, 1645, Radierung, 15,7 × 1ř,2 cm.
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Abb. ř4: Jюћ VіѐѡќџѠ, Abraham und Isaak vor der Opferung, Holz 69 × 65 cm, ehem. Amsterdam, Kunsthandlung K & V. Waterman.
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Abb. ř5: Fђџёіћюћё Bќљ, Abrahams Opfer, 164[6]?, Leinwand (Maße unbekannt, lebensgroße Figuren), Lucca, Sammlung Mansi.
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Abb. ř6: Rђіћіђџ ѣюћ GѕђџѤђћ, Abrahams Opfer, Leinwand, 210 × 144 cm, München, Alte Pinakothek.
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Abb. ř7: NіѐќљюђѠ MюђѠ, Abrahams Opfer, Zeichnung, 1ř,2 × 11,0 cm, Paris, Louvre.
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Abb. ř8: NіѐќљюђѠ MюђѠ, Aktstudie für Isaak, Kreide, Feder und Pinsel, 17,7 × 22,9 cm, London, Victoria and Albert Museum.
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Abb. ř9: NіѐќљюђѠ MюђѠ, Abrahams Opfer, Leinwand, 11ř × 91,5 cm, Milwaukee, Alfred und Isabel Bader.
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Abb. 40: Rђњяџюћёѡ, Abrahams Opfer, 1655, Radierung, 15,7 × 1ř,2 cm.
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Abb. 41: RђњяџюћёѡѠѐѕѢљђ, Abrahams Opfer, Leinwand 178 × 148 cm, unbekannter Besitz.
„Mit Jsaac kommst du gebunden …“ Die Isaak-Christus-Typologie in der lutherischen Passionsbetrachtung der Barockzeit – Eine auslegungsgeschichtliche Studie von Rђћюѡђ Sѡђієђџ Einleitung a. Die Haupttypologien zur Passion Christi und das Bildprogramm der Biblia pauperum „Vorbild (tÚpoj, vestigium & nota, Johan. 20. 25.) Altes Testaments“ ist nach Johann Olearius in seiner Heylsame[n] Betrachtung deß unschuldigen Leidens und Sterbens Unsers HErrn und Heylandes JESU CHRJSTJ „ein MerckmahlȦ und denckwürdige als in einem gemahlten Bilde gezeigte Vorstellung und Anzeigung einer andern darunter verborgenen SacheȦ PersonȦ oder derselben VerrichtungȦ zuförderst aber unsers HErrn und Heylandes JEsu ChristiȦ dessen PersonȦ AmptȦ und WolthatenȦ LebenȦ LeidenȦ SterbenȦ Aufferstehung und Himmelfarth etc. vns Moses und die ProphetenȦ sampt den Psalmen vielfältig und auff mancherley Art und weise zu erkennen geben.“Ⱥ1 In der frühneuzeitlichen lutherischen Passionsbetrachtung ist ein Grundbestand an Typologien geläufig, aus dem Johann Gerhard in der Vorbereitung zu seinen Passionspredigten folgende auflistet:Ⱥ2
1
Jќѕюћћ OљђюџіѢѠ, Heylsame Betrachtung deß unschuldigen Leidens und Sterbens Unsers HErrn und Heylandes JESU CHRJSTJ/ Auß GOttes Wort Nechst hertzlichen Seufftzern/
2
Gebet und Andachten Zu Beförderung der waren Gottseligkeit wiederholet, Leipzig 1666 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel [im folgenden HAB Wolfenbüttel] Th 1950), 2. Buch, 2. Titul, § 4, 269f. Jќѕюћћ Gђџѕюџё, ERKLÄHRUNG DER HISTORIEN DES LEIDENS VNND STERBENS VNSERS HERRN CHRISTI JESU nach den vier Evangelisten (1611), kritisch hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen v. Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ (Doctrina et Pietas IȦ6), Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, Parasceve Passionis, 54,ř1–55,61.
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Das heilige Leiden Christi ist „durch viel Figuren im Alten Testament abgebildet. Ein fein VorbildȦ wie Christus solte verkauffet werdenȦ hastu an JosephȦ welcher auch von seinen eignen BrüdernȦ wie Christus der HErr von seinen eignen Jünger[n] verkaufft wardȦ Gen. ř7(,27f.).“ Als „Vorbild“ dafür, „wie Christus solte entblöst vnd verspottet werden“, wird Noah genannt (Gen 9,22), „wie Christus solte verspeyet werden“, Hiob (Hi 16,20), wie er „solte zerschlagen vnd gemartert werden, hastu an allen Leuitischen Opffern“, „wie Christus solte gebunden werden“, an Samson (Ri 16,21), wie er „sein Creutz tragen solte“, an Jsaac (Gen 22,6), „wie Christus solte ans Creutz geschlagen werdenȦ hastu an der ehernen Schlangen“ (Num 21,8f.; Joh ř,14), wie „seine Seite […] solte geöffnet werden“, an Adam (Gen 2,21f.), „wie Christus solte getödtet werden“, an Abel (Gen 4,8), und wie er „solt begraben werdenȦ hastu an JonaȦ welcher auch drey Tage war im Bauch des WalfischesȦ gleich wie Christus drey Tage in der Erden geruhet“ (Mt 12,ř9f.).
Neun der hier von Gerhard – unter Angabe des jeweiligen alttestamentlichen Erzählzusammenhangs – genannten Figuren finden sich im typologischen Bildprogramm der Biblia pauperum.Ⱥř Es sind acht Personen, die auf Christus vorausweisen, und ein „Ding“ – die eherne Schlange – nach ř
Zu Gen ř7 vgl. Die Biblia pauperum im Codex Palatinus Latinus 871 der Biblioteca Apostolica Vaticana sowie ihre bebilderten Zusätze. Mit einer kodikologischen Beschreibung der Handschrift, Mitteilungen über ihre Geschichte, der Transkription der Texte, sowie Erläuterungen versehen v. Kюџљ AѢєѢѠѡ Wіџѡѕ (Codices e Vaticanis Selecti 51), Zürich 1982, (XV. Judas verkauft Christus); vgl. auch Biblia pauperum. Faksimileausgabe des vierzigblättrigen Armenbibel-Blockbuches in der Bibliothek der Erzdiözese Esztergom. Erläuternder Text v. EљіѠюяђѡѕ SќљѡѼѠѧ, Hanau, Lizenzausgabe für alle westlichen Länder, Budapest 1967, 17; zu Gen 9: Cpl 871 (XIX. Dornenkrönung Christi); Esztergom, 2ř; zu Gen 22: Cpl 871 (XX. Kreuztragung Christi); Esztergom, 24; zu Num 21: Cpl 871 (XXI. Kreuzigung Christi); Esztergom, 25; zu Gen 2: Cpl 871 (XXII. Seitenwunde Christi); Esztergom, 26; zu Jona 1,15; 2,1: Cpl 871 (XXIV. Grablegung Christi); Esztergom, 27. Hiob erscheint als Typos Christi in der Darstellung der Versuchung Jesu (Mt 4): Cpl 871 (X. Versuchung Christi); in der Passionsgeschichte findet sich Hiob als ‚Vorbild‘ der Geißelung Jesu im Zyklus der gotischen Fenster (um 1274) im Chor der Stiftskirche St. Peter zu Wimpfen im Tal (bei Heilbronn). Daneben ist als zweites alttestamentliches Vorbild der gebundene Samson nach Ri 15,12f. dargestellt. Zu Gen 4,8 (Kain erschlägt Abel) vgl. die typologische Zuordnung im Heilsspiegel: Heilsspiegel. Die Bilder des mittelalterlichen Erbauungsbuches Speculum humanae salvationis. Mit Nachwort und Erläuterungen v. HќџѠѡ AѝѝѢѕћ (Die bibliophilen Taschenbücher 267), Dortmund 1981. Faksimile der Handschrift 2505 (um 1ř60) der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Kap. 16, ř8f.; 94; dem Verrat des Judas (Mt 26,48–51) sind hier folgende drei Typoi zugeordnet: Joab tötet Amasa (2Sam 20,8–10), Saul wirft einen Spieß nach David (1Sam 18,10f.), Kain erschlägt Abel (Gen 4,8).
„Mit Jsaac kommst du gebunden …“
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der Unterscheidung in personales und reales typi, zu denen auch „prophetische Handlungen“ zählen.Ⱥ4 Einzig das Vorbild der Levitischen Opfer wird von Gerhard ohne Verweis auf einen bestimmten Typos angeführt, weil das ‚Zerschlagen und Martern‘, das er „an allen Leuitischen Opffern“ vorgebildet sieht, sich auf die allgemeinen Vorschriften des Zurichtens der Opfertiere zum Brandopfer (Lev 1,6.12.15–17) beziehtȺ5 und noch weitere mit den Opfern verbundene kultische Handlungen als Vorabbildung des Leidens Christi meditiert wurden. Im Bildprogramm der Biblia pauperum bezieht sich die Darstellung Jesu im Tempel (Lk 2,22–24) auf die in Lev 12 verordnete Purificatio der Wöchnerin; ihr Typos ist die Weihe (oblatio) Samuels zum Dienst am Heiligtum (1Sam 1,22–25).Ⱥ6 Als vorausdeutend auf die Passion Jesu gelten aus dem Buch Leviticus insbesondere die zeremoniellen Anordnungen für das Sündopfer am Versöhnungsfest nach Lev 16 (der ‚Sündenbock‘)Ⱥ7 und die Besprengung des zu Versühnenden mit dem Blut des Opfertiers, das, Ex 24,8 als „Blut des Bundes“ gestiftet, schon intertestamentarisch, besonders im Hebräerbrief (9,19–22; 10,22; 12,24), auf die Versöhnung durch das Blut Jesu Christi ausgelegt wurde.Ⱥ8 Aus der von Gerhard aufgeführten Reihe sind die bekanntesten weil auch in den typologischen Bildprogrammen mittelalterlicher Kirchenfenster und Gewölbeausmalungen häufig dargestellt, folgende fünf ‚Vorbilder‘: Samson, Isaak, die Eherne Schlange, Adam und Jona. Während Samson, der von den Philistern gebunden, und Jona, von seinen Reisegefährten ins Meer geworfen, in zwei aufeinander folgenden Bildern dargestellt, vornehmlich als Figuren von Christi Begräbnis und Auferstehung von den Toten galtenȺ9 und die aus Adams Seite erschaffe4 5 6 7 8
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Vgl. OљђюџіѢѠ, Heylsame Betrachtung (Anm. 1), 2. Buch, 2. Titul, § 7, 27ř; 270. Diesen Stellenhinweis gibt OљђюџіѢѠ, ebd., 277, III. Die Opffer=Beschreibung. Cpl 871 (IV. Darbringung Christi im Tempel); Esztergom, 4. Vgl. OљђюџіѢѠ, Heylsame Betrachtung (Anm. 1), 2. Buch, 2. Titul, 276, I. Der Versöhnbock und dessen Verstoßung in die Wüsten. Vgl. OљђюџіѢѠ, ebd., 278, VIII. Das Blut des Bundes. Der typologische Zusammenhang wird oft mit Hilfe des einzigen Stichworts „besprengen“ aufgerufen, z. B. bei Jќѕюћћ RіѠѡ, „Jesu, der du meine Seele“ (1641), Str. 10: „Diß mein Hertz mit Leyd vermengetȦ Das dein thewres Blut besprengetȦ So am Creutz vergossen ist […]“; vgl. Lev 14,7; Hebr 10,22; 1Petr 1,2. Zu Samson vgl. Ri 14,5f.: Cpl 871 (XXV. Christus in der Vorhölle); Esztergom, 28; vgl. auch die Armenbibel in der Handschrift Codex Palatinus Germanicus 148 der Universitätsbibliothek Heidelberg, 1ř1r; dazu Ri 16,ř: Cpl 871 (XXVI. Auferstehung Christi.) (Hier sehen wir als ‚Vorabbildung‘ der Auferstehung Christi neben Jona, der nach drei Tagen im Bauch des Fisches von diesem an Land gespieen wird, Jona 2,11, Samson, der in Ri 16,ř die Tore von Gaza aus den Angeln hob und davontrug.); Esztergom, 29; Cpg 148, 1ř5r. Zu Jona vgl. Jon 1,15; 2,1: Cpl 871 (XXIV. Grablegung Christi) (als zweiter Typos der Grablegung Christi erscheint hier noch einmal Joseph, der
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ne Eva auf die Erschaffung von Christi Braut, der Kirche, vorausdeutet,Ⱥ10 haben sich in Predigt und bildlicher Darstellung die Isaak-Christus-Typologie und die innerbiblisch in Joh ř,14 begründete typologische Deutung der Ehernen Schlange auf den ans Kreuz erhöhten Christus als die theologisch zentralen Bilder und Deutungsmodelle der Passionshistoria im engeren Sinn durchgesetzt. Nach Olearius zeigen uns die Exempel der „Passions=Vorbilder“, „wie man so wol die PersonenȦ als andere Dinge A. Testaments erbaulich betrachten könne“. Dies ist „zuföderst I. an der Opfferung JsaacsȦ II. an der Auffrichtung der Ehrnen Schlange zu sehen.“Ⱥ11 b. Isaak in der lutherischen Passionsbetrachtung Auf Isaak als alttestamentliches ‚Vorbild‘ Christi wird in der lutherischen Passionsbetrachtung an vier Stellen der Historia verwiesen: 1. im Actus Hortus bei der Gefangennahme oder im Actus Pontifices zum Stichwort „und bunden [banden] ihn“ (Joh 18,12), das in Analogie zur Bindung Isaaks, der Akedah von Gen 22,9, eine breite geistliche Auslegung erfährt, wie in diesem Beitrag dargestellt werden soll. 2. In den Actus Pontifices bzw. Pilatus wird Jesu Stillschweigen in den Verhören (Mt 26,6ř; 27,12.14; Joh 19,9) als Erfüllung der beiden alttestamentlichen ‚Vorbilder‘ Jes 5ř,7 („ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, […] und seinen Mund nicht auftut“) und Gen 22,9 verstanden. Es schießen so im Topos des ‚geduldigen Isaak‘ zwei Schriftstellen zusammen. ř. Drittens und viertens hat die Isaak-Christus-Typologie ihren Ort im Actus Crux bei der Betrachtung der Stationen „Kreuztragung“ und „Christus am Kreuz“. Sind die Bezugnahmen bei den Stationen „Bin-
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nach Gen ř7,22–24 von seinen Brüdern in eine Zisterne geworfen wird); EѠѧѡђџєќњ, 27; dazu Jon 2,11 mit den soeben genannten Bildern zu Ri 16,ř. Cpl 871 (XXII. Seitenwunde Christi); Esztergom, 26; Cpg 148, 124r. Nach Joh 19,ř4 fließen aus der nach seinem Verscheiden eröffneten Seite Jesu Blut und Wasser, die auf die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl und damit auf die Gründung der Kirche gedeutet wurden. Neben der Erschaffung Evas als Typos der Braut Christi ist das Wunder aus Ex 17,1–6 dargestellt: Mose schlägt während der Wüstenwanderung Wasser aus einem Felsen, um das dürstende Volk zu tränken. Typos auf Christus ist in diesem ‚Vorbild‘ der Fels, wie die Handschriften Cpl 871 (14r) und Esztergom (26) übereinstimmend erläutern: „Silex sive lapis Christum significat, qui nobis aquas salutares de suo latere effudit“. Die Beischrift in der Heidelberger Armenbibel lautet: „Der stain den moyses slug vnd wazzer gab bezaichent vnsern herren der vns getrenkchet hat mit seinem rosen varben plut vnd vnsern durst gaistleichen leschet.“ Vgl. Joh 4,14. OљђюџіѢѠ, Heylsame Betrachtung (Anm. 1), § 12, 288.
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dung“ und „Stillschweigen“ infolge der genannten exegetischen Operation eher abgeleitet und daher nicht Allgemeingut, so gehören die Vorbilder ‚Isaak trägt das Holz zu seiner Opferung‘ (Gen 22,6) und ‚das von Gott ausersehene und stellvertretend angenommene Opfer‘ (Gen 22,8.1ř) zum Grundbestand der Passionsauslegung und fehlen in keinem typologischen Bildprogramm. 4. Dem Bild „Christus am Kreuz“ sind in der Biblia pauperum die Verse Gen 22,1ř und Num 21,8f. als Vorbilder zugeordnet: in der Isaaksgeschichte der Augenblick, da Abraham „seine Augen aufhob“ und das stellvertretende Opfertier „hinter sich in der Hecke hangen“ sah, in der Erzählung von der Ehernen Schlange der Augenblick der Rettung, in dem Mose das Volk auf das aufgerichtete Zeichen weist.
1. Die Bindung des ‚himmlischen Isaak‘ in ihrem auslegungsgeschichtlichen Kontext a. Die Bindung des ‚himmlischen Isaak‘ (Gen 22,9) Auf das alttestamentliche ‚Vorbild‘ der Bindung Isaaks (Gen 22,9) beziehen sich die Ausleger am Schluß des Actus Hortus, bei Jesu Gefangennahme (Mt 26,50),Ⱥ12 oder am Eingang des Actus Pontifices zum Stichwort „und bunden [banden] ihn“ (Joh 18,12). Verknüpft mit Jes 5ř,7 („[…] tat er seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird“) und zugleich mit der innerbiblischen typologischen Beziehung von Passah- (Ex 12) und Osterlamm (1Kor 5,7), wird, ausgehend von der zeremonialen Opfervorbereitung und dem Motiv der Stellvertretung (Gen 22,1ř; Jes 5ř,4f.), Jesu freiwilliger Weg in Gefängnis und Bande als Voraussetzung der Befreiung des Menschen aus ‚Sündenbanden‘ und den „Stricken des Todes“ (Ps 116,ř; vgl. 124,7) bildhaft vor Augen gestellt. Johann Olearius führt in seinem großen durchlaufenden Kommentar Biblische Erklärung, in dem wir das exegetische Wissen des 17. Jahrhunderts zusammengefaßt finden, zum Stichwort „bunden“ (Joh 18,12) aus:Ⱥ1ř
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1ř
Mt 26,50b: „Da traten sie hinzu und legten die Hände an Jesum und griffen ihn.“ Hier schließen in J. S. Bachs Matthäus-Passion Aria und Chor 27a an: Duett: „So ist mein Jesus nun gefangen […].Ȧ Sie führen ihn, er ist gebunden.“ȦȦ Chor: „Laßt ihn, haltet, bindet nicht!“ Jќѕюћћ OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung, 5 Teile, Leipzig 1678–1681 (HAB Wolfenbüttel Tc 4° 41), V, 777b, zu Joh 18,12.
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Bunden. edesan. deo, ligo, aus Liebe und Gehorsam Philip. 2. wird gebunden der himmlische Jsaac. 1. B. Mos. 22. und Joseph. Das Osterlam. Der Simson. B. Richt. 15Ȧ1ř. und macht uns frey von Sünden=Banden. Ps. 9Ȧ17. von Todes=Banden von Höllen=BandenȦ Ps. 18Ȧ5. Ps. 116Ȧř. Epist. Jud. V. 6. Zach. 9Ȧ11. Hose 1řȦ12. Mat. 12Ȧ18. Es. 61Ȧ1. c. 42Ȧ7. Luc. 24Ȧ47 […].
Er resümiert das Heilsgeschehen in dem paradoxen Vers „NB. Ligatus es, ut solveres mundi ruentis complices“,Ⱥ14 dem er als Applicatio den Zweizeiler anfügt: JEsu deine Liebes=BandeȦ Sind mein Trost im Unglücks=Stande.
Die ‚Bande‘, in denen sich Christus gefangen führen läßt, sind, im geistlichen Verstand, die Bande seiner Liebe zu den Menschen. Zum Passionsbericht nach Matthäus führt Olearius aus, bei den Worten „und bunden ihn“ sei als erstes zu erwägen „Das gebundene Hertz“. Gott hat sein Herz „durch Liebes=Bande“ an den Menschen gebunden. Dies wird für alle drei göttlichen Personen biblisch belegt: „Denn aus Liebe gibt GOTT den Sohn Johann. ř[,16]. Aus Liebe läst Er sich bindenȦ als das Lamb GottesȦ Johann. 1[,29]. aus Liebe lästs der Heilige Geist verkündigenȦ uns dadurch zu sich zu ziehen Jerem. ř1[,ř].“Ⱥ15 Der ‚Unglücksstand‘ des Menschen ist der status corruptionis, sein Stand nach dem Fall (Gen ř,1–19), in dem er sich in Sünden verstrickt und dem Tod verfallen weiß. Johann Gerhard führt diese – in der biblischen Sprache selbst begründete – Metaphorik aus:Ⱥ16 Darumb lies jhn Gott der Hђџџ nach dem Vorbilde des JsaacsȦ Genes. 22. vnd des SimsonsȦ Judic. 15. also verstricken vnd binden. Der Teuffel hatte anfenglich vnsere erste Eltern verführet vnnd sie in Sünden also verstricktȦ daß numehr auff vns alle diese Sündenbande kommen seynȦ […] so war das gantze menschliche Geschlecht in den Stricken des TeuffelsȦ wie geschrieben stehet 2. Timoth. 2[,25f.]. […] Es seyn auch auff diese Sündenbande gefolget die Stricke des TodesȦ vnd der HellenbandeȦ Ps 116.
Der ‚Trost‘ (Olearius), daß wir nämlich „von diesen gefehrlichen Banden des TeuffelsȦ Todes vnd der Hellen können erlöset werdenȦ das haben wir“ – fährt Gerhard fort –
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15 16
Johann Heermann schreibt die Herkunft des Wortes Augustin zu; vgl. Jќѕюћћ Hђђџњюћћ, CRUX CHRISTI, Das ist: Die schmertzliche und traurige Marter=Woche/ unsers hochverdienten Heylandes JEsu CHristi/ […] in eilff Lehr= und Trost=reichen Predigten erkläret (1618), Braunschweig 1711 (HAB Wolfenbüttel Th 1190), 4. Predigt, 114: „(in marg.: Augustinus) ligatus est, ut nos a maledictionis nodo absolveremur: captus est, ut nos a captivitate Daemonum auferret.“ OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, 246a, zu Mt 27,2. Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), 2. Actus, 142,96–114.
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allein Christo zu danckenȦ welcher sich umb vnsert willen also willig hat lassen bindenȦ daß wir möchten von den Sündenbanden errettet werden.Ⱥ17
In dem Stichwort „willig“ (= freiwillig) liegt bei Gerhard beschlossen, was Olearius mit „aus Liebe und Gehorsam“ (Phil 2,8) beschreibt,Ⱥ18 den zwei innertrinitarischen ‚Voraussetzungen‘ für Gottes Heilshandeln: die Bindung in Freiheit, sowohl der göttlichen Personen untereinander als auch Gottes Selbstbindung an die Menschen.Ⱥ19 b. Des Menschen Gebundensein nach dem Fall Das Wortfeld binden – lösen (erlösen), Gefängnis – Freiheit ist eine zentrale Metapher sowohl der Beschreibung der condition humaine, in der wir uns selbst als festgelegt und gebunden erfahren, wie auch der tröstlichen Predigt des Evangeliums vom Freiwerden. Johann Gerhard fährt in seiner Betrachtung der Gefangennahme Jesu fort:Ⱥ20 Vnserer Natur nach ligen wir alle in der tieffen GrubenȦ daraus wir selber nicht mögen aus eignen Krefften heraus steigenȦ es ist auch in derselben Gruben kein Trostwasser noch ErquickungȦ aber Christus lesset vns aus derselben Gruben durchs Blut seines Bundes.
Gerhard appliziert hier das zuvor angeführte Verheißungswort Sach 9,11Ⱥ21 und fährt, weiter im Bild bleibend, fort: Christus habe sich binden lassen müssen, um uns die große Gnade zu erwerben, „daß durch die Predigt des Euangelij den Gefangenen eine ErledigungȺ22Ȧ vnd den Gebundenen eine öffnung wird angekündiget. Es. 61[,1]“, er mußte sich binden lassen, auff daß er der Sünden Entbindung durch sein Wort vns könte ankündigen lassenȦ denn weil Christus ist also gebundenȦ so hat er dadurch den Löseschlüssel der Christlichen Kirchen erworbenȦ daß in Krafft desselben den armen bußfertigen Sündern jre Sündenbande könne gelöset werden.Ⱥ2ř
17 18 19
20 21 22 2ř
Ebd., 14ř,128–1ř2. S. bei Anm. 1ř und 15. Vgl. Mюџѡіћ LѢѡѕђџ, „Ein fein geistlich Lied, wie der Sünder zur Gnade kommt“: „Nun freut euch, lieben Christen gmein“, bes. Str. 2 „Dem Teufel ich gefangen lag,Ȧ im Tod war ich verloren“; Str. 5; Str. 6 „Der Sohn dem Vater g’horsam ward“; PюѢљ Gђџѕюџёѡ, „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ (vor 1648), Str. 2 und ř. Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), 14ř,1ř8–141. Dieser wichtige, beide Testamente typologisch verknüpfende Vers wird auch von Olearius angeführt; s. o. bei Anm. 1ř. = Freilassung, Befreiung; vgl. Gџіњњ, DWb ř, 897. Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), 144,148–160.
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c. Die ‚Frucht‘ der Passion im Bild von Binden und Lösen So läuft Gerhards Betrachtung einer einzelnen Begebenheit der Passionsgeschichte („Christus wird gebunden“, Joh 18,12), hinaus auf die Beschreibung und Zusammenfassung der ‚Frucht‘ der ganzen Passion im Bild von Binden und Lösen. In diesem Bild ist „die Mitte der Schrift“, der nucleus des Evangeliums fokussiert: die Sündenvergebung im Wort der Predigt (Röm ř,25Ⱥ24) und die Schlüsselgewalt der Kirche (Mt 16,19). Daß die Autoren von Passionsbetrachtungen in jeder einzelnen Station des Leidens Christi das Ganze der Passion und mit deren ‚Nutzen‘ die ganze Heilsgeschichte im Blick haben und anhand einer einzelnen Metapher erläuternd durchgehen, läßt sich an diesem Beispiel breit belegen. Ich möchte hierzu vornehmlich einige auslegungsgeschichtliche Aspekte beleuchten. Der Ausgang der Betrachtung von einer überlieferten Typologie hat ein großes Maß an sprachlicher Gemeinsamkeit zur Folge, da – nach dem Prinzip Scriptura sui ipsius interpres – für die Auslegung zuerst alle Schriftstellen beigezogen werden, die das in Rede stehende Stichwort enthalten (‚Konkordanzmethode‘). Zwar läßt sich bezüglich der Häufigkeit und der theologischen Gewichtung der Zitate eine gewisse Hierarchie beobachten, aber wo immer aus diesem Fundus wörtlich zitiert oder auf eine bestimmte Schriftstelle erkennbar angespielt wird, ist die Dignität eines ‚Traditionszitates‘ – wie ich diesen auslegungsgeschichtlichen Befund bezeichne – einzuräumen und nach der dogmatisch-theologisch intendierten Aussage zu fragen.Ⱥ25 Beigezogene Schriftstellen „belegen“ nicht nur zuvor Gesagtes, sondern erweitern den jeweils erreichten Verständnishorizont und treiben so die theologische Argumentation voran.
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Vgl. Mюџѡіћ Sѐѕљќђњюћћ, „Die Mitte der Schrift. Luthers Notabene“, in: Theologie und Aufklärung. Festschrift für Gottfried Hornig zum 65. Geburtstag, hg. v. Wќљѓєюћє Eџіѐѕ Mҿљљђџ u. a., Würzburg 1992, 29–40, hier ř4f. Auf die in außergewöhnlichem Maße biblisch geprägte Sprache der Passionspredigten sowie auf ihre hohe Qualität als Erbauungsschriften hat schon Elke Axmacher aufmerksam gemacht, auch „einen bestimmten Grundbestand besonders wichtiger biblischer Parallelstellen, der in fast allen Predigten wiederkehrt,“ festgestellt; vgl. Eљјђ Aѥњюѐѕђџ, „Aus Liebe will mein Heyland sterben“. Untersuchungen zum Wandel des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert (BTBF 2), Neuhausen-Stuttgart 1984, 2. Aufl. Stuttgart 2005, 75f. In einem Abschnitt über die gedankliche und sprachliche Gestaltung der Passionspredigten stellt die Autorin Betrachtungen mehrerer Prediger über die ‚Bande Jesu‘ vor und macht auf Differenzen in Stil und theologischer Akzentuierung aufmerksam; ebd., 6ř–77. 219–2ř8 mit Quellenstücken von Martin Moller, Valerius Herberger, Johann Gerhard, Johann Arndt, Johann Michael Dilherr und Johann Jacob Rambach.
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Von der im Bild von Binden und Lösen beschriebenen remissio peccatorum wendet sich die Betrachtung, im selben Sprachfeld verbleibend, zu den zwei möglichen Folgen der ‚erlassenen‘ oder ‚behaltenen‘ (Joh 20,2ř) Sünden. Adam Tribbechovius meditiert das Gebundensein JesuȺ26 nach der dreifachen Anrede: „du himmlischer Jsaac“ (mit Hinweis auf Gen 22,9) – „Du himmlischer Joseph“ (Gen ř7,24) – „DuȦ starcker Simson“ (Ri 16), d. h. ausgehend von den drei Typologien der Biblia pauperum zum Stichwort,Ⱥ27 um die ‚Frucht‘ der Passion im Bildhorizont der Vorbildgeschichten zu beschreiben. Der himmlische Isaak ist wie sein Vorbild der einzige Sohn seines Vaters; er läßt sich zum Opfer binden, „daß ich erlösetȦ und dein Bruder werde.“ Der himmlische Joseph läßt sich von seinen Brüdern binden und in eine Grube (cisterna) werfen, „daß du durch das Blut deines Bundes deine Gefangene aus liessest aus der Gruben ȋZach. 9Ȧ11ȌȦ darinnen kein Wasser ist.“ Das Vorbild Samsons schließlich deutet darauf, daß Christus, indem er stirbt, die Feinde tötet; Tribbechovius resümiert das Paradox: „So bist du auch in deinen Banden mein Erlöser.“ Jede der drei Figuren fügt dem Netz der Traditionszitate einen neuen ‚Knoten‘ und damit eine weitere inhaltliche Aussage und Dimension hinzu: Daß der Gläubige Christi „Bruder“ werde, spielt auf das für die Rechtfertigungslehre grundlegende Kapitel Röm 8 an (vgl. v.29.15–17), das Tribbechovius im folgenden auch anführt:Ⱥ28 „Du gebundenȦ ich frey ! Du gefangenȦ ich auff freyem Fuß gestellt ! Du bestricket/ ich in die Freyheit der Kinder GOTTes gesetzet! ȋRom 8Ȧ21.Ȍ” Den Vers Sach 9,11 sahen wir im gleichen Kontext schon bei Gerhard und Olearius zitiert;Ⱥ29 er verweist als eine der innerbiblischen Typologien auf Mt 26,28: „Das ist mein Blut des neuen Testaments, welches vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ und repräsentiert damit eine der dogmatisch und liturgisch zentralen Deutefiguren. Der Verweis auf Samson schließlich deutet darauf, daß Christus in seinem Sterben ‚des Todes Tod‘Ⱥř0 geworden ist und den vier Verderbensmächten, Sünde, Hölle, Tod und
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28 29 ř0
Aёюњ TџіяяђѐѕќѣіѢѠ, Die gecreutzigte Liebe/ Das ist: Andächtige Betrachtung Einer gläubigen Seelen/ Vber die Historia des bittern Leidens und Sterbens JESV CHristi Unsers HERRN und Heylandes/ Wie solche von den Vier Evangelisten beschrieben, Gotha 1676 (HAB Wolfenbüttel QuN 521), 4. Betrachtung, ř2. Vgl. OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, 2ř9b zu Mt 26,57: „Führeten Jhn gebunden. Davon Matth. 27Ȧ2. und Johann. 18Ȧ12. der gebundene JsaacȦ JosephȦ Simson“. TџіяяђѐѕќѣіѢѠ, Gecreutzigte Liebe (Anm. 26), 4. Betrachtung, řř. S. o. Anm. 21. Vgl. das Lied von EџћѠѡ CѕџіѠѡќѝѕ HќњяѢџє, „Jesu, meines Lebens Leben, Jesu, meines Todes Tod“ (1659).
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Teufel,Ⱥř1 ihre Macht über den Menschen genommen hat. ‚Gebunden bist du vor Gericht geführt worden‘, sagt Tribbechovius in einer späteren Betrachtung,Ⱥř2 „daß ich vor dem Gericht deines himmlischen Vaters aller Sünden= und Straff=Banden loß erkant werde,“ und fährt fort, indem er mit einer neuen Referenzstelle die theologische Aussage ein Stück weiterführt: „so bist duȦ Liebster JESUȦ […] vor mich im Gericht erschienenȦ und mein Bürge wordenȦ daß ich nicht ins Gericht käme. ȋJoh. 5Ȧ24Ȍ“ Wem dagegen die Sünden nicht erlassen werden, den trifft das Urteil des Königs von Mt 22,1ř: „Bindet ihm Hände und Füße und werfet ihn in die Finsternis hinaus!“ Diesen Vers finden wir bei Heinrich Müller angezogen:Ⱥřř Darumb muß sich hie Jesus die Hände binden lassen. Was ihn bindetȦ das ist seine LiebeȦ die machtsȦ daß sich der Liebhaber stellet in die BandeȦ die wir haben verdienetȦ damit wirȦ die GeliebteȦ auß den Banden befreyet würden. Sonst hätte es mit uns allen heissen sollen: Bindet ihm Hände und Füsse/ und werffet ihn das äusserste Finsterniß hinauß/ da wird seyn Heulen und Zähnklappern. ȋMatth. 22Ȧ1řȌ
d. Die hermeneutisch verbindliche Kraft des Zitats Christus übernimmt, indem er sich binden läßt, das, was wir verdient hätten. Hier ist nun eine grundsätzliche Ausführung geboten zum Proprium der von der modernen historisch-kritischen Exegese als ‚vorwissenschaftlich‘ verachteten Konkordanzmethode der frühneuzeitlichen Schriftauslegung. Sie steht unter Verdacht, auf der Grundlage des bloßen Wortvorkommens Schriftstellen aufeinander zu beziehen, die literarisch nichts miteinander zu tun haben, und so, gleichsam an der Oberfläche der Lexeme verbleibend, rein äußerlich (d. h. dem historischen Urteil und Verständnis nicht dienliche) vermeintliche ‚Belege‘ aneinanderzureihen. Ein solches atomistisch zu bezeichnendes Schriftverständnis ist aber sowohl Luther wie den Auslegern in seiner Nachfolge fremd (was schon allein aus der Tatsache deutlich sein dürfte, daß bei ihnen ř1
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Vgl. OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, 2ř9b zu Mt 26,57 (Forts. des Zitats in Anm. 27): „das gebundene Osterlamb macht uns frey von Sünden=BandenȦ Rom 7Ȧ14. von Sathans=Banden 2. Tim 2Ȧ26. von Todes=BandenȦ Psalm 18Ȧ5. Zach. 9Ȧ11. und Höllen=Banden Hos. 1ř.“ TџіяяђѐѕќѣіѢѠ, Gecreutzigte Liebe (Anm. 26), 8. Betrachtung, 79. Hђіћџіѐѕ Mҿљљђџ, „Der Leidende JesusȦ Oder Das Leiden unsers HErrn und Heylandes Jesu Christi“, in: Evangelischer Hertzens=Spiegel/ Jn Offentlicher Kirchen=Versammlung/ bey Erklärung der Sonntäglichen und Fest=Evangelien, Frankfurt a. M. 1679 (HAB Wolfenbüttel Th 1842), 981–10ř4; 7. Predigt, 106ř (von Jesu Gebunden-werden zur Geißelung „an die Stäup-Seule“); vgl. auch Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), 2. Actus, 14ř,124–128.
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die typologischen Beziehungen zwischen den Testamenten, die der vorliegende Beitrag zum Gegenstand hat, in Geltung stehenȺř4). Vielmehr ist das Prinzip und die die Heilige Schrift theologisch erschließende Kraft dieser Methode darin zu sehen, daß der Auslegung eines Textes mit jedem beigebrachten Schriftzitat ein neuer und eigener Horizont von Auslegungskontext hinzugefügt wird. Im Blick auf Müllers Zitat aus Mt 22 bedeutet dies, daß hier die Auslegung der Perikope Mt 22,1–14 (Vom königlichen Hochzeitsmahl) einschießt, wie sie am 20. Sonntag nach Trinitatis allgemein gepredigt wurde. Was dem heutigen Betrachter als bloßer ‚Stichwortanschluß‘ und Digression erscheinen mag, ist de facto ein exegetischer und rhetorischer Kunstgriff, mit dem der Prediger in seinen Hörern bereits Gehörtes und aus Schule und Katechismus Gewußtes aktiviert und so ein assoziatives Geschehen in Gang setzt, in dem sich die biblischen Texte vergesellschaften und einander verstärkend auslegen. Denn inhaltlich geht es in der Verkündigung des Evangeliums immer um ‚dasselbe‘, in seiner Fülle und um der Faßlichkeit für das menschliche Herz in immer neuen Bildern und Aspekten ausgefaltet.
2. „Bindet ihm Hände und Füsse […]“ (Mt 22,1ř): Der Kontext der Brautmystik Tragende Metapher in Mt 22 ist das „hochzeitlich Kleid“ (V. 11), das einer der zur Hochzeit geladenen Gäste vermissen läßt, weshalb der König ihn gebunden (also wirksam, endgültig) wieder hinauswerfen läßt. Thema des Gleichnisses ist die Hochzeit, die Gott der Vater seinem Sohn bereitet, in dreierlei Sinn: des Sohnes Hochzeit mit der menschlichen Natur (nach Olearius die „persönliche Hochzeit und Menschwerdung deß Sohnes Gottes“ in der gott-menschlichen Person Jesu ChristiȺř5), und mit seiner Braut, der Kirche, sowie im Glauben mit jeder einzelnen Seele (gemeinsam bezeichnet als „geistliche Hochzeit“Ⱥř6). Die Hochzeit und „ehliche Vereinigung“ Christi mit der Christenheit, von Luther unter Hinweis auf Eph 5,ř2 als Geheimnis und Zeichen von Gottes uner-
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ř5 ř6
Hierzu grundlegend: Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ, Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla (SHCT 104), Leiden u. a. 2002, Teil III. OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, 188a zu Mt 22,2. Ebd.
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gründlicher und unaussprechlicher Liebe ausgelegt,Ⱥř7 bringt mit sich, daß Christus, der Bräutigam, uns all seine Güter zu eigen gibt und seine Braut zur Kaiserin und Herrin über alles erhebend, seiner göttlichen Herrschaft teilhaftig macht: Das muß je eine grosse unergründliche und unaussprech[lich]e Liebe seyn Gottes gegen unsȦ daß sich die Göttliche Natur also mit uns verbindet und sencket in unser Fleisch und BlutȦ daß Gottes Son warhaftig wird mit uns ein Fleisch und ein LeibȦ und sich so hoch unser annimbtȦ daß er wil nicht allein unser BruderȦ sondern auch unser Bräutigam seynȦ und an uns wendet und zu eigen gibt alle seine Göttliche GüterȦ WeißheitȦ GerechtigkeitȦ LebenȦ StärckeȦ GewaltȦ daß wir sollen in ihm auch theilhafftig seyn der Göttlichen NaturȦ wie S. Petrus [2Petr 1,4] spricht. Vnd wilȦ daß wir solches sollen gläubenȦ daß wir in diese Ehre und Güter gesetzt sindȦ […] und also seine Christenheit ist die FrauȦ und Keiserin im Himmel und ErdenȦ denn sie heist die Braut GottesȦ der da ist Herr über alle CreaturenȦ und sie auf die höchste Weise in die Herrschafft und Gewalt setzetȦ über SündeȦ TodȦ Teufel und Helle. etc.)
Die Seele wird also nach Luther durch ihre Vereinigung mit dem himmlischen Bräutigam zur Herrin über die vier endzeitlichen Widersacher und Gegenmächte Sünde, Tod, Teufel und Hölle. Was Christus ihr mit der Hochzeit erwirbt und schenkt, ist also ‚dasselbe‘, was in anderem KontextȺř8 mit dem Bild vom Binden und Lösen (= in Freiheit setzen) beschrieben wird: die remissio peccatorum. Sie ist das „hochzeitlich Kleid“, das der Gast beim Hochzeitsmahl angelegt haben soll. Er muß es aber nicht als Zugangsbedingung für den Einlaß selbst mitbringen – es geht nicht um eine vorausliegende dispositio auf den Gnadenempfang –, vielmehr will der königliche Bräutigam seine Braut selbst herrlich kleiden und schmücken. Das Bild ist aus der messianischen Verheißung des Propheten Jesaja genommen, wo es in Kap. 61,10 heißt: Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mich angezogen mit Kleidern des Heils und mit dem Rock der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam, mit priesterlichem Schmuck geziert, und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt.
Hierbei handelt es sich um ein überaus häufig angezogenes Traditionszitat im Kontext der Predigt von der Rechtfertigung.
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Vgl. Aяџюѕюњ Cюљќѣ, Die Heilige Bibel nach S. Herrn D. MARTINI LUTHERI Deutscher Dolmetschung/ und Erklärung, ř Bde., Wittenberg 1681f. (HAB Wolfenbüttel Tc 4° 15), III, 214 zu Mt 22,2. S. o. Anm. ř1.
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a. Die Verbindung mit Stellen aus Jesaja: Der „Rock der Gerechtigkeit“ (Jes 61,10) und das Gewand des Keltertreters (Jes 6ř,ř) Salomon Franck appliziert diesen Gedanken aus der zeitgenössischen Auslegung von Mt 22 in seiner Kantate auf den 20. Sonntag nach Trinitatis „Ach! ich sehe, itzt, da ich zur Hochzeit gehe“ wie folgt:Ⱥř9 Recitativo 4 Mein Jesu, laß mich nicht Zur Hochzeit unbekleidet kommen, Daß mich nicht treffe dein Gericht; Mit Schrecken hab ich ja vernommen, Wie du den kühnen Hochzeitgast, Der ohne Kleid erschienen, Verworfen und verdammet hast! Ich weiß auch mein Unwürdigkeit: Ach! schenke mir des Glaubens Hochzeitkleid;Ⱥ40 Laß dein Verdienst zu meinem Schmucke dienen!Ⱥ41 Gib mir zum Hochzeitkleide Den Rock des Heils, der Unschuld weiße Seide! Ach ! laß dein Blut, den hohen Purpur, decken Den alten Adamsrock und seine Lasterflecken, So werd ich schön und reinȺ42 Und dir willkommen sein, So werd ich würdiglich das Mahl des Lammes schmecken.
½ ° ° ¾ Mt 22,11–14 ° ° ¿ Mt 8,8; 22,8 Jes 61,10b Jes 61,10a; vgl. Apk 19,8 vgl. Apk 1,5; 7,14; 19,1ř–15; 1Joh 1,7 vgl. Gen ř,7 Ps 45,14; Hld 4,1.7 1Kor 11,27.29; Mt 22,8; Apk 19,9; Ps ř4,9
Die Aufforderung an die Seele, das hochzeitliche Kleid anzuziehen, ist also genau besehen die Einladung, sich dieses Kleid schenken, sich mit Christi Verdienst bekleiden zu lassen. Die Durchführung dieses Gedankens zieht sich bei Franck bis in die folgende Aria 5 hinein:
ř9
40 41 42
Sюљќњќћ Fџюћѐј, Evangelisches Andachts=Opffer/ […] in geistlichen CANTATEN welche auf die ordentliche Sonn= und Fest=Tage […] zu musiciren angezündet, Weimar 1715, 172– 175. Franck war Johann Sebastian Bachs Hauptlibrettist während dessen Dienstzeit am Hof des Herzogs Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar (1708–1717). Bach komponierte die Kantate „Ach! ich sehe“ vielleicht schon 1715, uraufgeführt wurde sie am 25. Oktober 1716 in Weimar (BWV 162); die folgende Wiedergabe des Textes nach: Wђџћђџ NђѢњюћћ, Sämtliche von Johann Sebastian Bach vertonte Texte, Leipzig 1974. Bach hat zum 20. S. n. Trin. außerdem folgende Kantaten geschaffen: „Schmücke dich, o liebe Seele“ BWV 180 (1724) und „Ich geh und suche mit Verlangen“ BWV 49 (1726). Vgl. BWV 180Ȧ4; BWV 49Ȧ5. Vgl. BWV 180Ȧ1; BWV 49Ȧ4. Vgl. BWV 49Ȧ4.
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[…] Die Liebesmacht hat ihn bewogen Daß er mir in der Gnadenzeit Aus lauter Huld hat angezogen Die Kleider der Gerechtigkeit.
vgl. Jes 61,2; 2Kor 6,2 Jes 61,10a; 2Kor 5,2ff.
So stützt und bereichert das Zitat des Verses „Bindet ihm Hände und Füße […]“ aus Mt 22 innerhalb einer Passionsbetrachtung über Jesu Gebundenwerden die geistliche Auslegung des letzteren durch die im Zitieren geschehende Vernetzung mit einem weiteren Auslegungskontext, in diesem Fall der Auslegungstradition des Gleichnisses vom königlichen Hochzeitsmahl,Ⱥ4ř womit deren Hauptbestandteil, die sog. Brautmystik,Ⱥ44 aufgerufen wird, die sich (spätestens seit Bernhard von Clairvaux und seinen Predigten über das HoheliedȺ45) in theologischer Reflexion und Frömmigkeitspraxis wesentlich als Passionsmystik entfaltet hat.Ⱥ46 Die Rückbindung der Braut-Bräutigam- und hier speziell der Kleider-Metaphorik in der Auslegung von Mt 22 an die Passionstheologie wird von Salomon Franck in dem vorgestellten Rezitativ poetisch realisiert durch Einführung des Bildes vom Purpur(gewand) als gedanklichem Scharnier in der biblisch-assoziativen Bilderfolge: Es ist das Verbindungsglied zur Rede vom reinigenden und die Sünde Adams ‚bedeckenden‘ Blut Jesu:
4ř
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45
46
Hierzu vgl. Rђћюѡђ Sѡђієђџ, „‚Schmücke dich, o liebe Seele‘. Brautmystik in Johann Sebastian Bachs Kantaten zum 20. Sonntag nach Trinitatis“, in: ёіђѠ. (Hg.), Von Luther zu Bach. Bericht über die Tagung 22.– 25. September 1996 in Eisenach/ Internationale Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung e. V., Sinzig 1999, 7ř–11ř. Zu deren Rezeption und Transformation durch Luther vgl. dessen Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen, Kap. 12, hierzu zentral: Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ, „Die communicatio idiomatum als Achse und Motor der Theologie Luthers. Der ‚fröhliche Wechsel‘ als hermeneutischer Schlüssel zu Abendmahlslehre, Anthropologie, Seelsorge, Naturtheologie, Rhetorik und Humor“, in: NZSTh ř8 (1996), 1–28. Bђџћѕюџё ѣќћ CљюіџѣюѢѥ, Sermones super Cantica canticorum (Sancti Bernardi Opera, recc. Jђюћ Lђѐљђџѐў, CѕюџљђѠ HѢєѕ Tюљяќѡ, HђћџіѐѢѠ M. RќѐѕюіѠ, vol. I – II), Rom 1957f. Vgl. z. B. die Passionspredigten von Heinrich Müller, in denen der leidende Jesus als Bräutigam der liebenden Seele vor Augen gestellt wird. Für das Libretto (und folgend für die musikalische Architektur) der Bachschen Matthäus-Passion von Christian Friedrich Henrici (Picander), dem Müllers Predigten als Vorlage dienten, sind dialogische Sätze und Hoheliedzitate charakteristisch; vgl. Picanders Ernst=Schertzhaffte und Satyrische Gedichte, Anderer Theil, Leipzig 1729, 101–112 (Faksimile in: NђѢњюћћ, Texte [Anm. ř9], ř21–ř24); Eљјђ Aѥњюѐѕђџ, „Ein Quellenfund zum Text der Matthäus-Passion“, in: BJ 64 (1978), 181–191; Lќѡѕюџ und Rђћюѡђ Sѡђієђџ, „Die theologische Bedeutung der Doppelchörigkeit in Johann Sebastian Bachs ‚Matthäus-Passion‘“, in: Bachiana et alia Musicologica. Festschrift Alfred Dürr zum 65. Geburtstag, hg. v. Wќљѓєюћє Rђѕњ, Kassel u. a. 198ř, 275–286.
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[…] Ach ! laß dein Blut, den hohen Purpur, decken vgl. Apk 1,5; 7,14; 19,1ř–15; 1Joh 1,7 Den alten Adamsrock und seine Lasterflecken, vgl. Gen ř,7 So werd ich schön und rein […]. Ps 45,14; Hld 4,1.7
Der „Rock des Heils, der Unschuld weiße Seide“, womit er die Braut bekleiden wird, sind in Christi Blut gewaschen und rein gemacht, wohingegen dessen eigenes Kleid ‚mit Blut besprengt‘ ist, weil er ‚die Kelter des grimmigen Zorns Gottes‘ getreten hat.Ⱥ47 Und auf diesem blutbesprengten Kleid steht sein Name geschrieben: „Ein König aller Könige und ein Herr aller Herren“ (Apk 19,20). Mit dem Stichwort ‚Purpur‘ nimmt der Dichter Bezug auf den Purpurmantel – traditionell ein Gewand hochgestellter Persönlichkeiten, in militärischer Umgebung der Offiziersmantel –, den die römischen Soldaten Christus in der Passionsgeschichte nach der Dornenkrone zur Komplettierung des Spottbildes angelegt haben,Ⱥ48 und aktiviert mit der Anspielung auf dieses Bild im HörerȦLeser die hieran sich knüpfende geistliche Auslegung, die mit den Worten Johann Gerhards angedeutet sei:Ⱥ49 Was haben wir nun bey diesem Purpurmantel zu bedenckenȦ mit welchem der HErr wird angekleidet ? Das wird vns gar schön vorgebildetȦ Apoc. 19. Da Johannes sihet den Sohn Gottes angethan mit einem KleideȦ das mit Blut besprenget war […].
Denn dieser Purpurmantel sei auswendig gefärbt gewesen mit dem Blut des Purpurwürmleins, von dem man diese Farbe zu gewinnen pflegte, 47
48 49
In den Anspielungen des Dichters auf Stellen aus der Offenbarung Johannis ist das Bild vom Keltertreter aus Jes 6ř,1–ř präsent, ein in allen Künsten häufig gestalteter Passionstopos; vgl. die verbreiteten spätmittelalterlichen Darstellungen (Altärchen) von ‚Christus in der Kelter‘ sowie z. B. die Passionskantate (Pasticcio) „Wer ist der, so von Edom kömmt“ von Cюџљ Hђіћџіѐѕ GџюѢћ, Jќѕюћћ SђяюѠѡіюћ Bюѐѕ, Gђќџє Pѕіљіѝѝ Tђљђњюћћ, Jќѕюћћ CѕџіѠѡќѝѕ Aљѡћіѐјќљ [?], Jќѕюћћ KѢѕћюѢ [?] (Denkmäler mitteldeutscher Barockmusik IIȦ1), hg. v. Pђѡђџ WќљљћѦ und AћёџђюѠ GљҦѐјћђџ, Leipzig 1997; vgl. auch die Kantate von Salomon Franck auf den 1. Ostertag „Der Himmel lacht! die Erde jubilieret“ (Evangelisches Andachts=Opffer, Anm. ř9), von Bach zum 21. April 1715 komponiert, Rezitativ ř, Schluß: „[…] Der sein GewandȦ Blutrot bespritzt in seinem bittern Leiden,Ȧ Will heute sich mit Schmuck und Ehren kleiden.“ – Zur inhaltlichen Wandlung des Bildes des Keltertreters vom typologischen Vorbild des seine Feinde besiegenden Messias im 12. Jh. zum „eucharistischen Passionsbild im Sinne des sein Blut opfernden und unter den Sünden der Menschen leidenden Schmerzensmannes“ gegen Ende des 14. Jhs. vgl. GђџѡџѢё Sѐѕіљљђџ, Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 2: Die Passion Jesu Christi, Gütersloh 2198ř, 140. 242f. Darstellungen des Keltertreters stehen im Spätmittelalter in Motivik und Gebrauch in engem Zusammenhang mit der Meditation der Leidenswerkzeuge (arma Christi) und der Wunden Jesu bzw. des Heiligen Bluts. Gertrud Schiller weist auf die gelegentliche Verbindung auch mit dem Bild des Lebensbrunnens hin (242, hierzu s. u. 575f.). Mt 27,28; Mk 15,17: Purpur; Joh 19,2.5: Purpurkleid. Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), ř. Actus, 274,157–277,228.
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inwendig aber „mit dem Rosinfarben Blut Christi“.Ⱥ50 Nach dieser Frage, wovon der Mantel rot gefärbt war, fragt Gerhard: „was hat vns denn Christus damit erworben?“ Antwort: Das folget bald am gemelten OrtȦ denn da sihet JohannesȦ daß diesemȦ welcher mit einem rohten blutigen Kleide angethan warȦ folgete nach das Heer im Himmel auff weissen PferdenȦ angethan mit weisser vnnd reiner SeidenȦ das ist mit dem Kleide der Vnschuld vnnd ReinigkeitȦ denn mit diesem rohten blutigen Rock hat der HErr Christus seiner Kirchen erworben das weisse Kleid des HeilsȦ vnd den reinen Rock der GerechtigkeitȦ Esaiae am 61.
Die Kriegsknechte hätten ihm ein Purpurkleid angezogen, „darmit angezeiget wirdȦ daß er für vnsere Sünde die Kelter des Zornes Gottes getretenȦ vnd daß daher sein Kleid so roth sey Esa. 6ř.“ So trage Christus das Purpurkleid „wegen seines Königreichs“ und habe uns „auch hiemit für Gott seinem Vater zu Königen und Priestern gemachtȦ Apoc. 1[,6].“ Nicht nur die Zitate aus Apk 19, Jes 61 und 6ř verknüpfen diese Passage aus Gerhards Passions-Erklärung mit Luthers Auslegung des Gleichnisses vom königlichen Hochzeitsmahl und Salomon Francks poetischer Umsetzung dieser Perikope: Auch was Luther zu Mt 22 folgert, in welche ‚Ehre‘ und ‚Herrschaft‘ der Sohn seine Braut, die Christenheit einsetzt, ist bei Gerhard – mit dem Hinweis auf Apk 1,6 – im Blick, der im folgenden auch die Einsetzung der Beschneidung mit dem dunklen Wort vom ‚Blutbräutigam‘ (Ex 4,25f.) auf die Christenheit bezieht: Christus wolle damit „zu vns sagenȦ daß wir jhm eine rechte Blutbraut sindȦ weil es so viel Blut gekostetȦ daß er vns zu einer geistlichen Braut jhm erworben.“ Selbst die beiden Reimworte Francks zu dem Zielwort des Rezitativs: „das (im Abendmahl vorweg genossene eschatologische) Mahl des Lammes schmecken“, nämlich „decken“ und „(Laster)flecken“ 50
Hierzu wird von den Auslegern meist an die typologische Vorabbildung in Gen ř7,ř2 erinnert, an den blutigen Rock, den Josephs Brüder als vorgeblichen Beweis für des Knaben Tod dem Vater schickten. Auch in diesem Kontext wird Christus ‚der himmlische Joseph‘ genannt; vgl. Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), 4. Actus, ř14,92– 100. Die Biblia pauperum kennt eine andere typologische Zuordnung: Die Episode der Josephsgeschichte weist als Täuschung voraus auf den Rat der Hohenpriester und Schriftgelehrten (Mt 26,řf.) ‚dolose conspirantes‘ „wie sie Jesum mit Listen griffen und töteten“ und des Judas Anerbieten des Verrats (Mt 26,14f.); vgl. Biblia pauperum, Cpl 871 (Anm. ř), (XII. Verschwörung der Juden); Biblia pauperum, Esztergom (Anm. ř), 17. – Der ‚Purpurmantel‘ ist ein zentrales Stichwort der Passionsmeditation. So beginnt Johann Gerhard seine Vorrede der Erklährung mit dem Hinweis auf Luthers Auslegung von Hld 7,6 in cap. 7 der Tessaradecas consolatoria pro laborantibus et oneratis 1520 (WA 6, 117–119), wo dieser erkläre „Daß der wahren Christen stete Betrachtung sey das heilwertige Leiden jhres Königes vnd Breutigams ChristiȦ in welchem er mit einem Purpurmantel bekleidetȦ vnd mit seinem Rosinfarben Blut denselben geferbet“; Gђџѕюџё, a. a. O., Vorrede, 14,ř–12.
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sind nicht nur mit der Kleidermetaphorik von sich her nahegelegt, sie sind ihrerseits biblischer HerkunftȺ51 und werden von Gerhard bei der zitierten Betrachtung des Purpurmantels biblisch eingeführt. Exkurs: Darstellungen des Keltertreters in der bildenden Kunst Typisch für das Motiv des Keltertreters in bildlichen Darstellungen ist seine Doppelsinnigkeit: Christus wird als derjenige gezeigt, der die Kelter ‚tritt‘, womit auf die Mühe und Arbeit des Erlösungswerks abgehoben ist im Sinne von Jes 4ř,24: „Mir hast du Arbeit gemacht mit deinen Sünden“ (vgl. Bach, Matthäus-Passion, Rez. 67). Zugleich ist Christus selbst in eine Weinpresse eingespannt (als Kelterbalken dient häufig ein Kreuz, das Christus mit beiden Armen auf seine Schultern herabdrückt, was die Freiwilligkeit seines Leidens zur Anschauung bringt; zuweilen wird die Preßwinde von Gottvater bedient, was besagt, daß in Christi Passion nicht die Menschen, sondern Gott selbst der eigentlich Handelnde ist, der an seinem Sohn die Sünden der Welt straft). Dabei wird Christus als ‚mystische Traube‘ gepreßt, so daß sein Blut aus dem Körper rinnt, welches ein Abendmahlskelch aufgefängt. Dieser Teil des Bildes bringt die Schmerzen zur Anschauung, die Christus in seiner Passion uns zugut auf sich genommen hat, im Sinne von Thren 1,12: „Vide si sit dolor ut dolor meus“ (vgl. Tafel 20 im Anhang), sowie die Stiftung des Altarsakraments. Im Doppelbild des Keltertreters wird das Beieinander von actio und passio im Leiden des deus-homo sinnfällig, wie wir es später bei Johann Gerhard kurz auf den Begriff gebracht finden: „CHristi passio est fortissima actio, quia mors nostra illius morte superata est“ (Gђџѕюџё, Aphorismi [Anm. 52], 96). Eine aus der Dürerschule (um 1510) stammende Darstellung mit Gott-Vater die Kelterwinde drehend, während Christus mit beiden Armen den Balken auf seine Schultern preßt (= actio und passio ineinander) und motivischer Ausweitung auf die Begründung der Kirche in den Sakramenten durch die Gestalt des Petrus, der mit Schlüssel und in päpstlichem Habit vor der Kelter kniet und in einem Kelch Hostien – statt des Blutes – auffängt, findet sich in der ev.-luth. St. Gumbertuskirche in Ansbach. Eine gleichfalls die Begründung der Kirche darstellende Szene mit Keltertreter – diese nach reformatorischem Verständnis – zeigt der Schmucktitel der sog. ‚Weimarer‘ oder ‚Ernestinischen‘ oder
51
Vgl. Num 4,1ř; Ps ř2,1; Jak 5,20ȦJes 64,5 (Vulg. 6: quasi pannus menstruatae universae iustitiae nostrae).
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‚Kurfürstenbibel‘ (Abb. 1), die von Herzog Ernst dem Frommen von Sachsen-Gotha in Auftrag gegeben, 1641 bei Endter in Nürnberg erschien. Auffallend an der Bildkomposition und theologisch bedeutsam sind folgende Elemente: Im oberen Bilddrittel, im hervorbrechenden Licht zwischen aufgerissenen Wolken, in perspektivischer Verkleinerung Christus in der Kelter (mit Spruchband Jes 6ř,ř), mit beiden Händen einen Kreuzstab mit österlicher Siegesfahne in das Maul des mit dem Gerippe des Todes verschlungen vor der Kelter am Boden liegenden ‚alten Drachens‘ stoßend. Aus Christi fünf Prinzipalwunden springen unzählige Blutstrahlen auf die Häupter einer riesigen, am Horizont verschwimmenden Menschenmenge, die Kirche in ihrer Gesamtheit repräsentierend, die sich rechts und links im Mittelgrund versammelt hat. In vorderster Reihe sind, zu beiden Seiten des auf der Decke eines Lesepultes im Zentrum des Bildes geschriebenen Buchtitels, biblische Gestalten Alten und Neuen Testaments (unter ihnen Isaak mit dem Opferholz unter dem Arm, und biblische Exempel der Buße: Petrus, Maria Magdalena, der Zöllner von Lk 18 und der Schächer am Kreuz), an ihren Beigaben zu erkennen und mit Namen bezeichnet, samt den Repräsentanten geistlicher und weltlicher Macht: Papst und Kaiser. Alle verharren in Anbetungsgestus, den Blick gen Himmel auf Christus gerichtet. Am Wolkenhimmel links und rechts neben der Kelter sind auf Spruchbändern die beiden Deuteworte Sach 9,11 (dieses in applizierender Umformung) und Hebr 9,14 geschrieben: „Du leßest durchs Blut deines Bundes aus deine gefangene“ und „Wie viel mehr wird das Blut Christi unsere gewissen reinigen von den todten wercken.“ Der Titel lautet: BIBLIA, Das ist Die gantze Heilige Schrifft Deutsch D: Mart: Luth: Mit Chursächsischen Privilegio. Gedruckt vnd verlegt zu Nürnberg bei Wolffgang Endter Jm Jahr 1641. Im unteren Bilddrittel ist eine dritte Bühnenebene eingezogen (formal an die Predella eines Altarretabels erinnernd und wie diese in etwas kleinerem Bildmaßstab gefaßt): Gleichsam im Orchestergraben umstehen zwei Personengruppen einen Altar: Hier wird das auf der Hauptbühne wiedergegebene ‚heilsgeschichtliche Personal‘ durch Zeitgenossen ergänzt, eine von Lucas Cranach d. Ä. in die reformatorische Heilsgeschichtsallegorie eingeführte Praxis in der Tradition der Portraitierung von Stifterfiguren undȦoder Einzeichnung eines Selbstbildnisses des Künstlers auf mittelalterlichen Altären, Epitaphien etc. Das Titelkupfer der Kurfürstenbibel zeigt links unten fünf Figuren in Seitenansicht, Repräsentanten der Obrigkeit und des geistlichen Standes, darunter den Auftraggeber des Bibelwerkes, Ernst den Frommen; ihnen gegenüber, auf der rechten Seite, stehen Repräsentanten des Volkes,
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Abb. 1: Kupfertitel der sog. Kurfürstenbibel (1641) (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart Bb deutsch 1641 02 – bzw. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Bibel-S. 2° 65).
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Vertreter aller Generationen in zeitgenössischem Habit. Die Mitte der Szene bildet die (im Maßstab leicht vergrößerte) Gestalt Christi, wie er neben dem Altar stehend mit der Linken auf sich selbst, mit der Rechten in die aufgeschlagene Bibel deutet, in der zwei Worte zu lesen sind: „Psalm 40. v. 8. Jm Buch ist von mir geschriben.“ und „Johan. 5. v. ř9. Suchet in der Schrift. Dann die zeiget [= zeuget] von mir.“ Christus selbst weist seine Gemeinde auf die Heilige Schrift; hier läßt er sich heute finden. Die Kirche gründet sich auf Wort und Sakrament. Auf dem Altarsockel schließlich ist Gal 6,16 angegeben (die Ermahnung des Paulus an die Galater, „den Schild des Glaubens“ zu ergreifen, mit dem sie „alle feurigen Pfeile des Bösewichtes“ auslöschen können) und als Segen geschrieben: „Wie viel nach dießer Regel einher gehen, vber die sey friede vnd Barmhertzigkeit.“ So sind auf diesem Titelblatt die drei nach reformatorischer Lehre ‚allein‘ seligmachenden Größen vereint, die ‚Kirche‘ konstituieren: ‚Solus Christus‘ – ‚sola Scriptura‘ – ‚sola fides‘.Ⱥ52
52
Anmerkung zum Exkurs: Jќѕюћћ Gђџѕюџё, APHORISMI SACRI PRAECIPUA THEOLOGIAE PRACTICAE FUNDAMENTA COMPLECTENTES […], Jena 1659 (HAB Wolfenbüttel j 52 Helmst. 8°), 96. Der Keltertreter von St. Gumbertus in Ansbach ist genannt bei Sѐѕіљљђџ (Anm. 47), 24ř; eine Abbildung findet sich in: Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers (Kataloge des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg), hg. v. Gђџѕюџё Bќѡѡ, Frankfurt a. M. 198ř, 86, Abb. 465. – Zur Kurfürstenbibel vgl. Hђіњќ Rђіћіѡѧђџ, Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 40), WolfenbüttelȦHamburg 198ř, 271–274 sowie EџћѠѡ Kќѐѕ, „Das Ernestinische Bibelwerk“, in: Ernst der Fromme (1601–1675). Staatsmann und Reformer, hg. v. RќѠѤіѡѕю JюѐќяѠђћ und HюћѠ-JҦџє RѢєђ (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha ř9), Bucha bei Jena 2002, 5ř–58. – Auf der Bildebene der Zeitgenossen zeigen die Vertreter von Obrigkeit und geistlichem Stand deutlich Portraitcharakter, während die Vertreter des Volkes als Typen dargestellt sind. Frau stud. theol. et phil. Franziska May (Hamburg) verdanke ich die Auskunft, daß es sich bei den Portraitierten um folgende Personen handelt: Kaiser Ferdinand III., Georg I. von Siebenbürgen, Ernst den Frommen, Bernhard (den jüngsten Bruder von Ernst) und Salomon Glassius sowie (davor in Rückenansicht) vermutlich Johann Gerhard. Kaiser Ferdinand III. regierte von 16ř7–1657. Der Name des Ungarn (so ist nach May zu vermuten) ist Georg der I. Rákóczi Fürst von Siebenbürgen. Als Ungar identifiziert worden ist diese Person auf dem Frontispiz bereits bei Rђіћѕюџё Mҿѕљђћ, Die Bibel und ihr Titelblatt. Die bildliche Entwicklung der Titelblattgestaltung lutherischer Bibeldrucke vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Würzburg 2001. Johann Gerhard hatte bis zu seinem Tod im Jahr 16ř7 die theologische und redaktionelle Verantwortung für die Arbeit am Bibelwerk inne, zu dem zwei Dutzend Bearbeiter knappe Kommentare zu den einzelnen biblischen Büchern beitrugen. Danach übernahm sein Nachfolger Salomon Glassius die Leitung.
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An dem Beispiel von Mt 22,1ř („Bindet“) dürfte deutlich geworden sein, welche sprachprägende und darüber hinaus: welche hermeneutische, einen Text aufschließende Funktion die angezogenen Bibelstellen in der Auslegungskunst des lutherischen Barock innehatten: Verweisungspfeilen in einem Lexikon gleich eröffnen sie über gemeinsame Stichworte immer neue inhaltliche Horizonte und führen durch diese Bewegung des Verknüpfens hin und her tiefer in das theologische Verstehen und Wissen hinein. Das vorgestellte Rezitativ von Salomon Franck hat darüber hinaus zur Anschauung gebracht, welch hohes Maß an spezifischer theologischer und sprachlicher Präzision die poetische Gattung der Perikopendichtung auszeichnet – jedenfalls bei den Könnern ihres Fachs, zu denen Franck zweifellos zählt. b. „dich sol auch die Liebe Gottes einbinden“: Die affektive Wirkung der Anredeform und Gottes ‚Kommen‘ in der Predigt Das Einblenden der Hochzeits- und Ehemetaphorik mit dem Zitat aus Mt 22 bringt außer dem (intellektuellen) Interpretationszuwachs in den Gang von Müllers Passionspredigt einen affektiven Impuls. Dies zeigt sich im Stil der Rede an dem Wechsel von der ř. in die 2. Pers. Sg., von der erklärenden Deutung in die persönliche Applikation auf den Hörer und eine sich anschließende exhortatio. Müller fährt nach dem Zitat von Mt 22,1řȺ5ř unmittelbar fort: Mein HertzȦ dich sol auch die Liebe Jesu einbinden in seinen GehorsamȦ daß du thustȦ was er gebeut; lässestȦ was er verbeut; leidestȦ was er dir auffleget. Die Welt erwehlet ein loses und ungebundenes Leben. Wer das erwehletȦ der bindet Jesum auffs neue.Ⱥ54 Ein eingezogenes und gebundenes Leben sol der Christen Leben seynȦ gebunden an den Willen und Wolgefallen Gottes.
Wir sehen, wie der Prediger sich von der Sprache selbst weitertragen läßt, in dem zuvor mit Hilfe biblischer Erzählzusammenhänge und Metaphern eröffneten Sprachraum sich haltend, assoziativ weiter ausgreifend, an die Predigt des Evangeliums von des Menschen Befreiung und Lossprechung nun deren Konsequenz für das praktische Leben, für den ‚neuen Wandel‘, im Tätigsein oder in der Leidensnachfolge, anschließend. Als Ungebunden-sein-wollen wird in diesem Bildkontext die Ursünde
5ř 54
S. o. bei Anm. řř; Forts. ebd., 106řf. Als Beleg dafür, daß diejenigen, die kein ‚christliches Leben‘ nach dem Willen Gottes führen, Christus seine Passionsleiden heute erneut zufügen, wird traditionell Hebr 6,6b angeführt: „[…] als die […] den Sohn Gottes wiederum kreuzigen“.
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Adams ausgelegt,Ⱥ55 die in Christi Gehorsam gebüßtȺ56 und wieder gut gemacht ist, womit dem Menschen die Möglichkeit des Gehorsams gegen Gottes Gebot wieder eröffnet wurde. Die Liebe Jesu soll uns in Gegenliebe „in seinen Gehorsam einbinden“ (Hertzens=Spiegel) bzw. „wir sollen uns einbinden in den Gehorsam JEsu Christi“ (Praeservativ). Dies ist eine als ‚mystisch‘ zu bezeichnende Redeweise, die dem zuvor aufgerufenen Kontext der Bräutigam-Braut-Metaphorik entspringt (die Hochzeit des Sohnes als Sich-verbinden mit der menschlichen Natur und als „wunderbare Vereinigung Christi mit seiner Kirchen“ und allen, die an ihn glaubenȺ57). Hierzu gehört auch, daß Müller mit der Anrede „mein Hertz“ in die Liebesprache fällt. Im Herzen, im Innersten der gläubigen Seele ‚wohnt‘ ChristusȺ58 und spricht zu seiner lieben 55
56
57 58
Vgl. die Passage zur Gefangennahme in der anderen, ebenfalls postum erschienenen Ausgabe seiner Passionspredigten: Hђіћџіѐѕ Mҿљљђџ, „Der leidende Jesus“, in: Evangelisches PRÆSERVATIV wider den Schaden Josephs/ in allen dreyen Ständen/ Heraußgezogen Auß den Sonn= und Fest=Tags Evangelien […], Erster Theil/ Von Advent biß Ostern/ wobey die Passions=Predigten, hg. v. SюњѢђљ CѕџіѠѡіюћ MѢњњ, Frankfurt a. M. und Rostock 1681 (HAB Wolfenbüttel Th 1856), ř. Predigt, 2řf.: „Adam hatte im Paradies gemißbrauchet seine FreyheitȦ darumb muß sich Christus fangen lassen. Adam war gebunden im Gehorsam GOttesȦ aber hatte seine Hände ausgestreckt nach dem verbotenen BaumȦ darumb muß hier der Heyland seine Hände binden lassen. Mein HertzȦ wir sollen uns einbinden in den Gehorsam JEsu ChristiȦ und so lebenȦ wie es GOtt haben wil. Aber wir thun solches nicht. Wir lauffen aus den SchranckenȦ das muß der Heyland büssen. Wir hatten verdienet das Urtheil: Bindet ihm Hände und Füsse/ und werffet ihn in das äusserste Finsternüß/ da wird seyn Heulen und Zähnklappern/ ȋMatth. 22. v. 1řȌ da lässet sich der Heyland bindenȦ nimmt unsere Schuld an sich. Die Straffe ligt auff ihm/ auff daß wir Friede hätten/ spricht Esaias. ȋc. 5ř. v. 5.Ȍ“ Auch hier sind Abhandlung und Anwendung stilistisch durch Subjektwechsel voneinander abgehoben, der Einschnitt wie oben durch die (Selbst)Anrede „Mein Hertz“ markiert. Vgl. Phil 2,8; AѢєѢѠѡ Pѓђіѓѓђџ, MAGNALIA CHRISTI, Oder Die Grossen Thaten Jesu Christi/ Damit er sich […] verdient gemacht hat/ Allen rechtschaffenen JEsus=Liebhabern zur täglichen Betrachtung und Seelen=Lust heraus gegeben, Leipzig 1685 (HAB Wolfenbüttel Te 955), lib. II, p. 2, 2. Vortrag, 270: „Jhr schädlicher tödlicher Gang zum verbotnen Baum ist nun gebüsset durch den traurigen Gang meines allerliebsten JEsu nach dem Berg Golgatha zum Tode am Creutz=Holze. […] Jhre LeichtsinnigkeitȦ dadurch sie Gottes Liebes=Bande zurissenȦ ist gebüsset durch die strenge BandeȦ so JEsus erduldet.“ Vgl. Luther, o. bei Anm. ř7. Dies ist, als Jesu ‚geistliche Ankunft‘, Thema der Predigt am 1. Advent; vgl. Eџёњюћћ NђѢњђіѠѡђџ, Fünfffache Kirchen=Andachten bestehend Jn […] Arien, Cantaten und Oden Auf alle Sonn= und Fest=Tage des gantzen Jahres, Leipzig 1717, 8f. „Nun komm der Heyden Heyland“ (Faksimile in: NђѢњюћћ, Texte [Anm. ř9], 29ř, [Aria 5]): „Oeffne dich, mein gantzes Hertze,Ȧ JEsus kömmt, und ziehet ein […]“. J. S. Bach legt in seiner 1714 datierten Komposition dieses Textes (BWV 61) diese Arie dem Sopran, der Stimme der Seele, in den Mund. – Der in der Dogmatik als unio mystica bezeichnete Vorgang der ‚Vereinigung‘ und ‚Beiwohnung‘ Gottes mit der gläubigen
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Braut.Ⱥ59 Mit der Anrede „mein Herz“ vergewissert der Prediger die Seele ihres Liebesverhältnisses zu Jesus und der Gegenwart des Geliebten im Herzen wie im Wort der Predigt.Ⱥ60 Er schlüpft damit gleichsam in
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Seele ist ferner Hauptthema der Predigt am 1. Pfingstfesttag; vgl. das emblematische Kupfer auf diesen Tag bei Jќѕюћћ Mіѐѕюђљ Dіљѕђџџ, Hertz= und Seelen=Speise/ Oder Emblematische Haus= und Reis=Postill: in welcher Alle Sonn= und Festtägliche Evangelia gründlich erkläret […], Nürnberg 1661 (HAB Wolfenbüttel Th 556), 608: „Wohnung der heiligen Dreyeinigkeit“; Rђћюѡђ Sѡђієђџ, „‚Gnadengegenwart‘. Johann Sebastian Bachs Pfingstkantate BWV 172 ‚Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!‘“, in: DіђѠ. (Hg.), Die Quellen Johann Sebastian Bachs. Bachs Musik im Gottesdienst. Die Referate des Symposiums 4.–8. Oktober 1995 in der Internationalen Bachakademie Stuttgart, Heidelberg 1998, 15–57, hier: 20–22. 26–29. Zum Bild vom Wohnen im Herzen in dieser (wahrscheinlich) auch von Salomon Franck gedichteten Kantate vgl. besonders Arie ř: „Heiligste Dreieinigkeit,Ȧ Großer Gott der Ehren,Ȧ Komm doch, in der GnadenzeitȦ Bei uns einzukehren,Ȧ Komm doch in die Herzenshütten […]“. Vgl. ferner das Herzemblem in Jќѕюћћ Mіѐѕюђљ Dіљѕђџџ, Augen= und Hertzens=Lust Das ist/ Emblematische Fürstellung der Sonn= und Festtäglichen Evangelien […], Nürnberg 1661 (HAB Wolfenbüttel Th 4° 14), 146, zur Epistel am 16. S. n. Trin.: „Wer will JESUM einquartiren:Ȧ Muß Jhn mit dem Glauben führen.“ OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, 7ř8b: „Hier […] ist die gnadenreiche gegenwärtige Vereinigung GottesȦ mit dem gläubigen Hertzen“. Dieser Topos der spätmittelalterlichen Mystik hat sich poetisch in diversen Gesprächsformen (zumeist Dialogen zwischen Jesus und der gläubigen Seele) niedergeschlagen. Auch in der geistlichen Musik des 17. Jhs. war der Dialog beliebt, wofür hier die Sammlung von AћёџђюѠ HюњњђџѠѐѕњіёѡ, Dialogi oder Gespräche zwischen Gott und einer gläubigen Seele (2 Teile, 1645) stehen mag (der 2. Teil legt die Hohelieddichtungen Opitzens von 1627 zugrunde). In dieser Tradition stehen auch die Dialoge zwischen Jesus (Baß) und der Seele (Sopran) von J. S. Bach, eine Form, die Bach sowohl für ganze Kantaten als auch für einzelne Sätze wählt. Nur einen Satz in Dialogform enthält Bachs Pfingstkantate BWV 172 (s. vorige Anm.), nämlich Arie 5, ein dreistrophiges Duett der Seele mit dem Heiligen Geist, dessen letzte Strophe lautet: „(Anima) Sei im Glauben mir willkommen,Ȧ Höchste Liebe, komm herein !Ȧ Du hast mir das Herz genommen. (Spir. S.) Ich bin dein, und du bist mein!“ Die Schlußzeilen zitieren, typisch für die Gattung, Verse aus dem Hohenlied (Hld 4,9 und 2,16). Zur Gattung vgl. Mіѐѕюђљ Mѫџјђџ, Die protestantische Dialogkomposition in Deutschland zwischen Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach (Kirchenmusikalische Studien 2), Köln 1995. An dieser Stelle ist die Differenz der lutherischen Position in der Frage nach dem Modus von Gottes inhabitatio im Menschen sowohl zur Mystik als auch gegenüber dem Spiritualismus in Erinnerung zu rufen: Gott ‚kommt‘ nicht direkt und unvermittelt, sondern durchs ‚äußerliche Wort‘, er ‚kommt‘ in der Predigt des Evangeliums. Hierauf weisen die Ausleger sogar angesichts der überwältigenden ‚direkten‘ Phänomene der Ankunft des Geistes an Pfingsten: angesichts von Brausen und feurigen Flammen, den biblischen Erscheinungsweisen von Gottes Gegenwart; vgl. Jќѕюћћ Aџћёѡ, POSTILLA, Oder Geistreiche Erklärung Der Gewöhnlichen Sonn= und Fest=Tags=Evangelien, […] nach dem von dem Auctore selbst zuletzt revidirt und vermehrten Exemplar aufs neue ans Licht gestellet. Mit einer Vorrede Herrn Johann Jacob Rambachs […], LeipzigȦGörlitz 17ř4 (HAB Wolfenbüttel Th 2° 1) (Erstauflage Jena 1616), 1. Pfingsttag, 2. Predigt, 8ř4a (zu Apg 2,2, daß „ein Brausen vom Himmel“ das ganze
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die persona des Liebhabers und verdoppelt im Sinne der Externität des verbum divinum dessen Stimme. Dies entspricht dem Lutherschen Verständnis vom Christus praesens in der Predigt seiner Diener nach Lk 10,16: „Wer euch hört, der hört mich.“ Ein Wort, das sich häufig an Kanzelaufgängen aus dem 17. Jahrhundert findet und auch auf einem Kupfer in Müllers früher Erbauungsschrift Himmlischer Liebes=Kuß dargestellt ist (Abb. 2).Ⱥ61 Das Kupfer illustriert das IX. Kapitel „Von der predigenden Liebe GOttes“ und zeigt im Mittelgrund eine Kanzel, von der herab Christus (zu erkennen am Nimbus um sein Haupt) predigt. Zahlreiche Pfeile, auf eine am Boden unter der Kanzel sitzende Frauengestalt gerichtet, zeigen die im Predigtwort herabströmende Liebe Gottes an. Die gläubige Seele streckt dem göttlichen Prediger als Gefäß, um sie (die Liebe) bzw. ihn (den Liebenden) zu empfangen, und als Gegengabe, mit beiden Händen ihr Herz entgegen.
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Haus erfüllte): „welches ein grosses, treffliches, unerhörtes, göttliches, sichtbarliches Wunder=Werck gewesen, dadurch die Würckung und Krafft des Heiligen Evangelii gedeutet worden, und die gnädige Beywohnung Gottes des Allmächtigen bey den Menschen, auch die holdselige freundliche Zukunfft Gottes durchs Wort.“ R. Sѡђієђџ, Gnadengegenwart (Anm. 58), ř4. Hђіћџіѐѕ Mҿљљђџ, Himmlischer Liebes=Kuß/ Oder Vbung deß wahren Christenthumbs/ fliessend auß der Erfahrung Göttlicher Liebe, Frankfurt a. M. 1659 (HAB Wolfenbüttel Th 1849), Abb. XIII. Die in diesem Buch enthaltenen Illustrationen stehen in der Tradition der mit Kupfern gezierten Ausgaben der Pia Desideria (1624) des Jesuiten Hermann Hugo, die alle von einer gemeinsamen Vorlage abstammen, vgl. die 16ř2 in Antwerpen erschienene und Papst Urban VIII. gewidmete kommentierte Ausgabe (HAB Wolfenbüttel Li 406ř). Zeugnisse der großen Verbreitung dieses Meditationsbuches sind die auch an anderen Druckorten erschienenen Ausgaben, z. B. Köln 1645 (HAB Wolfenbüttel Li 4064), ein Vademecum in winzigem Taschenformat, sowie Übersetzungen in diverse Volkssprachen, um es auch den Laien zugänglich zu machen, vgl. Hђџњюћћ HѢєќ, Die Jhren Gott Liebende Seele/ Vorgestellt in den Sinnbildern des HERM. HUGONIS, über seine PIA DESIDERIA; und des OTTONIS VAENII, über die Liebe Gottes/ mit Neuen Kupffern und Versen/ welche zielen auf das innere Christenthum; aus dem Frantzösischen ins Teutsche übersetzt, RegensburgȦAugsburg 1719 (HAB Wolfenbüttel Lm 1751); auf dem Titelkupfer zum zweiten Teil lautet der Titel: PIA DESIDERIA oder Heiliges Verlangen der gottseligen Seelen mit Sinnbildern deß HERMANNI HUGONIS. Die Pia Desideria waren – vergleichbar der Trutznachtigall des ebenfalls der Societas Jesu angehörenden Friedrich von Spee – ökumenisch rezipiert, wie die 1675 in Frankfurt a. M. erschienene deutsche Version von Johann Georg Albinus bezeugt (HAB Wolfenbüttel Li 4067), der seiner Übersetzung eine von Johann Heinrich Ursin, „dem grundgelehrten Theologo […] der reinen Evangelischen Kirche“, durchgesehene und mit „noch mehr nützlichen Lehr=Sprüche[n]“ versehene Ausgabe zugrunde gelegt hat.
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Abb. 2: Hђіћџіѐѕ Mҿљљђџ, Himmlischer Liebes=Kuß, Frankfurt a. M. 1659 (HAB Wolfenbüttel, Th 1849), Abb. XIII.
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ř. Die poetische Konstituierung von Präsenz Der Präsenz konstituierende und die emotionale Bewegung stimulierende Wechsel der Redeform (im Sinn des rhetorischen movere), den wir in Müllers Predigt beobachten, findet sich vergleichbar in Francks Kantate. Nach dem Eintritt des poetischen Ich in die Handlung des Gleichnisses in der Eingangsarie („Ach ! ich sehe,Ȧ Itzt, da ich zur Hochzeit gehe“), die mit dem Anruf um Beistand im eschatologischen Gericht endet („Jesu, hilf, daß ich bestehe !“; vgl. Ps 1ř0,ř; Mal ř,2; Apk 6,17), und der folgenden Situationsdarstellung des vorbereiteten Hochzeitsmahls in Rezitativ 2, das von Gottes Sohn in der ř. Person spricht, erscheint nun in Arie ř der Gastgeber selbst, indem seine Präsenz evoziert wird in der direkten Anrede im Vokativ „Jesu“: Jesu, Brunnquell aller Gnaden, Labe mich elenden Gast, Weil du mich berufen hast ! Ich bin matt, schwach und beladen, Ach ! erquicke meine Seele, Ach ! wie hungert mich nach dir ! Lebensbrot, das ich erwähle, Komm, vereine dich mit mir!
Ps 74,15; 104,10; vgl. Joh 4,14; Apk 21,6 Ps 22,27; 68,11b; vgl. Jes 61,1; 66,2; Mt 22,řf. Mt 22,14a; vgl. Jes 55,1–ř Mt 11,28a Mt 11,28b–29; Ps 2ř,ř Joh 6,ř5b Joh 6,ř5a.48–51; Mt 22,14b vgl. Hld 2,16
Franck komponiert hier – rhetorisch gesehen – eine Oratio ficta des poetischen Ich, das sich, in der Gleichzeitigkeit des Glaubens coram Deo gestellt, als Gast ohne „hochzeitlich Kleid“ – und das heißt: „mit dem heßlichen Sündenkleid umbgeben“Ⱥ62 – weiß und, um den zu erwartenden harten Hinauswurf seiner abzuwenden, den Gastgeber mit dessen eigenen Verheißungen und Zusagen zu überreden (persuadere) und für sich zu gewinnen sucht: Der Herr selbst hat ihn zu Gast geladen (Mt 22,řf.); von ihm ist durch David bezeugt, und durch den Propheten Jesaja hat er es verkündet, daß er sich der Elenden annimmt (Ps 22,27; 68,11; Jes 61,1; 66,2); die Mühseligen und Beladenen hat er zu sich gerufen, um sie zu erquicken (Mt 11,28f.Ⱥ6ř). Diese Erquickung wird ein geistliches Mahl sein,Ⱥ64 das den Durst der Seele auf ewig stillt (Joh 4,14; Jer 55,1–ř) und mit sich selbst als dem lebendigen Brot das ewige Leben schenkt (Joh 6,ř5.48–51). Mit dem Bezug auf das ‚lebendige Wasser‘ (Apk 21,6) und das ‚Brot des 62 6ř 64
Vgl. OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, 190a, zu Mt 22,11. Diese Stelle führt auch Olearius an; vgl. ebd., 188b, zu Mt 22,4. Vgl. Pѓђіѓѓђџ, Magnalia Christi (Anm. 56), lib. II, p. 2, 2. Vortrag, 177, nach dem Zitat von Ps 22,27 „Die Elenden sollen essen/ daß sie satt werden“: Es sei „ausgemachtȦ daß mit solchen Worten David nicht gesehen habe auff leiblich Essen und TrinckenȦ sondern auff die geistliche Seelen=SpeiseȦ die nicht den Bauch füllet/ sondern die Seele stillet.“
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Lebens‘ (Joh 6,ř5.48) wird das Hochzeitsmahl des Gleichnisses in diesem Satz applizierend näherbestimmt als der Empfang des Heiligen Abendmahls. Francks Poesie erweist sich wiederum als gesättigt mit biblischer Sprache, wobei er hier vornehmlich aus solchen Texten schöpft, die bei den zeitgenössischen Auslegern zur Topik der Rede vom Abendmahl gehörenȺ65 und die sich im auslegungsgeschichtlichen Vergleich allesamt als Traditionszitate nachweisen lassen – worauf an diesem Ort leider verzichtet werden muß. a. Die sakramentale Implikation der Brunnen-Metapher und die Stiftung der Sakramente (Joh 19,ř4) Hier ist nun wichtig zu sehen, wie das ‚eucharistische‘ Vokabular uns wiederum zurückverweist in den Kontext der Passionsauslegung, die der geübte HörerȺ66 bei der Metapher „Brunnquell aller Gnaden“Ⱥ67 assoziiert. Denn was aus diesem Brunnen quillt und fließt, das ‚lebendige Wasser‘ (Joh 4,14; Apk 21,6), wird ihr zuteil im gläubigen Essen und Trinken des Leibes und Blutes, wie der Fortgang von Jesu Gespräch mit den Juden in Joh 6 lehrt (Joh 6,48–58; vgl. 7,ř8). Der im Abendmahl zusammen mit dem ‚Lebensbrot‘ (Salomon Franck), dem Leib des Herrn, dargereichte „Trank des Lebens=Fürsten“,Ⱥ68 nach dem die Seele „dürstet“,Ⱥ69 ist das in der Passion „zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28) vergossene Blut des Neuen Bundes. Die phänomenale Nähe von Wasser und Blut besteht darin, daß Wasser, die physikalische Grundbedingung für die Entstehung von Leben, auch das Ur-Lebensmittel (und Hauptbestandteil der physis) der belebten Natur einschließlich des Menschen ist, und daß (jedenfalls im Leib von Mensch und Tieren, sofern sie einen Blutkreislauf haben), das Leben seinen ‚Sitz‘ im Blut hat (Lev 17,11Ⱥ70). 65
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Daraus resultiert auch die sprachliche Verwandtschaft mit zeitgenössischen Kommunionsliedern, vgl. z.B. „Schmücke dich, o liebe Seele“ von Jќѕюћћ Fџюћѐј (165ř) und die daraus sich ergebenden Parallelen zu Bachs Choralkantate über dieses Lied (BWV 180). Einen solchen haben Prediger wie Autoren als Adressaten im Blick; vgl. Pѓђіѓѓђџ, Magnalia Christi (Anm. 56), lib. II, p. 2, 1. Vortrag, 159: § 19. „Jch wil für diesesmahl nichts mehr hinzuthunȦ sondern den Text selbst einem ieden rechtschaffenen ChristenȦ der in Gottes Wort geübte Sinnen hatȦ zu seiner fernern Erwegung heimstellen“. Vgl. das Bußlied von BюџѡѕќљќњѫѢѠ RіћєѤюљёѡ „Herr Jesu Christ, du höchstes Gut“ (1588), Str. 1. „Schmücke dich“ (Anm. 65), Str. 4. Ebd. „Denn des Leibes Leben ist im Blut, und ich habe es euch auf den Altar gegeben, daß eure Seelen damit versöhnt werden. Denn das Blut ist die Versöhnung, weil das Leben in ihm ist.“ Vgl. Hebr 9,22.
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Deshalb konnte im Alten Israel der Brunnen als Bild für die Verheißung des Lebens stehen, das der HErr schenken wird, und im Neuen Bund Christus, die Quelle des Lebens, einem Bronn verglichen werden, aus dem die Kraft der Vergebung fließt. Auch dies ist eine Spielart typologischen In-Beziehung-Setzens beider Kanonteile. Verbunden und aufeinander bezogen werden die beiden heilswirksamen Elemente in der Mitteilung des Johannes-Evangeliums, daß nach Jesu Tod aus seiner eröffneten Seite Wasser und Blut ‚heraus ging‘ (Joh 19,ř4; von Augustin bekanntlich auf die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl gedeutetȺ71). In diesem Fließen sehen die Ausleger ein eigenes Wunder, weil natürlicherweise nach eingetretenem Tod das Blut erkaltet und stockt. So sagt Luther in der Hauspostille dazu: daß Blut und Wasser herausfließen, damit wolle Johannes etwas anzeigen:Ⱥ72 das wirs fleissig sollen merckenȦ vnd die rechte art draus lernenȦ welche vnsers lieben HErrn Christi Blut hatȦ nemlichȦ das es fleusstȦ lebetȦ vnd seine wirckung hatȦ auch nach dem Tod. […] Also lebet vnd fleusst das Blut vnsers lieben HErrn Christi noch jmerdarȦ ist nicht gestockt noch erkaltȦ es fleusst vnd springtȦ nach dem er Tod istȦ vnd alle die damit besprengt werdenȦ haben vergebung der SündenȦ vnd sind Kinder des ewigen Lebens.
Die phänomenale Gemeinsamkeit von Wasser und Blut: daß beides fließt (man beachte die Häufung des Verbs im zitierten Abschnitt; Augustin: „manauerunt“), ist der Ausweis ihres wesenhaften (ontologischen) Lebendig-Seins und ihrer (das wahre, ewige) Leben spendenden Kraft.Ⱥ7ř An diese Auslegung von Joh 19,ř4 – verbunden mit dem zentralen Wort 1Joh 1,7 von der reinigenden Kraft des Bluts Jesu Christi – hat sich in der Passionsbetrachtung eine breite Quellen- und Brunnen-Metaphorik angeschlossen, die von der Seitenwunde auf alle fünf Wunden über71
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AѢџђљіѢѠ AѢєѢѠѡіћѢѠ, In Iohannis Euangelium tractatus CXXIV, ed. RюёяќёѢѠ WіљљђњѠ (CCSL ř6), Turnhout 1954, tract. 120, cap. 2, 661,6–12. Diese Deutung hat Luther übernommen; s. folgende Anmerkung. Auch die typologische Zuordnung der Erschaffung Evas aus der Seite des schlafenden Adam (Gen 2,21f.) als Vorabbildung der Erschaffung der Kirche als der Braut Christi aus der Seitenwunde, die die Biblia pauperum darstellt (s. o. Anm. ř), stammt von Augustin, ebd., 661,15–20. Mюџѡіћ LѢѡѕђџ, HaußPostilla Vber die Sontags vnd der fürnemesten Feste Euangelien/ Durchs gantze jar (1544), Wittenberg 1598 (HAB Wolfenbüttel Alv. Eb řřa2° [1]), XII. Predigt Vom leiden Christi, 161r (zu Joh 19,ř4). Luthers Ausführungen z. St. sind traditionsbildend gewesen; vgl. Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), 4. Actus, 419,40ř– 421,465; Hђђџњюћћ, Crux Christi (Anm. 14), 11. Predigt, ř78, mit Zitat von Sach 1ř,1 und Ez ř6,25. Letztere wird mit dem zweiten Typos der Seitenwunde in der Biblia pauperum angezeigt, dem ‚Wasserwunder‘ von Ex 17,5f., wo der Herr sein Volk in der Wüste vor dem Verdursten bewahrt durch eine Quelle, die Mose auf Geheiß aus dem Felsen schlägt (vgl. 1Kor 10,4). Vgl. Hђђџњюћћ, Crux Christi (Anm. 14), 11. Predigt, ř77f., mit Zitat von 1Kor 10,4 und Joh 4,14.
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tragen wurde. Ein schönes Beispiel findet sich bei Tobias Clausnicer in seiner Passions=Blume. Hier schreibt er unter der Überschrift (in marg.) „Wunden Christi geben uns erstlich einen Brunn. 1. B. Mos. 26Ȧ18.22“:Ⱥ74 Hingegen fleusst uns nunȦ aus den aufgespaltenen Händen unsers HErrn JEsu ChristiȦ der Brunn unsers Heyls und der Gnaden Gottes. Dort grub der Patriarch Jsaac die Brunnen wieder aufȦ welche die Philister verstopfft hatten […] und sprach: Nun hat uns der HErr Raum gegebenȦ 1. B. Mos. 26.
Es folgt die applicatio: Durch die Nägel in der Creutzigung Jesu ChristiȦ sind dir die süssesten Gnaden=BrunnenȦ der göttlichen Liebe und Barmhertzigkeit wieder aufgegraben;Ⱥ75
damit sei uns, die wir sonst vor Anfechtung und Angst wegen unserer Sünden „nirgend bleiben können“, „in den Wunden unsers Heylandes wiederum Raum genug gemacht worden“.Ⱥ76 Diesen Brunnen können wir, so fährt Clausnicer fort, „zu unserer Seelen Erquickung/ unhinderlich [= ungehindert] gebrauchenȦ und daraus reines Wasser“ wider die Unreinigkeit der Sünden schöpfen, womit die Weissagung aus Sach 1ř,1 erfüllt ist, daß das Haus David „einen
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TќяіюѠ CљюѢѠћіѐђџ, Passions=Blume/ Oder Trauriges Schau=Bild/ Der gantz mitleidigen Natur/ über dem hoch=schmertzlichen Leiden und Sterben/ Unsers gecreutzigten HERRN JESU […] in Zwölff Predigten, Nürnberg 1662 (HAB Wolfenbüttel Th 441), 10. Betrachtung, 227f. Vgl. OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, 792a, zu Joh 19, V. Die erbauliche Anführung deß Haupt=Nutzes: „Seine [sc. Christi] heilige Wunden sind der fünffache Brunnqvell der Barmhertzigkeit. Qvinqve misericordiae fontes, wie die Alten redeten.“ Wie ein Brunnen in der Wüste eine begrünte Oase schafft und das bedeutet: Lebensraum eröffnet, so wird im geistlichen Sinn den Gläubigen in Jesu Wunden „Raum“ gemacht. Dieses Bild greift den sprachlichen und psychologischen Zusammenhang von ‚Angst‘ und ‚Enge‘ auf, auf den Luther gern hinwies, sowie den Fluchtimpuls und das ‚Nirgend-bleiben-können‘ als unausweichliche Selbsterfahrung des Sünders (Paradigma: Arie des Petrus [Nr. 1ř] „Ach, mein Sinn,Ȧ Wo wilt du endlich hin,Ȧ Wo soll ich mich erquicken ?“ in der Johannes-Passion BWV 245 von J. S. Bach, Text von Christian Weise, 1675). Die Metapher vom ‚Raum‘ in den Wunden schließt sich ferner motivgeschichtlich an an Bernhard von Clairvaux’s Auslegung der Seitenwunde (nach Jer 48,28 und Hld 2,14) als Höhle, in die der Sünder flieht. Dieses Motiv ist, oft unter ausdrücklichem Bezug auf Bernhard, breit rezipiert (auch unter der Bezeichnung als ‚Freistatt‘, ‚Zuflucht‘, ‚Retirade‘); vgl. Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), 4. Actus, 417,ř68–418,ř86; Hђђџњюћћ, Crux Christi (Anm. 14), 11. Predigt, ř7ř–ř75; Pѓђіѓѓђџ, Magnalia (Anm. 56), Passions=Register, „Wunden“, ř60ff., hierzu Rђћюѡђ Sѡђієђџ, in: Lќѡѕюџ und Rђћюѡђ Sѡђієђџ, „Die Passionstheologie der Bachzeit, ihr Predigttypus und der Text der Johannespassion“, in: Johann Sebastian Bach Johannes-Passion BWV 245. Vorträge des Meisterkurses 1986 und der Sommerakademie J. S. Bach 1990 (Schriftenreihe der Internationalen Bachakademie Stuttgart 5), hg. v. Uљџіѐѕ Pџіћѧ, Kassel u. a. 199ř, 8–4ř, II, 20–4ř, hier: ř7–41.
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freyen offenen Born […] wider die Sünde und Unreinigkeit“ haben wird. Sach 1ř,1 ist an dieser Stelle Traditionszitat. Auch Luther zitiert den Vers und führt seine Betrachtung der Seitenwunde wie folgt weiter:Ⱥ77 So du nu wilt diese Historien recht deutenȦ so sprichȦ Es fleusst aus des HErrn Christi Seiten BlutȦ zu abwaschung vnd vergebung meiner SündenȦ wie der HERR selbs zeuget im AbendmalȦ da er den Kelch darbeutȦ vnd fleusst auch Wasser herausȦ das also sein Leib ein offener Brun ist. Wozu ? Wider die Sünde vnd vnreinigkeit. Denn durch die Tauffe wird vns das Blut vnsers HErrn Christi zugeeignet [mit Hinweis auf Röm 6,ř].
Das Bad der Wiedergeburt hat seine Kraft im Blut Christi und dessen lebenspendender Quelle. So fährt auch Clausnicer nach dem Zitat von Sach 1ř,1 fort: Welcher Born aus der Seiten deß HErrn JEsu am Creutz sich ergossenȦ da Blut und Wasser heraus floßȦ ȋin marg.: Joh. 19Ȧř4.Ȍ und sich in unsere heilige TauffeȦ mit volligem Verdienste eingesencktȦ daß wir Krafft dessen durchs Wasser=Bad im Wort gereiniget werden.Ⱥ78
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LѢѡѕђџ, HaußPostilla (Anm. 72), 162r. CљюѢѠћіѐђџ, Passions=Blume (Anm. 74), 10. Betrachtung; Clausnicer führt seine Betrachtung fort mit folgender Strophe von Jќѕюћћ RіѠѡ: „Fünff Quellen wie das Gold so klarȦ Entspringen hie gantz offenbarȦ Die lauter Ström ergiessen. Ach! komm herzuȦ du liebe SeelȦ Und schaueȦ was aus dieser HölȦ Jn dich vor Wasser fliessen: Da wasche dich mit gantzem Fleiß/ Alsdenn so wirst du schön und weiß“ (227f.). Vgl. auch die Choralkantate von Jќѕюћћ SђяюѠѡіюћ Bюѐѕ, „Wo soll ich fliehen hin“ BWV 5, Aria ř: „Ergieße dich reichlich, du göttliche Quelle,Ȧ Ach, walle mit blutigen Strömen auf mich! […]“, hierzu Rђћюѡђ Sѡђієђџ, Gnadengegenwart. Johann Sebastian Bach im Kontext lutherischer Theologie und Frömmigkeit (Doctrina et Pietas IIȦ2), Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, IVȦ10 „Das Blut Jesu und die Lehre von der Versöhnung im Werk Bachs“, 186–224, bes. 20ř–208. Es folgen bei Clausnicer in der weiteren Betrachtung aus Rists Lied Strophen über weitere geläufige Bilder für die ‚Wirkung‘ der Seitenwunde: als der fünf Türen, Perlen, Höhlen; vgl. Hђђџњюћћ, Crux Christi (Anm. 14), 11. Predigt, ř7ř–ř77: „Rima ubi absconderis“, „Fenestra ubi introspicis”; „Scatebra ubi ablueris, der rechte Heyl=BrunnenȦ darinnen du von dem heßlichen Sünden=Schlam abgewaschen und gereiniget wirst“; zu letzterem s. das Emblem auf der folgenden Abbildung 4. – Der Vergleich der Wunden mit Perlen (Rist) entstammt der Edelsteinmetaphorik, die im Umfeld der Auslegung von Ps 45,10 und Jes 61,10b (der König wird seine Braut mit Gerechtigkeit schmücken) Anwendung findet und vornehmlich in Dichtungen im stilus ornatus gestaltet wird; vgl. Rђћюѡђ Sѡђієђџ, „Zum theologischen Verständnis von Telemanns Passionsoratorium ‚Seliges Erwägen‘“, in: Georg Philipp Telemanns Passionsoratorium „Seliges Erwägen“ zwischen lutherischer Orthodoxie und Aufklärung. Theologie und Musikwissenschaft im Gespräch, hg. v. Mюџѡіћю Fюљљђѡю u. a. (Arnoldshainer Texte 127), Frankfurt a. M. 2005, 156–277; VIII–IX, hier 211–214, 2.ř. Aria 19 „Jhr blutgen Schweiß=Rubinen“. 2.ř.1. Die biblische und poetische Herkunft der Edelsteinmetaphorik.
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Das ist Gemeingut der Prediger und Dichter in der Nachfolge Luthers, der in seinem Katechismuslied zur heiligen Taufe deren Wesen, Begründung und ‚Nutzen‘ konzis beschrieben hat: Das Aug allein das Wasser sieht/ Wie Menschen Wasser giessen/ Der Glaub im Geist die Kraft versteht Des Blutes JEsu Christi/ Und ist für ihm eine rohte Fluht Mit Christi Blut gefärbet/ Die allen Schaden heilen thut/ Von Adam her geerbet/ Und von uns selbst begangen.Ⱥ79
b. Christus unser Heil-BrunnenȺ80 Die Aussage dieser Luther-Strophe ist in dem Emblem „Das Heyl aller Heyligen“ in einer der zahlreichen mit Kupfern gezierten Ausgaben des Wahren Christenthumb von Johann Arndt zur Anschauung gebracht (Abb. ř).Ⱥ81 Das Bild zeigt Christus als Springbrunnen. Es illustriert die Hauptaussage der Kapitel 1–ř des Zweiten Buchs, daß Christus unser Arzt und Heil-Brunnen ist, „in welchem wir wider gedachtes greuliches Gifft der angebohrnen Sünden, und allen daraus quellenden Jammer und Elend, Artzney und Hülffe durch den Glauben finden“.Ⱥ82 Erhöht auf einem barocken Brunnensockel, steht in der Bildmitte Christus in einem doppelten Lichtkranz (Mandorla): einem den ganzen Körper umstrahlenden und einem Strahlenkranz um das Haupt. Dieses Licht ist der Hinweis auf seine göttliche Natur und damit auf Apg 20,28: Es ist Gottes eigenes
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Mюџѡіћ LѢѡѕђџ, „Christ unser Herr zum Jordan kam“ (1540Ȧ41), Strophe 7 (Schlußstrophe); wiedergegeben nach Hђђџњюћћ, Crux Christi (Anm. 14), 11. Predigt, ř78, der die Strophe (in Fettdruck, der gebräuchlichen Auszeichnung von Bibelzitat und Liedvers) im Anschluß an die Schriftworte Sach 1ř,1 und Ez ř6,25 (s. o. Anm. 72) ausschreibt. Vgl. OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, 255b, zu Mt 27,ř5, wo der Autor eine zehngliedrige Aufzählung, was das Kreuz Christi „uns ist“ (d. h. seine Heilswirkung in zehn Bildern beschreibend), beginnt mit: „Dieses Creutz ist uns 1. Der rechte Heyl=Brunn deß theuren Bluts Jesu ChristiȦ 1. Johann. 1.“ Jќѕюћћ Aџћёѡ, Vier Bücher Vom wahren Christenthumb, Lüneburg 1679 (HAB Wolfenbüttel Th 70), Buch II, p. 11. Ebd., Vorrede II. Buch (Wiedergabe nach der Ausgabe Leipzig 17ř0 [HAB Wolfenbüttel Th 72], 29ř).
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Blut, das allein die von Sünden reinigende Kraft hat.Ⱥ8ř Aus den fünf Prinzipal-Wunden springt der Brunnen, der von Sünden reinigt (1Joh 1,7) und heilt (Jes 5ř,5). Im Brunnenbecken steht auf der linken Seite eine weibliche Person, Allegorie der gläubigen Seele, die sich in den drei auf ihr Haupt treffenden Blutströmen wäscht. Die Subscriptio faßt den Sinn der Pictura wie folgt zusammen: „Bist du aus diesem Brunn gewaschen und genesen:Ȧ So bist du ewiglich kein böser Mensch gewesen.“ Das Emblem steht ikonographisch-motivgeschichtlich in der Tradition der Fons-Vitae-Darstellung.Ⱥ84 Ist mit dem Stichwort „gewaschen“ die Sünde als ‚Unreinigkeit‘ und ‚Flecken‘ auf dem „alten Adamsrock“ bestimmtȺ85 und die aus Christi Wunden fließenden ‚Wasser‘ als Reinigungsbad wider die geistliche Beschmutzung der SündeȺ86 und als nimmer versiegende Quelle der geistlichen Erquickung,Ⱥ87 so greift das Lexem „genesen“ das Bild von der Sünde als geistlicher Krankheit auf, von der Christus als unser Arzt durch die geistliche ‚Medizin‘ seiner Passion heilt.
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Vgl. OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, 784b, zu Joh 19,5 „Ecce homo“: „Siehe mich anȦ sagt der Sohn GottesȦ […] und glaubeȦ daß dich mein Blut reinige 1. Joh. 1.[v.7] und versöhne. c. 2 [v.2]. Meide allen JrrthumȦ denn es ist das Blut JEsu Christi 1. Johann. 1.[v.7] Gottes eigenes Blut Apostel=Gesch. 20 [v.28].“ Hierzu vgl. Eљјђ Mҿљљђџ-MђђѠ, Die Rolle der Emblematik im Erbauungsbuch aufgezeigt an Johann Arndts ‚4 Büchern vom wahren Christenthum‘, Diss. phil Köln, Düsseldorf 1974, 185–191. 256f. In dieses Umfeld gehört auch das abgeleitete profane Motiv der Jungbrunnen-Darstellungen mit ihrer kulturgeschichtlich (das Bäderwesen betreffend) informativen und häufig humoristische Elemente enthaltenden Szenerie. S. o. bei Anm. ř9 zu Salomon Francks Kantate „Ach ! ich sehe, itzt, da ich zur Hochzeit gehe“, Rez. 4, im Kontext der Kleidermetaphorik, biblisch gestützt durch Jes 61,10; Apk 7,14, wobei Anlaß besteht zu dem Hinweis, daß die ‚Beschmutzung‘ nicht nur den Leib betrifft, schon gar nicht eine speziell auf die Sexualität zielende Aussage ist. Vielmehr geht es um die totale, Leib und Seele betreffende Befleckung und Verderbnis des Menschen von Adam her, von der Christi Blut das Gewissen rein wäscht; vgl. 1Petr ř,20f. (man beachte den innerbiblisch typologischen Verweis auf die Sintflut); Hebr 9,14; 1Joh 1,7; Ez ř6,25; Hebr 10,22; s. auch nächste Anmerkung und noch einmal das Lutherzitat o. bei Anm. 77: „Es fleusst aus des HErrn Christi Seiten BlutȦ zu abwaschung vnd vergebung meiner Sünden […]“. Hђђџњюћћ, Crux Christi (Anm. 79), ř79: „Lavacrum regenerationis purgat â reatu omnium peccatorum: Das Bad der Wiedergeburt reiniget uns vom Unflaht aller Sünden.“ – wobei der Terminus ‚erquicken‘ eucharistische Konnotation hat und traditionell Mt 11,28 alludiert.
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Abb. ř: Jќѕюћћ Aџћёѡ, Vier Bücher Vom wahren Christenthumb, Lüneburg 1679 (HAB Wolfenbüttel Th 70), Buch II, S. 11.
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c. Die Koinzidenz von Arzt und Arznei Johann Olearius widmet in der Heylsamen Betrachtung diesem Gleichnis einen eigenen Abschnitt unter der Überschrift „Medicina sacra. Die geistliche Artzney=Kunst.“Ⱥ88 Denn hier stehet unser Heyland und sagt: Jch bin der HErr dein Artzt/ 2. B. Mos. 15. [v.26] dein Erlöser welcher den Fluch des Erdbodens von dem Menschen genommenȦ und den Seegen wieder brachtȦ in seinem Leiden und SterbenȦ ja alle Sünden KranckheitȦ und deren wohlverdiente Straffe auff sich genommen und getragenȦ Esa. 5ř.[v.4f.] und zugleich den Brunquell aller zeitlichen Kranckheiten und Leibes Beschwerungen damit verstopfft und abgewendet. Mat. 8. 17.
Olearius erweitert die „Ich-bin“-Rede des Herrn aus Ex 15,26, den Grundvers, aus dem diese Metapher sich speist,Ⱥ89 in einer längeren Oratio ficta, in deren Verlauf der Heiland sich als unser alleiniger ‚Leib- und Seelenarzt‘ vorstellt. Mittels Anapher gestaltet er eine Gradatio, die in einem zweizeiligen Liedzitat gipfelt, das als Antwort der gläubigen Gemeinde die applicatio formuliert:Ⱥ90 Jch bin und bleibe allein der Meister zu helffen in allen Leibes= und Seelen Nöthen. Esa. 6ř.[v.1] Jch bin und bleibe allein dein bester Leib=Arzt/ welcher alle Kranckheit abwendenȦ die Gesundheit bewahrenȦ […] und deine Jahre vermehren kanȦ wie dem Könige Hiskiae. Esa. ř8. Jch bin und bleibe allein dein bester Seelen=Artzt/ der dir alle deine Sünde vergiebtȦ und heilet alle deine GebrechenȦ der dein Leben vom verderben erlösetȦ der dich crönet mit Gnade und Barmhertzigkeit. Ps. 10ř.[v.řf.] Jch bin und bleibe dein bester Leibes= und Seelen=Artzt/ […] daß es heist: Ein Artzt ist uns gegebenȦ Der selber ist das Leben […].Ⱥ91
Olearius beschließt diesen Abschnitt der Heilandsrede mit einer verstärkenden Wiederholung des Eingangswortes, rhetorisch verstärkt nämlich durch die aus Jes 49,15 abgeleitete Argumentationsfigur, die Gottes über alles menschliche Mutter-Sein oder Arzt-Sein hinausreichende – also
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OљђюџіѢѠ, Heylsame Betrachtung (Anm. 1), 2. Buch, 2. Titul, § 7, III. Medicina sacra, 429–447, hier 429f. Vgl. besonders die zeitgenössische Auslegung neutestamentlicher Heilungsgeschichten; zu Lk 17,11–19 vgl. R. Sѡђієђџ, Gnadengegenwart (Anm. 78), I. 2. Eine Predigt zum Locus De iustificatione. Die Kantate „Jesu, der du meine Seele“ BWV 78, 22–52, hier 41–44. OљђюџіѢѠ, a. a. O. (Anm. 88), 4ř0f. NіѐќљюѢѠ Sђљћђѐјђџ, „Nun laßt uns Gott dem Herren“ (1587), Str. 4; die weiteren zwei Zeilen der Strophe lauten: „Christus für uns gestorbenȦ Der hat das Heil erworben.“
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seine das Gleichnis und unsere Erfahrung unendlich übertreffende – Treue gewiß zusagt: Vnd wenn auch sonst kein Artzt mehr in der gantzen Welt zu finden wereȺ92Ȧ so bleibts doch war in Ewigkeit: Jch bin der HErr dein Artzt.
Nach dieser Selbstvorstellung und der mit „Darum […]“ angeschlossenen und, wiederum mit Anapher anhebend, vierfach explizierten Einladung von Mt 11,28 („Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“Ⱥ9ř) kommt der Arzt auf seine Behandlung zu sprechen:Ⱥ94 Obgleich wegen der Sünde für alle Menschen, die ‚außer Christo leben‘, gelte „Du wirst des Todes sterben“ (Gen 2,17), „des leiblichenȦ geistlichenȦ und ewigen Todes“, wovon kein Bruder den andern erlösen kann, So erbarme ich mich doch über euchȦ die an mich gläubenȦ ich lege selbst Hand anȦ verbinde die WundenȦ Luc. 10. [v.řřf.] und schone weder Oel noch Wein darein zu giessen:Ⱥ95 Jch gebrauche hierüber meine Artzney aus meiner Himmlischen Apotheck und VorrathȦ so euch in meinem allein seligmachenden Wort überflüssig gezeiget werden. Denn da findet sich die allerherrlichste Reinigung von allem Sündenwust und schändlichen VnrathȦ denn das Blut JEsu Christi des Sohnes GOTTES macht euch rein von allen Sünden. 1. Johan. 1. […].Ⱥ96
Mit Schriftzitaten spezifiziert, zählt der Heiland drei weitere Mittel auf – gleichfalls mit „Jch gebrauche […]“ eingeführt (so daß seine Rede über die Medicina sacra sich aus drei mal vier durch Anapher verknüpfte Abschnitte aufbaut) – und schließt, daß seine Apotheke „geistliche Prophylactica, Therapevtica und Diaetetica“ in glücklicher Zusammensetzung bevorrate.Ⱥ97
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Vgl. Jes 49,15: „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselben vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen.“ Dieselbe Allusion und Argumentationsweise bei Hђђџњюћћ, Crux Christi (Anm. 14), 10. Predigt, ř2ř: „Und wann auch gleich die gantze Welt solte und wolte von dir die Hand abziehenȦ ey so wil dir Christus JEsus vorhergehen auf deiner Creutz=Bahn […]“, folgend die Trostworte Ps 91,15; Jes 41,10, und: „Wann dich gleich Vater und Mutter verlassenȦ so wil dich GOtt aufnehmen“ (in marg.: Ps 27,10). 9ř S. o. Anm. 87. 94 OљђюџіѢѠ, a. a. O. (Anm. 88), 444f. 95 – mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Zu „So erbarme ich mich doch über euch“, vgl. Jes 49,15a. 96 Das wiederholte Erscheinen dieses Schriftworts innerhalb unseres Kontextes belegt anschaulich seine herausragende Bedeutung als Traditionszitat im Zusammenhang der Sakramentsthematik. So findet es sich auch häufig als Inschrift auf barocken Altarretabeln. 97 OљђюџіѢѠ, a. a. O. (Anm. 88), 447.
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Ich habe diesen Text von Olearius so ausführlich vorgestellt, weil er geeignet ist, die in gattungstypischer Weise kontrahierte Aussage des Heilbrunnen-Emblems von Arndt zu explizieren. Es zeigt sich nämlich auch hier dieselbe Struktur der Koinzidenz von actio und passio, die uns schon mehrfach begegnete: Als Keltertreter ist Christus zugleich ‚Traube‘ (s. Exkurs o. S. 561), im Abendmahl zugleich Gastgeber und genossene Speise (vgl. die Arie von Franck, „Jesu, Brunnquell aller Gnaden“). Als ‚Heil-Brunnen‘ und ‚Lebens-Born‘ ist Christus zugleich Quell, Ursprung, Spender usw. des reinigenden und labenden Wassers wie auch das Heilmittel selbst: er ist medicus und medicina, Arzt und Arznei in einem.Ⱥ98 Die Koinzidenz von Arzt und Arznei hat ihre christologische Begründung darin, daß Christus zugleich das Wort (verbum) ist (Joh 1,1) und im Wort der Vergebung (remissio peccatorum) kommt und ‚ausgeteilt‘ wird; er ist selber das Leben, wie Olearius mit Selneckers Lied anführt, und hat – wie die Strophe weiter sagt – dieses durch seinen Tod für uns erworben, so daß es in, mit und unter seinen ‚Therapeutica‘ verabreicht werden kann: „Sein Wort, sein Tauf, sein Nachtmahl,Ȧ Dient wider allen Unfall […]“.Ⱥ99
4. Durch Gottes Liebe gebunden: „Also hat Gott die Welt geliebt“ (Joh ř,16) Das Brunnen-Gleichnis schließt die Assoziation des unablässigen WeiterfließensȺ100 ein wie auch das Bild des Überfließens,Ⱥ101 bzw. den Überfluß, d. h. den biblischen Inbegriff der Fülle (pl»rwma, plenitudo) nach Joh 1,16.Ⱥ102 Diese Fülle ist Zeichen der Schwere der zu behandelnden Krankheit wie der Größe von Gottes Liebe. 98 Zu letzterem vgl. Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ, Medizinische Theologie. Christus medicus und theologia medicinalis bei Martin Luther und im Luthertum der Barockzeit. Mit Edition dreier Quellentexte (SHCT 121), Leiden u. a. 2005, hier: 28–ř1. 99 Strophe 5 desselben Liedes von NіѐќљюѢѠ Sђљћђѐјђџ (Anm. 91). 100 – unnachahmlich akustisch beschworen von EёѢюџё MҦџіјђ durch Wechsel in daktylisches Versmaß bei den Zeilen „Und kecker rauschen die Quellen hervor […]“ bzw. „Doch immer behalten die Quellen das Wort […]“ seines Gedichtes „Um Mitternacht“. 101 – poetisch vergegenwärtigt in den berühmten Brunnengedichten von Cќћџюё Fђџёіћюћё MђѦђџ („Der römische Brunnen“) und Rюіћђџ Mюџію Rіљјђ („Römische Fontäne.“ Borghese). 102 Aus diesem Vers ist denn auch die Inscriptio des Brunnen-Emblems „DE PLENITVDINE EIVS“ aus den Monumenta Emblematum Christianorum Virtutum (Frankfurt a. M. 1619) der Georgia Montanea gewählt, das Henkel und Schöne mitteilen, welches – unserer Arndt-Illustration sehr ähnlich – Christus als Springbrunnen zeigt und
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Daß Christi Blut reichlich, in zeitgenössischer Terminologie: ‚mildiglich‘,Ⱥ10ř ‚häufig‘,Ⱥ104 ‚überflüssig‘,Ⱥ105 fließt, weiß August Pfeiffer recht drastisch zu beschreiben, die Teile des „Blut=Brunnens“ vor Augen rückend. Indem er jedoch die Brunnen-Metapher mit dem Bild von den Wunden als ‚Perspectiv‘ und Fenster zu Christi Herz verknüpft, leuchtet an dem Übermaß seines Leidens das Übermaß der Liebe auf, die Gott an den Menschen wendet, und das Übermaß der vergebenen Sünden:Ⱥ106 Seine heilige Wunden seyn zwar von schmertzlichen Schlägen unscheinbarȦ aber sie funckeln von eitel Liebe; Darum kan man durch seine offne Seiten=Wunde in den innersten Grund seines Hertzens sehen. Allerdings ist bey ihm viel Erlösung [Ps 1ř0,7]Ȧ indem sein Blut nicht irgend Tropffen=weiseȦ sondern Strom=weise mildiglich durch fünff Stellen seines Leibes (als so viel Canäle und RöhrenȦ ja Blut=Brunnen) geflossen ist.
Vom Bild des Strömens und Herausfließens wird der Autor (d. h. Gerhard, dem Pfeiffer hier folgt) assoziativ weitergeführt zum Bild vom Leiden in der Kelter: Gleichwie ein Träublein unter der Kelter gepreßtȦ allenthalben seinen süssen Safft von sich giebtȦ also ergeust der H. Leib JEsu Christi von der Kelter des Göttlichen Zorns und unsern schweren Sünden gepresset und geqvetschetȦ den edlen Safft seines Bluts von sich.
zahlreiche Kranke und Gebrechliche, die in dem Brunnen ihren Durst löschen. EMBLEMATA. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI . und XVII . Jahrhundert, hg. v. AџѡѕѢџ
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Hђћјђљ und Aљяџђѐѕѡ SѐѕҦћђ, Stuttgart 1967 (Sonderausgabe 1978), 1245. Vgl. auch Ps 65,10: „Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle.“ Mҿљљђџ, Der Leidende Jesus (Anm. řř), 7. Predigt, 1064f.; vgl. R. Sѡђієђџ, Gnadengegenwart (Anm. 78), IVȦ10: Das Blut Jesu und die Lehre von der Versöhnung im Werk Bachs, 186–224, hier 201. 20ř. 207. Jќѕюћћ Hђђџњюћћ, MONS OLIVETI, Oder: Christliche Betrachtung Der Blutsauren Arbeit/ Welche unser Hochverdienter Erlöser Jesus Christus Jm Garten am Oelberg verrichtet/ Jn Zwey und Zwantzig Predigten fürgestellt, Nürnberg 1656 (HAB Wolfenbüttel Th 1191), 9. Predigt, 101: „der gantze Leib muß Blut schwitzenȦ und so hefftigȦ so häuffigȦ dass es herab fälletȦ diß ist ja eine überflüssige Erlösung.“ Vgl. R. Sѡђієђџ, Zum theologischen Verständnis (Anm. 78), 205–207, u. a. zu perisseÚein – abundare im Neuen Testament. Hђђџњюћћ, Crux Christi, a. a. O. (Anm. 79), ř79. AѢєѢѠѡ Pѓђіѓѓђџ, Magnalia Christi (Anm. 56), lib. II, p. 2, 1. Vortrag, 159f. Pfeiffer legt hier, mit Hinweis auf Autor und Fundort, die 7. Betrachtung der Meditationes sacrae von J. Gerhard (De fructu passionis Dominicae) zugrunde, offensichtlich in einer eigenen (gelegentlich amplifizierenden) deutschen Übertragung; vgl. Jќѕюћћ Gђџѕюџё, Meditationes Sacrae (1606Ȧ7), kritisch hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen v. Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ (Doctrina et Pietas IȦř), 2 Bde., StuttgartBad Cannstatt 2000, I, 55,9–56,20; II, ř84,16–ř85,ř2.
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Und der Blick des Betrachters kehrt zurück zu der Liebe, die aus den Wunden ‚funckelt‘ und zieht Trost und HoffnungȺ107 aus zwei Schriftstellen, die das unermeßlich große Opfer des einzigen Sohnes als Zeichen unermeßlicher Liebe verstehen lehren: Als dort Abraham seinen Sohn zum Opffer darbringen wolteȦ sprach der HErr: Nun weiß ich in der Warheit daß du mich lieb hast: (Gen. XXII, 12.) Ey so erkenne doch auch hieraus des ewigen H. Vaters unermeßliche LiebeȦ daß er seinen eingebohrnen Sohn für uns in den Tod hat dahin geben wollen [Joh. III, 16.].
Die Unerschöpflichkeit des Lebens-Brunnens beschreibt Johann Heermann, indem er den schon mehrmals beigezogenen Predigtabschnitt im Rückgriff auf ‚die alten Kirchenlehrer‘ (in marg.: Theophylactus) mit folgendem Gedicht beschließt:Ⱥ108 O bone JESU, tu es fons vitae indeficiens, humana corda reficiens, ad te currit omnis homo sitiens, quia tu es ei sufficiens:
das er wie folgt verdeutscht: O frommer HERR JESUȦ du bist der unerschöpffliche Lebens=BrunnȦ der unsere abgemattete Hertzen erquicketȦ zu dir kommen alle Heyldurstige MenschenȦ dann du kanst allen reichlich und überflüssig mitteilenȦ was sie zu diesem und jenem Leben bedürffen.
Und als Schlußgebetlein fügt Heermann an: O HERR JEsuȦ labe und erfrische auch meine lechtzende SeeleȺ109 mit deinen Gnaden=Strömen zur ewigen SeelichkeitȦ Amen.
Die beiden letzten Betrachtungen Jesu als Brunnquell oder fons vitae lenken den Blick zurück auf meine hermeneutische These von der auslegungsgeschichtlichen Vernetzung der Traditionszitate und bieten Gelegenheit, nun die verschiedenen begonnenen Interpretationsfäden nacheinander wieder aufzunehmen und zu ‚verknoten‘. Wiederum werden wir von auslegungsgeschichtlich wirksam gewordenen Zitaten geführt, die ihren eigenen Kontext bei sich haben und dem Verstehen neue Kontexte und Horizonte eröffnen. Die zitierte Passage von August Pfeiffer führt hin auf das Wort Joh ř,16: „Also hat Gott die Welt geliebt […]“,Ⱥ110 das er durch Erinnerung an das alttestamentliche ‚Vorbild‘ Abrahams 107 – gemäß dem Untertitel bei Gerhard: „Mea spes est passio Christi.” Diese wird in der Übersetzung von Johannes Sommer in einem Sechszeiler expliziert, welcher schließt: „[…] Dein Leiden istȦ Mein Trost den ich thue fassen.“ Zu Christi Leiden in der Kelter s. o. S. 561–564 u. ö. 108 Hђђџњюћћ, Crux Christi (Anm. 14), 11. Predigt, ř79f. 109 Vgl. Ps 42,ř; Joh 4,14. 110 „Also“ nicht im Sinn von ‚ergo‘; der Satz formuliert keine Schlußfolgerung, sondern setzt nach dem „Sicut – ita – ut“ (kaqëj – oÛtwj – †na) von v. 14f. neu ein mit einem doxologischen „Sic enim“ (oÛtwj g¦r), ‚so sehr nämlich‘.
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rhetorisch und exegetisch verstärkt. Tertium comparationis dieser abgeleiteten, Abraham und Gott vergleichenden Typologie ist das Vater-Sein beider und ihre Liebe zum einzigen („eingebohrnen“) Sohn,Ⱥ111 exegetisch begründet in Gen 22,2: „Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast […]“. Joh ř,16 ist ein gewichtiges Zitat in Luthers Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi, der theologisch bestimmenden, Gedankenführung und Sprache seiner Nachfolger über 200 Jahre hin prägenden Grundschrift der lutherischen Passionsbetrachtung.Ⱥ112 Das Zitat erscheint am Ende der zweiten Stufe der Betrachtung, die den Menschen von der ersten, dem Erschrecken über Gottes Zorn und die Größe der Sünde und der Erkenntnis seiner selbst als der Ursache des Leidens Christi, hinaufführt und das Gewissen wieder frei macht, weil, wie die Sünden „auß Christo geflossen und erkand worden seynd, ßo muß man sie widder auff yhn schutten und das gewissen ledig machen“, denn „Gott hatt unßer aller sund auff yhn gelegt, das er sie trage und bezale, wie Jsa: 5ř sagt“.Ⱥ11ř Jetzt darf der Blick nicht mehr auf das Leiden Christi gerichtet bleiben (denn das habe nun „seyn werck gethan und dich erschreckt“), der Sünder müsse ‚hindurchdringen‘ und Christi freundliches Herz anschauen: „wie voller lieb das gegen dir ist“, daß es ihn dazu „zwingt“, unser Gewissen und unsere Sünde so „schwerlich“ zu tragen. „Alßo wirt dir das hertz gegen yhm susße und die zuvorsicht des glaubens gstercket.“ Danach müsse man durch Christi Herz weiter aufsteigen zu Gottes Herz: 111 Ich spreche hier von einer ‚abgeleiteten‘ Typologie, da die gängige Typologese von Gen 22 Isaak und Christus in Beziehung setzt: beide sind ‚filius unigenitus‘; vgl. OљђюџіѢѠ, Heylsame Betrachtung (Anm. 1), 2. Buch, 2. Titul, 288f.: „§. 1ř. Die Opfferung Jsaacs 1. B. Mos. 22. erinnert unsȦ daß bey derselben zuföderst in acht zunehmen sey […] II. Collatio, die Vergleichung mit dem HErrn ChristoȦ welcher als Jsaac ist 1. unigenitus. 2. innocentissimus. ř. oboedientissimus. 1. ein EingebohrenerȦ Joh. 8Ȧ2. ein VnschuldigerȦ Es. 5ř. ř. ein gehorsamer Sohn seines Himmlischen VatersȦ biß zum Tode. Philipp. 2.“ (Zur Kombination von Gen 22 und Jes 5ř in der Isaak-Christus-Typologie s. u. bei Anm. 218.) Pfeiffer verlegt in homiletischer Abzweckung die Argumentation zurück auf die Ebene der Väter Abraham und Gott, um den HörerȦ Leser der Betrachtung zur selbständigen Konklusion der angepeilten Hauptaussage des Abschnitts ‚mitzunehmen‘ und so zu überzeugen. Der Schluß lautet: ‚Wie Abrahams Bereitschaft, seinen einzigen geliebten Sohn und Hoffnungsträger auf Gottes Verlangen zu opfern, seine unermeßliche Liebe zu Gott erkennen läßt, erweist, sichtbar macht (Gen 22,2.12), so kannst und sollst du aus Gottes Opferung seines einzigen lieben Sohnes für dich die unermeßliche Größe Seiner Liebe zu dir erkennen, schließen und ihrer gewiß sein.‘ Darauf, wie die Liebe Gottes in Abraham vorgebildet ist, weist – wie Marius Reiser in vorliegendem Band (471f.) darstellt – auch Benito Perera. 112 Mюџѡіћ LѢѡѕђџ, „Eyn Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi. 1519.“ (Weimarer Ausgabe 2), 1ř6–142. 11ř LѢѡѕђџ, ebd., Zum zwölften, 1ř9,ř7f.; Zum dreizehnten, 140,6f.5f.; Jes 5ř,6.
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Darnach weyter steyg durch Christus hertz zu gottis hertz und sehe, das Christus die liebe dir nit hette mocht erzeigen, wan es gott nit hett gewolt yn ewiger liebe haben, dem Christus mit seyner lieb gegen dir gehorsam ist. Da wirstu finden das gotlich gutt vatter hertz unnd, wie Christus sagt, also durch Christum tzum vatter gezogen, da wirstu dan vorsteen den spruch Christi: Also hat got die welt geliebt, das er seynen eynigen sun ubir geben hat etc.
Das heiße dann Gott recht erkannt, wenn man ihn bei seiner Güte und Liebe ‚ergreift‘.Ⱥ114 Lenken wir den Blick zurück auf die eingangs zitierte geistliche Auslegung der Bindung des ‚himmlischen Isaak‘ durch Johann Olearius: Dabei sei zu erwägen, sagte dieser, „I. Das gebundene HertzȦ durch Liebes=Bande. Denn aus Liebe gibt GOTT den Sohn Johann. ř.“Ⱥ115 Daß Olearius die Metapher des Gebunden-Seins durchspielt, beginnend beim Herzen Gottes und mit Verweis auf Joh ř,16, erkennen wir am Ende unserer langen, von biblischen und sprachlichen ‚Verweisungspfeilen‘ geleiteten Digression als literarischen Rückgriff auf die theologischseelsorglich entscheidende Wendung des Blicks in Luthers Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi weg von Gottes Zorn „zu gottis hertz“, in das wir ‚durch Christi Herz‘ hinaufsteigen sollen, um dort seiner ‚unermeßlichen Liebe‘ (Pfeiffer bei Anm. 107) zu uns ansichtig zu werden. Olearius kommt dann II. auf „Die gebundene Hand“ Christi zu sprechen, „welche wir gar eigentlich besehen“ und woraus die Chiromantia Sacra, die geistliche Handlesekunst zu erlernen sei. Dieser Hand werden viele verschiedene Namen zugewiesen, die sich herleiten aus dem Vielen, was sie tut und gibt, Olearius nennt sie u. a. „Die freye Liebes=HandȦ so am Creutz ausgebreitetȦ alle zu sich locktȦ Matth. 11.“Ⱥ116 Auf die Bedeutung von Mt 11,28 als Traditionszitat hatte ich schon aufmerksam ge-
114 LѢѡѕђџ, ebd., Zum vierzehnten, 140,ř1–141,5. Es folgt, unter Zum fünfzehnten, als dritte Stufe der Betrachtung, wie das Leiden Christi ein ‚Exempel‘ des ganzen Lebens und Handelns eines Christenmenschen werden soll. 115 OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, 246a, zu Mt 27,2; s. o. bei Anm. 1ř–15. 116 Ebd. Man beachte: Die gebundene Hand Jesu ist in Wirklichkeit seine freie, freigebige Hand, nach dem Modell der Koinzidenz von actio und passio im Leiden des deus-homo. Es folgt 246b: „III. Der gebundene Mund. Also daß der gebundene JESUS kein Wort antwortete“ (Mt 27,14). Hier verweist Olearius u. a. wiederum auf Jes 5ř [v.7]; dazu unten 610, Anm. 212.– Das Bild der am Kreuz ausgebreiteten Hände Jesu (manus extensae) hat, schon von der Alten Kirche her und ebenso in der barocken Passionsbetrachtung, eine breite geistliche Auslegung erfahren, auf die hier nicht eingegangen werden kann; einige Aspekte habe ich skizziert in: R. Sѡђієђџ, Gnadengegenwart (Anm. 78), IIIȦ7. „Der Actus Crux der Matthäus-Passion BWV 244“, 157f.
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macht,Ⱥ117 auch auf die gängige spezifisch sakramentale Konnotation des Lexems ‚erquicken‘. Im vorliegenden Zitat ist ein anderer Topos im Blick, nämlich die mit der Aufforderung „Kommt her zu mir“ ausgesprochene Einladung des Heilands: daß er „alle zu sich lockt“, wie der Autor den Ruf umschreibt. Hier assoziiert sich ein weiterer auslegungsgeschichtlicher Kontext. a. Der Minne Band: „Trahe me post te“ (Hld 1,ř)Ⱥ118 Luther hat im Sermon in den oben wiedergegebenen ‚aufsteigenden‘ Schluß von Christi Liebe auf Gottes Liebe durch Allusion ein weiteres theologisch grundlegendes und historisch wirkmächtiges Zitat eingewoben, als Christi eigenes Wort eingeführt und autorisiert: Wir würden das gute Vaterherz Gottes finden und, „wie Christus sagt, also durch Christum tzum vatter gezogen“ – womit auf Joh 6,44 angespielt ist: „Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, daß ihn ziehe der Vater […]“ sowie auf Joh 12,ř2: „Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen.“ Daß das rechte Erkennen Gottes und das Recht-Bedenken von Christi Passion nicht in des Menschen eigener Macht und Belieben steht, sondern uns von Gott ‚ins Herz gesenkt‘ werden muß und wir hierum bitten sollen, wiederholt Luther im Verlauf des Sermon mehrmals, u. a. mit folgenden Worten:Ⱥ119 Darumb soltu gott bitten, das er deyn hertz erweiche und laße dich fruchtparlich Christus leyden bedencken, dan es auch nit muglich ist, das Christus leydenn von unß selber müg bedacht werden gruntlich, gott senck es dan yn unßer hertz.
Der Mensch solle auch auf diese Betrachtung nicht ‚frisch von sich selbst verfallen‘, sondern zuvor gottis gnaden suchen und begeren, das du es durch seyn gnad und nit durch dich selbst volnbringst.
Mit diesem Hinweis auf das ‚Ziehen‘ des VatersȺ120 greift Luther die von Augustin begründete Auslegungstradition von Joh 6,44 auf, in deren Kontext Hld 1,ř ein zentrales, in dem von Augustin über Bernhard, Bonaventura und die spätmittelalterlichen franziskanischen Theologen verlaufenden Traditionsstrang die Gnadenlehre wie die Frömmigkeit 117 S. o. Anm. 96; vgl. auch Sюљќњќћ Fџюћѐј, „Ach! ich sehe, itzt, da ich zur Hochzeit gehe“, Aria 1, s. u. Anhang 2., S. 6ř4. 118 = Hld 1,4. 119 LѢѡѕђџ, a. a. O. (Anm. 112), Zum neunten, 1ř9,1–7; vgl. auch Zum vierzehnten, 1ř9, 27–ř0. 120 – das auch als Ziehen des Sohnes (oder des Geistes) beschrieben werden kann, denn „ich und der Vater sind eins“ Joh 10,ř0; vgl. auch Joh 14,26.
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stark prägendes Schriftzitat gewesen ist. Im Zusammenhang der Frage, wie Gezogenwerden und Freiwilligkeit zusammenzudenken sind, kommt Augustin in seinem Johannes-Kommentar zur StelleȺ121 auf die Beziehung des Glaubens zum Willen und zu den Affekten zu sprechen. Dabei führt seine Auslegung hin auf das Zitat von Hld 1,ř: ‚Wenn wir gezogen werden müssen, werden wir von dem gezogen, zu dem eine Liebende sagt: Zieh mich dir nach, so laufen wir.Ⱥ122 Christus ist der ‚Salbenduft‘ und ‚Wohlgeruch‘, durch den uns Gott lockt.Ⱥ12ř Die Offenbarung Gottes in seinem Sohn ist selbst die Attraktion: Ista reuelatio, ipsa est adtractio. Ramum uiridem ostendis oui, et trahis illam. Nuces puero demonstrantur, et trahitur; et quo currit, trahitur, amando trahitur, sine laesione corporis trahitur, cordis uinculo trahitur. [Einen grünen Zweig zeigst du einem Schaf, und ziehst es. Nüsse werden einem Knaben gezeigt, und er wird gezogen; und wohin er läuft, wird er gezogen, indem er liebt, wird er gezogen, ohne Verletzung des Körpers wird er gezogen, mit dem Band, der Fessel des Herzens wird er gezogen.]Ⱥ124
Der Zusammenhang von lieben und laufen, amare und currere, ist die Pointe dieser Auslegung, und daß Gott selbst das Verlangen (desiderium), nach sich im Menschen erweckt hat durch sein Zeigen, Offenbaren, durch die ‚anziehende‘ revelatio. In der von Heermann zitierten altkirchlichen Fons-vitae-StropheȺ125 weist das Stichwort ‚currit‘ in der dritten Zeile („ad te currit omnis homo sitiens“) auf das von der Liebe ‚gezogene‘ Laufen aus Hld 1,ř.Ⱥ126 Daß der dürstende Mensch zur Quelle strebt, von seinem ‚Heilsdurst‘ (vgl. Heermanns Übersetzung) in Bewegung gesetzt,Ⱥ127 geht von derselben 121 AѢєѢѠѡіћ, In Ioh. (Anm. 71), tract. ř6, cap. 2.4f., 260–262; vgl. NіјќљюѢѠ ѣќћ KѢђѠ, Idiota de sapientia – Der Laie über die Weisheit. Auf der Grundlage des Textes der kritischen Ausgabe neu übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen hg. v. Rђћюѡђ Sѡђієђџ (PhB 411), Hamburg 1988, Anm. zu n. 10,29f., 91–94. 122 Augustin, ebd., cap. 5, 262,řf.: „Si trahendi sumus, ab illo trahamur cui dicit quaedam quae diligit: Post odorem unguentorum tuorum curremus.“ 12ř Vgl. dieses Stichwort bei Olearius, o. bei Anm. 116. 124 Ich erinnere an das „durch Liebes=Bande“ gebundene Herz Gottes, das sich nach Olearius in Jesu freiwilligem Gebundenwerden offenbart (s. o. bei Anm. 15). 125 S. o. bei Anm. 108. 126 Die Qualität des Verses Hld 1,ř als Traditionszitat erweist sich in der ‚Signalwirkung‘ seiner Bestandteile. So ist die Wendung „currere in odorem unguentorum suorum“ in der von Augustin beeinflußten Erkenntnislehre des Hoch- und Spätmittelalters eine gebräuchliche Umschreibung der mystischen Schau; vgl. JќѕюћћђѠ GђџѠќћ, De theologia mystica (Oevres complètes ř), hg. v. PюљѼњќћ GљќџіђѢѥ, Paris 1962, 250–292, cons. 2, 252f. 127 Der Durst ist eine besonders starke Metapher für des Menschen „geistlichen Durst“ nach dem lebenspendenden, nicht versiegenden Quell, da er sich auf die erste und elementare Grundlage des Lebens (und das letzte Bedürfnis, das den Menschen im
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metaphysischen Grundbehauptung eines dem Menschen eingestifteten Verlangens nach Gott aus, zu dem auch das davor genannte Attribut Jesu stimmt: ‚der du die menschlichen Herzen speist‘ („humana corda reficiens“, gemeint ist: die in Sehnsucht auf dich gerichtet sind). All diese Metaphern gehen in augustinischem Verständnis von der Selbsterfahrung des Menschen aus, daß sein Wissen von Gott notitia experimentalis ist, wie die (augustinisch-franziskanisch geprägte) Erkenntnislehre des Hochmittelalters es bezeichnen wird, daß es schon immer herkommt vom Erfahren-haben des Dürstens als eines Bewegt-werdens, als Affekt im Herzen.Ⱥ128 Bernhard von Clairvaux hat die Bitte Trahe me post te, mit Mt 16,24 kombiniert, auf die imitatio Christi im Sinne der Nachfolge ins Leiden bezogen. Seine Auslegung ist für Predigt, Dichtung und Ikonographie bis ins 18. Jahrhundert hinein bestimmend gewesen.Ⱥ129 Die Erkenntnis Augustins, daß die Seele durch die Liebe gezogen wird, wird seit Bernhard als die mystische Liebesvereinigung von sponsus und sponsa, von Christus mit seiner Braut, der Seele, dargestellt. Das In-die-Nachfolge-ziehen nach Hld 1,ř hat im Spätmittelalter ikonographisch folgende Formulierung gefunden: Christus und die Seele (eine weibliche Gestalt) sind durch einen Strick (= „der Minne Band“) miteinander verbunden. Die eine Gestalt (meist Christus) hält den Strick in der Hand, dessen anderes Ende um die Taille der zweiten Gestalt (meist der Seele) geschlungen ist. (Auch in der Form als „kreuztragende Minne“ bekannt: Der kreuztragende Christus zieht an einem Strick die ebenfalls ihr Kreuz tragende Minnende Seele hinter sich her.Ⱥ1ř0) Diese Bildformulierung bleibt auch Sterben verläßt) richtet. Der Mensch „hat“ keinen Durst, sondern der Durst „hat“ ihn unabweisbar im Griff; daher der starke Gebrauch: „Mich dürstet!“ (Joh 19,28); vgl. auch Joh 4,14; 6,ř5; 7,ř7; Apk 22,17. Das reziproke Verhältnis: ‚den Menschen dürstet nach Gott – Gott oder den Heiland dürstet (es) nach des Menschen Seligkeit‘ wird in der Passionsbetrachtung zu Jesu Wort am Kreuz Joh 19,28 breit bedacht. 128 Vgl. AѢєѢѠѡіћ, In Ioh. (Anm. 71), tract. ř2, cap. 1,8–1ř: „Si sitimus, ueniamus; et non pedibus, sed affectibus; nec migrando, sed amando ueniamus. Quamquam secundum interiorem hominem, et qui amat migrat […]; migrat corde, qui motu cordis mutat affectum. Vgl. GђџѠќћ, Theologia mystica (Anm. 126), wo das ‚currere‘ aus Hld 1,ř als cognitio experimentalis in einer Reihe genannt wird mit jubilus, gustare Deum, amplecti sponsum u. a. 129 Ihre Verbreitung und Volkstümlichkeit haben sich u. a. niedergeschlagen in der deutsch-lateinischen Mischdichtung „In dulci iubilo“, Str. 2: „O Jesu parvule,Ȧ Nach dir ist mir so weh.Ȧ […] Trahe me post te.“ Die Cantio ist ursprünglich für den Gesang im Kloster bestimmt gewesen, die älteste uns bekannte Handschrift, die es überliefert, stammt aus dem Kloster Medingen aus der Zeit um 1ř40; vgl. Kќћџюё Aњђљћ, „Die Cantio ‚In dulci iubilo‘“, in: JLH 29 (1985), 2ř–78, hier 54–56. 1ř0 Vgl. RќњѢюљё Bюћѧ (Hg.), Christus und die Minnende Seele. Zwei spätmittelhochdeutsche mystische Gedichte (Germanistische Abhandlungen 29), Breslau 1908 (Nachdruck Hil-
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nach der Reformation Gemeingut, wie das oben wiedergegebene Kupfer aus Heinrich Müllers Liebes=Kuß (Abb. 2) zeigt,Ⱥ1ř1 dessen begonnene Erläuterung jetzt fortzusetzen ist. Dazu gebe ich das Bild noch einmal wieder, diesmal aus der zehn Jahre später erschienenen dritten Auflage des Buches, an der die zeittypische variierende Übernahme von Illustrationen gut abzunehmen ist (Abb. 4).Ⱥ1ř2 Das Bild ist im Format verändert, aus einem leichten Querformat, auf dem die drei Personengruppen fast auf einer Ebene angeordnet waren, ist ein Hochformat geworden, das den Mittelgrund etwas tiefer in den Raum rückt und auch den Hintergrund weiter in die Tiefe zieht. Kompositorische Variation: die Bildelemente sind seitenverkehrt angeordnet (eine häufig zu beobachtende Bearbeitungspraxis), die Staffage zeichnerisch weniger differenziert, der Himmel höher gewölbt; wichtigste Erweiterung: Eine vierzeilige Subscriptio ist hinzugefügt. Sie lautet: Hab ich dein Wort nur, Herr so hab ich schon gefunden Den Schatz, der mich vergnügt: Es kan mein Hertz verwunden. Wann sich dasselbe nur nicht zu den Dornen hält; Zeuch du es Himmel=an, auß dieser eiteln Welt.
Die ersten beiden Zeilen der Subscriptio bestätigen meine oben vorgetragene Auslegung der Pictura, daß die (in der ersten Auflage des Buches) von der Kanzel herab auf die Anima zielenden Pfeile die Liebespfeile des ‚himmlischen Amor‘ sind, die das Herz der Geliebten (treffen und) verwunden. Ist mit dieser Zweiergruppe im Mittelgrund außerdem das alte mystische Motiv des Herzenstauschs aufgenommen, so bringt doch gerade dieses Bildelement zugleich die reformatorische Differenz gegenüber der Mystik deutlich zum Ausdruck: daß nämlich die Liebesvereinigung Christi mit der Seele kein unmittelbares (intellektuelles oder affektives) Geschehen, kein unmittelbares Hingerissen-Werden im raptus ist, sondern durch das Wort der Predigt von der Vergebung der Sünden vermittelt wird. Müller führt in dem hier illustrierten Abschnitt aus:Ⱥ1řř Durch das Wort machet uns der H. Geist auch endlich selig. [folgt Zitat Röm 1,16; …] Der Heilige Geist bauet das Himmelreich in der Seelen, nicht desheim 1977), 1800f., 98–100, mit Tafel III; Uѡђ Uљяђџѡ-Sѐѕђёђ, Das Andachtsbild des kreuztragenden Christus in der deutschen Kunst. Von den Anfängen bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts, o. O. 1968; Fџюћј Oљюѓ Bҿѡѡћђџ, Imitatio pietatis. Motive der christlichen Ikonographie als Modelle der Verähnlichung, Berlin 198ř, 59f. (hier auch weitere Lit.). 1ř1 S. o. bei Anm. 61. 1ř2 Hђіћџіѐѕ Mҿљљђџ, Himmlischer Liebes=Kuß/ Oder Ubung deß wahren Christenthums/ fliessend aus der Erfahrung Göttlicher Liebe, ř. Auflage Frankfurt a. M. und Leipzig 1669 (HAB Wolfenbüttel Th 1850), neben S. 1ř8. 1řř Mҿљљђџ, Liebes=Kuß (Anm. 61), Mit einem weit reichern völligern Register, Und von vielfältigen Druck=Fehlern corrigiret, Frankfurt a. M. und Leipzig 17ř4 (Privatbesitz), Cap. 9, 1ř8.
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Abb. 4: Hђіћџіѐѕ Mҿљљђџ, Himmlischer Liebes=Kuß, Frankfurt a. M. und Leipzig 1669 (HAB Wolfenbüttel Th 1850), neben S. 1ř8.
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im Schlaff, sondern ordentlicher Weise braucht er sein Wort.Ⱥ1ř4 Wenn nun dieses alles andächtig betrachtet wird, so giebt es uns im Hertzen zu erkennen die theure Liebe GOttes, und den edlen Schatz des Worts.
Jesus selbst habe uns die Kraft des Wortes „in vielen holdseligen Gleichnissen“ vor Augen gestellt, es in Mt 1ř,44 einem Schatz im Acker verglichen, woran Müller folgende Bemerkung über „das liebe Wort Gottes“ knüpft: „wenn es die Hertzen trifft, empfinden wir geistliche Bewegungen [= Affekte], Andacht und Erhöhung.“ Christus vergleiche es einem Schatz im Acker, denn es, wenn es recht geschmecket wird, wie ein Schatz das Hertz nach sich zeucht, auch seine Krafft im verborgenen Abgrund des Hertzens übet, wie ein Schatz im Acker.Ⱥ1ř5
b. Die Wiedergewinnung und Einbindung der geistlichen Sinne in die Erfahrung: Die Rezeption mystischer Sprachelemente Drei Elemente mystischer Terminologie enthält dieser kurze Satz, denen wir nicht im einzelnen nachgehen können, die aber die lebendige Rezeption und Transformation mittelalterlicher Erfahrungstheologie im Luthertum des 17. Jahrhunderts illustrieren: Das ‚Schmecken‘ (gustare, praegustare) der Süße (suavitas), Metapher mystischer Präsenzerfahrung wie der EucharistiefrömmigkeitȺ1ř6 und im lutherischen Raum geläufig aus der Abendmahlsliturgie (Ps ř4,9), knüpft an die Überlieferung von den geistlichen SinnenȺ1ř7 an und wird in Bezug auf die Gotteserkenntnis dem bloßen Erkennen des Buchstabens entgegengesetzt.Ⱥ1ř8 Im „verbor1ř4 Vgl. „Confessio Augustana“, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 101986, V; in „ordentlicher Weise“ klingt das „rite“ aus CA 14 an. 1ř5 Mҿљљђџ, Liebes=Kuß (Ausgabe wie Anm. 1řř), 1ř9f. 1ř6 Vgl. die Fronleichnamssequenz „Ave, verum corpus“ (Innozenz IV. zugeschrieben). 1ř7 Vgl. Jђюћ CѕѪѡѡіљќћ, „Dulcedo, dulcedo Dei“, in: DSp ř (1957), 1777–1795, hier 1790f. über die doctrine des sens spirituels bei Origenes, Gregor von Nyssa, Augustin; R. Sѡђієђџ, Einleitung zu NіјќљюѢѠ ѣќћ KѢђѠ, Idiota de sapientia (Anm. 121), ř. Die Sprache der Mystik, XXX–XXXIII. 1ř8 Der Topos ist in der Lebensbeschreibung Johannes Taulers überliefert, die allen Predigtausgaben beigefügt ist; vgl. R. Sѡђієђџ, wie vorige Anm., XXIf. Mҿљљђџ, Liebes=Kuß (Ausgabe wie Anm. 1řř), Cap. 7, 94: „Was GOtt sey, kan ich seliglich nicht aus Büchern ins Gehirn fassen, sondern der H. Geist muß es dem Hertzen inwendig durch eine lebendige Berührung zeigen: Sonst ists nur todtes Wissen, kein lebendiges Wesen.“ Höchst aufschlußreich ist auch die Fortsetzung des Textes, die Müller in der Tradition der Devotio moderna zeigt: „Jn diesem lebendigen und lebendigmachenden Erkänntniß verstehet offt ein einfältiger Läye mehr als der gröste Doctor in Jsrael, der die innerliche Offenbahrung nicht hat, und will doch für einen Meister der Schrifft gehalten seyn.“ Vgl. R. Sѡђієђџ, wie oben, Anm. zu Idiota de sapientia, n. 4,6–8.
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genen Abgrund des Hertzens“, dem zweiten an die Sprache der Mystik anknüpfenden Terminus, lebt der abyssus der Mystagogen, d. h. die Tiefe und Finsternis des Unnennbaren (ineffabile) fort sowie der ‚Seelengrund‘ Meister Eckharts und Johannes Taulers, ein Spitzenbegriff der spekulativen wie der affektischen Mystik für den ‚Ort‘ der Gottesbegegnung.Ⱥ1ř9 Das soziale Umfeld dieses höchst anspruchsvollen Terms ist die elitäre Lebensform eines ganz auf Kontemplation und Vervollkommnung gerichteten Lebens in monastischer Abgeschiedenheit. Der „Abgrund“ ist Metapher für eine Grenzerfahrung, zu der der MystikerȦdie Mystikerin stets unterwegs ist und eines ‚Itinerarium‘,Ⱥ140 der Wegbeschreibung eines geistlichen Führers bezüglich der Stufen des Aufstiegs bedarf. Die Wendung Müllers, daß das Wort „wie ein Schatz das Hertz nach sich zeucht“, der dritte Terminus mystischer Herkunft im obigen Zitat, spielt mit der Doppelsinnigkeit des Wortes „Schatz“, das im übertragenen Sinn auch den LiebstenȦdie Liebste bezeichnet, und bringt – da in seinem Wort Christus selbst gegenwärtig ist – auf der Pictura im Vordergrund links die Aufforderung aus Hld 1,ř: „Trahe me post te“ in der überlieferten ikonographischen Form zur Darstellung: Christus zieht die liebende Seele an ‚der Minne Band‘ aus den Dornen, aus den Verstrickungen und Ablenkungen der Welt, in die Nachfolge.Ⱥ141 1ř9 Vgl. Hђџіяђџѡ FіѠѐѕђџ, „Fond de l’âme“, in: DSp 5 (1964), 650f. Einer der vier Aspekte von Eckharts Seelengrundspekulation reflektiert das Wunder der Geburt des Gotteswortes im Seelengrund in der unio. Zu Tauler vgl. AљќіѠ M. HююѠ, Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik (Dokimion 4), FreiburgȦSchweiz 1979, 7.1. Vom unaussprechlichen Abgrund Gottes; 7.2. Struktur der mystischen Erfahrung, 255–295 (s. auch Sachregister). 140 Vgl. BќћюѣђћѡѢџю, „Itinerarium mentis in deum“, in: DђџѠ., Opera omnia, edita studio et cura PP. Collegii S. Bonaventurae, vol. 5, Quaracchi 1891, 29ř–ř16. 141 Interessant ist die Weiterentwicklung der Pictura. In der Auflage von 17ř4 (Anm. 1řř) ist der Bildaufbau samt Subscriptio übernommen (lediglich die vierte Zeile liest statt „eiteln“ nunmehr „argen“), jedoch wird eine dritte Bildebene eingezogen, indem Christus jetzt im aufreißenden Wolkenhimmel in Halbfigur erscheint. Er hat mit beiden Händen ein Seil herabgelassen, an dessen unterem Ende das Herz der Anima befestigt ist, das diese ihm entgegenhält, damit er es „auß dieser argen Welt“ „Himmel=an“ ziehe. Dieses Bildelement greift auf eine Vorlage in den Pia Desideria des Hђџњюћћ HѢєќ (Anm. 61) zurück; vgl. Ausgabe Köln 1645, 68 zu Ps 118,5 (Vulg.): „Utinam dirigantur viae meae ad custodiendas iustificationes tuas!“ Das Kupfer zeigt im unteren Bildteil ein Stück Wölbung der (verkleinerten) Erdkugel, auf der die Anima wandert, im Pilgerrock, den Pilgerstab in der Linken, schräg von hinten gesehen, wendet sie sich mit Blick und Körperhaltung gesammelt himmelan, wo der Geliebte, sich nach ihr umblickend, bereits vorausfliegt, die kleine Pilgerin an einem Seil, das sie in der Rechten hält, nach sich ziehend. Die Ausgabe Regensburg und Augsburg 1719 (Anm. 61), II, 17, hat die Anordnung der beiden von oben nach unten durch der Liebe Seil Verbundenen beibehalten, doch ist die Pilgerin (mit der typischen spätbarocken Veränderung der Körperproportionen ins Kleinkind- bzw.
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Die dritte Gruppe schließlich, vorn rechts auf dem Bild, zeigt drei Personen: in der Mitte die Anima; sie ist Christus zugewandt, aus dessen rechter Hand sie ein Buch und aus der linken ein Kreuz entgegennimmt. Hinter der Anima steht eine prächtig gewandete Gestalt, das Haupt mit Pfauenfedern geschmückt, Allegorie der ‚Welt‘, die der Seele einen großen Beutel, schwer von weltlichen Schätzen, darbietet. Die Szene illustriert folgende Passage aus Müllers Text (zuvor war vom „edlen Schatz des Worts“ die Rede):Ⱥ142 David erkannte diesen Schatz, nachdem er überflüssig seine Krafft erwogen hatte, im 119. Psalm [v. 72]: Das Gesetz deines Mundes, spricht er, ist mir lieber, denn viel tausend Stücke Goldes und Silbers. Wenn ein gottselig Hertz nur den Ursprung dieses Worts betrachtet, daß es ein Wort des Mundes GOttes, so wird es bewogen, daß es GOttes Wort lieb gewinnet, sich dessen hertzlich freuet.
Das Buch, das Christus der Seele reicht, ist also das Bibelbuch, das dem Menschen Gottes Willen kundtut, den der Sünder, der im Zuspruch seiner Rechtfertigung Gottes Liebe erfahren hat, nun in herzlicher Gegenliebe freudig erfüllt. Christus legt im Wort der Predigt (welche „ein Wort des Mundes Gottes“ ist) der gläubigen Seele Gottes Gesetz ins Herz, womit er die endzeitliche Verheißung von einem neuen Herzen und einem neuen Geist, den er geben will, der die Leute in Gottes Geboten wandeln macht (Ez ř6,26f.), schon heute erfüllt. Die Forschung hat in der dritten Generation nach Luther eine verstärkte Rezeption der mittelalterlichen Mystik ausgemacht und diese in einem allgemeinen Bedürfnis nach emotionaler Bereicherung und Belebung der Frömmigkeit begründet gesehen. Zweifellos hat es um 1600 einen Rezeptionsschub gegeben, wofür das Traditionsgut stehen mag, das mit Mollers Meditationes sanctorum PatrumȺ14ř in die lutherische Er-
Puttohafte: großer Kopf, kurze Gliedmaßen, rundlicher Leib) jetzt in die Mitte eines Irrgartens versetzt, in dem sich auch andere Gestalten bewegen – der geflügelte Geliebte steht außerhalb des Labyrinths hoch auf einem Turm, hart in der linken oberen Ecke, so daß das Liebesseil das Bild als Diagonale nach rechts unten durchschneidet. Beide Bildausführungen konzentrieren sich gemäß dem Motto „Utinam dirigantur viae meae […]“ (Ps 118,5) auf die Aussage, daß Christus den viator auf dem Weg von Gottes ‚Rechten‘ (so übersetzt Luther), die er selbst erfüllt hat, in die Nachfolge leitet. 142 Mҿљљђџ, Liebes=Kuß (Ausgabe wie bei Anm. 1řř), 1ř8. Man beachte: Müller zitiert hier einen Vers aus demselben Kontext von Psalm 119 (Vulg. 118), den das in der vorigen Anmerkung beschriebene Kupfer aus den Pia Desideria von Hermann Hugo illustriert. Der theologisch-sachliche Zusammenhang ist nicht zu übersehen. 14ř Mюџѡіћ Mќљљђџ, Meditationes sanctorum Patrum. Schöne andechtige Gebete […] aus den heiligen Altvätern Augustino, Bernardo, Taulero und anderen, 2 Teile, Görlitz 1584–1591 (HAB Wolfenbüttel 869 Theol.).
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bauungsliteratur eingeflossen ist. Für den Bereich des Kirchenlieds hat Waltraut Ingeborg Sauer-Geppert die Gemeinsamkeit der „Sprache der Innerlichkeit“ im Kirchenlied mit der mittelhochdeutschen Dichtung und deren Herkunft (bei verwandelter theologischer Bedeutung) aus der Mystik aufgezeigt.Ⱥ144 Doch wird über diesen Einsichten ein Doppeltes meist vergessen: erstens Luthers bleibende Hochschätzung und Lektüreempfehlung der Predigten Taulers sowie der Theologia deutsch und der Imitatio Christi des Thomas von Kempen.Ⱥ145 (Die Mystik ist nicht die heilende ‚Entdeckung‘ in einer von der Forschung behaupteten Frömmigkeitskrise am Ende des Reformationsjahrhunderts.) Und zweitens läßt die protestantische Kirchengeschichtsschreibung ein angemessenes Verständnis dessen vermissen, was unter „Mystik“ zu verstehen ist. Mystik erschöpft sich nicht in dem, was in der Frömmigkeit des 17. Jahrhunderts als „Innerlichkeit“ beobachtet und gern als emotionales Element der ‚trockenen‘ Lehrhaftigkeit von Autoren des 16. Jahrhunderts entgegengesetzt wird. Die Synästhesie der geistlichen Sinne und die Metaphorik der Liebessprache sind nur die Kehrseite und das Pendant zu dem aller christlichen MystikȺ146 eigenen Wesensbestandteil: dem Unnennbarkeitstopos, der am konsequentesten in der Theologia negativa des (Pseudo-)Dionysius Areopagita gedacht ist. Die große spekulative Frage der Mystik: wie es dem Menschen unter den Bedingungen seines geschaffenen endlichen Geistes möglich ist, dem Unendlichen, seinem Schöpfer, erkennend zu begegnen, mit anderen Worten: wie er des Geheimnisses belehrt ansichtig wird,Ⱥ147 des in der Offenbarung ver144 WюљѡџюѢѡ Iћєђяќџє SюѢђџ-Gђѝѝђџѡ, Sprache und Frömmigkeit im deutschen Kirchenlied. Vorüberlegungen zu einer Darstellung seiner Geschichte, Kassel 1984. 145 So sind alle drei Schriften zusammen (samt Luthers Empfehlung an Spalatin auf dem Titel) mit einer Vorrede von Johann Arndt 1621 in Hamburg erschienen: Postilla JOHANNIS TAULERI […], Die Deutsche Theologia, Die Nachfolgung Christi […] durch Thomam de Kempis. Der Titel dieser Ausgabe ist zitiert bei Rќяіћ A. Lђюѣђџ, Bachs theologische Bibliothek/ Bach’s Theological Library. Eine kritische Bibliographie/ A Critical Bibliography (BTBF 1), Neuhausen-Stuttgart 198ř, 74f. (mit Standorthinweisen). Auch J. S. Bach hat laut Nachlaßverzeichnis einen Folioband ‚Tauleri Predigten‘ besessen. Rezeptionsgeschichtlich aufschlußreich ist ein Band im Besitz der HAB Wolfenbüttel; er enthält außer einer anonymen Passio (1684), der Göttlichen Liebesflamme von Johann Michael Dilherr und den Himmlischen Liedern von Johann Rist eine anonyme Summa Theologiae Mysticae. Lied von dem Wege zu der Menschlichen Vollkommenheit (HAB Wolfenbüttel QuN 1008 [4]). Hier findet sich, unter Nennung der einschlägigen früheren Autoren, der mystische Weg (via purgativa – illuminativa – unitiva) dargestellt. 146 – ich gebrauche diesen Begriff mit der von der Definitionslage her gebotenen Zurückhaltung und das heißt hier: eingeschränkt auf den wirkungsgeschichtlichen Horizont! 147 – wenn wir sprachlich vom Stamm mušw – must»rion ausgehen –
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borgenen Gottes (Jes 45,15), ist auch Luthers Frage. Sie stellt sich ihm in der Form: wie der Mensch im Buchstaben der Heiligen Schrift und im Menschenwort der Predigt dem gegenwärtig an ihn ergehenden Wort Gottes begegnen und erfahren könne, wie er – letztgültig – bei Gott dran ist. Die Antwort im Sinne Luthers lautet bei Müller im zitierten Kapitel, nachdem er noch einmal Ps 119,72 anführt, „Das Gesetz deines Mundes ist mir lieber denn viel tausend Stück Goldes und Silbers“:Ⱥ148 Nicht zwar wegen des Buchstabens und blossen Schalles, sondern wegen des hohen Guts, so darinnen verborgen liegt, als ein Schatz im Acker. Wenn man bedenkt die Schätze, so uns in GOttes Wort gegeben werden, nemlich der wahre Glaube, Christus mit seinem theuren Verdienst, der Heilige Geist, Vergebung der Sünden, Gerechtigkeit und Seligkeit, wer wolte wol aller Welt Gold und Silber nehmen, und diese Schätze fahren lassen?
Im Wort Gottes ist dem Menschen verborgener Weise, wie ein Schatz im Acker, alles gegeben, dessen er zur Seligkeit bedarf, wenn er es als aus Gottes Mund kommend, d. h. mit gläubigem Herzen hört und annimmt, es sich gesagt sein läßt. Luther hat in seiner Rechtfertigungslehre die Mystik ‚in die Küche‘ und den Alltag hineingezogen,Ⱥ149 also in der Tradition der Devotio moderna die ‚Demokratisierung‘ der Mystik weitergeführt; er hat ferner mit der Passionsbetrachtung als Predigtgattung die Meditation als allgemeine Frömmigkeitsübung (auch der Laien) gepflegt und schließlich jedem Christenmenschen das Leiden Christi als Exempel des eigenen Lebens empfohlen.Ⱥ150 Dabei ist, wie schon mehrfach gesagt, der ‚Ort‘ der mystischen Gottesbegegnung ein anderer als in der mittelalterlichen Mystik und der Weg der imitatio Christi kein Weg des Fortschreitens des Gläubigen im Gnadenstand. Der Mensch fügt in der Nachfolge dem Verdienst Christi nichts hinzu; dieses ist bereits vollkommen und genügend und hat ihm die Seligkeit erworben. c. „… ex dulci manu Dei“ August Pfeiffer unterscheidet drei Aspekte des Leidens Jesu Christi, die er am Ende der Magnalia Christi noch einmal wie folgt benennt:Ⱥ151 Wir haben kürtzlich so viel gesehen, daß Passio Dominica sey Satisfactoria, Meritoria, Monitoria, oder wie das nach seinen vornehmsten Stücken
148 Mҿљљђџ, Liebes=Kuß, a. a. O. (bei Anm. 142), 1ř9. 149 Vgl. Kap. 12 der Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen und die oben angeführte Auslegung von Mt 22,2 bei Anm. ř7. 150 Vgl. LѢѡѕђџ, Sermon von der Betrachtung (Anm. 112), Zum fünfzehnten, 141,8ff. 151 Pѓђіѓѓђџ, Magnalia Christi (Anm. 56), lib. II, p. ř, ř. Vortrag, ř6řf.
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vorgestellte Leiden Jesu Christi 1. Unsre Sünden=Schuld gebüßtȦ 2. Unsre Seligkeit verdientȦ ř. Unsrer Schuldigkeit uns erinnert habe.Ⱥ152
Diesen Dreischritt fanden wir bei Müller unter dem Bild vom Binden und Lösen so formuliert:Ⱥ15ř 1. Der Heiland muß seine Hände binden lassen, um Adams Ungebundenheit und sein Ausstrecken der Hände nach dem verbotenen Baum zu büßen (in Pfeiffers Begrifflichkeit: passio satisfactoria); 2. Jesus läßt sich binden, um uns aus den Banden der Sünde und des Todes zu befreien (passio meritoria; vgl. Ps 116,ř; 124,7); ř. „wir sollen uns einbinden in den Gehorsam JEsu ChristiȦ und so lebenȦ wie es GOtt haben will“Ⱥ154 (passio monitoria).
Diese dritte ‚Stufe‘ der vita Christiana, das Leben in Gegenliebe und Dankbarkeit für die geschenkte Freiheit, kann auf zwei Weisen gefordert sein, als tätige oder leidende Nachfolge Christi, als Handeln nach Gottes Gebot und als Leiden dessen, was er auferlegt: „daß du thustȦ was er gebeut; lässestȦ was er verbeut; leidestȦ was er dir auffleget“.Ⱥ155 Dies ist in dem letzten Bildelement unseres Emblems aus dem Himmlischen Liebes=Kuß dargestellt, das noch auszulegen ist: Christus reicht der gläubigen Seele nicht nur das Bibelbuch mit seinem Gesetz, das der gerechtfertigte Sünder als Richtschnur seines Handelns mit Freuden und im Herzen entgegennimmt,Ⱥ156 er gibt auch das Kreuz. Auch dies bedeutet ein Doppeltes. Erstens, was Luther nicht müde wurde zu wiederholen: 152 Pfeiffer schließt: „Wir thun nun nichts mehr hinzuȦ als hertzlichen Danck für alle Liebe und TreueȦ für alle Mühe und ArbeitȦ für alle hohe Wohlthaten Jesu […]“ und fügt als gratiarum actio das vollständige Lied von EџћѠѡ CѕџіѠѡќѝѕ HќњяѢџє an: „JEsu, meines Lebens Leben, JEsu, meines Todes Tod!“ (1659), dessen Strophen alle mit dem Refrain enden: „TausendȦ tausend mahl sey dirȦ Liebster JesuȦ Danck dafür.“ – Zu dieser dreifachen Deutung „nach dem Schema kausaler, finaler und konsekutiver Korrelation“ als anschaulicher Darstellung der lutherischen Versöhnungslehre, die unter vielfachen Metaphern angewendet und variiert wurde, vgl. noch einmal Aѥњюѐѕђџ, Aus Liebe (Anm. 25), 4ř–47. Die Benennung der einzelnen Hinsichten der Betrachtung variiert (zumal die Anselmsche Begrifflichkeit bezüglich der ersten beiden Aspekte ist nicht Allgemeingut), auch kann deren Zahl erweitert werden; so schaltet Johann Gerhard zwei Aspekte vor und führt folgende fünf allgemeine Fragen auf, was ‚zuvörderst‘ in Christi Leiden zu bedenken sei: „1. Wer da leide. 2. Was er leide. ř. Warumb er leide. 4. Was er mit seinem Leiden erworben. 5. Wie wir vns sollen wegen solches Leidens erzeigen.“ Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), Generalis Theoria Passionis Dominicae, 40,41–47. 15ř Mҿљљђџ, Der Leidende Jesus (Anm. řř), 7. Predigt, 106ř; ёђџѠ., Der leidende Jesus (Anm. 55), ř. Predigt, 2řf.; s. o. bei Anm. řř. 5ř. 55. 154 Mҿљљђџ, Der leidende Jesus, ebd., 24. 155 Ebd., 1064. 156 Ps 1,2; 40,9; vgl. Lќѡѕюџ und Rђћюѡђ Sѡђієђџ, „‚Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist.‘ Johann Sebastian Bachs Kantate BWV 45. Ihre Theologie und Musik“, in: KuD ř2 (1986), ř–ř4, bes. 6–10. 18–20.
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Der Mensch soll sein Kreuz nicht suchen; selbsterwähltes Leiden ist Gott nicht wohlgefällig.Ⱥ157 Leiden in der Nachfolge ist auferlegtes Leiden und – dies ist die zweite Aussage des Bildes, die mitgehörtȦgesehen wird – tröstet sich der Verheißung, daß Jesus, der im Leiden vorangegangen ist, seinen Nachfolgern das Kreuz tragen hilft. Der Topos ist im lutherischen Barock in Predigt und geistlicher Dichtung geläufig, geradezu wörtlich scheint das Bild umgesetzt in Bachs berühmter Kantate „Ich will den Kreuzstab gerne tragen,Ȧ Er kömmt von Gottes lieber Hand“ (BWV 56).Ⱥ158 Der Trost des Tragen-Helfens scheint auf in Picanders Arie zur Betrachtung der Kreuztragung in der Matthäus-Passion (Nr. 57): Komm, süßes Kreuz, so will ich sagen, Mein Jesu, gib es immer her! Wird mir mein Leiden einst zu schwer, So hilfst du mir es selber tragen.Ⱥ159
Das ‚süße Kreuz‘, ein Oxymoron, das die Literaturwissenschaft stilistisch als ‚Petrarkismus‘ bezeichnetȺ160 und das der Erfahrung der bitter-süßen Liebe Ausdruck gibt, wie sie in der barocken Liebeslyrik gern gestaltet wurde in ihrem Beieinander kontrastierender extremer Affektlagen, ist im geistlichen Verstand wiederum ein Terminus der Passionsmystik (und von den lutherischen Autoren bewußt in dieser Tradition stehend 157 Die Frage ist aktuell auch in der Polemik gegen die nach-reformatorischen Spiritualisten, die, im unmittelbaren Rückgriff auf die Deutsche Mystik, die einzige wahre Freude und das ‚Angeld auf das Erbe der Seligkeit‘ auf dem aszetischen Weg des ‚Gleichwerdens‘ in der compassio Christi suchten; vgl. Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ, „‚Er ist Gott vnd wir Kott‘. Ein Trostbrief des Theosophen Abraham von Franckenberg (159ř–1652)“, in: Iliaster. Literatur und Naturkunde in der Frühen Neuzeit. Festgabe Joachim Telle zum 60. Geburtstag, hg. v. Wіљѕђљњ Kҿѕљњюћћ und Wќљѓ-Dіђѡђџ MҿљљђџJюѕћѐјђ, Heidelberg 1999, 261–274, hier 265f. 158 Vgl. R. Sѡђієђџ, Gnadengegenwart (Anm. 78), IIȦ5, Eine emblematische Predigt. Die Sinnbilder der Kantate „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“ BWV 56, 9ř–118, hier 104–106; vgl. auch die Nachfolge-Arie der Matthäus-Passion „Gerne will ich mich bequemen,Ȧ Kreuz und Becher anzunehmen,Ȧ Trink ich doch dem Heiland nach […]“ (Nr. 2ř). 159 Vgl. Hђђџњюћћ, Crux Christi (Anm. 14), 10. Predigt, ř2ř: „Die LastȦ so Er dir auflegetȦ wil Er auch tragen helffenȦ Er ist getreu/ der dich nicht läst versucht werden über dein Vermögen. ȋin marg.: Psal. 68,20. 1. Cor. 10,1řȌ“ Hierzu R. Sѡђієђџ, ebd., IIIȦ7, Der Actus Crux der Matthäus-Passion BWV 244, 129–162, hier 149f.; VIIȦ14, Symbol und musikalische Invention: Biblische und emblematische Sinnbilder im Vokalwerk von Johann Sebastian Bach, 270–ř17, hier 289–297. Zur Wendung „selber tragen“ s. u. 62řff. 160 Vgl. IѠюяђљљю ѣюћ Eљѓђџђћ, Von Laura zum himmlischen Bräutigam. Der petrarkistische Diskurs in Dichtung und Musik des deutschen Barock (Ph. D. diss. Utrecht University 200ř); eine Zusammenfassung der Arbeit bietet DіђѠ., „‚Recht bitter und doch süße‘: Textual and Musical Expression of Mystical Love in German Baroque Meditations of Christ’s Passion“, in: BACH, Journal of the Riemenschneider Bach Institute ř5Ȧ1 (2004), 1–28.
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gebraucht). Er leitet sich von Mt 16,24 her, dem locus classicus und Hauptbeleg für Jesu Ruf in die Nachfolge,Ⱥ161 kombiniert mit Mt 11,29f., wo es in der Vulgata heißt: „[…] Iugum enim meum suave […] est“ (Luther: „[…] Denn mein Joch ist sanft […]“). Die schon zitierte deutsche Version von Hermann Hugos Pia desideria bringt diesen Vers in einem Emblem mit dem Motto „Nullus liber erit si quis amare volet“ zur Darstellung,Ⱥ162 das er wie folgt übersetzt: Wer liebetȦ der ist nicht mehr frey Er fühlt wie süß diß Joch ihm sey.Ⱥ16ř
Die Pictura zeigt den geflügelten Jesusknaben, wie er, hinter der knienden Anima stehend, ihr ein großes hölzernes Joch auf die Schultern legt. An der Art, wie beide den Kopf leicht in dieselbe Richtung neigen, wird das Einverständnis des Paares sinnfällig. Thema des Emblems ist das dialektische Verhältnis von Freiheit und Bindung, von Freude unter äußerer Bürde, was ‚die Welt‘ nicht erkennt, von der es in der Erläuterung heißt: „Die Welt istsȦ die es nicht verstehetȦȦ Daß sich so grosses Glück bey grossem Leiden findt“.Ⱥ164 Das Kreuz, das der Herr auflegt, Verfolgung und Bande, die den Christen „umb der Warheit und des Evangeliums willen“ treffen können,Ⱥ165 Krankheit und Tod, sind aber der menschlichen Natur von sich aus bitter und werden überhaupt nicht ‚leicht‘ und ‚gerne‘ angenommen. In dieser Anfechtung ist Jesu Exempel in Gethsemane trost- und hilfreich, der in seiner Seelennot und Todesangst, in seinem „innerlichen Leiden“,Ⱥ166 in dem er den Zorn Gottes über die Sünde der ganzen Welt
161 Vgl. Mҿљљђџ, Der Leidende Jesus (Anm. řř), 8. Predigt (zur Kreuztragung), 1080: „Hier hat er den Orden der Creutz=Träger gestifftet: Wer mein Jünger seyn wil/ der verleugne sich selbst/ nehme sein Creutz auff sich/ und folge mir nach.“ Man beachte die deutliche, aber nicht eigens als solche artikulierte Polemik gegen das Mönchtum in der Rede vom ‚Orden der Kreuzträger‘, der von Jesus selbst [!] gestiftet ist. Ihm gehört jeder Christenmensch an. 162 Vgl. HѢєќ, Die Jhren Gott Liebende Seele (Anm. 61), Otton. Vaenii Nr. XL. Zum Gegenbegriff des ‚schweren Jochs‘ vgl. R. Sѡђієђџ, Kreuzstab (Anm. 158), 11řf. 16ř Das acht Strophen zu je vier Zeilen umfassende Erläuterungsgedicht beginnt: „WJe lieb ich deine LastȦ wie süß ist sie zu tragenȦȦ Jch ThorȦ wie furcht ich dieses Joch !ȦȦ Nun bin ich frey und darff nicht über Knechtschafft klagenȦȦ Wan ich es trag und liebe doch.“ 164 Dieselbe Dialektik ist in der Subscriptio zu Müllers Emblem (Abb. 4) formuliert: Das Wort des Bräutigams ist ‚der Schatz, der mich vergnügt‘ und zugleich kann es ‚mein Hertz verwunden‘. 165 Mҿљљђџ, Der leidende Jesus (Anm. 55), 24 (Forts. des Zitats in Anm. 55); Müller erinnert hier an Bande und Gefängnis des Apostels Paulus (vgl. Apg 20,2řf.; Phil 1,1ř–17; 2Kor 6,4–8). 166 Allgemeiner Sprachgebrauch; vgl. Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), Vorrede, 19,114.
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fühlte,Ⱥ167 den Vater bat, er möge den Kelch an ihm vorübergehen lassen, ehe er sich in das bevorstehende Leiden schickte mit den Worten: „[…] so geschehe dein Wille“ (Mt 26,ř9.42.44). In Passionspredigten erscheint an dieser Stelle häufig ein Zitat aus der Strophe „Was mein Gott will, das g’scheh allzeit“Ⱥ168 oder aus „Dein Will gescheh, Herr Gott zugleich“.Ⱥ169 (Auch Liedstrophen haben ihren festen Platz als Traditionszitate!) Jesu Vorbild in der praktischen Anwendung (der ‚Übung‘) der dritten Bitte des Vaterunsers: „Dein Wille geschehe“ (samt Hinweis auf Mt 26,ř9 und die beiden genannten Lieder) gehört auch zum Grundbestand lutherischer Sterbeseelsorge, hier in ausdrücklichem Rückgriff auf Tauler und den Topos der Gottgelassenheit.Ⱥ170 Die Verknüpfung der Isaak-Christus-Typologie im Bild der Bande und des Gebunden-Seins mit der Rede von Gottes Liebe, dem Grund seines Heilshandelns an den Menschen (Joh ř,16; Gal 2,20) in der Liebessprache des Hohenliedes: die Rede von Jesu ‚Liebes=Banden‘ bei OleariusȺ171 und Müllers Konsequenz für die gläubige Seele: „Mein HertzȦ dich sol auch die Liebe Jesu einbinden in seinen Gehorsam“ bzw. „wir sollen uns einbinden in den Gehorsam JEsu Christi“Ⱥ172 (die ich oben eine als ‚mystisch‘ zu bezeichnende Redeweise nannte) ist also der Grund für die überaus häufige Rede von der Süße (suavitas, dulcedo) von Kreuz und Leiden. Diese wäre mißverstanden, hielte man sie für eine ‚einfache‘ (im Sinne von leichtfallende, spontane) Leidensbereitschaft oder Todessehnsucht. Vielmehr ist ihr Modell der ‚Kampf‘ Jesu in Gethsemane (so die geläufige Bezeichnung) und das Sich-Schicken in Gottes Willen eine geistliche Anstrengung und ein zu gehender Weg, auf dem Jesus, der
167 Vgl. Mюџѡіћ LѢѡѕђџ, Predigt am Karfreitag, 26. März 1540 (morgens), WA 49,84–86, hier 85,22–26 zu Mt 26,ř7: „Peccatum vere sentire et iram Dei est infernus […]. Er mus fulen […] Dei iram et damnationem quasi meritus.“ Mҿљљђџ, Der Leidende Jesus (Anm. řř), 1. Predigt, 992: „Er hat empfunden im höchsten Grad alle die PeinȦ die alle Verdammten in alle Ewigkeit werden in der Höllen fühlen.“ 99ř: „Eben so stehet hie Christus vor Gottes Zorn=Gericht. Der Tod ist daȦ der sol mit ihm kämpffen.“ 168 Anfang des Liedes von Mюџјєџюѓ Aљяџђѐѕѡ ѣќћ BџюћёђћяѢџє (1547); J. S. Bach beschließt in der Matthäus-Passion mit dieser Strophe die Gethsemaneszene im Actus Hortus (Choral 25). 169 Strophe 4 von Mюџѡіћ LѢѡѕђџ, „Vater unser im Himmelreich“ (15ř9); J. S. Bach schiebt in der Johannes-Passion diese Strophe in den biblischen Bericht nach Joh 18,11 als Abschluß des Actus Hortus ein (Choral 5). 170 Vgl. R. Sѡђієђџ, Gnadengegenwart (Anm. 78), IȦř Von christlicher Gelassenheit. „Alles nur nach Gottes Willen“ BWV 72 auf den ř. Sonntag nach Epiphanias, 5ř–8ř, hier 60f. der Hinweis auf Tauler bei Johann Gerhard, Postilla (161ř) zum Sonntag. 171 S. o. bei Anm. 1ř. 172 S. o. bei Anm. 5ř.
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barmherzige Arzt,Ⱥ17ř – auch gegen den äußeren Anschein – hilft, bei uns ist und unser Kreuz ‚versüßen‘ will.Ⱥ174 Warum Kreuz und Leiden in der Nachfolge Jesu leichter werden, erläutert Johann Gerhard in seiner Passionsauslegung einleitend so:Ⱥ175 Vnd zwar ist kein Creutz vnnd Leiden so schwer vnd bitterȦ du wirst es williglich leidenȦ wenn du das grosse Leiden des HErrn Christi bedencken wirstȦ das allerbitterste in vnserm LeidenȦ nemlichȦ den Zorn GOTtes hat er auff sich genommenȦ vnser Leiden kömpt nicht von einem zornigen RichterȦ sondern von einem lieben Vater […].
Daher nenne ‚ein heiliger Mann‘Ⱥ176 unser Leiden „Amaras sagittas ex dulci manu Dђі, Liebeschläge vnd väterliche Züchtigung“.Ⱥ177 Die ‚bitteren Pfei17ř ‚Jesus der Arzt‘ ist eines der zentralen Predigthemen am ř. Sonntag nach Epiphanias gemäß dem Evangelium des Sonntags, Mt 8,1–1ř, das zwei Heilungsgeschichten erzählt. 174 Vgl. Sюљќњќћ Fџюћѐј, Andachts-Opfer (Anm. ř9), ř. Sonntag nach Epiphanias, „Alles nur nach Gottes Willen“ (= Kantate BWV 72 von J. S. Bach), Aria: „Mein JEsus will es thun ! Er will dein Creutz versüssenȦ Ob gleich dein Hertze liegt in viel Bekümmernissen;Ȧ Soll es doch sanfft und still in seinen Armen ruhnȦ Wenn ihn der Glaube faß’t! Mein JEsus will es thun.“ Selbstredend ist auch hier, wie in der oben vorgestellten Dichtung Francks zum 20. S. n. Tr., „mein Jesus“ der geliebte Bräutigam und die Sprache der Kantate auch sonst deutlich von der Mystik inspiriert; so nimmt die vorhergehende Aria: „Mit allem was ich hab’ und binȦ Will ich mich JEsu lassenȦ […]“ Taulers ‚Gelassenheit‘ auf (s. auch o. Anm. 170); vgl. R. Sѡђієђџ zu BWV 72 (Anm. 170), 62–66. 175 Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), 59,15ř–162. 176 Stellennachweis bei Gregor von Nazianz, ebd. 177 Gerhard befestigt die Grundmetapher der suavitas durch Wiederholung, indem er ein Wort des Thomas von Kempen anschließt: „Dulcis Jesus omnia dulcia facit“, sodann aus Ex 15,22–25 die typologisch ausgelegte Begebenheit erzählt, wie Mose auf der Wüstenwanderung zu Mara auf Weisung des HErrn in das dortige bittere (d. h. ungenießbare) Wasser einen Baum legte, wovon es süß wurde. Das sei „ein Bild wie das Creutz vnd Leiden des HErrn Jesu ChristiȦ welcher für vns am Holtze gelittenȦ dem Wasser vnser Trübsal alle Bitterkeit nemeȦ vnnd es gar süß vnnd lieblich mache“, weshalb der Herr von dem Kreuz, das er auflegt, in Mt 11 sage: „Mein Joch ist süß“ (Gђџѕюџё, ebd., 59,162–60,177). Gerhard gibt also in diesem Kontext das Traditionszitat Mt 11,ř0 (entgegen der geläufigen deutschen Version Luthers, „sanft“) nach der Vulgata wieder. Mit dem Stichwort „Trübsal“ ist auf Apg 14,22 angespielt, ein wichtiges Traditionszitat in der lutherischen Ethik, mit dem Gerhard diesen ganzen Abschnitt eingeleitet hatte (ebd., 58,141f.). Der Vers spielt, oft in Kombination mit dem Emblem „Post nubila Phoebus“, eine tragende Rolle in der Seelsorge des 17.Ȧ18. Jahrhunderts und erscheint auch in zahlreichen Kantatentexten J. S. Bachs, z. B. am Sonntag Jubilate mit dem Evangelium Joh 16,16–2ř (Eure Traurigkeit soll in Freude verkehrt werden) in „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ BWV 12 (Text wahrscheinlich von Salomon Franck), „Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen“ BWV 146; vgl. R. Sѡђієђџ, Gnadengegenwart, IIȦ5 Kreuzstabkantate (Anm. 158), 101–105; Mђіћџюё Wюљѡђџ, „‚Quellen J. S. Bachs‘ und ‚Bach im Gottesdienst‘ – anhand einer Auslegung der Bachkantate ‚Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen‘ (BWV 12)“,
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le‘ kommen von der süßen Hand Gottes, nachdem Christus für uns vor dem zornigen Richter gestanden und mit dem Lösegeld seines Blutes die Schuld bezahlt hat. Gott ist unser „lieber Vater“ (Röm 8,15), weil „Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren“. So werden wir „durch ihn bewahrt werden vor dem Zorn, nachdem wir durch sein Blut gerecht geworden sind“ (Röm 5,8f.). Das ist die Differenz von Christi Leiden zu dem unsrigen: So sehr wir Kalamitäten und Unglücksfälle als verdiente Strafe und Gericht Gottes über uns erfahren, als Züchtigung und ‚Rute‘,Ⱥ178 die zur Buße ruft, so gewiß sind Kreuz und Leiden der Braut Christi in der Nachfolge ihres Herrn nicht Zeichen des ewigen Gerichts, sondern kommen „von Gottes lieber Hand“ (Kreuzstabkantate), weil wir durch Christus bereits zu Erben der Seligkeit eingesetzt sind.Ⱥ179 d. Die Anima in der Kreuz-Kelter (Thren 1,12) Anknüpfend an Mt 16,24, den locus classicus der Nachfolge-Theologie, erscheint die Christiformitas ikonographisch meist in Gestalt der kreuztragenden Anima oder Sponsa.Ⱥ180 Auch der Himmlische Liebes=Kuß von Heinrich Müller enthält außer der Kreuzübergabe (s. Abb. 2 und 4) zwei Kreuzträger-Embleme, die den Weg unter dem Kreuz als Aufstieg zum Empfang der „Krone des Lebens“ (Apk 2,10) aus den Händen des Bräutigams darstellen.Ⱥ181 Ein anderes Bild der Leidensnachfolge finden wir in Christian Zeises Gebet- und Gesangbuch Himmels=schöne Königliche
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in: Die Quellen (Anm. 58), ř4ř–ř68, bes. ř54–ř57 zur Komposition von Rezitativ ř (= Apg 14,22). Dies ist in der Predigt der Barockzeit besonders am 10. S. n. Tr. zum de tempore von der Zerstörung Jerusalems (Evangelium: Lk 19,41–48) thematisch; vgl. Rђћюѡђ Sѡђієђџ, „Johann Sebastian Bachs Kantaten zum 10. Sonntag nach Trinitatis und die Frage nach dem Antijudaismus“, in: Der Freund des Menschen. Festschrift für Georg Christian Macholz zur Vollendung des 70. Lebensjahres, hg. v. Aџћёѡ Mђіћѕќљё und Aћєђљіјю BђџљђїѢћє, Neukirchen-Vluyn 200ř, 28ř–ř2ř, hier ř00–ř1ř. Auf die frömmigkeitsgeschichtlich wie psychologisch hochkomplexe Thematik des Liebestods (mors mystica) und des Hieros Gamos ist hier nicht einzugehen; vgl. weiterführend HююѠ, Sermo mysticus (Anm. 1ř9), 1ř. Mors mystica – Ein mystologisches Motiv, ř92–480; Gђџѕюџё Wђѕџ, Heilige Hochzeit. Symbol und Erfahrung menschlicher Reifung, München 1986. Zur Herkunft der Bildformulierung s. o. Anm. 1ř0. Mҿљљђџ, Liebes=Kuß (Anm. 61, ř. Auflage 1669), neben 614 zu Cap. XIX Von der ängstenden Liebe Gottes (wiedergegeben und ausgelegt bei R. Sѡђієђџ, Gnadengegenwart [Anm. 78], Kreuzstabkantate, 101–104); neben 662 zu Cap. XXI Von der (im Creutz) süß=tröstenden Liebe Gottes. Vgl. auch Bюѐѕ, Weinen, Klagen BWV 12, Arie 4: „Kreuz und Krone sind verbunden,Ȧ Kampf und Kleinod sind vereint […]“ und dazu Wюљѡђџ (beide Titel Anm. 177), hier 158–161.
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Abb. 5a: CѕџіѠѡіюћ ZђіѠђ, Königliche Braut=Kammer, Leipzig 17ř1 (Gesangbucharchiv am Deutschen Institut der Universität Mainz), Titel.
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Braut=Kammer dargestellt: die liebende Seele wie Christus in der KelterȺ182 (Abb. 5a und 5bȦc). Das Nachfolge-Verhältnis kommt hier besonders deutlich an dem als Motto beigegebenen Schriftzitat zur Anschauung: Wie Christus in der Kelter auf dem oben schon einmal genannten Altärchen vom Ende des 15. JahrhundertsȺ18ř (vgl. Tafel 20 im Anhang) ruft hier die Braut dem Betrachter zu: „Schauet doch und sehet ob etwann ein SchmertzenȺ184 sey wie mein Schmertz, der mich troffen hat.“ Der Vers Thren 1,12 gehört in der Tradition der katholischen Kirche – zusammen mit anderen Stücken der Threni oder Klagelieder Jeremiae – in die Passionsliturgie.Ⱥ185 Auch in der lutherischen Passionspredigt hat der Vers seinen Platz, jedoch wird er hier nicht zur Erregung der compassio mit dem leidenden Herrn eingesetzt, sondern im Kontext eines Bußrufs an die betrachtende Seele. So sagt Johann Heermann, zum Kreuz aufblickend:Ⱥ186 Allhier lerneȦ O andächtige SeeleȦ wie du die Paßion Christi fruchtbarlich betrachten solt. O laß dir dieses seyn eine Hertz=durchdringende Buß=Predigt. […] Um deiner Missethat willen ist ER so verwundet/ und um deiner Sünde willen also zerschlagen. ȋin marg.: Esai. 5ř,5.Ȍ
Und er fügt wenig später ein Wort aus den Klageliedern an, das seinen Ort in Bußgottesdiensten hat:Ⱥ187 O daß ich Wasser genug hätte in meinem Haupte. Ach daß meine Augen Thränenquelle wären/ daß ich Tag und Nacht meine Missethat beweinen könte ȋin marg.: Jerem. 9,1.ȌȦ welche dem HErrn JESU solch schmertz= und schmähliches Leyden zugerichtet hat,
um mit der Belehrung zu schließen (denn: „Crux Christi est 1. Tua informatrix, deine Lehrmeisterin“):Ⱥ188 „Hier kanst du augenscheinlich erfahren [= vor Augen sehen]Ȧ wie hertzlich lieb dich GOtt habe“, von dem Christus selbst sage: „Also hat GOtt die Welt geliebet/ daß Er seinen einge-
182 CѕџіѠѡіюћ ZђіѠђ, Himmels=schöne Königliche Braut=Kammer, Welche Der überirdische Salomo und hochverliebte Mensch=Freund Christus JEsus Seiner lieben Sulamithin […] tröstlich zubereitet […], Mit 24 Kupfern, Leipzig 17ř1 (Gesangbucharchiv des Graduiertenkollegs „Geistliches Lied und Kirche interdisziplinär“, Mainz, Sign. Leipzig 17ř1), Cap. VI. Die Creutz=Kelter, Abb. 1ř, neben 258. 18ř S. o. S. 561. 184 Luther: „ob irgend ein Schmerz“; in der Regel auch so zitiert. 185 Sie wurden auch musikalisch bearbeitet; vgl. von Zeitgenossen J. S. Bachs die Lamentationes für die Liturgie der Karwoche von Jќѕюћћ Dюѣіё Hђіћіѐѕђћ oder DіѠњюѠ Zђљђћјю. 186 Hђђџњюћћ, Crux Christi (Anm. 14), 10. Predigt, ř24f. 187 Ebd., řř0; vgl. Jќѕюћћ CѕџіѠѡќѝѕ Bюѐѕ (1642–170ř), Lamento Ach, daß ich Wassers gnug hätte. 188 Hђђџњюћћ (Anm. 186), ebd.
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Abb. 5bȦc: CѕџіѠѡіюћ ZђіѠђ, Königliche Braut=Kammer, Leipzig 17ř1 (Gesangbucharchiv am Deutschen Institut der Universität Mainz), S. 258 mit Abb. 1ř.
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bohrnen Sohn gab. ȋin marg.: Johan. ř,16.Ȍ”Ⱥ189 Und wie niemand größere Liebe hat als die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde (Joh 15,1ř), so hat Christus seine Gemeinde geliebt und sich selbst für sie gegeben (Eph 5,2) und ans Kreuz heften lassen. Vom Kreuz herab redet er „dich und mich an“ – beschließt Heermann den Gedanken – „und spricht:“ Euch sage ich allen/ die ihr fürüber gehet: Schauet doch/ und sehet/ ob irgend ein Schmertz sey/ wie mein Schmertz/ der mich troffen hat. Denn der HERR hat mich voll Jammers gemacht/ am Tage seines grimmigen Zorns. ‹in marg.: Thren. 1,12.Ȍ
In der lutherischen Tradition sind im Zuge einer speziellen Prägung des 10. Sonntags nach Trinitatis als eines Tages der Buße und Klage die Klagelieder Jeremiae auch in die Liturgie dieses Sonntags aufgenommen worden.Ⱥ190 Ein als Zorngericht gedeutetes historisches Ereignis, d. i. die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70, auf die das Evangelium dieses Sonntags, Lk 19,41–48, vorausweist, wird als Gottes an seine Braut (die Kirche, das geistliche Israel) gerichteter Ruf zur Buße ausgelegt: institutionalisiert jedes Jahr wiederkehrend am 10. S. n. Trin., aktuell in den etwa nach Stadtbränden und in Pestzeiten angeordneten allgemeinen Bußund Gedenkgottesdiensten.Ⱥ191 Zu dem Bild der Anima in der Kelter, die Christus das „Schauet doch und sehet […]“ nachspricht, sind folgende Beobachtungen theologisch relevant. Erstens: Es widerspricht – gegen den Anschein – nicht der zuvor betrachteten Darstellung des „aus Gottes lieber Hand“ angenommenen Kreuzes. Vielmehr kommt in dieser Illustration bei Zeise die Ambivalenz der Erfahrung ins Bild: daß die Seele sich angesichts 189 Wir erinnern uns daran, daß dieses Zitat die Zielaussage der ‚2. Stufe‘ in Luthers Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi (Anm. 112) ist; s. o. bei Anm. 11ř und 114. 190 Erster Beleg hierfür ist das Gesangbuch von Nikolaus Selnecker von 1587, wo dieser ausdrücklich die zeitliche Nähe des Sonntags zum 9. Aw, dem jüdischen Gedenktag an die Zerstörung Jerusalems und des Tempels, erwähnt und an den jüdischen Brauch erinnert, an diesem Tag die Klagelieder dreimal ganz zu lesen. In die Liturgie des Sonntags wurde ferner die Erzählung von der ‚Verstörung der Stadt Jerusalem‘ aufgenommen, die Johannes Bugenhagen 15ř4 als Schlußteil seiner Passionsund Auferstehungsharmonie veröffentlicht hat und die bald in Gesangbücher und Kirchenordnungen aufgenommen wurde (und sich zusammen mit den biblischen Lesungen für die Sonn- und Feiertage des Kirchenjahrs bis in das 1950 erschienene Evangelische Kirchengesangbuch hier gehalten hat). Vgl. Iџђћђ Mіљёђћяђџєђџ, Der Israelsonntag – Gedenktag der Zerstörung Jerusalems. Untersuchungen zu seiner homiletischen und liturgischen Gestaltung in der evangelischen Tradition (Studien zu Kirche und Israel 22), Berlin 2004; R. Sѡђієђџ, Bachs Kantaten zum 10. S. n. Tr. (Anm. 178), 284–289. 191 Daß speziell Thren 1,12 am 10. S. n. Tr. in Brauch war, zeigt auch J. S. Bachs Kantate „Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei“ BWV 46 (Textdichter unbek.; EZ 172ř).
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ihres Leidens von Teufeln umstellt und gemartert sieht. Äußere Trübsal und Widerwärtigkeit, Unfrieden mit anderen Menschen, Kummer und Verlust in der Familie, aber schlimmer noch das „innerliche Elend“, wie Müller es an entsprechendem Ort nennt,Ⱥ192 die Anfechtung, wenn das Herz ‚keinen göttlichen Frieden schmeckt‘, sondern inwendig im Gewissen die Sünde nagt, der Mensch keine Hoffnung, Geduld und Andacht empfindet und Gott sich zu verbergen scheint. Diese Not erreicht ihren Höhepunkt in der Todesstunde, wenn der Teufel, wie die Prediger sagen, dem Menschen den Glauben aus dem Herzen zu reißen sucht. Dies ist aber nur die eine Seite der Erfahrung. Die zweite dargestellte Szene, der oben im himmlischen Licht erscheinende Christus, der mit ausgebreiteten Armen die zu ihm emporfliegende Anima erwartet, gehört untrennbar mit der Marterszene auf der Erde zusammen und fügt ihr die Auslegung hinzu.Ⱥ19ř Formal steht das Bild in der Tradition der Märtyrerszene, die sich biblisch auf Apg 7, den Bericht vom Martyrium des Stephanus gründet, der sterbend den Himmel offen und Jesus in der göttlichen Herrlichkeit stehen sieht (Apg 7,55. Mit seinen beiden letzten Worten, die letzte Worte Jesu am Kreuz zitieren: der Bitte an Jesus, seinen Geist aufzunehmen, und der Fürbitte für seine Peiniger, bezeugt sich Stephanus als wahren Nachfolger des Herrn; Apg 7,58f. vgl. Lk 2ř,46.ř4.). Doch gilt die in der Bildkomposition ausgesprochene Verheißung nicht nur den Blutzeugen, also in äußerer Todesnot, sondern ebenso im inner192 Mҿљљђџ, Liebes-Kuß (Anm. 61, ř. Aufl. 1669), Cap. XIX. Von der ängstenden Liebe Gottes, 584. 19ř Dies gilt für alle vergleichbaren Darstellungen; sie gestalten den Topos ‚Trost im Leiden‘ in einem Szenarium auf mehreren Ebenen; vgl. Mҿљљђџ, vorige Anm.: Das neben S. 584 stehende Kupfer vereinigt mehrere Gerichtsszenen, u. a. die in tiefem Schlamm versinkende Seele nach Ps 69,ř und die einsame Seele, die von Melancholie geplagt wird, ferner sehen wir zwei Teufel, die auf die zum Gebet knieende Anima einschlagen. In der vierzeiligen Subscriptio beschreibt die Anima ihre Martern und beklagt, daß Jesus, ihr Freund, sich verbirgt (vgl. Ps 27,ř; 89,47 u. ö., auch den Topos der Liebesklage Hld ř,2). Auf der Pictura aber schiebt im Vordergrund rechts der Geliebte einen Vorhang zur Seite und tritt aus einem dunklen Raum zu der geschmückt und mit Gebetsgestus ihn erwartenden Braut. Dieselbe Struktur zeigt das Kupfer neben S. 592, gleichfalls zu Kap. XIX: Am Bett eines Sterbenden – draußen brüllen, als Metaphern der Beängstigung und Gerichtserfahrung, Naturgewalten und Ungeheuer – stehen links im Dunkel bedrohlich zwei Teufel, doch tritt von der anderen Seite, im hellen Licht, Christus heran und legt tröstend eine Hand dem Leidenden auf die Stirn. Daß beide Bildteile, die ‚dunkle‘ und die ‚helle‘ Seite, die Erfahrung von Gottes Zorn und von Gottes Tröstung, theologisch zusammengehören, wußten auch die Kantatendichter; vgl. Bюѐѕ, Kantate BWV 46 (Anm. 191), hier sukzessiv vereint Aria ř: „Dein Wetter zog sich auf von weiten,Ȧ Doch dessen Strahl bricht endlich einȦ Und muß dir unerträglich sein […]“ und Aria 5: „Doch Jesus will auch bei der StrafeȦ Der Frommen Schild und Beistand sein […]“, eine brausende und stürmende ‚WetterArie‘ und eine lyrisch ‚stehende‘, arkadischen Frieden evozierende Pastorale.
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lichen Leiden (s. die Kapitelüberschrift neben dem Kupfer), d. h. gegenüber der Anfechtungsfrage, ob Gott mir am Ende gnädig sein wird, was die Frage nach dem ‚anderen Tod‘ (Apk 20,14; 21,8) ist.Ⱥ194 Die geflügelte, zu Christus aufsteigende Seele meint also nicht die entleibte Seele (ohne diese Vorbild- und Primärsituation auszuschließen), sondern bedeutet – und hier ist als drittes, außerhalb des Bildes selbst liegendes Moment von theologischer Relevanz sein literarischer Kontext in einem Gebetund Gesangbuch zu beachten – die ihre Not hinter sich lassende, ‚oben‘ liebevoll erwartete Gestalt bedeutet die sich im Gebet zu Gott erhebende Seele. Ihr ist Erhörung verheißen (Ps 50,15), ihr Vorbild ist Jesus selbst, der in seiner Seelennot in Gethsemane betete und Stärkung durch einen Engel vom Himmel erfuhr, der ihm erschien (Lk 22,4ř). e. Die unio mit Christus im Gebet So sehr unser Kelter-Bild die Spannung von „Hier“ und „Dort“, von „Jetzt“ und „Einst“ zur Anschauung bringt, so gewiß enthält es die Aussage, daß im Gebet, im Gespräch mit Jesus dieser selbst gegenwärtig erscheint, so daß der Beter aufgrund der Gewißheit, erhört zu sein, schon jetzt im Leiden den Trost antizipierend, dieses als bitter-süßes Leiden erfahren kann.Ⱥ195 Dieser theologische Zusammenhang bestätigt sich in der Tatsache, daß die Thematik der Freude im Leiden bzw. die Gewißheit der zukünftigen Tröstung u. a. dezidiert am Sonntag Rogate behandelt wird.Ⱥ196 So beschließt Mariane von Ziegler, von der J. S. Bach in seinem zweiten Leipziger Amtsjahr eine aufeinanderfolgende Serie von neun
194 Vgl. bei Mҿљљђџ, ebd., die Schlußzeile der Subscriptio des Kupfers neben 592: „Ach Herr wann wilt du doch, wann wilt du gnädig sein?“ 195 Ein schönes Beispiel hierfür ist das Lied von Jќѕюћћ Fџюћѐј „Jesu, meine Freude“ (165ř), das sich in vier seiner sechs Strophen an Jesus wendet, in den übrigen den Gegenmächten Abschied gibt, der Welt, der Sünde, den ‚Trauergeistern‘, die in der Schlußstrophe angeredet sind: „Weicht, ihr Trauergeister,Ȧ denn mein FreudenmeisterȦ Jesus tritt herein.“ Dieses in Gebetsform geschriebene Lied läßt (= ‚macht‘, facit) in seiner Schlußstrophe Jesus ‚hereintreten‘ und bezeugt so dessen tröstliche Gegenwart. Der Indikativ ‚zeigt‘ den hereintretenden Herrn; dies ist die poetische Entsprechung zu den ‚Auftritten‘ Jesu auf den beschriebenen Kupfern bei Zeise und Müller. Vgl. hierzu noch einmal die Rede vom ‚Versüßen‘ des Kreuzes bei der Thematik des Sich-Schickens in Gottes Willen (ř. S. n. Ep., o. bei Anm. 174) und vom Tragen-Helfen in der Passionsbetrachtung bei der Station Kreuztragung (o. bei Anm. 159). 196 Vgl. J. S. Bachs Kantate „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch“ BWV 86 auf Rogate (Textdichter unbek., EZ 1725), Arie 2: „Ich will doch wohl Rosen brechen,Ȧ Wenn mich gleich itzt Dornen stechen […]“ und Arie 5: „Gott hilft gewiß;Ȧ Wird gleich die Hülfe aufgeschoben […]“.
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Kantaten vertont hat,Ⱥ197 eine Dichtung auf diesen Sonntag mit folgender Strophe von Heinrich Müller:Ⱥ198 Muß ich sein betrübet? So mich Jesus liebet, Ist mir aller Schmerz Über Honig süße, Tausend Zuckerküsse Drücket er ans Herz. Wenn die Pein sich stellet ein, Seine Liebe macht zur Freuden Auch das bittre Leiden.
Der vorhergehende Text enthält zwei biblische Dicta (von der Dichterin auch so überschrieben), Worte Jesu, die der Komponist wie gewöhnlich als Baß-Arioso komponiert, d. h. der vox Christi zuweist, und so Christus, der nach lutherischem Verständnis in seinem Wort gegenwärtig ist, ‚auftreten‘ läßt. Als zweites Dictum (Satz 5) dient der Trostspruch Joh 16,řř: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Hierauf antwortet die zweite Arie so: Ich will leiden, ich will schweigen, Jesus wird mir Hülf erzeigen, Denn er tröst’ mich nach dem Schmerz. Weicht, ihr Sorgen, Trauer, Klagen, Denn warum sollt ich verzagen? Fasse dich, betrübtes Herz!Ⱥ199
Nach Kategorien der performance betrachtet, die in der Zeit des Barock den Künsten und der Predigtlehre gemeinsam waren, werden wir in diesen drei Sätzen Zeugen eines kommunikativen und seelischen Geschehens, in dem die Dialektik der christlichen Existenz in der Welt als VorgangȦWegȦinnere Arbeit des Sich-Fassens des Herzens vorgemacht und aufgeführt (und so mit der Gemeinde eingeübt) wird. Hierbei kommt der Musik eine besondere, den Vorgang ‚nachdrücklich‘Ⱥ200 darstellende Rolle zu, ist sie doch die Kunst, die einander widerstreitende Affekte si197 Es sind die Kantaten auf die Sonntage Jubilate bis Trinitatis 1725 am Ende des sog. Choralkantatenjahrgangs. 198 Hђіћџіѐѕ Mҿљљђџ, „Selig ist die Seele“ (1659), Str. 9, vgl. CѕџіѠѡіюћђ Mюџіюћђ ѣќћ Zіђєљђџ, Versuch Jn Gebundener Schreib=Art, Leipzig 1728, Dominica Rogate, Choral 7 (Schreibweise normalisiert; Faks. bei NђѢњюћћ, Texte [Anm. ř9], ř60). Das Lied wird auf die Melodie von „Jesu, meine Freude“ von Jќѕюћћ Fџюћѐј (Anm. 195) gesungen, mit dem es auch inhaltlich verwandt ist, vgl. dort den zweiten Stollen von Str. 6: „Denen, die Gott lieben, muß auch ihr BetrübenȦ lauter Freude sein“. 199 – worauf mit dem typischen Stichwortanschluß die Choralstrophe von Müller folgt: „Muß ich sein betrübet?“ 200 – Hauptbegriff der barocken Operntheorie!
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multan erklingen lassen und im Hörer erwecken kann. Diese Arie Bachs macht vor, was „die Welt überwinden“ (Arioso 5) und – mit seiner Hilfe – Jesus nachfolgenȺ201 heißt, indem sie über einem schmerzvoll-gespannten Grundaffekt weichen, in der musikalischen Diktion ‚süßen‘ Trost realisiert. Dabei lautet die kompositorische Invention: Vergegenwärtigung von Trost im Leiden durch Siciliano-Typ des SatzesȺ202 mit dissonant angereicherter Harmonik: ein musikalisches Oxymoron.Ⱥ20ř Mit diesen Beobachtungen zum Thema Leidensnachfolge sei die Betrachtung unseres ersten Leittextes, der Passage über Jesu Bande und den Topos des ‚gebundenen Lebens‘ aus den Passionspredigten von Heinrich Müller, abgeschlossen. Auch die Auslegung des zweiten Haupttextes, der den Kontext der Brautmystik und mit ihm die wichtigste theologische und sprachliche Substanz lutherischer Passionsbetrachtung einführte, Salomon Francks Kantate „Ach! ich sehe, itzt, da ich zur Hochzeit gehe“, kann an dieser Stelle zu Ende gebracht werden. Als „poetische Konstituierung von Präsenz“ hatte ich oben die an Jesus gerichtete Rede der Braut in Arie ř „Jesu, Brunnquell aller Gnaden“ beschrieben.Ⱥ204 Die Brunnen-Metapher hatte uns dann zunächst die sakramentalen Implikationen, d. h. den von der zugrundeliegenden Perikope vorgegebenen Bezug des Textes auf das geistliche Hochzeitsmahl, die Eucharistie, weiter verfolgen lassen. Nehmen wir jetzt die Beobachtung zu Francks Rhetorik abschließend noch einmal auf. Mit dem Wechsel in die direkte Anrede an Jesus hat der Dichter in Arie ř Gleichzeitigkeit mit der Situation der Perikope evoziert, in der die Seele, vor ihrem königlichen Bräutigam stehend, diesen um Teilgabe am großen Fest und Hochzeitsmahl bittet und eben hiermit, weil in diesem einzigartigen Mahl Gastgeber und Speise identisch sind,Ⱥ205 um die hochzeitliche Ver-
201 Zum Arienanfang „Ich will leiden, ich will schweigen“ vgl. J. S. Bach, Matthäus-Passion, Rez. ř4 „Mein Jesus schweigt zu falschen Lügen stille“ und Arie ř5 „Geduld !“; die topische Verbindung von Leiden und Schweigen entstammt der Passionsbetrachtung, die sich an Jesu Schweigen im Verhör vor Pilatus anschließt (Mt 26,62; 27,12.14; Joh 19,9). 202 Vgl. die in Anm. 19ř genannte Pastorale in BWV 46Ȧ5. 20ř Vgl. R. Sѡђієђџ, Gnadengegenwart (Anm. 78), VIIȦ15, „Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen“. Die Kantate BWV 87 und das Vaterunser, ř18–ř41, hier: 4. „Dein Wille geschehe“, řř0–řř7; s. auch o. das in Anm. 174 benannte Geschehen: „Mein Jesus […] will dein Kreuz versüßen.“ 204 S. o. S. 570ff. Der vollständige Text der Kantate ist im Anhang S. 6ř4–6ř6 unter 2. wiedergegeben. 205 Vgl. Lќѡѕюџ Sѡђієђџ, „Leibgericht. 1. Korinther 11,2ř–ř4Ȧ Gründonnerstag“, in: Christ will unser Trost sein. Predigten im Osterfestkreis von Septuagesimae bis Himmelfahrt und Exaudi vor Pfingsten, Waltrop 2005, 115–124, hier 117f.
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einigung selbst. Das besagt die letzte Zeile der Arie: „Komm, vereine dich mit mir!“Ⱥ206 Im Gesamtablauf der Kantate bilden Arie ř und Rezitativ 4 mit ihrem an Jesus gerichteten Gebet ein dramaturgisch hervorgehobenes Satzpaar, wobei zwischen dem Schluß von Arie ř und dem Beginn des folgenden Rezitativs, also zwischen dem ersten und dem zweiten Rezitativ-Arie-Komplex, ein „stummer“ Höhepunkt der oratio zu liegen scheint: die ersehnte unio mit Christus.Ⱥ207 Danach spricht die Seele den Bräutigam noch inniger an, indem sie seinem Namen das Possessivpronomen hinzufügt: „Mein Jesu“. Die zweite Arie bringt emotional eine weitere Steigerung, indem sie – nach dem Gebetsgestus der beiden vorhergehenden Sätze – nun dem Affekt der Freude über die gnädig gewährte Erfüllung Ausdruck gibt gemäß der ‚Summarischen Vorstellung‘, mit der Olearius das Gleichnis überschreibt: „Die Hochzeit Freud und Wonne macht“:Ⱥ208 In meinem Gott bin ich erfreut! Die Liebesmacht hat ihn bewogen, Daß er mir in der Gnadenzeit Aus lauter Huld hat angezogen Die Kleider der Gerechtigkeit.
Jes 61,10; vgl. Apk 19,7 vgl. Jes 61,2 Jes 61,10; 2Kor 5,2ff.
Nach der geistlichen Hochzeit und Vereinigung mit dem Bräutigam im Glauben und dem Angetan-Werden von ihm mit dem „Rock der Gerechtigkeit“ (Jes 61,10)Ⱥ209 folgt jetzt der Ausblick auf die eschatologische Vollendung der Gemeinschaft und die ewige Freude:Ⱥ210 Ich weiß, er wird nach diesem Leben Der Ehre weißes Kleid Mir auch im Himmel geben.
½ ¾ Apk 19,8 ¿
Diesen Satz, vom Dichter einfach mit „Aria“ überschrieben, komponiert Bach als Duett für Alt und Tenor. Diese Disposition für zwei Vokalstim206 – im Originaldruck wird deren Charakter einer drängenden exclamatio noch sinnfälliger durch doppeltes Ausrufungszeichen, auch nach „Komm!“ 207 – dies besagt mein Hinweis auf Hld 2,16: „Mein Freund ist mein und ich bin sein“ zur Schlußzeile der Arie, den das Lexem ‚erwählen‘ in der Zeile davor stützt, denn das Erwählen geht eigentlich von Gott aus, der im Alten Testament sich sein Volk, die Patriarchen und Propheten ‚erwählt‘ hat (Dtn 7,6; Ps 1ř2,1ř; Jes 41,8f.; 44,1f. u. ö.), wie auch Christus zu den Seinen sagt: „Ihr habt mich nicht erwählt, sondern ich habe euch erwählt“ (Joh 15,16a). Wenn nun die Braut das Jesus vorbehaltene ‚erwählen‘ von sich aussagt (= für sich in Anspruch nimmt), wie am Ende von Arie ř, ist die im Ereignis der Rechtfertigung geschehende communicatio idiomatum mit dem Bräutigam schon realisiert, gelten „mein“ und „dein“ überkreuz vertauscht. 208 OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, 187b, zu Mt 22. 209 S. o. S. 557ff. 210 Vgl. OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, 188a.
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men ist erkennbar theologisch motiviert, denn die Analyse des außergewöhnlichen, weithin imitatorisch gearbeiteten Satzverlaufs erlaubt den Schluß, daß Bach die Spannung von Jetzt und Einst und die Gewißheit der verheißenen endgültigen Gemeinschaft musikalisch realisieren wollte.Ⱥ211 Wir haben hiermit eine weitere Möglichkeit der ästhetischen Bearbeitung und Darstellung der Dialektik der christlichen Existenz vor uns, der Darstellung der Spannung von Glauben und Schauen, von Gerechtfertigt- und bleibend bis zum Ende Ein-Sünder-sein.
5. „MJchȦ vom Stricke meiner Sünden Zu entbinden […]“ (B. H. Brockes) a. Die exegetische und homiletische ‚Durchführung‘ der Isaak-Christus-Typologie und die jüdische Auslegung von Gen 22 Am Ende unserer Betrachtung des engmaschigen Netzes von biblischen Kontexten, in das die Bindung Isaaks in der lutherischen Passionsbetrachtung eingeknüpft ist, können wir folgendes festhalten: Die typologische Auslegung auf Christus, den ‚himmlischen Isaak‘, steht nie für sich, vielmehr wird in der Exegese der Hinweis auf das ‚Vorbild‘ in Gen 22,9 durchgängig mit Jes 5ř,7 kombiniert, woran sich der Topos vom schweigenden und ‚geduldigen Isaak‘Ⱥ212 anschloß. Oft verbindet sich hiermit die Feststellung des Gehorsams Isaaks gegenüber seinem Vater, was ihn die Opferung freiwillig und ‚gerne‘ auf sich nehmen ließ, hiermit auf den Gehorsam Christi nach Phil 2,8 vorausdeutend.Ⱥ21ř Alle 211 Vgl. meine Verlaufsbeschreibung des Satzes in R. Sѡђієђџ, Schmücke dich (Anm. 4ř), 9ř–95. Eine besonders frappierende Wirkung erzielt der Komponist durch sich verkürzende Abstände der imitatorischen Einsätze der Singstimmen von zuerst vier ganzen Takten bis auf eine Viertelnote bei „Ich weiß“, was den verheißenen und näherrückenden Zusammenfall von „Jetzt“ und „Einst“ hörbar macht. 212 Vgl. Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), ř. Actus (über Jesu Schweigen im Verhör vor Pilatus), 2ř5,1řř–2ř6,1ř5: „er hat auch hiemit erfüllet das Vorbild des Jsaacs Gen. 22. welcher sich mit gedültigem Hertzen vnd Munde von seinem Vater lies zum Schlachtopffer binden.“ OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, zu Mt 27,2, 246b, wo Olearius zum Stichwort „gebunden“ nacheinander betrachtet „I. Das gebundene Hertz“, „II. Die gebundene Hand“, „III. Der gebundene Mund. Also daß der gebundene JESUS kein Wort antwortete“ (mit Hinweis auf Jes 5ř). S. auch o. Anm. 201 zum Arienbeginn der Mariane von Ziegler, „Ich will leiden, ich will schweigen […]“. 21ř Christi Gehorsam soll auch uns ein Exempel der Nachfolge sein, wie Johann Gerhard Mt 16,24 (Parallele Lk 9,2ř), Jesu Wort, daß der Jünger und Nachfolger sein Kreuz auf sich nehmen soll, auslegt: „Das istȦ er muß mit willigem gehorsamem Hertzen sein Creutz tragen“; Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), Parasceve Passionis, 59,146f.; vgl. „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“ BWV 56 (Textdichter unbek.);
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drei Traditionszitate nennt Olearius, wenn er den Typos Isaak mit Christus vergleicht:Ⱥ214 §. 1ř. Die Opfferung Jsaacs 1. B. Mos. 22. erinnert unsȦ daß bey derselben zuföderst in acht zunehmen sey […] II. Collatio, die Vergleichung mit dem HErrn ChristoȦ welcher als Jsaac ist 1. unigenitus. 2. innocentissimus. ř. oboedientissimus. 1. ein EingebohrenerȦ Joh. 8Ȧ 2. ein VnschuldigerȦ Es. 5ř. ř. ein gehorsamer Sohn seines Himmlischen VatersȦ biß zum Tode. Philipp. 2.
Die einzelnen Elemente dieser Typologese stehen in der ältesten Tradition der jüdischen Auslegung der Bindung Isaaks, der Akedah, die, in der patristischen und mittelalterlichen christlichen Exegese tradiert und in ihrer vorausweisenden Vorläufigkeit gegenüber der Opferung Jesu Christi diskutiert,Ⱥ215 auch lutherischen Theologen bekannt war.Ⱥ216 Hartwig Thyen erinnert in seinem kürzlich erschienenen JohannesKommentar daran, daß die jüdischen Ausleger genau wie die ‚vor-kritischen‘ christlichen Exegeten eine konkordante Lektüreweise übten, in der ein Schriftwort im Lichte eines anderen kommentiert wurde.Ⱥ217 So entstammten die beiden targumischen Hauptthemen von Gen 22, „einmal die freudige Freiwilligkeit von Isaaks Opfer und zum andern dessen sühnende Wirkung für die nachfolgenden Generationen Israels und die Völker“, die auf der Kombination von Gen 22 mit Jes 5ř beruht, bereits der Zeit der makkabäischen Erhebung und waren im ersten nachchristlichen Jahrhundert weit verbreitet. Thyen macht mit G. Vermes auf die herausgehobene Bedeutung der Akedah nach jüdischem Verständnis aufmerksam: „In short, the Binding of Isaac was thought to have played a unique rôle in the whole economy of the salvation of Israel, and to have a permanent redemptive effect on behalf of its people.”Ⱥ218 Dieses beson-
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Matthäus-Passion BWV 244Ȧ2ř: „Gerne will ich mich bequemen, Kreuz und Becher anzunehmen […]“ (Picander). OљђюџіѢѠ, Heylsame Betrachtung (Anm. 1), 2. Buch, 2. Titul, 288f.; s. o. bei Anm. 111. Hierzu vgl. den Beitrag von MюџіѢѠ RђіѠђџ, Die Opferung Isaaks im Genesiskommentar des Jesuiten Benito Perera (1535–1610) in diesem Band, Abschnitt 2b, besonders Anm. 67 (Lit.). Die Erforschung der Rezeption jüdischer Bibelexegese in der evangelischen Tradition steht noch am Anfang; zu Johann Gerhard vgl. NіђљѠ Bюѐј, „‚Die alten Hebreer haben recht und wol gesagt […]‘. Johann Gerhard und die jüdische Schriftauslegung“, in: R. Sѡђієђџ (Hg.), Von Luther zu Bach (Anm. 4ř), 179–186. Vgl. HюџѡѤіє TѕѦђћ, Das Johannes-Evangelium (HNT 6), Tübingen 2005, zu Joh 1,29, 121f.; der Autor zitiert Gђѧю VђџњђѠ, Scripture and Tradition in Judaism (StPB 4), Leiden 1961, 202. VђџњђѠ, ebd., 208; bei TѕѦђћ, ebd., 122; vgl. Bюѐј, Hebräer (Anm. 216), 18ř–185. Die jüdische Bezeichnung von Gen 22,1–19 als „Bindung Isaacs“ deutet eine Verschiebung des Interesses an, worauf TѕѦђћ, ebd., 121, aufmerksam macht: „Standen in der biblischen Erzählung allein Abraham und sein unerschütterlicher Glaube an Gott
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dere Gewicht der Begebenheit wie die tradierte Verknüpfung mehrerer Schriftstellen zu einem Auslegungskomplex mit fester Topik hat in die christliche Exegese und ihre typologische Anwendung von Gen 22 bleibend herübergewirkt. In der homiletischen Applikation und sprachlichen „Durchführung“ des Motivs der Bindung des himmlischen Isaak beobachteten wir den starken Rückgriff auf Bildersprache und Affektstrukturen der Braut- und Passionsmystik. Auch hierfür gibt es motivgeschichtlich Anknüpfungspunkte bei den jüdischen Schriftauslegern, z. B. über die Identifikation des Berges Morija aus Gen 22 mit dem Myrrhenberg und Weihrauchhügel von Hld 4,6,Ⱥ219 den die christlichen Ausleger als Präfiguration des Orts des ‚bitteren Leidens und Sterbens Jesu Christi‘ verstanden, an dem dieser sich – vergleichbar Isaaks Selbstopfer – Gott „zu einem süßen Geruch“ (Eph 5,2) geopfert hat,Ⱥ220 wie überhaupt die Myrrhe als Metapher in der Passionsauslegung eine hervorragende Rolle spieltȺ221 und auf jüdischer Seite Morija, Myrrhenberg und der Tempelberg als späterer Ort der Anbetung und des Opferkults miteinander in Verbindung gebracht wurden.Ⱥ222 b. „Mit Jsaac kommst du gebunden“ (B. Schmolck) Die frühneuzeitliche Praxis der wiederkehrenden Verknüpfung bestimmter Schriftzitate und -anspielungen, die in gleicher Weise den theologischen Auslegungshorizont abstecken und den Sinn des in Rede stehenden Textes konturieren wie die sprachliche Substanz der poetischen oder homiletischen Realisierung bereitstellen,Ⱥ22ř sei an dem fol-
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im Zentrum, so hat sich das Interesse an Gen 22 seit den Tagen der makkabäischen Märtyrer deutlich auf das Verhalten Isaaks und das Geschehen um ihn verlagert“. Midrasch Schir HaSchirim Rabba 4,6; zit. bei Bюѐј, ebd., 184. Vgl. Jќѕюћћ Gђџѕюџё, Postilla Salomonaea, 2 Teile, Jena 16ř1; zit. bei Bюѐј, ebd. Sie hat es bis in Buchtitel geschafft; vgl. Mіѐѕюђљ ѣќћ LюћѐјіѠѐѕ, Davidische Paßions=Myrrhen/ Das ist/ Einfältige/ nützliche/ und hochtröstliche Auslegung Des Zwey und zwanzigsten Psalmen Davids/ Jn welchen unsers Heylandes Christi bitteres Leiden, samt dessen grossen Nutz enthalten […], hg. v. Gќѡѡѓџіђё CѕџіѠѡіюћ ѣќћ LюћѐјіѠѐѕ, Leipzig 1675 (HAB Wolfenbüttel QuN 210); vgl. auch Mk 15,2ř. Vgl. hierzu die Beiträge von J. A. Steiger (226f.) und Reiser (47ř). Auf diese Verknüpfung von Schriftstellen zu festen sinntragenden Zitatkatenen oder -komplexen, die sich im Lauf der Auslegungsgeschichte zusammengefügt haben und das überkommene Verständnis eines Topos oder einer Perikope spiegeln, ist von historisch-theologischer Seite her der Philologe aufmerksam zu machen, der biblisches Sprachmaterial in Kantatentexten summarisch als ‚theologische Traditionsbruchstücke‘ bezeichnen möchte; so wiederholt Hans-Joachim Schulze, eine Formulierung von Reinhart Strohm aufgreifend, zuletzt in HюћѠ-Jќюѐѕіњ SѐѕѢљѧђ, Besprechung von Mюџѡіћ Pђѡѧќљёѡ, Bach-Kommentar. Theologisch-musikwissenschaftliche
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genden Gedicht von Benjamin Schmolck noch einmal in die Augen fallend illustriert:Ⱥ224 1. GEbundner JEsu deine Bande, Legst du um meinet willen an, Auf daß ich sie zu einem Pfande Erlangter Freyheit brauchen kan, Jch sehe dich gebunden stehn, Und mich in Liebes=Seilen gehn, 2. Jch lag in lauter Todes=Stricken, Der Höllen=Bande drückten mich, Mich wolte Satans Netz berücken, So nimmst du meine Schuld auf dich, Und lässt dich binden, daß ich frey, Von aller meiner Sclaverey. Mit Jsaac kommst du gebunden, Und legst dich auf dem Creutz=Altar, Kein Lamm ward so gedultig funden Wenn es dem Opffer nahe war.
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Jes 61,1; Röm 6,18; 8,2.21 Hos 11,4 Ps 18,6; 116,ř vgl. Ps 116,ř vgl. Ps 25,5; 2Tim 2,26 vgl. Joh 8,ř4.ř6 Gen 22,9 Jes 5ř,7; vgl. Joh 1,29f.
Kommentierung der geistlichen Vokalwerke Johann Sebastian Bachs. Musikwissenschaftliche Beratung: Dќћ O. Fџюћјљіћ, Bd. 1: Die geistlichen Kantaten des 1. bis 27. TrinitatisSonntages (Schriftenreihe der Internationalen Bachakademie Stuttgart 14Ȧ1), Kassel u. a. 2004, in: BJ 90 (2004), 245–249, hier 246, wo Schulze den Sinn der überbordenden Bibelstellennachweise hinterfragt, die Petzoldt Bachs Texten angedeihen läßt und die in der dargebotenen Fülle weniger den bewußten Rückgriff des Dichters auf traditionelle theologische Kontexte aufzuzeigen geeignet sind als daß sie die in der Forschung schon länger bekannte Tatsache veranschaulichen, daß die deutschsprachige Dichtung der frühen Neuzeit in hohem Maß aus der Sprache der Luther-Bibel schöpft (vgl. Wюљѡѕђџ KіљљѦ, „Über Bachs Kantatentexte“, in: MuK 52 [1982], 271–281, hier 272f.). Die nachgewiesene Herkunft eines Lexems aus der Bibel trägt nicht eo ipso zum Verständnis des Kontextes bei, in dem es seine poetische Verwendung findet; vielmehr sind zu unterscheiden biblische Herkunft large und stricte dictum. Im weiteren Sinne verstanden biblische Substanz kann mit dem literarkritischen Terminus als „theologisches Traditionsbruchstück“ klassifiziert werden – und dieses Faktum ist u. U. ohne Relevanz für den Textsinn. In der engeren Bedeutung, und das heißt: vom Dichter nachweislich aus der Auslegungsgeschichte geschöpfte, bewußt beigebrachte Zitate und Zitatkomplexe (die Auslegung leitende Zitate) sind dagegen in ihrem Charakter als Traditionszitate wahrzunehmen und können dem heutigen Interpreten – hinreichende auslegungsgeschichtliche Erfahrung vorausgesetzt – ein historisch gegründetes und abgesichertes Textverständnis vermitteln. 224 Bђћїюњіћ Sѐѕњќљѐј, GOTT=geheiligte Paßions=Andachten/ aus Dessen sämmtlichen Geistlich=Poetischen Wercken zusammen getragen/ und durch gegenwärtigen Auszug an das Licht gestellet, HamburgȦLeipzig 17řř (HAB Wolfenbüttel Tl 255), XXVII. Die geistliche Wallfahrth zum Creutze Christi, 4. Die Aufopfferung der Freyheit, 129f.
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Du trittst in deinen Banden her, Als wenn es Schmuck zur Hochzeit wär. O laß mich auch die Banden schliessen, Damit ich dein Gefangner sey […].
In der konzentrierten Form des Gedichts erkennen wir die in Exegese und Predigt der Zeit geläufigen, miteinander ‚vernetzten‘ Topoi der Meditation der Gefangennahme (Bindung) Jesu wieder, die ich oben in ihrer breiteren homiletischen Durchführung vorgestellt habe. Die theologische Denkfigur, die die Poesie rhetorisch durchgehend strukturiert, ist das Paradox ‚Jesu Bande – meine Freiheit‘. Dieses Paradox spielt auf mehreren Ebenen, sofern Jesu Bande auf der Ebene der passio meritoria oder des tröstlichen ‚Nutzes‘ der PassionȺ225 mich aus „Todes=Stricken“, „Höllen=Banden“ und „Satans Netz“ befreit haben, auf der Ebene der passio monitoria, des neuen Wandels nach „erlangter Freiheit“Ⱥ226 die Seele „in Liebes=Seilen gehn“ (Str. 1) und sich freiwillig binden und in Jesu ‚Gefangenschaft‘ (Str. 4) begebenȺ227 läßt, was eine poetische Einkleidung oder „Durchführung“ des Paradoxes in der Sprache der Brautmystik ist. Dies wird bestätigt durch die Bezeichnung der Bande als „Schmuck zur Hochzeit“ (Str. ř), was einen zentralen Topos der Hoheliedauslegung und Passionsmeditation aufgreift.Ⱥ228 Und wie schon an der Kantate von Salomon Franck gezeigt, hat auch hier jedes Stichwort, jede biblische Anspielung, ihren Auslegungskontext bei sich, der sich im ‚geübten‘Ⱥ229 Leser (und hierauf zielte alle in der Lateinschule vermittelte eruditio!) 225 Zur dreifach unterschiedenen ‚Anwendung‘ der Passion als passio satisfactoria, passio meritoria und passio monitoria bei August Pfeiffer s. o. bei Anm. 151. Olearius fügt in der Biblischen Erklärung jedem Kapitel einen kurzen Abschnitt an, überschrieben „Die erbauliche Anführung deß Haupt=Nutzes“, diesen nach drei Aspekten geordnet: I. Die Haupt=Lehre – II. Der Haupt=Trost – III. Die Haupt=Ermahnung; vgl. OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, zu Joh 19, 792. 226 Dies ist die Freiheit ‚von dem Gesetz der Sünde und des Todes‘ (Röm 8,2), die auf der Freiheit vom Gericht oder vom zweiten Tod (Apk 20,14) gründet; vgl. CѕџіѠѡіюћ KђѦњюћћ, „Meinen Jesum laß ich nicht“ (1658), Str. 5: „[…] Jesum wünsch ich und sein Licht,Ȧ der mich hat mit Gott versöhnet;Ȧ der mich freiet vom Gericht […]“; s. auch u. Anm. 2ř9. 227 Zu diesem Topos vgl. das Emblem „Nullus liber erit si quis amare volet“ über das ‚süße Joch‘ bei Hermann Hugo, o. bei Anm. 162. 228 Besonders der zugrundeliegende Vers Hld ř,11 gehörte zum Fundus der Traditionszitate, deren sich Passionspredigt und -dichtung bediente, was sich z. B. an der 1750 durch Johann Friedrich Fasch in Zerbst aufgeführten anonymen Markus-Passion zeigt, in der dieser Vers den Eingangschor bildet: Die betrübte und getröstete Geistliche Sulamith Welche Bey musikalischer Aufführung Der heiligen Geschichte Des Leidens und Sterbens Des Heilandes der Welt […] Jn der Hochfürstlichen Schloßkirche Zu Zerbst Jm Jahre 1750. Andächtig vorgestellet wurde. 229 S. o. bei Anm. 66.
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aktivierte und entfaltete. Das Wort, in dem sich die reichste Bedeutungsfülle versammelt, ist das Kompositum „Creutz=Altar“ (Str. ř), ein geläufiges Bildwort in der Passionspredigt, mit dem die Themen Opferung, sühnende und reinigende Wirkung des ‚Blutes des Bundes‘ (Ex 24,8; Mt 26,28), Stiftung der Sakramente (Joh 19,ř4), auch der Unterschied von vorausweisendem ‚Vorbild‘ in Isaak und Erfüllung in Christus angesprochen sind, und andere mehr, die ich in dieser Studie in einer Explikation auf dem zeitüblichen Wege der Konkordanzmethode ausgebreitet habe. Schließlich erweist sich die Multivalenz und die allgemeine Geläufigkeit der Bilder wie auch die in ihnen geschehende Verknüpfung biblischer mit allgemein antiker Tradition, wenn es am Ende heißt: 7. Zeuch mich zuletzt an diesen Seilen Gar aus den Labyrinth der Welt, So werd ich aus den Kercker eilen, Der mich bißher gefangen hält, Als ein Erlöster mich erfreun, Und Freyheit meine Losung seyn.
Hld 1,4
vgl. Jes ř5,10; Hos 1ř,14 vgl. Jes 61,1; Röm 8,21
Das „Trahe me post te“, heraus aus der Welt und ‚Himmel=an‘, Jesu Ziehen in die Nachfolge wird „zuletzt“, d. h. im Sterben, aus dem Labyrinth der Welt und aus dem Gefängnis des irdischen Leibes hinausführen in die Freiheit des ‚erlösten‘, ewigen Lebens. Das Motiv des ‚Ariadnefadens‘, übertragen auf Jesus und die liebende Seele, begegnete uns schon auf einem Kupfer zu den Pia desideria des Hermann Hugo. Hier findet sich auch ein Bild, das das antike sîma-sÁma-Motiv mit einem Psalmvers kombiniert: „Führe meine Seele aus dem KerckerȦ daß ich lobe deinen Nahmen. Psalm 141Ȧ8“ (Vulg. = Luther Ps 142). Es zeigt die Anima in ein Vogelbauer gesperrt, an dessen Tür der kleine Jesus-Freund sich zu schaffen macht, um sie zu befreien. Das Bild ist in der Ars moriendi breit rezipiert, oft in Verbindung mit Phil 1,2ř („Ich habe Lust abzuscheiden …“) und Röm 7,24 („wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“). Die letzten beiden Zeilen der Schlußstrophe versammeln in den Stichworten „ein Erlöster“ und „Freyheit“ noch einmal ‚Frucht‘ und Verheißung von Jesu Gebundensein im Licht von Mt 16,19 (die remissio peccatorum im Bild von binden und lösen) und Hos 1ř,14 bzw. Jes 61,1, dem Evangelium von der Zukunft des Messias, der gesandt ist „zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, daß ihnen geöffnet werde“.Ⱥ2ř0 2ř0 Zum Motiv ‚der Geliebte zieht die Braut aus dem Labyrinth‘ vgl. Hђџњюћћ HѢєќ, Pia desideria, Ausg. Regensburg und Augsburg 1719, II, 17 (s. o. Anm. 141); ‚die Anima im Vogelbauer‘ s. ebd., II, 40. – Ein Gedicht wie dieses gibt – unter frömmigkeitsund bildungsgeschichtlichem Aspekt betrachtet – einen Eindruck von dem hohen
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Das Gedicht von Schmolck ist überschrieben „Die Aufopfferung der Freyheit“. Nachdem die vorhergehende Betrachtung von Jesu Gebet in Gethsemane nach Lukas (Nr. ř) betitelt ist „Die Aufopfferung des blutigen Schweisses“, wird deutlich, daß der Dichter Jesu Leiden im Sinne des oben zitierten Aphorismus von Johann Gerhard „Christi passio est fortissima actio“Ⱥ2ř1 als freiwilliges, bejahtes und aktiv dargebrachtes Opfer (Aufopfern) versteht. Da es bei der ‚Aufopferung der Freiheit‘ um das zustimmende Annehmen der Bande oder Bindung geht, könnte man hier vielleicht auch ein Anknüpfen an das jüdische Verständnis der Akedah Jishaq vermuten, die Isaaks Bindung – auch ohne den Vollzug der blutigen Opferung – als von Isaak selbst dargebrachtes vollgültiges und darum sühnewirksames Opfer ansieht.Ⱥ2ř2 c. Das Thema ‚Jesu Gefängnis – unsre Freiheit‘ im Aufbau der Johannes-Passion von J. S. Bach In Passionslibretti wird bei der Gefangennahme Jesu auf die Isaak-Christus-Typologie, soweit ich sehe, explizit kein Bezug genommen, wenngleich die soteriologische Bedeutung des ‚Bindens‘ in den frei gedichteten Sätzen häufig betrachtet und mit den bekannten biblischen Metaphern beschrieben wird. So hat der unbekannte Librettist der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach die Meditation von Jesu ‚Gefängnis‘Ⱥ2řř zum zentralen und die Architektur der Großform bestimmenden Thema gewählt.Ⱥ2ř4 Als Mittelachse des Werkes disponierte er folgende Arie
2ř1 2ř2
2řř
2ř4
Niveau lutherischer Meditationsübung in der frühen Neuzeit. Weiterführend vgl. Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit, hg. v. Gђџѕюџё KѢџѧ (Formen der Erinnerung 2), Göttingen 2000. S. o. Anm. 52 und bei Anm. 98. Die Differenz zwischen dem jüdischen und dem christlichen Verständnis von Gen 22 liegt, um es noch einmal zu sagen, darin, daß nach letzterem Isaaks Bindung und Opferbereitschaft lediglich als Typus und Vorabbild vorausweist auf das einzige, erst mit Christi Kreuz vollgültig vollzogene Opfer des Sohnes Gottes; vgl. OљђюџіѢѠ, Heylsame Betrachtung (Anm. 1), 2. Buch, 2. Titul, 276, innerhalb einer Aufzählung von Vorabbildungen: Es weise uns „.IX. Jsaacs AuffopfferungȦ 1. B. Mos. 22. auff Christi vollgültiges Blutvergiessen und einiges Versöhnopffer am CreutzȦ Matth. 27. des unschuldigen Lämmleins und eingebohrnen Sohns seines Himmlischen Vaters. Johan. 1.“ ‚Gefängnis‘ zeitüblich mit stark verbalem Einschlag als ‚die Gefängnis‘ ( = Gefangennahme) verstanden, andererseits auch als „das Gefängnis“, Ort der Inkarzerierung nach erfolgter Gefangennahme (so in BWV 245Ȧ22). Zum Sprachgebrauch ‚die Gefängnis‘ als Bezeichnung der in Joh 18 berichteten Gefangennahme Jesu vgl. OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, 78řa. Texte im Anhang, 4a; zur These vgl. Rђћюѡђ Sѡђієђџ in: L. SѡђієђџȦR. Sѡђієђџ (Anm. 76), ř1–ř6; ёіђѠ., „Die Johannes-Passion von J. S. Bach in den Gottesdiensten
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von Christian Friedrich Postel (in Bachs Komposition als Choral 22 der Melodie von „Machs mit mir, Gott, nach deiner Güt“ von Johann Heinrich Schein unterlegt):Ⱥ2ř5 Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, Muß uns die Freiheit kommen; Dein Kerker ist der Gnadenthron, vgl. Röm ř,25 Die Freistatt aller Frommen; Ex 25,21f.; Num ř5,6 Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein, Müßt unsre Knechtschaft ewig sein.
Mit diesem Satz sind zwei Arienpaare thematisch verknüpft; sie rahmen die Mittelachse des Werkes als Exposition und Resümee. Die formale Korrespondenz der beiden Satzgruppen ergibt sich daraus, daß die Arien jeweils durch ein ganz kurzes Evangelisten-Rezitativ verbunden sind. Der erste Text lautet (in Bachs Komposition Nr. 7–9): 7. Arie A. Von den Stricken meiner Sünden Mich zu entbinden, Wird mein Heil gebunden. Mich von allen Lasterbeulen Völlig zu heilen, Läßt er sich verwunden. 8. Rezitativ T. Simon Petrus aber folgete Jesu nach und ein ander Jünger.
der Passionszeit. Eine theologisch-musikalische Handreichung für Pfarrer und Kirchenmusiker“, in: Württembergische Blätter für Kirchenmusik 70 (2Ȧ200ř), 2–11, hier 5. – Das Libretto für Bachs erstes Großwerk, das am ersten Karfreitag seiner Leipziger Amtszeit zur ersten Aufführung kam (und von Bach im Laufe seines Lebens mehrfach umgearbeitet wurde), ist in seinen freigedichteten Bestandteilen eine Kompilation aus mehreren Passionsdichtungen verschiedener Provenienz, wobei die Mehrzahl, acht von dreizehn Sätzen, auf das im Jahr 1712 erstmals erschienene, kurz darauf erweiterte und bei den zeitgenössischen Komponisten als modernstes Werk seiner Art sehr beliebte Oratorium nach der Bugenhagenschen Passionsharmonie von Barthold Heinrich Brockes (Anm. 2ř5) zurückgehen, weitere Vorbilder sich bei Christian Weise und Christian Heinrich Postel fanden und wenige Stükke offenbar Originalschöpfungen sind. Zur Textzusammenstellung der 1. Fassung (1724) vgl. Aљѓџђё Dҿџџ, Die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach. Entstehung, Überlieferung, Werkeinführung, MünchenȦKassel 1988, 46–6ř, der sich aber zu Aufbau und thematischen Korrespondenzen des Librettos nicht äußert, sondern Probleme der Großform nur bezüglich der Komposition diskutiert (111–125). 2ř5 CѕџіѠѡіюћ Hђіћџіѐѕ PќѠѡђљ, Johannes-Passion, überliefert bei CѕџіѠѡіюћ Fџіђёџіѐѕ HѢћќљё (Menantes) im Anhang zu seiner eigenen Passion „Der Blutige Und Sterbende JEsus. ORATORIUM“, in: Theatralische/ Galante Und Geistliche Gedichte, Hamburg 1706 (HAB Wolfenbüttel P 1676 ii Helmst. 8°), ř4f.
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9. Arie S. Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten Und lasse dich nicht, Mein Leben, mein Licht. Befördre den Lauf Und höre nicht auf, Selbst an mir zu ziehen, zu schieben, zu bitten.
Die erste Arie, „Von den Stricken meiner Sünden“, ist (mit leichter Textänderung) der Brockes-Passion entnommen.Ⱥ2ř6 Sie bildet hier, vom „Chor Gläubiger Seelen“ vorgetragen und erweitert um eine zweite Strophe, den Eingangssatz, die „Überschrift“ des Werks.Ⱥ2ř7 Bachs Text,2ř8 der dem Ganzen einen offenbar neugedichteten, in die johanneische Dialektik der Verherrlichung des Gottessohns in der Niedrigkeit und seines Erhöhtwerdens ans Kreuz (Joh 8,28; 12,ř2) einführenden Eingangssatz voranstellt, gewichtet das bei ihm in der ersten Arie angeschlagene Thema ‚binden – entbinden‘, indem er sogleich – der Fortgang des biblischen Berichts erlaubt den Stichwortanschluß – eine Arie zum Thema ‚Nachfolge‘ anfügt, d. i. die ethische Anwendung auf das ‚neue Leben‘ des Christen nach erfolgter remissio peccatorum. Der Satz ist eine Neudichtung, der johanneisches Sprachmaterial verwendet, wobei die Anspielung auf Joh 6,44, die uns oben bei der Frage nach dem Verhältnis von freiem Willen und Glauben begegnete,Ⱥ2ř9 den wichtigsten hier einschlägigen Kontext aufruft. Die korrespondierende Satzgruppe gegen Ende des Werkes (in Bachs Komposition die Sätze ř0–ř2) übernimmt von Brockes die Aria nach Jesu 2ř6 Bюџѡѕќљё Hђіћџіѐѕ BџќѐјђѠ, Der Für die Sünde der Welt/ Gemarterte und Sterbende JESUS Aus Den IV. Evangelisten […] Jn gebundener Rede vorgestellt, Hamburg 1712 (Staatsund Universitätsbibliothek Hamburg MS ř69Ȧř); die dem Libretto der Bachschen Johannes-Passion zugrundeliegende erweiterte Fassung ist greifbar im Textbuch der 1716 von Georg Philipp Telemann in Frankfurt a. M. zu Gehör gebrachten eigenen Komposition des Textes, Faksimile, hg. und mit einem Nachwort v. CюџѠѡђћ Lюћєђ, Magdeburg 1990. 2ř7 Die zweite Strophe lautet (nach dem Textdruck 1716): „Es mußȦ meiner Sünden Flekken Zu bedeckenȦ Eignes Blut Jhn färben; JaȦ es wilȦ ein Ewig Leben Mir zu gebenȦ Selbst das Leben sterben.“ – Die erste Strophe (bei Bach Arie 7) zeigt die traditionelle Kombination des Motivs der Bande aus Gen 22 mit den heilbringenden Wunden von Jes 5ř, hierzu vgl. auch das Passionslied von Aёюњ TѕђяђѠіѢѠ, „Du großer Schmerzensmann, vom Vater sehr geschlagen“, Str. 4: „Dein Kampf ist unser Sieg,Ȧ dein Tod ist unser Leben;Ȧ in deinen Banden istȦ die Freiheit uns gegeben.Ȧ Dein Kreuz ist unser Trost,Ȧ die Wunden unser Heil; dein Blut das Lösegeld,Ȧ der armen Seelen Teil.“ 2ř8 – es muß offenbleiben, ob er ihn selbst zusammengestellt oder in Absprache mit einem Textdichter gestaltet hat; in jedem Fall geht die Auswahl der eingefügten Kirchenliedstrophen auf Bach selbst zurück. 2ř9 S. o. S. 585–590.
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Verscheiden, die an das Zitat von Jes 5ř,5 im Eingangssatz anknüpfend nach der nunmehr erlangten ‚Frucht der Passion‘ fragt: „SJnd meiner Seelen tieffe Wunden Durch Deine Wunden nun verbunden?“ Bachs Text zeigt eine bedeutsame Änderung, indem hier die thematische Korrespondenz zur Exposition nicht am Stichwort des Jesaja-Zitats festgemacht wird („verwunden“), sondern in Entsprechung zum Stichwort „gebunden“ (Arie 7) das Resümee (Arie ř2) sich auf die durch Christi Sterben erworbene Freiheit der Gläubigen vom (ewigen) TodȺ240 bezieht: Mein teurer Heiland, laß dich fragen; Da du nunmehr ans Kreuz geschlagen Und selbst gesagt: Es ist vollbracht, Bin ich vom Sterben frei gemacht?
Hiermit ist ganz deutlich auf die Stichworte der beiden früheren Gerüstsätze „entbinden“ (Arie 7) und „Freiheit“ bzw. „Freistatt“ (Choral 22) Bezug genommen. Wenig später folgt diese theologisch präzisierende Änderung: Aus „Jst aller Welt Erlösung nah?“ (Brockes) wird „Ist aller Welt Erlösung da?“, womit das vorhergehende „Consummatum est“ Jesu ernstgenommen ist.Ⱥ241 Daß thematische und formale Disposition des Librettos ineinandergreifen und dieses mit großer Umsicht ausgearbeitet wurde, zeigt sich auch bei dieser Satzgruppe daran, daß man das Formmodell ‚zwei kurz aufeinanderfolgende Arien‘ mit einer Neudichtung komplettierte, Jesu letztes Wort fortspinnend: „Es ist vollbracht!“ Die entsprechende Arie 240 S. o. bei Anm. 226; vgl. Hђђџњюћћ, Mons oliveti (Anm. 104), 4. Predigt, 45f.: „Wofür woltest du zittern? Ohne Furcht und Beben kanstu nicht gedencken an den ewigen TodȦ welcher ist die Verdamniß. Da die Verdampten immer in Todes=Angst liegenȦ allezeit sterbenȦ und keinmal ersterben. ‹Apoc. 2, 11. 20, 6Ȍ JaȦ auch der natürliche TodȦ wann sich Leib und Seele trennenȦ ist dem Menschen bitter. ‹Sir. 41, v. 1.Ȍ Aber auch für dem Tode soltu nicht erzittern. Dann der zeitliche Tod ist in einen lieblichen Schlaff verwandelt. ‹Joh. 11, 11.Ȍ Von dem andern als dem schwerestenȦ da die Verdammten mit Leib und Seele in dem feurigen PfuelȦ von dem ewigen Leben ewig geschieden seynȦ sind wir befreyt.“ 241 Ferner ist in der Frage nach der ‚Erlösung‘ das Wortpaar ‚binden – lösen‘ präsent, wozu noch aus der von Bach zeilenweise eingeschossenen Choralstrophe das Stichwort „(der mich) versühnt“ zu nehmen ist. Daß die Befreiung und ‚Entbindung‘ (hierzu s. Johann Gerhard o. bei Anm. 2ř) „von den Stricken meiner Sünden“ in der remissio peccatorum geschieht, ist in der formbestimmenden Mittelachse „Durch dein Gefängnis […]“ in dem Wort „Gnadenthron“ enthalten (d. i. der Gnadenstuhl von Röm ř,25), das bekräftigend noch einmal erklingt in dem von Bach als Schlußchoral der Passion angefügten eschatologischen Ausblick auf mein Wiedererweckt-Werden von Jesus am Jüngsten Tag (Choral 40) „Ach Herr, laß dein lieb Engelein“, wo Jesus angeredet wird als „mein Heiland und Genadenthron“. Zum Terminus vgl. R. Sѡђієђџ, Gnadengegenwart (Anm. 78), IVȦ9 „Fallt mit Dancken, fallt mit LobenȦ Vor des Höchsten Gnaden=Thron“. Zum IV. Teil des Weihnachts-Oratoriums BWV 248, 177–185.
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der Hauptvorlage (Brockes) hätte thematisch einen neuen Gedanken eingebracht, hier dagegen war offensichtlich thematische Konzentration auf das genannte Thema erwünscht. Meine These, daß das Thema von binden und lösen, ‚Jesu Gefängnis – unsre Freiheit‘ für Bachs Johannes-Passion von strukturbildender Bedeutung ist, unterstützt von theologischer Seite zwei Beobachtungen zur Komposition, die Friedrich Smend in seiner Untersuchung zum Aufbau der Johannes-Passion im Bach-Jahrbuch 1926Ⱥ242 vorgetragen hat. Smend machte hier auf die motivische Verknüpfung der beiden Arien „Von den Stricken“ (Nr. 7) im ersten Teil und „Es ist vollbracht !“ (Nr. ř0) gegen Ende des zweiten aufmerksam, die Bach durch Wiederaufnahme der markanten rhythmisch-melodischen Figur herstellt, die den Vokaleinsatz der ersten Arie bildet und sowohl im Einsatz der obligaten Gambe wie der Vokalstimme auf die Worte „Es ist vollbracht“ wieder erscheint und vom Ohr deutlich als Parallele wahrgenommen wird.Ⱥ24ř Smend stellt zu dieser Beobachtung keine den Inhalt der beiden Sätze betreffende Reflexion an, sondern ordnet sie seiner Hauptentdeckung zu, die in der Beobachtung bestand, daß der Choral „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ durch die mehrfache Rahmung durch paarweise korrespondierende, weil gleich oder sehr ähnlich vertonte, Turba-ChöreȺ244 eine herausragende Akzentuierung als Symmetrieachse im „Herzstück der Passion“ erfahren hat, um das er weitere rahmende Teile angeordnet sah, u. a. die zuvor genannte Entsprechung der beiden Arien, zu der Smend auch die „Gleichartigkeit im Bau der Abschnitte“ („beide Male Arie, ganz kurzes Rezitativ, Arie“) zählt.Ⱥ245 Die Diskussion innerhalb der Musikwissenschaft, wieweit im Aufriß der Johannes-Passion tatsächlich eine beabsichtigte Symmetrie angenommen werden darf – über die fraglos formstabilisierende Wirkung der einander korrespondierenden Turbachöre hinaus –, hat Smends Entdeckung zerredet. Alfred Dürr etwa stellt in Verkennung von Wesen und Struktur der Passionsbetrachtung die Sinnhaftigkeit einer symmetrischen Anlage grundsätzlich in Abrede, da die Oratorische Passion als Gattung der Historienkomposition mit dem biblischen Bericht ‚zielstrebig auf die Kreuzigung zulaufen‘ müsse 242 Fџіђёџіѐѕ Sњђћё, „Die Johannes-Passion von Bach. Auf ihren Bau untersucht“, in: BJ 2ř (1926); wiederabgedruckt in: DђџѠ., Bach-Studien. Gesammelte Reden und Aufsätze, hg. v. CѕџіѠѡќѝѕ Wќљѓѓ, Kassel 1969, 11–2ř. 24ř Ebd., 16f. 244 Das sind die Worte von Personengruppen im biblischen Bericht, direkte Reden der Jünger, der Juden, der Soldaten, die traditionell vom Chor wiedergegeben werden. Diese sind in der Passion nach Johannes sehr zahlreich. Schon Philipp Spitta war die Ähnlichkeit vieler Turbae in Bachs Johannes-Passion aufgefallen. 245 Vgl. die Aufrisse bei Sњђћё (Anm. 242), 22f.
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und keine „wirkliche Umformung“ und andere Gewichtung zulasse.Ⱥ246 Bach hat jedoch mit der unbestreitbaren Rahmung des ungewöhnlichen Satzes „Durch dein Gefängnis“Ⱥ247 diesen hörbar musikalisch ausgezeichnet und man darf annehmen, daß er wußte, warum! Friedrich Smends gültiger Fund, die Entdeckung des „Herzstücks“ der Passion bestätigt sich weiter, wenn man die Anordnung aller frei gedichteten Sätze betrachtet.Ⱥ248 Um „Durch dein Gefängnis“ als Mittelachse sind auf beiden Seiten vier paarweise einander formal entsprechende Sätze oder Satzgruppen geordnet. Dem neugedichteten Einleitungschor „Herr, unser Herrscher“ entspricht formal am Schluß der (nur in Einzelheiten von Brockes inspirierte) Grablegungschor „Ruht wohl“ (Nr. ř9). Die korrespondierenden Sätze 7–9 und ř0–ř2 zum Thema Gefängnis – Freiheit wurden schon vorgestellt; die Arienpaare sind so strukturiert, daß die jeweils erste Lehre enthält (‚Was ist heilswirksam geschehen?‘), während die zweite Arie der Applicatio Ausdruck gibt, Nr. 9 von der Nachfolge ins Leiden, Nr. ř2 von der Nachfolge ins (ewige) Leben spricht. Der folgenden allein stehenden Arie des weinenden Petrus „Ach, mein Sinn“ (Nr. 1ř) entspricht im zweiten Teil die ebenfalls allein stehende Arie „Eilt“ (Nr. 24). Gegenstand ist das Erschrecken des Gewissens vor der eigenen Sünde (die erste Stufe der Erkenntnis in Luthers Sermon von der Betrachtung), hier konzentriert in der angstvollen Frage „Wo willt du endlich hin,Ȧ Wo soll ich mich erquicken?“; in der korrespondierenden Arie nach der Mittelachse, „Eilt, ihr angefochtnen Seelen“ wird dem „Wohin?“ die Antwort zuteil: „Eilt“, „flieht“ aus den „Marterhöhlen“ der Anfechtung und Sündenangst „zum Kreuzeshügel“, „nach Golgatha“. An den zwei theologisch bedeutsamsten Stationen dieser Passion, angesichts der Geißelung (Reflexion der Heilswirksamkeit des vergossenen BlutesȺ249) und bei Jesu Tod, sind als meditative Höhepunkte zwei Arioso-Arie-Paare vorgesehen, poetisch gestaltet als Selbstaufforderung der Seele bzw. des Herzens: Nr. 19Ȧ20 „Betrachte, meine Seel“ und „Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken“ und Nr. ř4Ȧř5 „Mein Herz, indem die ganze Welt bei Jesu Leiden gleichfalls leidet“ und „Zerfließe, mein Herze, in Fluten der Zähren“.Ⱥ250 Während das erste Satzpaar der (er246 Dҿџџ, Johannes-Passion (Anm. 2řř), 112. 247 – ungewöhnlich, weil ein „moderner“, als Ergänzung zur Hauptvorlage Brockes’ eigens ausgesuchter Arientext auf eine überkommene Choralweise gesungen wird; auffallend sind ferner Tonart und tiefe Lage des Satzes. 248 S. das Schema im Anhang, 4b. 249 S. o. S. 571ff. 575ff. 250 In der Matthäus-Passion entsprechen die theologisch bedeutsamsten Stationen im ersten und zweiten Teil, Gethsemane und Golgatha, einander auch formal (kompositorisch), indem Bach sie durch dialogische (doppelchörige) Struktur musikalisch
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weiterten) Brockespassion entnommen ist, bot diese als Vorlage für die Beweinung nur ein „Accompagnement“, aus dessen letzten zwei Zeilen Bachs Librettist die Arie „Zerfließe“ schuf. Die beiden korrespondierenden Satzpaare sind also dezidiert als formal korrespondierende Stücke geschaffen worden. Sehr schön verbindet sich hier inhaltlich eine stille, meditative GrundhaltungȺ251 mit einer theologisch auf die umfassende, die Menschenwelt wie die ganze Schöpfung betreffende Bedeutung des Geschehens zielende Metaphorik, indem in Arie 20 Jesu „blutgefärbter Rücken“ dem Regenbogen verglichen wird, den Gott nach der Sintflut als Zeichen seines ewigen Bundes „mit allen lebendigen Seelen“ an den Himmel gesetzt hat (Gen 9,8–17),Ⱥ252 in Arioso ř4 nach Jesu Verscheiden auf die bei Johannes gar nicht erzählte, in der Passionsauslegung der Alten Kirche (und folgend in der frühen bildlichen Darstellung) aber sehr bedeutsame Verfinsterung der Gestirne Bezug genommen wird mit „Die Sonne sich in Trauer kleidet“,Ⱥ25ř was zusammen mit dem Erdbeben, das aus dem Bericht nach Matthäus eingeschoben ist (Rezitativ řř), das Leiden der ‚ganzen Welt‘ beim Tod des Schöpfers [!]Ⱥ254 bezeugt.
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auszeichnet; vgl. Lќѡѕюџ und Rђћюѡђ Sѡђієђџ, Doppelchörigkeit (Anm. 46); zum Aufbau beider Passionen vgl. Rђћюѡђ Sѡђієђџ, „Bachs Passionen. Zwei Einführungen“, in: Theologische Bachforschung heute. Dokumentation und Bibliographie der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung 1976–1996. Mit 15 Textbeiträgen, hg. v. Rђћюѡђ Sѡђієђџ, GlienickeȦBerlin und CambridgeȦMass. 1998, ř0ř–ř19. Bach realisiert diese musikalisch in beiden Satzfolgen mit einer exzeptionellen meditativen Instrumentierung; tonartlich entsprechen die Betrachtungen einander in ihrer Zurücknahme in den „stilleren“ subdominantischen Raum (c- bzw. f-Moll). Brockes greift die Sündflut-Metapher am Ende wieder auf, indem er das Accompagnement der ‚Gläubigen Seele‘ (Vorbild für Nr. ř4Ȧř5 bei Bach) mit der Selbstaufforderung an das Herz schließen läßt: „ErstickeȦ GOtt zu EhrenȦ Jn einer Sündfluht bittrer Zähren.“ Bachs Text hat hier nur „in Fluten der Zähren“. Die theologische Korrespondenz von Geißelung und Tod Jesu verstärkt Bachs Librettist seinerseits, indem er die Metapher vom ‚den Himmel aufschließen‘ zweimal aufscheinen läßt: Er ersetzt in Rezitativ 19 die Rosen, die nach der geläufigen und auch von Brokkes bemühten Topik auf Dornen blühen, durch „Himmelsschlüsselblumen“, ein in der Passionspredigt zur Geißelung tradiertes, Hieronymus zugeschriebenes Wort von Jesu Blut als ‚clavis paradisi‘ aufgreifend, das im Grablegungschor wieder erscheint in der Wendung des Mittelteils: „Das Grab […] Macht mir den Himmel auf und schließt die Hölle zu.“ Vgl. Hђђџњюћћ, Crux Christi (Anm. 14), ř. Predigt, 75: „Ey Sanguis Christi est Clavis Paradisi, spricht HieronymusȦ Christi vergossene Blutströpfflein sind die rechten Paradis=SchlüsselȦ welche dir die Himmels=Pforte eröffnen.“ Bei Brockes ist es der Mond, der ‚Zeugnis gibt‘, „daß sein Schöpffer fällt“. Vgl. Hђђџњюћћ, ebd., 10. Predigt, ř47f., wo dieser Epiphanias zitiert. Rez. ř4: „[…] Weil sie den Schöpfer sehn erkalten […]“; in vielen Passionen ist an dieser Stelle die 2. Strophe aus Johann Rists Lied „O Traurigkeit, o Herzeleid“ (1641) eingeschoben: „O große Not! Gott selbst liegt tot! […]“.
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Schluß „[…] Holz zum Kreuze selber tragen“: Die ‚Signalwörter‘ der übrigen drei Isaak-Christus-Typologien und die Biblia pauperum als markante Station der Auslegungsgeschichte In den Actus Pontifices bzw. Pilatus wird Jesu Stillschweigen in den Verhören (Mt 26,6ř; 27,12.14; Joh 19,9), Nr. 2 der Vorkommen in der Passionsauslegung, wie zuvor sein Gebundenwerden bei der Gefangennahme als Erfüllung der beiden alttestamentlichen ‚Vorbilder‘ Jes 5ř,7 („ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, […] und seinen Mund nicht auftut“) und Gen 22,9 verstanden, wobei der Topos des ‚geduldigen Isaak‘, der sich von seinem Vater freiwillig zum Schlachtopfer binden läßt, sich ferner mit dem Bild vom ‚geduldigen‘ Lamm verbunden hat, wie es sich aus Jer 11,19 auch in der Beischrift der Biblia pauperum zur Kreuztragung niedergeschlagen hat: „Ego quasi agnus mansuetus, qui portatur ad victimam. Ieremias. Als ein geduldig lamp, das getragen wirt zu dem oppere, byn ich gefurt.“Ⱥ255 In der Lieddichtung begegnet der Topos vom geduldigen Lamm ohne Verknüpfung mit Gen 22, der Geduld Isaaks, z. B. im Agnus Dei deutsch von Nikolaus Decius:Ⱥ256 O Lamm Gottes, unschuldig Am Stamm des Kreuzes geschlachtet, Allzeit erfunden geduldig, Wiewohl du warest verachtet […].
Auch in der Passionspredigt erhält sich die Typologie nicht überall; Heinrich Müller z. B. schließt seine paradoxe Auslegung (mit seinem Stillschweigen büßt Jesus unsere unnützen Reden) ab mit der ethischen ‚Anwendung‘, daß ein Christ nach dem Vorbild seines Herrn Verleumdung und falsche Anklage „mit gedultigem Hertzen“ ertragen und stillschweigen soll.Ⱥ257 So ist die ursprünglich typologische Herkunft der Zusammenordnung von Schweigen und Geduld in der (von Müller abhängigen) Satzfolge der Bachschen Matthäus-Passion „Mein Jesus schweigt zu falschen Lügen stille“ (Rez. ř4) und „Geduld ! Wenn mich falsche Zungen stechen“ (Arie ř5) nicht mehr zu erkennen. 255 Biblia pauperum im Codex Palatinus Latinus 871 (Anm. ř), (Nr. XX. Kreuztragung Christi). 256 NіјќљюѢѠ DђѐіѢѠ, Agnus Dei deutsch (vor 1529); J. S. Bach hat die Strophe dem Eingangschor seiner Matthäus-Passion BWV 244 „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ eingewoben. 257 Mҿљљђџ, Der leidende Jesus (Anm. 55), 5. Predigt, 56; Der Leidende Jesus (Anm. řř), 4. Predigt, 1025; 6. Predigt, 105řf.
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Wie einleitend schon gesagt, hat die Isaak-Christus-Typologie ihren festen Ort im Actus Crux bei der Betrachtung der Stationen „Kreuztragung“ und „Christus am Kreuz“ (Nr. ř und 4 der einleitend genannten Vorkommen). Die beiden ‚Vorbilder‘: Isaak, Holz zur Opferstätte tragend, und Isaak zum Opfer bereit auf dem Altar, gehören zum Grundbestand der Passionsauslegung und fehlen in keinem typologischen Bildprogramm. Dabei sind unter auslegungsgeschichtlichem Aspekt auch hier die ‚Signalwörter‘ interessant, mit denen der typologische Bezug oftmals mehr angedeutet als explizit ausgesprochen wird. Die Biblia pauperum, als Gattung Ende des 14. Jahrhunderts aufgekommen, erweist sich als markante Station in der Auslegungsgeschichte, sofern in ihr die Topoi der patristischen wie der mittelalterlichen Exegese in äußerster Reduktion ‚auf den Begriff gebracht‘ sind, welche Begriffe oder ‚Signalwörter‘, wie ich sie nennen möchte, weil sie einen bestimmten Auslegungszusammenhang signalisieren, ihrerseits auf spätere Ausleger sprachprägend gewirkt haben. So fällt auf, daß bei der Kreuztragung die Analogie von Typos und Antitypos an dem in Gen 22 nicht vorkommenden Stichwort „selber“ (ipse) festgemacht wurde. Isaak trägt „selber“ das Holz; vgl. dazu im Codex Palatinus Latinus:Ⱥ258 LEgitur in Genesi capitulo XXII.°, quod cum Abraham et saac pergerent
simul, et (Abraham) portavit gladium et ignem, et saac vero portavit ligna humeris suis, per que ipse immolari debuit. saac iste, qui ligna portavit, Christum significat, qui lignum crucis, in quo immolari voluit, in suo corpore proprio portavit.
Die deutsche Version endet: „[…] vff syme libe selbes trug zu der martel.“ Dieses „selber“ hat sich in der Passionspredigt erhalten, wie sich breit belegen läßt, und als Stichwort eine solche Signalwirkung entfaltet, daß der typologische Verweis sich in dichterischer Konzentration auf dies eine Wort beschränken kann, wie der Eingangschor zu Bachs MatthäusPassion zeigt, wo es am Ende des Mittelteils heißt: „[…] Sehet ihn aus Lieb und HuldȦ Holz zum Kreuze selber tragen!“Ⱥ259 Als Vorlage für Pi-
258 Biblia pauperum, Cpg 871 (Anm. ř), (Nr. XX. Kreuztragung Christi). 259 Vgl. auch daselbst im Actus Crux Arie 57 „Komm, süßes Kreuz“, die die Nachfolge des Christen ins Leiden zum Thema hat: „[…] Wird mir mein Leiden einst zu schwer,Ȧ So hilfst du mir es selber tragen.“ Die Reduktion der Typologie auf das Signalwort „selber“ findet sich auch anderweitig, vgl. Gќѡѡѓџіђё Bђћїюњіћ Hюћѐјђ, Geistliche und Moralische Gedichte, Schweidnitz ř1724 (HAB Wolfenbüttel Lo 2576), Charfreytags=Cantate, řř9–ř42, hier ř40: „Ach JEsu, ach! Dir wird zu Mehrung deiner PlagenȦ Das schwere Creutze aufgelegt.Ȧ Du sollst das Opffer=Holtz wie Jsaac selber tragen […].“
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canders Dichtung dienten die Passionspredigten von Heinrich Müller, wo wir zur Kreuztragung lesen:Ⱥ260 Hie muß Christus erfüllen das Vorbild JsaacsȦ der das HoltzȦ darauff er solte geschlachtet werdenȦ selbst tragen muste nach dem Berge Moria. Mein HertzȦ so gehet das Lamm GottesȦ und träget der gantzen Welt Sünde [vgl. Joh 1,29].
Neben Gen 22 und Jes 5ř samt Hinweis auf Jesu Gehorsam nach Phil 2,8 werden zur Kreuztragung gern weitere Traditionszitate kombiniert, die das Kreuz in paradoxer Deutung den Augen des Glaubens als ‚Siegeszeichen‘ vorstellen, so der Weihnachtstext Jes 9,5, als scala paradisi nach Gen 28 und als „Holz des Lebens“ (Apk 22,14). Ein Beispiel hierfür sei aus der Heylsamen Betrachtung von Olearius angeführt:Ⱥ261 Betrachtung. Hier gehet das unschuldige Lämmlein Esa. 5ř. der gedultige JsaacȦ 1. B. Mos. 22. Vnd ist seinem Himmlischen Vater gehorsam biß zum Tode am CreutzȦ Philip. 2. Seine Herrschafft ist auff seiner SchulterȦ Es. 9. Die wunderbare Himmels=LeiterȦ 1. B. Mos. 28, das endliche Siegs=zeichen liegt hier auff dem welcher alles trägt durch sein allmächtiges Wort. Hebr. 1. Hier liegen alle unsere SündenȦ Esa. 5ř. ř. B. Mos. 16. 21. und sollen in die Tieffe des Meers geworffen werdenȦ Mich 7. wie Jonas c. 1. Damit der Göttliche Zorn gestilletȦ der Sünden Aussatz gereinigetȦ das Paradis eröffnetȦ 1. Buch Mos. ř. Offenbar. 22 und wir aus der Gruben und Sündenschlamm Zach. 9. 1. B. Mos. ř7. errettet werden mögen.Ⱥ262
Dem Bild „Christus am Kreuz“ (4. Vorkommen) sind in der Biblia pauperum die Verse Gen 22,1ř und Num 21,8f. als Vorbilder zugeordnet: in der Isaaksgeschichte der Augenblick, da Abraham „seine Augen aufhob“ und in der Hecke hinter sich das stellvertretende Opfertier in einer Hecke „hangen“ sah, in der Erzählung von der ehernen Schlange der Augenblick der Rettung, in dem Mose das Volk auf das aufgerichtete Zeichen weist (Abb. 6). An diesem Ensemble läßt sich die Bedeutung der Beischrift sowohl für die bildliche Gestaltung als auch für die Rezeptionsgeschichte der
260 Mҿљљђџ, Der Leidende Jesus (Anm. řř), 8. Predigt, 1079f.; vgl. auch Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), Vorrede, 2ř,2řřf.: (Es seien „herrliche Vorbilder vom Leiden Christi im alten Testament“ anzuschauen, wie) „an der Auffopfferung des JsaacsȦ welcher das Holtz selber trug Genes. 22[,6]“; Hђђџњюћћ, Crux Christi (Anm. 14), 10. Predigt, ř21. 261 OљђюџіѢѠ, Heylsame Betrachtung (Anm. 1), 1. Buch, 4. Actus, 158f. 262 Zu „Siegs=zeichen“ s. Bюѐѕ, Johannes-Passion, Arie ř0: „Der Held aus Juda siegt mit Macht“; zu „das Paradis eröffnet“ s. ebd., Chor ř9: „Macht mir den Himmel auf“. Auf das Verheißungswort Sach 9,11 und dessen Verknüpfung mit der typologisch ausgelegten Erzählung von Gen ř7: Joseph wird von seinen Brüdern in eine Zisterne geworfen, waren wir bereits gestoßen, s. o. 550.
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Typologie besonders prägnant zeigen. Die Biblia pauperum faßt diese Perikope wie folgt zusammen: LEgitur libro Numeri vicesimo primo capitulo, quod cum Dominus vellet
populum, quem serpentes momorderant, de serpentibus liberare, precepit Moysi, ut faceret serpentem eneum et eum in ligno suspenderet, ut quicumque illum inspiceret de serpentibus liberaretur. Serpens enim, qui suspensus et intuitus populum liberabat, Christum in cruce signabat. (Hervorhebung von mir, RSt).Ⱥ26ř
Das stärker ‚bildliche‘ suspendere, aufhängen (anstelle des originalen ponere in der Vulgata) verdeutlicht, wiederum an einem einzigen Wort, die Zusammengehörigkeit der drei Texte: Auch der Widder „hängt“ in der Dornenhecke. So illustrieren die beiden alttestamentlichen Vorbilder des Apostels Paulus Umschreibung des Heilsgeschehens in Gal ř,1ř: „Christus […] hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes, da er ward ein Fluch für uns (denn es steht geschrieben: Verflucht ist jedermann, der am Holz hängt).“ In der lutherischen Passionsbetrachtung der Barockzeit sind beide Typoi der Armenbibel präsent. So lesen wir bei Johann Gerhard:Ⱥ264 Als Abraham seinen Sohn Jsaac Gott dem Hђџџћ zum Brandopffer wolte auffopffernȦ wurde es jhm durch einen Engel gewehretȦ vnnd sahe hinder sichȦ vnd wurde gewahrȦ daß ein Widder in einer Dornhecken hiengeȦ welchen er an stat seines Sohns Jsaac GOtt zum Brandopffer auffopfferte Genes. 22[,1–14]. Christus unser HErr ist das rechte Lämblein vnd SühnbockȺ265 auff welchen Gott alle vnsere Sünde geworffenȦ der lies sich jetzo fangenȦ greiffen vnd bindenȺ266Ȧ daß er zum Opffer sich darstelleteȦ vnnd vnsere Sünde selbst opfferte an seinem Leibe auff dem HoltzȦ 1. Petr. 2[,24].
Und Gerhard fügt als Auslegung des ‚Vorbildes‘ an: „Auff daß die Gleubigen als wahre Kinder Abrahae beym Leben möchten erhalten werden.“ Die Geschichte von der Opferung Isaaks enthält also zwei ChristusTypologien: neben Isaak wird auch der Widder – verdoppelt durch die Nennung des Sühnbocks von Lev 16 – als Figur oder ‚Vorbild‘ Christi ausgelegt.
26ř 264 265 266
Biblia pauperum (Anm. ř), Cpl. 871, (Nr. XXI. Kreuzigung Christi). Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), 2. Actus, 146, 19ř–20ř. Vgl. Lev 16,21f. Der Kontext dieses Abschnitts ist Gefangennahme und Bindung Jesu. Auf das ‚Vorbild‘ des in den Dornen hängenden Widders von Gen 22,1ř verweist Gerhard auch bei der Betrachtung der Dornenkrönung; vgl. ř. Actus, 279, 275–280.
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Abb. 6: Die Biblia pauperum im Codex Palatinus Latinus 871 der Biblioteca Apostolica Vaticana sowie ihre bebilderten Zusätze. Mit einer kodikologischen Beschreibung der Handschrift, Mitteilungen über ihre Geschichte, der Transkription der Texte, sowie Erläuterungen versehen v. Kюџљ AѢєѢѠѡ Wіџѡѕ (Codices e Vaticanis Selecti 51), Zürich 1982, 1řv (XXI. Kreuzigung Christi).
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Auch bei Adam Tribbechovius wird deutlich, daß Typos und Antitypos durch Bild und Begriff des ‚Hangens‘ oder ‚Hängens‘ verbunden sind:Ⱥ267 JtztȦ itzt sehe ichȦ Liebster HeylandȦ daß recht erfülletȦ was Abraham im Fürbilde gesehenȦ nemlichȦ den WidderȦ der mit den Hörnern in der Dorn=Hecke hieng ‹Gen. 22, 1ř.ȌȦ und hernachmals geschlachtet ward. Du bist das Lamb/ das der Welt Sünde trägt ‹Joh 1, 29.ȌȦ hängst itzt gleichfals in DornenȦ und hernachmals gar am Creutz […].
Ein weiteres Motiv verbindet die drei Bilder, das ist der Zeichencharakter des ‚Hängenden‘, der mit den geistlichen Augen geschaut (aspicere, intueri) und kontrafaktisch im Glauben als das Rettende erfaßt und ergriffen werden muß. Dies bringt (abweichend vom bisher zitierten Codex Palatinus, der als Hauptbild die „Kreuzaufrichtung“ zeigt), das einleitend schon zitierte Armenbibel-Blockbuch in der Bibliothek der Erzdiözese Esztergom bildhaft zum Ausdruck, in dem alle drei Bilder vom Gestus des Hindeutens bestimmt sind: Der Engel in der Isaak-Szene deutet auf den Widder, Mose auf die über einem Gabelkreuz hängende Schlange, und unter dem Kreuz Jesu steht mit hochaufgerecktem Arm und Deutefinger der Hauptmann, der das erste Glaubensbekenntnis spricht: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“ (Mt 27,54).Ⱥ268 Auch zu dieser ‚Anwendung‘ des Typos der erhöhten Schlange sei noch eine Predigtpassage mitgeteilt. Johann Heermann stellt der betrachtenden Seele, zum Kreuz aufschauend, dieses vor Augen erstens als Lehrmeisterin (tua informatrix), die lehrt „wie hertzlich lieb dich GOtt habe“.Ⱥ269 Das Kreuz Christi ist zweitens eine Trösterin, weil es alle, die – wie in der Geschichte von der Ehernen Schlange – zu ihm aufschauen, den Blick auf es richten, gerettet werden vom Schlangenbiß der Sünden:Ⱥ270 ‹in marg.: 2. Tua Consolatrix.Ȍ Darnach soll das Creutz Christi seynȦ Tua Consolatrix, deine Trösterin. Schaue an den schmählichen Creutz=TodȦ davon GOtt selber sagt: Ein Gehängter ist verflucht bey GOtt. ‹Deut. 21, 2ř. Gal. ř, 1ř.Ȍ
Dazu habe Augustin ausgeführt: ‹in marg.: Augustin. in Johan.Ȍ Fratres, ut â peccato sanemur, Christum intueamur: qvomodo qvi intuebantur serpentem aeneum in deserto, non peribant morsibus serpentum: qvi intuentur fide Christi mortem, sanantur â morsibus peccatorum: O lieben BrüderȦ damit wir von der Sünde gesund 267 TџіяяђѐѕќѣіѢѠ, Gecreutzigte Liebe (Anm. 26), 11. Betrachtung, 125. 268 Biblia pauperum, Esztergom (Anm. ř), 25; vgl. Hebr 12,2. 269 Hђђџњюћћ, Crux Christi (Anm. 14), 10. Predigt, ř24f., mit Zitat Joh ř,16; s. o. bei Anm. 186–188. 270 Ebd., řř1f.
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werdenȦ so lasset uns Christum anschauen. ‹Num. 21, 9.Ȍ Gleich wie diejenigenȦ welche die Eherne Schlange in der Wüsten ansahenȦ nicht umkahmen durch der Schlangen Biß. ‹Joh. ř, 14. 15.Ȍ Also welche Menschen den Tod CHristi anschauenȦ werden gesund vom Biß der SündenȦ sagt Augustinus. Dann gleich wie Moses in der Wüsten eine Schlange erhöhet hat/ also muß des Menschen Sohn auch erhöhet werden/ auf daß alle/ die an Jhn gläuben/ nicht verlohren werden/ sondern das ewige Leben haben.
Auch in der geistlichen Dichtung wird auf den Typos angespielt und die heilende Wirkung, der ‚Trost‘ des Anschauens, des Daraufschauens, im Stichwort „Bild“ signalisiert, etwa bei Benjamin Schmolck in den Paßions=Andachten:Ⱥ271 […] Man schläget dich ans Creutz auf deine Todten=Bahre, Mein Glaube stellt mir hier die ehrne Schlange für; Gib daß ich dieses Bild in meiner Brust verwahre […].
Denselben Trosttopos zitiert (ohne explizite Bezugnahme auf den Typos) J. S. Bach in der Johannes-Passion mit der nach Jesu Kreuzigung (Joh 19,18–22) eingefügten Choralstrophe (Nr. 26):Ⱥ272 In meines Herzens Grunde Dein Nam und Kreuz allein Funkelt all Zeit und Stunde, Drauf kann ich fröhlich sein. Erschein mir in dem Bilde Zu Trost in meiner Not, Wie du, Herr Christ, so milde Dich hast geblut‘ zu Tod!
Daß es auf das rettende aspicere und intueri des am Kreuz Erhöhten ankomme, wie die Beischrift der Biblia pauperum zu Num 21,8f. festhält, ist hier und andernortsȺ27ř in der Bitte um Jesu Erscheinen „im Bilde“ des Gekreuzigten gesagt. So hat sich als Nebenergebnis meiner auslegungsgeschichtlichen Explikation des Motivs der Bindung des ‚himmlischen Isaak‘ die innovative These ergeben, daß in der Rezeptionsgeschichte der Biblia pauperum nicht nur die Substanz der Typologien und deren bildliche Darstellung wirkmächtig waren, sondern in nicht geringerem Maße auch die zusammenfassend deutenden Beischriften sprachprägend gewesen sind.
271 Sѐѕњќљѐј, Paßions=Andachten (Anm. 224), II. Gebeth durch die heilige Fasten=Zeit, 1ř. 272 VюљђџіѢѠ Hђџяђџєђџ, „Valet will ich dir geben“ (161ř), Str. ř. 27ř Vgl. PюѢљ Gђџѕюџёѡ, „O Haupt voll Blut und Wunden“ (1656), Str. 10: „Erscheine mir zum Schilde,Ȧ zum Trost in meinem TodȦ und laß mich sehn dein BildeȦ in deiner Kreuzesnot […].“
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Ausblick Weitere mit Mt 22,1ř angesprochene Kontexte: Lichtmetaphysik und Affektenlehre Wir sind in dieser Studie der hermeneutischen Kraft des Zitats nachgegangen, indem wir uns der in der frühneuzeitlichen Auslegungskunst angewendeten Konkordanzmethode überlassen haben und der Evidenz ansichtig geworden sind, mit der diese Methode den Betrachter in die theologische Mitte der Schrift hineinführt. Wir haben in Auslegung von Mt 22,1řa „Bindet ihm Hände und Füsse“ das Thema von Bindung und Freiheit im Kontext der BrautmystikȺ274 sich entfalten sehen: eines der großen Themen des christlichen Glaubens, in dessen Kategorien ‚alles‘ enthalten ist und gesagt werden kann, beginnend beim innertrinitarischen Beschluß und ‚Rat Gottes‘ (Apg 4,28) über die biblischen Bilder, in denen Jesu Passion von sich uns vor Augen stellt, nachfolgend zu realisieren in den Kategorien der je eigenen christlichen Existenz, was Sören Kierkegaards Lebensthema warȺ275 und heute, in Vergessenheit geraten, zur Überlebensfrage der säkularisierten westlichen Gesellschaften zu werden droht als Problem der Bindungsunwilligkeit oder -unfähigkeit sich frei wähnender Selbste und Monaden. Es seien als Ausblick auf weitere mögliche „Durchgänge“ durch Schrift und Tradition die beiden anderen Kontexte genannt, die dieser Vers, der die obige Explikation in Gang brachte, mit sich führt und bei Zitierung aufruft: Vers Mt 22,1řb „[…] und werfet ihn in die Finsternis hinaus […]“ spricht den Kontext der Lichtmetaphysik an. Johann Gerhard zitiert ihn bei Betrachtung der Finsternis, die sich bei Jesu Sterben „über das ganze Land“ (Mt 27,45) legte.Ⱥ276 Die Finsternis ist Bild des göttlichen Zorns und der ewigen Verdammnis, „wie im Gegentheil das Liecht göttliches Angesiechts Gnade bedeutet“.Ⱥ277 Das Thema des Lichts, im kulturhistorischen Kontext für uns am deutlichsten präsent in der Idee der gotischen Kathedrale und den ihr zugrundeliegenden Gedanken des Abts Suger von St. Denis (1. Hälfte 12. Jh.),Ⱥ278 ist liturgisch 274 Der Gedankengang führte sprachlich über das Sich-verbinden Gottes mit der menschlichen Natur in der ‚persönlichen Hochzeit und Menschwerdung des Sohnes Gottes‘ und die folgende ‚geistliche Hochzeit und Vereinigung‘ mit seiner Braut, der Kirche, und jeder einzelnen Seele sowie „durch den Glauben die ewige Hochzeit=Freude“; OљђюџіѢѠ, Biblische Erklärung (Anm. 1ř), V, 188a zu Mt 22,1. 275 S. den Beitrag von Lќѡѕюџ Sѡђієђџ in diesem Band. 276 Vgl. Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), 4. Actus, ř79–ř8ř, hier ř82,244–247. 277 Ebd., ř82, 2ř1 mit Hinweis auf Num 6,25; Ps 4,7; 67,2; vgl. auch Joh 1,1–14. 278 Vgl. EџѤіћ PюћќѓѠјі, Abbot Suger in the Abbey Church of St-Denis and its Art Treasures, Princeton 21948; Oѡѡќ ѣќћ Sіњќћ, The Gothic Cathedral, London 1956 (deutsch Darmstadt 21968).
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mit der Weihnachtszeit und der Auslegung der Weihnachtstexte verbunden,Ⱥ279 ihr philosophischer Kontext in der Tradition des christlichen Neuplatonismus zu verfolgen, der in der frühneuzeitlichen lutherischen Schriftauslegung u. a. im Topos vom Buch der Natur fortlebt und als Frage nach dem Leuchten und Widerschein (relucere) Gottes des Schöpfers in seiner Schöpfung die Sinnbildlichkeit der angewandten Emblematik des 17. Jahrhunderts begründet.Ⱥ280 Der letzte Versteil, Mt 22,1řc „[…] da wird sein Heulen und Zähneklappen“ ruft als umfassenden Kontext die Affektenlehre und damit die Thematik von ewigem Leid und ewiger Freude auf. Johann Gerhard zitiert das Drohwort bei Auslegung des Geschreis der Volksmenge, die bei der von Pilatus angebotenen Amnestie die Freilassung des Mörders Barrabas aber Jesu Kreuzigung fordert (Mt 27,21–2ř). Er führt die paradoxe Finalität dieses Geschehens so aus:Ⱥ281 Daß allhie Christus das Zettergeschrey vber sich ergehen lessetȦ solches leidet er vmb vnsert willenȦ weil er vor seine Person allerdings vnschuldig war. Wir hatten alle miteinander verdienetȦ daß wir vnserer Sünde halben an denselben Ort kommen soltenȦ da ewiges ZettergeschreyȦ Heulen vnd Zähnklappen istȦ […]. da stellet sich nun Christus an vnser statȦ lesset das Zettergeschrey des Volckes vber sich ergehenȦ auff daß er vns von dem ewigen Heulen vnd Geschrey erlösen möchteȦ vnd vns bringen an den OrtȦ da weder Leid noch Geschrey mehr istȦ Apoc. 21[,4]. Sondern da man ein newes Lied singet für dem Stuel des LambsȦ Apoc. 14[,ř]. Vnnd mit frölicher lieblicher Stimme Gott den HERRN ewiglich preiset […].
Gerhard beschließt den Abschnitt mit folgendem „Gebetlein“:Ⱥ282 O HErr Jesu ChristeȦ dein heiliges vnschuldiges Leiden sey eine Artzney meiner grossen SündenschuldenȦ deine heilige GedultȦ dadurch du das vngestümme Geschrey der Jüden ertragen hastȦ komme mir zu Hülff vnnd TrostȦ wenn mein Gewissen wider vnnd vber mich schreyetȦ behüte mich mein HERR vnd GottȦ daß ich ja nicht an den Ort kommeȦ da ewiges Ge-
279 Jes 9,2–7; Lk 2,1–14 (1. Weihnachtstag); Joh 1,1–14 (ř. Weihnachtstag); Jes 60,1–6; Mt 2,1–12 (Epiphanias); vgl. etwa Jќѕюћћ SђяюѠѡіюћ Bюѐѕ, Weihnachts-Oratorium BWV 248, hier besonders Teil V auf Epiphanias. 280 Vgl. Wіћѓџіђё Zђљљђџ, „Vom Abbild zum Sinnbild – Johann Sebastian Bach und das Symbol“, in: DђџѠ., Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Bђџћё JюѠѝђџѡ (MThSt 8), Marburg 1971, 165–177; R. Sѡђієђџ, Gnadengegenwart (Anm. 78), VIȦ1ř. Bilder des Heils. Johann Sebastian Bachs Parodiepraxis in theologischer und musikalischer Sicht, 249–268, hier 255f. zum Emblem „Durchhin auf etwas anders“ in Johann Arndt, Vom wahren Christenthum, Leipzig 17ř0. 281 Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), ř. Actus, 264,ř46–ř58. 282 Ebd., 265,ř61–ř69; im gleichen Sinn zitiert Olearius zu derselben Stelle der Passion Mt 22,1ř: OљђюџіѢѠ, Heylsame Betrachtung (Anm. 1), 1. Buch, 140.
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schrey vnd Heulen istȦ sondern nim mich zu dir in dein ReichȦ daß ich mit frölicher Stimme dich ewig preiseȦ Amen.“
Das ‚Zetergeschrei‘ der Volksmenge, in Bachs Passionen mit realistischer Härte wiedergegeben, hat in jüngster Zeit eine heftige Diskussion darüber entfacht, ob man ‚nach Auschwitz‘ die Juden-Turbae, die als üble Nachrede empfunden werden, noch musizieren dürfe. Wie wir als Christen diese Stücke hören sollen, nämlich unseren natürlichen Affekt in Betrachtung des heilsnotwendigen Um-willen des Leidens Christi in einen geistlichen Affekt verwandelnd, haben die Verfasser der zu Bachs Zeit ‚aktuellsten‘ Hermeneutiken, August Hermann Francke und Johann Jacob Rambach (von dem Bach sich mehrere Titel bei Erscheinen anschaffte), dargetan, indem sie die grundlegende Bedeutung der Affekte für das Verständnis eines Textes reflektierten,Ⱥ28ř so daß Rambach etwa seine Betrachtung des Actus Pilatus (nach dem applizierenden Zitat der Strophe „Was ist die Ursach aller solcher Plagen?“ und der Luther Ⱥ284
28ř AѢєѢѠѡ Hђџњюћћ Fџюћѐјђ, PRAELECTIONES HERMENEVTICAE […], Halle 1717 (HAB Wolfenbüttel Tb 106); Jќѕюћћ Jюѐќя Rюњяюѐѕ, INSTITVTIONES HERMENEVTICAE SACRAE […] (172ř), editio secunda, cum praefatione Ioannis Francisci Buddei, Jena 1725 (HAB Wolfenbüttel Tb 298); dazu Rђћюѡђ Sѡђієђџ, „Affektdarstellung und Allegorese in Johann Sebastian Bachs Passionen“, in: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, hg. v. Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ in Verbindung mit Rюљѓ Gђќџє Bќєћђџ u. a. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 4ř), Wiesbaden 2005, ř9–107 (bes. bei Anm. 1–ř1. 68–79. 82–112 zur Unterscheidung des natürlichen vom geistlichen Affekt, zu Titeln von J. J. Rambach in J. S. Bachs Besitz, zur Bedeutung der Affekte für die Hermeneutik und zur Frage des Antijudaismus in den ‚Judenchören‘). 284 Jќѕюћћ Jюѐќя Rюњяюѐѕ, Betrachtungen über das gantze Leiden Christi […], Vormals eintzeln, itzt zusammen herausgegeben, Jena 17ř0, 525. 528; vgl. auch die Fortsetzung: „Siehest du nicht, o Sünder, den gestrengen Ernst GOttes, und seinen unerträglichen Zorn gegen alles gottlose Wesen der Menschen?“, dazu LѢѡѕђџ, Sermon von der Betrachtung (Anm. 112), Zum vierten. – J. S. Bach hat dieses Werk Rambachs wahrscheinlich besessen. Zwar ist in seinem Nachlaßverzeichnis nur „Rambachi Betrachtung“ angegeben (und Rambach hat viele ‚Betrachtungen‘ verfaßt); da sich aber kürzlich ein Exemplar der zweiten Auflage dieses Buchs, Jena 17ř2, mit eigenhändigem Besitzvermerk von Anna Magdalena, Bachs zweiter Ehefrau, von 1741 (Jahreszahl in anderem Schriftduktus) auf dem Vorsatzblatt, gefunden hat, samt daneben, auf dem inneren Buchdeckel, ebenfalls eigenhändiger Widmung des Bandes als Geburtstagsgeschenk „der […] Jonfer Gefatterin u. werthesten Herzens Freündin“ Christina Sybilla Bose (1711–1749), darf man vielleicht annehmen, daß dieses Geschenk auf dem Wege der ‚Doublettenaussonderung‘ ins befreundete Nachbarhaus wanderte, da sich in Bachs Bibliothek ein weiteres Exemplar davon befand. Letzterer Schluß wird nicht gezogen von H.-J. Schulze, der über das neugefundene Dokument berichtete: HюћѠ-Jќюѐѕіњ SѐѕѢљѧђ, „Anna Magdalena Bachs ‚Herzens Freündin‘. Neues über die Beziehungen zwischen den Familien Bach und Bose“, in: BJ 8ř (1997), 151–15ř.
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entliehenen Bemerkung „die Jüden sind deiner Sünden Diener gewesen“284) mit folgendem Gebet beschließt:Ⱥ285 Segne nun die Geschicht von deiner Verurtheilung an unser aller Seelen: Laß das Wort: Er ist des Todes schuldig, einen Donnerschlag seyn in die sichern und rohen Hertzen, dadurch sie heylsamlich erschrecket, in den Staub darnieder geleget, und in eine göttliche Reue und Traurigkeit gesetzet werden. Laß es aber auch seyn einen Balsam des Lebens allen blöden und niedergeschlagenen Gewissen, die das Urtheil des Todes in sich tragen, und zu deinem Creutz ihre Zuflucht nehmen.
„Zum Erschrecken“ sollen auch die „Kreuzige!“-Chöre klingen, als ein „Donnerschlag“ in die Gewissen! Mit der Bitte „Rühre mein Gewissen!“ hatte Bach in der Johannes-Passion zuvor schon den ersten Teil beschlossen, und in der Matthäus-Passion erklingt zwischen den beiden „Laß ihn kreuzigen“-Chören die Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ (Nr. ř5), darum nämlich, „Daß das ewige VerderbenȦ Und die Strafe des GerichtsȦ Nicht auf meiner Seele bliebe.“ Der heutigen, historisch-kritischen Diskussion der Frage, wem denn „mehr“ Schuld am Prozeß Jesu zuzurechnen sei: den Juden oder Pilatus, ist noch immer mit der alten Auskunft unserer theologischen Väter zu begegnen:Ⱥ286 Gott hat dieses also geschicketȦ daß sein lieber Sohn nicht allein von den JüdenȦ sondern auch von den Heyden zum Tode verurtheiletȦ daß hiermit angezeiget würdeȦ wie Jüden vnnd HeydenȦ das istȦ alle Menschen an diesem Tode schuld habenȦ vnd daß sie alle mit jhren Sünden darzu geholffenȦ daß GOtt dem Hђџџћ sein einiger lieber Sohn ist getödtet wordenȦ auch daß die Frucht dieses Todes werde auff Jüden vnnd Heyden kommenȦ wenn sie sich durch wahren Glauben desselben trösten […].
285 Rюњяюѐѕ, Betrachtungen (Anm. 284), 5ř2. 286 Gђџѕюџё, Erklährung (Anm. 2), ř. Actus, 200,1řř–149; vgl. auch 4. Actus, ř12,70– ř1ř,79: „[…] daß er für alle Menschen gelittenȦ vnd daß sie alle darzu geholffen.“
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Anhang Vier Leittexte der Interpretation 1. Hђіћџіѐѕ Mҿљљђџ, Der Leidende Jesus/ Oder Das Leiden unsers HErrn und Heylandes Jesu Christi, in: Evangelischer Hertzens=Spiegel/ Jn Offentlicher Kirchen=Versammlung/ bey Erklärung der Sonntäglichen und Fest=Evangelien, Frankfurt a. M. 1679, 981–10ř4, 7. Predigt, 106řf.: Darumb muß sich hie Jesus die Hände binden lassen. Was ihn bindetȦ das ist seine LiebeȦ die machtsȦ daß sich der Liebhaber stellet in die BandeȦ die wir haben verdienetȦ damit wirȦ die GeliebteȦ auß den Banden befreyet würden. Sonst hätte es mit uns allen heissen sollen: Bindet ihm Hände und Füsse/ und werffet ihn das äusserste Finsterniß hinauß/ da wird seyn Heulen und Zähnklappern. ‹Matth. 22Ȧ1řȌ Mein HertzȦ dich sol auch die Liebe Jesu einbinden in seinen GehorsamȦ daß du thustȦ was er gebeut; lässestȦ was er verbeut; leidestȦ was er dir auffleget. Die Welt erwehlet ein loses und ungebundenes Leben. Wer das erwehletȦ der bindet Jesum auffs neue. Ein eingezogenes und gebundenes Leben sol der Christen Leben seynȦ gebunden an den Willen und Wolgefallen Gottes. 2. Sюљќњќћ Fџюћѐј, Evangelisches Andachts=Opffer/ […] in geistlichen CANTATEN welche auf die ordentliche Sonn= und Fest=Tage […] zu musiciren angezündet, Weimar 1715, Auf den zwantzigsten Sonntag nach Trinitatis = Jќѕюћћ SђяюѠѡіюћ Bюѐѕ, BWV 162: 1. Arie B. Ach! ich sehe, Itzt, da ich zur Hochzeit gehe, Wohl und Wehe. Seelengift und Lebensbrot, Himmel, Hölle, Leben, Tod, Himmelsglanz und Höllenflammen Sind beisammen. Jesu, hilf, daß ich bestehe !
Joh 6,48
Ps 1ř0,ř; Mal ř,2; Apk 6,17
2. Rezitativ T. O großes Hochzeitsfest, ½ Darzu der Himmelskönig ¾Mt 22,2f. ¿ Die Menschen rufen läßt! Ist denn die arme Braut, Die menschliche Natur, nicht viel zu schlecht und wenig, Daß sich mit ihr der Sohn des Höchsten traut? O großes Hochzeitfest, Wie ist das Fleisch zu solcher Ehre kommen, ½ Daß Gottes Sohn ¾Joh 1,14 ¿ Es hat auf ewig angenommen? Der Himmel ist sein Thron, Die Erde dient zum Schemel seinen Füßen, Jes 66,1; Mt 5,ř4f.; Apg 7,49
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Noch will er diese Welt vgl. 1Tim 2,4 Als Braut und Liebste küssen! vgl. Hld 1,2 Das Hochzeitmahl ist angestellt, ½ Das Mastvieh ist geschlachtet; ¾Mt 22,4; vgl. Lk 14,17 ¿ Wie herrlich ist doch alles zubereitet! Wie selig ist, den hier der Glaube leitet, Und wie verflucht ist doch, der dieses Mahl verachtet! Mt 22,5; 25,41 ř. Arie S. Jesu, Brunnquell aller Gnaden, Labe mich elenden Gast,
Ps 74,15; 104,10; vgl. Joh 4,14; Apk 21,6 Ps 22,27; 68,11b; vgl. Jes 61,1; 66,2; Mt 22,řf. Weil du mich berufen hast ! Mt 22,14a; vgl. Jes 55,1–ř Ich bin matt, schwach und beladen, Mt 11,28a Ach ! erquicke meine Seele, Mt 11,28b–29; Ps 2ř,ř Ach ! wie hungert mich nach dir ! Joh 6,ř5b Lebensbrot, das ich erwähle, Joh 6,ř5a.48–51; Mt 22,14b Komm, vereine dich mit mir! vgl. Hld 2,16 4. Rezitativ A. Mein Jesu, laß mich nicht Zur Hochzeit unbekleidet kommen, Daß mich nicht treffe dein Gericht; Mit Schrecken hab ich ja vernommen, Wie du den kühnen Hochzeitgast, Der ohne Kleid erschienen, Verworfen und verdammet hast! Ich weiß auch mein Unwürdigkeit: Ach! schenke mir des Glaubens Hochzeitkleid Laß dein Verdienst zu meinem Schmucke dienen! Gib mir zum Hochzeitkleide Den Rock des Heils, der Unschuld weiße Seide! Ach! laß dein Blut, den hohen Purpur, decken Den alten Adamsrock und seine Lasterflecken, So werd ich schön und rein Und dir willkommen sein, So werd ich würdiglich das Mahl des Lammes schmecken. 5. Arie (Duett) A. T. In meinem Gott bin ich erfreut! Die Liebesmacht hat ihn bewogen, Daß er mir in der Gnadenzeit Aus lauter Huld hat angezogen Die Kleider der Gerechtigkeit. Ich weiß, er wird nach diesem Leben Der Ehre weißes Kleid Mir auch im Himmel geben.
½ ° ° ¾Mt 22,11–14 ° ° ¿ Mt 8,8; 22,8 Jes 61,10b Jes 61,10a; vgl. Apk 19,8 vgl. Apk 1,5; 7,14; 19,1ř–15; 1Joh 1,7 vgl. Gen ř,7 Ps 45,14; Hld 4,1.7 1Kor 11,27.29; Mt 22,8; Apk 19,9; Ps ř4,9 Jes 61,10; vgl. Apk 19,7 vgl. Jes 61,2 Jes 61,10; 2Kor 5,2ff. Apk 19,8
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6. Chor Ach, ich habe schon erblicket Diese große Herrlichkeit. Itzund werd ich schön geschmücket Mit dem weißen Himmelskleid; Mit der güldnen Ehrenkrone Steh ich da für Gottes Throne, Schaue solche Freude an, Die kein Ende nehmen kann.
½ ¾Apk 4,4; 7,9ff. ¿
Strophe 7 von „Alle Menschen müssen sterben“ (Johann Rosenmüller oder Johann Georg Albinus, 1652 [?])
ř. Bђћїюњіћ Sѐѕњќљѐј, Paßions=Andachten, Hamburg und Leipzig 17řř, XXVII. Die geistliche Wallfahrth zum Creutze Christi, 4. Die Aufopfferung der Freyheit: 1. GEbundner JEsu deine Bande, Legst du um meinet willen an, Auf daß ich sie zu einem Pfande Erlangter Freyheit brauchen kan, Jch sehe dich gebunden stehn, Und mich in Liebes=Seilen gehn, 2. Jch lag in lauter Todes=Stricken, Der Höllen=Bande drückten mich, Mich wolte Satans Netz berücken, So nimmst du meine Schuld auf dich, Und lässt dich binden, daß ich frey, Von aller meiner Sclaverey. ř. Mit Jsaac kommst du gebunden, Und legst dich auf dem Creutz=Altar, Kein Lamm ward so gedultig funden Wenn es dem Opffer nahe war. Du trittst in deinen Banden her, Als wenn es Schmuck zur Hochzeit wär. 4. O laß mich auch die Banden schliessen, Damit ich dein Gefangner sey, Was Adams=Fall in mir zerrissen, Das mache nunmehr wieder neu, Daß mich dein Geist hinfort zu dir Jn des Gesetzes Banden führ.
„Mit Jsaac kommst du gebunden …“
5. Wie Rahabs Seil, so laß die Bande Ein Zeichen der Verschonung seyn, Entziehe mich der Höllen=Brande, Und leite mich zum Himmel ein, Ja binde meine Seel alsdenn Jns Bündlein der Lebendigen. 6. Gib daß mich dein Gehorsam binde, Und dein Gesetz ein Siegel sey, Das ich um Arm und Hertze winde, Die Sünde reiß es mir entzwey, Wirff mir der Liebe Ketten an, Die auch der Tod nicht trennen kan. 7. Zeuch mich zuletzt an diesen Seilen Gar aus den Labyrinth der Welt, So werd ich aus den Kercker eilen, Der mich bißher gefangen hält, Als ein Erlöster mich erfreun, Und Freyheit meine Losung seyn. 4. Jќѕюћћ SђяюѠѡіюћ Bюѐѕ, Johannes-Passion BWV 245 a. Die strukturbildenden Sätze zum Thema binden – (er)lösen, Gefängnis – Freiheit 7. Arie A. Von den Stricken meiner Sünden Mich zu entbinden, Wird mein Heil gebunden. Mich von allen Lasterbeulen Völlig zu heilen, Läßt er sich verwunden. 8. Rezitativ T. Simon Petrus aber folgete Jesu nach und ein ander Jünger. 9. Arie S. Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten Und lasse dich nicht, Mein Leben, mein Licht. Befördre den Lauf Und höre nicht auf, Selbst an mir zu ziehen, zu schieben, zu bitten.
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22. Chor Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, Muß uns die Freiheit kommen; Dein Kerker ist der Gnadenthron, Die Freistatt aller Frommen; Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein, Müßt unsre Knechtschaft ewig sein. ř0. Arie A. Es ist vollbracht! O Trost vor die gekränkten Seelen! Die Trauernacht Läßt mich die letzte Stunde zählen. Der Held aus Juda siegt mit Macht Und schließt den Kampf. Es ist vollbracht! ř1. Rezitativ T. Und neiget das Haupt und verschied. ř2. Arie B. und Chor Mein teurer Heiland, laß dich fragen; Jesu, der du warest tot, Da du nunmehr ans Kreuz geschlagen Und selbst gesagt: Es ist vollbracht, Lebest nun ohn Ende, Bin ich vom Sterben frei gemacht? In der letzten Todesnot Nirgend mich hinwende Kann ich durch deine Pein und Sterben Das Himmelreich ererben? Ist aller Welt Erlösung da? Als zu dir, der mich versühnt, O du lieber Herre ! Du kannst vor Schmerzen zwar nichts sagen, Gib mir nur, was du verdient, Doch neigest du dein Haupt und sprichst stillschweigend: ja. Mehr ich nicht begehre ! Paul Stockmann, „Jesu Leiden, Pein und Tod“ (16řř), Schlußstrophe (Str. ř4)
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„Mit Jsaac kommst du gebunden …“
b. Die Disposition der frei gedichteten Sätze
[1] Chor „Herr, unser Herrscher“
(Vf. unb.)
Eingang
[7] Aria „Von den Stricken“ [8] Joh 18,15a [9] Aria „Ich folge dir gleichfalls“
(nach Brockes)
Arien-Paar, verbunden durch knappes Bibel-Rezitativ Entsprechung: [ř0–ř2]
[1ř] Aria „Ach, mein Sinn“
(Vf. unb.) (Christian Weise)
[19] Arioso „Betrachte, meine Seel“ (nach Brockes) [20] Arie „Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken“ (nach Brockes)
„Wo soll ich mich erquicken?“ Entsprechung: [24] „Eilt“ Arioso-Aria-Paar, nach der Geißelung, Thema = die Heilswirkung des vergoss. Blutes
[22] Choral „Durch dein Gefängnis, GoĴes Sohn“
MiĴelachse des Werkes (Christian Heinrich Postel)
[24] Arie „Eilt, ihr angefochtnen Seelen“ (nach Brockes)
„Wohin? – nach Golgatha!“ Entsprechung: [1ř] „Ach“
[ř0] Aria „Es ist vollbracht“ (Vorbild des Arien-Paar, verbunden durch [ř1] Joh 19,30b Strophenbaus bei Postel) knappes Bibel-Rez. [ř2] Aria mit Choral „Mein teurer Heiland“ (Aria nach Brockes) Entsprechung: [7–9] Ȧ „Jesu, der du warest tot“ [ř4] Arioso „Mein Herz, indem die ganze Welt“ [ř5] Aria „ZerĚieße, mein Herze“ (beide Sätze nach Brockes)
Arioso-Aria-Paar, nach den kosmischen Ereignissen nach Jesu Tod
[ř9] Chor „Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine“
Conclusio (teilw. nach Brockes)
Die lyrische Verarbeitung von Gen 22 bei Catharina Regina von Greiffenberg von VюћђѠѠю ѣќћ ёђџ Lіђѡѕ I. Einleitung „Greiffenberg, (Catharina Regina von) geborne Frey-Herrin von Seisenegg, ein sehr gelehrtes und in der Theologie wohlerfahrnes Fräulein, hat sich meisten Theils zu Nürnberg aufgehalten“,Ⱥ1 so schreibt Johann Heinrich Zedler in seinem 17ř5 erschienenen Universallexikon über die Dichterin. Die Biographie Catharina Regina von Greiffenbergs ist gut erforscht:Ⱥ2 Sie wurde am 7. September 16řř auf Schloß Seisenegg in Niederösterreich geboren. Nach dem Tod ihres Vaters (1641) übernahm ihr Onkel Hans Rudolph die Erziehung des Mädchens. Im Alter von achtzehn Jahren hatte sie während eines Gottesdienstes in Preßburg ein religiöses Durchbruchserlebnis. Von da an verstand die junge Frau die „Deoglori“, die Mehrung der Ehre Gottes, als Sinn und Ziel ihres Lebens. Im Jahr 1662 wurden die Geistlichen Sonette / Lieder und GedichteȺř angeblich ohne ihr Wissen herausgegeben. Als Greiffenberg 166ř mit ihrer Familie vor dem Angriff der Türken nach Nürnberg fliehen mußte, lernte sie Sigmund von Birken persönlich kennen, der im „Pegnesischen Blumenorden“ einer der führenden Köpfe war und bereits von ferne ihre 1 2
ř
Jќѕюћћ Hђіћџіѐѕ Zђёљђџ, Grosses vollständiges UNIVERSAL-LEXJCON Aller Wissenschafften und Künste, Bd. 11, LeipzigȦHalleȦS. 17ř5, 815. Vgl. zu Biographie und Forschungslage HюџѡњѢѡ LюѢѓѕҿѡѡђ, „Einleitung“, in: SієњѢћё ѣќћ Bіџјђћ, Werke und Korrespondenz. Bd. 12: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg, hg. v. HюџѡњѢѡ LюѢѓѕҿѡѡђ, Teil 1: Die Texte (Neudrucke Deutscher Literaturwerke 49), Tübingen 2005, XIII–XXXVI; CџіѠѡіћю M. PѢњѝљѢћ, „Begriff des Unbegreiflichen“. Funktion und Bedeutung der Metaphorik in den Geburtsbetrachtungen Catharina Regina von Greiffenbergs (1633–1694) (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 120), AmsterdamȦAtlanta 1995, 1–12, dort auch jeweils weitere Literaturangaben. Cюѡѕюџіћю Rђєіћю ѣќћ Gџђіѓѓђћяђџє, Geistliche Sonette, Lieder und Gedichte, in: DіђѠ., Sämtliche Werke, Bd. 1, hg. v. Mюџѡіћ Bіџѐѕђџ und Fџіђёѕђљњ Kђњѝ, Millwood N. . 198ř.
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ersten Dichtungsarbeiten begleitet und die Sonette mit herausgegeben hatte. Nachdem der Onkel Hans Rudolph seine Nichte schon mehrere Jahre bedrängt hatte, ihn zu heiraten, willigte sie schließlich ein. Die Trauung wurde im Jahr 1664 in Frauenaurach bei Nürnberg vollzogen. Spätestens im Jahr 1668 begann Greiffenberg, nach Seisenegg zurückgekehrt, an den Passionsbetrachtungen Nichts als Jesus zu arbeiten, die 1672 veröffentlicht wurden und bereits 168ř unter dem Titel Des Allerheiligst- und Allerheilsamsten Leidens und Sterbens JEsu Christi / Zwölf andächtige BetrachtungenȺ4 eine Neuauflage erfuhren. Nach der Veröffentlichung früherer Arbeiten 1675 folgte im Jahr 1678 die Publikation Der Allerheiligsten Menschwerdung / Geburt und Jugend JEsu Christi / Zwölf Andächtige Betrachtungen.Ⱥ5 Hans Rudolph starb 1677 und hinterließ die Dichterin in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, was einer der Gründe für ihre Übersiedelung nach Nürnberg (1680) gewesen sein dürfte. Dort wurden 169ř die Betrachtungen über Leben und Wirken Jesu veröffentlicht, denen noch ein Werk über Auferstehung und Himmelfahrt hätte folgen sollen, welches allerdings nach dem Tod der Dichterin verlorenging. Catharina Regina von Greiffenberg starb am 8. April 1694 in Nürnberg. Die zu Beginn des vorigen Jahrhunderts einsetzende GreiffenbergForschung hat sich zunächst um die Biographie der Dichterin bemüht und sich im Rahmen der Untersuchung ihrer Werke vorrangig auf die Sonette sowie die in ihnen enthaltene Metaphorik konzentriert.Ⱥ6 Theologische Kompetenz (von der Zedler noch zu berichten wußte) und Intention Greiffenbergs wurden und werden dabei zumeist vernachlässigt. Daran hat auch die zu Beginn der achtziger Jahre einsetzende Intensi4
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6
Cюѡѕюџіћю Rђєіћю ѣќћ Gџђіѓѓђћяђџє, Des Allerheiligst- und Allerheilsamsten Leidens und Sterbens JEsu Christi, Zwölf andächtige Betrachtungen, in: DіђѠ., Sämtliche Werke, Bde. 9 und 10, hg. v. Mюџѡіћ Bіџѐѕђџ und Fџіђёѕђљњ Kђњѝ, Millwood N. . 198ř. Cюѡѕюџіћю Rђєіћю ѣќћ Gџђіѓѓђћяђџє, Der Allerheiligsten Menschwerdung, Geburt und Jugend JEsu Christi Zwölf Andächtige Betrachtungen, in: DіђѠ., Sämtliche Werke, Bde. ř und 4, hg. v. Mюџѡіћ Bіџѐѕђџ und Fџіђёѕђљњ Kђњѝ, Millwood N. . 198ř. Vgl. dazu u. a. EљіѠюяђѡѕ BюџѡѠѐѕ SіђјѕюѢѠ, Die lyrischen Sonette der Catharina Regina von Greiffenberg (Berner Beiträge zur Barockgermanistik 4), Bern 198ř; JҦџє BюѢџ, „Jesusfrömmigkeit und Christologie bei Catharina Regina von Greiffenberg (16řř–1694)“, in: Pietas in der Lutherischen Orthodoxie, hg. v. Uёќ Sѡџѫѡђџ (Themata Leucoreana o. Nr.), Wittenberg 1998, 100–124; Pђѡђџ M. DюљѦ, Die Metaphorik in den „Sonetten“ der Catharina Regina von Greiffenberg, Zürich 1964; NюћѐѦ P. F. HюћёђљѠ, Catharina Regina von Greiffenbergs Lieder und Sonette. Das Problem von Dichtung und Mystik, Stanford 1975; Fљќџю Kіњњіѐѕ, Sonnets of Catharina Regina von Greiffenberg. Methods of Composition, Chapel Hill 1975; Mюљѣђ KџіѠѡіћ SљќѐѢњ, Untersuchungen zu Lob und Spiel in den „Sonetten“ der Catharina Regina von Greiffenberg, Cornell 1970; Lђќ Vіљљієђџ, Catharina Regina von Greiffenberg (1633–1694). Zur Sprache und Welt der barokken Dichterin (Zürcher Beiträge zur deutschen Sprach- und Stilgeschichte 5), Zürich 1952.
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vierung der Erforschung ihres meditativen Betrachtungswerkes nichts geändert.Ⱥ7 Die Werke Catharina Regina von Greiffenbergs werden zum einen unter Absehung ihres theologischen Inhalts interpretiert etwa in einer Arbeit von Elisabeth Bartsch Siekhaus, die 198ř erschienen ist und eine Auswahl der Sonette Greiffenbergs untersucht. Bartsch Siekhaus schreibt in ihrer Einleitung: „Auch eine Einordnung dieser Dichtung nach spezifischen rhetorischen Einflüssen und individuellen Stilmitteln, sowie eine Erfassung des theologischen Gehalts, der in unserer Sicht […] oft nur die Sprachoberfläche ausmacht, werden in der vorliegenden Untersuchung nicht beabsichtigt […].“Ⱥ8 Der Ausschluß des theologischen Themas der Dichtung führt sodann zu der Einschätzung, daß „Schaffensbedingungen und Schaffensprozess […] der Gegenstand dieser Dichtung“Ⱥ9 sei. Zusammenfassend schreibt Bartsch Siekhaus über Ziel und Inhalt der Sonett-Dichtung Greiffenbergs: „Diese Dichtung wurde ‚Geistliche Sonette […]‘ benannt. Ihre lyrischen Teile aber sind nicht Predigt oder dargestellte Theologie, deren Bestimmung außerhalb ihrer selbst läge. Der Gehalt liegt im Sprachprozess, der dargestellt wird; die Aussage zielt auf die Dichtung selbst.“Ⱥ10 Zum anderen wird die Dichtung Greiffenbergs häufig auf der Grundlage einer fragwürdigen theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Einordnung interpretiert. Hans-Georg Kemper qualifiziert Greiffenberg beispielsweise als heterodox-spiritualistische Mystikerin.Ⱥ11 Horst-Joachim Frank sieht in ihr dagegen eine „frühe Pietistin“.Ⱥ12 Besonders irreführend an dieser Verortung ist, daß Frank sie einer „Frömmigkeitsbewegung“ zuordnet, die „seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts im Protestantismus im Gegensatz zur dogmatischen Orthodoxie eine gefühlsbetonte Weise religiösen Erlebens auszubilden begann.“Ⱥ1ř Dies führt zu der Schlußfolgerung, daß
7
8 9 10 11 12 1ř
Vgl. dazu u. a. BѢџјѕюџё Dќѕњ, „Die Auferstehung des Leibes in der Poesie. Zu einem Passionsgedicht Catharina Regina von Greiffenbergs“, in: Daphnis 21 (1992), 67ř–694; HюћѠ-Gђќџє Kђњѝђџ, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. ř: Barock-Mystik, Tübingen 1988, 245–278; RѢѡѕ LіѤђџѠјі, Das Wörterwerk der Catharina Regina von Greiffenberg (Berner Beiträge zur Barockgermanistik 1), Bern 1978; Dіђѡѧ-Rҿёієђџ MќѠђџ, „Judas die Lippen-Viper, Jesus das auserlesenste Küsse-Ziel. Zu den Passionsbetrachtungen der Catharina Regina von Greiffenberg“, in: Literatur in Bayern ř8 (1994), 50–57; PѢњѝљѢћ, Begriff (Anm. 2). BюџѡѠѐѕ SіђјѕюѢѠ, Sonette (Anm. 6), 10. Ebd., 168. Ebd., 171. Vgl. Kђњѝђџ, Barock-Mystik (Anm. 7), 245–278. HќџѠѡ-Jќюѐѕіњ Fџюћј, Catharina Regina von Greiffenberg. Leben und Werk der barocken Dichterin (Schriften zur Literatur 8), Göttingen 1967, 88f. Ebd.
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die Dichtung Greiffenbergs „keineswegs [...] konfessionell bestimmt und bestimmbar“Ⱥ14 sei. Anhand des Sonettes Gedanken des Großglaubigen Abrahams / Als er äusserst=gehorsam seinen Sohn opffern wolteȺ15 soll nun gezeigt werden, daß die poetische Verarbeitung von Gen 22 bei Catharina Regina von Greiffenberg zutiefst in der reformatorischen Auslegungstradition dieses Textes wurzelt, mithin dieses Sonett weder unter dem Vorzeichen gelesen werden darf, daß religiöse Aussagen der Dichterin rein formelhaft seien,Ⱥ16 noch unter dem Vorzeichen, daß es sich um eine rein gefühlige Deutung handelt, die der vermeintlich dogmatisch erstarrten Orthodoxie zu entfliehen versucht.Ⱥ17 Liest man Luthers Auslegung von Gen 22Ⱥ18 und das Sonett Greiffenbergs synoptisch, stellt man fest, wie sehr letzteres aus ersterer schöpft.Ⱥ19 In einem zweiten Schritt wird zu zeigen sein, daß die Wirkungsgeschichte der biblischen Texte im Werk Greiffenbergs nicht allein auf diejenigen Sonette beschränkt ist, die sich explizit mit Texten der Schrift befassen, sondern in der gesamten Dichtung Greiffenbergs Spuren hinterläßt.
II. Gedanken des Großglaubigen Abrahams Ȧ Als er
äusserst=gehorsam seinen Sohn opffern wolte. ACh Allvorsehender! solt ich nit deinem Wort
der Warheit Ȧ Herz bestrickt Ȧ Vernunfft=besiegt Ȧ nachleben ? kanst du nit Ȧ was du vor gegeben Ȧ wider geben ? wann tausend Söhn ertödt Ȧ so lebst du noch mein Hort ! An dich bind ich mein Heil Ȧ an kein Geschöpf noch Ort. Es wird mein Same wol Ȧ wie Sternen Mänge Ȧ schweben. dem Menschen=Stoff Ȧ der Erd Ȧ kanst neuen Geist einweben. ist dieser schon geschlacht Ȧ die würkungskrafft ist dort. Zur Schein=Verrichtung itzt des Bunds Ȧ den Grund ich lege: der Warheits Pfeiler bleibt Ȧ dein Wort Ȧ vergeht die Erd. Gehorsam Ȧ Glaub Ȧ Geduld nur treffen GOttes Wege. Durch alle Ordnungs weiß Ȧ der Höchste spricht: Es werd’ ! (wie in dem Bau der Welt) von dem war er versprochen. Ehe wird der Himmel selbst Ȧ als GOttes Zusag brochen.
14 15 16 17 18 19
Ebd., 76. Gџђіѓѓђћяђџє, Sonette (Anm. ř), 19. Vgl. BюџѡѠѐѕ SіђјѕюѢѠ, Sonette (Anm. 6), 118. 172 u. ö. Vgl. Fџюћј, Leben (Anm. 12), 88f. WA 24,ř78–405. Vgl. den Beitrag von Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ in diesem Band.
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1. Versuchungen „NAch diesen Geschichten Ȧ Versuchte Gott Abraham“Ⱥ20 steht gleichsam als Überschrift zu Beginn der biblischen Erzählung in Gen 22. Das Thema „Versuchung“ hat in der reformatorischen Theologie in vielerlei Hinsicht eine Reinterpretation erfahren.Ⱥ21 Luther erkannte, die ihn prägende monastische Tradition rezipierend und zugleich radikalisierend, in den Anfechtungen eine wesentliche Bestimmung christlicher Existenz. In der Vorrede zum 1. Bande der Wittenberger Ausgabe 1539 stellt er die Trias „Oratio, Meditatio, Tentatio“Ⱥ22 vor und schreibt zur letztgenannten: Die ist der Prüfestein, die leret dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfaren, wie recht, wie warhafftig, wie süsse, wie lieblich, wie mechtig, wie tröstlich Gottes wort sey, weisheit uber alle weisheit.Ⱥ2ř
Die Anfechtung überführt also die theoretische Erkenntnis des Wortes Gottes in eine lebendige experientia fidei, oder wie Luther Jes 28,19 übersetzt: „Denn alleine die Anfechtung leret auffs wort mercken.“ In der Versuchungssituation geht es nun nicht zuvörderst darum, wie es in der altkirchlichen und mittelalterlichen Tradition verstanden wurde, vorrangig durch Tugendhaftigkeit und Gehorsam, mithin aus eigenen Kräften, den Anfechtungen zu widerstehen, sondern darum, zum Wort Gottes Zuflucht zu nehmen. In Luthers Auslegung von Mt 4,1–11 wird dies deutlich: „[…] fechte mit dem euangelio, wie Christus den Tewffel allein mit der schrieff hinweck schlecht [...].“Ⱥ24 In der Erzählung von der Versuchung Christi in der Wüste ist der Sohn Gottes unter anderem Exempel dafür, wie man den Teufel mit der Schrift überwinden kann. Das Wort Gottes ist das einzige remedium in der Anfechtung. Greiffenberg schreibt in der Betrachtung von der Versuchung Christi dazu: Aber das ewige Wort und die himmlische Weisheit Ȧ der HErr JEsus Ȧ der alles aus eignem Göttlichen Triebe thäte Ȧ wolte Ȧ auf Begehren des Satans Ȧ sein allverschaffendes Ȧ Werde und Sprech-Wort nicht erschallen lassen: sondern er antwortete ihm dismals Ȧ wie ein Mensch Ȧ mit der H. Schrifft: uns Menschen zum Beispiel Ȧ daß wir Ȧ in allen Begebenheiten Ȧ uns derselben zum Schild und Stichblat wider unsere Feinde bedienen sollen Ȧ alle Anfechtungen damit abzuwenden und zu überwinden.Ⱥ25 20
21 22 2ř 24 25
Bibelzitate nach: Mюџѡіћ LѢѡѕђџ, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe, hg. v. HюћѠ Vќљѧ unter Mitarbeit v. Hђіћѧ Bљюћјђ, Textredaktion Fџіђёџіѐѕ KѢџ, 2 Bde. und Anhang, München 1972. Vgl. dazu Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ, „Versuchung. Kirchengeschichtlich“, in: TRE ř5 (200ř), 52–64. WA 50,659,4. WA 50,660,1–4. WA 9,592,10f. Gџђіѓѓђћяђџє, Geburtsbetrachtungen (Anm. 5), 1074.
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Die Versuchung Abrahams stellt nun gewissermaßen einen Spezialfall dar. Luther hat in aller Deutlichkeit gezeigt, worin diese besteht, nämlich im Selbstwiderspruch Gottes. Luther arbeitet an Gen 22 heraus, daß sich der den Glaubenden versuchende Gott in einen radikalen Selbstwiderspruch („contradictio“) begibt, indem er „widder sich selbs redet.“ [...] Gott wendet sich also mit dem Befehl, Abraham solle sich auf die Reise begeben, um seinen Sohn Isaak zu töten, wie ein Lügner sowohl gegen das Tötungsverbot (Ex 20,1ř) und somit gegen den Dekalog als auch gegen seine promissiones – d. h. gegen Gesetz und Evangelium zugleich. Die Versuchung ist demnach Resultat der Kollision von Wort Gottes und Wort Gottes. Hier wird zum einen die menschliche ratio zu Boden geschlagen, aber – und dies ist das Entscheidende – auch der fides das Fundament entzogen, indem Gott seiner eigenen promissio widerspricht, das Evangelium also vorenthält, das doch Grund des Glaubens ist. Auf der Probe stehen in dieser Versuch(ung)s-Anordnung demnach nicht nur Glaube und Vertrauen Abrahams, sondern ebenso die veracitas Dei und die Wahrheit seiner Verheißungen. Die Kontrafaktizität des Glaubens wird greifbar darin, daß Abraham dort, wo nichts zu hoffen und der Grund des Glaubens ferne ist, kontradiktorisch, ja geradezu renitent, gegen Gott an Gott festhält und Widerstand leistet gegen den Deus absconditus.Ⱥ26
2. Worte Gottes im Widerspruch Der Selbstwiderspruch Gottes bildet sich im Sonett Gedanken des Großglaubigen Abrahams in den beiden Quartetten ab. Luther schrieb: „Das ist nu der aller höhiste streit, wenn sich Gott also stellt, als liege er, das sein wort widdernander lautet.“Ⱥ27 Im Sonett Greiffenbergs werden wir zu Zeugen dieses Streits, indem sie Abraham denken läßt: ACh Allvorsehender! solt ich nit deinem Wort
der Warheit Ȧ Herz bestrickt Ȧ Vernunfft=besiegt Ȧ nachleben ? kanst du nit Ȧ was du vor gegeben Ȧ wider geben ? wann tausend Söhn ertödt Ȧ so lebst du noch mein Hort !
Im ersten Quartett des Sonettes begegnet uns das Wort Gottes zunächst in Gestalt des Befehls, Isaak zu opfern. Das, was Luther das zweite Wort Gottes nennt, also den in Anfechtung führenden Widerruf seiner promissio, steht mithin in Greiffenbergs Sonett an erster Stelle. Der Leser wird in die Situation eingeführt und so mit ihr gleichzeitig, die schon die Überschrift bekanntgibt: Abraham ist bereits auf dem Weg oder schon im Begriff, Isaak zu töten. Er lebt und kommt dem Wort bereits nach. Dieses Wort wirft Fragen in ihm auf: „solt ich nit deinem Wort 26 27
Sѡђієђџ, Zu Gott gegen Gott (Anm. 19), 190f. WA 24,ř82,ř1f.
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[…] nachleben ? kanst du nit Ȧ was du vor gegeben Ȧ wider geben ?“ Hier spricht nicht ein gelassener Heiliger, sondern ein zutiefst Angefochtener. Schon bei Luther zeigen sich die Affekte Abrahams unter anderem in den Fragen, die er stellt: „Also das sein hertz so stund: Der son mus ein vater vieler kinder werden und soll ausgebreytet werden ynn alle welt, wie stellt sich denn Gott also? nu wird er wetterwendisch und redet das widderspiel und mus der son ytzt sterben, was wil doch hieraus werden?“Ⱥ28 Wie wir bereits hörten, verfolgt Luther dieses Thema in seiner Auslegung noch weiter. Greiffenberg kann es in der Kürze des Sonetts, neben den Fragen noch durch den Eingangsseufzer „ACh“, nur andeuten. Bemerkenswert ist, daß die Dichterin den Befehl zur Opferung Isaaks als „Wort der Warheit“ qualifiziert; denn die Ratlosigkeit Abrahams resultiert ja in der Tat daraus, daß Gott nicht lügen kann, sich hier aber dennoch widerspricht. Da Abraham noch nichts vom Widder am Ende und dem guten Ausgang der Geschichte weiß, steht für ihn dies „Wort der Warheit“ gegen die promissio, mithin verbum Dei contra verbum Dei, was zu einem menschlicherseits unlösbaren Konflikt führt. Abraham ist „Vernunfft=besiegt“, oder wie Luther sagt: „Was kan die vernunfft da sagen? Sie ist gantz geschlagen, das sie nicht weys, wo hynaus, und mus sagen, es sey nu aus.“Ⱥ29 Abraham hofft nun, wo nichts zu hoffen ist. Dies findet eine Parallele unter anderem darin, daß Gott die Verheißung der Geburt Isaaks zu einem Zeitpunkt gibt, zu dem Abraham und Sara, biologisch gesehen, bereits unfähig sind, Nachwuchs zu zeugen. Abrahams Reaktion in Gen 17,17 zeigt dies deutlich: „[...] sol mir hundert jar alt ein Kind geboren werden Ȧ vnd Sara neunzig jar alt geberen?“ Die Geburt Isaaks war nach menschlichem Ermessen ebenfalls unmöglich und geschah dennoch. Daran läßt Greiffenberg Abraham sich erinnern, wenn sie ihn sagen läßt: „kanst du nit Ȧ was du vor gegeben Ȧ wider geben ?“ Die Antwort auf Abrahams Fragen kann mithin nicht logisch, sondern allein theo-logisch gegeben werden. Luther schöpft dazu aus Hebr 11,19: Nu must dennoch dis beydes war sein: Abraham gleubte und wuste nichts anders denn der son müste sterben, widderümb auch das er solt ein vater werden vieler völcker, Wie reymen sich die zwey zu samen? Also, wie es Sanct Paulus ausleget, er hat also müssen dencken: Gott ist allmechtig und warhafftig, der son ist schön hyn, den mus ich lassen faren, Aber Gott hat noch soviel, wenn ich und alle welt tod weren, kan er yhn widder auffwekken auch uber hundert jar und zum vater machen.Ⱥř0
28 29 ř0
WA 24,ř82,16–20. WA 24,ř82,20f. WA 24,ř82,22–28.
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Ganz ähnlich wie Luther Abraham die trotzig klingenden Worte „wenn ich und alle welt tod weren“ in den Mund legt, so schreibt Greiffenberg: „wann tausend Söhn ertödt Ȧ so lebst du noch mein Hort !“ Die Kontrafaktizität des Glaubens Abrahams bildet sich in der Gegenüberstellung der potentiell ertöteten Söhne und des lebendigen Gottes ab. Im Angesicht des Todes Isaaks bewahrt Abraham gegen allen Augenschein die Hoffnung auf den lebendigen und lebendigmachenden Gott, der den Sohn noch von den Toten aufzuerwecken vermag. Deutet sich diese Hoffnung im ersten Quartett zunächst lediglich an, so wird sie im zweiten zur kämpferischen Gewißheit: An dich bind ich mein Heil Ȧ an kein Geschöpf noch Ort. Es wird mein Same wol Ȧ wie Sternen Mänge Ȧ schweben. dem Menschen Stoff Ȧ der Erd Ȧ kanst neuen Geist einweben. ist dieser schon geschlacht Ȧ die würkungskraft ist dort.
Abraham nimmt Gott ins Gebet und in die Pflicht. Er bindet seine Hoffnung an Gott, konkret an Gottes Wort der Verheißung. Ist die Schrift das remedium gegen die Anfechtung im Allgemeinen, so tritt in diesem Spezialfall eine Sonderregel hinzu: Da, wo Gott sich selbst widerspricht, verbum Dei contra verbum Dei steht, soll der Mensch am ersten Wort Gottes, nämlich seiner Verheißung, festhalten: „Darümb hat Gott die weise, das er wil uber dem ersten wort halten, das er gered hat, Was nu hernach dawidder laut, wil er, das wirs uns nicht annemen, sondern gewis seien, es sey Gottes Versuchung.“Ⱥř1 Genau dies tut Abraham im Sonett, indem er Gottes promissio wiederholt: „es wird mein Same wol Ȧ wie Sternen Mänge Ȧ schweben.“ Das erste Wort Gottes, die Verheißung, begegnet uns im Sonett erst an zweiter Stelle. Dies führt den Leser tiefer in Abrahams Situation hinein und zeigt dessen Glaubensvorbild umso deutlicher, weil er in der Situation der Anfechtung selbst Gott mit seinen eigenen Worten schlägt, oder wie Luther sagt: „Also müssen wir yhn uberwinden mit seynem eigenem wort“.Ⱥř2 Nach Hebr 11,17–20 gründet Abrahams Hoffnung in dem Gedanken, daß Gott seinen Sohn von den Toten auferwecken kann. Daß Greiffenberg diese innerbiblische Interpretation von Gen 22 aufnimmt, zeigt sich in dem Vers: „dem Menschen Stoff Ȧ der Erd Ȧ kanst neuen Geist einweben.“ Greiffenberg greift hier auf Gen 2,7 zurück, um Abrahams Auferstehungshoffnung zu thematisieren, wo von der Erschaffung Adams erzählt wird: „Vћё єќѡѡ ёђџ HERR њюѐѕђѡ ёђћ њђћѠѐѕђћ aus dem Erdenklos Ȧ vnd er blies jm ein den lebendigen Odem in seine Nasen Ȧ Vnd also ward der Mensch eine lebendige Seele.“ Der Odem Gotř1 ř2
WA 24,ř8ř,24–26. WA 24,ř86,2ř.
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tes macht den Erdenkloß des ersten Menschen lebendig. Der Schöpfer Adams kann diesen Odem auch Isaak neu einhauchen. Im achten Vers erreicht das Sonett seinen Höhepunkt: „ist dieser schon geschlacht Ȧ die würkungskraft ist dort.“ Hier zeigen sich die auslegungsgeschichtlichen Kenntnisse Greiffenbergs überdeutlich. Sie läßt Abraham hier von Isaak als einem solchen reden, der schon tot ist. Darin folgt sie einer älteren Auslegungstradition, die auf Hebr 11 zurückgeht und die auch Luther aufgreift: „Denn er [scil. Abraham] hat also müssen dencken: Nu ist der son schön dahyn, hat nicht ynn synn genommen, das er solt lebendig bleiben“.Ⱥřř Demnach ist Isaak im Herzen Abrahams schon geopfert. Der tödliche Ausgang der Geschichte ist für den Vater so unabwendbar, daß der Sohn für ihn schon gleichsam gestorben und begraben ist. Dieser Auslegungstradition schließt Greiffenberg sich an, wodurch die Brisanz der Auferstehungshoffnung Abrahams noch erhöht wird, den sie angesichts seines eigentlich schon toten Sohnes noch hoffen läßt, daß Gott ihn zu neuem Leben erwecken kann. Diesen ganzen Sachzusammenhang bietet sie in kondensierter Form im achten Vers dar: „ist dieser schon geschlacht Ȧ die würkungskraft ist dort.“ ř. Unvergänglichkeit und Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes Zur Schein-Verrichtung itzt des Bunds Ȧ den Grund ich lege: der Warheits Pfeiler bleibt Ȧ dein Wort Ȧ vergeht die Erd. Gehorsam Ȧ Glaub Ȧ Geduld nur treffen Gottes Wege.
Da Isaak im Herzen Abrahams schon tot ist, ist die eigentliche Opferung des Sohnes für ihn nur noch eine scheinbare Tötung. Die „Schein-Verrichtung“ ist hier also nicht so zu verstehen, daß Abraham Isaak nur zum Schein auf den Altar legt und bindet, so als wüßte der Angefochtene schon von dem Eingreifen des Engels und dem Erscheinen des Widders. Eine solche Interpretation wäre nur retrospektiv möglich, aber das Sonett vergleichzeitigt den Leser mit dem versuchten Abraham und somit auch mit dessen Unwissenheit. Die Scheinverrichtung der Tötung des Sohnes, die nur noch äußerlich nachvollzieht, was im Herzen Abrahams schon geschehen ist, ist zugleich eine Scheinvernichtung des Bundes. Der Tod Isaaks verhindert augenscheinlich, daß er zum Vater vieler Völker werden kann. Erneut sucht Abraham Zuflucht zum Wort Gottes. Dem zerstörten Grund des Bundes setzt er den Pfeiler der Wahrheit entgegen. Das Wort Gottes, gemeint ist die Verheißung, ist unvergänglich. Greiffenberg läßt Abraham hier auf die Worte Christi in Mt 24,ř5 anřř
WA 24,ř81,11–1ř.
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spielen: „Himel vnd Erden werden vergehen Ȧ Aber meine Wort werden nicht vergehen.“ Wenn das Wort Gottes aber schon Himmel und Erde überdauert, um wieviel weniger kann es durch den Tod Isaaks gefährdet werden. Dies wird im letzten Teil des Sonettes erneut aufgenommen: Durch alle Ordnungs weiß Ȧ der Höchste spricht: Es werd’ ! (wie in dem Bau der Welt) von dem was er versprochen Ehe wird der Himmel selbst Ȧ als GOttes Zusag brochen.
Hier wird nun der zweite Begriff aus Mt 24 dazugenommen: Eher vergeht der Himmel als Gottes Verheißung! Die Unvergänglichkeit des Wortes Gottes wird aber nun noch um einen wesentlichen Aspekt erweitert: „der Höchste spricht: Es werd’! (wie in dem Bau der Welt) von dem was er versprochen“. Gott ruft die Erfüllung seiner Verheißung in Existenz, ebenso wie er die Welt durch sein Wort aus dem Nichts erschuf, indem er sie ausspricht. Das schöpferische „Es werde“ aus Gen 1,ř.6.14 ist das Paradebeispiel für die Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes. In Ps řř,4.6.9 heißt es: „DEnn des HERRN wort ist warhafftig Ȧ Vnd was er zusaget Ȧ das helt er gewis. […] DEr Himel ist durchs wort des HERRN gemacht Ȧ Vnd all sein Heer durch den Geist seines Munds. […] Denn so er spricht Ȧ so geschichts Ȧ So er gebeut Ȧ so stehets da.“ Die efficacia des Wortes Gottes, die in der Schöpfung sichtbar wird, ist mithin schon innerbiblisch die Voraussetzung dafür, daß Gottes promissiones verläßlich sind. Gottes Wort ist Tatwort: Es sagt, was es tut, und tut, was es sagt. Ergo ist Gottes Verheißung in dem Moment schon erfüllt, in dem er sie ausspricht. Im Rahmen des Sonettes führt der Rückgriff auf Gottes Schöpfungswort aber auch zu einer Zuspitzung von Luthers Aufforderung, Gott bei seinem ersten Wort der Verheißung zu behaften. Dies tut Abraham bereits im zweiten Quartett: „es wird mein Same wol Ȧ wie Sternen Mänge Ȧ schweben.“ Am Ende des Sonettes läßt Greiffenberg Abraham aber darüber hinaus auch auf Gottes allererstes Wort in der Schrift („Es werde Liecht!“) Bezug nehmen. Dieses schöpferische Wort ist immer noch aktuell: Durch alle Ordnungs weiß Ȧ der Höchste spricht: Es werd’ ! (wie in dem Bau der Welt) von dem was er versprochen Ehe wird der Himmel selbst Ȧ als GOttes Zusag brochen.
Durch die tentatio sorgt Gott dafür, daß das Wort der Verheißung, die er zunächst entzieht, neu erklingt – so wie das erste Schöpferwort, nämlich ex nihilo. Interpretiert man das Sonett Die Gedanken des Großglaubigen Abrahams / Als er äusserst=gehorsam seinen Sohn opffern wolte im Kontext der Lutherschen Auslegung von Gen 22, so zeigt sich, daß Greiffenberg zentrale Topoi Lutherscher Theologie rezipiert und poetisch umgesetzt hat: das Motiv des Selbstwiderspruchs Gottes, der nur durch das Festhal-
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ten an der Verheißung überwunden werden kann, die Kontrafaktizität des Glaubens Abrahams, eine Wort-Gottes-Theologie, die Luthers „sola scriptura“ aufnimmt und Gen 22 gemäß dem Grundsatz „scriptura sacra sui ipsius interpres“Ⱥř4 im Kontext anderer biblischer Texte deutet.
III. Trost-Trauben und andere
biblische (Lese-)Früchte Elisabeth Bartsch Siekhaus urteilte über die Sonette Greiffenbergs: „Ihre lyrischen Teile aber sind nicht Predigt oder dargestellte Theologie, deren Bestimmung ausserhalb ihrer selbst läge. Der Gehalt liegt im Sprachprozess, der dargestellt wird; die Aussage zielt auf die Dichtung selbst.“Ⱥř5 Ist gezeigt worden, daß im Sonett ‚Gedanken Abrahams‘ sehr wohl genuin theologische Reflexion poetisch zur Sprache kommt, so bleibt nun noch zu fragen, ob die Aussage der Dichterin noch darüber hinaus auf etwas zielt. Einen Hinweis gibt das folgende Sonett Deßen [scil. Abrahams] Dankesgedanken / bey unverhoffter Entsetzung: Viel Trost= und Weißheit Säft aus dieser Traub man saug Ȧ wie GOtt zum guten End Ȧ sein Ziel und Willen lenkte Ȧ und Wundertreu auf die Ȧ so ihm vertrauen Ȧ denkte. Ein Balsam ist das Werk in scharfer Trübsalslaug.
Den guten Ausgang von Gen 22 nimmt Greiffenberg zum Anlaß, darüber zu reflektieren, was aus diesem Text zu lernen sei. Der Leser soll Trost und Weisheit aus dieser Geschichte saugen. Damit knüpft die Dichterin an Röm 15,4 an, wo es heißt: „Was aber vor hin geschrieben ist Ȧ das ist vns zur Lere geschrieben Ȧ Auff das wir durch gedult vnd trost der Schrifft hoffnung haben.“ Gen 22 lehrt nach Luther den Umgang mit der eigenen tentatio: „Solches last uns nu wol lernen, ob wir auch also versucht würden“.Ⱥř6 Die Lehren aus der Versuchung Abrahams setzt Greiffenberg auch noch in anderen Sonetten um. Zwar mögen diese nicht direkt von der Auslegung von Gen 22 abhängig sein, aber dennoch wird zu zeigen sein, daß nur der, der die Auslegungsgeschichte hinter den zentralen Topoi Greiffenbergscher Dichtung kennt, diese recht zu interpretieren vermag.
ř4 ř5 ř6
WA 7,97,2ř. BюџѡѠѐѕ SіђјѕюѢѠ, Sonette (Anm. 6), 171. WA 24,ř82,řř.
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1. Die neue Optik des Glaubens Daß der Glaube es an sich hat, kontrafaktisch zu sein, zeigt sich nicht nur in den ‚Gedanken Abrahams‘, sondern auch in vielen anderen Texten der Dichterin. Unter der scharfen Trübsalslauge den Balsam zu sehen, ist die hohe Kunst, die Abraham den Leser lehren will. Wenn Greiffenberg nun über hundert Sonette zu den Themen Unglück und Kreuz, Leid und Widerwärtigkeit schreibt, so kann man dennoch nicht sagen, daß dies gewissermaßen maßstabsgetreu die Seelenlage der Dichterin dokumentiert.Ⱥř7 Zwar ist das Leben Greiffenbergs durch viele Tiefpunkte gekennzeichnet (früher Verlust des Vaters und der Schwester; Verbot evangelischer Abendmahlsgottesdienste im katholischen Österreich; Flucht vor den Türken; der Tod des Ehemannes und die daraus resultierende wirtschaftliche Not), gleichwohl wäre es unangemessen, wollte man ihre Sonette deswegen ausschließlich autobiographisch lesen. Vielmehr geht es der Dichterin darum, in hochartifizieller Form eine Haltung einzuüben: mit den Augen des Glaubens noch unter dem Leid sub contrario das Heilshandeln Gottes zu sehen. Im Sonett Auff die unbegreiffliche Glaubens ArtȺř8 schreibt Greiffenberg: Begreiffestu schon nicht Ȧ mein Herz Ȧ das was du glaubest; schadt nicht: deß Glaubens Art Ȧ ist unbegreiflich seyn. Das ist sein gegenstand Ȧ was wider allen schein.
Hier wird die Kontrafaktizität des Glaubens klar als dessen Wesensart, als sein ureigenstes Merkmal benannt. Sein Gegenstand ist das, „was wider allen schein“. Dies schließt sich an die biblische Definition des Glaubens in Hebr 11,1 an: „ES ist aber der Glaube Ȧ eine gewisse zuuersicht Ȧ des Ȧ das man hoffet Ȧ Vnd nicht zweiueln an dem Ȧ das man nicht sihet.“ Die neue Optik des Glaubens zeigt sich im Sonett Auf das verwirrte widerwärtige Aussehen:Ⱥř9 Mein GOtt du bist getreu Ȧ wie seltsam es auch scheinet. Wann alles knackt und kracht Ȧ wann Blut und muht erliegt Ȧ kann selbst das Herz entherzt kein saft noch kraft mehr kriegt; wann alles man verhaust und aus zu seyn vermeinet.
So beschreibt Greiffenberg die Situation eines lyrischen Ich, das sich betend an Gott wendet. Aber selbst dieses Gebet bringt keine Linderung, weil es scheinbar nicht durchdringt, nicht gehört wird: „ja wann uns auch gedenkt der Himmel ganz versteinet“. Stattdessen scheinen sich alle und alles gegen das Ich verschworen zu haben, „zu unsern Creutz
ř7 ř8 ř9
Vgl. BюџѡѠѐѕ SіђјѕюѢѠ, Sonette (Anm. 6), 84. Gџђіѓѓђћяђџє, Sonette (Anm. ř), 68. Ebd., 59.
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vereinet“. Haben die Quartette die Not beschrieben, so folgt – ähnlich wie in zahlreichen Klagepsalmen – mit Beginn des ersten Terzettes eine grundsätzliche Wendung der Not: so ist bereit die zeit der gnaden=labung hie Ȧ die kan so wunderbald das Leid in Freud verwandlen Ȧ die pflegt so lieblich süß die Schmerzen zu behandlen.
Der Betende sieht unter seinem Kreuz bereits die Gnadenlabung Gottes. Diese erscheint nicht erst irgendwann, sondern ist bereits in der Situation selbst existent, wenn auch verborgen. Nur von dieser Sichtweise her lassen sich die zahlreichen weiteren Passagen in den Sonetten Greiffenbergs verstehen. Hier noch einige Beispiele: Im Sonett Uber GOttes Ersetz= und ErgetzungȺ40 heißt es über Gottes Güte: „ja im erniedern selbst Ȧ sie pfleget zuerheben“. Es klingt der Philipperbrief-Hymnus an, in dem es heißt, daß Christus sich selbst erniedrigte und Gott ihn deshalb erhöhte.Ⱥ41 Und vom Handeln Gottes am Menschen heißt es in 1Sam 2,7: „Der HERR macht Arm vnd machet Reich Ȧ Er nidriget vnd erhöhet.“ Erniedrigung ist mithin sub contraria specie ein Zeichen für die Erhöhung des Glaubenden durch Gott. In einem anderen Sonett heißt es: Du Wunder Heiligkeit Ȧ und Heilig hohes Wunder ! du machest alles wol Ȧ und siht doch seltsam aus. Offt Ȧ wann du segnen willst Ȧ kommt erst ein starker Strauß.Ⱥ42
Erneut ist im starken Strauß, im Wortgefecht, mithin im Streit mit Gott, Gottes Segen zu sehen. Das schwierigste Paradoxon jedoch, mit dem der Glaube konfrontiert wird, ist, daß er unter dem Tod das Leben erkennen soll. Dies gilt, weil und seit Christus nach 2Tim 1,10 durch seinen Tod „dem Tod die macht hat genomen Ȧ vnd das Leben vnd ein vnuergenglich wesen ans Liecht bracht [...].“ Von daher kann auch Greiffenberg schreiben: „Das Unglück wird zu Glück Ȧ zu Leben gar der Tod !“Ⱥ4ř Um diesen Blickwinkel der neuen Optik des Glaubens geht es Greiffenberg in ihren Kreuz- und Unglück-Sonetten. Diese werden zu einer Sehschule für den Leser, auch wenn man aufgrund der hochartifiziellen Machart der Gedichte gelegentlich mindestens zweimal hinsehen muß, um dies zu erkennen.
40 41 42 4ř
Ebd., 24. Vgl. Phil 2,5–11. Gџђіѓѓђћяђџє, Sonette (Anm. ř), 75. Ebd., 21.
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2. Das ewige Wort Gottes Wenn man bedenkt, daß nach Luther die tentatio integraler Bestandteil christlicher Existenz und die Heilige Schrift das einzige remedium in der Anfechtung ist, so nimmt es nicht wunder, daß Greiffenberg ein stetes Loblied auf die Wirkmächtigkeit der scriptura sacra singt. So gibt es beispielsweise ein Sonett auf die Göttlichen wortes Krafft:Ⱥ44 ACH sage nur Ȧ Ich will ! vom Können frag ich nicht.
Dann Berg=versetzen dir Ȧ wie mir das Würffelwerffen. Zum Meer=austrucknen wirst du nur ein wort bedörffen. Eh Ȧ als im Augenblick Ȧ was du gebietst Ȧ geschieht Dann Ȧ mit dem wort zugleich dein mund das werck ausspricht.
Dieser ganze erste Teil des Sonettes ist ein Cento biblischer Texte, mithin singt die Dichterin das Loblied auf die Schrift mit Worten aus der Schrift. Im Text begegnet uns der Aussätzige aus Mt 8, der zu Christus sagt: „HErr so du wilt Ȧ kanstu mich wol reinigen. Vnd Jhesus strecket seine Hand aus Ȧ rüret jn an Ȧ vnd sprach Ȧ Jch wils thun Ȧ sei gereiniget Ȧ Vnd als bald ward er von seinem aussatz rein“ (Mt 8,2–4). Dem göttlichen „Ich will“ inhäriert die Allmacht Gottes selbst. Deshalb muß das lyrische Ich nicht am Können zweifeln: „ACH sage nur Ȧ Ich will ! vom Können frag ich nicht.“ Es folgen zwei Beispiele für dieses Können Gottes. Gott kann Berge versetzen, und nach Mt 17,20 partizipiert der Glaubende an diesem Können: „So jr glauben habt Ȧ als ein Senffkorn Ȧ so müget jr sagen zu diesem Berge Ȧ Heb dich von hinnen dort hin Ȧ So wird er sich heben [...].“ Die Leichtigkeit, mit der Gott Berge versetzen kann, wird durch den Vergleich mit dem menschlichen Würfelspiel illustriert. Durch den göttlichen Befehl befähigt, trocknete Mose in der Tat das Meer aus (Ex 14,16.21). All dies liegt in der efficacia des Wortes Gottes begründet, die erneut mit Ps řř,9 zur Sprache gebracht wird: „Eh Ȧ als im Augenblick Ȧ was du gebietst Ȧ geschieht Dann Ȧ mit dem wort zugleich dein mund das werck ausspricht.“ Aber nicht allein die Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes, sondern auch dessen Unvergänglichkeit wird immer wieder thematisiert. So heißt es in einem Sonett beispielsweise: „Daß sein verheissen fähl Ȧ unmüglich ist dermassen Ȧ daß Ȧ eh als sie Ȧ die Erd’ und Himmel brechen müst.“Ⱥ45 Hier rekurriert erneut Mt 24,ř5. Daß dies der Trostgrund in der Anfechtung, ja noch im Tode ist, kommt im Folgenden zur Sprache: Solt sichs noch tausendmal unmöglicher anlassen Ȧ ja ich und alls vergehn: noch gleichwol glaub ich fort.
44 45
Ebd., ř5. Ebd., 74.
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Ich bind den Hoffnungsstamm ans unvergänglich Wort Ȧ daß wird mein Glaub’ im Tod Ȧ ja gar im Grab umfassen.Ⱥ46
Der kontrafaktisch Glaubende hält bis über den Tod hinaus am unvergänglichen Wort Gottes fest, welches ihn nach Joh 11,25f.4ř wiederum aus dem Grab herausrufen wird. Denn es gilt vom Wort Gottes, was die Dichterin schreibt: „Ach es pflegt bey iedem wort Allverschaffungsmacht zu schweben.“Ⱥ47 ř. Das Spiel Gottes Martin Luther schreibt in seiner Auslegung von Gen 22 über das anfechtende Handeln Gottes an Abraham: „Also spielet Gott mit yhm wie mit einem apfel“.Ⱥ48 Das Motiv vom Spiel Gottes ist in der nachreformatorischen Exegese von Gen 22 ein festgeprägter Topos geworden.Ⱥ49 Bei Greiffenberg hat es zwar keinen Eingang in die Abrahams-Sonette gefunden, sehr wohl aber in andere Texte. Die Identifikation des Spiels Gottes mit seinem versuchenden Handeln zeigt sich im Folgenden: Mein GOtt ! ich lass ihn dir Ȧ spiel du mit meinem sinn nach deiner dunklen Art. Verbirg und zeig dich wider. Wirff Ȧ wie den Ballen Ȧ ihn bald Wolken an Ȧ bald nider.Ⱥ50
Gottes „dunkle Art“ bezeichnet den deus absconditus, der sich verbirgt. Dies vergleicht die Dichterin mit einem Versteckspiel: „Verbirg und zeig dich wider.“ Zudem gleicht es einem Ballspiel: Der gläubige Sinn wird von Gott sowohl nach oben als auch nach unten befördert, erhöht und erniedrigt. Das Spiel ist deshalb nicht beängstigend, weil der Glaubende in jedem Moment des Spiels gewiß sein darf, daß Gott es frei nach Röm 8,28 („Wir wissen aber Ȧ das denen Ȧ die Gott lieben Ȧ alle ding zum besten dienen“) zu einem guten Ende bringt: „das was aus deiner Hand Ȧ ist allzeit zielwärts gangen.“Ⱥ51 Auf die Tugend=bedrängnus=zeitȺ52 heißt es: „Dein [scil. der Tugend] Erz=Ursprung Ȧ Gottes Weißheit Ȧ hat dieweil mit dir ihr Spiel: deinen Krieg und Sieg zu sehn Ȧ dieses Stürmen sie verhänget.“ Gottes Spiel mit der Tugend bringt diese in Bedrängnis. Sie wird durch Stürme geprüft. Der Trost liegt wiederum darin, daß die Tugend im Sturm bereits an ihrem Sieg partizipieren darf: 46 47 48 49 50 51 52
Ebd., 7ř. Ebd., 72. WA 24,ř79,ř0. Vgl. Sѡђієђџ, Zu Gott gegen Gott (Anm. 19), 208. 210. Gџђіѓѓђћяђџє, Sonette (Anm. ř), 66. Ebd. Ebd., 86.
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Allen stürmen ist unmüglich Ȧ das ihr [scil. der Tugend] werd diß Ziel verwehrt. Wenn auch Schiff und Uhr zerbrochen Ȧ sie am Grund in Letten liegt: wider Meer und Wetter toben Ȧ sie doch Ȧ GOtt zuzielend Ȧ siegt.
Nach Greiffenberg soll der Glaubende sich in diesem Spiel ganz Gott ergeben. Weil der Ausgang des Spieles schon feststeht, darf der Glaubende im Vertrauen auf Gott völlig passiv bleiben, wie der Ball in der folgenden Liedstrophe: Er beginnt mit meinem Geist Ȧ nach der Spiel=Art mit dem Ballen: der bald in die Lufft auffreißt Ȧ bald auch muß zur Erde fallen. Beedes ist sein Will und Werk’: ihn laß’ ich mich Ȧ nach verlangen Ȧ schwingen Ȧ werffen Ȧ wider fangen. Er war Ȧ ist Ȧ und bleibt mein Stärk.Ⱥ5ř
Gottes Spiel mit den Menschen erscheint zwar häufig als Anfechtung, aber der Glaubende soll darin sub contrario das Heilshandeln Gottes sehen lernen. Wer das, wie Greiffenberg in ihren Sonetten, einübt, lernt auch, Gott für sein Spiel zu loben. Das Spiel Gottes führt bei Greiffenberg zur Antwort des „wunderpreisungs spiel[s]“.Ⱥ54 Im ersten Sonett bezeichnet sie ihre Dichtkunst als Spiel: „zu deiner hohen Ehr mein Ziel und Spiel ich richt.“Ⱥ55 Die Deoglori, das erklärte Lebensziel Greiffenbergs, wird hier zum Spiel, ist aber darum nicht weniger ernstzunehmen. Nach Art von Ps 10ř,1f. fordert die Dichterin ihre Seele zum Lob Gottes auf: ACh lobe Ȧ lobe Ȧ lob’ Ȧ ohn unterlaß und ziel Ȧ
den Ȧ den zu loben du Ȧ O meine Seel Ȧ gebohren ! zu diesem Engel=werk bist du von GOtt erkohren Ȧ daß du ihm dienen solst im wunderpreisungs spiel.Ⱥ56
Bartsch Siekhaus hat „jedes Gedicht für sich und neu ansetzend“Ⱥ57 betrachtet. Ihr abschließendes Urteil über die Intention der Dichterin lautet: „Es ist eine Form von Selbsthilfe oder Selbsterlösung, die nur einem Künstler möglich ist, obwohl sie auf ästhetischem und menschlichem Niveau nachempfunden werden kann. Sie kann aber nicht mit- oder nachvollzogen werden, denn ihre Formen und Formeln sind individuell.“Ⱥ58 Zu einer solchen Fehleinschätzung kann nur kommen, wer die Auslegungsgeschichte der Heiligen Schrift nicht als Kontext der Interpretation der Sonette heranzieht. Interpretiert man die Dichtung Greiffenbergs historisch-theologisch und auslegungsgeschichtlich sensibilisiert, so wird deutlich, daß es sich keinesfalls um eine Strategie der Selbsterlö5ř 54 55 56 57 58
Ebd., řř1. Ebd., 6. Ebd., 1. Ebd., 6. BюџѡѠѐѕ SіђјѕюѢѠ, Sonette (Anm. 6), 25. Ebd., 119.
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sung handeln kann, sondern um eine lyrisch geprägte Selbsttröstung, die im Sinne des soliloquiums und der Selbstanrede des Psalmisten gewiß ist, daß der Grund allen Trostes einzig und allein im Gegenüber des göttlichen Wortes der Heiligen Schrift zu finden ist und angeeignet werden will. Die dogmatischen loci, die aus der Schrift selbst extrahiert wurden, werden in der Greiffenbergschen Dichtung zur Sprache gebracht, indem sie auf deren Fundament zurückbezogen und mit Hilfe biblischen Sprachmaterials, das die Anstiftung zur lyrischen Arbeit bildet, gewissermaßen verflüssigt werden. Wenn die Forschung dies bei der Untersuchung des Betrachtungswerkes berücksichtigt, wird sie erst theologische Kompetenz und Intention der Dichterin recht zu würdigen wissen; denn die Verkündigung des Wortes Gottes ist das eigentliche Anliegen Catharina Regina von Greiffenbergs: mein’ Hand schreib GOttes Ruhm Ȧ so lang sie lebt auf Erden ! kurz was nur an mir ist Ȧ mach GOttes Warheit kund! denn dein Wort wissen Ȧ thun Ȧ und in die Welt ausbreiten: war Ȧ ist Ȧ und bleibt mein Ziel Ȧ in allen Fäll= und Zeiten !Ⱥ59
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Gџђіѓѓђћяђџє, Sonette (Anm. ř), 40.
Abrahams und Jephtes Menschenopfer in den jesuitischen Schuldramen von Jacob Pontanus und Jacob Balde Ne dubita: oboedire Deo nil affert mali. von HђіёџѢћ Fҿѕџђџ Zögere nicht! Gott zu gehorchen, bewirkt kein ÜbelȺ1 – mit dieser Aufforderung versucht Isaak, seinen Vater Abraham in Jacob Pontanus’ lateinischem Schuldrama ‚Immolatio Isaac‘ davon zu überzeugen, Gottes Opferungsbefehl in die Tat umzusetzen. Abraham verharrt nämlich nach Meinung Isaaks allzu lange untätig im Schwanken zwischen Gehorsam gegenüber Gott und Liebe zum einzigen Sohn. Gleich nachdem Abraham entsetzt den Befehl zur Opferung seines geliebten Sohnes vernommen hat, treten zwei Allegorien auf, der gläubige Gehorsam und die natürliche Elternliebe, ‚Ratio‘ und ‚Natura‘. Sie liefern in mehreren Streitgesprächen dem zögernden Abraham die Argumente für seine Entscheidung. Schneller entschließt sich Isaak. Obwohl er von seinem Vater auf der langen Wanderung zum Opferberg bis zuletzt im unklaren über das Kommende gelassen wird, akzeptiert er gehorsam alle Befehle des Vaters, auch den, sich zu opfern. Der Jüngling drängt den Vater sogar noch zum Vollzug der Tat. Kurz vor dem entscheidenden Schwertschlag gebietet jedoch der Engel Einhalt. Erst nachdem Vater, Sohn und Diener wieder glücklich zu Hause angekommen sind, erfährt Sara von dem Opferungsvorhaben. In allen Gesprächen mit Abraham und Isaak ist sie die liebevoll besorgte Gattin und Mutter, die ihr Lebensglück dankbar an die Familie knüpft. Sie berichtet Isaak 1
JюѐќяѢѠ PќћѡюћѢѠ, „Immolatio Isaac“, in: Poeticae Institutiones libri tres, Ingolstadt 160ř, 554. Dieses Drama wurde zusammen mit zwei weiteren Schuldramen im Tyrocinium poeticum zuerst 1594 in der zweiten bzw. dritten Auflage von Pontanus’ Poetik veröffentlicht. Das Drama ist auch über Internet im CAMENA-Projekt der Universität Mannheim (jedoch mit anderer Paginierung) abrufbar (Corpus Automatum Multiplex Electorum Neolatinitatis Auctorum, http:ȦȦwww.uni-mannheim. deȦmateoȦcamenahtdocsȦcamena.html).
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von ihrem beängstigenden Traum, in dem der Vater ihr ein geliebtes Böckchen aus dem Schoß entreißt.Ⱥ2 Erst im nachhinein erkennt sie die propädeutische Bedeutung des Traumes. Sie empfängt voll Dankbarkeit den Sohn zum zweiten Mal als gnadenreiches Geschenk GottesȺř und bestätigt nach nur kurzem Zögern, daß Abraham richtig gehandelt hat. Zusammen mit der ganzen Familie preist sie am Schluß des Stückes in einem Fest Gottes Gnade.Ⱥ4 Das ist in Kürze der Inhalt der ‚Immolatio Isaac‘ von Jacob Pontanus (1542–1626), die 1590 in Dillingen aufgeführt wurde.Ⱥ5 Pontanus’ Drama betont in Prolog und Epilog ausdrücklich Abrahams idealen Gehorsam und die ideale Liebe von Gatten, Eltern und Kindern. Trotz aller Klagen ist das Stück von freudigen Lobpreisungen der Gnade und Milde Gottes durchzogen: Lachen und Weinen als Ausdruck von Gottes Weisheit und menschlicher Begrenztheit sind die bestimmenden Affekte. Der Jesuit Jacob Pontanus (eig. Jacob Spanmüller) hat sich als Mitarbeiter der jesuitischen Studienordnung ‚Ratio studiorum‘ einen Namen gemacht und ist als Verfasser mehrerer Sprachlehrbücher sowie der ersten, weitverbreiteten Schulpoetik und einiger Schuldramen bekannt.Ⱥ6 Pontanus’ Bearbeitung des Isaakstoffes soll in diesem Artikel mit einem verwandten Stoff der Menschenopferung verglichen werden, dem der Jephtetochter nach Ri 11 in der Bearbeitung von Jacob Balde (1604–1668), dem berühmten bayerischen Rhetoriker, Hofprediger und Dichter. Baldes Tragödie wird 16ř9 zweimal unter dem Titel ‚Jephte‘ am Jesuitengymnasium zu Ingolstadt aufgeführt und in einer erweiterten 2
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PќћѡюћѢѠ (Anm. 1), 566: „Gremio complecti visa sum meo hœdulumȦ Bellissimum, quem deprecanti aggressus estȦ Rapere mihi, et rapuit ipsus pater tuus,Ȧ Destricto vt ense daret Tonanti victimam.“ (Ich schien einen allerliebsten kleinen Bock auf meinem Schoß zu umarmen, den man mir trotz seines Flehens zu entreißen suchte, und dein Vater selbst entriß ihn mir schließlich, um ihn als Opfertier mit dem Schwert Gott zu weihen.) Ebd., 588 (Druckfehler bei der Paginierung von 591 korrigiert): „S.: Accipio, accipio donum præstantissimumȦ auro, lapillis, gemmis pretiosius.“ (Sara: Ich empfange, ich empfange das vortrefflichste Geschenk, kostbarer als Gold, Perlen und Edelsteine.) Ebd.: „N: Diem festum hunc agamus, ducentes choros.“ (Natura: Laßt uns diesen Tag feiern und tanzen.) Der freudige und lachende Isaak gestaltet nicht nur seine Namensetymologie, sondern betont auch das ständig wiederholte Moment des Gotteslobes. Fџіѡѧ Rђѐјљіћє, Immolatio Isaac. Die theologische und exemplarische Interpretation in den Abraham-Isaac-Dramen der deutschen Literatur insbesondere des 16. und 17. Jahrhunderts, Münster i. W. 1962, 69. Zu Pontanus vgl. u. a. Fіёђљ Rѫёљђ, „Aus der Frühzeit des Jesuitentheaters. Zur Begleitung einer Edition lateinischer Ordensdramen“, in: Daphnis 7 (1978), 449; Bюџяюџю BюѢђџ, „Jacob Pontanus SJ, ein oberdeutscher Lipsius“, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47 (1984), 77–120.
Zwei biblische Menschenopfer im jesuitischen Schuldrama
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Fassung von 1654 unter dem geänderten Titel ‚Jephtias‘ gedruckt.Ⱥ7 Diese Titeländerung läßt vermuten, daß die gedruckte Tragödie größeres Gewicht auf den Charakter der Tochter legt als der Bibeltext und die erste Version des Schulstückes. Jacob Balde gibt der geopferten Tochter den Namen Menulema – ein Anagramm zu Emmanuel –, um die alttestamentliche Erzählung deutlich für ein transzendentes und typologisches Verständnis zu öffnen. Die willensstarke Jungfrau lebt ganz für die Liebe ihres Vaters, den sie gerne selbst im Kampf gegen die ammonitischen Stammes- und Gottesfeinde unterstützt hätte. Sie erwählt Ariphanasso, einen ägyptischen Proselyten, zu ihrem Bräutigam, den sie stellvertretend in den Kampf schickt, um an ihrer Stelle den geliebten Vater zu schützen. Der junge Krieger gelobt ihr feierlich ewige Liebe, Treue und das Haupt des ammonitischen Tyrannen. Vor dem Kampf hat Jephte ein Gelübde abgelegt, dem zufolge er Gott für seinen Beistand im Krieg ein Dankopfer darbringen will: Es soll das erste Lebewesen sein, das ihm zu Hause entgegenkommt. Als der heimkehrende Triumphzug Jephtes auf den Begrüßungszug der Mädchen mit Menulema an der Spitze trifft, verwandelt sich die Siegesfreude in Entsetzen und Trauer. Nachdem der verstörte Vater mühsam das Gelübde preisgegeben hat, ist es nicht er, der die Einlösung seiner Worte fordert, sondern Menulema: „Si Genitor es, permitte: si Dominus, jube.“ Wenn du Vater bist, erlaube es, wenn du Herrscher bist, befiehl es.Ⱥ8 Ohne zu zögern übernimmt Menulema die vorbestimmte Rolle als Schlachtopfer und verlangt auch nach ihrer zweimonatigen Klagezeit von ihrem verängstigten Vater Gehorsam. In den Bergen erklärt sie in einem langen Wechselgespräch ihren zwölf uneinsichtigen Gefährtinnen den Sinn ihrer Opferung. Ohne die Einwände der Freundinnen oder der Mutter zu beachten, eilt Menulema mutig ihrem Vater entgegen. Geschmückt mit Kränzen und Hochzeitskleidern wird sie von ihrem weinenden Vater als Brandopfer dargebracht. Der heimkehrende Bräutigam hört auf der Suche nach seiner Braut zuerst bloß entsetzte Klagen, bevor er aus der genauen Beschreibung des Opfergeschehens mit der liturgischen Symbolik den Vollzug göttlichen Willens und den paradigmatischen Sinn in Jephtes Handeln erkennt. Zusätzlich erhält er die letzten Geschenke seiner Braut: ihren Trinkkelch, Ring, Kranz, goldenen Dorn, ihr Schweißtuch und andere Gaben, deren 7
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Jюѐќя Bюљёђ, Jephtias, Tragoedia, Amberg 1654. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert. Leichter zugänglich ist die Tragödie im nachgedruckten Gesamtwerk: Jюѐќя Bюљёђ, Opera omnia poetica, Bd. 6, hg. v. Wіљѕђљњ KҿѕљњюћћȦHђџњюћћ Wіђєюћё, Frankfurt a. M. 1990, oder im Mannheimer CAMENA-Projekt (Anm. 1). Titelkupfer, Lieder und Noten finden sich jedoch nur in der Erstausgabe. Bюљёђ (Anm. 7), 92.
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Symbolik sich erst im typologischen Kontext entfaltet. Stellvertretend für den in den rechten Glauben Eingeweihten preist Ariphanasso das freiwillige und selbständige Opfer Menulemas und schwört seiner Braut ewige Treue. Die allgemeine Trauer durchmischt sich am Ende deutlich mit Freude und Hoffnung auf die Heilsbotschaft. Die Verkündigung der Erlösungstat geschieht verbal im Schlußgesang des Chores mit Anspielungen auf das Goldene Zeitalter und die paradiesische Harmonie sowie visuell im Aufzug eines Anastasisbildes.Ⱥ9 In diesem Aufsatz möchte ich untersuchen, wie diese zwei in der Bibel unterschiedlich dargestellten Menschenopferungs-Szenen, Gen 22,1–19 und Ri 11, im Medium des jesuitischen Schultheaters gedeutet wurden. Dabei soll auch der Medienwechsel, die Transformation vom narrativen Bibeltext zum intermedialen Theaterstück und zurück zum Lesetext, beachtet werden.
Die Figurenkonzeption beider Dramen Beide jesuitischen Dramen sind historische Exempel einer moralischdidaktischen Bearbeitung der Heiligen Schrift für die Schulbühne mit ihrem anfangs auf Eltern und Schüler begrenzten Publikum und ihren einfachen bühnentechnischen Möglichkeiten. Obwohl der Ausgang beider Menschenopfer im Bibeltext so verschieden ist, werden diese in den zwei Dramen gleichermaßen als freiwillige Glaubensprüfungen gedeutet. Dieses Verständnis ist weniger verwunderlich für Abrahams Opfer. Dagegen hing die Beurteilung von Jephtes Tat gewöhnlich von der Bewertung des Gelübdes Jephtes ab.Ⱥ10 In beiden Dramen wird Glaube als Kampf gegen die Versuchung verstanden, der durch gehorsame Erfüllung von Gottes Befehlen entschieden wird. Dazu wird verlangt, die aufopfernde Liebe zu Gott höher zu werten als Eigenliebe und diesseitigen Besitz. Beide jesuitischen Verfasser deuten den Entschluß zur Opferung bereits als inneren Vollzug und messen ihm den gleichen Wert zu wie der tatsächlichen Durchführung: Pontanus’ Abraham ruft den Sohn vor dem entscheidenden Schlag mit den letzten Worten Jesu an, und Baldes Menulema vollzieht Isaaks Gedanken unmittelbar vor der Opfe-
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Vgl. ebd., 164f. Das Bild kann als Teil der Kreuzverehrung der Karfreitagsliturgie gedeutet werden, vgl. JюѐќяѢѠ (Anm. 77), 110. Abrahams Opfer wurde sowohl in der Exegese als auch in den zahlreichen Abrahamdramen vor Pontanus als Prüfung interpretiert, vgl. dazu den Abschnitt „Die Rechtfertigung des Opfers …“.
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rung nach, in denen dieser seinen Tod bereits vorweggenommen hat.Ⱥ11 Außerdem empfinden sich beide Väter als Opfer. Auf diese Weise wird rückhaltloses Vertrauen und totale Selbstaufgabe des Gläubigen zum Vorbild erhoben. Die Protagonisten beider Stücke sind statische Glaubensexempel, die jeweils mit gleichen Argumenten einen mehrstufigen Erkenntnisweg beschreiten, um freiwillig und aktiv ihre Rolle bei der Verwirklichung des Heilsplanes zu übernehmen. Beide Dramen preisen die spürbare Gnade Gottes, die sich in der Erlösung Isaaks ebenso wie in der Verheißung durch Menulemas Tod offenbart.Ⱥ12 Isaaks Erlösung entspricht bei Pontanus der Rettung des Volkes bzw. in Baldes Drama der Rettung der Menschheit. An Abraham und – noch deutlicher – an Jephte wird im Kontrast zur Rechtfertigung ‚sola fide‘ die katholische Betonung des aktiven Gehorsams als Grundlage des persönlichen Heils dramatisiert. Beide Theaterstücke stellen die Vaterfiguren ins Zentrum des dramatisierten Gehorsamskonflikts und deuten deren Lebensweg als Leidensweg.Ⱥ1ř Die Täter empfinden sich in ihrer schmerzhaften Prüfung als Opfer. Die Forderung Gottes, sich vom natürlichen Besitz des geliebten Kindes und von den eigenen Hoffnungen zu trennen, stellt die Klimax einer Reihe von Prüfungen dar,Ⱥ14 in denen sich Abraham und Je11
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Abrahams letzte Worte vor der Opferung nach Jesu Worten vor seinem Tod (Lk 2ř,46), vgl. PќћѡюћѢѠ (Anm. 1), 566: „A. Isaci Isaci. iam te commendes Deo,Ȧ Tuumque spiritum: nunc nunc ferio. I. feri.“ (Abraham: „Isaak, Isaak, jetzt übergebe ich dich und deinen Geist Gott. Jetzt, jetzt schlage ich zu.“ Isaak: „Schlag zu“.) Zu Menulemas Nachvollzug von Isaaks Gedanken vgl. den Abschnitt „Das Isaakopfer als Meditationsbild“. Abraham erkennt Gottes direkt spürbare Gnadenwirkung. Er gesteht Sara, daß nicht er selbst, sondern Gott seinen inneren Kampf entschieden hat, vgl. PќћѡюћѢѠ (Anm. 1), 590: „Ratiocinabar mecum, sed vicit Deus.“ (Ich habe mit mir gestritten, aber Gott hat gewonnen.) In Baldes Tragödie empfindet Jephte mehrfach körperlich den Eingriff des Heiligen Geistes durch plötzliche Wärmewallungen. Im Gegensatz dazu wird der ungehorsame Eigenwille von Kälte begleitet (s. u. Anm. 15). PќћѡюћѢѠ (Anm. 1), 592: „Unum velim vos obseruare singulos,Ȧ Id quod Abrahami cunctos exemplum monet:Ȧ Nempe vt iubenti, quæcunque iubet Deus,Ȧ Obtemperetis quam potestis alacriter,Ȧ Reponentes in eo solo fiduciam:Ȧ Seu dura iusserit ille, sive mollia;Ȧ Seu suavia, seu amara, facilia, difficilia.” (Ich möchte, daß jeder einzelne von euch das beachtet, was das Beispiel Abrahams alle lehrt, nämlich daß ihr so schnell wie möglich gehorcht, was auch immer Gott befiehlt, und ihr allein auf ihn eure Zuversicht legt, egal, ob er etwas Hartes oder Weiches, Süßes oder Bitteres, Leichtes oder Schwieriges befiehlt.) Abraham klagt zu Beginn des Dramas, ständig auf Befehl Gottes ausgeschickt zu werden und sich neuen Versuchungen stellen zu müssen. Vgl. Pontanus (Anm. 1), 561: „Hem vt longis, vt laboriosis oppidòȦ Migrationibus tolerantiam tuamȦ Tentavit ? quam multis idem periculisȦ Tuam obiectari passus est vitam ?“ (Ach, wie hat mich deine Langmut auf den mühsamen Wanderungen durch die Stadt in Versuchung ge-
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phte in ihrer Rolle als Führer einer Sippe oder eines Stammes bewähren müssen. Die Väter schreiten zum Vollzug der Opferung nach reiflicher Überlegung im Gebet entsprechend ihrer öffentlichen Rolle als ‚pater familias‘ oder ‚iudex‘ mit priesterlicher Funktion.Ⱥ15 Der Entscheidungsprozeß der Väter unterscheidet sich von dem ihrer Kinder und Gemahlinnen durch eine langgezogene Angst- und Verzweiflungsphase, die anfangs mit Sprach- und Handlungsunfähigkeit korreliert, durch vernünftige Glaubensargumente überwunden und durch eine geläuterte, tränenreiche Liebe ersetzt wird. In der gefühlvollen Liebe der opfernden Väter spiegelt sich Gottvaters Hingabe an die Menschen. Die geläuterten Tränen des Schmerzes während der Opferungszeremonie sind ein sichtbares Zeichen dafür, daß Liebe und nicht Selbstsucht, Haß, Rache oder Machtgier das Tötungsmotiv des Vaters ist. Dies untermauert Balde durch den Kontrast zu Agamemnon, dessen Schmerz von dem Maler Timanthes nicht habe abgebildet werden können, weil die Opferung Iphigenies selbstsüchtig und eben kein Gottesopfer gewesen sei.Ⱥ16 Pontanus veranschaulicht Abrahams Entscheidungskampf im rhetorischen Schlagabtausch zweier Allegorien, der vernünftigen ‚Ratio‘, einer Fürsprecherin der absoluten Herrschaft Gottes, und der ungezähmten ‚Natura‘, die erstmalig unmittelbar nach dem Opferungsbefehl auftritt.Ⱥ17 Balde verdoppelt Jephtes Kampf: Er besiegt in einem äußeren Krieg die sündigen Ammoniter und parallel
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führt. Ach, was duldete er, daß dein Leben so vielen Gefahren ausgesetzt wird.) Zu Jephtes zahlreichen Prüfungen gehört es, sein Schicksal im Exil als gottgewollt anzunehmen, das Herrschaftsangebot seiner Stammesleute, den Krieg gegen die Ammoniter und die Opferung als Aufträge Gottes zu verstehen und durchzuführen. Bюљёђ (Anm. 7), 121: „Iam sum sacerdos totus ejecto patre.Ȧ Vnde nouus iste cordis impulsi calor!“ (Jetzt, nachdem ich den Vater hinausgeworfen habe, bin ich ganz Priester. Daher diese unbekannte Wärme des erschütterten Herzens !) Abraham und Jephte rufen in Gebetshaltung mit erhobenen Armen unmittelbar vor der Tat Gott an und betonen damit sichtbar den rituellen Charakter des Opfers. Vgl. Bюљёђ (Anm. 7), A 11. Zu Timanthes vgl. PљіћіѢѠ, Nat. Hist. ř5.74. Vgl. zu Menulemas Tränen den Abschnitt „Das Isaakopfer als Meditationsbild“. Eine ähnliche Versuchungsszene nach dem Opferbefehl an Abraham, in der Satan als Gegenspieler Abraham an der Ausführung des Opfers hindern will, gibt es bereits in den Dramen von Hђџњюћ Hюяђџђџ, Far schön Spyl von dem Glöubigen vatter Abraham, 1562, oder von Gђќџє Rќљљђћѕюєђћ, Immolatio Isaac, 1569, vgl. Rђѐјљіћє (Anm. 5), 5řff. Pontanus’ Allegorie der ‚Natura‘ geht wahrscheinlich auf den Gegensatz von ‚amor Dei‘ und ‚amor carnis‘ des Origenes zurück, den vor Pontanus bereits Jюѐќя SѐѕҦѝѝђџ in seinem Drama Tentatus Abrahamus, Dortmund 1551, gestaltet hat. Schöppers Drama liegt die gleiche Glaubensdefinition wie bei Pontanus zugrunde: Die temporäre Gefühlsverwirrung Abrahams wird in einem Läuterungsprozeß bewältigt, indem der ‚amor Dei‘ als höchste Liebe wieder in sein Recht gesetzt wird. Zu Schöpper vgl. Rђѐјљіћє (Anm. 5), 62ff. 1ř5ff.
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dazu in einem inneren Kampf die sündigen Affekte. Auf diese Weise wird Jephte zweimal Retter seines Volkes. Er wägt vor jeder Entscheidung im inneren Dialog das Für und Wider mit den Argumenten ab, die bereits Pontanus in seinem Drama den personifizierten Allegorien ‚Ratio‘ und ‚Natura‘ in den Mund gelegt hat. Nach drei Anläufen, die seinen mehrstufigen Erkenntnisweg verdeutlichen, entscheidet sich Jephte schließlich gegen die verführerische Natur und für Gott. Um Gottes Willen erkennen zu können, identifiziert er sich abwechselnd in meditativer Versenkung mit positiven und negativen Beispielen. Biblische Vorbilder, darunter auch Abraham und Isaak, zeigen ihm nach der Methode der ignatianischen Exerzitien den rechten Weg. Jephtes Opfer wird gegenüber zahlreichen historisch und kulturell geläufigen Paradigmen von Kindestötungen abgegrenzt, die alle – wie Iphigenies Opferung – weder ein Beispiel der Selbsthingabe noch der Gnade Gottes gewesen seien. Jephte wird im religiösen Kontext als gottbegnadeter Führer gezeigt und das Opfer als Selbstopfer im Namen Gottes sowie als gehorsame Bundesverpflichtung gerechtfertigt. Darüber hinaus wird Jephte auch im moralischen und im historisch-politischen Kontext als absolutistischer Herrscher von Gottes Gnaden dargestellt, der seine berechtigten Machtansprüche gegen äußere Bedrohung vertritt: Für beide Führer gilt die Pflicht, private Wünsche (Familienglück) den öffentlichen Ansprüchen (Sicherung des Stammes) unterzuordnen. Nur unter Selbstaufopferung und im Bündnis mit Gott kann die Menschheit vor der Versklavung durch Feind oder Sünde gerettet werden – laut Balde eine universale Wahrheit, die für die Zeit des Alten und des Neuen Testaments sowie für die Gegenwart gültig ist. Allerdings wird Jephtes lange, affektbetonte Phase der Erschütterung als nachvollziehbares Leiden gerechtfertigt. Im laut beklagten Überschreiten der Naturgesetze verbirgt sich das schwer durchschaubare, paradox wirkende Mysterium des Glaubens.Ⱥ18 Die zu opfernden Kinder sind in beiden Dramen einziger und lang ersehnter Trost im mühevollen Leben der Eltern. Als Gottesgeschenke tragen sie nicht nur das Versprechen und die Hoffnung auf künftige
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In Baldes Drama deutet der tragische Chor Jephtes Verwirrung als Kampf zwischen gläubiger Liebe, ‚pietas‘, und Schmerz, vgl. Bюљёђ (Anm. 7), 118. In den Paratexten wird sein Zustand mit dem Überschreiten der Naturgesetze als Paradoxon erklärt, A 18: „In Iephte natura & religio, pietas & dolor certabant. quis vicit? qui vnigenitæ suæ non pepercerit. Non defleuit votum suum.“ (In Jephte kämpft die Kraft der Natur gegen die des Glaubens und des Schmerzes. Wer gewinnen wird? Der seine einzige Tochter nicht verschont haben wird und auch sein Gelübde nicht bedauert hat.)
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Stammesträger in sich,Ⱥ19 sondern sind dank ihrer Gelassenheit ihren zögernden Vätern ein Vorbild an Demut. Sie haben weder Angst vor dem Tod noch Zweifel am Befehl Gottes. Beide Kinder übernehmen trotz ihres Alters die Führung und die Rolle von intuitiv Gläubigen, die ohne Widerspruch aktiv und freiwillig zu jedem Glaubensopfer bereit sind, ohne natürlichen Gefühlen großen Raum zu geben.Ⱥ20 Sara besteht die Prüfung, indem sie Isaaks Überlegenheit bekräftigt und – ohne weiter zu fragen – seinen Weisungen Folge leistet, obwohl sie den beunruhigenden Traum in ihrer menschlichen Begrenztheit nicht versteht.Ⱥ21 Auf gleiche Weise leitet Isaak in seiner Gelassenheit und Demut den Vater, dessen Befehlen er auf dem Weg zum Opferberg nachkommt, auch ohne deren Sinn genau zu verstehen. Schließlich unterstützt der Junge aktiv Gottes Opferungsbefehl und bietet dem Vater selbst sein Leben an.Ⱥ22 Auch Menulemas Demut und Stärke verschaffen ihr trotz ihrer Jugend eine mehrfach exemplifizierte Führungsrolle: Sie wehrt die rein äußerlichen Liebesbekundungen ihrer Mutter ab, belehrt ihren Erzieher über die Grenzen menschlicher Stärke und erklärt den Gefährtinnen in den Bergen die Notwendigkeit ihrer Opferung. Menulema hat intuitiv größere Einsicht in die Bedeutung der verlangten Entscheidung als Teil
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Jephte erkennt in seiner einzigen Tochter ein Geschenk Gottes, vgl. Bюљёђ (Anm. 7), 20: „sic quoque agnosco DeiȦ Celebróque gratum munus. & numerum & maremȦ Quamquam vna tantùm, pensat. & tanti est mihi,Ȧ Fateor.“ (Auch so nehme ich das willkommene Geschenk Gottes an und preise es. Obgleich sie nur die einzige ist, wiegt sie Zahl und Sohn für mich auf. Sie ist für mich von großem Wert, ich gestehe es.) PќћѡюћѢѠ (Anm. 1), 58řf.: „I. Tametsi natura iniucundum est emori,Ȧ Et inprimis nostra aetas exhorret necem,Ȧ Tamen sic de me statuas, mi pater, velim,Ȧ Aequo, ac libenti animo voluntatem DeiȦ Atque tuam complexurum, quibus obsistereȦ Si coner, indignus sim, quem tellus ferat.“ (Isaak: Auch wenn es natürlich unangenehm ist zu sterben und vor allem meine Jugend vor dem Tod zurückschreckt, so will ich mich dennoch, da du es so über mich bestimmt hast, gelassen und aus freien Stücken, mein Vater, Gottes und deinem Willen beugen. Würde ich euch zu widersprechen suchen, wäre ich es nicht wert, auf der Erde zu sein.) Zu Menulemas Kampf, vgl. den Abschnitt „Das Isaakopfer als Meditationsbild“. Nach ihrem beunruhigenden Traum dämpft Sara ihre Angst auf den Wunsch ihres Sohnes hin, auch ohne dessen Sinn zu verstehen, vgl. PќћѡюћѢѠ (Anm. 1), 557: „S.: Tua me causa laxabo his maeroribus,Ȧ Parebo gnate suadenti:“ (Sara: Ich werde deinetwegen von diesen Sorgen ablassen und deinem Rat folgen, Kind.) Den gleichen Vertrauensbeweis legt Isaak ab, wenn er seine Fragen auf dem Weg zum Opferberg einstellt. PќћѡюћѢѠ (Anm. 1), 584: „Educ vagina gladium, vt amputes caput.“ (Zieh das Schwert aus der Scheide, daß du mir den Kopf abschlagen kannst.)
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eines größeren Plans als alle anderen Figuren.Ⱥ2ř Nicht nur Jephte bewundert ihre mutige Haltung. Da keines der Kinder zwischen diesseitiger und jenseitiger ElternKind-Liebe differenziert, entscheiden sie sich schneller gegen Versuchungen, von denen sie trotz ihrer Stärke nicht verschont bleiben.Ⱥ24 Ihre Liebe und ihr Gehorsam zu ihrem leiblichen Vater sind Abbilder der idealen Liebe zwischen Mensch und Gott. Ihre für ihr Alter ungewöhnliche Charakterstärke betont die Freiwilligkeit ihres Opfers und schafft die Voraussetzung ihrer präfigurativen Bedeutung.Ⱥ25 Die Mütter sind die Figuren, die am stärksten die natürlichen, schwer kontrollierbaren Affekte verkörpern, da sie durch ihre Mutterliebe und Sorge um die Familie affektiv stärker im Diesseits verhaftet sind. Sie können mit ihren impulsiven Gefühlen ihre Gatten bei der Erfüllung des umfassenden Heilsplans behindern und werden daher vom Entscheidungsprozeß ausgeschlossen.Ⱥ26 Sara modifiziert ihre Rolle als passiv Leidende allerdings dadurch, daß sie das Opfervorhaben im nachhinein aktiv anerkennt. Ihre natürlichen Muttergefühle werden von Isaak verständnisvoll gerechtfertigt. Auch Abraham nimmt auf ihre Schwäche Rücksicht, indem er als der Stärkere der Schwächeren auf Anraten der ‚Ratio‘ die drohende Todesgefahr des Sohnes verheimlicht und zur Notlüge greift.Ⱥ27 Sara ist mit all ihrer Gefühlsbetontheit wegen ihrer 2ř
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Bюљёђ (Anm. 7), 92: „Me: Patriæ, triumpho, quique donauit, DeoȦ Libens meum propino sanguinem.“ (Menulema: Für das Vaterland und den Sieg vergieße ich freudig mein Blut und für Gott, der es schenkte.) In Pontanus’ Drama ist Isaak voll kindlichen Vertrauens. Er betont auf dem Heimweg vom Opferberg freudig und stolz, den Versuchungen widerstanden zu haben: PќћѡюћѢѠ (Anm. 1), 586 (592): „I.: Deo sit laus, et sempiterna gloria,Ȧ Qui tentare suos, et tentationibusȦ Eripere novit.“ (Isaak: Gott sei Lob und ewige Ehre. Er, der die Seinen versucht, kann sie auch aus den Versuchungen herausreißen.) Vgl. dazu den Abschnitt „Die Rechtfertigung des Opfers […]“. Die Mutterliebe war bereits in den früheren Abrahamdramen die Gegenkraft zu Abrahams Glaubensgehorsam, vgl. Reckling (Anm. 5), 59. PќћѡюћѢѠ (Anm. 1), 564f.: „I.: Quia sunt mulieres,Ȧ Quarum animus tenerior, et ad amandum pronior.Ȧ Dein liberorum per se sunt avidissimae,Ȧ Supra viros.“ (Isaak: Weil sie Frauen sind, die ein zarteres Gemüt haben, sind sie auch eher zur Liebe geeignet. Schließlich sind sie von sich aus mehr als Männer völlig besessen von den Kindern.) ‚Ratio‘ rät Abraham, 572: „Cela mulierem, turbas vt ne concitet:Ȧ Quin lætitiam vultu aßimula, quantum queas.“ (Verheimliche es der Gattin, um sie nicht zu beunruhigen. Ja, täusche sogar Freude auf deinem Antlitz vor, soviel du es vermagst.) Isaak bestätigt diese Vorsichtsmaßnahme, 587 (korrigiert): „I.: Prudenter tacuisti, & factum probo, pater.Ȧ Nunc sensi non vano fuisse somnioȦ exterritam.“ (Isaak: Ich billiges es, Vater, daß du klug geschwiegen und gehandelt hast. Jetzt weiß ich, daß du sie nicht mit einem eitlen Traum erschreckt hast.) Abraham entschuldigt sich auch bei Sara für sein heimliches Handeln, 590: „Atque hoc te nescire fuit commodum, quiaȦ Tibimet plorando detrimentum iniungeres.“ (Aber es war nicht ange-
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Demut, Dankbarkeit und Bereitschaft zum Gehorsam als positive Figur gestaltet, da die Allegorie ‚Natura‘ die Rolle übernimmt, alle frevelhaften Anklagen vorzutragen. Diese Allegorie personifiziert die satanische Anfechtung, die aus der begrenzten Perspektive eines impulsiven ‚amor carnis‘ um den diesseitigen Besitz kämpft und aufgrund der Gefühlsverwirrung hinter der göttlichen Vorsehung Wortbruch, Grausamkeit und Tyrannei vermutet. ‚Natura‘ exemplifiziert die Vorstellung von Augustinus und Thomas von Aquin, daß der Mensch durch ungezügelte Affekte und auf das Diesseits gerichtete Besitzansprüche den freien Willen und den Gehorsam gegenüber Gott verliert. Der Mutter Menulemas, die in der Bibel unerwähnt und in Baldes Drama namenlos sowie ohne eigenen Auftritt bleibt, fehlt dagegen diese Demut und Dankbarkeit. Sie betrachtet die Tochter nicht als Geschenk Gottes, sondern als ihren Besitz, für den sie allein Sorge tragen will. Ihre Mutterliebe wird im Unterschied zu Saras Gefühlen als ‚vanitas‘ entlarvt. Ihre Klagen gleichen inhaltlich denen der ‚Natura‘.
Die Rechtfertigung des Menschenopfers nach dem ‚sensus literalis‘ und ‚allegoricus‘ Pontanus’ einsträngiges Drama von knapp 1 000 Versen konzentriert in der straffen, klassizistischen Form humanistischer Dramen die Handlung ganz auf das Opferungsgeschehen als Prüfung menschlichen Gehorsams und göttlicher Gnade, ohne es als göttliches Verbot gegen Menschenopferungen zu generalisieren. Alle Momente und Figuren, die die biblische Vorlage erweitern, veranschaulichen auf abstrakte und unterhaltsame Weise diese Momente: der Angst auslösende Traum Saras,Ⱥ28 ein zügelloser Sklave, der sich gegen die Ordnung Abrahams auflehnt und daher von einem treuen Diener aus dem Haus geprügelt wird, und die ketzerische Allegorie ‚Natura‘, die – ebenfalls in eindeutiger Didaxe – wegen des Bruchs der (göttlichen) Ordnung aus dem Machtbereich ihrer Rivalin ‚Ratio‘ vertrieben wird, damit Abraham in Ruhe Gottes Befehle ausführen kann. Die Allegorie ‚Natura‘ spricht stellvertretend für
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nehm, daß du nichts wußtest, weil du mir mit deinen Tränen womöglich geschadet hättest.) Solche ahnungsvollen Träume, in denen die Figuren einen ihnen selbst unverständlichen Einblick in die Zukunft erhalten, finden sich bereits in den Jephtetragödien von Gђќџєђ BѢѐѕюћюћ, Jephte sive votum, Paris 1557, und von Jюѐќя CќџћђљіѢѠ LѢњњђћюђѢѠ ѩ Mюџѐю, Jephte Tragœdia Sacra, Antwerpen 1608. Im Unterschied zu ihnen bindet Pontanus dieses spannungssteigernde Motiv thematisch in die Reihe der Glaubensprüfungen für die Protagonisten ein.
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alle Figuren, die auf unerwartete Ereignisse übertrieben affektiv statt mit Gelassenheit, Treue, Gehorsam und Gottesvertrauen reagieren, und hetzt sie impulsiv zum Ungehorsam auf: Sie klagt anstelle von Sara über den Raub des geliebten Kindes, pocht auf Isaaks natürliches Recht zu leben, verlangt für Abraham die versprochenen Stammesnachkommen und klagt Gott des Wortbruchs und der Tyrannei an.Ⱥ29 Die glaubensstarken Protagonisten geben dieser satanischen Verführung jedoch nicht nach. Immer wieder wird die offensichtliche Gnade Gottes vor und nach dem Opfergebot gepriesen. Pontanus’ zentrale Forderung nach unbedingtem Gehorsam mildert nicht die Härte des Gottesbefehls durch den erlösenden Ausgang. Im Unterschied zu seinen Vorgängern verankert Pontanus nur punktweise und implizit eine typologisch-allegorische Lesart, die zeichenhaft an die wichtigsten traditionellen Typologien erinnert:Ⱥř0 Indirekt wird Isaak durch Saras Traum als Lamm und ‚figura‘ des geopferten Christus lesbar, und Isaaks Rettung wird als Wiedergeburt interpretierbar. Da Abraham seinen Sohn mit Jesu Worten nach Lk 2ř,46 dem Tode übergeben will, sind gleichermaßen Vater und Sohn im Moment der Opferung als ‚typoi‘ Christi lesbar, der als Hoherpriester und zugleich als Opfer sein eigenes Fleisch geopfert hat. Im gleichen Sinne kann das Opferschwert
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PќћѡюћѢѠ (Anm. 1), 570: „N.: Vbi promissum de nascituris gentibus ?Ȧ An alterum Isacium Sara dabit? Non dabit“ (Natura: Wo bleibt das Versprechen von den künftigen Geschlechtern? Oder wird Sara noch einen anderen Isaak gebären? Nein, das wird sie nicht.) Abraham fragt nur einmal zu Beginn der Auseinandersetzung zwischen ‚Ratio‘ und ‚Natura‘ vorsichtig zweifelnd, 570: „Quid? num tyrannis conveniat ulla in Deum?“ (Was? Sollte etwa Tyrannei irgendwie zu Gott passen?) ‚Ratio‘ schmettert jedoch jeden offenen Zweifel, den die ‚Natura‘ äußert, sofort ab, 570f.: „R.: Eia nefas. O verbum impium: nihil potestȦ Praecipere Deus, quod factu non est optimum,Ȧ Praeterea exercet ille non rarò suos,Ȧ Et quem diligit, eum non tractat molliter.“ (Ratio: Welch ein Frevel ! Solch eine unfromme Wortwahl! Keineswegs kann Gott etwas befehlen, dessen Durchführung nicht zum Besten ist.) Später wirft ‚Ratio‘ die Gegenspielerin hinaus, 579: „R: Apage præstagiatrix procul hoc à limine.“ (Ratio: Verschwinde bloß von dieser Schwelle, du Gauklerin.) Vor Pontanus integrieren andere Isaakdramen, besonders bei Jacob Schöpper und Christoph Stymmel, explizit eine detailliertere typologisch-allegorische Auslegung. Pontanus scheint Schöppers Drama oder dessen Bearbeitung für die Jesuitenbühne gekannt zu haben, da Sara in beiden Stücken erst im nachhinein von der geplanten Opferung erfährt. Pontanus übernimmt jedoch nicht Schöppers allegorische Auslegung von Sara als Synagoge, vgl. Rђѐјљіћє (Anm. 5), 167. Pontanus’ präfigurative Dramenstruktur schließt an die mittelalterlichen Zyklen an, vgl. dazu Jќѕћ WђѠѠљђѦ HюџџіѠ, Medieval Theatre in Context. An Introduction, LondonȦNew ork 1992, 97ff. Wegen seiner Vorliebe für einen strengen humanistischen Stil impliziert Pontanus lediglich Typologien.
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in Abrahams Hand in diesem Kontext als Kreuz Christi gedeutet werden.Ⱥř1 Jephtes tatsächlicher Vollzug des Menschenopfers bedarf dagegen in Baldes Tragödie einer stärkeren Rechtfertigung, zumal Gelübde und Opferung bereits in der Geschichte der Exegese heftig umstritten waren. Das Gelübde kritisierte man, weil es – in Hast gesprochen – dennoch eine gehorsame Erfüllung verlangte, und das Menschenopfer wurde als falsch verstandener Gehorsam abgelehnt. Als Ersatz für die Opferung der Tochter schlug man ihre Verpflichtung zu lebenslangem Tempeldienst vor.Ⱥř2 Balde verwirft jedoch alle diese Deutungen in seinem ausführlichen theologischen Kommentar ‚Argumentum Tragœdiæ ex S. Scriptura‘, mit dem er für die Druckfassung die direkte Überzeugungskraft des Schauspiels ersetzen will. Hier leitet er seine apologetische Auslegung des Jephte-Stoffes aus umfassenden Auszügen der jesuitischen Sammelkommentare von Nicholas Serarius (1555–1609), Jacques Salian (1557–1640) sowie Cornelius à Lapide (1567–16ř7) ab.Ⱥřř Entscheidend für Baldes Tragödienkonzept war Salians figurale Deutung von Jephtes Opferung als Vorwegnahme der göttlichen Tragödie, ‚divina Tragœdia præludens‘.Ⱥř4 Baldes Tragödie erklärt Jephtes Opferhandlung ř1 ř2
řř
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Das Opferschwert nennt ausdrücklich Pontanus (Anm. 1), 566 (s. o. Anm. 2). Vgl. zur jüdischen Exegese Liber Antiquitatum Bibliarum ř9–40 oder JќѠђѝѕѢѠ, Ant. 5266; Mіјюђљ SїҦяђџє, Wrestling with Textual Violence. A Case Study of the Jephthah Narrative in Antiquity and Modernity with Special Regard to Gender, Uppsala 2004, 75ff. 110. Einen Überblick über die Exegesetradition gibt Hђіћѧ-Dіђѡђџ Nђѓѓ, „Jephta und seine Tochter”, in: VT 2 (1999), 206–217. Eine Synopse der literarischen Arbeiten zum Jephtethema gibt u. a. Aћћю Lіћѡќћ, „Sacrificed or Spared? The Fate of Jephthah’s Daughter in Early Modern Theological and Literary Texts“, in: German Life and Letters ř (2004), 2ř7–255. Jacob Balde setzt sich in seinem theologischen Vorspann zur Jephtias ebenfalls im einzelnen kritisch mit der Exegese und einigen der künstlerischen Bearbeitungen zum Jephtestoff auseinander, die er wegen ihrer anderen Deutungen nicht akzeptiert. Bюљёђ (Anm. 7), 5: „Accipe ejusdem argumenti ex prædictis Auctoribus & Cornel. Cornelij à Lapide breuem commentarium.“ (Höre hier nun einen kurzen Kommentar aus den oben genannten Autoren [Serarius, Salianus] und Cornelius à Lapide.) Während die Werke der beiden ersten französischen Jesuiten heute eher vergessen sind, finden sich die Kommentare von Lapides auch heute noch in den Bibliotheken. Balde zitiert aus dem Kommentar des CќџћђљіѢѠ ѩ Lюѝіёђ: Commentarius Judicum, Ruth, IV libros Regum et II Paralipomenon, Antwerpen 1642, in den bereits die Arbeiten von Salianus und Serarius integriert sind, sowie aus den Commentarii in Canticum Canticorum, Antwerpen 16ř8. Diese Bezeichnung findet sich nach der Aussage Salians auf Jephtes Epitaph, vgl. JюѐќяѢѠ SюљіюћѢѠ, Annales Ecclesiastici Veteris Testamenti, Paris 1620. Balde erinnert in seiner ,Dedicatio‘, einer impliziten Poetik, mit einem Horazzitat (Ars 229) an das ursprüngliche Opferritual der griechischen Tragödie als gemeinsame Wurzel des von ihm verwandten Tragödienbegriffs, vgl. Bюљёђ (Anm. 7), A 4f.
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Abb. 1: Jюѐќя Bюљёђ, Jephtias, Tragoedia, Amberg 1654, Titelkupfer. Das Titelkupfer erinnert nicht nur an Ri 11,ř4f.: „Und als Jephtha nach Mizpa, nach seinem Hause kam, siehe, da trat seine Tochter heraus, ihm entgegen, mit Tamburinen und mit Reigen […]“. Der Bildaufbau ist ein Hinweis darauf, daß das Bild und das folgende Drama allegorisch gedeutet werden müssen. Baldes Kombination von Emblem und langem Dramentext ist eine ‚variatio‘ zu den Emblemen und langen Meditationstexten in Herman Hugos Pia desideria. Der Sarg mit dem IHS-Zeichen verweist auf beide Figuren als ‚typoi‘ Christi. Kreuz und Schwert auf der Mittelachse des Bildes lassen sich im Hinblick auf den realen Vollzug von Christi Opfer deuten, dem Kernstück der Heilsbotschaft des Christentums.
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jedoch mit Hilfe einer weit komplexeren Typologie und verankert nahezu jedes Moment der biblischen Erzählung in Ri 11 als notwendigen Bestandteil im Heilsplan. Zum einen gestaltet Balde Vater und Tochter als ‚typoi‘ ChristiȺř5 und verankert diese Lesart im Titelkupfer zur Tragödie ‚Jephtias‘ mit dem tragischen Treffen von Vater und Tochter (Abb. 1). Das Bild visualisiert nicht nur das alttestamentliche Geschehen aus Ri 11,ř4, sondern erinnert mit seinen typologischen Hinweisen auch an Joh 12,2ř.27f.Ⱥř6 Zwischen beiden Figuren steht im Hintergrund ein Sarg mit der Inschrift IHS an der Kopfseite und einem Kreuz auf dem Deckel. Dieses Meditationsbild muß, wie es die verschiedenen Ebenen andeuten, nach dem vierfachen Schriftsinn entschlüsselt werden.Ⱥř7 Balde erweitert in seinem Drama die christologische Deutung innovativ um weitere mittelalterliche Auslegungen und eine mariologische Mystik, die in den jesuitischen Sodalgemeinschaften der Zeit gängige Praxis war. Das Opfer wird als Mysterium gestaltet, das allegorisch die Kirche versinnbildlicht, den mystischen Leib Christi als Opfer und Geopferten. Da das Opfer Christi nach römisch-katholischer Auffassung in der Eucharistie unblutig wiederholt wird, integriert Balde die Meßopfersymbolik und -liturgie neben der Liturgie aus dem Osterfestkreis. Auf diese Weise versucht er mit Brillanz und arguter Rhetorik, die tradierte Exegese und die protestantische Kritik an der Opferung Jephtes und der von den Jesuiten wiederbelebten allegorischen Deutung auf eine eindeutige – jesuitische – Stellungnahme zugunsten von Jephte
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Vgl. die mittelalterliche Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek München (Clm 14159) mit einer Miniatur der Opferungsszene mit der auf dem Altar knienden Menulema und Jephte mit erhobenem Schwert. Der Begleittext beschreibt Jephte als Präfiguration Christi, vgl. dazu Cюџљ-Oѡѡќ NќџёѠѡџҦњ, The Duke of Alba’s Castilian Bible. A Study of the Rabbinical Features of the Miniatures, Uppsala 1967, 128. Es finden sich auch typologische Auslegungen der Opferung Jephtes im bildlichen Kontext zur Opferung Abrahams, vgl. dazu Bђџћѕюџё P. RќяіћѠќћ, „The Story of Jephthah and his Daughter: Then and Now“, in: Biblica 85 (200ř), řř1–ř48, hier ř45. „Die Stunde ist gekommen, daß der Menschensohn verherrlicht wird […] Wer an seinem Leben hängt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben. Jetzt ist meine Seele erschüttert […] Was soll ich sagen: Vater rette mich aus dieser Sunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen!“ Der Text wird am 5. Fastensonntag als Evangeliumstext gelesen. Zur Deutung des Titelkupfers vgl. HђіёџѢћ Fҿѕџђџ, Studien zu Jacob Baldes Jephtias. Ein Drama der Gegenreformation, Lund 200ř, 91ff. Der programmatische Charakter dieses Bildes wird deutlich im Vergleich mit anderen Illustrationen vom Treffen Jephtes mit seiner Tochter, vgl. dazu NіљѠ-Aџѣіё BџіћєђѢѠ, „Jephthah and his daughter. Images of an ‚honour killing‘“, in: Arv: tidskrift för nordisk folkminnesforskning 59 (200ř), 9–ř4.
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und seiner Menschenopferung zuzuspitzen.Ⱥř8 Solche allegorischen bzw. typologischen Verknüpfungen von Personen oder Ereignissen des Alten Testaments mit denen des Neuen haben jesuitische Exegeten in ihrem mystischen Religionsverständnis als wichtige Quelle der geoffenbarten Weisheit betont. Dieses Prinzip kontrastiert deutlich zur lutherischen Exegesemethodik.Ⱥř9 Auf literaler Ebene, als ‚sensus literalis‘, vermittelt Balde mit umfangreichem Figurenarsenal in suggestiver Wiederholung die gleiche Botschaft vom Gehorsam wie Pontanus. Er betont jedoch die Bedeutung der Liebe und des freien Willens, indem er den Entscheidungsprozeß verlängert, um daran den Weg zum Gehorsam zu zeigen. Balde integriert neben der Forderung nach völliger Opferbereitschaft auch die Lehre vom selbstverdienten Heil, daß Gott Opferbereitschaft mit Gnade belohnt: Jephtes Krieger und der Bräutigam sind Auserwählte, die ihrem Führer freiwillig in den Kampf und in den Tod folgen. Dies stützt die dichotome Struktur mit mehreren Antagonisten: Der ammonitische Tyrann mit seinen heuchlerischen Beratern und abschreckenden Handř8
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Luther hatte die Opferung der Jephtetochter eindeutig als eine Fehlinterpretation des Richters verstanden und kritisiert: „So sihet man auch beide an Richtern vnd Königen, das sie nach grossen Thaten haben auch grosse torheit müssen begehen, zuuerhüten den leidigen hochmut.“ WA.DB 9ȦI, 1ř1 (ähnlich in Praelectio in librum Iudicum, WA 4, 575). Auch der zwischen den Konfessionen schwankende Schotte George Buchanan (BѢѐѕюћюћ [Anm. 28]) folgt der von den Protestanten vertretenen Deutung, die Jephtes Opferung verurteilt, indem er die historische Diskussion über vorschnell gesprochene Gelübde aufgreift, vgl. WіљяѢџ OѤђћ SѦѝѕђџё, Jephtah and his Daughter. A Study in Comparative Literature, Delaware 1948, 192ff. Ein Vergleich mit der humanistischen Jephte-Tragödie des Buchanan verdeutlicht das konfessionsspezifische Profil Baldes. Zu den Dramatisierungen der Jephtedramen vor Balde vgl. JюњђѠ A. Pюџђћѡђ, „The Paganization of Biblical Tragedy. The Dramas of Jacob Cornelius Lummenaeus a Marca (1570–1629)“, in: Humanistica Lovaniensia ř8 (1989), 209–2ř7; Pђѡђџ Dџќћјђ, Intellectuals and Poets in Medieval Europe (Storia e letteratura. Raccolta di studi e testi 18ř), Rom 1992; Fҿѕџђџ 200ř (Anm. ř7), 121ff. Auch Luther hat die biblischen Texte um der ‚amplificatio‘ willen häufig typologisch bzw. allegorisch ausgelegt, der figürlichen Deutung allerdings jegliche fundamentaltheologische Relevanz abgesprochen und von ihr verlangt, sie müsse der ‚analogia fidei‘ gemäß sein, weswegen er u. a. die traditionellen mariologischen Allegoresen ablehnte. Vgl. Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ, Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla (SHCT 104), LeidenȦBostonȦKöln 2002, 172f. Die ‚inventio‘ des Jesuiten Balde fügt mit der Liebesgeschichte eine Marienfrömmigkeit in der Tradition der ‚congregatio marianae‘ ein, in die Leidensgeschichte Jephtes die Didaxe des mystischen Erkenntnisweges und in die Opferungsbeschreibung eine Stellungnahme zum Meßopfer als des Ortes der Realpräsenz Christi. Auf die polemische Debatte gegen die Protestanten, wie sie von Jesuiten wie dem Dillinger Jesuitendramatiker Gђќџє Sѡђћєђљ (1584–1651) in Nova S. Scripturæ tinea, Ingolstadt 1624, geführt wurde, bezieht sich Balde indirekt in seinem ausführlichen exegetischen Kommentar.
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lungen repräsentiert die sündige Welt vergänglichen Glücks im Gegensatz zu Jephtes tugendhafter Macht, die dauerhaftes Heil im Jenseits garantiert. Mit allen rhetorischen Mitteln wird gezeigt, daß jeder unter Jephtes Führung dazu aufgerufen ist, mit seinem Einsatz die heimtükkische Macht dieser Gegenwelt zu überwinden. Jephtes Gelübde wird zu einer direkten Begegnung mit Gott, für den er freiwillig einen demütigen Treueschwur ablegt. Dieses Gelübde kann er nicht brechen, ohne Schuld auf sich zu laden. Ein ähnliches Treuegelöbnis für ihren Führer legen die erwählten, gehorsamen Soldaten ab und Ariphanasso schwört zusätzlich seiner Führerin und Braut Menulema im einzigen persönlichen Zusammentreffen in vergleichbarer Weise zweimal seine Treue. Das Opfer von Jephtes Tochter ist eine gehorsame Bündnispflicht und Liebestat nach Joh 15,12f.,Ⱥ40 die mit dem Einsatz oder Tod eines Kämpfers, eines ‚miles christianus‘, unter Jephtes Führung vergleichbar ist. Es wird als freiwillige und mutige Tat im notwendigen Kampf dargestellt, die Bewunderung und nicht Abscheu verdient: Ein Menschenleben rettet das Leben eines ganzen Volkes, das sonst in ammonitischer Sklaverei umgekommen wäre. Im Unterschied zu seinem jesuitischen Lehrmeister verankert Balde die typologisch-allegorische Struktur jedoch deutlicher in der Figurenkonzeption und der gesamten Dramenhandlung, um so die auch im Opfer verborgene Gnadenbotschaft verständlich zu machen. Dazu werden die biblischen Momente von Jephtes Leben als Leidensweg gestaltet und die von Jephtes Tochter deutlich erweitert, damit die einfühlsam gezeichneten Figuren nicht nur punktuell, sondern von ihren Charakteren her als ‚figurae Christi‘ erscheinen: Jephtes Triumphzug in die Heimat, in der er freudig als Retter empfangen wird, kann durch liturgische Anspielungen als Jesu Einzug nach Jerusalem verstanden werden.Ⱥ41 Menulema übernimmt u. a. Jesu belehrende Rolle gegenüber ihren Freundinnen. In ihrem Kreis feiert sie ein letztes Abendmahl, und ihr Bräutigam empfängt ihr Erbe mit deutlicher Christus- und Mariensymbolik. Auf allegorischer Ebene entspricht der Glaubenskrieg gegen die Ammoniter dem Kampf gegen Satan, zu dessen Überwindung das freiwillige Opfer Menulemas notwendig ist, das Selbstopfer Jesu.Ⱥ42 Die allegorische Deutung des Krieges stützt Balde durch liturgische Anspielungen zum Ma40
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„Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,12f.). Die Liebe ist die größte der drei geistlichen Tugenden (1Kor 1ř,1ř). Nach Baldes Erklärungen in den Paratexten (A 6) soll das Drama dem Osterfestkreis zugeordnet werden, der thematisch mit der Ankunft des Herrn und der Durchsetzung seiner Herrschaft über den Satan beginnt. Vgl. ausführlicher dazu Fҿѕџђџ 200ř (Anm. ř7), 1ř5ff.
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rienfest und Messen aus dem Osterkreis, insbesondere zur „Votivmesse zum Schutz gegen die Heiden“, die im 15. Jahrhundert aus der Bedrängnis durch die Türken und den Islam eingeführt worden war.Ⱥ4ř Die neu eingeführte Figur des Bräutigams variiert und stärkt die Motive Liebe, Kampf, Todesbereitschaft und Gehorsam als Glaubensvoraussetzungen und dient der allegorischen Rechtfertigung des Opfers. Ariphanassos anagrammatischer Name, der sich als Pharaonissa, also Tochter des Pharao und Braut Salomos entschlüsseln läßt, verweist bereits auf die Hohelied-Allegorese, die von den Jesuiten der Zeit christologisch und mariologisch verstanden wurde:Ⱥ44 Die zahlreichen Motivzitate aus dem Hohenlied des Alten Testaments erklären Ariphanassos Liebe und Brautschaft als Liebe und Brautverhältnis des Menschen oder der Kirche zu Jesus, Maria oder Gott. Balde stützt dieses mystische Liebesverhältnis durch zahlreiche Verweise auf mystische Liebesembleme,Ⱥ45 deren Verbreitung und Weiterentwicklung von den Jesuiten stark vorangetrieben wurde. Ariphanassos Loblieder auf seine Braut sind voller Mariensymbolik und nach dem Muster formelhafter Marienverehrung in Anspielung auf Motive des Hohenliedes komponiert. Ariphanasso verbindet als Bräutigam und Soldat den privaten Innenraum religiöser Meditation mit dem öffentlichen Raum politisch-religiöser Aktion. Denn er bekehrt sich aus Liebe, besingt seine Braut in Lobliedern und verteidigt sie, ihren Vater und das Reich Gottes als ‚miles christianus‘ oder als ‚Sodalis Mariae‘ unter Einsatz seines Lebens.Ⱥ46 Er wird 4ř
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AћѠђљњ Sѐѕќѡѡ, O.S.B., Das vollständige Römische Meßbuch (lateinisch und deutsch mit allgemeinen und besonderen Einführungen im Anschluß an das Meßbuch von Anselm Schott hg. von Mönchen der Erzabtei Beuron), Freiburg i. Br., 126. Die Identifikation der ammonitischen Gegner mit den Türken stützt die Kleidung der Ammoniter und Baldes Hinweise im Vortext des Dramas, in dem er mehrfach die Bedrohung durch die Türken hervorhebt. Maria wird seit dem Sieg von Lepanto 1551 als „Vorkämpferin“ oder „Unsere liebe Frau vom Sieg“ mit Siegesliedern verehrt und besonders von General Tilly für die Siege im ř0-jährigen Krieg verantwortlich gemacht. Neben der christologischen Hoheliedallegorese Bernhards von Clairvaux wird die mariologische von CќџћђљіѢѠ ѩ Lюѝіёђ in seinem Hoheliedkommentar (ѩ Lюѝіёђ 16ř8 [Anm. řř]) ausführlich behandelt. Grundlegend sind hier: Oѡѡќ ѣюћ Vђђћ, Amorum Emblemata, Antwerpen 1608; Hђџњюћ HѢєќ, Pia Desideria, Antwerpen 1624. Zum ignatianischen Programm des Kampfes für das Reich Gottes unter der Fahne Christi vgl. AљќіѠ Sѐѕћђіёђџ, Narrative Anleitungen zur praxis pietatis im Barock. Dargelegt am Exempelgebrauch in den „Iudicia Divina“ des Jesuiten Georg Stengel (1584–1651), Würzburg 1982, 52ff. Türkenfeindliche Andeutungen im Vorwort der Tragödie verweisen auf den Glaubenskampf gegen die Türken unter der Flagge Marias. Auf allegorisch-typologischer Ebene verbindet die Figur zudem das Alte Testament mit dem Neuen, indem Ariphanasso der Tochter vom Vater einen Kuß überbringt, der
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dank seiner Liebe gerettet und schwört noch seiner toten Braut ewige Treue. Ariphanassos Ausschluß vom Opferungsgeschehen ist nicht wie bei Sara eine Vorsichtsmaßnahme wegen unberechenbarer Affekte eines ‚amor carnis‘, sondern wird mit seiner verspäteten Rückkehr aus dem Krieg begründet. Dadurch wiederholt Ariphanasso Jephtes mehrstufigen Weg nach jesuitischer Meditationspraxis, um noch einmal zu zeigen, wie eine vorbildliche Entscheidungsfindung in einer schwierigen Situation aussehen sollte. Auch er überwindet seinen Unglauben und fügt sich vertrauensvoll in ein Geschehen, dessen Bedeutung als heilige Opfergabe er an der rituellen Durchführung erkennt, die einem Meßopfer gleicht. Auch Menulemas Gaben, die sein Vertrauen gnädig belohnen und stärken, erschließen ihm und den Zuschauern in ihrer Symbolik den soteriologischen Sinn der Opferung. Der zeitliche Verzug weist Ariphanasso deutlich die Rolle des liebenden Gläubigen im affektiven Nachvollzug der Leidensgeschichte zu. Er verkörpert zudem die Liebe als konstruktive Voraussetzung für aktiven Glaubensgehorsam.Ⱥ47 Der junge Held zeichnet allegorisch den idealen Lebensweg eines gnädig erwählten Glaubensritters vor, der unter der Flagge Christi oder Marias todesmutig gegen den Glaubensfeind kämpft. Ariphanasso unterstützt also die Opferung seiner Braut auf der literalen und allegorischen Ebene des Stückes in deutlicher Kontrastierung zu Achilles, dem Bräutigam Iphigenies in Euripides’ Tragödie.Ⱥ48
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im Anschluß an die Kußsymbolik des Hohenliedes an den liturgischen Pax-Kuß und die Kreuzverehrung der Karfreitagsliturgie mit Kniebeuge und Kuß erinnert. Am Ende des Dramas übernimmt Ariphanasso die Verkündigung der Frohbotschaft, vgl. Fҿѕџђџ 200ř (Anm. ř7), 1ř7. 14řff. Damit erhält das Liebes- und Hochzeitsmotiv, das bereits Pђѡђџ Aяюђљюџё in seinem Planctus Virginum Israel super filiae Jephtae Galaditae mit der Opferung von Jephtes Tochter verbunden hat, einen prospektiven Sinn. Diese neu eingeführte Figur ist eine einfallsreiche Synopse aus mehreren Vorlagen: Sicher hat Balde der vermeintliche Bräutigam Iphigenies vorgeschwebt, der zu spät kommt und vergeblich die Opferung zu verhindern sucht. Denn diese Tragödie des Euripides war – allerdings ohne Liebesmotiv – das Vorbild für Buchanans Jephte gewesen (BѢѐѕюћюћ [Anm. 28]). Nicht zu übersehende Ähnlichkeiten bestehen auch zum heidnischen Bräutigam der hl. Ursula, der sich vor der Hochzeit, die vor allem vom Vater gewünscht wird, erst taufen und sich im Glauben bewähren muß. Vgl. JюѐќяѢѠ ёђ Vќџюєіћђ, Legenda Aurea. Heiligenlegenden, Zürich 41994, ř57ff. Auch in Baldes Drama will Jephte seine zurückhaltende Tochter verheiraten. Sie selbst will vor allem Nähe und Einheit zu bzw. mit ihrem geliebten Vater herstellen. Das gleiche Streben steht hinter der Liebeswerbung Ariphanassos: Er will die Distanz zu seiner Geliebten überwinden, um sich mit ihr zu vereinigen. Menulema, deren ewige Jungfrauenschaft eher ein Resultat der Ereignisse als ihre Intention zu sein scheint, akzeptiert die Treuegelöbnisse Ariphanassos, da er freiwillig und selbständig das Opfer auf sich genommen hat, für ihre Liebe den ägyptischen Göttern abzuschwören und ihren Vater zu verteidigen. Völlig anders ist die Figur interpretiert bei Wіљѓџіђё
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Das Jephteopfer als Überbietung des Isaakthemas Baldes Drama stellt die Jephteerzählung unübersehbar in den Kontext der Isaaknachfolge: Jephtes Soldaten verstehen sich als Enkel Isaaks, die dem Gehorsam des vorbildlichen Vorfahren nacheifern müssen, um ihrer erwählten Rolle gerecht zu werden. Das Gleiche gilt für Jephte und Menulema.Ⱥ49 Balde folgt einer langen exegetischen Tradition, in der das umstrittene Opfer Jephtes gegen das Abrahams abgegrenzt wurde.Ⱥ50 Das unterschiedliche Resultat der Opferung, das durch das gleiche Verständnis des Opferungsbefehls als Gehorsamsprüfung verwischt wurde, verwendet Balde jedoch auch als rhetorische Herausforderung im Sinne der ‚aemulatio‘: Er will Gottes Gnade und ‚providentia‘ nicht am verschonten Isaak, sondern überzeugender an dem schwierigeren Thema der tatsächlich ausgeführten Opferung der Tochter Jephtes dramatisieren. Deshalb wird Jephte nicht auf die Opferung reduziert, sondern mit all seinen Taten auf literaler und allegorischer Ebene rechtfertigend dargestellt. Zusätzlich zum gedruckten Dramentext erläutert Balde in seinem theologischen Kommentar sein Vorhaben, mit dem Ziel, alle scheinbaren Nachteile des Jephtestoffes zum Vorteil zu wenden: Der Opferungsvollzug in Ri 11 verlangt von Vater und Tochter mehr als von Abraham und dem erlösten Isaak.Ⱥ51 Der Opfertod des einzigen, unschuldigen Kin-
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Sѡџќѕ, „Jephtes Tochter bei Bidermann und Balde. Mit Edition und Nachdichtung von Bidermann, Heroidum epistuale 2,1“, in: Jakob Bidermann und sein „Cenodoxus“. Der bedeutendste Dramatiker aus dem Jesuitenorden und sein erfolgreichstes Stück, hg. v. HђљњѢѡ Gіђџ, Regensburg 2005, 197. Jephte erwähnt ebenfalls die Isaakgeschichte als ein Bild, das er sich zu seiner Entscheidungshilfe vorstellt. Bюљёђ (Anm. 7), 100: „At in supini monte vasto Moriæ,Ȧ Respicere fatum moneor Isaaci nepos.Ȧ Propositus ingens olim in exemplum puer:Ȧ Nunc sit puella. subeat imitatrix vices.Ȧ Subibit etiam: te modò Heroem probes.“ (Aber ich werde ermahnt, als Nachkomme Isaaks auf sein Schicksal auf der wüsten Bergkuppe des sanft ansteigenden Morija zurückzuschauen. Als ein ungeheures Beispiel wurde der Knabe einst dargebracht. Jetzt soll es ein Mädchen sein. Sie soll das Schicksal noch einmal auf sich nehmen. Sie wird es auch auf sich nehmen. Dich wird man bald als Held gutheißen.) Auf den kommenden Ruhm Jephtes, der mit seiner Opferung über Abraham hinauswächst, weist mit der gleichen Argumentation auch der Vortext hin. Vgl. Bюљёђ (Anm. 7), 9. Zur Deutung von Gen 22,1–19 als struktureller Inversion zu Ri 11,ř0–40 vgl. EёњѢћё Lђюѐѕ, Genesis as Myth and Other Essays, London 1969, ř8f.; Mіђјђ Bюљ, Death and Dissymmetry. The Politics of Coherence in the Book of Judges (Chicago Studies in the History of Judaism o. Nr.), ChicagoȦLondon 1988, 109ff. Jephte stellt sich mehrfach in Isaaks Nachfolge, vgl. Bюљёђ (Anm. 7), 100: „Cur ad meam rem filium Saræ cito ?Ȧ Exempla distant. nil tibi prodest auus.Ȧ Ideò Tharaiden
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des stimmt noch besser mit den Eigenschaften des Antitypos, des einzigen, unschuldigen Gottessohnes überein.Ⱥ52 Auch die Tatsache, daß kein Knabe, sondern ein Mädchen geopfert wurde, worin u. a. Peter Abaelard Jephtes Irrtum erkannte,Ⱥ5ř macht Balde sich zunutze: Die Doppelgeschlechtlichkeit des Gottessohns in der Logos-Sophia-Tradition nutzt er für Menulemas Doppelrolle als Typos für Christus und Maria. Die jungfräuliche Jephtetochter, die im Drama mit verschiedenen bekannten Frauenfiguren des Alten Testaments verknüpft wird, ermöglicht auch die Parallele zur Jungfrau Maria, die traditionell die Erzmütter des Alten Testaments überbietet.Ⱥ54
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vox aperta huc impulit.Ȧ Ideò probari dexteram satis fuit;Ȧ Ideò repressit ales ætherius manum.Ȧ Ideò insolenti tristis Holocausti SacroȦ Successit aries cornibus plangens vepres.Ȧ I nunc, & æmulare Majores tuos.“ (Warum rufe ich für meine Sache den Sohn Saras herbei? Die Beispiele sind verschieden. Der Großvater nützt dir nichts. Deswegen weil seine Stimme offen den Vater Thara herrief; deswegen weil es genügte, seine Rechte auf die Probe zu stellen; deswegen weil es ausreichte, seine Rechte zu prüfen; deswegen weil ein himmlisches Flügelwesen seine Hand zurückdrückte; deshalb weil ein trauriger Widder, der mit den Hörnern im Dornengebüsch hing, als Ersatz für das ungewöhnliche heilige Brandopfer eintrat. Geh jetzt und überbiete deine Vorfahren!) Bюљёђ begründet mehrfach die Überlegenheit der Jephtetochter als figura vor dem nicht geopferten Isaak. Bюљёђ (Anm. 7), A 11: „Ser. Nulla enim illius expressior fuit figura, quàm hæc filia virgo immolata à patre pro salute Israëlis. Sal. Corn. Fuit vtique clarissima & Isaac immolandus, sed tantùm immolandus. Substitutus enim fuit Aries in vepribus. præsignauit ille pro Mundi peccatis, non purum hominem, sed Dei filium ex Virgine incarnandum, inconsummatum sacrificium, Deo Patri offerendum esse.“ (Serarius: Keine war eine anschaulichere Figura zu ihm, als die jungfräuliche Tochter, die für das Wohl Israels von ihrem Vater geopfert werden mußte. Salianus [Anm. ř4], ad annum Mundi 2854; ѩ Lюѝіёђ [Anm. řř]: Auch Isaak, der geopfert werden sollte, ist eine berühmte [figura], aber er sollte eben nur geopfert werden. Er ist schließlich durch einen Widder im Dornengebüsch ersetzt worden. Jener präfigurierte, daß für die Sünden der Welt nicht ein reiner Mensch, ein unvollkommenes Opfer, sondern der von einer Jungfrau geborene, inkarnierte Gottessohn von Gott, dem Vater, als Opfer dargebracht werden müsse.) Zu Abaelards Vorstellung, daß Gott kein Mädchen akzeptieren könne, nachdem er einen Jungen abgelehnt hat, vgl. Dџќћјђ (Anm. ř8), ř81. Beide Jungfrauen, Menulema und Maria, gelten in Überbietung aller jüdischen Stammütter als „Mutter der Liebe“ und als „Gefäß des neuen Lebens und der Erkenntnis“. Die religiöse Liebe bildet nach der Rhetorica caelestis, München 16ř6, des Jesuiten JђџђњіюѠ Dџђѥђљ die Basis der ‚eloquentia sacra‘. Vgl. HюћѠѝђѡђџ Mюџѡі, „Der Dialog mit Gott im Gebet. Die Rhetorica caelestis des Jesuiten Jeremias Drexel“, in: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, hg. v. Dіђѡђџ BџђѢђџ, Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 25), Bd. 2, 509ff.
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Das Isaakopfer als Meditationsbild Zur Charakterisierung der Jephtetochter auf literaler und allegorischer Ebene schiebt Balde eine längere Szene ein, in der Menulema an einem Isaakbild arbeitet. Noch ohne den Kriegsausgang und das väterliche Gelübde zu kennen, fügt sie sich in dieser Szene im voraus demütig in ihre Rolle als ‚hostia‘, als Schlachtopfer. Ihr Diener Baracus schildert in einem knapp 450 Verse langen Monolog das Leben zu Hause im Kontrast zur Gnadenlosigkeit des Krieges und der Unbeständigkeit des Schicksals draußen.Ⱥ55 Er beschreibt kurz die Mutter, die eifrig die Geschicke selbst in die Hand nehmen und in übertriebener Liebe ihre Tochter für die kommende Hochzeit schmücken will. Ausführlicher geht er auf Menulemas Arbeit und Ängste ein, deren Empfindungen er so stark nacherlebt, daß er ihre Gedanken z. T. direkt wiedergibt. Er schildert die Szenerie so detailliert, als beschreibe er ein lebendes Bild, eine ‚imago vivax‘, von der Art eines emblematischen Sinnbildes.Ⱥ56 Argute Kombinationen ikonographisch bekannter Motive deuten auch auf eine Verkündigungsszene, da Menulema hier ihre doppelte figurative Rolle im Heilsplan als Christus und Maria verkündigt wird. Menulema sitzt zurückgezogen im Schutz eines Haines aus ineinander verschlungenen Zypressen, Zedern, Platanen und Erlen in der jungen Morgensonne. Hier betet sie für ihren kämpfenden Vater, mit dem sie sich völlig verbunden fühlt. Sie bekämpft ihre Unruhe mit einer Handarbeit an einem Bild der Isaakopferung. Abgebildet ist der 55
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Der Diener Baracus ist nach Deborahs Kämpfer Barak in Ri 4 benannt. Diese Namensgebung versetzt Menulema in die Rolle der begnadeten Richterin Deborah, die unter Einsatz ihres Lebens für das Gottesvolk kämpfte. Menulema stärkt ihre Rolle als begnadete Kämpferin für das Reich Gottes durch Anspielungen auf andere berühmte biblische Frauenfiguren. Als Menulema ihren Gefährtinnen ihre Rolle im Heilsplan in typologischen Andeutungen erklärt, bezeichnet sie sich selbst als „Mirandæ mortis imago vivax“, als „lebendiges Bild eines bewundernswerten Todes“, vgl. Bюљёђ (Anm. 7), 115. Für diese Szene fehlen Informationen zum Bühnenbild. Man kann sich jedoch vorstellen, daß die handarbeitende Menulema im Hintergrund der Bühne als lebendes Bild sitzt, zwischendurch ihre Arbeit unterbricht und unruhig in ihrer Sorge umhergeht. Wenn der Regisseur (choragus), dem die Aufgabe der Ausstattung zufiel, dies nicht durch entsprechende Kulissen sichtbar macht, müssen die Zuschauer selbst aktiv die handarbeitende Menulema und das Bild der Isaakopferung nach den einfühlenden Kommentaren des Dieners imaginieren. Diese Bildbeschreibung, die nur eine von zahlreichen Ekphrasen in Baldes Drama ist, gehört auch in den historischen Kontext der ‚ut pictura poesis‘-Debatte. Jacob Balde verlangt als ‚poeta doctus‘ und ‚poeta theologus‘ vom Rezipienten Belesenheit, Abstraktionsvermögen sowie aktives Erinnern von Texten und Bildern sowie die Bereitschaft, enigmatische Text- und Bildstrukturen zu entschlüsseln.
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entscheidende Moment, in dem der anmutige Knabe Isaak im weißen Linnen mit entblößtem Nacken niederkniet und Abraham schon das silbrig glänzende Schwert über seinem schneeweißen Hals zückt. Am Rande des Bildes befinden sich die abgelegten Holzbündel im nahezu unberührten, kalten Schnee und bilden einen Kontrast zum vorbereiteten Feuer, das mit seinen wärmenden, rötlichen Flammen bereits das nachfolgende Brandopfer ankündigt. Das beschriebene Bild hinterläßt bei Menulema täuschend echt den Eindruck, daß Isaak wirklich geopfert werde.Ⱥ57 Denn es fehlen die tröstenden Erlösungsmotive von Widder oder Engel. Besonders die Augen Isaaks rufen bei Menulema so großes Mitleid hervor, daß sie sie wegen ihrer plötzlich nicht mehr zu beherrschenden Tränen erst nach drei Anläufen bearbeiten kann.Ⱥ58 Die Tränen sind ein Signal, die Abbildung als Sinnbild zu verstehen, also nach verborgenen Gleichsetzungen zwischen Abgebildetem und Verweisgegenstand, Sichtbarem und Unsichtbarem sowie zwischen Wort und Bild zu suchen. Das Bild von Isaaks Opferung, an dem Menulema betend arbeitet, dient ihr als Andachtsbild, aus dem sie die abgebildete höhere Wirklichkeit erschließt.Ⱥ59 Das meditative Erfassen aller symbolischen Einzelheiten ermöglicht ihr nach einiger Zeit, den Willen Gottes zu erkennen und ihr beängstigendes Gefühl der Trennung von ihrem Vater und von Gott zu überwinden. Spiegelbildlich dazu schafft die affektive Ekphrasis des Dieners von Menulemas Meditation und Arbeit am Isaakbild ein zweites, verbales Andachtsbild, das im Kontext des Dramas, der Emblematik, zeitgenössischer Erbauungsliteratur und Mystik auf seine propädeutische und mehrdeutige allegorische Botschaft hin entschlüsselt werden soll. Zahlreiche Bildmotive verweisen auf die Liebe, den ‚amor divinus‘, als gemeinsames Opferungsmotiv für Isaak und Menulema: Der 57
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Vgl. ebd., 74: „spectari dedit:Ȧ Vt Abrahamus immolare filiumȦ Statuerit: vtque hic pareat flexus genu,Ȧ Nuda puer ceruice. simulatum scias,Ȧ Verúmque credas.“ (Es gab etwas zu sehen, nämlich wie Abraham beschlossen hat, seinen Sohn zu opfern und wie dieser Knabe gehorchte, das Knie beugte und den Nacken entblößte. Man weiß wohl, daß es eine Täuschung ist, aber man könnte es für echt halten.) Voll Emphase bricht Menulema in Tränen und Klagerufe aus, die die Klagen ihrer Freundinnen über ihren Tod vorwegnehmen. Ebd., 75: „O suauis puer !Ȧ O in parentem moris exemplum pij !Ȧ O dulcis Innocentiæ specimen, ait,Ȧ Voluisse promptum tam cruenta præcociȦ Sancire fato iussa ! certè iam cinis,Ȧ Iam funus, animo funus acceptans eras.Ȧ Iterúmque fleuit. omen infaustum mouetȦ Interpretantem seciùs.“ („Oh, süßer Knabe. Oh, Beispiel frommen Gebarens gegenüber deinen Eltern. Oh, süßes Vorbild der Unschuld“ sprach sie, „schon tot, schon hattest du im Inneren dein Begräbnis angenommen.“ Wiederum weint sie. Das unglückliche Omen bewegt sie, da sie es anders auffaßt.) In der Blütezeit der ‚Devotio moderna‘ wurde durch affektives Versenken in ein ‚heiliges‘ Bild oder einen Bibeltext eine meditative Methode des Gebets entwickelt.
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Hain mit den ineinander verschlungenen Bäumen, in dessen Schutz sich Menulema befindet, erinnert genau wie die Farbsymbolik des Isaakbildes und die Brautkränze Menulemas an das Hohelied und den Garten als Ort der Liebe, aber auch des angstvollen Getrenntseins.Ⱥ60 Liebendes Suchen und gehorsame Nachfolge werden als festes Glaubensband zwischen Mensch und Gott, Jesus oder Maria hervorgehoben. Die Zuschauer sollen sich mit Menulemas verbal vermittelter Empfindung ebenso identifizieren, wie diese sich mit den abgebildeten Figuren identifiziert hat, um durch einen Erkenntnisprozeß zum nur übersinnlich erfaßbaren Willen Gottes geleitet zu werden. Isaaks Augen, Sinnbilder der göttlichen ‚energeia‘, bewirken Menulemas Gefühlsausbruch. Sie mindern ihre Eigenliebe und steigern ihre Liebe zu Gott. Isaaks Augen weisen Menulema wie Leitsterne den Weg in die vorherbestimmte, doch für sie noch nicht erkennbare Zukunft.Ⱥ61 An ihnen kann sie Isaaks Mut und Einverständnis mit seinem Schicksal erkennen. Sie bekunden die unmittelbare Verbindung zwischen Täter und Opfer, Priester und ‚hostia‘, Mensch und Gott. Augen symbolisieren in Baldes Drama sowohl den Eingang zur Seele des Menschen als auch das Vermögen der Eingeweihten, nicht nur die Welt mit den begrenzten Mitteln der Vernunft, sondern auch durch imaginatives Sehen das Unsichtbare, nämlich Gottes Heilsplan, erfassen zu können. Solche Erkenntnis der höheren Wahrheit ermöglicht es, in der ‚unio mystica‘ die Distanz zwischen Gott und dem Menschen zu überbrücken, der durch Eigenwillen und Selbstliebe geprägt ist.Ⱥ62 Wie Isaak so läßt sich auch Menulema mit offenen Augen und nach oben gewandtem Blick opfern – im Einverständnis mit sich, ihrem Vater und
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Zum Gartenmotiv vgl. Hld 4,12. Die ineinander verschlungenen Bäume gehören ebenfalls in den Motivkreis der Emblematik. Vgl. EMBLEMATA. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, hg. v. AџѡѕѢџ HђћјђљȦAљяџђѐѕѡ SѐѕҦћђ, Stuttgart 1967, 208ff. Augen als Leitsterne, die den Lebensweg nach der Liebe Gottes ausrichten, finden sich z. B. im Emblem „in tenebris lucem“ von Dюћіђљ HђіћѠіѢѠ, Het Ambacht van Cupido, Leiden 161ř. Das Sehen als Erkennen von Gott und den letzten Dingen findet sich in zahlreichen Emblemen in ‚pictura‘ oder ‚motto‘, z. B. in Hђџњюћ HѢєќѠ Pia Desideria (HѢєќ [Anm. 45]), 14. Menulema kann in mehreren Visionen (raptus) in die Zukunft sehen. Die spürbare Nähe zu Gott erfüllt sie mit Liebe und gibt ihr die Sicherheit für ihre Entscheidung. Die Kraft des inneren Auges, das von Gott erleuchtet zur Erkenntnis und dem Verständnis der göttlichen Heilsbotschaft befähigt ist, findet sich auch als zentrales Symbol im ältesten Emblembuch religiöser Thematik, den Emblemata sacra des Theologen Dюћіђљ Cџюњђџ aus Stettin (zuerst erschienen unter dem Titel Societas Jesu et Rosea Crucis vera, Frankfurt a. M. 1617 und 1624). Vgl. auch HђћјђљȦSѐѕҦћђ (Anm. 60), 1010f. 1029.
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mit Gott.Ⱥ6ř Das gegensätzliche Motiv, die verbundenen Augen eines gefangenen Kindes bei einer erzwungenen Menschenopferung, beweisen das Unrecht und den Unglauben der verblendeten Antagonisten. Diese setzen alles daran, ihre Gegenspieler zu blenden, um sie ihrer Verbindung mit Gott zu berauben. Da Menulema von der Außenwelt zurückgezogen an dem Bild arbeitet, kann sie sich völlig in das biblische Geschehen hineinfühlen. Sie ist besonders über Isaaks Sieg erschüttert, den sie selbst so erfolgreich in den symbolischen Farben Rot und Weiß sichtbar abgebildet hat:Ⱥ64 seine verständliche Todesangst und seinen entschlossenen Gehorsam. Ihre Tränen zeigen deutlich, daß sie sich empathisch mit Isaak identifiziert. In ihrer Imagination schmilzt die Todesgefahr Isaaks mit der ihres Vaters draußen im Krieg zusammen. Beide besiegen ihre Todesangst und kämpfen gehorsam für Gott. Isaaks und Jephtes Erlösung stehen dank der Gnade Gottes unmittelbar bevor: Das Eingreifen des Engels bei Isaak hat seine Parallele in Jephtes Rettung durch Gottes Hilfe im Krieg. Nicht nur die Vergangenheit und die Gegenwart, sondern auch die Zukunft fließen zusammen, denn die Heilsgeschichte wird nicht als abgeschlossenes, sondern als fortlaufendes Geschehen verstanden. Auf der Figurenebene wird dies damit gerechtfertigt, daß Menulema dank ihrer visionären Gabe nicht nur den entfernten Kampf und die Todesgefahr ihres Vaters imaginiert, sondern auch seine kommende Trauer vorwegnimmt,Ⱥ65 die erst später durch ihre zukünftige Rolle als Schlachtopfer verursacht wird. Der Zusammenfall aller drei Zeitebenen erleichtert 6ř
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Menulemas mutige Worte, mit denen sie eine Augenbinde vor der Opferung ablehnt, erfüllen den trauernden Bräutigam mit Bewunderung und überzeugen ihn davon, daß es sich nicht um einen Mord handelt. Vgl. Bюљёђ (Anm. 7), 145. Ebd., 75: „Punicea stanteis fila percurrunt genas:Ȧ Modicéque ab ostro vultus imberbis tumet.Ȧ Modicè. propinqua pallet aliquantum nece.“ (Rötliche Fäden durchziehen die entschlossenen Wangen. Das bartlose Gesicht prangt maßvoll in Rot. Maßvoll! Es ist auch ziemlich bleich wegen des bevorstehenden Todes.) Die Farbsymbolik verweist auf die transzendente Bedeutung der Erzählung. Die liturgische Farbe Weiß wird sowohl an Ostern wie an den Marienfesten getragen, während Rot, die Farbe der Blutes und Feuers, zu Palmsonntag, Karfreitag und den Märtyrerfesten gehört. Rot und Weiß stützen als Farben des Hohenliedes (vgl. Hld 5,10) auch die Mariensymbolik. Das zweifache „modice“ verweist bei aller emotionalen Beteiligung auch auf die notwendige Affektkontrolle. Vgl. dazu HђіёџѢћ Fҿѕџђџ, „Liebe und Leidenschaft in Momenten großer Entscheidung in Jacob Baldes Tragödie Jephtias“, in: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, hg. v. Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 4ř), Wiesbaden 2005, Bd. 2, 817–828. Bюљёђ (Anm. 7), 76: „Namque ejulantem veste discissa Patrem,Ȧ Mœstóque vultu penitus exsanguem, sibiȦ Videre visa est. turbat excussus sopor.“ (Denn sie schien den klagenden Vater mit zerrissenen Kleidern und trauriger Miene ganz bleich zu sehen.)
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es dem meditierenden Betrachter, alle drei Figuren, Isaak, Jephte und Menulema in ihrer präfigurativen Funktion zu erfassen. Die bekannte Christustypologie im Isaakbild stärkt durch die identifizierende Parallele die weniger bekannte für Menulema und Jephte. Menulemas Tränen symbolisieren trotz ihrer Zerrissenheit in Angst und liebevollem Vertrauen keine Schwäche,Ⱥ66 sondern bezeugen ihre Liebe und ihr Mitgefühl mit Abrahams und Isaaks Lage sowie mit Jephtes gegenwärtigen und kommenden Leiden. Ihre Handarbeit und emotionale Beteiligung bei der Betrachtung von Isaaks Leidensgeschichte sind ihre Eigenleistungen, mit denen sie sich die Heilswirkung erarbeitet. Ihre einfühlsame Meditation des früheren Opfers und der biblischen Vorbilder läutern ihre Angst vor einer unbekannten Zukunft. Menulema läßt sich damit wie Sara vom Vorbild Isaaks leiten, um sich demütig in das ihr nur teilweise bekannte Schicksal zu fügen: in ihren Ausschluß vom Kampf im Namen des Vaters und in ihre auserwählte Rolle als Schlachtopfer. Diese Tränen, die ihren Erkenntnisprozeß begleiten und stützen, sind sinnfällige Zeichen der Gnade, die Trost spenden.Ⱥ67 Als Menulema sich genauso mühsam den Wortlaut des Gelübdes und damit wie Pontanus’ Isaak die Rolle als Schlachtopfer erfragt hat, reagiert sie wie Isaak in 66
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Ebd., 7ř: „In hòc recessu virgo curis anxia,Ȧ Sollicita votis, spe metúque fluctuans,Ȧ Noctes diésque precibus assiduis vacat.Ȧ Animâ puellam patris animari putes,Ȧ Vitáque eadem viuere. vsque adeò studetȦ Patris saluti. totus in mente est pater.“ (In dieser Zurückgezogenheit befindet sich die Jungfrau voll Angst, Sorgen und Unruhe. Sie schwankt dabei in ihren Gebeten zwischen Hoffnung und Angst und widmet sich gewöhnlich Tag und Nacht nur ihren Bitten. Man könnte meinen, daß das Mädchen nur im Geiste des Vaters lebe, so sehr bemüht sie sich ununterbrochen um das Wohl ihres Vaters. Der Vater beherrscht völlig ihren Sinn.) Zur tröstenden Wirkung der Tränen an anderer Stelle, ebd., 151: „quisquis plorat,Ȧ Ne sibi malè sit, plorare beneȦ Studet, & caussa fauet ipse sua.Ȧ Lacrymæ proprium solamen habent.“ (Wer weint, damit es für ihn selbst nicht so leidvoll ist, bemüht sich wohl darum zu weinen, und er begünstigt selbst jeden Anlaß dazu. Tränen haben ihren eigenen Trost). Balde verwendet das ignatianische Modell von den tröstenden Tränen, die die Menschen in ihrer Liebe mit Gott vereinen. „Ich rede von Trost, wenn in der Seele eine innere Bewegung sich verursacht, bei welcher die Seele in Liebe zu ihrem Schöpfer und Herrn zu entbrennen beginnt, und sie demzufolge kein geschaffenes Ding auf dem Antlitz der Erde mehr in sich zu lieben vermag, es sei denn im Schöpfer ihrer aller. Desgleichen: wenn einer Tränen vergießt, die ihn zur Liebe Seines Herrn bewegen, sei es aus Schmerz über seine Sünden oder über die Passion Christi Unseres Herrn oder über andere unmittelbar auf Seinen Dienst und Lobpreis hingeordnete Dinge. Und endlich nenne ich Trost jede Zunahme von Hoffnung, Glaube und Liebe, und jede innere Freudigkeit, die ihn zu den himmlischen Dingen ruft und zieht und zum eigenen Heil seiner Seele, indem sie ihn besänftigt und befriedet in seinem Schöpfer und Herrn.“ Exercitia spiritualia, dritte Regel der Unterscheidung der Geister, zit. nach: IєћюѡіѢѠ ѣќћ LќѦќљю, Die Exerzitien, übertr. v. Hans Urs von Balthasar, Luzern 1946, Nr. ř16, 1ř4.
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Pontanus’ Drama auf ihrem Bild maßvoll, gelassen und todesbereit. Die gleichen geläuterten Tränen des Mitleids beweisen Jephtes Liebe während der Opferung. Auch der Bräutigam weint nach dem Opferbericht erst, nachdem er in der Opferung das göttliche Mysterium erkennen konnte. Die Tränen Menulemas, Jephtes und Ariphanassos sind Zeichen des Mitleids des Gläubigen im Nachvollzug der Passion. Darauf deutet auch die violette Farbgebung im Isaakbild.Ⱥ68 Die Opferung Isaaks, dessen Edelmut sich auch äußerlich in seiner liebenswerten Anmut, der Schönheit seiner zarten, weißen Glieder und seiner ebenmäßigen Stirn ausdrückt, ist bereits ein Abbild der späteren Opferung der schönen Menulema. Viele äußeren Details und die Farbsymbolik stimmen überein und stützen das präfigurierte Opfer Christi als freiwillige Gabe der Liebe und Gnade. Isaak und Menulema gehen mit ungebundenen Augen im weißen Kleid zum Opferaltar. Sie beugen im Moment der Opferung Knie und Nacken vor dem erhobenen Schwert des Vaters, das im Sinne der Schwert-Kreuzsymbolik für das Paradox von Tod und Leben steht.Ⱥ69 Nicht Isaak, aber Menulema wird schließlich als Brandopfer dargebracht. Die Farben Weiß und Rot, mit denen Menulema Isaaks Inneres visualisiert und die sich in Feuer und Schnee wiederholen, zeigen sich auch auf ihrem Gesicht, an ihrem Körper und in ihrer Kleidung. Sie verlangt nach den Farben von Lilie und Rose,Ⱥ70 womit im Gesamtkontext der im Drama entwickelten Farbsymbolik des Hohenliedes, der Mariensymbolik und der Osterliturgie auf die Motivreihe Schönheit, Unschuld, Liebe, Tod und Auferstehung verwiesen wird.Ⱥ71 Der Diener beschreibt auch Menulemas Bildbearbeitung und die verschiedenen Farben der Fäden, die wie beim Spinnen glatt gestrichen und weich gemacht werden. Hervorgehoben wird der purpurrote Faden, der wegen Menulemas Erschütterung dreimal wieder ins Körbchen
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Bюљёђ (Anm. 7), 7ř: „Materia dispar sponte submissum caputȦ Varijs remiscet licijs. JanthinæȦ Glomerata in orbeis lana crispatur comæ.“ (Das ungleiche Material mischt das freiwillig geneigte Haupt mit verschiedenem Garn. Die Wolle kräuselt sich verdichtet zu Kreisen aus violetten Fasern.) Die Schwert-Kreuzsymbolik wird im Titelkupfer (Abb. 1) visualisiert. Ebd., 117. Die kostbaren Gold- und Silberfäden in Abrahams Schwert und Scheide nehmen z. B. die prächtigen Opfer- und Brautgaben bei Menulemas Opferung vorweg. Das weiße Linnen Isaaks symbolisiert seine Unschuld und ist zugleich ein präfigurativer Hinweis auf Jesus. Das rote, warme Feuer steht für Liebe und Tod, der kalte, unberührte Schnee symbolisiert Angst, aber auch die Unschuld beider Schlachtopfer. Die roten Fäden Menulemas werden zu Blutströmen, die vom Altar herabfließen, usw. Zur Symbolik von Wärme und Kälte s. o. (Anm. 12).
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zurücksinkt.Ⱥ72 Die Fäden spinnende oder webende Menulema knüpft ikonographisch an das mittelalterliche Motiv der Purpurfäden spinnenden oder webenden Maria bei der Herstellung des Tempelvorhangs an. Diese Gestaltung Mariens nach dem Protoevangelium des Jakobus wurde als alternatives Verkündigungsmotiv gelesen.Ⱥ7ř Im Kontext mit anderen präfigurativen Hinweisen auf Menulema als Typos für Maria liest sich diese Szene, in der die betende und handarbeitende Menulema Isaaks Tod imaginiert, als Verkündigungsszene. Der Jungfrau Menulema wird ihre künftige Rolle als Gottesgebärerin so verkündet, daß in der Opferung Anfang und Ende der ErlösungstatȺ74 zusammengefaßt werden. Dieser Zusammenfall der Zeitebenen findet sich ebenso in mittelalterlichen Darstellungen von Marias Verkündigung vor dem Hintergrund des Kreuzes. An die Stelle des Engels, der der demütigen Maria ihre Auserwähltheit verkündet, tritt hier das Bild. Beide Frauen nehmen nach kurzem Zögern die ihnen zugedachte übernatürliche Rolle an. Diese doppelte Verbildlichung oder indirekte Visualisierung des Bühnenbildes betont den katholischen Standpunkt, daß beide Medien, Wort und Bild, Logos und Mythos, gleichermaßen Verkündigungsrelevanz haben.Ⱥ75 Balde bietet statt äußerer Ablenkung mit bühnenwirksamen Effekten und ‚actiones‘, die die Rezipienten zu passiven Zu-Schau72
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Die symbolische Bedeutung von drei vergeblichen Versuchen als Zeichen des inneren Widerstandes ist ein durchgängiges Motiv im Drama, das sich sowohl biblisch als auch klassisch bei Homer belegen läßt. Nicht nur an dieser Stelle läßt sich die harmonische Verschmelzung beider Kulturwelten belegen. Vgl. Eѣю Sђяюљё, „Handarbeiten Marias”, in: Marienlexikon, hg. v. RђњієіѢѠ BѫѢњђџȦ Lђќ SѐѕђѓѓѐѧѦј, St. Ottilien 199ř, Bd. ř, 76f.; JѢљіюћ ќѓ NќџѤіѐѕ, „Women in the Distaff“, in: DіђѠ., God’s Image. Women and the Middle Ages, New orkȦBern 1999, auch als E-Buch: http:ȦȦwww.umilta.netȦequal1.html; vgl. auch EџѤіћ PюћќѓѠјѦ, Early Netherlandish Painting. Its Origins and Character, Cambrigde, Mass. 1959, 1ř1. 411. Bюљёђ (Anm. 7), 114f.: „Mundi VictimamȦ Mundo priorem, Virgo natam VirgineȦ Præcedo.“ (Ich gehe als Jungfrau dem Opfer der Welt voraus, das als erstes auf der Welt von einer Jungfrau geboren ist.) Dieser Text ist eine Variation der 10. Strophe des „Pange lingua lauream“ der Karfreitagsliturgie „Sola digna tu fuistiȦ Ferre mundi victimam:Ȧ Atque portum praeparareȦ Arca mundo naufrago:Ȧ Quam sacer cruor perunxit,Ȧ Fusus Agni corpore.“ (Du allein warst ausersehenȦ Zu des Lammes Schlachtaltar,Ȧ Zu der Arche, die entrissenȦ Uns des Untergangs Gefahr,Ȧ Zu dem Pfosten, der vom BluteȦ Heil’gen Lamms bezeichnet war.) Zur besonderen Rolle Menulemas, die sie selbst spürt, vgl. auch ebd., 115: „Præcipio cuncta. sic amans, sic innocens,Ȧ Sic Virgo mecum occumbet. est tanti mihiȦ Sequentis 'ui nobilis præsensio.“ (Ich nehme alles vorweg. So liebend und unschuldig und als Jungfrau werde ich untergehen. Ehrfürchtig erahne ich eine große kommende Zeit.) Das Drama schließt mit einer Verheißung des Paradieses nach der Offenbarung des Johannes. Vgl. Kюџђћ PіћјѢѠ, Picturing Silence. Emblem, Language, Counter-Reformation Materiality (Body, in Theory: Histories of Cultural Materialism o. Nr.), Michigan 1996, 42ff. Zur Bedeutung der Bilderverehrung bei den Jesuiten vgl. IљѠђ ѣќћ ёђџ Mҿѕљђћ, „Imaginibus
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ern machen, viele Ekphrasen, die durch innere Bilder das abstrakte Wort Gottes versinnbildlichen. Entsprechend der meditativen Text- und Bildrezeption der Jesuiten werden die Zuschauer wie Exerzitanten animiert, die biblischen ‚exempla‘ auf der Bühne auf ihr eigenes Leben im ‚theatrum mundi‘ zu übertragen.
Der Medienwechsel Diese innovative Auslegung der Jephtegeschichte wird mit affektiver Rhetorik voll ‚argutia‘ auf der Schulbühne im Wechsel von Wort, Bild und Musik präsentiert:Ⱥ76 Sie kann während der langen Spieldauer von mehr als einem halben Tag meditativ nachvollzogen werden. Die Opferung der Jephte-Tochter in Baldes Deutung überzeugt am besten im unmittelbaren Erlebnis auf dem Theater, zumal Balde in seinem Drama durch die Wort-Bild-Relation auch gezielt die figurale Abbildfunktion hervorhebt. Die im Anschluß an die Liturgie, Paraliturgie und in mittelalterlichen liturgischen TheaterspielenȺ77 entwickelte, vertraute Gestik und Symbolik in Wort, Bild, Musik und Bewegung vereinte die Zuschauer wie in der Messe oder den von den Jesuiten wiederbelebten Prozessionen zu einer geschlossenen konfessionellen Gruppe. Überzeugend wirkt die verbale Vermittlung von Jephtes symbolhaltiger Gestik beim Opfervollzug, die bereits Ariphanasso zu Tränen gerührt hat. Mitreißend ist der musikalische Eindruck, der entsteht, wenn der
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honos – Ehre sei dem Bild. Die Jesuiten und die Bilderfrage“ in: Rom in Bayern. Kunst und Spiritualität der ersten Jesuiten, hg. v. Rђіћѕќљё BюѢњѠѡюџј, München 1997, 161–170. Man glaubte, daß die Vorstellung des Menschen beim Lesen am weitesten begrenzt ist, weil das Hören des gesprochenen Wortes für wichtiger gehalten wurde als das Sehen, da das Ohr dem Intellekt näherstünde als das Auge. Vgl. JѢљіђ Sѡќћђ PђѡђџѠ, Theatre of the Book 1480–1880. Print, Text, and Performance in Europe, Oxford 2000, 149ff. Die liturgischen Theaterspiele stehen in der Tradition des Gottesdienst-Spiels und der Meßallegorese von Aњюљюџ ѣќћ Mђѡѧ an kirchlichen Feiertagen. Amalar war im 9. Jahrhundert Bischof von Metz. Er bezog in seinen De ecclesiasticis officinis jedes Detail des Gottesdienstes als Bild auf die Ereignisse der letzten Tage Jesu, um die ganze Geschichte der Passion vom triumphalen Einzug Jesu in Jerusalem bis zu dessen Auferstehung im Gottesdienst widergespiegelt zu sehen, vgl. HюџџіѠ (Anm. ř0), 2řff.; LюѢџю JюѐќяѢѠ, „‚Flete mecum‘. The Representation of the Lamentation in Italian Romanesque Art and Drama”, in: Word & Image 12 (1996), 110; UџѠѢљю SѐѕѢљѧђ, „Formen der Repraesentatio im Geistlichen Spiel“, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. v. Wюљѡђџ HюѢє (Fortuna vitrea 16), Tübingen 1999, ř12–ř56. Vor diesem Hintergrund kann Baldes figurale Komposition gesehen werden, die alle Einzelheiten der Geschichte Jephtes auf die Passionsgeschichte bezieht. Die Umzüge auf der Bühne spielen auf die vertraute zeitgenössische, jesuitisch-katholische Prozessionspraxis an.
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militärische Triumphzug Jephtes langsam auf den Freudenzug der Mädchen stößt und wenn die Gegensätzlichkeit von Bewegung und Musik affektiv das Paradox von Freude und Trauer widerspiegelt.Ⱥ78 Die dreizehn Lieder, die dem Anhang der Druckfassung beigegeben sind, bewirken einen starken emotionalen Effekt.Ⱥ79 Die volkstümliche Melodie zu diesen Liedern ist teilweise neu geschrieben, teilweise werden bekannte Marienlieder mit neuem Text versehen. Besonders eindrucksvoll ist das elfte Lied „Formosa Virgo Jephtias“, das als Gesangspartie die lange, letzte Sprechszene in Akt V ersetzen kann, in der die trauernden Mädchen Ariphanasso die letzten Gaben Menulemas überreichen (Notenbeispiel 1).Ⱥ80 Die expressiven Lieder erleichtern emotional die Identifikation mit dem Geschehen und kontrastieren effektvoll mit 78
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Balde schreibt vor, daß 15 Minuten lang auf der Bühne nichts sichtbar dargestellt werden soll. Von der einen Seite der Bühne nähert sich langsam der Siegeszug unter immer lauter werdender Fanfarenmusik. Von der anderen Seite ist der Gesang und die Musik der Mädchen zu hören, die den Soldaten mit Jephtes Tochter an der Spitze zur Begrüßung entgegenziehen. Diese Zeitspanne ermöglicht es den Zuschauern, die ja den Ausgang der Handlung kennen, sowohl die gegensätzlichen Gefühle von Freude und Trauer nachzuempfinden als auch den komplexen figurativen Relationen nachzuspüren. Dreizehn Lieder mit Text und Noten sind unter dem Titel ‚Melodramatica‘ im Anhang beigegeben. Es handelt sich hierbei um Minnelieder Ariphanassos, Kriegslieder der Soldaten und Trauergesänge der Mädchen. Sie konnten an genau bezeichneten Stellen fakultativ anstelle des Textes, dem er bereits durch variationsreiche Versmaße ausführlich eine ausgefallene rhythmische Sprachmelodie gegeben hatte, eingeschoben werden. Drei der Lieder sind bereits als damals neu geschriebene Melodien zu Marienliedern identifiziert worden, vgl. Nќџяђџѡ TѠѐѕѢљіј, „Zwei Beiträge zum Theater des Barock“ in: Mitteilungen der Kommission für Musikforschung 28 (1978), ř59–ř77. Als Reaktion auf die protestantische Liederproduktion wurden auch unter katholischer, besonders jesuitischer Leitung neue volkstümliche geistliche Lieder auf Flugblättern herausgegeben, die vor allem für Prozessionen und Wallfahrten bestimmt waren. Vgl. dazu Kюџљ M. Kљіђџ, „Innsbrucker Lied-Flugblätter des 17. Jahrhunderts“, in: Jahrbuch des österreichischen Volksliedwerkes 4 (1955), 56ff. Zur jesuitischen Liedpropaganda vgl. Dіђѡѧ-Rҿёієђџ MќѠђџ, Verkündigung durch Volksgesang. Studien zur Liedpropaganda und -katechese der Gegenreformation, Berlin 1981. Eines der bekanntesten Lieder Baldes ist der „Ehrenpreiß der Allerseligsten Jungfrawen Mariae“ von 16ř8. Hierbei handelt es sich um eine Kontrafraktur zum bekannten „Nun lob, mein Seel, den Herren“, das Johann Gramann 1525 als erstes evangelisches Loblied, Ps 10ř als Vorlage nutzend, verfaßte und das anonym im Concentus novi trium vocum, Augsburg 1540, des Hofkapellmeisters Johann Kugelmann erschien. Das Lied wurde zu berühmten Anlässen gesungen: 16ř2 beim ersten evangelischen Gottesdienst mit Gustav Adolph und 16ř4 in Osnabrück zum Abschluß des Westfälischen Friedens. Baldes Verwendung einer so bekannten Melodie verknüpft die zeitgenössischen Verhältnisse, die Freude über das Ende des Krieges und den Sieg über den Glaubensfeind mit seiner Auslegung der Jephteerzählung. In einigen Liedern wird Jephte als erwählter Führer und Herrscher von Gottes Gnaden gepriesen, in anderen die
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der notwendigen Gelehrsamkeit, mit der die sprachlichen und bildlichen Anspielungen entschlüsselt werden müssen. Sie zitieren Verse und Motive des Hohenliedes und befestigen die tröstende Allegorese in der Erinnerung. Einen vergleichbaren affektiven Kontrast von Trauer und Freude bieten Musik und Text der singenden und sich im rituellen Tanzschritt bewegenden Mädchen beim Trauermarsch. Die Klagelieder der Mädchen laden zum trauernden Nachvollzug, zur ‚compassio‘, ein, und integrieren besonders im letzten Lied die Hoffnung durch den leichten, tänzerischen Dreivierteltakt. Diese Hoffnung verstärkt visuell das hochgezogene Anastasisbild, eine Symbolik, die sich auch beim Aufzug des Kreuzes bei österlichen Mysterienspielen findet.Ⱥ81 Um die individuelle religiöse Sinnidentität in einen jesuitisch-normierten, überindividuellen Sinnzusammenhang zu stellen, appelliert Balde an die konfessionelle Gruppenidentität, wie sie bei Messen oder Festumzügen affektiv gebildet wird. Mit dieser Symbolik wird der Zuschauer bei Balde wie in liturgischen Spielen zum Mit-Spieler, der eine bestimmte Zeit gemeinsam an der ‚performance‘ teilnimmt.Ⱥ82 Ihm wird in der Gruppe die individuelle Möglichkeit einer passiv-kritischen Rezeption genommen, wie sie bei einer rein rationalen Argumentationsrhetorik möglich gewesen wäre. Sowohl Pontanus’ als auch Baldes Inszenierung biblischer Geschichten überschreiten die Gepflogenheit der Schule, öffentliche Dialoge als Rhetorik- und Sprachübungen zu inszenieren.Ⱥ8ř Da beiden Dramen nach der Aufführung der Wechsel in das dauerhaftere Buch-
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Soldaten zum selbstaufopfernden Glaubenskampf angestachelt. Balde hatte selbst anläßlich des Westfälischen Friedens siebzig Marienlieder herausgegeben. Zur Bedeutung von Anastasisnachbildungen im Rahmen der Osterliturgie vgl. HюџџіѠ (Anm. ř0), ř6ff. Die Tragödie enthält die wesentlichen drei Momente der Karfreitagsliturgie, des ‚Österlichen Triduums‘, mit Leiden, Tod und Auferstehung in Wortverkündigung, Kommunionsfeier und Kreuzverehrung. Zur Bedeutung von liturgischen und symbolischen Zeichen beim Erstellen einer religiösen Gruppenidentität, wie sie in Baldes Drama als Prototyp der Frömmigkeitskultur der Gegenreformation gezielt eingesetzt wird, vgl. PіћјѢѠ (Anm. 75), 4řff. Der strukturelle Unterschied zwischen den dialogischen Sprachübungen für den Unterricht und der strafferen Komposition eines Dramas für das Schultheater wie die Immolatio Isaac zeigt PќћѡюћѢѠ’ spätere Bearbeitung der Isaakopferung als ‚dialogus‘. Dieser Prosatext aus den Colloquiorum Sacrorum Libri Quatuor, Augsburg 1609, ist ein lockeres Prosagespräch zwischen Abraham, Isaak und dem Engel auf dem Berg Morija, das im Religionsunterricht „von zwei oder drei Schülern vorgetragen“, den Glaubensgehorsam exemplifizieren sollte, eines von insgesamt fünf kurzen rhetorischen Stücken über Episoden aus Abrahams Leben. Die dramatische Struktur seiner Version von 1590 ist dagegen deutlich komplexer und läßt sich wegen des gerafften Aufbaus und der verbal motivierten Raum- und Szenenwechsel in fünf Akte aufteilen. Vgl. dazu Rђѐјљіћє (Anm. 5), 177ff.
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Notenbeispiel 1: „Formosa Virgo Jephtias“, in: Jюѐќя Bюљёђ, Jephtias, Tragoedia, Amberg 1654, Anhang, 14f. Die eingängige Melodie dieses Lied wird auch heute noch im Gottesdienst als Danklied gesungen (EKG 188, EG 289, GL 285). In Baldes Text wird nun nicht mehr Gott, sondern die Jungfrau Menulema gepriesen. Diese Verse sind eines der vielen Marienpreislieder, die Balde im Laufe seiner Tätigkeit verfaßt hat.
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medium ermöglicht wurde – dieser Medienwechsel wurde nur wenigen der häufig anonym und nur handschriftlich überlieferten Jesuitendramen gestattet –, kann man davon ausgehen, daß diese Dramen zu ihrer Zeit Vorbilder und Dokumente eines affektiv gesteuerten jesuitischen Konfessionskampfes waren. Denn eine Debatte über jesuitische Glaubensvorstellungen – wie hier über Gehorsam und den freien Willen des Menschen – fand nicht nur öffentlich von der Kanzel aus statt, sondern auch schriftlich in langen kontroverstheologischen Disputen, die einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht werden sollten.
Schluß Jacob Pontanus und Jacob Balde predigen in ihren Schuldramen im Thema der Menschenopferung ein jesuitisch-katholisches Menschen- und Gottesbild. Balde spitzt dies deutlich auf die Momente der durch den freien Willen ermöglichten Eigenleistung des Menschen, der gehorsamen Treue und spürbaren Gnade Gottes zu. Baldes implizite und explizite Auseinandersetzung mit der problematischen Exegesetradition weist ihn darüber hinaus als ‚poeta theologus‘ aus, der mit seiner neuartigen Auslegung die alte Problematik zu überwinden sucht. In Baldes Personencharakterisierung ist die affektbetonte Psychologisierung zum Zweck einer einfühlsamen Nachfolge deutlicher herausgearbeitet als bei Pontanus. Balde veranschaulicht ausführlicher die Zweifel des Gläubigen und dessen leidvollen Weg zum Heil, den er sich unter direkter Beihilfe Gottes erarbeiten muß. Die Gnade Gottes offenbart sich in den Prüfungen des auserwählten Menschen. Menschliches Leid erscheint als sinnvoller Bestandteil innerhalb des nicht durchschaubaren Heilsplans Gottes. Die Liebe zu Gott, Jesus oder Maria hilft jedoch, dieses Leid zu überwinden. Baldes Drama ist eine Anleitung zur Meditation biblischer Vorbilder, darunter auch des von Abraham gehorsam gefaßten Entschlusses zur Opferung Isaaks. Deutlicher als Pontanus versucht Balde, jedes erzählerische Moment des Alten Testaments auf das Neue zu präfigurieren, um den umfassenden Heilsplan hinter der schwer deutbaren Jephte-Erzählung herauszuarbeiten und auf die Gegenwart übertragbar zu machen. Gleichzeitig überschreitet Balde die Normen eines humanistisch-klassizistischen Dramas. Er entwirft eine ‚tragoedia divina‘, die auf allegorischer Ebene das nur mystisch erfaßbare, christliche Paradoxon einfängt. Im Unterschied zu Pontanus’ zurückhaltender katholischer Konfessionstendenz zeugt das spätere Drama Baldes mit seiner größeren rhetorischen und dramaturgischen Komplexität klare konfessionstypische
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Deutungen und einen konfessionsbedingten Anschluß an mittelalterliche Rituale und Mysterienspiele. Balde überschreitet deutlicher als Pontanus die argumentierende Vernunft- und Wortkultur der humanistischen Rhetoriktradition, indem er nicht nur ausführlicher den affektreichen mehrstufigen Entscheidungskampf der Protagonisten gestaltet, sondern zur affektreichen Stützung seiner Allegorese und zum Erfassen des die Kräfte der Vernunft übersteigenden Mysteriums auch gezielt Musik und Gesang verwendet. Pontanus hatte lediglich in der Mitte und am Ende des Stückes nonverbale Festmusik als Ausdruck der Freude, des wichtigsten Affekts seines Dramas, vorgesehen. Die ausführliche Darstellung menschlicher Liebe und Gnade von Vater und Tochter sowie von Braut und Bräutigam verdeutlicht das Kreuzesopfer als paradoxes Zeugnis göttlicher Liebe und Gnade. Baldes Drama besitzt im Unterschied zu Pontanus’ humanistischem Schuldrama eine ausgefeilte Allegorese, die als katholisch-jesuitischer Beitrag im Konfessionsstreit gesehen werden kann.
Abraham und Isaak als Oratorienstoff im 17. und 18. Jahrhundert (mit Ausblicken auf Vertonungen bis zum 20. Jahrhundert) von Hђџњюћћ JѢћє I. Die Geschichte von Isaaks Opferung hat auch in der Librettistik und in der Musik der frühen Neuzeit einen bedeutsamen Niederschlag gefunden. Die Kontinuität des alttestamentlichen Sujets reicht in unterschiedlichen Gattungen gar bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.Ⱥ1 Was mögen die Gründe dafür sein? Zum einen gewinnt die Musik und insbesondere die Vokalmusik im Verlauf des 16. Jahrhunderts eine bisher nicht gekannte Ausdrucksund Deutungskompetenz zur differenzierten Kompositionsstruktur hinzu. Sie befähigt die Musik, Texte in ihren formalen Zusammenhängen nachzubilden und zugleich nach eigenen musikalisch-rhetorischen Gesetzmäßigkeiten deren Sinn und Bedeutung in Klang umzusetzen. Sprache und Musik beginnen neuartige Beziehungen zueinander und miteinander einzugehen und um Dominanzen ihrer je eigenen Identität wettzueifern. Während die Musik in Motetten- und Messkompositionen des 16. Jahrhunderts weitgehend über die Sprache herrscht mit dem Höhepunkt bei Giovanni da Palestrina, tritt mit der Wende zum 17. Jahrhundert ein Wechsel ein. Die Sprache gewinnt die Oberhand über die Musik und durchdringt sie zugleich. Zum „imitar della natura“ tritt die Forderung Claudio Monteverdis, dass die dichterische Rede die Herrin über die Musik sei. Es ist die Geburtsstunde der beiden großen vokalen Gattungen in Italien: der Oper und des Oratoriums. Zum anderen hatte das Opfer Abrahams in der Exegese der Kirchenväter, des Protestantismus, in der frühchristlichen Kunst, später in der Renaissance-Malerei und im Theater des Barock zentrale Bedeutung 1
Vgl. die Zusammenstellung der Werke im Anhang.
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Hermann Jung
gewonnen hinsichtlich einiger hier formulierter Grundsätze christlicher Überzeugung: der unumstößliche, bedingungslose Glaube an Gott, an den einzigen Gott, ein Gehorsam, der auch das Opfer mit einschließt. Nach Ex 1ř,1ř ist alle Erstgeburt Gott zu weihen. „Der erstgeborene Sohn war Eigentum des Herrn und konnte nur durch eine Auslösung seinem Volk erhalten bleiben.“ Das Opfer wird somit „zu einem Symbol für die völlige Hingabe an Gott.“Ⱥ2 Deshalb kann die Geschichte von Abraham und Isaak wohl nur von ihrem Ende her verstanden werden. Dieser Gott, der das ihm zustehende Recht einfordert, will nicht, dass Menschen getötet werden. Das Menschenopfer ist von nun an aus dem religiösen Ritus verbannt. Ein dritter Grund für die Wirkmächtigkeit des Abraham-Opfers hinsichtlich einer musikalischen Gestaltung ist sicherlich in den Reformbestrebungen des Tridentinischen Konzils zu suchen, die sich nicht allein auf die Vertonungspraxis liturgischer und geistlicher Texte beziehen, sondern auch auf neue Möglichkeiten der Glaubensausübung; diese bringen wiederum neue Gattungen und Formen der Kirchenmusik mit sich. Davon soll im folgenden Teil die Rede sein, bevor anhand von drei Fallbeispielen von Giacomo Carissimi, Marc-Antoine Charpentier und Joseph Mislive²ek Kompositions- und Aufführungspraktiken des Abraham und Isaak-Sujets behandelt werden.
II. Vorgeschichte und Umfeld jener musikalischer Erscheinungen in Italien, die man erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts mit dem Terminus „oratorio“ bezeichnet, hat durch die Erforschung der Quellenlage und durch Neueditionen in den letzten drei Jahrzehnten wesentlich an Klarheit und Profil gewonnen, insbesondere was die Aufführungsorte, Funktionen und Zielsetzungen solcher Musiken und ihre Aufführungspraxis betraf. Ausgangspunkt war dabei stets die im italienischen Sprachraum übliche Doppelbedeutung von „oratorio“, einmal als Bezeichnung für einen geweihten Gottesdienstraum, den Betsaal, zum anderen für die musikalische Komposition eines geistlichen, nichtliturgischen Textes. Zusammengeführt wurde die kirchliche und musikalische Begrifflichkeit in einer 1564 in Rom von Filippo NeriȺř (vgl. Abb. 1) gegründeten Priestergemeinschaft, der Congregazione dell’ Oratorio (Congregatio presbyterorum
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Mюћѓџђё LѢџјђџ, Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole, München ř1987, 265f. San Filippo Neri. Stich, Rom 1645. Abb. in Gіюћѐюџљќ RќѠѡіџќљљю (Hg.), Il terzo libro delle laudi spirituali (1577), Faksimile-Ausgabe, Rom 1995, 6.
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et clericorum saecularium de Oratorio). Sie fand sich zunächst in der Kirche S. Giromalo della Carità, dann von 1577 an in der neu erbauten Kirche S. Maria in Vallicella (chiesa nuova, vgl. Abb. 2)Ⱥ4 im jeweiligen oratorio zusammen, um Bet-Übungen (Essercizi spirituali) abzuhalten. Die Bewegung des Filippo Neri, den man auch als „Apostolo di Roma“ titulierte, suchte gleichsam als Konsequenz aus den Reformbestrebungen des Konzils von Trient und der sogenannten Gegenreformation jesuitischer Kreise eine bewusste, neuartige Ergänzung zum liturgischen Messgottesdienst anzubieten, die bald auch die Zustimmung der offiziellen Kirche fand. Die Idee, mit einer Abfolge von Gebet, Lesungen, Predigt und mit darin integrierten musikalischen Teilen geistliche Lehre und Erbauung auch für einen größeren Interessentenkreis zu intensivieren und damit traditionelle Andachtsformen zu verlebendigen, traf mit den mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen in Religion und Kirche zusammen. Diese Kraft eines neuen religiösen Ausdrucks vermochte die Musik durch ihre Offenheit zu unterstützen, rationales Verstehen durch die Sinne zu verstärken und ganz eigene Elemente musikalischer Affekthaftigkeit zu entwickeln. Sie wurde damit zu einem attraktiven Träger der seelsorgerlich-pastoralen Zwecke der Kongregation und in gewisser Weise gar zum Statussymbol ihrer Selbstdarstellung.Ⱥ5 Alle Texte, die gesprochenen wie die gesungenen, waren im übrigen italienisch, die Volkssprache somit ein wesentliches Element der Essercizi, vergleichbar der Wendung zur deutschen Sprache bei Martin Luther. Die Bet-Übungen im Oratorio wurden in zweierlei Form gestaltet: als Oratorio grande an den Samstagen zwischen Allerheiligen und Ostern. Sie begannen am frühen Nachmittag und zogen sich mehrere Stunden hin mit einer großen Zahl von Hörern und Betenden; als Oratorio della sera mit einem kleineren Teilnehmerkreis und etwa halbstündiger Dauer. Stille und gesprochene Gebete wechselten mit einem Musikstück und einer Ansprache ab.Ⱥ6 Gerade hier gewann die Musik zunehmend an Bedeutung. Der Karfreitag war dann Abschluss und Höhepunkt der wöchentlichen Fastenandachten. Gesungen wurden zunächst mehrstimmige sogenannte Lauden mit religiösen, nichtliturgischen Texten, die seit Ausgang des 14. Jahrhunderts bereits in den Stundengottesdiensten erklangen. Bei den Filippinern kamen auch solche in Dialogform zur Aufführung, gelegentlich 4
5 6
S. Maria in Vallicella (chiesa nuova), Rom 1725 (Oratorium links, Kirche rechts). Abb. in MюѢџіѧіќ ёђ BђћђёіѐѡіѠ (Hg.), Opus architectonicum equitis Francisci Borromini ex eiusdem exemplaribus petitum […], Neuausgabe, Rom 1995, Tavola LXVII. Vgl. JѢљіюћђ Rіђѝђ, „Oratorium“, in: MGG2 Sachteil 7 (1997), 746. Gҿћѡѕђџ MюѠѠђћјђіљ, Oratorium und Passion (Handbuch der musikalischen Gattungen 10,1), Laaber 1998, 80.
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auch szenisch dargeboten. Der entscheidende Dichter solcher Texte an der Kirche S. Maria in Vallicella ist Agostino Manni, der insbesondere den Text zu Emilio de’ Cavalieris bekanntem Werk Rappresentatione di anima et di corpo schrieb, im Jahre 1600 in der chiesa nuova aufgeführt und im gleichen Jahr auch gedruckt. Der gesprochene Prolog vermittelt nachdrücklich die Zielsetzung der Filippiner: [Die Darsteller] werden mit neuen seltsamen Bildern Augen und Ohren entzücken, gleichzeitig aber eine Idee verkörpern, mit deren Hilfe der Zuschauer sich in seinem Innern ein Bild davon machen kann, daß dieses Leben, diese Welt, diese irdischen Gewalten in Wirklichkeit nichts als Staub, Schatten und Rauch sind. Schließlich wird er erkennen, daß es nichts Gesichertes, nichts Großes gibt außer der Tugend, der göttlichen Gnade, der ewigen Herrschaft des Himmels.Ⱥ7
Das mehr eine Oper im geistlichen Gewand repräsentierende Stück wurde bisher gerne als „Schlüsselwerk“ des neuen monodischen Stils in Italien bezeichnet und damit auch als ein Vorläufer der späteren musikalischen Gattung des Oratoriums. Gerade was die Vorläuferfrage betrifft, kam die neuere Forschung zu differenzierteren Ergebnissen. Nicht die Rappresentatione von Cavalieri als „neue Stufe des Lauden-Gesangs“ und ihre Affekthaftigkeit „im Dienste religiöser Ziele“Ⱥ8 führen zum italienischen Oratorium, sondern die dialogischen geistlichen Madrigale, wie sie z. B. Giovanni Francesco Anerio in seiner Sammlung Teatro armonico spirituale di madrigali 1619 vorstellte: Werke mit Generalbass (d. h. mit Tasten- und Bassinstrument) und 2- bis 8-stimmiger Vokalbesetzung sowie einem stark begrenzten Anteil weiterer Instrumente. Anerio spricht in seiner Vorrede vom geistlichen Nutzen, der auch für Aufführungen außerhalb Roms von Bedeutung sein kann. Gedacht sind die dialogischen Stücke für die Oratorio della sera zur Winterszeit, inhaltlich z. T. auch mit bestimmten Festtagen verbunden. In diesem Zusammenhang taucht wohl erstmals das Abraham-Sujet als geistliche Dialogkomposition auf: Respondi Abramo, hier zwar nicht einem bestimmten Tag zugeordnet, doch durch seine Wechselreden zwischen Gott, dem Engel, Abraham und Isaak für einen musikalischen Dialog geradezu prädestiniert. Mit solcherart geistlichen Madrigalen kompositorisch verwandt sind Motetten, in Dialogform und im konzertierenden Stil gehalten, die in ihrer Genese den dialogischen Madrigalen noch vorangehen. Inhaltliche Gemeinsamkeiten finden sich in der Verwendung der AbrahamGeschichte und weiterer Figuren des Alten Testaments. Darüber hinaus 7 8
Zitat bei MюѠѠђћјђіљ, Oratorium (Anm. 6), 8ř. Ebd., 82.
Abraham und Isaak als Oratorienstoff
Abb. 1: San Filippo Neri. Stich, Rom 1645.
Abb. 2: S. Maria in Vallicella (chiesa nuova), Rom 1725.
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greifen die Motetten auch neutestamentliche Sujets auf wie das Gleichnis vom Verlorenen Sohn oder Maria unter dem Kreuz, auch allegorische Dialoge zwischen Christus und der Seele. In diesem Umkreis, in dem es noch manche Forschungslücke zu schließen gilt, erschien 1640 ein Werk von Pietro della Valle, in der Quelle als Dialogo per la festa della Santissima Purificatione benannt, in einem Brief des Komponisten auch mit Oratorio della Purificatione – bei aller noch herrschenden Unentschiedenheit in der Terminologie der erste Beleg für die neue Gattungsbezeichnung. Wie dieses Werk von Della Valle wurden auch zwei Dichtungen von Francesco Balducci, 1646 in Rom gedruckt, für die chiesa nuova verfasst, Il Trionfo und La fede. Sie gelten als der Beginn einer eigenständigen literarischen Gattung in Italien, des Oratorienlibrettos. Hinter dem Titel La Fede verbirgt sich wiederum die Geschichte von Abraham und Isaak. Teile des Textes sind als Oratorio della Santissimo Vergine unter dem Namen Giacomo Carissimis vertont worden. Hier tritt nun mit Carissimi erstmals der Komponist in Erscheinung, der für die Frühgeschichte des lateinischsprachigen Oratoriums entscheidend werden wird. Bei zwei italienischen Oratorien ist seine Autorschaft mangels autographer Belege nicht gesichert. Auch wechselt mit ihm der Ort ihrer Entstehung und Aufführung in Rom. Im Zentrum steht jetzt das 1568 gegründete Oratorio del CrocifissoȺ9 (Abb. ř) bei der Kirche S. Marcello und die dort tätige Kongregation der Arciconfraternita del Santissimo Crocifisso. Die religiös-pastoralen Zielsetzungen entsprechen denen der Bewegung des Filippo Neri, doch gilt es, einige Unterschiede festzuhalten, was Dichtungen und Musik betrifft. Die dort verwendeten Texte sind ausschließlich lateinisch, vermutlich bedingt durch ihre aus der römischen Oberschicht stammenden Mitglieder, und zumeist dem genauen Wortlaut der Vulgata angeglichen. Von der Komposition her haben wir es mit Motettensätzen zu tun, nach 1600 sicherlich auch mit solchen in dialogischer Form und konzertantem Stil. Diese Motetten wurden nur an den Freitagen der Fastenzeit aufgeführt und wohl ganz überwiegend im Rahmen der Liturgie. Im Oratorio dell Crocifisso pflegte man eher Werke, die Günther Massenkeil als „Oratorien-Dialo-
9
Abb. in ebd., 89 (moderne Innenansicht. Foto: Rom, Istituto centrale per il catalogo e la documentazione, serie E N° 53661). Zum Oratorium vgl. auch: JќѠђѝѕіћђ ѣќћ Hђћћђяђџє, L’oratorio dell’ Arciconfraternita del Santissimo Crocifisso de San Marcello, Rom 1974; Rѕќёю Eіѡђљ-Pќџѡђџ, „The Oratorio del SS. Crocifisso in Rome revisited“, in: The Burlington magazine 142 (2000), 61ř–62ř; Eћѧќ Fюєіќљќ, „Le storie dell’ Arciconfraternita del SS. Crocifisso di S. Marcello negli affreschi dell’ oratorio“, in: Strenna dei Romanisti 66 (2005), ř21–řř1.
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ge“ bezeichnete,Ⱥ10 um dem alten Streit der Zuordnung von dialogischer Motette zum lateinischen Oratorium und von dialogischem Madrigal zum italienischen Oratorium aus dem Wege zu gehen. Auch Frits Noske und Howard E. Smither Ⱥ11 sprechen von Dialog-Kompositionen, die vom Text her dialogisierende Geschichten aus der Vulgata in poetischer Freiheit erweitern und mit zusätzlichen Bibelstellen verknüpfen, und zwar in noch stärkerem Maße als dies in den Passionsharmonien des 16. Jahrhunderts der Fall war. Für die Aufführungspraxis im Oratorio dell Crocifisso gibt es erst einige Jahrzehnte später einen Gewährsmann in Paris, den Violinvirtuosen André Maugar, der 16ř9 begeistert über die dortigen musikalischen Aufführungen berichtet: Diese bewunderungswürdige und hinreißende Musik wird nur an den Freitagen der Fastenzeit von ř bis 6 Uhr gemacht. Die Kirche ist nicht ganz so groß wie die Saint-Chapelle in Paris; am Ende derselben ist ein geräumiger Lettner (jubé) mit einer mittelgroßen sehr sanften und für die Singstimmen angenehmen Orgel. An den beiden Seiten der Kirche befinden sich zwei andere kleine Tribünen für die ganz vortrefflichen Instrumentisten. Die Singstimmen begannen mit einem Psalm in Form einer Motette, worauf alle Instrumente eine sehr gute Symphonie spielten. Darauf trugen die Singstimmen eine Geschichte (histoire) aus dem Alten Testament vor nach Art einer geistlichen Komödie (comédie spirituelle) wie die von Susanna, von Judith und Holofernes, von David und Goliath. Jeder Sänger stellte eine Person der Geschichte vor und drückte vollendet gut die Kraft der Worte (énergie de mots) aus. Darauf sprach einer der berühmtesten Prediger die Ermahnung (exhortation), nach deren Beendigung die Musik das Evangelium des Tages rezitierte (récitoit), wie die Geschichte der Samariterin, dem kananäischen Weibe, von Lazarus, der Magdalena und dem Leiden unseres Herrn. Die Sänger ahmten die verschiedenen Personen, die der Evangelist (évangeliste) bezeichnete, vortrefflich nach. Ich wüßte diese rezitativische Musik nicht genug zu loben; man muß sie an Ort und Stelle gehört haben, um über ihren Wert wohl zu urteilen.Ⱥ12
Es wird vermutet, dass auf Grund seiner Beispiele Maugar wohl dialogische Motetten bzw. lateinische Dialoge von Domenico Mazzocchi und Marco Marazzoli gehört haben könnte.
10 11
12
MюѠѠђћјђіљ, Oratorium (Anm. 6), 105. FџіѡѠ NќѠјђ, Saint and Sinners. The Latin Musical Dialogue in the Seventeenth Century, Oxford 1992; HќѤюџё E. Sњіѡѕђџ, „Carissimi’s Latin Oratorios: their Terminology, Functions, and Positions in Oratorio History“, in: Analecta Musicologica 17 (1976), 54–78. Zitat bei MюѠѠђћјђіљ (Anm. 6), 90.
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III. Damit sind wir bei unserem ersten Fallbeispiel angelangt, Giacomo Carissimis Historia di Abraham et Isaac. 1605 in Marino bei Rom geboren, ging der Komponist nach einer Anstellung als Chorsänger und Organist am Dom zu Tivoli 1629 als „maestro di capella“ an das „Collegium Germanicum et Hungaricum“ nach Rom, eine bekannte Ausbildungsstätte der Jesuiten, zu der auch die Kirche San Apollinare gehörte. Er blieb dort, von seinen Zeitgenossen hoch geehrt, über mehrere Jahrzehnte bis zu seinem Tode 1674. 164ř war er als Nachfolger Claudio Monteverdis in Venedig an San Marco vorgesehen. Im Winter 1655Ȧ56 besuchte Königin Christina von Schweden das „Collegium Germanicum“ und hörte dort zwei heute verschollene Werke von Carissimi, Giuditta und Il sacrificio d’ Isaaco. Vom Oratorio dell Crocifisso wurde er zwischen 1650 und 1660 mehrmals mit Kompositionen zu den erwähnten Bet-Übungen in der Fastenzeit verpflichtet, zusammen mit so bedeutenden Zeitgenossen wie Luca Marenzio und Giovanni da Palestrina. Ob seine etwa ein Dutzend als authentisch verbürgten lateinischen Oratorien in San Apollinare oder im Oratorio del Crocifisso aufgeführt wurden, ist ungeklärt. Die Sujets sind weit überwiegend dem Alten Testament entnommen, nur zwei stammen aus dem Neuen Testament. Es fehlen die anderswo auch üblichen Themen zu Maria und aus den Heiligenviten. Unbekannt sind auch die Dichter der Texte, wobei anzunehmen ist, dass Carissimi daran stark beteiligt, wenn nicht gar selbst der Autor war. Eine Reihe der Oratorien werden in den Quellen als „historia“ bezeichnet. Autographe sind nicht überliefert. Die Textvorlage zu Abraham et Isaac lehnt sich eng an Gen 22,1–18 der Vulgata an, doch mit zugleich für die gesamte Werkgruppe typischen Abweichungen. Das Latein wird in Syntax und Grammatik vereinfacht und zugleich im doppelten Wortsinn verdichtet. Historicus:
Tentavit Deus Abraham, vocavit, et dixit ad eum:
Deus:
Abraham! Tolle filium tuum unigenitum Isaac quem diligis, et vade in terram visionis super unum montium quem monstravero tibi, et tibi illum offeres in holocaustum.
Historicus:
Abraham ergo de nocte consurgens, parato ligno, sumpto gladio et igne, et strato apparatu, pergit ad locum quem illi Deus preceperat, cum unigenito Isaac filio suo. Cumque illuc accessisset, tulit ligna holocausti, et imposuit super Isaac filium suum, qui ferens ignem et gladium dicebat parti suo:
Isaak:
Pater mi, ecce ignis, ecce ligna, ecce gladius et apparatus, ubi est holocaustum victima?
Abraham und Isaak als Oratorienstoff
Abb. ř: Oratorio del Crocifisso, Rom (moderne Innenansicht).
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Historicus:
Tunc obruit dolor patris viscera, fremuit sanguis, horruit natura, et ingemiscens pater ait:
Abraham:
Fili mi, heu, fili mi.
Isaak:
Pater mi, quid suspiras?
Abraham:
Heu, fili mi.
Isaak:
Pater mi, quid suspiras? Pater mi, ubi est holocausti victima?
Abraham:
Providebit Dominus holocausti victimam.
Neben fast wörtlichen Übernahmen (V. 1f.) werden dem Historicus zugeordnete erzählende Partien paraphrasiert oder auch verkürzt (V. ř–6). Die Frage Isaaks (V. 7) nach dem Gegenstand des Opfers und die ausweichende Antwort Abrahams (V. 8) kommentiert der Erzähler und weitet sie zu einem Dialog zwischen Vater und Sohn aus. Nach dem Eingreifen des von Gott gesandten Engels folgt ein poetisch freies Freuden-Duett Abrahams und Isaaks „O felix nuntium, o dulce gaudium“. Der Historicus leitet danach direkt zur zweiten Rede des Engels über, ohne den im Dickicht verfangenen Widder als Opfer-Ersatz zu erwähnen. Auf diese Engelansprache mit dem paraphrasierend erweiterten Hinweis (V. 18) „et in semine tuo benedicentur omnes populi, omnes gentes, omnes generationes“ schließt sich direkt eine Art Finale an. Ein Chorus stimmt in Anklängen an den 100. (99.) Psalm „Omnes gentes populi laudate Deum“ ein Gotteslob an, das zum Schluss noch einmal wiederholt und dazwischen vom Terzett Abraham, Angelus und einer Bass-Stimme (Jahwe?) bekräftigt wird. Bei dieser Textzubereitung als zu vertonendes Libretto fällt eine Verlebendigung der biblischen Prosa in Richtung formelhafter Wendungen, schmuckhafter Rhetorik und starker Affekthaftigkeit auf, Phänomene, die die neue Musiksprache nach der Stilwende um 1600 direkt in ein klangliches „affectus movere“ umsetzen kann. Carissimi setzt in differenzierter Weise die Prinzipien musikalischer Rhetorik und die neuen Stilarten in seinen Vokalkompositionen ein (Notenbeispiel 1).Ⱥ1ř Der „stile recitativo“ wird zunächst dem Historicus zugewiesen, ein „Übersetzen“ objektiven Erzählens in die Musik unter Berücksichtigung der sprachlichen Syntax in musikalische Halb- und Ganzschlüsse. Die Stimme Gottes erscheint im „stile rappresentativo“ in gesetzter musikalischer Diktion mit Begleitung von Streichinstrumenten. Nach einem Wechsel des Generalbassinstrumentariums zu den in Sequenzen geführten unschuldigen Fragen Isaaks verändert sich der „stile recitativo“ des Historicus
1ř
Gіюѐќњќ CюџіѠѠіњі, Oratorî, Vol. II: Historia di Abraham et Isaac. Vir frugi et pater familias. A cura di Lіћќ Bіюћѐѕі, Rom 195ř, ř–6.
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in persönliche Bewegtheit, musikalisch ausgedrückt durch Tonfiguren in der Gesangsstimme zu „fremuit sanguis“. Die zunehmende Affekthaftigkeit des weiteren Dialogs zwischen Vater und Sohn zeigt sich in den erregt aufsteigenden Frage-Sequenzen Isaaks und der stockenden, durch Pausen unterbrochenen Antwort des verzweifelten Abraham („Providebit Dominus holocausti victimam“). Solche sich steigernde Dramatisierung des Geschehens drückt sich wiederum in einer tonmalerischen Figurik des Historicus zu „et alligavit filium Isaac“ und bei der musikalischen Nachahmung des Engelrufes „de caelo clamans“ durch lange, hohe Töne aus. Abraham und Isaak fallen der Verkündigung des Engels buchstäblich ins Wort, wenn sie gleichzeitig mit dessen Schlusston ihr von Streichern begleitetes Freuden-Duett im „stile concertato“ anstimmen. Der Schluss des Oratoriums zeigt dann durch die Einbeziehung des 5-stimmigen madrigalartigen Chores, eine durchgängige Streicherbegleitung und durch die zum Terzett zusammengeführten Solostimmen eine beindruckende Finalwirkung. Neben den beim Hören unmittelbar nachzuvollziehenden unterschiedlichen Stilarten der solistischen Vokalpartien sowie den musikalisch-rhetorischen Figuren zur Hervorhebung und Deutung einzelner Textworte fällt bei der Historia di Abraham et Isaac auch eine autonome Formbildung auf: die Erweiterung des poetisch freien Freuden-Duetts zu einer Dreiteiligkeit A B A, wobei der B-Teil zusätzlich durch den Umschlag in den Dreiertakt gekennzeichnet ist. In gleicher Weise wird auch im Finalteil beim Wechsel von Chor und Vokal-Terzett verfahren. Carissimis lateinische Historien fanden bei den Zeitgenossen und bis weit ins 18. Jahrhundert hinein große Beachtung. So druckte Athanasius Kircher in seiner 1650 in Rom erschienenen Musurgia universalis den Beginn des Klagechors aus Carissimis Jephta ab als mustergültiges Beispiel eines affektbetonten Satzes. Georg Friedrich Händel zitierte in seinen Oratorien Alexander’s Feast (17ř6) und Samson (174ř) mehrere Stellen aus Jephta. Und Johann Mattheson teilte 1740 in der Grundlage einer Ehrenpforte einen Bericht aus dem Jahre 1674 von J. V. Meder mit, der gerade die musikalische Figurenlehre betraf: „Die italiänischen Musici hätten damahls auf den Carißimi gestichelt, und ihn nur den musikalischen Redner genannt.“ Mattheson fügte dem zitierten Text noch eine eigene bezeichnende Anmerkung hinzu: „Solche Stichelworte sollten manchem sehr angenehm seyn.“Ⱥ14
14
Jќѕюћћ MюѡѡѕђѠќћ, Grundlage einer Ehrenpforte, Hamburg 1740, hg. v. Mюѥ Sѐѕћђіёђџ, Berlin 1910 (Reprint Graz 1969), 200.
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IV. In ähnlicher Weise wie in Carissimis lateinischen Oratorien sind bereits wenige Jahrzehnte zuvor Text und Musik bei Luigi Rossi behandelt worden. Er nennt seine zwischen 1641 und 1645 für die chiesa nuova geschriebenen italienischsprachigen geistlichen Werke „Cantata“ bzw. „Cantata morale per oratorio“. Die Aufteilung in den „testo“ (Doppelbedeutung von Erzählung und Rolle) und handelnde Personen mit in sich abgeschlossenen musikalischen Partien und die Verwendung der drei genannten Stilarten der Vokalkomposition sind bei Rossi bereits vorhanden, ebenso eine geringstimmige Instrumentalbegleitung und der madrigalähnliche Chorsatz. Seine Kantaten gliedern sich in zwei Teile, dazwischen lag gemäß der filippinischen Bet-Übung die Predigt. Diese Zweiteilung wurde bei den späteren Oratorien wie selbstverständlich beibehalten, ohne dass dafür eine gottesdienstliche Notwendigkeit bestanden hätte. Im Zusammenhang mit dem Abraham-Sujet ist es für uns von Interesse, dass auch die Schüler Carissimis sich mit dieser Thematik beschäftigten. Der als neapolitanische Opernkomponist bekannt gewordene Alessandro Scarlatti führte 170ř in Rom das Oratorium Il sacrificio d’Abramo und zwei Jahre später die Weihnachtskantate Abramo il tuo sembiante auf. Kaiser Leopold I. von Österreich, zwar kein Kompositionsschüler, jedoch ein großer Verehrer Carissimis, der ihn gerne an seinen Wiener Hof geholt hätte, schrieb 1660 ein dort aufgeführtes Oratorium in zwei Teilen Il sagrifizio d’Abramo auf ein Libretto des Conte Caldano.Ⱥ15 Eine Verbindung zur italienischen Kirchenmusik scheint wahrscheinlich. Das Bemerkenswerteste bei diesem Werk ist freilich, dass in seinem zweiten Teil wohl erstmals in der Oratoriengeschichte eine Verbindung zum Opfertod Christi zur zuvor dargestellten Opferung und Rettung Isaaks gezogen wird. Ein direkter Nachfolger Carissimis, der dessen Werke in Paris aufführte, war Marc-Antoine Charpentier. Mit etwa 20 Jahren kam er nach Rom, um bei ihm einige Jahre bis kurz vor 1670 am „Collegium Germanicum et Hungaricum“ zu studieren. Nach der Rückkehr in seine Geburtsstadt wurde Charpentier mit den verschiedensten künstlerischen und kompositorischen Aufgaben in Paris betraut. So schrieb er für Moliere Comédies-ballets, wurde von der Adelsfamilie de Guis protegiert und als Kapellmeister angestellt, war als Musikdirektor der Jesuiten an der Kirche Saint Louis tätig und erhielt sechs Jahre vor seinem Tod 1698 15
Die Neuausgabe einer Szene aus Il sagrifizio d’Abramo findet sich in: GѢіёќ Aёљђџ (Hg.), Musikalische Werke der Kaiser Ferdinand III. und Joseph I., Wien 1892f. (Nachdruck Farnborough 1972), Bd. 2, 27–ř0.
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das ehrenvolle Amt eines „maître de musique“ der Chorknaben an der Saint-Chapelle. Eine offizielle Stelle am französischen Königshof hat er dagegen nie bekleidet. Die ř5 Kompositionen auf lateinische Texte lassen sich eindeutig auf seine römischen Lehrjahre rückbeziehen, insbesondere die als „Histoires sacrées“ bezeichneten Oratorien. Sie stehen in der französischen Geschichte der Gattung einzigartig da und haben dort auch keine Nachahmer gefunden. Eine mögliche Erklärung dafür scheint in der besonderen musikhistorischen und kulturpolitischen Situation Frankreichs in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu liegen. Der jahrzehntelange Widerstand gegen den konzertierenden Stil aus Italien wurde erst um die Jahrhundertmitte aufgegeben. Henry Du Mont schrieb danach seine umfangreich besetzten Psalmvertonungen für den Königshof, die sogenannten Grand Motets. Die importierte italienische Oper, z. B. Luigi Rossis 1647 in Paris aufgeführter Orfeo,Ⱥ16 musste ab 1660 einem höfischen Musiktheater unter der Führung Jean-Baptiste Lullys (von Hause aus ebenfalls Italiener!) weichen. Von einem eigenständigen Oratorium konnte schon gar keine Rede sein. Die politische, kirchliche und frömmigkeitsgeschichtliche Situation dieser Jahre war mit der in Rom nicht zu vergleichen.Ⱥ17 Es gab zwar seit 1611 auch in Paris ein Oratorium, das Kardinal Pierre de Bérulle nach dem Vorbild der filippinischen Kongregation ins Leben rief. Doch die Musik hatte hier nur einen geringen Stellenwert. Zudem machte sich der Einfluss des Jansenismus bemerkbar, einer innerkatholischen religiösen Erweckungs- und Reformbewegung mit dem Zentrum im Kloster Port Royal bei Versailles. Sie stand sowohl in Opposition zu den Jesuiten wie generell zur Amtskirche, hatte Vorbehalte gegen die Künste, insbesondere im geistlichen Raum, und wurde schließlich durch Ludwig XIV. 1710 endgültig zerschlagen. Wie sehr Marc-Antoine Charpentier einerseits die kompositorischen Errungenschaften von Carissimis Oratorien weiterführte, sie andererseits mit dem französischen Stil seiner Zeit zusammenführte, lässt sich an der um 1681 entstandenen „Histoire sacrée“ Sacrificium Abrahae als zweites Fallbeispiel nachvollziehen. Der Text verknüpft das Wunder der späten Fruchtbarkeit Sarahs und Abrahams Staunen darüber nach Gen 17,19–21 und Gen 21,1–8 mit dem weiteren Wunder der Rettung ihres gemeinsamen Sohnes Isaak nach 16
17
Hђџњюћћ JѢћє, „Ein Italiener in Paris. Luigi Rossis Orfeo (1647) und die Opernstudien Romain Rollands“, in: Politische Mythen und nationale Identitäten im (Musik-)Theater. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposions 2001, hg. v. Pђѡђџ CѠќяѨёі u. a., Bd. 2, AnifȦSalzburg 200ř, 17ř–184. Vgl. MюѠѠђћјђіљ, Oratorium (Anm. 6), 162.
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Gen 22,1–1ř.19. Durch die Zusammenschau zweier zeitlich recht weit auseinanderliegenden Begebenheiten sowie durch einen Historicus, der den Vulgata-Text teils paraphrasierend, teils nahezu wörtlich wiedergibt sowie durch szenenartige poetische Erweiterungen kommt gegenüber Carissimi hier stärker der Typus eines eigenständigen Oratorienlibrettos zur Geltung. Solche Erweiterungen finden sich zu Beginn im Freuden-Dialog von Sarah und Abraham, in der ausgedehnten Frage- und Antwort-Szene zwischen Isaak und Abraham und schließlich in dem Dialog freudiger Erlösung zwischen Vater und Sohn „Beati, qui timent Dominum“, der durch den Schlusschor wiederholend bestätigt wird. Dadurch, dass das Eingreifen und die zweite Rede des Engels in einem Textblock zusammengefasst werden, entfallen die Verse 14–16. Vers 17 und 18 sind verkürzt wiedergegeben – sicherlich, um das dramatische Geschehen zu steigern. Der Historicus berichtet auch erst im Nachhinein vom Widder als Opfer-Ersatz. Charpentier bringt in seiner Vertonung die musikalisch-rhetorischen Vorgaben Carissimis mit ein. In der zumeist ariosen Melodik und vor allem in einer differenzierteren Satztechnik der Chorpartien löst er sich zudem von seinem Vorbild. Die Partie des Historicus wird zu Beginn von einer Einzelstimme gesungen und wandelt sich im Verlauf des Stükkes über eine Duett- und Terzettbesetzung bis hin zum vierstimmigen Chor. Auch der Einsatz textbezogener harmonischer Klangwirkungen fällt auf, so in dem Frage- und Antwort-Dialog Isaaks und Abrahams, der überraschend von G-Dur über c-Moll nach f-Moll wechselt. Isaak:
Pater mi, pater mi!
Abraham:
Fili mi, fili mi, quid vis?
Isaak:
Quo properamus?
Abraham:
Hei mihi, fili dilecte!
Isaak:
Pater mi, quid suspiras? Cur non respondes? Dic mihi quo properamus?
Abraham:
Sequere me, fili dilecte, sequere me; parendum est Deo et sacrificandum.
Isaak:
Pater mi!
Abraham:
Fili mi!
Isaak:
Ecce lignum, ignis et gladius, sed ubi est holocausti victima?
Abraham:
Hei mihi, fili dilecte!
Isaak:
Pater mi, quid suspiras? Cur non respondes? Dic mihi ubi est holocausti victima?
Abraham:
Sequere me, fili dilecte, sequere me; providebit sibi Deus holocausti victimam.
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AbrahamȦIsaak: Beati qui timent Dominum, beati qui obediunt voci ejus. Quoniam augebit Deus et multiplicabit semen eorum in sæculum, et reges populorum orientur ex eo. Isaak:
Pater mi, sequor te, pater dilecte, noli suspirare, sequor te; providebit sibi Deus holocausti victimam.
Abraham:
Hei sequere me, fili dilecte, sequere me; providebit sibi Deus holocausti victimam.
Während Isaak in unschuldiger Naivität immer wieder seine Fragen nach dem Opfergegenstand in gleichartiger musikalischer Diktion stellt, antwortet Abraham in fast beschwörend klingender, nach oben geführter Sequenztechnik, er möge doch seinen Anweisungen Folge leisten. Bei Isaaks „Pater mi, sequor te“ wird das Nacheinander der Stimmen in ein Miteinander überführt. Klang- und Tonartenwechel tragen zur spannungsreichen Dramaturgie der kleinen Szene bei. Das zweite Duett nach dem Eingreifen des Engels „Gaude pater“ kennzeichnet eine von Imitationen und parallel geführten Melismen bestimmte Melodik (vgl. Notenbeispiel 2).Ⱥ18 Zuvor berichten die beiden Jünglinge, wie sich ein Widder im Gestrüpp verfangen hat und jetzt als Opferersatz für Isaak dienen wird. Isaak:
Gaude pater fidelissime
Abraham:
Gaude fili obedientissime
Isaak:
Procul flamma et procul gladius
Abraham:
Ligna procul et procul gladius
Isaak:
Questus absit, lætari satius
Abraham:
Absit luctus, lætari satius
Isaak:
Te vivum osculari quid mihi carius
Abraham:
Te vivum amplexari quid mihi carius
Isaak:
Ligna procul et procul gladius
Abraham:
Procul flamma et procul gladius
Isaak:
Absit luctus, lætari satius
Abraham:
Questus absit, lætari satius
Historicus:
Et reversus Abraham ad pueros suos, ipse cum Isaac jucunda voce canebat.
IsaakȦAbraham: Beati qui timent Dominum, beati qui obediunt voci ejus Quoniam augebit Deus et multiplicabit semen eorum in sæculum.
18
Mюџѐ-Aћѡќіћђ Cѕюџѝђћѡіђџ, Sacrificium Abrahae [H. 402] (histoires sacrées ř), Édition de Cюѡѕђџіћђ CђѠѠюѐ, Versailles 1995, 27f.
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Chorus:
Beati qui timent Dominum, beati qui obediunt voci ejus. Quoniam augebit Deus et multiplicabit semen eorum in sæculum, et reges populorum orientur ex eo.
Das Duett geht unmittelbar in den Chorus ultimus über, zunächst in der Rolle des Erzählers, dann durch ausgedehnte Figurationen seiner Freude über die Rettung musikalisch ausdrückend (vgl. Notenbeispiel ř).Ⱥ19 Der klanglich wirkungsvolle, auch von Taktwechseln (eine Art „Freudentripla“) bestimmte Satz „Beati, qui timent Dominum“, zunächst von Abraham und Isaak im Duett vorgetragen und melodisch virtuos weitergeführt, wird vom Chor als hymnischer Schluss mehrfach ritornellartig wieder aufgegriffen. Neu bei Charpentier gegenüber Carissimi sind einmal die dem Ariosen zuneigenden Vokalpartien als italienisch-französische Stilmischung und eine noch stärkere Integration der Einzelabschnitte in spannungsreiche Szenenkomplexe. Neu sind auch das Colla parte-Spiel der Instrumente sowie die aus Holzbläsern und Streichern gebildeten Ritornelle als verbindende Elemente zwischen den einzelnen Vokalteilen. Das ursprünglich vorhandene eröffnende instrumentale Prélude ist verlorengegangen. Die Gründe, warum Marc Antoine Charpentier, der heute zu den bedeutendsten Komponisten des 17. Jahrhunderts gezählt wird, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast völlig vergessen war, sind vielfältig und hier im Detail nicht zu erörtern. Sicherlich lag es auch an seiner zurückhaltenden Persönlichkeit und einem italienisierenden Stil, der weder die französische Ästhetik der Zeit bediente noch Zustimmung bei einem an den prunkvollen Hofopern Lullys interessierten Publikum fand. Auch heute reicht die Ausstrahlung seines Oeuvres kaum über Frankreich hinaus – mit einer allzu bekannten Ausnahme: dem als Eurovisionsfanfare „spektakulär säkularisierten Prélude seines Te Deum“.Ⱥ20
V. Kehren wir für das dritte Fallbeispiel wieder zurück zum italienischen Oratorium. Seine erste Phase spielt sich neben dem Stammland im von Jesuiten und Habsburgern geprägten katholischen Wien ab. Von Kaiser Leopold I. und seiner Vorreiterrolle war schon die Rede. Besagtes Werk Il sagrifizio d’Abramo hat im Autograph folgenden Zusatz: „Oratorio al Sepolcro del Venerdi Santo dell’ anno 1660“. Er verweist auf eine in Wien 19 20
Cѕюџѝђћѡіђџ, Sacrificium Abrahae (Anm. 18), 29f. MюѠѠђћјђіљ, Oratorium (Anm. 6), 169.
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gepflegte Sonderform der sogenannten „Sepolcro“-Oratorien, bei der die Sänger vor der Nachbildung des Heiligen Grabes szenisch agieren. Für die Titelgebungen dienen Gestalten des Alten Testaments oder Heiligenfiguren, auch personifizierte Tugenden. Das Leiden und der Tod Christi werden jedoch nicht thematisiert. Für solche später als „Azione sacre“ (in Anlehnung an die weltlichen „Azione teatrale“) bezeichneten Werke schrieben Apostolo Zeno und dann vor allem Pietro Metastasio die Libretti. Mit seinen sieben zwischen 17ř0 und 1740 entstandenen Oratorientexten bestimmte Metastasio, zugleich der überragende Opernlibrettist während des gesamten 18. Jahrhunderts bis zu Mozart, die zweite Phase des italienischen Oratoriums in Wien. Allein fünf davon behandeln Sujets des Alten Testaments. Metastasio behält die Tradition der Zweiteiligkeit ohne den bisher üblichen Testo bei, orientiert sich in poetischer Freiheit an den biblischen Kernszenen und bringt sie in teils erzählende, teils reflektierende oder moralisierende Verse, vorrangig in der Gestalt von Rezitativen und Arien.Ⱥ21 Nicht nur seine Zeitgenossen rühmten die dichterische Qualität sowie die einer Vertonung entgegenkommende Affekt- und Bildersprache. Bis zum Jahre 1800 entstanden allein 62 Vertonungen der Oratorienlibretti. Davon entfallen auf „Isaaco figura del redentore“ acht Werke, darunter so bekannte Komponistennamen wie Nicolo Jommelli (Isacco figura del redentore, Uraufführung Bologna 1754), Ignaz Holzbauer (Isaaco, Uraufführung Mannheim 1757), Carl Ditters von Dittersdorf (Isaaco, figura del redentore, Uraufführung Großwardein 1766), Johann Gottlieb Naumann (Isaaco, figura del redentore, 1772) und schließlich Josef Mislive²ek [Myslive²ek]. Mislive²ek, 17ř7 in Prag geboren, verbrachte einen Großteil seines Lebens in Italien und zählte dort von 1770 an als „Il Boemo“ zu den erfolgreichsten nichtitalienischen Komponisten der „opera seria“. Seine über 20 Werke dieser Gattung sowie acht Oratorien sind handschriftlich erhalten. Die Uraufführung von Isaaco figura del redentore nach Metastasio fand 1776 in Florenz statt. Ein Jahr später (1777) wurde das Werk, jetzt unter dem Titel Abrahamo ed Isaaco und in einigen Teilen abgeändert, in München in Anwesenheit von Wolfgang Amadé Mozart wiederholt. Mislive²ek und Mozart hatten sich bereits 1770 in Bologna kennen- und schätzen gelernt, wie aus dem Briefwechsel von Vater und Sohn Mozart hervorgeht. Die Münchener Umbenennung trifft die Absicht des Librettisten nicht mehr, Isaak als Präfiguration Christi vorzustellen. Das seit der
21
Gҿћѡѕђџ MюѠѠђћјђіљ, Oratorium und Passion (Handbuch der musikalischen Gattungen 10,2), Laaber 1999, 19f.
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ausgehenden Antike über das gesamte Mittelalter weitverbreitete geschichtstheologisch-typologische Denken sucht das Neue Testament durch das Alte Testament in der Weise zu erklären, dass vorbildliche Personen und Ereignisse des alttestamentlichen „Typus“ im „Antitypus“ ihre heilsgeschichtliche Steigerung erfahren. Ausgangspunkt ist dabei stets das Neue Testament als Auslegung der Schriften des Alten Bundes. Die Typen beschränken sich somit nicht auf die Vergangenheit, sondern sind ständige Gegenwart und weisen zugleich auf die Zukunft voraus – oder, wie Friedrich Ohly es ausdrückt: „Das Alte bleibt durch Erfüllung bewahrt, das Kommende ist, als Zeichen verborgen, schon da […]. Das Heute als gesteigerte Vergangenheit schaut auf das höhere Morgen.“Ⱥ22 Seit dem 12. Jahrhundert bemächtigt sich auch die Kunst der seelsorgerischen Aufgabe, Stationen im Leben Jesu typologisch darzustellen und zu deuten. Dies wird etwa in der Biblia pauperum evident oder im sogenannten „Verduner Altar“ (vgl. Abb. 4).Ⱥ2ř Für das Stift Klosterneuburg in der Nähe von Wien gestaltete Nikolaus von Verdun [Nicolaus Virdunensis] 1181 die farbigen Email-Tafeln des nach ihm benannten dreiteiligen Altars. Das neutestamentliche Heilsgeschehen ist im zeitlichen Ablauf dargestellt, Personen und Geschehnisse des Alten Testaments werden zugeordnet und erfahren erst aus der Heilsgegenwart ihre Deutung als Typus und Antitypus. Die absolute Mitte des mittleren Altarteils bildet der Opfertod Christi am Kreuz, zugleich größer als alle anderen Email-Tafeln. Direkt darunter ist das Opfer Isaaks dargestellt (vgl. Abb. 5 und 6).Ⱥ24 Ein Engel fällt Abraham im Moment der Opferung energisch in den Arm, um die Tötung Isaaks mit dem Messer zu verhindern. Auch der im Gebüsch gefangene Widder gilt als Vorbild Christi als unschuldig gefangenes Opferlamm.Ⱥ25 Die Oratorienlibretti des 17. und 18. Jahrhunderts bedienen sich also dieser typologischen Deutungspraxis der Opferung Isaaks. Metastasio hat sie als Figurismus, die bei ihm möglicherweise durch den Jansenismus ausgelöst und bestärkt wurde, an einigen Stellen der Textvorlage ganz deutlich werden lassen. Der erste Teil exponiert die Hauptakteure des Geschehens, lässt deren Gemütszustände und inneres Gefühlsleben in den Vordergrund treten: Abraham als Vater, Ehemann und Patriarch, der die ihm auferlegte Glaubensprüfung widerstandslos auf sich nimmt; 22 2ř 24
25
Zitiert nach FљќџіёѢѠ RҦѕџіє, Der Verduner Altar, Klosterneuburg-Wien 71995, 50. Der Verduner Altar, Gesamtansicht. Abb. in RҦѕџіє, Der Verduner Altar (Anm. 22), 97. IȦ9: Oblatio Ysaac (Umschrift: „Victimet ut caram prolem pater aptat ad raram“); IIȦ9: Passio Domini. (Umschrift: „Victima mactatur qua nostra ruina levatur“). Abb. in RҦѕџіє, Der Verduner Altar (Anm. 22), 122f. RҦѕџіє, Der Verduner Altar (Anm. 22), 52. 72.
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Abb. 4: Der Verduner Altar. Gesamtansicht.
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Sarah, die Schmerzensmutter, von der Last des Leids tief gebeugt, aber sich ebenfalls unbeirrbar in den göttlichen Willen fügend – beim Wiedersehen ihres Sohnes nach der Rettung sinkt sie ohnmächtig zu Boden; Isaak, eine der menschlichen Realität entrückte Gestalt, ein Symbol der Unschuld, die jetzt im vollen Bewusstsein eines Opfers den Willen Gottes erfüllt. Dies zeigt sich in der Abschiedsarie Isaaks von Sarah vor dem Opfergang „Madre, amica, oh non piangete!“, vergleichbar mit einem Gespräch zwischen Maria und Jesus am Kreuz, den Abschiedsreden Jesu im Neuen Testament. Isacco Madre, amica, oh non Piangete! Lungi ancor presente Io sono. Non è ver, non V’abbandono: vado al padre, e Tornerò. Ei respira in questo Petto; ei vi parla; a lui credete: Voi fra poco, lo prometto, Voi sarete ov’io sarò Mutter, Freundin, weinet nicht! Auch wenn ich fern bin, bin ich gegenwärtig. Es ist nicht wahr, ich verlasse Euch nicht, ich gehe zum Vater und ich komme wieder. Er atmet in dieser Brust; er spricht zu Euch; glaubt ihm: Ihr seid in Kürze, ich verspreche es Euch, wo ich sein werde (wo ich bin).
Mislive²eks dreiteilige Arie (Da capo-Arie)Ⱥ26 vermittelt in der Melodieführung wie in der Instrumentation eine weltentrückte musikalische Aura, die der figura Isaak genau entspricht (Notenbeispiel 4). Der Schluss des Oratoriums lässt dann an Isaak als redentore bis in sprachliche Details keine Zweifel mehr. Abramo Omnipotente Dio Con quai cifre oggi parli. Il padre istesso Offre l’ unico figlio! Il figlio accetta Volontario una pena Che mai non meritò! Della sua morte Perchè porta sul dorso Gl`instrumenti funesti? A che fra tanti Scelto è quel monte? A che di spine avvolto A la vittima il capo? Ah nel futuro
26
JќѠђѓ MѦѠљіѣђѶђѐј, Isacco figura del redentore, ed. by JюњђѠ Aѐјђџњюћћ (Recent researches in the music of the classical era 60), Madison, Wis. 2000, 102.
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Abb. 5: Verduner Altar: Die Opferung Isaaks.
Abb. 6: Verduner Altar: Das Leiden des Herrn.
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Rapito io son. Già d’ altro sangue asperso Veggo quel monte: un altro figlio io miro Inclinando la fronte, in man del Padre La grand’ alma esalar. Tremano i colli S’ apron le tombe, e di profonda notte Tutto il Ciel si ricopre. Intendo, intendo: Grazie, grazie o mio Dio. Questo è quel giorno Che bramaì di veder: questo è quel sangue Infinito compenso Sia di colpa infinita. Il sacrifizio Questo sarà che sodisfaccia insieme E l’ eterna giustizia E l’eterna pietà: la morte è questa Che aprirà della vita all’ uom le porte. Oh giorno! oh sangue! oh sacrifizio! oh morte! (Finale. Coro) Tanti secoli innanzi Dunque in Ciel si prepara La nostra libertà? Costa dell’ uomo La salute immortal cura sì grande Dunque all’ Autor del tutto? Ah non perdiam di si gran cura il frutto. Abraham Allmächtiger Gott, in welchen Zeichen sprichst Du heute! Der Vater selbst bietet den einzigen Sohn dar! Der Sohn nimmt freiwillig eine Strafe an, die er niemals verdient! Warum trägt er die todbringenden Werkzeuge auf dem Rücken? Wer hat diesen Berg unter vielen ausgewählt? Von wem wurde dem Opfer das Haupt mit Dornen bekränzt? Ach, ich bin in die Zukunft versetzt. Ich sehe diesen Berg von anderem Blut besprengt: Ich sehe einen anderen Sohn, das Haupt gebeugt, in der Hand des Vaters den großen Geist aushauchen. Es zittern die Hügel, die Gräber öffnen sich, und tiefe Nacht überzieht den Himmel. Ich höre, ich höre! Danke, Dank sei Dir, mein Gott. Das ist jener Tag, den ich zu sehen begehre: Dies ist jenes Blut, das in Ewigkeit sühnt und Schuld auf sich lädt. Dieses Opfer wird dargebracht der ewigen Gerechtigkeit und der ewigen Barmherzigkeit: Jener Tod wird den Menschen die Tür zum Leben öffnen. O Tag! O Blut! O Opfer! O Tod!
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(Schlusschor) Wurde also vor so vielen Jahren Im Himmel unsere Freiheit vorbereitet? Verlangte das unsterbliche Wohl des Menschen darum vom Schöpfer des Alls eine so fürsorgende Liebe? Die Frucht dieser fürsorgenden Liebe woll’n wir für immer bewahren.
Die Verkündigung des Engels vom Segen Gottes und von Isaaks ungezählter Nachkommenschaft, vom Komponisten als einfaches Secco-Rezitativ gestaltet, versetzt Abraham in eine das bisherige Geschehen verklärende Zukunftsvision, die der Chor als vergleichsweise musikalisch unaufwendiger Abschluss noch einmal bekräftigt (Notenbeispiel 5).Ⱥ27 Die Glaubensprüfung von Abrahams und Isaaks Opferwillen verweist auf das Leiden und Sterben Jesu voraus als Zeichen für Gottes fürsorgende Liebe, die es für immer zu bewahren gilt.
VI. Abschließend sei noch ein kurzer Ausblick auf die Weiterführung des Sujets von Abraham und Isaak in der Musik des 19. und 20. Jahrhunderts gegeben. Zwei Aspekte fallen dabei besonders ins Gewicht. Wie sich in der allgemeinen Entwicklung die musikalischen Gattungsgrenzen in den vokalen Genres zwischen Oratorium, Kantate und Oper öffnen und neuartige Verbindungen miteinander eingehen, die symphonische Musik im Gesamtgefüge zugleich einen dominanten Anspruch geltend macht, so wandelt sich insbesondere das Oratorium im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Es tritt, gelöst von liturgischen und auch kirchlichen Bindungen in die bürgerliche Welt des Konzertsaals ein und wird jetzt ideell wie finanziell getragen von den Konzert- und Oratorienvereinen als wesentlichem Teilbereich bürgerlicher Bildung. Die beiden großen Oratorien Felix Mendelssohn Bartholdys, Paulus (18ř6) und Elias (1846), wurden beispielsweise beim Rheinischen Musikfest in Düsseldorf bzw. in Birmingham erstmals aufgeführt. Die Thematik der Gattung reicht jetzt von Gestalten der antiken Mythen wie Odysseus und Achilleus bei Max BruchȺ28 über biblische wie 27 28
Ebd., ř0ř. Hђџњюћћ JѢћє, „‚Gegen die christliche Jammer- und Thränenpoesie‘. Max Bruchs Oratorien Odysseus (187ř) und Achilleus (1885)“, in: Europäische Mythen von Liebe, Leidenschaft, Untergang und Tod im (Musik-)Theater. Der Trojanische Krieg. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposions 2000, hg. v. Pђѡђџ CѠќяѨёі u. a., AnifȦSalzburg 2002, 558–570.
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historische Personen wie David, Christus, Luther oder Hermann dem Cherusker bis zu Märchen- und Sagenstoffen. Die um die Mitte des Jahrhunderts vor der Reichsgründung 1871 entstandenen Werke suchen oftmals Politik, Nation und Religion in programmatischer oder utopischer Zusammenschau zu verbinden. In diese Richtung tendiert das abendfüllende, groß besetzte Oratorium Abraham des Darmstädter Hofmusikdirektors Carl Amand Mangold (181ř–1889) aus dem Jahre 1860. Verschiedene Stationen aus dem Leben Abrahams mit dem abschließenden Höhepunkt der Opferung Isaaks in der „zweiten Abteilung“ dienen dazu, diese Gestalt als Leit- und Integrationsfigur zwischen Kirche und Nation in den politischen Kontext der Zeit einzubinden. Kompositorisch orientiert sich Mangold an den Mendelssohnschen Vorgaben und der Oratorientradition des 18. Jahrhunderts, etwa Georg Friedrich Händels. Während am Ende des 18. Jahrhunderts zwei italienische Komponisten, Guiseppe Francesco Bianchi (um 1752–1810) und Francesco Gardi (um 1760–um 1810) mit Abrahami sacrificium (178ř bzw. 1789) noch einen lateinischen Text zugrunde legen und Domenico Cimarosa (1749–1801) noch einmal das abgeänderte Libretto Metastasios vertont, wechseln im 19. Jahrhundert die Gattungsbezeichnungen und Besetzungen häufig. Bei Johann Evangelist Fuß (1777–1819) wird von einem „Melodram“ (Isaac, Wien 1812), bei Ignaz Xaver von Seyfried (1776–1841) von einem „Biblischen Drama“ ausgegangen (Abraham, 1817). Der in England gebürtige Komponist Horace Wadham Nicholl (1848–1922) vertonte zwischen 1880 und 1890 eine alttestamentliche Oratorien-Tetralogie Adam – Abraham – Isaac – Jakob. Bei dem bekennenden Wagnerianer hat hier sicherlich dessen Ring-Tetralogie als Vorbild gedient. Das 20. Jahrhundert bietet einige unkonventionelle wie beeindrukkende Vertonungen des Sujets an. Erstmals sind hierbei reine Instrumentalstücke vertreten wie die 1962 entstandene „Sinfonische Dichtung für Orchester“ La sacrifice d’Abraham von Lucien Haudebert (1877–1962) als Nr. 1 seiner Scènes biblique, Bernhard Jestls (* 1960 in Innsbruck) „Fantasie für Saxofon und Schlagzeug“ Isaak – oder die ehrenvolle, aber zwecklose Anstrengung der Unterwürfigkeit von 1995 oder Noam Sheriffs (* 19ř5) Akeda (The sacrifice of Isaac) für Orchester, komponiert 1997. Zum Filmepos Bibel – Abraham von 199ř schrieben Marco Frisina und Ennio Morricone die Musik (Regie: Joseph Sargent). Drei renommierte Komponisten setzten schließlich die mit Giacomo Carissimi im 17. Jahrhundert begonnene geistlich-religiöse Traditionslinie fort: 1952 Wolfgang Fortner (1907–1987) mit der „Oratorischen Szene“ Isaaks Opferung nach dem Vulgata-Text für drei Solostimmen (Alt, Tenor, Bass) und mit Begleitung von 40 Instrumenten, darunter drei Jazztrompeten und Jazzposaunen; ebenfalls 1952 Benjamin Britten (191ř–1976)
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mit der „Kantate“ Abraham and Isaac für Alt- und Tenorsolo und Klavier (Canticle II, op. 51); 196ř Igor Strawinsky mit Abraham and Isaac, „a sacred ballad“ für Bariton und Kammerorchester. Während Brittens tonale Komposition als Miniaturdrama sich einer altenglischen Textvorlage des „Chester Miracle Play“ bedient, einem anonymen Mysterienzyklus aus dem 14. bis 16. Jahrhundert, mit typologischen Hinweisen auf den Opfertod Christi, vertont Strawinsky Gen 22,1–9 im hebräischen Urtext als dodekaphonisch strukturiertes Werk. Diese bisher einmalige Textwahl hängt mit einer Einladung und dem Besuch des Komponisten in Israel zusammen. „Dem Volk des Staates Israel gewidmet“, erklang das zwölf Minuten dauernde Werk im August 1964 in Jerusalem und einen Monat später in Berlin mit Dietrich Fischer-Dieskau in der Solopartie. Eine Übersetzung des Hebräischen schließt Strawinsky ausdrücklich aus. So kehren diese drei zeitgenössischen Vertonungen der Opferung Isaaks in verschiedener textlicher Gestalt und ganz individueller, zeitbezogener musikalischer Stilistik und Diktion wieder zur alttestamentlichen Quelle zurück.
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Das Sujet „Abraham und Isaak“ in der MusikȺ29 1619
Gіќѣюћћі FџюћѐђѠѐќ Aћђџіќ: Respondi Abramo, in: Teatro armonico spirituale di madrigali.
1646
FџюћѐђѠѐќ BюљёѢѐѐі: La Fede [Abraham und Isaak], OratorienlibreĴo.
1655Ȧ56
Gіюѐќњќ CюџіѠѠіњі: Il sacrięcio d’ Isaaco [verschollen].
1656 (?)
Gіюѐќњќ CюџіѠѠіњі: [Historia di] Abraham et Isaac.
1660
KюіѠђџ Lђќѝќљё I.: Il sagrięzio d’Abramo. LibreĴo: Graf Caldano.
1681 (?)
Mюџѐ-Aћѡќіћђ Cѕюџѝђћѡіђџ: Sacrięcium Abrahae. „Histoire sacrée“.
170ř
AљђѠѠюћёџќ Sѐюџљюѡѡі: Il sacrięcio d’Abramo. Oratorium.
1740 (?)
Pіђѡџќ MђѡюѠѡюѠіќ: Isaaco ęgura del redentore. OratorienlibreĴo.
1754
NіѐќљҤ Jќњњђљљі: Isacco ęgura del redentore. LibreĴo: P. Metastasio
1757
Iєћюѧ HќљѧяюѢђџ: Isaaco. LibreĴo: P. Metastasio.
1766
Cюџљ DіѡѡђџѠ ѣќћ Dіѡѡђџёќџѓ: Isaaco, ęgura del redentore. LibreĴo: P. Metastasio.
1772
Jќѕюћћ Gќѡѡљіђя NюѢњюћћ: Isaaco, ęgura del redentore. LibreĴo: P. Metastasio.
1776
JќѠђѓ MіѠљіѣђѐђј [MѦѠљіѣђѐђј]: Isaaco ęgura del redentore. LibreĴo: P. Metastasio.
1777
JќѠђѓ MіѠљіѣђѐђј: Abrahamo ed Isaaco. LibreĴo: P. Metastasio [verändert].
178ř
GѢіѠђѝѝђ FџюћѐђѠѐќ Bіюћѐѕі: Abrahami sacrięcium. Lateinisches Oratorium.
1789
FџюћѐђѠѐќ Gюџёі: Abrahami sacrięcium. Lateinisches Oratorium.
1812
Jќѕюћћ EѣюћєђљіѠѡ FѢѠѠ: Isaac. „Melodram“.
1817
Iєћюѧ Xюѣђџ ѣќћ SђѦѓџіђё: Abraham. „Biblisches Drama“.
1860
Cюџљ Aњюћё Mюћєќљё: Abraham. LibreĴo vom Komponisten.
1880Ȧ90
Hќџюѐђ Wюёѕюњ Nіѐѕќљљ: Adam – Abraham – Isaac – Jakob. Tetralogie.
1952
Wќљѓєюћє Fќџѡћђџ: Isaaks Opferung. „Oratorischer Szene“. (Vulgata-Text).
1952
Bђћїюњіћ Bџіѡѡђћ: Abraham and Isaac (= Canticle II). Kantate. Text aus Chester Miracle Play (14.–16. Jh.).
29
Die Angaben sind u. a. entnommen: KљюѢѠ Sѐѕћђіёђџ, Lexikon Programmusik, Bd. 2: Figuren und Personen, Kassel u. a. 2000; Aљђѥюћёђџ RђіѠѐѕђџѡ, Kompendium der musikalischen Sujets. Ein Werkkatalog, Bd. 1, Kassel u. a. 2001.
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1962
LѢѐіђћ HюѢёђяђџѡ: La sacrięce d’Abraham (= Scènes biblique, 1). „Sinfonische Dichtung für Orchester“.
196ř
Iєќџ SѡџюѤіћѠјѦ: Abraham and Isaac. “A sacred ballad”. Hebräischer Urtext, Gen 22, 1–9.
1995
Bђџћѕюџё JђѠѡљ: Isaak – oder die ehrenvolle, aber zwecklose Anstrengung der Unterwüręgkeit. „Fantasie für Saxofon und Schlagzeug“.
199ř
Mюџѐќ FџіѠіћю Ȧ Ennio Mќџџіѐќћђ: Bibel – Abraham. Musik zum gleichnamigen Film [Regie: J. Sargent].
1997
Nќюњ Sѕђџіѓѓ: Akeda (The sacrięce of Isaac) für Orchester.
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Notenbeispiel 1: Giacomo Carissimi: [Historia] de Abraham et Isaac.
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Abraham und Isaak als Oratorienstoff
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Notenbeispiel 2: Marc-Antoine Charpentier: Sacrificium Abrahae.
Abraham und Isaak als Oratorienstoff
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Notenbeispiel ř: Marc-Antoine Charpentier: Sacrificium Abrahae.
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Notenbeispiel 4: Mislive²ek, Aria „Madre, amico“.
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Notenbeispiel 5: Mislive²ek, Schlusschor.
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Sören Kierkegaard als Schriftsteller Oder: Das Schlüsselamt der Verschlüsselung Anhand von ‚Entweder-Oder‘ in Richtung auf ‚Furcht und Zittern‘Ⱥ1 von Lќѡѕюџ Sѡђієђџ Sonntag, den 22. April [18ř8] „Wenn Christus in mir wohnen soll, muß es nach der Kalenderüberschrift des heutigen Evangeliums zugehen: Christus kommt herein bei geschlossenen Türen.“Ⱥ2
Heute, am 27. Oktober, hat er ihn zum letzten Mal besucht, den besucht, der am 2. des Monats auf der Straße zusammengebrochen und hingefallen war und, ins Krankenhaus gebracht, erklärte, er werde und müsse hier und jetzt sterben, was er dann am 11. November mit 42 Jahren tat. Die Rede ist von dem besuchenden einzigen Freund namens Emil BoesenȺř und von dem hinfälligen und besuchten Sören Kierkegaard, von einer Straße Kopenhagens und dem Frederikshospital und von dem Jahr 1855 samt den mit uns gleichzeitigen Monatsdaten, die uns Heuti1 2
ř
Vortrag, gehalten am 27. Oktober 2005 im Begegnungs- und Erwachsenenbildungszentrum der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Ulm. SҦџђћ Kіђџјђєююџё, Buch des Richters. Seine Tagebücher 1833–1855 im Auszug aus dem Dänischen von Hђџњюћћ GќѡѡѠѐѕђё, JenaȦLeipzig 1905, „Kierkegaards Schwermut“, 71; vgl. SҦџђћ Kіђџјђєююџё, Gesammelte Werke, hg. und aus dem Dänischen übertragen v. EњюћѢђљ HіџѠѐѕ, HюѦќ GђџёђѠ u. a., ř6 Abteilungen in 26 Einzelbänden, DüsseldorfȦKöln 1950ff. (mit Fundortangaben in der dänischen Ausgabe Samlede Vaerker [= SV], Kopenhagen 1901ff.; Fundorte der Tagebücher im dänischen Original zit. nach: Søren Kierkegaards Papirer, udg. af Pђѡђџ AћёџђюѠ Hђіяђџє u. a., Kopenhagen 1909ff.), Die Tagebücher. Erster Band. Ausgewählt, neugeordnet und übersetzt v. HюѦќ GђџёђѠ, Düsseldorf 1962, 104 (Pap. II A 7ř0). Es handelt sich um das Evangelium auf Quasimodogeniti (1. Sonntag nach Ostern): Joh 20,19–29. Vgl. die Nachricht in der Anmerkung zu dem Kapitel „Kierkegaard im Hospital“, in: GќѡѡѠѐѕђё, Buch des Richters (Anm. 2), 195, Anm. 1. Gottsched schreibt von Emil Boesen: Er „teilte mir aus der Erinnerung aufgeschriebene Worte Kierkegaards mit“, die im folgenden (195–200) erscheinen.
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gen die Gelegenheit geben, wenn nicht in die Verlegenheit bringen, am Ende gar stürzen, ein Gedenken zu versuchen des Menschen, der immer wollte, daß man mittels seiner seiner selbst gedenke. Ob Sie sich darauf einlassen wollen, meine Damen und Herren, nicht nur auf das allgemeine Memento mori, das mit dem Gedenken eines historisch berühmten Menschen in dessen Sterbejahr verbunden sein mag, aber eben nur unverbindlich, weil sich im Allgemeinen und Unspezifischen verlierend; sondern die Frage ist, ob ich mich einlasse mit Hilfe eines besonderen Lebens auf mich selbst insonderheit; ich muß noch weiter gehen und fragen, ob ich mit der Besonderheit des hier zu gedenkenden Menschen mitgehen möchte, der von sich sagte, er könne sich nicht unterbringen, nicht subsumieren unter das Allgemeine des Gemeinwesens, was unsereins doch soll und muß, nachdem ich ein Selbst geworden bin, frei, auch eine ethische Person zu werden. Das ist eine Arbeit, die kann zum Hinfallen anstrengend sein. Kierkegaard schrieb aus Berlin unter dem Datum 25.5.184ř an Emil Boesen: Ich habe nie so stark gearbeitet wie jetzt. Jeden Morgen gehe ich ein klein bißchen aus. Darauf komme ich nach Hause und sitze in meinem Zimmer bis gegen drei Uhr ohne Unterbrechung. Ich kann kaum aus den Augen sehen. Darauf schleiche ich an meinem Stocke hin in die Restauration, bin aber so schwach, daß ich glaube: falls einer laut meinen Namen riefe, fiele ich um und wäre tot.Ⱥ4
Was herauskam dieses Jahr ? Sechs Titel sind es, die 184ř innerhalb eines Jahres im dänischen Buchhandel von einem Autor erscheinen, sie seien genannt und in der zeitlichen Abfolge aufgezählt: Entweder-Oder (Erster und Zweiter Teil), Zwei erbauliche Reden 16. V. 1843Ⱥ5, Furcht und Zittern, Die Wiederholung, Drei erbauliche RedenȺ6, Vier erbauliche Reden 6. XII. 1843.Ⱥ7 Daß dies alles von ein und demselben Autor stammt, ist in der Kopenhagener Gesellschaft ein offenes Geheimnis, obwohl außer den erbaulichen Reden die übrigen Titel unter verschiedenen Pseudonymen erscheinen. Die heißen: Victor Eremita, Johannes de Silentio und Constantin Constantius. 4 5
6
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Kіђџјђєююџё, Werke (Anm. 2), ř5. Abt.: Briefe, 114f. „Des Glaubens Erwartung (Neujahrstag)“, Gal ř,2ř–29; „Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab“, Jak 1,17–22 in: Kіђџјђєююџё, Werke (Anm. 2), 2. u. ř. Abt., Entweder / Oder Zweiter Teil, ř79–424. „Liebe wird decken der Sünde Mannigfaltigkeit“ (1. und 2. Rede), 1Petr 4,7–12; „Die Bestätigung in dem inwendigen Menschen“, Eph ř,1ř–21, Kіђџјђєююџё, Werke (Anm. 2), 5. u. 6. Abt., Die Wiederholung; Drei erbauliche Reden 1843, 99–148. „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt (Hiob 1,20–21)“; „Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab (Jak. 1,17–22)“ (1. und 2. Rede); „Seine Seele erwerben in Geduld (Luk. 21,19)“, Kіђџјђєююџё, Werke (Anm. 2), 7., 8. und 9. Abt., Vier erbauliche Reden 6. XII. 1843, 1–74.
Sören Kierkegaard als Schriftsteller
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I. Man schreibt 184ř, als Sören Kierkegaard mit dreißig Jahren schriftstellerisch hervortritt, was für ein Genie nicht übermäßig früh, ja im Gegenteil spät ist, wenn man bedenkt, daß Die Leiden des jungen Werthers und der ebenso Epoche machende Roman Buddenbrooks Erstlinge sind, die im Alter ihrer Autoren bei Mitte Zwanzig liegen, von den Werken frühvollendeter Romantiker, wie Novalis einer ist, ganz zu schweigen. Aber wie Kierkegaard als Schriftsteller hervortrat und durch seine Veröffentlichungen in einem einzigen Jahr ein öffentliches Aufsehen machte in seiner Heimatstadt Kopenhagen, das ist literarisch wohl ohnegleichen, zu vergleichen nur der urplötzlichen Eruption eines Vulkans, der seine leidenschaftlich geglühte Lava lange gesammelt hat, ehe er ausbricht. Eine Sentenz von Friedrich Nietzsche fällt einem ein, die lautet: „Wer viel einst zu verkünden hat,Ȧ Schweigt viel in sich hinein:Ȧ Wer einst den Blitz zu zünden hat,Ȧ Muß lange Wolke sein.“ Die Wolke, die sich über dem Vulkan sammelt, um beide Bilder zu verbinden, sind Kierkegaards Tagebücher, die er seit seinem 21. Lebensjahr ununterbrochen führt und die an seinem Lebensende in etwa denselben ungeheuren Umfang wie seine Veröffentlichungen annehmen, wie man postum dann sehen konnte, als Søren Kierkegaards Papirer seit 1909 herausgebracht wurden, seither auf eine Größenordnung von zwanzig Bänden angewachsen. Daß die Selbstgespräche mit den unerbittlichen Kritiken der Zeit samt den unverstellten psychologischen Analysen der eigenen Person eines Tages das Licht der Welt erblicken würden, davon war Kierkegaard, im Bewußtsein seiner eigenen Bedeutung, überzeugt, trug er doch in der Zeit von Februar bis April 1849 die Äußerung ein: „Falls man meine Tagebücher nach meinem Tode herausgeben wollte, könnte man das tun unter dem Titel: Buch des Richters“.Ⱥ8 Der Ausdruck „Buch des Richters“ (Dommerens Bog) ist doppelsinnig, spielt er doch auf den endzeitlichen Richter und dessen D-Day oder Doomsday an, was also hieße, daß nicht eigentlich der Schreiber der Richter sei über die eigene Zeit und Person, sondern derjenige, vor dessen Schranken er schon hier und jetzt steht, ihm allein sich offenbarend und ihm sich schuldend in all den Verlegenheiten und ungelösten Problemen seines Lebens, schreibt sich also mit seinen Tagebüchern hin auf den Tag des HErrn, verfaßt diesem sein Schuldenbuch, um ohne Umschweife vor Gott zu kommen, die von Martin Luther her alte reformatorische Auffassung von Beichte, durch die sich eine Seele gethsemanemäßig preisgibt ‚betrübt bis an den Tod‘,
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Kіђџјђєююџё, Werke (Anm. 2), Die Tagebücher. Dritter Band. Ausgewählt, neugeordnet und übersetzt v. HюѦќ GђџёђѠ, DüsseldorfȦKöln 1968, 202 (Pap. XȦ1 A 2ř2).
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um zur endgültigen Gewißheit zu gelangen darüber, wie man am Ende dran sei mit sich, wie die Liebe es will bei einem anderen, bei dem, der der Andere der Seele ist. Dem kann eine Seele allein sich öffnen und zugleich sich durch Veröffentlichung vor der Welt verschließen, weil „die heimliche Note“ es macht, daß ein klein geschriebener anderer nur dann versteht, was ‚geoutet‘ ist, wenn er es auf innerliche Weise rekapituliert, d. h. die Doppelreflexion anstrengt, die darin besteht, daß man das objektiv Erkannte noch einmal auf sich zurückbiegt, auf die eigene Subjektivität, die das Wesentliche haben können muß in Existenz, was dann die eigene heimliche Note wäre in Aneignung. So steht die frühere Tagebucheintragung (in zeitlicher Nähe zur Schrift Furcht und Zittern) in keinem Widerspruch zu der anderen späteren, die die Veröffentlichung der Tagebücher in Blick nimmt, wenn man liest: Nach meinem Tode soll niemand in meinen Papieren (das ist mein Trost) eine einzige Aufklärung darüber finden, was eigentlich mein Leben ausgefüllt hat; die Schrift in meinem Innersten finden, die alles erklärt, und die oft zu ungeheuer wichtigen Begebenheiten für mich macht, was die Welt Bagatellen nennen würde, und was ich für Bedeutungslosigkeit ansehe, wenn ich die heimliche Note wegnehme, die es erklärt.Ⱥ9
Ach, meine Damen und Herren, wie bin ich mit Hilfe seiner Tagebücher schon so weit gekommen, wie ich zuerst gar nicht wollte und durfte, um Sie langsam auf diesen Schriftsteller hinzuführen, aber ich wurde geführt, johanneisch gesprochen (Joh 21,18), wohin ich nicht wollte und doch mußte, geht es doch im gesamten Werk dieses Autors um nichts anderes als um dasselbe, worum es in aller Dichtung und Schriftstellerei letzten Endes geht, ob bei Goethe oder Thomas Mann oder bei Novalis: um das eigene Leiden, das man verschlüsselt kleidet in Texte, damit eine lesende Seele sich darin wiederfinde und sich selbst entschlüssele, das Leben eines anderen als das eigene wiederholen möge, worin alles Leseinteresse liegt, sagen wir vorsichtiger liegen sollte: daß man aus anfänglicher Neugier, die durchs Schlüsselloch ins Zimmer und Private eines anderen guckt, wißbegierig wird und interessiert an dem eigenen ‚Erkenne-dich-selbst‘ und also das Beichtgeheimnis wahrt, ja so allein zur Lösung und Absolution der eigenen schuldigen und bis an den Tod betrübten Seele gelangt. Wer ein Psychopathogramm Kierkegaards anfertigen wollte, würde anhand der sich selbst entlarvenden und dialektisch zerlegenden Tagebucheintragungen zu demselben Ergebnis und Urteil gelangen, wie ein Psychiater gelangte und schrieb: „Wenn man
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Kіђџјђєююџё, Tagebücher I (Anm. 2), 298f. (Pap. IV A 85).
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meint, eine Sache sehr gut ausgedrückt zu haben, wird man immer entdecken, daß Kierkegaard sie besser gesagt hat.“Ⱥ10 Was heißt da Leiden unter Depressionen mit manischen Schüben, wenn ein derart begutachteter Patient sich als Schriftsteller dem stellt und dies für gut, ja für besser achtet, als was ein objektiver Gutachter nur hilflos weiß, der Patient aber sich zum Arzt wird, als Leidender ein Tätiger wird, eine Heilmethode entwickelt in Form einer Theorie von Mitteilung, welche die „indirekte Mitteilung“ genannt istȺ11 – die durch Ablenkung hinlenkt, unterhaltend erhält, spielerisch zum Mitspielenden macht einen Menschen, dem mitgespielt wurde, durch Indirektheit eine Direktion ermöglicht, die man sich selbst als richtungsweisend erwählt, denn ein Leidender läßt sich nicht dirigieren und direkt ansprechen, er braucht einen Freiraum, in dem er sich durch Gleichnisse gleichen kann, muß überzeugt und zugleich überredet werden, von der Richtigkeit und Wahrheit des Weges, den die Methode weist, in einem argumentativ wie affektiv angetan, damit alle Vermögen des Menschen, die unvermögend sind, zum Zuge kommen: sein Erkenntnisvermögen, sein Begehrungsvermögen und sein Wahrnehmungsvermögen: also Verstand, Wille und die fünf Sinne – da hat ein leidender Schriftsteller mit dem Herzen zu tun, in dem, nach biblischer Meinung, alle diese Vermögen versammelt sind, und ein Mensch sich leiden mag erst, wenn diese Vermögen vermögend geworden sind und auch sich untereinander leiden mögen – aber wie stellt man das an als Schriftsteller? Zuerst durch Darstellung, indem er eine Bühne schafft mit Hilfe von Erdichtungen, von Vorstellungen, die es den nur leidend Zuschauenden erlauben, ja sie dazu verführen, aus dem eigenen armen Vorstellen herauszutreten in ein Stück, das ihres Lebens Stück ist in Unglück und Glück. Um zu einer solchen Theorie und Praxis von indirekter Mitteilung zu gelangen, brauchte Kierkegaard lange, die Länge von zehn Jahren, die er studierte, äußerlich einer von 10
11
Mitgeteilt bei Wюљѡђџ LќѤџіђ, Das Leben Kierkegaards (Titel der amerikanischen Ausgabe: A short Life of Kierkegaard), übersetzt v. Gҿћѡѕђџ SюѤюѡѧјі, DüsseldorfȦKöln 1955, 28. Vgl. Kіђџјђєююџё, Werke (Anm. 2), 26. Abt., Einübung im Christentum von Anti-Climacus Nr. I. II. III. Herausgegeben von S. Kierkegaard Kopenhagen 1850, 26. Abt., 127 (SV XII, 124): „§ ř Unmöglichkeit unmittelbarer Mitteilung“. Die Indirektheit der Mitteilung hängt zusammen mit dem Mitgeteilten, d. h. mit der Selbstmitteilung des in seiner Menschheit verborgenen Gottes. „Die unmittelbare Kenntlichkeit ist gerade bezeichnend für den Götzen“ (ebd., 1ř1 [SV XII,127]). Die Verborgenheit des Offenbarers noch bestimmter: „§ 4. Unmöglichkeit unmittelbarer Mitteilung ist das Geheimnis der Leiden Christi“ (ebd.), bedingend auch Ärgernis (§ 5) und Glauben (§ 6). Darauf macht die indirekte Mitteilung ‚aufmerksam‘ für das Sich-Verstehen in einem Prozeß, der heißt: „ein Christ werden“; vgl. Kіђџјђєююџё, Werke (Anm. 2), řř. Abt., Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller, 1851 (SV XIII, 496), 6.
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jenen Langzeitstudenten, die es damals schon gab, gab sich auch nach außen sorglos so, wie man sich gibt, wenn man zu einer jeunesse dorée gehört, ausgehalten von seinen Eltern, Kierkegaards Vater Michael Pedersen, der reich gewordene Strumpf- und Wollwarenhändler, zahlte großzügig die aufwendige Lebenshaltung des Sohnes, sogar die immer wieder entstandenen Schulden, die man hat als kultureller Flaneur zwischen Kaffeehaus und Theaterbesuchen. Die Zeit war danach, eine zu Ende gehende Epoche, als Kierkegaard mit siebzehn Jahren, also 18ř0, sich an der Universität Kopenhagen einschrieb, im Fach Theologie, aber überall sich umhörend auch in Philosophie und Literatur. Aber gerade diese drei Disziplinen erlebten, wie ihre glänzenden Leitfiguren ihren Glanz verloren, sich überlebten und zu Beginn der Dreißigerjahre starben: der Philosoph Hegel im November 18ř1, der Dichter Goethe ein halbes Jahr später im März 18ř2, der Theologe Schleiermacher im Februar 18ř4. Die Krise hatte lange zuvor sich angekündigt im Jahr 181ř, in dem Sören am 5. Mai zur Welt gekommen war, nämlich durch einen Börsenkrach in der Kaufmannsstadt, wie ja Kopenhagen dem Namen nach auch heißt: viele verloren ihr Vermögen, nur Vater Kierkegaard nicht, weil er königliche Anleihen gezeichnet hatte, die als staatliche Papiere nicht bankrott gingen. In dem Jahr sei er geboren, notiert der Sohn, als „so mancher andere falsche Geldschein in Umlauf kam“.Ⱥ12 Ironie ist der Indikator des Epochenbruchs, auch auf der politischen Bühne hinterläßt sie am Jahr 181ř rückblickend ihre Spur, nämlich am Fall Napoleons, der mit der Völkerschlacht bei Leipzig unweigerlich seinen Lauf nimmt und in Konkurs geht, Napoleon, ein falscher Fuffziger auch er: Bürger und Sohn der Revolution, der sich den Geldwert vom Adel geliehen hatte, indem er als Kaiser in Umlauf kam. Die Ironie lag schon in dem Stück, das der große Korse spielte auf dem Welttheater mit Folgen, die bis in die heutige Zeit reichen. Man bedenke, da tritt einer auf als Sachwalter und Erbe der Französischen Revolution, trägt die neue Ethik der bürgerlichen Verfassung und der Menschenrechte in die Nachbarländer, zwar durch Kriege, das mag man noch als unumgänglichen Widerspruch hinnehmen, wenngleich es doch keine Eroberungskriege im nationalen Interesse des Mutterlandes hätten sein müssen; aber dann, ich bitte Sie, meine Damen und Herren im Parkett des neuen dritten Standes: Wie legitimierte sich die revolutionäre Legalität, ausgedrückt in der Person Bonapartes, eben nicht, wie sein Beiname meinen machen sollte, zum guten Teil in einer Fundierung der moralischen Güter, die so allererst hätten als Erbe erworben werden können,
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Vgl. den Beginn der Biographie aus der Feder von Pђѡђџ P. Rќѕёђ, Sören Kierkegaard mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (RoMo 50028), Hamburg 242002 (11959), 7.
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nach Goethes schönem Faust-Wort:Ⱥ1ř „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“: was machte stattdessen der Mann mit dem großen goldenen N? Er ließ sich von der alten und vermeintlich enthaupteten Trägerschaft staatstragend machen, zeichnete Anleihen beim Adel, um sich zu legitimieren, mußte auf diese Weise dem Neuen einen längst verfallenen Geldwert beilegen, was auch dementsprechend sich ausnahm im pompösen Bild, als er sich zum Kaiser der Franzosen krönen ließ und dazu den Papst aus Rom zitierte, dem er aber das Ding aus der Hand nahm und sich selbst aufsetzte, eine inszenierte Ironie, nämlich des Subjekts, das nicht mehr knien und sich einem Höchsten unterwerfen kann, obwohl der Name ‚Subjekt‘ vom lateinischen subjicere herstammend dies als das Rettende verlangt, auch sprachlich sich biblisch einlöst, wenn man der Not gehorchend und nicht dem falschen eigenen Triebe, sich zu wollen, nicht spricht: ‚Ich habe Durst‘, sondern: „Mich dürstet“ (Joh 19,28), wie ein gewisser johanneischer Jesus Christus am Kreuz in bester Verdeutschung sich ausdrückt, um dadurch anzuzeigen in Person, nämlich als Herr und Gott, was die Grundlage der Menschwerdung des Menschen sei und damit die Fundierung oder Legitimität von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die Emanzipation endet als Usurpation, besiegt von der ‚Heiligen Allianz‘, dem Überrest des Ancien régime. So lebt man vage und orientierungslos in den 18ř0er Jahren zwischen zwei Zeiten, die nichts mehr gelten, zwischen Revolution und Restauration, hat bei aller Krisenstimmung eine Spaßgesellschaft, Heinrich Heine gibt dafür das Bild und den Ton an.Ⱥ14 Man hält sich für liberal und hält sich ebenso noch zur Kirche, die in Dänemark eine Staatskirche ist, weshalb man den christlichen Glauben vereint und verheiratet weiß mit Religion und Kultur überhaupt, ist dabei aus Gewohnheit mehr oder weniger aufgeklärt und christlich, man muß nicht die Dinge allzu ernstnehmen, d. h. nicht zu eng: Man ist damals im großen und ganzen so wie heute, wo auch bei uns die Wahrheitsfrage nicht mehr gestellt werden darf: also nach dem nicht, was einen Menschen zu etwas verbindet, die Frage nach dem eigenen Selbst, worauf dieses 1ř 14
Teil I, Szene 1, Nacht. Eine genaue dialektische Beschreibung gibt diese Passage: „Heine ist unleugbar Humorist (entwickelt, wie aller Humor, vom Christentum selbst, indem dies, selbst humoristisch, in Gegensatz zu der ironisch entwickelten Welt trat und tritt, und durch seine Lehre der Ironie humoristische Funken entlockte; und indem es [das Christentum] zum Ärgernis wurde (Wie das Christentum ja auch den Paulus ärgerte.) und nun die Ironie sich nicht vom Humor wiedergebären und damit versöhnen lassen wollte, sondern sich als diabolischer Humor entwickelte); aber er konnte sich nicht für sich halten und stellte ein Gegenbild zur Kirche auf, das sich humoristisch gegen die Welt entfaltet, während die Welt sich nun als eine dauernde humoristische Polemik wider die Kirche darzustellen suchte. Den 26. Aug. ř7“; Kіђџјђєююџё, Tagebücher I (Anm. 2), 141 (Pap II A 142).
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sich gründe, wenn es denn sich selbst verwirklichen wolle und solle, ist völlig tabu, sie zu stellen, gilt als unverschämt, so sehr man sonst alle Hüllen der Scham selbst von den intimsten Bereichen des Körpers und der Seele hat fallen lassen. Aber der Geist, wenn er sich nicht in haltloser Reflexion verliert, die um das eigene Ich kreist in Wehmut oder zersetzender Kritik – der Geist verliert sich ansonsten in eine allgemeine Vernunft oder erklärt sich zurück in die Natur: die drei Auswege, die sich mit den Namen Romantik, spekulative Philosophie Hegels und die neuaufkommende Naturwissenschaft als Richtungen belegen lassen im Zeitgeist allgemein und an der Universität insbesondere. Nach fünf Jahren Studium kam die Zeit der Selbstklärung, eine Sommerreise im JuliȦAugust 18ř5, also mit 22 Jahren, unternimmt Kierkegaard, in Gilleleie, Ostseebad am Kattegat, macht er sich lange Aufzeichnungen ins Tagebuch, da heißt es: er wolle mit sich „ins reine kommen“: „es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will“.Ⱥ15 Weg von den falschen objektiven Wahrheiten aber auch heraus aus den Zerrissenheiten und Zerstreuungen einer unglücklichen Subjektivität. Er schreibt: Man muß sich selbst kennenlernen, ehe man etwas anderes erkennt (gnwqi seauton). Erst wenn der Mensch auf diese Weise sich selbst innerlich verstanden hat und nun seinen Gang auf seiner Bahn hin erschaut, erst dann bekommt sein Leben Ruhe und Bedeutung, erst dann wird er frei von jenem beschwerlichen, unheilsschwangeren Reisekameraden jener Lebensironie, die sich im Gebiet des Erkennens zeigt und dem wahren Erkennen gebietet, mit einem Nicht-Erkennen zu beginnen (Sokrates), ebenso wie Gott die Welt aus nichts schuf.Ⱥ16
Man sieht: Der junge Student macht mit sich ernst, und zwar so, daß er der Ironie einen methodischen Ort zuweist, sie als konstruktive Größe im sokratischen Sinn begreift, nämlich in Dienst genommen für den Weg zum Selbst, der durch die schmerzliche Freilegung des Nichtwissens geht. Meine Damen und Herren, wie beschwerlich und unheilsschwanger dieser Reisekamerad dem begeisterten jugendlichen Ernst hier noch in Kürze werden wird, davon muß in der folgenden Fünf-Jahre-Wolkenzeit sogleich die Rede sein. Nur darf hier schon angemerkt werden, daß Sören Kierkegaard sein Studium zielbewußt abschließen wird im Jahr 1841 mit seiner Dissertation des Titels Über den Begriff der Ironie. Mit stän-
15 16
Kіђџјђєююџё, ebd., 16 (Pap. I A 75). Ebd., 19f. (Pap. I A 77).
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diger Rücksicht auf Sokrates.Ⱥ17 Hierin setzt er sich ausführlich und genau auseinander mit den Zeitzeugen, die die Lebensironie entweder vom Ernst des Denkens ausschließen oder sie unbeherrscht gebrauchen, zwischen Philosophie und Romantik muß der rechte Weg gefunden werden, um mit der Ironie als Reisekameraden, also sokratisch-methodisch ans Ziel zu gelangen. Zum ‚Erkenne-dich-selbst‘: „So stand in goldenen Lettern auf dem delphischen Heiligtum des Gottes der Wahrheit und Klarheit, Apollons, geschrieben.“Ⱥ18 Was aber liegt auf dem Weg zwischen 18ř5 und 1841 alles, wenn das Leben so spielt, einem ernsthaft mitspielt, denn e„rwne[…]a heißt auf griechisch Verstellung, so wie ein Komiker und Schalk seine Zuschauer nasführt, insgeheim verspottet, lachend blutigen Ernst macht mit einem, nicht nur in ein Nichtwissen führt des Verstandes, sondern in ein Nicht-mehr-aus-noch-ein-Wissen, schlechthin ins Nichts, wovon der 22jährige schon eine Ahnung hatte, als er in Gilleleie sich notierte, daß man in die Lage komme des urzeitlichen Chaos: „ebenso wie Gott die Welt aus nichts schuf“ – wenn man nun mit diesem Gott selbst zu tun bekäme durch eine erschreckende Erkenntnis, die ihm wurde von seines Vaters Seite im Alter von 25 Jahren, also 18ř8, im selben Jahr, da Michael Pedersen Kierkegaard im August 82jährig starb, nachdem er seinen Sohn verpflichtet hatte, sozusagen auf dem Sterbebett, endlich sein Examen zu machen, welches er auch einlöste, aber der Vater gab ihm außer einer beträchtlichen Summe Geldes, von der der schriftstellernde, zu keinem ordentlichen Beruf fähige Sohn sein ganzes Leben samt Drucklegung seiner Schriften bestreiten konnte – gab ihm noch ein anderes Erbe mit, seine Schuld, die er als Knabe in der jütischen Heide auf sich geladen hatte, indem er eines Tages als armer Hütejunge sich hinstellte in seiner Verlassenheit und Trostlosigkeit, dafür gibt es heute das unschöne Wort ‚Perspektivlosigkeit‘, und Gott verfluchte. Dies hat der Vater seinem Jüngsten, der Sören war von sieben Kindern, zuletzt gestanden und offenbart. Im Tagebuch wird das notiert als „das große Beben“. Ich muß mich kurzfassen darüber, daß Michael Pedersen Kierkegaard, ein dem Pietismus zuneigender und als Kaufmann zugleich gebildeter Mann, diese Jugendsünde sein Lebtag nicht vergessen konnte, schwermütig und im Selbststudium dem nachhing und -ging, seinen wirtschaftlichen Erfolg bedenkend, der ihn zu großem Reichtum gebracht hatte, nachdem er von dem kargen Jütland nach Kopenhagen auf Seeland übergewechselt war: diesen Erfolg verstand er immer mehr als widerlegende Strafe Gottes, eben als dessen Ironie;
17 18
Kіђџјђєююџё, Werke (Anm. 2), ř1. Abt. HюћѠ PќђѠѐѕђљ, Die griechische Sprache. Geschichte und Einführung (1950) (dtv Wissenschaftliche Reihe 4174), München 1975, 96.
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aber als seine Kinder, fünf davon, alle drei Mädchen und zwei Jungen in frühem Alter starben, glaubte er, wenn man das Glauben nennen darf, daß er alle seine Kinder zur Strafe überleben müsse, daß also im tragisch antiken Sinne ein Fluch auf seinem Geschlecht liege, und Sören Kierkegaard nahm das auch an und auf sich, als Gesteinsbrocken für seine Lava, denn nun rückte mit 184ř das Jahr des ungeheuren schriftstellerischen Ausbruchs heran, lange genug ist er Wolke gewesen, hat in seine Tagebücher geschwiegen, nun mußte er den Blitz zünden. Ach, wir dürfen nicht das zweite Datum unterschlagen, aus dem der Schriftsteller mit der äußerlich ärmsten Biographie alles machte, woran er einen unendlichen Stoff hatte. Dieses zweite biographische Datum ist Regine Olsen, mit der er sich nach Ablegung seines Staatsexamens am ř. Juli 1840 nach drei Monaten, am 10. September, verlobte und dreizehn Monate drauf, am 11. Oktober 1841 die Verlobung auflöste, um vierzehn Tage später nach Berlin abzureisen, zu flüchten, um zu arbeiten, was ein Bearbeiten gewesen ist fortan seiner selbst, dessen, der durch seine psychische Konstitution und existentielle Befindlichkeit daran gehindert ist, eine ethische Person zu werden, d. h. moralisch zu handeln, indem man sich bürgerlich verwirklicht durch Heirat und Beruf. Zunächst daran gehindert, denn Kierkegaard hielt 184ř daran fest, daß es ihm noch gelingen werde nach gewonnener Selbstfindung, nach dem gnîqi seautÒn, von dem er offenbar irrtümlich, weil vorschnell angenommen hatte, er habe es schon erreicht und könne dazu übergehen, eine Existenz zu gründen, wie man ja ethisch dazu sagt, wenn man sich gesellschaftlich verantwortlich ein- und unterordnet und die Bedingungen dazu erfüllt, indem man Verbindungen eingeht, wie Dienstexamina und Verlobungen welche sind. Aber das Selbst und seautÒn wehrte sich, war zu schwach und noch nicht fertig mit sich, da löste es sich, löste die Verlobung, deren Auflösung ihn sein ganzes Leben binden sollte, setzte sich in die Kutsche und verreiste (nach Berlin), indem es sich aber vornahm, die ganz eigene Angelegenheit derart zu bearbeiten und zu behandeln, daß daraus eine Arbeit und Behandlung im Interesse aller derer werde, die, wie der Zeitgeist verriet, ein ähnlich gelagertes, d. h. ethisch-existentielles Problem mit sich und ihrer Person haben.
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II. So wurde Kierkegaard Schriftsteller und das erste Stück, das blitzartig einschlug, weil es lange Wolke gewesen ist und heiß wie Lava gekocht, hieß ENTEN-ELLER (ins Deutsche übersetzt und vollständig): ENTWEDER-ODER. Ein Lebensfragment herausgegeben von VIKTOR EREMITA. Erster Teil, enthaltend die Papiere von A. Und: Zweiter Teil, enthaltend die Papiere von B, Briefe an A.Ⱥ19 Also ein zweibändiges Oeuvre, interessant aufgemacht, was schon die Titelei verrät, die im Sinne der schon verständigten Methode indirekter Mitteilung hindeutend ist. Der Verfasser Kierkegaard verschlüsselt sich durch ein Pseudonym, und zwar doppelt, indem als Name wiederum nur ein Herausgeber zeichnet, der Victor Eremita, übersetzt: Sieger Einsiedler, was dich als lesende Person schon insgeheim, nämlich durch Entschlüsselung des Pseudonyms oder Lügennamens zum „Erkenne-dich-selbst“ reizen soll, dich nämlich darauf aufmerksam machend, daß der Mensch ein Einsiedler sei, ein Einzelner zwar in der Menge, in der er sich verliert oder verbirgt, sozusagen ein Einsiedlerkrebs, der seine Weichteile in fremden leeren Muschelgehäusen unterbringt, aber ständig die Unterkunft wechseln muß, nirgends gebunden und unbehaust; aber als dieser unglückliche und sich tarnende Einzelne soll er doch Sieger werden, sowohl über sich als auch für seine Nächsten, wie in der Alten Kirche einzelne Christen in die Einsamkeit zogen, um in einer ganz auf sich und auf Gott gestellten Eremitage zu sich selbst zu kommen, mit dem fruchtbaren Ergebnis, daß dann die Menschen aus den bewohnten Gebieten zu ihnen hinauszogen, um sich raten und heilen zu lassen. Alle diese Assoziationen verbinden sich mit dem Pseudonym Victor Eremita, aber eben in strikter Verborgenheit, denn er selbst gibt sich als Herausgeber völlig desinteressiert und distanziert weltläufig, indem er sich gegenüber den beiden Autoren, deren Papiere er zum Druck befördert, neutral verhält, es also dem Leser überläßt, was von der ganzen Sache zu halten sei. Vielmehr erzählt er, wie er auf die Manuskripte der beiden befreundeten A und B durch Zufall gestoßen ist. Er sei vor sieben Jahren in den Besitz eines Möbelstücks, eines Sekretärs gelangt, als er bei einem Bummel durch die Stadt an dem Laden eines Trödlers vorbeischlenderte und schließlich, eigentümlich angezogen, nicht anders konnte, als zu kaufen. Auch diese Art zu erzählen ist narrativ verschlüsselnd, will zeigen, wie etwas als etwas sich zeigt und offenbart, nämlich auf dem Wege sinnlichen Reizes, von Neugier, die selbst nicht weiß, wodurch sie affiziert wird, gegen Hegels ein19
Kіђџјђєююџё, Werke (Anm. 2), 1. Abt. Entweder Ȧ Oder Erster Teil; 2. u. ř. Abt. Entweder Ȧ Oder Zweiter Teil (SV I und II). Im folgenden schreibe ich – abweichend von E. Hirsch – mit dem Original Victor (mit „c“).
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fache Maxime inszeniert, die es der Vernunft zuschreibt, daß das Innere nach außen komme, Verborgenes sich offenbaren müsse. Dagegen steht schon das Motto, das sich auf dem Titelblatt von Entweder-Oder I findet, eine Frage, zitiert aus den Nachtgedanken von Edward oung (1742–1745), einem anglikanischen Geistlichen, der fragt: „Ist denn die Vernunft allein getauft, sind die Leidenschaften Heiden?“ Was Victor Eremita so scheinbar nur obenhin erzählt, ist Literatur, die dich, der du wirklich liest, einspinnt, vernetzt, verschlüsselt, mit Hilfe einer Psychologie, die dich wißbegierig zu machen versucht, also den Intellekt nicht von den Affekten abstrahiert, sondern mit diesen verbindet, was man nur literarisch, nicht durch ein Reden darüber realisieren kann. Ich bin abgekommen von der Erzählung, die der Herausgeber im Vorwort zu Entweder-Oder bringt, wie er an die Papiere gelangt sei, nämlich nicht auf abstrakt vernünftige, sondern auf konkret zufällige Weise. Nach sieben Jahren, nachdem der Sekretär bei ihm in der Wohnung seinen Platz gefunden hatte, wollte er eines schönen Tages verreisen, saß gestiefelt und gespornt, gepackt und angekleidet reisefertig nachts um vier Uhr da, denn die Kutsche sollte fünf Uhr in der Frühe abgehen, war aber eingenickt, als er plötzlich das Posthorn hörte und erschreckt auffahrend merkte, daß er nicht genug Geld eingesteckt hatte, wovon im Sekretär noch lag, dessen betreffende Schublade aber klemmte, weshalb er, wie man dann tut in seiner Aufregung, mit den Fäusten, sogar mit einem Handbeil gegen den ganzen Kasten schlug, woraufhin ein bis dahin unentdecktes Geheimfach aufsprang, in dem die Papiere lagen, ein Vorgang von Verschlossenheit und Offenbarung ! Diese Papiere habe er später geordnet, feststellend, daß es sich um Aufzeichnungen eines ästhetisch existierenden, wir würden heute sagen, Singles einerseits und um auf diese eingehende Briefe eines ethisch existierenden Ehemanns und Justizassessors andrerseits handelt. Der mit dem ungebundenen Lebensstil, rein mit sich selbst geistreich und unglücklich Befaßte, läßt sich namentlich nicht identifizieren, ein literarischer Ausdruck von fehlender Identität, der Herausgeber nennt ihn deshalb anonym A. Der Ethiker dagegen, der Freund von A, heißt mit Namen Wilhelm, einer, der offenbar weiß, was er will, mit seinem Begehrungsvermögen etwas anfangen kann, wohingegen A gerade damit sein Hauptproblem hat, wie sogleich seine Aphorismen, das erste Stück seiner Papiere, zeigen, die er aber ‚Diapsalmata ad seipsum‘ nennt, Lieder an sich selbst, durch die sich seine Seele meldet, und zwar klagend; die Anspielung auf die biblischen Psalmen darf, wer zu lesen versteht, wiedererkennen, freilich in der ironischen Umkehrung, daß der Psalmist etwa in dem Lied (Ps 42,6): „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir“ auf Gott
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harrt und hofft, daß „er meines Angesichts Hilfe und mein Gott“ sei; während die Ästhetik des A keine solche Aussicht hat. Geben wir ein paar Proben aus den ‚Diapsalmata‘. Gleich zu dem Willen. Da heißt es: Der eigentliche Genuß liegt nicht in dem, was man genießt, sondern in der Vorstellung. Hätte ich einen untertänigen Geist in meinen Diensten, welcher mir, wenn ich ein Glas Wasser verlangte, die köstlichsten Weine der ganzen Welt brächte, in einem Pokale lieblich gemischt, so würde ich ihm den Abschied geben, bis daß er gelernt hätte, der Genuß liege nicht in dem, was ich genieße, sondern darin, meinen Willen zu bekommen.Ⱥ20
So ist der Wille unwillig zum wirklichen Leben, er lebt in der Vorstellung, in der reinen Phantasie, wovon er freilich, als Künstler, sehr viel hat, ist schriftstellerisch mit übermäßiger Einbildungskraft ausgestattet, die ihn abhebt von anderen Menschen und ausschließt vom Leben, ein Thema, formuliert in der Novelle Tonio Kröger, mit dem es Thomas Mann zeitlebens zu tun hatte, dessen wir, im fünfzigsten Todesjahr, ebenso gedenken, aus dem mit Kierkegaard vergleichbaren Grunde, weil auch dieser aus dem Unglück des Zuviel an Phantasie und Reflexion im Dienste stehen wollte des leidenden Menschen, um diesen, bei aller Verstellungskunst und Ironie, hervortreten zu lassen in seiner schwierigen Individualität und Not, aus welchem Motiv, das man übersieht oder bezweifelt in der ihn beurteilenden Nachwelt, was doch aber verborgen steht am Ende des Tonio Kröger: Denn wenn irgend etwas imstande ist, aus einem Literaten einen Dichter zu machen, so ist es diese meine Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen und Gewöhnlichen. Alle Wärme, alle Güte, aller Humor kommt aus ihr, und fast will mir scheinen, als sei sie jene Liebe selbst, von der geschrieben steht, daß einer mit Menschen- und mit Engelszungen reden könne und ohne sie doch nur ein tönend Erz und eine klingende Schelle sei.Ⱥ21
Das hohe Lied der Liebe des Apostels Paulus aus dem ersten Brief an die Korinther, Kapitel dreizehn ist hier zitiert. So muß man auch den Ästhetiker A, mit Kierkegaards verborgener Schriftstellerleidenschaft und Menschenliebe lesen, bei aller Ironie, mit der dieser alles auf die Schippe, ja, wie er sagt, auf die Nase nimmt: Ich bin genau so wie das Lüneburger Schwein. Mein Denken ist eine Leidenschaft. Ich kann vortrefflich für andre Trüffeln aufwühlen, selbst hab ich an ihnen keine Freude. Ich nehme die Probleme auf meine Nase; aber ich vermag mit ihnen nicht mehr zu tun als sie nach rückwärts über meinen Kopf zu werfen.Ⱥ22 20 21 22
Kіђџјђєююџё, Entweder-Oder I (Anm. 19), řř (SV I, 15). TѕќњюѠ Mюћћ, Sämtliche Erzählungen, Frankfurt a. M. 196ř, 265. Kіђџјђєююџё, Entweder-Oder I (Anm. 19), ř9 (SV I, 20).
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Sein eigenes Abgeschnittensein vom Leben, denn einem Trüffelschwein ist ja das Maul verbunden, macht A hellsichtig für die vorgeblich gelungenen Lebensverhältnisse, die als faule Trüffeln auf die Nase genommen werden. In Richtung auf Hegel: „Was die Philosophen über die Wirklichkeit sagen, ist oft ebenso irreführend, wie wenn man bei einem Trödler auf einem Schilde liest: Hier wird gerollt. Würde man mit seinem Zeug kommen, um es rollen zu lassen, so wäre man genasführt; denn das Schild steht bloß zum Verkaufe aus.“Ⱥ2ř Ebenso wird Goethe abgebügelt, von dem ja gilt, daß er als Dichter sein Leben als Kunstwerk verwirklicht habe, also keineswegs als ‚Ein Lebensfragment‘ verstand, worauf das weisheitliche Motto zu Teil II in Dichtung und Wahrheit geht, das von Lebenserfüllung im Alter spricht („Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle“). Was von A so auf die Nase genommen wird: „Das Alter läßt die Träume der Jugend Wirklichkeit werden: das sieht man an Swift, in seiner Jugend baute er ein Irrenhaus, im Alter ging er selbst in es hinein.“Ⱥ24 Jonathan Swift, Geistlicher auch er und als Autor von Gullivers Reisen weltbekannt, war auch ein Ironiker und Satiriker, der soziale Mißstände abstrafte mit Schriften wie: Bescheidener Vorschlag, wie man verhüten kann, daß Kinder armer Leute in Irland ihren Eltern zur Last fallen, und wie sie der Allgemeinheit nutzbar gemacht werden können.Ⱥ25 Er schlägt vor, daß man die armen Kinder zu Fleisch verarbeiten solle. Er hätte also, mehr als ein Jahrhundert vor Kierkegaard lebend, nichts dagegen gehabt, so in seinem Sozialengagement ironisiert zu werden, nämlich nicht als Schriftsteller ungebrochener Lebensverhältnisse zu gelten. So nimmt A ein Aper³u des Sokrates auf, der nach des Diogenes Laertius Leben und Meinungen berühmter Philosophen „Auf die Frage, ob man heiraten solle oder nicht“, geantwortet haben soll: „‚Was du auch tust, du wirst es bereuen‘“,Ⱥ26 und macht daraus einen „ekstatischen Vortrag“ mit der Überschrift „Entweder-Oder“, des Inhalts, daß alles, was man tue, gleichgültig sei, durchaus ohne Alternative, die grammatische Disjunktion ‚entweder-oder‘ taugt zu keiner Entscheidung und besseren Wahl: Er schreibt: Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es bereuen; heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen; entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du bereust beides. Lach über die Narrheit der Welt, du wirst es bereuen; wein’ über die Narrheit der Welt, du wirst es gleichfalls bereuen; 2ř 24 25 26
Ebd., ř4 (SV I, 16). Ebd., 21 (SV I, 5). Jќћюѡѕюћ SѤіѓѡ, Ausgewählte Werke in drei Bänden, Bd. 2, hg., eingeleitet und kommentiert v. AћѠђљњ SѐѕљҦѠѠђџ (Insel Taschenbuch 654), [Frankfurt a. M.] 1982, 51ř–52ř. DіќєђћђѠ LюђџѡіѢѠ, Leben und Meinungen berühmter Philosophen (PhB 5řȦ54), Hamburg 2 1967, Bd. 1, Buch II, řř, Kap. V: Sokrates, 90.
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lach über die Narrheit der Welt oder wein’ über sie, du wirst beides bereuen; entweder du lachst über die Narrheit der Welt oder du weinst über sie, du bereust beides.Ⱥ27
Besonders scheitert die Eheschließung daran, nämlich an der unendlichen Reflexion, und wenn diese noch nicht ins Bewußtsein getreten ist, wie das bei Don Juan der Fall ist, bei diesem Genie der sinnlichen Unmittelbarkeit im ebenso außermoralischen Medium der Musik, wie die Oper des Amadeus Mozart zeigt, so wird dennoch deutlich, wie Don Juan sich nicht binden kann, unbewußt aber dabei getrieben wird von einer substantiellen, d. h. unreflektierten Angst,Ⱥ28 die ihn am Ende töten muß, nämlich durch das steinerne Standbild des Komtur wird er erschlagen. Die vor- und außermoralische erotische Naivität ist implizit selbst geistbestimmt, nämlich in der Form jugendlicher Begeisterung, die aber an ihrer Absolutheit und Unendlichkeit, mit der sie ihre Eroberungen aufzählt (aufgezählt von Leporellos Registerarie), zugrundegeht. Die geistlose Version des alt werdenden Don Juan ist die Figur des Casanova, der über seine Affären seine Memoiren schreibt, der Alte, der sein Leben führte als connaisseur, als Kenner, der Genießer. Ein gegenwärtiger Film, der weiszumachen versucht, Casanova habe die Frau seines Lebens in allen Ausschweifungen gesucht, ist ignorant und eine Geistlosigkeit in Potenz, vom Geist aus gesehen: in Impotenz, und zwar in unsrer geistlosen Zeit, die die Unglücks- samt Schulderfahrung des sinnlich-ästhetischen Lebensstils in Aus- und Abrede stellt. Der Ästhe27
28
Kіђџјђєююџё, Entweder-Oder I (Anm. 19), 41f. (SV I, 22f.). Es ist die Dialektik von Lust und Unlust, die den Willen, das Begehrungsvermögen als Mittler von Intellekt und Affekt ‚unmittelbar‘ bestimmt, weshalb A bald Wünsche hat wie eine ‚Wöchnerin‘ auf einen „Teller Buchweizengrütze – ich gäbe mehr als mein Erstgeburtsrecht dafür“. Marcel Proust vorwegnehmend heißt es weiter: „Ich erinnere mich von meiner Schulzeit her, wir bekamen immer am Mittwoch Buchweizengrütze. Ich erinnere mich, wie glatt und weiß die Grütze angerichtet war, wie mir die Butter entgegenlachte“ (ebd., 28; SV I, 11). Und weshalb A bald „schlechterdings nichts“ mag: „Ich mag nicht reiten, das ist eine zu starke Bewegung; ich mag nicht gehen, das ist zu anstrengend; ich mag mich nicht hinlegen, denn entweder müßte ich liegenbleiben, und das mag ich nicht, oder ich müßte wieder aufstehn, und das mag ich auch nicht. Summa summarum: ich mag schlechterdings nichts“ (ebd., 20; SV I,4). Erst ‚die Doppelbewegung‘ des Glaubens, die der ‚unendlichen Resignation‘ und somit dem Nicht-Wollen stattgibt, indem sie alles verlorengibt, kommt zu neu gewonnener Endlichkeit und somit zum rechten Wollen, wie an Abraham in Gen 22 deutlich und in Furcht und Zittern (Kіђџјђєююџё, Werke [Anm. 2], 4. Abt., ř4ff.; SV III, 87ff.) entwickelt wird. Wer glaubt, gleicht äußerlich einem Spießbürger, doch: „Er macht ständig die Bewegung der Unendlichkeit, aber er tut es mit solch einer Richtigkeit und Sicherheit, daß er ständig die Endlichkeit herausbekommt“ (ebd., 40; SV III, 91). Daran fehlt es dem A. Jedoch die Unendlichkeit, die in Richtung der ‚unendlichen Resignation‘ läuft, verfolgt er untersuchend weiter. Kіђџјђєююџё, Entweder-Oder I (Anm. 19), 1ř9 (SV I, 108).
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tiker A stellt tiefgründige Untersuchungen an über die jetzige Unmöglichkeit solcher unschuldigen, sich außermoralisch haltenden sinnlichen Unmittelbarkeit, ist doch die jetzige Zeit der Moderne bestimmt durch die Subjektivität, deren Geistigkeit und Sinnlichkeit vom Christentum das Unendliche abbekommen hat. Man nehme Goethes Faust, der sich geistig nicht bescheiden kann, sondern erkennen will, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘, doch ‚leider‘ erfährt, ‚daß wir nichts wissen können‘, was ihn dazu führt, verführt durch Mephisto, diese Leiderfahrung des Denkens sinnlich wettzumachen, was nur geht, wenn das Leiden sich auf die Leidenschaften überträgt und den Leidenden fortreißt auf eine unbestimmte unendliche Fahrt, woher das Wort ‚Erfahrung‘ ja kommt. Auf eigene Faust fährt Faust, seine Schuld Gretchen gegenüber wird überfahren durch höhere Selbstverwirklichung, mag sie sich auch in Teil II durch Arbeit politisch und schließlich religiös geben und das ‚uns‘ hinanziehende Ewig-Weibliche als Motiv strebenden Sich-Bemühens, als Weg zur Erlösung deuten, am Ende bleibt die falsche Verklärung, nämlich Verbrämung Gretchens, alias Frederikens und anderer Lebensabschnittsgefährtinnen, mariologisch manipuliert. Gretchen kann nicht instrumentalisiert werden, Herr Geheimrat, wird Sören Kierkegaard unter einem anderen Pseudonym und in Wiederaufnahme des Themas von Entweder-Oder I später sagen.Ⱥ29 Verlorene Unschuld hat er sich als 25jähriger ins Tagebuch notiert nach dem ‚großen Beben‘ unter der Überschrift „Kindheit“ das Zitat: „Halb Kinderspiele,Ȧ Halb Gott im Herzen. Goethe“Ⱥř0: die Wendung ist genommen aus Faust I, der Szene 20, wo ‚Böser Geist‘ hinter Gretchen im Dom auftritt und spricht: „Wie anders, Gretchen, war dirs,Ȧ Als du noch voll UnschuldȦ Hier zum Altar tratst,Ȧ Aus dem vergriffnen BüchelchenȦ Gebete lalltest,Ȧ Halb Kinderspiele,Ȧ Halb Gott im Herzen !“ Der A ist also kein Bruder Leichtfuß, sondern thematisiert in seiner eigenen Befindlichkeit die Lage, besonders diejenige, die sich mit der grenzenlosen Sehnsucht, die ihre Bestimmung nicht fassen kann, ergibt, auch in der Erfahrung von Leid nicht. Hier vergleicht A die antike Antigone, die über ihren Vater Ödipus trauert, nämlich eine begrenzte
29
ř0
Vgl. „Allerlei über die Ehe wider Einwände von einem Ehemann“, darin „Exkurs über Goethe“, in: Stadien auf des Lebens Weg. Studien von Verschiedenen. Zusammengebracht, zum Druck befördert und herausgegeben von Hilarius Buchbinder, 1845 (Kіђџјђєююџё, Werke [Anm. 2], 15. Abt., 156ff. [SV VI, 142ff.]). Tagebücher I (Anm. 2), řř4 (Pap. V A 57): „Was ist doch Goethe anderes in ‚Aus meinem Leben‘ als ein begabter Verteidiger dummer Streiche. An keinem Punkt hat er die Idee verwirklicht; aber er schwatzt sich von allem los (von Mädchen, von der Idee der Liebe, vom Christentum usw.), das kann er.“ Kіђџјђєююџё, Tagebücher I (Anm. 2), 22ř (Pap. II A 802).
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Zeit, um dann frei zu sein, als Handelnde aufzutreten gegenüber dem Tyrannen Kreon, dem sie, heiliges Recht einfordernd, die Tat ihres Ungehorsams, den Leichnam ihres Bruders begraben zu haben, erklärt. Der jetzigen modernen Antigone hingegen schlägt die Trauer als unendlicher Zustand nach innen, dehnt sich durch Reflexion aus als in sich geängstigter Zustand, als Traurigkeit, die alle Handlung und Verbindlichkeit nach außen auflöst. Hier habe ich nun alsogleich eine Bestimmung des modernen Tragischen. Angst ist nämlich eine Reflexion und ist insofern von Trauer wesentlich verschieden. Angst ist dasjenige Organ, mit dem das Subjekt sich die Trauer aneignet und sie sich assimiliert. Angst ist die Kraft derjenigen Bewegung, mit der sich einem die Trauer ins Herz bohrt.
Es ist „Selbstbeschäftigung der Angst mit der Trauer“.Ⱥř1 „Der Unterschied fällt nun leicht in die Augen. In der griechischen Tragödie beschäftigt sich Antigone überhaupt nicht mit des Vaters unglücklichem Geschick.“Ⱥř2 Die moderne Antigone, in der sich Kierkegaard verschlüsselt sieht, „weiht ihr Leben der Trauer über des Vaters, über ihr eigenes Schicksal“.Ⱥřř Wie sehr Kierkegaard in der Analyse des A die Tendenz unsrer künftigen Literatur traf, ist abzulesen nicht nur an den folgenden Stücken Antigone von Jean Anouilh oder von Eugene O´Neill Trauer muß Elektra tragen (1947) (Mourning becomes Elektra [19ř1]), auch die Figuren in den Stücken bis heute halten nur noch innere Monologe, auch wenn sie äußerlich sprechen, sind Figuren der Verschlossenheit.
ř1 ř2
řř
Kіђџјђєююџё, Entweder-Oder I (Anm. 19), 166 (SV I, 1ř1). Ebd., 167 (SV I, 1ř2). Kierkegaard nimmt mit dem Wechsel von Substanz zum Subjekt Hegel auf und in Anspruch, freilich darin wiederum grundsätzlich konträr, daß die existentiell potenzierte Erfahrung darüber, thematisiert an Angst und Schuld, die überkommen, eine erneute ‚Gleichzeitigkeit‘ der bei Hegel unterschiedenen Bewußtseine des ‚für es‘ und des ‚für sich‘ im ‚für uns‘ (Phänomenologie des Geistes) hervorbringt. Deswegen kann man Sören Kierkegaard nicht als das „unglückliche Bewußtsein“ in Hegel zurückdatieren. Vgl. dazu HюћѠ-Gђќџє Gюёюњђџ, „Das Erbe Hegels“, in: Gadamer-Lesebuch, hg. v. Jђюћ Gџќћёіћ (UTB 1972), Tübingen 1997, 240f. gegenüber Positivismus und Historismus, die sich an Hegels Philosophie des objektiven Geistes anschlossen: „Jene Theorie der ‚Gleichzeitigkeit‘, die Kierkegaard aus religiösen und theologiekritischen Gründen dem ‚Verstehen auf Abstand‘ entgegengesetzt hatte – 1924 durch die Diederichsausgabe der ‚religiösen Reden‘ (‚Leben und Walten der Liebe‘) zu überzeugender Wirkung gelangt –, kam mir zu Hilfe. Aber bereits eine meiner frühesten Denkerfahrungen hatte mich – auf dem Umwege über Kierkegaard und mit paradoxer Begeisterung für den Assessor Wilhelm in ‚Entweder-Oder‘ – zu Hegel geführt, ohne daß ich es ganz realisierte.“ So gibt es eine phänomenal-hermeneutische Relektüre von Hegel, durch Kierkegaards Kritik an ihm vermittelt. Kіђџјђєююџё, Entweder-Oder I (Anm. 19), 169 (SV I, 1ř5).
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Also ist die Frage aller Fragen, wie man aus ihr herauskomme, oder besser: wie man zuerst einen passenden Schlüssel zu seiner Verschlossenheit finde, und zwar einen Passepartout zu all den einzelnen Türen, hinter denen sich ein Mensch denkend, wollend und fühlend verschlossen hält. Kann er sich outen und dadurch befreien? Der Ästhetiker A ist davon nicht überzeugt. Aber er gibt ungewollt einen Hinweis auf einen möglichen Weg ins Freie, den drückt er durch das Gegenteil aus. Er, der immer Unglückliche, ironisch als glücklich sich Tarnende, lache über die sogenannten guten Menschen, heißt es in einem Diapsalm, der dann schließt mit den Worten: „Wofern die guten Menschen mich nämlich dahin bringen könnten, wirklich Unrecht zu haben, wirklich Unrecht zu tun – ja, dann hätte ich verloren.“Ⱥř4 Die Erfahrung von Schuld, anders ausgedrückt, wäre der Schlüssel, das Rettende, was sich der Ästhetiker, so positiv gewendet, nicht sagen, geschweige denn mitteilen kann. Ob es sein Freund, der Ethiker B, mit Namen Wilhelm vermag? Aussichtslos scheint der Zugang, denn am Schluß von Entweder-Oder I steht „Das Tagebuch des Verführers“, das A nicht selbst verfaßt, sondern aufgefunden haben will, das nun aber seine These der Unvereinbarkeit von Erotik und Moralität doppelt erhärtet und so die Tür zu ihm selbst doppelt verriegelt. Es führt den über Don Juan und Faust hinausgehenden reflektierten Verführer vor, der die moralische Sanktion nicht übergeht, sondern eigens setzt, um durch Aufhebung derselben das erotische Erlebnis in Potenz herauszubringen, er verführt das Mädchen doppelt: erst geistig und dann sinnlich. Johannes, so heißt er, macht einem Freund namens Edvard die Cordelia auf raffinierte Weise abspenstig, indem er in dessen Beisein und später im Beisein der Tante des Mädchens einen von aller Erotik ablenkenden Chat über alltägliche Dinge des Haushalts und der Marktpreise macht, um den Freund in dessen blöder Zuneigung, die immer direkt ist, auszubooten. Dann verlobt er sich plötzlich mit ihr, aber nur, um sie zu dem Einverständnis in die folgende Entlobung zu überreden, also geistig zu verführen, nämlich zu der Meinung, daß eine ethische Bindung wahre Liebe unmöglich mache; nachdem dies dem Verführer gelungen ist, was seine eigentliche Absicht war, folgt nur noch eine Liebesnacht, das, was man heute einen one night stand nennt, an den Johannes nicht mehr erinnert sein will. Von der doch nicht ganz emanzipierten Cordelia schreibt er am Schluß in sein Tagebuch: „Wäre ich ein Gott, so täte ich für sie, was Poseidon für eine Nymphe getan: ich verwandelte sie in einen Mann.“Ⱥř5
ř4 ř5
Ebd., 44 (SV I, 25). Ebd., 48ř (SV I, 412).
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III. Der Herausgeber Victor Eremita setzt auf das Titelblatt des zweiten Teils von Entweder-Oder, das die Papiere des Ethikers B enthält, das Motto, entnommen dem französischen Schriftsteller Chateaubriand, hier auf deutsch: „Die großen Leidenschaften sind einsam, und sie in die Wüste bringen heißt, sie ihrem Reich zurückbringen.“Ⱥř6 Die solitären Passionen, die nicht solidarisch sind, sondern alle Solidarität verwüsten, indem sie zur ethischen Verbindlichkeit untauglich sind, müssen in die Wüste ziehen, dorthin, wo der Einsiedler ein Sieger über sich selbst geworden ist, um sich Rat und Heilung zu holen, die Wüste ist der biblisch konnotierte Ort für solches Geschehen der Selbstklärung und -findung seit Israels Zeiten. Die Leidenschaften, die Vernunft und Willen affiziert, zur Grenzenlosigkeit angemacht haben, müssen also getauft, bestimmt werden, damit sie ihrem Reich, nämlich solidarischer Beziehungen, der Geselligkeit von Menschen, auch von Mann und Frau, zurückgegeben werden können. Das versucht der Freund auf wirklich freundliche Weise an dem einsamen und unglücklichen A, d. h. als wirklich guter Mensch, der sich seines glücklichen Verheiratetseins und Im-Beruf-Stehens nicht rühmt, sondern, obwohl Jurist, es auf literarische Weise unternimmt, nämlich Intellekt und Affekt zugleich bedienend, d. h. überzeugend und überredend zugleich. Die Verschlossenheit des Adressaten und Ansprechpartners ist sogleich durchschaut:Ⱥř7 Doch wie kann da geraten werden? Thematisiert werden muß der Knoten, in dem sich alles bündelt, nämlich die These von A, daß sich der Eros als Inbegriff von Leidenschaft nicht binden lasse, sich also auch nicht sozial einbinden könne in einer ř6
ř7
Kіђџјђєююџё, Entweder – Oder Zweiter Teil, 2. u. ř. Abt., Motto auf der Titelseite: „Les grandes passions sont solitaires, et les transporter au désert, c’est les rendre à leur empire.“ Chateaubriand. Vgl. zur Sache, insbesondere zum Thema affectus fidei, Lќѡѕюџ Sѡђієђџ, „‚Meine Seele ist betrübt bis an den Tod.‘ Gethsemane als geometrischer Ort der Gewißheit bei Martin Luther und seinen Nachfolgern in der Frühen Neuzeit“, in: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, hg. v. Jќѕюћћ AћѠђљњ Sѡђієђџ in Verbindung mit Rюљѓ Gђќџє Bќєћђџ u. a. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 4ř), Wiesbaden 2005, 218–249. Vgl. Kіђџјђєююџё, Entweder-Oder II (Anm. ř6), 111. 124. ř55f. (SV II, 96. 107. 298f.) Das andere Wort für ‚Verschlossenheit‘ ist ‚Schwermut‘ und wird von dem Ethiker B theologisch bestimmt im Sinne der acedia; ebd., 201 (SV II 171): „Indes Schwermut ist Sünde, ist eigentlich eine Sünde instar omnium, denn es ist die Sünde, nicht tief und innerlich zu wollen, und dies ist eine Mutter aller Sünden. Diese Krankheit, oder richtiger diese Sünde ist in unsrer Zeit recht allgemein; es ist z. B. diejenige, unter der das ganze junge Deutschland und Frankreich seufzt.“ Vgl. zu Verschlossenheit und Schwermut über sich: Kіђџјђєююџё, Werke (Anm. ř), Die Tagebücher. Zweiter Band. Ausgewählt, neugeordnet und übersetzt v. HюѦќ GђџёђѠ, DüsseldorfȦKöln 196ř, 224–2ř2 (Pap. VIII 640–650).
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Ehe. Dagegen setzt B zwei Untersuchungen mit den Überschriften: „Die aesthetische Giltigkeit der Ehe“ und: „Das Gleichgewicht zwischen dem Aesthetischen und dem Ethischen in der Herausarbeitung der Persönlichkeit.“ Auf die Persönlichkeit kommt es an, daß sie sich herausarbeite, indem sie zuerst als Selbst sich selbst wählt und danach als Person sich in Beziehung setzt zu einer anderen Person. Bevor sie so ethisch wird, muß sie ihre Selbstwahl dadurch zustandebringen, daß sie sich in dem unterbringt, der diese Selbstwahl und dadurch die Bindung in Freiheit in Person ist und geschafft hat, das ist Gott, der biblische Bundesgott, der der Urgrund der eigenen Selbstwahl ist.Ⱥř8 Religiosität als solche hilft nicht, denn sie hat dieselbe Grenzenlosigkeit der Passion an sich, B zeigt das an dem traurigen Beispiel eines Bekannten von sich, einem ř8
Das nennt der Ethiker B seine ‚Kategorie‘, deren theologischen Gehalt er hochphilosophisch, gebildet an Schleiermacher und Schelling, so ausdrückt: „Indem ich also absolut wähle, wähle ich die Verzweiflung, und in der Verzweiflung wähle ich das Absolute, denn ich bin selbst das Absolute, ich setze das Absolute und ich bin selbst das Absolute; aber als damit schlechthin gleichsinnig muß ich es sagen: ich wähle das Absolute, welches mich wählt, ich setze das Absolute, das mich setzt […] Was ich wähle, das setze ich nicht, denn wo es nicht gesetzt wäre, könnte ich es nicht wählen“. Entweder-Oder II (Anm. 18), 227 (SV II, 191f.). Die Wendung vom ‚Sich-setzenals-gesetzt‘ hin zum ‚Sich-wählen-als-gewählt‘ ist die entscheidende Neuerung bei Kierkegaard, die den Idealismus kritisch ein- und überholt durch den „existierenden Denker“, der theologisch die Rede von Gott als Person, von absolut erwählender Liebe und damit auch von Anfechtung (bzw. Prüfung Abrahams in Furcht und Zittern) möglich, ja notwendig macht, wie die Entweder-Oder begleitenden Erbaulichen Reden mit den entsprechenden Texten (Jak 1,12: „Selig der Mann, der die Anfechtung erduldet“ und 1Petr 4,8: „Die Liebe wird decken der Sünden Menge“; vgl. o. Anm. 4–6) verdeutlichen. Daß der biblische Gott sich selbst erwählt in Absolutheit als der Liebende und sich als der zornige Gott zugleich in dem Gekreuzigten verwirft, hat Karl Barth in seiner Gottes- und Erwählungslehre (Kirchliche Dogmatik II,l und II,2) zu Ende gedacht, mit Hilfe von Kierkegaards Kategorie der Wahl in die des Bundes biblisch übertragen, was in meine obige Darstellung von B eingeflossen ist. Dessen fortfahrende Rede: „Selbst der Jude, der da Gott wählte, wählte nicht absolut“ ist kein Antijudaismus, sondern geht auf die eschatologische, d. h. endzeitliche und somit end-gültige, heilsgeschichtliche Situation, die eine menschliche absolute Selbstwahl, als von Gottes absoluter Selbstwahl in Christus gewählt (Eph 1,4), allererst ermöglicht: welche Situation von jüdischer Seite als (noch) nicht gegeben angesehen wird. Wie sich das absolute Sich-Wählen in Verzweiflung auf Denken und Dichten Jean-Paul Sartres ausgewirkt hat, der ohne das Gewählt-Sein auszukommen versucht, weil ‚zur Freiheit verurteilt‘, ist deutlich, nämlich konsequent darin, daß von der eschatologischen Situation des Verdammten aus das christliche Credo per nefas, d. h. modern, rekapituliert wird. Daß Gen 22 in Furcht und Zittern von der eschatologischen Situation aus gelesen wird, ist ebenso deutlich, weil sonst die ‚Gleichzeitigkeit‘ des jetzig Angefochtenen mit Abraham nicht denkbar wäre, weder im verschwiegen angesprochenen Glauben, noch durch die entsprechende „Dialektische Lyrik von Johannes de Silentio“, wie die indirekte Mitteilung des Untertitels von Furcht und Zittern lautet.
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Ludwig Blackfeld, der als reiner Mystiker verschwebt, kein Gegenüber sucht und hat geistig und folglich mit einem Selbstmord endet, um sich endlich auch physisch loszuwerden.Ⱥř9 Wer aber den Gott des Glaubens wählt, findet seine Grenze an der göttlichen Person, in die er die Absolutheit der Leidenschaft setzen und abtreten kann, um in einem guten Sinne relativ zu werden, also in eine mögliche und geheilte Relation zu seinem Nächsten tritt, den er nicht mehr durch die solitäre Absolutheit des ungebundenen Ichs zu überformen oder zu zerstören braucht. Ist dies geglückt, meint B, wird z. B. auch die Ehe glücken und das Schöne des Sinnlichen, des Ästhetischen überhaupt allererst wahr werden und zur Erscheinung kommen. Da erscheint die Frau nicht mehr als Mittel zum Zweck, sondern als Mittlerin des Glücks, was den Ethiker zu der begeisterten Rede führt, um A zu gewinnen, er schreibt: Ich bin Ehemann und insofern Partei, aber es ist meine Überzeugung: wenn gleich ein Weib den Menschen ins Verderben gestürzt hat, so hat sie es doch ehrlich und redlich wieder gut gemacht und tut es noch; denn von hundert Männern, die irregehn in der Welt, werden neunundneunzig durch das Weib errettet, und einer wird errettet durch unmittelbare göttliche Gnade.Ⱥ40
Wie solche Errettung im Ehealltag ausschaut und als Beleg dafür angeführt wird von B, daß die Frau eine Künstlerin ist im Verständnis und im Umgang mit der Zeit, an deren Unendlichkeit ein Philosoph scheitert, während die Frau, als Vertreterin der Endlichkeit sie meistert, das wird durch folgende Geschichte humorvoll von B dem A erzählt. Das sei hierher gesetzt: Irgendwo in Holland lebte ein Gelehrter. Er war Orientalist und verheiratet. Eines Mittags kommt er zur Zeit des Essens nicht ins Speisezimmer, obwohl man ihn gerufen hat. Sein Weib wartet sehnsüchtig mit der Mahlzeit […]. Endlich entschließt sie sich, selbst hinüberzugehen […]. Da sitzt er allein in seinem Studierzimmer […]. Er ist in seine orientalistischen Studien vertieft. Ich kann mir vorstellen, sie hat sich über ihn gebeugt, den Arm um seinen Hals gelegt, in sein Buch hinuntergeguckt, dann ihn angesehen und gesagt: ‚Lieber, warum kommst Du nicht zum Essen?‘ Der Gelehrte hat sich wohl kaum die Zeit genommen, auf das, was sie sagte, zu achten; er hat aber vermutlich, als er sein Weib sieht, geantwortet: ‚ja, mein Mädchen, es kann jetzt von Mittagessen gar keine Rede sein, hier ist eine Art der Vokalisierung, wie ich sie bisher noch nicht gefunden habe […] siehst Du diesen Vokalpunkt hier? man könnte verrückt über ihn werden.‘ Ich kann mir vorstellen, sein Weib hat ihn halb lächelnd, halb vorwurfsvoll angesehn, weil so ein kleiner ř9
40
Entweder-Oder II, 260–26ř (SV II, 219–222). Der Abschiedsbrief von Blackfeld an B schließt mit den Worten: „Ein Selbstmord ist der negative Ausdruck für die unendliche Freiheit. Er ist eine Gestalt der unendlichen Freiheit, aber ihre negative Gestalt. Heil dem, welcher die positive findet.“ Ebd., 220 (SV II, 186).
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Punkt die ganze häusliche Ordnung stören sollte, und die Sage berichtet, sie habe geantwortet: ‚ist das etwas, das man sich so zu Herzen nehmen soll, das ist ja nichts andres wert, als daß man darauf pustet.‘ Gesagt, getan; sie pustet und siehe, die sonderbare Vokalisierung ist fort. Froh eilte der Gelehrte zu Tische, froh, daß die Vokalisierung verschwunden war, froher noch über sein Weib.Ⱥ41
B fährt fort: „Soll ich Dir die Moral von der Geschichte sagen? Wäre jener Gelehrte nicht verheiratet gewesen, so wäre er vielleicht verrückt geworden […].“ Man sieht die Überredungskunst des Ethikers, dessen humorige Art aber zugleich argumentativ und auf Überzeugung aus ist: das Rettende für die unendlich mit sich befaßte und in sich kreisende Reflexion des Ichs ist die Endlichkeit, für die der Ehepartner einsteht: das ist hier die Frau, die Rollen können auch anders verteilt gelesen werden. Der Freund Wilhelm ist sich indes bei aller Beredsamkeit dessen bewußt, daß er zwar viel Aufschlußreiches hat sagen können, aber aufschließen selbst noch etwas anderes ist. Er schreibt am Schluß: „Dein Wesen ist zu verschlossen, als daß ich glaubte, es könne zu etwas führen, mit Dir zu sprechen“, „in der verschlossenen Maschinerie“ seiner Persönlichkeit müsse A sich selbst nun verarbeiten.Ⱥ42 Dennoch steuerte B später noch etwas Letztes, als „Ultimatum“ eigens bei, nämlich eine Predigt eines befreundeten jungen Pfarrers, der gerade sein Examen, übrigens nur mit der Abschlußnote ‚genügend‘, gemacht und seine erste Stelle ‚in der jütischen Heide‘ angetreten hat. Du verstehst, geneigte Leserin Seele, die indirekte Mitteilung des Autors an sich selbst und so an Regine, daß es hier sein muß, in der jütischen Heide, wo die Predigt gehalten und woher sie allein wirksam sein kann, nämlich wo der Fluch gewesen, da muß der Segen wahr werden, um die Schuld zu vergeben und die Schwermut zu heben. So wäre die vom Vater ererbte Schuld mit Schwermutsfolge beruflich, d. h. ethisch zu verarbeiten, ist die geheime Note Sören Kierkegaards. Im Jahr 1846 hat er noch einmal den Anlauf, ins Pfarramt zu gehen, unternommen, vergebens. Die ultimative Predigt hat als Text die Heimsuchung Jerusalems (Lk 19,41ff. auf den 10. Sonntag nach Trinitatis) und trägt die Überschrift „Das Erbauliche, welches in dem Gedanken liegt, daß wir Gott gegenüber allezeit Unrecht haben“.Ⱥ4ř Menschen gegenüber haben wir immer teilweise Recht und teilweise Unrecht, aber wer will nur immer teilweise sein, wo es um das Ganze geht !Ⱥ44 Zumal 41 42 4ř 44
Ebd., ř29f. (SV II, 277). Ebd., ř55f. (SV II, 298). Ebd., ř61 (SV II, ř06). Der Prediger (Sören Kierkegaard) wendet hier dieselbe Dialektik an wie Schleiermacher in § 4 seiner ‚Glaubenslehre‘ in bezug auf die immer teilweise Erfahrung
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einer Individualität, die unteilbar ist, wie ihr Fremdwortname ja sagt, heißt doch das lateinische individuum auf griechisch ¥tomon: das, was nicht geteilt werden kann und also sich nicht mitteilen kann einem anderen Menschen, der auch unteilbar ist. Der große Philosoph Leibniz hat die Seele eine Monade genannt, die ohne Fenster ist:Ⱥ45 kann nicht aus sich heraus, noch nicht einmal aus sich herausschauen, und keiner kann zu ihr hinein, auch nicht mit Hilfe der Psychologie in sie hineinsehen. So ist die Seele von sich aus verschlossen, so daß man sein Unglück geradezu in der Menschwerdung des Menschen, in seiner Individuation sehen muß, wie der Philosoph Arthur Schopenhauer meinte in seinem Werk Die Welt als Wille und Vorstellung, erschienen 1819, das Kierkegaard in seiner späteren Zeit gelesenȺ46 und darin sein Thema der Verschlossenheit wiedererkannt hat, aber als Lösung genau das Gegenteil vertritt zu Schopenhauer, der meinte, der Mensch müsse durch Askese seinen Lebenswillen verneinen, sich also wie in der Weltanschauung des Buddhismus ins Nichts auflösen: Nein, der unfreie Wille wird allein frei dadurch, daß er sein wahres Habenwollen bekommt, und das ist, ohne daß er’s weiß: Unrecht haben wollen, wie die Liebe es will.
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von Freiheit und Abhängigkeit, wie sie in der Welt stattfindet, so daß die Absolutheit oder Schlechthinnigkeit in ein transzendentes Woher gesetzt werden muß, und zwar, weil es keine Erfahrung absoluter Freiheit gibt (ich erfahre mich in meinem Bewußtsein als gesetzt), in der Weise des ‚schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls‘. Die Predigt macht es strenger reformatorisch mit der Liebe, die ihre Unbedingtheit im schlechthinnigen Unrechthaben, nämlich gegenüber Gott (coram Deo), hat und dem Nächsten gegenüber sucht. Wie A ja sein Verlorenhaben im Schuldigwerden, dialektisch gesprochen, gesucht hat als existentielle Bedingung der Möglichkeit, ethische Person zu werden (s. o. Anm. ř4). Zur hermeneutischen Relevanz überhaupt: „Es gibt einen wunderschönen religiösen Aufsatz [!] von Kierkegaard ‚Über das Tröstliche in dem Gedanken, daß wir gegen Gott allzeit Unrecht haben‘. Dieser Trost, der hier in einer religiösen Wendung begegnet, ist in Wahrheit eine unsere ganze menschliche Erfahrung formende Grundgegebenheit. Wir müssen den Anderen und das Andere achten lernen. Dazu gehört, wir müssen lernen, unrecht zu haben. Wir müssen lernen, im Spiel zu verlieren – das fängt mit zwei Jahren an oder vielleicht noch eher“ (HюћѠ-Gђќџє Gюёюњђџ, Das Erbe Europas. Beiträge, Frankfurt a. M. 21990, ř0; ёђџѠ. zur selben Kierkegaardschen Predigtüberschrift: „Hermeneutik und ontologische Differenz“, 1989, in: Gadamer-Lesebuch [Anm. ř2], 278). Gќѡѡѓџіђё Wіљѕђљњ Lђіяћіѧ, Monadologie (PhB 25ř), Hamburg 1956, 28f. ř4f. (cap. 7 und 19). Vgl. Kіђџјђєююџё, Tagebücher. Fünfter Band. Ausgewählt, übersetzt und erläutert v. HюѦќ GђџёђѠ, DüsseldorfȦKöln 1974, 195–200 (Pap. XIȦ1, 144), „Über Arthur Schopenhauer“ aus dem Jahr 1854. Kierkegaard besaß von Schopenhauer die zweite und verbesserte Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1–2, Leipzig 1844; dazu die Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften, Bd. 1–2, Berlin 1851; und Die beiden Grundprobleme der Ethik, Frankfurt a. M. 1841; vgl. NіђљѠ TѕѢљѠѡџѢѝ, Katalog over Søren Kierkegaards Bibliotek, Kopenhagen 1957, Nr. 772–775, 60.
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IV. Aber dazu, um das zu erfahren, bedarf es der Heimsuchung durch Gott, die macht, daß man alles verliert, sich als Verlorener verstehen darf, um alles wieder zu bekommen, wie Hiob und wie Abraham erfuhren, womit sich die nächsten Bücher des Jahres 184ř befassen mit den Titeln Die Wiederholung und Furcht und Beben: Ja, Hiob bekam alles wieder, was er verloren hatte, seine Kinder zurück und seinen Besitz sogar doppelt wieder, aber auf die Weise, daß er, der Gott anklagte, Recht bekam, indem er vor dem Schöpfer Unrecht bekam. Und Abraham in der Erzählung von Isaaks Opferung (Gen 22) gab der Prüfung statt, indem er Isaak verlorengab, und zwar doppelt: ethisch und religiös verlorengab, aber am Glauben festhielt, daß der biblische Gott ihm den Sohn und Träger der Verheißung wiedergebe, wie anders hätte er seinem unwissenden Kind, das ihn fragte auf dem Weg zum Berg Morija, wo das Opfertier sei, antworten können, nach außen scheinbar ironisch,Ⱥ47 aber nach innen glaubend verborgen, Gott werde sich ein Opfer ersehen, Abraham also festhielt gegen Gott an Gott, der ein Gott der Zukunft ist, die eröffnet, was sprachlich in dem Futur des Verbs liegt und in der Einigkeit des Gehens von Vater und Sohn: „Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander“ (Gen 22,8). Noch einmal: Abraham „kann nicht reden“, was aber paradox dialektisch in eins geht mit dem Schweigen aus Glauben, der weder ethisch noch religiös davon ab- und ausweicht, wie Johannes de Silentio durch die vier imitatorischen Szenen dartut,Ⱥ48 in denen er den biblischen Abraham experimentell ersetzt durch einen Abraham, der sich redend und handelnd ‚äußert‘ und daran scheitert. In Szene I gehorcht Abraham der ethischen Forderung, sich zu öffnen, was er als Vater liebevoll zu tun versucht, muß sich aber, weil Isaak um sein Leben bittet, als bösen Vater verstellen, um das Geschehene zurückzunehmen, d. h. den Glauben des Kindes an Gott (dessen Kinderglauben) zu retten, mit der Folge: der Sohn verliert den Vater. Hier mißlingt, was in der Mutter-KleinkindsBeziehung gelang, was sogleich als Gegenbild, sprachlich eindringlich, hingesetzt wird: Wenn das Kind entwöhnt werden soll, schwärzt die Mutter die Brust, es wäre ja auch eine Sünde, daß die Brust lieblich aussähe, wenn das Kind sie nicht haben darf. So glaubt das Kind, daß die Brust anders geworden 47
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„Seine Antwort an Isaak hat die Gestalt der Ironie, denn es ist immer Ironie, wenn ich nichts sage und dennoch etwas sage.“ Kіђџјђєююџё, Furcht und Zittern (Anm. 27), 1ř6 (SV III, 164). Vgl. ebd., 8–12 (SV III, 6ř–67).
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ist, aber die Mutter ist, wie sie war, ihr Blick ist liebend und zärtlich wie immer. Wohl dem, der keiner furchtbareren Mittel bedarf, das Kind zu entwöhnen !
In Szene II verstummt Abraham, aus gegenteiliger ethischer Ohnmacht, das biblisch mögliche Schweigen in das unmögliche Verstummen verkehrend, was bewirkt, daß die Geschichte abläuft, als wäre nichts geschehen, mit der Folge, daß Abraham fortan „alt“ war, was, von einem Überhundertjährigen gesagt, bedeutet, daß die biblisch betagten Eltern des Isaak jung gewesen sind: „wer aber glaubt, bewahrt eine ewige Jugend.“Ⱥ49 Durch Verstummen alt geworden, geht durch ethisch bedingte Sprachlosigkeit auch der Vater dem Kind, von diesem freilich unbemerkt, verloren, wohingegen die Mutter bei der Entlassung des Säuglings ins Kindesalter jung bleibt. Das Gegenbild: „Wenn das Kind groß wird und entwöhnt werden soll, so verhüllt die Mutter jungfräulich den Busen, dann hat das Kind keine Mutter mehr. Wohl dem Kinde, das nicht anders die Mutter verliert.“ Wie die ethische Alternative von Reden und Nichtreden scheitert, so auch die religiöse Alternative von Handeln und Nichthandeln. Das wird in den Szenen III und IV geschildert. In der ersteren entschließt sich Abraham, gegen sein ethisches Gewissen, dieses religiös überhöhend, den geliebten Sohn als „sein Bestes“ Gott zu opfern, wird aber durch die Ablehnung des Opfers auf sich und seine Schuld zurückgestoßen, was ihn zeitlebens bestimmt und schwermütig macht, was Isaak nicht unbemerkt bleiben konnte, ja ihn ebenso bestimmte, nämlich mit ‚stiller Verzweiflung‘. Das Leid der Mutter im Gegenbild dagegen ist kurz: Wenn das Kind entwöhnt werden soll, so ist auch die Mutter nicht ohne Leid, daß sie und das Kind immer mehr geschieden werden; daß das Kind, welches zuerst unter ihrem Herzen lag, und darnach doch noch an ihrer Brust ruhte, ihr nicht mehr so sein soll. So leiden sie miteinander das kurze Leid. Wohl dem, der das Kind so nahe bei sich behält und nicht nötig hat, größeres Leid zu tragen!
In der Szene IV geschieht das Gegenteil, aus derselben religiösen Ohnmacht heraus, nämlich sich handelnd entweder positiv oder negativ zur Prüfung durch Gott zu verhalten, hier nämlich nicht mehr durch höchstinnere Zustimmung, sondern durch höchstinnere Verweigerung, dies durch die verkrampfte Hand des Messer haltenden Abraham anzeigend: das ‚Erdbeben‘ der Gottverfluchung, was Isaak sah und beide verlor: den irdischen Vater und den Weg zum himmlischen Vater im Erwachsenenalter. Aber die Mutter hat die Nahrung ‚danach‘: „Wenn das Kind entwöhnt werden soll, hat die Mutter die kräftigere Nahrung 49
Ebd., 16 (SV III, 71).
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bereit, damit das Kind nicht verhungere. Wohl dem, der die kräftigere Nahrung bereit hat!“ Eine eigene frühere FormulierungȺ50 aufgreifend: „Das Tiefste, was Kierkegaard mit der Interpretation von Gen 22 leistet, ist, daß er einer archaischen Geschichte ihre eigene, durch Aufklärung verdorbene (Ablehnung von Menschenopfern), Bedeutung zurückgibt: Daß in der Vater-Kind-Beziehung ein Opfergang spielt im Prozeß des Mündigwerdens. Das Kind opfern müssen, d. h. es aus der Unmittelbarkeit nehmen und es ins Verhältnis setzen zur Geschichte der Erwachsenen, die eine Geschichte ist von Verlust und Trauer, von Schuld und Verzweiflung. Da ist der Glaube das Heilmittel: das die Verschlossenheit erlösende hindurchtragende Schweigen. Und das Zusätzliche will auch bemerkt sein: Indem Kierkegaard im Refrain das gelingende Mutter-KleinkindVerhältnis im Ablöseprozeß zum mißlingenden Vater-Kind-Verhältnis, in dem das Erwachsenwerden thematisch ist, intoniert, wird, doppelt reflektiert, eine Hindeutung auf die heilende Kraft der zweiten Unmittelbarkeit, nämlich des GlaubensȺ51 gegeben.“ So bringt sich Kierkegaard verschwiegen unter in Gen 22, doch so, daß der (auch heutige) Leser sein Unterkommen findet.Ⱥ52 Hat Gott der HErr nicht gerade durch seine amoralische Forderung, daß der Vater den geliebten Sohn opfere, also die ethische Gültigkeit aufgehoben, für einen Augenblick suspendiert, um einer armen Indivi50 51 52
Lќѡѕюџ Sѡђієђџ, „Die Selbstseelsorge Kierkegaards – Oder die andere Antwort auf die ‚Gottesvergiftung‘“, in: NZSTh ř7 (1995), 242–285, hier 266. „Der Glaube ist nämlich nicht die erste Unmittelbarkeit, sondern eine spätere.“ Kіђџјђєююџё, Furcht und Zittern (Anm. 27), 91f. (SV III, 1ř0). Vgl. dagegen die Lesefrucht: „Kierkegaard schreckt also in ‚Furcht und Zittern‘ nicht davor zurück, das Verbrechen zu bejahen, indem er die Möglichkeit eröffnet, dem Verbrecher eine Dimension des Heiligen anzuerkennen“, in: Kierkegaard. Ausgewählt und vorgestellt von BќџіѠ GџќѦѠ (Philosophie jetzt ! [dtv ř0688]), München 1999, ř5. Hierzu Kierkegaard: „Es bleibt stets mein Verdienst in der Literatur, die entscheidenden Bestimmungen des ganzen Umfangs des Existentiellen derart dialektisch scharf und ursprünglich dargelegt zu haben, wie es – zumindest meines Wissens – in der Literatur noch nicht geschehen ist; und ich habe auch keine Schriften gehabt, bei denen ich Rat suchen konnte. Ferner meine Kunst der Mitteilung, ihre Form, ihre folgenrichtige Durchführung; aber es gibt niemanden, der Zeit hat, ernsthaft zu lesen und zu studieren; insofern ist bis auf weiteres mein Schaffen vergeudet, wie wenn man Bauern erlesene Speisen vorsetzt“ (Tagebücher II [Anm. ř7], 6ř [Pap VII A 127]). Die erlesene Speise der vier Szenen hat sich die Textauswahl von Groys aus ‚Furcht und Zittern‘ (204), reduziert auf das mütterliche Gegenbild IV, entgehen lassen, was wunder, daß der den Autor Vorstellende „die kräftigere Nahrung“ nicht „bereit hat“, stattdessen mit solcher Magermilch, ja Molke aufwartet: „Man kann sich heute kaum des Eindrucks erwehren, daß dieser berühmte Verlobungsbruch seitens Kierkegaards bloß ein literarischer Kunstgriff war, der ihm erlaubt hat, in das Schreiben einzusteigen“ (ř8f.).
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dualität, die unfähig ist zur Ethik, eine Lücke zu machen, daß sie sich unterbringe, von da aus, zu Gott gelangt, von oben die ethische Personwerdung anzupacken? Da ging der biblische Gott sogar soweit, seine eigene Verheißung für einen Moment auf dieses Ziel hin, d. h. teleologisch zu suspendieren,Ⱥ5ř war Isaak doch der einzige Verheißungsträger, hat sich so nicht nur amoralisch, sondern areligiös (nämlich das Opfer ablehnend) verhalten, damit ein Mensch nicht meine, der Glaube müsse erlangt werden dadurch, daß man sein Ethos und seine Religiosität dazu als Stufenleitern hinzu bringen müsse. Brauchst kein ethischer und kein religiös veranlagter Mensch zu sein, verloren zu sein, behindert zu sein reicht aus; schuldig geworden zu sein, es zu sein vor Gott, sprengt das Schloß der Verschlossenheit auf. Diesen Glauben kann man nicht einfach outen,Ⱥ54 kann ihn nur indirekt mitteilen, daß er sich eines Augenblicks dann öffne. Bis dahin kann eine verschlossene Seele sich unterbringen in den biblischen Texten, die eine besondere literarische Gattung sind, Intellekt und Affekt im Willen willentlich und im Begehrungsvermögen vermögend machend, kraft einer biblischen Poetik und Machart nämlich,Ⱥ55 die machen kann mit der Macht des Wortes, daß eines Menschen Verschlossenheit entschlüsselt wird, einem Jeden der Schlüssel zu sich selbst und so zu seinem Nächsten in die Hand gegeben wird – mit Hilfe der Predigt, der (nach reformatorischem Verständnis) das Schlüsselamt zukommt, das absolvo te, ich löse dich, mag die Auflösung zunächst auch nur darin bestehen, daß mir mitgeteilt wird, ich sei kein Problem, sondern ein Rätsel, das seine Lösung auch dann in sich hat, wenn man es hier und jetzt, in diesem Leben, nicht errät. So hat Sören Kierkegaard neben seinen theoretischen Büchern immer Predigten zu diesen veröffentlicht, die er aber ‚Reden‘ genannt hat, weil er damit achten wollte die Tatsache, daß er zum Predigtamt nicht ordiniert war,
5ř 54
55
Vgl. Kіђџјђєююџё, Furcht und Zittern (Anm. 27), „Problema I Gibt es eine teleologische Suspension des Ethischen?“, 57 (SV III, 104). Weshalb der Verfasser von Furcht und Zittern unter Pseudonym Johannes de Silentio heißt, zu Deutsch: Johannes vom Schweigen, der den Glauben schweigt, um auf Abraham hinzudeuten, dessen Schweigen vom Glauben durchgetragen wurde, so kann man sein Schweigen, das nach außen Nicht-reden-Können ist, als Glauben nur indirekt mitteilen. Der biblische Text (Gen 22) allein vermag beides zugleich: reden und schweigen; ist redend verschwiegen und schweigend beredt. Hierzu immer wieder: Eџіѐѕ AѢђџяюѐѕ, „Die Narbe des Odysseus“, in: DђџѠ., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946, 7–ř0. Daher kommt der Predigt die Priorität in der eigentlichen Form von ‚indirekter Mitteilung‘ zu, wenn denn die Predigt sich prädizieren läßt vom Text, was in den ‚Erbaulichen‘ und ‚Christlichen‘ Reden bei Kierkegaard nachahmend (mimetisch) geschieht. – die Kierkegaard stilistisch imitierend im Untertitel von Furcht und Zittern ‚Dialektische Lyrik‘ nennt.
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mußte er sich doch als Rätsel annehmen, das sich rätselhaft darin blieb sein Leben lang, daß er nicht sein durfte wie andere Menschen, die einen Beruf erlangen und durch Heirat einen geliebten Menschen dazu, doch hat er seinen Vater bei aller Kritik an ihm über alles geliebt, was er zum Ausdruck brachte dadurch, daß er die Erbaulichen Reden des Jahres 184ř (von denen es drei Bücher gab !) und die folgenden darauf der Jahre 1844 und 1845 alle ihm widmete, wußte er doch, daß er ihm das eigentliche Erbe verdankte, nämlich die Schuld, die eine schon von sich aus unglückliche Individualität braucht als Stoff, um sich zu bearbeiten. Hätte sie dieses Material nicht, erst dann wäre sie endgültig verloren, weil arbeitslos. Und Regine, die er nicht wiedergewann, wie Abraham durfte seinen Isaak in der Zeit, im Tagebuch findet sich die Notiz vom 17. Mai 184ř: „Hätte ich Glauben gehabt, so wäre ich bei Regine geblieben. Gott sei Lob und Dank, das habe ich jetzt eingesehen. Ich war dieser Tage nahe daran, meinen Verstand zu verlieren.“Ⱥ56 Auf seinem Sterbebett hat er weiter davon zu seinem Freund Emil Boesen geredet. Regine Olsen, die sich anders orientiert, sich mit Fritz Schlegel verlobt und 1847 geheiratet hatte, hat Zeichen gegeben, daß sie Kierkegaard in einem tieferen Sinn verstand, als er annehmen konnte.Ⱥ57 Sie, die ihren Mann überlebte und recht betagt geworden ist (1822–1904), erlebte noch, wie mit dem fin de siècle, mit der Krise des Jahrhundertwechsels, Sören Kierkegaard als Schriftsteller erst wahrhaft hervortrat aus der Vergessenheit, in die er bald nach seinem Tod versunken war, zuerst verlacht und dann empört verdrängt, diesen Narren, der sich angemaßt hatte, eine angepaßte Christentumsgesellschaft ins Christentum ‚einzuüben‘, ja, wie rückblickend er schrieb ‚Über seine Wirksamkeit als Verfasser‘, die Menschen ins Christentum ‚hineinzubetrügen‘,Ⱥ58 in Anspielung auf den Apostel Paulus, dessen existentielle Spannkraft des Geistes bei bestehendem ‚Mißverhältnis‘ zwischen Seele und LeibȺ59 sich so ausdrückte: „als die Verführer, und doch wahrhaftig; als die Un56 57
58 59
Tagebücher I (Anm. 2), ř05 (Pap. IV A 107). Vgl. dazu das schöne Buch von Fіћћ Jќџ, Sören und Regine. Kierkegaard und seine unerfüllte Liebe. Aus dem Norwegischen v. Gюяџіђљђ HюђѓѠ, MünchenȦZürich 200ř (beginnend Kopenhagen 1896 mit dem Gang zum Grab von S. K. am 11.11.). Kіђџјђєююџё, Werke (Anm. 2), Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller, 1851, řř. Abt., 6 (SV XIII, 495). – der von sich sagte, ihm sei „gegeben ein Pfahl ins Fleisch“ (2Kor 12,7), womit Kierkegaard die eigene Befindlichkeit, stereotyp Paulus zitierend, bezeichnet fand bis zum Schluß; vgl. seine letzten Worte, mitgeteilt von seinem Freund Emil Boesen an Hermann Gottsched, beginnend mit „Jch hatte meinen Pfahl im Fleisch […]. Das war auch im Verhältnis zu Regine im Wege; ich hatte geglaubt, es könne anders damit werden, aber es konnte nicht, darum löste ich das Verhältnis auf“ (GќѡѡѠѐѕђё, Buch des Richters [Anm. 2], 195).
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bekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht ertötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts innehaben, und doch alles haben“ (2Kor 6,8–10). Kongenial damit schreibt Kierkegaard über sich, dieses Mißverhältnis und die daraus entstehende Spannkraft betreffend, in einer Tagebuchaufzeichnung aus dem Jahr 1846:Ⱥ60 Folgendermaßen habe ich mich in meiner ganzen schriftstellerischen Tätigkeit verstanden. Ich bin eine im tiefsten Sinne unglückliche Individualität, der ich von meiner frühesten Zeit festgenagelt gewesen bin an das eine oder andere bis an den Wahnsinn grenzende Leiden, das seinen tieferen Grund in einem Mißverhältnis zwischen meiner Seele und meinem Leibe haben muß; denn (und das ist das Merkwürdige, zugleich etwas unendlich Mut Machendes) das Leiden steht in keinem Verhältnis zu meinem Geist, der vielmehr durch das gespannte Verhältnis zwischen Seele und Leib eine Spannkraft erhalten hat, wie sie selten ist.
Und: „Wie der, welcher selbst unglücklich würde, falls er die Menschen liebt, gerade den Wunsch hat, andern zu helfen, die es vermögen, glücklich zu werden, ebenso habe ich meine Aufgabe verstanden.“ Woher diese Spannkraft, die das Mißverhältnis zwischen Seele und Leib aushielt? Wenn Spannung entsteht zwischen gegensätzlichen Polen, zwischen dem Plus- und dem Minuspol, und wenn dies das Wesen der Leidenschaft ist, der Liebe Hochspannung zumal, wie Goethes Klärchen im Egmont sich ausdrückt mit „Himmelhoch jauchzend;Ȧ Zum Tode betrübt“, Affekt und Intellekt beisammen haltend mit „FreudvollȦ Und leidvollȦ Gedankenvoll sein“, dann, ja dann ist der Glaube „die höchste Leidenschaft im Menschen“, wie Johannes de Silentio sagt im ‚Epilog‘ zu Furcht und Zittern,Ⱥ61 denn der Glaube hat die höchsten und äußersten Spannungen zwischen Minus und Plus und die Kraft dazu, sie in Liebe auszuhalten und zum Guten anzuwenden – sie zu taufen: woher und auf welche Lösung hin? Die Antwort gibt Kierkegaards Grabstein, auf den er sich zuerst die Aufschrift wünschte „Jener Einzelne“,Ⱥ62 aber dann 60 61 62
Kіђџјђєююџё, Tagebücher II (Anm. ř7), 61f. (Pap. VII A 126). Kіђџјђєююџё, Furcht und Zittern (Anm. 27), 141 (SV III, 167). Freilich zugespitzt im Zusammenhang seiner Verspottung im Magazin Corsar, die Kierkegaard, der sich an den Einzelnen literarisch (in den Erbaulichen Reden ausdrücklich) gewandt hat, dazu nötigte, sich nun selbst in erhöhtem Maße als ‚den Einzelnen‘ gegenüber der Öffentlichkeit (der Presse, der ‚Menge‘ und dem ‚Publikum‘) zu bestimmen: „‚Der Einzelne‘ ist die Kategorie, durch welche, in religiöser Hinsicht, die Zeit, die Geschichte, das menschliche Geschlecht hindurchmuß“ (Tagebücher II [Anm. ř7], 192 [SV VIII A 482]). Daß die Kategorie mit einem „Engpaß“, dem ähnlich „an den Thermopylen“, verglichen wird, kann einen heutigen Leser scheinbar ideologiekritisch (mit Hђіћџіѐѕ BҦљљѠ Wanderer kommst du nach Spa […])
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die Strophe des Dichters Hans Adolf Brorson aus dem Gesangbuch, daß die Strophe da stehe, die verdeutscht heißt: „Noch eine kurze Zeit,Ȧ Dann ists gewonnen,Ȧ Dann ist der ganze StreitȦ In nichts zerronnen.Ȧ Dann darf ich laben michȦ An Lebensbächen,Ȧ Und ewig, ewiglichȦ Mit Jesus sprechen.“Ⱥ6ř In diesem Gespräch, das ewig dauern darf, wird des Rätsels Lösung erfolgen dessen, der bereits erkannt ist bei Gott, wird sich erkennen von Angesicht zu Angesicht (1Kor 1ř,12). Sören Kierkegaard hat sich später zunehmend als Isaak gesehen, dem gegenüber sich der Vater doch direkt geäußert habe, so daß er sich als Ausnahme, ja als Opfer hat verstehen müssen, das Gott dazu gebrauchte, um auf das Außerordentliche seiner Wahrheit aufmerksam zu machen. Der Buchtitel Furcht und ZitternȺ64 durchzieht als einziger Kierkegaards Tagebuchaufzeichnungen und Schriften immer deutlicher und bis zuletzt. Heutzutage ist Kierkegaard wieder vergessen – und die Frage ist, ob die Krise unserer Jahrhundertwende ihn erneut ins Gedächtnis ruft. Als geistlose und verzweifelt spaßige weil depressive Nachwelt sind wir mit dem Verstorbenen gleichzeitig.
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von der Spur bringen, nämlich in einer heute anderen Zeit, da man solch ohnmächtige Appelle an den ‚Einzelnen‘ richtet wie: „Du bist Deutschland“. Kierkegaard an derselben Stelle weiter: „Und doch, wenn ich eine Inschrift auf mein Grab verlangen sollte, ich verlange keine andere als ‚jener Einzelne‘ – ist sie auch jetzt noch nicht verstanden, wahrlich, sie wird verstanden werden.“ GќѡѡѠѐѕђё, Buch des Richters (Anm. 2), 200. Wörtlich die fünfte Strophe des Liedes „Halleluja ! jeg harȦ min Jesus fundet“ von HюћѠ Aёќљѓ BџќџѠќћ (17ř5): „Det er en liden tid,Ȧ sª har je vundet,Ȧ sª er den ganske stridȦ med ét forsvundet;Ȧ sª kan jeg hvile migȦ i rosensaleȦ og uafladeligȦ med Jesus tale“ (Den danske Salmebog, 1977, 582). Zu deutsch wörtlich: ‚Das ist eine kleine Zeit,Ȧ dann hab ich überwunden,Ȧ dann ist der ganze StreitȦ mit einem [Mal] verschwunden;Ȧ dann kann ich ruhen michȦ im RosensaaleȦ und unablässigȦ mit Jesus sprechen.“ Manche Übersetzer ahmen den Reim so nach: ‚im Rosensaal darf ichȦ ohn UnterbrechenȦ auf ewig ewiglichȦ mit Jesus sprechen‘. Der dänische Titel „Frygt og Bæven“, der sowohl auf das „große Erdbeben“ (Tagebücher I [Anm. 2], 221 [Pap. II A 805]) anspielt als auch Phil 2,12f. zitiert im Dänischen, was im Lutherdeutsch nicht ebenso herauskommt, aber doch die Richtung angibt: „Schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirket beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“
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V. Warum fordert Gott Opfer? Predigt über Gen 22,1–19 in der Woche des 2. Sonntags nach EpiphaniasȺ65 ‚Zum Altargang‘ im Geiste Sören Kierkegaards verfaßt und dem gewidmet, der sich in der Geschichte von Isaaks Opferung zeitlebens, wenn nicht verstand, so doch sah. Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich. Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und gehe hin in das Land Morija und opfere ihn daselbst zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde. Da stand Abraham des Morgens früh auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, davon ihm Gott gesagt hatte. Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne und sprach zu seinen Knechten: Bleibet ihr hier mit dem Esel! Ich und der Knabe wollen dorthin gehen; und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen. Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak; er aber nahm das Feuer und Messer in seine Hand, und gingen die beiden miteinander. Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer? Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander. Und als sie kamen an die Stätte, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham daselbst einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz und reckte seine Hand aus und faßte das Messer, daß er seinen Sohn schlachtete. Da rief ihm der Engel des HErrn vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen. Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich in der Hecke mit seinen Hörnern hangen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes Statt. Und Abraham hieß die Stätte: Der HErr siehet. Daher man noch heutigestages sagt: Auf dem Berge, da der HErr siehet. Und der Engel des HErrn 65
Predigt im Abendmahlsfrühgottesdienst am Mittwoch, gehalten in der Reihe zum Thema „Stolperstellen des Glaubens“ hier mit der Frage: „Warum fordert Gott Opfer?“ (Gen 22) am 18. Januar 2006 in der Peterskirche zu Heidelberg.
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rief Abraham abermals vom Himmel und sprach: Ich habe bei mir selbst geschworen, spricht der HErr, dieweil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont, daß ich deinen Samen segnen und mehren will wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres; und dein Same soll besitzen die Tore seiner Feinde; und durch deinen Samen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden, darum daß du meiner Stimme gehorcht hast. Also kehrte Abraham wieder zu seinen Knechten, und sie machten sich auf und zogen miteinander gen Beer-Seba; und er wohnte daselbst.
Liebe Stolperkinder des Glaubens! „Das Kind stolpert über die eigenen Füße“, sagte die Mutter, sagte es zu sich selbst, wenn sie saß, oft spät am Abend, saß an ihrem Nähtisch, aus dem sie das große hölzerne, gelblich gemaserte Stopfei hervorgeholt hatte, mit dem ich immer so gerne gespielt hätte, was ich auch manchmal durfte solange, bis sie den Wollfaden im Munde zwischen den Vorderzähnen gefügig gemacht und eingefädelt hatte in die Nadel, aber entführen ins Kinderzimmer das Ding kam nicht in Frage, weil es gebraucht wurde, und zwar hauptsächlich für meine Strümpfe, wie man sie damals trug als Kind, lange wollene Strümpfe, zwar nicht grob gestrickt von Hand wie zu Großmutters Zeiten, aber doch maschinell feiner gewirkt und befestigt an sogenannten Leibchen, darüber stolpere ich bis heute nicht, obwohl Jeans zu tragen allemal praktischer ist zugegebenermaßen: doch ist es rückblickend vielleicht doch besser, daß etwas Löcher bekommt vom Stolpern und Hinfallen, wie lange Strümpfe einem Kind damals diesen Dienst taten, weswegen die Mutter diesen Satz sagte: „Das Kind stolpert über die eigenen Füße“, den Satz, den das Kind sich merkte, waren doch nicht nur die Strümpfe merklich mitgenommen, sondern auch die Knie, die ebenso versorgt werden mußten, wiesen die ja selbst und strumpfsolidarisch Schrammen und richtige Löcher auf, wenn man heimgekommen war am Abend vom Spielen, gerade man verschorfte Stellen taten sich wieder blutig hervor neben den neu zugezogenen, da gab es beim Ablegen der Strümpfe ein Geschrei, mindestens ein Zusammenbeißen der Milchzähne, wenn sich die Haut- und Wollfäden nicht ohne weiteres trennen wollten voneinander. Ja, das Kind, sagte die Mutter zu sich, das Kind stolpert über die eigenen Füße, hatte es nämlich gesehen, mitansehen müssen, wenn man des Sonntags am Nachmittag spazieren ging und die Kinder voraus zu gehen hatten, aber die gingen eben nicht spazieren, sondern liefen spazieren, rannten und sprangen spazieren, aus dem Stand konnte ich stolpern und hinfallen: „Wo hat das Kind nur seine Augen?“ hieß dann der Satz in Frageform, den ich mir auch als einen erfinderischen oder heuristischen für Stolperstellen in der Heiligen Schrift merkte. Ich hatte meine Augen da,
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wohin die Füße nicht nachkamen. Wie kommen die beiden überein, Füße und Augen? Auch wer größer wurde und seinen Führerschein zu machen hatte, mußte sich die Frage stellen, wie die Füße auf den Pedalen, auf Kupplung sowohl als auch auf Gas und Bremse einerseits, und andererseits die Augen, die vorausschauend zu sein hatten, nicht etwa die Kühlerhaube fixierend, sondern frei nach vorne in Fahrtrichtung, umsichtig auch rechts und links, in den Rückspiegel schauend, aber doch nicht auf die Gangschaltung, geschweige denn auf die Füße sehend, ich bitte, wie bringt ein Anfänger das überein, Füße und Augen?! Wie vermeidet er Stolpern und Hinfallen des Motors, was man ziemlich hart ‚Stottern‘ und blutig ‚Absaufen‘ nennt? Und wenn der Fahrlehrer diese Lücken mit Bemerkungen versah und die Löcher des blutigen Anfängers stopfte, nahm ich Tadel und Belehrung gerne auf und an mit Hilfe der beiden Sätze, die lauteten, ohne laut werden zu müssen, indem sie alles erläuterten mit: „Das Kind stolpert über die eigenen Füße“ und: „Wo hat das Kind nur seine Augen?!“ Erfinderisch wurden mir die Sätze, heuristisch auch nicht nur beim Gehen und Laufen zu Fuß oder beim Autofahren, sondern auch eine Findigkeit wurden beim Gehen und Fahren auf den Lesespuren der Heiligen Schrift, so daß ich jetzt schon vorläufig, d. h. zum guten Ende vorlaufend, antworte auf deine gestellte Frage die Stolperstelle betreffend hier, warum Gott Opfer fordere, ach! und ein solches von Abraham und von Sara – daß ich also dir vorweg, liebe Abendmahlsgemeinde, so antworte, daß dies zu tun hat und haben müsse mit eines Menschenkindes Stolpern und Wo-Augen-haben von Kindesbeinen an: von Mutterleib und anderen Leibchen an, so daß du am Ende singst, es sei alles „unzählig viel zugut“, dir und anderen zugut geschehen, gekommen durch Stolpern und über Stolperstellen hinweg, die dir die Mutter, das ist die Heilige Schrift, freundlich einräumte am Abend, wenn du heimkamst von den Spielen des Lebens, in das ein Erwachsener, immer Kind bleibend, hineinstolpern nur kann, selbst ganze Nationen, sagt man, stolpern in Kriege, siehe, da räumt die Schrift dir mütterlich ein und hat das große Stopfei dazu für zerrissene Strümpfe und blutige Knie, nennen wir das Pflaster einmal so, ein Stopfei des Kolumbus, mit dem man anderntags wieder stolpern und hinfallen kann knielings auf das harte Straßenpflaster, bereitet dir ein eigenes Stolpern und Stellen dazu, die du selbst genannt hast Stolperstellen des Glaubens, die so heißen, weil sie dazu verhelfen, daß ein Mensch, der sein Lebtag ein Kind bleibt, auf unbeholfene Weise stolpere ins Glaubensleben hinein. Ja, wie die Mutter wohl einem Kleinkind und Toddler, wenn es die Ärmchen hochreißt und erste Schritte balanciert, Hindernisse, wie Steine welche sind, aus dem Weg räumt, damit es nicht stolpere, weil solches Stolpern ein Stolpern über etwas ist; wie Lehrpersonen
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jungen Menschen in allem den Weg ebnen, damit ihr Fuß nicht an einen Stein stoße, der nicht zum Bildungsweg gehört; ach! weil ein Toddler und Kleinkind des Studiums beides zugleich nicht kann, nach vorne und auf die Füße sehen, wie man auf dem Hochseil des Lebens doch muß, bedarf es der Väter und Mütter und vieler Lehrenden, die Wege ebnen und Mut machen dadurch, sie auch zu gehen. Wie verkehrt und abwegig hingegen wäre es, wenn eine Mutter meinte, sie könne oder müsse das Hindernis verhindern, daß ein Kind stolpere über die eigenen Füße; wenn sie nicht dasäße des Abends am Nähtisch mit dem großen Stopfei und das Lächeln nicht aufbrächte beim Sagen, das sie zu sich sagt, ob es auch das Kind wohl hören kann, es, das sein Sich noch nicht kennt, das ihm aber schon zu schaffen und stolpern macht: wenn, sage ich, solche Mutter oder ein späterer Lehrer den Unterschied nicht achtete, der besteht und niemals hinfällig wird zwischen dem Stolpern über etwas und dem Stolpern über sich, was man einem unwissenden Kind doch schon anfänglich zugänglich machen kann, indem man für das abstrakte Sich die sinnbildlich konkreten Füße, die eigenen, setzt, wie die Mutter vorbildlich tut, wenn du die ersten Glaubensschritte wagst oder auf die zurückkommen mußt am Abend, dann heißt es in der Schrift, die es immer hat mit den Füßen und mit den Augen, daß man beides zusammenbringt, aber mit den Füßen beginnt sie im Dunklen am späten Abend mit: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte“ (Ps 119,105) und fährt fort am Morgen mit: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen“ (Ps 121,1) und bringt beides zusammen mit der Hilfe, die kommt von da, aber mit Hilfe von lieblichen Füßen der Boten (Jes 52,7), die die Stolperstellen des Glaubens nicht wegerklärt und so aus dem Weg geräumt haben, in der fälschlichen Meinung, das sei ein Etwas: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast und gehe hin […], das zu beseitigen sei mit Hilfe einer Erklärung, die dem Verstand, der hier stolpert, forthilft mit der Auskunft, die ganze Geschichte von Isaaks Opferung, daß Gott sie gefordert habe, sei ein religionsgeschichtliches Überbleibsel von archaischen Menschenopferbräuchen, daß die hier von den Israeliten als abrogiert und abgetan erklärt werden, ach! erwachsen gibt sich solcher Erklärverstand, schon dadurch, daß er die Glaubenden, die sich selbst Kinder Israel nennen, zu „Israeliten“ wegrevidiert und umvernünftelt in den mütterlichen Bibeltexten, als wären die Menschenkinder darin über alles Stolpern hinaus und dem Hinfallen mit Löchern in Strümpfen und Knien entwachsen: ‚Wir machen den Weg frei‘ heißt die Reklame der Volksbank, die sich die Unterscheidung von Etwas und Sich erspart und drolliger Weise einen Menschen, ausgestattet mit einem Kredit, über den Abgrund passieren läßt im Bild, wozu aber ein Credo nötig wäre, daß man hinüberkäme, ein Sich auf der einen zum Selbst auf der
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anderen Seite, eine Hängebrücke mit Hängepartie ist das, daß einen fordert, eine Forderung, die kein Mensch von einem anderen fordern kann, sondern nur der, der nicht Gott heißt abstrakt und allgemein, sondern der Gott ist Abrahams, Isaaks und Jakobs: der Gott, der an den Stolperstellen mit diesen Namen erkannt wird: ach! der kommt uns heute zu dicht, daß wir Ihn nicht mehr ertragen, der Gott mit dem Ich und dem Sich, durch dessen Verhalten und Verhältnis zu mir ich anfange, ein Verhältnis zu mir, zu mir selbst zu bekommen, von Kindesbeinen an durch ungezähltes Stolpern, aber doch von Ihm „unzählig viel zugut bis hierher hat getan“. * Bis hierher? Wo der Glaube, meiner und deiner, stolpert, und zwar nicht nur einmal mit dem Verstand, daß man solches nicht fordern könne und tun, einen Menschen zu opfern, daß dies ethisch nicht zu verantworten sei, verstärkt durch die Widerrede des Gefühls nicht nur der Mitmenschlichkeit überhaupt, sondern, ich bitte dich, des eigenen Bluts, nicht als daß ich das hinzuerfände, sondern habe die herzangreifende Rede gehört wie du, die Forderung, die darauf abhebt, daß ein Herz, ein Vaterherz, darüber stolpert, dies: deinen einzigen Sohn, den du liebhast, wenn du ein Stethoskop hieltest an die Stelle, wo’s innen stolpert, du würdest als Arzt oder Ärztin dringend Ruhe verordnen, wegen Herzrhythmusstörungen das ja nicht zu unternehmen, was Abraham sich dennoch vornahm am Abend, als er heimgekommen war zu Sara und zu den andern im Haus mit den blutigen Knien, das dennoch zu tun gegen sein Herz, in dem sich biblisch das Selbstverhältnis hält und wo sich unterhalten miteinander Verstand, Wille und Gefühl, da liest du, als wäre nichts dabei: Da stand Abraham des Morgens früh auf und gürtete seinen Esel […] Alltäglich scheint alles, an der Frühe des Aufstehens nur und daran, daß er alles allein tat, daß er nicht wollte, daß ihm die Knechte zur Hand gehen: und nahm mit sich zwei Knechte, aber den Esel, was sonst deren Geschäft war, den gürtete er selbst, um ja nicht untätig zu stolpern, das kennst du sicher auch, daß man in Lagen, wo man stehen muß, nicht tatenlos untätig sein kann, da nimmt das Sich die Knechte mit sich, das wundert sie, aber Sara ahnte, wenn ich auf ihre Seite einmal treten darf, Sara, die früher Sarai hieß und er Abram, als sie beide noch Anfänger gewesen sind im Glauben, er mit gerade man 75 und sie mit 65 Jahren, Sara, die sein frühes Aufstehen und Alles-alleine-Tun-Müssen bemerkte und verstand dadurch, daß sie sein Verhalten in Beziehung und ins Verhältnis zu setzen wußte zu früher, weißt du, als das erstemal der Verstand ins Stolpern geriet, ihrer beider Verstand, mag es auch Saras Gefühl gewesen sein, das darüber stolperte, sich vom Haus und ihrer Freundschaft in Ur urplötzlich zu trennen, um in ein Land zu ge-
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hen, „das ich dir zeigen will“ (Gen 12,1). Wenn der Verstand etwas als richtig erkennt, dann verlangt, dann fordert er, daß Wirklichkeit und Einsicht übereinstimmen, zur Deckung gebracht sind, einander adäquat sind, dann ist die Wahrheit einer Rede definiert als adaequatio rei et intellectus. „Und der HErr sprach zu Abram: Gehe […] in ein Land, das ich dir zeigen will“, zeigen werde, das ich dich sehen lassen werde, genau übersetzt, da stolpert der Verstand über die eigenen Beine, weil die Wirklichkeit, die, die vor der Hand und vor den Füßen liegt, außer Reichweite der Augen liegt, in irgendeiner Zukunft, wo hast du nur deine Augen? Widersinnig war das und unpraktisch dazu, wenn du die Sache mit Sarai bedenkst, die keinen Möbelwagen mit Kostenvoranschlag in Auftrag geben konnte, gesetzt selbst den Fall, eine Firma hätte sich darauf eingelassen, es ohne zu machen, hätte aufladen lassen, die Sachen der ganzen Mischpoche, da kommt einiges an Hausstand zusammen mit 75 und 65, und dann, ja dann würde der Fahrer am Steuer den Motor angelassen haben und die bis dahin unterdrückte Frage stellen: ‚Und wohin soll’s gehen, bitte?‘ Soll dann Sarai, weil Abram sich nicht blamieren will, die Rede Gottes des HErrn übernehmen und antworten: In ein Land, das ich Ihnen zeigen werde, wie? Nein, da mußten sie, Abram und Sarai alles alleine packen und machen, den Verstand opfern, nicht wahr, der über die Unwahrheit der Gottesrede gestolpert war, über die eigenen Füße, die ihre Augen haben sollten woanders, daß sie nicht spazieren gehen, sondern spazieren springen sollten über die Stolperstelle, die macht, daß, wenn man sie nimmt, mit Löchern in Strümpfen und Knien, man einen um Gottes Wahrheit bereicherten Verstand zurückbekommt, einen Glaubensverstand, der reicher ist an Sehen und mutiger im Gehen. Auf den Kopf gefallen, was wehtat, hat man dann einen Kopfstehverstand, der mit den Augen geht und mit den Füßen bereits am Ziel ist, wie Kinderspiele sind, wo man einander zuruft: ‚Was sollen wir machen?‘ und echot: ‚Kopfstehn und lachen!‘ „Da zog Abram aus, wie der HErr zu ihm gesagt hatte“ (Gen 12,4). In diesen Rückspiegel hätte er schauen können, nicht wahr, meinst du? Ach, hätte, wenn noch gegolten hätte, was auch im zweiten Rückspiegel noch galt, dieses „Ich will“ und „Ich werde“: als das nächste Opfer gefordert wurde, das ihres Willens, der zusammenhing mit dem Versprechen, der großen Verheißung, die willentlich gesagt wurde: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (Gen 12,ř), weshalb die Großfamilie ja aus- und umgezogen war, die Familie aus lauter Erwachsenen und Alten in Richtung der Völkerfamilie, die die Großfamilie Gottes des HErrn, des Schöpfers und Erlösers, werden sollte: aber, ich bitte dich, was du vergaßest, mein lieber Verstand, wo war das Kind, das man leicht vergißt zu bekommen heutzutage, aber damals konnte man es nicht vergessen bei solcher Verheißung, nicht
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wahr? Wollen mußten Abram und Sarai ein Kind, mit und bei so hohem Alter, wo andere Urgroßeltern sind, da mußten sie es um so sehnlicher wollen und wünschen, damit das Versprechen seinen Lauf nehmen konnte. Da mußten sie den Wunsch nach dem Kind in dem festmachen, der sagte: „Ich will“ und: „Ich werde!“ Mochte auch die Erfüllung des Wunsches lang auf sich warten lassen, es mußte doch unterwegs sein, das Kind, das sonst neun Monate dauert, aber hier, stolpere jetzt, Wille, dauerte 25 Jahre, da war das Ehepaar sehr alt geworden an Jahren, betagt (Gen 18,11) nennt man solch Greisenalter gnädig, weil jeder einzelne Tag dann zählt: aber der Wunsch, Gottes Wunsch und Wille erfüllt zu sehen, hielt sie jung, denn nichts hält so jung und den Willen bei Kräften wie der Glaube, der durch Stolpern über die eigenen Füße und seine Augen haben in Fahrtrichtung in Gang, ja auf die Sprünge gekommen ist, mag man äußerlich auch sitzen auf der Rasenbanke „an der Tür seiner Hütte“ (Gen 18,1) oder drinnen walten als tüchtige Hausfrau: die beiden hatten bewegte Zeiten, die sie unterscheiden lehrte zwischen dem, was Gottes Wille und was Eigenwille ist. Und wie sie zuvor das sacrificium intellectus gebracht hatten und nicht mehr fragten: Warum fordert Gott Opfer?, weil sie danach ja einen viel besseren Verstand zurückbekamen; so machten sie hier „im Hain Mamre“, der aussah wie ihres Alters Sitz, den Sprung in das nächste, sie williger und lustvoller machende Opfer, nämlich das sacrificium voluntatis, des Eigenwillens, was sich zeigte, wie du weißt, als sie Besuch bekamen von den Dreien, wie da das Springen losging mit dem Tischdecken, und wie Saras Herz hinaussprang ihr in den Mund durch Lachen, was auch ein Stolpern ist, aber ein in Verlegenheit frohes. Und das Söhnchen kam über’s Jahr. In diesen Spiegel rückwärts hätte Abraham schauen können, nicht wahr, um vier Kapitel weiter weiter nach vorne zu schauen und die Füße auf dem Spazierweg zu halten vor dem Angesicht Gottes. Ich gebe dir recht versuchsweise, frage dich nur zurück, was Zurückschauen hier und jetzt helfen könnte, nämlich mit der Hilfe von Entsprechung und Analogie, wo Gott der HErr sein Sprechen und Logos zurückzunehmen im Begriffe war, was keiner begreift, nicht des Glaubens Verstand und Wille! Springen da im Rückblick nicht die alten Narben und Stolperstellen unterm Schorf blutig wieder auf, werden durch dieses erneute und unvergleichliche Hinfallen nicht hinfällig die glücklich geendeten Opfer? Woran soll sich der bessere Verstand, gelernt seit dem Auszug, und der Wille, der sich festmachte allein in dem, der sagte: „Ich will“, woran soll sich das glaubende Herz halten, das Versprochene bewahren und bewegen, wie Maria tut in der Weihnachtsgeschichte, dem Engel und den Hirten glaubend, wenn dem Versprechen widersprochen wurde, dadurch daß das Kind, welches des Werdens und Gehens und
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Sehens einziger Grund ist für die Füße und Augen des Glaubens: wenn das Kind in seiner Einzigkeit auch, soll ich sagen herzlos genau, genannt wird: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, wenn das genommen wird? Geschenkt ist geschenkt, wiederholen ist gestohlen, sagen die Kinder. Da stolpert das Herz des Glaubens und du bittest, mit dem Dichter Heinrich von Kleist zu reden, auf den Knien deines Herzens, mein Abraham, der du menschlicher Vater bist an zweiter Stelle, was an zweiter Stelle genannt wird in dem Satz, der fordert, deinen Sohn, den du liebhast, das ist die zweite und nachgeordnete Stelle, die einen Vater stolpern macht schmerzlich auf menschliche Weise: aber an vorderster Stelle der Forderung, was die Forderung einzig macht und unvergleichlich, durch Zurückschauen in keinem Spiegel begreiflich, was sie einzigartig, aus aller Art fallen, soll ich sagen: zur Unart macht, ja zum Ungehorsam macht, nämlich Gottes gegen sich selbst, daß wer glaubte, wie Abraham tat und mit ihm Sara, die den Weg gegangen sind mit vielen Stolperstellen, ebenso im Begriffe sein müßten, als Glaubenskinder unartig, ja aufsässig zu werden, nach dem Stolpern, das hier ein Stolpern ist aus dem Stand, und nach dem Hinfallen vom Glauben abfallen, den Glauben als Etwas begreifen, den man wegräumen müsse, um seines Weges zu gehen, das Ganze doch mit dem alten Verstand besser erklären, eben als Relikt aus der vergangenen Religionsgeschichte, weg von diesem Gott überhaupt, der sich widerspricht, und gegen ihn die Religion eintauschen, die einem nicht zu nahe kommt weder mit Forderungen noch mit Versprechungen, wäre das nicht folgerichtig und konsequent? Warum fordert Gott der HErr solch Opfer, der an die Grenze geht, ja diese Grenze, welche seine Glaubwürdigkeit ist, unzulässig überschreitet? Daß seine Forderung, die das Opfer fordert, eine Herausforderung meiner ist, herauszugehen aus Vaterland und Verwandtschaft und Freundschaft, also aus Ur, wie Abram und Sarai taten: daß es dafür eine Forderung geben müsse, weil man’s anders nicht täte, um zu sich selbst im Glauben zu finden, das hab’ ich stolpernd endlich verstanden mit neuem Verstand; das hat mein Wille im Schatten seiner Terebinthe nichtwollend wollend, nolens volens schlußendlich angenommen, daß Warten „von einer Morgenwache bis zu der andern“ (Ps 1ř0,5), und das 25 Jahre lang bis du hundert bist und Sara neunzig, daß das nicht willenlos macht die hoffende Seele, die harrt auf den HErrn, da geht sie heraus aus dem Willen, der nur sich will, mag er über sich stolpern zuerst, er fängt an zu gehen, ob er auch äußerlich sitzt „an der Tür seiner Hütte“ oder „steht hinter der Tür der Hütte“ (Gen 18,10), so hat er doch Hand und Fuß zusammen mit Sara, da heben sich die Augen auf dazu, wenn’s erscheint, ein Epiphanias wird und es heißt mit dreimaligem Hinsehen, weil Gott zu dritt kommt: „Und als er seine Augen aufhob
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und sah, siehe […]“ (Gen 18,2): so kommen Füße und Augen überein, das gibt mein neuer und besserer Wille dir zu, liebe Mutter am Nähtisch, die du stopfest alle meine Löcher und verbindest die blutigen Knie, die ich mir zuzog durch die Stolperstellen des Glaubens, nein: deines Glaubens, daß man sie nicht wegräumen dürfe, sondern dalassen müsse, damit ein Kind unterscheide zwischen Etwas und Sich und dabei auf Gott stoße, ja stoße mit Hilfe von Stellen in der Heiligen Schrift, die stolpern machen Verstand, Wille – aber nun auch das Herz, nicht nur das menschliche Herz, das sich hängt an sein Kind, sondern das sich hängte an Gott: wenn du mir das erklären könntest am Abend, damit ich es machen könnte wie Abraham und wie Sara, die ihm zusah dabei und sich nicht anmerken ließ, daß sie es merkte, nämlich aufzustehn, weißt du, wie der aufstand aus dem Stand ohne zu stolpern, des Morgens früh und mich Esel zu gürten, zu gehen, den Dreitageweg, das triduum, um dann die Augen aufzuheben: Am dritten Tage hob Abraham die Augen auf und sah […] (Gen 22,4) – wie machte der das? daß auch ich aufstehen könnte und gehen und sehen und die Antwort wüßte auf das Wie und Wo und Warum, wie Kinder fragen auch in Erwachsenen noch, wie Isaak frug, der das Holz trug, und Abraham hatte aus Vorsicht das Feuer: Wo ist aber das Schaf zum Brandopfer? hieß die kindliche Frage, die klar gestellt war und der Vater auch gestellt durch das Kind. Was antwortest du da am Abend alles Wissens, Wollens und Fühlens, liebe Mutter mit dem Stopfei, das einen Kindermund stopfen hier muß? Weicht nicht der Erwachsene aus, behilft sich mit einer Ausrede, wie? wenn es heißt: Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und die Mutter, die Heilige Schrift ist, die so heißt, weil sie den einzelnen Buchstaben heiligt, die weiß auch, durch welches Wort die Antwort eingefädelt ist, damit das Verstehen geflickt, dem Stolpern und Aussetzen des Herzschlags geholfen wird: das ist das Wörtchen „wird“: Gott wird, wird sich ersehen, sagt Abraham zu sich und zu Isaak, und nur was man zu sich sagt und sagen kann, darf man als Erwachsener seinem Kinde sagen, damit, wenn das Kind erwachsen ist, es dasselbe noch zu sich und weiter zu seinen Kindern sagen könne, und nicht sagen müsse, die Väter und Mütter hätten es getäuscht – und darum erst wirklich abfallen müßte von Gott und dem Glauben. Siehe, das ist ein eigener Ungehorsam, der Gott gegen Gott festhält, den Psalm gelernt hat, der das vormacht mit den Worten: „Mein Herz hält dir vor dein Wort: ‚Ihr sollt mein Antlitz suchen.‘ Darum suche ich auch, HErr, dein Antlitz“ (Ps 27,8). Man muß die Schrift gegen den Vater zitieren, sagt die Mutter, das Widerwort machen mit dem eigen Wort, nicht mit deinem eigensinnigen und eigenwilligen Wort, sondern eigensinnig und eigenwillig mit Seinem Wort Ihm widersprechen. Ach! da hat Abraham wohl doch am
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allerletzten Ende in die Rückspiegel geschaut, ins Antlitz Gottes geradezu hinein und IHM ins Gesicht gesagt sein „Ich will“ und „Ich werde“, ins Gesicht, ins fragende, seines Söhnchens sagte er es, dieses Gott wird, da kannst du dir denken, daß Gottes Herz darüber stolperte, über solche Stelle, die Ihn stellt, Ihm vorhält sein Wort, daß es das Herz tue seinem Herzen. Daß das Herz unterscheide zwischen Glaube und Glaubwürdigkeit, die falsche Vorhaltungen macht, solche des alten Verstandes und des alten Willens und eines Glaubens, der nicht stolpern und seine Augen nicht woanders haben will, den unversuchten Glauben stattdessen, den Satz nicht wahrhaben will und versteht, mit dem die Geschichte hier beginnt: Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham. Die Geschichte von Abraham und Isaak, die diese Nachgeschichte hatte und bekam, daß es wurde und immer noch wird, womit die Geschichte zum glücklichen Ziel gelangte, mit der erneuerten Zusage an Abraham: und durch deinen Samen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden (Gen 22,18). Warum fordert Gott Opfer? Daß man das Opfer von IHM verlange, das er zusagte uns aus den Völkern und gab in der Tat mit seinem einzigen Sohn, den er liebhat, sich selbst begab auf den Stolperweg mit blutigen Knien zu uns. Da stehen wir früh auf des Morgens und heben die Augen auf zum Berg Morija, das ist unser Golgatha, wo am Gekreuzigten wir sehen den, der uns sieht, an seinen Füßen und Augen, die übereinkamen mit sich und mit uns, kann man es sehen. Und Abraham hieß die Stätte: Der HErr siehet. Daher man noch heutigestages sagt: Auf dem Berge, da der HErr siehet. Das ist die Vorgeschichte dazu, sagt die Mutter, das ist die Heilige Schrift beider Testamente. * Du fragst immer noch, fragst, ob es nicht Menschenopfer auch heute gebe und das nach alledem, nach Gottes Selbstopfer, das er uns gab mit dem Lamm, das auch das Schaf und den Widder ablöste von diesem Dienst, daß der Mensch stolpere über sich selbst und so in Gott hinein: du fragst weiter deine Warum-Frage, wie Kinder tun, auch Kinder Gottes immerfort und dabei die Mutter löchern mit zerrissenen Strümpfen und blutigen Knien: Warum, fragst du, es Menschenopfer heute noch gebe, danach, nach diesen Geschichten damit Menschenkinder versuche, hast nämlich die Stolpersteine gesehen, die auch so heißen und gelegt wurden in der Stadt Hamburg, auf den Trottoirs, das ist: den Bürgersteigen, wo früher jüdische Bürger wohnten, ihre Häuser hatten und Geschäfte, da sind nun in die Pflastersteine ihre Namen eingeschrieben worden, eingepflastert mit unauslöschlichen metallenen Buchstaben – da stolpern die neuen Anwohner wohl und mancher Passant geht in die Knie, um zu lesen. Warum? Damit ein Menschenkind, vornehmlich ein deutsches aus den Heiden, das gesegnet worden ist durch Abrahams Samen,
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aufmerksam werde, es werde mit Hilfe der Schuld, die Sünde heißt, auf Gottes Nähe, die nahekommt durch sein eigen Fleisch und Blut, das er annahm vornehmlich und zuerst von dem erwählten Volk, das bedenke, wenn du fragst nach den Stolpersteinen, die Stellen sind, die unsereins nicht wegräumen darf aus dem Weg. Und wenn du fragst, warum diese Steine mit den Namen nicht schreien und ihrerseits Antwort fordern auf das von ihnen geforderte Opfer, so wisse, daß ihnen allen Antwort werden wird nach allen Geschichten, nach denen es keine Versuchung mehr geben wird: am Tag des HErrn nämlich, auf den die Opfer, die Gott der HErr forderte und gebrauchte, mit ihrem Warum zu Fuß hingehen und die Augen erheben am dritten Tag, nachdem sie aufgestanden sein werden des Morgens früh, wie Abraham tat. Da wird es manches Fragen noch geben mit dem kindlich gestellten Warum, auch von Isaaks Seite, der nicht hatte vergessen können im Leben seine Verschonung, warum er gebunden worden sei und so dicht an den Engel geriet, daß er sein folgendes Leben verstehen mußte als Opfer, wie ein Menschenkind sich versteht wegen hoher Verletzlichkeit nach solcher Geschichte, wenn man Abraham zum Vater hat, der der Vater des Glaubens ist, mit Stellen, du weißt schon, da hat ein jedes Kind die eigenen, über die es stolpert mit den eigenen Füßen und die es muß mit eigenen Augen sehen: da gibt es erst Antwort auf das letzte Warum, wenn man die Frage stellt von Angesicht zu Angesicht. Aber daß man etwas machen kann daraus, obwohl die Antwort, die letzte, noch aussteht, nämlich durch Festhalten am kleinen Wort ‚werden‘, das ein helfendes Hilfszeitwort ist, das zeigt dir hier die Geschichte mit ihrem see you later, nicht erst am Jüngsten Tag, sondern danach, wie Abraham, stolpere nur, mein Herz, in der höchsten Not am Fuße des Berges sprach zu seinen Knechten: Bleibet ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen; und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen (Gen 22,5). Und gingen die beiden miteinander, zweimal, sagt die Mutter, die die Schrift liest sorgsam genau, zweimal steht der Satz da Und gingen die beiden miteinander (V. 6 und V. 8), daß niemand meine, daß zwischen Abraham und Isaak, zwischen deinem Glauben und deinen Glaubensvätern und -müttern könne ein Etwas sein, das sie trennt, sondern was sie unauflöslich verbindet in aller sonstigen Trennung, das sind die Stolperstellen des Glaubens.
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Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude; A und O, Anfang und Ende steht da. Gottheit und Menschheit vereinen sich beide; Schöpfer, wie kommst du uns Menschen so nah! Himmel und Erde, erzählet’s den Heiden: Jesus ist kommen, Grund ewiger Freuden. Jesus ist kommen, ein Opfer für Sünden, Sünden der ganzen Welt träget dies Lamm. Sündern die ewge Erlösung zu finden, stirbt es aus Liebe am blutigen Stamm. Abgrund der Liebe, wer kann dich ergründen? Jesus ist kommen, ein Opfer für Sünden. Jesus ist kommen, die Ursach zum Leben. Hochgelobt sei der erbarmende Gott, der uns den Ursprung des Segens gegeben; dieser verschlinget Fluch, Jammer und Tod. Selig, die ihm sich beständig ergeben! Jesus ist kommen, die Ursach zum Leben.Ⱥ66
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Jќѕюћћ LѢёѤіє Kќћџюё Aљљђћёќџѓ, 17ř6; EG 66,1.6.8 auf Epiphanias.
Gregor von Nyssa: Isaaks Opferung (Gen 22) Aus dem GriechischenȺ1 übersetztȺ2 von Tѕђќёќџ Mюѕљњюћћ Hat nun unsere Rede bei euch hinreichend verteidigt, daß die häretische Ungleichheit [von Vater und Sohn] von den Lehren der Frömmigkeit abzugrenzen ist?Ⱥř Oder sucht ihr wie vor Gericht, daß die Sache 1
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Gџђєќџ ѣќћ NѦѠѠю (um řř5–ř94), „De deitate filii et spiritus sancti et in Abraham“, ed. EџћђѠѡѢѠ Rѕђіћ, in: Gregorii Nysseni Sermones, pars III, cur. Fџіђёѕђљњ Mюћћ (Gregorii Nysseni Opera 10Ȧ2), LeidenȦNew orkȦKöln 1996, 115–144, hier 1ř0,12–140,18. – Nach Adolf Martin Ritter wurde diese Rede „gehalten vor den Teilnehmern eines auf kaiserliche Einladung anberaumten ,Religionsgespräches‘ zu Konstantinopel im Juni ř8ř“ (Alte Kirche, ausgewählt, übersetzt und kommentiert v. Aёќљѓ Mюџѡіћ Rіѡѡђџ [Kirchen- und Dogmengeschichte in Quellen 1], Neukirchen-Vluyn 1977, 182). – Zur Überlieferung der Rede, zur Verfasserfrage und zur Wirkungsgeschichte des Exkurses Gregors „in Abraham“ siehe den Beitrag von Barbara Mahlmann-Bauer in diesem Band. Die lateinische Übersetzung von Laurentius Sifanus (Migne, Patrologia Graeca, Bd. 46, 554–576, hier 566–574) wurde verglichen. – Um die rhetorische Struktur hervorzuheben, habe ich den Text durch zahlreiche Absätze gegliedert. – Der Bibliographie zu Gregor von Nyssa. Editionen – Übersetzungen – Literatur, bearb. v. Mюџєюџђѡђ AљѡђћяѢџєђџ und Fџіђёѕђљњ Mюћћ, Leiden u. a. 1988 zufolge existiert von dieser Rede, auch von dem Teil, der in der Überschrift mit „in Abraham“ eigens bezeichnet wird, bisher keine deutsche Übersetzung (die Angabe ebd., ř01 ist irrig und beruht auf einer Verwechslung der beiden Reden, deren Titel mit „De deitate“ beginnen). Das einzige Zitat aus dieser Rede Gregors von Nyssa, das gelegentlich in der Forschungsliteratur erscheint (paraphrasiert bei Fџюћѧ Dіђјюњѝ, Die Gotteslehre des heiligen Gregor von Nyssa […], Diss. Münster 1895, 24, Anm. 2; griechisch bei CѕџіѠѡќѝѕ Kљќѐј, Untersuchungen zum Stil und Rhythmus bei Gregor von Nyssa […], Frankfurt a. M. 1987, 45, Anm. 92), beleuchtet die gespannte, auch das Volk ergreifende dogmengeschichtliche Situation der Ausbildung der Trinitätslehre nach den Synoden von Nizäa (ř25) und Konstantinopel (ř81), in der Gregor von Nyssa mit anderen die Homousie Jesu Christi als des Sohnes Gottes mit Gott dem Vater gegen alle Schattierungen der diese Wesenseinheit bestreitenden Arianer (Anhänger des Arius, ca. 260– ca. řř0) als orthodox (dem Zeugnis der Heiligen Schrift entsprechend) begründete und verteidigte. Gregor von Nyssa beklagt sich (nach der deutschen Übersetzung von Adolf Martin Ritter): „Leute […] ohne jede rechte Vorbildung, tragen […] mit dem Anspruch auf Letztgültigkeit theologische Lehren vor […]. Denn sämtliche Ge-
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durch mehrere Zeugen bestätigt wird? So erlaubt mir denn, die Kürze der Rede nach Vermögen weiter auszuführen, indem ich an ein Stück aus der alten Geschichte erinnere. Die Erzählung wird für uns vielleicht nicht abwegig sein. Hört aus der Rede des Apostels, welche die Geschichte Abrahams kurz zusammenfaßt, indem sie sagt [Hebr 6,1ř]: „Als Gott dem Abraham die Verheißung gab, schwor er bei sich selbst, da er bei keinem Größeren schwören konnte, und sagte“, was dort [Hebr 6,14] steht [: „Wahrlich, ich will dich segnen und mehren“]. Da nun wahrscheinlich den meisten der Inhalt der Geschichte unbekannt ist, will ich sie euch kurz, so gut ich kann, erzählen. Gott verpflanzt durch einen Befehl Abraham von seinen Verwandten und seinem Heimatlande [Gen 12,1],Ⱥ4 und der Erzvater befindet sich in einem fremden [Gen 17,8], und hält fest an der Hoffnung der Verheißung. Eine Probe des Festhaltens an Gott brachte für den Mann der zeitliche Aufschub des Erhofften mit sich. Die Verheißung aber bestand darin, daß Abraham der Vater eines Volkes werden sollte [Gen 17,5 (Röm 4,17); 12,2]. Viel Zeit ging dahin, und als er sich bereits dem Greisenalter zuneigte, veränderte sich die Natur, wie es ihr zukommt, und noch stand die Verheißung aus. Wie gewöhnlich erlosch ihm und seiner Gattin im Greisenalter die Kraft, Kinder zu erzeugen. Und dies zeigt die Geschichte ohne Scham an, indem sie sagt, „daß es Sara nicht mehr ging nach der Weiber Weise“ [Gen 18,11], wodurch die Empfängnis bewirkt wird. Und
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genden der Stadt sind voll von derartigen Leuten: die engen Gassen ebenso wie die Märkte, Plätze und Wegkreuzungen; voll von denen, die mit Textilien hökern, an Wechseltischen stehen, uns Lebensmittel verkaufen. Fragst du, wieviel Obolen es macht, so philosophiert dir dein Gegenüber etwas von ,Gezeugt‘ und ,Ungezeugt‘ vor. Suchst du den Preis eines Stückes Brot in Erfahrung zu bringen, so erhältst du zur Antwort: ,Größer ist der Vater, und der Sohn steht unter ihm.‘ Lautet deine Frage: ,Ist das Bad schon fertig?‘, so definiert man dir, daß der Sohn sein Sein aus dem Nichts hat“ (Alte Kirche [Anm. 1], 182f., Nr. „8ř. Der Dogmenstreit und das Volk von Konstantinopel […]“). – Vgl. dazu Aёќљѓ Mюџѡіћ Rіѡѡђџ, „Dogma und Lehre in der Alten Kirche“, in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte […], hg. v. Cюџљ AћёџђѠђћ, Bd. 1: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Katholizität, Göttingen 1982, 200–206, besonders 205f. sowie die Artikel „Arius“ (von Wќљѓєюћє Bіђћђџѡ) und „Gregor von Nyssa“ (von Tѕђќёќџ NіјќљюќѢ) in: Theologenlexikon […], hg. v. Wіљѓџіђё Hѫџљђ und Hюџюљё Wюєћђџ, München 21994, 25f. und 116f. Gregor von Nyssa zitiert, wie zahlreiche wörtliche Anführungen oder Anspielungen zeigen, das Alte Testament nach der Septuaginta. Die Übersetzung kennzeichnet, in […] gesetzt, wörtliche (in „…“ oder ,…‘ gesetzte) oder sinngemäße Zitate aus dem Alten und Neuen Testament, da diese zum Verständnis der Aussageabsicht Gregors unerläßlich sind und sich seine Amplifikationen vor diesem biblischen Hintergrund erst richtig abheben. – Auch gelegentliche erklärende Zusätze sind wie üblich in eckige Klammern gesetzt.
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freilich: der Leib gehorchte der Natur, indem die Jugend sich verbrauchte und zum Alter neigte; die Hoffnung aber auf Gott war alterslos in ihnen und blühte. In diesem Zustand wird ihnen Isaak geboren, damit die Geburt nicht als ein Werk der Natur erscheine, sondern als Wirkung göttlicher Kraft. Darüber freuten sie sich natürlich sehr als über ein Geschenk Gottes. Durch den Knaben lebten sie aus dem Greisenalter wieder auf, reichlich flossen die Quellen der Milch der Alten zum Stillen; die Gealterte reichte dem Kinde die reichlich fließende Mutterbrust dar. Sie rühmte sich des der Natur widersprechenden Wunders und sprach: „Wer hätte wohl Abraham gesagt, daß Sara ein Kind stillt?“ [Gen 21,7]. Dann wuchs das Kleinkind allmählich heran und wuchs auf ins Knabenalter. Und schon befand sich der Knabe in der Blüte der Jugend, auf dem Gipfel der Reife, ein süßer Anblick seinen Eltern, an Reife zunehmend, dem Gipfel entgegen, wobei zusammen mit den Tugenden der Seele die Schönheit des Leibes wuchs. Wie sich wohl die Eltern dazu verhielten, das erwägt, indem ihr dies bei euch selbst überlegt: wie dem Vater zumute ist, wenn er den Sohn spielen sieht oder er sich eifrig betätigt in der Ringerschule, im Schulunterricht, in den Wissenschaften, in [all] d[ies]en so hocherfreulichen Zusammenkünften der Gleichaltrigen. Damit tritt an den Erzvater die Versuchung heran und die Probe, wem er mehr zugesteht: der Liebe zu Gott oder der Neigung zur Natur. Ich zittere, während ich die Grausamkeit der Versuchung darlege. Wieder spricht Gott mit ihm und ruft ihn bei Namen an [Gen 22,1]; er aber gehorcht bereitwillig dem Ruf, indem er aufgrund dessen, was ihm schon widerfuhr, ja erwartete, ihm werde eine zweite Gnade zuteilwerden. Der Befehl aber, worin bestand er? „,Nimm‘ mir“, spricht er, „,deinen Sohn‘!“ [Gen 22,2]. Dies Wort erschütterte vielleicht das Herz des Vaters noch nicht. Denn er vermutet ja so etwas – daß er geheißen wird, eine Ehe zu stiften, ja die Eheschließung zu beschleunigen, damit der Segen für seine Nachkommenschaft zu seinem Ziel komme. Aber schauen wir den Zusatz zu dem Wort an: „Nimm“ mir, spricht er, „deinen geliebten Sohn [Gen 22,2], ,den einzigen‘!“ [Hebr 11,17]. Du siehst den Stachel der Rede, wie er den Vater im Innersten sticht, wie er die Flamme der Natur anfacht, wie er die Liebe erweckt und ihn „geliebten“ und „einzigen Sohn“ nennt, um durch solche Benennungen die Liebe zu ihm zu entzünden.
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Weiter: „Und dann?Ⱥ5 Was soll ich [mit ihm] tun?“ „‚Opfere ihn‘ mir!“, spricht er [Gen 22,2]. „Befiehlst du, den zum Priester einzusetzen, den zu opfern du aufträgst?“Ⱥ6 „Nicht als Priester, sondern als Opfer und Weihegabe, die bei der Opferung völlig verbrannt wird. ‚Opfere ihn‘ mir“, spricht er [Gen 22,2], ‚als Ganzopfer auf dem Berg, den ich dir zeigen werde‘!“ Was empfindet ihr, wenn ihr diese Erzählung hört, die ihr alle Väter seid und von der Natur in der Liebe zu euren Knaben unterrichtet? Ihr wißt bestimmt, wie ein Vater die Kunde der Opferung seines einzigen Kindes aufnimmt. Wer ist angesichts dieser Stimme nicht niedergeschlagen, wendet die Ohren ab, möchte angesichts dieses Befehls nicht lieber tot sein als das Wort mit dem Herzen aufnehmen? Würde er nicht mit ihm gerechtet, eben die Natur als Anwalt vorgeschickt und gesagt haben: „Warum befiehlst du das, o Herr? Hast du mich deswegen zum Vater gemacht, um mich zum Kindsmörder abzurichten? Hast du mich deshalb diese süße Gabe schmecken lassen, um aus mir der Welt eine Erzählung zu machen?Ⱥ7 Mit eigener Hand soll ich den Knaben schlachten und das mir verwandte Blut dir darbringen? Und du befiehlst dies und erfreust dich an solchen Opfern? Ich soll den Sohn töten, von dem ich begraben zu werden erwartete? Solch ein Brautgemach soll ich ihm errichten? Eine solche Hochzeitsfreude soll ich ihm bereiten? Und ich werde dazu kein Hochzeitslicht entzünden, sondern ein Begräbnisfeuer. Wird man mir denn dafür Kränze winden? Werde ich so ,Vater‘ der ,Völker‘ [Gen 17,5 (Röm 4,17)] sein, dem noch nicht einmal ein Kind zugestanden wird?“ Sprach Abraham oder dachte er so? Keineswegs. Vielmehr, da er um den Sinn des Befehls wußte, sah er auf die göttliche Liebe und verleugnete sogleich die Natur und verwarf wie eine irdische Last die leidenschaftlichen Vorstellungen der Natur und gab sich ganz Gott hin und widmete sich dem Auftrag.
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Wörtlich: „Wenn ich [ihn] genommen habe […]?“ Die von Gregor formulierte Frage bringt Abrahams gespannte, im Sinne der Verheißung freudige Erwartung zum Ausdruck. Barbara Mahlmann-Bauer hat in ihrem Beitrag in diesem Bande überzeugend darauf hingewiesen, daß diese von Gregor von Nyssa formulierte Frage 1Sam 1 voraussetzt, wo die kinderlose Hanna ihren von Gott erflehten und endlich geschenkten Sohn lebenslang dem Tempeldienst zu weihen verspricht und so auch handelt (1Sam 1,11.22.28). Auf diesen Prätext wird später noch einmal angespielt – siehe Anm. 8. Das heißt, ,der Welt Gelegenheit geben, Böses von [m]ir zu erzählen‘ (siehe unten in Saras Rede).
Gregor von Nyssa: Isaaks Opferung (Gen 22)
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Und der Gattin teilte er nichts davon mit, und daran tat er recht und zu seinem Vorteil, indem er es für unwürdig erachtete, die Frau zu Rate zu ziehen. Denn auch Adam war es nicht zuträglich, von Eva Rat anzunehmen. Daher, damit nicht Sara als Frau und Mutter reagierte und Abrahams heftige und reine Liebe zu Gott zerknickte, war er sorgfältig bedacht, daß die Gattin nichts erfuhr. Denn wie wahrscheinlich war es, daß, wenn Sara etwas von dem Bevorstehenden erfahren hätte, sie eingegriffen und bei ihm gejammert hätte! Hätte sie nicht den Knaben leidenschaftlich umfaßt und in die Arme geschlossen, falls sie sah, daß er gewaltsam zur Opferung fortgeschleppt würde? Welcher Worte aber hätte sie sich bedient? „Schone der Natur, mein Mann, und gib der Welt keine Gelegenheit, Böses von dir zu erzählen! Dieser ist mein Einzig-Geborener, einziger in Wehen zur Welt gebrachte Isaak, einziger in meinen Armen; dieser ist mein Erst- und Letzt-Geborener. Wen werden wir nach ihm bei Tische sehen? Wer wird zu mir mit süßer Stimme sprechen? Wer mich ‚Mutter‘ nennen? Wer im Alter pflegen? Wer nach dem Tod einkleiden? Wer dem Leibe ein Grab geben? Du siehst die Blüte des Jünglings – sähest du diese bei einem Feind, hättest du dich fraglos des Liebreizes erbarmt. Dieser ist die Frucht langen Gebetes,Ⱥ8 dieser der Zweig vom Stamme,Ⱥ9 dieser der letzte des Geschlechts, dieser Stab und StützeȺ10 des Alters. Wenn du gegen diesen den Dolch zückst, dann tu mir Armer die Liebe: richte den Dolch zuerst gegen mich und dann tu, was dir bei diesem richtig scheint. Ein Grabhügel sei beiden gemeinsam, gemeinsamer Staub bedecke die Leiber, ein gemeinsamer Grabstein berichte das Leiden. Möge Saras Auge weder Abraham als Kindsmörder noch Isaak als von väterlicher Hand hingeschlachtetes Kind sehen!“ Diese und dergleichen Reden hätte Sara ganz gewiß an Abraham gerichtet, wäre sie des Bevorstehenden gewahr geworden. Aber damit kein Hindernis das Werk aufhielte, legte er einem Esel das gespaltene Holz auf und führte einige Knechte mit sich [Gen 22,ř] – ganz dem göttlichen Befehl ergeben. Dann ließ er die Knechte zurück [Gen 22,5], damit diese nichts Unedles und Knechtisches rieten und die Opferung des Knaben hinderten, und führt den Sohn allein mit sich, der seinem Alter nach schon Manns genug war zu schwereren Werken. Er nahm dem Esel jene Last ab und legte die Bürde des Holzes dem Sohn auf [Gen 22,6].
8 9 10
Gregor von Nyssa will damit (erneut; vgl. Anm. 6) sagen: Wie Samuel, der Sohn Hannas: 1Sam 1,12.14.16.20.22 – in Gen kommt dies Motiv nicht vor. Eigentlich: „Zweig der Nachfolge“; wohl mit gedanklichem Anklang an Jes 11,1. Anklang an Ps 2ř,4.
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Theodor Mahlmann
Wieder verletzt die Stimme [, diesmal] des Knaben den Vater zutiefst; diese zweite Versuchung war um nichts milder als die vorhergehende. Isaak spricht mit dieser süßen Rede den Vater an und sagt: „Vater!“ [Gen 22,7]. Der aber wird nicht von Tränen erstickt durch den Gedanken daran, daß er nur wenig später eine solche Rede nicht mehr hören wird, und klagt auch nicht bei dem Wort und äußert nichts Klägliches und Jämmerliches, sondern mit standhafter und unbewegter Seele nimmt er sowohl das Wort des Knaben an und gibt umgekehrt das jenem eignende zurück. Denn er spricht zu ihm: „Was ist, mein Kind?“ [Gen 22,7]. Da nimm mir wahr das Verständige zugleich und Überlegte an dem Jüngling, wie er das anscheinend vom Vater Übersehene, ohne ihn zu verletzen, in Erinnerung ruft, indem er dem Vater weder Unverstand noch Vergessen vorwirft, sondern ihn erinnert, indem er freilich das Versehen in Erfahrung bringen will. Denn er sagt: „‚Siehe, hier ist das Holz, das Feuer‘, das Schwert; ‚wo ist aber das Opfertier?‘“ [Gen 22,7]. Der aber, sei es, um dem Knaben Mut zu machen, sei es, wie ein Prophet das Künftige verbürgend, sagt: „Gott wird sich ein Schaf ersehen zum Brandopfer, mein Kind“ [Gen 22,8]. Und dadurch verlängerte sich noch die Versuchung der Seele des Erzvaters. Er gelangt zu dem ihm vorhergesagten Ort, baut Gott den Opferaltar [Gen 22,9], der Knabe reicht dem Vater das Holz dar, bereitet wurde das Feuer – und noch wird das Werk nicht gehindert, damit nicht einer von den Kleinmütigeren sagen kann, daß, wenn die Versuchung dort zum Stehen gekommen wäre, [das bedeuten würde, daß] er nicht sich gleich geblieben wäre, wäre er dem Leiden noch näher gekommen. Danach faßte der Vater den Knaben, und die Natur widerstrebte dem Geschehen nicht. Der Knabe gibt sich dem Vater hin zu vollziehen, was er will. Wen von den beiden soll ich mehr bewundern: den, der um willen der Liebe zu Gott Hand an den Knaben legt, oder den, der dem Vater „bis zum Tode“ gehorchte [Phil 2,8]? Sie übertreffen einander: der eine, indem er sich über die Natur erhebt; der andere, der für schlimmer als den Tod erachtet, sich dem Vater zu widersetzen. Dann fesselt der Vater zunächst den Sohn [Gen 22,9]. Oftmals habe ich auf einem Gemälde eine Darstellung dieser leidvollen Szene gesehen und konnte nicht[,] ohne [zu] Tränen [gerührt zu werden,] an dem Anblick vorbeigehen, so eindringlich führte mir die Kunst das Geschehen vor Augen: Isaak befindet sich vor dem Vater soeben auf dem Opferaltar, auf die Knie gegangen, die Hände auf dem Rücken verschränkt; er [Abraham] aber hat sich nach einem Kniefall auf beide Füße erhoben, zieht mit der linken Hand das Haar des Knaben zu sich heran, beugt sich hin zu seinem Gesicht, der erbarmungswürdig zu ihm aufblickt, streckt die mit dem Dolch bewaffnete Rechte zur Schlach-
Gregor von Nyssa: Isaaks Opferung (Gen 22)
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tung aus [Gen 22,10] – und schon berührt die Spitze des Dolches den Leib: da ergeht an ihn von Gott her die Stimme, die das Werk aufhält [Gen 22,11f.]. Mit der Stimme aber verhielt es sich folgendermaßen. Denn wir haben die Rede angestrengt auf den rechten Weg zurückgebracht, wie ein ungehorsames und schwer zu zügelndes Fohlen, das vom rechten Weg abweicht, viel herumtanzt und nach beiden Seiten umherspringt. Denn das hatten wir uns vorgenommen zu zeigen: daß der Apostel mit dem Wort [Hebr 6,1ř] bezeugt, daß der Vater nicht größer ist als der Sohn [Joh 14,28]. Denn dort stellt die Schrift den Engel dem Wort Gottes voran [Gen 22,11] und fügt die Stimme hinzu [Gen 22,12]. Denn „der Engel des Herrn“ rief ihn an und sprach: „,Weil du solches getan hast und hast deines ,geliebten‘ [Gen 22,1 (Mt ř,17; 17,5)] Sohnes nicht verschont“ [Gen 22,16 (Röm 8,ř2)], „habe ich bei mir geschworen“ [Hebr 6,1ř], alles zu tun, was der Verheißung des Wortes [Hebr 6,14] zu entnehmen ist[: „Wahrlich, ich will dich segnen und vermehren“]. Wer nun ist es, der Abraham ansprach? Nicht der Vater? Aber du würdest nicht sagen, daß jemandes Engel der Vater ist. AlsoȺ11 „der eingeborene Gott“ [Joh 1,18], von dem der Prophet spricht: „Er wird genannt werden ‚Engel des großen Rats‘“ [Jes 9,5].Ⱥ12 Dies aber ist Paulus keineswegs unbekannt, der im Paradies in das Unaussprechliche eingeweiht wurde [2Kor 12,4]: daß von „dem Eingeborenen“ [Joh ř,18; 1,14] diese Verheißung eidlich bekräftigt wurde. Paulus aber sagt: Als „Gott“[, das heißt] „das Wort“ [Joh 1,1] „dem Abraham die Verheißung gab, schwor er bei sich selbst“ [Hebr 6,1ř]. Wie also sagen diese [Arianer], größer als der Sohn sei der Vater [Joh 14,28], während Paulus [Hebr 6,1ř] sagt, daß „er nichts Größeres hatte[, bei dem er schwören konnte]“?
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Die Stimme des Engels ist das Wort Gottes, wie Gen 22,15f. zeigt. Die messianische Weissagung Jes 9,5 zeigt, daß der Engel mit Jesus Christus identisch ist. Dieser aber ist, weil aus Gott geboren (nicht von ihm geschaffen), mit Gottvater wesenseins. Also können beide nur koordiniert, nicht aber subordiniert gedacht werden. Gregor folgt der Übersetzung der eigentlich „Wunder-Rat“ bedeutenden hebräischen Wendung durch die Septuaginta (vgl. Anm. 4).
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Theodor Mahlmann
Nachtrag Zur Wirkungsgeschichte der Rede Gregors von Nyssa ist bemerkenswert, daß der Wittenberger Theologe Friedrich Balduin (1575–1628; s. Tѕђќёќџ Mюѕљњюћћ, „Balduin, Friedrich“, in: RGG 4 1 [1998], 1069) in seinem Werk „Passio Typica Seu Liber Unus Typorum Veteris Testamenti, Qui Passionem Ac Mortem Domini ac Salvatoris nostri Iesu Christi in nobilioribus aliquot personis adumbrant […]“, Wittenberg 1614, als Anhang zum „Typus X. Isaac“ (Seitentitel), welchen er 414–502 behandelt, vor einer abschließenden Meditation den Exkurs Gregors zur Opferung Isaaks in der Übersetzung von Joachim Camerarius vollständig abdruckt (487–496) und folgendermaßen einleitet: „Haec de Typo Isaaci: quibus appendicis loco propter singularem suavitatem & elegantiam subjicio paraphrasin hujus totius historiae, quae exstat apud Gregorium Nyssenum in oratione de filii & Spiritus Sancti deitate“ („Soweit zum [Christus-] Vorbild Isaak; als Anhang füge ich wegen ihrer einzigartigen Süße und Feinheit bei die Wiedergabe dieser ganzen Geschichte bei Gregor von Nyssa in seiner Rede über die Gottheit des Sohnes und Heiligen Geistes“).
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Tafel 1: Wіђћђџ MђіѠѡђџ ёђџ Mюџію ѣќћ BѢџєѢћё, Maria von Burgund [?] liest in einem Stundenbuch, in: Stundenbuch der Maria von Burgund, um 1470–1475, Pergament, 22,5 x 16,ř, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1857, fol. 14v (Photo: Wien, Österreichische Nationalbibliothek).
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Tafel 2: Wіђћђџ MђіѠѡђџ ёђџ Mюџію ѣќћ BѢџєѢћё, Kreuzannagelung, in: Stundenbuch der Maria von Burgund, um 1470–1475, Pergament, 22,5 x 16,ř, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1857, fol. 4řv (Photo: Wien, Österreichische Nationalbibliothek).
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Tafel ř: Wіђћђџ MђіѠѡђџ ёђџ Mюџію ѣќћ BѢџєѢћё, Stundenbuch der Maria von Burgund, Detail von Tafel 2: Abraham und Isaak (Photo: Wien, Österreichische Nationalbibliothek).
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Tafel 4: Kreuzigung Christi mit Opferung Isaaks und Moses mit der ehernen Schlange, in: Biblia Pauperum, Blockbuch, Niederlande, 15. Jahrhundert, Bibliothek der Erzdiözese Esztergom (Photo: Bibliothek der Erzdiözese Esztergom).
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Tafel 5: Kreuzannagelung mit Opferung Isaaks und eherner Schlange, in: Biblia Pauperum, Nordhessen oder Westthüringen, 2. V. 15. Jh., Biblioteca Apostolica Vaticana, Codex Palatinus latinus 871, fol. 1řv (Photo: Biblioteca Apostolica Vaticana).
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Tafel 6: Kreuzannagelung, Beginn der Kreuz-Horen mit historisierter Initiale D, in: Heures de Boussu, ostfranzösisch-flämisch, um 1490. Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms. 1185, fol. 196r (Photo: Cliché Bibliothèque Nationale de France, Paris).
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Tafel 7: Kreuzannagelung, in: Stundenbuch der Marguerite von Orléans, Rennes, um 14ř0. Paris, Bibliothèque Nationale, latin 1156B, fol. 1ř9r (Photo: Bibliothèque Nationale de France, Paris).
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Tafel 8: DџђѠёђћђџ GђяђѡяѢѐѕњђіѠѡђџ, Kreuzigung, in: Salting-Stundenbuch, 1470er Jahre. London, Victoria and Albert Museum, Salting 1221, fol. 18v (Photo: London, Victoria and Albert Museum).
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Tafel 9: DџђѠёђћђџ GђяђѡяѢѐѕњђіѠѡђџ, Der büßende Petrus, in: Salting-Stundenbuch, 1470er Jahre. London, Victoria and Albert Museum, Salting 1221, fol. 19r (Photo: London, Victoria and Albert Museum).
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Anhang
Tafel 10: Gђђџѡєђћ ѡќѡ Sіћѡ JюћѠ, Die heilige Sippe, um 1490, Öl auf Holz, 1ř7,5 x 105 cm, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv. nr. SK-A-500 (Photo: Amsterdam, Rijksmuseum).
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Tafel 11: Gђђџѡєђћ ѡќѡ Sіћѡ JюћѠ, Die heilige Sippe, Detail von Tafel 10: Die Opferung Isaaks (Photo: Amsterdam, Rijksmuseum).
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Tafel 12: HіђџќћѦњѢѠ BќѠѐѕ, Anbetung der Könige, um 1495. Ansicht bei geöffnetem Zustand: Mitteltafel 1ř8 x 72 cm; Flügel 1ř8 x řř cm, Madrid, Prado (Photo: Madrid, Prado).
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Tafel 1ř: HіђџќћѦњѢѠ BќѠѐѕ, Anbetung, Detail von Tafel 12: Das Geschenk des ältesten Königs (Photo: Madrid, Prado).
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Tafel 14: Pіђѡђџ Cќђѐјђ ѣюћ AђљѠѡ, Heilige Familie, um 15ř0, Öl auf Holz, 98 x 70 cm (ursprünglich mit bogenförmigem Abschluß). Stedelijk Museum, Löwen, Inv. nr. SȦ26ȦC (Photo: Stedelijk Museum, Löwen).
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Tafel 15: HюћѠ BќѐјѠяђџєђџ, Isaaks Opferung, Fresko, ca. 154ř, Schlosskapelle NeuburgȦ Donau.
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Anhang
Tafel 16: Aћёџђю ёђљ Sюџѡќ, Opferung Isaaks, um 1527–15ř0, Holz, 21ř x 159 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden – Gemäldegalerie Alte Meister.
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Tafel 17: Laokoon, Marmor, römische Kopie, 1. Jh. n. Chr., Vatikan, Belvedere.
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Tafel 18: Bюѐѐіќ Bюћёіћђљљі, Laokoon, 1520–1526, Marmor, Florenz, Uffizien.
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Tafel 19: Aёџіюћ BџќѢѤђџ, Schlägerei im Wirtshaus, 26,5 x ř4,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden – Gemäldegalerie Alte Meister.
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Tafel. 20: Triptychon, Ölfarben auf Holz, Ende 15. Jh., geschlossen (Mittelrhein-Museum Koblenz Inv. Nr. M 1979Ȧ18).
Personenregister Biblische Gestalten und solche der antiken Mythologie wurden nicht berücksichtigt. Abaelard, Peter 678 Aelst, Pieter Coecke van 184, 796 Alberti, Leon Battista ř8, 172 Albinus, Johann Georg 6ř6 Alfonso I., König von Neapel 180 Ambrosius von Mailand 49, 8ř, 157, 160, 192, 222, 460, 471f. Andrea da Firenze 129, 1ř2 Andrea del Sarto ř99f., 402–406, 408f., 411–41ř, 798 Andreae, Bernhard 408 Anerio, Giovanni Francesco 696, 718 Angel, Philips 506f. Anouilh, Jean 747 Anslo, Reyer 502 Aristoteles 450 Arndt, Johann 575, 577, 580 Asterius von Amasea 9ř Auerbach, Erich 2, 214, ř09, 45ř August der Starke, Kurfürst von Sachsen 40ř Augustin, Aurelius 44, 70, 8ř, 88, 121, 142, 158, 160, 187, 192, 200, 222, 24ř, 246f., 471, 47ř, 572, 585–587, 628f., 668
Bach, Johann Sebastian 561, 596, 606, 608–610, 616–624, 629, 6ř2–6ř4, 6ř7 Bacon, Roger 105, 107–109, 151 Balde, Jacob 659–665, 668, 670–675, 677–679, 681, 685f., 688–691 Balducci, Francesco 698, 718 Bandinelli, Baccio 406, 408f., 800 Baronius, Caesar 451
Barrefeldt, Henri Janssen 420 Bartsch Siekhaus, Elisabeth 64ř, 651, 656 Basilius von Caesarea 7ř, ř14 Beda Venerabilis 86 Beham, Hans Sebald 489, 521 Belting, Hans ř7 Bernhard von Clairvaux 558, 585, 587 Bertram von Minden 1ř8, 141 Bérulle, Pierre de 705 Beza, Theodor 266, 275, 282, 294–296, ř12, ř17, řř1f., řř9f., ř4ř–ř56, ř58– ř60, ř62–ř69, ř82, ř89, ř9ř, 502 Bianchi, Guiseppe Francesco 716, 718 Billi, Antonio 90 Birken, Sigmund von 641 Blum, Erhard 14f. Boccaccio, Giovanni 92 Bocksberger, Hans 290, 797 Bodmer, Johann Jakob řř9, ř41f., ř84, ř87, ř9ř–ř95, ř97 Böhme, Jacob 20řf. Boesen, Emil 7ř1f., 758 Bol, Ferdinand 508f., 5ř8 Bol, Hans 415–419, 422, 4ř0, 4řřf. Bonaventura 585 Bonnet, Charles ř85f., ř91 Borcht, Pieter van der 419–42ř Borst, Hubert řř1 Bosch, Hieronymus 18ř, 426, 794f. Braun, Konrad 160f. Breu, Jörg d.J. 290 Britten, Benjamin 716–718 Brockes, Barthold Heinrich 610, 618–622, 6ř9
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Anhang
Broek, Crispijn van den 496f., 5ř0 Brorson, Hans Adolf 760 Brouwer, Adrian 41ř, 801 Bruch, Max 715 Bruegel, Pieter d.Ä. 424, 426–428 Brunelleschi, Filippo 2ř, 26–28, ř8, 47, 5ř, 56, 58–68, 70–7ř, 77f., 80–91, 9ř–105, 109f., 112–118, 120–126, 128, 1ř0, 1ř2–1ř5, 1ř7f., 140, 142–149, 151f. Brunus, Conradus 162 Buber, Martin 9 Bullinger, Heinrich 261, 291 Burchardus de Monte Sion (Borchard) 475
Caesar, Julius 408 Caesarius von Arles 44, 8ř Cajetan, Thomas 470f., 474, 477 Caldano, Conte 704, 718 Calvin, Jean 198, 261, 264, 266, 270f., 279–282, 285, 29ř–296, 298–ř00, ř05, ř12, ř17, ř25, řř1–řř6, ř44, ř51, 491 Cambio, Arnolfo di 70, 104 Caravaggio 482, 494f., 508, 525 Cardon, Bert 175f. Carissimi, Giacomo 694, 698, 700, 702–706, 708, 716, 718, 720 Cavalieri, Emilio de’ 696 Cerceau, Androuet du 4řř Charpentier, Marc-Antoine 694, 704–706, 708, 718, 724, 726 Chateaubriand, Fran³ois Renè de 749 Christina, Königin von Schweden 700 Chrysoloras, Demetrius 92 Chrysoloras, Manuel 91f. Cicero 154, 214 Cimabue 92 Cimarosa, Domenico 716 Clausnicer, Tobias 57řf. Clemens VII., Papst 406 Clemens Alexandrinus 248–252 Cock, Hieronymus 422–4ř0, 4ř2–4ř4 Cock, Matthys 422, 428f., 4řř
Colonna, Vittoria 181 Comanini, Gregorio 161f. Compagni, Dino 148 Condé, Louis Fürst von 296 Constantius, Constantin s. Kierke– gaard, Sören Cornelius a Lapide ř12, ř15, ř25, řř5–řř8, 451, 670 Correggio 40ř Cranach, Lucas 218f., 221, 488, 562 Crespin, Jean 259, 264, 266, ř00 Cyprian von Karthago 82 Cyrill von Alexandrien 8řf., 477
Danckertsz., Cornelis 502 Decius, Nikolaus 62ř Dekiert, Marcus 482, 484, 515f. Delville, Jean-Pierre 262f. Demosthenes 214 Diodor von Tarsus 88 Diogenes Laertius 744 Dionysius Areopagita 59ř Dioskurides, Pedanios 140f. Ditters von Dittersdorf, Carl 709, 718 Dolce, Lodovico 409f. Donat de Chapeaurouge řř0 Donatello 109–112, 116, 1řř, 144 Doni, Francesco 410 Dosset, Claudine ř44 Du Bartas, Guillaume de Saluste 498f., 502 Du Mont, Henry 705 Dürer, Albrecht 488, 561 Dürr, Alfred 620
Ebach, Jürgen 14 Ebeling, Gerhard VII, 260 Edward VI., König von England 282 Eliezer (Rabbi) 65 Endter, Wolfgang 562 Episcopius, Nicolaus ř12 Erasmus von Rotterdam 262f. Eremita, Victor s. Kierkegaard, Sören Ernst der Fromme, Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg 562
Personenregister
Euklid 106 Euripides řř4, 459, 468, 676 Eyck, Jan van 15ř, 179–181
Fabriano, Gentile da 180 Facio, Bartolomeo 180 Farel, Guillaume 266, 29ř, ř44 Farmer, Craig 26řf. Farnese, Alexander 4ř2 Filarete, Antonio 1ř2 Fischart, Johann 490f. Fischer-Dieskau, Dietrich 717 Flinck, Govaert 504, 5ř2 Förster, Richard 406 Fonteyn, Johann 496 Fortner, Wolfgang 716, 718 Francisco de Hollanda 180 Francisco de Ribera 452 Francisco de Toledo 451f. Franck, Salomon 557f., 560, 565, 570f., 580, 608, 614, 6ř4 Francke, August Hermann 2ř2, 6ř2 Frank, Horst-Joachim 64ř Franz I., König von Frankreich 40ř, 407 Franz II., König von Frankreich 296 Franz von Sales ř47f., 449 Freedberg, Sydney Joseph 405 Frey, Jacob ř1ř Frisina, Marco 716, 719 Fuß, Johann Evangelist 716, 718
Gaddi, Taddeo 92 Gaʻtani, Enrico 449, 451 Galilei, Galileo 451 Gardi, Francesco 716, 718 Gedicke, Simon 194, 207, 211f., 216 Geertgen tot Sint Jans 182, 792f. Gerhard, Johann 217, 220, 224, 226f., 545–547, 550–55ř, 559–561, 581, 599, 616, 626, 6ř0f. Gerson, Jean 282 Gese, Hartmut 267 Gherwen, Reinier 504, 508, 5řř, 5ř9
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Ghiberti, Lorenzo 2ř–26, 28–ř0, ř2–42, 44f., 47–5ř, 59, 82, 85, 91, 95, 97, 100, 102–104, 109, 11řf., 116–121, 12řf., 1ř0, 1řř, 145, 147, 149–151 Gilio, Giovanni Andrea 160f., 409 Giotto di Bondone 59, 61, 92, 105, 108f., 124, 126, 1ř2, 144f. Giovan Battista della Palla 402f. Glykas, Michael 142 Goethe, Johann Wolfgang ř86, 7ř4, 7ř6f., 744, 746, 759 Gottfried, Johann Ludwig 49ř Graupner, Axel 15 Gregor der Große 14ř Gregor von Nazianz ř14 Gregor von Nyssa 64, 68, 7ř–77, 87, 91, 9ř, 158–162, 195, ř10–ř25, řř4– ř42, ř51f., ř58f., ř61f., ř66, ř68, ř71, ř76–ř82, ř88f., ř92, ř94f., 460, 77ř Greiffenberg, Catharina Regina von 641–657 Greiffenberg, Hans Rudolph von 641f.
Händel, Georg Friedrich 70ř, 716 Hamann, Johann Georg 2ř0 Haudebert, Lucien 716, 719 Heckscher, William S. 8ř Heermann, Johann 582, 586, 602, 604, 628 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7ř6, 7ř8, 741, 744 Heine, Heinrich 7ř7 Heinrich II., König von Frankreich 296 Heinrich IV., König von Frankreich ř47, ř49 Heinsius, Daniel 159 Henrici, Christian Friedrich 596, 624f. Herberger, Valerius 198, 218 Herder, Johann Gottfried ř86 Hergot, Hans 489 Hermann der Cherusker 716 Heyden, Pieter van der 426 Hieronymus Oleaster (Jerónimo de Azambuja) 466, 477
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Anhang
Hieronymus Stridonensis 466, 47ř Hilarius von Poitiers 24ř–245 Hildegard von Bingen 142 Höschel, David ř11 Holbein, Hans 489, 492f., 522 Holzbauer, Ignaz 709, 718 Homer 214, ř41, 454 Honorius Augustodunensis 88 Hrabanus Maurus 87 Hugo, Hermann 597, 615, 671
Ibn Esra, Abraham (Rabbi) 465 Ignatius von Loyola 450 Irenäus von Lyon 160, 477 Isabella von Bourbon 16ř Isabelle de Lalaing 168 Isidor von Sevilla 222, 229
Jacob, Benno 2, 6 Jacomotus, Jacobus řř9f., ř46, ř48– ř50, ř52f., ř55–ř60, ř62–ř69 Jeremias, Jörg 16, 18 Jestl, Bernhard 716, 719 Jochanan (Rabbi) 226 Jode, Gerard de 4ř0 Johannes Chrysostomos 48, 74f., 91, 160, 248–251 Johannes de Silentio s. Kierkegaard, Sören Jommelli, Nicolo 709, 718 Josephus, Flavius 140, 45ř, 464f., 468, 479, 485, 505–507 Julius II., Papst 401, 408 Junius, Franciscus 161 Justin der Märtyrer 24ř
Kaiser, Otto 14 Kant, Immanuel 2ř0f., 2ř5, 457 Karl Emanuel, Herzog von Savoyen ř47f. Karl der Kühne 16ř Karlstadt, Andreas 19ř Kemp, Wolfgang ř7, 179 Kemper, Hans-Georg 64ř
Kierkegaard, Michael Pedersen 7ř6, 7ř9 Kierkegaard, Sören 229f., 2ř7, 457– 46ř, 6ř0, 7ř1–7ř6, 7ř8–744, 746f., 749, 752–754, 756–761 Kircher, Athanasius 70ř Kleist, Heinrich von 768 Klopstock, Friedrich Gottlieb ř84 Knapp, Fritz 405 Kodros 459 Kren, Thomas 16ř
Lastman, Pieter 494f., 508, 510, 527f. Lathem, Lieven van 162f., 165 Lavater, Heinrich ř85 Lavater, Johann Caspar řř9–ř42, ř84–ř95, ř97, 4ř7, 440f., 445–447 Leibniz, Gottfried Wilhelm ř85f., 75ř Leo X., Papst 407 Leopold I., Kaiser 704, 708, 718 Lerch, David 452, 478 Lessing, Gotthold Ephraim ř9řf. Leyden, Lucas van 488 Leyser, Polykarp d.Ä. 215 Lievens, Jan 504–510, 5ř4f. Lippomani, Luigi 477 Lucas, Andreas 209, ř1ř Ludolph von Sachsen 171 Ludwig XIV., König von Frankreich 705 Luis de Alcázar 452 Lully, Jean-Baptiste 705, 708 Luther, Martin VII, 185–199, 201–20ř, 205f., 208–210, 21ř, 216–218, 224f., 228–2ř0, 2řř–2ř6, 240–248, 250– 257, 262, ř0ř, ř06, ř12, ř29–řř2, řř4–řř6, řř8, ř51, ř62, 477, 489, 491f., 524, 554–556, 560, 562, 568, 572, 574f., 58ř–585, 592–595, 597, 615, 621, 6ř2, 644–651, 654f., 695, 716, 7řř
Macrina (Schwester Gregors von Nyssa) ř14 Maes, Nicolaes 509, 540–542
Personenregister
Maioli, Simone 161 Maldonado, Juan 452 Mander, Karel van 418, 424, 4ř1, 4řřf., 48ř Manetti, Antonio 24, 26, 28, 94, 110, 112f., 116, 12ř Mangold, Carl Amand 716, 718 Mann, Thomas 7ř4, 74ř Manni, Agostino 696 Marazzoli, Marco 699 Marenzio, Luca 700 Margarete von ork 16ř Marguerite von Orléans 170 Maria von Burgund 152, 155f., 158, 162–164, 166f., 170, 172, 175f., 180f., 78ř–785 Mariana, Juan de 452 Masaccio 112, 115f. Massenkeil, Günther 698 Mattheson, Johann 70ř Maugar, André 699 Mazzocchi, Domenico 699 Meder, J. V. 70ř Meister Eckhart 591 Melanchthon, Philipp 26ř Melito von Sardes 47, 66, 70f., 77, 87, 9ř, 472 Mendelssohn, Moses ř84, ř86, ř91 Mendelssohn Bartholdy, Felix 715f. Merck, Johann Heinrich 41ř Merian, Matthäus 218, 22ř, 49řf., 502, 524, 5ř0f. Merker, Johannes (Jean Mercer) 477 Metastasio, Pietro 709f., 716, 718 Michaelis, Johann David 2ř4 Michelangelo 180 Millet, Olivier řř1, řř5 Mislive²ek, Joseph 694, 709, 712, 718, 728f. Mörikofer, Johann Caspar ř87 Molanus, Johannes 160 Molière, Jean Baptiste Poquelin 704
807
Moller, Martin 592 Momper, Batholomeus de 4ř0 Monteverdi, Claudio 69ř, 700 Morgan, Thomas 2ř1 Morricone, Ennio 716, 719 Mozart, Wolfgang Amadeus 709, 745 Müller, Heinrich 554f., 565f., 568–570, 588–592, 594f., 598, 600, 605, 607f., 62ř, 625, 6ř4 Müntzer, Thomas 19ř Musäus, Simon 206f., 210 Musculus, Wolfgang 26ř–266, 274, 278f., ř01, ř05, 477
Napoleon Bonaparte 7ř6 Natali, Antonio 405 Naumann, Johann Gottlieb 709, 718 Neilos von Ankyra 14ř Neri, Filippo 694f., 697f. Niccoli, Niccolo 91 Nicholl, Horace Wadham 716, 718 Niemeyer, August Hermann 2ř2–2ř4 Nietzsche, Friedrich 7řř Nikolaus von Lyra 469, 476f. Nikolaus von Verdun 710 Noske, Frits 699 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 7řřf.
O’Neill, Eugene 747 Ohly, Friedrich 710 Olearius, Johann 545, 548–551, 55ř, 555, 578, 580, 584, 598, 609, 611, 625 Olevian, Caspar 199 Olsen, Regine 2ř0, 740, 752, 758 Origenes 44, 7ř, 75, 86, 160, 212, 458, 461, 470 Ortelius, Abraham 49ř Ottheinrich, Pfalzgraf 289–291 Ovid 4ř1
808
Anhang
Padovani, Serena 405 Pächt, Otto 156, 158 Paleotti, Gabriele 160, 412 Palestrina, Giovanni da 69ř, 700 Panofsky, Erwin 154 Pareus, David 198, 211 Parronchi, Alessandro 114 Paulus von Burgos 477 Pellikan, Conrad 265, 270, 277, 282, 286, 288–290 Perera, Benito 449–461, 464–478 Petrarca, Francesco 92 Petrus Comestor 470 Pfeiffer, August 581f., 584, 594f. Philipp II., König von Frankreich ř47 Philo von Alexandrien 45řf., 458f., 464f., 472f., 476, 479 Picander s. Henrici, Christian Friedrich Pisanello, Antonio 180 Pisano, Andrea 24, 41, 4ř, 52, 11ř, 1ř0, 151 Pisano, Giovanni 40, 4ř, 77–82, 88, 91, 118, 128 Pisano, Nicola 70, 104 Pittoni, Battista 4řř Plantin, Christoph 419 Plato 450 Plinius d.Ä. 92, 400f., 409, 411, 4ř1 Pontanus, Jacob ř09–ř1ř, ř15, ř17, řř9f., ř42, ř71, ř75f., ř78–ř8ř, ř89f., 659f., 662–665, 668f., 67ř, 68řf., 688, 690f. Possevino, Antonio 410 Postel, Christian Friedrich 617, 6ř9 Prato, Domenico da 109 Prato, Giovanni da 114f. Primaticcio, Francesco 408
Quentell, Heinrich 520 Quintilian 450
Rad, Gerhard von 2, 21, 462 Rafael ř99, 40ř Rambach, Johann Jacob 6ř2
Rauterberg, Hanno 44 Reckling, Fritz ř40 Reimarus, Hermann Samuel 2ř1f., 2ř5 Rembrandt 75, 481–486, 495, 502–504, 507–510, 51ř–519, 5ř6, 54řf. Rhein, Ernst ř12 Ribera, Juan de 477 Rolle, Johann Heinrich 2ř2 Rollenhagen, Georg ř1ř Rosenberg, Jacob 510 Rosenmüller, Johann 6ř6 Rossi, Luigi 704f. Roussel, Bernard 261 Rubens, Peter Paul 494f., 526, 529 Rudolf, Johann Rudolf 266, ř01, ř04 Rupert von Deutz 87, 466, 477
Sá, Manuel de 452 Sachs, Hans 4ř7–445, 447 Sadeler, Johannes 496f., 5ř0 Salian, Jacques 670 Salmerón, Alfonso 262, 452 Salomon (Rabbi, genannt Raschi) 268 Salomon, Bernhard 490, 522 Sangallo, Giuliano da 400 Sargent, Joseph 716, 719 Sauer-Geppert, Waltraut Ingeborg 59ř Scannelli, Francesco ř99f., 40ř Scarlatti, Alessandro 704, 718 Schedel, Hartmann 487, 520 Schein, Johann Heinrich 617 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 2ř5–2ř7 Schlegel, August Wilhelm 40ř Schlegel, Fritz 758 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 2ř7, 7ř6 Schmid, Konrad 14 Schmitt, Hans-Christoph 18 Schmolck, Benjamin 612f., 616, 629, 6ř6 Schmuck, Vincentius 208, 211–215, 217f. Schnabel-Schüle, Helga 259
Personenregister
Schöpper, Jacob ř69 Schoeps, Hans Joachim 464 Schongauer, Martin 488 Schopenhauer, Arthur 75ř Schut, Pieter Hendricksz. 502, 5ř0 Segher, Hercules 482 Selnecker, Nikolaus 207, 580 Seneca, Lucius Annaeus 71 Serarius, Nicholas 670 Seyfried, Ignaz Xaver von 716, 718 Sheriff, Noam 716, 719 Sherman, John 405 Sifanus, Laurentius ř12 Simon, Richard 452, 478 Sittl, Karl 405 Smend, Friedrich 620f. Smither, Howard E. 699 Snow-Smith, Joanne 8ř Sokrates 7ř8f., 744 Solis, Virgil 490, 52ř Someren, Jan van 495, 528 Sonnenburg, Hubert von 484 Sophokles ř76 Spalding, Johann Joachim ř84 Spierinc, Nicolas 162f. Stauffer, Richard 260 Steiger, Johann Anselm řř0 Steinmetz, David 260 Stimmer, Tobias 490, 524 Stockmann, Paul 6ř8 Strawinsky, Igor 717, 719 Strozzi, Palla di Nofri 91 Suger von St. Denis 6ř0 Swift, Jonathan 744
Tauler, Johannes 591, 59ř, 598 Terrien, Samuel 20 Tertullian, Quintus Septimius Florens 70, 160 Theodosius Archidiaconus 88 Theodosius von Tripolis 106 Theophylakt von Achrida 582 Thielemann, Andreas 1řř Thomas von Aquin 475, 668 Thomas von Kempen 59ř Thomas Waleys 457, 471, 475–477
809
Thyen, Hartwig 611 Timanthes 664 Titus, römischer Kaiser 400, 409 Toscanelli, Paolo dal Pozzo 90 Tostatus, Alphonsus 477 Traversari, Ambrogio 91 Tribbechovius, Adam 55řf., 628
Unckel, Bartholomäus van 520
Valle, Pietro della 698 Vasari, Giorgio 90, ř99, 402f., 406, 408, 418 Vatable, Fran³ois 477 Vázquez, Alonso 4ř2 Vergil 401, 408f. Vermes, Geza 611 Victors, Jan 508f., 5ř7 Villani, Filippo 91f., 145 Villani, Giovanni 92, 148 Villani, Matteo di Giovanni 91f., 148 Villard d’Honnecourts 124f., 127 Viret, Pierre ř44 Visconti, Gian Galeazzo, 149 Visscher, Nicolaus 4řř, 502 Vollenhove, Johannes 502 Vondel, Joost van den 495–499, 502, 508, 511f., 5ř0
Warncke, Carsten-Peter ř7 Weise, Christian 4ř7, 4ř9–445, 447, 6ř9 Wengert, Timothy 26ř Westermann, Claus 14f., 46ř Weyden, Rogier van der 15řf., 180 Wieland, Martin ř41 Wiligelmo da Modena 1ř8f. Wirth, Karl August 627 Wolmar, Melchior ř44
oung, Edward 742
810 Zedler, Johann Heinrich 641f. Zeise, Christian 600f., 60řf. Zeno, Apostolo 709 Ziegler, Hieronymus ř12 Ziegler, Mariane von 606 Zimmerli, Walther 460
Anhang
Zimmermann, Johann Georg ř85 Zwingli, Huldrych 158, 261, 264f., 268, 271–278, 280–284, 286, 289, ř05f., ř12, ř25–ř29, řř2, řř5f., řř8, ř51, ř58, ř62, ř88, ř92, 477, 489
Register der Bibelstellen Altes Testament Gen 1,ř 1,6 1,14 2,7 2,17 2,21f. ř ř,1–19 ř,7 4,8 4,11 4,21f. 4,25 5,24 7,17 9,8–17 9,22 12f. 12–25 12,1 12,2 12,ř 12,4 12,10–20 15 15,1–6 15,2 15,5 15,6 16 17 17,5 17,8 17,9–14 17,16 17,17
650 650 650 648 579 546 625 550 557, 559, 6ř5 546 ř64 171 474 ř96 106 622 546 ř54 489 189, 766, 774 ř16, 774 766 766 16 272, 288f. ř88 ř70 ř65, ř88 486 16f. 288 ř16, 774, 776 774 87 189 49, 647
17,19–21 17,2ř–27 18 18,1 18,2 18,10 18,11 18,12–15 20 20–22 20,11 21 21,1–8 21,4 21,6 21,7 21,8 21,8–21 21,9f. 21,11 21,12f. 21,1ř 21,14 21,15 21,16 21,17 21,19 21,20f. 22,1–19 26 26,18 26,22 28 28,15 ř1,ř ř2
705 87 5, 4ř7f. 5, 767 769 189, 768 767, 774 49 16 16 15 10, 17f. 705 87 49, ř26, řř7 ř16, 775 17 2, 1ř, 16 17 17 17 474 17 17 17 17 17 17 passim 57ř 57ř 57ř 625 251 251 2ř9f., 24řf., 246–249, 251, 25ř ř2,10–1ř 251 ř2,2ř–řř 198
812
Anhang
ř2,24 ř2,25 ř2,27 ř2,29 ř2,ř0 ř2,ř1 řř ř7 ř7,24 ř7,27f. 42,18 4ř,ř0 48,1–22
24ř 2ř9 246 2ř9 24ř 2ř9 2ř9 625 55ř 546 15 215 1ř5
4,12 4,15 12 16 16,21 17,11
66 1ř6 547 547, 626 1ř6, 625 571
Num 8,10f. 1ř,24 21,8f. 21,9 27,17–2ř ř5,6
1ř6 178 546, 549, 625, 629 629 1ř6 617
Ex 1,17 1,21 ř,7 ř,14 4,25f. 12 1ř,1ř 14,16 14,21 15,25 15,26 16,4 18,21 19 19,9 19,19 20,1ř 20,18–21 20,20 24,8 25–27 25,21f. řř,19 ř4,5ff. ř6–ř9
15 15 10 7 560 549 694 654 654 14 578 14 15 19 19 19 191, 646 19f. 2, 1ř–15, 18f. 547, 615 106 617 7 7 106
Dtn 8,2 8,16 1ř,4 15,21 21,2ř řř,8 ř4,9
14 14 14 66 628 14 1ř6
Ri 2,22 ř,1 ř,4 11 11,ř4 11,ř4f. 15 15,1ř 16 16,21
14 14 14 269, 459, 660, 662, 672, 677 672 671 550 550 55ř 546
1Sam 1,22–25 2 2,6 2,7
547 ř18 188, 2ř7 65ř
Lev 1,ř 1,4 1,6 1,12 1,15–17
66 1ř6 547 547 547
1Kön 5–8 8,22–5ř
106 467
81ř
Bibelstellenregister
2Kön ř,27
268, 459
2Chr 2–7 ř,1 29,2ř ř2,ř1
106 88, 225, 466 1ř6 14
Esra ř–6
106
Hi 1–2 1,1 1,8 2,ř 16,20 17,1ř 42,10
15 15 15 15 546 ř5ř 200
Ps 2,11 9,17 18,5 18,6 22,17f. 22,27 2ř,ř 25,5 26,2 27,8 ř2,11 řř,4 řř,6 řř,9 ř4,9 ř6,7 40,8 42,6 45,14 50,15 68,11 72 72,17 74,15 87,1
461 550 550 61ř 166 570, 6ř5 570, 6ř5 61ř 14 769 ř71 650 650 650, 654 590, 6ř5, 557 ř96 564 742 557, 559, 6ř5 606 570, 6ř5 474 474 570, 6ř5 ř96
10ř,1f. 10ř,řf. 104,10 116 116,ř 119,72 119,105 121,1 124,7 1ř0,ř 1ř0,5 1ř0,7 142,8
656 578 570, 6ř5 550 ř5ř, 549f., 595, 61ř 592, 594 764 764 549, 595 570, 6ř4 768 581 615
Hld 1,2 1,ř 1,4 1,1ř 2,16 4,1 4,6 4,7
6ř5 585–587, 591 615 227 570, 6ř5 557, 559, 6ř5 224, 612 557, 559, 6ř5
Jes 6 9 9,5 28,19 ř5,10 ř8 42,ř 42,7 4ř,24 45,7 45,14 45,15 52,7 5ř 5ř,ř 5ř,4f. 5ř,5 5ř,7 55,1–ř 61 61,1 61,2
461 625 ř24, ř92, 625, 779 187, 645 615 578 245 550 561 16 578 594 764 58ř, 611, 625 611 549, 578 576, 602, 619 548f., 610, 61ř, 62ř 570, 6ř5 560 550f., 570, 61ř, 615, 6ř5 558, 609, 6ř5
814
Anhang
61,10 6ř 6ř,1 6ř,ř 66,1 66,2 66,1ř
556–558, 609, 6ř5 560 578 557, 562 6ř4 570, 6ř5 187
Jer 1 7 9,1 11,19 19 19,ř1 ř1,ř
10 266, 268, 270 602 62ř 268 268 550
Thren 1,12
561, 600, 602, 604
Ez ř6,26f. 40–44 47,1–12
592 106 87
Dan ř,ř5
80
Hos 11,4 1ř,12 1ř,14
61ř 550 202, 615
Jona 1
625
Mich 7
625
Sach 9 9,11 1ř,1
625 550f., 55ř, 562 57řf.
Mal ř,2
570, 6ř4
Neues Testament Mt ř,9 ř,17 4,1–11 5,ř4f. 8 8,2–4 8,8 8,17 11 11,12 11,28 11,28f. 11,29f. 12,18 12,ř9f. 1ř,44 16,19 16,24 17,5 17,20 21,řř–ř9 22 22,1–14 22,11–14 22,2f. 22,řf. 22,4 22,5 22,8 22,11 22,11–14 22,1ř 22,14 22,ř2 22,řř 24 24,ř5 25,41 26,28 26,ř9 26,42 26,44 26,50 26,6ř
ř96 87, ř24, 779 645 6ř4 654 654 557, 6ř5 578 584 246 570, 579, 584, 6ř5 570, 6ř5 597 550 546 590 552, 615 řř5, 587, 597, 600 87, ř24, 779 654 178 555, 557f., 560, 565 555 557 6ř4 570, 6ř5 6ř5 6ř5 557, 6ř5 555 6ř5 554f., 565, 6ř0f., 6ř4 570, 6ř5 ř88, ř90–ř92 ř96 650 649, 654 6ř5 55ř, 571, 615 ř95, 598 598 598 549 548, 62ř
815
Bibelstellenregister
27,12 27,14 27,21–2ř 27,ř5 27,45 27,50 27,54
548, 62ř 548, 62ř 6ř1 44 67, 6ř0 67 628
Mk 1,11 9,7 15,24 15,ř4
87 87 44 471
Lk 2,22–24 5,10 10,16 10,řřf. 14,17 18 18,29f. 19,41ff. 19,41–48 22,42 22,4ř 2ř,ř4 2ř,46 24,1ř–ř1 24,47
547 126 568 579 6ř5 562 200 752 604 446 606 44, 605 ř81, 605, 669 428 550
Joh 1,1 1,14 1,16 1,18 1,29 1,29f. 1,ř6 ř ř,14 ř,15 ř,16 ř,18 4,14 5,24
ř24, 580, 779 6ř4, 779 580 ř24, 779 222, 550, 625, 628 61ř 222 584 546, 548, 629 629 20ř, 470, 472, 550, 580, 582–584, 598, 604 779 570f., 6ř5 554
5,ř9 6,ř5 6,44 6,48 6,48–51 6,48–58 7,ř8 8,2 8,28 8,ř4 8,ř6 8,56 11,25f. 12,2ř 12,27f. 12,ř2 14,26 14,28 15,12f. 15,1ř 16,řř 18,12 18,15 19,9 19,17 19,18–22 19,24 19,28 19,ř0 19,ř4 20,17 20,2ř 20,25 21,18
564 570f., 6ř5 585, 618 571, 6ř4 570, 6ř5 571 571 611 618 61ř 61ř 222 655 672 672 585, 618 187 779 674 604 607 548f., 552, 61ř 6ř9 548, 62ř 222 629 44 7ř7 6ř9 571f., 574, 615 246 55ř 545 7ř4
Apg 4,28 7 7,49 7,55 7,58f. 20,28
6ř0 605 6ř4 605 605 575
Röm 1,16 ř,25 4,1ff.
588 552, 617 188
816
Anhang
4,9 4,9–12 4,17 4,18 4,2ř–25 5,8f. 6,ř 6,18 7,24 8 8,2 8,15 8,15–17 8,21 8,28 8,29 8,ř2 15,4
44ř 87 44, 47, 774, 776 ř71 44, 47 600 574 61ř 615 55ř 61ř 600 55ř 55ř, 61ř, 615 655 55ř 20ř, ř24, 470, 779 651
Eph 5 5,2 5,ř2 6,16f.
227 604, 612 555 186
Phil 1,2ř 2 2,8 2,12
615 550, 611, 625 75, 472, 551, 610, 625, 778 461
1Tim 2,4
6ř5
2Tim 1,10 2,25f. 2,26
65ř 550 61ř
1Kor 5,7 10,1ř 11,27 11,29 12,12f. 1ř 1ř,12
549 189, 471 557, 6ř5 557, 6ř5 148 74ř 115, 760
1Petr 2,24
626
2Petr 1,4
556
1Joh 1 1,1 1,7
579 580 557, 559, 572, 576, 6ř5
Hebr 1 2,17 4,15 6,1ř 6,14 9,14 9,19–22 10,22 11 11,1 11,12 11,17 11,17–19 11,17–20 11,19
625 ř28 ř28 ř24, 774, 779 ř24, 774, 779 562 547 547 649 652 ř92 468, 775 200, ř75, 470 648 44, 471, 647
2Kor 5,2ff. 6,2 6,8–10 6,9 12,4 12,5
558, 609, 6ř5 558 759 řř1 779 ř24
Gal 2,8 2,20 ř ř,6ff. ř,6–29 ř,1ř ř,16 ř,27–29 4,21–ř1 6,16
284 598 455, 474, 476 188 86f. 626, 628 474, 486 148, 150 50 564
817
Bibelstellenregister
12,24
547
Jak 1,1ř 2 2,9 2,21
470 266, 286 284 470
Jud 6
550
Apk 1,5 1,6 2,10 4,4 6,17 7,9ff. 7,14 12,10 14,ř
557, 559, 6ř5 560 600 6ř6 570, 6ř4 6ř6 557, 559, 6ř5 186 6ř1
19 19,7 19,8 19,9 19,1ř–15 19,20 20,14 21,4 21,6 21,8 22 22,14
559f. 609, 6ř5 557, 609, 6ř5 557, 6ř5 557, 559, 6ř5 559 606 6ř1 570f., 6ř5 606 625 625
Apokryphen Sir ř0,25 ř4,9 44,20
215 186 456
Abkürzungsverzeichnis Aufgenommen wurden abgekürzte Reihen- und Zeitschriftentitel u. ä. sowie Bezeichnungen von Bibliotheken. Unberücksichtigt blieben allgemein gebräuchliche Abkürzungen und solche biblischer Schriften. ABD ACEBT AFP AGAJU AGP AKL AnBib ARG ATD Aug. BBKL BGBH BGNE BHTh BJ BK.AT BN BSHST BTBF BWV BZAW CBQ CCSG CCSL CO CR CRINT CSEL DBNL DSp dtv
Anchor Bible Dictionary Amsterdamse cahiers voor exegese en bħbelse theologie Archivum Fratrum Praedicatorum Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Saurs Allgemeines Künstlerlexikon Analecta biblica Archiv für Reformationsgeschichte Das Alte Testament Deutsch Augustinianum Bio-bibliographisches Kirchenlexikon Beiträge zur Geschichte der biblischen Hermeneutik Beiträge zur Geschichte der neutestamentlichen Exegese Beiträge zur Historischen Theologie Bach-Jahrbuch Biblischer Kommentar, Altes Testament Biblische Notizen Basler Studien zur historischen und systematischen Theologie Beiträge zur Theologischen Bachforschung Bach Werke-Verzeichnis BeiheĞe zur ZeitschriĞ für die alĴestamentliche WissenschaĞ Catholic biblical quarterly Corpus Christianorum, Series Graeca Corpus Christianorum, Series Latina Calvini Opera Corpus Reformatorum Compendia rerum iudaicarum ad Novum Testamentum Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum Digitale Bibliotheek voor de Nederlandse LeĴeren Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique Deutscher Taschenbuchverlag
820 DWb EG EKG EPhH ETR EvTheol FAT FC FGLP FKGG FSÖTh GCS GL GTB HAB HBS HNT JAC.E JBTh JLH JQR JSHRZ KatBl KT KuD KuI LCI LThK LuJ MGG MThSt MuK ND NDB NEB.AT NZSTh OBO PG PhB PL QFRG
Anhang
Deutsches Wörterbuch Evangelisches Gesangbuch Evangelisches Kirchengesangbuch Études de philologie et d’histoire Études théologiques et religieuses Evangelische Theologie Forschung zum Alten Testament Fontes Christiani Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Die griechischen christlichen SchriĞsteller der ersten drei Jahrhunderte GoĴeslob Gütersloher Taschenbücher Herzog August Bibliothek Herders biblische Studien Handbuch zum Neuen Testament Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband Jahrbuch für biblische Theologie Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie Jewish quarterly review Jüdische SchriĞen aus hellenistisch-römischer Zeit Katechetische BläĴer Kaiser-Traktate Kerygma und Dogma Kirche und Israel Lexikon der christlichen Ikonographie Lexikon für Theologie und Kirche Luther-Jahrbuch Musik in Geschichte und Gegenwart Marburger Theologische Studien Musik und Kirche Nachdruck Neue Deutsche Biographie Neue Echter Bibel, Kommentar zum Alten Testament Neue ZeitschriĞ für Systematische Theologie und Religionsphilosophie Orbis biblicus orientalis Migne, Patrologia graeca Philosophische Bibliothek Migne, Patrologia latina Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte
Abkürzungsverzeichnis
RAC RB RDK RGGř RGG4 RHE RHPR RoMo RST SC SDGSTh SHCT SMRT StPB ThBeitr ThH ThLZ THR ThStKr ThWAT ThZ TRE TS UB ULB UTB.W VigChr VigChrS VT WA WA.DB WA.TR WMANT ZB.AT ZBZ ZKG ZThK Zwing.
821
Reallexikon für Antike und Christentum Revue biblique Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte Die Religion in Geschichte und Gegenwart (ř. AuĚage) Religion in Geschichte und Gegenwart (4. AuĚage) Revue d’histoire ecclésiastique Revue d’histoire et de philosophie religieuses Rowohlts Monographien Reformationsgeschichtliche Studien und Texte Sources chrétiennes Studien zur Dogmengeschichte und systematischen Theologie Studies in the History of Christian Thought (bzw. Traditions) Studies in medieval and reformation thought Studia post-biblica Theologische Beiträge Théologie historique Theologische Literaturzeitung Travaux d’humanisme et renaissance Theologische Studien und Kritiken Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament Theologische ZeitschriĞ Theologische Realenzyklopädie Theological studies Universitätsbibliothek Universitäts- und Landesbibliothek Uni-Taschenbücher für WissenschaĞ Vigiliae Christianae Vigiliae Christianae, Supplements Vetus Testamentum Weimarer Ausgabe (Luther), Abteilung SchriĞen Weimarer Ausgabe (Luther), Abteilung Deutsche Bibel Weimarer Ausgabe (Luther), Abteilung Tischreden WissenschaĞliche Monographien zum Alten und Neuen Testament Zürcher Bibelkommentare, Altes Testament Zentralbibliothek Zürich ZeitschriĞ für Kirchengeschichte ZeitschriĞ für Theologie und Kirche Zwingliana
Autoren Ralf Georg Bogner (* 1967), Dr. phil., ist Akademischer Rat und Privatdozent für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg. Daniel Bolliger (* 1965), Dr. theol., ist maître de conférences für neuere Kirchen- und Theologiegeschichte an der Faculté libre de théologie protestante de Montpellier, einer Sektion des französischen Institut Protestant de Théologie. Nils Büttner (* 1967), Dr. phil., lehrt als Privatdozent Kunstgeschichte an der Universität Dortmund. Alexander Dobbert-Dunker (* 1978) studiert Evangelische Theologie in Hamburg. Heidrun Führer (* 1956), Dr. phil., Universitätsadjunkt im Fach Kulturwissenschaft, Universität Lund (Schweden). Christine Göttler, Dr. phil., ist Professorin für Kunstgeschichte an der University of Washington (USA). Friedhelm Hartenstein (* 1960), Dr. theol., ist Professor für Altes Testament und Altorientalische Religionsgeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Ulrich Heinen (* 1960), Dr. phil., ist Professor für Gestaltungstechnik und Kunstgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal. Joseph Imorde (* 196ř), Dr. phil., ist Kunsthistoriker und Publizist (Edition Imorde). Hermann Jung (* 194ř), Dr. phil., ist Professor für Musikwissenschaft an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim.
824
Anhang
Vanessa von der Lieth (* 1975) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Theodor Mahlmann (* 19ř1), Dr. theol., ist Professor emeritus für Systematische Theologie am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Marburg. Barbara Mahlmann-Bauer (* 1954), Dr. phil., ist Professorin für neuere deutsche Literatur an der Universität Bern (Schweiz). Marius Reiser (* 1954), Dr. theol., ist Professor für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Johann Anselm Steiger (* 1967), Dr. theol., ist Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte (Reformation und Neuzeit) am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Lothar Steiger (* 19ř5), Dr. theol., ist Professor emeritus für Praktische Theologie (Homiletik und Seelsorge), zuvor für Systematische Theologie (Dogmatik) an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg. Renate Steiger (* 19ř4), Dr. theol., war Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Christian Tümpel (* 19ř7), Dr. phil., Professor emeritus für Ikonographie, Ikonologie und Kunstgeschichte der Neuzeit an der Radboud Universiteit Nijmegen.