Grenzen der Literatur
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Revisionen Grundbegriffe der Literaturtheorie
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Grenzen der Literatur
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Revisionen Grundbegriffe der Literaturtheorie
Herausgegeben von
Fotis Jannidis Gerhard Lauer Matı´as Martı´nez Simone Winko
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Grenzen der Literatur Zu Begriff und Phänomen des Literarischen
Herausgegeben von
Simone Winko Fotis Jannidis Gerhard Lauer
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-018930-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen
Vorwort Die meisten Beiträge dieses Sammelbandes wurden auf einer Tagung mit dem Titel »Grenzen der Literatur«, die am 15.-18. März 2006 in Kloster Irsee stattfand und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wurde, vorgestellt und diskutiert. Der vorliegende Band wurde um einige Beiträge zu Themen ergänzt, die auf der Tagung fehlten. Für ihre redaktionelle Arbeit danken wir sehr herzlich Katharina Prinz. Ohne ihre ebenso zuverlässige wie professionelle Hilfe und Geduld wäre dieser Band nicht erschienen. Wertvolle technische Hilfe hat Matthias Beilein geleistet, das Register erstellt haben Ninia Binias und Tobias Wietelmann. Auch ihnen danken wir herzlich. Die Herausgeber
Inhaltsverzeichnis Einleitung FOTIS JANNIDIS / GERHARD LAUER / SIMONE WINKO Radikal historisiert: Für einen pragmatischen Literaturbegriff ..............3 I. Zum Begriff ›Literatur‹ SIMONE WINKO Einleitung .....................................................................................................41 WERNER STRUBE Die Grenzen der Literatur oder Definitionen des Literaturbegriffs ...................................................45 KLAUS WEIMAR Funktionen des Literaturbegriffs ...............................................................78 OLIVER DAVID KRUG / HANS-HARALD MÜLLER / TOM KINDT Was ist Literatur? Bemerkungen zu einer Frage der Literaturwissenschaft .......................92 ULLA FIX Aktuelle linguistische Textbegriffe und der literarische Text. Bezüge und Abgrenzungen ..................................................................... 103 II. Zum Phänomen ›Literatur‹ FOTIS JANNIDIS Einleitung .................................................................................................. 139 JOSEPH CARROLL Literature as a Human Universal ........................................................... 142 CHRISTOPH REINFANDT Literatur als Medium ................................................................................ 161 DANIEL FULDA / STEFAN MATUSCHEK Literarische Formen in anderen Diskursformationen: Philosophie und Geschichtsschreibung ................................................ 188
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Inhaltsverzeichnis
III. Fiktionalität und Literarizität SIMONE WINKO Einleitung .................................................................................................. 223 JAN GERTKEN / TILMANN KÖPPE Fiktionalität ............................................................................................... 228 KARL EIBL Fiktionalität – bioanthropologisch ........................................................ 267 FRANK ZIPFEL Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? ................................................................... 285 MARGRIT SCHREIER Belief Change through Fiction: How Fictional Narratives Affect Real Readers .................................................................................. 315 HANS-EDWIN FRIEDRICH Fiktionalität im 18. Jahrhundert. Zur historischen Transformation eines literaturtheoretischen Konzepts ..................... 338 SIMONE WINKO Auf der Suche nach der Weltformel. Literarizität und Poetizität in der neueren literaturtheoretischen Diskussion ............................... 374 IV. Soziale und institutionelle Aspekte des Phänomens ›Literatur‹ GERHARD LAUER Einleitung .................................................................................................. 399 LIESBETH KORTHALS ALTES The End of Literature as a Basis for a Renewed Disciplinarity ........ 403 ELISABETH STUCK Akzeptanz in der Literaturwissenschaft. Überlegungen zu den Grenzen der literaturwissenschaftlichen Praxis ...................... 422 JOST SCHNEIDER Die Sozialgeschichte des Lesens und der Begriff ›Literatur‹ ............. 434 ELS ANDRINGA Grenzübergänge. Das Niederländische Polysystem im Spiegel der Rezeption ausländischer Literatur ............................... 455 V. Literatur in verschiedenen Kulturen und Medien GERHARD LAUER Einleitung .................................................................................................. 491
Inhaltsverzeichnis
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DAVID DAMROSCH Frames for World Literature .................................................................. 496 HENRIKE SIMON Literatur im Alten Ägypten ..................................................................... 516 ALEXANDER H. ARWEILER Römische Literaturen und die Grenzen der Philologie ..................... 545 KARL-HEINZ POHL Annäherungen an einen Literaturbegriff in China .............................. 584 NITEEN GUPTE Zur Neubestimmung des Literarischen im Marathi-Schrifttum des 19. Jahrhunderts ....................................... 608 ROBERTO SIMANOWSKI Literatur, Bildende Kunst, Event? Grenzphänomene in den neuen Medien .............................................. 621 Register .............................................................................................................. 639 Anschriften der Beiträger ............................................................................... 648
Einleitung
FOTIS JANNIDIS / GERHARD LAUER / SIMONE WINKO
Radikal historisiert: Für einen pragmatischen Literaturbegriff
Die Zeiten sicherer Werte sind endgültig vorbei, und das betrifft auch die Literatur, die schon lange nicht mehr der Hort des Schönen, Guten, Wahren ist, aber heute eben auch nicht mehr der Ort des letzten Widerstands, das Authentischen im Unwahren und des reinen Selbstzwecks in einer Welt voller Mittel. Wie es für eine pluralistische Gesellschaft angemessen ist, sind all diese Hoffnungen und Entwürfe allerdings nicht verschwunden, aber neben sie sind, in erheblicher Zahl, neue Vorstellungen von Literatur getreten, beruhend auf neuen Lesegewohnheiten inmitten der Medienkonkurrenz und diese wiederum bestimmend. Die Veränderungen haben auch den fachwissenschaftlichen Literaturbegriff nicht unverändert gelassen. Schon in den 1970er Jahren begann eine intensive Diskussion um das Konzept ›Literatur‹. Der Begriff sollte geöffnet werden für die vielen verschiedenen Literaturen, die nicht mehr nur als schlechter Schatten der guten Literatur gesehen wurden. Im Zuge der Verwissenschaftlichung der Disziplin sollte auch die Definition ihres Gegenstandes den Ansprüchen an Wertfreiheit genügen. Von diesen Anfängen zieht sich bis in die Gegenwart eine Tradition der Diskussion über neue Bestimmungen des Literaturbegriffs. Heute muss allerdings eine Arretierung der einmal begonnenen Veränderung des Begriffs ›Literatur‹ konstatiert werden. Sie ist auch inhärenten Problemen des neuen, ›weit‹ genannten Literaturbegriffs geschuldet. Dazu zählt das ganz praktische Problem, dass die Entgrenzung des Begriffs zu einem Zerfall der Literaturgeschichte in kleine Spezialistentümer führt. Vor allem aber – und das ist auch der Punkt, an dem wir mit unserem Band ansetzen – hat sich gezeigt, dass der Versuch, einen Literaturbegriff zu finden, der die Reste seiner bildungsbürgerlichen Herkunft abgestreift hat, sich mit einer Reihe von Schwierigkeiten, nicht zuletzt in der Anwendung auf historisch fernere Zeiten, konfrontiert sieht. Zudem sind gerade an die normativen Aspekte des Begriffs in besonderem Maße legitimatorische Topoi der Literaten und der Literaturwissenschaft gebunden. Diese Tendenz setzte schon bald ein,
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nachdem ›Literatur‹ nicht mehr nur eine Sammelbezeichnung für viele unterschiedliche und nicht zuletzt eher gelehrte Textgattungen war, während das, was heute als ›Literatur‹ bezeichnet wird, ›belles lettres‹ oder ›polite literature‹ genannt wurde.1 Die Bildung des neuen Begriffs im 17. und dann vor allem 18. Jahrhundert war ein zunächst unwahrscheinlicher Vorgang und doch so wirksam, dass es gegenwärtig scheint, als gäbe es kaum eine hochzielende Erwartung, die nicht mit dem Begriff verknüpft werden könnte. Literatur als Institutionalisierung von Subjektivität, wie es Roland Barthes 1960 programmatisch ausgedrückt hat,2 als »das Asoziale der Kunst«, das »bestimmte Negation der bestimmten Gesellschaft«3 sei, wie es Theodor W. Adorno postuliert hat, oder Literatur als eine Institution, die alle referentialisierenden Bedeutungszuweisungen als trügerische Referenzen unterläuft, wie Jacques Derrida behauptet,4 als Subversion der zu Identitäten verdichteten kulturellen Kontingenzen und ihrer Machtmechanismen in den massenkulturellen Produkten, wie es Stuart Hall vertreten hat –5 dies sind nur ein paar der rezenten Bestimmungen von Literatur in den unterschiedlichen Konzepten der Literaturwissenschaft, die viel Wert darauf legen, dass Literatur zwar einen Nutzen habe, aber nicht ›zum Begriff tauge‹. So gesehen wissen Literaturwissenschaftler im Allgemeinen, was Literatur ist, finden es aber schwierig, den Begriff zu bestimmen. Zwar wird sich eine literaturwissenschaftliche Begriffsbestimmung von der eines Literaturkritikers unterscheiden, ebenso wie von der eines bildungsbewussten Studienrats oder eines lesehungrigen Teenagers; die Diskussionslage im Fach Literaturwissenschaft ist allerdings alles andere als übersichtlich. Inkompatible Auffassungen von Literatur stehen hier nebeneinander. Einige haben den Begriff radikal entgrenzt und alle sprachlichen Äußerungen eingemeindet, andere verengen ihn in höchst traditioneller Weise auf die ›wirkliche‹ Literatur, worunter Unterschiedliches verstanden wird. In dieser Situation fragen die Beiträger und Herausgeber des vorliegenden Bandes nach den angemessenen »Grenzen der Literatur«. Sie stellen sich damit in eine Tradition neuerer Versuche, den Literaturbegriff zu bestimmen,6 auch wenn hier kein einheitlicher Begriff der Literatur postuliert werden soll. Vielmehr soll der Literaturbegriff einer ›Revision‹ unterzogen werden, indem ein genaueres Wissen über die Schwierigkeiten seiner Bestimmung für literaturwissenschaftliche Zwecke erarbeitet wird. Die theoretischen Grundlagenprobleme _____________ 1 2 3 4 5 6
Vgl. Simons: Marteaus Europa, S. 85-94. Barthes: Literatur, S. 35. Adorno: Theorie, S. 335. Derrida: Acts. Hall: Cultural Studies. Z.B. Arntzen: Literaturbegriff; Rosenberg: Verhandlungen; Weimar: Literatur; Sexl: Literatur; Gottschalk / Köppe: Literatur.
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werden umrissen, die jeden neuen Bestimmungsversuch vor Herausforderungen stellen. Und das, indem skizziert wird, was das komplexe Phänomen ›Literatur‹ ausmacht, welche unterschiedlichen Aspekte für seine Beschreibung heute zu berücksichtigen sind. Zu diesem Zweck haben wir Beiträge versammelt, die den Begriff (Sektion I) und das Phänomen ›Literatur‹ (Sektion II) unter den Perspektiven neuer Forschungen untersuchen, die Debatten über Fiktionalität und Poetizität weiterführen (Sektion III), soziale und kulturelle Aspekte von Literatur in den Blick nehmen (Sektion IV) und nach den Besonderheiten von Literatur – als Begriff und Phänomen – in anderen Kulturen und anderen Medien fragen (Sektion V). Diese Einleitung will den Problemzusammenhang des Bandes entfalten und zugleich für einen pragmatischen Literaturbegriff plädieren, dessen Besonderheit in einer radikalen Historisierung liegt und der unseres Erachtens die Grenzen der Literatur weit genug fasst, ohne sie zu negieren. Nach einem knappen Überblick über Bestimmungen des Literaturbegriffs im 20. Jahrhundert (1.) wird ein angemessener Weg der Begriffsbestimmung skizziert (2.) und im Folgenden eingeschlagen. Zunächst ist zu klären, welche Probleme dieser Begriff lösen können soll (3.) und wie er sich zu vorliegenden Versuchen, ›Literatur‹ systematisch zu bestimmen, verhält (4.). Abschließend werden die Bedingungen des angezielten pragmatischen Literaturbegriffs erläutert (5.) 1. Der Literaturbegriff in der literaturwissenschaftlichen Forschung des 20. Jahrhunderts Zu neueren Literaturbegriffen liegen einige Studien vor,7 so dass sich die Rekonstruktion einer komplexen und facettenreichen Entwicklung kurz fassen lässt. Roter Faden soll die leitende Frage nach den ›Grenzen‹ sein: nach der Weite der Begriffsbestimmung und dem Umfang des ›Literatur‹ genannten Gegenstandsbereichs.8 Die Tendenzen der Bestimmung des Literaturbegriffs sind bekannt: Es dominieren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts enge Auffassungen von Literatur, die traditionellerweise im Zeichen von Ästhetik- und Autonomiekonzeptionen stehen (1), daneben aber auch aus dem Anliegen einer Verwissenschaftlichung des Umgangs mit Litera_____________ 7
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Eine so umfassende wie erhellende neuere Untersuchung, die Entwicklungen bis Ende der 1990er Jahre einschließt, hat Rainer Rosenberg vorgelegt. Er konzentriert sich auf den Wandel der Intensionen des Literaturbegriffs (vgl. Rosenberg: Verhandlungen, S. 4-6), während Beatrix Müller-Kampel sich – ohne es deutlich zu markieren – allein auf die Extension bezieht, wenn sie die in Universitätsseminaren als literarisch behandelten Texte erhebt (vgl. Müller-Kampel: Aufbruch, S. 348). Siehe dazu auch den Beitrag von Werner Strube in diesem Band.
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tur heraus formuliert werden (2). Ab den 1970er Jahren wird die Auffassung von ›Literatur‹ unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen erweitert: im Rahmen gesellschaftstheoretisch begründeter Richtungen (3), als Folge einer Neukonzeptionierung der Literaturwissenschaft im empirischen Paradigma (4) und im Zuge verschiedener poststrukturalistischer Positionen (5). (1) Zu den im 20. Jahrhundert besonders einflussreichen Konzepten zählen die verschiedenen Auffassungen von ›Literatur‹, die von Vertretern hermeneutischer und werkimmanenter Ansätze formuliert worden sind. Im Rahmen einer hermeneutischen Ontologie des Kunstwerks etwa kommt Literatur, wie jedem anderen ästhetischen Objekt, wegen ihrer besonderen Funktion ein hoher Stellenwert zu. Bei Hans-Georg Gadamer etwa zählt es zu den Leistungen der Kunst, Wahrheit zu vermitteln, und dies kann sie, weil sie eine bestimmte Beschaffenheit aufweist, unter anderem die, Darstellung und Dargestelltes in Übereinstimmung zu bringen.9 Literarische Werke zeichnen sich durch ›Ganzheit‹, ›Einheit‹ und ›Stimmigkeit‹ aus, und Form und Inhalt sind in ihnen aufs Engste miteinander verbunden. ›Literarisch‹ wird hier in einem emphatischen Sinne verwendet und ist insofern restriktiv gefasst, als das Adjektiv nicht allein klassifikatorisch eingesetzt wird, sondern durch die funktionale Beziehung auf die Vermittlung von Wahrheit wie auch durch die Merkmale der ›Ganzheit‹, ›Einheit‹ und ›Stimmigkeit‹ auf das (große) Kunstwerk zielt, nicht aber z.B. auf populäre Literatur. Die Grenzen des Literarischen im Sinne des literarisch Wertvollen sind hier eng gesteckt. Auch den Positionen der Werkimmanenz liegt ein enger Literaturbegriff zugrunde, der literarische Werke als stilistisch ›stimmig‹ bzw. ›geschlossen‹ und ästhetisch autonom bestimmt.10 Das Konzept der Autonomie spielt für den Literaturbegriff generell eine wichtige Rolle, allerdings wird es keineswegs einheitlich verwendet.11 Die Werkimmanenz betont die interpretationstheoretische Variante des Autonomiekonzepts besonders, wenn sie annimmt, das literarische Werk sei unabhängig von seinem Entstehungskontext und der Absicht seines Autors zu betrachten. (2) Als Beispiel eines frühen Versuchs, den Literaturbegriff zu verwissenschaftlichen, gilt der Russische Formalismus. Es geht den Formalisten wie Boris Ėjchenbaum oder Viktor Šklovskij unter anderem um das Ziel, Literatur von anderen Formen des Sprechens klar abzugrenzen, und ihre differentia specifica sehen sie in der ›Literarizität‹, die die wesentliche Eigenschaft literarischer Werke ausmacht. Sie fordert eine besondere Ausrichtung der Literaturwissenschaft, deren Hauptgeschäft nicht in der Rekonstruktion soziologischer, philosophischer oder anderer Kontextinformationen liegt, _____________ 9 10 11
Gadamer: Wahrheit, Bd. 1, S. 122. Staiger: Kunst, S. 13ff. Vgl. dazu Köppe / Winko: Literaturtheorien, S. 40.
Radikal historisiert: Für einen pragmatischen Literaturbegriff
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sondern in der Analyse der formalen Eigenschaften literarischer Texte.12 Als wertvoll legitimiert wird diese Eigenschaft mit Hinweis auf ihre Wirkung: Literarischem Sprechen kommt die Funktion zu, die Wahrnehmung von dargestellten Gegenständen zu verfremden, auf diese Weise ihre ›automatisierten‹ Muster zu überwinden und neue Sichtweisen und Sprachverwendungen zu fördern.13 Auch die verschiedenen strukturalistischen Bestimmungen des Literaturbegriffs richten sich auf besondere sprachliche Merkmale, die unter der Bezeichnung ›Poetizität‹ oder ›Literarizität‹ gebündelt werden. Besonders einflussreich ist Roman Jakobsons Auffassung des Literarischen als Dominanz der ›poetischen Funktion‹ der Sprache.14 Spezifisch für literarische Texte ist demnach, dass die Aufmerksamkeit des Lesers auf die sprachliche Struktur der Nachricht gerichtet wird.15 Diese Versuche, den Literaturbegriff mit Bezug auf eine spezifische Sprachverwendung zu präzisieren, führen ebenfalls zu einer engen Auffassung des Gegenstandsbereichs. Diese ist einem strukturalistischen Ansatz zwar keineswegs notwendigerweise inhärent, bestimmt jedoch die Praxis, z.B. in ihrer verfahrenstechnisch naheliegenden Konzentration auf die Analyse von Lyriktexten. (3) Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert gibt es Tendenzen, die Extension des Literaturbegriffs weit zu fassen. Einen frühen Schritt in diese Richtung hat die marxistische Literaturwissenschaft unternommen. Sie bestimmt – grob gesagt – Literatur als Produkt des Bewusstseins, das in Abhängigkeit von der ökonomischen Basis der Gesellschaft und in Auseinandersetzung mit sozialer Herrschaft entstanden ist. Diese Bedingung gilt nicht nur für ›große Werke‹, sondern für jede Art der Literaturproduktion, so dass der Literaturbegriff als weit einzustufen ist. Auch Hinweise auf die besonderen »sprachlich-fiktionale[n] Formen«,16 die Literatur zudem auszeichnen, schränken diese Weite zunächst nicht ein. Als Einschränkungen wirken dagegen eine Funktions- und eine Wesenszuschreibung: Zum einen wird Literatur eine emanzipatorische Aufgabe zugeschrieben; nur wenn sie ideologische Zusammenhänge aufzeigt und verdeckte gesellschaftliche Verhältnisse zu durchschauen hilft, erfüllt sie ihre Aufgabe, bewusstseinsbildend auf die Leser zu wirken. Zum anderen wird an der Autonomie als essenzieller Eigenschaft des literarischen Kunstwerks festgehalten und versucht, diese auf der Basis marxistischer Vorgaben zu bestimmen. Für Theodor W. Adorno z.B. negiert das literarische Kunstwerk gesellschaft_____________ 12 13 14 15 16
Ėjchenbaum: Aufsätze, S. 7-9. Vgl. Šklovskij: Kunst. Jakobson: Linguistik; siehe dazu genauer Abschnitt 4.1. Ähnlich Mukařovskýs Bestimmung der ästhetische Funktion poetischen Sprechens; Mukařovský: Poetische Benennung, S. 48. So neben anderen Gansberg: Vorurteile, S. 7f.
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liche Realität und nimmt ihr gegenüber eine konträre Position ein. Seine Autonomie gewinnt das literarische Werk über seine Form, mit der es sich von anderen, interessegeleiteten Arten der Sprachverwendung absetzt. Zwischen der poetischen Sprache und dem Sprechen der Alltagskommunikation sieht Adorno einen »unversöhnlich klaffende[n] Widerspruch«;17 autonome Kunst ist für ihn an formale Komplexität gebunden und wird nur in der Verweigerung leichter ›Konsumierbarkeit‹ erreicht. Mit Hilfe dieser beiden Maßstäbe wird innerhalb der Gruppe literarischer Werke klar unterschieden und gute von ideologisch verdächtiger Literatur bzw. autonome von nicht autonomer Literatur gesondert. Diese wertenden Binnendifferenzierungen ändern allerdings nichts an dem prinzipiell umfassenden Verständnis von ›Literatur‹: Zum ersten Mal wurde, wenn auch in ideologiekritischer Absicht, die literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit auch unterhaltenden oder ›trivialen‹ Texten zuteil, die bislang aus dem Gegenstandsbereich des Faches ausgegrenzt worden waren. Eine solche klare Hierarchie unter den Gegenständen wurde erst auf der Grundlage sozialgeschichtlicher Ansätze aufgehoben. In ihrem Mittelpunkt steht ein Zusammenhang unterschiedlicher Kommunikationshandlungen, zu denen auch Literatur gehört. Zwar wird – zumindest in einer Variante –18 zwischen literarischen und literaturbezogenen Handlungen unterschieden, und damit wird ›literarisch‹ nur für einen Teilbereich der Handlungen reserviert, nämlich im Allgemeinen den der Produktion und Rezeption von Literatur; jedoch ist der Literaturbegriff kein primär textorientierter mehr. Literarische Texte gelten einerseits als Teile des Symbolsystems einer Kultur, andererseits aber auch als durch literarische Kommunikationshandlungen bestimmt. Der Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft wird in zweifacher Weise weit gefasst: Integriert werden dezidiert auch populäre und unterhaltende Formen von Literatur, fokussiert werden alle Arten der Interaktion im sozialen Kommunikationsraum ›Literatur‹. Eine pragmatisch bestimmte und zugleich funktionale Sichtweise auf Literatur nehmen auch die Vertreter des sozialgeschichtlichen Ansatzes ein, der sich an Bourdieu orientiert. Sie beschreiben literarische Werke in erster Linie als ›soziale Tatsachen‹19 und fragen beispielsweise nach der Leistung, die sie in den Auseinandersetzungen der Autoren um Positionen im literarischen Feld erbringen. Auch in diesem Ansatz wird der Literaturbegriff weit gefasst und deskriptiv eingesetzt. (4) Mit weiterreichendem Anspruch für die Begründung der Disziplin wird Ende der 1970er Jahre in der Empirischen Literaturwissenschaft der _____________ 17 18 19
Adorno: Schlußszene, S. 130. Vgl. z.B. Pfau / Schönert: Probleme, S. 3-8. Vgl. z.B. Jurt: Feld, S. 75.
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am ›Werk‹ orientierte Literaturbegriff abgelöst und durch ein handlungsorientiertes Konzept ersetzt. Als Literatur wird ein komplexer gesellschaftlicher Handlungsbereich verstanden, der konventionell geregelt ist und in dem die Texte nur eine Größe neben anderen ausmachen. Neu ist die Auffassung, dass ein Text nicht aufgrund spezifischer sprachlicher Merkmale literarisch ›ist‹, sondern dass ihm Literarizität allein aufgrund bestimmter sozialer Konventionen zugeschrieben wird. ›Literarisch‹ sind damit vor allem bestimmte Umgangsweisen mit Texten, beispielsweise die Rezeption von Texten nach der »Ästhetik-« und der »Polyvalenzkonvention«.20 Dieser sehr weite Literaturbegriff enthält keine Spezifikationen der Beschaffenheit der Texte, so dass tendenziell jeder Text, der als Literatur rezipiert wird, auch zum Objektbereich der Literaturwissenschaft zählt. Wenn Konventionen und Modi der Verarbeitung von Texten berücksichtigt werden, dann wird nicht allein der Gegenstandsbereich ›Literatur‹ extrem ausgeweitet – im Vergleich z.B. mit werkimmanenten oder formalistischen Ansätzen –, auch die Auffassung von den Zielen und Methoden des Faches ›Literaturwissenschaft‹ ändert sich grundlegend. (5) Ähnlich weitreichende Folgen, allerdings mit erheblich mehr Resonanz im Fach, haben die Neubestimmungen zentraler Begriffe in poststrukturalistischen Ansätzen. Wenn auf der Grundlage allgemeiner zeichentheoretischer Überlegungen die Bedeutung eines Textes nicht als fixierbare Größe aufgefasst wird, sondern als sich im Prozess unendlicher Semiose immer weiter fortsetzendes ›Spiel‹ des Bedeutens,21 dann hat dies auch Konsequenzen für den Textbegriff und für die Auffassung von Literatur. Fragwürdig werden die Grenzen der Texte generell: Prinzipiell können die Identitätsbedingungen von Texten nicht angegeben werden, und es lässt sich nicht begründen, was zu einem Text gehört und welche Beziehungen über ihn hinausgehen. Festlegungen von Textgrenzen sind immer Setzungen, ergeben sich mithin nicht aus den Texten selbst. Als gegeben angenommen wird allein ein universaler – verborgen sinnstiftender – textueller Zusammenhang. Entsprechend nehmen auch Vertreter dieser Richtung an, dass es keine spezifische Qualität gebe, die literarische Texte klar als solche markiere. Ob ein Text als literarisch oder nicht-literarisch eingestuft wird, ist von historisch variablen Konventionen abhängig.22 Wenn aber literarische und nicht-literarische Texte auf denselben sprachlichen Mechanismen beruhen, kann eine merkmalbezogene Unterscheidung zwischen ihnen nicht begründet werden. Die Grenzen zwischen beiden gelten als willkürlich gesetzt und werden abgelehnt, zumindest in prinzipiellen Argumentatio_____________ 20 21 22
Vgl. z.B. Schmidt: Grundriß, Kap. 4. Z.B. die Ausführungen in Derrida: Randgänge, S. 29-52. Vgl. z.B. Fohrmann / Müller: Diskurstheorien, S. 17.
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nen. Unterschiede zwischen Literatur und Nicht-Literatur liegen dann allein in jeweils anderen kulturellen Praktiken: Auch wenn es keine ›wesentlich literarische‹ Qualität gibt, unterscheiden sich literarische Texte doch von anderen sprachlichen Produkten, weil sie aus speziellen Praktiken entstehen und in ihnen rezipiert werden, die ihnen beispielsweise eine besondere Wirkung ermöglichen.23 Entsprechend vertreten diskursanalytische und auf ihnen aufbauende kulturwissenschaftliche Ansätze einen weiten Literaturbegriff, in dessen Gegenstandsbereich das fällt, was im Kontext der untersuchten Praktiken als Literatur behandelt wird. Mit diesen und ähnlichen Argumenten wird die oft diskutierte kulturwissenschaftliche Ausweitung des Gegenstandes24 begründet. Sie führt dazu, Gruppen von Texten einzubeziehen, die bislang nicht in den literaturwissenschaftlichen Blick gekommen sind, im New Historicism etwa Texte, die zuvor eher unter ethnographischen oder allgemeinen kulturgeschichtlichen Aspekten betrachtet worden waren,25 oder in postkolonialen Ansätzen z.B. Biographien von Autorinnen und Autoren ethnisch benachteiligter Gruppen. Daneben findet sich in der Praxis aber auch eine deutliche Konzentration auf kanonische Literatur der Moderne und Postmoderne. Sie ist nicht ohne weiteres als Inkonsequenz in der Umsetzung diskursanalytischer Vorgaben zu werten; vielmehr kann sie sich auf eine zweite, emphatische Verwendung des Literaturbegriffs berufen, die sich beim frühen Foucault findet.26 Ausgehend von der Annahme, dass es bestimmte Mechanismen der Sprache gebe, die in Diskursen verdeckt oder reglementiert werden, etwa die ausschließliche Bezugnahme der Sprache auf Sprache und nicht auf Dinge, sieht Foucault die Leistung der Literatur darin, dass sie die Reglementierungen der anderen Diskurse vermeidet und diese Mechanismen uneingeschränkt ›verwirklicht‹. Literatur »wird zur reinen und einfachen Offenbarung einer Sprache, die zum Gesetz nur die Affirmation – gegen alle anderen Diskurse – ihrer schroffen Existenz hat«.27 Auch wenn es nicht thematisiert wird, scheint nicht jeder Text im weiten Sinne von ›Literatur‹ solches leisten zu können. Dies dürfte der Grund dafür sein, dass vor allem literarische Texte, denen Selbstbezüglichkeit und Formorientiertheit attestiert werden kann, im Zentrum vieler diskursanalytischer Untersuchungen stehen. Sie konzentrieren sich damit auf dieselben Texte, _____________ 23 24 25 26 27
Z.B. Greenblatt: Einleitung, S. 11. Einmal mehr sei an die entsprechende Debatte im Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft erinnert, ausgehend von Barner: Literaturwissenschaft. Z.B. Greenblatt: Exorcism. Dazu genauer Winko / Jannidis / Lauer: Geschichte, S. 130ff.; zu einem emphatischen Verständnis von Literatur vgl. auch Derrida: Institution, S. 99. Foucault: Ordnung, S. 366.
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die schon die Vertreter eines traditionellen Literaturbegriffs für besonders wertvoll gehalten und immer wieder untersucht haben. Bei aller Unterschiedlichkeit neuerer Bestimmungen von ›Literatur‹ liegt eine Gemeinsamkeit in einer pragmatischen Tendenz. Der Literaturbegriff wird meist nicht mehr unter Rekurs auf spezifische Texteigenschaften oder rein semiotische Operationen erläutert, sondern mit Bezug auf Funktionen, situative Kontexte oder Praktiken, in denen die Texte verwendet werden. Diese Tendenz geht unterschiedlich weit: Sie reicht von der Erweiterung semiotisch fundierter Bestimmungen um Verwendungskontexte bis hin zum Verzicht auf die Annahme begründender Zeichenstrukturen. Wir wollen im Folgenden an einigen der Ideen für einen pragmatischen Literaturbegriff anknüpfen und sehen die fruchtbarsten Ansatzpunkte in der Berücksichtigung der jeweiligen Gebrauchsweisen von Texten und den ihnen zugrunde liegenden Annahmen über Autor, Text und Leser. 2. Strategie der Begriffsbildung Ziel unserer Überlegungen ist es, einen Literaturbegriff zu skizzieren, der für die literaturwissenschaftliche Forschung geeignet ist. Er soll es unter anderem erlauben, Bezüge zwischen den Texten und Textpraktiken in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen herzustellen, ohne dabei die historischen Differenzen einzuebnen. Bekanntlich gibt es mehrere Strategien, Begriffe zu bestimmen, und es stellt sich die Frage, welche im vorliegenden Fall die effektivste ist. Eine klassische Begriffsbestimmung mit klaren Kategoriengrenzen über eine Liste üblicherweise angeführter notwendiger und hinreichender Merkmale erweist sich schnell als problematisch. So kann man zwar sagen, dass literarische Texte sich durch eine besondere sprachliche Gestaltung ausweisen, aber nicht alle Texte, für die das zutrifft, etwa politische Reden oder bestimmte Werbetexte, werden auch als Literatur bezeichnet. Andererseits gibt es aber Texte, die zweifelsfrei der Literatur zugerechnet werden, auf die das Merkmal selbst in dieser vagen Form nicht ohne Weiteres zutrifft; zu denken ist hier an Formen der ›industriell‹ gefertigten Schemaliteratur, aber auch an Avantgardetexte, die aus vorgefundenen Texten bestehen. Nun könnte man das Merkmal der Fiktionalität hinzuziehen, aber es gibt eine nennenswerte Zahl nicht-fiktionaler Texte, die als Literatur aufgefasst werden, beispielsweise Autobiographien oder Briefe. Andererseits gibt es kaum fiktionale Texte, die nicht als Literatur gelten. Die Beispiele, die manchmal genannt werden, etwa die juristische Fallgeschichte oder das Gedankenexperiment, umfassen typischerweise keine eigenständigen Texte, sondern Passagen, die in anderen Texten eingebettet sind. Das Kriterium ›Fiktionalität‹ wäre also hinreichend, aber nicht notwen-
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dig, während das Kriterium ›Literarizität‹ oder ›Poetizität‹ weder hinreichend noch notwendig wäre. Dennoch sind diese beiden Kriterien in der Wahrnehmung der meisten Literaturwissenschaftler eng mit dem Begriff ›Literatur‹ verbunden. Es scheint uns daher ratsam, eine andere Strategie der Begriffsbestimmung zu wählen. Unschärfen wie die genannten lassen sich üblicherweise dadurch vermeiden, dass man den Begriff als Prototyp bestimmt. Es liegt also nahe, den Literaturbegriff so zu fassen, dass dessen Eigenschaften nicht notwendigerweise allen literarischen Texten zukommen müssen. Allerdings zeigt sich bei der konkreten Anwendung ein eigentümliches Problem. Eine prototypische Begriffsbestimmung führt häufig ein besonders gutes Exemplar der Kategorie an. Aber jedes gute Exemplar der Kategorie ›Literatur‹, z.B. Hamlet, die Odyssee, Winnetou, Flauberts Correspondance oder The Waste Land, ist in noch ausgeprägterem Maße ein gutes Exemplar einer bestimmten Gattung: des Dramas, des Epos, des Romans oder des Gedichts. Man hat also den Eindruck, dass es nicht das eine zentrale, prototypische Exemplar für ›Literatur‹ gibt, sondern vielmehr eine Reihe solcher Exemplare. Das könnte nun wiederum ein Sachverhalt sein, der sich am besten über das Konzept der Familienähnlichkeit beschreiben lässt.28 Allerdings kann dieses Konzept zwar recht überzeugend die Verbindung von Exemplaren eines Begriffs über jeweils geteilte Merkmale beschreiben (z.B. das Schachspiel, das Fußballspiel, das Gedankenspiel), aber die Beschreibung bezieht sich üblicherweise wiederum auf Typen von Exemplaren, nicht aber auf selbst wiederum komplex organisierte Begriffe wie ›Roman‹, ›Essay‹, ›Drama‹ usw., wie das beim Literaturbegriff der Fall ist. Wahrscheinlich ist gerade die historisch relativ späte Entstehung des Literaturbegriffs als Abstraktion über eine Gruppe von Einzelbegriffen ein Grund für diese komplexe Organisation. Ergebnis dieser ersten Überlegungen ist also folgende Annahme über die Struktur des Literaturbegriffs: Es handelt sich um einen Begriff, der sich am besten nach dem Muster der Familienähnlichkeit beschreiben lässt; gemeinsame Merkmale haben hier aber in erster Linie die Prototypen der Gattungen. Mit solch einer basalen Begriffsstruktur ist allerdings noch wenig geleistet; vielmehr gilt es sie im Folgenden auszufüllen. Einen ersten Schritt dazu stellt die anschließende Skizze zweier prinzipieller Probleme des Begriffs dar, nämlich seine Anwendung zum einen auf Literaturen, in denen es keinen entsprechenden Oberbegriff gibt und die durch andere literarische Praktiken gekennzeichnet sind, und zum anderen auf Literaturen, in denen der Begriff vorhanden ist, aber mit ganz anderen Implikationen, Wertungen und Bedeutungsdimensionen versehen wurde, als es für einen _____________ 28
Vgl. dazu Hirsch: Literatur.
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literaturwissenschaftlichen Begriff brauchbar ist. Es geht, das sei gleich hinzugefügt, nicht um eine sei es noch so skizzenhafte Geschichte des Literaturbegriffs, sondern um die systematische Konfrontation eines prospektiven Literaturbegriffs mit problematischen Phänomenen. In einem zweiten Schritt sollen typische Merkmale von Literatur, die in systematisch ausgerichteten Begriffsbestimmungen herangezogen werden, auf ihre Verwendbarkeit für den anvisierten pragmatischen untersucht werden. 3. Herausforderungen und Probleme des Literaturbegriffs Eine historische Verwendung des Begriffs ›Literatur‹ sieht sich mit einer Fülle von Schwierigkeiten konfrontiert. Ein erstes Problem stellt der Umstand dar, dass die westliche Welt von der Antike bis ins 18. Jahrhundert kein Abstraktum kennt, das dem modernen Begriff von Literatur vergleichbar wäre.29 Das, was unter der Perspektive eines modernen Literaturbegriffs zusammensteht, existiert unverbunden nebeneinander. Die jeweiligen Disziplinen, also etwa die Klassische Philologie oder die Mediävistik, umgehen das Problem durch die aufgrund der dürftigen Überlieferung naheliegende Entscheidung, alle Texte einzubeziehen und einen sehr weiten Literaturbegriff zu vertreten.30 Die lückenhafte Überlieferung und das geringe Wissen über die tatsächlichen Rezeptionsprozesse erweisen sich auch als wesentliches Problem für eine Rekonstruktion auf der Grundlage eines pragmatischen Literaturbegriffs. Man weiß zwar von einigen Gattungen, insbesondere vom Drama, wie sie anfangs rezipiert wurden, aber insbesondere bei der Literatur, die wohl für die Lektüre vorgesehen war, etwa beim griechischen Roman, weiß man nicht, wie und unter welcher Perspektive die Texte geschrieben und gelesen wurden.31 In den über tausend Jahren zwischen der Homerischen Epik und der Schließung der Akademie in Athen entwickelt und verändert sich ein komplexes Gattungssystem, eine ausgefeilte ›Literaturkritik‹32 und eine Vielzahl textbezogener sozialer Praktiken, die als literarisch qualifiziert werden können – aber nur zurückblickend und von heute aus. Denn das Gattungssystem wurde, soweit das sichtbar wird, nicht als Einheit wahrgenommen. Hinzu kommt das Problem, dass aufgrund der lückenhaften Überlieferung auch unklar ist, welchen Stellen_____________ 29 30
31 32
Vgl. Weimar: Literatur. Vgl. für die Klassische Philologie etwa die Liste der behandelten Texte in einschlägigen Darstellungen, z.B. Lesky: Geschichte oder Paulsen: Geschichte. Eine Begründung findet sich bei Fuhrmann: Geschichte, S. 17ff. Für die Mediävistik vgl. etwa Klein: Mittelalter, S. 7. Vgl. Holzberg: Roman, S. 41. Vgl. Kennedy: Cambridge.
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wert die Aussagen in den heute überlieferten Texten haben; ob es sich um typische Vertreter allgemein akzeptierter Positionen handelt oder nicht.33 Interessanterweise wurde das Fehlen eines Oberbegriffs schon in der Antike wahrgenommen. »Diejenige Kunst, die allein die Sprache, in Prosa oder in Versen […], verwendet, hat bis jetzt keine eigene Bezeichnung erhalten«,34 schreibt Aristoteles am Anfang der Poetik. Er wendet sich an dieser Stelle gegen die allgemeine Vorstellung seiner Zeit: »Allerdings verknüpft eine verbreitete Auffassung das Dichten mit dem Vers«,35 d.h. das Dichten wurde üblicherweise mit dem Schreiben in gebundener Rede gleichgesetzt.36 Aristoteles schlägt vor, den Begriff der Nachahmung ins Zentrum einer Bestimmung von Dichtung zu stellen, so dass lyrische Texte, philosophische Dialoge und Prosaerzählungen unter diesen Begriff fallen, während z.B. medizinische oder philosophische Lehrdichtung in Versen davon zu unterscheiden sind. Aristoteles’ Vorschlag scheint keinen merkbaren Einfluss auf die allgemeine Verwendung des Begriffs des ›Dichtens‹ gehabt zu haben.37 Aber die Diskussionen der etablierten Kategorienbildung in Bezug auf Dichtung, wie man sie etwa bei Aristoteles oder Cicero finden kann, machen die prinzipielle Verfügbarkeit alternativer Ordnungsmodelle sichtbar. Die Heterogenität der überlieferten oder erwähnten Textformen – man denke hier auch an das Epos, an die Geschichtsschreibung und an philosophische Texte, häufig in Form von Dialogen – und der mit ihnen verbundenen sozialen Praktiken, zu denen nicht zuletzt die Regeln des Verstehens gehören, schließt auch die mediale Diversität ein: Die Tragödien und Komödien werden öffentlich und vor größerem Publikum aufgeführt; auch die so genannten Konzertredner traten öffentlich auf,38 was ebenfalls für die Aufführung bestimmter lyrischer Formen, beispielsweise des Dithyrambos, gilt. Andere werden dagegen vor allem in kleinerem Kreise präsentiert, etwa während des Gastmahls, und weitere Textformen, z.B. der spätantike Roman, aber auch das Epigramm, scheinen bereits in erster Linie der Lektüre vorbehalten zu sein.39 Die Gebrauchsregeln von Texten waren ganz anders verteilt; so war Lyrik wohl immer an ein bestimmtes _____________ 33 34 35 36 37 38 39
Siehe dazu auch Arweiler im vorliegenden Band S. 558. Aristoteles: Poetik, 1447a und b. Ebd., S. 7 Weitere Belege für diese Auffassung bei Fuhrmann: Dichtungstheorie, S. 203 Anm. 19 sowie S. 114. Fuhrmann interpretiert eine Passage bei Cicero als Reflex auf Aristoteles, allerdings ist der Passage auch zu entnehmen, dass immer noch die Auffassung verbreitet war, Dichtung seien alle Texte in Versen; vgl. ebd., S. 114. Nach Ludwig Rademacher; vgl. Lesky: Geschichte, S. 934. Vgl. neben den Titeln in der vorangehenden Anmerkung auch Holzberg: Roman, S. 52ff. zu den Bildungsvoraussetzungen der Leser.
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Ereignis gebunden.40 Die Frage, ob und in welcher Form Fiktionalitätsbewusstsein vorhanden war, ist noch offen und dürfte für die unterschiedlichen Epochen der Antike unterschiedlich zu beantworten sein. Die Gattungen wurden teils gleich, teils anders konzipiert, für eine Gattung wie den Roman existierte wohl überhaupt keine Gattungsbezeichnung.41 Mit der Rhetorik und der Versifizierungskunst existierten zwei umfassende und mächtige Textstrukturierungsverfahren, die allgemein Anwendung fanden, aber – zumindest zeitweise – zwei distinkten Berufsgruppen, den Rednern und den Dichtern, zugeordnet wurden. Angesichts dieser Sachlage scheint eigentlich jede Verwendung eines modernen Literaturbegriffs hoffnungslos anachronistisch. Nur ein Begriff, der möglichst wenig Vorgaben macht und dennoch ein Suchschema vorgibt, könnte das Problem umgehen. Er kann durchaus heuristische Funktion haben, indem er gerade als Folie dient, um etwa die andere Wahrnehmung und entsprechend andere Zuordnung von Literarizität und Fiktionalität sichtbar zu machen oder um auf diesem Hintergrund die Gattungsformation und ihre Binnenstruktur zu untersuchen. Aber auch die Verwendung des Literaturbegriffs in Zeiten, die über einen solchen verfügen, erweist sich schnell als problematisch, wenn diese ihn ganz anders konzipieren, insbesondere wenn sie ihn mit ausgeprägten normativen Annahmen verknüpfen, wie das oft der Fall ist. Ein Beispiel dafür stellt der Literaturbegriff im 19. Jahrhundert dar. Vorliegende Arbeiten zum Literaturbegriff beziehen sich in der Regel auf die Literaturauffassungen von Autoren,42 seltener auf die zeitgenössischen Poetiken. Allerdings ist die Präsenz und Relevanz von Poetiken lange Zeit unterschätzt worden, und ihre Vielfalt wurde erst jüngst systematisch erschlossen.43 Gerade im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren diese Texte weit verbreitet und dürften einen nicht unerheblichen Einblick in die zeitgenössischen Konzepte von Literatur vermitteln. Sie blieben präsent bis in die 1950er Jahre.44 Auffällig ist, dass die Auffassungen von Literatur in weniger starkem Maße als die jeweiligen Fundierungen der verschiedenen Poetiken variieren. Insgesamt scheint hier ein, wenn auch impliziter Konsens darüber _____________ 40 41 42 43
44
Vgl. Paulsen: Geschichte, S. 46. Ebd., S. 356. So etwa Arntzen: Literaturbegriff. Einen materialreichen historischen Überblick über die Entwicklung von deutschsprachigen Poetiken hat Sandra Richter verfasst (Richter: History). Auf der Basis von (wenn man nur die ersten Auflagen berücksichtigt) ca. 250 Poetiken verschiedener Typen im Untersuchungszeitraum von 1770 bis 1960 hat sie das vielfältige Terrain erschlossen und die unterschiedlichen Positionen dargestellt, die von eklektizistischen populärphilosophischen Poetiken über idealistische Spielarten, frühe Beispiele naturwissenschaftlich orientierter Poetiken bis zu holistischen Ansätzen reichen. Vgl. ebd., Kap. I.2.
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zu bestehen, was Literatur ausmache. Verbreitet ist die Annahme, dass sie aufgrund bestimmter Wirkungsmechanismen einen besonders wertvollen Beitrag zur Ausbildung von – allgemein gesprochen – Humanität leisten könne, eine Annahme, die in Begriffen der Freiheit und Autonomie formuliert wird,45 und entsprechend wird auch die Trias des Guten, Wahren und Schönen noch immer bemüht.46 Dieser Konsens liegt wohl auch darin begründet, dass es in aller Regel um ›Poesie‹ oder ›Dichtung‹ geht, mithin um eine bereits auf besondere ästhetische Qualitäten fokussierte Auffassung von Literatur.47 Ein Blick in einflussreiche Literaturgeschichten der Zeit zeigt dagegen, dass die Grenzen des Gegenstandsbereichs weiter gesteckt werden: Behandelt werden literarische Texte im Sinne der Gattungstrias – die ›Poesie‹ der Poetiken –, dazu aber auch Textsorten wie die moralischen Wochenschriften, Essays, Autoren-Poetiken und andere programmatische Texte von Autoren. Diese weite Auffassung von Literatur findet sich sogar in Geschichten, die dezidiert die Entwicklung der ›Dichtung‹ untersuchen.48 Auch für diese historische Situation gilt also das oben Gesagte über die Möglichkeiten eines pragmatischen Literaturbegriffs, der dieser bei näherer Betrachtung komplexen zeitgenössischen Verwendung des Literaturbegriffs gerecht werden soll, ohne sie zugleich übernehmen zu müssen. 4. Literatur: Begriff und Phänomen, systematisch Welche Eigenschaften literarischer Texte als spezifisch gelten und welche Kriterien in der Bestimmung von ›Literatur‹ unter einer systematischen Perspektive angeführt werden, wird in diesem Abschnitt untersucht. Ziel ist, den Stellenwert zu klären, den diese Merkmale bzw. Kriterien für die anvisierte pragmatische Begriffsbestimmung haben können. In systematischer Hinsicht lassen sich zwei Komponenten unterscheiden, die in Definitionen des Begriffs ›Literatur‹ beachtet werden, sowie eine meist nicht reflektierte dritte Bedeutungskomponente, die die Begriffsverwendung mitbestimmt. Um Literatur von anderen ›Textsorten‹ abzugrenzen, werden in der Regel ›intrinsische‹, auf internen Strukturen der Texte beruhende Merkmale (4.1) und ›extrinsische‹, an Bedingungen des Umgangs mit literarischen Texten gebundene Besonderheiten (4.2) angeführt, die Litera_____________ 45 46 47 48
So z.B. in jeweils anderen Begründungszusammenhängen bei Moritz Carrière (vgl. ebd., Kap. 6.a) und in Heinrich Viehoffs 1888 erschienener Poetik auf der Grundlage der Erfahrungsselenlehre (vgl. ebd., Kap. 6.b). Z.B. noch von Gustav Theodor Fechner und Heinrich Viehoff; vgl. ebd., Kap. 6.b. Dazu auch Weimar: Literatur, S. 446. Nur ein Beispiel von zahlreichen: Hettner, Geschichte, Kap. I.3.1. und II.3.1.
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tur auszeichnen. Unter den ›intrinsischen‹ Merkmalen sind Fiktionalität und Poetizität die am häufigsten genannten Merkmale, zu den ›extrinsischen‹ zählen die verschiedenen Funktionen, die Literatur zugeschrieben werden. Diese Merkmale werden bekanntlich inhaltlich unterschiedlich bestimmt und in ihrer Relevanz unterschiedlich gewichtet; nicht alle müssen gleichermaßen angeführt werden, aber ohne zumindest einige von ihnen kommt eine Definition von ›Literatur‹ nicht aus. Von diesen Komponenten des Literaturbegriffs zu unterscheiden, ist ein Modus der Begriffsverwendung, der ebenfalls zur Grenzziehung beiträgt, um die es hier geht: ›Literatur‹ kann als deskriptives oder klassifikatorisches Konzept relativ wertneutral verwendet werden, kann aber auch als Wertbegriff dienen, der die Grenzen zwischen Literatur und Nicht-Literatur als solche zwischen wertvollen und weniger wertvollen Texten festsetzt (4.3). 4.1 Intrinsische Kriterien: Fiktionalität und Poetizität Als typische Merkmale für literarische Texte, die an deren Textualität oder besondere Machart gebunden sind, werden, wie oben erwähnt, seit langem Fiktionalität und Poetizität angeführt. Während unter ›Fiktionalität‹ meist eine bestimmte Darstellungsweise in Relation zur außertextuellen Wirklichkeit bzw. ein auf dieser Darstellungsweise basierender Modus der Kommunikation verstanden wird, sind mit ›Poetizität‹ in der Regel besondere sprachliche Merkmale literarischer Texte gemeint. Auch wenn es unterschiedliche Konjunkturen der jeweiligen Debatten gab, ist über die Fiktionalität im 20. Jahrhundert erheblich häufiger nachgedacht worden als über die besondere Sprachverwendung literarischer Texte. Überlegungen zum fiktionalen Status literarischer Texte werden aus literaturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive angestellt. In der analytischen Ästhetik entwickelte sich eine breite Fiktionalitätsdebatte im Kontext von Arbeiten, die nach den Wahrheitsbedingungen von Behauptungssätzen mit Ausdrücken fragten, die nicht existierende Entitäten bezeichnen und damit nicht – oder nicht im üblichen Sinne – denotieren. Diese Debatte umfasst vor allem drei Problemkomplexe: Erklärt werden sollen ›Wesen‹ oder Status von Fiktionalität, das Verhältnis von Fiktion und Realität und/oder Wahrheit und das Phänomen, dass das Schicksal fiktiver Personen wirkliche Gefühle in den Lesern hervorrufen kann. Die ersten beiden Problemfelder behandeln auch die im engeren Sinne literaturwissenschaftlichen Beiträge häufig, wenn auch mit anderen Akzenten, und zudem geht es ihnen um die Fragen nach den Fiktionalitätskriterien und -signalen und den Funktionen, die fiktionale Texte übernehmen.
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Die Heterogenität vorliegender Fiktionalitätstheorien ist des Öfteren festgestellt worden; die Definitionen von ›Fiktion‹ und ›Fiktionalität‹ variieren mit den Beschreibungszusammenhängen und den verwendeten Bezugstheorien.49 Ohne einen vollständigen Abriss der verschiedenen Auffassungen geben zu können, seien hier nur vier einflussreiche Positionen skizziert, die diese Heterogenität illustrieren. (1) Mit sprechakttheoretischer Begründung bestimmt John Searle in seinem oft zitierten Beitrag die fiktionale Rede als Diskursform, in der die ›normalen‹ »vertikalen Regeln« der Bezugnahme von Sprache auf Welt außer Kraft gesetzt sind;50 Gottfried Gabriel bestimmt sie als »nicht-behauptende Rede«, die »keinen Anspruch auf Referentialisierbarkeit oder auf Erfülltheit erhebt«, zugleich aber Wahrheit in einem spezifischen Sinne beanspruchen kann.51 Zu den Leistungen fiktionaler Rede werden hier soziale Funktionen und verschiedene Erkenntnismöglichkeiten gerechnet. In Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen zum Status fiktionaler Rede sind zahlreiche Beiträge auf der Grundlage analytischer Philosophie entstanden.52 (2) Nicht auf die Besonderheiten fiktionalen Sprechens, sondern auf das Fingieren als anthropologisch fundierte Tätigkeit zielt dagegen Wolfgang Isers Ansatz. Iser interessiert sich für den Prozess und die Leistungen des literarischen Fingierens, welches er als »Inszenierung kreativer Prozesse« und als Tätigkeit auffasst, die »anthropologische[] Grundmuster zum Vorschein« bringt.53 Der Zweck literarischen Fingierens liegt unter anderem darin, den Lesern nicht realisierte existenzielle Möglichkeiten verfügbar zu machen, Spielräume der Imagination zu eröffnen und Grenzüberschreitungen im »Spielen« zu ermöglichen –54 und damit menschliche Bedürfnisse zu erfüllen, die nur auf diese Weise erfüllbar sind. Solche anthropologischen Erklärungsversuche für Fiktionalität werden neuerdings auf eine evolutionsbiologische Grundlage gestellt und mit trennschärferen Begriffen ausgestattet.55 (3) Vertreter pragmatischer Fiktionalitätstheorien wiederum untersuchen die situativen Bedingungen, unter denen fiktionales Sprechen möglich ist. Für Rainer Warning etwa veranschaulicht das Theatermodell diese Bedingungen. Der fiktionale _____________ 49 50 51 52 53
54 55
Vgl. dazu genauer Zipfel: Fiktion, S. 14-18; zur Unterscheidung von ›Fiktion‹, ›Fiktivität‹ und ›Fiktionalität‹ ebd., S. 19 sowie Kap. 3 und 4; vgl. auch Rühling: Fiktionalität. Searle: Status, S. 88. Gabriel: Fiktion, S. 20, 93 u.ö. Zu neueren Positionen siehe den Beitrag von Jan Gertken und Tilmann Köppe in diesem Band. Vgl. Iser: Fingieren, S. 18; den Aspekt der Grenzüberschreitung betont Iser in seinem Dichotomien vermeidenden triadischen Modell, in dem er »das Fiktive« als »Übergangsgestalt« versteht, die »sich immer zwischen das Reale und das Imaginäre zum Zweck ihrer wechselseitigen Anschließbarkeit schiebt« (Iser: Akte, S. 150). Vgl. Iser: Fingieren, S. 30; auch Iser: Akte, S. 123ff. Siehe dazu den Beitrag von Karl Eibl in diesem Band.
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Diskurs ist demnach »ein inszenierter Diskurs, der Rollenspiel seitens des Autors und seitens des Rezipienten voraussetzt« und in dem beide Seiten einen entsprechenden »Kontrakt« eingehen.56 Auch in diesem Modell liegt die Funktion fiktionalen Diskurses darin, Gelegenheiten zum ›entlasteten‹, spielerischen Handeln und Erkenntnisgewinn zu geben sowie gespielte und damit reflektierte Identifikation zu ermöglichen.57 (4) Spielerisches Probehandeln erlauben Fiktionen den Rezipienten auch in konstruktivistischen Modellen. Hier gelten Fiktionen jedoch als mentale Konstrukte besonderen Typs, die sich allerdings nicht prinzipiell von den ›Realität‹ genannten Konstrukten unterscheiden. Fiktionen sind demnach »Wahrnehmungen und Vorstellungen, die nicht durch andere Wahrnehmungen […] gestützt werden und deren Bedeutungen keine festgelegte soziale Basis haben«.58 Die skizzierten Positionen heben sich nicht nur in ihrer leitenden Fragestellung und Bestimmung von ›Fiktion‹ oder ›Fiktionalität‹ voneinander ab, sondern auch in ihrer Einschätzung eines Differenzmerkmals, das die Alltagsauffassung fiktionaler Texte besonders stark prägt: Sie gelten als solche Texte, die Erfundenes darstellen oder erzählen. Historisch betrachtet, hat diese klare Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität eine lange Tradition: So wurden Fiktionen bekanntlich als ›Schein‹ aufgefasst, in Gegensatz zum ›Sein‹ gestellt und als im Vergleich mit der Wirklichkeit defizitär kritisiert.59 In der Moderne dagegen wird die Wertung oftmals umgekehrt: Als defizitär gilt nun die Realität, als reicher und vollständiger die Fiktion.60 Während viele philosophisch argumentierende Positionen einen (wenn auch anhand verschiedener Kriterien identifizierten) Unterschied zwischen Fiktion und Realität behaupten,61 vermeiden oder relativieren die meisten literaturwissenschaftlichen Ansätze solche strikten Grenzziehungen.62 Sie versuchen beispielsweise die ›Welthaltigkeit‹ fiktionaler lite_____________ 56 57 58 59 60
61 62
Warning: Diskurs, S. 193 und 194. Ebd., z.B. S. 204f. – Dass fiktionale Texte in viel direkterem Sinne eine Quelle von Erkenntnis für ihre Leser sein können, zeigt der Beitrag von Margrit Schreier in diesem Band. Hejl: Realitäten, S. 224; vgl. auch Scheffer: Interpretation, S. 145-148. Vgl. Assmann: Fiktion, S. 256f. – Welche Funktion Konzepten der Fiktionalität im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung des Literatursystems zukam, beleuchtet der Beitrag von Hans-Edwin Friedrich in diesem Band. Ähnlich kann der fehlende Anspruch auf Wahrheit (im korrespondenztheoretischen Sinne) positiv gewertet werden: Gerade durch diesen Verzicht auf einen Wahrheitsanspruch kann die Multiperspektivik fiktionaler literarischer Texte und damit ihre Polyvalenz erklärt werden. Die ästhetische Komponente literarischer fiktionaler Texte hat nach Assmann hier ihren Grund; Assmann: Fiktion, S. 256. Vgl. auch die Verbindung von Polyvalenz- und Ästhetikkonvention bei Schmidt: Grundriß, S. 148ff. Z.B. Searle: Status; Gabriel: Fiktion; auch Warning: Diskurs. Vgl. dazu auch Zipfel: Fiktion, S. 16.
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rarischer Texte angemessen zu beschreiben, mithin das Phänomen, dass in Fiktionen Bezugnahmen auf Sachverhalte oder Ereignisse der Wirklichkeit integriert sind. So betonen etwa Warning und Genette das modellhafte Vorkommen von »Lebenswelt« in fiktionaler Literatur,63 und auch für Iser gibt es »sehr viel Realität« im fiktionalen Text, vor allem soziale und emotionale Realitätsbezüge.64 Aus konstruktivistischer Sicht dagegen haben Fiktion und Realität gleichermaßen den Status kognitiver Konstruktionen, und die Unterschiede zwischen »Real-Fiktion« und »Kunst-Fiktion« sind nur gradueller bzw. konventioneller Natur.65 Als zweites intrinsisches Merkmal der Literatur wird ihre ›Poetizität‹ diskutiert, womit im Allgemeinen die Besonderheit literarischer Sprachverwendung gemeint ist. Diese Auffassung geht von der Annahme aus, dass es spezifische sprachliche Einheiten gibt, die sich als ›poetisch‹ klassifizieren lassen.66 Zum Teil wird ›Poetizität‹ als notwendiges und hinreichendes Kriterium zur Unterscheidung von Literatur und Nicht-Literatur herangezogen, womit der Begriff gleichbedeutend mit ›Literarizität‹ wird;67 zum Teil wird er aber auch nur für eine – oft nur vage umrissene – Gruppe literarischer Texte verwendet, nämlich die ›poetischen‹, d.h. in schöner bzw. gehobener Sprache und/oder in Gedichtform geschriebenen.68 Der Begriff kann sowohl klassifikatorisch als auch normativ eingesetzt werden.69 Er wurde allerdings seit den 1980er Jahren deutlich seltener behandelt als der Fiktions- bzw. Fiktionalitätsbegriff. Für diesen liegt das Forschungsproblem im Nebeneinander zahlreicher Bestimmungsvorschläge, von denen längst nicht alle miteinander vereinbar sind; Forschungen zur Poetizität dagegen stehen vor der Schwierigkeit, dass das Phänomen selbst in Frage gestellt wird: Umstritten ist, ob es tatsächlich eine spezifisch poetische Qualität von Literatur gebe. Systematische Studien zur Poetizität haben vor allem die Formalisten und frühen Strukturalisten vorgelegt. Prägend war hier Roman Jakobsons Bestimmung der poetischen Funktion der Sprache als »Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen«,70 mit deren Hilfe poetische Texte die Beziehung von Zeichen und _____________ 63 64 65 66 67 68 69 70
Warning: Diskurs, S. 201; vergleichbar auch Genette: Erzählung, S. 91. Iser: Akte, S. 122. Zur Verbindung von Weltbezug und Fiktion bzw. von ›referentieller Praxis‹ und ›Fiktions-Praxis‹ siehe den Beitrag von Frank Zipfel in diesem Band. Scheffer: Interpretation, S. 146; vgl. auch Hejl: Realitäten, S. 224. Vgl. van Peer: Poetizität, S. 111. Zu verschiedenen neueren Literarizitätskonzepten siehe den Beitrag von Simone Winko in diesem Band. Vgl. dazu Weimar: Poesie, S. 96. Vgl. Rühling: Fiktionalität, S. 38ff. Jakobson: Linguistik, S. 108.
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Bezeichnetem ins Bewusstsein heben. Unter den – wenigen – neueren Forschungen zur Poetizität zeichnen sich besonders die Abweichungstheorien der Literatur aus.71 Nach Harald Fricke ist poetische Sprachverwendung durch funktionstragende Verletzungen sprachlicher Normen gekennzeichnet.72 Sprachliche Normverletzung ist für ihn eine (und die einzige) notwendige Bedingung für Poesie bzw. poetisches Sprechen, die an Texteigenschaften gebunden ist. Zu diesen Normverletzungen zählen sehr unterschiedliche sprachliche Phänomene; das Spektrum reicht von (ortho-)graphischen Abweichungen von der Normalsprache über phonologische, morphologische, lexikalische und syntaktische Eigenheiten, die in der Alltagskommunikation sanktioniert würden, bis hin zu semantischen Normbrüchen – etwa Regelverstößen des metaphorischen Sprechens – und zu pragmatischen Regelverletzungen, die z.B. vorliegen, wenn Gelingensbedingungen von Sprechakten in literarischen Texten missachtet werden. Auch Abweichungen von der Realitätserfahrung (fiktive Welten), dem empirisch Möglichen (z.B. phantastische Fiktion) und dem logisch Möglichen (z.B. Paradoxa) werden zu diesen Sprachverstößen gezählt. Ihnen gemeinsam ist, dass sie, so Fricke, sprachliche Beschränkungen überwinden. Um poetisch zu sein, müssen sie eine nachweisbare Funktion haben, d.h. sie müssen interne Beziehungen zwischen Textelementen oder Verbindungen zwischen dem Text und einem externen Sachverhalt herstellen.73 Umstritten ist, ob es sich bei diesen spezifisch poetischen Merkmalen tatsächlich um Texteigenschaften handelt oder nicht vielmehr um Modi der Verarbeitung von Texten, die eben nicht vom sprachlichen Material, sondern von Vorgaben der Rezeptionssituation gesteuert werden. Diese Position wurde im Kontext empirischer Literaturwissenschaft stark gemacht.74 Sie traf sich mit der poststrukturalistischen Grundsatzkritik an Positionen, die ein fundamentum in re annehmen, um Bedeutung in literarischen Texten rekonstruieren zu können. Die Suche nach notwendigen und/oder hinreichenden Bedingungen des Literarischen wird als verfehlt betrachtet,75 vermeintliche Texteigenschaften werden als variable, auf Konventionen basierende Zuschreibungen aufgefasst, die keineswegs notwendig sind. _____________ 71 72 73 74 75
Rühling: Fiktionalität, S. 41ff.; die anti-essentialistischen Theorien, z.B. institutionelle Theorien der Kunst, die Rühling als Beispiele für die Bestimmung von ›Poetizität‹ anführt, werden hier dem extrinsischen Aspekt der Literaturauffassungen zugeordnet. Fricke: Norm, S. 103; zu den Beispielen für sprachliche Normverletzungen vgl. ebd., Kap. 2. Vgl. zusammenfassend ebd., S. 100. Vgl. programmatisch Schmidt: Theorie. Z.B. Fohrmann / Müller: Einleitung, S. 16.
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Unser Fazit aus der knappen Betrachtung der Versuche, Literatur mit Bezug auf Fiktionalität und Poetizität zu bestimmen, teilen wir mit den meisten neueren Arbeiten zum Literaturbegriff: Beide Konzepte sind weder für sich genommen noch gemeinsam geeignet, ›Literatur‹ zu bestimmen. Zugleich sind jedoch Versuche, ohne Bezug auf diese Begriffe zu bestimmen, was unter ›Literatur‹ zu verstehen sein, nicht plausibel. Ein Argument dafür sehen wir in der Tatsache, dass die Merkmale der Fiktionalität und Poetizität dem Phänomen ›Literatur‹ im Laufe ihrer Geschichte immer wieder und mit wechselnden Erklärungen zugeschrieben worden sind. Ein literaturwissenschaftlicher Begriff von ›Literatur‹ sollte daher diese Merkmale integrieren, dies aber in einer Weise, die der jeweiligen historischen Variabilität der Ausprägungen entspricht. 4.2 Extrinsische Kriterien: Funktionen der Literatur Die zweite Strategie, den Literaturbegriff systematisch abzugrenzen,76 vermeidet die Schwierigkeit, Kriterien in der Struktur oder im Redemodus literarischer Texte identifizieren zu müssen, und führt stattdessen unterschiedliche Funktionen an, die Literatur erfüllt. Probleme dieser Strategie liegen nicht allein in dem Umstand, dass Literatur an sich keine Funktion ›hat‹, sie vielmehr erst in der literarischen Kommunikation gewinnt,77 sondern auch in der Vielzahl möglicher Funktionen, von denen bestimmte als konstitutiv ausgewiesen werden müssen.78 Eine Rekonstruktion der Funktionen von Literatur steht zudem vor der Schwierigkeit, dass der Funktionsbegriff alles andere als klar abgegrenzt ist und sehr uneinheitlich verwendet wird.79 Hier soll ›Funktion‹ in heuristischer Weise als Relationsbegriff aufgefasst werden, der die Beziehung bezeichnet, die zwischen Gegenständen (mit potentiellen Eigenschaften), ihren Wirkungen (im Falle einer Realisierung dieser Eigenschaften) und einer Bezugsgröße (Individuum, Kollektiv u.a.) besteht. Im Unterschied zum Begriff der Wirkung bezieht sich ›Funktion‹ auf keinen empirisch erhebbaren Effekt, sondern auf das Potential, eine empirisch nachweisbare Wirkung hervorzubringen, und setzt einen – jeweils unterschiedlich bestimmten – Bedingungszusammenhang voraus. _____________ 76 77 78 79
Vgl. dazu kritisch Derrida: Institution, S. 92. Darauf weisen u.a. Fluck: Imaginäre und Sommer: Funktionsgeschichte hin. Ein umfassender Überblick über die Funktionen, die Kunst zugeschrieben worden sind und werden, sowie eine Unterscheidung von konstitutiven und nicht-konstitutiven Funktionen findet sich bei Schmücker: Funktionen, S. 28. Klarer bestimmt ist der Funktionsbegriff im Rahmen von Abweichungstheorien, wo er die Beziehung von Texteinheiten zueinander und zu außertextuellen Einheiten bezeichnet; vgl. dazu Fricke: Funktion, S. 643.
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Eine Funktionsgeschichte der Literatur ist bislang noch nicht geschrieben worden – ein Defizit, das wir im Folgenden nicht ausgleichen können. Stattdessen soll ein unvollständiger Überblick über wichtige Funktionen gegeben werden, die der Literatur im Laufe ihrer Geschichte zugeschrieben worden sind. Als Ordnungsraster dienen uns die oben genannten beiden Bezugsgrößen der funktionalen Beziehung: Individuelle Funktionsbestimmungen (1) sind von kollektiv-sozialen (2) zu unterscheiden. Eine weitere in der Forschung des Öfteren angeführte Gruppe, die ästhetisch-formalen Funktionen der Literatur, liegt ›quer‹ zu diesem Raster. Sie bezieht sich auf die in Abschnitt 4.1 behandelten intrinsischen Eigenschaften und ist daher abschließend nur noch kurz zu betrachten (3). Alle drei Typen von Funktionen sind in der Literaturwissenschaft hypothetisch formuliert worden, und die angenommene oder postulierte Wirkung kann sich so gut wie nicht auf empirische Überprüfungen oder Untersuchungen anhand definierter Lesergruppen oder Korpora stützen.80 Das gibt den Funktionsbestimmungen einen spekulativen Charakter, der Erwartungen an Literatur und Wertungen mit einspielt, die ihrerseits Teil einer Funktionsgeschichte von Literatur sind. Historisch betrachtet ist die systematische Unterscheidung zwischen individuellen und kollektiven Funktionen allerdings gleich zu relativieren. Dies lässt sich am Beispiel einer der ältesten Funktionsbestimmungen der Literatur zeigen, die in der Vorstellung von der kathartischen Wirkung der Literatur gründet. Aristoteles hat bekanntlich die ästhetische Katharsis als eine zugleich seelische wie körperliche Reinigung durch die Schrecken und Jammer erregende Wirkung der Tragödie oder auch der Musik verstanden, ohne dass aus seiner Poetik (1449b) klar hervorgehen würde, ob er sich diese Katharsis als Reinigung oder Läuterung der Affekte vorstellt. So kann sie im Sinne einer Mediatisierung der Affekte oder einer Befreiung von überwältigenden Interessen verstanden werden oder als eine Art der durch den Vollzug starker Affekte bewirkten medizinischen Herabstimmung von Affekten, die als schädlich aufgefasst werden. Die Katharsis ist bei Aristoteles freilich nicht die eigentliche Funktion der Literatur. Vielmehr verknüpft er seine Poetik mit seiner Politik auf eine für die vormodernen Kulturen typische Weise, indem er die individuelle Affektregulierung durch die Künste mit ihrer politischen Funktion verbindet. Die Funktion der Künste liegt nicht in der individuellen Katharsis, sondern in der gesellschaftlichen Glückseligkeit, in der Eudaimonia, die durch sie bewirkt wird.81 _____________ 80 81
Darauf hat wiederholt Fluck hingewiesen: Imaginäre; auch Gymnich / Nünning: Ansätze. Vgl. Flashar: Poetik.
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Auch in anderen Kulturkreisen wie etwa im chinesischen Kaiserreich82 wird üblicherweise eine Funktion der Literatur darin gesehen, zum Gelingen des Staates beizutragen. Das schließt andere, vor allem unterhaltende Funktionen der Literatur nicht aus, wie sie in der dann klassisch gewordenen Formel prodesse et delectare verdichtet wurden, die man aus Horaz’ aut prodesse volunt aut delectare poetae (V. 333) seiner Ars poetica abgeleitet hat und die keineswegs nur auf die römische Literatur seiner Zeit zutrifft.83 Individuelle und kollektive Funktionen hängen also miteinander zusammen bzw. die kollektive Leistung von Literatur soll in der Regel über bestimmte individuelle Wirkungen erzielt werden. (1) Zu den individuellen Funktionen gehören alle Funktionen, die dem Lesen oder auch Verfassen von Literatur mit Bezug auf den Einzelnen zugeschrieben werden. Traditionellerweise sind dies vor allem kognitive und moralische, emotive, therapeutische und unterhaltende Funktionen. Neben der bereits angesprochenen Katharsisfunktion, die unter individueller Perspektive zu den therapeutischen Funktionen gerechnet werden kann, zählt die Aufgabe bzw. das Potential von Literatur, eine besondere Form der Erkenntnis zu liefern, zu den oft vorgebrachten Bestimmungen von Literatur.84 Diese spezifische Erkenntnis kann mit der Annahme eines besonderen Wahrheitszuganges des Autors begründet werden, der sich nur im literarischen Werk manifestieren könne, oder auch mit formalen Besonderheiten der Literatur, z.B. mit ihrer Fiktionalität, die das spielerische Einnehmen von Einstellungen ermöglicht, mit ihren spezifischen sprachlichen Möglichkeiten oder ihrer sinnlich-anschaulichen Darstellungsweise. Individuelle Funktionszuschreibungen an Literatur arbeiten bevorzugt mit Modellen der Wunscherfüllung, die mit Bezug auf unterschiedliche psychologische Theorien begründet werden.85 In psychoanalytischen Ansätzen drückt Literatur meist die Wunscherfüllung des Autors aus und befriedigt unbewusste Wünsche der Leser. Verdrängte Wünsche und ein nie ganz gesellschaftlich zu regulierendes Begehren werden in der Literatur verschoben ausgesprochen. Literatur fungiert damit auch als Ort prekärer Subjektivität.86 Roland Barthes hat es 1960 so formuliert: »die Literatur ist _____________ 82 83 84 85 86
Vgl. den Beitrag von Karl-Heinz Pohl in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Henrike Simon zur Literatur des Alten Ägyptens in diesem Band. Zur Vermittlung von klarer und distinkter Erkenntnis durch fiktionale Literatur vgl. zusammenfassend Gabriel: Fiktion, S. 107-111; zum Verhältnis von Literatur und Erkenntnis mit Bezug auf verschiedene Typen von Wissen vgl. Köppe: Literatur. Z.B. mit Bezug auf Erkenntnisse der Kognitionspsychologie bzw. -biologie, so Schmidt: Grundriß, S. 180f.; weitaus häufiger jedoch mit Bezug auf psychoanalytische Annahmen. So z.B. in Adornos Kafka-Interpretation; vgl. Adorno: Aufzeichnungen, S. 260.
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die Gesamtheit von Gegenständen und Regeln, von Techniken und Werken, deren Funktion in der allgemeinen Ökonomie unserer Gesellschaft darin besteht, gerade die Subjektivität zu institutionalisieren«.87 Damit wird eine kollektive Funktion angesprochen, die durch bestimmte Wirkungen der Literatur für Leser und Autoren erzielt werden kann. Autoren sind demnach nur andere Psychoanalytiker, und ihr Tun ist selbst etwas, das der Psychoanalyse zugänglich ist, ja erst von ihr begriffen wird.88 Solche Funktionszuweisungen an die Literatur als privilegierten Ort der Verhandlungen von Individualität lassen sich noch steigern. Jacques Lacan etwa bestimmt Literatur unter anderem mit Bezug auf das sich in der immer neuen Verschiebung der Zeichen nur indirekt aussprechende Begehren. Literatur fungiert hier als eine der Sprachen des Begehrens, »als Sprache, die das Begehren an eben dem Punkt ergreift, wo dieses sich vermenschlicht, indem es sich zu erkennen gibt«. Damit ist Literatur »zugleich das absolut Besondere des Subjekts«.89 Entsprechend dominieren in den literaturwissenschaftlichen Adaptionen der strukturalen Psychoanalyse Formulierungen vom »Textbegehren« der Literatur.90 Der Literatur wird die Aufgabe zugesprochen, den prekären Status der Subjektivität zu erweisen.91 Ein guter Teil der Kritischen Theorie wie dann besonders des Poststrukturalismus folgt dieser individuell-psychologischen Funktionsauffassung. Zuschreibungen therapeutischer Funktionen können hier ebenso anschließen wie Auffassungen von der Literatur als Kritik oder Subversion. Am Rand des Faches bleiben literaturpsychologische Untersuchungen zum tatsächlichen Leseverhalten, damit auch Untersuchungen zur Funktion von Literatur in Prozessen der Lese- und Bildungssozialisation.92 Solche Ansätze, die eine funktionsgeschichtliche Forschung empirisch begründen könnten, sind nicht zufällig aus der Disziplin Literaturwissenschaft in angrenzende Fächer wie die Bildungswissenschaften und die Psychologie ausgewandert. Es dominieren die individuell-psychologischen Funktionszuschreibungen anti-empirischer Ausrichtung, und diese gewinnen gerade in der Gegenstellung zur Empirie ihre kulturkritische Wirkung. Seit den 1990er Jahren werden die individuellen Funktionen der Literatur allerdings verstärkt in einen weiteren Rahmen gestellt, und es wird nach ihren evolutionsbiologischen bzw. -psychologischen Leistungen gefragt.93 _____________ 87 88 89 90 91 92 93
Barthes: Literatur, S. 35. So z.B. Freud: Das Unheimliche. Lacan: Funktion, S. 137. Z.B. Gallas: Textbegehren. Z.B. Kittler: Phantom. Groeben: Einleitung. Vgl. den Beitrag von Karl Eibl in diesem Band, auch Eibl: Kultur; Carroll: Darwinism; für Kunst generell vgl. Carroll: Art, S. 198-201.
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(2) Die zweite Gruppe von Funktionen, die Literatur zugeschrieben werden, bilden die kollektiv-sozialen. Hierunter fallen z.B. kultische Funktionen, religiöse und weltanschauliche Funktionen, Funktionen kollektiver Erinnerung sowie solche sozialer Distinktion. In aller Regel handelt es sich dabei um keine konstitutiven Funktionen; welcher Stellenwert ihnen für die Bestimmung von Literatur zugeschrieben wird, variiert aber mit den theoretischen Rahmenannahmen. Weit verbreitet ist die Überzeugung, Literatur habe eine genuin gesellschaftskritische Aufgabe. Schon in der Protosoziologie des 19. Jahrhunderts, dann aber prominent in der Entfremdungsthese Karl Marx’ sind die Kritik des Individuums und die Kritik der Gesellschaft aneinander gekoppelt. Literatur fungiert hier vor allem als Phänomen des ›Überbaus‹, das die realen sozialen Verhältnisse ›widerspiegelt‹. Literatur habe die Funktion, so Marx und Engels in der SickingenDebatte, die gesellschaftlichen Antagonismen möglichst treu und nicht tendenziös darzustellen.94 Literatur bezieht sich damit in doppelter Weise auf die tatsächliche Entwicklung der Gesellschaft: als dialektisches Ergebnis der gesellschaftlichen Gegensätze wie als ihr Abbild. Die Funktion von Lessings Dramen sei es gewesen, so Franz Mehring in seiner LessingLegende von 1893, dem aufstrebenden Proletariat gesellschaftliches Bewusstsein zu vermitteln.95 Aus Lessings Werk könne es lernen, welche klar bestimmte Funktion Literatur in der Verbürgerlichung der Gesellschaft eingenommen habe, die jetzt durch die Emanzipation der Arbeiterklasse abgelöst werde. Diesen und ähnlichen gesellschaftskritisch-emanzipatorischen Funktionen der Literatur redete Jean-Paul Sartre 1947 in seinem prominenten Essay »Qu’est-ce que la littérature« das Wort. Er verpflichtete die Literatur auf eine Praxis des Engagements gegen die Unverbindlichkeiten des Ästhetizismus und Surrealismus.96 Emanzipatorische Funktionszuweisungen an die Literatur wie die littérature engagée reichen mit unterschiedlichen Akzentuierungen über die Frankfurter Schule, die Birminghamer Cultural Studies und die Ansätze der Cultural Materialists bis in postkoloniale Ansätze hinein. Sie alle teilen die Auffassung, dass Literatur einerseits in einer – wie auch immer konzipierten – engen Beziehung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen stehe, in denen sie verfasst wird, und zugleich ein kritisches Potential habe, falsches Bewusstsein zu entlarven, soziale und kulturelle Identitäten zu bilden oder herrschende Ordnungen zu kritisieren. Außer dieser sozialkritischen Funktion der Literatur und ihrem emanzipatorischen Potential wurden in der Literaturwissenschaft auch der ›Wa_____________ 94 95 96
Vgl. Hinderer: Sickingen-Debatte. Vgl. z.B. Mehring: Schriften, S. 249. Sartre: Literatur.
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rencharakter‹ von Literatur und ihre sozialen Distinktionsfunktionen für Autoren und Leser in den Blick genommen. Trotz aller Unterschiede teilen die Kritische Theorie, sozialgeschichtliche Ansätze und Bourdieus Feldtheorie eine erhöhte Aufmerksamkeit für die sozialen Funktionen der Literatur. Autoren konkurrieren um Positionen im literarischen Feld, und ihre Texte sind von dieser Funktion nicht zu trennen: Dass Thomas Mann die Rolle des Ästheten aufgibt und politische Essays verfasst, ist mehr als eine poetische Entscheidung. Auffassungen wie die, dass Literatur eine Bildungsfunktion habe, zur Verfeinerung der Sitten beizutragen vermöge oder der Verbürgerlichung der Gesellschaft Vorschub leiste, sind Funktionszuschreibungen, die den Gegenstandsbereich des Faches Literaturwissenschaft auf die Agenten in der literarischen Kommunikation ausdehnen. (3) Als eigene und anders bestimmte Gruppe werden des Öfteren ästhetisch-formale Funktionen angeführt. Die Bezugsgröße sind hier die Texte selbst, so dass diese Funktionen auch als ›interne Funktionen‹ bezeichnet werden.97 Roman Jakobsons Annahme einer ›poetischen Funktion‹ der Sprache, die in Literatur dominiere, ist hier vor allem zu nennen.98 Wegen ihrer engen Bindung an sprachliche Merkmale der Texte ist sie oben im Zusammenhang mit den intrinsischen Merkmalen von Literatur behandelt worden. Funktionen in, nicht aber Funktionen von Literatur werden ebenfalls mit Bezug auf sprachliche Eigenschaften identifiziert, z.B. in der Metrik und rhetorischen Tradition, die zahlreiche Funktionen von Textelementen für den Text kennen, etwa solche der Ähnlichkeit wie Parallelismus, Reim oder Klimax, der Opposition wie die Antithese oder auch der Reihung. Auch für diese Gruppe gilt, dass ihre Funktionshypothesen nur selten empirisch überprüft wurden; im Unterschied zu anderen Annahmen über Funktionen von Literatur zählt die Erforschung ästhetischer Funktionen aber zum disziplinären Programm der Literaturwissenschaft. Unsere knappe Rekonstruktion verschiedener Funktionszuschreibungen hat zum einen ein heterogenes Bild der Funktionen ergeben, die für Literatur als charakteristisch oder als besonders wichtig aufgefasst worden sind. Zum anderen hat sie gezeigt, dass zur Bestimmung von ›Literatur‹ die Angabe einer oder mehrerer Funktionen nicht befriedigend ist. Kandidaten für konstitutive Funktionen der Literatur finden sich allenfalls in der dritten Gruppe, und für diese gilt derselbe Einwand wie für die intrinsischen Merkmale der Literatur. Ein pragmatischer Literaturbegriff kann auf die Angabe von Funktionen der Literatur verzichten; in der historischen Rekonstruktion des Phänomens ›Literatur‹, also auf der Objektebene, sind _____________ 97 98
Vgl. dazu Fricke: Funktion, S. 643. Jakobson: Linguistik, z.B. S. 108.
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Funktionszuschreibungen dagegen zweifellos wichtig und dienen der Differenzierung der Analyse. 4.3 ›Literatur‹ als Wertbegriff Wie schon mehrfach angeklungen ist, kann der Literaturbegriff im Fach in verschiedenen Funktionen eingesetzt werden. Als klassifikatorisches Konzept dient er zunächst einmal dazu, den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft abzugrenzen. Dabei sondert er Literatur von Nicht-Literatur, grenzt also eine große Gruppe von Texten aus dem Bereich des Literarischen aus. Dies ist eine an sich wertfreie wissenschaftliche Operation,99 will man nicht den Akt des Abgrenzens als solchen moralisch aufladen.100 Daneben kann der Literaturbegriff aber auch in einem wertenden Sinne eingesetzt werden und der Gruppe von Texten, die man als ›literarisch‹ bezeichnet, zugleich einen besonderen Status, eine Höherwertigkeit gegenüber den nicht-literarischen Texten zuweisen. Wer in diesem Sinne einem Text das Prädikat ›ist Literatur‹ zuschreibt, schreibt ihm damit nicht nur bestimmte Eigenschaften und Funktionen zu, sondern zugleich auch das Prädikat ›ist wertvoll‹. Das wertende Moment ist nicht auf die Verwendung des Literaturbegriffs in der Literaturwissenschaft beschränkt, sondern findet sich auch im täglichen Umgang mit Literatur. Unser kursorischer Durchgang durch die Literaturbegriffe verschiedener Theorien und der Blick auf die Funktionen, die Literatur zugeschrieben werden, haben gezeigt, dass ›Literatur‹ zum Teil über besondere Leistungen bestimmt wird, die nur diese Texte oder Praktiken, nicht aber nicht-literarische Texte oder Praktiken für den Einzelnen oder ein Kollektiv erbringen können. Auch wenn hier in einem zweiten Schritt eigentlich eine Gewichtung der unterschiedlichen Leistungen erfolgen müsste: dass die (imaginativen, emanzipatorischen etc.) Funktionen der Literatur besonders wertvoll sind, steht in der Regel außer Frage. Im nicht-professionellen Bereich entsprechen den theoriegeleiteten Bestimmungen von ›Literatur‹ z.B. bildungsbürgerliche Annahmen über den hohen kulturellen Wert der Beschäftigung mit Literatur, etwa für die Bildung der Persönlichkeit. In beiden Fällen wird der Literaturbegriff nicht allein als klassifikatorisches, sondern auch als wertendes Konzept eingesetzt. Dieses wertende Moment ist dem Literaturbegriff in der Geschichte seiner Ver_____________ 99 Siehe dazu den Beitrag von Klaus Weimar in diesem Band. 100 Dass die Gegenstände, die in den Untersuchungsbereich eines Faches fallen, für dieses Fach selbst wichtiger und in diesem Sinne ›wertvoller‹ sind als die, für deren Erforschung es über keine Verfahren verfügt, kann hier unberücksichtigt bleiben.
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wendung von Beginn an inhärent gewesen,101 und in der Alltagskommunikation über Literatur mag es seine Berechtigung haben. Für die Aufgaben einer vor allem historischen Literaturwissenschaft scheint es uns allerdings wenig fruchtbar.102 Die Übernahme der eigenen Wertungen und Wertmaßstäbe in die literarhistorische Arbeit sollte vermieden werden, da deren Ziel in der historischen Rekonstruktion und nicht in der ästhetischen Erziehung liegt und sich auch die Rückprojektion der eingeschränkten Wertmaßstäbe auf historische Perioden in eigentlich allen Fällen als intellektuell unergiebig erwiesen hat.103 5. Aspekte eines pragmatischen Literaturbegriffs In den beiden vorangehenden Abschnitten haben wir zwei Bedingungen gewonnen, denen der angestrebte Literaturbegriff genügen soll: (1) Er soll auch für die Untersuchung in historischen Situationen nutzbar sein, in denen es keinen Literaturbegriff gab oder in denen ein heute nicht mehr akzeptabler, z.B. zu enger oder normativer Begriff allgemeine Verwendung fand. Hierin drückt sich die angestrebte Verwendung des Literaturbegriffs aus, die seine Ausrichtung bestimmt: Er zielt hauptsächlich auf die historische Rekonstruktion des Umgangs mit Literatur, die Interpretation literarischer Texte sowie die Sicherung und Erschließung der wichtigsten dieser Texte in Editionen. Er soll eine Heuristik dafür bieten, welche Texte als ›literarisch‹ beschrieben werden können. Diese Bedingung soll keineswegs implizieren, dass der Gegenstand des Fachs nur auf diese Texte eingeschränkt wird, geht aber davon aus, dass die Differenz zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten eine Rolle spielt. Für die Arbeit des Literaturwissenschaftlers ist diese Differenz selbst dann relevant, wenn in der untersuchten Zeit kein abstrakter Begriff wie ›Literatur‹ verwendet wurde. (2) Zudem soll der Begriff Anschlussstellen für die Merkmale der Fiktionalität und Poetizität aufweisen, ohne sich in der Nennung dieser Merkmale aber schon zu erschöpfen. Bevor wir den oben schon skizzierten Begriff von Literatur als Set von Prototypen, die durch Familienähnlichkeit miteinander verbunden sind, weiter entfalten, soll im Folgenden erst einmal ein weiteres Merkmal des Literaturbegriffs diskutiert werden, dessen Implikationen unserer Meinung nach noch nicht richtig exploriert worden sind. Viele Bestimmungen von _____________ 101 Vgl. dazu genauer Rosenberg: Verhandlungen, S. 7-18; Weimar: Literatur, S. 446; Arntzen: Literaturbegriff, S. 24. 102 Vgl. dazu Winko / Jannidis / Lauer: Geschichte. 103 Ein Beispiel dafür stellt Schlaffers kurze Literaturgeschichte dar; vgl. Schlaffer: Geschichte.
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›Literatur‹ erwähnen zwar, dass es sich um Texte handelt, aber zumeist gerät diese Eigenschaft nicht in den Fokus der Aufmerksamkeit.104 Das Phänomen ›Text‹ und ›Textualität‹ ist noch nicht sonderlich gut verstanden; hier interessiert uns vor allem ein Problem, das Klaus Weimar beschrieben hat:105 Der Textbegriff ist systematisch vieldeutig, wobei die Bedeutungen nicht unabhängig voneinander bestehen. Die Vorstellung, dass Texte stabil sind, verdankt sich der Auffassung von ›Text‹ als Zeichenkörper, also z.B. als Druckerschwärze auf dem Papier. Zugleich aber wird als ›Text‹ das Verstandene gefasst, das mentale Gebilde, das das Ergebnis eines komplexen Verstehensprozesses ist. Der Vorgang des Verstehens ist nicht nur von material vorgegebenen Zeichen und etwaigen generellen Codes abhängig, etwa dem Lexikon, sondern ebenso vom interpretativen Kontext, zu dem allgemein Weltwissen und insbesondere Wissen über die Textsorte, das Vorwissen über die spezifischen Gebrauchsregeln in diesem Zeichensystem, denen alle an der Kommunikation Beteiligten unterliegen, und allgemeinere Annahmen über die Funktion eines Textes in dem jeweiligen Kontext gehören.106 Entscheidend ist, dass dieser interpretative Kontext nicht etwas ist, das man vom Text loslösen kann, da der verstandene Text überhaupt nur in diesem Kontext gebildet wird und gebildet werden kann. In der Diskussion um moderne Kunst hat man die hohe Relevanz des Kontexts früh wahr genommen, wenn etwa beim ready-made Alltagsobjekte in einen Kontext gestellt werden, der diese – ohne jede Veränderung an den Gegenständen selbst – zu Kunstobjekten macht. Das hat zu einer Verunsicherung der Versuche geführt, die den Begriff der Kunst in erster Linie aus materialen Eigenschaften des Objekts ableiten wollten. Ähnliches gilt für den Literaturbegriff; ein oft angeführtes Beispiel dafür stellt Handkes Gedicht Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968 dar, das die Aufstellung einer Fußballmannschaft in einen deutlich als literarisch markierten Band übernimmt. Offensichtlich werden durch eine solche Operation nicht die Eigenschaften des Objekts verändert, dennoch hat das Objekt danach andere Eigenschaften – Handke hat auf diese Weise die _____________ 104 Eine gewisse Ausnahme bildet Jost Schneiders Definition, der den Aspekt der Fixiertheit als eines von drei Merkmalen bestimmt. Dieses Merkmal leitet sich aus der Eigenschaft von Literatur ab, dass es sich um Texte handelt, fokussiert allerdings vor allem den medialen Aspekt und beinhaltet nicht die weiteren, die hier eine Rolle spielen; vgl. Schneider: Sozialgeschichte. Die meisten neueren Bestimmungen des Literaturbegriffs fassen ihn so auf, dass er auch für Dichtung verwendet werden kann, die nur mündlich tradiert wird. Dem werden wir hier folgen. – Zum Textbegriff siehe den Beitrag von Ulla Fix in diesem Band. 105 Vgl. zum Folgenden Weimar: Text, S. 110ff. 106 Vgl. dazu auch Hausendorf: Linguistik, S. 322-325.
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Bedeutung des Textes verändert. Eine Klärung dieses Phänomens kann durch die Unterscheidung zwischen den beiden Aspekten des Textbegriffs vorgenommen werden. Zwar ändern sich nicht die materialen Eigenschaften des Textes, aber der Text als verstandenes mentales Gebilde ändert sich grundsätzlich.107 Vor diesem Hintergrund wird also der Umstand bedeutsam, dass literarische Texte immer auch Texte sind. Auch für sie gilt das eben zur Relevanz von Kontexten Gesagte: Texte können nur in interpretativen Kontexten verstanden werden, und im Fall literarischer Texte kommen noch literaturspezifische Kontexte dazu bzw. in den Fällen, in denen es keinen übergreifenden Literaturbegriff gibt, diejenigen der jeweiligen Gattung. Die Forschung zur naheliegenden Frage, wie Texte Kontexte aufrufen, stellt sich als höchst unübersichtlich und heterogen dar, schon weil der Prozess selbst sehr unterschiedlich modelliert wird. Weitgehende Einigung besteht über jeweils textspezifische Bezüge auf Thematisches, Motivisches, auf Sprechweisen und Diskursformen.108 Weniger beachtet sind dagegen die Kontexte, die nicht text-, sondern gattungs- oder eben auch literaturspezifisch sind. Solche Kontexte werden zumeist über paratextuelle Informationen aufgerufen und bedingen in vielfacher Weise, den Verstehensprozess.109 Da sie nicht, wie die individuellen Kontexte, für jeden Text ganz anders aussehen, sondern textübergreifend stabil sind, wenn auch natürlich historisch und kulturell höchst variabel, kann man auch vom ›institutionalisierten oder konventionalisierten Kontext‹ sprechen. Insgesamt ist es noch unklar, was alles typischerweise zu diesem Kontext gehört, dennoch lassen sich einige Aussagen darüber treffen, was wohl auf jeden Fall dazuzurechnen ist. Insbesondere von diskursanalytischer Seite wurde die Rolle des Autorkonzepts in diesem Kontext analysiert.110 Aspekte des Textes wurden kaum synthetisch zusammengebracht, sondern, wie oben erläutert, in eigenständigen Debatten zu den Konzepten ›Fiktionalität‹ und ›Poetizität‹. Allerdings ist die Diskussion zur Fiktionalität noch immer weitgehend an überzeitlichen Modellen interessiert und behandelt seltener die historisch varianten Erscheinungsformen fiktionaler Rede mit ihren jeweils spezifischen Referenzformen. Auch die Untersuchungen über die historischen Formen des Bedeutens stehen noch weitgehend am Anfang. Bekannt und erforscht sind zwar die markant vom modernen Umgang mit Literatur abweichenden Referenzmodelle wie der vierfache _____________ 107 Vgl. zu dieser Differenzierung noch einmal Weimar: Text, S. 110-113. 108 Vgl. die Arbeiten zur Intertextualität und Intermedialität, z.B. Rajewski: Intermedialität. 109 Vgl. z.B. Rabinowitz: Reading; Winko: Verstehen; Jannidis: Figur, Kap. 2. 110 Vgl. z.B. Foucault: Autor; Bosse: Autorschaft; und in kritischer Weiterführung Jannidis u.a.: Rückkehr.
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Schriftsinn und das typologische Denken im Mittelalter oder die Emblematik im Barock, und es liegen zahlreiche Einzelstudien zu autorspezifischen Konzepten nach dem Muster ›der Symbolbegriff bei Goethe‹ vor; übergreifende Untersuchungen, insbesondere für die Zeit nach dem Sturm und Drang, fehlen jedoch, soweit wir das überblicken können. Einen zentralen konventionalisierten Kontext jedes Textes stellt die Gattung dar, die wahrscheinlich auch in ausgeprägter Form die eben angesprochenen Aspekte und deren Aktivierung mitbestimmt. Gattungen lassen sich fruchtbar als prototypisch organisiert beschreiben, und es scheint uns, wie oben schon ausgeführt, phänomenadäquat und plausibel zu sein, den Begriff ›Literatur‹ als Ensemble von Gattungen zu konzipieren, die über eine Struktur der Familienähnlichkeit miteinander verbunden sind. Noch unklar ist unseres Erachtens, inwieweit der Werkbegriff eine fruchtbare Spezifizierung des Textbegriffs im Kontext von Literatur darstellt. Befürworter sehen darin die Möglichkeit, spezifische ästhetische Qualitäten literarischer Texte, die nicht auf der Textoberfläche sichtbar sind, regelhaft zu erfassen, während Gegner des Konzepts darauf hinweisen, dass er in unangemessener Weise ästhetische Qualitäten wie etwa Stimmigkeit oder Geschlossenheit universalisiert.111 Parallel zu diesen Aspekten des textbezogenen konventionalisierten Kontexts existiert ein weiterer, der die Tatsache, dass literarische Texte Teil einer Kommunikation sind, in den Hintergrund rückt; gemeint ist die erlebnishafte Wahrnehmung der Textwelt und der Geschichte. In der ästhetischen Diskussion ist von diesem Aspekt zumeist lediglich unter der Perspektive der Mimesis die Rede, die aber nur einen Teil des umfassenderen Bezugs darstellt. Erfassbar ist dieser Aspekt der Textwelt wohl prinzipiell mit Bezug auf die jeweiligen historischen Formen der Realitätskonstruktion. Sehr wahrscheinlich kann der Phänomenkomplex aber nur ganz erklärt werden, wenn man darüber hinaus auf anthropologisch fundierte Konzepte zurückgreift, wie sie zurzeit von der evolutionären Psychologie angeboten werden.112 Aber nicht nur produktions- und textbezogene Typisierungen bestimmen den konventionalisierten Kontext von Literatur, sondern auch zahlreiche Modelle des jeweils angemessenen Lesens bzw. der Rezeption. Hierzu zählen ebenfalls die oben schon angesprochenen Verstehensformen, darüber hinaus Modelle des Lesens als Praxis, angefangen mit der Körperhaltung, der Konzentration, der sozialen Konstellation, der aktiven oder passiven Teilhabe und anderes mehr.113 Ein inzwischen intensiv erforschter Aspekt _____________ 111 Zum Werkbegriff vgl. genauer Spoerhase: Werk. 112 Siehe dazu die Beiträge von Karl Eibl und Joseph Carroll in diesem Band. 113 Vgl. hierzu besonders Schön: Geschichte.
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der Rezeption (wie auch der Produktion) ist der Umstand, dass literarische Texte häufig Teil spezifischer Praktiken sind, in deren Vollzug sie gesungen, evtl. auch gemeinsam gesungen oder in festgelegter, von der Alltagsrede deutlich abweichender Art und Weise gesprochen, deklamiert und rezitiert werden oder auch szenisch umgesetzt werden. Die Konventionen der jeweiligen performativen Inszenierung von Texten sind also ebenfalls Teil des aufgerufenen institutionalisierten Kontexts.114 Der so umrissene Literaturbegriff soll, das sei noch einmal gesagt, der literaturwissenschaftlichen Arbeit dienen und dabei – als Beobachtungsbegriff auf einer Metaebene – vor allem die Besonderheiten des jeweiligen untersuchten literarischen Phänomens auf der Objektebene sichtbar machen. Seine Grenzen sind weit gesteckt, schon um die anders verlaufenden Grenzen des analysierten Konzepts zu illuminieren, aber eben nicht endlos weit. Ein in der historischen Forschung nützlicher Literaturbegriff kann unseres Erachtens also nur so bestimmt werden, dass die pragmatische Wende, die sich schon vor längerer Zeit als Königsweg erwiesen hat, radikalisiert und tatsächlich auf jeden Aspekt ausgeweitet wird. Entsprechend kann dies nicht über eine Enumeration von Merkmalen und ›universellen‹ Konventionen geleistet werden, sondern nur über historisch variable Merkmalskonstellationen und ebenso fluktuierende Typisierungen, die innerhalb des eben skizzierten Begriffsrahmens ausgeprägt werden. Die Nachteile eines solchen Vorschlags sind uns bewusst. Zum einen erweisen sich viele Texte, solange die Überlieferungslage sich nicht verbessert, als nur zum Teil verständlich, da eben nur die Texte selbst und viel zu wenig von dem hier skizzierten umfassenden Kontext überliefert ist. Zum anderen verlegt eine solche Bestimmung auch dem arbeitsökonomischen Verfahren, mit einer Interpretationsmethode historisch ganz unterschiedliche Texte anzugehen, den Weg oder erschwert ihn zumindest, indem die Voraussetzungen für die Übertragbarkeit durch die Anforderungen an die historische Adaptibilität deutlich ansteigen. Andererseits scheint uns der Gewinn eines solcherart bestimmten Begriffs gerade in seiner Distanzierungsleistung zu bestehen, da nicht mehr das Ferne zum Nahen wird, sondern auch schon das scheinbar nah Verwandte in seiner Fremdheit sichtbar, und somit der Erkenntnislust, aber auch dem Respekt vor dem Anderen Genüge getan wird.115
_____________ 114 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik, S. 31-57. 115 Wir danken Katrin Dennerlein und Tilmann Köppe für ihre Lektüre und kritischen Hinweise.
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I. Zum Begriff ›Literatur‹
SIMONE WINKO
Einleitung
Nach Rainer Rosenberg ist »die Geschichte des Literaturbegriffs so weitläufig und so verworren, daß einem der Mut, sich auf sie einzulassen, leicht abhanden kommen kann«.1 Dennoch hat er eine so informierte wie informative begriffsgeschichtliche Rekonstruktion dieses Konzepts vorgelegt. Mit seinem Anliegen steht Rosenberg bekanntlich nicht allein, vielmehr zählt sein Beitrag zu einer der drei großen Gruppen, in die sich die zahlreichen Studien zum Literaturbegriff einteilen lassen: Am häufigsten finden sich Arbeiten, die historisch rekonstruierend die Begriffsverwendungen anderer darstellen,2 sowie Beiträge, die auf eine eigene Bestimmung des Begriffs ›Literatur‹ zielen.3 Eine dritte Gruppe machen die metatheoretischen Reflexionen über den Literaturbegriff bzw. Literaturbegriffe aus.4 Sie thematisieren unter anderem die Bedingungen, unter denen der Begriff ›Literatur‹ bestimmt wird oder werden sollte, wie auch die Konsequenzen terminologischer Festlegungen für die Disziplin. Mischformen zwischen diesen Gruppen finden sich häufig. Während es in den meisten Beiträgen dieses Sammelbandes – dem leitenden Thema entsprechend – an mehr oder minder zentraler Stelle in rekonstruktiver oder festlegender Weise um den Literaturbegriff geht, sind die in dieser Sektion versammelten vier Beiträge der dritten Gruppe zuzuordnen. Sie behandeln allgemeine Probleme der Begriffsbildung, der Funktionen des Literaturbegriffs im Fach und der Ansprüche, die mit diesem Begriff verbunden werden, oder rekonstruieren von der Warte einer Nachbardisziplin einen Begriff, der in Diskussionen über den Literaturbegriff stets vorausgesetzt, aber selten thematisiert wird: den Textbegriff. Das Thema ›Grenzen der Literatur‹ kommt in diesen Beiträgen unter drei Aspek_____________ 1 2 3 4
Rosenberg: Geschichte, S. 36. Um nur zwei Beispiele anzuführen: Arntzen: Literaturbegriff; Weimar: Literatur. Z.B. Grimm: Literatur; ebenso die meisten Beiträge in Gottschalk / Köppe: Literatur. Vgl. z.B. Köppe: Literatur.
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Simone Winko
ten in den Blick: in Hinsicht auf die Begriffsdefinition, ihre Folgen für die Grenzziehungen im Gegenstandsbereich des Faches und die Grenzüberschreitung in Richtung auf eine andere Disziplin, die Linguistik, die sich beim näheren Betrachten gerade unter dem Aspekt der Textualität ihres Gegenstandes als besonders nahe verwandt erweist. Ausgehend von zwei signifikanten ontologischen Definitionen des Literaturbegriffs stellt Werner Strube die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Unternehmens, einen Standardbegriff von Literatur zu bilden oder den Bereich der Literatur einheitlich und fest zu begrenzen. In seiner genauen Rekonstruktion der Definitionen von ›Literatur‹, die Roman Ingarden und Roman Jakobson vorgelegt haben, zeigt er unter anderem, dass diese Definitionen zum einen von der Sache abhängen, d.h. mit Bezug auf den bereits als solchen klassifizierten Gegenstand ›Literatur‹ gebildet werden, dass sie zum anderen durch Vorannahmen der Definierenden bestimmt werden und drittens unscharf sind, d.h. sie können keine abgeschlossene Menge distinktiver Merkmale benennen. Mit den Definitionen des Literaturbegriffs ändern sich auch die Grenzziehungen: Zwei unterschiedliche Bestimmungen des Begriffs ›Literatur‹ führen zu unterschiedlichen Auffassungen von den Grenzen des Bereichs ›Literatur‹. Auch auf andere als sachanalytische Weise lassen sich keine allgemeingültigen Standarddefinitionen von ›Literatur‹ bilden, wie Strube abschließend am Beispiel von Eric D. Hirsch ausführt. Auf der Basis seiner differentialistischen Theorie argumentiert er für das Wittgensteinsche Konzept der Familienähnlichkeit als angemessenen Rahmen zur Bestimmung des Literaturbegriffs: Der Begriff ›Literatur‹ ist demnach als ein ›offener Begriff‹ zu konzipieren. Die Merkmale, die einen Text zu einem literarischen machen, können vage bestimmt und die Liste dieser Merkmale kann als unabgeschlossen aufgefasst werden. Literaturwissenschaftliche Umgangsweisen mit der Frage ›Was ist Literatur?‹ untersuchen die beiden folgenden Beiträge. Klaus Weimar fragt nach den Funktionen, die der Literaturbegriff im Fach hat. Zwar geht er davon aus, dass ein trennscharfer Literaturbegriff nicht notwendig ist, um auf allen literaturwissenschaftlichen Feldern ertragreiche Forschung zu ermöglichen, jedoch sieht er in den verschiedenen Bemühungen der Klärung dieses Begriffs durchaus sinnvolle Unternehmungen. Sie ziehen Grenzen zwischen den Bereichen ›Literatur‹ und ›Nicht-Literatur‹. Die Frage ›Was ist Literatur?‹ enthält nach Weimar zwei in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zueinander stehende Komponenten: Sie fragt zum einen nach den Gegenständen und richtet sich auf die Extension des Literaturbegriffs, zum anderen richtet sie sich als Frage, ›als was‹ Literatur gelten solle, auf die Intension des Begriffs ›Literatur‹. In diesem Sinne zielt der Literaturbegriff auf eine Klassifikation und hat damit weder die Funktion zu werten noch die zu normieren. Seine Leistung sieht Weimar stattdessen in jeweils zwei
Einleitung: Zum Begriff ›Literatur‹
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extensionalen und intensionalen Funktionen: Der Begriff bestimmt den Gegenstand der Literaturwissenschaft, indem er einen Teilbereich aller Texte als literarisch abgrenzt; und er hat die Funktion, den Gegenstand des Faches theoretisch zu beschreiben und dabei das Unterscheidungskriterium zu entwickeln, das zur Abgrenzung der Gruppe literarischer Texte eingesetzt wird. Auch Oliver David Krug, Hans Harald Müller und Tom Kindt nehmen eine Metaperspektive ein, wenn sie die Absichten untersuchen, mit denen die Frage ›Was ist Literatur?‹ verbunden sein kann, und die Konsequenzen herausstellen, die die Antworten auf diese Frage nach sich ziehen. Sie unterscheiden zwei Varianten der Frage: Während die erste auf eine Begriffsanalyse zielt, unterstellt die zweite einen – je nach Position unterschiedlich stark bestimmten – Zusammenhang zwischen der Definition des Begriffs ›Literatur‹ und den Methoden des Faches Literaturwissenschaft. Diese zweite Variante ist insofern höchst problematisch, als der angenommene Übergang zwischen Begriffsbestimmung und Methodik auf überzeugende Weise gerechtfertigt werden müsste, was bislang nicht geschehen ist. Vor welchen Schwierigkeiten solche Versuche stehen, machen die Autoren deutlich. Für aussichtsreich dagegen halten Krug, Müller und Kindt das begriffsanalytische Anliegen, das entsprechend der Verwendungsvielfalt von ›Literatur‹ in zahlreichen Rekonstruktionen umgesetzt werden muss. Ulla Fix behandelt nicht den Literaturbegriff und seine Verwendungsweisen, sondern bietet einen Überblick über neuere linguistische Textbegriffe. Damit thematisiert sie eine in der Debatte über den Literaturbegriff meist implizit bleibende Prämisse: Literarische Texte sind eben auch Texte, und die Implikationen des vorausgesetzten Textbegriffs in der Bestimmung von ›Literatur‹ werden zu selten reflektiert. In der sprachwissenschaftlichen Debatte findet Fix dieselben Polarisierungen wie in der literaturwissenschaftlichen: Einer zunehmend ausgeweiteten Auffassung von ›Text‹ steht ein enger, auf die sprachlichen Strukturen bezogener Textbegriff gegenüber. Für Fix geht es hier allerdings nicht um ein Entweder-Oder, sondern um einander ergänzende Perspektiven. Sie rekonstruiert mehrere weite Textbegriffe, die nach der ›pragmatischen Wende‹ auch in der Textlinguistik entwickelt worden sind, und fragt nach ihren Konsequenzen für die Auffassung von ›Literatur‹. Diese Textbegriffe erweitern die engeren textlinguistischen Konzepte z.B. um thematisch-semantische, handlungsorientierte, kognitionsbezogene und – in den neueren Arbeiten zum Stil – semiotische Aspekte und beziehen mit der Frage nach multiplen Kodes, Medialität und Intertextualität auch solche Überlegungen ein, die für die literaturwissenschaftliche Theoriebildung wichtig geworden sind. Fix’ Beitrag plädiert für eine erneute verstärkte Zusammenarbeit von Sprach- und
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Simone Winko
Literaturwissenschaft – eine Kooperation, für die die erweiterten linguistischen Textbegriffe eine geeignete Basis darstellen. Bibliographie Arntzen, Helmut: Der Literaturbegriff. Geschichte, Komplementärbegriffe, Intention. Eine Einführung. Münster 1984. Gottschalk, Jürn / Tilmann Köppe (Hg.): Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie. Paderborn 2006. Grimm, Thomas: Was ist Literatur? Versuch einer Explikation eines erweiterten Literaturbegriffs. Neuried 2000. Köppe, Tilmann (Hg.): »Was ist Literatur?« Bemerkungen zur Bedeutung der Fragestellung. In: Gottschalk / Köppe: Literatur, S. 155-174. Rosenberg, Rainer: Eine verworrene Geschichte. Vorüberlegungen zu einer Biographie des Literaturbegriffs. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 20/77 (1990), S. 36-65. Weimar, Klaus: Literatur, Literaturgeschichte, Literaturwissenschaft. Zur Geschichte der Bezeichnungen für eine Wissenschaft und ihren Gegenstand. In: Christian Wagenknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Würzburg 1986. Stuttgart 1988, S. 9-23.
WERNER STRUBE
Die Grenzen der Literatur oder Definitionen des Literaturbegriffs
Einleitung Um Aufschlüsse über die Grenzen der Literatur, genauer: des Literaturbereichs, zu gewinnen, analysiere ich die Definition des Literaturbegriffs. Da ich voraussetze, dass es die – oder die eine ›richtige‹ – Definition des Literaturbegriffs nicht gibt, gehe ich von zwei signifikanten Literaturdefinitionen des 20. Jahrhunderts aus, nämlich den Definitionen Ingardens und Jakobsons. Im 1. Teil meiner Untersuchung stelle ich diese Literaturdefinitionen sowie die Literaturtheorien vor, in deren Rahmen sie stehen. Im 2. Teil charakterisiere ich die betreffenden Definitionen vor allem im Hinblick auf ihre Abhängigkeit von der Sache einerseits und vom Definierenden andererseits. Im 3. Teil mache ich die Grenzen des Literaturbereichs zum Thema, die selbstverständlich ebenfalls von der Sache wie vom Definierenden abhängig sind. Nach der Zusammenfassung der Ergebnisse im Schlussteil gehe ich in einem Anhang auf das Problem ein, ob die Bildung eines Standardbegriffs von Literatur sowie das Ziehen einheitlicher und fester Grenzen des Literaturbereichs überhaupt ein sinnvolles Ziel literaturtheoretischer Unternehmungen ist. 1. Teil Ingarden und Jakobson1 legen Definitionen des Literaturbegriffs vor,2 die hinreichend klar, philosophisch fundiert und in sachanalytischer bzw. onto_____________ 1
Der im vorliegenden Zusammenhang wichtigste Text Ingardens ist Das literarische Kunstwerk, in 2. Auflage 1960 erschienen, künftig zitiert als LK. – Die wichtigsten Texte Ja-
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Werner Strube
logischer Orientierung durchgeführt sind. Im Hinblick auf letzteres Merkmal gilt: Ingarden und Jakobson bestimmen das Wesen der Sache namens ›Literatur‹,3 nämlich die Grundstruktur des literarischen Werks und Kunstwerks (Ingarden) bzw. die Grundeigenschaften der Poesie (Jakobson). In historischer Hinsicht sei hinzugefügt, dass die betreffenden Definitionen als klassisch gelten können: Sie sind für die traditionelle Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts – oder genauer: für bestimmte literaturwissenschaftliche Schulen dieses Jahrhunderts – mustergültig oder maßgeblich.4 – Ich stelle _____________
2
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kobsons finden sich in: Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, künftig zitiert als P. Den Begriff ›Literatur‹ nehme ich als Sammelbegriff: als eine Art Zusammenfassung dessen, was mit Bezeichnungen wie ›literarisches Werk‹, ›literarisches Kunstwerk‹, ›sprachliches Kunstwerk‹, ›Poesie‹, ›Dichtung‹, ›Schöne Literatur‹ usw. gemeint ist. Den Begriff ›Definition‹ verwende ich in einem weiten und relativ vagen Sinne, also nicht nur für die (Aristotelische) Definition per genus et differentiam. (Ich setze voraus, dass es die Art und Weise des Definierens gar nicht gibt. Vgl. hierzu Strube: Philosophie der Literaturwissenschaft, S. 25, 29). Dazu, dass Ingardens und Jakobsons Literaturtheorie ontologisch orientiert bzw. auf die wesentlichen Eigenschaften der Literatur gerichtet sind, siehe bes. LK 16, und Holenstein über Jakobson in Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 12ff. – Charakteristisch für die ontologisch orientierte Literaturtheorie ist die These, dass die Grenzen der Literatur ›von Natur‹, nämlich durch Texteigenschaften, bestimmt sind. Man kann die ontologische Literaturtheorie mit Eagleton (siehe Eagleton: Einführung, S. 10) der funktionalistischen Literaturtheorie gegenüberstellen, die Eagleton selber propagiert. Bei Eagleton heißt es, »dass Literatur nicht wirklich ›objektiv‹ definiert werden kann. Die Definition von Literatur hängt […] von der Entscheidung des Einzelnen ab, wie er etwas liest, und nicht von der Natur des Geschriebenen« (ebd., S. 9). – Ich füge hinzu, dass Eagleton allerdings doch so etwas wie eine ›objektive‹ traditionelle Literaturdefinition zu kennen scheint, wenn er Literatur als ›nicht-pragmatischen‹ Diskurs bestimmt: »Ungleich Biologiebüchern und Zetteln für den Zeitungsboten erfüllt sie keinen unmittelbaren praktischen Zweck, sondern soll als etwas aufgefasst werden, was auf den allgemeinen Zustand der Welt verweist.« (ebd., S. 8) Ingardens Literaturdefinition wird in den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts für die so genannte Werkimmanente Schule maßgeblich. Deren wichtigster Vertreter Wolfgang Kayser beruft sich ausdrücklich auf Ingarden (siehe Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 17). Um die Nähe Kaysers zu Ingarden zu markieren, greife ich auf Ergebnisse meiner Ingarden-Untersuchung voraus und sage: Wie Ingarden geht es Kayser um die »ontologische Eigenheit« von Dichtung bzw. Schöner Literatur (ebd., S. 16); wie Ingarden lehnt er die psychologistische Auffassung des literarischen Kunstwerks entschieden ab (siehe ebd., S. 17); wie Ingarden sieht er den Satz als das zentrale Moment der bedeutungstragenden Schicht an (siehe ebd., S. 13); und wie Ingarden erklärt er den organisch-harmonisch bestimmten Gefügecharakter zu derjenigen Eigenschaft, die den literarischen Text von nicht-literarischen Texten unterscheidet (siehe ebd., S. 13, 14). – Auf Jakobson berufen sich seit den 1970er Jahren Literaturwissenschaftler, die in der Begründung der Literaturwissenschaft in der Linguistik eine Möglichkeit zur ›Szientifizierung der Literaturwissenschaft‹ sehen und sich zu einer linguistisch-struk-
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im Folgenden die Literaturtheorien (1) Ingardens und (2) Jakobsons als Theorien dar, die sozusagen auf eine bestimmte Literaturdefinition hinauslaufen. (1) Ingardens Theorie und Definition der Literatur. Roman Ingarden beschreibt in seinem 1931 erschienenen Buch Das literarische Kunstwerk das Wesen oder die Grundstruktur (siehe LK 4) des literarischen Werks und dann auch des literarischen Kunstwerks ausdrücklich auf der Basis der phänomenologischen Philosophie Edmund Husserls, nämlich in reiner Wesensforschung (siehe LK X u.ö.). Zunächst bestimmt Ingarden das Wesen des literarischen Werks im Hinblick auf die Seinsweise dieses Werks. Das literarische Werk ist ihm ein Gegenstand, der ein physisches Seinsfundament hat: Es (das literarische Werk) besteht aus einer bestimmt geordneten Mannigfaltigkeit von geschriebenen oder gedruckten Schriftzeichen (siehe LK 9) und ist insofern ein realer Gegenstand. Das literarische Werk ist zugleich aber auch ein idealer Gegenstand: Es besteht ja aus einer bestimmt geordneten Mannigfaltigkeit von Sätzen, die ihrerseits aus Wörtern zusammengesetzt sind, die eine ideale Bedeutung haben, d.h. ideale Gegenständlichkeiten repräsentieren (LK 8).5 – Mit der These eines (auch-)idealistischen Seinsfundaments sind psychologistische Auffassungen des literarischen Werks verworfen, und zwar sowohl die Auffassung, das literarische Werk sei »nichts anderes als das, was der Verfasser bei seiner Entstehung erlebt hat« (LK 9), als auch die Auffassung, das literarische Werk sei »nichts anderes […] als eine Mannigfaltigkeit der von den Lesern bei der Lektüre erlebten Erlebnisse« (LK 10). Der Hauptgrund für das Zurückweisen dieser psychologistischen Auffassungen sowie für das Behaupten der ontologisch-idealistischen These ist dieser: Beide psychologistischen Auffassungen sind außerstande, die »Identität des literarischen Werkes« (LK 9) zu erklären, d.h. zu erklären, dass das betreffende literarische Werk in allen Lektüren, Interpretationen, kritischen Würdigungen usw. ein und dasselbe bleibt. Hingegen ist mit Hilfe der These vom (auch-)idealistischen Seinsfundament des literarischen Werkes dessen Identität zureichend erklärbar. – Für die idealistische, auf das Wesen des literarischen Werkes gerichtete Bestimmung ist signifikant, dass mit der vollzogenen ›ontologischen Reduktion‹ alle Fragen ausgeklammert sind, die das dichterische Schaffen und den biographistischen Zugang zum literarischen Werk betreffen. Nach Durchführung der ontologischen Reduktion des literarischen Werks beschreibt Ingarden dessen »Grundstruktur« (LK 25) oder, mit Husserls be_____________
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turalistischen Schule formieren. (Ingardens und Jakobsons Literaturbegriffe werden so, nebenbei bemerkt, zu institutionellen oder Schulbegriffen.) Das Wort ›ideal‹ ist hier im Sinne der Platonischen Philosophie gebraucht (vgl. LK XII).
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kanntem Ausdruck, dasjenige, was wesensnotwendig zum literarischen Werk gehört: »Die wesensmäßige Struktur des literarischen Werkes liegt u.E. darin, dass es ein aus mehreren heterogenen Schichten aufgebautes Gebilde ist« (LK 25), und zwar aufgebaut aus der Schicht der Wortlaute, der Schicht der Bedeutungseinheiten, der Schicht der schematisierten Ansichten sowie der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeit (LK 26). Wesensnotwendig ist darüber hinaus, dass die heterogenen Schichten organisch verbunden und sozusagen zu einer Polyphonie verfugt sind: Das literarische Werk bildet »kein loses Bündel von zufällig nebeneinander gereihten Elementen, sondern einen organischen Bau, dessen Einheitlichkeit gerade in der Eigenart der einzelnen Schichten gründet« (LK 25). Und wenig später spricht Ingarden von dem »vielschichtigen polyphonen Aufbau« als der »wesensmäßigen Grundstruktur des literarischen Werkes« (LK 27). Nachdem Ingarden die Grundstruktur des literarischen Werks in neun Kapiteln ausführlich beschrieben hat, kommt er im 10. Kapitel seines Buchs auf das literarische Kunstwerk zu sprechen, das sich vom literarischen Werk in zwei Punkten unterscheidet: (a) In ihm kommen metaphysische Qualitäten zur Erscheinung, und (b) es ist derart aufgebaut, dass die verschiedenen Schichten des Werks miteinander harmonieren: »Die polyphone Harmonie ist eben die ›Seite‹ des literarischen Werkes, die nebst den in ihm zur Offenbarung gelangenden metaphysischen Qualitäten das Werk zu einem Kunstwerk macht.« (LK 395) – Die Aussage, dass die metaphysischen Qualitäten das literarische Werk zu einem literarischen Kunstwerk machten, sei kurz und in engem Anschluss an Ingarden erläutert. Im literarischen Kunstwerk scheint die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeit das wichtigste Element zu sein bzw. dasjenige, »um dessentwillen alles andere […] vorhanden ist« (LK 308), und »tatsächlich richtet sich auch unsere aufmerksame Intention bei der Lektüre eines Werkes vor allem auf die dargestellten Gegenständlichkeiten« (LK 308). Wenn man die gegenständliche Schicht als das Wichtigste ansieht, übersieht oder unterschätzt man allerdings meistens das, was zwar unmittelbar von der gegenständlichen Schicht abhängt, aber gerade den »Kern« des literarischen Kunstwerks bildet, nämlich die Schicht der metaphysischen Qualitäten (LK 309). »Die wichtigste Funktion« gerade der »dargestellten gegenständlichen Situationen« ist die, »dass sie bestimmte metaphysische Qualitäten [sc. Qualitäten wie das Erhabene, Tragische, Heilige, Groteske, Heitere (siehe LK 310), W.S.] zur Schau tragen, sie offenbaren.« (LK 313).6 Wichtig ist in diesem Zusammenhang folgende negative Charakterisierung: Das literarische Kunstwerk offenbart zwar ›Metaphysisches‹, aber nicht in der oft unterstellten primitiven Weise, dass es eine Idee im Sinn einer ›Wahrheit‹ bzw. eines wahren rationalen Sinns offenbarte (LK _____________ 6
Zum Charakter dieser metaphysischen Qualitäten siehe bes. LK 311f. sowie unten S. 61f.
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310).7 Wer das literarische Kunstwerk als Enthüllung einer in diesem Sinne verstandenen Idee nimmt, verwechselt es mit Tendenzliteratur. Ich ziehe Ingardens Aussagen zu folgenden Definitionen des literarischen Werks bzw. Kunstwerks zusammen: Das für das literarische Werk Wesentliche ist der polyphone Aufbau dieses Werks aus mehreren Schichten. Das für das literarische Kunstwerk Wesentliche ist, dass die Polyphonie eine harmonische ist und dass mittels der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeit metaphysische Qualitäten wie das Tragische zur Erscheinung gelangen.8 (2) Jakobsons Theorie und Definition der Literatur. Ähnlich wie Ingarden deckt Roman Jakobson das Wesen der Sache namens ›Literatur‹ (bei ihm: »Poesie«) auf: die »unabdingbare Eigenschaft eines Dichtwerks« (P 94) bzw. dessen Grundeigenschaften (P 110f.). Anders als Ingarden charakterisiert Jakobson die wesentlichen Eigenschaften der Poesie allerdings vom Standpunkt der traditionellen empirischen Wissenschaft aus, die nomothetisch bzw. am Paradigma der klassischen Naturwissenschaft orientiert ist. »Für Jakobson sind«, wie Holenstein sagt, »Linguistik, Poetik und Literaturwissenschaft nomothetische Wissenschaften.«9 Zunächst, etwa in seinem 1934 erschienenen Aufsatz »Was ist Poesie?«, bestimmt Jakobson die Poesie in funktionaler Analyse: Während die Alltagssprache dem praktischen Ziel der Kommunikation und Kooperation dient – und deshalb sozusagen über sich selbst auf außersprachliche Objekte (einschließlich Aktivitäten) hinausweist –, ist für die Poesie »die poetische Funktion, die Poetizität« (P 78) wesentlich, die sich darin manifestiert, »daß das Wort als Wort und nicht als Repräsentant des benannten Objekts oder als Gefühlsausdruck empfunden wird« (P 79). Schon 1921 hatte Jakobson gesagt, Poesie sei »nichts anderes als eine Äußerung mit Einstellung auf den Ausdruck« (P 11).10 In der Poesie ist die poetische Funktion dominant: »Gewinnt in einem Wortkunstwerk die Poetizität, die poetische Funktion, richtungweisende Bedeutung, so sprechen wir von Poesie.« (P 79) _____________ 7 8
9
10
Näheres hierzu in: Strube: ›Wahrheit‹, auf Kunstwerke bezogen, S. 332f. Diese Literaturdefinition impliziert, nebenbei bemerkt, eine Entscheidung über die Art des literaturwissenschaftlichen Umgangs mit literarischen Kunstwerken. So folgt aus der Bestimmung der real-idealen Seinsweise des literarischen Werkes, dass nur die werkimmanente, nicht aber die psychologistisch-biographistische Interpretation diesem Werk adäquat sein kann (vgl. LK XI, 6ff.). Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 107. Vgl. ebd.: Wie die anderen russischen Formalisten setzt auch Jakobson »zu einer streng wissenschaftlichen Fundierung der Literaturwissenschaft an«. Auf der gleichen Seite weist Holenstein darauf hin, dass Jakobsons Aufsätze zur Geschichte der Linguistik in Bd. 2 der Selected Writings die Überschrift »Toward a Nomothetic Science of Language« tragen. Dies Charakteristikum der poetischen Funktion wird später öfter, z.B. bei Umberto Eco, ›Autoreflexivität‹ genannt.
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In späterer Zeit – und am eindrücklichsten in seinem Aufsatz »Linguistik und Poetik« (1960) – ergänzt Jakobson die funktionale durch eine strukturale Analyse, d.h. durch eine linguistisch orientierte Analyse, die die Struktur der poetischen Funktion zum Gegenstand hat. Jakobson stellt die Frage »Was ist das empirische linguistische Kriterium der poetischen Funktion? Anders gesagt, worin besteht die unabdingbare Eigenschaft eines Dichtwerks?« (P 94) Und Jakobson beantwortet diese Frage folgendermaßen: In der Alltagssprache ist auf der Achse der Selektion das Prinzip der Äquivalenz und auf der Achse der Kombination das Prinzip der Kontiguität maßgeblich:11 Der Sprecher, der (nehmen wir an) einen Subjekt-Prädikat-Satz aus einem Substantiv und einem Verb bildet, wählt aus einer Reihe mehr oder weniger bedeutungsähnlicher Substantive eines aus und kombiniert es, orientiert am betreffenden außersprachlichen Sachverhalt, mit einem Verb, das er aus einer Reihe mehr oder weniger bedeutungsähnlicher Verben auswählt. In der Poesie hingegen sind die Verhältnisse anders: »Die poetische Funktion projiziert [überträgt12] das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination.« (P 94) Typisch für die Poetizität ist der Parallelismus (P 107), der auf phonologischer Ebene etwa in Gestalt von Metrum und Reim (siehe P 95),13 auf syntaktischer Ebene etwa in Gestalt parallel gebauter Wörterfolgen, auf semantischer Ebene etwa in Gestalt von Gleichnis und Metapher auftritt (siehe P 107f.). Die verschiedenen Ebenen sind auch – und gerade – in der poetischen Sprache miteinander verbunden: Vers und Reim sind für Jakobson primär zwar wiederkehrende Klangfiguren, aber sie sind nicht nur solche Klangfiguren; sie wirken sich auf die Bedeutungsebene aus, d.h. sie haben sekundär etwa auch eine emotive und/oder konative Funktion.14 Von besonderer Wichtigkeit ist in diesem Zusammenhang eine Änderung, die der spätere Jakobson in Beziehung auf die referentielle Funktion der poetischen Sprache durchführt. In seiner Frühzeit vertritt Jakobson die Auffassung, dass »in der Dichtung der dingliche Bezug der Sprache entfällt«.15 Anders in dem Aufsatz »Linguistik und Poetik«, in dem Jakobson folgende These formuliert: »Der Vorrang der poetischen Funktion vor der referentiellen löscht _____________ 11 12 13 14
15
Zu den Operationen der Selektion und Kombination sowie zu den genannten Prinzipien siehe bes. Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 142ff. Holensteins Übersetzung in Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 150. Jakobson sagt in »Linguistik und Poetik«: »Der Reim stellt nur einen speziellen, verdichteten Fall eines viel allgemeineren, wenn nicht des fundamentalen Prinzips der Dichtung dar, nämlich des Parallelismus.« (P 107) Eine knappe, aber übersichtliche Darstellung der strukturellen Prinzipien findet sich in: Eimermacher: Formalistische Analysen, S. 71. (Siehe dort Eimermachers Aussagen über »die Auffassung von der […] dynamischen Interkorrelativität aller für einen Text konstitutiven Elemente«.) Nach Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 93.
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den Gegenstandsbezug nicht aus, sondern macht ihn mehrdeutig.« (P 111) Danach tritt also zu dem von Jakobson seit jeher vertretenen Prinzip der Autoreflexivität die Mehrdeutigkeit oder Ambiguität als eine zweite »Grundeigenschaft der Dichtung« (P 110f.) hinzu.16 Ich ziehe Jakobsons Aussagen zu folgenden Definitionen der Poesie bzw. Poetizität zusammen: Für die Poesie ist wesentlich, dass in ihr die poetische Funktion, die Poetizität, dominiert, die sich durch Autoreflexivität auszeichnet. Für die empirisch-linguistische Struktur der Poetizität sind Äquivalenz bzw. Parallelismus wesentlich – was hinsichtlich der Lautebene die regelmäßige Wiederkehr lautlicher Einheiten bedeutet und hinsichtlich der Bedeutungsebene Mehrdeutigkeit.17 2. Teil Im 2. Teil wende ich mich der sprachanalytischen Charakterisierung der Literaturdefinitionen Ingardens und Jakobsons zu. Um zunächst noch einmal das zu Beginn des 1. Teils Gesagte aufzunehmen und zu verdeutlichen: Ingarden und Jakobson sind sachanalytisch oder ontologisch orientiert. Dies heißt: (a) Es geht ihnen nicht um eine lexikographische Erklärung des Wortes ›Literatur‹ (oder darum, eine Angabe über eine beobachtete Synonymität zweier Ausdrücke, etwa der Ausdrücke ›Literatur‹ und ›schöngeistiges Schrifttum‹, zu machen). (b) Es geht ihnen nicht um eine sprachökonomische Festlegung des Wortes ›Literatur‹ (oder darum, einen längeren und umständlicheren Ausdruck durch den kurzen Ausdruck ›Literatur‹ zu ersetzen).18 (c) Es geht ihnen um das, was man traditionell eine Sacherklärung nennt oder – genauer – eine Wesensbestimmung: eine Wesensbestimmung der Sache namens ›Literatur‹.19 _____________ 16 17
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Der in diesem Zusammenhang zentrale Satz Jakobsons lautet: »Mehrdeutigkeit [ambiguity] ist eine unabdingbare, unveräußerliche Folge jeder in sich zentrierten Mitteilung, kurz eine Grundeigenschaft der Dichtung.« (P 110f.) Diese Literaturdefinition impliziert, nebenbei bemerkt, folgende Entscheidung über die Art des literaturwissenschaftlichen Umgangs mit Poesie: Die betreffenden Texte sind einer »objektiven wissenschaftlichen Analyse« (P 86) zu unterwerfen, die, näher besehen, eine phonologische, morphologische und lexikalische Analyse ist (siehe P 108). Aus anderer Perspektive: Es geht Ingarden und Jakobson nicht (a) um die lexikalische oder (b) um eine stipulative Bedeutung des Wortes ›Literatur‹. Mit einem Terminus Husserls: Es geht Ingarden und Jakobson um die eidetische Phänomenologie der Literatur. Ingarden will »eine ›Wesensanatomie‹ des literarischen Werkes geben« (LK 2). Jakobson steht, wie Holenstein darlegt, der eidetischen Phänomenologie nahe, als deren Anliegen Holenstein »die Erfassung der Wesensmerkmale« nennt, »die den Gegenständen derselben Art gemeinsam sind« (Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 14).
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Die von Ingarden und Jakobson vorgelegten Wesensbestimmungen der Literatur sollen im Folgenden analysiert werden im Hinblick auf ihre Abhängigkeit (1) von der Sache, (2) vom Definierenden sowie im Hinblick (3) auf die Unschärfe der Definition. (1) Abhängigkeit der Literaturdefinition von der Sache. Der klassische Literaturtheoretiker20 ermittelt das Wesen der Literatur (a) im Ausgang von Beispielen, also bestimmten Texten, (b) im Blick auf die (für ihn) wesentlichen oder signifikanten Eigenschaften dieser Texte und (c) derart, dass er diese Eigenschaften anschauend erfasst und in ›Feststellungen über die Sache‹ fixiert. (d) Wegen ihrer Abhängigkeit von der Sache kann die betreffende Literaturdefinition als eine deskriptive Analyse der Sache namens ›Literatur‹ angesehen werden. (a) Der klassische Literaturtheoretiker wählt, von seinem ›Vorbegriff‹ von ›Literatur‹ geleitet (s.u.), bestimmte unzweideutige Beispiele – und gelegentlich unzweideutige Gegenbeispiele – aus, anhand derer er das Wesen des literarischen Kunstwerks bzw. der Poesie ermittelt. Ingarden geht von Exemplaren einer Literatur aus, die er »die sog. ›schöne Literatur‹« nennt; namentlich führt er die Ilias Homers, Dantes Göttliche Komödie, Schillers Dramen und Thomas Manns Roman Der Zauberberg an (siehe LK 4).21 Gegenbeispiele sind ihm unter anderem »alle ›wissenschaftlichen Werke‹, die sich von den Werken der sog. ›schönen Literatur‹, die wir da untersuchen wollen, deutlich unterscheiden« (LK 5) und die mit eben dieser sog. schönen Literatur letztendlich »nicht vergleichbar« sind. Jakobson geht von metrisch gebundener Dichtung aus, im Besonderen von der slawischen Volksdichtung, etwa von russischen Hochzeitsliedern. Den Grund für die Wahl dieser Ausgangsbeispiele gibt Jakobson ausdrücklich an: »In der Folklore finden sich die am prägnantesten gegliederten und stereotypisierten Formen der Dichtung, die sich besonders für die strukturale Forschung eignen […].« (P 108) – Allbekannt ist Jakobsons exemplarische Einführung des Poetizitätsprinzips mit Hilfe von alltagssprachlichem Beispiel und Gegenbeispiel: Beispiel der poetisch ›funktionierenden‹ Alltagssprache ist die Wendung »horrible Harry«, Gegenbeispiel – und typisches Beispiel der nicht-poetischen oder ›praktischen‹ Alltagssprache – ist die Wen-
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Mit ›klassischer Literaturtheoretiker‹ ist der für eine bestimmte literaturwissenschaftliche Schule maßgeblich gewordene ontologisch orientierte Literaturtheoretiker gemeint – Ingarden, Jakobson oder ein Theoretiker ähnlicher Art –, mit ›Literaturdefinition‹ die von einem klassischen Literaturtheoretiker vollzogene Definition des Literaturbegriffs. Um die Unterschiede in der Beispielwahl Ingardens und Jakobsons geht es hier, wo der Sachbezug überhaupt der Definitionen deutlich gemacht werden soll, noch nicht.
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dung »terrible Harry«, die, anders als »horrible Harry«, keine Gleichheit des Anlauts aufweist.22 An dieser Stelle sei auf einen forschungspsychologisch wichtigen Sachverhalt hingewiesen: Die Auswahl der Beispiele beginnt nicht mit einem ›geklärten‹ Begriff von Literatur, sondern – wie es bei Ingarden heißt – mit Beispielen, die nur »mit einer gewissen Sicherheit Beispiele von literarischen Werken« (LK 337) sind; oder in etwas anderer Formulierung: Am Anfang stehen »ursprüngliche und zunächst ungeklärte Intuitionen« (LK 337) dessen, was das Wesen des literarischen Werks und Kunstwerks ausmacht.23 Im Laufe der Untersuchung werden diese Intuitionen geklärt, so dass sich ein klarer und deutlicher (was einschließt: ein vollständiger) Begriff des literarischen Werks und Kunstwerks erst am Ende der Untersuchung ergibt.24 (b) Der klassische Literaturtheoretiker ist auf die (für ihn) wesentlichen oder signifikanten Eigenschaften der ausgewählten Textbeispiele gerichtet oder, wie man auch sagen könnte, auf bestimmte zwischen den Texten bestehende Ähnlichkeiten.25 Orientiert an Beispielen der sog. schönen Literatur, etwa an Dramen Schillers, weist Ingarden auf, dass es in literarischen Kunstwerken neben anderen Schichten die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeit gibt, in der bestimmte metaphysische Qualitäten – Qualitäten wie das Tragische – gründen bzw. zur Erscheinung gelangen. Jakobson, in erster Linie an Beispielen der slawischen Folklore orientiert, »deckt poetische Konventionen wie Metrum, Alliteration und Reim« (P 106) auf: regelmäßig wiederkehrende äquivalente Einheiten (siehe P 95), die ebenso wie die von Ingarden auf_____________ 22 23
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Siehe Jakobson: Linguistics and Poetics, S. 26. Vgl. die entsprechenden deutschen Beispiele – und Gegenbeispiele – in P 94, 93. An anderem Ort spricht Ingarden davon, dass die Beispielauswahl »unter der Richtschnur des vom täglichen Leben mitgebrachten und ungeklärten, vielleicht sogar falschen Begriffes eines ›literarischen Werkes‹« (LK 4) erfolgt. – Wie im Ausgang von Beispielen, die anhand eines falschen Begriffes von »Literatur« ausgewählt wurden, der ›richtige‹ Begriff eines »literarischen Werkes« gewonnen werden kann, bleibt allerdings unerfindlich. Die These, dass der ›geklärte‹ Begriff nicht schon am Anfang der Untersuchung gegeben sei, sondern sich erst am Ende der Untersuchung ergebe, wird in der Wissenschaftsphilosophie häufig vertreten, am nachdrücklichsten von den Neukantianern. Bei Rickert heißt es: »Begriffsbildung in unserem Sinne bildet immer einen wenigstens relativen Abschluss einer Untersuchung, d.h. im Begriff stellt sich als fertig dar, was durch die Forschung geleistet ist.« (Rickert: Naturwissenschaftliche Begriffsbildung, S. 19) Was Eike von Savigny über die Klassifikation von Dingen überhaupt sagt, gilt a fortiori auch für die Klassifikation von Texten (etwa in literarische und in nicht-literarische): »Die Klassifikation von Dingen in Typen hängt von zweierlei ab: Einmal von den Interessen und Zwecken der klassifizierenden Menschen und zum anderen von den Ähnlichkeiten der klassifizierten Dinge.« (von Savigny: Normale Sprache, S. 255)
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gewiesenen Eigenschaften den Sachen selber zukommen, um die es geht. – Dem Gesagten entspricht: (c) Der klassische Literaturtheoretiker erfasst die (für ihn) wesentlichen oder signifikanten Texteigenschaften gewissermaßen direkt oder anschauend und fixiert sie in Feststellungen über die Sache. Bei Ingarden bildet die »reine Erschauung der wirklich [!] vorliegenden Sachlagen« (LK X)26 das kognitive Fundament der betreffenden Feststellungen über das literarische Werk und Kunstwerk.27 Bei Jakobson gründet die »linguistische Untersuchung der poetischen Funktion« (P 93) in ›empirischen‹ Beobachtungen der betreffenden Texte. Weil dies so ist, können Literaturdefinitionen (qua Feststellungen über die Sache namens ›Literatur‹) falsch oder unangemessen sein. Falsch, nämlich einseitig oder unvollständig, ist nach Ingarden beispielsweise diejenige Definition des literarischen Werks, die dieses Werk »in eine zu enge Verwandtschaft zu den ›Anschauungskünsten‹« (LK IX) bringt und als eine Art von »Gemälde« bestimmt.28 In diesem Fall wird das literarische Werk »für ein einschichtiges Gebilde [gehalten], während es tatsächlich [!] aus mehreren heterogenen Schichten besteht [...]« (LK IX). (d) Wichtigster wissenschaftsphilosophischer Punkt ist in gegenwärtiger Hinsicht: Wegen ihrer Abhängigkeit von der Sache kann die klassische Wesensbestimmung der Literatur geradezu als eine deskriptive Analyse der Sache namens ›Literatur‹ oder auch als eine Konjunktion von wahren oder falschen Feststellungen bzw. Behauptungen über diese Sache aufgefasst werden; und jedenfalls soll sie der Intention bzw. dem Anspruch der Definierenden nach so aufgefasst werden. Um den Sachbezug terminologisch anzuzeigen, könnte man – unter Verwendung eines in der traditionellen Logik allerdings nicht klar bestimmten Ausdrucks – sagen, die betreffenden Literaturdefinitionen seien in dieser Hinsicht Realdefinitionen.29 _____________ 26 27 28
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Auf das wissenschaftsphilosophische Problem, ob es so etwas wie die reine (unvoreingenommene, theoriefreie) Erschauung überhaupt geben könne, gehe ich nicht ein. Dementsprechend verwendet Ingarden mehrfach den Ausdruck »Feststellung«. Er spricht zum Beispiel von der »Feststellung des vielschichtigen polyphonen Aufbaus des literarischen Werkes« (LK 27). Die bekanntesten Vertreter dieser Literaturbestimmung sind die Schweizer Bodmer und Breitinger, die schon in den Titeln einiger ihrer Schriften den Ausdruck »Gemälde der Dichter« verwenden. Ingarden weist die betreffende Auffassung im Anschluss an Lessing (und dessen Laokoon) zurück (siehe LK IX). Zu ›Realdefinition‹ vgl. Kutschera / Breitkopf: Moderne Logik, S. 143. Der Realdefinition, die aus wahren oder falschen Behauptungen gebildet ist, wird die Nominaldefinition gegenübergestellt als die »Festsetzung über die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks« bzw. als »Vorschrift« (siehe ebd.). – Dazu, dass die Literaturdefinition der klassischen Literaturtheoretiker in anderer Hinsicht auch als Festsetzung angesehen werden kann – und muss –, siehe den folgenden Abschnitt (2).
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(2) Abhängigkeit der Literaturdefinition vom Definierenden. Der klassische Literaturtheoretiker ermittelt das Wesen der Literatur (a) im Ausgehen von Beispielen, die er seiner Vorstellung von Literatur gemäß auswählt, und (b) im Herausheben und Fixieren derjenigen signifikanten Texteigenschaften, die ihm von seiner literaturtheoretischen Perspektive aus ins Auge fallen. (c) Er bezeichnet den von ihm ermittelten Literaturbegriff mit Hilfe eines Ausdrucks, der aus der Tradition stammt, in der er selber steht. Aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Definierenden muss die betreffende Literaturdefinition (d) als Festsetzung oder Normierung des Literaturbegriffs angesehen werden, und das heißt (e) als Definition, die keine Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen und deshalb Anlass zum Streit – zum ›Literaturstreit‹ – geben kann. (a) Der klassische Literaturtheoretiker wählt die Ausgangsbeispiele nach Maßgabe seines Literaturbegriffs aus: gemäß seiner allgemeinen Vorstellung von Literatur bzw. gemäß dem Literaturbegriff, den er im Laufe der Zeit erworben hat; pragmatisch-sprachphilosophisch ausgedrückt: gemäß dem Gebrauch des Wortes ›Literatur‹ (und entsprechender Synonyma), den er anhand von Beispielen in Elternhaus, Schule und Universität erlernt bzw. internalisiert hat. – Der unterschiedlichen kulturellen Sozialisierung entsprechend, ist die Auswahl der Ausgangsbeispiele durchaus unterschiedlich: Ingarden wählt, in Übereinstimmung mit seinem ästhetizistischen Literaturbegriff (s.u.), bestimmte Musterbeispiele aus (Ilias, Göttliche Komödie usw.), in denen die unterschiedlichen Schichten des literarischen Kunstwerks harmonisch verbunden sind, unter ihnen als besonders wichtige Schicht die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeit, in der metaphysische Qualitäten wie das Tragische zur Erscheinung gelangen. Jakobson wählt, seinem formalistischen Literaturbegriff (s.u.) entsprechend, im Besonderen folkloristische Texte aus, die sich »mit ihren markanten, stereotypen und kristallisierten Formen […] wie keine anderen für die Erarbeitung einer strukturalen Analyse [eignen]«30 bzw. die einen strukturalistischen Literaturbegriff optimal repräsentieren. (b) Der klassische Literaturtheoretiker betrachtet die ausgewählten Literaturbeispiele aus seiner Perspektive; er sieht deshalb Texteigenschaften bzw. Ähnlichkeiten, die ein anderer klassischer Theoretiker nicht sieht – oder nicht so sieht.31 Um dies mit Hilfe von Poppers Scheinwerfer-Metapher32 _____________ 30 31 32
Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 169. In etwas anderer Darstellung: Mit der Wahl der Ausgangsbeispiele ist präjudiziert, welche Texteigenschaften für die Literaturdefinition in Frage kommen und welche nicht. Popper stellt der ›Kübeltheorie des Bewusstseins‹ die ›Scheinwerfertheorie der Wissenschaft‹ gegenüber. Letztere Theorie charakterisiert er so: »Was der Scheinwerfer sichtbar macht, hängt ab von seiner Lage, von der Weise, in der wir ihn einstellen, von seiner Intensität, Farbe und so fort; es hängt natürlich auch weitgehend von den Din-
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zu veranschaulichen: Ingarden entdeckt bei seiner phänomenologisch-ontologischen Beleuchtung der Texte Eigenschaften wie die metaphysischen Qualitäten,33 die bei Jakobsons empirisch-linguistischer Beleuchtung gar nicht erst ins Licht treten bzw. ins Auge fallen können. Was bei Jakobsons ›Beleuchtung‹ der Texte auffällig wird, ist etwa die regelmäßige Wiederkehr von Klangeinheiten. Ich versuche, die Korrelation von Literaturdefinition und literaturtheoretischer Perspektive vom Standpunkt des Logikers aus zu verdeutlichen: Sowohl für Ingarden als auch für Jakobson ist der Literaturbegriff ein klassifikatorischer Begriff. »Literarisches Kunstwerk« bzw. »Poesie« meint eine bestimmte Menge oder ›Klasse‹ von Entitäten, die aufgrund bestimmter Eigenschaften einander ähnlich sind und sich von allen anderen Entitäten (sei es von Symphonien oder Skulpturen, sei es von Geschäftsbriefen oder schriftlichen Zahlungsaufforderungen) unterscheiden. Als klassifikatorischer Begriff ist der Literaturbegriff einem allgemeineren klassifikatorischen Begriff untergeordnet. Die Aufdeckung dieses allgemeineren Begriffs, der zugleich das summum genus des betreffenden Begriffssystems darstellt, lässt die Perspektive des Literaturtheoretikers bzw. die Tradition, in der er steht, deutlich vor Augen treten: Für Ingarden ist das summum genus des betreffenden Begriffssystems der Begriff des Kunstwerks.34 Ingarden setzt voraus, dass dieser Begriff in die Begriffe des literarischen, musikalischen Kunstwerks usw. einzuteilen ist.35 Ingarden steht mit dieser Voraussetzung in der Tradition des so genannten modernen Systems der schönen Künste, wie es sich (nach Kristeller) seit dem frühen 18. Jahrhundert herausgebildet hat.36 Insofern ist Ingardens Literaturbegriff abhängig von einer bestimmten ästhetischen Tradition.37 _____________
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gen ab, die von ihm beleuchtet werden. In ähnlicher Weise hängt eine wissenschaftliche Theorie zum Großteil von unserem Standpunkt, von unseren Interessen ab […] – aber sie hängt auch von den beschriebenen Tatsachen ab.« (Popper: Falsche Propheten, S. 322) Näheres zu ›metaphysische Qualität‹ unten auf S. 61f. Der Begriff des Werks spielt bei Ingarden sozusagen keine eigenständige ästhetischpoetologische Rolle. Das literarische Werk ist ihm nicht etwa das Produkt einer (auch) handwerklichen Tätigkeit oder téchnē (ars), da es ihn bloß ontologisch bzw. als real-idealer Gegenstand interessiert. Ingarden legt dementsprechend später neben Untersuchungen zur Literatur solche zu Malerei, Musik und Architektur vor (siehe LK 344, Anm. 3). Siehe Kristeller: Modernes System, bes. S. 165. – Bei Ingarden wird dieses ›moderne System‹ allerdings erweitert, unter anderem um die Schauspiel- und die Filmkunst (siehe LK 337-349). Dass Ingarden in einer dezidiert ästhetischen Tradition steht – einer Tradition, die man geradezu ›ästhetizistisch‹ nennen darf –, geht deutlich auch aus vielen seiner rezeptionstheoretischen Bemerkungen hervor, etwa aus diesen: Der Leser hat »die Konstituierung eines ästhetischen Gegenstands« zu leisten und »einen dem Werk gemäßen ästhetischen Wert zur Erscheinung zu bringen« (Ingarden: Vom Erkennen, S. 84); und:
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Für Jakobson ist das summum genus des betreffenden Begriffssystems der Begriff der Sprache bzw. des »verbalen Verhaltens«.38 Jakobson unterscheidet – nach meiner Rekonstruktion – zwei Arten der Sprache bzw. des verbalen Verhaltens, nämlich praktische Sprache (als Sprache, in der die poetische Funktion, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielt) und Poesie oder poetische Sprache (als Sprache, in der die poetische Funktion dominant ist). Jakobson steht mit dieser Unterscheidung in einer jüngeren, durch den russischen Formalismus gestifteten Tradition39 – einer Tradition, die auf der einen Seite durch die nomothetisch-empirische Wissenschaftstheorie (s.o. S. 49) und auf der anderen Seite (wie die Hinwendung zu den Verfahrensweisen und ›Kunstgriffen‹ zeigt) durch die alte rhetorisch fundierte Poetik geprägt ist: Für Jakobson ist der Dichter kein magus, vates, Prophet oder dergleichen, sondern ein artifex oder »Handwerker, dessen Verfahren man in den Griff bekommen will«.40 (c) Zur Bezeichnung seines so und so definierten Literaturbegriffs greift der klassische Literaturtheoretiker aus der Reihe der von der Tradition bereitgestellten Bezeichnungen diejenige heraus, die zu seinem eigenen Literaturbegriff passt bzw. die aus der begriffsgeschichtlichen Tradition stammt, in der er selber steht. (Die ›Subjektivität‹ der Literaturdefinition verrät sich also nicht nur in der Wahl und der ›Beleuchtung‹ der Ausgangsbeispiele, sondern auch in der Wahl der betreffenden Literatur-Bezeichnung.) Ingarden wählt mit »literarisches Kunstwerk« eine Bezeichnung, die aus der ästhetischen Tradition stammt, der Ingarden verpflichtet ist. In dieser Tradition ist das Kunstwerk ein Werk, das zweckfrei geschaffen ist; und in dieser Tradition wird die Kunst – nach Maßgabe der Darstellungsmittel – eingeteilt in die ›schönen Künste‹, zu denen das literarische Kunstwerk als schriftlich oder in ›Lettern‹ fixiertes Kunstwerk gehört. Jakobson wählt mit »poetry« bzw. »Poesie« eine Bezeichnung, die aus der rhetorisch-poetologischen Tradition stammt, der er schon ausweislich seiner Ausgangsbeispiele verbunden ist. In der rhetorisch-poetologischen Tradition ist der Text ein Werk, das gemacht, und zwar zu einem bestimmten Zwecke gemacht ist. Jakobson selbst weist in seinem 1965 erschienenen »Rückblick _____________
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Zur angemessenen Rezeption gehört »die ruhige Kontemplation der metaphysischen Qualitäten« (LK 313), wobei Ingarden mit der Wendung »ruhige Kontemplation« einen berühmten Topos der Theorie des Schönen aufgreift. Siehe P 84. Jakobson spricht an dieser Stelle zwar von der »differentia specifica der Wortkunst zu anderen Künsten und zu anderen Arten des verbalen Verhaltens«, geht aber auf das Verhältnis der Poesie zu den anderen Künsten nicht näher ein. Die Einteilung der Sprache in die praktische und die poetische Sprache hatte vor Jakobson in einer höchst prägnanten Art und Weise Viktor Šklovskij in seinem Aufsatz »Die Kunst als Verfahren« (Šklovskij: Die Kunst als Verfahren, siehe bes. S. 7-9) durchgeführt. Holenstein: Jakobsons Strukturalismus, S. 18.
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auf den Beginn einer Wissenschaft der Dichtkunst« darauf hin, dass »das Wort ›Poesie‹ […] vom altgriechischen Verb ›machen, schaffen‹ [abstamme]« (P 123) und den »eindeutig kreativen und zweckgerichteten Charakter der poetischen Sprache« indiziere, den die russischen Formalisten zu erforschen versucht hätten (siehe P 123).41 In dieser Tradition ist übrigens – wie zur Abgrenzung gegen Ingarden hinzugefügt sei – die Unterscheidung von ›schriftlich fixiert‹ und ›mündlich‹ irrelevant: Auch das aus dem Stegreif gedichtete Hochzeitspoem kann Poesie im Sinne Jakobsons sein. (d) Wichtigster wissenschaftsphilosophischer Punkt ist in gegenwärtiger Hinsicht: Wegen ihrer Abhängigkeit vom Definierenden – von dessen Sprachgebrauch, Beispielwahl und literaturtheoretischer Perspektive – ist die klassische Literaturdefinition festsetzend bzw. normierend.42 Der Literaturtheoretiker definiert bzw. expliziert (entgegen dem Anspruch, mit dem er auftritt) seinen eigenen Literaturbegriff. Er tut dies zwar nicht in freier Bedeutungsfestsetzung, aber von seinem philosophischen Standpunkt aus. Oder in etwas anderer Formulierung: Der klassische Literaturtheoretiker geht zwar vom existierenden Gebrauch des Wortes ›Literatur‹ (und solcher Wörter, die mit ›Literatur‹ synonym oder sinnverwandt sind) aus, schränkt diesen Gebrauch aber durch bestimmte aus seiner Perspektive vollzogene Feststellungen über die Sache ein. – Bei einer ›weicheren‹ Verwendung des Ausdrucks ›Explikation‹43 könnte man auch sagen, die klassische Literaturdefinition sei eine Explikation des Literaturbegriffs: Sie ist ja eine genauere und theoriegeleitete Bestimmung eines alltagssprachlichen Ausdrucks, dessen Bedeutung nicht genau festgelegt ist. Da der klassische Literaturtheoretiker den Literaturbegriff nicht exakt definiert (s.u.) und da er ihn zur Verwendung in einer nicht exakt formulierten Theorie definiert, würde man allerdings _____________ 41
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Bemerkenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang Wolfgang Kaysers Wahl des Ausdrucks »Sprachliches Kunstwerk«. Kayser ist in vielen Dingen durch Ingarden und dessen Ontologie des literarischen Kunstwerks beeinflusst (s.o. S. 46), beachtet aber deutlich stärker als Ingarden die rhetorisch-poetologische Tradition, nämlich den Umstand, dass der Dichter oder poeta die Sprache ›handhabt‹. In Kaysers Wahl der Bezeichnung »Sprachliches Kunstwerk« scheint mir diese Differenz zu Ingarden zum Ausdruck gebracht. Im Anschluss an Kamlah und Lorenzen könnte man sagen, der Literaturtheoretiker müsse dann, wenn er den Literaturbegriff definieren wolle, »zwar einerseits vorfindlichen Abgrenzungen folgen, andererseits aber solche Grenzen erst setzen« (Kamlah / Lorenzen: Logische Propädeutik, S. 51). – Diese Grenzsetzung ist nach Kamlah und Lorenzen nicht nötig bei der Bildung der Begriffe von ›naturwüchsig‹ zusammengehörenden Objekten, beispielsweise von Pflanzenarten, wie sie im Linnéschen System klassifiziert sind. – Zu den naturwüchsig zusammengehörenden Objekten gehören literarische bzw. poetische Texte offensichtlich nicht. Vgl. hierzu und zum Folgenden Gabriel: Explikation, Sp. 876.
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nicht von einer Begriffsexplikation in dem seit Carnap üblichen ›harten‹ Sinn dieses Ausdrucks sprechen können. Ein zweiter wichtiger Punkt ist dieser: Dass die klassische Literaturdefinition festsetzend bzw. normierend sei, heißt auch, dass sie ›subjektiv‹ und in gewisser Hinsicht einseitig ist. Um es so zu sagen: Die klassischen Literaturtheoretiker bilden in ihren Literaturdefinitionen – aufgrund ihrer Beispielwahl und ihrer besonderen ›Beleuchtung‹ der Beispiele – nicht die ganze Bandbreite der vom Ausdruck ›Literatur‹ bezeichneten Dinge und nicht alle signifikanten Eigenschaften dieser Dinge ab. In einem dritten Punkt sei kritisch hinzugefügt: Da der klassische Literaturtheoretiker seine Wesensbestimmung der Literatur für die allgemeingültige oder allgemeinverbindliche Definition hält,44 ist er blind für den Umstand, dass jede Wesensbestimmung der Literatur nicht nur von der Sache, sondern auch vom Definierenden abhängig ist bzw. ein subjektives oder Normierungsmoment hat.45 Oder in anderer Charakterisierung: Er erliegt jener Täuschung, die in der sprachanalytischen Philosophie ›essentialist fallacy‹ heißt.46 (e) Mit dem Gesagten hängt ein anderer wichtiger Punkt eng zusammen, der das Verhältnis zwischen klassischen Literaturtheoretikern unterschiedlicher philosophischer Prägung betrifft: ›Subjektivität‹ bzw. Verschiedenheit der Literaturdefinitionen bedeuten im Zusammenhang mit der ›essentialist fallacy‹, dass es im ›Literaturgespräch‹ zwischen verschiedenen Literaturtheoretikern öfters zum Streit kommt: zum ›Literaturstreit‹, in dem jeder der Disputierenden glaubt, die bzw. die einzig richtige oder auch die allgemeingültige Definition des Literaturbegriffs formuliert zu haben, und in dem deshalb jeder der Disputierenden seine Definition gegen die des Gesprächspartners durchsetzen will.47 – Der Literaturbegriff ist im Fall eines solchen Disputs _____________ 44 45
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Auf die Grenzen der Literatur bezogen glaubt Ingarden allen Ernstes, »eine endgültige Bestimmung des Bereiches der literarischen Werke« (LK 4) gegeben zu haben. Diese Blindheit lässt sich auf vielerlei Weise erklären, z.B. psychologisch und soziologisch: Der klassische Literaturtheoretiker gehört zur tonangebenden Bildungsschicht, in der die Bewertung bestimmter Texte als Literatur (literarisches Kunstwerk, Poesie usw.) standardisiert ist. Diese Standardisierung bzw. die kollektive Übereinstimmung täuscht ihm objektive oder allgemeine Gültigkeit vor. (Zu dieser Erklärungsweise siehe Geiger: Ideologie, S. 59f.) – Der sprachanalytische Philosoph würde diese Blindheit, an Wittgenstein anschließend, mit dem Ignorieren der Vielfalt der Anwendungsweisen des Ausdrucks ›Literatur‹ bzw. mit der Einseitigkeit der Beispielwahl erklären: »Eine Hauptursache philosophischer Krankheiten – einseitige Diät: man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen.« (Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 593) Ausführlicher habe ich zu Ingardens Essentialismus kritisch Stellung genommen in Strube: Sprachanalytische Ästhetik, S. 21. Der bekannteste traditionelle Fall eines Streits um den Literaturbegriff (und um die Grenzen des Literaturbereichs) dürfte der so genannte Zürcher Literaturstreit sein:
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ein wesentlich umstrittener Begriff (ein essentially contested concept) im Sinne Gallies,48 das heißt ein Begriff, der unter anderem mehrdeutig, werthaltig sowie eben – und vor allem – wesentlich umstritten, nämlich (etwa in Fragen der Zuordnung eines Textes zum Literaturbereich) aggressiv wie auch defensiv brauchbar ist. Oder aus etwas anderer Perspektive und mit Stevenson: Der Literaturbegriff des klassischen Literaturtheoretikers ist ein persuasiver Begriff,49 das heißt: Der Literaturtheoretiker gibt dem Literaturbegriff einerseits eine ganz bestimmte deskriptive Bedeutung; er spricht ihm ja diejenigen definierenden Merkmale zu, die er nach sachanalytischer Untersuchung für ›die richtigen‹ hält. Auf der anderen Seite hat der Literaturbegriff daneben aber auch und sozusagen von vornherein eine ganz bestimmte positive emotive Bedeutung, die in einem Disput darüber, ob ein vorliegender Text ein literarisches Kunstwerk ist oder nicht, eingesetzt werden kann, um auf die Bewertung und die Zuordnung des Textes zum Bereich literarischer Kunstwerke Einfluss zu nehmen,50 und das kann heißen: um Texte aus dem Bereich der Literatur auszuschließen, die nach der Literaturdefinition eines anderen Theoretikers durchaus zur Literatur gehören. (Von diesem Fall wird im folgenden Teil ausführlich gehandelt.) (3) Die Unschärfe der Literaturdefinition. Der klassische Literaturtheoretiker bestimmt die im Alltag vergleichsweise unbestimmte Sache namens ›Literatur‹ zwar genauer, aber er bestimmt sie nicht scharf, nämlich durch eine abgeschlossene Aufzählung – oder eine ›Konjunktion‹ – präzis definierter Eigenschaften. Dass er sie so gar nicht definieren könne, kann man mit dem Hinweis darauf begründen, dass die Literatur eine ›Sache‹ ist, die sich (mit einer Formulierung von Kamlah und Lorenzen) nicht schon von selbst ein_____________
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»Im Literaturstreit mit den Zürchern J. J. Bodmer und J. J. Breitinger wurde besonders Gottscheds restriktive Haltung zum Wunderbaren kritisiert.« (Unger: Gottsched, S. 331) – Im Zusammenhang mit der uneinheitlichen Grenzziehung gehe ich unten näher auf entsprechende Fälle ein. Vgl. Gallie: Philosophy, passim, sowie Gallie: Art. – Ausführlich handelt über Gallies Konzept Spree: Kritik der Interpretation, S. 35-44. Vgl. Stevenson: Facts, Essay 3, S. 32ff. Stevenson selber wendet den Begriff der »persuasive definition« auf die Definition von »poem« an in Stevenson: On ›What Is a Poem?‹, bes. S. 351f. In Facts and Values deckt Stevenson den Zusammenhang von (persuasiver) Definition und Einflussnahme anhand der Beurteilung auf, die Alexander Pope erfahren hat: »In the nineteenth century, for instance, critics sometimes remarked that Alexander Pope was ›not a poet‹. The foolish reply would be, ›it’s a mere matter of definition‹. It is indeed a matter of definition, but not a ›mere‹ one. The word ›poet‹ was used in an extremely narrow sense. This, so far from being idle, had important consequences; it enabled the critics to deny to Pope a laudatory name and so to induce people to disregard him. A persuasive definition, tacitly employed, was at work in redirecting interests.« (Stevenson: Facts, S. 35)
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deutig von ihrer Umgebung abhebt.51 – Ich demonstriere die Unschärfe der klassischen Literaturdefinition am Beispiel der Definitionen Ingardens und Jakobsons. Nach Ingarden ist das literarische Kunstwerk (wenn man so will) durch drei signifikante Eigenschaften definiert: (a) Es ist ein aus mehreren Schichten aufgebautes literarisches Werk; (b) es enthält die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeit, in der bestimmte metaphysische Qualitäten zur Erscheinung gelangen; (c) die verschiedenen Schichten stimmen harmonisch zusammen. Diese Definition des literarischen Kunstwerks wäre nun selbst dann, wenn sie vollständig wäre (also alle signifikanten oder wesensnotwendigen Eigenschaften aufzählen würde, die ein literarisches Werk zu einem Kunstwerk machen),52 nicht ›trennscharf‹ oder präzis, da die signifikanten Eigenschaften nicht präzis definiert sind: (a) Ingarden selber macht darauf aufmerksam, dass die Grenzen des literarischen Werks verschwimmen, wenn man dies Werk im Zusammenhang mit dem auf der Bühne aufgeführten Drama sieht. Das aufgeführte Drama bzw. das Schauspiel stellt »einen Grenzfall des literarischen Werkes« (LK 343) dar, und zwar insofern, als ihm bestimmte konstitutive Elemente des literarischen Werkes fehlen. Im Schauspiel fällt ja »der Nebentext als Text« (LK 339) weg bzw. entfällt die Information, die der Autor des Dramas in Regieanweisungen gibt; es sind dann reale Gegenstände, »welche die Abbildungs- und die Repräsentationsfunktion [sc. an Stelle von Sätzen, W.S.] ausüben« (LK 339). (b) Den Begriff der metaphysischen Qualitäten erklärt Ingarden zum einen durch eine am Ende offene Aufzählung: Es gibt die metaphysischen Qualitäten »das Erhabene, das Tragische, das Furchtbare […], das Leichte, die Ruhe usw.« (LK 310). Das ›usw.‹ hat hier – anders als in ›Wochentage sind Montag, Dienstag, Mittwoch usw.‹ – nicht die Funktion der Abkürzung einer Reihe, die sich vervollständigen ließe; insofern ist die Grenze des Feldes der metaphysischen Qualitäten verschwommen. Zum anderen beschreibt Ingarden die metaphysische Qualität »als eine spezifische Atmosphäre« (LK 310), die gewissermaßen über den dargestellten Menschen und Ereignissen schwebt, und er spricht davon, dass die Offenbarung der metaphysischen Qualitäten »einen positiven Wert den grauen, gesichtslosen Erlebnissen des Alltags gegenüber« (LK 311) darstellt. Er gebraucht in sei_____________ 51
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Vgl. Kamlah / Lorenzen: Logische Propädeutik, S. 90. Dort ist die Rede von dem »besonderen Fall der vorfindlichen Dinge, die sich schon von selbst von ihrer Umgebung abheben und daher der Sprache eine Ausgrenzung gleichsam vorschreiben«. – Die von Kamlah und Lorenzen berufenen Beispiele »vorfindlicher Dinge«, nämlich Baum und Haus (siehe ebd.), scheinen mir nicht glücklich gewählt. Passende Beispiele wären die Arten regulärer geometrischer Körper (wie Tetraeder, Würfel, Pyramide). Logisch gesprochen: wenn sie alle notwendigen Bedingungen der Anwendung des Ausdrucks ›literarisches Kunstwerk‹ enthielte.
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ner Charakterisierung der metaphysischen Qualitäten also Ausdrücke (z.B. »Atmosphäre« und »positiver Wert«), die einen so weiten und verschwommenen Gebrauch haben, dass sich gar keine scharfe Definition auf sie gründen lässt.53 (c) Dass der Begriff der Harmonie, die zwischen den Schichten des literarischen Kunstwerks besteht, nicht präzis bestimmt ist, deute ich in kurzer historisch ausgerichteter Betrachtung an: Mit »Harmonie« ist bei Ingarden (wie stets in der ästhetischen Tradition) ein Verhältnis zwischen verschiedenen Teilen eines bestimmten Ganzen gemeint. Und: Bei Ingarden ist (wie meistens in der Tradition, aber nicht wie bei den Pythagoreern oder im Kanon des Polyklet)54 ein Verhältnis gemeint, das nicht quantitativ oder mathematisch, nämlich durch Zahlenverhältnisse, und also nicht präzis bestimmt ist. Wie Ingarden erkennt auch Jakobson die Unschärfe des üblichen Literaturbegriffs deutlich. Jakobson spricht davon, »dass der Inhalt des Begriffs Poesie labil und zeitgebunden ist« (P 78).55 Und gerade um der Unschärfe des Poesiebegriffs willen geht er über diesen hinaus und zum Begriff der poetischen Funktion bzw. der Poetizität über, den er per Angabe von genus proximum und differentia specifica definiert (siehe P 84) und als die »vorherrschende und strukturbestimmende« (P 92) Funktion der Poesie ansieht: Ein Text gehört zur Poesie genau dann, wenn er in erster Linie durch die poetische Funktion (und nicht etwa durch die referentielle oder konative Funktion) determiniert ist. Allerdings ist Jakobsons Unternehmen nur beschränkt erfolgreich: Für die poetische Funktion oder Poetizität gibt es zwar ein »empirisches linguistisches Kriterium« (P 94), aber dieses Kriterium ist in einer nur vagen Weise komparativ bestimmt: Ein Text hat mehr oder weniger Poetizität, das heißt: Er hat mehr oder weniger phonologische und andere Äquivalenzen. Das Poetizitätskriterium ist nicht quantitativ bzw. exakt, also beispielsweise durch eine Mindestanzahl phonologischer Äquivalenzen pro dreißigzeiliger Seite bestimmt und also nicht derart, dass man bei Anwendung des Kriteriums in jedem Einzelfall zweifelsfrei sagen könnte, der betreffende Text gehöre zur Poesie.56 _____________ 53 54 55 56
Dazu, dass eine am Ende offene Reihe definierender Merkmale und die Verwendung unklarer Ausdrücke im Definiens eine präzise Definition nicht zulassen, siehe Waismann: Logik, S. 238 und 249. Vgl. Tatarkiewicz: Ästhetik. Bd. 1, S. 78f. In sozusagen extensionaler Hinsicht sagt Jakobson in seinem Aufsatz »Was ist Poesie«: »Die Grenze, welche das dichterische Werk von dem trennt, was kein dichterisches Werk ist, ist fließender als die Grenze chinesischer Staatsgebilde.« (P 69) Schon bei Baumgarten, der als Prototyp eines klassischen ontologisch orientierten Literaturtheoretikers gelten kann, sind die Verhältnisse ähnlich wie bei Jakobson: Baumgarten definiert das »Poema« auf der Basis einer bestimmten Philosophie (der Philosophie Christian Wolffs) im Ausgang von bestimmten Beispielen, die seine Beispiele sind (bes. den Carmina des Horaz), als »oratio sensitiva perfecta« und verwendet mit
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An dieser Stelle ist noch einmal hervorzuheben, dass die Unschärfe der Literaturdefinition ihren Grund nicht im Unvermögen der definierenden klassischen Literaturtheoretiker hat, sondern in der Sache namens ›Literatur‹, unter anderem in der eigenartigen ›qualitativen‹ Harmonie oder Poetizität, durch die sich das literarische bzw. poetische Kunstwerk in den Augen des klassischen Literaturtheoretikers auszeichnet. 3. Teil Im 3. Teil widme ich meine Aufmerksamkeit den im Titel dieses Sammelbands genannten Grenzen der Literatur oder, um unzweideutig zu reden, den Grenzen des Literaturbereichs.57 Die Frage nach den Grenzen des Literaturbereichs hängt eng oder ›analytisch‹ mit der Frage nach der Definition des Literaturbegriffs zusammen (und sollte zweckmäßigerweise nach der Untersuchung der Literaturdefinition beantwortet werden): Mit der Literaturdefinition erfolgt ja eine Festlegung des betreffenden Theoretikers auf ganz bestimmte Texteigenschaften und das heißt eben auch: auf einen bestimmten Literaturbereich bzw. eine bestimmte Menge von Texten. Da, wie gesagt, die Grenzen des Literaturbereichs durch die betreffende Literaturdefinition festgelegt sind, gehe ich in der Analyse dieser Grenzen von den oben explizierten Merkmalen der Literaturdefinition aus und thematisiere den Umstand, dass der Literaturbereich sowohl (1) von der Sache namens ›Literatur‹ als auch (2) vom Definierenden abhängig und mithin uneinheitlich ist und dass (3) seine Grenzen unscharf gezogen sind. (1) Die Abhängigkeit der Grenzen von der Sache. Wie im 2. Teil dargetan, ist die Literaturdefinition mitbestimmt von der Sache: Die Literaturdefinition erfolgt eben im Hinblick auf den Text bzw. auf bestimmte Ausgangsbeispiele und unter Nennung bestimmter Texteigenschaften. Dies heißt auch: Die Grenzen des Literaturbereichs sind (auch) in der Sache begründet bzw. von den betreffenden Texten und deren Eigenschaften (wenn man so will: _____________
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dem Begriff »perfecta« einen komparativen Begriff (vgl. Baumgarten: Meditationes, § 8), der offenbar unscharf ist (eine Rede ist immer mehr oder weniger vollkommen, und dieses Mehr oder Weniger ist mangels einer Gradskala der Vollkommenheit nicht exakt bestimmbar) – weshalb dann zumindest in bestimmten Fällen keine zweifelsfreie Zuordnung eines Textes zum Bereich der Poemata möglich ist (vgl. ebd., § 117). – Näheres hierzu in Strube: Baumgartens Theorie des Gedichts, S. 1-4. Mit ›Grenzen der Literatur‹ sind die Grenzen des Bereichs – oder der Menge – derjenigen Texte gemeint, die unter den betreffenden Literaturbegriff (›literarisches Kunstwerk‹, ›Poesie‹ usw.) fallen. Thema sind also beispielsweise nicht die Grenzen, die der Literatur oder ›dem Wort‹ gesetzt sind, wenn es darum geht, konkrete Gegenstände darzustellen. (Hinsichtlich dieser letztgenannten Grenzen ist die so genannte schöne Literatur – im Rangstreit der Künste – traditionellerweise der Malerei unterlegen.)
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von den in den Ausgangsbeispielen gegebenen Ähnlichkeiten) determiniert; sie sind insofern nicht willkürlich (nach Lust, Laune oder persönlicher Vorliebe) gezogen.58 (2) Die Abhängigkeit der Grenzen vom Definierenden. Wie im 2. Teil dargetan, ist die Literaturdefinition auch vom jeweils Definierenden abhängig, und das heißt (der Korrelation von Intension und Extension des Literaturbegriffs entsprechend), dass auch die Grenzen des Literaturbereichs in Abhängigkeit vom Definierenden bzw. in je besonderer – oder je anderer – Weise gezogen sind. Pointiert gesagt: Andere Literaturdefinition – andere Grenzen des Literaturbereichs. Die These ›Andere Literaturdefinition – andere Grenzen des Literaturbereichs‹ gilt zunächst in Beziehung auf die unterschiedlichen Literaturdefinitionen, die ein und derselbe klassische Literaturtheoretiker vollzieht. Der nämlich unterscheidet mit Hilfe einer weiteren und einer engeren Literaturdefinition zwei ungleich große Bereiche von Literatur: einen größeren und einen (in den größeren eingeschlossenen) kleineren Bereich.59 Für Ingarden beispielsweise ist der Bereich der literarischen Kunstwerke ein Teil des Bereichs der literarischen Werke. Angemerkt sei, dass Literaturwissenschaftler in der Regel den kleineren Bereich als höherwertig auszeichnen und zum Gegenstand der Literaturwissenschaft ›erheben‹. So ist für Wolfgang _____________ 58
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Anders nach Eagletons ›subjektivistischer‹ Aussage: »Vielleicht bedeutet ›Literatur‹ so etwas wie [...] jede beliebige Art von Text, den jemand aus irgendeinem Grund besonders schätzt.« (Eagleton: Einführung, S. 10) Wenn Literatur nicht ›von Natur‹ als solche ausgezeichnet ist, sondern vom Rezipienten ›gemacht‹ wird, bedeutet dies: Es ist der Rezipient, der die Grenzen der Literatur bestimmt – und den Literaturbereich möglicherweise beträchtlich über die üblicherweise gezogenen Grenzen hinaus erweitert: So könnte ich einen Fahrplan lesen, »nicht um irgendeine Zugverbindung ausfindig zu machen, sondern um mich zu allgemeinen Überlegungen über die Geschwindigkeit und Komplexität des modernen Lebens anzuregen« (ebd.). Im Falle, dass ich den Fahrplan als Ausdruck der Geschwindigkeit und Komplexität des modernen Lebens läse, würde ich ihn »als Literatur lesen« (ebd.). Üblich ist die umfangsbezogene Unterscheidung zweier Literaturbegriffe auch in Universallexika; siehe z.B. Der Große Brockhaus. 16., völlig neubearb. Aufl. in 12 Bden. Bd. 7. Wiesbaden 1955, S. 273: »Literatur [lat.], die Gesamtheit der schriftlichen Äußerungen des menschlichen Geistes, im engeren Sinn das gesamte schöngeistige Schrifttum.« – Tatsächlich sind die Verhältnisse allerdings komplizierter. So wird die Literatur im weiteren Sinn ihrerseits unterschieden in (1) Text als Literatur im weitesten Sinne: alles schriftlich Fixierte, darunter auch Fahrpläne und Telefonbücher, und (2) Schrifttum als Literatur in einem relativ weiten Sinne: alles schriftlich Fixierte, das von einem Autor (oder mehreren Autoren) verfasst ist, darunter Briefe und Tagebücher, religiöse und juristische Schriften. – Dass die Verhältnisse komplizierter sind, als sie in Universallexika dargestellt werden, geht deutlich aus Weimars Auflistung unterschiedlicher Verwendungsweisen des Ausdrucks ›Literatur‹ hervor (siehe Weimar: Literatur, S. 443ff.).
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Kayser nicht »alles Sprachliche, das durch Schrift fixiert ist«, sondern »die Schöne Literatur der eigentliche Gegenstand der Literaturwissenschaft«.60 Die These ›Andere Literaturdefinition – andere Grenzen des Literaturbereichs‹ gilt sodann in Beziehung auf die unterschiedlichen Grenzen, die von verschiedenen klassischen Literaturtheoretikern mit Hilfe eben ihrer jeweiligen Literaturdefinition61 gezogen werden. (Letztere ›Lesart‹ der These ist wissenschaftsphilosophisch interessanter und deshalb diejenige Lesart, um die es mir hauptsächlich geht.) – Um auch diesen Sachverhalt wieder am Beispiel Ingardens und Jakobsons deutlich zu machen: Jakobson bestimmt den Literaturbegriff inhaltlich anders als Ingarden (s.o. S. 47-51) und zieht damit andere Grenzen des Literaturbereichs – was auch heißt: Die ›Klasse‹ oder Menge der im Sinne Jakobsons poetischen Texte ist nicht (oder jedenfalls nur teilweise) identisch mit der ›Klasse‹ oder Menge der Texte, die in den Augen Ingardens literarische Kunstwerke sind.62 Oder aus etwas anderer Perspektive gesprochen: Jakobson könnte Texte aus dem von ihm ›begrenzten‹ Poesiebereich ausschließen, die Ingarden aufgrund seiner Definition nicht aus dem von ihm begrenzten Bereich der literarischen Kunstwerke ausschließen würde. Im Hinblick auf diesen letzten Punkt könnte man die oben formulierte These erweitern, nämlich sagen: ›Andere Literaturdefinition – andere Grenzen des Literaturbereichs – Ausgrenzung anderer Texte‹. Um diesen wichtigen Punkt zu verdeutlichen, ziehe ich ein Beispiel heran, und zwar Hugo Balls dadaistisches Lautgedicht Karawane, das mit dem Vers »jolifanto bambla ô falli bambla« beginnt.63 Setzt man Ingardens Literaturdefinition voraus, muss man den Text Hugo Balls aus dem Bereich der literarischen Werke schon deshalb ausschließen, weil er nicht die für jedes literarische Werk wesensnotwendigen sinnvollen _____________ 60
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Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 12, 15. Kayser spricht auf S. 14 von dem »so herausgehobenen Bezirk«, den er mit einem früher gebräuchlichen Ausdruck auch als »Schöne Literatur« bezeichnet. – Dass man den Gegenstand der Literaturwissenschaft auch anders bestimmen kann, versteht sich von selbst. So könnte man den Text (mit Titzmann: Textanalyse, S. 10) auf der Basis einer allgemeinen Semiotik als eine »jede zeichenhafte und bedeutungstragende Äußerung« ansehen und aus bestimmten politischen, etwa radikaldemokratischen Interessen zum Gegenstand einer als Textanalyse verstandenen Literaturwissenschaft machen (siehe ebd., S. 9: »[…] an sich sind vor der strukturalen Textanalyse alle ›Texte‹ gleich […]: alle haben Anspruch auf dieselbe Behandlung, wie verschieden sie auch sein mögen.«). Hier und im Folgenden ist mit ›Literaturdefinition‹ die Definition des engeren Literaturbegriffs gemeint, also die Definition von ›Literarisches Kunstwerk‹, ›Sprachliches Kunstwerk‹, ›Poesie‹ und dergleichen. Auf den identischen Teil dieser Mengen wird heute gern der mengentheoretische Ausdruck ›Schnittmenge‹ angewandt. Ball: Der Künstler, S. 408.
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Sätze oder satzähnlichen Gebilde enthält: Es gibt für Ingarden »kein literarisches Werk, das nicht aus einer Anzahl sinnvoller Sätze oder anderer [einen Sinn habender] satzähnlicher Gebilde bestünde«.64 Sozusagen erst recht kann der Text Hugo Balls in Ingardens Augen kein literarisches Kunstwerk sein, da ihm die Schicht der (satzmäßig fundierten) dargestellten Gegenständlichkeit fehlt, an der bestimmte metaphysische Qualitäten zur Erscheinung gelangen. – Tatsächlich sieht Ingarden sich denn auch in deutlicher Opposition zu gewissen »Vertretern der neuesten Kunstrichtungen«.65 Die »jetzige Lyrik«, die »z.B. auf die Ausbildung korrekter, voller Sätze oft verzichtet, um dem Leser die Freiheit einer ihm genehmen Ergänzung des Gedichtes zu belassen«,66 lehnt Ingarden als zu »unbestimmt«, wenn nicht gar als ans Absurde grenzend ab.67 Anders bei Jakobson: Er würde Balls Karawane nicht aus dem Bereich der Literatur ausschließen, sondern auf die verschiedenen ›Poetizitätskomponenten‹ des Textes hinweisen: auf die augen- und ohrenfällige Wiederkehr äquivalenter Einheiten, die die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Gedicht als ›materiales Objekt‹ lenkt; darauf, dass das Gedicht durchaus auf eine außersprachliche Gegenständlichkeit verweist (etwa auf den schleppenden Gang der Elefanten68), die allerdings nicht eindeutig intendiert ist (siehe »jolifanto« und nicht »Elefanten«) und nur onomatopoetisch vermittelt wird; schließlich auf den Parallelismus von akustischer Eindrucksfolge und Folge der assoziierten Vorstellungen sowie darauf, dass dies Gedicht als etwas Neues und Befremdliches die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenkt. Mit dem Hinweis auf diese Komponenten würde Jakobson Balls Karawane als einen Text ansehen, in dem die poetische Funktion dominant oder strukturbestimmend ist, und das heißt auch: als einen Text, der durchaus in den Bereich der Poesie gehört.69 _____________ 64 65 66 67 68 69
Ingarden: Erlebnis, S. 190. Vgl. Ingarden: Vom Erkennen, S. 96. – Bei »satzähnlichen Gebilden« ist etwa an »›verstümmelte‹, nicht zu Ende konstruierte Sätze (z.B. im Dialog in einem Drama)« zu denken (siehe LK 110f.). Vgl. Ingarden: Erlebnis, S. 194 Anm. Ingarden: Vom Erkennen, S. 309 Anm. (Mit »Ergänzung« ist die vom Leser vollzogene Konkretisierung oder Aktualisierung der vom literarischen Werk parat gehaltenen schematisierten Ansichten, siehe LK 281f., gemeint). Vgl. Ingarden: Vom Erkennen, S. 309 Anm. Vgl. Heselhaus: Lyrik, S. 467. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass Jakobson selber in seiner Gymnasialzeit futuristische Lautgedichte geschrieben und, wie andere Vertreter des russischen Formalismus, ausdrücklich die poésie concrète geschätzt hat bzw. den poetischen Text, der »als reines Lautgebilde zelebriert [wurde], der, wenn er überhaupt über sich hinaus verwies, dann nicht auf Gegenstände, die er eindeutig bezeichnete […]« (Holenstein in seiner Einführung, P 23).
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Klar dürfte hiernach sein: Texte wie das Lautgedicht Balls sind Fälle, anhand derer deutlich wird, dass mit unterschiedlicher Literaturdefinition die Grenzen des Literaturbereichs unterschiedlich gezogen sind. Oder allgemein und in logischem Vokabular: Anhand solcher Fälle wie dem des Lautgedichts Balls wird deutlich, dass einer bestimmten Definition des Literaturbegriffs (einer bestimmten Intension des Begriffs ›Literatur‹) ein bestimmter Umfang des Literaturbereichs (eine bestimmte Extension des Begriffs ›Literatur‹) entspricht. Im Übrigen – und aus einer historiographischen Perspektive gesprochen – kann jederzeit eine Meinungsverschiedenheit darüber aufkommen, ob ein bestimmter Text oder auch eine bestimmte Textart zur Literatur gehört oder nicht. Der betreffende Text oder die betreffende Textart wäre dann der Gegenstand eines ›speziellen Literaturstreits‹ bzw. ein wesentlich umstrittener Fall (wie man in Anknüpfung an die durch Gallie inspirierte Bestimmung des Literaturbegriffs als eines wesentlich umstrittenen Begriffs, s.o. S. 60, sagen könnte). – Ich will einen solchen Fall am Beispiel des Lehrgedichts oder der didaktischen Poesie ad oculos demonstrieren: Erklärt man das Wesen der Poesie mit Batteux aus dem einzigen Grundsatz der (durch Wörter vollzogenen) Nachahmung der schönen Natur, ist man veranlasst, »das Lehrgedicht […] ganz aus der Poesie herauszuwerfen«.70 Definiert man den Poesiebegriff anders bzw. rückt man, wie Johann Adolf Schlegel das tut, vom Naturnachahmungsprinzip als einzigem poetologischen Grundsatz ab, kann sich eine andere Zuordnung ergeben – und für Schlegel ergibt sie sich tatsächlich: Für ihn sind die Lehrgedichte »weder bloße Prosa noch bloße Poesie. Sie sind eine Vermischung von beiden«.71 (3) Die Unschärfe der Grenzen der Literatur. Die klassische Literaturdefinition ist, wie im 2. Teil dargetan, unscharf; und dies heißt auch, dass die Grenzen des Literaturbereichs unscharf gezogen sind: Auch unter Voraussetzung einer bestimmten klassisch-literaturtheoretisch vollzogenen Definition des Literaturbegriffs kann nicht bei jedem Text eindeutig und zweifelsfrei gesagt werden, er falle in den Bereich der Literatur oder nicht.72 (Wegen dieses _____________ 70 71
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Johann Adolf Schlegel in Batteux: Einschränkung. Teil 2, S. 194. Ebd., S. 68. – Beispiel eines ›Literaturstreits‹ aus dem 20. Jahrhundert: Wolfgang Kayser gegen Benedetto Croce. Kayser wirft Croce vor, in seiner Literaturdefinition einseitig von der Lyrik beeinflusst zu sein, deshalb eine einseitig-ausdruckspsychologisch orientierte Literaturdefinition zu formulieren und infolgedessen z.B. Molières Dramen zu Unrecht aus dem Bereich der ›Schönen Literatur‹ auszuschließen (siehe Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 14ff.). Sind, wie Kayser meint, der »Gefügecharakter der Sprache« und das Hervorrufen einer »Gegenständlichkeit eigener Art« diejenigen Merkmale, durch die der Literaturbegriff definiert ist, gehören Molières Dramen selbstverständlich in den Bereich der Literatur hinein. Insofern ist die von mir wiederholt gebrauchte Metapher vom Ziehen der Grenze, die an das Ziehen einer Grenz- oder Demarkationslinie denken lässt, unpassend.
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Umstands wird in der Literaturtheorie – ebenso wie etwa in literaturwissenschaftlichen Lexikoneintragungen – der in der klassischen Logik übliche Begriff ›Klasse‹ nicht verwendet; dieser Begriff schließt ja das Merkmal einer extensional scharfen Begrenzung ein.)73 So wie ich die Uneinheitlichkeit oder Verschiedenheit der Grenzen des Literaturbereichs am Beispiel eines Lautgedichts Hugo Balls demonstriert habe, demonstriere ich die Unschärfe der Grenzen mit Hilfe eines Texts von Ernst Jandl und unter Voraussetzung der Poetizitätsdefinition Jakobsons.74 Jandl schließt eine seiner Frankfurter Poetik-Vorlesungen folgendermaßen: »Dankend für das Ohr, das Sie mir geliehen haben, gebe ich Ihnen ein Stück außerpoetischer Realität mit auf den Weg, wohin immer er sie führt. Sie haben es alle immer schon bei sich gehabt, und Sie bekommen es alle jetzt noch einmal von mir, versehen mit einem Titel, der diesem kleinen Stück Wirklichkeit die Erhabenheit von Poesie verleiht. spruch mit kurzem o ssso«75 Dieser Text Jandls hat einerseits offensichtlich einige Poetizitätskomponenten: Beide Zeilen des Spruchs weisen in phonologischer Hinsicht Äquivalenzen auf (u-Assonanz, Reim, mehrfache Wiederkehr des ›s‹); beide Zeilen sind in syntaktischer Hinsicht mehrdeutig: Sie enthalten eine doppelte Referenz (mit »spruch« sind zum einen beide Zeilen gemeint, zum anderen ist nur die Schlusszeile gemeint); die beiden Zeilen sind in semantischer Hinsicht mehrdeutig: Sie beziehen sich auf die poetische ebenso wie auf die außerpoetische Realität (der spruch mit kurzem o / ssso verweist zum einen offenbar auf sich selber, zum anderen auf die außerpoetische Realität, nämlich auf das Ende der Vorlesung: Das »ssso« ist so etwas wie der Schlusspunkt der Vorlesung und ersetzbar in etwa durch ›Das war’s; ihr könnt nach Hause gehen‹). – Hinzu kommen noch bestimmte Kunstgriffe der Komik-Erzeugung: Durch die Ausdrücke »Erhabenheit von Poesie« und »spruch« wird die Erwartung eines Bedeutsamen hervorgerufen – und diese Erwartung wird so gründlich enttäuscht, dass Komik entsteht: Die er_____________ 73
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Literaturtheoretiker und -wissenschaftler sprechen nicht von der ›Klasse der literarischen Texte‹ (und von Texten als ›Elementen‹ dieser Klasse), sondern vom Bereich (Ingarden), der Gruppe (Kayser) oder der Gesamtheit der literarischen Texte (Letzteres häufig in Lexika; siehe z.B. oben, Anm. 59). Dass die Grenzen des Literaturbereichs auch nach Ingarden unscharf sind, folgt aus dem, was ich gegen Ende des 2. Teils über Ingardens Literaturdefinition gesagt habe. Jandl: Das Öffnen und Schließen des Mundes, S. 76. – Die letzten zwei Zeilen des Textes, auf die es mir ankommt, sind natürlich auch ein wesentlich umstrittener Fall. Ingarden würde sie, anders als Jakobson, sozusagen von vornherein aus dem Literaturbereich ausschließen.
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habene Poesie besteht in einem »spruch mit kurzem o«; und der »spruch« gibt keine Weisheit, sondern ein »ssso« kund. Auf der anderen Seite muss man unter Voraussetzung der Poetizitätsdefinition Jakobsons allerdings auch Folgendes sagen: Der Text spruch mit kurzem o / ssso weist schon seiner Kürze wegen nur wenige Äquivalenzen auf, und das von Jandl gesetzte Signal, die Vorlesung sei nun zu Ende und man solle nach Hause gehen, ist naheliegenderweise als die referentielle und konative Funktion des Textes zu interpretieren – weshalb76 die poetische Funktion des Textes doch wohl eher eine sekundäre Funktion ist, die die primäre Funktion der Äußerung bzw. die Eindrücklichkeit und Wirksamkeit der Schlusspunktsetzung nicht ersetzt, sondern bloß verstärkt. Und tatsächlich steht Jandls spruch ja auch nicht in einem Gedichtband, sondern am Ende einer Universitätsveranstaltung. Jakobsons Poetizitätsdefinition vorausgesetzt, bleibt also, alles in allem genommen, zweifelhaft, ob der spruch mit kurzem o zur Poesie gehört oder nicht77 – und dies muss zweifelhaft bzw. ins Ermessen des Urteilenden gestellt bleiben, da ein exaktes Poetizitätskriterium bzw. eine mathematisch genaue Angabe über den Grad der Poetizität, den ein Text haben muss, um Poesie zu sein, bei Jakobson fehlt. Der spruch mit kurzem o ist ein Übergangsfall oder, umgangssprachlich gesprochen, eine Art Zwischending zwischen Poesie und Nicht-Poesie.78
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Folgendes ist in Analogie zu dem formuliert, was Jakobson in seiner Analyse der Wahlpropagandaformel »I like Ike« sagt (P 93). Zweifelhaft ist auch der ›funktionale‹ Status der Universitätsvorlesung: Wird sie, die sozusagen von Natur ein Gebrauchstext ist, nicht durch den spruch mit kurzem o verfremdet und poetifiziert? An dieser Stelle sei zweierlei angemerkt: (1) Neben dem wesentlich umstrittenen und dem Übergangsfall gibt es noch andere Grenzfälle, etwa den Mischfall (in Form des barocken Figurengedichts oder der Bildergeschichte von Wilhelm Busch) oder den Fall des unechten literarischen Werks, das (wie Klaus Manns Schlüsselroman Mephisto) in der Maske eines Romans auftritt, aber ›reale Personen‹ bloßstellen will und insofern – jedenfalls nach Maßgabe von Ingardens (relativ ›enger‹) Definition des literarischen Kunstwerks – eindeutig »außerkünstlerische Zwecke« verfolgt (vgl. LK 310, 183 Anm.; vgl. auch Ingarden: Vom Erkennen, S. 79). (2) Je nach Literaturdefinition sind die Einteilungen der literarischen Grenzfälle Einteilungen besonderer Art; die Einteilung ist bei Ingarden, der vier Grenzfälle unterscheidet (LK 337-353), eine andere als bei Jakobson, der nur den Übergangsfall anspricht. Man kann also die These ›Andere Literaturdefinition – andere Grenzen des Literaturbereichs – Ausgrenzung anderer Texte‹ erweitern um den Punkt ›andere Einteilung der literarischen Grenzfälle‹.
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Schluss Die Ergebnisse meiner Untersuchung lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Jakobson definiert den Literaturbegriff anders als Ingarden, und dies heißt auch: Er zieht die Grenzen des Literaturbereichs anders als dieser. Oder verallgemeinert und in der anti-essentialistischen Ausdrucksweise sprachanalytischer Philosophen: Die Literaturdefinition und die Bestimmung der Grenzen des Literaturbereichs gibt es im Bereich der klassischen Literaturtheorie nicht. (Auf die Sache namens ›Literatur‹ bezogen gesprochen: Es gibt nicht die Klasse derjenigen ›ontologischen‹ Eigenschaften, über die alle literarischen Werke und nur sie verfügen – woraus folgt, dass sich eine eindeutige ›natürliche‹ Abgrenzung des Literaturbereichs eben nicht vorfinden lässt.) Berücksichtigt man die Aufdeckung der Unschärfe der Grenzen, kann man das Ergebnis umfassender – und ebenfalls negativ – so formulieren: Die Literaturbegriffe der klassischen Literaturtheoretiker sowie der entsprechenden literaturwissenschaftlichen Schulen sind nicht einheitlich und nicht scharf definiert, und die Grenzen des Literaturbereichs sind nicht einheitlich bestimmt und nicht scharf gezogen. Anhang Es gibt zwei gegensätzliche Arten, auf die Uneinheitlichkeit und Unschärfe des literaturtheoretisch definierten Literaturbegriffs zu reagieren, nämlich (1) die Bildung eines ›neuen‹ und nunmehr einheitlichen und relativ exakten Standardbegriffs von Literatur und (2) die differenzialistisch-sprachanalytische, etwa am Modell der Familienähnlichkeit orientierte Charakterisierung des gemeinsprachlichen Literaturbegriffs, die (3) mit der Bestimmung präziser fachsprachlicher Literaturbegriffe durchaus vereinbar ist. (1) Die Bildung eines ›neuen‹ Standardbegriffs von Literatur. Weil man die Unschärfe und – vor allem – die Uneinheitlichkeit der Literaturdefinitionen bzw. der Schulbegriffe von Literatur als belastend, wenn nicht gar als in wissenschaftstheoretischer Hinsicht ruinös ansieht, versucht man oft, durch die Formulierung einer neuen, allgemeineren und nicht-klassischen bzw. nicht-ontologischen Literaturdefinition über die genannten Mängel hinauszukommen; oder auch: Man versucht, einen Standardbegriff von Literatur zu definieren als einen ›einheitlichen‹ und mit besonderer Sorgfalt und Genauigkeit hergestellten Maßstab für die Zuordnung aller in Frage kommenden Texte. Ich verdeutliche den Sachverhalt anhand eines Beispiels: Eric D. Hirsch stellt die Unzulänglichkeit aller traditionellen Literaturdefinitionen – übrigens ganz im Stile des späten Wittgenstein – deutlich heraus: »Literary theory gets into trouble only when it pretends that the word
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literature can be satisfactorily defined, and then tries to erect generalizations on such a delusive definition.«79 Hirsch würde Ingardens und Jakobsons Literaturdefinitionen ablehnen mit dem Argument, sie seien bloß stipulativ oder festsetzend bzw. normierend (»merely stipulative definitions«),80 und vor allem: sie seien zu eng und zu einseitig: sie machten »the teaching and study of literature more narrow and one-sided than is good for ourselves, our students and our culture.«81 Offenbar von einem ›neuen‹ »Verlangen nach Einheitlichkeit« getrieben – und nunmehr also ganz gegen den Stil und die Empfehlung des späten Wittgenstein82 – legt Hirsch später eine ›einheitliche‹ Definition vor, von der er zwar weiß, dass sie stipulativ ist, die er aber für höchst nützlich und – was mir hier wichtiger ist – für hinreichend allgemein hält: »Literature includes any text worthy to be taught to students by teachers of literature, when these texts are not being taught to students in other departments of a school or university.«83 Gegen Hirsch muss man einwenden: Seine pädagogisch motivierte und der »humanistic education«84 verpflichtete Literaturdefinition ist nicht weniger problematisch als die ›sachanalytisch‹ orientierten Literaturdefinitionen Ingardens und Jakobsons. Ob die humanistische Bildung ein angemessenes Erziehungsziel ist und wie der Begriff der humanistischen Bildung zu bestimmen ist, dürfte ebenso ›wesentlich umstritten‹ sein, wie die ontologisch definierten Literaturbegriffe es sind. Ergo: Auf dem von Hirsch eingeschlagenen Weg gelangt man nicht zu einer ›allgemeingültigen‹ Standarddefinition von Literatur – und dass man auch auf keinem anderen (ähnlichen) Weg dazu gelangt, liegt eigentlich auf der Hand: Man kann den höchst vielfältigen und komplexen Bereich der Literatur (des literarischen Kunstwerks, der Poesie usw.) nicht in einer einzigen alles umfassenden Phrase abbilden. Unter Hinweis auf das in der englischen Ethik gebräuchliche Schlagwort ››Ought‹ implies ›can‹‹ füge ich hinzu, dass man auch gar nicht erst versuchen sollte, eine bestimmte Standarddefinition des Literaturbegriffs zu liefern. (2) Der Literaturbegriff als Familienähnlichkeitsbegriff. Von einem differenzialistisch-sprachanalytischen Standpunkt85 aus mache ich folgenden Vorschlag: _____________ 79 80 81 82 83 84 85
Hirsch: What Isn’t Literature?, S. 26. Ebd., S. 34. Ebd., S. 28. Vgl. Pitcher über Wittgenstein als einen, der im »Sehnen« oder »Verlangen nach Einheitlichkeit« die Hauptursache für die Entstehung philosophischer Probleme sieht (siehe Pitcher: Die Philosophie Wittgensteins, S. 251). Hirsch: What Isn’t Literature?, S. 34. Ebd. Zu diesem Standpunkt (der auf Ingardens und Jakobsons Literaturtheorie bezogen auch ein metatheoretischer Standpunkt ist) siehe Strube: Philosophie der Literaturwissenschaft, S. 8 u.ö.
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Um ein treueres und realistischeres Bild an die Stelle der übersimplifizierten Literaturvorstellungen Ingardens und Jakobsons zu setzen,86 sollte man den Literaturbegriff nach dem Modell von Wittgensteins Familienähnlichkeitskonzept rekonstruieren87 und sagen: (a) Der Ausdruck ›Literatur‹, wie er gemeinsprachlich gebraucht wird, ist nicht angemessen oder ›realistisch‹ bestimmbar durch die Angabe von notwendigen (›literatur-machenden‹) Eigenschaften, die in ihrer Konjunktion hinreichend wären, den Bereich namens ›Literatur‹ eindeutig und scharf zu begrenzen. Vielmehr gilt: Der Literaturbegriff ist ein offener Begriff – ein open concept88 –, was einschließt: Die Liste der literatur-machenden Eigenschaften ist unabgeschlossen, und viele dieser Eigenschaften, wenn nicht alle, sind nur vage bestimmt. (b) Auf der anderen Seite ist der Ausdruck ›Literatur‹ aber kein Homonym. Literarische Kunstwerke89 bilden offensichtlich keine buntscheckige zusammenhanglose Gruppe von (lax gesagt) Dingen. Sie sind nicht nach Lust und Laune zusammengruppiert (vgl. oben S. 63f.), sondern nach Ähnlichkeiten. (c) So, wie es zwischen den Mitgliedern einer Familie »Familienähnlichkeiten« gibt, nämlich »ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen«,90 gibt es auch zwischen den ›literarisches Kunstwerk‹ genannten Dingen einander übergreifende und kreu_____________ 86 87
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Ich verwende hier das Vokabular des ›Differenzialisten‹ Toulmin (siehe Toulmin: Voraussicht, S. 18). Zu ›Familienähnlichkeit‹ siehe Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 66ff. (Es sei darauf hingewiesen, dass es Wittgenstein hier um die aufgrund von Ähnlichkeiten sichtbare Familienzugehörigkeit geht und nicht um die durch historische Dokumente oder eine DNA-Analyse nachweisbare Familienzugehörigkeit.) Näheres zu Wittgensteins Familienähnlichkeitskonzept in: Strube: Ästhetik, S. 8-19. Zu Wittgensteins Begründung der Bildung von Analogien (à la Familienähnlichkeit) siehe Strube: Wie Wittgenstein philosophiert, S. 75f. Das Familienähnlichkeitskonzept ist ein Konzept von mehreren Konzepten, mit deren Hilfe man die Verhältnisse im Gebrauch des Ausdrucks ›Literatur‹ charakterisieren bzw. beleuchten kann. Dass der Literaturbegriff auf sprachanalytischer Basis auch anders charakterisierbar ist, wurde oben schon gesagt und gezeigt. Im Hinblick auf den so genannten Literaturstreit liegt es nahe, den Literaturbegriff (mit Gallie) als wesentlich umstritten oder (mit Stevenson) als persuasiven Begriff zu charakterisieren. Im Hinblick auf die Vielfalt der (literaturtheoretischen) Gebrauchsweisen des Ausdrucks ›Literatur‹ erscheint mir die Charakterisierung als Familienähnlichkeitsbegriff am passendsten. Vgl. Weitz: Aesthetics, bes. S. 175. – Auf S. 171 heißt es über die traditionelle ästhetische Theorie: »Its attempt to discover the necessary and sufficient properties of art is logically misbegotten for the simple reason that such a set and, consequently, such a formula about it, is never forthcoming.« Der Einfachheit halber rede ich hier und in den folgenden Sätzen nur von literarischen Kunstwerken. Der Sachverhalt, um den es geht, ist derselbe, wenn die Sache ›literarisches Werk‹, ›Poesie‹ oder dergleichen heißt. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 66.
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zende Ähnlichkeiten. Diese Ähnlichkeiten – oder signifikanten Eigenschaften – sind im Falle des literarischen Kunstwerks nicht nur Fixierung, sprachkünstlerische Gestaltung und Fiktionalität,91 sondern auch die von Ingarden genannten metaphysischen Qualitäten92 und das besonders prägnant von Gabriel thematisierte Unaussagbare etwa der ästhetischen Idee oder des Symbols.93 Diese – und ähnliche – Eigenschaften sind Eigenschaften, die sozusagen machen, dass aus einem Text Literatur wird; und es sind Eigenschaften, von denen in einem zur Literatur zählenden Text alle gegeben sein können oder nur einige – und wenn einige, dann diese in dieser oder in jener Kombination. (Die Familienähnlichkeit zwischen zwei Familienmitgliedern ist ja auch dann schon gegeben, wenn beide sich nur in Wuchs, bestimmten Gesichtszügen und der Haarfarbe ähneln.) (d) So wie zumindest die große oder mitgliederreiche Familie hat auch die Familie namens ›Literarisches Kunstwerk‹ ›unscharfe Ränder‹: Es gibt ja Texte, die nur ganz wenige der signifikanten literatur-machenden Eigenschaften besitzen (etwa nur Fixierung und Fiktionalität) und unter diesen Eigenschaften solche (wie Fiktionalität), die nicht eindeutig identifizierbar sind (Ist ein Text fiktional, der den Untertitel ›Roman‹ hat, in den aber Reiseberichte und Tagebucheintragungen integriert sind?).94 _____________ 91 92 93
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Ich nehme hier die drei literatur-machenden Eigenschaften auf, die Jost Schneider in seinem Beitrag anführt (s.u. S. 449f.). S.o. S. 48. Auf letztere Eigenschaft bezogen, die auch als die Darstellung eines Allgemeinen in einem Besonderen charakterisiert werden kann, heißt es bei Gabriel: »In literarischen Texten sagt der Autor nicht, was er meint, er zeigt es vielmehr.« (Gabriel: Interpretation, S. 155). Literarische Texte vermitteln nach Gabriel eine nicht-propositionale Erkenntnis, die nicht oder jedenfalls nicht ganz oder ›abschließend‹ aussagbar ist (vgl. ebd., S. 152f.; vgl. auch Gabriel: Unaussagbarkeit, bes. S. 767f.) Durch eine Diskussion auf der Tagung »Grenzen der Literatur« in Irsee veranlasst weise ich darauf hin, dass die Anwendung des Familienähnlichkeitsmodells auf den Literaturbegriff die Anwendung des Prototypenmodells ausschließt. Nach dem Familienähnlichkeitsmodell ist die Art und Anzahl der Ähnlichkeiten zwischen den betreffenden Texten (oder auch: die Art und Anzahl der Bedeutungskomponenten des Ausdrucks ›Literatur‹) unbestimmt und variabel; und: Alle Mitglieder der Familie sind im Großen und Ganzen gleichwertig; jedenfalls gibt es keinen Text, der als das ›Zentrum‹ der Familie namens ›Literatur‹ gelten könnte. Nach dem Prototypenmodell hingegen sind nicht alle betreffenden Texte gleichwertig; vielmehr gibt es den optimalen Vertreter oder Repräsentanten der betreffenden Texte, nämlich denjenigen, in dem »die meisten, wenn nicht alle, Ähnlichkeitskreise […] zentriert sind« (Holenstein: Universalien, S. 182) und der deshalb als »allgemeines Leitbild« (ebd.) dient. So wären im Falle des Epos Homers Ilias und Odyssee optimale Vertreter oder eben Prototypen dieser Gattung. (Dies heißt auch: Die ›Logik‹ des Eposbegriffs ist eine andere als die des Literaturbegriffs; und letzterer ist, anders als der Eposbegriff, nicht angemessen mit Hilfe des Prototypenmodells charakterisierbar. Vgl. zu diesem Problem Strube: Typologie, bes. S. 41-45).
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(3) Die Brauchbarkeit des Literaturbegriffs. Wichtig ist zu sehen, dass die ›Uneinheitlichkeit‹ und Unschärfe den Literaturbegriff nicht unbrauchbar macht. Die ›Familienähnlichkeitsstruktur‹ des Literaturbegriffs bildet sozusagen die Diversität der ›Literatur‹ genannten Texte ebenso ab wie deren Zusammengehörigkeit – und mithin den Umstand, dass man Literatur in der Regel relativ problemlos von Nicht-Literatur unterscheiden kann. Wichtiger ist mir im gegebenen Zusammenhang Folgendes: Der (gemeinsprachliche) Familienähnlichkeitsbegriff ›Literatur‹ kann, falls erforderlich, (fachsprachlich) vereindeutigt und präzisiert werden, und zwar ohne dass der Ausdruck ›Literatur‹ – eben im Fall einer ›neuen‹ Definition – durch einen Neologismus (wie ›Letteratur‹) ersetzt werden müsste. Tatsächlich sind die Literaturdefinitionen Ingardens und Jakobsons ja auch Vereindeutigungen und Präzisierungen des gemeinsprachlich gebrauchten Ausdrucks ›Literatur‹. Worauf es demnach ankommen muss, ist dies: Zu Beginn einer entsprechenden Untersuchung muss der Literaturtheoretiker bzw. Literaturwissenschaftler erforderlichenfalls (etwa im Falle der Einführung in die Literaturwissenschaft)95 den eigenen – oder genauer: den im betreffenden Kontext gemeinten – Literaturbegriff definieren bzw. explizieren und mithin die Grenzen des Literaturbereichs markieren, der zur literaturwissenschaftlichen Untersuchung ansteht. Zum leichteren Verständnis der Definition ist es darüber hinaus zweckmäßig, die literaturtheoretische Tradition aufzudecken, in der man selber steht. Beispielhaft ist in beiden Punkten Wolfgang Kayser, der zu Beginn seiner Einführung in die Literaturwissenschaft Antwort gibt auf _____________ 95
Selbstverständlich gibt es viele literaturwissenschaftliche Kontexte, in denen eine Definition des Literaturbegriffs gar nicht vollzogen werden muss – und sollte. Für den Fall, dass ein Literaturwissenschaftler etwa Brentanos Wiegenlied auf seinen eigentümlichen Stil hin interpretiert, ist es nicht nur nicht nötig, sondern auch unangebracht, den vorausgesetzten Literaturbegriff zu explizieren, und zwar unangebracht unter anderem aus pragmatisch-ökonomischen Gründen (›Wo es nicht juckt, soll man nicht kratzen‹). Oder: Für den Fall der Aufnahme von Autoren in ein literarisches Lexikon ist es völlig ausreichend, sich auf eine bestimmte, relativ enge ›übliche‹ Bedeutung des Wortes ›Literatur‹ festzulegen, etwa durch Anführung des betreffenden Synonyms (also eines Ausdrucks wie ›schöngeistiges Schrifttum‹ oder ›Schöne Literatur‹). Wolfgang Kayser belässt es im Vorwort zu seinem Kleinen literarischen Lexikon – mit guten Gründen – bei der bloßen Nennung des Ausdrucks ›Schöne Literatur‹: »Maßgebend [sc. für die Aufnahme von Autoren, W.S.] war die Bedeutung, die dem jeweiligen Autor innerhalb der schönen Literatur zukommt.« (Kayser: Kleines literarisches Lexikon, S. 5) Oder: Für den Fall, dass man den literarischen Kanon des Aufklärungszeitalters untersuchen will, ist es völlig ausreichend, auf einige Beispiele, etwa auf Romane, theologische und historische Schriften, hinzuweisen und darauf, dass man ›einen weiten Literaturbegriff‹ voraussetze, weil dies zweckmäßig sei: »[...] nur er [sc. der relativ weite Literaturbegriff, W.S.] erscheint den Bildungs- und Lektüregewohnheiten des enzyklopädischen Zeitalters angemessen« (Zelle: Kanon, S. 4).
Die Grenzen der Literatur oder Definitionen des Literaturbegriffs
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die Frage »Was heißt Literatur?«,96 mit seiner Antwort ausdrücklich den »Gegenstand der Literaturwissenschaft«97 bestimmt bzw. die Grenzen des von ihm intendierten Literaturbereichs – und der im Kontext seiner Definition auf die (phänomenologische) Tradition verweist, in der er steht, nämlich auf Roman Ingardens ontologisch orientierte Literaturtheorie. Bibliographie Ball, Hugo: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften. Hg. von Hans B. Schlichting. Frankfurt 1984. Batteux, Charles: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Übers. und mit Abhandlungen begleitet von Johann Adolf Schlegel [1770]. Hildesheim, New York 1976. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus / Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts. Übers. und mit einer Einleitung hg. von Heinz Paetzold. Hamburg 1983. Danto, Arthur C.: Artworks and Real Things. In: Theoria 39 (1973), S. 1-17. Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart 1988. Eimermacher, Karl: Formalistische, strukturalistische und semiotische Analysen. In: K.E.: Wie grell, wie bunt, wie ungeordnet. Modelltheoretisches Nachdenken über die russische Kultur. Bochum 1995, S. 63-86. Fucks, Wilhelm: Nach allen Regeln der Kunst. Stuttgart 1968. Gabriel, Gottfried: Explikation. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Basel, Darmstadt 1972, Sp. 876. Gabriel, Gottfried: Zur Interpretation literarischer und philosophischer Texte. In: G.G.: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart 1991, S. 147-160. Gabriel, Gottfried: Logische und ästhetische Unaussagbarkeit. In: Wolfram Hogrebe (Hg.): Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie. Berlin 2004, S. 762-769. Gallie, Walter B.: Art as an Essentially Contested Concept. In: The Philosophical Quarterly 23 (1956), S. 97-114. Gallie, Walter B.: Philosophy and the Historical Understanding. London 1964. Geiger, Theodor: Ideologie und Wahrheit. Stuttgart 1953. Heselhaus, Clemens: Deutsche Lyrik der Moderne. Düsseldorf 1961. Hirsch, Eric D.: What Isn’t Literature? In: Paul Hernadi (Hg.): What Is Literature? Bloomington/Ind., London 1978, S. 24-34. Holenstein, Elmar: Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus. Frankfurt/M. 1975. Holenstein, Elmar: Sprachliche Universalien. Eine Untersuchung zur Natur des menschlichen Geistes. Bochum 1985. Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk. 2., verb. und erw. Aufl. Tübingen 1960. Ingarden, Roman: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen 1968. Ingarden, Roman: Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Tübingen 1969.
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Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 12. Ebd., vgl. auch ebd., S. 16.
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Werner Strube
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Die Grenzen der Literatur oder Definitionen des Literaturbegriffs
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KLAUS WEIMAR
Funktionen des Literaturbegriffs
Die Biowissenschaften haben den Grundbegriff ›Leben‹, der ihr Forschungsgebiet sowohl umreißt als auch abgrenzt vom Nicht-Leben, für das beispielsweise die Mineralogie zuständig sein mag. Es wird wohl nicht so sein, dass die Frage ›Was ist Leben?‹ nie gestellt würde, aber sie steht offenbar nicht im Mittelpunkt des Interesses, und selbst wenn sie keine unzweideutige und dauerhafte Antwort gefunden hat, wie anzunehmen sein wird, scheint sich das nicht direkt negativ auf die Forschung auszuwirken, um vorsichtig zu reden. Manchmal allerdings wird es doch nötig, den Nebel über der Grenze zwischen Leben und Nicht-Leben aus praktischem Interesse zu lüften und sie scharf nachzuzeichnen. Dann sieht sich etwa die Humanmedizin gefordert, wissenschaftlich verantwortbar zu sagen, wann noch-nicht-menschliches Leben in menschliches und wann menschliches in nicht-mehr-menschliches übergeht, definitorisch festzulegen also, bis zu welchem Zeitpunkt (diesseits welcher Grenze) eine Abtreibung noch nicht als Abtötung menschlichen Lebens und von welchem Zeitpunkt an (jenseits welcher Grenze) eine Organentnahme zwecks Transplantation nicht mehr als Ausschlachtung eines lebendigen Menschen gelten soll. Dass die Literaturwissenschaft mit ihrem Grundbegriff ›Literatur‹ sich mit analogen praktischen Notwendigkeiten konfrontiert sehen könnte, steht nicht zu erwarten. Die Literaturkritik inszeniert oder simuliert zwar permanent den Notfall mit schneidigen Machtsprüchen, dass dies oder das nicht mehr Literatur oder noch nicht Literatur sei oder den Ansprüchen an Literatur nicht genüge (die kursivierten Phrasen lassen sich ertragreich googlen). Aber das hat andere Gründe und spielt sich in einer anderen Branche ab. Die Literaturwissenschaft ist jedoch weder aus betrieblicher noch aus außerbetrieblicher praktischer Notwendigkeit darauf angewiesen, ihren Grundbegriff ›Literatur‹ trennscharf zu machen oder gemacht zu haben. Es geht
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wahrlich auch ohne das.1 Vorzügliches in Edition, Interpretation, Kommentar, Gattungstheorie, Metrik, Literaturgeschichtsschreibung usw. wird auch ohne präzisen Literaturbegriff nach wie vor möglich sein, und Erbärmliches wird auch mit ihm oder durch ihn (gesetzt, es gebe ihn) nicht verhindert werden können. Für das Viele, das zwischen Vorzüglichem und Erbärmlichem liegt, gilt selbstverständlich dasselbe. Das Bemühen um eine Präzisierung des Literaturbegriffs kommt zwar als ein genuin wissenschaftliches nicht in Betracht als Maßnahme im Dienste dessen, was diese dummschicken Manager ›Qualitätssicherung‹ oder ›Effizienzsteigerung‹ oder ›Exzellenz‹ nennen, ist aber deswegen noch lange nicht überflüssig, schädlich oder verwerflich. Nur bedarf es anderer Begründungen oder auch gar keiner. I Was präzisiert werden soll (in diesem Falle der Literaturbegriff), ist trivialerweise eben damit als vorhanden vorausgesetzt, obwohl als unpräzise und präzisionsbedürftig. Der vorausgesetzte Literaturbegriff pflegt ein allgemein gängiger zu sein, und zwar gängig nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern auch außerhalb ihrer. Das haben Grundbegriffe dieses Typs nämlich so an sich, dass sie nicht das exklusive Eigentum einer Wissenschaft, sondern gemeinfrei sind, und das hat auch sein Gutes. Denn darauf, dass ein Literaturbegriff (in mehr als einer Variante) außerhalb der Literaturwissenschaft unablässig kursiert, kann man sich verlassen. Den kriegen wir nicht weg, auch wenn wir es sollten können wollen, und er ist keineswegs kriterienlos, einfach deshalb nicht, weil er ein Begriff ist. Kein Anlass also, damit zu drohen oder sich davor zu fürchten, dass aus »Mangel an Kriterien für eine Unterscheidung der Literatur von Nicht-Literatur« sich irgendwann nicht mehr unterscheiden lasse, »was Kontext und was (literarischer) Text ist«.2 Der jeweils vorausgesetzte kurrente Literaturbegriff wird kaum jemals expliziert, sondern meist nur ›angewandt‹. Umso mehr ist es zu schätzen, dass Terry Eagleton eine von dessen (englischen) Varianten exponiert, indem er aufzählt, »was normalerweise unter der Überschrift ›Literatur‹ zusammengefaßt wird«. Die englische Literatur des 17. Jahrhunderts umfaßt die Dramen Shakespeares und Websters, die Gedichte Marvells und die Epen Miltons; aber sie erstreckt sich auch auf die Essays von Francis Bacon, die Predigten von John Donne, John Bunyans religiös-
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Ein nicht an mich adressiertes, in dieselbe Richtung zielendes Diskussionsvotum von Tilmann Köppe hat mir klar gemacht, dass eben dies meine Meinung war und ist, die ich deshalb auch hier notiert haben möchte. Zeuch: Diskurs, S. 14.
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Klaus Weimar allegorische Autobiographie und das, was Sir Thomas Browne geschrieben hat, was immer es auch sein mag. Mit einem kleinen Zugeständnis kann man sogar Hobbes’ Leviathan und Clarendons History of the Rebellion miteinbeziehen. [...] Im 19. Jahrhundert umfaßt die englische Literatur Lamb (nicht aber Bentham), Macaulay (aber nicht Marx), Mill (aber weder Darwin noch Herbert Spencer).3
Es ist zwar keine Explikation und schon gar nicht eine Präzisierung, aber doch eine Exemplifikation eines kurrenten Literaturbegriffs, und das ist nicht nichts. Sie veranschaulicht durch exemplarische Inklusion (›John Stuart Mill‹ rein) und Exklusion (›Charles Darwin‹ raus), welche Aufgabe und Funktion ein jeder Literaturbegriff hat: die Zuordnung von Texten zu einem besonderen Sektor namens Literatur entweder zu vollziehen (Inklusion) oder zu verhindern (Exklusion). Nötig dafür ist ein Kriterium, und Eagleton arbeitet es denn auch heraus und benennt es (behelfsmäßig, wie er selbst einräumt) als ›hochangesehene Schreibweise‹.4 Es sei zwar verantwortlich für die Zusammenstellung der bunten Menge, die unter den vorausgesetzten Literaturbegriff fällt, beziehe sich aber nicht immer auf dasselbe an oder in den inkludierten Texten, so dass zu folgern sei, es sei unmöglich, »das allen anvisierten Objekten gemeinsame, einmalige Unterscheidungsmerkmal zu identifizieren«.5 Dem pflichtet auf seine Weise z.B. auch Jonathan Culler bei.6 Unmöglichkeitsbehauptungen dieser Art sind, wie wir alle wissen, hyperbolische oder auch voreilige Rede. Aus der Erfolglosigkeit der individuellen Versuche, unter den Vorgaben eines vorausgesetzten kurrenten Literaturbegriffs ein Unterscheidungsmerkmal von Literatur und NichtLiteratur auszumachen, folgt nicht die generelle Unmöglichkeit, das Gesuchte zu finden. Natürlich nicht. Vielmehr nimmt unsereiner möglicherweise gerade den angeblichen Negativbefund als zusätzlichen Anreiz, die behauptete Unmöglichkeit doch nicht nur möglich, sondern auch wirklich zu machen und also den Literaturbegriff so auszugestalten und zu präzisieren, dass er seine Funktion der _____________ 3 4
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Eagleton: Einführung, S. 1. Ebd., S. 12: »Definition von Literatur als hochangesehener Schreibweise«. – Es handelt sich natürlich nicht um eine Definition im anspruchsvollen wissenschaftstheoretischen Sinne, und außerdem ist diese ›Definition‹ in sich inkongruent, weil das definiendum ›Literatur‹ ein Objekt oder eine Objektgesamtheit ist, das definiens ›Schreibweise‹ dagegen ein Verfahren oder was auch immer. – Abgesehen davon, trifft Eagletons Kriterium recht gut zusammen mit den Ergebnissen einer Umfrage in Deutschland Mitte der 1970er Jahre: Hintzenberg / Schmidt / Zobel: Literaturbegriff, S. 62ff. – Schon 1902 wird ein sehr ähnliches Kriterium ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass Theodor Mommsen den Nobelpreis für Literatur erhalten (und auch angenommen) hat. Eagleton: Einführung, S. 10. Culler: Literary Theory, S. 35: »The qualities of literature can’t be reduced either to objective properties or to consequences of ways of framing language.«
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Zu- und Einordnung sowohl allgemein als auch fallweise begründbar und nachvollziehbar erfüllen kann. Verantwortlich dafür mag Selbstachtung und Berufsstolz sein (ich will doch nicht einem Fach angehören, das sich nicht einmal über seinen Grundbegriff klar ist), sportlicher Ehrgeiz (muss doch hinzukriegen sein!), Faszination durch die anspruchsvolle Denkaufgabe oder auch ein anderes Motiv dieser Art. Wunsch und Bedürfnis nach Rationalität sind bekanntlich ihrerseits nicht rational. II Unbestritten dürfte sein, dass die kurrenten Literaturbegriffe unpräzise und insofern präzisierungsbedürftig sind. Unbestreitbar ist ferner, dass Präzisierungsversuche schon mehr als einmal unternommen worden sind.7 Unübersehbar ist schließlich, dass keiner dieser Versuche sich bislang hat durchsetzen und alle oder die meisten oder auch nur viele in unserem Fach hat dazu bewegen können, von ihrem je eigenen Literaturbegriff zu lassen. Genau das aber verlangt jede Präzisierung des Literaturbegriffs: sie ist durch sich selbst die Zumutung, das eine oder andere, das nach jeweils vorausgesetztem Literaturbegriff als Literatur gilt (z.B. ›Darwin‹), nicht mehr zu ihr zu zählen oder (seltener) bisher mehr oder weniger ausdrücklich Ausgeschlossenes (z.B. Aphorismen) nun doch in den Begriff einzuschließen. Präzisierungsvorschläge sind die Aufforderung, zwar nicht gerade das Leben, aber doch das Denken zu ändern, und zwar das Denken über den Grundbegriff unseres Faches, und wer macht das schon gern. Noch so sorgfältige und schlüssige Argumente können gerade durch ihre Stringenz entschiedenen Widerstand wecken8 und Befürchtungen eher noch verstärken, als dass sie sie entkräften würden – Befürchtungen etwa, es werde sich mit der Änderung des Literaturbegriffs unabsehbar vielleicht noch anderes ändern oder ändern müssen und es stehe möglicherweise sogar das Selbstverständnis als Literaturwissenschaftler auf dem Spiel. Dergleichen Befürchtungen (ich erfinde sie nicht) lassen darauf schließen, dass Unklarheit darüber be_____________ 7 8
Statt einer vollständigen Bibliographie nur eine (in mehrfachem Sinne) persönliche Auswahl: Fricke: Norm; van Peer: Literature; Schneider: Einführung, S. 9-20; Weimar: Literatur; Grimm: Literatur; Weimar: Bedeutung; Weimar: Niemandsland. Der sich dann geradezu bockig so artikulieren kann: »Ich lasse mir die Überzeugung nicht rauben, daß sie [Goethes Schriften zur Literatur, seine naturwissenschaftlichen Schriften, seine Gespräche mit Eckermann usw., K.W.] ausnahmslos Literatur sind, wenn auch Nicht-Dichtung; daß Platon griechische, Cicero und Tacitus lateinische, Montaigne und Bossuet französische und Emerson amerikanische Literatur höchsten Ranges geschrieben haben und daß, wenn die Tatsachen [!] den Theorien widersprechen, nicht die Tatsachen falsch sind, sondern die Theorien.« (Rüdiger: Literatur, S. 29f.)
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steht, welche Funktionen der Literaturbegriff hat und rechtens nur haben kann. Die Bestimmung dieser Funktionen sollte eigentlich jene Befürchtungen gegenstandslos machen und jedenfalls verkünden: fürchtet euch nicht. Wie die Versuche zur Präzisierung des Literaturbegriffs angelegt sind, hat Thomas Clark Pollock, einer der frühen Arbeiter an diesem Projekt, schon 1942 skizziert. Man fixiert erstens Textgruppen, die allenthalben als Literatur gelten (z.B. Romane, Dramen, Gedichte), schließt zweitens im eigenen Interesse Wertungen aus (um nicht nachher unsinnigerweise sagen zu müssen, dass schlechte Literatur dann doch keine Literatur sei) und bestimmt drittens eine Textgruppe, die ebenso allgemein nicht zur Literatur gerechnet wird (z.B. wissenschaftliche Texte)9, um dann viertens im Vergleich von erstens und drittens die Merkmale zu bestimmen, die nur auf einer von beiden Seiten auftreten. Damit dürften die bisherigen Präzisierungsversuche recht zutreffend beschrieben sein, auch darin, dass sie sich stets bemühen, den Kontakt zu kurrenten Literaturbegriffen und also zum allgemeinen Sprachgebrauch nicht zu verlieren. Jeder präzisierte Literaturbegriff wird (aus hoffentlich angebbaren Gründen) zwar mehr Texte oder weniger umfassen als der jeweils vorausgesetzte, aber es gibt doch auch einen geschützten Bereich oder einen harten Kern, den noch kein Literaturbegriff jemals ausgeschlossen hat und ausschließen wird (im Deutschen gehört natürlich z.B. Goethes Faust dazu). Präzisierungen des Literaturbegriffs sind, metaphorisch gesprochen, Grenzbereinigungen zwischen den bestehenden Gebieten ›Literatur‹ und ›Nicht-Literatur‹ und nicht Staatsgründungsakte. Sie geben sich fast seit jeher zu erkennen als Antworten auf die Frage ›Was ist Literatur?‹, die inzwischen zur vertrauten und oft verwendeten Formel geworden ist.10 Weniger vertraut oder sogar unvertraut dürfte sein, dass diese scheinbar ganz einfache Frage in sich eine zweifache oder Doppelfrage ist, deren beide Seiten oder Versionen sich dadurch voneinander unterscheiden, welches Wort im Fragesatz jeweils als Satzsubjekt angesetzt wird. Wird (1) Was als Satzsubjekt angenommen, so richtet sich die Frage darauf, was (alles) als Literatur gelten soll, und die Antwort wird weniger _____________ 9
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Pollock: Nature, S. 9: »Whatever other characteristics this field [i.e. literature, K.W.] has, therefore, I suggest (1) that it includes at least certain types of prose, especially prose fiction, as well as much verse, and this without prejudice; (2) that it does not embrace simply the most excellent specimens of its kind, but includes the poor as well as the good, the minor as well as the great; and (3) that it is distinguished from scientific communication by essential characteristics, not quality or value. […] Such a definition must, whatever else it does, (1) include prose as well as verse, (2) avoid the pitfalls of value-definition, and (3) distinguish the essential characteristics of literature from those of science.« Die frühesten mir bekannten Belege stammen von Wellek / Warren: Theory (1942), S. 9: »What is literature? What is not literature?«, und von Sartre: Littérature (1948).
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einzelne Texte als vielmehr bestimmte Textgruppen, Gattungen, Textsorten und dergleichen aufzählen und bestimmte andere ausdrücklich ausschließen. Wird dagegen (2) Literatur als Satzsubjekt aufgefasst, dann ist die Frage, als was Literatur gelten soll, und die Antwort wird lauten: als Klasse von Texten mit (aufzuzählenden) Merkmalen, die in anderen Textklassen nicht auftreten. Die was-als-Frage (1) richtet sich auf den Umfang des Literaturbegriffs (oder ersatzweise auch der Literatur) und artikuliert sich deshalb vorzugsweise in topographischen Termini (für Pollock ist Literatur »this field«, Grenzen der Literatur heißt dieser Sammelband). Die als-was-Frage (2) visiert den Inhalt des Literaturbegriffs an. Der Literaturbegriff hat zwei Seiten oder Aspekte: seine Extension (darauf zielt die Frage [1]) und seine Intension (darauf zielt Frage [2]). Der Literaturbegriff, wie immer er auch ausfallen mag, ist ein klassifikatorischer Begriff und steht als solcher immer noch im Verdacht, normativ (und also wissenschaftlich leicht anrüchig) zu sein, einfach deshalb, weil er ein- und ausgrenzt. Manche können sich unter einem deskriptiven Literaturbegriff nur einen vorstellen (den ›weiten‹ oder ›erweiterten‹), der alles Geschriebene bzw. Gedruckte überhaupt unter sich begreift, und tun sich schwer damit, dass selbst in ihm ein Unterscheidungskriterium gesetzt ist, das Kriterium ›Schrift‹ nämlich, wodurch mündlich Überliefertes ausgeschlossen wird. Deshalb müssen sie eigens betonen, das solle natürlich nur »in nicht wertender Weise«11 oder nur deshalb geschehen, weil es sich dabei mittlerweile um ein »Randphänomen« handle.12 Klassifikation (zu deutsch: Bildung von Klassen) ist aber nun wirklich etwas anderes als Wertung oder Normierung. Wir haben offenbar noch einiges an Informationsarbeit vor uns. III Das Bemühen um eine Präzisierung des Literaturbegriffs setzt in der deutschen Literaturwissenschaft, zumindest öffentlich, wohl erst 1939 ein mit einer Abhandlung Günther Müllers. Ich zitiere die Anfangssätze. Auf welche Weise Dichtung Dasein hat, wie Dichtung existiert, das ist eine literaturwissenschaftliche Grundfrage; literaturwissenschaftlich im engsten Sinn, weil hier nicht nach Inhalten, Werten, geschichtlichen Zusammenhängen, Stilen gefragt wird, sondern nach der Seinsart von ›Literatur‹. Daß diese Frage selten gestellt wird, spricht nicht gegen ihre
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Kreuzer: Veränderungen, S. 64. Baasner / Zens: Methoden, S. 12.
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Klaus Weimar Wichtigkeit. Treten doch in der Geschichte jeder Wissenschaft solche Grundlagefragen spät auf.13
Auch wenn es nicht in dieser Allgemeinheit zutreffen sollte – für die Literaturwissenschaft jedenfalls trifft es zu: die literaturwissenschaftliche ›Grundlagefrage‹ ist erst spät gestellt worden, nach Jahrzehnten regen Betriebs selbst unter dem Namen Literaturwissenschaft. Müller mag nicht wirklich der Erste gewesen sein, der die ›Grundlagefrage‹ aufgegriffen hat (er selbst sagt ja auch nur, sie werde »selten gestellt«) – er hat sie durch die Wahl des Publikationsorgans in der Fachöffentlichkeit so verankert, dass sie nicht mehr übersehen werden oder wieder vergessen gehen konnte, obwohl der Zeitpunkt der Publikation (wenige Monate vor Kriegsbeginn) nicht der beste und die Disziplin Literaturwissenschaft in ihrem damaligen Zustand überwiegend weder aufnahmebereit noch fähig zur Weiterarbeit war. Durch und mit Günther Müller hat die germanistische Literaturwissenschaft die Bearbeitung und Bestimmung ihres Grundbegriffs in die eigene Hand und Verantwortung genommen. Das ist ein wissenschaftsgeschichtliches Ereignis ersten Ranges, kaum noch wahrgenommen und gewürdigt. Es ist ein Schritt auf dem Wege zur Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft. Ob er dann auch gelungen ist, bleibt demgegenüber sekundär. Müller schließt sich erklärtermaßen an den ›polnischen Gelehrten‹ Roman Ingarden an, um dessen Einsichten für literaturwissenschaftliche Bedürfnisse und Zwecke zu spezifizieren und weiterzuführen. Seine Antwort auf die literaturwissenschaftliche ›Grundlagefrage‹ leidet allerdings an einer gewissen terminologischen Uneindeutigkeit, die sich indessen im Rückgriff auf Ingarden beheben lässt. Der Titel kündigt an, dass es um »die Seinsweise von Dichtung« gehen wird, aber schon der zitierte erste Absatz spricht von »der Seinsart der ›Literatur‹«, und in der Folge heißt es dann »Seinsweise von Dichtung« (138), »Seinsweise des literarischen Werks« (138), »Seinsweise von Literatur« (142) und zuletzt »Seinsweise von Dichtung, Satzgefüge, Lautgefüge, Bedeutungsgefüge« (152). Für Ingarden ist literarisch die Kennzeichnung einer Textgruppe, innerhalb derer es zwar qualitative Unterschiede (zwischen Werk und Kunstwerk nämlich) gibt,14 die sich aber ungeachtet dessen und als ganze abhebt von all den anderen Texten, welche man mit der (von Ingarden nicht verwendeten) Bezeichnung nicht-literarisch bedenken könnte oder müsste. Was _____________ 13 14
Müller: Seinsweise, S. 137. Ingarden: Kunstwerk, S. 1, Anm. 1: »Wir verwenden den Ausdruck ›literarisches Werk‹ zur Bezeichnung eines jeden Werkes der sog. ›schönen Literatur‹ ohne Unterschied, ob es sich dabei um ein echtes Kunstwerk oder um ein wertloses Werk handelt. Nur dort, wo wir diejenigen Seiten des literarischen Werkes herauszuarbeiten suchen, die für das literarische Kunstwerk konstitutiv sind, verwenden wir diesen letzteren Ausdruck.«
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Ingarden literarisches Werk nennt, trägt bei Müller denselben Namen oder auch den Namen Literatur; Ingardens literarisches Kunstwerk heißt bei Müller wechselweise Dichtung, dichterisches Werk oder auch Wortkunstwerk. Die Binnendifferenzierung (literarisches Werk vs. literarisches Kunstwerk bzw. dichterisches Werk), von Ingarden und von Müller vorgenommen, macht deutlich, dass Wertqualitäten nicht (mehr) bestimmend sein sollen für die Extension des Literaturbegriffs.15 Das ist schon einmal zumindest eine Veränderung des vorausgesetzten kurrenten Literaturbegriffs, insofern er nicht frei von Wertkomponenten gewesen sein sollte. Was nach Müller Literatur von Nicht-Literatur unterscheidet, scheint eine Seinsweise sein zu sollen, die nur ihr eigen ist. Einleitend exponiert er »den vorläufigen Begriff von Dichtung als einem sprachlich gehaltenen Sein« (139). Ein literarisches Werk (und a fortiori auch ein literarisches Kunstwerk) ist demnach ein »sprachliches Gefüge« (137) oder »Sprachgefüge« (140), das »durch zeichenmäßige Fixierung eines persönlichen, bewußtseinsfähigen Trägers überhoben« (142) ist. Die Schriftzeichen selbst sind zwar »unerläßlich für das Wirklichsein literarischer Texte« (141), dem literarischen Werk aber nicht zugehörig, »obwohl es nur auf Grund der heterogenen Zeichen weiterbestehen« (141) kann.16 Das Sprachgefüge namens literarisches Werk also, »nur durch die heterogene, seinem inneren Wesen fremde Zeichenbasis in der Zeit gehalten«, baut sich auf ihr auf aus drei Elementen:17 dem »Lautgefüge« (Sprache in phonetischer Hinsicht), dem ›zeichenmäßig fixierten Satzgefüge‹ (Sprache in syntaktischer Hinsicht) und ›satzmäßig getragenen Bedeutungsgefügen‹ (Sprache in semantischer Hinsicht, also Textwelt) (142). Die Eigenheit des dreifach in sich gegliederten Sprachgefüges ist nun eben seine Seinsweise. Es hat sein Sein in der Weise, »bewußtseinsmäßig aktualisierbar zu sein«, und das ist – anders als bei der Schrift (»Zeichenbasis«) – nicht das Sein in der Weise eines Dinges, sondern lediglich »potentielles Sein, ein esse in potentia«, »das Sein von Satzgefügen« (142), »stets allein aktualisierbares potentielles Sein, das Sein von satzgetragenen Bedeutungsgefügen«, »das bloße ›Bedeutungsein‹«, der ›eigentümliche‹ »Irrealitätscharakter aller Dichtung, dessen Feststellung ihr ja keineswegs das Sein überhaupt abspricht« (143). _____________ 15 16
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Müller: Seinsweise, S. 138, zählt denn auch beispielsweise auf: Abenteuer- und Detektivroman, hohes Kunstepos, Divina Comedia, Hyperion, Wahlverwandtschaften; ständisches Gebrauchslied, Ode, Hymnus; Stegreifkomödie, hohe Tragödie. Diese Unterscheidung zwischen heterogener Zeichenbasis und literarischem Werk steht recht nahe bei Jan Mukařovskýs Unterscheidung von materiellem Artefakt und ästhetischem Objekt, die allerdings damals in Deutschland wohl noch nicht bekannt war. Aufbau und Element sind übrigens Ingardensche Termini, die Müller nicht verwendet.
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Müller versichert, über »die Schranken des Bedeutungseins« könne »kein literarisches Werk hinaus« (143) und es könne »der Abgrund der Seinsweisen nicht übersprungen« werden (144). Das wird man akzeptieren können, ob man die Ontologie von actus und potentia als solche nun goutiert oder nicht: Textwelten (›satzgetragene Bedeutungsgefüge‹) sind und bleiben Textwelten, was denn auch sonst. Aber im gleichen Zuge wird man hinzufügen müssen: dasselbe gilt dann doch wohl selbstverständlich für alle Texte, für literarische wie für nicht-literarische gleichermaßen. Schon hier also – wie später noch öfter18 – die Fehleinschätzung allgemeiner texttheoretischer Aussagen oder Erkenntnisse als spezielle literaturtheoretische, würde man sagen wollen, wenn da nicht noch anderes wäre. Sehr bald nämlich stellt sich heraus, dass die Aussagen über die Seinsweise literarischer Werke unausdrücklich orientiert waren an einem Vergleich mit (gesprochenen) Sätzen »im realen Leben« (144), während der Vergleich mit nicht-literarischen Werken, für die Präzisierung des Literaturbegriffs von alleinigem oder doch besonderem Interesse, erst noch folgt. Zwar gibt unter dieser Voraussetzung der Titel Über die Seinsweise von Dichtung nicht mehr an, wodurch sich literarische Texte von nicht-literarischen unterscheiden, aber dafür ist die Verwechslung von Text- und Literaturtheorie vermieden, die ja doch ziemlich peinlich wäre. Jener Vergleich, ohne zunächst als solcher genannt zu werden, wird eingeleitet durch diese Bemerkung: Der Satz bildet aus Wörtern und ihren Bedeutungen sein Bedeutungsgefüge. Aber es gehört zu dem Satz, daß er den Blick über das Bedeutungsgefüge hinaus auf Gegenstände und Beziehungen zwischen Gegenständen hinlenkt, mögen diese Gegenstände nun als reale vermeint oder als nur vermeinte gesetzt sein. So geht der Vollzug des literarischen Werks leicht durch das im literarischen Werk wirklich gegebene Bedeutungsgefüge hindurch und vollzieht jenseits Setzungen.19
Etwas moderner gesagt: es geht um das Problem der Referenz, um die Beziehung von Wörtern und Sätzen im Text auf ein Jenseits des Textes. In Müllerscher Terminologie: es geht darum, dass sich das Bedeutungsgefüge (die Textwelt) eines Textes selbst überschreitet auf etwas anderes hin, das nicht mehr Bedeutung ist, oder wie eine Dichtung »ihr Bedeutungsgefüge durch ihre Bedeutungen transzendiert«.20 _____________ 18
19 20
Beispielsweise bei Wolfgang Iser mit dem Konzept ›Leerstelle‹. Es beansprucht (Ingardens Konzept ›Unbestimmtheitsstelle‹ missverstehend), dasjenige zu benennen, was literarische Texte von allen anderen unterscheidet, während sich doch überaus leicht Leerstellen in Isers Sinn auch und gerade in dezidiert nicht-literarischen Texten (Fahrplänen z.B.) nachweisen lassen. Müller: Seinsweise, S. 146. Ebd., S. 151.
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Was mit dieser Selbsttranszendierung gemeint ist, wird erläutert durch einen Vergleich der beiden Verse »Über allen Gipfeln / Ist Ruh« mit der »Meldung einer Wetterbeobachtung, daß in den höheren Luftschichten Windstille herrscht«. Der Unterschied zwischen beiden ist, so Müller, dieser: »Die Wettermeldung weist auf eine transliterarische Tatsache hin, das Gedicht dagegen auf ein transliterarisches ›Wesen‹« (147f.).21 Die klassische Definitionsformel: Angabe des genus proximum (Hinweis auf Transliterarisches) und der differentia specifica (Hinweis auf eine Tatsache/ein ›Wesen‹). Das jeweilige Referenzobjekt (Tatsache vs. ›Wesen‹) macht demnach den Unterschied zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten aus. Eben diesen Unterschied bekräftigt Müller mit anderen Ausdrücken und gleich begründungslos an weiteren Beispielen. Die Zusammenfassung: Dichtung, d.h. dichterische Bedeutungsgefüge bringen ›etwas‹ zur Erscheinung, während die Umgangssprache mitteilt oder ausdrückt und wissenschaftliche Literatur Erkenntnisschritte und Erkenntnisbewegungen festlegt. Freilich sind in jeder sprachlichen Äußerung diese verschiedenen Leistungen mehr oder weniger deutlich vorhanden.22 Aber die spezifisch dichterische Leistung ist es, etwas durch das Bedeutungsgefüge zur Erscheinung zu bringen. Und die Erscheinung ist eben die des Gefüges von Bedeutungen.23
Günther Müllers um Präzisierung bemühte Entwicklung des Literaturbegriffs in seiner Intension kommt also zum Abschluss in den Bestimmungen, dass es allein literarischen Texten eigen sei, auf ein ›Wesen‹ hinzuweisen und/oder ›etwas‹ zur Erscheinung zu bringen. All die zugehörigen Beteuerungen, Bekräftigungen, Behauptungen formulieren thetisch aber lediglich eine Intuition, die ihr eigenes Zustandekommen nicht erklären kann. Nirgends in der ganzen Abhandlung ist angegeben, woher ihr Verfasser weiß und woran unsereiner dann soll erkennen können, dass oder ob ein vorliegender Text auf ein ›Wesen‹ hinweist und/oder etwas zur Erscheinung bringt und also ein literarischer ist. Mit anderen Worten: Müllers Doppelkriterium für die Literarizität von Texten (›hinweisend auf ein Wesen und/oder etwas zur Erscheinung bringend‹) und damit für die Grenzziehung zwischen Literatur und Nicht-Literatur ist nicht anwendbar und operationalisierbar, d.h. unbrauchbar. Brauchbar zu diesem Zweck würde es erst, wenn zusätzlich Textmerkmale angegeben wären, die auch Nicht-Professionelle (etwa an Wandrers Nachtlied) sowohl wahrnehmen als _____________ 21
22 23
Ähnlich schon vorher: »Werke der Reportage (aber auch große Bestände der wissenschaftlichen Literatur) erheben den Anspruch, bestimmte reale Dinge und Vorgänge zu treffen. Das gehört zu ihren Unterschieden von einer Dichtung, die den tieferen Sinn der Wirklichkeit gestalten will.« (Ebd., S. 143) In Umkehrung der Chronologie: ein deutlicher Anklang an Roman Jakobsons These von der Dominanz der ›poetischen‹ Funktion der Sprache in deshalb so genannten poetischen Texten. Müller: Seinsweise, S. 151.
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auch wissend oder unwissend als Träger eines Hinweises auf ein ›Wesen‹ verstehen können. Dergleichen Angaben fehlen bei Müller (und wiederum: nicht nur bei ihm). IV Günther Müllers früher Versuch, den Literaturbegriff zu präzisieren, ist inzwischen fremdartig genug geworden (möglicherweise war er das schon von Anfang an), um selbst in seinem Misslingen instruktiv zu sein und Einsichten in die Funktionen des Literaturbegriffs zu eröffnen. Ich bilanziere. Der Literaturbegriff (und sicher nicht nur er) hat zwei Seiten (und nicht zwei Teile), die Extension und die Intension, und beide Seiten stehen in dem problematischen Verhältnis der wechselseitigen Abhängigkeit voneinander. Die Bestimmung der Extension ist angewiesen auf ein Kriterium, mittels dessen sie Literatur (literarische Texte) von Nicht-Literatur (nicht-literarischen Texten) unterscheiden und abgrenzen kann, und das kann sie nur erhalten aus der Bestimmung der Intension des Literaturbegriffs. Die aber hinwiederum ist angewiesen darauf, dass das Gebiet bereits umgrenzt (die Extension bestimmt) ist, in dessen theoretischer Beschreibung jenes Unterscheidungskriterium ausfindig und namhaft gemacht werden kann. Wie sollte man auch nur einigermaßen zuverlässig angeben können, als was (intensional) Literatur gilt oder gelten soll, wenn nicht schon vorgängig geklärt ist, was (extensional) als Literatur gilt oder gelten kann (und umgekehrt)? Für die Literaturwissenschaft ist die Frage ›Was ist Literatur?‹ eine ganz gewöhnliche Forschungsfrage, die beantwortet wird durch einen zweiseitigen Literaturbegriff. Er hat seiner Extension nach die Funktion (1a), ein Gebiet innerhalb der Gesamtheit von Texten nach einem Unterscheidungskriterium zu umgrenzen, und eben damit die Funktion (1b), den Wissenschaftsgegenstand zu bestimmen. Seiner Intension nach hat er die Funktion (2a), den Wissenschaftsgegenstand theoretisch zu beschreiben, und eben damit die Funktion (2b), das Unterscheidungskriterium zu entwickeln, das von und in der Funktion (1a) benötigt wird. So dürfte beiläufig verständlich werden, warum der zweiseitige Literaturbegriff kaum im ersten entschlossenen Anlauf voll entwickelt da sein wird (weder fachhistorisch noch individualbiographisch): eben wegen der wechselseitigen Abhängigkeit seiner beiden Seiten voneinander werden mehrere Durchgänge von Versuch, Erprobung, Korrektur usw. nötig sein, bis das Unterscheidungskriterium dann vielleicht einmal präzis genug zubereitet ist für eine trennscharfe Umgrenzung.
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V An sich sollte es ja sozusagen von selbst einleuchten, dass der Literaturbegriff nicht mehr als (und nur) diese vier Funktionen hat, weil er ein klassifikatorischer Begriff ist. Trotzdem werden ihm immer noch und immer wieder andere Funktionen zugemutet, vorzugsweise (und besonders häufig in den 1970er Jahren) diejenigen der Legitimation oder Begründung. Das Muster ist dabei wohl immer dasselbe, recht einfach abzulesen an einer Bekanntmachung des Fachgebiets Englische Literaturwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt. Im Mittelpunkt der Lehre steht die Befähigung zum kritischen und reflektierten Umgang mit Texten aller Art. Dabei wird ein weiter Literaturbegriff zugrundegelegt, der es ermöglicht, literarische Texte im herkömmlichen Sinne zu anderen Texten und anderen Medien in Beziehung zu setzen.24
Wenn (allein) ein weiter Literaturbegriff es möglich macht, literarische Texte in Beziehung zu setzen zu anderen Texten und Medien, dann muss eben das ohne ihn (oder vor seiner Einführung) unmöglich (gewesen) sein – nackter Unsinn. Das Fachgebiet scheint das aber gar nicht zu merken, weil es offenbar auf anderes aus ist, sagen wir: darauf, die Wahl eines umfangreicheren als des herkömmlichen Gegenstandsbereichs mittels des Literaturbegriffs zu begründen oder wenigstens zu legitimieren, vor wem auch immer. Nur geht auch dieses Vorhaben daneben, weil eben jener Literaturbegriff gemäß seiner Funktion (1b) die Bestimmung des bereits gewählten Gegenstandsbereichs ist und also nicht dessen Wahl begründen oder legitimieren kann. Verallgemeinerte Lehre: der Literaturbegriff ist untauglich in anderen Funktionen als in denen eines klassifikatorischen Begriffs. Wenn man es trotzdem versucht, ihn zu Zwecken der Begründung oder Legitimation zu instrumentalisieren oder zu funktionalisieren, dann rächt er sich für den Missbrauch und lässt hohe Nebenkosten auflaufen oder unerwünschte Nebenwirkungen entstehen: Unsinn (fakultativ) und logische Defekte wie petitio principii oder Verwechslung von Grund und Folge (obligatorisch). Mehr noch: es ist nicht nur unnütz und kostspielig, sondern in der Regel auch noch unnötig und überflüssig, dem Literaturbegriff andere Funktionen zuzumuten als diejenigen, die er hat. Fast immer lässt sich eine solche Zumutung mit Gewinn ersetzen durch aufrechte Rede (und wenn das nicht geht, sollte man die Übung sowieso unterlassen), die im Darmstädter Fall etwa so lauten würde: wir finden es interessant und wichtig, literarische Texte mit anderen Texten und Medien in Beziehung zu setzen, und wollen es deshalb auch machen. Hat jemand was dagegen? Kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. _____________ 24
Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft: Englische Literaturwissenschaft.
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Das Schöne und geradezu Liebenswerte am Literaturbegriff ist, dass man, gewisse eigentlich selbstverständliche Ansprüche an logische Konsistenz immer vorausgesetzt, nichts anderes mit ihm machen kann, als ihn zu haben und in seinen vier Funktionen einzusetzen und außerdem zu pflegen und zu präzisieren. Unter denselben Vorgaben ist er unfähig und untauglich dazu, irgendetwas zu begründen oder zu legitimieren oder zu irgendetwas zu verpflichten, was es auch sein möge. Weil dies das Schicksal und die Gnade aller klassifikatorischen Begriffe ist, sei es noch einmal an einem anderen erläutert. Gesetzt auch also, ich hätte einen trennscharfen Begriff der Kartoffel, so würde er mich zu nichts, aber auch zu gar nichts verpflichten oder befähigen oder berechtigen, weder dazu, das Gewächs roh, gekocht, gebraten, frittiert oder überhaupt zu essen, noch dazu, es, wenn ich es denn verzehren will, mit der Hand oder dem Messer oder dem Taschentuch zum Munde zu führen oder mich zwecks Verzehr auf den Acker (in den Kontext) zu begeben, auf dem es gewachsen ist, noch dazu, anderen das eine oder andere davon vorzuschreiben. Genau so, mutatis mutandis natürlich, verhält es sich auch mit dem Literaturbegriff. Bibliographie Baasner, Rainer / Maria Zens: Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Eine Einführung. 2., überarb. und erw. Aufl. Berlin 2001. Culler, Jonathan: Literary Theory. A Very Short Introduction. Oxford, New York 1997. Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. 4., erw. und akt. Aufl. Stuttgart, Weimar 1997 (Sammlung Metzler 246). Fricke, Harald: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981. Gottschalk, Jürn / Tilmann Köppe (Hg.): Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie. Paderborn 2007 (KunstPhilosophie 7). Grimm, Thomas: Was ist Literatur? Versuch einer Explikation des erweiterten Literaturbegriffs. Neuried 2000 (Deutsche Hochschuledition 102). Hintzenberg, Dagmar / Siegfried J. Schmidt / Reinhard Zobel: Zum Literaturbegriff in der Bundesrepublik Deutschland. Braunschweig, Wiesbaden 1980 (Konzeption Empirische Literaturwissenschaft 3/4). Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft. Halle 1931. Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft: Englische Literaturwissenschaft. (12.01.2007). Kreuzer, Helmut: Veränderungen des Literaturbegriffs. Göttingen 1975 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1398). Müller, Günther: Über die Seinsweise der Dichtung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 17 (1939), S. 137-152. Peer, Willie van: But What Is Literature? In: John D. Sell (Hg.): Literary Pragmatics. New York 1991, S. 127-141.
Funktionen des Literaturbegriffs
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Pettersson, Anders: Concepts of Literature and Transcultural Literary Studies. In: A.P. (Hg.): Notions of Literature across Times and Cultures. Berlin, New York 2006, S. 1-35. Pollock, Thomas Clark: The Nature of Literature. Its Relation to Science, Language and Human Experience. Princeton 1942. Rüdiger, Horst: Was ist Literatur? In: H.R. (Hg.): Literatur und Dichtung. Stuttgart u.a. 1973 (Sprache und Literatur 78), S. 26-32. Sartre, Jean-Paul: Qu’est-ce que la littérature? Paris 1948. Schneider, Jost: Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 2., durchges. Aufl. Bielefeld 1998. Weimar, Klaus: Literatur. In: Harald Fricke u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2. 3., neu bearb. Aufl. Berlin, New York 2000, S. 443-448. Weimar, Klaus: Literarische Bedeutung? In: Fotis Jannidis / Gerhard Lauer / Matías Martínez / Simone Winko (Hg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Berlin, New York 2003 (Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie 1), S. 228-245. Weimar, Klaus: Das Niemandsland zwischen Wahrheit und Unwahrheit. In: Ingolf U. Dalferth / Philipp Stoellger (Hg.): Wahrheit in Perspektiven. Probleme einer offenen Konstellation. Tübingen 2004 (Religion in Philosophy and Theology 14), S. 325-331. Wellek, René / Austin Warren: Theory of Literature [1942]. New York 1949. Zeuch, Ulrike: Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart. In: Jörg Schönert / U.Z. (Hg.): Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 2004, S. 9-29.
OLIVER DAVID KRUG / HANS-HARALD MÜLLER / TOM KINDT
Was ist Literatur? Bemerkungen zu einer Frage der Literaturwissenschaft
Was ist Literatur? Wer diese Frage ernsthaft stellt, wird davon ausgehen, dass auf sie im Prinzip eine sinnvolle Antwort gegeben werden kann. Wer diese Frage als Literaturwissenschaftler ernsthaft stellt, wird sich von einer sinnvollen Antwort zudem einen Nutzen für die Literaturwissenschaft versprechen. Welchen? Vielleicht jenen, dem in den folgenden Zeilen Ausdruck verliehen wird: Wer wissen will, was Literaturwissenschaft ist, der muss zunächst wissen, was Literatur ist, weil der zusammengesetzte Begriff sich erst auf der Basis des einfacheren erfassen lässt, den er als Komponente enthält. Literaturwissenschaftler sollten in der Lage sein, Auskunft darüber zu geben, was Literaturwissenschaft ist. Also sollten sie in der Lage sein, Auskunft darüber zu geben, was Literatur ist.
Diese Argumentation klingt nach einem ›Selbstgänger‹. Und eines ist klar: Wenn es einer ist, dann sind die Literaturwissenschaftler am Zug, eine befriedigende Antwort vorzulegen. Aber handelt es sich dabei wirklich um einen Selbstgänger? Hören wir dazu eine prominente Gegenstimme: Nicht die ›sachlichen‹ Zusammenhänge der ›Dinge‹, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde [...].1 Der wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich ist nun zunächst unbedingt die Frage der Geeignetheit der Mittel bei gegebenem Zwecke.2
Fasst man mit Max Weber die Literaturwissenschaft als ein Arbeitsgebiet der Wissenschaften auf, dann liefern die soeben angeführten Zitate das Material für eine Gegenposition zum zuvor zitierten Selbstgänger. Sie kann folgendermaßen paraphrasiert werden: _____________ 1 2
Weber: Objektivität, S. 166. Ebd., S. 149.
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Wer wissen will, was unter Literaturwissenschaft zu verstehen ist, muss sein Augenmerk auf die literaturwissenschaftlichen Fragestellungen (»Probleme«) und auf die Methoden (»Mittel bei gegebenem Zwecke«) zur Beantwortung eben dieser Fragen richten. Also: Nicht der Gegenstandsbereich (im Sinne von: ›Die Klasse der Untersuchungsobjekte‹) grenzt einen Wissenschaftszweig von allen anderen ab, sondern die Art und Weise, wie und woraufhin die Gegenstände von diesem ›befragt‹ werden.
Welche der beiden angeführten Positionen ist nun im Recht? Bevor wir uns zu einem Plädoyer für eine der beiden hinreißen lassen, werden wir vorsichtshalber einen Schritt zurücktreten und uns bemühen, zunächst ein wenig genauer zu klären, was es mit der Frage ›Was ist Literatur?‹ eigentlich auf sich hat. Die Frage ›Was ist Literatur?‹ suchen Literaturwissenschaftler – und das unterscheidet sie vielleicht von Philosophen, die sich mit Fragen dieser Form beschäftigen – gemeinhin nicht selbstgenügsam zu beantworten in dem Bestreben zu klären, was denn Literatur an und für sich sei. Literaturwissenschaftler suchen vielmehr einen Begriff der Literatur zu bestimmen, von dem aus ein sinnvoller Übergang auf die Wissenschaft ermöglicht wird, die sich der unter diesem Begriff versammelten Gegenstände annehmen kann. Ein solcher Übergang nun ist nicht so trivial wie er vielleicht scheinen mag.3 Schon die Geschichte der Philologien liefert zahlreiche Beispiele dafür, dass die Bestimmung des Gegenstandsgebiets der Literaturwissenschaft ganz anderen Gesichtspunkten folgt als einer Begriffsbestimmung von Literatur. Im Zusammenhang mit der Frage ›Was ist Literatur?‹ in diesem Kontext gilt es also zunächst zwei Aspekte näher zu klären: Erstens: Was ist unter den erwähnten selbstgenügsamen Antworten zu verstehen? Zweitens: Worin besteht der erwähnte Übergang vom Gegenstand auf die Wissenschaft? Beide Fragen werden dabei behilflich sein, die hier zur Diskussion gestellte Frage besser zu verstehen. Das bessere Verständnis dieser Frage wird darin bestehen, so das Ziel unseres Beitrags, erstens mehrere Arten von Absichten zu unterscheiden, mit denen die Frage ›Was ist Literatur?‹ gestellt werden kann, und zweitens daraufhin einige der Anforderungen kennen zu lernen, die sich an die unterschiedlichen Antworten anschließen.
_____________ 3
Vgl. dazu auch Winko / Jannidis / Lauer: Geschichte, S. 123 (gegen Rosenberg): »Die Annahme, dass der Gegenstand der Literaturwissenschaft literarische Texte seien und daher die Bestimmung des Literaturbegriffs die Basis für eine Klärung des Objektbereichs dieser Wissenschaft bilde, ist nicht zwingend.«
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Sokratische Fragen4 der Form ›Was ist B?‹ (wobei für B generelle Terme zu substituieren sind, die Begriffe ausdrücken) spielen in der Tat in der Philosophie, und dort nicht zufällig vornehmlich in ihrer analytischen Ausrichtung, eine gewichtigere Rolle als in der Literaturwissenschaft. Begriffsanalysen als Antworten auf solche Fragen sind ein wichtiger, wenn nicht der Gegenstand der analytischen Philosophie. Allerdings: Der Hinweis auf den Umstand, dass Fragen einer bestimmten Form in der einen Wissenschaft größere Beachtung finden als in der anderen, ist, für sich genommen, keine Rechtfertigung dafür, dass es hinsichtlich solcher Fragen eine grundlegende Differenz zwischen den entsprechenden Disziplinen gibt. Schließlich könnte man argumentieren, dass die Literaturwissenschaft gut daran täte, sich eingehender mit der Analyse des Begriffs ›Literatur‹ zu beschäftigen. Täte sie tatsächlich gut daran? Um diese oder um mit ihr verwandte Fragen werden unsere nächsten Überlegungen kreisen. Beginnen wir mit der folgenden Frage: (F)
Mit welchem Interesse lässt sich die Frage ›Was ist Literatur?‹ stellen?
Die knappste Antwort auf (F) liefert uns sicherlich die folgende Option: (FA) ›Sokratisches‹ Erkenntnisinteresse. Was spricht für (FA)? Auf den ersten Blick sicher einiges. Denn wer sich Literaturwissenschaftler schimpft, der sollte eine gute Antwort auf die Frage haben, was das eigentlich ist: Literatur. Eine Begriffsanalyse im Stile notwendiger und zusammengenommen hinreichender Bedingungen wäre eine hervorragende Antwort auf diese Frage. Auf eine Ausrichtung dieser Art legt sich beispielsweise Klaus Weimar fest, wenn er für eine Trennung der Diskussion um den Literaturbegriff von der um die Ausrichtung der Literaturwissenschaft plädiert. Hinter seiner Forderung steht die Idee, dass Literaturwissenschaftler einen Begriff der Literatur explizieren können sollten, auch dann, wenn diese Explikation zu keiner weiterführenden Auskunft über den Aufbau der Literaturwissenschaft befähigt.5 In ganz ähnlicher Weise scheint sich Thomas Grimm diesem Votum in seinem Versuch einer Ex_____________ 4
5
Den Titel ›Sokratisch‹ verdanken diese Fragen Platons Sokrates im Theaitetos. Aus der einschlägigen Stelle im Dialog kann man einiges über die hier gestellte Frage nach dem Erkenntnisinteresse lernen, das hinter diesen Fragen steht. Nicht zuletzt bekommt man dort in kürzester Form einen Einblick über ganz unterschiedliche Arten, diese Frage zu beantworten. Einschlägig sind diese Überlegungen hier, weil sie darlegen, dass Antworten auf Sokratische Fragen mehr oder weniger zufriedenstellend sein werden, je nachdem, wie der ›Frager‹ seine Frage verstanden wissen will. Vgl. dazu Weimar: Literatur.
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plikation des erweiterten Literaturbegriffs anzuschließen, wenn er seinen Analyseversuch mit dem folgenden Explikationsgrund versieht: Es schadet dem Ansehen der Literaturwissenschaft, wenn sie die Probleme, deren Behandlung ihr nach fachexterner Ansicht obliegt, leichtfertig beiseite schiebt.6
Nun ist es sicherlich richtig, dass kein Wissenschaftsgebiet leichtfertig die Erklärungsleistungen verweigern sollte, die an es herangetragen werden. Dass aber vielleicht weniger Leichtfertigkeit als begründete wissenschaftliche Bedenken hinter der Zögerlichkeit der Antworten der Literaturwissenschaftler stehen, stellt man sie vor die Frage ›Was ist Literatur?‹, findet auf den zweiten Blick auch in Grimms Auseinandersetzung mit dieser Frage seinen Niederschlag: Der Literaturbegriff ist zwar ungeklärt, aber Einigkeit herrscht unter den Experten immerhin darin, dass die enge ästhetische Definition, die Dichtung über die Gattungstrias Lyrik, Epik, Dramatik bestimmt, nicht mehr akzeptabel ist.7
Wer sich mit Grimm aufmacht, den Begriff der Literatur zu explizieren, muss, blickt man nur auf das eben angeführte Zitat zurück, mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten rechnen. Denn: Adäquate und informative Begriffsanalysen sind schwer zu haben. Das gilt insbesondere für solche Begriffe, die nicht wissenschaftlicher Prägung entsprungen sind.8 Vertreter des Unternehmens (FA) müssen also damit rechnen, dass der Term ›Literatur‹ (i) diachron in seinem Gebrauch schwankt – und (ii) aller Wahrscheinlichkeit nach auch kontextuell zu ein und derselben Zeit verschieden gebraucht wird: Beispiele für (i): ›Traditionelle‹ Definition(en) des Literaturbegriffs (z.B.) anhand einer Gattungstrias vs. Definition des (oder: eines) ›erweiterten‹ Literaturbegriffs. Beispiele für (ii): Außer- vs. inneruniversitärer Gebrauch des Ausdrucks ›Literatur‹. Eben diese Schwierigkeiten sind der Debatte um die Explikation des Literaturbegriffs selbstverständlich nicht verborgen geblieben. Dementsprechend leitet beispielsweise Klaus Weimar seinen Überblick über unterschiedliche Verwendungsweisen des Ausdrucks ›Literatur‹ mit Bedacht wie folgt ein: Historische Untersuchungen sind bekanntlich von begrenztem Nutzen für systematische Zwecke. Diese hier macht darin keine Ausnahme. So will ich denn zunächst auch nur versprechen, die terminologiegeschichtliche Bildung in einem kleinen, wenn auch gewiß
_____________ 6 7 8
Grimm: Literatur, S. 11. Ebd., S. 7. Begriffe also, die nicht zu einem ganz bestimmten Zweck mittels einer stipulativen Definition in eine Sprache eingeführt worden sind.
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Oliver David Krug / Hans-Harald Müller / Tom Kindt nicht unwichtigen Sektor etwas zu heben, hoffend allerdings, daß daraus wenigstens am Ende auch eine angemessene Hebung des Problembewußtseins resultieren werde.9
Vor den Problemen der diachronen und kontextuellen Bedeutungsschwankungen stehen dagegen häufig nicht die Begriffsanalytiker in der Nachfolge von Sokrates, denn sie haben es zumeist mit (relativ) ›stabilen‹ Begriffen wie ›Wissen‹, ›Rechtfertigung‹, ›Apriori‹, ›Bedeutung‹ und dergleichen mehr zu tun. Dieser Umstand ist für unsere Zwecke nicht ganz nebensächlich, denn er darf als ein erster Hinweis darauf verstanden werden, dass sich nicht ohne weiteres in der folgenden Weise argumentieren lässt: ›Die Philosophen betreiben gewinnbringend Begriffsanalyse, also sollten die Literaturwissenschaftler dies auch.‹ Denn der Ausdruck ›gewinnbringend‹ mag zwar verlockend klingen, vielleicht aber ist er in diesem Zusammenhang auch bloß verführerisch. Ob nämlich Begriffsanalysen gewinnbringende Antworten darstellen oder nicht, das hängt davon ab, wie die vorausgehende Frage genau zu verstehen ist – und das wollen wir in Bezug auf unsere Frage noch eingehender untersuchen. Am Beispiel der gerade zitierten Untersuchung Weimars lässt sich zeigen, inwiefern erwähnte Schwierigkeiten der Bedeutungsschwankungen das Unternehmen einer Begriffsanalyse nicht zu vereiteln vermögen. Sie verpflichten jedoch Anhänger von (FA) darauf, erstens genau anzugeben, welchen Begriff oder welche Begriffe sie analysieren wollen, und zweitens, was sie sich eigentlich davon versprechen, Varianten zu analysieren. Beiden Verpflichtungen kommt Weimar (im Unterschied zu vielen anderen Autoren) nach, wenn er den Leser darüber informiert, dass erstens nicht der Begriff der Literatur zur Debatte steht, sondern eine begriffsgeschichtliche Rekonstruktion unterschiedlicher Verwendungsweisen eines Ausdrucks das Ziel ist, und dass zweitens der wissenschaftliche Wert dieses Unterfangens in einer »Hebung des Problembewußtseins« bestehen wird. Über die Sammlung oder Rekonstruktion verschiedener Verwendungsweisen hinaus gibt es für Freunde der Option (FA) einen weiteren Ausweg aus den Schwierigkeiten, die sich aus den diachronen und kontextuellen Bedeutungsschwankungen ergeben. Sie können dafür argumentieren, dass (i)
›Literatur‹ kein terminus technicus ist, dass
(ii)
es zwar verschiedene Verwendungsweisen des Ausdrucks ›Literatur‹ gibt, dass dieser Ausdruck also mehrdeutig ist, dass es sich dabei aber um eine zentrierte Mehrdeutigkeit handelt.
Das heißt nichts anderes, als dass es sich dabei nicht um eine zufällige, uninteressante Mehrdeutigkeit wie etwa bei der des Ausdrucks ›Einspänner‹ (Kaffee, Kutsche) handelt. Vielmehr haben, so ließe sich zeigen, die Verwen_____________ 9
Weimar: Bezeichnungen, S. 9.
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dungsweisen des Ausdrucks ›Literatur‹ große Gemeinsamkeiten, die auf eine zentrale Verwendungsweise ausgerichtet sind. Diese Zentrierung der unterschiedlichen Gebräuche eines Ausdrucks klar zu explizieren – darin bestände der Ausweg aus den oben skizzierten Schwierigkeiten für das ›Sokratische Projekt‹ (FA) –, heißt, eine informative Antwort auf die Frage ›Was ist Literatur?‹ zu geben. Allen bisher dargestellten Optionen ist gemein, dass sie für sich nicht beanspruchen, mittels ihrer Analysen Aussagen über die Systematik oder Methodik der Literaturwissenschaft treffen zu können oder auch nur zu wollen. Ein Interesse dagegen, das sich weder mit der Sammlung oder Rekonstruktion noch mit der Systematisierung (zentrierter) Verwendungsweisen von ›Literatur‹ zufrieden gibt, kommt in der folgenden Position zum Tragen. (FB) Übertragungs-Interesse. Diese Position folgt der Devise: Zu wissen, was der Gegenstand der Literaturwissenschaft ist, erlaubt, Auskunft darüber zu erlangen, wie diese Wissenschaft ›gebaut‹ sein sollte. Und erst hier kommt der eingangs erwähnte Übergang vom Gegenstandsbereich auf die Methodik der Literaturwissenschaft ins Spiel. Besehen wir uns zunächst zwei Spielarten der Position (FB), wie sie in der Debatte um den Literaturbegriff formuliert wurden: Was ist Literatur? Bei allem, was der Literaturwissenschaftler tut, begleitet ihn diese Frage. [...] Denn nur sie vermag ihm zu sagen, ob er sich noch auf dem rechten Weg befindet. Als Literaturwissenschaftler untersucht er ja, was immer er ins Auge faßt, zunächst und vor allem, insofern es Literatur ist. [...] Würde er das aus dem Auge verlieren, müßte ihm, was er tut, notwendig ins Beliebige, Dilettantische entgleiten. Die Frage nach dem Wesen der Literatur regiert seine Methode, darum ist sie ihm stets gegenwärtig.10 The major interest in the question [d.i. die Frage ›Was ist Literatur?‹, Verf.] lies in the fact that large numbers of other issues of literary theory depend on it, and many disputes on literary theory proceed with very firm (but not defined) appeals to a notion of literariness.11
Im Hinblick auf den Übergang von Antworten auf die Frage ›Was ist Literatur?‹ zur Literaturwissenschaft bedienen sich die Autoren der beiden Positionen eines unterschiedlich starken Vokabulars. Regiert das eine Mal der Literaturbegriff die Methode des Literaturwissenschaftlers, so hängen das andere Mal die richtigen Antworten anderer Fragestellungen (wie beispielsweise der nach einer adäquaten Methodik) von der Antwort auf die Ausgangsfrage ab. Wenn beide einen unterschiedlichen Stärkegrad aufweisen, dann darin, dass die erste einen Alleinbestimmungsanspruch vertritt, die zweite den einer _____________ 10 11
Willems: Anschaulichkeit, S. 1. Für den Hinweis auf diesen Text danken wir Tilmann Köppe. Ellis: Theory, S. 25.
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Mitbestimmung oder Orientierungsfunktion. Dem versuchen wir dadurch Rechnung zu tragen, dass wir, durch die gerade angeführten Zitate angeleitet, zwei Varianten von (FB) folgendermaßen zu charakterisieren versuchen: (V+) Die Methodik der Literaturwissenschaft ist nur dann adäquat, wenn sie aus einer korrekten Analyse des Literaturbegriffs folgt. (V–) Die Methodik der Literaturwissenschaft ist nur dann adäquat, wenn sie sich am Literaturbegriff orientiert. Einige erklärende Bemerkungen zu diesen Paraphrasen werden angebracht sein. Diese sollen, soviel vorweg, zeigen, inwiefern (V+) ebenso wie (V–) auf Schwierigkeiten stoßen, die dazu angetan sind, der Position (FB) gefährlich zu werden. Ein Argument wird, darauf wollen wir uns hier verständigen, (FB) genau dann zum Problem, wenn es zeigen kann, dass der von Anhängern der Position (FB) proklamierte Übergang vom Literaturbegriff auf die Methodik der Literaturwissenschaft nicht legitimierbar ist oder aber einen methodischen Umweg darstellt. Unsere Argumente müssen hier schon deswegen skizzenhaft bleiben, weil eine detaillierte Diskussion es erfordern würde, viele (oder alle) konkreten Kandidaten für eine Position der Form (FB) und ihre Spielarten einer gesonderten Prüfung zu unterziehen. Wir werden uns daher darauf beschränken müssen, strukturelle Schwierigkeiten anhand der ausgewählten Beispiele aufzuzeigen. Diesen jedoch müssen sich alle Vertreter von (FB) stellen. (1) Zu allererst brauchen wir ein Vorverständnis davon, was in diesem Zusammenhang unter der ›Methodik‹ der Literaturwissenschaft zu verstehen ist. Fassen wir diese Bezeichnung hier als einen Sammelnamen für die typischen Verfahren und Arbeitsweisen dieses Wissenschaftszweiges auf. Dann kommt im Zusammenhang mit Position (FB) wiederum nur eine Teilmenge dieser in Frage; nämlich genau die grundlegenden Verfahren der Literaturwissenschaft, die in einem besonders ›engen‹ Zusammenhang zu ihrem Gegenstand stehen. Ein guter Kandidat hierfür sind vor allem die Regeln der Interpretationstheorie. Dagegen kann etwa die Beschreibung der institutionellen Organisation und Entwicklung einer Disziplin allenfalls Aufgabe der Wissenssoziologie oder der Institutionengeschichte sein und fällt sicherlich nicht in den Skopus normativer Begründungen, die sich auf Analysen des Gegenstandsbegriffs verlassen könnten. (2) Als nächstes mag auffallen, dass sich das begriffliche Inventar beider (V)-Varianten deutlich von dem der Formulierung (FB) abhebt. Die Rede von der Adäquatheit der literaturwissenschaftlichen Methoden ist dabei eine einfache Weise, möglichst deutlich die Reichweite des normativen Charakters von Positionen wiederzugeben, die unter (FB) fallen. Erinnern wir uns an die hier einschlägige Auffassung von Methoden als Mengen von Regeln, die zur Anwendung gebracht werden müssen, um ein
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bestimmtes Ziel zu erreichen. Die Gegenstandsadäquatheit dieser Regeln hängt, darauf legt man Anhänger von (FB) mit beiden Formulierungen (V+) und (V–) fest, in unterschiedlichem Stärkegrad von der Analyse oder der Kenntnis des Literaturbegriffs ab. (3) Inwiefern spielt nun die gerade eingeführte Differenzierung zwischen der Analyse des Literaturbegriffs einerseits und der Kenntnis dieses Begriffs andererseits eine Rolle? Nur die Position (V+) legt ihre Proponenten auf eine harte Lesart von ›Gegenstandskenntnis‹ – im Sinne von ›wissen, was der Gegenstand ist‹ – fest, da (V+) explizit eine Analyseforderung enthält. Damit aber inkludiert diese Spielart von (FB) die Position (FA) samt allen bisher skizzierten Schwierigkeiten. Auf diese Lesart legt sich jeder fest, der zum Beispiel mit Gottfried Willems das Wissen um das ›Wesen‹ der Literatur zur notwendigen Bedingung der Methodenadäquatheit wählt. Position (V–) dagegen enthält eine deutlich weichere Auffassung davon, was es heißt, den Gegenstand der Literaturwissenschaft zu kennen. Man kann auch dann über einen Begriff verfügen, wenn man nicht in der Lage ist, eine korrekte Analyse dieses Begriffs anzugeben. Begriffliche Kompetenz ist nicht an einen Analyseanspruch gekoppelt, sie zeigt sich beispielsweise schon beim kompetenten Herausgreifen paradigmatischer Anwendungsfälle.12 Damit also beinhaltet (FB) keine strikte Analyseforderung des Begriffs der Literatur. Positionen der Form (V–) können die unter (FA) skizzierten Schwierigkeiten partiell umgehen. Dies kann gelingen, indem sie beispielsweise mit einer Liste paradigmatischer Anwendungsfälle, einer Minimalbestimmung, einer ostensiven Definition etc. auskommen. Vertreter von (V–) nehmen dafür aber mangelnde Präzision in Kauf. Die angeführte Unterscheidung zwischen einer starken und einer schwächeren Anforderung an die Gegenstandskenntnis (Begriffsanalyse vs. über einen Begriff verfügen) mag zunächst unscheinbar daherkommen. Aber sie hat mindestens zwei weitreichende Konsequenzen: Erstens legt sie Vertreter von (FB) auf Forderungen fest, die dann nicht zu erfüllen sind, wenn zutrifft, was zu Position (FA) bisher angemerkt wurde. Entscheidet man sich nämlich für eine Inklusion der strikten Begriffsanalyse, kommt man nicht umhin, zuzugestehen, dass es unterschiedliche Verwendungsweisen des Terms ›Literatur‹ gibt. Während dies rein deskriptive Untersuchungen der Form (FA) lediglich auf ein erweitertes Blickfeld verpflichtet, stellt die Bandbreite der unterschiedlichen Verwendungsweisen normative Positionen der Form (FB) vor das fatale Folgeproblem, denjenigen Begriff anzugeben, der zum Ausgangspunkt eines normativen Übergangs gewählt wird. Die Wahl zwischen mehreren inkompatiblen Begriffs_____________ 12
Und spätestens an dieser Stelle sollte klar werden, warum der vermeintliche ›Selbstgänger‹ vom Anfang kein wirklicher ist.
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analysen erfordert eine Begründung dafür, warum der Begriff, der durch eine Verwendungsweise des Terms ›Literatur‹ ausgedrückt wird, einem anderen vorzuziehen ist, der in einer anderen Verwendungsweise ausgedrückt wird. Ganz gleich wie eine solche Begründung ausfällt – sie darf in keinem Fall auf Eigenschaften einer adäquaten Methodik rekurrieren, denn diese soll erst aus der Wahl eines Literaturbegriffs abgeleitet werden. Zweitens: Nimmt man dagegen im Sinne von (V–) Abstand von der strikten Analyse des Literaturbegriffs, so gilt es nichtsdestoweniger, diejenigen relevanten Eigenschaften literarischer Gegenstände auszuweisen, deren Vorliegen einen Übergang auf normative Konklusionen legitimieren kann. Darauf werden wir gleich noch einmal zurückkommen müssen. Zunächst aber eine schlichte Feststellung: So pragmatisch der Rückzug von der strikten Analyseforderung angesichts der bislang skizzierten Schwierigkeiten dieses Unterfangens auch klingen mag, er ist keine Option für alle diejenigen, die eine ernsthafte Antwort auf die Frage: ›Was ist Literatur?‹ geben wollen. Wenn überhaupt, so wird von (V–)-Anhängern die folgende Frage beantwortet: ›Durch welche Eigenschaften von Literatur sind die Methoden der Literaturwissenschaften (mit)bestimmt?‹ Die folgende und letzte Anmerkung wird auf Gründe zur Skepsis auch gegenüber möglichen Antwortkandidaten auf diese modifizierte Frage aufmerksam machen. (4) Wie eigentlich könnte eine Argumentation im Sinne von (V–) ausfallen? Gefragt ist in diesem Zusammenhang vor allem nach einem Brückenprinzip zwischen Deskription (Gegenstandskenntnis) und Präskription (Begründung der Adäquatheit bestimmter Methoden in Abgrenzung zu anderen). Versuchen wir es mit dem folgenden Kandidaten: Weil literarische Gegenstände essentiell sinnhaft strukturierte Gebilde sind,13 müssen die Methoden der Literaturwissenschaft zur Sinnerschließung geeignet sein, wenn sie dazu angetan sein sollen, alle essentiellen Eigenschaften ihres Untersuchungsgegenstandes herauszuarbeiten.14
Diese Argumentation setzt nun tatsächlich keine Begriffsanalyse voraus (und disqualifiziert sich damit zugleich als Antwort auf die Frage ›Was ist Literatur?‹). Denn sicherlich gilt zwar, dass literarische Gegenstände einen zu erschließenden Sinn haben, genauso sicher gilt dies aber auch von einigen _____________ 13 14
Gleichermaßen ließe sich diese Position nicht für die Eigenschaft der Sinnhaftigkeit, sondern auch für die der intentionalen Strukturierung oder der Formung nach ästhetischen Prinzipien etc. formulieren. Eine strukturell identische Argumentation, allerdings zuzüglich einer inhaltlichen Negation, die die Erwartungen auf die zu erschließenden Methoden gering hält, findet sich bei Manfred Frank: »[D]ie Vieldeutigkeit oder, radikaler, die Unausdeutbarkeit, gilt ja spätestens seit der Romantik für einen Wesenszug ›ächter Poesie‹. [...] welche Konsequenzen ergeben sich daraus für eine Theorie der Literatur und des Textverstehens?« (Frank: Vieldeutigkeit, S. 196)
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nicht-literarischen Gegenständen. Weiterhin sollten wir nun aber noch fragen, inwiefern auf diese Weise eigentlich ein Schluss im anfangs spezifizierten Sinne vollzogen wird, ein Schluss also, der es erlaubt, aufgrund einer genaueren Gegenstandskenntnis richtige und wissenserweiternde Aussagen über die Adäquatheitskriterien der literaturwissenschaftlichen Methodik zu treffen. In diesem Licht besehen, scheint jedoch die Text-Eigenschaft, einen erschließbaren Sinn zu haben, weit eher eine Präsupposition der Frage nach der richtigen Interpretation eines Textes zu sein als eine Eigenschaft, deren Vorliegen wir erst feststellen müssen, um uns Klarheit über die Methoden des Interpretierens zu verschaffen. Wer über den Begriff der Textinterpretation verfügt, der weiß, dass eine solche nur dann gelingen kann, wenn die Voraussetzung erfüllt ist, dass der zu interpretierende Text einen erschließbaren Sinn hat. Sich auf diese Annahme einzulassen, ist nun aber ein ganz anderes Geschäft als die Suche nach Antworten auf die Fragen (FA) und (FB). Im Sinne der eingangs skizzierten Position (in Anlehnung an Max Weber) erlangt man Klarheit über einen Wissenschaftszweig, wie den der Literaturwissenschaft, indem man seine Methoden mit seinen Zielen abgleicht. Tut man das, so wird man dabei zweifellos allerlei Voraussetzungen entdecken, die hinsichtlich von Eigenschaften literarischer Texte gemacht werden. Dass diese Eigenschaften zusammengenommen eine Definition aus notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das hergeben, was Literatur ist, ist wenig wahrscheinlich. Was die Methodik betrifft, brauchen wir eine solche Definition auch nicht. Eine Antwort auf die Frage ›Was ist Literatur?‹ nach Position (FA) fordert nicht eine, sondern viele Begriffsanalysen. Das Unterfangen der historischen und kontextuellen Rekonstruktion ist ein mindestens so interessanter wie legitimer Gegenstand der Literaturwissenschaft. Ganz besonders dann, wenn es tatsächlich in korrekte Analysen der Begriffe mündet, die mit dem Ausdruck ›Literatur‹ in unterschiedlichen Verwendungsweisen ausgedrückt werden. Wer indes eine Antwort auf die Frage ›Was ist Literatur?‹ nach Position (FB) zu geben beabsichtigt, der sei hiermit in die Pflicht genommen, klar zu zeigen, wie der Übergang vom Literaturbegriff auf die Methodik der Literaturwissenschaft trotz der angeführten Einwände aus (1)-(4) legitimiert werden kann.
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Bibliographie Ellis, John M.: The Theory of Literary Criticism. A Logical Analysis. Berkeley 1974. Frank, Manfred: Vieldeutigkeit und Ungleichzeitigkeit. Hermeneutische Fragen an eine Theorie des literarischen Verstehens. In: M.F.: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur französischen Hermeneutik und Texttheorie. Erw. Neuausg. Frankfurt/M. 1989, S. 196-212. Grimm, Thomas: Was ist Literatur? Versuch einer Explikation des erweiterten Literaturbegriffs. Neuried 2000. Weber, Max: Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1904]. In: M.W.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. von Johannes Winckelmann. 6., ern. durchges. Aufl. Tübingen 1985, S. 146-214. Weimar, Klaus: Literatur, Literaturgeschichte, Literaturwissenschaft. Zur Geschichte der Bezeichnungen für eine Wissenschaft und ihren Gegenstand. In: Christian Wagenknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1989, S. 9-23. Weimar, Klaus: Literatur. In: Harald Fricke u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2. 3., neu bearb. Aufl. Berlin, New York 2000, S. 443-448. Willems, Gottfried: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989. Winko, Simone / Fotis Jannidis / Gerhard Lauer: Geschichte und Emphase. Zur Theorie und Praxis des erweiterten Literaturbegriffs. In: Jürn Gottschalk / Tilmann Köppe (Hg.): Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie. Paderborn 2006, S. 123-154.
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Aktuelle linguistische Textbegriffe und der literarische Text Bezüge und Abgrenzungen
1. Rückblick auf Gemeinsamkeiten Es gab in der Geschichte der Germanistik des 20. Jahrhunderts zwei Phasen, in denen Sprach- und Literaturwissenschaft darum bemüht waren, Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln. Die Annäherung ergab sich aus dem von beiden Disziplinen geteilten Interesse am Text – genauer: an der Textbasis literarischer Werke1 – und aus der Annahme, man könne von einem gemeinsamen Text- bzw. Textsortenverständnis ausgehen. In den 1960er und 1970er Jahren war mit dem ›scientific turn‹ der ›Text‹ zu einem Leitbegriff sowohl in der Sprach- als auch in der Literaturwissenschaft avanciert.2 Zwei Paradigmen waren es, die von sprachwissenschaftlicher Seite her diese ausgeprägte Textorientiertheit ermöglichten, wenn nicht gar bedingten: der sprachwissenschaftliche Strukturalismus und die sich zeitlich anschließende Richtung der Pragmalinguistik – das eine Paradigma mit der zentralen Kategorie der ›Struktur‹ und das andere mit der ebenfalls zentralen Kategorie ›Text‹. Zum ersten Paradigma: Die Vorstellung von Text als struktural geformter Einheit, in der alles miteinander in Beziehung steht und sich durch diese Beziehungen bestimmt, weckte die Aufmerksamkeit nicht nur der Sprach-, sondern auch der Literaturwissenschaft. Der Ansatz schien die Möglichkeit zu bieten, literarische Texte mit objektiven, aus der
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Dass die Sprachwissenschaft sich auch und vielleicht vorwiegend Sachtexten zuwandte, sei hier einmal vernachlässigt. Kurz: Methoden, S. 209.
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Sprachwissenschaft entlehnten Methoden3 zu erfassen und sich Texte als relationale Einheit zu erschließen. So entstanden Arbeiten wie der von Kreuzer und Gunzenhäuser 1965 herausgegebene, programmatischen Anspruch erhebende Sammelband Mathematik und Dichtung, der sprach- und literaturwissenschaftliche Beiträge vereinte und gedacht war als gemeinsame und mit exakten Methoden durchgeführte Suche nach dem, was einen literarischen Text formal/sprachlich ausmacht. Dafür schienen sich die strengen strukturalistischen Methoden anzubieten. Später dann wurde der Ansatz weitergeführt in einem strukturalistisch-semiotischen Herangehen, das durch die Vorstellung von Kultur als hierarchisch organisiertem Zeichensystem erweitert wurde.4 Zum zweiten Paradigma: Mit der pragmatischen Wende vollzog sich der Übergang von der innersprachlichen Strukturbetrachtung zur Betrachtung sprachlicher Äußerungen in ihren Handlungszusammenhängen und situativen Gegebenheiten, was zur Folge hatte, dass der Textbegriff um kommunikative und später auch kulturelle Aspekte erweitert wurde. In diesem Zusammenhang war nicht nur der Text ›an sich‹ interessant, sondern das Interesse richtete sich auch auf Textsorten, d.h. auf die Muster des Gebrauchs, denen Sprachteilnehmer bei der Hervorbringung ihrer Texte – gleich welchen Bereichs – folgen. Es wurde versucht, diese Fragestellung auf literarische Texte auszudehnen, also die Auseinandersetzung mit Gattungen einzubeziehen. Die Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Literaturwissenschaft kam diesem Interesse entgegen. Zur Literatur zählten nun nicht nur ›hohe‹, sondern auch ›niedere‹, nicht nur ›ästhetische‹, sondern auch ›nichtästhetische‹ Texte. Der Begriff der ›Gattung‹ wurde durch den der ›Textsorte‹ ersetzt.5 Das gemeinsame Nachdenken über diese Kategorien war nun an der Tagesordnung mit dem Ziel, das Übereinstimmende an den Ordnungsbegriffen ›Textsorte‹ und ›Gattung‹ zu finden.6 Der Germanistentag 1979 in Hamburg hieß dann auch bezeichnenderweise »Textsorten und literarische Gattungen«. Diese Gemeinsamkeit brach spätestens in den 1980er Jahren ab, vermutlich weil andere Wissenschaftstendenzen (Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus?) den Glauben an das objektivierbare Wissen über Textzusammenhänge erschüttert hatten und das Interesse an den (festen) Gattungsformen zurücktreten ließen. Seither gibt es, soweit ich sehe, keine erhebliche Zusammenarbeit mehr. _____________ 3 4 5 6
Die Sprachwissenschaft hatte sie wiederum z.T. aus den ›exakten‹ Wissenschaften, so aus Mathematik und Logik, entlehnt. Mukařovskýs in den 1930er Jahren entstandene, vor allem in den 1970er Jahren veröffentlichte Arbeiten zur Poetik und Ästhetik sowie Lotmans Veröffentlichungen zur Semiotik der 1970er und 1980er Jahre. Siehe Literaturverzeichnis des Beitrags. Vgl. Kurz: Methoden, S. 209. Vgl. Hempfer: Gattungstheorie, S. 17.
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Und die heutige literaturwissenschaftliche Vorstellung davon, was Sprachwissenschaftler tun, wenn sie Texte untersuchen, spiegelt nach meinen Eindrücken eher die allerersten Anfänge der Textlinguistik in den 1960er und 1970er Jahren wider, als dass sie aktuelle Fragestellungen im Blick hat: Man stellt sich vor, dass ganz im Verständnis einer transphrastisch orientierten Textlinguistik Satz-Satz-Ketten untersucht werden, z.B. nach ihren Pronominalisierungen, Isotopieketten, Wiederaufnahmen etc. Der transphrastische Textbegriff – Texte sind Folgen von Sätzen (und nicht mehr) und folgen daher den Regularitäten, die auch für Sätze gelten – dominiert in dieser Vorstellung. Damit wird man dem heutigen Textverständnis bzw. heutigen Textbegriffen in der Sprachwissenschaft jedoch nicht gerecht. Diese werden daher im dritten Abschnitt des Beitrags vorgestellt. Dabei soll deutlich werden, dass es aus meiner Sicht gegenwärtig durchaus wieder Ansätze zum gemeinsamen Nachdenken über den Text gibt. 2. Heutige Analogien Zu den in der Einleitung der Herausgeber genannten Tendenzen der Literaturwissenschaft, nämlich Entgrenzung des Textbegriffs bis zur Universalisierung auf der einen und Rekanonisierung, also Einengung des Textbegriffs, auf der anderen Seite, lassen sich analoge Orientierungen in der gegenwärtigen Sprachwissenschaft feststellen.7 Auch hier findet sich zum einen die Tendenz, einen entgrenzten Textbegriff anzunehmen, was mit der Ausweitung des Blickes auf die Vielfalt der Medien und Kodes, in denen Texte realisiert werden, und auf die vielfältige Verflochtenheit der Texte, also mit der Berücksichtigung von Interkodalität, Intermedialität sowie Intertextualität zu tun hat (s.u.), und zum anderen die Tendenz der Rückbesinnung auf die sprachliche ›Oberfläche‹ des Textes, auf seine Sprachgestalt, und deren Erschließung, also gleichsam ein Zurück zu einer textbezogenen Hermeneutik. Gemeint ist ein Verstehen und Interpretieren, das mit den Mitteln der Sprachwissenschaft an der Äußerung, am Text plausibel gemacht wird. Der Ausdruck »Rehabilitierung der sprachlichen Oberfläche« ist dabei zum sprachwissenschaftlichen Topos geworden.8 Die Oberfläche wird gleichsam als Eingangstor in die Textbedeutung und Textinterpretation gesehen. Es geht um die tatsächliche oder vermeintli-
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Wenn von Sprachwissenschaft die Rede ist, ist die text- und kommunikationsbezogene Richtung sprachwissenschaftlicher Forschung gemeint. Antos: Textproduktion, S. 13.
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che9 Renaissance der Betrachtung der Sprachgestalt der Texte, um die Besinnung auf ihre Zeichenhaftigkeit, die sich im Stil materialisiert.10 In der sprachanalytischen Philosophie (Wittgenstein) wie in der Linguistik (Chomsky) galt bis vor kurzem die ›sprachliche Oberfläche‹ […] als zu ›demaskierende Kostümierung von (Tiefen)Strukturen‹. Inzwischen scheint sich das Bild zu ändern: Die Rolle von Formulierungen wird nicht nur in der Textverarbeitung neu bewertet. Neben den grammatischen, semantischen und illokutiven Strukturen erkennt man zusehends die Bedeutung […] diskursiver bzw. textueller Implikationen […].11
Die Rückbesinnung auf die sprachliche Oberfläche, bei Antos wird diese an erster Stelle als Stil charakterisiert (s.u.), resultiert (auch) aus der Einsicht, dass sprachliches Verhalten, so verschieden seine Funktionen sein mögen, doch immer darin übereinstimmt, dass erst das Verstehen gewährleistet sein muss, ehe die jeweilige Funktion erfüllt werden kann. Verstehen aber, die Voraussetzung für jede gelingende Kommunikation, setzt an der Textoberfläche – wo sonst? – an. Die sich abzeichnende Entwicklung einer linguistischen Hermeneutik12 führt daher zurück zur Zeichenhaftigkeit des sprachlichen Textes als genuinem Gegenstand. Das könnte man eine Begrenzung, vielleicht aber auch eine nötige Konzentration nennen. Die Besinnung auf die Zeichenhaftigkeit der Texte führt auf der anderen Seite aber auch zum Entgrenzen des Textbegriffs. Nicht in dem Sinne, dass man seine sprachliche Seite nicht ernst nehmen sollte, wohl aber so, dass man darüber hinaus die Vielfalt der Zeichenrepertoires, in der Texte erscheinen, auch zur Kenntnis nimmt. Ein Text ist immer ein Komplex aus Zeichen verschiedener Art, die gemeinsam Sinn anbieten. Diese Einstellung bildet sich bei der kulturwissenschaftlich orientierten Richtung der Textlinguistik heraus. Unter diesen Umständen kann man, wenn es um die Textanalyse bzw. um das Textverstehen geht, schlechterdings nicht einen Kode herauslösen und an ihm den Sinn des Ganzen ablesen wollen. Das Zusammenwirken der Zeichen verschiedener Kodes wird zum Gegenstand. Wenn wir davon ausgehen, dass alles in einer Kultur Hervorgebrachte Bedeutung trägt, dass Kulturen Zeichensysteme sind, dann ist es nicht ohne Bedeutung, welche nichtsprachlichen Zeichen (visuelle Kodes bei schriftlichen Äußerungen: Farben, Flächen, Spuren des verwendeten Schreibinstruments, Anordnung auf dem Papier, Papiersorte; parasprachliche Kodes bei mündlichen Äußerungen: Proxemik, Kinesik, Stimmfüh_____________ 9 10 11 12
In Spielarten moderner Stilauffassungen wie der pragmatischen und funktionalen Stilistik hat es den Bezug auf die sprachliche Oberfläche – allerdings wenig beachtet – immer gegeben. Mit ›Stil‹ sind hier alle Eigenschaften der Textoberfläche gemeint, die auffälligen wie die unauffälligen. Antos: Textproduktion, S. 13. Vgl. Hermanns: Hermeneutik.
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rung und Stimmqualität) die sprachlichen Zeichen des Textes begleiten. Denken wir uns einen handschriftlichen Text auf einem getönten Papier, gut auf die Fläche verteilt, wohlproportioniert, in eleganten/anmutigen Linien,13 mit einer Stahlfeder geschrieben: einen Brief aus dem 19. Jahrhundert. Er teilt die noch in das 19. Jahrhundert reichende Hochblüte der Briefkultur mithilfe der visuellen Zeichen mit. Lesen wir denselben Brief in einer gedruckten Briefsammlung des 20. Jahrhunderts, ist er um nahezu alle bedeutungsvollen visuellen Zeichen ärmer: keine Handschrift, keine anmutigen Linien, kein getöntes Papier, keine Anordnung des Textes, die durch ihre Proportionen etwas ausdrückt.14 Mit der gedruckten Fassung wird eine Reduktion der Stilinformationen des Textes vorgenommen, die für das Textverständnis heutiger Leser, zu deren Kommunikationsgewohnheiten die Hochschätzung der Briefkultur kaum noch gehört, eigentlich unentbehrlich wäre. Eine solche Gegenüberstellung wäre ebenso denkbar für verschiedene Druckfassungen literarischer Texte. Stellt man sich Publikationen von Barockgedichten im 17. und im 20. Jahrhundert vor, so kann man sich leicht die Unterschiede in der Zeichenhaftigkeit denken: von der Barock-Fraktur und der Imprese auf dem Titel, von der axialen Anordnung des Textes des 17. Jahrhunderts zur Garamond-Antiqua, zur fehlenden Imprese und nichtaxialen Anordnung des Textes, Gestaltungen wie sie im 20. Jahrhundert üblich, wenn auch nicht zwingend sind. Wie die Leistung der verschiedenen Zeichensysteme interessiert die Textlinguistik auch die Beziehung zwischen Medium und Text (s.u.). Bestimmt man ›Medium‹ hier einmal als den technischen Träger,15 so steht man vor der Entscheidung, ob z.B. die Textsorte ›Klappentext‹ durch ihren technischen Träger und ihren Ort definiert wird16 oder ob sie nicht, wie textlinguistisch sonst üblich, funktional erklärt werden müsste, mit Bezug auf ihre werbende und informierende Funktion. In letzterer Hinsicht unterscheidet sie sich aber nicht von anderen Buchtextsorten, wie z.B. Verlagsanzeigen, Werbetexten auf dem Rückentitel und manchen Rezensionen. Die Frage, ob das Medium textsortenkonstituierend sein kann, wird angesichts der Verlagerung schriftlicher Äußerungen ins elektronische Medium – Brief/E-Mail, Gespräch/Chatten, Gästebuch/elektronisches Gäste_____________ 13 14 15 16
Eco: Semiotik, S. 220. Die Breite des Briefrandes z.B. verdeutlichte die Größe des Respekts vor dem Adressaten. Die Auffassungen von ›Medium‹ differieren ebenso wie in der Literaturwissenschaft. Die Tendenz geht aber dahin, ›Medium‹ als die technische Seite des Kommunikationsprozesses zu sehen. Man findet die Textsorte in der Regel in Lexika und Handbüchern als ›auf den Innenklappen des Schutzumschlages veröffentlichter Text‹ beschrieben.
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buch – immer dringlicher. Ist, was da häufig gleichgesetzt wird, tatsächlich dasselbe? Wo liegen gegebenenfalls die Unterschiede? Wie das Zusammenwirken verschiedener Kodes und die ›Wanderung‹ von Textsorten in ein anderes Medium wird in der heutigen Textlinguistik auch das Zusammenwirken verschiedener Texte in einem Kontext berücksichtigt unter der Prämisse, dass ein Text niemals nur allein aus sich heraus zu produzieren und zu verstehen ist. Seine Beziehung zu anderen Texten (Text-Text-Beziehungen, z.B. Zitat, Montage, Collage), zu den kulturellen Vorgaben, die Textsorten darstellen (Textsorte-Text-Beziehungen, Gattungsgegebenheiten), und zum Textwissen (Textwelt-Text-Beziehungen: alle Texte stehen miteinander in Beziehung) insgesamt ist daher zum Gegenstand der Textlinguistik geworden. Fazit aus diesem kurzen Überblick: Aus meiner Sicht braucht die Textlinguistik beides – den entgrenzten wie den begrenzten Textbegriff. Den entgrenzten – interkodalen, intermedialen und intertextuellen – Textbegriff benötigt sie zum einen, um der Multikodalität und Multimedialität der Texte gerecht zu werden, um alles unter ›einen Hut‹ zu bringen, was der Text an Zeichenangebot (Sprachzeichen, Bildzeichen, Typographie, Schriftart, Papierqualität, Anordnung auf dem Papier etc.) und an Medialität (Papierbrief – E-Mail) bietet, und zum anderen, um alles zu berücksichtigen, was der Text an Textbeziehungen (Textsorte, Vortexte, Folgetexte etc.) präsentiert. Der enge, auf das rein Sprachliche begrenzte Textbegriff ist nötig, um die verschiedenen an einer Rezeptionsvorgabe beteiligten Kodes (in ihren spezifischen Leistungen) voneinander abgrenzen zu können. Was also unterscheidet das sprachliche Zeichen vom bildlichen? Worin liegt z.B. die Leistung des sprachlichen Subtextes gegenüber dem bildlichen Subtext in einem komplexen, Sprache und Bild vereinigenden Text?17 Die Entscheidung für den einen oder anderen Textbegriff bzw. die Akzeptanz beider hat zu tun mit dem Selbstverständnis des Faches ›Textlinguistik‹. Will es sich verstehen als rein innertextuelle/innersprachliche Disziplin, wie sie es in der Regel tut, oder als eine über den Text hinaus auf das Kommunikative und Kulturelle sprachlicher Äußerungen und den semiotischen Charakter von Textexemplaren verweisende erweiterte Textlinguistik, wenn nicht gar als die über allen sich mit Text befassenden Disziplinen stehende, nicht mehr zentral linguistische ›Querschnittsdisziplin‹, die man Textwissenschaft nennen könnte.18 Ich bleibe in meiner Darstellung bei der linguistischen, um das Semiotische erweiterten Disziplin _____________ 17 18
Wir können wie vom ›Sprachtext‹ auch vom ›Bildtext‹ sprechen (s.u.). Van Dijk: Textwissenschaft; Fix: Textsortenlinguistik.
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(so interessant die Querschnittsdisziplin auch ist)19 und kümmere mich um die in der Linguistik für die Linguistik entwickelten Textbegriffe und deren Schnittstellen mit der Literaturwissenschaft. Es wird sich zeigen, dass die Typik von Texten ebenso wie das Interkodale, Intermediale und Intertextuelle hier ihren Platz gefunden hat. 3. Ein konzentrisch erweiterter Textbegriff 3.1 Vorbemerkungen Vor die (selbst gewählte) Aufgabe gestellt, aktuelle linguistische Textauffassungen aufzuzeigen, sieht man sich vor einem Berg von Literatur und einer Fülle von Konzepten. Es wird daher nur eine verknappte Darstellung sein können, die hier vorgestellt wird, zumal sich aus der Konzeption des vorliegenden Bandes und meiner daraus abgeleiteten Themenformulierung ja zusätzlich die Aufgabe ergibt, diese Auffassungen mit Blick auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen darzustellen. Diese Grenzüberschreitung zur anderen Disziplin wird naturgemäß nur vorsichtig, ansatzweise, vermutend geschehen. Gerade hier aber werden sich die interessanten Fragen ergeben. Die Textlinguistik folgt zwei großen Aufgabenstellungen. Zum einen fragt sie von Anfang an danach, was den Text eigentlich ausmacht, also nach dem Wesen des Textes ›an sich‹, und entwickelt im Lauf der Forschung vor dem Hintergrund verschiedener theoretischer Ansätze durchaus unterschiedliche Textauffassungen. Zum anderen bemüht sie sich in einem später einsetzenden, bis heute andauernden und sich verstärkenden Interesse um das Erfassen der Typik von Texten, d.h. um die musterhaften Ausprägungen des Phänomens ›Text‹, die eine Sprach- und Kulturgemeinschaft im gemeinsamen Handeln entwickelt hat, also um die Bestimmung von ›Gattungen‹, linguistisch ›Textsorten‹, in denen Texte realisiert werden. Es geht ihr auch um die Beantwortung der Frage, in welcher Weise der Text ›an sich‹ in konkrete Textexemplare umgesetzt wird. Kurz: Die Frage was eigentlich ein Text sei, wird ergänzt durch das Interesse daran, in welcher Typik Texte denn eigentlich auftreten. Und darauf folgt die Frage, wie der reale Prozess der Umsetzung eines Texttyps in einen realen Text vollzogen wird. Mit dieser Frage ist man beim Stil, der Textoberfläche, angekommen, der allerdings dann nicht im traditionellen Sinne als der ›Schmuck der Rede‹ verstanden wird, sondern als die Umsetzung aller außersprachlichen Voraussetzungen in sprachliche Form. Anders gesagt: _____________ 19
Fix: Sprach- und Literaturwissenschaft.
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Alles auf der Oberfläche des Textes und in seiner zeichenhaften Materialität ist Stil. Und dieser ist semiotische Widerspiegelung intentionaler, kommunikativer, kultureller Gegebenheiten. Alle mit diesen Fragen angedeuteten Bereiche der Textlinguistik lohnt es zu betrachten, wenn man sich die Beziehungen vor Augen führen will, die Literatur- und Sprachwissenschaft zueinander haben können. Anfangs ist festzustellen: Jeder literarische Text ist zunächst ein Text und unterliegt damit den Bedingungen, die für jeden Text zutreffen. Wo aber sind dann die Unterschiede zu finden? Geben aktuelle Textauffassungen Hinweise und, wenn ja, welche? Was geht eigentlich vor sich, wenn Sachtexte, was zunehmend der Fall ist, Resultat von Poetisierungspraktiken sind? Sind sie es wirklich? In den im Anhang abgedruckten Texten könnte man solche Poetisierungspraktiken vermuten, z.B. durch Sprache vermittelte Bilder ebenso wie Bildhaftes im visuellen Bereich, das bis zur Ikonisierung ganzer Textflächen (Konkrete Poesie) reicht; z.B. Vagheit (so das Fehlen vereindeutigender grammatischer Beziehungen) bis hin zur Auflösung von Textflächen, die zur Unleserlichkeit und damit zum Verschwinden des Textes als Lesevorlage überhaupt führt. Nicht einmal mehr die Alogik des Nonsens-Gedichtes ist zu finden. Ein Verschwimmen der Grenzen zwischen poetischen und alltäglichen Texten? 3.2 Transphrastischer Textbegriff »Es wird, wenn überhaupt gesprochen wird, nur in Texten gesprochen.«20 Diese aus den frühesten Tagen der Textlinguistik stammende entschiedene Äußerung hat ihre Bestätigung eigentlich erst in der jüngeren, kommunikationsorientierten Phase der Textlinguistik erhalten. Obwohl offensichtlich schon am Anfang so umfassend gedacht werden konnte, ist die erste Etappe der Textlinguistik – wohl notwendigerweise, weil man noch nichts darüber Hinausgehendes an Fakten kannte – satzbezogen und hat das Übergreifende wie z.B. die Textbedeutung, das sprachliche Handeln, das Kognitive etc. noch nicht im Blick. Dieser transphrastische Ansatz, der Texte als miteinander verbundene Ketten von Sätzen sieht, die folglich mit demselben Instrumentarium beschrieben werden, das man auch für Sätze verwendet (Pronominalisierung, Satzperspektive, Isotopie, Rekurrenz, Wortfelder), ist aus der Sicht der Literaturbetrachtung sicher relativ uninteressant, sieht man einmal davon ab, dass Jakobsons strukturalistisches Prinzip der Parallelität sich hier partiell schon anwenden ließe. Was ist es auf der Textoberfläche, das Sätze so miteinander verbindet, dass _____________ 20
Hartmann: Zeichen, S. 212.
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man sie als Einheit erlebt? Das Wissen um diese Zusammenhänge bildet den innersten (aber auch engsten) Bereich des Textwissens, gewissermaßen seinen – natürlich auch heute noch unentbehrlichen – Kern. Um ihn herum legen sich wie Ringe weitere Areale von Wissensbeständen, ohne die man mit Texten auch bei Kenntnis der transphrastischen Beziehungen nicht umgehen könnte: Wissen über textsemantische Beziehungen und mögliche textthematische Strukturierungen, die die Texteinheit konstituieren und den Umgang mit Texten erst ermöglichen, Wissen über die kommunikative Eingebettetheit der Texte und über deren kognitive Bezüge, ihren semiotischen Charakter und schließlich über ihre kulturelle Geprägtheit und damit über ihre Textsorten. 3.3 Semantisch-thematische Textbetrachtung Die erste Erweiterung des Textbegriffs ist die um seine semantisch-thematische Qualität. Hier geht es zunächst um die Kategorie der Kohärenz, d.h. um die Vorstellung, dass Texte eine semantische Einheit anbieten, einen Zusammenhang, der durchaus nicht nur auf der Textoberfläche konstituiert wird. Damit ist zwangsläufig der Gedanke verbunden, dass die semantische Einheit auch eine Hervorbringung des Rezipienten ist, der herausfinden muss, was unter der Oberflächenstruktur liegt. Als ein Textualitätskriterium von mehreren gilt das auf der Rezipientenseite angesiedelte Kriterium der Akzeptabilität (die anderen Kriterien sind Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Situationalität, Informativität, Intertextualität).21 Gemeint ist damit die Bereitschaft des Rezipienten, einen Text als kohäsiv, kohärent und intentional anzusehen, also eine inhaltliche Einheit anzunehmen, die sich nicht durchweg aus den auf der Textoberfläche vorhandenen Zeichen ablesen lassen, sondern die sich auch durch das Füllen von Lücken herstellen kann. Im Sinne der Verstehenspsychologie heißt dies, dass Sinnkonstanz hergestellt wird.22 Die Textlinguistik sieht sehr wohl, dass es über das rein grammatische Verstehen hinaus um das (sowohl bottom-up als auch top-down verlaufende) Herstellen eines für den Rezipienten sinnvollen Zusammenhangs geht, der über die in der Äußerung kodierten Informationen hinausreicht. Ein Vorgang, der angewiesen ist auf den dem Rezipienten vertrauten Horizont des »Allgemein-Sinnvollen«.23 Das Herstellen semantischer Textzusammenhänge kann demnach – da folgt die Textlinguistik u.a. der Verstehenspsychologie – nicht gefasst werden als die schlich_____________ 21 22 23
Vgl. de Beaugrande / Dressler: Textlinguistik. Hörmann: Psycholinguistik. Hörmann: Semantik, S. 206.
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te Dekodierung sprachlicher Zeichen im Sinne eines Übersetzungsvorgangs, sondern es muss als ein konstruktiv-schöpferischer Akt betrachtet werden, der über die sprachlichen Zeichen hinausreicht und Bezug auf die Welt, die Intentionen des Produzenten und den eigenen Erfahrungshintergrund nimmt.24 Die Einsicht, dass die sprachlichen Zeichen keine Eins-zueins-Entsprechung zu ihren gedanklichen Inhalten haben, dass sie in ihrer Bedeutung in vieler Weise offen sein können25 und über sich selbst hinaus auf die Welt verweisen, in der sie gebraucht werden, gehört zum gesicherten Wissen der Textlinguistik. ›Welt‹ wird hier zum einen verstanden als die Realität, in der die Kommunizierenden handeln, zum anderen aber auch, mit Blick auf literarische Texte, als die fiktionale Welt, in der die Zeichen etwas bedeuten, was möglicherweise mit ihrem Bedeuten im nichtfiktionalen Text nichts zu tun hat. Nur über das Verstehen dieser fiktionalen Welt kann dann der Bezug zur realen Welt hergestellt werden. Diesen verwickelten Beziehungen − keine Eins-zu-eins-Entsprechung von sprachlichem Zeichen und Inhalt sowie keine direkte Relation von Zeichen zu Welt − wird bei der linguistischen Beschreibung von Textualität mit der Akzeptabilitätskategorie entsprochen.26 Dass im literarischen Text Meinen im Sinne der unfehlbar zu entdeckenden Autorintention und Autorbotschaft nicht zu finden ist, wohl aber ein (vielfältiges) Sinnangebot, welches zu erschließen ein Anreiz für den Rezipienten ist, lässt sich mit dem textsemantischen Ansatz der Textlinguistik, wie er hier angedeutet wurde, durchaus schon erkennen. Liegt bei dem eben dargestellten linguistischen Konzept von ›Text‹ als Sinnangebot der Schwerpunkt auf der Zeichenhaftigkeit der Texte, so findet man ihn bei der Auffassung von Texten als Resultaten verschiedener Arten thematischer Entfaltung eher beim Handlungscharakter, der Texten zugeschrieben wird. Die Entfaltung des Themas wird, das ist der Ausgangspunkt, wesentlich durch situative Faktoren beeinflusst. Durch sich immer wie_____________ 24 25
26
Ebd., S. 139. »Nun gibt es zwar eine allgemeine Interdependenz, aber kein prästabiliertes Eins-zuEins-Verhältnis zwischen sprachlichen und gedanklichen Einheiten. Einerseits umfaßt das grammatische System der Sprache eine Fülle unterschiedlicher Gebrauchsweisen; andererseits läßt aber auch die Gleichheit der Sprache zahlreiche Konnotationen, Modifikationen und Interpretationen der Sprechenden zu: ›Wenn man sich bei jedem Wort und (jeder) Formel nur einerlei denken könnte: so wäre nichts nötig, als die Elemente zu kennen; es gäbe nur Grammatik‹ [...] – und, so darf man hinzufügen, keine Hermeneutik, weil es eben nicht das Problem gäbe, wie ein Sprecher/Hörer von der Kenntnis der (allgemeinen) ›Bedeutungen‹ der Grammatik zum Verstehen des (individuellen) ›Sinns‹ sprachlicher Äußerungen gelangt.« (Gerke: Verstehenskonzeptionen, S. 24) Der Rezipient ist bereit, eine Satzfolge als kohäsiv, kohärent und intentional aufzunehmen.
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derholende Faktoren der jeweiligen Kommunikationssituation haben sich kulturell bestimmte Grundformen der Verknüpfung von Propositionen bzw. Propositionskomplexen herausgebildet, die, sofern sie dominieren, den Charakter von Textsorten mitbestimmen. Im allgemeinen geht man von vier Arten aus:27 deskriptive, explikative, argumentative und narrative Themenentfaltung.28 Der Bezug zum literarischen Darstellen bietet sich bei der narrativen Themenentfaltung an, die für die Analyse von Alltagserzählungen entwickelt worden ist.29 Die Vorstellung von narrativer Themenentfaltung bezieht sich nicht auf literarische Gattungen und Genres, sondern entspricht in etwa dem Vorschlag Lämmerts,30 vom ›Typus‹ ›Erzählen‹ als einem Begriff zu sprechen, der quer zu den Gattungsbegriffen liegt und Eigentümlichkeiten des Erzählens schlechthin betrifft.31 Wie Lämmert Erzählen unabhängig von der Gattung, ob Roman, Novelle oder Kalendergeschichte, als »typische Form der Dichtung« sieht, die »ungeachtet des etwaigen Vorwiegens eines Typus in einer Zeit, bei einem Volk oder einem Dichter − ihre allzeitigen Möglichkeiten« bezeichnet,32 so betrachtet die Textlinguistik die narrative Themenentfaltung als Bauform für Texte verschiedener narrativer Alltagstextsorten, ob moderne Sagen/urban legends, Witze, Reiseerzählungen, Schauergeschichten, Missgeschicksgeschichten, ›Weißt-dunoch‹-Erzählungen, Großeltern-Geschichten oder Passagen aus narrativen Interviews u.a.33 Erzählen ist aus textlinguistisch alltagsbezogener Sicht die Darstellung einer Ereignisfolge unter kommunikativ-funktionalem Aspekt aus einer subjektiv gewichtenden und bewertenden Perspektive.34 Die dargestellten Zusammenhänge müssen für die konkrete Situation signifikant sein, das Kriterium des Unerwarteten, der Interessantheitseffekt, den eine Darstellung aufweist, wird als Voraussetzung für einen erzählenswerten Stoff angenommen. Die Einbettung in einen Rahmen und eine »prozessualaktionale Repräsentation des Ereignisses«,35 das sich aus einer oder mehreren Ereignisphasen (jeweils eine Komplikation und Auflösung) konstituieren kann, gelten ebenfalls als gesetzt. Alltagserzählen und literarisches Erzählen (und die Abgrenzung voneinander) wären Gegenstände, die für ein interdisziplinäres Herangehen und Vergleichen in Frage kommen könnten. _____________ 27 28 29 30 31 32 33 34 35
Brinker: Textanalyse. ›Deskriptiv‹ gilt für informierende Texte (z.B. die Nachricht), ›explikativ‹ für wissensvermittelnde Texte (z.B. Lehrbuchtexte), ›argumentativ‹ für appellative Texte (z.B. Politikerreden). Van Dijk: Textwissenschaft; Brinker: Textanalyse. Lämmert: Bauformen. Vgl. ebd., S. 10ff. Ebd. 15f. Vgl. Schenda: Bausteine, S. 265. Carroll / Timm: Erzählen, S. 694. Brinker: Textanalyse, S. 71.
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3.4 Text und Handeln Über die Betrachtung von Text und Syntax, Text und Semantik oder Text und Thema, wie sie bis jetzt angesprochen wurden, hinaus nimmt die Textlinguistik Texte als handlungsbezogene Einheiten in den Blick. Grund für diese Erweiterung des Blickwinkels ist die auf die transphrastische Phase folgende Einsicht, dass der Text eine Einheit sui generis mit eigenen, von den Regeln des Satzes unterschiedenen Regularitäten ist und dass unter diesen Umständen eine nur innersprachliche Betrachtung nicht genügen kann. Wenn Texte in Handlungen eingebettet bzw. an ihnen beteiligt sind – so ist die Annahme –, können sie nichts Starres, ein für allemal Fertiges sein, sondern müssen als Element des Handelns auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Produktion und Rezeption betrachtet werden. Mit diesem Blickwinkel hat man die rein textinterne Perspektive aufgegeben und richtet den Blick zusätzlich auf Textexterna. Über Textstrukturen, -themata und -funktionen hinaus, wie sie schon die Analyse der thematischen Entfaltung im Blick hatte, betrachtet man die Intentionalität/Zweckgerichtetheit der sprachlich-kommunikativen Handlungen, man sieht die Rolle, die Sender und Empfänger gemeinsam bei der Textkonstitution haben, und den sozialen Aspekt, der sich daraus ergibt, dass zwei oder mehr Individuen mithilfe von Texten und auf der Grundlage von Konventionen, die sie miteinander teilen, kooperieren. Kommunikativ-pragmatische Prinzipien (Situationalität, Intentionalität, adressatenbezogene Informativität und senderbezogene Akzeptabilität) auf der einen und spezifische, nicht vom Sender abhängige Textkonventionen (Textregularitäten, Textmuster, Textklassen) auf der anderen Seite stehen jetzt im Vordergrund. Sowohl der kognitionspsychologisch begründeten Tätigkeitstheorie wie dem handlungstheoretischen Konzept der Sprechakttheorie, die beide in diesen Kontext gehören, liegt die Auffassung zugrunde, dass Sprache nur im Zusammenhang des Handelns – des sprachlichen und des nichtsprachlichen – angemessen beschrieben werden kann. Der Text, obwohl bereits eine relativ geschlossene thematische Einheit, muss in einen noch größeren Zusammenhang gestellt werden, in dem er erst seinen Sinn erhält, nämlich in den Kontext des gesamten Kommunikationsvorgangs. Wir haben davon auszugehen, dass Texte immer von jemandem für jemanden mit einer bestimmten Intention gemacht werden und dass das ›Leben‹ der Texte davon abhängt, ob jemand sie als eine intentional auf eine bestimmte Wirkung hin verfasste Mitteilung rezipiert und ihnen Sinn gibt. Andernfalls bleiben sie unabgeschlossene Entitäten. Bezüge zu Kategorien wie ›Lesarten‹, der ›offene Text‹, ›Rezeptionsästhetik‹ lassen sich hier denken.
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Während der holistische Ansatz der Tätigkeitstheorie, die sprachliche Tätigkeit als dynamisches und holistisch zu betrachtendes System auffasst,36 geeignet scheint, ihn auch auf literarische Artefakte anzuwenden, ist dies für den sprechakttheoretischen Ansatz nicht unumstritten. Ein Ansatz, der eindeutige Zuordnungen und Hierarchisierungen der Illokutionen im Text annimmt,37 ist für die Beschreibung von Sachtexten nützlich, weniger aber für die offenen, nicht als eindeutige Botschaft lesbaren literarischen Texte. 3.5 Text und Kognition Bei jeder der bisher vorgestellten Textauffassungen hat sich die Perspektive auf Texte erweitert. Eine außerdem notwendige Erweiterung besteht in der Einbeziehung kognitiver Prozesse, die an jeder Tätigkeit, auch der sprachlichen, beteiligt sind. Der Sender greift beim Herstellen und Verstehen von Äußerungen auf bestimmte mentale Voraussetzungen zurück. Er bezieht sich auf seine Wissens- und Erfahrungsbestände und geht mit den aus der zurückliegenden kommunikativen Praxis gewonnenen Erwartungen an Künftiges heran. Die Organisation solcher Wissensbestände wird von verschiedenen Ansätzen aus beschrieben. Ein semasiologischer, sich auf Erkenntnisse der kognitiven Psychologie beziehender Ansatz geht aus von der Existenz semantischer Felder. Unser Gedächtnis speichert begriffliches Wissen nicht in isolierten Einheiten, sondern in ›Kernkonzepten‹. Zu einem solch umfassenden integrierenden Kernkonzept, das Agricola als Oberbegriff von mittlerem Abstraktionsgrad auffasst,38 gehört als grundlegende Struktureinheit ein ›semantisches Feld‹, das aus einer Menge einander bedeutungsnaher Lexembedeutungen besteht. Das semantische Feld für alles, was z.B. unter den Oberbegriff ›Liebe‹ mit allen zugehörigen Substantiven, Verben, Adjektiven gehört, ist dem Sprachteilnehmer mehr oder weniger vollständig bekannt und kann zu Assoziationen bzw. in Texten zu Vernetzungen führen, also Textkohärenz und Sinnangebote herstellen. Auch mit Frames bzw. Schemata (begrifflichen Zusammenhängen) und Scripts (Handlungsabläufen) werden konzeptuelle Teilsysteme unseres Wissens erfasst. Der Unterschied zum Ansatz der semantischen Felder ist darin zu sehen, dass nicht mehr sprachlich fixierte Begriffe die Ausgangsposition für ein solches globales Muster bilden, sondern typische Zusam_____________ 36 37 38
Leont’ev: Tätigkeit; Leont’ev: Tätigkeitsbegriff. Motsch / Viehweger: Sprachhandlung; Motsch / Pasch: Handlungen. Agricola / Brauße / Karl / Ludwig: Komplexwörterbuch. Bd. 2, S. 342.
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menhänge, wie sie als in der Realität existent in unserem Bewusstsein fixiert sind. Nicht das sprachliche Zeichen ist hier also der Ansatzpunkt, sondern die Strukturen sind es, in denen Ausschnitte der Wirklichkeit in unserem Gedächtnis fixiert sind. Sie repräsentieren typisierte Situationen, Objekte, Zustände und Prozesse. Die Informationen, die solche globalen Muster bereithalten, sind von unterschiedlichem Abstraktionsgrad, unterschiedlich komplex und auch erweiterbar, d.h. sie lassen einen dynamischen Umgang zu. Die Kenntnis solcher Zusammenhänge ist sowohl für das Textverstehen, für dessen Beschreibung sie herauspräpariert wurden, als auch für das Herstellen von Texten relevant. Der Textzusammenhang kann nur über die außersprachliche Instanz ›Weltwissen‹ hergestellt werden. In der Kenntnis von Frames und Scripts geht man mit bestimmten Erwartungen an Texte heran, und man hört oder liest dann auch mit den Erwartungen des jeweiligen Frame oder Script und nimmt nur auf, was in dieses Frame/Script passt. Wie sieht nun die Erwartung an Literatur aus? Zum Beispiel so, dass sie einen spezifischen Ausschnitt von Weltwissen verinnerlicht hat, nämlich den, dass es so etwas wie Literatur gibt, dass solche Texte anders als andere gelesen werden wollen/müssen, dass den Lesern in ihr andere Welten begegnen als im alltäglichen Leben? 3.6 Text und Stil Eine zusätzliche, neuere und durchaus noch nicht allgemein akzeptierte Erweiterung des Textbegriffs ist die um den Stil als notwendiges konstituierendes Element von Texten und damit, wie gleich zu sehen sein wird, um das Semiotische. Anders als die traditionelle, auf die elocutio bezogene Stilistik definieren neuere (pragmatische, funktionale, semiotisch orientierte) Stilauffassungen den Stil als textbezogene Größe.39 Dass literaturwissenschaftliche Stilauffassungen, wie z.B. die von Spitzer oder Kayser, den Stil bereits als Phänomen des Textes ansehen, entkräftet meine Feststellung nicht. Was bei ihnen fehlt, ist zum einen die Theoretisierung des Stils als Zeichenhaftes und zum anderen die Feststellung, dass Stil eine notwendige Texteigenschaft ist. Stil entsteht erst im Textzusammenhang und er ist an der Herstellung des Textcharakters entscheidend beteiligt. Der erste Teil der Feststellung – Stil entsteht erst im Textganzen – trifft sich mit der Auffassung von Spitzer oder Kayser. Der zweite Teil – Stil ist entscheidend beteiligt an der Konstitution des Textes – ist neu. Die Frage, was ein Text ist und was ihn ausmacht, konnte erst gestellt werden, als man sich mit _____________ 39
Fix: Einheit.
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dem Phänomen der Textualität beschäftigt hat, also mit dem Entstehen der Textlinguistik. Dass Textoberfläche und -tiefenstruktur die zwei unentbehrlichen Ebenen eines jeden Textes sind, unterliegt keinem Zweifel. Wie diese Ebenen zu beschreiben sind, ist hinlänglich untersucht und unter den Stichworten ›Kohäsion‹ und ›Kohärenz‹ (s.o.) zur gängigen Praxis von Textanalysen geworden. Mit der Untersuchung von Textoberflächen im Blick auf die Tiefenstruktur der Texte ist jedoch die Sprachgestalt von Texten noch nicht erfasst. Textkonstitutiv ist nicht nur die Existenz von Strukturen, Beziehungen und Bedeutungen, man muss vielmehr auch ein übergeordnetes Prinzip der Herstellung von Kohäsion und Kohärenz im Blick haben, das in der Einheitlichkeit der Wahl der Mittel besteht − mit dem Ziel, um es einmal vorwissenschaftlich auszudrücken, eine einheitliche ›Textatmosphäre‹ herzustellen und damit auf der einen Seite möglicherweise einen individuellen Textstil zu kreieren, auf der anderen Seite aber auch, und dies notwendigerweise, dem Textmuster einer Textsorte und dessen sprachlichformulativem Anspruch gerecht zu werden: Herstellung von Individualstil und Textsortenstil. Wird ein Textsortenstil, der normalerweise die Rezeption in eine bestimmte Richtung lenkt, nicht durchgehalten, verunsichert das den Rezipienten. Mit welcher Textsorte hat er es eigentlich zu tun? Die von Sandig entwickelte textbezogene pragmatische Stilistik kommt vom sprechakttheoretischen Ansatz aus zu einer Theorie der stilistischen Ausführung von Sprachhandlungen in Texten.40 Im Zusammenhang der Handlung ist es die Funktion von Stil, intersubjektiv Sinn herzustellen. Stil gilt als eine sekundäre Bedeutungsschicht des Textes, die vor allem unter sozialem Aspekt – meiner Auffassung nach aber auch unter ästhetischem – von Bedeutung sein kann. Diese zunächst stark an Regelhaftem und an Sachtexten orientierte Auffassung wird später erweitert, indem dem Konventionellen das Originalisieren durch Stil, der Regel die Abweichung als stilhafte Erscheinung gegenübergestellt wird. Mit der Vorstellung von Stil als Sinn bietet die pragmatische Stilistik einen Ansatz für die Beschreibung und Analyse literarischer Texte. Spielarten kommunikationsorientierter semiotischer Stilistiken, wie sie z.B. Spillner oder Lerchner vertreten und wie sie auch meiner Vorstellung von Stil entsprechen,41 sprechen dem Wie Zeichencharakter und damit eine semiotische Qualität zu, was den Ansatz für die Einbeziehung anderer als sprachlicher Zeichen und anderer als sprachlicher Artefakte, also
_____________ 40 41
Sandig: Stilbeschreibung; Sandig: Stilistik der deutschen Sprache. Spillner: Linguistik; Lerchner: Sprachform.
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z.B. Bild-Text-Betrachtungen, liefert. Und mit Anschluss an Mukařovský hat Stil, insofern er auf Sichtbarkeit hin angelegt ist, eine ästhetische Qualität.42 Zu dem strukturalistisch-semiotischen Ansatz, wie ihn Mukařovský und Lotman vertreten,43 gehört die Vorstellung von Kultur als hierarchisch organisiertem Zeichensystem. An die Zeichen sind kulturelle Bedeutung und sozialer Wert gebunden. So ist der Text in keinem Fall auf rein Sprachliches reduziert, sondern sprachliche Äußerungen werden erst durch ihre besondere kulturelle Signifikanz zum Text. Die funktionale Korreliertheit der verschiedenen Zeichensysteme, deren Abgrenzbarkeit und Relationen sind von beiden Seiten her zu untersuchen. Die Frage nach der Anwendbarkeit linguistischer Methoden in der Literaturwissenschaft stellt sich hier wie schon einmal im Strukturalismus, wird aber nun nicht auf das Instrumentale reduziert. Anders als beim scientistisch-strukturalistischen Ansatz, von dem nur einzelne Methoden übrig geblieben sind, lebt dieser strukturalistisch-semiotische Ansatz fort in Stilauffassungen, die von der Zeichenhaftigkeit des Stils ausgehen. Damit sind die pragmatisch und semiotisch angelegten Stilauffassungen gemeint, von denen letztere ihre besondere Aufmerksamkeit dem Literarischen zuwenden. Interessanterweise ist eine Reaktivierung der Kategorie ›Stil‹ und das Ausloten ihrer Möglichkeiten zu bemerken. Es wird sehr stark ›von außen‹, aus der Richtung der Soziologie, der Kulturwissenschaft und der Kunstwissenschaft, an die Linguistik herangetragen. Anders als zu Beginn des 20. Jahrhunderts wäre heute, so denke ich, ein gemeinsamer Umgang mit Stil als integrierender Größe möglich, fasste man sie in einem ganzheitlichen semiotischen Sinne auf. 3.7 Text und Textsorte Das bisher letzte Feld von Wissensbeständen, das sich an das bisherige Textwissen anlagert, ist das Wissen um Textsorten in ihrer kulturellen Geprägtheit. Hier liegt gegenwärtig das textlinguistische Hauptinteresse. Schon die pragmatische und später auch die kulturwissenschaftliche ›Wende‹ brachten es mit sich, dass sich das Interesse vom Text ›an sich‹ zunehmend auf den Text in seinen kommunikativen und kulturellen Zusammenhängen verlagerte und damit folgerichtig die Frage nach der Typik, in der Texte auftreten, nach Sorten von Texten und ihrer Klassifizierung und nach ihrer kulturellen Geprägtheit aufbrachte. Was ist an Textsorten kulturell? Stimmt man darin überein, dass Textsorten Elemente einer im sozialen Handeln erworbenen Sprach- und Kommunikationskompetenz sind, hat man sich _____________ 42 43
Mukařovský: Kapitel, S. 33. Mukařovský: Kapitel; Mukařovský: Kunst; Lotman: Struktur.
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bereits auf deren Kulturalität geeinigt. Da die Situationen und Kontexte, in denen sprachlich gehandelt wird, kulturell geprägt sind, müssen auch die Formen, die eine Gemeinschaft für dieses Handeln und im Handlungsvollzug entwickelt hat, kulturelle Phänomene sein. Textsorten – wie andere Routinen des Handelns auch – beruhen in zweierlei Hinsicht auf kulturellen Übereinkünften: Erstens: Bereits die Tatsache der Existenz des Phänomens ›Textsorte‹ an sich, das Faktum also, dass Kultur- und Kommunikationsgemeinschaften über die Textsorte als eine wichtige und komplexe Art von Handlungsroutine verfügen, ist ein im oben beschriebenen Sinne kulturelles Phänomen. Dies ist es jedenfalls dann, wenn man sich auf ein Kulturkonzept bezieht, das Kultur als Phänomen des Alltags betrachtet. Dessen Kern ist jeweils, dass die Formen, Muster, Routinen, die Mitglieder einer Kulturgemeinschaft hervorgebracht haben, um miteinander leben und handeln zu können, an der Konstitution von Kultur beteiligt sind. Zu diesen Routinen gehören eben auch die Textsorten einer jeweiligen Kultur mit ihrer typischen Form, ihrem vereinbarten Weltbezug und ihrer Funktion, ihrem ›Sitz im Leben‹. Die Basis der Auseinandersetzung mit dem Phänomen ›Textsorte‹ an sich ist also das Wissen um deren grundsätzlichen kulturellen Status. Hier zeigen sich Bezüge zu Gattungsproblemen, z.B. hinsichtlich der Bestimmung dessen, was jeweils der ›Sitz im Leben‹ ist bzw. ob es sinnvoll ist, mit dieser Kategorie umzugehen. Im konkreten Fall der Beschäftigung mit einer bestimmten Textsorte hat man zusätzlich die einzelkulturelle Spezifik der jeweiligen Textsorte zur Kenntnis zu nehmen. Textsorten wie andere Routinen des Handelns sind zunächst einmal als einzelkulturelle Übereinkünfte anzusehen. Es gibt in der Realität des Sprechens nicht ›Textsorten an sich‹, sondern spezifische, von einer oder auch von mehreren Kulturen gemeinsam geprägte. Diese Prägung kann verschiedene Aspekte betreffen: sowohl inhaltliche als auch funktionale und formale Elemente. So sind Textsorten immer Schnittpunkte von Wissensbeständen, die in einer für die jeweilige Textsorte zutreffenden Auswahl und Ausprägung vorhanden sein müssen. Zu diesen gehören das Weltwissen im Sinne von Verfügen über Frames, Prototypen und Begriffe, das Kommunikationsnormenwissen (wer darf wann wie handeln?), das Sprachwissen und auch, wenn man es vom Framewissen trennen will, das Kulturwissen. Dieses umfasst Wissen über Traditionen von Texten,44 über deren kulturelles Prestige und dessen Wandel (literarische Texte gelten/galten mehr als Alltagstexte?), über den Wert des Mediums (geschriebenen Texten wird mehr Wert zugebilligt als gesprochenen? Relationen von Bild und Text), Kenntnis über Kultureme (Angebrachtheit des _____________ 44
Schlieben-Lange: Sprachgeschichte, S. 28.
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kommunikativen Handelns bestimmter Art) und textbezogene Behavioreme (übliche Art der Ausführung des Handelns in einer bestimmten Textsorte)45 und die Funktion, »historisch und kulturell spezifische, gesellschaftlich verfestigte Lösungsmuster für strukturelle kommunikative Probleme« zu sein.46 Wie und ob sich in dieses komplexe Gefüge literarische Gattungen einordnen lassen, welche Übereinstimmungen und welche Spezifika es dabei möglicherweise gibt, ist aus meiner Sicht eine interessante Frage. 4. Was tut sich an den Rändern? 4.1 Neuer Textbegriff? Der Textbegriff wird von rein sprachlichen unikodalen auf multikodale Artefakte erweitert. Die Basis dafür ist, dass Texte nie nur rein sprachlich existieren, immer sind andere Zeichen an ihnen beteiligt, seien es Gestik und Mimik, Typographie und Papiersorte und/oder Bilder und Tabellen usw. Da dieser Komplex aus Zeichen verschiedener Art, die ein Textexemplar ausmachen, gemeinsam Sinn anbietet, da alle Zeichen auf der Textoberfläche und in der Textumgebung etwas zu verstehen geben und auf Wahrnehmbarkeit hin angelegt sind, kann man an ihnen nicht vorbeigehen. So kann man schlechterdings nicht einen Kode, in der Regel den sprachlichen, aus dem Textkomplex herauslösen und an ihm den Sinn des Ganzen ablesen wollen, ein Verfahren, das in linguistischen Textanalysen noch immer vorherrscht. Das Beispiel des Briefs aus dem 19. Jahrhundert (s.o.) sollte zeigen, welche Kodes neben dem sprachlichen für den Rezipienten von Belang sein können, dass das Zusammenwirken der Zeichen verschiedener Kodes beachtet werden muss, weil sie alle etwas bedeuten, und auch deshalb, weil außerlinguale Elemente in Texten zunehmen. Der Anteil der visuellen Zeichen in der Kommunikation wächst mit der Vielfalt medialer Möglichkeiten, Visuelles zu vermitteln. Das betrifft bei schriftlichen Texten auf dem Papier u.a. sinntragende Typographie,47 Linien, Farben, Proportionen, Tabellen, Kurven und Schaubilder.48 Bei der elektronischen Textgestaltung betrifft es die im Hypertext in unbegrenztem Maße mögliche Anwendung und Vernetzung visueller, akustischer und sprachlicher Darstellung. Diese Phänomene, von denen nur wenige und die gebräuchlichsten genannt wurden, sind keine Randerscheinungen, sondern zentrale _____________ 45 46 47 48
Oksaar: Sprache. Bergmann / Luckmann: Formen, S. 2. Schellnack: SCHRIFT/BILD; Korger: Schrift. Pörksen: Weltmarkt.
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Elemente eines Textes. Ihre Beschreibung ist nötig. In dem Zusammenhang ergibt sich die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Leistungen der verwendeten Kodes: auf der einen Seite die sprachlichen – digitalen – Zeichen, die arbiträr sind und verallgemeinernden Charakter haben (Begrifflichkeit), und auf der anderen Seite Bilder, Farben, Proportionen – analoge – Zeichen, die nicht begrifflich sind, sondern eher über die direkte Anschauung wirken. Außerdem darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich Lesen als Verstehen von Texten nicht so einfach in visuelle und kognitive Elemente aufspalten lässt.49 Sprachtexte werden auch als Bildtexte (vgl. Konkrete Poesie) gelesen: Umrisse, Struktur, Visualität der Lesefläche werden wahrgenommen. Und andererseits können Bilder wie Sprachtexte, also auch verallgemeinernd, gelesen werden, wenn sie so konventionalisiert sind, dass viele Rezipienten gemeinsam in den Bildern denselben Sinn entdecken. Wenn man nun die Phänomene in der Rezeption nicht trennen kann, verbietet sich die Trennung selbstverständlich auch bei der Analyse. Alles ist also als sinntragendes Element zu betrachten und einzubeziehen. Leittheorie für ein Herangehen an Texte bei Beachtung ihrer Multikodalität kann die Semiotik sein – als eine Wissenschaft, die an allen Zeichen- und Kommunikationsphänomenen gleichermaßen interessiert ist. Um sich für diesen Ansatz zu entscheiden, muss man akzeptieren, dass alle Zeichen, gleich aus welchem Zeichenbereich sie kommen, kulturell vereinbart sind. Auch die Tatsache, dass in einer Kultur manche Zeichen im Zentrum stehen, andere eher an der Peripherie, ist so zu fassen. Linguistische Textbegriffe sind vor diesem Hintergrund nicht mehr ausreichend. Texte müssen als Komplexe von Zeichen verschiedener Art betrachtet werden können. Dabei wird es z.B. von Belang sein, ob die Bilder oder die sprachlichen Zeichen in einem Textexemplar dominieren (vgl. Textbeispiele im Anhang). Einen für eine solche Betrachtung geeigneten Textbegriff, der auf komplexe Zeichengefüge und komplexe Semiosen anwendbar ist, findet man bei Posner,50 für den jedes Zeichengebilde als Text gilt, das intendiert sowie mit einer Funktion versehen ist und auf Zeichenkonventionen einer Kultur beruht. Jedes Artefakt, d.h. alles vom Menschen unter diesen Bedingungen Hervorgebrachte, wäre dann Text. Gemischte Texte sind demnach als Ergebnis beabsichtigten Verhaltens, als Artefakte/Produkte zu betrachten, in denen mehrere Kodes einer Kultur mit einer einheitlichen Funktion zusammenwirken. Zusätzlich zur Multikodalität ist auch das Phänomen der Multimedialität (s.o.) zu beachten, wenn es um den Textbegriff geht. Texte, die wir zunächst einmal relativ unproblematisch einer Textsorte zuordnen können, _____________ 49 50
Gross: Lese-Zeichen. Posner: Kultur.
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wie Brief,51 Eintragung ins Gästebuch, Rezension, Lexikoneintrag oder Alltagsgespräch, begegnen uns auch als elektronische Fassung, unter derselben oder ähnlicher Textsortenbezeichnung: z.B. E-Mail, elektronisches Gästebuch, Rezension, Chat. Die Frage ist, ob wir bei den Verlagerungen aus dem sprachlichen in ein anderes Medium von derselben Textsorte oder Gattung reden können, die durch das andere Medium möglicherweise spezifiziert, aber nicht in ihrem Wesen beeinträchtigt ist, oder ob wir es mit neuen Textsorten/Gattungen mit anderen Bedingungen und Wirkungsmöglichkeiten zu tun haben. Die Frage stellt sich natürlich nicht nur und nicht in erster Linie bei den oben genannten Alltagstextsorten. Sie begegnet uns auch bei literarischen Texten, z.B. bei der Verfilmung von Literatur. Ist die Verfilmung eines Märchens, um bei einer einfachen Gattung zu bleiben, ein Gattungswechsel, ein Medienwechsel, ein Kodewechsel oder das alles zusammen? Wie sind hier Abgrenzungen und Festlegungen möglich, wenn das überhaupt der Fall ist? Was ist bei einer solchen Abgrenzung zu gewinnen? Intertextualität ist ebenfalls ein aktuelles Problem für die Textlinguistik. Es geht nicht nur darum, dass die bekannten Klassifizierungsfragen (typologische und referentielle Intertextualität, Text-Textsorten-Intertextualität, Text-Text-Intertextualität) und die Frage ihrer analytischen Erhebbarkeit problematisch sind (Intertextualität – ein Phänomen des Textes oder der Rezeption?), sondern es zeigen sich auch neue Probleme. Die neuen Formen von Text-Text-Bezügen, die sich aus den elektronischen Möglichkeiten ergeben, stehen auf der Tagesordnung: Beispiel Hypertext – ein holistischer Text, der als Verbund von digital gespeichertem Sprachtext mit Tonmaterial, mit Bildern, Filmen, Grafiken u.ä., also mit Texten mehrerer Kodes, auftreten kann und dies in der Regel auch tut. Hinzu kommen, durch die Diskursanalyse linguistischer Provenienz ins Blickfeld gerückt, kulturell geprägte Verbünde von Texten als Textsortennetze (z.B. alle Texte um das Thema ›Buch‹ – vom Klappentext über den Roman, das Motto, das Vor- oder Nachwort, die Rezension bis hin zu Buchwerbetexten) und Serien von Texten wie Fortsetzungstexte, Fassungen, Reihen, die sich nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Presse und in der Werbung (siehe z.B. Textbeispiele im Anhang) finden.
_____________ 51
Auf die Notwendigkeit der Einteilung in Brieftextsorten gehe ich hier nicht ein.
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4.2 Textsorten – neue Fragen und Untersuchungsansätze Aus der Erweiterung des Textbegriffs ergeben sich eine Reihe neuer Fragestellungen und weißer Flecken, die in Auswahl kurz aufgelistet werden sollen. Kulturspezifik 1. Die Annahme, es gebe Textsorten mit dominierender einzelkultureller Spezifik und solche mit überkultureller Spezifik, ist zu untersuchen und gegebenenfalls zu differenzieren. Je nachdem, ›auf welche Seite sie gehören‹, hätten die Textsorten dann lokale oder überlokale/globale kulturell geprägte Muster. (Beispiele: Die Textsorte ›Todesanzeige‹ gibt es in vielen Kulturen, aber in abweichender Ausführung. Die Textsorte ›Kontaktanzeige‹ wird es in vielen Kulturen nicht geben (können).) 2. Über das Lokale hinausgehende kulturenübergreifende Muster können als Feld des Kulturkontaktes fungieren. (Beispiel: mobiles europäisches Sprechtheater).52 3. Noch ausgeprägter ist das überkulturelle Moment in Texten, die nicht an die Kultur eines Landes gebunden, nicht aus ihr hervorgegangen sind, sondern die ›oberhalb‹ von Sprach- und Kulturgrenzen eine eigene Kultur konstituieren. (Beispiel: jugendkulturelle Textsorten: Fanzines).53 4. Textsorten, deren Schwerpunkt auf der einzelkulturellen Spezifik liegt, können sich in sehr verschiedenen Einzelaspekten unterscheiden: z.B. Unterschiede in ihrer Textillokution oder Textproposition, in Themenentfaltung und Argumentationsweise, Unterschiede in textsortentypischen Sprachhandlungen und schließlich sogar in der Frage, wer in einer Kultur die Textsorte realisieren (›benutzen‹) darf. (In Frankreich dürfen Sprachglossen nur von den akademisch gebildeten Experten, nicht von Journalisten geschrieben werden).54 5. Die literaturwissenschaftliche Kategorie der ›Gattung‹ und die sprachwissenschaftliche der ›Textsorte‹ begegnen sich hier; denn sowohl die literarischen als auch die nichtliterarischen Texte können unter den genannten Aspekten betrachtet werden. Wandel von Textsorten 1. Die oft geäußerte Vorstellung von einer z.B. durch die neuen Medien hervorgebrachten Vielzahl neuer Textsorten ist zu überprüfen. 2. Den toten Textsorten, von deren Existenz die Sprachteilnehmer oft gar nichts mehr wissen und die deshalb für den Sprachgebrauch nicht re_____________ 52 53 54
Warnke: Textmuster. Androutsopoulos: Textsorten. Perennec: Sprachglosse.
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levant sind (z.B. ›Weistum‹, ›Sieglied‹, ›Stammbuch‹/›Willensbekundung‹ und ›Kampfprogramm‹ der DDR) und den im Absterben befindlichen (›Telegramm‹, ›Privatbrief‹/›persönlicher Brief‹?) scheinen nur wenige tatsächlich neue Textsorten gegenüberzustehen (z.B. Anrufbeantwortertext, Flyer, SMS). Die Frage, ob die Neuheit sich im Wechsel des Trägermediums erschöpft bzw. ob Veränderungen sich allein aus dem Medium ergeben, ist noch nicht beantwortet. 3. Viel häufiger scheint man es allerdings mit Veränderungen innerhalb von Textsorten zu tun zu haben, die sich an neue Gegebenheiten verschiedenster Art anpassen und dabei den Status ihrer ›Herkunftstextsorte‹ nicht verlieren. Woran kann man im gegebenen Fall die Fortexistenz einer Textsorte (z.B. Gästebuch – elektronisches Gästebuch) erkennen? Wieviel und welche Veränderung ist dabei zugelassen? 4. Wie wirken sich die Medien auf den Wandel von Gattungen aus? Sind vergleichbare Vorgänge festzustellen? Entwicklungstendenzen Die Analyse heutiger Textsorten zeigt Entwicklungstendenzen, die nicht unbedingt eine Neuheit darstellen müssen, sondern als die Verstärkung von etwas schon Vorhandenem betrachtet werden können. Als solche sind sie interessant. Eine klare Abgrenzung zwischen diesen Tendenzen ist nicht immer möglich und auch nicht nötig. Folgende stichwortartig dargestellte Tendenzen, die zum Teil auch Gattungen betreffen, fallen auf: 1. Vermischtheit Faktoren greifen ineinander. - Vermischung von Poetischem und ›Praktischem‹ – poetische Mittel in der Werbung, im Anzeigenbereich, in politischen Sprüchen etc., Auflösung der Grenzen zwischen Literarischem und Nichtliterarischem? - Vermischung von Intentionen – z.B. Information und Unterhaltung im Wetterbericht - Vermischung von Gegenstandsbereichen – z.B. Verbindung von Politik, Kultur, Technik, Wissenschaft, Katastrophen, Verbrechen, Sport, Wetter in den Fernsehnachrichten - Vermischung von Genres: Fernsehbericht mit Umsetzung von Ausschnitten des Berichteten in gespielte Szenen - Medial bedingte Vermischung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (z.B. E-Mail, Chatten) - Medial bedingte Vermischung von Varietäten/Schriftsprache – Umgangssprache (z.B. E-Mail, Werbung)
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2. Vernetztheit Einzeltexte stehen miteinander in intendierten Beziehungen. - Z.B. Textdesign in Printmedien - Z.B. Hypertext im elektronischen Medium - Textsortennetze (Brieftextsorten, Buchtexte, s.o.) 3. Zersplitterung Texte werden von anderen Texten, die mit ersteren in keinem Zusammenhang stehen, unterbrochen. - Z.B. Werbespots im Fernsehfilm - Z.B. mitlaufende Börsennachrichten in Fernsehtexten anderer Genres - Mitlaufende Nachrichten zu politischen Fernsehsendungen 4. Nichtabgeschlossenheit Texte können immer fortgesetzt und immer rückwirkend geändert werden. - Z.B. Vielzahl elektronisch gespeicherter Texte - Z.B. Hypertext 5. Offenheit Rezeptionsrichtung und -art sind nicht vorgegeben bzw. die Inhaltsvermittlung ist nicht abgeschlossen. - Z.B. Hypertext - Serielle Texte (Werbeplakate, Werbetexte, Porträtserien in Zeitschriften), serielle Textsorten (Rubriken, Sendereihen, Fernsehserien) 6. Normiertheit Die Ausführung von Texten ist in starkem Maße vorgegeben. Das trifft v.a. auf institutionelle Texte zu. - Z.B. Textmuster mit geringen Spielräumen - Z.B. Textbausteine - Z.B. Fertigtexte Abwandlung vor dem Hintergrund der Normiertheit Vermischung und Abwandlung von Textsorten wird mit dem Ziel der Originalität, der Unterscheidung von anderen, der Sichtbarmachung vollzogen. - Z.B. Literarische Texte - Z.B. Werbung - Z.B. Anzeigen Bei dem Versuch, die beobachtbaren Tendenzen in der Entwicklung von Textsorten aufzuzeigen, ergibt sich ein Bild vielschichtiger Beziehungen, die weiterer Untersuchung bedürfen. Dabei ist zu bedenken, dass ein Anlass zu mehreren Erscheinungsformen führen kann. Literarische Texte können als per se offen, vermischt, vernetzt, ästhetisiert gelten. Medienbedingt-
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heit kann zu Vermischung, Vernetzung, Zersplitterung, Offenheit führen (z.B. Homepage). Umgekehrt kann eine Erscheinungsform auf mehrere Anlässe zurückgeführt werden. Kreativität im Werbetext ist sach-, medien-, kulturbedingt, hat ihre Ursachen also im Gegenstand, im verwendeten Medium und in der Kultur, die dieses Verfahren hervorgebracht hat. 6. Rückkehr zum Text? – Fazit Aus sprachwissenschaftlicher Sicht bietet sich das folgende Bild: Die Literaturwissenschaft hat sich vom Text als Gegenstand getrennt, als sie ihn zum bloßen Schnittpunkt der Aktivitäten von Autor und Leser machte. Die Folge war, dass das Thema ›Text‹ im Sinne von ›Textgestalt‹ in den Hintergrund trat und dass damit zugleich das Interesse an der Zusammenarbeit von Sprach- und Literaturwissenschaft erlosch.55 Gerade in der Beschreibung von Texten als sprachlichen Phänomenen liegt ja die Leistungsmöglichkeit der Sprachwissenschaft. Nun lässt sich aber gegenwärtig, wie schon am Anfang festgestellt, ein erwachendes Interesse am Text bzw. an der Textoberfläche beobachten, das mit einer Neuorientierung der germanistischen Literaturwissenschaft zu erklären sein könnte, gerichtet dagegen, dass der Text im (wie auch immer gearteten) Kontext zum Verschwinden gebracht werden soll. Im zunehmend vielfältigen Gefüge von kulturwissenschaftlich, inter- und transkulturell, medienwissenschaftlich, genderspezifisch und wie sonst noch orientierten Literaturbetrachtungen scheint eine Besinnung auf die »neu zu durchdenken[den]« »etablierten Kernbereiche der Germanistik« an der Tagesordnung zu sein.56 Der Text als Oberfläche, die Textgestalt, würde damit wieder aktuell. Als einer der Kernbereiche neben Editionsphilologie und Literaturgeschichtsschreibung wird von Strohschneider und Vollhardt der Bereich der Textinterpretation angeführt − der als das klassische Feld der literaturwissenschaftlichen Germanistik betrachtete und zugleich am heftigsten umstrittene Bereich. Da Interpretation immer am Text ansetzen muss und da man diesem mit linguistisch-semiotischem Instrumentarium auf die Spur kommen kann, könnte hier ein erneutes Zusammengehen von Literatur- und Sprachwissenschaft gegeben sein. Dies gilt nur unter der Voraussetzung, dass ein solches Interesse der Literaturwissenschaft, also das Ansetzen am Text, auch wirklich besteht. Ein erweiterter, über das Sprachliche hinausgehender Zeichenbegriff, die Vorstellung, dass alles an einem Text zeichenhaft ist, also Information vermittelt, das Wissen davon, dass Stil zeichenhaft und an der Konstitution _____________ 55 56
Sicher gab es dafür auch andere Gründe, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Strohschneider / Vollhardt: Interpretation, S. 98.
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des Textes entscheidend beteiligt ist, dies alles sind Ansätze, die dem Einstieg in den Text Wege öffnen können. Gegen den möglichen Missbrauch des Instruments der Interpretation, gegen alle üblichen Vorbehalte setzt Weimar das überaus einleuchtende Argument, »daß es keinen vernünftigen Grund gibt, grundsätzlich und unbesehen darauf zu verzichten, bei der Bemühung um das Verständnis eines Textes alle verfügbaren Register zu ziehen und alle Möglichkeiten zu seiner Auswertung zu nutzen, die im Repertoire des Verstehens bereitstehen (und zum Teil sogar obligatorisch eingesetzt werden)«.57 Die Sprachwissenschaft, die trotz des Abbruchs der Beziehungen zwischen den Teildisziplinen immer auch literarische Texte betrachtet hat,58 in letzter Zeit vor allem unter zeichentheoretischem Aspekt, steht einer solchen Zusammenarbeit nicht unvorbereitet gegenüber.59 Wie mein Überblick vermitteln sollte, hat sie sich in vielfältiger Weise mit dem Phänomen ›Text‹, auch mit seiner literarischen Spielart, und mit Methoden seiner Analyse und Beschreibung auseinandergesetzt, wobei sie nach wie vor von der grundsätzlichen Übereinstimmung ausgeht, dass die Textgestalt, die Form des Textes, das relativ Feste ist, das der Textproduzent als Zweitsinn anbietet und das den Ansatz für das Verstehen bildet. Dies kann man annehmen, ohne die Prozesshaftigkeit und Offenheit des Textgebildes in Frage zu stellen. Es heißt nicht, Texte als »semantische Gefängnisse« zu betrachten, wenn man Textoberflächen als ›Interpretationshilfen‹ ansieht, die »innerhalb von bestimmten grammatisch-semantischen [und anderen, U.F.] Grenzen bestimmte semantisch-pragmatische Interpretationsmöglichkeiten eröffnen«.60 Worin bestehen aus meiner Sicht die Möglichkeiten der Annäherung der beiden Disziplinen? Thesenhafte Ausführungen dazu sollen den Beitrag abschließen.61 1. Der Faktor ›Text als wahrnehmbarer Zeichenkomplex‹ darf seiner Zeichenhaftigkeit wegen nicht vernachlässigt werden, wenn man sich aus sprachund/oder literaturwissenschaftlicher Perspektive mit literarischen Hervorbringungen beschäftigt. 2. Die Zeichenhaftigkeit der beteiligten Mittel, die Tatsache also, dass sie in einen Text immer schon Bedeutung mitbringen, gleich, was mit dieser _____________ 57 58 59 60 61
Weimar: Interpretation, S. 112. Wenn auch nur auf einer ›Nebenstrecke‹. Hoffmann / Keßler: Berührungsbeziehungen. Agel: Syntax, S. 39. Ich beziehe mich hier auf Fix: Sprach- und Literaturwissenschaft, und übernehme die Thesen von dort.
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›Vorbelastung‹ in der Rezeption auch geschieht, ist in Analyse und Interpretation einzubeziehen. 3. In einem neuen komplexen Zeichen, das ein Text darstellt, sind diese vorgegebenen Bedeutungen mit enthalten. Sie sind in einem gewissen Sinne unhintergehbar, gleich, ob man sie übernehmen oder von ihnen abweichen möchte, da das Abweichen nur Sinn vor dem Hintergrund der Ausgangsbedeutung ergibt. 4. Es ist zu untersuchen, auf welche konkrete Weise, mit welchen sprachlichen und anderen zeichenhaften Mitteln mit dieser ›Bedeutungsvorbelastung‹ umgegangen wird, wie das (offene, vage) Sinnangebot des Textes hergestellt wird und wie im konkreten Text durch die Zeichenrelationen ein Angebot an Bedeutung, an ›Zweitsinn‹, erzeugt wird. 5. Der Text ist eine formale, stilistische Einheit, in der alle Mittel zusammenwirken und in der sich insofern ein Mittel aus dem anderen erklärt. Zu erschließen ist die Spezifik des Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile, durch die sprachlich-stilistische Analyse der Textoberfläche, wobei ›stilistisch‹ alle Elemente des Textes meint. 6. Der Text, besonders der literarische, ist auf Wahrnehmbarkeit/Sichtbarkeit hin angelegt. Diese Feststellung erschöpft die Bestimmung dessen, was einen Text ausmacht, bei weitem nicht, aber sie richtet die Aufmerksamkeit auf etwas Entscheidendes: Die Mittel des Textes (sprachliche Form, Stil) sind so eingesetzt, dass sie unsere Wahrnehmung in eine bestimmte Richtung lenken. Kognitionspsychologische und –linguistische Untersuchungen können diese Textstrategien erfassen. 7. Wahrnehmbarkeit ist an Gestalthaftigkeit gebunden, also ein Produkt ästhetisierenden Handelns. Überhöhung im Gebrauch der Mittel ist zum Zweck der Wahrnehmung eingesetzt. 8. Stil ist Zweitinformation. Durch die Art und Weise, wie die sprachlichen (und andere) Mittel eingesetzt sind, werden soziale bzw. ästhetische Informationen gegeben. Im Fall literarischer Texte wird über das ästhetische Angebot, d.h. über das Spezifische seiner Form, das Sinnangebot des Textes überhaupt erst hergestellt. 9. Der Text ist nicht nur inhaltliches und sprachliches Gebilde, sondern an Materialität gebunden. Typographie, Bildlichkeit etc. lenken die Rezeption ebenfalls in eine bestimmte Richtung. 10. Gegenwärtige, zum Teil medienbedingte Tendenzen des Umgangs mit Texten/Textsorten/Gattungen machen die Textoberflächen in noch größerem Maße als bisher interessant. Das betrifft u.a. die generelle Tendenz zur Grenzüberschreitung im Bereich literarischer Texte, die teilweise vorzufindende Unbestimmtheit von Genrezugehörigkeit, die Vermischung von Varietäten innerhalb eines Textes ebenso wie die Verschmelzung
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von Bildlichkeit und Sprachlichkeit, es bezieht sich auf Übergänge zwischen Alltagstexten und literarischen Texten ebenso wie auf unscharfe Grenzen zwischen den Textteilen in Textmontagen und Textclustern.
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Anhang62
_____________ 62
Ich danke der Firma ZWILLING für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Werbetexte aus den Jahren 1999/2000.
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II. Zum Phänomen ›Literatur‹
FOTIS JANNIDIS
Einleitung
Haben sich die Beiträge des letzten Abschnitts mit dem Begriff ›Literatur‹ beschäftigt, so geht es in dieser und den folgenden Sektionen in erster Linie um das Phänomen ›Literatur‹ unter verschiedenen Perspektiven, um Literatur in verschiedenen Kulturen, um Literatur als Sozialsystem, um den Zusammenhang zwischen Literatur und Fiktionalität und Literarizität. In diesem Abschnitt wird in gewisser Weise das Fundament für die weiteren gelegt; alle drei Beiträge beschäftigen sich mit Fragen, die in dieser Allgemeinheit erst in den letzten Jahrzehnten zu Forschungsfragen geworden sind. Nach dem Ende der Psychoanalyse als wissenschaftlichem Diskurs ist eine theoretische Lücke entstanden, wie Genese und Struktur menschlicher Psyche als zentraler Bezugspunkt für Literatur zu konzipieren sei. Ein Angebot, diese Lücke zu schließen, stammt aus der evolutionären Psychologie und Ästhetik, die in ihren teilweise recht unterschiedlichen Entwürfen darin übereinstimmen, in der kulturellen und historischen Vielfalt menschlichen Lebens gemeinsame Dispositionen anzunehmen, die im Laufe der menschlichen Evolution als Adaptionen entstanden sind.1 Joseph Carrolls Ansatz weist zwei Besonderheiten auf. Zum einen geht Carroll von einer spezifischen adaptiven Funktion von Literatur aus – Literatur verstanden als ›imaginitive verbal artefact‹ –, während andere Autoren entweder davon ausgehen, dass Literatur zwar auf evolutionär erworbenen Kompetenzen und Dispositionen beruht, selbst aber keine adaptive Funktion hat. Für Carroll besteht die adaptive Funktion von Literatur darin, dass Menschen in Literatur affektive und moralische Erfahrungen von Alternativen machen können und auf diese Weise ihren subjektiven Sinn für Wert und Bedeutung entwickeln und anpassen können. Die andere Besonderheit des Carrollschen Ansatzes besteht darin, dass seiner Meinung nach nicht nur die Produktion und Rezeption von adaptiven Dispositionen bestimmt wird, sondern auch die Inhalte selbst, und Literatur daher in einem spezifischen _____________ 1
Einen guten Überblick über die Vielfalt bietet das Sonderheft Style 42, 2-3 (2008).
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Fotis Jannidis
Sinn immer ›mimetisch‹ oder ›repräsentierend‹ sei. Autoren und Leser produzieren nach Carroll kollaborativ eine simulierte Erfahrung einer emotional wirksamen sozialen Interaktion. Zwar sei die Kultur, in der der Autor schreibe, der unmittelbare Rahmen für diesen Prozess, aber die kulturellen Formen seien jeweils Spezifizierungen der grundlegenderen Dispositionen der menschlichen Natur. Innerhalb dieses Rahmens skizziert Carroll die Bezüge zwischen literarischen Phänomenen und den ihnen zugrunde liegenden Dispositionen, z.B. die Grundierung der agonistischen Struktur literarischer Konflikte, basale Emotionen und Lebenspläne oder die Bandbreite literarischer Darstellungsweisen zwischen mimetischem Realismus und symbolischer Phantastik. In den letzten Jahrzehnten geriet in Folge der Medienkonkurrenz und der Entwicklung der Medienwissenschaft auch die Medialität von Literatur zunehmend in den Blick, nicht zuletzt auch die Materialität von Literatur und die Frage ihrer Bedingtheit durch diese Aspekte.2 Christoph Reinfandt betrachtet in seinem Beitrag Literatur selbst als Medium. Sein Begriff des Mediums geht zurück auf Luhmanns Systemtheorie und deren literaturtheoretische wie -historische Adaptionen von Reinfandt selbst und Oliver Jahraus. In systematischer Perspektive ist das literarische Werk ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, das auf den Medien ›Schrift‹, ›Text‹ und ›Buch‹ basiert und dessen Sinnhorizont intertextuell in der Bezugnahme auf vorhergehende Texte, seien es nun literarische oder nicht, bestimmt wird. In historischer Perspektive erscheint Literatur als ein spezifisches historisches Phänomen der neuzeitlichen Moderne, das durch drei Komponenten etabliert wird: Autorschaft, Werk und Interpretation. Konstitutiv für diesen Literaturbegriff ist seine enge Bindung an eine historische Theorie der Gesellschaft, deren Entwicklung als Ausdifferenzierung gefasst wird, und die zentrale Rolle der Subjektivität in diesem Kontext, da gerade in Literatur das spezifische Medium für die perennierende Entstehung von Subjektivität gesehen wird. Daniel Fulda und Stefan Matuschek nähern sich dem Phänomen ›Literatur‹ aus einer Richtung, der in den letzten Jahrzehnten besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde, nämlich der Frage nach literarischen Formen in nichtliterarischen Diskursen. Sie untersuchen die Frage nach Literarischem in anderen Textformen stellvertretend an zwei Beispielen: historiographischen und philosophischen Texten. Seit den Arbeiten von Hayden White wurde die Einsicht in die Verwendung von Erzählformen und -konstruktionen, die sich in Literatur finden lassen, in geschichtswissenschaftlichen Texten als Beleg für die These gesehen, dass die Grenze zwischen Literarischem und Nichtliterarischem eigentlich hinfällig sei. Die Autoren entwickeln ein sehr _____________ 2
Gumbrecht / Pfeiffer: Materialität.
Einleitung: Zum Phänomen ›Literatur‹
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viel differenzierteres Bild, indem sie verschiedene Funktionen literarischer Darstellungsformen in Philosophie und Geschichte unterscheiden. Weitgehend unproblematisch ist die Verwendung solcher Formen, um komplexe Zusammenhänge so zu präsentieren, dass ein Leser sie leicht und vielleicht sogar mit Vergnügen rezipieren kann. Kann man hier das Literarische im Prinzip jederzeit wegdenken, so ist dies im Weiteren nicht mehr der Fall: Die narrative Tiefenstruktur der Geschichtsschreibung ist, so die Einsicht der analytischen Philosophie, konstitutiv für jede Form historischer Darstellung. Ähnliches gilt für Literatur und Literarisches als philosophisches Reflexionsmedium, etwa für die Funktion von Metaphern in philosophischen Texten, oder dann, wenn die literarische Form zugleich Ausdruck einer bestimmten philosophischen Haltung ist. Mehrfachkodierungen, die sich durchweg in historiographischen Texten finden lassen, also etwa Formen des Emplotments, oder die Beschreibung einer Situation, die zugleich symbolische Aspekte aufweist, dienen in literaturanaloger Weise der Deutung und Sinnzuweisung. Die Autoren sehen auch einen engen Bezug zwischen der Als-ob-Referenz der Literatur und den Verfahren der historiographischen Referenz: Die Literatur simuliere in nicht-täuschender Weise die Historiographie. Literarische Formen und Darstellungsweisen können nicht zuletzt auch eine Art der Kritik an Geschichtsschreibung oder Philosophie sein, da Literatur in ihrer Darstellung des Konkreten immer einen Überschuss an Informationen gegenüber den Abstraktionen der anderen Formen aufweist, der auch kritisch begründet werden kann. Literarische Darstellungsweisen spielen demnach als Vermittlungsformen, als Erkenntnisinstrumente, als Handlungs- und Gesellschaftsmodelle und als Formen der Kritik eine Rolle in anderen Diskursformationen. Bibliographie Arntzen, Helmut: Der Literaturbegriff. Geschichte, Komplementärbegriffe, Intention. Eine Einführung. Münster 1984. Gumbrecht, Hans Ulrich / K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M. 1988.
JOSEPH CARROLL
Literature as a Human Universal
1. The Adaptive Function of Literature The practice of making and consuming imaginative verbal artifacts appears in all known cultures.1 People all over the world, in all ecological and social conditions, play with the sounds and meanings of words, create imaginary worlds with intentional agents, goals, and symbolic images, and produce fantasy structures in which characters and events are linked in thematically significant ways to produce tonally modulated outcomes. Taking this cluster of characteristics as a working definition for the term ›literature‹, we can identify literature as a ›human universal‹. Universality gives strong prima facie evidence that any given cultural practice has roots in genetically mediated human dispositions, and all genetically mediated dispositions are the products of evolutionary history. (Writing and reading are of course not universal. Not all cultures are literate. Throughout this essay, whenever I use the word ›literature‹, I ask the reader always to understand this word as a short-hand term for the longer phrase ›literature or its oral antecedents‹). Within Darwinian social science, theorists have offered divergent opinions on whether the oral antecedents of literature evolved to fulfill an adaptive function. Steven Pinker argues that all the forms of higher imaginative culture – art, literature, religion, philosophy – are largely non-adaptive side effects from the evolution of adaptively functional cognitive aptitudes.2 Geoffrey Miller argues that artistic production primarily serves the purposes of sexual display.3 Other theorists have argued that literature and the other arts serve to convey adaptively relevant information, focus attention on adaptively relevant aspects of human behavior, or promote social cohesion.4 _____________ 1 2 3 4
Brown: Universals, p. 132. Pinker: Mind, pp. 534-543. Miller: Mind. Boyd: Theories.
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And finally, some theorists have argued that, while the arts can subserve other adaptive functions, they also have an adaptive function that is peculiar to their own nature. This final hypothesis guides my own thinking on the nature of literature.5 Humans have vastly greater cognitive and behavioral flexibility than other animals. Even the higher primates are capable of only very simple forms of analogical and inferential reasoning, and they do not, in all likelihood, possess reflective powers sufficient to assess their own motives, make conscious decisions about value structures, and subordinate immediate impulse to abstract concepts and symbolic figurations.6 In contrast to the instinctually regulated behavior of other animals, human behavior is crucially influenced by imagination. Humans perceive the world as a set of contingent circumstances containing complex causal processes and intentional states in other minds. Before taking action, they must weigh alternative scenarios in the light of competing values and impulses.7 By providing emotionally saturated images of the world and of human experience, literature and the other arts fulfill a vital psychological need. Through these images, readers can vicariously experience the affective and moral quality of alternative scenarios. Since that vicarious experience influences dispositions that eventuate in adaptively relevant behavior, literature seems to fulfill an adaptive function that could not be so well fulfilled in any other way. Human action depends on the human sense of value and meaning, and literature and the other arts provide a means for making the value and meaning of experience available to the imagination. Hypotheses on the adaptive function of literature help to guide research into the way literature actually works. Conversely, by examining how literature actually works, we can produce evidence bearing on the adaptive function of literature. In this essay, I describe a model of literature as a referential and communicative medium, I locate that model within a larger model of ›human nature‹, and I delineate universal features of literature through which humans adjust their own subjective sense of value and meaning. I argue that literature is a human universal because literature originates in the universal, evolved characteristics of human nature. This adaptationist conception of literature is relatively new and controversial, and in the final sections, I compare this conception with other, competing conceptions. Having made a case that psychological analysis should precede and constrain cultural analysis, I compare adaptationist psychology with the two psychological theories that have had the most influence on literary study – _____________ 5 6 7
J. Carroll: Revolution. Budiansky: Lion. Wilson: Consilience, pp. 112f.
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those of Freud and Jung. At the highest theoretical level, literary study now divides itself into two chief alternatives: traditional humanism and postmodernism. Taking the concept of human nature as a central point of reference, I compare adaptationist ideas with those of the humanists and the postmodernists. If we affirm, as I do, that adaptationist ideas best explain the relation between literature and human nature, we can also affirm that adaptationist ideas most fully illuminate the universal character of literary experience. 2. Literature as a Referential and Communicative Medium From the traditional humanistic perspective, authors are persons speaking to other persons about their shared interests within a world that they also share.8 Characters in drama and fictional narratives are intentional agents who occupy a world that they share with other intentional agents. Adopting a specifically Darwinian or ›adaptationist‹ perspective, I extend these traditional concepts into deep evolutionary time and posit a causal mechanism for them by observing that humans have evolved as social creatures within a physical environment that severely constrains action promoting survival and reproduction. From the adaptationist perspective, authors and readers are organisms that have evolved in adaptive relationship to an environment they share with one another. Literary characters and settings are simulacra of organisms within that shared environment. Darwinian studies of narrative and drama typically presuppose that literary works depict ›human nature‹ and are thus ›mimetic‹ or representational.9 I accept that assumption but incorporate it within a broader model of the purposes and effects of literary representation. Literature and its oral antecedents do not merely depict social behavior. As communicative interactions between authors and readers, they are themselves forms of social behavior. Authors select and organize their material for the purpose of generating emotionally charged evaluative responses in readers, and in this purpose they are generally successful. Readers become emotionally involved, participate vicariously in the experiences depicted, and form personal opinions about the characters. In this way, authors and readers collaborate in producing a simulated experience of emotionally responsive social interaction.10 The culture in which an author writes provides a proximate framework of shared understanding for the collaborative process between writer and _____________ 8 9 10
Abrams: Transformation, p. 115. J. Carroll: Study. Oatley: Fiction.
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reader, but every specific cultural formation consists in a particular organization of the elemental dispositions of human nature, and the elemental dispositions of human nature form the broadest and deepest framework of shared understanding between an author and an audience.11 When literary authors invoke the concept of ›human nature‹, they are participating in an intuitive ›folk psychology‹.12 By delineating the specific features in the folk psychological concept of human nature, we can reconstitute the shared framework of understanding within which authors interact with readers. That shared framework includes shared intuitions about the constitution of persons as agents with goals, the basic human motives, the qualities of emotion, the features of personality, the phases of life, the relations of the sexes, the relations of parents, children, and other kin, and organization of social relations. Readers and writers share intuitions about human nature, and they are also themselves subject to the forms of imaginative bias through which human beings organize their own motivational systems. 3. Human Nature and the Reproductive Cycle Natural selection operates by way of ›inclusive fitness‹, shaping instincts and dispositions so as to maximize the chances that an organism will achieve reproductive success and thus replicate its genes.13 In an earlier phase of Darwinian social science, ›sociobiologists‹ tended to envision ›fitness maximization‹ as a direct motivating force in human behavior. More recently, ›evolutionary psychologists‹ have distinguished between inclusive fitness as an ›ultimate‹ force that has shaped behavioral dispositions and the ›proximal‹ mechanisms that mediate those dispositions.14 The motives and emotions shaped by natural selection include those directed toward survival (obtaining food and shelter, avoiding predators) and toward reproduction, a term that includes both mating effort and the effort aimed at nurturing offspring and assisting other kin. In humans, inclusive fitness has produced behavioral dispositions that include bonding between mothers and offspring, long-term pair-bonding between adult males and females, shared parenting, a uniquely extended period of childhood development, an inclination to favor kin, a fundamental need for belonging to social groups, a drive to build coalitions and organize social groups hierarchically, and a disposition to divide social groups into in-groups and out-groups.15 _____________ 11 12 13 14 15
Scalise Sugiyama: Variation. Geary: Origin, p. 131. Alexander: Darwinism. J. Carroll: Darwinism, pp. 193f. Geary / Flinn: Evolution.
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Human nature includes differences between men and women, differences among infants, children, adolescents, adults, and the elderly, differences among mothers, fathers, and children, lovers, friends, and enemies, socially dominant and socially subordinate individuals, differences between people at work and play, and differences between people in peace and war. In casual invocations of the phrase ›human nature‹ – as in, ›Oh, that’s just human nature‹ – people usually have in mind one or another specific trait or characteristic. They might, for instance, be referring to the instinctive pursuit of self-interest, the tendency to give special preference to one’s own kin, the love of mothers for children or children for mothers, male attraction to female beauty, female attraction to male status and power, sexual jealousy, bias in favor of one’s own social group, or tendencies to selfjustification and self-deceit. Modern Darwinian social science envisions all the separate phases and conditions of life as an integrated structure regulated by inclusive fitness, and they denominate that structure, extending over time, as ›human life history‹. For every species, including the human, the species-typical pattern of life history forms a reproductive cycle.16 In the case of humans – as a pairbonded highly social species – that cycle centers on parents, children, and the social group. If parental care is successful, it produces children who are capable, as adults, of forming sexual pair bonds, becoming responsible members of a community, and producing children of their own. Effective participation in this cycle imposes definite constraints on the functional variability of human behavior. Consequently, appeals to ›human nature‹ often imply a normative model of human life history. In this context, the word ›normative‹ signifies distinctions between health and disease, and it signifies also a standard for what counts as developing successfully into a socially and reproductively competent adult. Individual authors need not feel personally and emotionally committed to a normative model of human life history, but that normative model forms the largest framework of intuitive shared understanding between any author and a general audience animated by a folk understanding of human nature. An author can work in tension with that framework – can resist it or seek to subvert it – but to communicate at all, the author must have reference to that shared framework. The species-typical pattern of human life history hinges on sexual and familial bonds within a socially supportive community, and this central cluster of concerns also regulates the structure of two basic literary genres: romantic comedy and tragedy. Romantic comedy typically concludes in a marriage that serves as a focal point for the resolution of conflicting social interests. In producing that resolution, the author affirms and celebrates _____________ 16
Low: Sex.
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the social organization of reproductive interests within a given culture. By participating vicariously in the sense of fulfillment, the reader also tacitly affirms and accepts the ethos of that social order. The resolutions of romantic comedy encapsulate moments in which competing fitness interests unite in a cooperative and reciprocally advantageous relationship, but no such relationship is perfect or permanent, and many are radically faulty. In tragedy, the most intimate relations of lovers and kin become pathological, and the bonds of community break down.17 In a subsequent section, we also consider the affective and perspectival features that distinguish romantic comedy and tragedy. All these aspects of genre – the themes lodged in motive concerns, affects, and the perspectival relations of readers, characters and authors – form an integrated complex in the total configuration of literary meaning, and all the elements in this complex originate in the universal features of an evolved and adapted human nature. 4. Agonistic Structure Conflict and cooperation are fundamental elements of social interaction. Friends and allies are people with whom we enter into cooperative and affiliative relations. Enemies are people who seek the resources we also seek and who thus attempt to dominate and exploit us. Humans form alliances, constitute themselves as distinct social groups, and compete with other people who also form distinct social groups.18 The psychology of ingroups and out-groups typically involves a systematic distortion in which one’s own group is invested with morally positive qualities and one’s enemies and competitors are invested with morally negative qualities. It is thus typical in war to glorify one’s own group and to emphasize its affiliative and cooperative character while treating of enemies as pure embodiments of the desire for domination. Suppressing or muting the sense of competition within a social group enhances the sense of group solidarity and organizes the group psychologically for cooperative endeavor.19 In literature, conflict typically manifests itself as an agonistically polarized structure. Authors invest characters with specific motives and features of personality; readers respond emotionally to those characteristics; and the emotional responses of readers correspond to the ›agonistic‹ roles to which readers assign characters. Protagonists typically embody the qualities to which readers respond in an emotionally favorable way, and _____________ 17 18 19
Frye: Anatomy, pp. 163-186, 206-223. Premack / Premack: Origins. Kurzban / Neuberg: Managing.
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antagonists typically embody the qualities to which readers respond in an emotionally negative way. Because agonistic structure is lodged within the constitution of human nature itself, it appears pervasively in drama and in fictional narratives of all periods and all cultures. Agonistic structure reflects and satisfies an adaptive psychological need to envision human social relations as morally polarized struggles – to envision ourselves and our associates as protagonists, and to envision our opponents as antagonists. Protagonists are agents seeking common human goals: survival, education, resources, social standing, love and marriage, family, and friends. Antagonists are agents who oppose them or obstruct them in some fashion. In the social organization of groups within dramas and fictional narratives, protagonists and their friends typically form communities of affiliative and cooperative behavior, and antagonists are typically envisioned as a force of social domination that threatens the very principle of community. By ministering to our protagonistic self-image, agonistic structure helps us to organize our behavior in ways that promote our own interests, and those interests are ultimately shaped by the regulative power of inclusive fitness. The agonistic organization of characters in novels and plays can thus be traced to a causal source in human psychology, and that causal source can be traced to an ultimate causal source in the adaptive logic of human evolution. 5. Basic Emotions, Tone, and Personality Human behavior is organized through motives – goal directed action that is prompted by needs rooted in the adaptive history of the species. Sex is a motive, and we seek mates. Social affiliation is a motive, and we seek friends and seek to make alliances. Nurturing offspring is a motive, and we seek to provide food, shelter, and education for our children. The most immediate, proximal mechanism for activating motives are emotions – feeling states that are caused and accompanied by distinct configurations of physiological and neurochemical changes manifesting themselves, on the phenomenal level, as qualities of sensation.20 Emotions prompt characters to action and can often be inferred from action. Moreover, characters often reveal their motives expressively or overtly declare their feelings, and authors often describe, analyze, and explain the emotions of their characters. Authors respond emotionally to their own characters – liking some, disliking others, grieving over some, and rejoicing with others. Literary critics can and often do assess emotions in characters, attribute emo_____________ 20
Plutchik: Emotions.
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tions to authors, infer emotional responses in an implied audience, and give expression to the critics‹ own emotional responses. Psychologists have identified universal emotions that mediate the basic motives of an evolved and adapted human nature. By isolating emotions that can be universally or almost universally recognized from facial expressions, Paul Ekman and other researchers ultimately produced a core set of seven ›basic‹ emotions: anger, fear, disgust, contempt, joy, sadness, and surprise.21 Different researchers sometimes use slightly different terms, register different degrees of intensity in emotions (for instance, anxiety, fear, terror, panic), organize the emotions in various patterns and combinations, or link them with self-awareness or social awareness to produce terms like embarrassment, shame, guilt, and envy. Despite these complications, this core group of seven emotions has wide-spread support as a usable taxonomy of basic emotions. Dramas and fictional narratives are typically organized around the motives of individual characters. Those motives over time constitute life plans, and the life plans have an emotional quality and an emotional tone that is modulated over time. This modulated sequence of emotions constitutes something like the musical score in a film, the emotionally evocative imaginative melody of a life, and the emotional melody within a character’s own life is interwoven with the emotional responses both of author and of reader.22 ›Tone‹ in a novel is a combined product of an author’s attitude toward the depicted subject, the emotional quality registered in the subject, and the affect produced in the mind of a reader. Joy, the pleasure of fulfillment in the pursuit of basic human needs, is the central emotion shared by readers in the response to romantic comedy. Fear and sadness are tragic emotions. Anger, contempt, and disgust are the core emotions activated in satire, but satire usually also involves some degree of ›amusement‹. Amusement thus bridges the range between hostile laughter – laughter of derision like that which accompanies Malvolio off stage in his yellow, cross-gartered stockings – and the laughter of affectionate condescension like that which accompanies Don Quixote in his attack on a windmill or a flock of sheep. Evolutionary psychology, as a distinct school, has tended to focus on human universals or species-typical characteristics in human beings. Personality psychology, in contrast, is a chief locus for the analysis of ›individual differences‹ among people. But all heritable elements of human nature are variable elements, and personality factors offer a way of linking the close analysis of individual identity with the elemental motives that are _____________ 21 22
Ekman: Emotions. N. Carroll: Art.
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rooted in the deep adaptive history of the species. Personality and emotions are closely related, and emotions and motives are also closely related.23 The features of personality dispose people to feel in certain ways. Disagreeable people tend to be hostile, either angry or cold; emotionally unstable people tend to be depressive and fearful; extraverts tend to be optimistic and enthusiastic, and so on.24 Such differences, important as they are in distinguishing individuals, are differences only of degree. In participating vicariously in the experiences depicted in literary texts, we share in the universal human emotions and the universal attributes of personality. The capacity for penetrating the perspectives of other people and of inhabiting multiple perspectives simultaneously is a universal, evolved feature of the human cognitive apparatus.25 In literature, and especially in drama and in fictional narrative, we can find the most highly developed form of that human capacity. The interplay of perspectives can operate in affiliative ways through empathy, and it can also operate for hostile purposes in assessing the intentions of an enemy, unveiling duplicity and deceit, and seeking to dominate the perspectives of others. The agonistic capabilities of perspectival penetration fall broadly into the three main generic categories that are produced by combinations of basic emotions: comedy, tragedy, and satire. Comedy and tragedy both activate affiliative dispositions. They enable the reader either to participate happily in the good fortunes of a protagonist – some character they like and admire – or to share with sorrow the protagonist’s unhappiness. All satire is designed to ridicule and is thus hostile in intent. Irony is the tonal basis of satire. The ironist simultaneously evokes the perspective of its target while encompassing that perspective within a perspective from which the evoked target appears contemptible. The discrepancy between the two perspectives produces laughter through the sense of absurdity, and the laughter is strongly tinged with dislike. The satirist achieves perspectival dominance over his or her target, and contempt for the target is an integral emotional feature in the satisfaction produced by this dominance. By engaging the reader’s empathy for protagonistic characters and activating an alienating distaste for antagonistic characters, authors enable readers to simulate an emotionally responsive social interaction with the characters.
_____________ 23 24 25
MacDonald: Evolution. Buss: Adaptation. Baron-Cohen: System.
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6. Realism and Symbolism Ghosts, vampires, dragons, magical carpets, genies in lamps, immortal souls, the nine circles of hell, the celestial city, talking animals, time travel, invasions from Mars, magic potions, people who live happily ever after, fairies, elves, goblins, witches, miraculous coincidences – all of these are objects depicted in literary texts. Clearly, literature does not necessarily depict real objects, but the humans who do the depicting and the humans who read the depictions are real. All depicted objects in literature, if they are not merely random, are charged with human meaning and human emotions. Every object depicted in a literary text can be understood in relation to its source and in relation to the effect it has on readers, and every object can also be compared with what we know or suspect about what actually does exist. By comparing reality with the depicted objects of literature, we can better understand how the depictions work and what they are designed to accomplish. Literary figuration can be located on a continuum that consists at one polar extreme in what I shall call ›mimetic verisimilitude‹ and at the other in what I shall call ›symbolic fantasy‹. Mimetic verisimilitude is the figurative mode through which literature assimilates the particulars of commonplace reality, and symbolic fantasy is a medium through which those commonplace particulars are integrated into affectively modulated imaginative structures. Mimetic verisimilitude consists in depictions that seek to reflect ordinary reality as if the depiction were an accurate and objective account of real people in real places involved in real situations and engaged in real actions. Symbolic fantasy, in contrast, is the medium of myth and fairy tale. The objects depicted in symbolic fantasy need have no more objective reality than the figments of dreams or the hallucinations of delirium, but unlike dreams and hallucinations, the images of symbolic fantasy are organized and purposeful. They are the forms in which the literary imagination commonly envisions experience, and those forms consist most characteristically in metaphor and personification. The metaphors can consist in single images or in elaborately interwoven ›motifs‹ of multiple and repeated images. They can even consist in elaborately contrived arrangements of plot, theme, tone, and style that are designed to reveal the essential relationships within a set of characters, to exemplify the nature of social processes or institutions, or to exemplify the structure of nature itself. A complex of depicted characters, scenes, and events can serve to encapsulate a religious or philosophical vision of the world, or it can serve to exemplify the interaction among the elements within the personal identity of an author.
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Realism depends on elementary, universal aspects of human experience: shared participation in a physical world, shared sensations of physical needs like hunger, thirst, and sexual desire, shared intuitions into the elementary nature of individuals as persons with beliefs, motives, and goals, and a shared understanding of the elemental structures of human life history. All depiction at least tacitly invokes some of these universal aspects of human experience. Without these points of reference, symbolic fantasy would simply be unintelligible. Symbolic fantasy is thus itself necessarily impregnated with realism. Conversely, the local and particular depictions of realist fiction can be conceived as instantiations of universal elements of human experience, and they are, in that respect, symbolic. In their fully elaborated and articulated form, symbolic figurations are not necessarily universal. Myths and religious fantasies, for example, are culturally local, but all myths and religious fantasies are made up of constituent elements that are informed by the elemental, universal components of the human psyche. (Among the universal figurative elements in myths and religions, family motifs – mothers, fathers, children – bulk particularly large.) The substantive constituents of symbolic fantasy are legion, but they tend to cluster in the ›elemental‹ or primary aspects of life. They consist often in forces or elements of nature, for instance, lightning and thunder, rivers, mountains, and oceans, earthquakes and floods. And they consist also in personified elements of human nature – love and hatred, dominance and submission, gloom, despair, and hope. They consist in reductions of characters to elemental social roles such as mother, child, brother, sister, friend, enemy, master, and slave. And they consist in personified moral concepts such as good and evil, remorse, redemption, justice, betrayal, and retribution. They consist in the phases and aspects of life, in youth and age, birth and death, sickness, health, beauty, and ugliness. They consist of wild beasts, of jackals, hyenas, lions, snakes, wolves, and insects, of filthy things, excreta and decay, and of things sweet, fragrant, and lovely, flowers and the freshness of morning or spring. In all these aspects, the metaphoric constituents of symbolic fantasy depend crucially on elemental affective dispositions that mediate the elemental motive structures of human life history. 7. Human Universals and Psychological Literary Study Much current literary criticism identifies itself as cultural critique, and the emphasis on specific forms of culture clearly gives access to a major dimension of literary meaning. Humans are social animals, and there are virtually no human beings who exist outside of culture, or whose personal
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identities are not profoundly influenced by the culture in which they happen to live. Nonetheless, in causal sequence, the elemental forces in life are prior to cultural formations, and psychological analysis should accordingly precede and constrain cultural analysis. Physiological processes and the drives for survival and reproduction have been conserved in humans from ancestral organisms that precede the evolution of mammals. Like all mammals, humans are physically dependent on live birth and motherinfant bonding, and that physical dependence fundamentally influences all specifically human forms of psychological organization. Specifically human dispositions for mate selection, pair-bonding, parenting, and kin association precede and constrain all specific cultural forms for the organization of marriage, family, and kin. Humans share with social primates the elementary dispositions of affiliation and dominance, and those dispositions constrain all specific forms of social organization. All forms of cultural imagination – religious, ideological, artistic, and literary – are imbued with the passions derived from the evolved and adapted dispositions of human nature. Literature and the other arts derive their deepest emotional force from those dispositions.26 In seeking explanatory reductions of the psychological processes at work in literature, literary scholars have made far more use of Freudian depth psychology than of any other form of psychological theory. For generations now, literary scholars who have had some intuitive conviction about the psycho-symbolic structure of literary figuration have been drawn, as if by a fatal necessity, into the vortex of Freudian critique. The attractive force exercised by Freud has in good part been a force exercised in a vacuum. Freud offers a comprehensive, internally coherent, and provocatively sensationalistic explanation of the structure of the psyche, the most intimate bonds of family life, sexual identity, and the phases in the development of the individual personal identity. He sketches out a rudimentary theory of literature as a form of wish fulfillment fantasy projection, but that theory has been far less influential than the theory of psycho-symbolic figuration articulated in The Interpretation of Dreams. For much of the twentieth century, if one wished to explore psychosexual development and psycho-symbolic figuration, and to do so in a systematic and theoretically consequent way, there were few alternatives outside the work of Freud. Within the field of psychology proper, Freud’s theories have drifted steadily into the backwaters of obsolete speculative notions. Those notions were systematically developed, but their distinctive character depended more on the peculiar stamp given to them by the personality of their originator than by any claim they might have had to empirical validity. The _____________ 26
McEwan: Literature.
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subjects of Freud’s speculations – human family relations, sexual identity, the structure of the psyche, and the phases of individual development – are essential components of human experience and thus of literary meaning. The account Freud and the Freudians give of those subjects, though, is radically flawed. The Oedipal theory is at the very center of Freud’s thinking on human development and on the psychological foundations of culture. One of the display pieces of a specifically adaptationist understanding of human psychology is the decisive demonstration that the Oedipal theory is quite simply mistaken.27 Freud is still cited respectfully by literary critics, but he no longer serves, very often, as a primary, unmediated source. Most postmodern literary criticism has at least a tinge of psychoanalytic thinking about it, and much of it is dyed through and through with psychoanalytic thinking, but most practical psychoanalytic criticism is derived from second and thirdgeneration Freudian theorists. Overwhelmingly, for literary study, the most important of such later Freudian theorists is Jacques Lacan. One hears now very seldom of the ego and the id, and even less often of anal and oral stages of development, but one still hears constantly of the Phallus and The Mirror Stage of Development. Such theories, like those of Freud himself, have an obvious suggestive appeal, but like Freud’s theories they also contain much that is simply false and mistaken. Moreover, Lacan’s Freudian ideas are bound up with poststructuralist linguistic ideas, and Lacan’s theories thus extend psychology still further into the region of speculation divorced from empirical constraint. In the early and middle parts of the twentieth century, the one chief alternative to Freud, for psychological theory relevant to literary study, was that of Freud’s apostate disciple, Jung. Freud was himself concerned chiefly with the personal unconscious of individuals, and Jung, in his own understanding of his work, was concerned with a broader and deeper subject – that of the collective unconscious of the whole human race. Jungian archetypal theory provided a major stimulus to the comprehensive taxonomical effort of Northrop Frye’s Anatomy of Criticism, and Frye was widely recognized as one of the most creative and commanding intellects in literary study in the twentieth century. Nonetheless, in the early 1980s, archetypal criticism quietly faded out of existence, and Frye’s taxonomy has produced no substantial fruits within at least the past two decades. In a formulation that has become a standard point of reference for adaptationist psychology, the Dutch ethologist Niko Tinbergen identifies four areas in which research into animal behavior should seek integrated _____________ 27
Daly / Wilson: Homicide, pp. 107-121.
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answers: phylogeny, ontogeny, mechanism, and adaptive function.28 Phylogeny concerns the evolutionary history of a species and ontogeny the individual development of an organism within that species. Jung’s chief range of interest was that of phylogeny, and Freud’s that of ontogeny. Because of advances in adaptationist social science, we now have means for exploring both these areas in scientifically fruitful ways that were not available to Jung and Freud. Adaptationist psychology operates both on the scale of conserved ancestral psychic structures envisioned by Jung and also on the scale of individual development on which Freud concentrated his attention. By integrating research in these fields with research into psychological mechanisms, and by locating all three forms of explanation within an adaptationist understanding of adaptive function, we can replace the speculative theories of Jung and Freud with theories that involve the same range of universal human concerns but that can produce empirically valid results. 8. Humanism, Postmodernism, and Adaptationist Literary Study Since the late 1970s, the predominating theoretical framework of literary study has been that of ›poststructuralism‹ or ›postmodernism‹. The two chief tenets of poststructuralism are ›textualism‹ and ›indeterminacy‹. Proponents of textualism affirm that everything we know or think we know is fundamentally constituted by language. In Derrida’s famous formulation, »Il n’y a pas de hors texte« – there is no outside the text; there is nothing outside the text.29 Proponents of indeterminacy affirm that all meaning is selfsubversive and that, consequently, no determinate meaning is possible. In Fredric Jameson’s formulation, »›Poststructuralism‹, or, as I prefer, ›theoretical discourse‹, is at one with the demonstration of the necessary incoherence and impossibility of all thinking.«30 In its political aspect, poststructuralism seeks to undermine traditionally dominant terms in social, psychological, and sexual concepts. In modern Western civilization, science is itself a dominant cultural value, and poststructuralist theories of science seek to undermine the ideas of ›truth‹ and ›reality‹ through which science claims normative epistemic authority.31 The epistemological stance of adaptationist literary theory differs fundamentally from that of the postmodernists. In adopting the framework _____________ 28 29 30 31
Tinbergen: Aims. Derrida: Grammatology, p. 158. Jameson: Postmodernism, p. 218. Gross / Levitt: Superstition.
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of Darwinian social science, adaptationist literary scholars adopt along with it a comprehensive rationale for integrating all disciplines under the achieved knowledge of the sciences. For adaptationist literary scholars, nature forms a unified causal network, and science provides an integrated understanding of that network. The subjects of the sciences form a hierarchy of causal forces in which the more elementary principles of the natural order constrain phenomena at higher levels. Physics constrains chemistry; chemistry constrains biology; biology constrains psychology and the other human sciences; and the evolutionary social sciences constrain the study of all cultural products, including literature and the other arts. In Consilience: The Unity of Knowledge, Edward O. Wilson makes a forceful case for this comprehensive vision of nature and knowledge, and he argues that the humanities present the ultimate challenge to those who believe that all phenomena can ultimately be brought within the range of scientific understanding. Adaptationist literary scholars seek to meet this challenge. Whether traditionally humanistic or poststructuralist in orientation, literary criticism over the past century has spread itself along a continuum between two poles. At the one pole, eclectic general knowledge provides a framework for impressionistic and improvisatory commentary. At the other pole, some established school of thought, in some domain not specifically literary, provides a more systematic vocabulary for the description and analysis of literary texts. The most influential schools have been those that use Marxist social theory, Freudian psychology, Jungian psychology, phenomenological metaphysics, deconstructive linguistic philosophy, and feminist gender theory (the theory of ›patriarchy‹). Poststructuralist literary criticism operates through a synthetic vocabulary that integrates deconstructive epistemology, postmodern Freudian analysis (especially that of Lacan), and postmodern Marxism (especially that of Althusser, as mediated by Jameson). Outside of literary study proper, the various source theories of poststructuralism converge most comprehensively in the cultural histories of Michel Foucault, and since the 1980s, Foucauldian cultural critique has been overwhelmingly the dominant conceptual matrix of literary study. Foucault is the patron saint of New Historicism, and in England and America, New Historicism remains the most pervasive, allencompassing approach to the study of literature. Post-colonialist criticism is a sub-set of historicist criticism and employs its synthetic vocabulary chiefly for the purpose of contesting Western hegemony. Queer theory is another sub-set of historicist criticism and employs the poststructuralist vocabulary chiefly for the purpose of contesting the normative character of heterosexuality. Most contemporary feminist criticism is conducted within the matrix of Foucauldian cultural critique and dedicates itself to contesting patriarchy – the social and political predominance of males.
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Each of the vocabulary sets that have come into prominence in literary criticism has been adopted because it gives access to some significant aspect of the human experience depicted in literature – class conflicts and the material base for imaginative superstructures, the psycho-symbolic dimensions of parent-child relations and the continuing active force of consciously repressed impulses, ›mythic‹ images derived from the ancestral experience of the human race, elemental forms in the organization of time, space, and consciousness, the irrepressible conflicts lying dormant within all partial resolutions, or social gender identity. All of these larger frameworks have had some utility and have enabled some insights not readily available through other means. They have nonetheless all been flawed or limited in one crucial respect. None of them has come to terms with the reality of an evolved and adapted human nature. Humanist critics do not often overtly repudiate the idea of human nature, but they do not typically seek explanatory reductions in evolutionary theory, either. Instead, they make appeal to some metaphysical, moral, or formal norm – cosmic equilibrium, charity, passion, moderation, the integration of form and content, or some such – and they typically represent this preferred norm as a culminating extrapolation of the common understanding. Postmodern critics, in contrast, subordinate folk concepts to explicit theoretical formulations – deconstructive, Marxist, Freudian, feminist, and the rest – and they present the characters in literature as allegorical embodiments of the matrix terms within these theories. In their postmodern form, all these component theories emphasize the exclusively cultural character of symbolic constructs. ›Nature‹ and ›human nature‹, in this conception, are themselves cultural artifacts. Because they are contained and produced by culture, they can exercise no constraining force on culture. Hence Fredric Jameson’s dictum that »postmodernism is what you have when the modernization process is complete and nature is gone for good«.32 From the postmodern perspective, any appeal to ›human nature‹ would necessarily appear as a delusory reification of a specific cultural formation. By self-consciously distancing itself from the folk understanding of human nature, postmodern criticism loses touch both with biological reality and with the imaginative structures that authors share with their projected audience. In both the biological and folk understanding, as in the humanist, there is a world outside the text. From the adaptationist perspective, the human senses and the human mind have evolved in adaptive relation to a physical and social environment about which the organism urgently needs to acquire information.33 An adaptationist approach _____________ 32 33
Jameson: Postmodernism, p. ix. Lorenz: Rückseite.
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shares with the humanist a respect for the common understanding, and it shares with the postmodern a drive to explicit theoretical reduction. From the adaptationist perspective, folk perceptions offer insight into important features of human nature, and Darwinian social science makes it possible to situate those features within broader biological processes that encompass humans and all other living organisms. Literature is a human universal because it is grounded in the biological reality of human life. Literature depicts human nature and satisfies the needs of human nature. Whatever our theoretical orientation might be – humanist, postmodern, or adaptationist – we all have imaginative access to literature from all periods and all cultures. No matter what theory we hold, we all participate in the common, universal attributes of human nature. We benefit from the common, evolved human capacity for intuiting universal human motives and sharing in universal human emotions. Our cognitive apparatus is designed by natural selection to envision characters as agents driven by passions, informed by beliefs, and orienting their actions toward goals. We all share in the universal human disposition to envision social relations in agonistically polarized ways. ›Realism‹ is imaginatively effective because we all share in the same basic conditions of life – the same physical conditions, the same elemental forms of social interaction, and the same elemental passions. Symbolic fantasy is imaginatively effective because even our most fantastic imaginings are tightly constrained by the universal cognitive and affective dispositions that have evolved through natural selection. By delineating the evolved and adapted structure of human nature, we can gain analytic access to the universal basis of literary depictions, and we can thus bring our theoretical perspective on literature into alignment with our actual experience of literature. Bibliography Abrams, M. H.: The Transformation of English Studies: 1930-1995. In: Daedalus 126 (1997), pp. 105-132. Alexander, Richard: Darwinism and Human Affairs. Seattle 1979. Baron-Cohen, Simon: The Empathizing System: A Revision of the 1994 Model of the Mindreading System. In: Bruce J. Ellis / David F. Bjorklund (eds.): Origins of the Social Mind: Evolutionary Psychology and Child Development. New York 2005, pp. 468-492. Boyd, Brian: Evolutionary Theories of Art. In: Jonathan Gottschall / David Sloan Wilson (eds.): The Literary Animal: Evolution and the Nature of Narrative. Evanston/IL 2005, pp. 147-176. Brown, Donald: Human Universals. Philadelphia 1991. Budiansky, Stephen: If a Lion Could Talk: How Animals Think. London 1998.
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CHRISTOPH REINFANDT
Literatur als Medium
Kaum eine Entwicklung hat die Grenzen der Literatur so deutlich markiert wie der so genannte medial turn am Ausgang des 20. Jahrhunderts.1 »Medienreflexion«, so schreibt etwa Wolfgang Iser aus der von ihm entworfenen anthropologischen Perspektive, »rückt die Literatur in Nachbarschaft zu anderen Medien, deren zunehmende Bedeutsamkeit im zivilisatorischen Prozeß zu erkennen gibt, in welchem Maße Literatur ihre zentrale Stellung für die kulturelle Paradigmatik verloren hat.«2 Und Jochen Hörisch spricht gar wortspielerisch vom ›Ende der Vorstellung‹, das dadurch herbeigeführt werde, dass das Buch »[z]usammen mit der klassischen Öffentlichkeit (und ihrem Komplement: der Privatsphäre), zu deren Strukturierung es entschieden beitrug, […] an die Peripherie des entfalteten Medienzeitalters [wandert]«.3 An die Frage, welche Funktionen die Literatur im technischen Zeitalter hatte, schließt sich vielfach die skeptischere Frage an, welche Funktionen ihr im Medienzeitalter bleiben,4 und die Chancen, die der Literatur in der Medienkonkurrenz5 des ausgehenden 20. und anbrechenden 21. Jahrhunderts eingeräumt werden, sind oft minimal.6 Und dennoch: Zeitgleich mit den modischen Abgesängen auf die Relevanz der Literatur und die Buchkultur insgesamt zeichnet sich eine neue Wertschätzung der Literatur ab, die deren Grenzen Rechnung trägt und so ihre spezifische Leistungsfähigkeit genauer zu beschreiben vermag. Wolfgang Iser etwa fasst seine diesbezüglichen Überlegungen unter der manifestartigen Überschrift »Why Literature Matters« zusammen und identifiziert dabei neben gängigen, aber nicht länger literaturspezifischen Funktionszuweisungen wie Unterhaltung und Freizeitbeschäftigung einerseits und In_____________ 1 2 3 4 5 6
Vgl. zum ›medial turn‹ Weber: Medienpoiesis; Margreiter: Medialität. Iser: Das Fiktive, S. 10. Hörisch: Ende, S. 130. Vgl. etwa Elm / Hiebel: Maschinen; Segeberg: Zeitalter; Segeberg: Medienzeitalter. Vgl. zu diesem schon früh geprägten Begriff Saxer: Buch; Saxer: Literatur. Vgl. etwa Birkerts: Gutenberg Elegies.
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formation und Dokumentation andererseits drei grundlegende Funktionen, die übrig bleiben, nachdem die Literatur ihre »formerly all-encompassing function« verloren hat,7 nämlich 1) die Rolle der Literatur als Medium für die Aneignung und Verhandlung von kulturellem Kapital im Kampf um soziale Anerkennung, 2) die Rolle der Literatur als Medium für Kreativität und die Bereitstellung von Irritationen und Innovationen in der Kultur und 3) die Rolle der Literatur als Medium der menschlichen Selbst-Inszenierung.8 All diese Funktionen beschreiben Literatur im Hinblick auf ihre mediale Funktionalität, ohne dass dabei allerdings der zugrunde liegende Medienbegriff in irgendeiner Weise expliziert würde. Zugleich zeichnet sich dabei eine vorausgesetzte Distanz, ja ein kritisches Potential der Literatur gegenüber ›standardisierten‹ gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen ab, und so verwundert es nicht, dass Iser am Ende seines Manifests die Stärke der Literatur gerade in ihrer Marginalität erblickt.9 In ganz ähnlicher Weise wendet Jochen Hörisch seine Diagnose der neuen Marginalität der Literatur ins Positive: Das Buch, so schreibt er, wird – im doppelten Sinne des Wortes – exzentrisch: Es hat nicht länger eine zentrale oder gar unersetzliche Funktion (für Kommunikation und Gesellschaft), und es reagiert darauf häufig genug in exzentrischer Weise (d.h. Literatur wird schwierig, abseitig, a-normal). Aber lässt sich von der Peripherie her nicht besser beobachten, was im tumultösen Zentrum vor sich geht?10
Und auch Salman Rushdie verweist aus der Sicht des Praktikers (und aus gegebenem Anlass) auf die durch die spezifische Medialität der Literatur gewährleistete größtmögliche Freiheit: Literature is the art least subject to external control, because it is made in private. The act of making it requires only one person, one pen, one room, some paper […] Literature is the most low-technology of art forms. It requires neither a stage nor a screen. It calls for no interpreters, no actors, producers, camera crews, costumiers, musicians. It does not even require the traditional apparatus of publishing, as the long-running success of samizdat literature demonstrates.11
All dies könnte man natürlich als Pfeifen im Walde angesichts einer ernsthaften und nicht vermeidbaren Bedrohung für die Literatur (und die Literaturwissenschaft) abtun. Dagegen spricht allerdings die gerade in zahlreichen Texten der jüngeren Gegenwartsliteratur zu beobachtende Ausnutzung eines spezifisch literarischen Potentials der Weltbeobachtung, das häufig eine explizite Medienreflexion beinhaltet und gerade aus der Auseinandersetzung mit dieser Dimension der Kultur seine besondere Leistungsfähig_____________ 7 8 9 10 11
Iser: Literature, S. 13. Ebd., S. 14, 16, 19. Ebd., S. 22. Hörisch: Ende, S. 130. Rushdie: Homelands, S. 424.
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keit bezieht.12 Und auch Oliver Jahraus plädiert in seinem umfassenden und grundlegenden Versuch, Literatur als Medium zu begreifen, für eine »positive Bestimmung der angeblichen Krisensymptomatik«,13 da, »nachdem sich die Literatur als Medium und Mediensystem erst einmal konstituiert hatte, jede weitere Medienentwicklung den spezifisch medialen Charakter der Literatur nur noch verstärkt hat, auch wenn dabei«, wie Jahraus durchaus zugesteht, »Verluste in der Rezeptionshäufigkeit zu verbuchen sind«.14 Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die bei Hörisch und vielen anderen nicht hinreichend beachtete Unterscheidung von Buch und Literatur, denn, so Jahraus, »[d]er Verlust des Status als Leitmedium betrifft das Buch als Medientechnologie, nicht jedoch die Literatur als Mediensystem«.15 Bei den im Folgenden entwickelten Überlegungen zu Literatur als Medium wird es darum gehen, die hier angedeutete Unterscheidung von materialem und konzeptuellem Medienbegriff aufzugreifen, um das von Jahraus identifizierte »technizistische Missverständnis«16 zahlreicher Untergangsszenarien zu vermeiden und größere Kontinuitäten in den Blick zu bekommen.17 Zwar kann man mit Hans Ulrich Gumbrecht zugestehen, dass man trotz der Achtungserfolge […] bestimmter postmoderner Gattungen und Diskurse […] die Frage nicht mit einem Tabu belegen [sollte], ob das Medium ›Literatur‹, dessen Kontinuität in der westlichen Kultur ihren historischen Beginn gehabt hat, nicht mittlerweile in die Nähe ihres historischen Endes gelangt sein könnte.18
Doch verspricht der auch in Gumbrechts historischer Skizze angedeutete Versuch, Literatur sowohl in ihrer spezifischen medialen Gebunden- und Begrenztheit als auch in ihrer mediengeschichtlichen Situiertheit zu beschreiben, bei Berücksichtigung der Ebenendifferenz zwischen der Materialität der Medien einerseits und systemisch-konzeptuellen Dimensionen der Medialität andererseits grundlegende Einsichten in größere Zusammenhänge kultureller Funktionalität, die wohl am treffendsten mit der englischen Formulierung ›literacy in transition‹ identifiziert werden können.19 Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen daher die Begriffe ›Medium‹, ›Medialität‹ und ›literacy‹, in deren Licht eine medientheoretisch _____________ 12 13 14 15 16 17 18 19
Für zwei herausragende Beispiele der amerikanischen und der englischen Literatur vgl. Reinfandt: Literatur; Reinfandt: Media History. Jahraus: Literatur, S. 21. Vgl. dazu auch Binczek: Interpretationstheorie. Jahraus: Literatur, S. 579. Ebd. Ebd., S. 586. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Donald Sassoons monumentale, auf ›culture and cultural production‹ unter sich wandelnden medialen Bedingungen ausgerichtete Studie zur ›Kultur der Europäer‹ seit 1800. Vgl. Sassoon: Culture. Gumbrecht: Medium, S. 105. Vgl. Baumann: Literacy.
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begründete Auffassung von Literatur entwickelt wird, deren historische Funktionalität sich vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von Mediengeschichte und Modernisierung entfaltet. Auf der so entwickelten Grundlage soll dann schließlich zusammenfassend der Stellenwert der Literatur in der Medienkultur der Moderne beschrieben werden. I. Medientheoretische Dimensionen von Literatur Eine allgemeine und universelle Definition von Literatur ist in der Regel auf das ihr zugrunde liegende Medium der Schrift ausgerichtet, häufig ergänzt durch eine Bezugnahme auf den Buchdruck wie in der folgenden Definition: »Literatur […] bezeichnet dem Wortsinn nach die Gesamtheit aller schriftlichen, in gedruckter Form verbreiteten und überlieferten Schriftwerke und Texte.«20 Grundsätzlich aber gilt auch: »Nicht alle Texte […], die wir ›Literatur‹ nennen, waren primär in Buchform gedruckte Texte, und nicht alle gedruckten Bücher nennen wir ›Literatur‹.«21 Damit deutet sich an, dass es produktiver ist, den medialen Charakter der Literatur jenseits der Materialität ihrer Medien Schrift und Buchdruck zu bestimmen, und in der Tat heben engere Literaturbegriffe in der Regel auf eine bestimmte Verwendung von Texten ab. Dies gilt sowohl für den umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes ›Literatur‹ – wie etwa in dem Satz ›Ich interessiere mich für Literatur zum Thema Fischzucht‹, der das alteuropäische Verständnis von Literatur als ›Schrifttum‹ und ›Buchwissen‹ fortschreibt – als auch für die in der westlichen Welt wirkmächtigste Definition eines engeren und zugleich Universalität beanspruchenden Literaturbegriffs, der sich nach langer Vorgeschichte22 in der Sattelzeit kurz vor 1800 endgültig durchsetzt und bis heute dominant geblieben ist: Literatur als nicht zweckgebundenes, imaginatives und vielfach fiktionales Schrifttum.23 Ein über die Materialität ihrer Medien hinausgehendes Verständnis von Literatur als Medium muss also einen Medienbegriff entwickeln, der der für diesen Literaturbegriff charakteristischen Verwendung von Texten Rechnung trägt.24 _____________ 20 21 22 23
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Zimmermann: Literatur, S. 180. Gumbrecht: Medium, S. 83. Vgl. zu dieser Vorgeschichte die historische Skizze in Gumbrecht: Medium, S. 87-99; ausführlicher Reinfandt: Kommunikation, S. 85-116, 147-180. Vgl. dazu bündig Culler: Literary Theory, S. 21: »Prior to 1800 literature and analogous terms in other European languages meant ›writings‹ or ›book knowledge‹. […] The modern Western sense of literature as imaginative writing can be traced to the German Romantic theorists of the late 18th century.« Zwar ist es auch möglich, ein historisch weiter ausgreifendes Verständnis von Literatur als ritualisierter Sprachverwendung zu formulieren, deren kulturelle Relevanz sich paradoxerweise in einer gewissen spielerischen Distanz zu anderen kulturellen Prakti-
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Die historisch-kulturelle Spezifik der Medienverwendung markiert dabei die Medialität des Mediums,25 und die Medialität als historisch-kulturell kodierte Eigengesetzlichkeit und Spur des Mediums transzendiert intendierte oder kontrollierte Bedeutungen.26 Medialität erweist sich also, wie Oliver Jahraus betont, als »Bedingung der Möglichkeit von Medien«,27 und in diesem Sinne ist die »Medialität von Literatur weder auf Schrift(lichkeit) noch auf das Buch als Grundlagenmedium zurückzuführen«, sondern muss vielmehr »als prozessuales Geschehen konzeptualisiert« werden.28 Um was für ein Geschehen handelt es sich hier? Oliver Jahraus beschreibt aus der von ihm entwickelten (system-)theoretischen Perspektive zunächst »Textualität […] als Epiphänomen von Medialität« und »Textinterpretation als Epiphänomen von medialer Wahrnehmung in kognitiver sowie kommunikativer Bearbeitung«,29 um schließlich das Bewusstsein als »Letztbegründungsinstanz« und »Fundierungsebene« von Medialität zu identifizieren.30 Damit ist der entscheidende Schritt getan: Die Medialität von Literatur gründet, so Jahraus’ Hauptthese, auf der in Textualität vermittelten strukturellen Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation, und aus eben dieser theoretischen »Letztbegründungsfigur«31 lässt sich dann auch das mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert endgültig etablierte spezifisch moderne Verständnis von Literatur herleiten, dessen kulturelle Funktionalität sich an dem Problem der kulturellen Validität von Subjektivität abarbeitet.32 Subjektivität erscheint unter diesen Vorzeichen als »Me-
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ken begründet und sich zugleich in ganz unterschiedlichen materiellen Medien von der mündlichen Überlieferung über das Theater und Manuskripte bis hin zum Buchdruck und den elektronischen Medien realisiert. Doch wird eine solche Konzeption der historischen und kulturellen Spezifik der jeweils in den Blick genommenen Sprach- und Textverwendungen nur bedingt gerecht. Vgl. Hickethier: Einführung, S. 26. Vgl. Krämer: Sprache; zusammenfassend Voigts-Virchow: Introduction, S. 22. Jahraus: Literatur, S. 46. Vgl. dazu folgenden ausführlicheren Kommentar zu verschiedenen Ausprägungen von Medientheorie: »Eine Medientheorie in diesem Sinne ist keine Theorie technischer Medien und keine Theorie einzelner Medien, mithin keine Theorie der technischen Organisation gesellschaftlicher Kommunikation, sondern eine Theorie fundamentaler Medialität, die jeder empirischen Konkretisierung vorausgeht, also eine transzendentale Klärung der Bedingung von Medium (als einer operativen Abstraktion medialer Funktion) und von Medien (ihrer technischen Konkretion).« (Ebd., S. 70) Ebd., S. 13. Ebd., S. 66. Ebd., S. 95f. Ebd., S. 228. Vgl. dazu ausführlich Reinfandt: Kommunikation.
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dienprozeß«,33 und »Medientheorie [als] Komplement zur Subjekttheorie: Wo das Subjekt fungierte, fungieren die Medien.«34 Auf Seiten des Bewusstseins kommt hier der Begriff der literacy ins Spiel, für den es im Deutschen keine Entsprechung gibt. Im engeren Sinne und wörtlich übersetzt bezeichnet ›literacy‹ zwar Lese- und Schreibkompetenz, aber diese impliziert viel mehr: Abstraktions- und Denkvermögen, Analyse- und Synthesefähigkeit, kulturelles Wissen, Kritik- und Urteilsvermögen, Erzählkompetenz, Selbst- und Weltverständnis, kurz eine ideologische Praxis,35 die den Umgang mit Texten und Medien aller Art und schließlich auch mit der Welt umfasst.36 Literacy in einem enger gefassten Sinne schlägt aber zugleich die Brücke zur Seite der Kommunikation: Es ist die Schrift und dann als Verstärker der Buchdruck, die die Möglichkeit eröffnen, den Schritt von der Interaktion unter Anwesenden zu einer unpersönlichen Kommunikationsform zu machen, in der die Anwesenheit der Teilnehmer nicht mehr vorausgesetzt werden muss, so dass sich die Eigendynamik der Medialität drastisch verstärken kann.37 Die besondere Bedeutung der Literatur ergibt sich nun zunächst aus ihrer Schriftgebundenheit, da die Einführung der Schrift für die westliche Kultur eine prägende »Ursituation« markiert.38 Neben der Speicherkapazität der Schrift spielt dabei vor allem die Emanzipation der Re-Präsentationsfähigkeit eine Rolle: Während audiovisuelle Texte nicht ohne Metakommunikation negieren können, eröffnet die Schrift in ihrem Absehen von der analogen Repräsentation des Gehörten oder Gesehenen die Möglichkeit der unmittelbaren Negation, wodurch die kulturelle Disponibilität von Sinn drastisch erhöht wird.39 Zugleich etablieren sich mit der Unterscheidung von Stimme und Schrift spezifische, fortan dem historischen _____________ 33 34
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Jahraus: Literatur, S. 165. Ebd., S. 301. Vgl. auch mit ähnlicher, aber weniger medial ausgerichteter Stoßrichtung die monumentale »Theorie der Subjektkulturen«, die Andreas Reckwitz unter dem Titel Das hybride Subjekt vorgelegt hat. Reckwitz begreift das Subjekt nicht länger als Ursprung soziokultureller Praktiken, sondern vielmehr Subjektformen als Ergebnis soziokultureller Praktiken. Vgl. dazu grundlegend Street: Literacy. Dementsprechend ist der heutige Gebrauch des Begriffs ›literacy‹ im Internet von einer Tendenz zur Wortzusammensetzung geprägt: ›visual literacy‹, ›information literacy‹, ›media literacy‹, ›computer literacy‹, ›technological literacy‹, ›environmental literacy‹, ›mathematical literacy‹, ›cultural literacy‹ usw. usf. Die klassische Studie zu dieser Entwicklung ist nach wie vor Ong: Orality. Vgl. dazu Jahraus: Literatur, S. 383; grundlegend Goody: Logic. Vgl. dazu grundlegend Luhmann: Negation. Der Grundgedanke bleibt auch in Luhmanns späteren Schriften nach der so genannten ›autopoietischen‹ Wende von zentraler Bedeutung. Jahraus markiert die kulturelle »Operationalisierung der Differenz zwischen Sinn und Nicht-Sinn« mit dem Begriff der Interpretation und begründet so den besonderen kulturellen Stellenwert der Literatur (vgl. Jahraus: Literatur, S. 585).
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Wandel unterworfene Sinnkonturen, in denen sich die Sprache von der Welt abkehrt: Sprache ist nicht mehr als Einheit der Differenz zwischen Welt und Abbild, sondern als die Einheit der Differenz von Schrift und Stimme aufzufassen […] Die sprachtranszendente Differenz von Referenz und Zeichen wird sprachimmanent in der Differenz zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem wiederholt […]. Und hierin könnte man die Konstitution von Sinn sehen.40
Und in eben dieser ›weltabgewandten‹ Dimension von Kommunikation vollzieht sich die kulturelle Konstituierung von Wirklichkeit, wobei der aus der Sicht der Dekonstruktion betonten basalen Instabilität des mit Schrift etablierten referenz- und endlosen Verweisungszusammenhangs sprachlicher Zeichen weitere mediale Formbildungen entgegengesetzt werden: »Schrift gewinnt Form im Text, und der Text im Buch«, wie Oliver Jahraus konstatiert, und auch die Geburt der Literatur lässt sich aus dem Geist der Schrift in ihrer Differenz zur Stimme herleiten,41 da Literatur eben diesen Prozess der Abkehr der Sprache von der Welt in Schrift nachvollzieht und doch zugleich eine Aura der Unmittelbarkeit bewahrt. So wie »Stimme« in einer Formulierung Christiaan Hart Nibbrigs »Medialität pur [ist]«42 und doch zugleich als das »unverfügbar pulsierende atmosphärische ›Mediale‹ […] Durchlässigkeit« im Hinblick auf die reale Existenz ihrer Besitzer suggeriert,43 so suggeriert das Medium ›Literatur‹ als »schriftliche Verstimmlichung« eine Vergegenwärtigung von räumlich und zeitlich Abwesendem oder gar nicht Existentem, indem sie die Referentialität der textexternen Sprechsituation durch eine textinterne ›Sprechsituation‹ ersetzt.44 Darüber hinaus stellt die Literatur diesen (Re-)Präsentationen einen stabilen institutionellen und medialen Rahmen zur Verfügung,45 der der Instabilität der Schrift entgegenwirkt und zugleich im ›Sprech-‹ bzw. Schreibakt das moderne Subjekt konstituiert: Das mediale Ineinandergreifen der materiell greifbaren Medien ›Schrift‹, ›Text‹ und ›Buch‹ verdichtet sich hier auf einer systemischkonzeptuellen Ebene zum literarischen (Kunst-)Werk, das als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium die literarische Anschlussfähigkeit _____________ 40 41 42 43 44 45
Jahraus: Literatur, S. 400f. Vgl. ebd., S. 432, 443; Menke: Prosopopoiia; Schmitz-Emans: Schrift. Hart Nibbrig: Geisterstimmen, S. 37. Ebd., S. 9. Jahraus: Literatur, S. 460, 463. Vgl. dazu die parallele Definition in Gumbrecht: Medium, S. 84, der eingangs feststellt, »daß – erstens – was immer ›Medium‹ genannt werden soll, räumlich und zeitlich Abwesendes in je besonderer Weise gegenwärtig macht, und daß – zweitens – solche Modi des Gegenwärtig-Machens gekoppelt sind an gewisse (meist stillschweigende) Annahmen über die Verläßlichkeit und Verwendbarkeit des so gegenwärtig Gemachten.«
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von Texten reguliert und auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung der spezifisch literarischen Kommunikation erhöht.46 Die so umrissene Konzeption von Literatur als Medium integriert also den zu bestimmten historischen Zeitpunkten gegebenen Gesamtzusammenhang von Sprache und ›Verbreitungsmedien‹ (Schrift und Buchdruck, später auch elektronischen Medien) auf einer abstrakteren medialen Ebene, für die man mit Luhmann ein literaturspezifisches symbolisch generalisiertes ›Erfolgsmedium‹ ansetzen kann:47 Die Spezifik und Eigenständigkeit der modernen literarischen Kommunikation beruht darauf, dass Texte sowohl bei ihrer Entstehung als auch bei ihrer Rezeption als ›Werke‹ aufgefasst werden, und in eben dieser kommunikativ-medialen Rahmung liegt das spezifische Potential der modernen Literatur, das Freiräume der Subjektkonstitution eröffnet und die hier entstehenden Subjektformen zugleich domestiziert. Eine solche Konzeption von Literatur bezieht Literatur, Gesellschaft und Subjektivität systematisch aufeinander und nimmt dabei in den Blick, wie sich im Zuge der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft der bis heute dominante Literaturbegriff herausbildet, für den Subjektivität (Erfahrung, Ausdruck, Kreativität, Imagination, Originalität) konstitutiv ist.48 Jahraus fasst zusammen: Das Subjekt bleibt dabei mit der Literatur vermittelt. Vermittlung folgt – im eigentlichen Sinne des Wortes – über die Lektüre. Diese Idee der Vermittlung läßt sich als Medium begreifen […]. Literatur wird somit zum Medium von Subjektivität, und diese Subjektivität steht im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft, das sich operativ jedoch als strukturelle Kopplung [von Bewusstsein und Kommunikation, Ch.R.] begreifen läßt. Daß das Subjekt nach Kommunikation hungert, verweist darauf, daß sich […] Subjektivität nur in einem Prozeß der strukturellen Kopplung überhaupt einstellen
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Zum Begriff der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien vgl. einführend Luhmann: Bemerkungen. Zur Verwendung des Werkbegriffs in diesem Zusammenhang vgl. Luhmann: Kunst, S. 165-214; im Hinblick auf Literatur Plumpe: Epochen, S. 48-50; ausführlich Reinfandt: Sinn, S. 24-122, bes. S. 48-53 (»Medium und Code des Literatursystems«), S. 75-87 (»Textbezogene Kommunikation«). Vgl. für eine theoretisch ausgearbeitete Fassung dieses Gesamtzusammenhangs Luhmann: Kommunikationsmedien. Vgl. dazu Jahraus: Literatur, S. 519f.: »Während gängige Literaturgeschichten Subjektivität zwar als Thema der Literatur seit dem 18. Jahrhundert behandeln und diese auch in einen sozialgeschichtlichen Rahmen einordnen, findet sich – soweit ich sehe – keine Literaturgeschichte, die Subjektivität auch als konstitutives Prinzip der Literatur selbst behandelt.« Es sei hier der Hinweis gestattet, dass ich eine solche Form der Literaturgeschichte zeitgleich mit der Entstehung von Jahraus’ Arbeit für die englische Literatur (und mit darüber hinausweisenden theoretischen Implikationen) skizziert und in ihren systematischen Entwicklungsstufen ausgearbeitet habe. Vgl. dazu Reinfandt: Kommunikation, insb. S. 85-234 zur Entwicklung der ›po(i)etischen Kommunikation‹ vom 15. bis zum 20. Jahrhundert sowie die daran anschließenden kontrastiven Ausblicke auf wissenschaftliche Kommunikation, moralische Kommunikation und populäre Kommunikation.
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kann. Literatur ist dabei jenes spezifische Medium, das Bewußtsein und Kommunikation in der Lektüre so strukturell koppelt, daß daraus Subjektivität entspringt.49
Die systematische Tragweite dieser Konzeption ist allerdings wie ihr Gegenstand dem historischen Wandel unterworfen, der oben als ›literacy in transition‹ bezeichnet wurde. Sie lässt sich daher am besten im historischen Aufriss darstellen. II. Mediengeschichte und Modernisierung: Zur historischen Funktionalität von Literatur als Medium Literatur im modernen Sinne, das haben die vorangegangenen Überlegungen deutlich gemacht, etabliert einen über die konstitutiven Medien ›Schrift‹ und ›Buchdruck‹ hinausgehenden Rahmen der Medialität, der für das Verhältnis des (modernen) Bewusstseins zur Welt und zu sich selbst in besonderer Weise prägend ist. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Überführung der spezifischen Leistungen von Schrift (Emanzipation der Sprache von der Welt, Speicherung) und Buchdruck (Speicherung und Verbreitung) in einen systemischen Zusammenhang, der eine spezifische Medienverwendung, einen spezifischen Umgang mit Medien stabilisiert und naturalisiert. Dieser durch die Medialität der Literatur vermittelte Umgang mit Medien gewinnt als literacy im oben eingeführten umfassenden Sinne grundlegende Bedeutung für die moderne Kultur insgesamt, und es ist wichtig festzuhalten, dass – und auf diese oft nicht hinreichend beachtete Unterscheidung hat Sybille Krämer hingewiesen – ein solches »Mediengeschehen – als Medien- und eben nicht Zeichengeschehen – […] sich ein Stück weit der Ordnung der Semiosis und den Regeln der Repräsentation und Kommunikation [entzieht]«.50 Man gewinnt hier von einem medien- und medialitätsbezogenen Standpunkt aus einen Blick auf die Bedingungen der Möglichkeit der Eigendynamik der modernen Literatur in ihrem kulturellen Kontext. Es ist verlockend, hier in Anlehnung an Krämers allgemeine Verknüpfung von Medialität und Performativität Überlegungen zur Performativität moderner Literatur anzuschließen: In welchem Umfang etwa partizipiert die Literatur an den von Krämer identifizierten drei Dimensionen der Performativität, die sie als ›universalisierend‹, ›iterabilisierend‹ und ›korporalisierend‹ beschreibt?51 Wenn, wie Sybille Krämer feststellt, die »Sprech_____________ 49 50 51
Jahraus: Literatur, S. 522 (Hervorhebung im Original). Krämer: Performativität, S. 25. Vgl. ebd., S. 14-19. Krämer bildet diese Kategorien auf der Grundlage der in historischer Abfolge gegeneinander in Anschlag gebrachten Tendenzen der Theoriebildung zur Performativität mit ihrem jeweils spezifischen medialen Fokus, die man den
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akt- und Kommunikationstheorie […] nicht von den raum-zeitlich situierten Äußerungen, sondern von den universalen und typisierbaren Regelwerken [handelt], denen eine Äußerung zu folgen hat, um überhaupt als Rede im soziale Sinne von Kommunikation gelten zu können«,52 so lässt sich Ähnliches auch für die Medialität von Literatur feststellen, die die Regeln festlegt, denen eine (schriftliche) Äußerung zu folgen hat, um als Text im literarischen Sinne von Kommunikation, und das heißt: als ›Werk‹ gelten zu können. Dabei spielen, gerade in der romantischen Ausdifferenzierungsphase der modernen Literatur, universalisierende Idealisierungsannahmen eine zentrale Rolle. Man denke im Hinblick auf eine solche Eliminierung partikularer Kontexte nur an William Wordsworths berühmte Formel »man speaking to men«.53 Es gilt also: Die Art von Sozialität, die in der performativen Dimension gestiftet […] wird, setzt voraus, dass Asymmetrien von Macht, Körperlichkeit, sozialem Status etc. keine Rolle spielen. Die Kommunizierenden werden so betrachtet, als ob sie in ihren Möglichkeiten, sich am Diskurs zu beteiligen, gleichgestellt sind.54
Sind derartige Idealisierungsannahmen erst einmal etabliert, verändert sich, wie schon im Falle der Schrift, das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit: »Das Repräsentationsverhältnis besteht nicht länger zwischen Sprache und Welt, sondern zwischen der universalen Regelstruktur und der einzelnen Äußerung, die diese [sic] Regeln folgt.«55 Neben diese ›universalisierende Performativität‹ der Literatur tritt ihre schrift- und buchdruckbasierte ›iterabilisierende Performativität‹, die, gerade in Verbindung mit den Universalisierungsstrategien, einen weiten Rezeptionshorizont eröffnet, in dem die »Abwesenheit des Referenten […] als Anwesenheit des Zeichens organisiert [ist]«, so dass die »Immaterialität eines Sinns […] nur in der Materialität eines Sinnlichen [gegenwärtig wird]«.56 Auf dieser Ebene kombiniert sich Stabilität (sedimentiert im Text) mit Wandelbarkeit (in jeweils neuen Kontexten der Aktualisierung), und letztere schlägt mit ihrer situativen Gebundenheit an individuelle Leserreaktionen die Brücke zur ›korporalisierenden Performativität‹, die jedoch im Falle der Literatur auf _____________
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Stichworten ›Austin‹ (Sprache, Mündlichkeit), ›Derrida‹ (Schrift) und ›jüngere Theorien‹ (Körper) zuordnen kann. Gerade der Blick auf die Literatur macht aber deutlich, dass und wie die im Lichte der jeweiligen Theoriebildungen aufscheinenden Dimensionen von Performativität sich nicht unbedingt gegenseitig ausschließen müssen, sondern vielmehr unterschiedlichen Perspektiven (also etwa Produktion und Rezeption) unterschiedliche Potentiale bieten. Ebd., S. 15. Wordsworth: Preface, S. 577. Die Wendung findet sich in einer 1802 ergänzten Passage, die sich der Frage ›What is a poet?‹ widmet. Krämer: Performativität, S. 15. Vgl. zur Romantik Reinfandt: Kommunikation. Krämer: Performativität, S. 19. Ebd., S. 20.
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den Wahrnehmungsakt der Rezeption beschränkt bleibt und dabei Aspekte der Körperlichkeit programmatisch ausblendet.57 Performativität ist in diesem Sinne sozusagen die ›Außenseite‹ der Medialität, die das Zusammenspiel zwischen der objekthaft-materiellen Ebene der Medialität einerseits (die auch die materielle Ebene von Zeichenprozessen beinhaltet) und der prozesshaft-immateriellen Ebene der Medialität andererseits in Stabilisierungen (wiederum im Sinne von materiell greifbaren Institutionalisierungen und/oder immateriellen Systembildungen) überführt (vgl. Abb. 1):
Abb. 1: Medialität und Performativität
Literatur als Medium eröffnet somit einen virtuellen Raum, in dem sich das moderne Subjekt jenseits der Kontingenzen des jeweils individuellen Einzelfalls etablieren und entfalten kann. Früheste Anzeichen eines derartigen Text-Subjekts, das sich in »Anspielungen auf Fernanwesenheit, Relativierungen der Text-Verbindlichkeit, Ansprüche[n] auf einen in formaler Kompetenz begründeten textuellen Mehrwert und – vor allem – vielfache[n] Gesten der Transgression« manifestiert, entdeckt Hans Ulrich Gumbrecht bereits in provenzalischen Minneliedern des 12. Jahrhunderts,58 und er weist zugleich darauf hin, wie sehr die Entwicklung der literaturkonstituierenden Subjektivität von Beginn an zwischen Provokation und Domestizierung oszilliert.59 Jenseits der Materialität von Schrift und Buch_____________ 57 58 59
Vgl. dazu grundlegend Schön: Verlust. Gumbrecht: Medium, S. 87-91, Zitat S. 90. Ebd., S. 91: »Die Provokationsgesten des Minnesangs jedenfalls werden – und das mag eine in der Literaturgeschichte wiederkehrende Entwicklung sein – innerhalb weniger Jahre domestiziert. Als im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts […] die höfi-
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druck spielt hier schon früh die poetische Form als Medium des individuellen Ausdrucks eine zentrale Rolle. Zu verweisen wäre etwa auf die zentrale Rolle des Sonetts bei der Überführung von Stimme in Schrift60 und mit ähnlicher Funktion im englischen Kontext auf die Rolle des iambischen Pentameter61 sowie in Kombination von beidem auf die ›Erfindung der poetischen Subjektivität‹ in Shakespeares Sonetten.62 Der endgültige Schritt zur Etablierung eines neuzeitlich-modernen Mediums ›Literatur‹ vollzieht sich allerdings mit der Institutionalisierung des Buchdrucks seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts: Entscheidend scheint gewesen zu sein, daß gedruckte Buchstaben und Wörter im Gegensatz zu Manuskripttexten nicht mehr als Spuren einer Körperbewegung des Schreibers (oder Autors) angesehen werden können und daß diese Veränderung konvergiert mit einer neuen Einstellung auf der Seite der Rezipienten, gedruckte Texte immer weniger als Anweisungen auf mündliche Rezitation aufzufassen. Mit einer Metapher – und vielleicht auch ganz unmetaphorisch – läßt sich also sagen, daß die Einführung der Druckpresse den Körper des Schreibers und die Körper der Rezipienten aus der medialen Situation verdrängt, welche sich um das neuzeitliche Buch entfaltet.63
Die zuvor gelegentlich beobachtbaren Symptome eines Text-Subjekts, d.h. die oben erwähnten »Anspielungen auf Fernanwesenheit, Relativierungen der Text-Verbindlichkeit, Ansprüche auf einen in formaler Kompetenz begründeten textuellen Mehrwert und […] Gesten der Transgression«,64 verdichten sich nun in der Figur des Autors, der als »Konkretisation frühneuzeitlicher Subjektivität« und »geistiges Subjekt« vom Leser im Akt der Lektüre als Urheber der intendierten Textbedeutung in einen virtuellen Raum ›hinter‹ dem Text projiziert wird: [W]ährend des 15. und 16. Jahrhunderts [wird es] zu einer zunehmend selbstverständlichen Implikation des erst jetzt von einer Metapher zu einem Standardbegriff werdenden Worts ›Ausdruck‹, daß die – gesprochene oder geschriebene – Textoberfläche niemals dem, was ein Subjekt ›zu sagen hat‹, voll gerecht werden könne. Das macht auf der anderen Seite ›Interpretation‹ zu einer (wie wir im 20. Jahrhundert sagen würden) existentiellen Notwendigkeit. Erst die Interpretation, welche im Idealfall die Ausdrucks-
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schen Versromane […] entstehen, sind die Plots auf Versöhnung zwischen dem Ideal höfischer Liebe und der christlichen Institution der Ehe gestellt.« Vgl. dazu grundlegend Oppenheimer, der programmatisch feststellt: »Modern thought and literature begin with the invention of the sonnet« (Oppenheimer: Birth, S. 3), und später ergänzt: »Everyman, Parzival, the lyrics of the troubadors, and all other medieval poems were meant to be performed. The sonnet was not. It was meant as a meditation, as an instrument for self-reflection.« (Ebd., S. 12) Vgl. dazu Easthope: Discourse; Steele: Fun. Fineman: Eye. Für eine ausführlichere Darstellung dieses Zusammenhangs vgl. Reinfandt: Kommunikation, S. 93-109. Gumbrecht: Medium, S. 91f. Vgl. zu den späteren Implikationen dieser grundlegenden Entwicklung Koschorke: Körperströme. Gumbrecht: Medium, S. 90.
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möglichkeiten des Textes überbietet, erreicht wieder das und löst das wieder ein, was die Seele des Autors immer schon enthält – ohne dass es sich über den Körper des Autors oder in einem Text vollends artikulieren könnte.65
Mit dieser Abstraktion und Universalisierung des Subjekts in Distanz zu Text und Welt verändert sich zugleich der Wirklichkeitsbezug der Texte, die nunmehr nicht länger Bestandteil einer schichtspezifischen Lebensform wie etwa der höfischen Kultur sind, sondern vielmehr auf einer ebenso abstrakten Ebene wie das Subjekt der Welt gegenüberstehen. Auch dieses Weltverhältnis muss kodifiziert werden, wie sowohl die intensive Diskussion um den nun wiederentdeckten Mimesisbegriff als auch um die Anerkennung der Möglichkeiten der Fiktionalität belegen, die Sir Philip Sidney in seiner Defence of Poesie im Jahre 1595 wohl am einprägsamsten formuliert: »the Poet, he nothing affirmeth, and therefore never lieth«.66 Damit sind die wesentlichen Komponenten des neuzeitlich-modernen Mediums ›Literatur‹ etabliert: Autorschaft als kommunikative Institutionalisierung des modernen Subjekts ›hinter‹ den als ›Werk‹ aufgefassten Texten mit ihren als intendiert interpretierten Bedeutungen und Funktionen zwischen Weltabbildung und Fiktion, und schließlich die Interpretation selbst als potentiell den Leser ermächtigender Akt.67 Die historische Entfaltung dieser Konstellation kann nun auf unterschiedlichen Ebenen nachgezeichnet werden. Deren heuristische Differenzierung wird durch eine kommunikationstheoretische Systematik ermöglicht, der zufolge die Selektion einer Information in einem unauflösbaren Differenz- und Abhängigkeitsverhältnis zur Selektion einer Mitteilungsform steht, während das für den kommunikativen Prozess konstitutive Verstehen wiederum eben dieses unauflösliche Differenz- und Abhängigkeitsverhältnis synthetisierend bearbeitet, um so Anschlussfähigkeit herzustellen.68 Verstehen in diesem kommunikationsimmanenten Sinne kann zwar, muss aber keineswegs mit dem Verstehen seitens eines Bewusstseins zusammenfallen.69 Wichtiger ist gerade die medial, d.h. durch Schrift, Buchdruck und Erfolgsmedien er_____________ 65 66 67
68
69
Ebd., S. 92. Sidney: Defence, S. 54. Wichtig ist dabei die Feststellung, dass ›Interpretation‹ im traditionellen hermeneutischen Sinne aus dieser Perspektive »Gegenstand, nicht Beobachtungsperspektive« ist (Jahraus: Literatur, S. 587). Vgl. zur historischen Entfaltung von Lese(r)haltungen Assmann: Domestikation. Vgl. dazu Luhmann: Was ist Kommunikation? Informationen werden, das ist zu betonen, in der doppelten Selektivität von Informations- und Mitteilungsebene überhaupt erst hervorgebracht. Ein solches konstruktivistisches Verständnis von Kommunikation steht in deutlichem Gegensatz zu traditionellen Kommunikationsbegriffen, die die Übertragung einer (vorhandenen) Information von einem Sender zu einem Empfänger in den Mittelpunkt stellen. Vgl. dazu Luhmann: Bewußtsein.
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möglichte Eigendynamik der modernen Kommunikation, deren Vollzug sich von Bewusstsein emanzipiert, ohne dabei natürlich auf die strukturelle Kopplung von Kommunikation und Bewusstsein verzichten zu können.70 Im Hinblick auf die Medialität der modernen Literatur gewinnt in diesem Zusammenhang die Mitteilungsebene zunehmend an Bedeutung, und man kann auf dieser Ebene die Ausdifferenzierung literarischer (d.h. insbesondere poetischer und narrativer) Formen nachzeichnen.71 Eben diese Selektionen auf der Mitteilungsebene konstituieren dann auf der Informationsebene den modernen Autor als paradigmatisch-virtuelle Inkarnation des modernen Subjekts, die auf der Ebene des Verstehens ihre kulturelle Resonanz entfaltet. Die in dieser heuristischen Dreiteilung angedeuteten, miteinander verwobenen Geschichten können hier nicht erzählt werden.72 Stattdessen sollen die historischen und systematischen Konturen eines solchen Zugriffs auf die Ausdifferenzierung von Literatur als Medium in einem integrativen Modell zusammengeführt werden, welches den Versuch unternimmt, die zentralen Implikationen so aufzubereiten, dass sie für die literatur- und kulturwissenschaftliche Arbeit am Text handhabbar werden. Die bisher eingeführten Aspekte der Medialität des literarischen Textes lassen sich dabei zunächst in dem in Abb. 2 wiedergegebenen Schema zusammenführen, das noch einmal deutlich macht, auf welche Weise die Medialität der Literatur den Zusammenhang zwischen den gesellschaftsstrukturellen Bedingungen der Moderne und der Entstehung der für die Kultur der Moderne konstitutiven Subjektivität vermittelt, so dass der oft beschriebene Antagonismus von Individuum und Gesellschaft in der strukturellen Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation verhandelbar wird:
_____________ 70
71 72
Vgl. dazu die prägnante Formulierung von Matthias Prangel: »Jede Kommunikation differenziert und synthetisiert eigene Komponenten, nämlich Information, Mitteilung und Verstehen. Das geschieht jenseits dessen, was in psychischen Systemen jeweils bewußt wird […] durch den Kommunikationsprozeß selbst.« (Prangel: Dekonstruktion, S. 17) In dieser Hinsicht gerät schnell die Lyrik als Paradigma der modernen Literatur, ja der Moderne überhaupt in den Blick. Vgl. dazu Iser: Ästhetik; Homann: Theorie; Jahraus: Literatur, S. 485-495, 554-577; Reinfandt: Kommunikation, S. 89-92. Vgl. dazu ausführlich Reinfandt: Sinn, S. 123-254 für ein Ausdifferenzierungsmodell narrativer Formen; Reinfandt: Kommunikation, S. 93-146 für ein Ausdifferenzierungsmodell poetischer Formen, S. 147-214 für die Ausdifferenzierung moderner Autorschaft, S. 215-324 für die kulturelle Resonanz.
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Abb. 2: Die Medialität des literarischen Textes
Zugänglich ist dem Bewusstsein des Lesers dabei immer nur die materiell vorliegende ›Mitteilung‹, d.h. der Text, anhand dessen sich die spezifische Medialität der Literatur entfaltet. Von grundlegender Bedeutung ist dabei die schriftliche bzw. gedruckte Verfasstheit des Textes mit den bereits besprochenen Konsequenzen einer Emanzipation der Sprache von der Welt bei gleichzeitiger Erhöhung der Disponibilität des Sinns und einer Emanzipation der Kommunikation von der Interaktion, die allerdings um den Preis ihrer erhöhten Unwahrscheinlichkeit erlangt wird.73 Mit eben dieser doppelten Emanzipation ist der Medialität der Literatur zugleich auch ein erhöhtes Maß an Selbstbezüglichkeit eingeschrieben, das jedoch im Interpretations- und Verstehensprozess nicht realisiert werden muss und ebenso wie die gestiegene Unwahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Kommunikation auf anderen Ebenen kompensiert wird. So suggeriert die Schrift und Buchdruck übergeordnete mediale Ebene der poetischen und/ oder narrativen Form einerseits, dass in der Kommunikation sehr wohl eine Stimme und damit auch ein Bewusstsein und letztlich auch ein Körper anwesend sind, und eben dieses Prinzip der »schriftlichen Verstimmlichung«74 in einer »fingierten Mündlichkeit«75 ist, wie oben gezeigt, für die Konstituierung von Subjektivität von zentraler Bedeutung. Der hier neben den prinzipiell fundierenden reflexiven Sinnhorizont tretende subjektive Sinnhorizont kann ersteren durch seine ›Präsenz‹ auf mehreren Ebenen leicht in den Hintergrund drängen: Die in der Stimmlichkeit der Literatur kristallisierte und inszenierte Erfahrung verweist zwar letztlich nur innerhalb des reflexiven _____________ 73 74 75
Vgl. Luhmann: Unwahrscheinlichkeit. Jahraus: Literatur, S. 460. Goetsch: Mündlichkeit.
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Sinnhorizonts auf die textimmanenten ›Sprechinstanzen‹, die letztlich Teil der Mitteilungsebene sind. Sie provoziert auf der Informationsebene aber zugleich Übertragungen auf die textexterne Projektionsfläche moderner Autorschaft oder, etwa über die Thematisierung des Antagonismus von Individuum und Gesellschaft in den Plots von Bildungs- und Künstlerromanen, auf allgemeinere Problemlagen moderner Subjektivität. Gerade die Stimmlichkeit realistischen Erzählens macht dabei deutlich, dass (und wie) trotz des neu etablierten Abstands zwischen Sprache und Kommunikation einerseits und Welt andererseits die Annahme einer Referenz auf die Welt für die Informationsebene literarischer Kommunikation von zentraler Bedeutung bleibt, indem eben nicht nur subjektive Erfahrung, sondern auch kodifizierte Weltsichten inszeniert werden.76 Mimetische Strategien aller Art simulieren also eine scheinbar unvermittelte Referenz auf die Welt einerseits (und im Falle der Literatur in erster Linie) über eine Referenz auf Stimmlichkeit oder aber andererseits durch eine nur scheinbar unmittelbarere Referenz auf andere Texte und Medien. Der objektive Sinnhorizont der literarischen Kommunikation erweist sich vor diesem Hintergrund ganz im Sinne der poststrukturalistischen Theoriebildung in der Bezugnahme von literarischen Texten auf vorhergehende literarische Texte und andere Texte unterschiedlicher Provenienz als dominant intertextuelles Phänomen, das jedoch spätestens im 20. Jahrhundert um eine intermediale Dimension erweitert wird. Von zentraler Bedeutung für die durch den Wandel der Gesellschaftsstruktur determinierte ›Autonomie‹ und Eigengesetzlichkeit der literarischen Kommunikation ist die Einführung eines eigenständigen symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums. Das literarische (Kunst-)›Werk‹ transformiert als ›Erfolgsmedium‹ die Unwahrscheinlichkeit literarischer Anschlusskommunikationen in Wahrscheinlichkeit und ordnet zugleich Texte als ›Kompaktkommunikationen‹ in einen bestimmten kommunikativen Zusammenhang ein, wobei sie sozusagen vorab mit Valenz (für diesen spezifischen Kontext) ausgestattet werden.77 An eben diesem Punkt macht sich allerdings auch die doppelte Rückbindung des literarischen Sinns an die strukturelle Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation wieder bemerkbar: Während einerseits die in jedem Werk vorausgesetzte Kohärenz Bedeutungen stabilisiert und integriert, was dann entweder im Hinblick auf den objektiven Sinnhorizont (z.B. auf der Plotebene), auf den subjektiven Sinnhorizont (Stichwort ›impliziter Autor‹) oder aber auf den _____________ 76 77
Vgl. dazu Kreilkamp: Voice. Zum Begriff der Kompaktkommunikation im Hinblick auf Kunstwerke vgl. Luhmann: Kunstwerk, S. 627; Luhmann: Kunst, S. 63; zum Begriff der Kompaktkommunikation im Hinblick auf literarische Texte vgl. Gumbrecht: Pathologien, S. 150-155.
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reflexiven Sinnhorizont (Stichwort ›Struktur des Werkganzen‹) beschrieben werden kann, eröffnet sich gerade in dieser Stabilisierung doch auch ein Potential für das Erkunden der Grenzbereiche von Sinn- und Bedeutungskonstruktionen, wobei, um es salopp zu sagen, jeder Unsinn im Medium eines entsakralisierten Werkbegriffs in den Sinnhorizont der literarischen Kommunikation einrücken kann. Sinn, so zeigt sich hier, geht über bloße Bedeutung als semantisches Phänomen hinaus, es handelt sich immer auch um ein strukturell-funktionales Phänomen, das sich allein auf die Gewährleistung der Fortsetzung der Kommunikation bezieht.78 Im Hinblick auf die Ausdifferenzierung der modernen Literatur lassen sich hier die Stichworte ›Subjektivität‹ und ›Autonomie‹ ins Spiel bringen, wobei letztere, wie Gerhard Plumpe betont, zunächst mit ersterer begründet wird.79 Letztlich lassen sich die beiden konstitutiven Ausdifferenzierungssemantiken der modernen Literatur jedoch an unterschiedliche soziokulturelle Entwicklungsdimensionen zurückbinden, was dann nach erfolgter Ausdifferenzierung zu einer Asymmetrie führt. Während einerseits die Subjektivität im Hinblick auf die für die moderne Kultur und Gesellschaft charakteristische Parallelentwicklung von Gesellschaftsstruktur und Semantik der semantischen Dimension der Ideenevolutionen zuzurechnen ist, erscheint andererseits die Autonomie als Reflex der strukturellen Dimension der Teilsystemevolutionen.80 Während also einerseits die moderne Literatur gerade im Hinblick auf ihren Rezeptionshorizont fest in der lebensweltlichen Erfahrung moderner Subjekte verankert bleibt, etabliert andererseits das Ausloten der Potentiale einer autonomen modernen Literatur einen zunehmend spezialisierten Produktionshorizont, der sich spätestens am Anfang des 20. Jahrhunderts endgültig von den Lesern entfremdet hat.81 »Je avancierter der Gegenstand, desto deutlicher das Medienparadigma«, konstatiert Oliver Jahraus,82 und in diesem Sinne lässt sich der Prozess einer zunehmenden Reflexivierung der literarischen Kommunikation im Hinblick auf die medialen Voraussetzungen für die kommunikative Konstitution von Subjektivität insbesondere auf die komplexe mediale Suggestion von Transparenz unter Bedingungen der Intransparenz beziehen: Jede schriftliche und/oder gedruckte Mitteilung ist prinzipiell opak, und dennoch gelingt es literarischen Texten bis zum heutigen Tage, dem Leser den Eindruck zu vermitteln, sie gewährten Durchblicke auf die Welt, auf Er_____________ 78 79 80 81 82
Vgl. zu dieser Unterscheidung eines inhaltlichen von einem funktionalen Sinnbegriff grundlegend Reinfandt: Sinn, S. 56-87. Plumpe: Epochen, S. 80. Vgl. dazu grundlegend Luhmann: Struktur; zu Fragen der temporal-kausalen Relationierung der Ebenen vgl. Stäheli: Nachträglichkeit; Kogge: Semantik. Vgl. dazu Reinfandt: Kommunikation, S. 69-88. Jahraus: Literatur, S. 569.
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fahrungshorizonte anderer Subjekte, auf andere Texte und andere Medien. Transparenz kann dabei nur über die Konventionalisierung und Naturalisierung von Medialität erreicht werden, und nur auf dieser Grundlage ist das in der westlichen Kultur seit dem 18. Jahrhundert vorherrschende Verständnis vom Subjekt als Urheber und Ausgangspunkt möglich, während umgekehrt die entstehende Autonomie der Literatur eine zunehmende Anerkennung der fundamentalen Intransparenz der Medialität der Literatur ermöglicht, in deren Konsequenz das Subjekt als etwas Unterworfenes, Gemachtes, als kommunikativer oder diskursiver Effekt aufscheint.83 Schematisch lässt sich diese Dialektik wie folgt an das vorangegangene Schema anschließen (Abb. 3):
Abb. 3: Kommunikative Zuschreibungen von Subjektivität
Im Hinblick auf die historische Ausdifferenzierung der modernen Literatur als Medium lässt sich vor diesem Hintergrund feststellen, dass sich die Ambivalenz des Subjektbegriffs84 ebenso wie die dieser Ambivalenz zugrundeliegende Ambivalenz der Medialität von Beginn an in einer Reihe charakteristischer Oppositionen niederschlägt, zwischen deren Polen sich das _____________ 83 84
Es ist in diesem Sinne kein Zufall, dass die so genannte postmoderne Philosophie gerade in der Literaturtheorie seit den 1970er Jahren ein Gravitationszentrum fand. Vgl. dazu in jüngerer Zeit Zima: Theorie; Reckwitz: Subjekt.
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Potential der modernen literarischen Kommunikation oszillierend entfaltet. Moderne Autorschaft etwa greift auf die bereits in Platos Ion etablierte Doppelung von Inspirations- und Imitationsmodellen zurück, wobei das Inspirationsmodell mit seinem Fokus auf dem unmittelbar gottgeleiteten Sprechen seit dem 15. Jahrhundert in eine Allianz mit anderen subjektivierend-emanzipatorischen Elementen gerät, während das Imitationsmodell mit seinem Fokus auf Aspekten der schriftlichen Komposition zunächst eher normativ-kompensatorischen Strömungen zugeordnet wird.85 Lyrik und Prosa als formale Medien der Schriftlichkeit, andererseits, geraten nach der Ausdifferenzierung von Prosa als für die moderne Kultur zentraler signifying practice in eine Opposition, die die Lyrik allen Bemühungen der Romantiker um die Lyrik als Medium der Subjektivität zum Trotz letztlich mit Intransparenz und Selbstbezüglichkeit assoziiert, während die Prosa besser geeignet erscheint, Transparenz, Referentialität und Objektivität zu gewährleisten.86 Am Beispiel derartiger Konfigurationen zeichnet sich eine grundsätzliche Dialektik modernisierender und kompensatorischer Elemente als Motor der Ausdifferenzierung der modernen literarischen Kommunikation ab, die sich letztlich auf die spezifische Medialität der modernen Literatur zurückführen lässt. In stark vereinfachender Form ergibt sich dabei unter Rückgriff auf die zentralen Kategorien in Abb. 2 folgendes Schema zur Entfaltung der modernen literarischen Kommunikation (Abb. 4):87
_____________ 85 86 87
Vgl. dazu ausführlich Reinfandt: Kommunikation, S. 149-162; zu Fragen der Autorschaft vgl. Jannidis / Lauer / Martínez / Winko: Rede; Kleinschmidt: Autorschaft. Vgl. dazu Kittay / Godzich: Emergence; Reinfandt: Kommunikation, S. 93-105. Das Schema geht aus Überlegungen zur englischen Literatur- und Kulturgeschichte hervor, sollte aber mit den entsprechenden Modifikationen auch für andere Nationalliteraturen praktikabel sein. Die Abfolge Romantik – Realismus – (Hoch-)Moderne – Postmoderne beispielsweise modifiziert Gerhard Plumpes systemtheoretischen Entwurf zur deutschen Literaturgeschichte (Romantik – Realismus – Ästhetizismus – Avantgarde – Postismus) für die englische Literaturgeschichte. Vgl. dazu Plumpe: Epochen; Reinfandt: Sinn, S. 180-185.
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Abb. 4: Zur Ausdifferenzierung von Literatur als Medium
Die für die moderne Kultur insgesamt charakteristische Entwicklung hin zu einer Aufhebung älterer (objektiver und subjektiver) Sinnorientierungen in einer alles hinterfragenden Reflexivität, die sich insbesondere in der gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf das gesamte Jahrhundert zurückprojizierten Semantik der ›turns‹ bzw. Wenden zeigt,88 findet sich hier in der horizontalen Anordnung der für literarische Texte charakteristischen Informationshorizonte der Referenz und Erfahrung vor dem letztlich konstitutiven Mitteilungshorizont der Medialität. Letzterer gerät aber nur in einem Prozess der stufenweisen Annäherung in den Blick, und die vertikale bzw. diagonale Abfolge der ›Epochen moderner Literatur‹89 markiert einen dialektischen Prozess, in dem auf eine Phase der Modernisierung eine Phase der kompensatorischen Re-Traditionalisierung folgt, bevor mit einer Synthese beider Tendenzen eine neue Entwicklungsstufe erreicht wird. So folgt auf die _____________ 88 89
Vgl. dazu Bachmann-Medick: Cultural Turns. Durchaus im Sinne von Plumpe: Epochen, aber mit anglistischen Modifikationen bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Ausdifferenzierungsphase vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Vgl. zu letzterer im Kontext der deutschen Literaturgeschichte, ebenfalls aus systemtheoretischer Sicht, Stöckmann: Literatur.
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Emanzipation der Subjektivität in der Lyrik insbesondere bei Shakespeare und (religiös gerahmt) bei den metaphysical poets des 17. Jahrhunderts ein neoklassizistischer backlash im 18. Jahrhundert, bevor die Romantik unter Zurückweisung sowohl der Transparenzideale neoklassizistischer Ästhetiken als auch radikal-subjektivistischer Experimente der Empfindsamkeit eine kulturelle Domestizierung der Subjektivität erreicht, die mit ihrer Positionierung zwischen Erfahrung und Medialität zum Ausgangspunkt der modernen Literatur im engeren Wortsinne wird.90 Der romantischen Lyrik steht allerdings, obschon ihr im Projekt der domestizierenden Emanzipation der Subjektivität verbunden, der realistische Roman gegenüber, der entgegen der formalen Ausdifferenzierung der Lyrik eindeutig auf Transparenz setzt. Erst mit den antiromantischen und antirealistischen Polemiken der Modernisten emanzipiert sich die moderne Literatur vollends von ihrer traditionellen Rückbindung an Welt und Erfahrung, wobei das Ausschöpfen aller Innovationspotentiale zu einer ›Kristallisation‹ der vorher nacheinander durchgespielten Orientierungen führt, die nunmehr gleichzeitig, aber nur noch unter dem Vorbehalt ihrer reflexiven Selbsthinterfragung zur Verfügung stehen.91 Und ist es nicht eben dieser Zustand, der im 20. Jahrhundert für die moderne Medienkultur im Ganzen charakteristisch wird? III. Medienkultur und Literatur Die hier skizzierte theoretisch-historische Auffassung von Literatur als Medium soll Möglichkeiten aufzeigen, wie im Rahmen einer medienkulturwissenschaftlichen Neuorientierung der Literaturwissenschaften traditionelle Kernkompetenzen der literaturwissenschaftlich-philologischen Arbeit in einen neuen Reflexionshorizont eingerückt werden können.92 Dabei geht es insbesondere um die Kernkompetenz der kritischen Lektüre von Texten aller Art, für die die vorliegende Skizze eine Art Landkarte bereitstellen möchte, die einerseits den Zugriff auf die historisch-kontextuellen Möglichkeitsbedingungen der jeweils spezifischen Funktionalität(en) von Texten perspektiviert und andererseits ›Zugänge zur Bedeutung von Medientexten‹ vorstrukturiert.93 Um es knapp an einem Beispiel anzudeuten:94 _____________ 90 91 92 93 94
Vgl. dazu ausführlich Reinfandt: Kommunikation, S. 93-136, 147-204. In welchem Ausmaß sich auch der englische Neoklassizismus an kulturellen Modernisierungsprozessen abarbeitet, zeigt die umfangreiche Studie von Berensmeyer: Contingency. Zum Begriff der ›Kristallisation‹ vgl. Plumpe: Epochen, S. 232 unter Verweis auf Arnold Gehlen. Vgl. zum Begriff ›Medienkulturwissenschaft‹ Schönert: Literaturwissenschaft. Vgl. Willems / Willems: Zugänge. Vgl. zu den im Folgenden erwähnten Kategorien noch einmal Abb. 2.
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T.S. Eliots im Jahre 1922 publiziertes Gedicht The Waste Land ist sicherlich einer der bekanntesten Texte der Kulminationsphase moderner literarischer Kommunikation. Am Ende des 20. Jahrhunderts liegt das als The Waste Land bekannte ›Werk‹ in zahlreichen Ausgaben vor, wobei dem Leser drei unterschiedliche Erscheinungsformen entgegentreten können: In T.S. Eliots Collected Poems findet sich der Text des Gedichts und, im Anschluss daran, Eliots berüchtigte ›Notes on The Waste Land‹.95 Studienausgaben des Gedichts wie etwa die in vorbildlicher Weise von Michael North besorgte Norton Critical Edition drucken den Text des Gedichts ebenso wie Eliots anschließende ›Notes‹ und fügen in Fußnoten Anmerkungen des Herausgebers hinzu. Ergänzt wird der so angereicherte »Text of The Waste Land« mit einer »Contexts«-Sektion, in der Quellentexte zu den intertextuellen Bezügen des Gedichts ebenso versammelt sind wie Essays zur Entstehung und Kommentare von Eliot selbst, und einer »Criticism«-Sektion, die die Rezeption des Gedichtes von »Reviews and First Reactions« bis zu »Reconsiderations and New Readings« nachzeichnet.96 Und schließlich ist dem interessierten Leser eine Faksimileausgabe des ursprünglich wesentlich umfangreicheren Waste Land-Manuskripts mit den legendären Streichungen durch Ezra Pound zugänglich, die einen Durchgriff auf das Medium der (Ur-)Schrift vor ihrer Stabilisierung im Druck ermöglicht.97 Als ›Werk‹, soviel ist klar, lässt sich The Waste Land nicht auf eine materielle Erscheinungsform festlegen, sogar die Doppelung von Schrift und Buchdruck ist in einer Art Palimpsest noch greifbar und destabilisiert dabei die Möglichkeiten der Zuschreibung von Autorschaft. Ähnliches gilt für die Dimensionen Erfahrung und Referenz: Zwar ist The Waste Land eindeutig vom Modus der ›schriftlichen Verstimmlichung‹ geprägt, doch sind es so viele Stimmen mit nicht mehr eindeutig zuweisbaren Sprechern, dass eine Art Kollektivsubjekt entsteht, dessen konstitutives Element weniger die Stimme als vielmehr die Thematisierung von Öde und Unfruchtbarkeit ist, während andererseits die Referenz auf Welt nur noch in Form von Intertextualität stattfindet.98 Man hat es also mit einer Kollage von Texten und Stimmen zu tun, die einerseits sozusagen unpersönlich-photographisch im Medium _____________ 95 96 97 98
Eliot: Poems, S. 61-86. Vgl. Eliot: Waste Land. Authoritative Text. Alles in allem beläuft sich diese Ausgabe des Waste Land-Netzwerks auf immerhin 282 Seiten. Vgl. Eliot: Waste Land. Facsimile. Die »Contexts«-Sektion in Eliot: Waste Land. Authoritative Text versammelt Auszüge aus Texten von folgenden Autoren (in der Reihenfolge ihres Auftretens): James G. Frazer, Jessie L. Weston, Aldous Huxley, Charles Baudelaire, John Webster, Ovid, Gene Buck und Herman Ruby (That Shakespearian Rag), Gotama Buddha, Edmund Spenser, Oliver Goldsmith, James Anthony Froude, St. Augustine, Sir Ernest Shackleton, Herman [sic] Hesse, und Thomas Kyd sowie aus The King James Bible, Brihadāranyaka Upanishad, und Pervigilium Veneris.
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der Schrift ›abgebildet‹ werden und in dieser Verweigerung der traditionellen Fluchtpunkte ›Welt‹ oder ›Erfahrung‹ (im Sinne einer Einheit des ›sprechenden‹ Subjekts) die reflexive Dimension des Textes dominant werden lassen.99 Andererseits gewinnt dieses Netzwerk von Stimmen und Texten seine Stabilität als ›Werk‹ insbesondere in der metaphorischen Resonanz, die der gewählte Titel unter den kulturellen Bedingungen einer vollends reflexiv werdenden Moderne am Beginn des 20. Jahrhunderts entfaltet. In dem hier nur exemplarisch angerissenen Zusammenspiel der Funktionalität des Textganzen als ›Werk‹ im medial fundierten und historisch entfalteten Kommunikationszusammenhang der modernen Literatur einerseits mit den dem Text eingeschriebenen Sinnhorizonten der modernen Kultur andererseits eröffnen sich differenzierte Zugänge zur Bedeutung von Medientexten, die auch jenseits der Literatur erprobt werden können.100 Dabei emanzipiert sich der Begriff ›Text‹ von seiner traditionellen Bindung an Schrift und Buchdruck und lässt sich allgemein auf medial stabilisierte, bedeutungsspeichernde und bedeutungsverbreitende Einheiten in jeweils spezifischen kommunikativen Kontexten beziehen, für die die konstitutiven modernen Sinnebenen der Medialität, der Erfahrung und der Referenz in ihrer jeweils spezifischen Relationierung zu erfassen sind.101 Die Interpretation von Medientexten muss dabei zugleich auf Aspekte der Grenzziehung und Konstruktion (im Hinblick auf den zu untersuchenden ›Text‹) und auf Aspekte der Entgrenzung und Dekonstruktion (im Hinblick auf kommunikative Kontexte und Mediensysteme) ausgerichtet sein, wobei letztere wiederum in ihrer jeweiligen Spezifik gegenüber anderen Kontexten und Mediensystemen abzugrenzen sind. Es ist klar, dass eine solche medienkulturwissenschaftliche Perspektive die Grenzen der Literatur _____________ 99
Zu Eliots ›Impersonal Theory of Poetry‹ und zu dem damit verbundenen Begriff des ›objective correlative‹ vgl. seine Essays »Tradition and the Individual Talent« und »Hamlet« aus dem Jahre 1919, beide in Auszügen abgedruckt in Eliot: Waste Land. Authoritative Text, S. 114-121. Zum Zusammenhang zwischen modern(istisch)en Autorschaftskonzeptionen und dem neuen Medium der Photographie vgl. Reinfandt: Kommunikation, S. 204-214. 100 Vgl. dazu aufschlussreich im Hinblick auf den Durchgriff von Makrokategorien wie ›Diskurs‹ (Foucault), ›Gesellschaftsstruktur‹ und ›Semantik‹ (Luhmann), ›Feld‹ und ›Habitus‹ (Bourdieu) oder ›Rahmen‹ (Goffman) auf Einzeltexte aller Art Willems / Willems: Zugänge. Ein Fokus auf Medialität relativiert (rahmt?) allerdings die bei Willems / Willems vorgenommene Favorisierung akteursbezogener Konzepte auf einer abstrakteren Ebene. 101 Vgl. für die Anmahnung einer derart integrativen, medienhistorisch und medientheoretisch informierten Perspektive für die Debatte um ›Kultur als Text‹ jüngst Huck / Schinko: Limits. Zum Fortgang der 1996 angestoßenen Debatte vgl. BachmannMedick: Kultur, insb. S. 298-338; aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven Bassler / Stoermer / Spörl / Brecht / Zembylas / Graessner / Werber: Kultur; Scheffer: Zeichen.
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deutlich hervortreten lässt. Sie vermag aber auch die spezifische kulturelle Leistungsfähigkeit der Literatur zu erfassen – sowohl in ihrer glorreichen Vergangenheit als Leitmedium der Moderne als auch in der Medienkonkurrenz und Medienkonvergenz einer Gegenwart, die noch nicht vollends ›postmodern‹ erscheint. Bibliographie Assmann, Aleida: Die Domestikation des Lesens. Drei historische Beispiele. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58 (1985), S. 95-110. Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. 2. Aufl. Tübingen, Basel 2004. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006. Bassler, Moritz / Fabian Stoermer / Uwe Spörl / Christoph Brecht / Tasos Zembylas / Holm Graessner / Niels Werber: Kultur als Text? In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 2 (2002), S. 102-113. Baumann, Gerd (Hg.): The Written Word: Literacy in Transition. Oxford 1986. Berensmeyer, Ingo: Angles of Contingency. Literarische Kultur im England des siebzehnten Jahrhunderts. Tübingen 2007. Binczek, Natalie: Eine Interpretationstheorie. Oliver Jahraus untersucht die Funktionsbedingungen der Literatur als Medium. In: IASLonline (22.03.2005). (05.03.2007). Birkerts, Sven: The Gutenberg Elegies. The Fate of Reading in an Electronic Age. Boston/ Mass. 1994. Culler, Jonathan: Literary Theory. A Very Short Introduction. Oxford 1997. Easthope, Antony: Poetry as Discourse. London, New York 1983. Eliot, T. S.: Collected Poems 1909-1962 [1963]. London 1985. Eliot, T. S.: The Waste Land. A facsimile and transcript of the original drafts including the annotations of Ezra Pound. Hg. von Valerie Eliot. London 1971. Eliot, T. S.: The Waste Land. Authoritative Text, Contexts, Criticism. Hg. von Michael North. New York, London 2001. Elm, Theo / Hans H. Hiebel (Hg.): Medien und Maschinen. Literatur im technischen Zeitalter. Freiburg/B. 1991. Fineman, Joel: Shakespeare’s Perjured Eye. The Invention of Poetic Subjectivity in the Sonnets. Berkeley u.a. 1986. Goetsch, Paul: Fingierte Mündlichkeit in der Erzählkunst entwickelter Schriftkulturen. In: Poetica 17 (1985), S. 202-218. Goody, Jack: The Logic of Writing and the Organization of Society. Cambridge 1986. Gumbrecht, Hans Ulrich: Pathologien im Literatursystem. In: Dirk Baecker / Jürgen Markowitz / Rudolf Stichweh / Hartmann Tyrell / Helmut Willke (Hg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt/M. 1987, S. 137-180. Gumbrecht, Hans Ulrich: Medium Literatur. In: Manfred Faßler / Wulf Halbach (Hg.): Geschichte der Medien. München 1998, S. 83-107. Hart Nibbrig, Christiaan L.: Geisterstimmen. Echoraum Literatur. Weilerswist 2001. Hickethier, Knut: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart 2003. Hörisch, Jochen: Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien. Frankfurt/M. 1999.
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DANIEL FULDA / STEFAN MATUSCHEK
Literarische Formen in anderen Diskursformationen: Philosophie und Geschichtsschreibung
Am Anfang, so stellt man sich es vor, war alles eins: Die Homerischen Epen waren den Griechen zugleich Dichtung, Geschichtsschreibung und der Horizont ihres Wissens und Denkens (Wort und Begriff ›Philosophie‹ gab es noch nicht). Im letzten Drittel des letzten Jahrhunderts begannen und mehrten sich an der Universität die Tendenzen, diesen Homerischen Anfang wieder zu erreichen, zumindest theoretisch. Aus der Philosophie, der Geschichts- und Literaturwissenschaft kamen Ansätze, mit einem universalen Konzept von ›Text‹, ›Schrift‹ oder ›Erzählung‹ die Differenzen zwischen philosophischen, historiographischen und literarischen Werken zu negieren. Unter der disziplinären Ausdifferenzierung sollte die Einheit wieder sichtbar gemacht werden. Darin lagen Kritik am Wissenschaftsanspruch von Philosophie und Geschichte und ein Usurpationspotential für die Literaturwissenschaft. Doch hat dies weder zur Ununterscheidbarkeit von Literatur und Wissenschaft noch zu einer Einheitswissenschaft von Text, Schrift oder Erzählung geführt. Es hat vielmehr – bei Fortbestand der Differenzen – die Aufmerksamkeit für die Zusammenhänge und Übergänge geschärft. Dies soll hier für das Verhältnis von Literatur und Philosophie (I) und Literatur und Geschichtsschreibung (II) festgehalten werden. Zusammenfassend werden zudem Dreieckskonstellationen zwischen Philosophie, Literatur und Geschichtsschreibung in den Blick genommen (III). I. Literatur und Philosophie Dass Literatur und Philosophie oder, mit einem konventionellen Verständnis der beiden gesagt, dass sprachkünstlerische Darstellung und auf Grundfragen gerichtetes Nachdenken sich eng miteinander verbinden können, führt eine Vielzahl von Beispielen vor Augen. Platons Dialoge, Augustinus’ Bekenntnisse, Montaignes Essais, Pascals Gedanken, Voltaires Mär-
Literarische Formen in anderen Diskursformationen
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chen und Erzählungen, Kierkegaards Entweder/Oder, Nietzsches Zarathustra oder Adornos Minima Moralia: Das ist nur eine kleine Auswahl der bekannteren Werke, in denen Literatur und Philosophie als Einheit erscheinen; als Einheit, weil die Denkleistungen und deren Ergebnisse hier unablösbar von dem individuellen Stil ihrer sprachlichen Darstellung sind. Die Lektüre dieser Werke ist nicht nur belehrend, sondern sie vermittelt zugleich eine je bestimmte Atmosphäre und Stimmung, in der sich das Denken vollzieht, sie lässt Lebenssituationen und Erfahrungen nachempfinden, in denen und aus denen heraus gedacht wird. Platons Symposion ist nicht nur eine Abhandlung, sondern zugleich eine Inszenierung antiker Liebeskonzepte. Und die Minima Moralia vollziehen nicht nur Adornos negative Dialektik, sondern zeigen zugleich deren lebensweltliche Eingebundenheit im amerikanischen Exil zwischen Hollywood und Nachrichten aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Philosophische Theorien – das zeigen diese Werke – sind nicht kontextlos, sondern mit historischen Erfahrungen und kulturellen Praktiken verbunden. Als Zeugnisse und Ergebnisse des Denkens zeugen sie zugleich von ihren historisch-kulturellen und individuellen Entstehungskontexten. Ihre philosophische Theorie ist zugleich ein literarisches Dokument ihrer Verfasser. Es ist der Wille zur Verwissenschaftlichung der Philosophie, genau das auseinander zu halten, was die genannten Werke verbinden. Ein szientifisches Philosophie-Verständnis braucht die kategoriale Differenz zur Literatur, um die eigene Wissenschaftlichkeit zu begründen. Der radikalste Vorschlag dazu kam vom Wiener Kreis als Schule des ›Logischen Empirismus‹. Orientiert an der Mathematik und den Naturwissenschaften schränkt er Philosophie auf Logik und die Theorie empirischer Forschung ein. Zugrunde liegt die Vorstellung, dass Erkenntnis allein aus empirisch überprüfbaren Sachverhaltsaussagen und deren logischer Verknüpfung bestehe. Philosophie, die sich dieser Auffassung von wissenschaftlicher Erkenntnis verpflichtet, findet ihre Aufgabe als Kontrollinstanz der Wissenschaftssprache und -praxis. Ein Mitglied des Wiener Kreises, Rudolf Carnap, hat diese Kontrolle im Blick auf diejenigen Texte durchgeführt, die sich als Philosophie geben, ohne es doch nach seiner Überzeugung zu sein, die also, um es mit dem zentralen Anklagewort des Wiener Kreises zu sagen, nicht Philosophie, sondern Metaphysik sind. Die kategoriale Differenz von Wissenschaft und Kunst – wo es um Texte geht, also von Philosophie und Dichtung – dient ihm dabei als Mittel, um die Metaphysik von der Philosophie zu trennen. Denn Texte, die sich nicht auf empirisch überprüfbare Sachverhaltsaussagen beschränken oder, sofern sie doch solche Aussagen enthalten, diese mit Fiktionen und anderen Unsachlichkeiten (wie z.B. metaphysischen Begriffen) vermischen, seien Dichtung. Sie sei kein Mittel der Erkenntnis, sondern, so bezeichnet es Carnap, ein »Ausdruck
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Daniel Fulda / Stefan Matuschek
des Lebensgefühls«.1 Auch das habe seinen Wert, aber eben einen kategorial anderen als den der Wissenschaft und der ihr zuzurechnenden Philosophie. Was sich dieser kategorialen Differenz nicht fügt, erscheint als überflüssiger Zwitter. Werke, die sich als Philosophie ausgeben oder aus Gewohnheit als solche angesehen werden, ohne es in Carnaps Sinne zu sein, verurteilt er als »unzulänglichen Ersatz für die Kunst«.2 Darunter fällt nicht nur sein spezielles Beispiel Heidegger, auch nicht nur die eingangs erwähnten literarisch-philosophischen Texte, sondern der Großteil dessen, was man allgemein der Philosophiegeschichte zurechnet. Auch für Carnap gibt es somit eine wenn nicht enge, so doch breite Verbindung von Philosophie und Literatur. Sie ist die Grauzone der Unentschiedenheit, die er mit seinem Schwarz-Weiß der Wissenschafts- und Kunst-Differenz beseitigen will. Man kann an Carnaps Sprachkontrolle anknüpfen, ohne seine Definitionen von Philosophie und Dichtung zu übernehmen. Wo er zwei Textklassen unterscheidet, lässt sich von zwei unterschiedlichen Aspekten sprechen, nach denen sich die Qualität ein und desselben Textes bestimmt: Logik und empirische Überprüfbarkeit einerseits, Literatur andererseits. Die eine Seite ist die Gesetzmäßigkeit des schlüssigen Denkens und die Richtigkeit realitätsbezogener Behauptungen, die andere das Potential des Stils, der sprachlichen Ästhetik, von der man dann allerdings mehr erwarten kann als nur den Ausdruck von Gefühlen. Genau so, d.h. mit dem Titel »Zwischen Logik und Literatur«,3 fasst der Philosoph Gottfried Gabriel seine Studien zu den literarischen Formen der Philosophie zusammen. Indem er den Akzent nicht auf die kategoriale Unterscheidung von Philosophie und Literatur legt, sondern nach den Funktionen literarischer Formen in der Philosophie fragt,4 ersetzt er Carnaps Schwarz-WeißBild durch eine abgestufte Darstellung. Die Verbindung von Literatur und Philosophie bleibt dadurch keine bloße Grauzone, sondern wird als eine qualitativ zu ordnende Funktionsvielfalt verständlich, wie sich in literarischen Formen Philosophie ausdrückt. Gabriels Ansatz lässt sich über das Korpus der Philosophiegeschichte hinaus verlängern, so dass man konsequent statt nach einer Klassifizierung in Literatur oder Philosophie nach dem Zusammenhang von sprachlicher Darstellung und philosophischer Valenz fragt. So können die Vielzahl und Vielfalt der überlieferten und auch aktuellen Texte in den Blick kommen, die sowohl einen darstellerischen als auch einen argumentativen Anspruch haben. Wer diese Vielfalt in eine philosophische und eine literarische Klasse teilt, gibt damit (wie Carnap) _____________ 1 2 3 4
Carnap: Überwindung, S. 105. Ebd., S. 107. Gabriel: Zwischen Logik und Literatur. Vgl. ebd. Abschnitt II, »Literarische Formen der Philosophie«, S. 19-108, sowie Gabriel / Schildknecht: Philosophie.
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mehr über seine eigenen Normen zu erkennen als über die eingeordneten Texte. Als Grundriss, wie man die Vielfalt literarisch-philosophischer Texte besser ordnen kann, scheinen folgende vier Funktionsunterscheidungen geeignet: 1. Vermittlung, 2. Heuristik, 3. Ausdruck und 4. Kritik. Im ersten Fall haben die literarischen Formen eine sekundäre, in den übrigen drei Fällen eine primäre philosophische Funktion. 1. Vermittlung Die bekannteste Weise, in der Literatur und Philosophie sich verbinden, ist die Vermittlung: Literatur als didaktische Form oder als Popularisierung der Philosophie. Als historisches Exempel kann man Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes (1686) ansehen, die philosophisch-kosmologische Fragen frei vom Spezialistendiskurs im geselligen Konversationston erörtern. Ein neuerer Beleg ist Josteins Gaarders Roman Sofies Welt (norweg. 1991, dt. 1993), der eine auf Kinder ausgerichtete, aber gleichwohl von vielen Erwachsenen gelesene Einführung in die Philosophiegeschichte und in philosophisches Denken gibt. Wo es um Vermittlung geht, hängen Literatur und Philosophie nicht notwendig zusammen, sie bilden vielmehr ein publikumsbezogenes Zweckbündnis. Die Literatur setzt ihren Unterhaltungswert und ihr Popularitätspotential ein, um philosophische Themen ihres wissenschaftlichen Arbeitscharakters zu entkleiden und denen nahe zu bringen, die selbst keinen professionellen Zugang dazu haben. Fontenelle verspricht seinen Lesern, richtiger: seinen Leserinnen, dass dem philosophischen Inhalt seines Buches nicht schwieriger zu folgen sei als den Intrigen eines Liebesromans,5 und der Werbetext zu Sofies Welt verheißt einen »Kriminal- und Abenteuerroman des Denkens«.6 Es geht um das Kontrastprogramm zum Sprichwort ›per aspera ad astra‹: hier also auf leichtem Weg zum anspruchsvollen Ziel. In klassischer Weise hat die Aufklärungspoetik diese Position entwickelt, indem sie die Poesie als eine »ars popularis« in den Dienst der Philosophie und der Wissenschaften stellt.7 Sie soll auf leichte, d.h. anschauliche, exemplarische, lebhafte Weise zu philosophischen und wissenschaftlichen Einsichten führen. Man kann die Vermittlung als eine sekundäre philosophische Funktion bezeichnen, weil sie nicht selbst philosophische Erkenntnisse hervorbringt, _____________ 5 6 7
»Je ne demande aux dames pour tout ce système de philosophie, que la même application qu’il faut donner à La Princesse de Clèves, si on veut en suivre bien l’intrigue, et en connaître toute la beauté.« (Fontenelle: Entretiens, S. 52) Jostein Gaarder: Sofies Welt. Roman über die Geschichte der Philosophie [norweg. 1991]. München 1993, hintere Umschlagseite. Breitinger: Dichtkunst, S. 88.
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sondern als ein zweiter Schritt an eine vorausgehende Erkenntnis anschließt. Historisch ist diese logische als eine qualitative Zweitrangigkeit ausgelegt worden. Das hängt mit der Frage zusammen, auf welche Differenz man die Vermittlung bezieht. Die Aufklärungspoetik denkt hier an das intellektuelle Gefälle zwischen, wie es im 18. Jahrhundert heißt, den »erhabenen Geistern« und dem »großen Haufen«.8 Nur auf diesen richtet sie die Poesie aus, jene bedürfen ihrer nicht, weil ihnen alle Erkenntnisse unmittelbar zugänglich sind. Die Abwertung, die in dieser Unterscheidung steckt, hängt dem Vermittlungs-Konzept bis heute an. Die idealistische Kunstphilosophie und der Autonomie-Gedanke haben sie verstärkt: erstere, indem sie die Einheit von Kunst und Philosophie zum Ideal erhebt,9 letzterer, indem er jede funktionale Zuordnung der Kunst als Entwürdigung einschätzt.10 Man kann es durchaus als eine ›klassische deutsche Position‹ bezeichnen, große Literatur zugleich als große Philosophie anzusehen. Als prägendes Exempel dafür wirkte Schellings an Dantes Divina Commedia angelehnte Faust-Interpretation, die das große Gedicht als »vollkommene Eintracht« von Wissen und Bild, von Philosophie und Poesie feiert.11 Fragen der Didaktik und der Popularisierung kommen in dieser Perspektive nicht vor. Sie fallen auf die nicht-autonome, zweckhafte Literatur zurück, die als minderwertig gilt. Vermittlung als sekundäre philosophische Funktion der Literatur wird zur Angelegenheit einer eben dadurch sekundären, d.h. zweitrangigen Literatur. Damit zieht die kunstphilosophische und autonomie-ästhetische Aufwertung der Dichtung um 1800 eine Abwertung aller Didaktik und Popularisierung nach sich. Anders und der heutigen Situation angemessener stellt es sich dar, wenn man ›Vermittlung‹ nicht nur auf das Gefälle der Intellektualität und des Denkvermögens, sondern auf die arbeitsteilige Ausdifferenzierung der Gesellschaft bezieht. Die Vermittlungsleistung erhält dann einen grundsätzlich anderen Charakter. Statt Nachhilfe für die Schwachen wird sie zu einem Integrationsangebot für die Vielen. Damit ergibt sich die Chance, der Marginalisierung entgegenzuwirken, die der Philosophie durch ihre akademische Spezialisierung droht. Welchen Einfluss ein philosophisches Den_____________ 8 9
10 11
Vgl. ebd. S. 133, 158. »In der idealen Welt verhält sich die Philosophie ebenso zur Kunst, wie in der realen die Vernunft zum Organismus. – Denn wie die Vernunft unmittelbar nur durch den Organismus objektiv wird, und die ewigen Vernunftideen als Seelen organischer Leiber objektiv werden in der Natur, so wird die Philosophie unmittelbar durch die Kunst, und so werden auch die Ideen der Philosophie durch die Kunst als Seelen wirklicher Dinge objektiv.« (Schelling: Philosophie, S. 27) »Das Schöne will eben sowohl bloß um sein selbst willen betrachtet und empfunden, als hervorgebracht sein.« (Moritz: Nachahmung, S. 571) Schelling: Dante, S. 401.
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ken gewinnen kann, das sich neben der akademischen Abhandlung zugleich literarischer Unterhaltungsformen bedient, beweist etwa Jean Paul Sartre. Ohne seine Romane und Theaterstücke hätte der französische Existenzialismus kaum die Bedeutung gewonnen, die er im Nachkriegsdeutschland innehatte. In der aktuellen deutschsprachigen Philosophie verfolgt vor allem Peter Bieri die literarische Vermittlungsstrategie. Dabei tritt er nicht nur neben seiner Professur zugleich unter dem (öffentlich gemachten) Pseudonym Pascal Mercier als Romanautor auf, sondern gibt etwa seiner Abhandlung über die Willensfreiheit durch zahlreiche Erzählsequenzen und dramatisierte Rollenrede eine ganz unakademische Leserorientierung:12 mit solchem Erfolg, dass ein akademischer Philosoph die eigenen Schulstreitigkeiten darin für gewinnbringend neutralisiert hält.13 Hört man auf die Resonanz von Bieris Freiheits-Buch, muss man sagen, dass die sekundäre philosophische Funktion der Literatur – ihre Vermittlungsleistung – heute von primärer Bedeutung für die gesellschaftliche Reichweite der Philosophie ist. Hinzu kommt das Potential, die Nachteile akademischer Schulbildung zu korrigieren und Vermittlung nicht nur nach außen, sondern auch innerhalb der Philosophie, in ihrer internen Ausdifferenzierung zu leisten. Ein eigener Aspekt der literarischen Philosophie-Vermittlung ist die Zensur. Die Fiktionalität kann als Schutz dienen, unter dem das zur Sprache kommt, was anders verboten oder für den Autor gefährlich wäre. Lessings Nathan der Weise z.B. ist die durch die Theaterfiktion ermöglichte Fortsetzung seiner Religionsphilosophie, nachdem seine Streitschriften gegen die lutherische Orthodoxie Publikationsverbot bekommen hatten. 2. Heuristik Den Unterschied zwischen der vermittelnden und der heuristischen Funktion der Literatur kann man sich am besten mit Gotthold Ephraim Lessing anhand der Gattung ›Fabel‹ vergegenwärtigen. Im Allgemeinen erscheint die Fabel als Musterfall für die erste Funktion: Sie ist eine literarische Zeichensprache zur Illustration und Vermittlung moralischer Erkenntnisse, sie ist ein – wenn nicht das – Instrument der moralphilosophischen Populardidaktik. Es ist die eigene Praxis des Fabeldichtens, die Lessing neben _____________ 12
13
Bieri reflektiert dieses Verfahren so: »Stets von neuem habe ich Sie mit einer Aufforderung traktiert, die lautete: ›Stellen Sie sich vor...‹« (Bieri: Freiheit, S. 156). Die längste Sequenz dramatisierter Rollenrede ist der von Bieri erfundene Dialog zwischen Dostojewskis Raskolnikov und dessen Richter (Kap. 9: »Lebensgeschichte und Verantwortung: Raskolnikov vor dem Richter« ). Vgl. Honneth: Rezension.
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dieser üblichen noch eine zweite Funktion der Gattung erkennen lässt. Er selbst nennt sie den »heuristischen Nutzen der Fabeln« und er meint damit den gegenüber der Vermittlung umgekehrten Weg von der Anschauung zur Erkenntnis:14 Wer selbst neue Fabeln schreiben will, kann deren konventionelle Figuren und Situationen so variieren und ergänzen, dass sie zum Reflexionsmedium neuer moralischer Probleme werden. Statt vorgegebene moralische Sätze zu illustrieren, konstruiert die Fabel moralische Problemstellungen und fordert damit weitergehendes moralisches Denken heraus.15 Was Lessing für die Fabel sieht, gilt für weitere literarische Formen. Anstatt Ergebnisse philosophischen Denkens zu illustrieren und zu vermitteln, können sie ihrerseits das Medium philosophischer Reflexion sein. Das kleinste Element, für das dies gilt, ist die Metapher. Als allgemeines sprachliches Phänomen liegt sie vor der Unterscheidung von Literatur und Philosophie. Sie gehört zu beiden, weil beide Sprache sind. Hans Blumenberg hat die Relevanz der Metapher für philosophisches Denken herausgestellt: Neben der Begriffssprache wirkt die Metapher, wie Blumenberg es nennt, »als eine authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen«.16 Blumenberg selbst hat dies am Beispiel der Wahrheitsmetaphorik und kosmologischer Metaphern,17 auch an der Vorstellung von der »Lesbarkeit der Welt«18 und der Höhlenmetapher19 gezeigt. Alle diese Beispiele haben ein ideen- und problemgeschichtliches Format. Sie zeigen zum einen (etwa am Beispiel von »Wahrscheinlichkeit«) die Herkunft der Begriffe aus Metaphern. Zum anderen machen sie deutlich, wie philosophische und wissenschaftliche Theoriebildung von einer impliziten »Hintergrundmetaphorik« abhängen kann und wie manche philosophische Fragen (etwa die nach der Stellung des Menschen im Kosmos) überhaupt
_____________ 14 15
16 17 18 19
Lessing: Fabeln, S. 416. »Oder man nimmt auch den merkwürdigsten Umstand aus der Fabel heraus, und bauet auf denselben eine ganz neue Fabel. Dem Wolfe ist ein Bein in dem Schlunde stecken geblieben. In der kurzen Zeit, da er sich daran würgte, hatten die Schafe also vor ihm Friede. Aber durfte sich der Wolf die gezwungene Enthaltung als eine gute Tat anrechnen?« (Ebd. S. 419) Den »heuristischen Nutzen« beansprucht Lessing für seine eigenen Fabeln, plädiert aber zugleich dafür, in den Schulen Fabeln nicht nur lesen, sondern zugleich schreiben zu lassen. Man könnte sich das auch an der Universität als eine interdisziplinäre literaturwissenschaftlich-moralphilosophische Übung vorstellen. Blumenberg: Ausblick, S. 77. Zum Thema zuletzt Blumenberg: Unbegrifflichkeit. Blumenberg: Paradigmen. Blumenberg: Lesbarkeit. Blumenberg: Höhlenausgänge.
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metaphorischer Art sind.20 Als ein heuristisches Mittel wird die Metapher besonders dann kenntlich, wenn sie terminologisiert oder habitualisiert wird, wenn also das, was sie an Zusammenhang erfasst, so überzeugt, dass es definitorisch festgestellt oder von vielen übernommen wird. Den ersten Fall stellt das Marxistische Begriffspaar »Basis« und »Überbau« dar, den zweiten Wittgensteins Rede von »Familienähnlichkeiten«. Die philosophische Erkenntnis, die in diesen Wörtern steckt, verdankt sich demselben Phänomen, das auch poetische Qualität ausmacht: der prägnanten Metaphorik. Wer komplexe sozio-ökonomische Verhältnisse mit einer Anschauung aus dem Bauwesen und wer die Semantik aus der visuellen Erinnerung an Familienfotos erklären kann, offenbart ein ähnliches Talent wie jemand, der – zum Beispiel – das durch eine radikale naturwissenschaftliche Weltsicht entmoralisierte Individuum als »Elementarteilchen« beschreibt.21 Ganz gleich, ob sie in einer Abhandlung, in einem Roman oder einem Gedicht steht, stiftet die Metapher Beziehungen und Vergleiche, auf denen Erkenntnis überhaupt beruht. Als Grundform sprachlicher Welterschließung ist sie die punktuelle Übereinkunft von Literatur und Philosophie. 3. Ausdruck Im Unterschied zur heuristischen Funktion, die in bestimmten, auch verschiedenen, partiellen Erkenntnismitteln liegt, kann man eine literarische Form als Ausdruck von Philosophie bezeichnen, wenn in ihr die grundsätzliche Überzeugung eines philosophischen Ansatzes steckt, wenn sie – anders gesagt – das insgesamt Charakteristische einer Philosophie ausmacht. In diesem Sinne etwa ist der Dialog der Ausdruck der (von Platon gegebenen) Sokratischen Philosophie, ist der Essai der Ausdruck von Montaignes Skepsis und sind die unsystematischen Notate Ausdruck von Wittgensteins Philosophie. In diesen Fällen tragen die Darstellungsverfahren und -stile die Grundaussage, indem sie die Bedingungen definieren, unter die philosophisches Denken hier jeweils gestellt wird. Für den Platonischen Sokrates muss Philosophie dialogisch sein, weil sie sich als vernünftige Verständigung der Menschen über sich selbst und die Grundfragen ihres Lebens und Zusammenlebens versteht. Montaigne hat mit seinen Essais eine Form geschaffen, die im (oft kontrastierenden) Arrangement von Zi_____________ 20 21
Vgl. in Blumenbergs Paradigmen die Kapitel VIII: »Terminologisierung einer Metapher: ›Wahrscheinlichkeit‹«, VI: »Organische und mechanische Hintergrundmetaphorik« und IX: »Metaphorisierte Kosmologie«. So tut es Houellebecq in seinem Roman Les particules élémentaires von 1998.
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taten, Selbstbeobachtungen, anekdotischen Einzelfallbetrachtungen und Reflexionen eine eigene philosophische Haltung ausmachen: die einer sensibel den mannigfaltigen Erscheinungen des menschlichen Lebens hingegebenen Skepsis. Wittgensteins Fragment-Sammlungen schließlich zeigen Philosophie als Reflexion über den Sprachgebrauch und als immer neu ansetzendes Bemühen, die Grenzen der Sagbarkeit erfahrbar zu machen. In allen drei Beispielen würde die philosophische Position verschoben, wenn man die Darstellungsweise veränderte. Die Sokratischen Dialoge, Montaignes Essais und Wittgensteins fragmentarische Reflexionen sind als Form ein philosophisches Bekenntnis. Es liegt jedoch nicht allein in der literarischen Gattung als solcher (Dialog, Essay, Fragment-Sammlung), sondern erst in der besonderen Ausführung. Zum Sokratischen Dialog gehören die didaktische Funktion der Ironie und die Vorführung des Bekehrungsprozesses, zu Montaignes Essais die unaufgelösten Widersprüche und die Intimität der Beobachtungen, zu Wittgensteins Fragmenten die unaufhörlichen Neuansätze in einzelnen, konkreten Sprachgebrauchsreflexionen. Philosophie wird damit zu einer Angelegenheit des Stils, zur Leistung einer individuellen Sprech- oder Schreibweise. Bei Ludwig Wittgenstein findet sich dazu der Aphorismus »Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten«,22 den man als Hinweis auf die Abhängigkeit der Philosophie vom kreativ entdeckenden Sprachvermögen verstehen kann. Durch seine Sprachreflexionen, durch seinen fragmentarischen und aphoristischen Stil sowie seine textstrategische Subtilität, mit der er dem logischen Positivismus unter vordergründiger Affirmation tatsächlich seine philosophische Unzulänglichkeit bescheinigt hat,23 fungiert Wittgenstein heute als der wichtigste Zeuge, mit dem die Fachphilosophie die philosophische Valenz des Stils und damit ihren eigenen Status als Literatur bedenkt.24 Als Ergebnis fasst Manfred Frank zusammen, »daß der philosophische Diskurs durch seinen Stil an die welterschließende Kraft individueller Deutung und durch sie an die Relativität der geschichtlichen Welt angeschlossen ist«.25 Der Stil macht nicht nur, wie das bekannte Sprichwort sagt, den Menschen,26 sondern auch eine Sichtweise der Welt aus. Und insofern der _____________ 22 23 24 25 26
Wittgenstein: Bemerkungen, S. 483. So Gottfried Gabriels Interpretation von Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus, die vielfach Zustimmung findet (Gabriel: Logik als Literatur?, S. 20-31, Erstpublikation als Aufsatz 1978). Vgl. Gabriel: Form, S. 1-25; ferner: Wiesing: Stil, Frank: Stil. Frank: Stil, S. 83. »[L]e style est l’homme même« (Buffon: Discours, S. 503). Buffon selbst spricht sich mit diesem Diktum nicht für den Individualismus oder Relativismus der Denkstile aus, die in seinem Klassizismus keinen Raum hätten. Dennoch hat sein Diktum gegen seine Intention genau so gewirkt, auch bei Wittgenstein selbst (vgl. Wittgenstein: Bemerkungen, S. 561; zu Wittgenstein vgl. Wiesing: Extreme, S. 195).
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Stil sich als ästhetisches Gesamtkonzept eines Textes zeigt, wird die literarische Form zum Ausdruck von Philosophie. 4. Kritik Eine besondere Weise, in der literarische Formen zum Ausdruck von Philosophie werden, ist die Kritik. Es ist sinnvoll, sie als eine eigene Funktion anzusprechen, weil sich die philosophische Ausdrucksfunktion der Literatur hier in ein bestimmtes Kontrastverhältnis stellt. Die Wahl der Form versteht sich als Entgegnung auf eine als falsch angesehene philosophische Position; die Opposition dagegen manifestiert sich im Darstellungsverfahren selbst und nicht in den besonderen Aussagen. Ein Beispiel dafür sind Adornos Minima Moralia, deren aphoristische, ungeordnete, durch persönliche Lektüre- und Erfahrungseindrücke motivierte Reflexionen als grundsätzliche Kritik am Systemcharakter der Hegelschen Philosophie auftreten.27 Auch hier ist es nicht die literarische Form als solche, sondern erst die besondere Handhabung, in der sich die Kritik artikuliert. Das belegt der Vergleich mit den frühromantischen Fragmentsammlungen von Friedrich Schlegel und Novalis. Sie richten sich zwar ebenso wie Adornos Fragmente gegen die Systemphilosophie, doch was bei Adorno zur Rettung des Individuellen vor der Totalität dienen soll, zielt bei den Frühromantikern auf eine diskurskombinatorische Totale, die alle Redeweisen der Wissenschaften, Künste und Konversation durch deren Vermischung überbieten will. Dieselbe Strategie verfolgen auch Schlegels und Novalis’ Romane, was beweist, dass nicht nur ähnliche Formen verschiedenen Zielen, sondern auch verschiedene Formen, ähnlich gehandhabt, demselben Ziel dienen können. Philosophiekritik qua Literatur sind auch die contes philosophiques der französischen Aufklärer. Denn ihre erzählerische Form dient nicht nur zur didaktischen Vermittlung der Kritik (in Voltaires Candide ou l’optimisme zum Beispiel an Leibniz’ Theodizee). Die Wahl der Erzählung statt der Argumentation ist vielmehr selbst schon ein prinzipieller Widerspruch gegen _____________ 27
In der Zueignung motiviert Adorno die Form der Minima Moralia so: »Darum vermag die gesellschaftliche Analyse aber auch der individuellen Erfahrung unvergleichlich viel mehr zu entnehmen, als Hegel konzedierte, während umgekehrt die großen historischen Kategorien nach all dem, was mittlerweile mit ihnen angestiftet worden ward, selbst vom Verdacht des Betrugs nicht mehr sicher sind. [...] Im Zeitalter seines Zerfalls trägt die Erfahrung des Individuums von sich und dem, was ihm widerfährt, nochmals zu einer Erkenntnis bei, die von ihm bloß verdeckt war, solange es als herrschende Kategorie ungebrochen positiv sich auslegte.« (Adorno: Minima Moralia, S. 10f.)
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jede abstrakte Theorie über das menschliche Leben. Der »Philosoph als Erzähler«28 kehrt sich ab von aller theoretischen Allgemeinheit hin zu den konkreten Situationen und Vorkommnissen des Lebens. In die deutsche Literatur führt Christoph Martin Wieland dieses Programm ein. Die Hauptfigur seiner Erzählung Musarion verkörpert, wie Wieland es nennt, eine »reitzende Filosofie«,29 die als Kritik alles spekulativen oder abstrakt prinzipienorientierten Philosophierens auftritt. Die Form der galanten Verserzählung ist dabei nicht nur das Vehikel, sondern selbst die Botschaft des (wie Goethe sie genannt hat) »heiteren Widerwillens gegen erhöhte Gesinnungen«.30 Zuletzt hat Richard Rorty die Intention der contes philosophiques aufgegriffen und durch seine Rede vom »general turn against theory toward narrative« gewissermaßen fachphilosophisch ratifiziert.31 Das hat zwar nicht dazu geführt, dass Rorty nun seinerseits vom Philosophen zum Erzähler geworden wäre. Doch hat er diesen Wechsel mittelbar vollzogen, indem er seine Professur für ›Philosophy‹ in eine für ›Humanities‹ eingetauscht hat. Und in dieser Position propagiert und betreibt er Literaturkritik, im Besonderen die Auseinandersetzung mit Romanen, als den besseren Ersatz für alle abstrakte Moralphilosophie.32 In den letzten Jahrzehnten hat sich unter dem Stich- und oft auch Reizwort ›Postmoderne‹ das Bewusstsein von der Pluralität und auch von der Relevanz des Ästhetischen innerhalb der Philosophie gesteigert.33 In extremen Fällen lief dies auf die Einebnung der Differenz von Literatur und Philosophie hinaus. Die Basistheorie dafür liefert Jacques Derridas Grammatologie, die einen allgemeinen Text- oder Schrift-Begriff (»texte en général« oder »écriture«) entwickelt,34 mit dem sich die Unterschiede zwischen literarischen, philosophischen und wissenschaftlichen, radikal auch zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten nivellieren lässt. Die weiteren Werke Derridas boten mehr und mehr auch Exempel dafür. Wären diese Werke repräsentativ für das, was heute von Philosophen, Wissenschaftlern und Literaten geschrieben wird, dann wäre die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Philosophie, die ja auch eine Frage nach ihrer Unterscheidbarkeit ist, zwar nicht hinfällig, aber doch insofern erle_____________ 28 29 30 31 32
33 34
Vgl. Warning: Philosophen. Wieland: Musarion, S. 99. Goethe: Dichtung, S. 297. Rorty: Contingency, S. xvi. »Literary criticism does for ironists what the search for universal moral principles is supposed to do for metaphysicians.« (Rorty: Contingency, S. 80) Rortys eigenes Beispiel für eine Romanlektüre als bessere Moralphilosophie ebd., S. 141-168: »The barber of Kasbeam: Nabokov on cruelty«. Vgl. Welsch: Moderne; Welsch: Denken. Derrida: Grammatologie, S. 229f.
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digt, als die eine immer in Mischung mit der anderen aufträte. Doch ist Derrida Derrida geblieben und nicht zum Mainstream geworden. Und die vor allem in literaturwissenschaftlichen Instituten durch Derridas Textbegriff inspirierte Generalsouveränität über alles, was Text ist, blieb ebenso Episode. 5. Fazit Auch wenn man Literatur und Philosophie nicht als getrennte Textklassen betrachtet, so kann man doch jeden Text unter zwei verschiedenen Aspekten betrachten und damit auf zwei verschiedene Qualitäten hin beurteilen: auf sein Vermögen der sprachlichen Darstellung und seinen Anspruch des Denkens. Genau dieser Unterschied begründet die kategoriale Differenz von Literatur und Philosophie. Freilich gibt es Texte, die nur einer der beiden Kategorien zugehören: Literatur, die keinem logisch disziplinierten und problemgeschichtlich informierten Denkanspruch genügt (davon gibt es sehr viel), und Philosophie, die auf das Ideal einer mathematischen Formelsprache abzielt (davon gibt es nicht so viel). Häufig aber hat man es mit Verbindungen beider Qualitäten zu tun. Beide haben ihre Tradition und damit ihre im historischen Prozess entwickelten und etablierten Normen, die heute durch zwei verschiedene Wissenschaften erforscht und gesichert werden. Und wie alle anderen Wissenschaften bilden auch Literaturwissenschaft und universitäre Philosophie keine getrennten Teile der Wirklichkeit ab, sondern bieten verschiedene Perspektiven auf das, was in der Wirklichkeit verbunden ist. Zum besseren Verständnis kommt es also auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit an: um zu sehen, welche Funktion sprachliche Darstellungsverfahren für das Denken, auch für das logisch disziplinierte und problemgeschichtlich informierte Denken haben. Wichtiger als die Grenzfrage, wo die Literatur aufhört und die Philosophie anfängt, ist also die Konkretisierung, wie das, was man als ›literarische‹, und das, was man als ›philosophische Qualität‹ eines Textes ansprechen kann, zusammenwirken. Die vier genannten Funktionen dienen dabei zur grundsätzlichen Orientierung. II. Literatur und Geschichtsschreibung »Was ist Geschichtsschreibung anderes als Literatur, als einer ihrer Zweige, mit anderen eng verbunden?«35 »Geschichtsschreibung ist Literatur.«36 _____________ 35
Mann: Geschichtsschreibung, S. 107.
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»Geschichte ist ein wahrer Roman.«37 So unumwunden, wie Golo Mann, Rudolf Vierhaus und Paul Veyne – sämtlich renommierte Historiker – es hier tun, wird die Geschichtsschreibung nur selten der Literatur zugeordnet. Seit auf der einen Seite die Geschichtsschreibung als wissenschaftliches Geschäft begriffen wird und es auf der anderen Seite den Begriff der Literatur gibt – also seit sprachkünstlerische Texte unter dem Begriff ›(schöne) Literatur‹ zusammengefasst und von anderen Diskursformationen abgegrenzt werden –,38 seitdem geht die allgemeine Tendenz auf wechselseitige Abgrenzung. Tatsachenbezug vs. Imaginationsfreiheit; Darstellung des Sozialen, Strukturellen, ›alle‹ Betreffenden vs. Individualisierung; Objektivität vs. Subjektivität und Wahrheit vs. Schönheit als regulative Ideen; begriffliche vs. metaphorische Sprache; externe Referenz vs. Selbstreferenz; Darstellung von Prozessualität in historischer Zeit vs. Sinnerzeugung durch Überkodierung – so lauten die üblichen Gegenüberstellungen zur Charakterisierung einerseits der Geschichtsschreibung, andererseits der Literatur.39 Begreift man sie nicht als Kriterien, die alle Texte erfüllen (müssen), die als historiographisch oder literarisch kommuniziert werden, sondern als Orientierungspunkte der Kommunikation zwischen Autoren, Distributoren, Lesern und Kritikern, so haben sie durchaus Gültigkeit, auch wenn eine strikte Grenzziehung nicht möglich ist, weil die Texte beider ›Seiten‹ sich immer wieder der Verfahren der anderen Seite bedienen. Die Unterscheidung, die mit den genannten Oppositionen verbunden ist, limitiert nicht streng. Doch hat sie eine unentbehrliche organisierende Funktion: Das Feld, auf dem Texte sich als historiographische oder literarische Texte positionieren, wird durch solche Oppositionen allererst aufgespannt. A. Trans- und Interferenzen zwischen Literatur und Historiographie Die Nachbarschaft von Historiographie und Literatur und die damit verbundenen Trans- und Interferenzen sind vor allem ein Thema der Diskussion und Reflexion über Historiographie, während sie für die Literaturtheorie kaum eine Rolle spielen. Die seit der antiken Rhetorik und z.T. bis in die aktuelle Geschichtstheorie gegebenen Begründungen für eine be_____________ 36 37 38 39
Vierhaus: Geschichte, S. 49. Veyne: Geschichtsschreibung, S. 10. Vgl. Weimar: Literatur. Vgl. Tschopp: Nation, S. 286-339. Der seltene Vorzug von Tschopps Studie liegt darin, dass sie detaillierte Textanalysen – und zwar sowohl von literarischen als auch von historiographischen Texten – mit einer systematischen Diskussion theoretischer Relationierungen bzw. Unterscheidungen beider Diskursformationen verbindet.
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sondere Nähe der Historiographie zur Literatur lassen sich zu vier Typen zusammenfassen: 1. Historiographie bedient sich sprachkünstlerischer Darstellungsverfahren, um die Aufnahmebereitschaft des Lesers zu steigern ›Aufnahmebereitschaft‹ meint hier sowohl das Interesse für den Gegenstand als auch die Offenheit des Lesers für dessen jeweilige Deutung durch den Geschichtsschreiber. Die Wirkung auf den Adressaten generell einzukalkulieren und sodann die sprachlichen Mittel zu ihrer Steuerung auszuwählen, lehrt traditionell die Rhetorik. Seit der Antike betreut sie Poesie und Geschichtsschreibung gleichermaßen; bis ins 18. Jahrhundert bildet sie für beide die maßgebliche Regelungs- und Reflexionsdisziplin, denn auch Poetiken und Historiken als diskursspezifische Anleitungstexte waren rhetorisch fundiert.40 Zwar unterscheidet die Rhetorik Poesie und Geschichtsschreibung z.B. hinsichtlich der empfohlenen Stilhöhe und dementsprechend des Einsatzes von Tropen und Figuren, doch sind dies Differenzierungen innerhalb eines Koordinatensystems. So kann Quintilian die Historiographie als »carmen solutum« (Prosagedicht) charakterisieren, um ihre Nähe zur Dichtung herauszustellen.41 Seitdem die Rhetorik im 18. Jahrhundert einen weitgehenden Geltungsverlust erlitt (mit der Folge weniger eines völligen Verschwindens rhetorischer Ordnungen denn ihrer Sedimentation in Interpretationsanleitungen, Historiken usw.), ist es erheblich schwieriger geworden, die sprachliche Attraktivität von Geschichtsschreibung mit Bezug auf literarische Vorbilder zu diskutieren. Als primär gelten nun nicht mehr die gemeinsamen Darstellungstechniken, sondern die eingangs referierten ›Wesensdifferenzen‹ mit dem Kern Wahrheits- vs. Schönheitsorientierung. Gleichwohl spielen literarische Qualitäten nach wie vor – und wieder verstärkt seit den 1980er Jahren – eine Rolle, wenn darüber diskutiert wird, wie die Geschichtswissenschaft die außerfachliche Öffentlichkeit erreichen kann.42 Mit Fiktion (mentalen Konstruktionen über das Empirische hinaus) oder Fiktionalität (der Enthebung der Literatur von der Verpflichtung zur Realitätsreferenz) hat das Bemühen um einen eingängigen Stil noch nichts zu tun. Im Dienst der Vermittlung von Geschichte können sich historio_____________ 40 41 42
Vgl. Keßler: Geschichtsschreibung; Harth: Geschichtsschreibung. Quintilian: Institutiones oratoriae 10,1,31: »Historia [...] est enim proxima poetis et quodam modo carmen solutum«. Vgl. Meier: Geschichtsschreibung.
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graphische Texte aber auch der Fiktion bedienen: wenn sie modellhafte Szenen entwerfen, die allenfalls in ihren ›Bausteinen‹ durch Quellen belegt sind. Deren Zweck ist einerseits die besonders eindrückliche, weil szenische, mit Figurenrede ausgestattete Darstellung von Entscheidungs- oder anderen Verdichtungssituationen. In der vormodernen Historiographie kommen solche Szenen immer wieder vor; als besonders ausgefeilte Passage sind manche davon klassisch geworden wie die Gefallenenrede in Thukydides’ Peloponnesischem Krieg (entstanden 431 bis nach 399 v. Chr.). Zweck kann andererseits die Modellierung des Typischen, Alltäglichen, deshalb aber schlecht Dokumentierten oder durch Dokumente immer nur partiell Erfassten sein; aus einer langen Reihe solcher Szenen bestehen Gustav Freytags Bilder aus der deutschen Vergangenheit (1859-1867). Heute gelten beide Verwendungen nur in popularisierenden Texten als zulässig; besonders im historischen Sachbuch für Kinder und Jugendliche sind sie verbreitet. In den Horizont der kritischen Öffentlichkeit treten Texte mit solchem Fiktionsgebrauch nur als Literatur. Ein vom Publikum, der Kritik und in der Wissenschaft gleichermaßen positiv aufgenommenes Beispiel stellt Dieter Kühns Parzival des Wolfram von Eschenbach (1986) dar; die umfangreiche Einführung bietet hier, neben ›normalhistoriographischen‹ Informationen und Erörterungen, modellhafte Szenen vom mittelalterlichen Leben auf einer Burg, in einer Handelsstadt usw. 2. Historiographie muss ihren Gegenstand erzählen Sie disponiert ihren Stoff durch die Benennung von Kontrahenten, die Ermittlung oder Unterstellung von Absichten sowie die Identifizierung von Widerständen bzw. Faktoren zu deren Überwindung. Dabei handelt es sich um eine Operation von grundlegender Bedeutung: Erst durch die Formierung von historischem Geschehen nach dem Muster des ›dramatischen Handlungsmodells‹ (Dietrich Harth)43 entstehen der Zusammenhang und die Entwicklungsrichtung, die der Kollektivsingular ›Geschichte‹ impliziert (›syntagmatische‹ Dimension). Weiterhin von einem ›ästhetischen Handlungsmodell‹ lässt sich sprechen, sofern die Akteure als Agenten allgemeinerer Tendenzen (Ideen, Klassenkonflikte, Strukturveränderungen usw.) begriffen werden; als ästhetisch gilt dabei die interpretative Bildung eines Zusammenhangs zwischen dem ›Vordergrund‹ von anschaulicher personaler Interaktion und dem ›Hintergrund‹ überpersönlicher, abstrakter Prozesse (›paradigmatische‹ Dimension). _____________ 43
Vgl. Harth: Biographie, S. 99-104.
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Das dramatische Handlungsmodell liegt bereits Praxis und Theorie der antiken Geschichtsschreibung zugrunde.44 Modern reformuliert wurde es unlängst in der narrativistischen Geschichtstheorie. Danach kommt der Ereigniszusammenhang, den der Begriff der Geschichte impliziert, historiographisch durch eine Konfiguration zum Ausdruck, wie sie Aristoteles’ Poetik für die dramatische Handlung beschreibt. Die »Zusammenfügung der Geschehnisse« wird dort als »der wichtigste Teil« der dichterischen Darstellung (Mimesis) ausgewiesen, denn nur eine geschlossene und folgerichtige, d.h. aus sich selbst heraus verständliche Handlung könne unabhängig von Realitätsreferenzen bestehen, weil sie in sich plausibel ist.45 Schon Aristoteles erkennt dieses Konfigurations- und Konstitutionsprinzip auch der epischen Dichtung zu (nicht jedoch der Geschichtsschreibung, weil sie ein Geschehen nicht nach dem Prinzip folgerichtigen Auseinanderhervorgehens modelliere, sondern schlicht ›alles‹ wiedergebe, was in einem bestimmten Zeitraum passiert sei).46 Umfassend wurde die narrative Struktur der Geschichtsschreibung seit den 1960er Jahren nachgewiesen, und zwar von unterschiedlichen wissenschaftskonzeptionellen Ansätzen aus, die argumentativ aber aufeinander aufbauen. Durchweg geht es dabei nicht um ›Erzählerisches‹ auf der discours-Ebene (plastische Charaktere, Absichten und Interaktionen im Zentrum, Anschaulichkeit des Settings), wie die historiographischen Klassiker von der Antike bis zum Historismus es bieten,47 sondern um eine narrative Tiefenstruktur, die Historiographie generell ausmacht, einschließlich der programmatisch post-narrativen Geschichtsforschung sozialwissenschaftlicher, strukturanalytischer oder ›kliometrischer‹ Orientierung (Fernand Braudel, Hans-Ulrich Wehler).48 Dass Geschichtsschreibung tiefenstrukturell und daher notwendig narrativ verfährt, hat zunächst die Analytische Philosophie herausgearbeitet. Hier wurde die Erzählung als eine für historische Prozesse besonders geeignete Form der Erklärung ausgewiesen:49 Während die Erklärung durch Gesetze bei historischen Prozessen nicht greift, weil diese extrem multifaktoriell bzw. ›kontingent‹ sind, ist der typischen Drei-Phasen-Struktur erzählter Geschichten eine immanente Erklärungsleistung eingeschrieben: Ein Ausgangszustand wird durch ein Ereignis verändert, das die nicht nur temporale, sondern auch qualitative Differenz zum Endzustand ausmacht. Die Erzählung ›erklärt‹ solche Zustandsänderungen, indem sie auf eine im _____________ 44 45 46 47 48 49
Vgl. Cicero: De oratore 2,15,63. Aristoteles: Poetik, Kap. 6 und 7, 1450a-b. Vgl. ebd., Kap. 23, 1459a15-30. So diskutiert Droysen die Erzählung als eine von vier möglichen Typen der Darstellung, vgl. Droysen: Historik, S. 229-249. Vgl. Rüth: Geschichte. Vgl. Danto: Geschichte.
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Erfahrungshorizont oder zumindest dem Vorstellungsvermögen von Erzähler und Rezipient plausible Weise aus Phase 1 in Phase 3 überleitet. Transzendentalphilosophisch wurde die Erzählung darüber hinaus als apriorisches Schema ausgewiesen, das allen Rekonstruktionen, ja Wahrnehmungen von Geschichte zugrunde liegt.50 Danach fungiert das Kohärenzschema der Erzählung im historischen Denken als Anschauungsform, die ›bloßes‹, amorphes Geschehen in strukturierte, durch Kontinuität und sinnvolle Entwicklung ausgezeichnete Geschichte transformiert. In einem prägnanten Sinne ist daher schon historisches Denken genuin und generell narrativ verfasst. Erzählen lässt sich auch etwas, was niemals geschehen ist. Für die Historiographie beginnt die Überschreitung ihrer normalen Erzählkompetenz, sobald sie Situationen und Verläufe darstellt, die sich nicht durch Quellen belegen lassen, während literarische Entwürfe von Geschichte erst durch Konterkarierung des bekannten Geschichtsverlaufs auffällig werden (z.B. durch einen deutschen Sieg im Zweiten Weltkrieg wie in Robert Harris: Fatherland, 1992, dt. Übers.: Vaterland, 1992).51 Um sich nicht dem Vorwurf illegitimen Fabulierens auszusetzen, müssen geschichtswissenschaftliche Texte solche Fiktionen zumindest typographisch auszeichnen (wie eine »Nachtphantasie« Wallensteins in dessen Biographie von Golo Mann von 1971) oder sie ausdrücklich als ›kontrafaktische Geschichtsschreibung‹ präsentieren.52 Ziel bleibt hier das bessere Verständnis des Tatsächlichen. 3. Geschichte zu schreiben, heißt immer, sie zu deuten, nicht zuletzt durch literaturanaloge Darstellungsverfahren Dass Geschichte erzählt werden muss, bezeichnet ihr Strukturprinzip auf allgemeinster Ebene. In den einzelnen Geschichtswerken wird es je besonders ausgestaltet. Wie Hayden White gezeigt hat, sind besonders die Klassiker der Historiographie nach den Handlungsverlaufsmustern literarischer Gattungen erzählt (bei White: Komödie, Tragödie, Romanze und Satire).53 Im Erzählen entsteht nicht nur Geschichte als solche, sondern erhält die jeweils erzählte Geschichte einen Plot (eine sinnhafte Handlungsverlaufsstruktur), der strukturell an die Geschichten-Typen literarischer Gattungen angelehnt ist. Aus den in einer bestimmten Kultur akzeptierten Geschichten-Typen ist dieser Plot prinzipiell frei wählbar; seine _____________ 50 51 52 53
Vgl. Baumgartner: Kontinuität. Vgl. Rodiek: Geschichtsdarstellung. Vgl. Demandt: Geschichte; Ferguson: Geschichte. Vgl. White: Metahistory.
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Wahl ist daher signifikant für die Deutung der jeweils dargestellten Geschichte wie der Geschichte allgemein (eben als Komödie usw.). Über den geschichtskonstitutiven Sinn der Folgerichtigkeit hinaus schafft die historiographische Erzählung einen Sinn, der sehr unterschiedlich ausfallen kann und daher auch einiges über die ideologischen Absichten des Historiographen besagt; so bezeugt die Komödienstruktur von Droysens Geschichte Alexanders des Großen (1833) mit ihrer Versöhnungsorientierung besonders hohe Sinnerwartungen an die Geschichte.54 Die Sinnzuweisung durch Emplotment stellt ein zentrales, aber nicht das einzige Moment der Mehrfachkodierung dar, die historiographische Werke ähnlich wie literarische betreiben. Mehrfachkodierung bedeutet, dass sprachlichen Zeichen außer ihrer konventionell bzw. im jeweiligen Kontext nächstliegenden Bedeutung weitere Bedeutungen zugewiesen werden, aufgrund von Metaphorizität, Isotopien, symbolischem Potential, Klangkorrespondenzen (Reimen), Wiederholungen von Satzteilstrukturen (Anaphern und anderen Figuren) usw. Techniken der Mehrfachkodierung werden auch in der Historiographie genutzt, etwa indem Faktisches (Geschehensdetails, Bauliches, aber auch Horoskope, Träume usw.) als Symbolisches dargestellt wird, dessen Bedeutung über die je konkrete Situation hinausweist,55 oder indem durch die Wiederholung von Motiven Korrespondenzstrukturen zwischen verschiedenen Phasen der Geschichte bzw. Teilen des Textes geschaffen werden.56 Das heißt zugleich, dass auch Geschichtswerke die Autoreferentialität aufweisen können, die häufig als Kennzeichen literarischer Texte angesehen wird. Für ihre Sinnbildung nutzen sie Selbstreferenzen ebenso wie Techniken der Mehrfachkodierung; ihre Sinnbildung _____________ 54 55
56
Vgl. White: Erzählung, S. 78f. So z.B. in Gerrit Walthers Studie über den Fuldaer Abt Balthasar von Bernbach, einer Habilitationsschrift (!): »Kurze Zeit später sahen sie [Balthasar und sein ›geringes Gefolge‹, D.F. / S.M.] die Würzburger kommen. In der Nähe von Langendorf [...] begegneten sich die beiden Gruppen auf freiem Feld. Auch der Bischof hatte nicht viel mehr als vierzig Reiter dabei. Doch welch ein Unterschied! Hier, auf der Seite des Abts, zwei schlichte alte Amtmänner, zwei unbedarfte junge Beamte, einige Knechte und ein paar adlige Verwandte. Dort hingegen die politische Elite des Hochstifts Würzburg.« (Walther: Balthasar, S. 460) So wird der erste Satz in Thomas Nipperdeys dreibändiger Deutscher Geschichte (»Am Anfang war Napoleon«) dadurch ironisiert, dass am Anfang des zweiten Bandes zu lesen steht, mit Bismarck »fing alles an« – und natürlich durch den intertextuellen Bezug auf das Johannesevangelium sowie Fausts Ringen mit der Formulierung des Anfangs (Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 11; Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1, S. 9; Goethe: Faust I, Vv. 1224-1238). Was für sich genommen nach einer ›Geschichte großer Männer‹ klingt, erweist sich im – vom Leser zu bemerkenden, nicht explizierten – Kontext als Ausdruck der Relativität von Betrachtungsweisen und zumal von Anfangssetzungen.
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bleibt damit zumindest partiell implizit (neben der Explikation, die als notwendige Bedingung von Wissenschaftlichkeit gilt). 4. Imagination, Einbildungskraft, Konstruktion Was bisher über historiographische Texte gesagt wurde, lässt sich auch hinsichtlich ihres Produktionsprozesses und der dabei eingesetzten Geisteskräfte formulieren: Da Geschichtsschreibung sich nicht in der Sammlung und Zusammenstellung von Quellenzeugnissen erschöpft, kommt der Historiker nicht ohne Imagination aus. Die Tradition verweist dazu in der Regel auf die Einbildungskraft oder Phantasie, auf die Historiker wie Dichter angewiesen sind. Nach Wilhelm von Humboldt wird die vom Historiker dargestellte Geschichte »von der Einbildungskraft dergestalt aufs neue gebohren [...], dass sie, neben der buchstäblichen Uebereinstimmung mit der Natur, noch eine andre höhere Wahrheit in sich trägt«.57 Heute spricht man, um dasselbe auszudrücken, von der Konstruktivität, die der Geschichtserkenntnis nicht nur in einem allgemeinen wissenschaftstheoretischen Sinne eigen ist, sondern weil ›die Geschichte‹ immer wieder erschrieben werden muss (Humboldt spricht von der »Form der Geschichte überhaupt«, welche die »höhere Wahrheit« des jeweils dargestellten Geschichtsabschnitts bilde).58 Im Hinblick auf das Verhältnis der Historiographie zur Literatur ist die Konstruktivitätsdiagnose an sich neutral; sie verbindet sich aber häufig mit der Andeutung einer besonderen Nähe beider Diskursformationen, wenn das konstruktive Moment der Geschichtsschreibung als ›Fiktion‹ bezeichnet wird (s.u.). Tatsächlich bemühen sich gerade Historiker, die die Imagination gegen den Quellenpositivismus hochhalten, um einen literarischen Darstellungsstil (besonders weitgehend der aus dem George-Kreis stammende, gleichwohl akademisch erfolgreiche Ernst Kantorowicz mit seinem Kaiser Friedrich der Zweite von 1927). 5. Referentialität der Literatur, metahistoriographische Fiktion Der traditionsreichen und vielschichtigen Diskussion über literarische Anteile an der Geschichtsschreibung steht in umgekehrter Blickrichtung, also hinsichtlich der Geschichtlichkeit oder Geschichtsförmigkeit der Literatur, nichts Vergleichbares gegenüber. Eine gründliche Paralleluntersuchung beider Diskursformationen, die auch nach Historiographischem in der _____________ 57 58
Humboldt: Geschichtschreiber, S. 591. Ebd., S. 590f.
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Literatur fragt, hat allein der Philosoph Paul Ricœur unternommen. Ricœur zufolge sind Historiographie wie Literatur, um ihre spezifische Darstellungsleistung zu erbringen, auf die Verfahren des anderen angewiesen – sie ›überkreuzen‹ sich.59 Vom Rückgriff der Historiographie auf literarische Verfahren war bereits die Rede: Um im prägnanten Sinne ›Geschichte‹ zu schreiben, also um Vergangenheitsgeschehen in jener Kohärenz und Folgerichtigkeit darzustellen, den der Begriff der Geschichte behauptet, bedient sie sich unweigerlich des in der Literatur kultivierten Verfahrens narrativer Verknüpfung. Literatur wiederum erschaffe die imaginären Welten, die sie vorwiegend darstellt (nicht alle literarischen Texte sind fiktional), durch eine Als-ob-Referenz, die insofern an die faktizistische Referenz der Geschichtsschreibung angelehnt sei, als beide Referenzmodi allein über die Benennung von Figuren, Situationen, Handlungen usw. funktionieren.60 Auch wenn es das, worauf fiktionale Texte quasi referieren, nicht gibt oder jedenfalls nicht geben muss (die Verpflichtung auf Referentialisierbarkeit ist durch den Fiktionsvertrag zwischen Autor und Leser prinzipiell suspendiert), so heiße dies nicht, dass Literatur auf nichts referierte, sondern nur, dass alle Referenzgegenstände fiktiv sein können.61 Die Darstellungsleistung der Literatur verdankt sich demnach entweder – im selteneren Fall nicht-fiktionaler Texte – einer regelrecht historiographischen Referenz oder deren (nicht täuschender) Simulation. In der Gegenwartsliteratur scheinen sich übrigens die Texte zu häufen, die eine regelrecht historiographische Referentialität aufweisen (so dass wie im Fall der aktuell beliebten Familienbiographien von einer ›Literatur ohne Fiktion‹ gesprochen werden kann) oder mit dem entsprechenden Verdacht des Lesers spielen (für solche Texte, z.B. Erzählungen W. G. Sebalds, etabliert sich derzeit der Begriff ›Autofiktion‹). Je stärker die Literaturwissenschaft künftig auf diese speziellen Tendenzen eingeht, desto mehr literaturtheoretisches Gewicht wird vermutlich auch die quasi historiographische Referenz im Allgemeinen gewinnen. Einen weiteren – nicht konstitutiven, sondern reflexiven – Bezug von Literatur auf Historiographie hat die Literaturwissenschaft der letzten Jahre bereits vielfach herausgearbeitet: Literarische Texte entwerfen alternative Geschichtsverläufe (s.o.) oder -deutungen (z.B. eine feministische Universalgeschichte in Günter Grass: Der Butt, 1977), modellieren Konstellationen mit Reflexionspotential hinsichtlich der Erkenntnis- und Methodenprobleme der Geschichtserkenntnis (z.B. Dieter Kühn: N, 1970) oder problematisieren das Denkmuster ›Geschichte‹ und seine Sinnstiftung prinzipiell (z.B. _____________ 59 60 61
Vgl. Ricœur: Zeit. Bd. 3, S. 295. Vgl. ebd., S. 306; Ricœur: Zeit. Bd. 1, S. 122-129. Vgl. auch Martínez / Scheffel: Erzähltheorie, S. 14.
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Gustave Flaubert: Bouvard et Pécuchet, 1881), nicht zuletzt den konstituierenden Anteil der Imagination oder ›Fiktion‹.62 ›Historiographische Metafiktion‹ ist dafür der eingeführte Gattungsbegriff,63 wenngleich ›metahistoriographische Fiktion‹ treffender wäre, weil die Historiographie den Reflexionsgegenstand bildet. So zeichnet Brechts Romanfragment Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar (1938/1939) das Bild eines primär von ökonomischen Interessen getriebenen Politikers, indem u.a. mit den Tagebuchaufzeichnungen seines Sekretärs eine Quelle neuen Typs fingiert wird, um das durch den Gallischen Krieg sowie Theodor Mommsen verbreitete Caesarbild zu ›korrigieren‹. Der Literatur wird hier die Position eines Metadiskurses zugemessen. Wie bei der geschichtskonstitutiven Rolle der Erzählung stellt sie sich als dasjenige dar, das der Historiographie aufhilft. Plausibel ist dieser Anspruch häufig in formaler Hinsicht – wenn die Voraussetzungen, Praktiken und Wirkungen des Geschichteschreibens verhandelt werden, die dieses selbst in der Regel ausblendet –, selten jedoch in seiner inhaltlichen Füllung. Bessere Gründe als die Historiographie hat Literatur kaum je für ihre alternativen Konstruktionen von Geschichte aufzubieten. 6. Typologie Die als 1.-4. nummerierten Typen von Argumenten für eine besondere Nähe der Historiographie zur Literatur unterscheiden sich nicht nur darin, auf welche Dimension von Historiographie sie sich beziehen. Zugleich weisen sie deren literarischem Moment eine mehr oder weniger zentrale Position zu: Gilt das Literarische wie in 1. als Repertoire von sprachlichen Mitteln, welche die Vermittlung von historischem Wissen begünstigen, so bleibt es dem eigentlich Historischen äußerlich. In dieser Perspektive sind literarische Formen etwas sekundär Hinzukommendes, entsprechend der rhetorischen Unterscheidung von res und verba; die geläufige Metapher dafür ist ›Einkleidung‹.64 Wird, wie in 2., die Erzählung hingegen als das ausgewiesen, was einer Geschehensdarstellung Kohärenz, Problematizität und Erklärungskraft verleiht, so betrifft die Analogie zur Literatur den Kern von Historiographie. In dieser Perspektive hat die literarische Form eine konstituierende Bedeutung, und zwar nicht allein für das je einzelne Geschichtswerk, sondern darüber hinaus schon für das Denkmuster ›Geschichte‹. Ebenfalls als _____________ 62 63 64
Vgl. z.B. Deeds Ermarth: Sequel; auf breiter Materialgrundlage und zugleich stark systematisierend Nünning: Fiktion, Kimmich: Wirklichkeit. Ausgehend von Hutcheon: Postmodernism. Vgl. als einen Beleg für viele Gatterer: Vorrede, S. *2: »Die reine lautere Wahrheit halten wir für das Wesen der Geschichte: eine gute Einkleidung nur für eine nüzliche und wünschenswerte, aber doch an sich und wenn es seyn muß entbehrliche Zugabe.«
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unverzichtbar gilt in der unter 4. skizzierten Diskussion über den Schritt von der Quellenarbeit zur Geschichtsdarstellung der Einsatz der Einbildungskraft oder von ›Fiktionen‹. Zwischen beiden Sichtweisen steht die unter 3. zusammengefasste Diskussion über die interpretative Funktion des narrativen Emplotments und anderer Mehrfachkodierungen in der Historiographie. Hier geht es um die je nach Geschichtswerk unterschiedlichen Konfigurierungen von Geschichte und die Botschaften, die sich aus den jeweils eingesetzten Darstellungsmitteln ergeben; sie unterliegen der mehr oder weniger freien Wahl des Historikers, kommen aber nicht sekundär zu einer fertigen Geschichte hinzu, sondern haben formierende Wirkung.65 Zu der im ersten Teil dieses Aufsatzes entworfenen Typologie von Verbindungen zwischen Literatur und Philosophie weisen die angeführten Argumente für eine besondere Nähe von Geschichtsschreibung und Literatur starke Parallelen auf. Auf beiden Feldern werden literarische Darstellungsweisen 1. als hilfreich für die publikumswirksame Vermittlung von Wissen (historischem oder philosophischem) diskutiert und genutzt. Literarische Formen gelten 2. als Erkenntnisinstrumente: Das Handlungsmodell des Dramas und die Verknüpfungsstruktur der Erzählung dienen als Heuristiken zur historiographischen Konfiguration des amorphen Vergangenheitsgeschehens (wie die Quellen es bezeugen) zu einer folgerichtigen Geschichte, so wie der Metapher eine Erschließungs- und Verknüpfungskraft jenseits der begrifflichen Sprache zugemessen werden kann. Mit der narrativen Verknüpfung verbinden sich 3. spezifische Handlungs- und Gesellschaftsmodelle und womöglich Weltbilder, so wie mit der Wahl einer Gattungsform eine philosophische Positionsnahme einhergehen kann. Dies gilt schon für die prinzipielle Voraussetzung, dass Geschichte erzählförmig sei, und noch deutlicher für die Wahl dieses oder jenes Geschichten-Musters durch den Geschichtsschreiber. Überdies enthalten literarische Texte ein historiographie- oder philosophiekritisches Potential, wenn sie ihre eigene Funktionsweise (Imagination, Semantik der Form) als Verfahren auch der Historiographie oder Philosophie ausweisen und reflektieren (= 4. Typ im philosophischen Teil). Schließlich gilt für die Rolle literarischer Formen sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der Philosophie, dass sie als deren Akzidens oder Konstituens, als sekundär hinzukommend oder genuin dazugehörig angesehen werden, je nach Zuordnungsdimension. _____________ 65
Hayden White behandelte die narrative Geschichtsschreibung lange als eine Möglichkeit der Geschichtsschreibung neben anderen (Chronik, Strukturanalysen nach dem Muster der Annales). Erst ein 1989 erschienener Aufsatz spricht von einer geschichtskonstituierenden Funktion der Erzählung: »[W]here there is no narrative, there is no distinctively historical discourse« (White: Literary Theory, S. 21).
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B. Zur Grenze zwischen Literatur und Geschichtsschreibung Was folgt aus all diesen Interferenzen für die ›Grenze‹ zwischen Literatur und Geschichtsschreibung? Die in der Historiographie- und Erzählforschung gezogenen Schlüsse gehen z.T. diametral auseinander. Manche Autoren sehen die ›Grenze‹ zwischen Literatur und Geschichtsschreibung unterminiert, sei es dass sie davor warnen,66 sei es dass sie selbst in diese Richtung argumentieren. Auf der Gegenseite versucht man, textinterne Kriterien zu benennen, nach denen sich geschichtsdarstellende Erzähltexte in fiktionale und historiographische sortieren.67 Beide Extrempositionen – die der Grenzverwischung ebenso wie die der Grenzziehung – sind in wichtigen Punkten problematisch. Aus dem Befund, dass die Erzählung die genuine Form der Geschichte darstellt, wurde verschiedentlich gefolgert, dass eine so verstandene Historie von der Wissenschaft zur literarischen Gattung mutiere. In solchen Fällen wird übersehen, dass die Erzählung kein Spezifikum der Literatur darstellt, sondern einen schon lebensweltlich omnipräsenten Modus der Auffassung, Strukturierung, Deutung und Vermittlung von realen oder imaginierten Erfahrungen, von Wissen, Vorstellungen und Intentionen bildet. Sieht man wissenschaftliche Erkenntnis nicht auf die Aufstellung von und Ableitungen aus Gesetzen beschränkt, so kann die Verknüpfungs- und Repräsentationsleistung der Erzählung durchaus als wissenschaftsfähig gelten – wenn die Gewinnung von Geschichte in den Erzählungen der Historiographie methodisch reflektiert erfolgt.68 Beabsichtigt ist die Homogenisierung von Historiographie und Literatur dort, wo der Begriff ›Fiktion‹ undifferenziert verwandt wird. Hayden White charakterisiert die Geschichtsschreibung als »sprachliche Fiktionen, deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften«.69 White unterstellt der Historiographie zum einen fiktive Inhalte, da nicht alle ihre Aussagen schon in den Quellen stehen. Tatsächlich haben Kollektivsubjekte wie ›das Bürgertum‹ oder gar personifizierte Abstrakta wie ›die Moderne‹ keinen identifizierbaren Referenten. Zum anderen schließt White von der narrativen Form der Historiographie auf deren Zugehörigkeit zur diese Form kultivierenden fiktionalen Literatur. Gegen solche Argumente hat eine Fiktionstheorie Einspruch zu erheben, die kognitive oder methodische (einschließlich heuristischer) von literarischen Fiktionen unter_____________ 66 67 68 69
Vgl. Evans: Fakten. Vgl. Nünning: »Verbal Fictions«. Vgl. Chartier: Vergangenheit, S. 35f. White: Text, S. 102.
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scheidet, nämlich sowohl in deren Realitätsbezug als auch in deren Pragmatik: Macht die Historiographie Aussagen, die über das von Quellen Belegte hinausgehen (und sei es nur, indem sie das Abstraktionspotential der Sprache nutzt oder historischen Verläufen die Struktur erzählter Geschichten verleiht), so wird von ihr erwartet, dass sie damit an der Erkenntnis von vergangener Wirklichkeit arbeitet; sie hat aber nicht die Lizenz zum Spiel mit Referentialität, die die literarische Fiktion durch einen zwischen Autor und Leser abgeschlossenen ›Fiktionsvertrag‹ erhält. Im Sinne einer strikten ›Grenzziehung‹ werden häufig die durch die Fiktion gegebenen »Privilegien bei der Selektion und literarischen Vermittlung von Geschichte« betont.70 Ansgar Nünning rechnet dazu: die Möglichkeit uneingeschränkter Innenweltdarstellung; die Möglichkeit, fiktive Bestandteile (Figuren, Schauplätze, Geschehnisse) und solche mit Realitätsreferenz völlig frei zu kombinieren; intertextuelle Referenzen auch auf fiktionale statt lediglich auf andere wissenschaftliche Texte; eine metafiktionale Rückbezüglichkeit, die den Text als Fiktion ausstellt; die Unterschiedenheit von Autor und Erzähler (einer bei fiktionalen Texten stets fiktiven Instanz); ein breiteres Spektrum von Perspektivierungsmöglichkeiten, z.B. die interne Fokalisierung (das personale Erzählen), so dass das Wie der Vermittlung wichtiger werden kann als das Was des Erzählten; szenisches Erzählen mit ausgiebigen Dialogen, Semantisierung des Raumes. Nünning zufolge bestehen in diesen Punkten »nicht bloß graduelle Unterschiede«, vielmehr lassen sich Historiographie und fiktionale Geschichtserzählung anhand dieses Merkmals als »kategorial verschiedene Modi der Geschichtsdarstellung« ausweisen.71 Gegen eine prinzipielle Scheidung von literarischen und historiographischen Geschichtsdarstellungen, die sich in dieser Weise auf Textmerkmale bezieht, sind indes Einwände möglich. Einiges, was nach Nünning der Fiktion vorbehalten ist, findet sich, wie in den Abschnitten II.A.1.-3. erwähnt, auch in manchen Geschichtswerken und nicht allein in vormodernen oder außerwissenschaftlichen Texten: szenisches Erzählen mit Dialogen, erlebte Rede, Symbolisierungen.72 Für eine künftige Narratologie der Geschichtsschreibung (so etwas liegt trotz des Siegeszugs der narrativistischen Geschichtstheorie noch nicht vor) dürfte zudem wichtig sein, dass _____________ 70 71 72
Nünning: Fiktion, S. 173-199. Ebd., S. 173. Ähnlich die Tendenz bei Cohn: Fiktionalität. Eine weitere Schwäche von Nünnings Gegenüberstellung von Historiographie und Fiktion besteht in der unausgesprochenen Reduktion von literarischen Geschichtsdarstellungen auf fiktionale Texte. Ausgeblendet wird dadurch die für die gegenwärtige literarische Auseinandersetzung mit Geschichte charakteristische ›Literatur ohne Fiktion‹ wie Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders, 2003, Dieter Kühn: Schillers Schreibtisch in Buchenwald, 2005 usw.
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die Identifikation der historiographischen Erzählinstanz mit dem Autor keineswegs so sicher ist, wie es in der (spärlichen) Forschung dazu den Anschein hat.73 Zwar verweisen Ich-Aussagen in der historiographischen Erzählung stets auf den Historiker-Autor. Doch kann sich die Erzählinstanz sowohl zeitlich als auch ideologisch von der Position des Autors entfernen.74 Auf die historische Entwicklung literarischer Erzähltechniken bezogen, steht die Historiographie dem realistischen Roman des 19. Jahrhunderts am nächsten. Das gilt auch für die Historiographie der Gegenwart; die Experimente der literarischen Moderne (Fragmentierung, Achronie, Depersonation) hat sie nicht mitvollzogen – und kann dies wohl auch nicht, soll ihr auf narrative Folgerichtigkeit gegründetes Konzept von Geschichte nicht Schaden leiden. Die immer wieder erhobenen Forderungen nach Modernisierung der Geschichtsschreibung nach literarischem Vorbild lassen sich lediglich im experimentellen Einzelfall befriedigen (z.B. Richard Price: The Convict and the Colonel, 1998). Wo sie als generelle Maßgabe auftreten, ignorieren sie jene Grenze zwischen beiden Diskursformationen, die durch die Literaturgeschichte der letzten 100 Jahre gezogen wurde. Einen weiteren Ansatz zur prinzipiellen Unterscheidung von literarischen und historiographischen Texten bildet der Verweis auf die beiden distinkten Sozialsysteme, in denen Literatur und Historiographie seit etwa zwei Jahrhunderten produziert werden. Die rezeptive Zuordnung zum einen oder anderen System kann ganz ohne Bezug auf textinterne Merkmale erfolgen, nämlich schon aufgrund von paratextuellen Hinweisen (›Roman‹ als Gattungsbezeichnung, Informationen zum Autor) oder nach dem jeweiligen Distributions- oder Kommunikationsort (belletristische oder historische Abteilung in einer Buchhandlung, Zeitungsbesprechung in der Rubrik ›Literatur‹ oder ›Sachbücher‹, literaturwissenschaftliches oder historisches Seminar usw.). In den quantitativ bedeutsamen ›niederen‹ Marktsegmenten des populären oder jugendadressierten Geschichtsbuchs sowie der Trivialliteratur im historischen Gewand scheint die systemische Differenzierung allerdings weniger stark habitualisiert. So wird ein Roman wie Ken Folletts The Pillars of the Earth (1990, dt. Übers. Die Säulen der Erde, 1992) durchaus auch als Einführung in den mittelalterlichen Kathedralenbau gelesen. Auf avanciertem Rezeptionsniveau sind Grenzüberschreitungen gleichfalls mög_____________ 73 74
Bezeichnend ist die plakative Formel »A = N → faktuale Erzählung, A ≠ N → fiktionale Erzählung« bei Genette: Fiktion, S. 83. So erzählt der Protestant Ranke die Geschichte der Römischen Päpste (1834-1836) aus der Perspektive dieser geschichtlichen Macht, fällt zugleich jedoch Urteile von seinem konfessionellen Standpunkt aus. Die Rückversetzung in den Zeithorizont der historischen Akteure mit einer noch offenen Zukunft ist das Programm des Historikers und Geschichtstheoretikers Lucian Hölscher (Hölscher: Annalistik).
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lich, sie erfolgen hier aber reflektierter, etwa wenn ein historiographischer Text unter dem Gesichtspunkt seiner literarischen Qualität kommuniziert wird (wie die Römische Geschichte, für die Theodor Mommsen den Literaturnobelpreis des Jahres 1902 erhielt) oder vice versa (wie die attische Tragödie in Christian Meiers Buch über Die politische Kunst der Tragödie). Die Behandlung im ›anderen‹ System bedeutet meist nicht, dass der jeweilige Text in dieses System ›eingemeindet‹ würde; er gibt vielmehr Anlass, über die Kriterien für jene Grenzziehung nachzudenken, sie zur Anwendung zu bringen und dadurch immer wieder neu zu prozessieren. Die Grenze zwischen Literatur und Geschichtsschreibung wird mithin aus beiden Systemen heraus entworfen. Obgleich die meisten textinternen Kriterien nicht sicher sind, weil sich Gegenbeispiele finden lassen, haben sie ihre praktische Relevanz, also für den tatsächlichen Umgang mit literarischen oder historiographischen Texten. Einen Text beispielsweise mit Innenweltdarstellung ordnet man spontan der Literatur zu – mit dem guten Grund einer hohen Wahrscheinlichkeit –, wenngleich Innenweltdarstellung auch in der Historiographie vorkommt. Die Kommunikation über Literatur und Historiographie arbeitet mit einer an dominanten Merkmalen oder Funktionen bzw. an ›Normaltypen‹ orientierten Grenzziehung. Die theoretische Reflexion über den Verlauf dieser Grenze sollte sich hüten, deren Marksteine zu substantialisieren. Ebenso wenig empfiehlt es sich aber, ihre Orientierungsfunktion anzuzweifeln: Ohne eine Grenze ›in den Köpfen‹ der Autoren wie Leser gäbe es weder die sozialsystemische Differenzierung von Literatur und Geschichtswissenschaft, noch wären Grenzüberschreitungen möglich, sei es mit einem historiographischen Text (wie Golo Manns Wallenstein), sei es in der Theorie der Geschichtsschreibung (wie bei Hayden White). Die (Mit-)Zuständigkeit der Literaturwissenschaft für die Historiographie und ihre Analyse setzt nicht voraus, diese Textsorte als literarische Gattung oder als Fiktion zu vereinnahmen. Sie ergibt sich vielmehr daraus, dass sprachliche Strukturen, die in der Literatur besonders elaboriert werden, auch in anderen kulturellen Feldern auftreten und Funktionen haben. Hier kann die Literaturwissenschaft ihre im Umgang mit den meist komplexeren Texten der Literatur ausgebildete Analyse- und Modellbildungskompetenz interdisziplinär einbringen. Dabei kann sie ihre spezifische Kompetenz sowohl in den Dienst des fremddisziplinären Erkenntnisinteresses stellen (z.B.: Wie entsteht Geschichte aus narrativen Strukturen?) als auch ein Interesse des eigenen Fachs verfolgen (z.B.: Welche Ausstrahlung haben literarische Muster in andere kulturelle Bereiche?). In jedem Fall sollte sie beachten, welche unterschiedlichen Funktionen die aus der Literatur bekannten Strukturen ebendort und in anderen kulturellen Feldern haben können. Solche Strukturen auch außerhalb der Literatur zu identifi-
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zieren und beide Sphären zu unterscheiden sollten nur zwei Seiten derselben Medaille sein. Auf dem Gebiet einer anderen Disziplin zu arbeiten, heißt, so verstanden, nicht, die dabei überschrittenen Grenzen zu verwischen. III. Dreieckskonstellationen zwischen Philosophie, Literatur und Geschichtsschreibung Wo das Verhältnis der Literatur zu Philosophie oder Geschichtsschreibung zum Thema gemacht wird, ist zugleich die Frage nach der Erkenntnisleistung der Literatur oder ihrer Fähigkeit, ›Wahrheit‹ zu ermitteln oder zu vermitteln, gestellt. Antworten darauf werden nicht selten durch Vergleiche mit der Philosophie und zugleich der Geschichtsschreibung gegeben. Von Aristoteles bis ins späte 18. Jahrhundert wird die ›Wahrheit‹ der Literatur in der Regel näher an der philosophischen Wahrheit aus Prinzipienerkenntnis angesiedelt als an der historischen Wahrheit, die sich lediglich auf einzelnes und Besonderes beziehe (die Übertragung des poetischen Kohärenzprinzips auf die Geschichtsdarstellung, die den Kern der aktuell diskutierten Literaturförmigkeit der Historiographie bildet, steht hier also noch bevor). Denn die Dichtung stelle, so Aristoteles, das Wahrscheinliche oder sogar Notwendige dar und teile damit »mehr das Allgemeine« mit bzw. stehe, so Schiller, »unter dem strengen Gesetz der Naturwahrheit«.75 Philosophie und Geschichtsschreibung stellen mithin nicht bloß alternative Bezugspunkte oder Interferenz-›Partner‹ der Literatur dar. Vielmehr wurden und werden die drei Diskursformationen immer wieder als zusammengehörige (und in ihrer Trias vollständige) Fluchtpunkte aufgefasst, zwischen denen Erkenntnispotentiale zu bestimmen sind. In der Entstehungsphase der modernen Geschichtsschreibung um 1800 war die Orientierung an der Literatur nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil die Literatur als Darstellungsform mit doppelter Kompetenz galt: In einem konkreten Geschehen von hoher Anschaulichkeit vermag sie – quasi philosophisch – Prinzipien, Geistiges, Ideen hervortreten zu lassen. Diese Kombination von Konkretion und Idealität galt es lediglich, so das ausdrückliche Anliegen des jungen Ranke, von den fiktiven Geschichten der Literatur auf die Geschichte als das tatsächlich Gewesene zu übertragen.76 Die Geschichtsschreibung übernahm hier weitgehend das bisherige (Aristotelische) Kompetenzideal der Literatur, mit dem Unterschied ›nur‹ des _____________ 75 76
Vgl. Aristoteles: Poetik, Kap. 9, 1451b; Schiller: Kunst, S. 167; vgl. Schiller an Caroline von Beulwitz, 10./11.12.1788. Übergreifend Kayser: Wahrheit, Damerau: Wahrheit. Vgl. Fulda: Geschichtsschreibung, S. 310f.
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zusätzlichen Anspruchs auf empirische Gewissheit. Die Literatur wiederum begann sich zur selben Zeit von der legitimatorischen Anlehnung an die philosophische Erkenntnis des Allgemeinen abzusetzen, indem sie eine »innere Wahrheit« beanspruchte, »die aus der Konsequenz eines Kunstwerkes entspringt«.77 Die Geschichtstheorie im Gefolge des ›linguistic turn‹, die die zentrale Bedeutung von Erzählstrukturen für die Plausibilität von Geschichtsdarstellungen herausstellt, vollzieht im Grunde diese Wendung nach. Gelockert scheint der Bezug zur Philosophie, sobald die Literatur sich autonomisiert und die Geschichtsschreibung nicht mehr ›Ideen‹-Kämpfe und -Entwicklungen verfolgt. Wo die Philosophie ihre Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis zur Sprachreflexion ausgestaltet sowie das Systemdenken zugunsten der Betonung von Situativität und damit Irreduzibilität des Besonderen zurückstellt, sind ihre Interferenzen mit den beiden anderen Diskursformationen aber so lebhaft wie eh und je. Dementsprechend intensiv bezog sich die Literatur der klassischen Moderne auf Nietzsche und bezieht sich die zeitgenössische Literatur auf die philosophische Postmoderne. Auf deren programmatische Äußerungen stützt sich die Ansicht, damit gehe eine Vernichtung alles Faktischen, aller Geschichte in die Fiktion einher. Tatsächlich jedoch hat die Geschichte mit der Einsicht, dass sie immer wieder erschrieben werden muss, an Attraktivität sowohl für die philosophische wie auch für die literarische Beschäftigung mit ihr gewonnen. Literarische Essays zu historischen Themen sind dementsprechend zu einem kennzeichnenden Bestandteil der Gegenwartsliteratur geworden, z.T. auch mit ausgesprochen philosophischer Ausrichtung (z.B. Stephan Wackwitz: Neue Menschen, 2005). Literaturhistorisch gesehen lieferte die Philosophie weit häufiger als die Geschichtsschreibung die Kategorien zur Bestimmung von Leistung und Aufgaben der Literatur (›Wahrscheinlichkeit‹ in der vormodernen Dichtungsprogrammatik, Idealität als literarische Aufgabe von der Goethezeit bis einschließlich des ›Realismus‹, Sprach- und Wahrnehmungskritik in der klassischen Moderne usw.). Auf Geschichtsschreibung bezog sich Literatur vorwiegend zum Zweck der Abgrenzung. Aktuell freilich scheint das Überschreiten jener traditionellen Grenzziehung seinen eigenen, erheblichen Reiz auszuüben – auf die literaturtheoretisch fundierte Geschichtstheorie ebenso wie auf die Literatur selbst.
_____________ 77
Vgl. Goethe: Kunstwerke, S. 70.
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III. Fiktionalität und Literarizität
SIMONE WINKO
Einleitung
Kaum zu trennen von der Debatte über den Literaturbegriff im Allgemeinen ist die Diskussion über die spezifischen Qualitäten, die literarische Texte als solche auszeichnen und von anderen Texten abgrenzen. Eine aus der philosophischen Tradition stammende Richtung dieser Debatte sieht eine solche Qualität in der Dimension des Ästhetischen liegen. Mit ihr wird Literatur eine den bloßen Text transzendierende Eigenschaft zugeschrieben, für die es unterschiedliche Beschreibungen gibt.1 Oftmals wird diese ästhetische Qualität mit Bezug auf Funktionen bestimmt, die Literatur übernimmt und die erst ihr Spezifikum ausmachen. Solche spezifische Leistung kann in einer besonderen Weise der »Weltaneignung« gesehen werden2 oder in einer eigenständigen Art der Vermittlung von Subjektivität.3 Neben dieser ästhetische Funktionen anführenden Richtung gibt es Ansätze, die die ästhetische Qualität der Literatur in einer besonderen Sprachverwendung sehen. Zusammen mit den Fiktionalitätstheorien bilden sie die Positionen, die nach den intrinsischen Qualitäten von Literatur fragen. Dabei ist es in neueren Arbeiten durchaus umstritten, ob das entscheidende Moment tatsächlich in manifesten Merkmalen oder nicht vielmehr in spezifischen Praktiken des Umgangs mit diesen Texten liegt. Am weitaus lebhaftesten wird seit den 1970er Jahren die Fiktionalität diskutiert. Dies hängt sicher auch damit zusammen, dass das Spektrum der Probleme, die mit dem fiktionalen Status vieler literarischer Texte verbunden sind, besonders breit ist. Es umfasst die ehrwürdige Frage nach der ›Wahrheit‹ der Literatur, verstanden als oft genieästhetisch begründeter privilegierter Zugang zu einer höheren Einsicht in die conditio humana oder als semantiktheoretische Überprüfung der Rede vom Wahrheitsanspruch der _____________ 1 2 3
Vgl. Zima: Ästhetik, z.B. S. 1-14. Jahraus: Literaturtheorie, S. 115ff. Siehe dazu den Beitrag von Christoph Reinfandt in diesem Band.
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Literatur;4 anthropologisch orientierte Fragen wie die nach der Leistung, die das ›Grundbedürfnis‹ des Fingierens für die menschliche Natur erbringt;5 Probleme der Klassifikation unterschiedlicher Sprachakttypen sowie der pragmatischen Rekonstruktion von Kommunikationsformen in spezifischen Situationen und anderes mehr. Die Fiktionalitätsdebatte ist daher außerordentlich weit verzweigt und in sich differenziert. Außer der Literaturwissenschaft beteiligt sich bekanntlich vor allem die Philosophie an dieser Debatte, zudem die Psychologie in verschiedenen Spielarten, und in neuester Zeit kommt ein Erklärungsvorschlag aus der Evolutionsbiologie. In der sprachlichen Form der literarischen Texte bzw. ihrer Rezeption sehen dagegen Ansätze das spezifisch Literarische liegen, die sich vor allem an linguistischen Arbeiten orientieren. Obwohl der Versuch, Literatur über ihre sprachliche Beschaffenheit eindeutig von Nicht-Literatur abzugrenzen, als gescheitert gelten kann, nehmen doch neuere Studien, die nach multifaktoriellen Kriterien suchen, wieder Bezug auf dieses Merkmal der Literarizität.6 Der Breite der Fiktionalitätsdebatte entsprechend, befassen sich fünf Beiträge dieses Bandes mit eben diesem Problem. Jan Gertken und Tilmann Köppe entwerfen das Projekt der künftigen Bestimmung eines Fiktionalitätsbegriffs, der die in der literaturwissenschaftlichen Praxis vorzufindende Unterscheidung zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten abbildet und für paradigmatische Fälle klare Abgrenzungen bieten kann. Zu diesem Zweck rekonstruieren sie eine Reihe traditioneller und neuerer Fiktionalitätskonzeptionen und konzentrieren sich dabei auf die in der deutschsprachigen Diskussion zu wenig beachteten Ansätze der angelsächsischen ›analytischen Ästhetik‹. Es geht ihnen um keinen lückenlosen Überblick über die Positionen, vielmehr werden diese danach ausgewählt, ob sie einen hinreichend klaren und systematisch ergiebigen Beitrag zur Entwicklung eines leistungsfähigen Fiktionalitätsbegriffs darstellen. Die Autoren unterscheiden die Positionen nach vier systematischen Kategorien und wägen ihre Vor- und Nachteile genau ab. Sie schlagen eine ›provisorisch‹ genannte nicht-triviale, intentionalistische Bestimmung von ›Fiktionalität‹ vor und skizzieren Ansatzpunkte für weiterführende Überlegungen in Richtung auf den anvisierten Fiktionalitätsbegriff. Karl Eibl fasst dagegen Fiktionalität als anthropologisch begründete ›Basis-Disposition‹ auf und erklärt sie mit Bezug auf evolutionspsychologische Erkenntnisse. Es geht ihm damit nicht um das philosophische Problem der Wahrheitsfähigkeit fiktionaler Aussagen, und entsprechend fragt er nicht nach der Begründung von Wahrheit, sondern nach den Ursachen für Plau_____________ 4 5 6
Gabriel: Fiktion, bes. S. 86-96. Iser: Das Fiktive, S. 14 u.ö. Z.B. Miall / Kuiken: Literariness.
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sibilität und interessiert sich dafür, warum etwas für wahr gehalten wird. Aus instrumentalistischer und evolutionsbiologisch informierter Sicht entsprechen der Korrespondenz-, Kohärenz- und Konsenstheorie der Wahrheit Bündel von Motiven, aus denen Menschen Aussagen für wahr halten. Eibl plädiert für einen evolutionspsychologischen Fiktionsbegriff, für den er das Konzept der Metainformation nutzbar macht: Fiktionalität als Modus der Rede, der das Verhältnis von ›Rede und Sache‹ bestimmt, wird anhand dreier evolutionär erworbener Dispositionen des Menschen erklärt: seine Fähigkeit, Informationen durch Metainformationen, die etwas über den Status der Informationen aussagen, zu relativieren (z.B. ›Dies ist ein Spiel‹); seine Kompetenz, Informationen narrativ zu organisieren; und das Moment der ›intrinsischen Belohnung‹ für Aktivitäten, die im Organisationsmodus erprobt werden. Die folgenden zwei Beiträge problematisieren die angenommenen Grenzen zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Sprechen bzw. den entsprechenden Rezeptionsmodi von sehr unterschiedlichen Positionen aus. Mit dem Thema der Autofiktion behandelt Frank Zipfel ein Phänomen, das in mehrfacher Hinsicht Probleme der Grenzziehung mit sich bringt. Zipfel fasst Autofiktionen als Verbindung von ›referentieller Praxis‹ und ›Fiktions-Praxis‹ auf, mithin als Verbindung zweier einander ausschließender Praktiken. Autofiktionale Texte, in denen diese beiden Praktiken in verschiedenen Mischungsverhältnissen eingesetzt werden, werfen Fragen von unterschiedlicher Reichweite auf: die Frage nach der Grenze zwischen Literatur und Nicht-Literatur, nach dem Verhältnis von fiktionalem und faktualem Erzählen und nach der Bestimmung der Gattung ›Autobiographie‹. Zipfel erläutert die Probleme mit Bezug auf verschiedene autofiktionale Texte und setzt sich vor allem mit drei unterschiedlichen Konzeptionen auseinander, die Autofiktionen als besondere Art autobiographischen Schreibens, als spezifische Form fiktionalen Erzählens oder als Verbindung von autobiographischem Pakt und Fiktions-Pakt bestimmen. In der Fiktionalitätsforschung ist des Öfteren problematisiert worden, wie fiktionale Texte überhaupt auf ihre Leser wirken oder sie beeinflussen können. Margrit Schreier nimmt diese Frage auf und beantwortet sie aus der Sicht und mit den Methoden empirischer Leserforschung auf eine unerwartete Weise. Dabei konzentriert sie sich auf ein Phänomen, das angesichts von Bestimmungen fiktionaler Rede als ›nicht-behauptende Rede‹ oder als Rede ohne Wahrheitsanspruch besonders überraschend ist: auf die Übernahme fiktiv vermittelter Informationen ins Überzeugungssystem der Leser. Auf der Basis eines funktionalen Literaturbegriffs skizziert Schreier zunächst ein pragmatisches Konzept von Fiktionalität und stellt dann mehrere empirische Studien vor, die nach dem von fiktionalen Texten verursachten Wandel im Überzeugungssystem von Lesern fragen. Diese Studien stützen
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mit unterschiedlichen Fragestellungen und Versuchsanordnungen die Annahme, dass fiktional vermittelte Informationen nicht gesondert gespeichert, sondern gemeinsam mit anderen Informationen über die Welt verarbeitet werden. Auch wenn sie mit den Konventionen fiktionalen Sprechens bestens vertraut sind, rezipieren Leser fiktionale Texte in der Weise, dass die Überzeugungen, die sie haben, durch diese Texte verstärkt werden und dass ihre Überzeugungen sogar verändert bzw. in eine neue Richtung gelenkt werden können. Fiktionale Texte dienen demnach als eine Quelle, aus der Leser ihr Wissen über die Welt gewinnen. Im Unterschied zu den vorangegangenen Beiträgern nimmt Hans-Edwin Friedrich eine historische Perspektive und damit eine Sichtweise ein, die in der von theoretischen Überlegungen dominierten Fiktionalitätsdebatte zu kurz kommt. Er untersucht Auffassungen von Fiktionalität im 18. Jahrhundert. Den in der Forschung bereits konstatierten Wandel des Fiktionalitätskonzepts in dieser Zeit beschreibt und erklärt Friedrich abweichend: Es handelt sich um keinen ›Durchbruch‹ zu einem modernen Fiktionalitätsbegriff, sondern um die Reflexion und Veränderung eines bereits vorher vorhandenen Konzepts. Diese Veränderung wird im Zuge der Autonomisierung des Kunstbereichs erforderlich und ist als Steigerung oder ›Duplizität‹ beschreibbar. Anhand dreier Beispiele, Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg, Christoph Martin Wielands Geschichte des Don Sylvio von Rosalva und Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, erläutert Friedrich seine These. Die poetologischen Positionen dieser Romane, ihre Reflexionen über das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion und die Aufgabe der Dichtung lassen sich, bei aller Unterschiedlichkeit, in eine gemeinsame Traditionslinie der Entwicklung des Fiktionalitätskonzepts unter den Bedingungen des autonomen Teilsystems ›Kunst‹ bzw. ›Literatur‹ stellen. Der letzte Beitrag dieser Sektion schließlich konzentriert sich auf ein anderes Merkmal, das traditionellerweise zur Abgrenzung der Literatur von Nicht-Literatur angeführt wird und das unter den nicht trennscharfen Bezeichnungen ›Literarizität‹ und ›Poetizität‹ auf unterschiedliche Weise verhandelt worden ist. Simone Winko gibt einen knappen Überblick über verschiedene Positionen, die in dieser Debatte seit Jakobson bis heute vertreten worden sind. Das Spektrum der Positionen reicht von textuell orientierten Ansätzen, die sprachlich manifeste Besonderheiten literarischer Texte anführen, bis zu Ansätzen, die die Literarizität als einen speziellen Modus der Verarbeitung von Texten bestimmen. Es zeigt sich, dass die Suche nach einem einheitlichen Kriterium zur Bestimmung des Literaturbegriffs noch immer einige Attraktivität besitzt, dass aber das Bemühen um trennscharfe Abgrenzungen unerwünschte Ausschlüsse nach sich gezogen hat: Untersuchungen der tatsächlichen sprachlichen Beschaffenheit literarischer Texte unterblieben weitgehend. Winko plädiert dafür, diese
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sprachlichen Merkmale und ihre Verteilung in literarischen Texten verschiedener Epochen zu erforschen und zu diesem Zweck in einer sprach- und literaturwissenschaftlichen Kooperation große Korpora auszuwerten. Bibliographie Gabriel, Gottfried: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. Stuttgart 1977. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/M. 1991. Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. Tübingen, Basel 2004. Miall, David S. / Don Kuiken: What Is Literariness? Three Components of Literary Reading: In: Discourse Processes 28 (1999), S. 121-138. Zima, Peter V.: Literarische Ästhetik. Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft [1991]. 2., überarb. Aufl. Tübingen, Basel 1995.
JAN GERTKEN / TILMANN KÖPPE
Fiktionalität
1. Einleitung Zu den Grundproblemen der literaturwissenschaftlichen Fiktionalitätstheorie gehört die Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs. Bevor man beispielsweise nach dem Zusammenhang von Fiktionalität und Literarizität, nach den Ursprüngen und historischen Ausprägungen fiktionaler Literatur oder nach ihren Effekten und Funktionen fragen kann, muss man sich verständlich gemacht haben, was mit ›fiktionale Literatur‹ überhaupt gemeint ist. In diesem Aufsatz möchten wir den Weg zu einer befriedigenden Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs ebnen. Zu diesem Zweck werden wir eine Auswahl vorliegender Antworten auf die Frage ›Was sind fiktionale Texte?‹ diskutieren. Unsere Auswahl ist einem systematischen Interesse geschuldet und verdankt sich im Wesentlichen drei Gesichtspunkten: Erstens möchten wir möglichst unterschiedliche Ansätze präsentieren und diskutieren; die Unterscheidungskriterien gehen aus der in Abschnitt 2. vorgeschlagenen Systematisierung hervor. Zweitens konzentrieren wir uns auf Ansätze, die einen expliziten sowie unserer Meinung nach hinreichend klaren und systematisch bedeutsamen Beitrag zur Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs leisten.1 Drittens präsentieren wir (insbesondere in den Abschnitten 2.3 bis 2.5) Ansätze, die sich mit Blick auf den von uns favorisierten Bestimmungsvorschlag als fruchtbar erweisen. Diese Ansätze stammen vornehmlich aus dem Diskussionszusammenhang der angelsächsischen ›analytischen‹ Ästhetik.2 Wir glauben, dass diese Ansätze (im deutschen Sprachraum) noch immer nicht ausreichend gewürdigt und _____________ 1 2
Zu den Ansätzen, die wir nicht berücksichtigen können, gehören beispielsweise die Arbeiten von Wolfgang Iser; vgl. z.B. Iser: Akte; Iser: Das Fiktive. Zu den Anliegen und Verfahrensweisen der zeitgenössischen analytischen Philosophie vgl. Bieri: Philosophie.
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popularisiert sind und möchten versuchen, einen Beitrag eben dazu zu leisten. Dieser Beitrag versteht sich also weder als umfassender Forschungsbericht noch handelt es sich um den Versuch einer möglichst umfassenden und detaillierten Präsentation der ausgewählten Ansätze. Wir betonen vielmehr einerseits die unserer Ansicht nach richtigen und zentralen Einsichten, die von diesen Ansätzen herausgearbeitet wurden, und formulieren andererseits eher grundsätzliche Kritik.3 Am Ende unserer Diskussion werden Hinweise darauf stehen, in welche Richtung eine erfolgversprechende Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs gehen sollte und welche Fragen dabei zu beantworten sind. Zum Verfahren der Begriffsbestimmung ›Fiktionalität‹ ist ein theoretischer Term der Literaturwissenschaft und (im Unterschied zu den Ausdrücken ›fiktiv‹ und ›Fiktion‹) gemeinsprachlich kaum etabliert. Zudem divergieren die Vorstellungen über die Konturen einer angemessenen Begriffsbestimmung im Einzelnen nicht unerheblich. Wie sollte in dieser Situation eine Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs überhaupt möglich sein? Man könnte meinen, dass jedem Explikationsvorschlag ein willkürlicher Zug anhaften müsse und dass kein Vorschlag allgemeine Gültigkeit beanspruchen könne. Wir halten dieses Problem nicht für unlösbar, denn es scheint sowohl im Alltag als auch in der Literaturwissenschaft eine weithin geteilte Praxis der Unterscheidung verschiedener Texttypen zu geben. Dies ist so zu verstehen, dass sich der Umgang mit den fraglichen Texten durch Besonderheiten auszeichnet, wobei mit »Umgang« hier textbezogene Reaktionen, Überzeugungen, Verhaltensweisen, Dispositionen etc. – nicht jedoch eine bereits einheitliche begriffliche Unterscheidung bzw. Einordnung – gemeint sind. Anders gesagt: Wir gehen davon aus, dass es bei aller Vielfalt und Uneinheitlichkeit im terminologischen Bereich eine erkennbare Unterscheidungspraxis gibt, die sich in unserem Verhalten manifestiert und darauf hinweist, dass es tatsächlich verschiedene Texttypen gibt. Die Einführung der literaturwissenschaftlichen Ausdrücke ›fiktional‹ und ›faktual‹ lässt sich nach unserem Verständnis als der Versuch verstehen, die
_____________ 3
Ein vergleichbares Anliegen verfolgen in jüngerer Zeit die Beiträge von Nickel-Bacon / Groeben / Schreier: Fiktionssignale, Rühling: Fiktionalität, Zipfel: Fiktion, und Zipfel: Fiktivität, die in ihren Ergebnissen von unseren jedoch z.T. erheblich abweichen.
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vorhandene Unterscheidungspraxis auch begrifflich abzubilden bzw. hieran zumindest anzuschließen.4 Wir können an dieser Stelle nicht ex ante sagen, worin genau der behauptete Unterschied des Umgangs mit Texten des jeweiligen Typs besteht, da dies zentrale Ergebnisse der Untersuchung vorweg nehmen würde. Es sollte aber unstrittig sein, dass im Zusammenhang mit Romanen der Harry Potter-Serie oder Shakespeares Hamlet grundlegend andere Umgangsweisen verbreitet sind (und für angemessen gehalten werden), als dies z.B. bei Dissertationen, Artikeln der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder Willy Brandts Autobiographie der Fall ist. Erstere Texte sind paradigmatische Fälle fiktionaler Texte, letztere faktualer Texte.5 Eine Analyse des Fiktionalitätsbegriffs sollte die besagte etablierte Unterscheidungspraxis innerhalb und außerhalb der Literaturwissenschaft so gut wie möglich abbilden und verständlich machen. Wir werden zunächst nach einer Analyse suchen, die so etwas wie den Kernbereich des Begriffs erfasst und die Klassifikation paradigmatischer Fälle fiktionaler literarischer Werke verständlich macht. Auf problematische Fälle, in denen eine Entscheidung, ob ein Text fiktional ist oder nicht, schwer fällt oder unmöglich zu sein scheint, kommen wir im letzten Teil des Textes zurück. Eine Begriffsbestimmung, die den Kernbereich fiktionaler Texte gut erfasst, kann verständlich machen, wie derartige Fälle an der Peripherie einzuschätzen sind. Damit die Analyse unsere Unterscheidungspraxis verständlich machen kann, soll aus ihr hervorgehen, was alle – genauer: alle paradigmatischen – fiktionalen Texte und nur diese auszeichnet;6 sie soll also notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen dafür spezifizieren, dass ein Text fiktional ist. Bevor wir im nächsten Abschnitt die von uns vorgenommene Auswahl theoretischer Ansätze erläutern, möchten wir eine terminologische Festlegung treffen. Während Fiktionalität eine bestimmte, noch zu explizierende Eigenschaft von Texten ist (also mit ›fiktional‹ Texten eine bestimmte Eigenschaft zugeschrieben wird), wird ›fiktiv‹ im Zusammenhang mit der _____________ 4 5
6
Wer literaturwissenschaftliche Bestimmungen des Fiktionalitätsbegriffs nicht derart versteht, wird Definitionen des Fiktionalitätsbegriffs für stipulativ halten; vgl. zu diesen Unterschieden Pawłowski: Begriffsbildung, S. 18ff. Anderer Meinung scheinen die so genannten ›Panfiktionalisten‹ zu sein, die letztlich alle Texte für (mehr oder weniger) fiktional halten. Mit den Problemen dieser Auffassung setzten wir uns hier nicht auseinander, da sie unserer Ansicht nach auf einer unplausiblen Überstrapazierung des Fiktionalitätsbegriffs basiert (für eine detaillierte Kritik vgl. Carroll: Interpretation; Blume: Fiktion, S. 12-16). Den Zusatz, dass unsere Analyse paradigmatische Fälle fiktionaler Texte abdecken soll, lassen wir fortan der Kürze halber weg.
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Redeweise über das, was in solchen Texten dargestellt wird, verwendet. (Der Ausdruck ›fiktiv‹ betrifft also, narratologisch gesprochen, die Ebene der Geschichte.) Zur Illustration: Der Roman Der Untertan von Heinrich Mann ist ein fiktionaler Text, die Person Diederich Heßling ist eine fiktive Person.7 2. Auswahl und Klassifikation theoretischer Ansätze Bestimmungen des Fiktionalitätsbegriffs kann man nach unterschiedlichen Gesichtspunkten sortieren und einander gegenüberstellen. Als Klassifikationskriterium kann die Frage dienen, welchem Bestandteil der so genannten literarischen Kommunikation die größte Bedeutung zugemessen wird. Orientiert an diesem Kriterium schlägt Frank Zipfel vor, die Ebenen der Textproduktion, Textrezeption, Textstruktur und des Sprachhandlungszusammenhangs – und entsprechend vier Typen von Bestimmungsansätzen – zu unterscheiden.8 Dieser Klassifikationsvorschlag wird hier mit folgenden Abwandlungen übernommen: Als vierte Kategorie verwenden wir anstelle von Zipfels ›Sprachhandlungszusammenhang‹ die weiter gefasste Kategorie ›Text und Welt‹, zugleich wird die Kategorie der ›Textstruktur‹ von uns enger gefasst. Der Grund ist folgender: Zipfel behandelt unter dem Stichwort ›Textstruktur‹ auch Ansätze, die sich mit der Fiktivität der Geschichte und der Frage nach der Existenz fiktiver Entitäten auseinandersetzen.9 Derartige Fragen, die u.a. das Problem der Referenz von Ausdrücken in fiktionalen Texten betreffen, lassen sich nur schwer der Textstruktur zuordnen; sie betreffen vielmehr das Verhältnis zwischen einem Text als linguistischer Entität und einem außertextlichen Zusammenhang. Die Kategorie ›Textstruktur‹ wird von uns daher in einem engeren Sinn verstanden und umfasst nur diejenigen Aspekte, die, erzähltheoretisch ausgedrückt, die Ebene der Erzählung betreffen – wir sprechen nachstehend von ›textimmanenten Ansätzen‹. Semantische und ontologische Fragen erfordern eine eigene Kategorie, die wir ›Text und Welt‹ nennen. In dieser Kategorie, mit der wir unsere Diskussion der Ansätze beginnen, sollen all jene Ansätze berücksichtigt werden, die sich primär mit textexternen Faktoren _____________ 7
8 9
Vgl. u.a. Martínez / Scheffel: Einführung, S. 13; Gabriel: Fiktion, S. 594. Diese Unterscheidungen sollen noch keine substantiellen inhaltlichen Annahmen transportieren. Außerdem soll nicht verschwiegen werden, dass hinsichtlich der Unterscheidungen in der Literaturwissenschaft keineswegs Einheitlichkeit herrscht (vgl. Zipfel: Fiktion, S. 25f.). Vgl. Zipfel: Fiktion, S. 26f. Vgl. ebd., S. 29-34.
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auseinandersetzen, aber nicht den Kategorien ›Produktion‹ und ›Rezeption‹ zugewiesen werden können.10 2.1 Text und Welt Fiktionalität, Wahrheit und Referenz Bei zahlreichen fiktionalen Texten ist es nicht möglich, Elemente der Realität ausfindig zu machen, die dem im Text Dargestellten entsprechen: Weder Kater Murr noch Kapellmeister Kreisler, von denen E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr erzählen, gibt es in (der) Wirklichkeit. Ein nahe liegender Gedanke besteht darin, eben dies zum Ausgangspunkt einer Unterscheidung von fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten zu machen: (F1) Fiktionale Texte stellen nicht dar, was der Fall ist bzw. was sich wirklich zugetragen hat.11 Zunächst ist festzustellen, dass ein Text auf mindestens zweierlei Weise nicht beschreiben kann, was wirklich vorgefallen bzw. wirklich der Fall ist. Zum einen kann er sich – mittels erfolgreich bezeichnender Ausdrücke – auf wirkliche Gegenstände und Ereignisse beziehen, dabei aber etwas aussagen, das nicht zutreffend (d.h. falsch) ist. Zum anderen können in ihm Ausdrücke vorkommen, die noch nicht einmal etwas bezeichnen. Im ersten Fall würde die These darauf hinauslaufen, dass fiktionale Texte falsche Aussagen machen, im zweiten darauf, dass sie – je nach semantischer Analyse von Sätzen mit nicht-bezeichnenden Ausdrücken – Aussagen machen, die entweder falsch oder aber ohne Wahrheitswert sind.12 Es lassen sich daher zwei Lesarten von (F1) unterscheiden: (F1*) T ist genau dann fiktional, wenn er falsche Aussagen macht. (F1**) T ist genau dann fiktional, wenn er nicht-bezeichnende Ausdrücke enthält. _____________ 10
11 12
Die Kategorie ›Sprachhandlungszusammenhang‹ lösen wir auf und weisen die hier zugeordneten Fragen den Kategorien ›Produktion‹ und ›Rezeption‹ zu. Zipfel diskutiert unter der Überschrift »Sprachhandlungszusammenhang« v.a. Probleme der unserem Umgang mit fiktionalen Texten zugrunde liegenden Regeln und Konventionen (vgl. ebd., S. 46-49). Da diese Probleme für ein adäquates Verständnis von Textproduktion und Textrezeption unentbehrlich sind, sollten sie auch den entsprechenden Kategorien zugewiesen werden. Nota bene: Fiktionale Texte werden hier zwar rein negativ abgegrenzt, jedoch wird angegeben, worin der Unterschied zu faktualen Texten besteht. Zu den besagten semantischen Analysen vgl. Lamarque / Olsen: Truth, S. 53-60.
Fiktionalität
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So formuliert, krankt der Ansatz jedoch daran, dass ein Text (T) bereits dann die in (F1*) bzw. (F1**) angegebenen Bedingungen erfüllt, wenn er lediglich einen falschen Satz oder einen nicht-bezeichnenden Ausdruck enthält. Die in (F1*) bzw. (F1**) genannten Bedingungen müssten daher dahingehend verstanden werden, dass hinreichend viele der Aussagen des Textes – oder eine funktional bestimmte Teilmenge, etwa die Aussagen, welche die Handlung des Textes beschreiben – falsch sind oder nicht-bezeichnende Ausdrücke enthalten. Auch diese Modifikation kann den Ansatz gleichwohl nicht retten. Die angegebenen Bedingungen sind nämlich in keinem Fall hinreichend,13 da auch faktuale Texte sowohl überwiegend falsche Aussagen über reale Objekte und Ereignisse machen als auch (aufgrund falscher Existenzannahmen) keinerlei Aussagen über reale Gegenstände beinhalten können. Dies gilt nicht nur für nicht-narrative wissenschaftliche Texte (z.B. solche, die den Planeten Vulkan oder die Beschaffenheit des Äthers beschreiben), sondern auch für eindeutig narrative Texte. Sollten z.B. zukünftige historisch-philologische Studien den Schluss nahe legen, dass es nie einen griechischen Philosophen namens Platon gegeben hat, so würden Texte, die sich mit dem Leben Platons auseinandersetzen, damit nicht zu fiktionalen Texten, sondern blieben Biographien (wenn auch recht wertlose). Das analysans von (F1) fällt somit eindeutig zu weit aus. Fiktionalität und Fiktivität Auch Ansätze, die den Begriff der Fiktionalität durch den der Fiktivität erklären wollen, gehen von der Idee aus, dass fiktionale Texte im Gegensatz zu faktualen in der Regel nicht beschreiben, was sich tatsächlich zugetragen hat, bzw. dass zahlreichen Ausdrücken keine realen Objekte entsprechen, die man als ihre Referenten ansehen könnte. Sie versuchen jedoch, diese Grundannahme positiv zu wenden und einen eigenständigen Bereich von Objekten ausfindig zu machen, die als Referenten sprachlicher Ausdrücke in fiktionalen Texten in Frage kommen. Aus der Idee, dass fiktionale Texte keine Aussagen über reale Objekte machen und keine realen Sachverhalte beschreiben, wird damit die Idee, dass fiktionale Texte sehr wohl Aussagen über Objekte machen und Sachverhalte beschreiben, dass es sich dabei allerdings um fiktive (oder nicht-reale) Objekte und fiktive _____________ 13
Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob (F1*) oder (F1**) zumindest eine notwendige Bedingung formulieren. (F1**) dürfte hier weniger geeignet sein, da es zahlreiche fiktionale Texte zu geben scheint, die überwiegend von Orten und Personen handeln, die es tatsächlich gibt (z.B. Heinrich Manns Henri Quatre-Romane). Schwieriger und interessanter ist der Fall von Texten, die überwiegend oder vollständig wahre Aussagen machen. Hierbei scheint es sich jedoch um potentielle Grenzfälle zu handeln, so dass eine Antwort auf diese Frage erst auf der Grundlage einer adäquaten Begriffsbestimmung erfolgen kann (s.u.).
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Sachverhalte handelt. Für Aussagen fiktionaler Texte wird ein eigenständiger Referenzbereich angenommen, und es wird den Objekten in diesem Bereich ein besonderer ontologischer Status zugesprochen – nämlich der, nicht-real oder fiktiv zu sein. Der Grundgedanke dieses Ansatzes lässt sich damit folgendermaßen zusammenfassen: (F2) T ist fiktional genau dann, wenn gilt, dass T (auch) auf fiktive Objekte Bezug nimmt und fiktive Sachverhalte beschreibt.14 Ansätze, die durch (F2) repräsentiert sind, versuchen, den Begriff der Fiktionalität auf den der Fiktivität zurückzuführen. Als Beispiele können hier Thomas Pavels und Lubomír Doležels Ansätze dienen. Pavel kritisiert Strategien, die versuchen, ohne eine genuine Akzeptanz fiktiver Gegenstände auszukommen, und setzt ihnen die Annahme entgegen, dass Fiktionalität nur mit Rückgriff auf die Annahme fiktiver Gegenstände verständlich gemacht werden kann.15 Doležel geht davon aus, dass Fiktionalität ein semantisches Phänomen ist, das sich (nur) mit Rückgriff auf das Verhältnis zwischen (sprachlichen) Zeichen und dem, was diese Zeichen bezeichnen, erklären lasse.16 Sein Ansatz besagt, dass fiktionale Texte auf Gegenstände Bezug nehmen, die zu fiktiven Welten gehören. Um Fiktionalität zu verstehen, müsse man als Diskursbereiche auch solche zulassen, welche mehr als nur das Inventar unseres Universums (der ›wirklichen Welt‹) umfassen, und somit fiktive Welten als mögliche Diskursbereiche einführen.17 Der durch (F2) repräsentierte Ansatz kann jedoch im Kontext einer Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs kaum überzeugen. Was immer in diesem _____________ 14 15
16
17
Die Qualifikation ›auch‹ ist notwendig, wenn in fiktionalen Texten auf nicht-fiktive Objekte Bezug genommen werden kann. »[W]hile in dealing with scientific concepts one may feel justified in eliminating nonexistent entities, the poetics of fiction needs a technique for introducing such entities.« (Pavel: Worlds, S. 16, Hervorhebung J.G. / T.K.) Pavel verfeinert die durch (F2) repräsentierte Grundannahme auf verschiedene Weise, etwa indem anstatt einzelner fiktiver Gegenstände ganze ›fiktive Welten‹ zum Ausgangspunkt der Erklärung gemacht werden (vgl. ebd., S. 42). Die diesem Ansatz inhärenten Probleme lassen sich jedoch anhand der verkürzten Form (F2) ausreichend verdeutlichen. »I believe that fictionality is primarily a semantic phenomenon located on the axis ›representation (sign) – world‹; its formal and pragmatic aspects are not denied but have an auxiliary theoretical role.« (Doležel: Heterocosmica, S. 2) Und: »Fictional particulars, as nonactualized possibles, are ontologically different from actual persons, events, places.« (Ebd., S. 16, Hervorhebung J.G. / T.K.) Vgl. ebd., S. 1-24. In »One World Frame«, S. 1-12, kritisiert Doležel verschiedene Ansätze, die innerhalb der Annahme agieren, dass es nur eine Welt und damit auch nur einen zulässigen Diskursbereich gibt. In »Possible World Frame«, S. 12-24, stellt Doležel dem die Annahme multipler Diskursbereiche entgegen und versucht ihre Fruchtbarkeit für die Fiktionalitätstheorie aufzuzeigen. Ebenso findet sich hier Doležels Abgrenzung fiktiver Welten von möglichen Welten der Modallogik.
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Kontext auf der rechten Seite des Bikonditionals (F2) angegeben wird, dient als analysans und sollte nach Möglichkeit keine Schwierigkeiten – zumal keine solchen, die sich ggf. nur mit Rückgriff auf den Begriff der Fiktionalität beheben lassen – aufwerfen. Eben dies ist bei (F2) jedoch der Fall. Der Begriff des fiktiven Gegenstandes ist mit zahlreichen eigenen Problemen behaftet, die es als unattraktiv erscheinen lassen, eine Fiktionalitätsanalyse auf seinem Fundament zu errichten.18 Hier spielen vor allem die folgenden Überlegungen eine Rolle: Erstens wird man zugeben müssen, dass es Hamlet und die Buddenbrooks im eigentlichen Sinn nicht gibt (was, um Missverständnisse auszuschließen, durchaus damit vereinbar ist, dass sich reale Vorbilder für diese ausfindig machen lassen). Dennoch soll es sich, folgt man Vertretern dieses Ansatzes, um Objekte handeln, auf die fiktionale Texte Bezug nehmen und die sie beschreiben können. Man ist daher gezwungen, neben dem geläufigen Sinn von ›Existenz‹, gemäß dem es fiktive Gegenstände nicht gibt, noch einen anderen Sinn anzunehmen, gemäß dem es sie eben doch gibt. In irgendeinem Sinn gibt es demnach sowohl Sherlock Holmes als auch Winston Churchill, aber nur letzterer hat darüber hinaus auch die Eigenschaft, im vollen Sinne zu existieren (oder wirklich zu existieren oder real zu sein etc.).19 Das Problem der Fiktionalität – und das heißt in diesem Kontext: das Problem fiktiver Objekte – wird damit zu einem Teilbereich des Problems nicht-existierender Gegenstände und unserer Bezugnahme auf solche.20 Eine Theorie nicht-existierender Gegenstände führt, etwas _____________ 18
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Dies Problem ergibt sich in gleicher Weise für Ansätze, die anstelle von einzelnen fiktiven Gegenständen von fiktiven Welten ausgehen – denn eine fiktive Welt soll zumeist nichts anderes sein als eine Ansammlung fiktiver Gegenstände, zusammen mit fiktiven Gesetzen und Regularitäten (vgl. ebd., S. 31-33). Vgl. die pointierte Formulierung Nelson Goodmans: »Works of fiction, we often hear, are about fictive worlds. But strictly speaking, fiction cannot be about anything nonactual, since there is nothing nonactual, no merely-possible or impossible worlds; for saying that there is something fictive but not actual amounts to saying that there is something such that there is no such thing.« (Goodman: Mind, S. 125) Ein Versuch, die Unterscheidung zwischen verschiedenen Sinnen von ›Existenz‹ auf eine Weise festzulegen, die Raum lässt für genuin nicht-existierende Gegenstände, findet sich bei Alexius Meinong, dessen Unterscheidung zwischen »Existenz« und »Bestand« von Objekten das Problem nicht-existierender Gegenstände zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder in den philosophischen Diskurs einführte (vgl. Meinong: Gegenstandstheorie, S. 485-494). Während – zumindest innerhalb der analytischen Philosophie – lange Zeit die Auffassung vertreten wurde, dass es sich hierbei um ein Pseudoproblem handelt, das durch ein korrektes Verständnis der logischen Form von Existenzsätzen umgangen werden kann (vgl. Quine: On What There Is), gibt es in der zeitgenössischen analytischen Philosophie erneut Versuche, der Idee genuin nichtexistierender Gegenstände einen Sinn abzugewinnen, um damit u.a. bestimmte Prob-
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salopp formuliert, direkt in die tiefsten Abgründe von Sprachphilosophie, Metaphysik und Ontologie. Die Praxis des Umgangs mit fiktionalen Texten wäre unter dieser Bedingung mit einer beträchtlichen ontologischen Verpflichtung verbunden: Der kompetente Umgang mit fiktionalen Texten würde Teilnehmer an der Praxis zu der Annahme verpflichten, in irgendeiner Weise mit (auf eine besondere Weise existierenden) fiktiven Entitäten umzugehen.21 Diese Schwierigkeit wird auch nicht dadurch behoben, dass man statt von nicht-existenten Gegenständen einfach von ›möglichen‹ Gegenständen oder Objekten als Bestandteilen ›möglicher Welten‹ spricht, denn hier wird lediglich ein anderes Vokabular eingeführt, ohne dass dadurch die ontologische Verpflichtung weniger extravagant wirken würde.22 Selbst wenn sich die semantischen und ontologischen Probleme, die unqualifiziertes Reden über nicht-existierende Objekte mit sich bringt, beheben lassen, so bleibt die Frage, ob es nicht einen weniger voraussetzungsreichen Weg zur Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs gibt, der diese Fragen und Probleme außen vor lässt. Ein zweites Problem des durch (F2) repräsentierten Ansatzes besteht darin, dass nicht alle nicht-existierenden Gegenstände fiktive Objekte in dem Sinne sein können, der für eine Analyse von ›Fiktionalität‹ erforderlich ist. Der Planet Vulkan ließe sich als nicht-existierender Gegenstand bezeichnen, aber ein Text wird nicht schon dadurch fiktional, dass er vom Planeten Vulkan handelt. Ebenso bleiben alle Platon-Biographien auch dann nicht-fiktional, wenn sich Platon als nicht-existierender Gegenstand erweisen sollte. Wenn fiktive Gegenstände nicht hinreichend von (sonstigen) nicht-existierenden Gegenständen abgesetzt werden, fällt der Fiktivitätsansatz denselben Einwänden zum Opfer wie der Versuch, Fiktionalität _____________
21 22
leme der Semantik natürlichsprachlicher Sätze zu beheben (vgl. Parsons: Objects; vgl. auch Künne: Fiktion; Inwagen: Geschöpfe). Zum Begriff der ontologischen Verpflichtung vgl. Quine: On What There Is. Diesem Problem kann man auch nicht entgehen, indem man darauf hinweist, dass fiktive Welten nicht einfach ›da sind‹ und ›entdeckt werden‹, sondern stattdessen menschliche Konstrukte sind, die erst erschaffen werden müssen (vgl. Doležel: Heterocosmica, S. 14). Die Schlussfolgerung, »[v]iewing possible worlds as human constructs brings the concept down from the metaphysical pedestal and makes it a potential tool of empirical theorizing« (ebd., S. 14), ist voreilig – denn das Problem ist nicht so sehr, wie mögliche (bzw. fiktive) Welten und fiktive Objekte entstehen, sondern was sie sind. Wer der Auffassung ist, ernsthaftes Reden und Quantifizieren über fiktive Objekte und mögliche Welten sei ontologisch extravagant und schwer verständlich, kann nicht dadurch beruhigt werden, dass er gesagt bekommt, diese Entitäten seien nur ›konstruiert‹. Denn wenn man nicht versteht, was ein F sein soll, dann versteht man erst recht nicht, was es heißt, ein F zu erschaffen. Eine Aufklärung über die Genese von F löst das Statusproblem von F nicht.
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über die Abwesenheit von Wahrheit und Referenz zu bestimmen: Das analysans ist zu weit. Nicht, dass wir für gewöhnlich Probleme hätten, den Unterschied etwa zwischen Sherlock Holmes und dem Planeten Vulkan zu erklären. Die Existenz des letzteren wurde von bestimmten faktualen Texten vorausgesetzt, ersterer hingegen ist Gegenstand mehrerer fiktionaler Texte. Eine solche Erklärung wäre im gegebenen Kontext jedoch eindeutig zirkulär und kann daher von Vertretern des diskutierten Ansatzes nicht angeführt werden. Doležels Erklärungsversuche zeigen denn auch, dass Versuche, dem Zirkularitätsproblem zu entkommen, lediglich in metaphorisch-unklare Rede führen. So führt er die Idee ein, dass fiktive Welten durch ›Welten erschaffende Texte‹ (»world-constructing texts«) hervorgebracht werden.23 Ganz abgesehen davon, dass es schwierig sein dürfte, eine Bestimmung derjenigen Texte zu liefern, die in diesem Sinne ›Welten erschaffen‹, ohne dabei auf den Begriff des fiktionalen Textes zurückzugreifen, hat die Redeweise vom ›Erschaffen‹ einer fiktiven Welt kaum erklärende Kraft. Wenn man derartigen Formulierungen einen Sinn abgewinnen kann, so dürfte das daran liegen, dass man bereits versteht, was ein fiktionaler Text ist, und deshalb die Aussage, der Dichter ›erschaffe mit seinem Text eine fiktive Welt‹ einfach als metaphorisch-bildliche Ausdrucksweise dafür versteht, dass jemand einen fiktionalen Text schreibt. Eine wirkliche Erklärung von Fiktionalität wird damit nicht gegeben. Abschließend sei kurz auf eine Version des durch (F2) repräsentierten Ansatzes verwiesen, die zwar ebenfalls den Fokus auf Fiktivität legt, dies jedoch unter Einbeziehung eines vom Autor ontologisch verschiedenen Erzählers tut. Sie lässt sich folgendermaßen charakterisieren: (F3) T ist genau dann fiktional, wenn gilt, dass zu seiner adäquaten Rezeptionshaltung gehört, ihn als Tatsachenbericht eines fiktiven Erzählers aufzufassen.24 Auch diese Version ist gegen die gegen (F2) angeführten Einwände nicht immun: Selbst wenn (F3) zutreffend ist, ist damit einer Analyse des Fiktionalitätsbegriffes solange nicht gedient, wie der Begriff des fiktiven Objektes (bzw. des fiktiven Erzählers) als explanatorisch basal oder grundlegend angenommen wird. Damit soll nicht die Notwendigkeit oder Relevanz der narratologischen Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler bezweifelt _____________ 23 24
Vgl. Doležel: Heterocosmica, S. 24. Durch (F3) repräsentierte Ansätze finden sich oft im Kontext narratologischer Bestimmungen des Fiktionalitätsbegriffs; vgl. etwa folgende Aussage von Martínez/ Scheffel: »Soll sie [fiktionale Dichtung, J.G. / T.K.] ihre Wirkung entfalten können, müssen wir ihre Rede als die authentische (wenn auch fiktive) Rede eines bestimmten (wenn auch fiktiven) Sprechers verstehen, die nicht auf nichts, sondern auf bestimmte (wenn auch z.T. fiktive) Dinge referiert.« (Martínez / Scheffel: Einführung, S. 14)
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werden. Auch soll nicht bezweifelt werden, dass typische Erzähler fiktionaler Texte als fiktive Person anzusehen sind. Es geht ganz allgemein an dieser Stelle nicht darum, die Rede von fiktiven Gegenständen, Welten und Erzählern einem philosophischen Exorzismus zu unterziehen. Wir sind jedoch der Meinung, dass (F3) – ebenso wie (F2) – nicht zur Erklärung des Phänomens ›Fiktionalität‹ geeignet ist, solange die Erklärungslast vom als grundlegend aufgefassten Begriff der Fiktivität (der fiktiven Person, der fiktiven Welt, des fiktiven Tatsachenberichts) getragen wird. Der Begriff der Fiktivität sollte, wie wir nachstehend zeigen möchten, durch den Begriff des fiktionalen Textes erklärt werden – und nicht umgekehrt. Mit anderen Worten: In bestimmten Kontexten ist es durchaus in Ordnung, von fiktiven Gegenständen zu sprechen, und auch im Kontext der Fiktionalitätstheorie kann diese Redeweise sinnvoll sein (dazu unten mehr). Nicht akzeptabel ist dagegen die durch (F3) und (F2) nahe gelegte Explikationsrichtung. 2.2 Textimmanente Ansätze Im Folgenden geht es um Ansätze, die Fiktionalität mit Rückgriff auf im engeren Sinne linguistische Eigenschaften bestimmen.25 Textimmanente Ansätze sehen bestimmte Vorkommnisse sprachlicher Ausdrücke oder anderer sprachlich-manifester Strukturen als konstitutiv für die Fiktionalität eines Textes an. Als Beispiel ziehen wir die einflussreichen Überlegungen Käte Hamburgers heran.26 Hamburger zufolge zeichnet sich das so genannte ›epi_____________ 25 26
Vgl. Zipfel: Fiktion, S. 23. Textimmanente Ansätze werden heute in Reinform offenbar nur noch selten vertreten. Vgl. Hamburger: Logik, S. 57-80. Hamburgers Position ist in der literaturtheoretischen Diskussion oft als Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs rezipiert worden (vgl. Scheffel: Hamburger). Ob eine solche Bestimmung von Seiten Hamburgers tatsächlich intendiert war, möchten wir hier offen lassen – wir ziehen ihre Position heran, weil sie im Sinne eines textimmanenten Ansatzes verstanden wurde und sich zu dessen Illustration eignet. Nicht verschweigen möchten wir jedoch, dass die Position bedeutend komplexer ist als hier dargestellt. Zum einen ist aus Hamburgers Text ersichtlich, dass sie Vorkommnisse von Verben innerer Vorgänge und des epischen Präteritums als hinreichend für die Fiktionalität eines Textes ansieht. Vor allem Bemerkungen wie die, dass im fiktionalen Text die »der Wirklichkeitsaussage sozusagen eingeborenen logisch-grammatischen Gesetze ihre Gültigkeit verloren haben« (ebd., S. 70), und die Behauptung, fiktionale Texte seien der »einzige […] Ort, wo die IchOriginität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann [nämlich durch Verwendung von Verben innerer Vorgänge, J.G. / T.K.]« (ebd., S. 79), legen diese Interpretation nahe. Allerdings ist Hamburger darüber hinaus der Ansicht, für die Tatsache, dass Vorkommnisse solcher sprachlicher Konstruktionen hinreichend für die Fiktionalität eines Textes ist, lasse sich noch eine tiefer gehende
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sche Präteritum‹ dadurch aus, dass es trotz seiner grammatischen Form die Funktion verliert, die Vergangenheit des Bezeichneten anzuzeigen, und also nicht der Vergangenheitsdarstellung dient. Dies zeige sich vor allem anhand der möglichen Kombination von grammatischem Tempus und gegenwarts- bzw. zukunftbezogenen Zeitadverbien (›Morgen war Weihnachten‹). Eine derartige Verwendung des Präteritums ist nach Hamburger nur in fiktionalen Texten möglich und damit eine hinreichende Bedingung für die Fiktionalität eines Textes.27 Mit »Verben innerer Vorgänge« sind bei Hamburger solche sprachlichen Ausdrücke gemeint, mittels derer mentale Zustände, Ereignisse und Prozesse zugeschrieben werden. Eine ausführliche und detailfreudige Zuschreibung mentaler Zustände durch solche Verben ist nach Hamburger ebenfalls nur in fiktionalen Texten möglich.28 Weder episches Präteritum noch Vorkommnisse von Verben innerer Vorgänge scheinen jedoch hinreichend für die Fiktionalität eines Textes zu sein.29 Es spricht prima facie nichts dagegen, dass derartige sprachliche Konstruktionen und Vorkommnisse auch in eindeutig nicht-fiktionalen Texten vorkommen können. Jemand könnte sich zum Beispiel in einer (Auto-)Biographie aus stilistischen Gründen des epischen Präteritums bedienen. Obwohl das epische Präteritum eher typisch für fiktionale Texte ist, kann es dennoch problemlos in faktuale integriert werden. Auch detail_____________
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(erkenntnistheoretische) Erklärung angeben: »Das Erlebnis der Nicht-Wirklichkeit hat seine bestimmte logische, im weiteren Sinne erkenntnistheoretische Ursache, die […] in ganz bestimmten Phänomenen des fiktionalen Erzählens ihren grammatischsemantischen Ausdruck findet.« (Ebd., S. 62, Hervorhebung J.G. / T.K.) Diese Erklärung macht ferner wesentlich von der Annahme Gebrauch, dass fiktionale Texte dadurch ausgezeichnet sind, »daß das Erzählte nicht auf eine reale Ich-Origo [bei Hamburger der raumzeitliche Bezugspunkt einer erkennenden Person, J.G. / T.K.], sondern auf fiktive Ich-Origines bezogen, also eben fiktiv ist« (ebd., S. 71f.). So verstanden würde Hamburgers Ansatz letztendlich auf dem Begriff der Fiktivität aufbauen, anhand dessen das wesentliche Merkmal fiktionaler Texte spezifiziert wird, um von dort ausgehend eine erkenntnistheoretisch motivierte Erklärung dafür zu geben, dass sich der fiktionale Status eines Textes in bestimmten sprachlichen Charakteristika manifestiert. Hamburgers Ansatz wäre damit strikt genommen nicht angemessen als textimmanenter klassifiziert. Im Weiteren wird von Hamburgers erkenntnistheoretisch motivierten Erklärungen abgesehen und diejenige Hamburger-Interpretation betrachtet, die sich als einflussreich erwiesen hat. Vgl. ebd., S. 63-78, bes. S. 65, 70-72. Vgl. ebd., S. 78-80. Als notwendig scheiden sie von vornherein aus, da sich jeder fiktionale Text problemlos derart umformen lässt, dass er ohne Rückgriff auf die für das epische Präteritum charakteristischen Konstruktionen auskommt. Außerdem gibt es zahlreiche fiktionale Texte, die ohne mentale Zuschreibungen irgendeiner Art auskommen (also Beispiele dessen sind, was Genette »externe Fokalisierung« nennt, vgl. Genette: Erzählung, S. 135).
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lierte Zuschreibungen mentaler Zustände machen einen Text nicht zu einem fiktionalen. Wenn jemand seine Autobiographie (in der dritten Person) schreibt,30 könnte er sich auf seine Erinnerungen oder alte Tagebuchaufzeichnungen berufen, um seine damaligen Gedankengänge (sowie sonstige mentale Vorkommnisse) in beliebiger Komplexität und Detailliertheit zu rekonstruieren und dem Leser mitzuteilen.31 – Das analysans ist mithin sowohl zu weit als auch zu eng. Exkurs: Epistemische Kriterien und Fiktionssignale Auch wenn Vorkommnisse bestimmter sprachlicher Ausdrücke weder notwendig noch hinreichend für die Fiktionalität eines Textes sind, können sie eine wichtige Rolle bei der Identifikation fiktionaler Texte spielen. Textuelle Merkmale sind oft wichtige epistemische Kriterien, auf die wir uns stützen, wenn wir herausfinden wollen, ob ein Text fiktional ist oder nicht, und wenn wir ein solches Klassifikationsurteil begründen wollen. Es handelt sich bei solchen Kriterien um Merkmale eines Textes, anhand derer der Leser einen Text als fiktionalen erkennt bzw. einstuft. Die Beziehung zwischen epistemischen Kriterien für Fiktionalität einerseits und Fiktionalität andererseits zeichnet sich durch Fallibilität aus: Das Vorliegen eines epistemischen Kriteriums (und selbst einer hohen Anzahl solcher Kriterien) ist in einer Vielzahl von Fällen ein guter Grund dafür zu glauben, dass es sich um einen fiktionalen Text handelt, ohne jedoch die Fiktionalität des Textes zu garantieren. Eben deshalb kann sich ein begründetes Urteil über den Status eines Textes insbesondere dann als schwierig erweisen, wenn verschiedene Hinweise in unterschiedliche Richtungen deuten, d.h. wenn es Gründe für und gegen ein bestimmtes Klassifikationsurteil gibt. Verstärkt wird dieses Phänomen durch den spielerischen Einsatz epistemischer Kriterien.32 Fiktionssignale sind allerdings nicht auf Texteigenschaften im engen Sinne beschränkt. Sie umfassen darüber hinaus u.a. paratextuelle Merkmale (wie etwa die Tatsache, dass ein Text vom Verlag _____________ 30 31
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Der Zusatz »in der dritten Person« ist notwendig, da nach Hamburger die IchErzählung nicht in den Bereich fiktionaler Texte in ihrem Sinne fällt (vgl. Hamburger: Logik, S. 60). Man könnte versuchen, Hamburgers Ansatz dahingehend zu retten, dass man ihn auf Fälle einschränkt, in denen verschiedenen Personen ausführlich mentale Zustände zugeschrieben werden. Auch diese Modifikation überzeugt nicht, wie folgende Überlegung zeigt: Ein Biograph könnte alle fraglichen Personen bitten, ihn über ihre damaligen Gedanken und Gefühle aufzuklären oder aber diese anhand ihrer Tagebuchaufzeichnungen rekonstruieren. Die beteiligten Personen könnten auch gemeinsam einen Tatsachenbericht verfassen, der konsequent in der dritten Person geschrieben und reichlich mit Verben innerer Vorgänge versehen ist. Vgl. Zipfel: Fiktion, S. 44.
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mit der Bezeichnung ›Roman‹ versehen wird) und inhaltliche Aspekte eines Textes (d.h. der Geschichte). Wird in einem Text etwa von Sachverhalten berichtet, die äußerst unrealistisch sind und nicht zu unserem Weltbild passen, kann dies ein Indiz für die Fiktionalität des Textes sein.33 2.3 Textproduktion Allgemeine Bemerkungen Das Hauptmerkmal produktionsorientierter Ansätze ist, dass sie den Schwerpunkt der Analyse auf den Verfasser eines Textes und dessen Einstellungen, Absichten und Überzeugungen legen. Die zugrunde liegende Idee ist dabei, dass sich die Frage, unter welchen Bedingungen ein Text fiktional ist, nur mit Rückgriff auf das Verhältnis des Autors zu eben diesem Text bestimmen lässt. Für diese Grundannahme spricht zumindest prima facie einiges. Denn erstens ist das Verfassen fiktionaler Texte etwas, das Autoren tun. Zweitens scheint es so, als hätten die Ansichten und Absichten der Verfasser sowohl für die Beschreibung als auch für den Erfolg dieses Tuns erhebliche Konsequenzen. Es klingt seltsam zu sagen, man könne quasi aus Versehen einen fiktionalen Text schreiben (obwohl man eigentlich eine Biographie schreiben wollte). Auch können Texte hinsichtlich ihres Status als fiktional/faktual radikal missverstanden werden (dazu später mehr). Auch wenn hiermit das letzte Wort natürlich nicht gesprochen worden ist, rechtfertigen diese Überlegungen zumindest, Autorintentionen eine echte Chance einzuräumen.34 Eine Möglichkeit, die relevanten Absichten des Verfassers ausfindig zu machen, besteht darin, das Verhältnis von Autor und Text im Kontext eines sprechakttheoretischen Ansatzes zu bestimmen, etwa indem das Verfassen eines fiktionalen Textes als (oder mit Rückgriff auf) eine bestimmte Form von Sprechakt erklärt wird. Paradigmatisch für ein solches Vorgehen ist bekanntlich der Ansatz John Searles.35 _____________ 33 34
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Zu Fiktionssignalen vgl. ausführlich Zipfel: Fiktivität, Kap. 6.1. Wir abstrahieren hier von allen Grundlagenfragen der Handlungstheorie und der Rolle von Intentionen und Konsequenzen für die Handlungsindividuierung (vgl. etwa Beckermann: Handeln; Davidson: Agency). Nur so viel: Als (sozial eingebundene) sprachliche Handlung scheint das Schreiben eines fiktionalen Textes eher dem Machen einer Behauptung zu gleichen als beispielsweise dem Einwerfen eines Fensters oder dem Umwerfen eines Glases Milch – so zumindest die Intuition, von der wir ausgehen wollen. Eine vom Grundansatz her identische Position wird auch von Gabriel in Fiktion und Wahrheit vertreten, die von Searles Position lediglich in Details (z.B. hinsichtlich der zugrunde gelegten Bestimmung assertiver Sprechakte) abweicht (vgl. z.B. Gabriel: Fik-
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Der sprechakttheoretische Ansatz John Searles Searles Ansatz legt den Fokus auf Sprechhandlungen, die mit den einzelnen Sätzen eines Textes vollzogen werden. Sein Ziel ist es, eine Charakterisierung fiktionaler Sprachverwendung (»fictional discourse«) zu finden.36 Ein fiktionaler Text kann dann als das Ergebnis fiktionaler Sprachverwendung aufgefasst werden. Searles Theorie lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Fiktionale Rede liegt genau dann vor, wenn ein Autor vorgibt, bestimmte illokutionäre Akte auszuführen (in der Regel Assertiva), dies aber nicht tut.37 Jemand, der im hier einschlägigen Sinne vorgibt, eine Handlung H auszuführen, versucht nicht, andere damit zu täuschen: Der Autor eines fiktionalen Textes beabsichtigt in der Regel nicht, seine Leser glauben zu machen, er stelle genuine Behauptungen auf.38 Aus diesem Grund charakterisiert Searle das Verhalten des Autors auch folgendermaßen: »[An author] is engaging in a non-deceptive pseudoperformance which constitutes pretending to recount to us a series of events.«39 Searle weist darauf hin, dass vorzugeben, etwas zu tun, ein intentionaler Akt ist und eine entsprechende Absicht erfordert. Da ein fiktionaler Text aus fiktionaler Sprachverwendung, also dem Vorgeben illokutionärer Akte, hervorgeht, und dieses Vorgeben entsprechende Absichten erfordert, folgert Searle: »[T]he identifying criterion for whether or not a text is a work of fiction must of necessity lie in the illocutionary intentions of the author.«40 Ergänzt und präzisiert wird dieser Ansatz auf zweierlei Weise. Zum einen betont Searle, dass fiktionale Sprachverwendung nur vor dem Hintergrund einer Praxis von Konventionen verständlich ist, welche die Regeln und Erfordernisse, die normalerweise mit den entsprechenden illokutionären Akten verbunden sind, außer Kraft setzen. So gehört zum Beispiel zum illokutionären Akt des Behauptens (unter anderem), dass der Sprecher sich auf die Wahrheit des von ihm Gesagten festlegt und unter _____________
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tion, S. 45-47, und Searle: Status, S. 322). Searles Fiktionalitätsbestimmung gibt Anlass zu grundlegender Kritik, welche in gleicher Weise auch auf Gabriels Ideen zutrifft, weshalb letztere hier nicht eigens betrachtet werden. Searle: Status, S. 320. »[T]he author of a work of fiction pretends to perform a series of illocutionary acts, normally of the assertive type.« (Ebd., S. 323) Vergleichbare Gedanken finden sich bereits bei Gottlob Frege, ohne jedoch wie bei Searle systematisch zu einer Fiktionalitätsbestimmung ausformuliert zu werden (vgl. Frege: Der Gedanke, S. 35f.). In diesem Sinne ließe sich auch eine Neuinterpretation von (F1) vornehmen, indem man sagt, dass fiktionalen Texten nicht die Absicht zugrunde liegt zu beschreiben, was der Fall ist. Auch dies wäre eine Interpretation von ›Fiktionale Texte beschreiben nicht, was der Fall ist‹. Searle: Status, S. 323. Ebd. Dieser Schluss ist nur vor dem Hintergrund bestimmter (sprach-)handlungstheoretischer Annahmen plausibel, die wir hier nicht thematisieren.
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bestimmten Umständen fähig sein muss, Belege und Gründe für seine Behauptung anzuführen, sowie ferner, dass der Sprecher im Modus des Behauptens seine Überzeugungen ausdrückt und der Hörer somit berechtigt ist, Schlüsse auf die Überzeugungen des Sprechers zu ziehen.41 Diese Anforderungen und Regeln werden nun nach Searle im Falle fiktionaler Sprachverwendung durch eine Reihe eigenständiger Konventionen außer Kraft gesetzt.42 Darüber hinaus weist Searle darauf hin, dass man, um vorzugeben, eine bestimmte Handlung H auszuführen, einige derjenigen Teilhandlungen ausführen muss, die normalerweise konstitutiv für die Handlung H sind. Nach Searle ist diejenige Sprachhandlung, die auch beim Vorgeben eines illokutionären Aktes ausgeführt werden muss, der »Äußerungsakt« (»utterance act«), d.h. das Aussprechen oder Aufschreiben bestimmter sprachlicher Ausdrücke.43 – Zusammenfassend lässt sich Searles Ansatz auf folgende Formel bringen (F4) Das Vorgeben eines illokutionären Aktes, das konstitutiv für fiktionale Sprachverwendung ist, besteht im tatsächlichen Vollziehen von Äußerungsakten in der Absicht, spezifische Konventionen zur Anwendung zu bringen, welche die normalerweise mit den illokutionären Akten verbundenen Regeln und Anforderungen außer Kraft setzen.44 Abschließend will Searle in seiner Konzeption berücksichtigen, dass viele fiktionale Texte auch Aussagen enthalten, aufgrund derer man ihren Verfassern bestimmte Überzeugungen zuschreiben kann; die besagten Konventionen, die eben dies verhindern sollen, werden hier also nicht angewandt. Als Beispiel nennt Searle den berühmten ersten Satz aus Anna Karenina. Es handelt sich nach Searle um eine wirkliche Behauptung Tolstois, und man kann dem Autor eine entsprechende Überzeugung zuschreiben. Searle unterscheidet daher nicht nur zwischen einem fiktionalen Text und fiktionaler Sprachverwendung, sondern betont zugleich, ein fiktionaler Text sei zwar das Resultat fiktionaler Sprachverwendung, bestehe jedoch nicht nur aus solcher.45
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Vgl. ebd., S. 322. Vgl. ebd., S. 323f. Vgl. ebd., S. 324. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 327.
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Kritik an Searles Theorie Searles Theorie ist von verschiedener Seite kritisiert worden.46 Ein nahe liegender Einwand ist, dass die mit (F4) zum Ausdruck gebrachten Bedingungen nicht hinreichend sind. Es gibt Verwendungen von Sprache, bei denen man im Searleschen Sinne vorgibt zu behaupten, dass p, ohne damit in irgendeiner Form fiktionale Sprachverwendung zu betreiben, etwa wenn man die Aussagen einer anderen Person nachahmt oder im Kontext einer Sprachlehrsituation nicht-zusammenhängende Sätze äußert (etwa um die Aussprache zu üben). In solchen Fällen werden Äußerungsakte mit der Absicht vollzogen, dass bestimmte Konventionen die normalerweise mit Äußerungen dieser Art einhergehenden Regeln außer Kraft setzen. Das Vorliegen solcher Bedingungen ist hinreichend dafür, dass ein Searlesches Vorgeben zu behaupten, dass p, vorliegt, nicht jedoch dafür, dass fiktionale Sprachverwendung vorliegt bzw. fiktionale Texte entstehen. Der Schwachpunkt von Searles Ansatz scheint zu sein, dass die ausgeführte Sprachhandlung durch die von Searle angegebene Intention unterbestimmt ist. Die fragliche Intention ist zu allgemein beschrieben und kann daher die gewünschte Sprachhandlung nicht herausgreifen, da sie mit verschiedenen spezifischeren Intentionen vereinbar ist, die jeweils konstitutiv für Sprachhandlungen sind, die in keinem Zusammenhang mit fiktionalen Texten stehen müssen. Eine Searlesche Intention reicht nur dafür aus, Sprache ohne Geltung der für einen bestimmten illokutionären Akt relevanten Regeln zu verwenden, aber dies muss – wie gesehen – nicht auf fiktionale Sprachverwendung hinauslaufen. (F4) müsste daher um spezifische Merkmale fiktionaler Sprachverwendung bzw. eine spezifischere Beschreibung der für das Verfassen eines fiktionalen Textes konstitutiven Intention ergänzt werden. Die Suche nach einer geeigneten Autorintention kann – auch wenn Searles Ansatz keine adäquate Charakterisierung anbieten kann – noch nicht als gescheitert gelten. Vor der Darstellung entsprechender Ansätze ist jedoch zunächst die Darstellung des rezeptionsorientierten Ansatzes von Kendall Walton erforderlich, denn erfolgversprechende Versuche, Fiktionalität mit Rückgriff auf die Intentionen des Autors zu bestimmen, bauen, wie sich zeigen wird, auf Waltons grundlegenden Ideen auf. _____________ 46
Vgl. Davies: Fiction, S. 265; Zipfel: Fiktivität, Kap. 5.1.2. – Man hat den Eindruck, es gehöre in der literaturwissenschaftlichen Diskussion fast schon zum guten Ton, Searles Ansatz zu kritisieren. Demgegenüber möchten wir die Güte der Searleschen Ideen hervorheben. Es ist wohl keine Übertreibung, wenn man sagt, dass Searles – bereits 1974/1975 erstmals vorgetragene – Überlegungen für die neuere fiktionalitätstheoretische Debatte richtungweisend gewesen sind.
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2.4 Textrezeption: Kendall Walton und make-believe Games of make-believe Kendall Walton versucht, Fiktionalität mit Rückgriff auf bestimmte mentale Vorgänge und Zustände zu erklären, die den Umgang von Rezipienten mit fiktionalen Texten bestimmen.47 Waltons Grundthese ist dabei folgende: Fiktionale Texte sind solche, deren sozial anerkannte Funktion es ist, eine bestimmte Rolle in so genannten »games of make-believe« zu spielen. Im Folgenden wird es zunächst darum gehen, diese These zu erläutern. Aufgrund der zentralen Bedeutung für Waltons Ansatz beginnen wir mit der Idee eines make-believe-Spiels.48 Waltons Ausgangspunkt ist eine Analogie zwischen dem Umgang von Rezipienten mit fiktionalen Texten und so genannten make-believe-Spielen von Kindern.49 Bei make-believe-Spielen kommt es darauf an, dass die Teilnehmer sich bestimmte Dinge vorstellen. Walton versucht nicht, eine präzise Bestimmung der mentalen Vorgänge zu geben, die mit ›make-believe‹ erfasst werden sollen, und baut stattdessen auf ein intuitives Grundverständnis seiner Leser.50 Wichtig ist, dass das Sich-etwas-Vorstellen erstens _____________ 47
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Walton geht es dabei nicht nur um die Frage, was bestimmte Texte oder Sprachäußerungen zu fiktionalen macht, sondern um eine allgemeine Theorie der Fiktionalität (eigentlich: der Repräsentationalität), die sich ebenso auf Bilder, Filme, Theaterstücke und sogar Alltagsgegenstände wie etwa Puppen und Spielzeugautos bzw. deren Funktion ausweiten lässt (vgl. Walton: Mimesis, S. 1-8). Diese weiterreichende Zielsetzung Waltons wird im Folgenden aus Platzgründen außer Acht gelassen. Da Versuche, ›make-believe‹ ins Deutsche zu übertragen, nicht sehr aussichtsreich sind, wird der englische Ausdruck im Folgenden als terminus technicus verwendet. Der Ausdruck ›make-believe‹ hat gegenüber dem ungefähr bedeutungsgleichen ›vorstellen‹ den Vorteil, dass er bestimmte Bedeutungsnuancen von ›sich etwas vorstellen‹ akzentuiert, die leicht aus dem Blick geraten können. Ebenso wie es nämlich einen Unterschied gibt zwischen dem Haben einer Überzeugung im Sinne eines dispositionalen Zustands und dem expliziten Nachdenken über etwas, gibt es auch einen Unterschied zwischen Sich-etwas-Vorstellen in dem Sinne, dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt explizit daran denkt, und Sich-etwas-Vorstellen in einer Weise, die analog zu dispositionalen Überzeugungen zu verstehen ist. Der Vorteil des Ausdrucks ›makebelieve‹ besteht darin, dass er nicht dazu verleitet, ›Vorstellen‹ nur im ersteren Sinne zu verstehen, ohne damit jedoch über die Standard-Bedeutung von ›Vorstellen‹ hinauszugehen; vgl. ebd., S. 16-18. Vgl. ebd., S. 12. Der Vergleich mit Spielen ist dabei nicht im Sinne eines Fehlens von Ernsthaftigkeit zu verstehen; vielmehr soll auf die für (manche) Spiele charakteristische Regelhaftigkeit sowie ihre soziale Natur hingewiesen werden (s.u.). Vgl. ebd., S. 21. Der Versuch einer theoretischen Erklärung von make-beliefs bzw. Vorstellungen als zu Überzeugungen und Wahrnehmungen funktional analogen mentalen Zuständen findet sich in Currie: Imagination (vgl. bes. S. 258-260). Es verdient, besonders hervorgehoben zu werden, dass es sich beim Sich-etwas-Vorstellen um eine zentrale kognitive Fähigkeit handelt, die uns aus vielen Bereichen des Alltags ver-
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in eine soziale Praxis eingebunden, d.h. zusammen mit anderen ausgeführt werden kann51 und dass es zweitens im Rahmen bestimmter Regeln geschehen kann, die bestimmen, was man sich vorzustellen hat bzw. was als angemessenes (richtiges) oder unangemessenes Vorstellen gilt.52 Wenn sich zum Beispiel mehrere Kinder zusammentun, um ›Seeräuber‹ zu spielen, dann gehört zu diesem Spiel, dass man sich vorstellt, dass jeder der Beteiligten ein Seeräuber ist. Wer sich nicht vorstellt, dass seine Mitspieler Seeräuber sind, spielt nicht mit, da er eine fundamentale Regel des Spiels bricht. Eine dritte wichtige Eigenschaft vieler make-believe-Spiele ist, dass sie sich bestimmter Hilfsmittel bedienen, die Walton »props« nennt.53 Sein Beispiel ist das Abenteuerspiel von Kindern, die verabreden, dass jeder größere Holzstumpf im Wald als Bär zu betrachten ist: Wann immer man auf einen solchen Holzklotz trifft, hat man sich vorzustellen, dass man einem Bären gegenüber steht.54 Nach Walton beziehen sich viele Regeln, die bestimmen, was man sich als Teilnehmer (in bestimmten Situationen) vorzustellen hat, auf derartige Hilfsmittel.55 Fiktionale Texte als props Walton zufolge sind auch literarische Texte Hilfsmittel in make-believeSpielen. In solchen Spielen gibt es Regeln, die besagen, dass man sich auf der Basis des zugrunde gelegten Textes bestimmte Dinge und Sachverhalte vorzustellen hat.56 Eine entsprechende Bestimmung des Fiktionalitäts_____________
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traut ist (vgl. auch Stevenson: Imagination). Aus diesem Grund kann gegen Waltons Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs nicht eingewandt werden, hier werde das Obskure durch das noch Obskurere erklärt. Gegenüber den durch (F2) repräsentierten Ansätzen hat Waltons Ansatz vielmehr den Vorteil, dass er Fiktionalität auf eine einfache und vertraute – und im Wortsinne kinderleichte – Tätigkeit zurückführt. Überdies lassen sich seinem Ansatz zumindest Hinweise darauf entnehmen, wie die Kompetenz des Umgangs mit fiktionalen Texten erworben bzw. erlernt wird. Walton: Mimesis, S. 18-20. Derartige Regeln können einem Spiel zugrunde liegen und von allen Teilnehmern akzeptiert werden, ohne dass diese Regeln zu irgendeinem Zeitpunkt explizit formuliert werden müssten. Vgl. ebd., S. 35-43. Der englische Ausdruck ›prop‹ hat mehrere Bedeutungen. Wir schlagen die Übersetzung ›Hilfsmittel‹ vor, da sie sich am besten für eine kohärente Interpretation von Waltons Theorie eignet; vgl. auch unten, Anm. 56). Vgl. ebd., S. 35-39. Vgl. ebd., S. 35-43. Vgl. ebd., S. 51. An dieser Stelle wird deutlich, wie weit der Begriff ›prop‹ bei Walton gebraucht ist. Im Unterschied zum Holzstumpf, von dem man sich im Zuge des Abenteuerspiels vorstellen soll, er sei ein Bär (s.o.), soll man sich vom Text eines literarischen Werkes in der Regel nicht vorstellen, er sei etwas anderes. Die Vorstellungsaktivität beruht hier vielmehr auf den durch den Text zum Ausdruck gebrachten Inhalten. Aus diesem Grund wäre es missverständlich, ›prop‹ beispielsweise als ›Requisite‹ zu überset-
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begriffs besagt, dass ein Text genau dann fiktional ist, wenn er die Funktion hat, als Hilfsmittel in einem make-believe-Spiel zu dienen. Walton lehnt allerdings ab, präzise anzugeben, unter welchen Bedingungen ein Gegenstand die entsprechende Funktion hat.57 Denkbar sind hier verschiedene Optionen: Man kann die Funktionen von Objekten etwa als abhängig davon betrachten, wie eine bestimmte Personengruppe mit den jeweiligen Objekten tatsächlich umgeht; davon, welchen Umgang sie als angemessen ansieht; davon, welchen Umgang die Hersteller normalerweise erwarten oder intendieren; oder auch davon, wie die Hersteller tatsächlich wollen oder erwarten, dass sie gebraucht werden. Obwohl Walton ablehnt, sich in dieser Frage festzulegen, schließt er bestimmte Sichtweisen implizit aus, da er die Auffassung vertritt, dass Funktionen stets relativ zu einer bestimmten Gesellschaft vorhanden sind.58 Damit ist ausgeschlossen, dass die Intentionen des Autors in irgendeiner Form entscheidend für die Fiktionalität eines Textes (T) sind.59 Nach Walton gilt demnach: (F5) T ist fiktional relativ zu Gesellschaft G genau dann, wenn es Ts Funktion relativ zu G ist, als Hilfsmittel in einem make-believeSpiel zu dienen. Kritik Aufgrund der Nichtbeachtung der Autorintentionen und der Relativität der Funktionen eines Textes schließt Waltons Ansatz die Möglichkeit eines weitreichenden Irrtums über den Status eines Textes aus. Wenn zwei Gesellschaften demselben Text unterschiedliche sozial legitimierte Funktionen zuweisen, ist dieser Text fiktional für die eine und nicht-fiktional für die andere Gesellschaft. Die Frage, welche von beiden die richtige Sichtweise vertritt, lässt sich dann nicht mehr sinnvoll stellen. Dass diese _____________
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zen. Der Vergleich von Kinderspielen und fiktionalen literarischen Werken hat also Grenzen. Er ist dennoch fruchtbar, weil es mehrere Gemeinsamkeiten gibt, auf die es hier ankommt: das Soziale der Aktivität, die Bedeutung der Vorstellungsaktivität, die Regelhaftigkeit sowie nicht zuletzt die ›Implizitheit‹ des Regelbewusstseins und die Spontaneität, mit der die spezifischen Regeln eines Spiels generiert werden können. (Letzteres bedeutet: Was genau man sich anhand eines bestimmten fiktionalen literarischen Werkes vorzustellen hat, lernt man erst in dem Moment, in dem man das Werk liest.) Vgl. ebd., S. 51-54, 91. Vgl. ebd., S. 52-53, 91. Wenn die Intention des Autors die Funktion eines Textes in Waltons Sinn bestimmt, dann hat derselbe Text in allen Gesellschaften dieselbe Funktion. Aus demselben Grund ist die Annahme, dass die Intention eines Autors eine notwendige oder hinreichende Bedingung für die Fiktionalität eines Textes darstellt, mit der Waltonschen Annahme inkompatibel, dass Fiktionalität – qua Relativität der Funktion – stets relativ zu einer Gesellschaft ist.
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Position letztlich unbefriedigend ist, kann ein Gedankenexperiment zeigen. Man betrachte folgenden Fall: Eine Person S verfasst einen Text mit der Absicht, andere über den Hergang bestimmter Vorfälle zu informieren. Wenn sich nun herausstellt, dass die Leser des Textes dessen Wahrheitsgehalt ignorieren und den Text als Hilfsmittel für make-believe-Spiele gebrauchen, so würde sich S vermutlich vollständig missverstanden fühlen (zu Recht, wie es scheint).60 Wie lässt sich die Idee erklären, dass hier ein echtes Fehlverhalten auf Seiten der Leser vorliegt? Die Antwort auf diese Frage scheint damit zu tun zu haben, dass die Autorintention von Seiten der Leser nicht erkannt wurde. Aber das kann nicht alles sein. Wäre dies der Fall, so würde kein Fehler auf Leserseite vorliegen, wenn die Autorintention zwar in der Tat erkannt, der Text aber dennoch entgegen der Autorintention gebraucht wird. Es scheint jedoch, als würde man in diesem Fall immer noch davon ausgehen, dass hier ein Fehler des Lesers vorliegt (der darüber hinaus noch eklatanter zu sein scheint als im ersten Fall).61 Einen Text trotz des Wissens darum, dass sein Autor mit ihm einen Tatsachenbericht schreiben wollte, nur als Hilfsmittel in einem make-believe-Spiel zu verwenden, scheint genau deshalb offenkundig unpassend zu sein, weil das Wissen um die Autorintention hinreichend dafür ist, zu wissen, dass es sich um einen nicht-fiktionalen Text handelt. Insofern man diesem Gedankengang zustimmt, kommt man nicht umhin, der Autorintention eine konstitutive Rolle für die Fiktionalität eines Textes zuzusprechen.62 Dabei kann und sollte man allerdings auf die wesentlichen Einsichten der bisherigen Diskussion zurückgreifen. Waltons Grundidee, dass die Fiktionalitätsrezeption Züge eines regelhaften make-believe-Spiels aufweist, in denen Texte die Funktion von props haben, lässt sich mit der Auffassung verbinden, dass der Intention des Autors eine wesentliche Rolle zukommt.63 Nimmt man diese Punkte zusammen, so ergibt sich: Die relevan_____________ 60
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Dasselbe gilt übrigens auch für den umgekehrten Fall – wenn also ein als fiktional intendierter Text als nicht-fiktionaler aufgefasst wird. Orson Welles Hörspiel-Fassung von H. G. Wells The War of the Worlds ist hier ein lehrreiches Beispiel, vgl. Faulstich: Radiotheorie, bes. S. 94f., Anm. 22. Man könnte sagen, der Fehler sei teleologisch, insofern die Leser den Witz des Textes nicht begreifen, und moralisch, insofern die Leser den Autor nicht ernst nehmen. Natürlich soll damit nicht gesagt sein, dass man faktuale Texte nicht auch im Waltonschen Sinne als props verwenden könne oder dürfe; problematisch vom Standpunkt der Frage nach der adäquaten Rezeption ist jedoch, wenn ein faktualer Text nur in dieser Weise rezipiert wird. Entgegen des durch (F4) repräsentierten Ansatzes sollte man davon ausgehen, dass sich die Intentionen des Autors – in den hier in Rede stehenden paradigmatischen Fällen fiktionaler Texte – auf den ganzen Text beziehen; Searles Ansatz ist oft dafür kritisiert worden, dass er Fiktionalität demgegenüber primär als eine Sache einzelner Äußerungen (Sätze) ansieht; vgl. z.B. Lamarque / Olsen: Truth, S. 65-67, 284f. u.ö.
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te Autorintention muss zum Inhalt haben, dass Leser den Text als Hilfsmittel in einem make-believe-Spiel gebrauchen sollen. Es ist diese Idee – gewissermaßen die Synthese der bisherigen Erläuterungen und Kritikpunkte –, die nun anhand der Ansätze von Gregory Currie sowie Peter Lamarque und Stein Olsen diskutiert werden soll. In diesem Zusammenhang wird auch der bisher vernachlässigten Frage nachgegangen, was genau es heißen kann, einen Text als prop im Waltonschen Sinne zu gebrauchen. 2.5 Eine zweite Chance für Autorintentionen Lamarque/Olsen Die von Lamarque und Olsen entwickelte Fiktionalitätstheorie ist äußerst komplex und beruht auf einer ebenso ausführlichen wie subtilen Argumentation, die an dieser Stelle nur verkürzt – und mit Bezug auf die hier behandelte Fragestellung – skizziert werden kann. Grundlegend für Lamarque/Olsen ist die Annahme, dass sich Fiktionalität nur mit Rückgriff auf eine soziale und regelgeleitete Praxis erklären und beschreiben lässt, zu der eine bestimmte Form von Sprachverwendung des Sprachproduzenten und bestimmte Reaktionen, Verhaltensweisen und Einstellungen auf der Seite des Rezipienten gehören.64 Fiktionale Texte sind demnach das Produkt einer fiktionalen Sprachverwendung.65 Diese wiederum ist nach La_____________
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Intentionen, die sich auf die Aufnahme eines Textes als ganzen beziehen, bezeichnet man auch als ›kategoriale Intentionen‹: Sie betreffen die Kategorie, der ein Text von seinen Lesern zugeordnet werden soll: »Categorial intentions involve the maker’s framing and positioning of his product vis-à-vis his projected audience; they involve the maker’s conception of what he has produced and what it is for, on a rather basic level; they govern not what a work is to mean but how it is to be fundamentally conceived or approached.« (Levinson: Intention, S. 188; vgl. Bühler: Autorabsicht, S. 71f.) Eine Sonderrolle spielen in dieser Hinsicht allerdings echte Mischfälle, d.h. Texte, die aus verschiedenen, klar trennbaren Textteilen bestehen. Man kann hier an das Beispiel einer Dissertation denken, die als faktualer Text aufzufassen ist, jedoch fiktionale Textbeispiele (z.B. als Gedankenexperimente) enthält. In solchen Fällen muss für den Leser klar sein, welche Umgangsweise mit dem Text an der jeweiligen Stelle angemessen ist. »The controlling idea is [...] that the fictive dimension of stories (or narratives) is explicable only in terms of a rule-governed practice, central to which are a certain mode of utterance (fictive utterance) and a certain complex of attitudes (the fictive stance).« (Lamarque / Olsen: Truth, S. 32, vgl. auch S. 35-40) Hinzuzufügen ist, dass die fiktionale Sprachverwendung nach Lamarque und Olsen nicht im Sinne eines irrreduziblen Sprechaktes im Sinne der Sprechakttheorie aufzufassen ist. Ihre Gründe hängen mit bestimmten Grundannahmen über Sprechakte und deren theoretische Beschreibung zusammen, die an dieser Stelle nicht weiter verfolgt
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marque und Olsen aufzufassen als Handlung mit einer bestimmten Absicht, die den Konventionen einer sozialen Praxis unterliegt.66 Bei der Bestimmung der relevanten Absicht greifen Lamarque und Olsen auf Walton zurück: Einschlägig ist die Absicht, auf Seiten der Rezipienten die für die fiktionsbezogene Rezeptionshaltung (»fictive stance«) konstitutiven Einstellungen hervorzurufen. Diese Rezeptionshaltung nimmt ein Rezipient nach Lamarque und Olsen dann ein, wenn er sich vorstellt (im Sinne von make-believe), dass die Sätze des Werks Resultate gewöhnlicher Sprechakte sind, obwohl er weiß, dass gewöhnliche Sprechaktkonventionen – insbesondere die Berechtigung, dem Urheber des Sprechakts bestimmte Überzeugungen, Wünsche etc. zuzuschreiben – aufgehoben sind.67 Da man sich nicht vorstellen könne, dass Sprechakte ausgeführt werden, ohne sich ebenfalls vorzustellen, dass diese von einem Sprecher ausgeführt werden, beinhaltet die Rezeptionshaltung des fictive stance nach Lamarque und Olsen die Vorstellung, dass ein Erzähler diverse Sprechakte ausführt: »Thus with indicatives an audience is invited to make-believe that a narrator is asserting something, with interrogatives that a narrator is asking something, and so forth«.68 Diese Bestimmung besagt lediglich, dass man sich vorzustellen hat, dass ein Erzähler bestimmte Sprechakte ausführt, nicht jedoch, wie man sich diesen vorzustellen hat. Sie lässt offen, ob man sich (immer oder manchmal) von einem realen Sprachproduzenten vorzustellen hat, er sei ein Erzähler, der genuine Sprechakte ausführt, oder ob man sich (immer oder manchmal) eine von diesem verschiedene Sprecherinstanz vorzustellen hat, die genuine Sprechakte ausführt. Zur Verdeutlichung: Wenn Person A Person B eine fiktionale Erzählung vorträgt (deren Autor sie sein kann, die sie aber auch nur nacherzählen oder vorlesen kann), dann könnte sich B sowohl von A vorstellen, dass A eine Reihe echter Sprechakte ausführt, als auch vorstellen, dass eine von A verschiedene Person dies tut oder dass A qua Erzähler neue Eigenschaften annimmt (letzteres ist dann der Fall, wenn B sich von A beispielsweise vorstellt, dass A über neue Wissensbestände verfügt oder bestimmte Erlebnisse gehabt hat usw.). Mit Blick auf den schriftlichen Sprachgebrauch: Der Leser eines fiktionalen Textes kann sich sowohl vom Autor vorstellen, er habe mit seinen Sätzen eine Reihe genuiner Sprechakte ausgeführt, als auch, dass eine vom Autor verschiedene Instanz dies getan habe. In beiden Fällen würde die fiktionale Einstellung eingenommen. _____________
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werden können (vgl. Lamarque / Olsen: Truth, S. 74f. für die entsprechende Argumentation). Vgl. ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 43f. Ebd., S. 44.
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Gregory Currie Im Gegensatz zu Lamarque und Olsen geht Currie (in einer frühen Publikation) von der Idee eines genuin fiktionalen Sprechaktes aus, den er »uttering fiction« nennt.69 Demnach führt eine Person S mit einer Äußerung, dass p, genau dann einen fiktionalen Sprechakt aus, wenn S die Intention hat, dass die Rezipienten sich vorstellen, dass p, und dies auf der Grundlage ihrer Erkenntnis der Absicht von S tun. (Das heißt: Das Vorliegen der Absicht ist für die Rezipienten ein hinreichender Grund, sich vorzustellen, dass p.)70 Bezogen auf einen Text würde dies Folgendes bedeuten: Der Autor beabsichtigt, dass seine Leser den Text als Hilfsmittel in einem make-believe-Spiel gebrauchen, wobei der Text genau dann als ein solches Hilfsmittel eingesetzt wird, wenn die Rezipienten sich für alle ›Aussagen‹ des Textes mit dem Inhalt p vorstellen, dass p.71 Der Unterschied zu Lamarque und Olsen liegt auf der Hand, denn sich vorzustellen, dass p, ist weder notwendig noch hinreichend dafür, sich vorzustellen, dass jemand behauptet, dass p. Die von Currie und Lamarque und Olsen für die Fiktionalität eines Textes angeführten konstitutiven Absichten sind demnach verschieden. Vergleich – und ein erstes Ergebnis der Analyse Curries Vorschlag weist zwei Nachteile auf. Zum einen ist er nur auf solche Sätze anzuwenden, mit denen man normalerweise Sprechakte des Behauptens vollzieht. Wenn in einem fiktionalen Text ein Fragesatz mit dem propositionalen Gehalt p auftaucht, dann ist es unsinnig anzunehmen, der Rezipient solle sich vorstellen, dass p. Darüber hinaus können in fiktionalen Texten auch Sätze vorkommen (z.B. ›Verdammt noch mal‹), die keinen propositionalen Gehalt haben. Hinzu kommt, wie das Beispiel des unzuverlässigen Erzählens verdeutlicht, dass nicht jeder Aussagesatz eines fiktionalen Textes mit dem Inhalt p auch stets mit der Absicht auf _____________ 69
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Im Rahmen dieser Arbeit wird nur Curries Ansatz aus »What Is Fiction?« dargestellt. Currie hat seine Ideen in späteren Publikationen substantiell modifiziert; vgl. bes. Currie: Nature. Wir beschränken uns auf die Darstellung des frühen Aufsatzes, weil bereits dort die systematisch zentrale Position entwickelt wird, auf die es uns hier ankommt. Vgl. Currie: Fiction, S. 387. Im Hintergrund von Curries Konzeption steht dabei ein Kommunikationsmodell, das von Paul Grice entwickelt wurde (grundlegend Grice: Meaning, bes. S. 385). Am Rande sei bemerkt, dass der hier vorgestellte Ansatz geeignet sein könnte, die beliebte Rede vom »Fiktionspakt« verständlich zu machen (vgl. z.B. Eco: Wald, S. 103, 105 u.ö.). Am Ausdruck ›Fiktionspakt‹ ist an und für sich nichts auszusetzen. Es handelt sich jedoch um eine Metapher, und die interessante Frage ist daher, wie genau sie ausbuchstabiert werden kann oder sollte.
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Seiten des Autors verbunden ist, der Leser möge sich vorstellen, dass p.72 Im Rahmen einer adäquaten Rezeptionshaltung muss man diese Phänomene berücksichtigen – aber dies geht nur dann, wenn man nicht alles, was an Aussagesätzen im Text steht, sozusagen ›für bare Münze nimmt‹ und direkt in entsprechende make-beliefs umsetzt. Der Ansatz von Lamarque und Olsen ist Curries insofern überlegen, als in ihm die Vielzahl möglicher Sprechakte und Sprachverwendungen berücksichtigt wird. Allerdings scheint er in der angegebenen Form ebenfalls nicht zu einer befriedigenden Antwort zu führen, denn zu einer angemessenen Rezeption von fiktionalen Texten scheint mehr zu gehören als die Vorstellung, eine Person führte eine Reihe von Sprechakten aus. Der Rezipient hat sich für gewöhnlich nicht nur das Berichten eines Erzählers vorzustellen, sondern auch das, was dieser Erzähler berichtet. Wenn wir den Begriff einer Vorstellungswelt so einführen, dass er alles umfasst, was man sich im Rahmen eines bestimmten make-believe-Spiels vorstellen soll,73 dann lässt sich der Kritikpunkt folgendermaßen formulieren: Der Leser hat sich nicht nur vorzustellen, dass eine Reihe genuiner Sprechakte ausgeführt wird, sondern seine Vorstellungswelt muss auf dem Gehalt dieser Sprechakte beruhende weitere Sachverhalte beinhalten und sollte so umfassend und detailliert wie nötig sein. Der Sprecher wird dabei als jemand vorgestellt, der (unter anderem) über diese vorgestellte Welt Behauptungen aufstellt, über Ereignisse in ihr berichtet, über Handlungen informiert etc. Als Rezipient gilt es, zu einer hinreichend umfassenden Vorstellungswelt auf der Grundlage der vorgestellten illokutionären Akte zu gelangen. Kombiniert man in dieser Weise die Ansätze Curries und Lamarque/Olsens, so gelangt man zu folgendem (provisorischen) Vorschlag einer Fiktionalitätsbestimmung: (F6) T ist genau dann ein fiktionaler Text, wenn gilt: T wurde von seinem Verfasser (unter anderem) mit der Absicht A verfasst, dass der Rezipient diesen Text als Hilfsmittel in einem make_____________ 72 73
Zum unzuverlässigen Erzählen vgl. Currie: Unreliability. Man beachte, dass der Begriff der Vorstellungswelt hier nicht als explanatorisch basal eingeführt wird (vgl. oben, Abschnitt 2.1). Weder wird der Begriff der Fiktionalität durch den hier eingeführten Begriff der Vorstellungswelt erläutert, noch lädt letzterer zu ontologischen Spekulationen eigener Art ein. Auf der Basis der gegebenen Fiktionalitätsdefinition lässt sich eine Erklärung der Redeweise über fiktive Gegenstände geben, die frei von problematischen ontologischen Verpflichtungen ist. Aussagen über fiktive Objekte lassen sich vor diesem Hintergrund z.B. verstehen als Aussagen über die Regeln bestimmter make-believe-Spiele (für eine differenzierte Ausführung dieser Idee vgl. Walton: Mimesis, Kap. 10). Die Rede von Vorstellungswelten ist lediglich eine sprachliche Abkürzung, die dazu dient, ein ausuferndes Reden von Vorstellungen zu vermeiden. (Kurzum: p ist Teil der Vorstellungswelt von S genau dann, wenn S sich vorstellt, dass p.)
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believe-Spiel einsetzt, und zwar dergestalt, dass der Leser L aufgrund von A (i) sich vorstellt, dass ein Sprecher/Erzähler mit den im Text vorkommenden Sätzen bestimmte Sprechakte ausführt (obwohl L weiß, dass gewöhnliche Sprechaktkonventionen z.T. aufgehoben sind) und (ii) auf der Grundlage dieser vorgestellten Sprechakte zu einer hinreichend umfassenden Vorstellungswelt gelangt.74 Diese Bestimmung weist verschiedene Vorteile auf: Sie liefert eine nicht triviale Analyse von ›Fiktionalität‹, berücksichtigt die Intentionen des Autors und kann so, bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Unterscheidung von Autor und Erzähler, das Verfassen eines fiktionalen Textes als Sprachhandlung darstellen. Ein weiterer Vorteil des Erklärungsansatzes ist darin zu sehen, dass er Fiktionalität als etwas verständlich macht, das in engem Zusammenhang mit menschlichen Fähigkeiten, Konventionen und Praktiken steht, die auch außerhalb einer philosophischen oder literaturtheoretischen Beschäftigung mit Fiktionalität beschrieben und erklärt werden können. (F6) ist ferner – wie durch das Vorkommen von ›unter anderem‹ in der Definition angedeutet – mit der Idee kompatibel, dass ein Autor mit einem Text mehrere Dinge zugleich beabsichtigen kann. Die Intention, der Text möge als Hilfsmittel in einem make-believe-Spiel gebraucht werden, ist zum Beispiel mit der Absicht kompatibel, durch den Text einen Überzeugungswandel zu veranlassen (dazu unten mehr). Ein Text kann, allgemein gesprochen, mit der Absicht verfasst werden, verschiedene Funktionen auszufüllen. Kritik Unser Anliegen war nicht, eine endgültige Analyse des Fiktionalitätsbegriffs zu unterbreiten, sondern es besteht vielmehr darin, ausgehend von den Vorzügen und Problemen einer Reihe traditioneller und moderner Ansätze eine bestimmte Art und Weise, das Projekt einer Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs zu verfolgen, als attraktiv zu präsentieren. Mit dem zuletzt formulierten Vorschlag sind unserer Ansicht nach zentrale Elemente des Umgangs mit fiktionalen Texten benannt worden, die in die richtige Richtung weisen. Es sollte beispielsweise unstrittig sein, dass jemand, der sich innerhalb der von Walton, Currie und Lamarque/Olsen angeregten Rahmenbedingungen bewegt, anders an weiterführende Fra_____________ 74
Diese Definition darf nicht so verstanden werden, dass jeder Autor eines fiktionalen literarischen Werkes die explizite Absicht A hat. Richtig ist vielmehr folgendes: Damit T fiktional ist, muss es möglich sein, dem Verfasser A zuzuschreiben.
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gen der Fiktionalitätstheorie herangehen dürfte als jemand, für den sich Fiktionalität ausschließlich über die Idee fiktiver Gegenstände erschließt.75 Im letzten Teil dieses Textes werden wir auf eine Reihe von offenen Fragen, weiterführenden Problemen und verbleibenden Schwierigkeiten hinweisen, die ausgehend von (F6) in den Mittelpunkt rücken. Wir tun dies nicht zuletzt um anzudeuten, auf welche Weise sich der von uns favorisierte Ansatz bewähren kann. Noch einmal: Fiktionalität und Wahrheit Ein erstes Problem wird durch die Frage aufgeworfen, ob mit (F6) tatsächlich hinreichende Bedingungen für die Fiktionalität eines Textes spezifiziert werden. Lamarque und Olsen diskutieren eine Reihe hypothetischer Gegenbeispiele, denen gemeinsam sein soll, dass die fraglichen Texte zwar mit der in (F6) genannten Absicht produziert wurden, dabei jedoch mit Recht für nicht-fiktional gehalten werden könnten. So ist der Fall einer Person denkbar, die eine strikt autobiographische Erzählung schreibt und zugleich möchte, dass Leser den Text als fiktionalen auffassen und behandeln (Fall 1); in einer Variante dieses Falles schreibt ein Autor eine wahre Geschichte, ohne dies zu wissen, da die Geschichte von Erlebnissen berichtet, die er (etwa im Sinne der Psychoanalyse) verdrängt hat (Fall 2). In einem dritten Fall findet ein Autor das Manuskript eines faktualen Textes, hält diesen jedoch fälschlicherweise für einen fiktionalen Text und entscheidet sich dafür, den Text als (plagiierten) fiktionalen Text zu veröffentlichen (Fall 3).76 Wenn man diese Texte nicht zu den fiktionalen zählen möchte, so dürfte das vor allem zwei Gründe haben: Zum einen bestehen die fraglichen Texte – zumindest zum großen Teil – aus wahren Sätzen; zum anderen ist der Gehalt dieser Texte offensichtlich nicht erfunden.77 Wie ist mit diesen Fällen umzugehen? _____________ 75
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Man denke etwa an die Frage nach den Funktionen oder dem Wert fiktionaler Literatur. Anschließend an (F6) liegt es nahe, als eine Funktion fiktionaler Literatur die Erweiterung unseres Vorstellungshorizonts anzunehmen. Fiktionale Literatur könnte demnach unter anderem insofern wertvoll sein, als sie uns den (angeleiteten) imaginativen Nachvollzug beispielsweise moralisch relevanter Szenarien ermöglicht (vgl. z.B. Currie: Realism). Für jemanden, der das Problem fiktiver Gegenstände ins Zentrum einer Bestimmung des Fiktionalitätsbegriffs stellt, liegen solche Überlegungen wohl weniger nahe bzw. sind nicht in gleicher Weise erhellend – denn warum die Lektüre fiktionaler Texte unter der Beschreibung ›Es werden Informationen über fiktive Gegenstände geliefert‹ einen Effekt wie den angeführten haben sollte, ist nicht unmittelbar einsichtig. Vgl. Lamarque / Olsen: Truth, S. 50; die Beispiele entstammen Currie: Fiction, S. 388; vgl. auch Currie: Nature, S. 42-45. Vgl. Lamarque / Olsen: Truth, S. 50. Die Intuition, dass Fiktionen mit dem Ausdenken oder Erfinden von etwas zu tun haben, findet sich beispielsweise in der Defini-
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Die einfachste Lösung bestünde darin, die Fälle als das zu nehmen, was sie dem Anschein nach sind, und es dabei bewenden zu lassen: Es handelt sich um hypothetische Sonderfälle, bei denen unsere Urteile darüber, ob wir es mit fiktionalen oder faktualen Texten zu tun haben, schwanken oder in unterschiedliche Richtungen gehen dürften. Auf der Grundlage dieser Beobachtung ließe sich argumentieren, dass diese Fälle nicht den Kernbereich des Fiktionalitätsbegriffs betreffen und aus unserer Analyse folglich ausgeklammert werden können.78 Obwohl diese Reaktion grundsätzlich am Platz ist, möchten wir zeigen, dass es möglich ist, mit diesen Problemfällen auf der Basis von (F6) in einer Weise umzugehen, die erstens zu Ergebnissen führt, welche die Analyse selbst intakt lassen, und zweitens verständlich macht, warum die Klassifikation in diesen Fällen schwierig ist.79 Ausgehend von (F6) lässt sich zu den genannten Fällen Folgendes sagen: Obwohl die Wahrheit fiktionaler Äußerungen bei der Analyse des Fik_____________
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tion des Duden, Bd. 3, S. 1087. Zum Problem der Wahrheit vgl. oben, Anm. 11; ähnlich liest man bei Goodman: »Literal falsity distinguishes fiction from true report« (Goodman: Mind, S. 124). Vgl. oben, Abschnitt 1. Zur Frage, welche Rolle kontrafaktische Szenarien bei der Begriffsbestimmung spielen sollten, vgl. Craig: Untersuchungen, bes. S. 12-24. Lamarque und Olsen schlagen eine komplexe Lösung vor, die auf der Unterscheidung zwischen dem »Gehalt« (»content«) einer fiktionalen Äußerung, und deren »Präsentationsmodus« (»mode of presentation«) beruht: Bei ersterem handelt es sich um die Dinge, die man sich auf der Basis des fiktionalen Textes vorzustellen hat, während der spezifische Präsentationsmodus eines fiktionalen Textes eben darin besteht, dass die Sätze des Textes mit den in (F6) spezifizierten Absichten geäußert werden. Lamarque und Olsens Lösung besteht nun in dem Hinweis, dass nicht nur der Präsentationsmodus sondern auch der Gehalt eines fiktionalen Textes ›fiktional‹ sein muss: »While propositional content in general consists of the characterization of objects, events, places, people, and so on, content is fictional just in case what is true of those objects, events, etc. is dependent on the fictive descriptions which characterize them in the first place. […] Fictional content is such that how things are (in the fiction) is determined by how they are described to be in a fictive utterance.« (Lamarque / Olsen: Truth, S. 51, Kursivierung im Original) Zwar stimmen wir mit der Beurteilung der Fälle, die Lamarque und Olsen im Anschluss an diese Unterscheidung vorschlagen, im Ergebnis offenbar überein (s.u.) – ihr Weg zu diesem Ergebnis überzeugt jedoch nur bedingt. Misslich kann man an ihrem Lösungsvorschlag finden, dass er mit der Rede vom Gehalt einer fiktionalen Äußerung und von Wahrheiten über fiktive Gegenstände zum einen erneut das Konzept der Wahrheit in die Analyse einzuführen scheint, und dass der Lösungsvorschlag zum anderen als naher Verwandter der durch (F2) repräsentierten ›ontologischen‹ Ansätze missverstanden werden kann. Beide Probleme lassen sich unserer Ansicht nach vermeiden, wenn man auf die Rede vom Gehalt fiktionaler Äußerungen verzichtet. Die durch die genannten Fälle aufgeworfenen Probleme kann man auch auf der Basis eines Fiktionalitätsbegriffs lösen, der allein Regeln und Konventionen der Produktion und Rezeption fiktionaler Texte in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt.
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tionalitätsbegriffs keine Rolle spielt, können wir angesichts eines Textes, dessen Sätze (zum großen Teil) wahr sind, in Zweifel darüber geraten, ob der Autor des Textes tatsächlich die Absicht gehabt hat, einen fiktionalen Text zu verfassen. Denn mit wahren Äußerungen verbinden wir normalerweise Informationsabsichten, d.h. wir unterstellen für gewöhnlich, dass der Autor seine Zuhörer oder Leser zu einem Überzeugungserwerb oder -wandel, nicht jedoch zu make-believe-Spielen bewegen möchte.80 Wenn wir merken, dass die Sätze eines Textes zum großen Teil wahr sind, so liegt es nahe, dem Autor zu unterstellen, er habe keine fiktionalen Äußerungen im Sinne von (F6) getätigt. – Ausgehend von dieser Beobachtung kann man den drei angeführten Szenarien folgendermaßen begegnen: In Fall 1 liegt es nahe, dem Autor zu unterstellen, er habe eine (faktuale) Biographie schreiben wollen und dies auch getan – wenngleich mit der zusätzlichen Absicht, sein Publikum über diesen Sachverhalt zu täuschen. Selbst wenn er hierbei erfolgreich ist, ändert das nichts daran, dass es sich immer noch um eine Autobiographie (und damit einen faktualen Text) handelt. Der Text in Fall 2 ist dagegen als fiktional aufzufassen. Wahre Aussagen in fiktionalen Texten sind zunächst einmal nichts Ungewöhnliches und werfen, wie gesehen, hinsichtlich der Beurteilung des Textes als fiktional keine Probleme auf. Fall 2 allerdings ist so konstruiert, dass alle Sätze des Textes wahr sind. Das Unbehagen, das man angesichts des Vorschlags verspüren kann, den Text ›fiktional‹ zu nennen, ist vielleicht schlicht auf die Außergewöhnlichkeit des Falls zurückzuführen – was nichts an der Klassifikation des Textes als fiktional ändern würde. Eine andere Beschreibungsmöglichkeit tut sich auf, wenn man darauf besteht, dass es einen solchen Text nicht geben könne, ohne dass zugleich eine – ebenfalls unbewusste – Absicht vorläge, einen Tatsachenbericht zu verfas_____________ 80
Hier ist jedoch Vorsicht geboten. Ein Autor kann beabsichtigen, dass seine Leser anhand des fiktionalen Textes bestimmte Überzeugungen erwerben. Das make-believeSpiel ist dann ein Mittel, das Leser dazu bringen soll, bestimmte Auffassungen in Bezug auf die Welt oder sich selbst zu erwerben. Entsprechende Absichten gibt es ausgesprochen oft; sie dürften so etwas wie den Kern der traditionellen humanistischen Auffassung von fiktionaler Literatur ausmachen. Entscheidend ist jedoch, dass weder die Absicht, ein Leser möge einen fiktionalen Text zum Anlass nehmen, über sich und die Welt nachzudenken, noch der Wunsch, ein Leser möge aufgrund dieses Nachdenkens zu einem Überzeugungswandel gelangen, mit den in (F6) spezifizierten Absichten verwechselt werden darf. Es handelt sich um (sekundäre) Wünsche/Absichten, die zu der (primären) Absicht, einen fiktionalen Text zu produzieren, hinzutreten können (aber nicht müssen). Und das heißt: Für den Status eines Texts als fiktional ist diese primäre Absicht und nur sie ausschlaggebend. Die weiteren Absichten betreffen die Frage, was der Autor darüber hinaus erreichen möchte, indem er einen fiktionalen Text schreibt; vgl. auch Lamarque / Olsen: Truth, S. 63f.
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sen. In diesem Fall wäre das hypothetische Szenario in seiner vorliegenden Form unterbestimmt; wenn wir darauf bestehen, dass es um eine entsprechende (unbewusste) Absicht ergänzt wird, so können wir den Text in Fall 2 als faktualen bezeichnen. Fall 3 ist deshalb schwierig zu beurteilen, weil hier nicht einfach zu entscheiden ist, ob wir es mit einem oder mit zwei Texten zu tun haben. Diese Frage muss entschieden werden, bevor man sich über die Fiktionalität der/des Texte(s) Gedanken macht. In jedem Fall scheint klar zu sein, dass es sich bei dem ursprünglichen Text, wenn er von seinem Autor mit den für faktuale Texte einschlägigen Intentionen produziert wurde, um einen faktualen Text handelt (auch wenn dies unter bestimmten Umständen verborgen bleiben kann). Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entscheidet man sich dafür, dass es sich beim Originaltext und dessen plagiierter Version um zwei verschiedene Texte handelt, so ließe sich sagen, dass wir es beim zweiten Text mit einem fiktionalen zu tun haben (wobei die Entstehungsgeschichte dieses Textes kein gutes Licht auf dessen Verfasser wirft). Als Alternative bietet sich folgende, zweite Beschreibung an: Es handelt sich um einen faktualen Text, der von jemandem, der sich in Unwissenheit über dessen Status befindet, als fiktionaler Text ausgegeben wird. In diesem Fall befänden sich zahlreiche Personen im Irrtum, den die in das Szenario involvierten Personen aber nicht erkennen können und der nichts am Status des Textes ändert. Was Fall 3 deutlich vor Augen führt, ist erstens, dass es unter bestimmten Umständen deshalb besonders schwer oder sogar unmöglich sein kann, den Status eines Textes korrekt einzuschätzen, weil einem die notwendigen Informationen fehlen, und zweitens, dass massive Irrtümer über den Status eines Textes nicht ausgeschlossen sind. Bei genauerem Hinsehen erweist sich dies, wie das folgende Gedankenexperiment zeigen kann, jedoch als Vorzug der hier vorgeschlagenen Analyse. Angenommen, wir finden einen alten Brief aus dem vorletzten Jahrhundert, von dem wir nur erkennen können, dass er an eine in Berlin wohnhafte Person mit dem Vornamen ›Franz‹ adressiert war. Es kann uns hier prinzipiell unmöglich sein, den originalen Adressaten ausfindig zu machen. Das ändert nichts daran, dass es sich um einen Brief handelt, der an eine bestimmte Person in Berlin adressiert war. Wenn nun jemand diesen Brief als sein Erzeugnis hinstellt und andere dazu bewegen möchte, gegenüber diesem Text die für fiktionale Texte typische Rezeptionshaltung einzunehmen, dann dürfte klar sein, wie dieser Fall zu beurteilen ist: Die Leser werden in doppelter Weise getäuscht – nämlich sowohl über den Verfasser des Textes als auch
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über dessen kategorialen Status.81 Fall 3 ist in diesen Hinsichten sicherlich analog zu beurteilen. Näheres zu Grenzfällen Fälle, in denen die Unsicherheit über die Klassifikation eines Textes auf Informationsdefiziten beruht, lassen sich als epistemische Grenzfälle bezeichnen: Wir können hier einen Text nicht zuordnen, weil wir nicht wissen, ob er mit den in (F6) spezifizierten Absichten hervorgebracht wurde. Ein zweiter Typ von Grenzfällen – wir könnten von materialen Grenzfällen sprechen, da sie sich dem Gehalt der fiktionalitätsspezifischen Absichten verdanken – kann beispielsweise im Falle von Texten vorliegen, von denen wir annehmen können oder müssen, dass sie mit Absichten produziert wurden, die den in (F6) spezifizierten lediglich ähneln. Auch in solchen Fällen kann unter Umständen nicht entschieden werden, ob wir den Text noch als fiktional bezeichnen sollten oder nicht. Einschlägig dürften hier beispielsweise vormoderne Texte sein. Die Regeln und Konventionen des adäquaten Umgangs mit fiktionalen Texten sind – wie alle kulturellen Größen – historisch wandelbar und dürften eine Reihe von Entwicklungsstufen durchlaufen haben, bevor sie ihre heutige Form angenommen haben.82 Man kann allerdings vermuten, dass es gewisse Rudimente der in (F6) spezifizierten Regeln schon sehr lange gegeben hat. Make-believeSpiele können wir vermutlich relativ problemlos auch als Bestandteile von Kulturen annehmen, die von unserer Kultur sehr verschieden sind – und die jedenfalls nicht über ein ausdifferenziertes Kunst- bzw. Literatursystem verfügen, wie wir es ungefähr seit dem 18. Jahrhundert haben. An dieser Stelle liegt es nahe, auf den wichtigen Unterschied aufmerksam zu machen, der zwischen ›fiktional sein‹ und ›als fiktional behandelt werden‹ besteht. Wir können nämlich einen Text, von dem wir nicht wissen, ob er als fiktionaler intendiert ist (oder von dem uns egal sein kann, ob er als fiktionaler intendiert ist), behandeln, als sei er als fiktionaler intendiert. Das dürfte beispielsweise für mythische Texte gelten. Solche Texte kann man (zumindest in bestimmten Kontexten) mit Gewinn behandeln, als seien sie fiktional, da zum einen keine Sanktionen zu gewärtigen sind (es wird niemand auftreten, der sich missverstanden fühlt) und da _____________ 81 82
Ist der Täuscher selbst (wie in Fall 3) unsicher, so wird der Leser dahingehend getäuscht, dass ihm vorenthalten wird, dass hier ein Text vorliegt, dessen Status aus Gründen mangelnder Information nicht sicher bestimmt werden kann. Wenn man die These der kulturspezifischen Variabilität der einschlägigen Regeln und Konventionen ernst nimmt, so kann man annehmen, dass es auch synchrone kulturrelative Unterschiede gibt. Wir können diese Überlegungen hier nicht vertiefen.
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die Texte zum anderen heutigen paradigmatischen fiktionalen Texten in verschiedener Hinsicht sehr ähnlich sind. Es gibt noch eine weitere Klasse von Fällen, die sich nicht ohne weiteres auf die diskutierten Weisen verstehen lassen. Solche Fälle liegen vor, wenn die adäquate Rezeption eines Textes offenbar an mehr als nur einem Regelset orientiert sein muss. Einschlägig dürften hier die Beispiele des Schlüsselromans und des historischen Romans sein. Für Schlüsselromane ist charakteristisch, dass sie auf make-believe-Spiele ausgerichtet sind und bestimmte Elemente der Wirklichkeit zutreffend charakterisieren wollen.83 In solchen Fällen einzelne Textpassagen entweder als fiktional oder als faktual auszeichnen zu wollen, wäre problematisch, da dieselben Textstellen sowohl für fiktionale wie auch für faktuale Texte einschlägige Funktionen erfüllen können (und auch vom Autor so intendiert sein können). Hier scheint die vorgeschlagene Analyse also tatsächlich an ihre Grenzen zu stoßen. Ein Nachteil der Analyse ist das aber nicht unbedingt. Dass Schlüsselromane, historische Romane und sonstige Texte, die sich einer einfachen Kategorisierung entziehen, indem sie es gezielt darauf anlegen, die Grenzen zwischen fiktionalen und faktualen Texten verschwimmen zu lassen, einer Analyse ihre Grenzen aufzeigen, ist nämlich erwartbar. Es kann einer Analyse als Vorteil angerechnet werden, wenn sie nicht mehr Klarheit und Eindeutigkeit in den Fiktionalitätsbegriff ›hineinanalysiert‹, als ihm von sich aus innewohnt. Was den begrifflichen Umgang mit diesen Texten angeht, gibt es offenbar drei Optionen: Man könnte erstens dafür plädieren, dass das begriffliche Netz, das mit den Ausdrücken ›fiktional‹ und ›faktual‹ ausgeworfen ist, schlicht und ergreifend zu grobmaschig ist, um Schlüsselromane und vergleichbare Texte zu erfassen, und dass solche Texte entsprechend weder fiktional noch faktual sind. In diesem Fall könnte die fiktional/faktual-Unterscheidung – entgegen einer verbreiteten Annahme – nicht als vollständig angesehen werden. Zweitens ließe sich dafür plädieren, einen solchen Text sowohl als fiktional als auch als faktual anzusehen. Dann wäre die fiktional/faktual-Unterscheidung – einer verbreiteten Annahme zum Trotz – nicht exklusiv. Drittens könnte man aber auch darauf beharren, dass wir es hier mit einem unauflöslichen Fall von Vagheit zu tun haben: Es ist demnach unbestimmt, ob ein solcher Text als fiktional, faktual, beides oder keins von beiden zu klassifizieren ist. Und natürlich kann _____________ 83
Es handelt sich dabei um gleichberechtigte Intentionen, die man nicht in ›primäre‹ und ›sekundäre‹ unterscheiden kann. Das in Anm. 80 benannte Manöver – man hat die sekundäre Absicht, bestimmte Elemente der Wirklichkeit zu charakterisieren, indem man die primäre Absicht verwirklicht, einen fiktionalen Text zu schreiben – ist zur Beschreibung dieser Fällen nicht einschlägig.
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man auf Nummer sicher gehen und – angesichts verschiedener Beispiele – verschiedene dieser Optionen wählen.84 Noch einmal: Die Rolle des Erzählers Ein weiteres Problem von (F6) betrifft die Rolle des Erzählers. Während in manchen fiktionalen Texten ein figürlicher Erzähler auftritt, ist dies in anderen Texten nicht der Fall; das »extradiegetische Aussagesubjekt der Erzählrede [kann] mehr oder minder körperlos bleiben und scheinbar unabhängig von jeder festen Bindung an Zeit und Raum sprechen«.85 Es ist daher fraglich, ob es sinnvoll ist, dem Erzähler in der Analyse des Fiktionalitätsbegriffs einen derartig prominenten Platz einzuräumen, wie dies in (F6) der Fall ist. Genau genommen ließe sich geltend machen, dass man sich nicht im Falle aller fiktionalen Texte vorstellen müsse, ein Erzähler führe mit den Sätzen des Textes bestimmte Sprechakte aus. Nicht selten nämlich würde dies zu erheblichen Problemen mit der kohärenten Ausgestaltung der Vorstellungswelt führen. Wie soll man beispielsweise die Existenz eines allwissenden Erzählers, der souverän über Wissen verfügt, das für sterbliche Wesen unmöglich zu erlangen ist, kohärent in eine vorgestellte Welt integrieren? Hinzu kommt, wie das folgende Beispiel zeigt, dass es in bestimmten Fällen nicht sinnvoll ist, einen Erzähler als Teil der erzählten Welt mit Autorität hinsichtlich bestimmter Tatsachen auszustatten. Nehmen wir an, in einer Erzählung wird von einem Mord berichtet, der nie aufgeklärt wurde, und von den Folgen für den Täter. Wie soll man _____________ 84
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Hier das Stimmungsbild im Autorenteam: Jan Gertken plädiert dafür, alle drei Konsequenzen zu ziehen. Tilmann Köppe meint, die fiktional/faktual-Unterscheidung sei nicht vollständig, aber exklusiv – und nimmt an, dass man beispielsweise im Falle von Schlüsselromanen letztlich von einem eigenen Set von Konventionen und Regeln ausgehen muss. – Nicht für aussichtsreich halten wir übrigens die Idee, den Fiktionalitätsbegriff zu einem graduellen Begriff zu erklären und zu sagen, dass ein Text mehr oder weniger fiktional sein kann (vgl. Hempfer: Fiktionstheorie, S. 116). Anschließend an (F6) lässt sich diese Idee kaum sinnvoll ausbuchstabieren – denn es ist unklar, woher die Gradualität des Begriffs eigentlich kommen (bzw. worauf sie beruhen) soll. Erstens ist es sicher nicht so, dass die für fiktionale Texte konstitutive Intention mehr oder weniger stark vorliegt. (Sollte das heißen, dass man die Fiktionalität eines Textes öfters nur halbherzig intendiert?) Zweitens scheint nicht der Fall zu sein, dass die Gradualität auf dem Inhalt der Intention beruht (dies würde besagen, dass man einen Text mehr oder weniger als prop gebrauchen soll). Eine dritte Möglichkeit, die Gradualität von ›Fiktionalität‹ zu erklären, bestünde in der Annahme, dass mehr oder weniger Bestandteile des Textes fiktional sein könnten; dies liefe offensichtlich auf eine Aufteilung der Sätze in fiktionale und faktuale hinaus – eine Version, gegen die wir uns bereits ausgesprochen haben (s.o.). Martínez / Scheffel: Einführung, S. 85; vgl. auch Kania: Ubiquity; Wilson: Narrators; Alward: Ubiquity; Kania: Reply.
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sich zugleich vorstellen, dass der Erzähler von dem Mord weiß und dass niemand von dem Mord weiß?86 Man kann diesem Einwand recht einfach begegnen, indem man (F6) folgendermaßen abschwächt: Der Verfasser eines fiktionalen Textes intendiert, dass Leser sich insoweit eine konkrete Erzählinstanz als Sprecher vorstellen und gedanklich ausmalen sollen, als dies aufgrund der Textgrundlage sinnvoll ist (wobei dies die Möglichkeit umfasst, dass es nicht sinnvoll ist). Handelt es sich beim Sprecher/Erzähler des Textes sozusagen um ein ›körperloses Aussagesubjekt‹, so sind derartige Vorstellungen nicht Bestandteil der Vorstellungs-Vorschriften, die das Werk enthält und daher auch nicht sinnvoll. In solchen Fällen kann man die Sätze des Textes gleichsam als direkte Vorstellungsangebote oder -aufforderungen verstehen. Solche Sätze können wir als mit einem impliziten ›Stell Dir vor, dass…‹-Operator versehen auffassen, im Gegensatz zu anderen, die den Umweg über die vorgestellte Erzählerinstanz wählen und daher als mit dem Zusatz ›Stell Dir vor, jemand sagt…‹ versehen verstanden werden können. Dass diese Lösung nicht in unnötiger Weise ad hoc ist, kann durch folgende Überlegung verdeutlicht werden. Die Einbeziehung eines Erzählers in die Analyse wurde durch die Existenz von Texten nahe gelegt, in denen eine direkte und ausschließliche Umsetzung der Sätze des Textes in entsprechende Vorstellungen eine unangemessene, weil verzerrte, Rezeptionshaltung darstellen würde. Man tut dieser Idee aber nicht unbedingt einen Gefallen, wenn man sie dadurch überstrapaziert, dass man den Erzähler zu einer Notwendigkeit macht, die durch die Tatsache einer imaginierten Sprachhandlungssituation ins Spiel gebracht wird. Manche Texte evozieren eine solche Sprachhandlungssituation tatsächlich und erfordern entsprechende Vorstellungen. Aber dem muss nicht so sein. Das Argument ›Jemand muss die Sätze doch äußern‹ überzeugt deshalb nicht, da es möglich und, gegeben die obigen Ausführungen, auch sinnvoll ist, die entsprechenden Sätze eines fiktionalen Textes als implizit mit einem ›Stell Dir vor, dass…‹-Operator versehen zu interpretieren.87 Die Frage lautet dann im Einzelfall, ob es sinnvoll und für eine adäquate Rezeption erforderlich ist, diesen Operator in einen ›Stell Dir vor, jemand sagt …‹-Operator umzuwandeln. Diese Anregungen sind natürlich nicht dazu gedacht, wichtige Fragen der Erzähltheorie zu beantworten. Es soll lediglich darauf hingewiesen _____________ 86
87
Hier bietet sich auch ein Vergleich mit Filmen an. Es wäre seltsam, davon auszugehen, dass man sich stets einen Kameramann mit vorstellen müsste oder aber jemanden, mit dessen Augen man die Szenerie sieht. Das ist unplausibel, denn man blickt bei sehr vielen Filmen gleichsam direkt auf das Geschehen. Natürlich erfordern diese Sätze dann sehr wohl einen Produzenten. Aber dieser ist leicht ausfindig zu machen: Es handelt sich um den Autor.
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werden, dass es je nach Text mehr oder weniger angemessen sein kann, einen konkreten Erzähler in die Vorstellungswelt mit einzubeziehen. (Dass es hier Grenzfälle gibt, soll nicht bestritten werden und ist mit der Analyse kompatibel.) Entscheidend ist hier vor allem, dass dieser Sachverhalt im Rahmen der Analyse auf einfache Weise berücksichtigt werden kann, womit wichtige Fragen der Textrezeption zwar angesprochen, aber nicht mehr, wie in der Formulierung von (F6), vorweg genommen werden. Noch einmal: Fiktionssignale Die bislang angestellten Überlegungen ermöglichen auch, einen weiteren Zweifel auszuräumen, der insbesondere produktionsorientierten Ansätzen gegenüber geltend gemacht werden kann. Auch dieser Einwand beläuft sich darauf, dass die bloße Absicht, einen fiktionalen Text zu produzieren, für die Fiktionalität des Textes nicht hinreichend ist. Wenn ein Text alle in (F6) genannten Bedingungen erfüllt und man dem Text dennoch in keiner Weise ansehen kann, dass er als fiktionaler intendiert ist, so können Zweifel an der Fiktionalität des Textes aufkommen. Man könnte von dem Autor sagen wollen, er habe zwar aufrichtig versucht, einen fiktionalen Text zu schreiben, es sei ihm aber nun einmal nicht gelungen. Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, genügt es, zwei Überlegungen zu verknüpfen, von denen bereits die Rede war. Es handelt sich um Curries Idee, dass Leser einen Text auf der Grundlage ihrer Erkenntnis der Autorabsicht als fiktional einstufen,88 und um die Rolle, die Fiktionssignale dabei spielen.89 Fiktionssignale sorgen dafür, dass die Leser eines Textes tatsächlich einen hinreichenden Grund haben, dem Text gegenüber eine make-believe-Rezeptionshaltung einzunehmen. Nur wenn entsprechende Signale vorliegen, kann der Text tatsächlich als mit der Aufforderung oder Einladung an den Leser verbunden verstanden werden, in ein make-believe-Spiel einzutreten. Der Autor muss daher Sorge tragen, dass sein als fiktional intendierter Text mit hinreichend deutlichen Fiktionssignalen verbunden ist, deren Vorliegen dem Leser ermöglicht, die mit dem Text verbundene Absicht im Sinne von (F6) zu erkennen. Dieser Punkt ließe sich auch folgendermaßen formulieren: Intentionen als mentale Zustände unterscheiden sich von bloßen Wünschen. Man hat also nicht bereits dann die Intention, einen fiktionalen Text zu schreiben, wenn man es nett fände, wenn Leser ihn in einem make-believe-Spiel einsetzen würden. Man muss vielmehr Sorge tragen, dass dies auch geschieht (und zwar über Fiktionssignale irgendeiner Art, seien sie textueller, paratextueller oder sonstiger Natur). Natürlich kann der Fall einer Person auftreten, die letztendlich so wenig Wissen über _____________ 88 89
Vgl. oben, Anm. 70. Vgl. oben, Abschnitt 2.2.
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fiktionale Texte und mögliche Fiktionssignale hat oder so ungeschickt in deren Handhabung ist, dass das Resultat ihrer Produktion auch bei genauer Untersuchung nicht als fiktional zu erkennen ist. Hier ließe sich jedoch fragen, ob man in einem solchen Fall dem Verfasser wirklich noch die entsprechenden Intentionen zuschreiben sollte. (Man vergleiche: Jemand bastelt an einem riesigen Stück Knetmasse herum, dessen Resultat einer missgestalteten Leiter ähnelt. Sollte man von dieser Person sagen, dass sie die Absicht hatte, einen Stuhl herzustellen?) Die These muss hier nicht lauten, dass dies in allen Fällen unangemessen bzw. falsch wäre. Aber es ist klar, dass die Antwort in vielerlei Hinsicht problematisch sein kann. Unsere Beurteilungen hinsichtlich des Textstatus dürften in analogen Fällen schwanken bzw. schwierig, wenn nicht unmöglich sein. Dies kann im Rahmen der vorgeschlagenen Analyse – in der die Kenntnis bestimmter Regeln und Konventionen eine zentrale Rolle spielt – aber erklärt werden und wäre demnach eher als Vorzug denn als Schwäche der Analyse zu verbuchen. Noch einmal: Vorstellungswelten Zentral für die Fiktionalität eines Textes ist die Absicht auf Seiten des Autors, der Leser möge auf der Grundlage der fiktionalen Äußerungen zu einer hinreichend umfassenden Vorstellungswelt gelangen. Die dahinter stehende intuitive Idee scheint sich durch das Konzept von make-believeSpielen verständlich machen zu lassen. Näherer Erläuterung bedarf allerdings insbesondere, wie man zu verstehen hat, dass das Inventar der Vorstellungswelt durch den Gehalt fiktionaler Aussagen festgelegt ist – und inwiefern es festgelegt ist. Dass diese Fragen nicht trivial sind, geht zum einen daraus hervor, dass man sich nicht immer alles vorstellen darf, was ein Erzähler berichtet: Unzuverlässige Erzähler sind keine vertrauenswürdigen Informationsquellen in Bezug auf das, was sie berichten; man muss sich hier vorstellen, man habe es mit dem Bericht eines Informanten zu tun, der Anhaltspunkte in Bezug auf ein bestimmtes Geschehen liefert, der jedoch keine vollständige (oder vollständig korrekte) Beschreibung liefert.90 Zum anderen muss man sich bei allen Texten offensichtlich mehr vorstellen als nur den Gehalt der fiktionalen Äußerungen. So wie die Beschreibungen, die ein faktualer Bericht enthält, niemals alle Aspekte eines wirklichen Sachverhalts erfassen, erfasst eine fiktionale Beschreibung niemals alle Aspekte eines vorzustellenden Sachverhalts. Oft ist es sogar so, dass fiktionale Texte gerade interessante oder relevante – und manchmal sogar zentrale – Aspekte der Vorstellungswelt unerwähnt lassen. Man mag hier an die Fragen denken, ob Hamlet in Shakespeares Drama an einem _____________ 90
Es sind unter anderem eben diese Fälle, die die Einführung der Erzählerinstanz in die Vorstellungswelt erforderlich machen.
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Ödipuskomplex leidet, was Kohlhaas in Kleists Michael Kohlhaas zu seinem Rachefeldzug motiviert oder ob Nathanael in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann von Anfang an verrückt ist oder nicht. An dieser Stelle berührt die Fiktionalitätstheorie Kernfragen der Interpretation literarischer Texte. Interpretationen betreffen oft zunächst einmal die Handlungsebene literarischer Texte bzw. die Ebene der Geschichte. Erst wenn man festgestellt hat, worum es in einem fiktionalen Text geht, kann man sich komplexeren interpretatorischen Fragen widmen. Dies ist nicht der Ort, in eine Klärung der Frage einzusteigen, welche Überlegungen man anstellen muss, um herauszufinden, welche Konturen eine Vorstellungswelt annehmen sollte;91 wir möchten es mit einem Hinweis darauf bewenden lassen, dass sich die hier vorgeschlagene Analyse des Fiktionalitätsbegriffs auch in Bezug auf diese Frage als anschlussfähig erweist. Bibliographie Alward, Peter: For the Ubiquity of Nonactual Fact-Telling Narrators. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 65 (2007), S. 401-404. Beckermann, Ansgar: Handeln und Handlungserklärungen. In: A.B. (Hg.): Analytische Handlungstheorie. Bd. 2: Handlungserklärungen. Frankfurt/M. 1977, S. 7-84. Bieri, Peter: Was bleibt von der analytischen Philosophie? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), S. 333-344. Blume, Peter: Fiktion und Weltwissen. Der Beitrag nichtfiktionaler Konzepte zur Sinnkonstitution fiktionaler Erzählliteratur. Berlin 2004. Bühler, Axel: Autorabsicht und fiktionale Rede. In: Fotis Jannidis / Gerhard Lauer / Matías Martínez / Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999, S. 61-75. Carroll, Noël: Interpretation, History, and Narrative. In: N.C.: Beyond Aesthetics. Philosophical Essays. Cambridge 2001, S. 133-156, 410-413. Craig, Edward: Was wir wissen können. Pragmatische Untersuchungen zum Wissensbegriff. Hg. von Wilhelm Vossenkuhl. Frankfurt/M. 1993. Currie, Gregory: What Is Fiction? In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 43 (1985), S. 385-392. Currie, Gregory: The Nature of Fiction. Cambridge u.a. 1990. Currie, Gregory: Unreliability Refigured: Narrative in Literature and Film. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 53 (1995), S. 19-29. Currie, Gregory: Realism of Character and the Value of Fiction. In: Jerrold Levinson (Hg.): Aesthetics and Ethics. Essays at the Intersection. Cambridge 1998, S. 161-181.
_____________ 91
Highlights der Diskussion sind Lewis: Truth, und Walton: Mimesis, Kap. 4. Es scheint, dass man, um zu einer adäquaten Vorstellungswelt zu kommen, neben den fiktionalen Äußerungen auch Genre- und Erzählkonventionen berücksichtigen muss, und dass man nicht zuletzt über Wissen über die Wirklichkeit sowie insbesondere über die individuellen Kontexte einzelner Werke verfügen muss.
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»Fictio, eine Erdicht-Einbildung, ist in Jure, wenn etwas vorgestellet wird, als wenn es wahr wäre, da es doch nicht ist.«1 Damit kommt man durch, nicht nur in Jure, sondern auch im gemeinen Leben und auf weite Strecken sogar in der Literaturwissenschaft. Trotzdem gerät die Grundsatzdiskussion über Fiktionalität immer wieder in Widersprüche und Sackgassen.2 Weshalb? Ich äußere vorweg die Vermutung, dass hier eine oder mehrere Sprachfallen wirksam sind, die letztlich anthropologische Wurzeln haben: Wir behandeln die Ergebnisse von Abstraktionen, die wir zu instrumentellen Zwecken vorgenommen haben, wie Dinge, die an und für sich bestehen, und wundern uns dann, dass sie bei näherem Gebrauch nicht Stand halten. Mit Wörtern wie ›fiktiv‹ (oder ›fingiert‹) oder ›Fiktion‹ kommen wir noch ganz gut zurecht. Wenn wir aber über ›das Fiktive‹ zu sprechen versuchen, schiebt sich schnell die Vorstellung einer Substanz ins Denken. Ähnlich verdächtig ist die Wortbildung ›Fiktionalität‹. Das Wort gehört in die Klasse der substantivierten Adjektive, die ihrerseits von einem Substantiv abgeleitet sind, wie: Hundeartigkeit, Eisernheit, das Dramatische oder die Wissenschaftlichkeit. Die Wortbildung durchläuft dabei zwei Abstraktionsschritte, von einem relativ konsensuell identifizierbaren Referenzobjekt (Hund) über dessen wesentliche Eigenschaft (hundeartig) zu einer Substanz, deren Exemplar diese Eigenschaft ist (Hundartigkeit). Solche Wortbildungen können praktische Hilfsmittel sein, wenn man sie mit nominalistischem Bewusstsein verwendet, aber sie führen unweigerlich in die Welt der Metaphysik und ihre Aporien, wenn man sie substantialistisch gebraucht und z.B. sucht, wo in der Welt ein Ding ›Fiktionalität‹ aufzufinden sei: im Reich der platonischen Ideen natürlich. Nicht viel anders steht es um ›das Fiktive‹. _____________ 1 2
[Zedler]: Universal-Lexicon. Bd. 9, S. 810. Ich verweise hier generell auf den gründlichen Überblick von Zipfel: Fiktion.
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Das gilt nicht minder für die andere grundlegende Bestimmung des Zedler, für das Wörtchen ›wahr‹. Die meisten Probleme mit der Fiktionalität sind vielleicht darauf zurückzuführen, dass man sich mit dem Begriff der Wahrheit mehr Probleme macht als notwendig und nicht nach der Wahrheit von Sätzen fragt, sondern nach einer dahinter liegenden Wahrheitlichkeit. Ob eine Behauptung oder Abbildung wahr/zutreffend oder falsch sei, ist zwar manchmal schwer zu entscheiden, aber in der Regel nur deshalb, weil unser Wissen dafür nicht ausreicht. Man sieht dann entweder selbst nach oder man prüft, ob sie mit den bisherigen bewährten Überzeugungen übereinstimmt, oder man fragt einen Experten. Wenn man allerdings abstrahiert und der Abstraktion Dingcharakter verleiht, d.h. fragt, was ›Wahrheit‹ sei und wo sie wohnt, zieht Unheil auf. Ich will mich aber nicht damit begnügen, die Probleme mit der Fiktionalität zu Scheinproblemen zu erklären. Auch Scheinprobleme haben reale Ursachen und Folgen. Um Fiktionalität als anthropologische Basis-Disposition herauszuarbeiten, werde ich ansetzen bei den (1.) philosophischen Wahrheitsbegriffen, werde diese sodann (2.) bioanthropologisch rekonstruieren, (3.) die philosophische und evolutionär-psychologische Einführung des Konzepts der Metainformation skizzieren und schließlich darauf aufbauend (4.) den evolutionär-psychologischen Begriff der Fiktion vorstellen. 1. Philosophische ›Wahrheitstheorien‹ Ich beginne mit den so genannten Wahrheitstheorien. Schon die Bezeichnung ist auf typische Weise problematisch. Denn ebenso gut, vielleicht besser, könnte man von ›Wahrheitsdefinitionen‹ sprechen. Die Wahrheit wäre dann als Eigenschaft einer Aussage zu fassen, und die entsprechende Definition würde festlegen, wie wir diese Eigenschaft näher bestimmen. Eine Wahrheitstheorie aber kann auch sagen, was das ›Wesen‹ der Wahrheit ist. In der idealistischen Tradition gibt es da keinen Unterschied, denn im einen wie im anderen Falle wird nicht aus der Empirie geurteilt, sondern aus dem Zusammenspiel von Begriffen, möglichst solchen, die als ›unhintergehbar‹ gelten. – Wie es sich gehört, gibt es drei ›Wahrheitstheorien‹ (und noch ein paar Unter- und Nebentheorien, von denen zwei, die Redundanztheorie und die instrumentalistische Theorie, später noch herangezogen werden).3 _____________ 3
Es handelt sich um die Rekapitulation von philosophischem Einführungswissen, deshalb verzichte ich hier auf ausführliche Literaturangaben. Die älteren Positionen – noch nicht Habermas oder Derrida – findet man in Skirbekk: Wahrheitstheorien.
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Als erste ist die Korrespondenztheorie zu nennen, weil sie die älteste und in der Lebenspraxis verbreitetste ist. Sie besagt, dass eine Aussage dann wahr ist, wenn sie mit den Tatsachen übereinstimmt. So ähnlich hatte das schon Aristoteles formuliert, ebenso Thomas von Aquin und last but not least meine Eltern. Die Aussage ›Der Schnee ist weiß‹ ist genau dann wahr, wenn der Schnee weiß ist.4 Gegen diese Auffassung gibt es eine Reihe von Einwänden. Der meines Erachtens interessanteste besagt, dass Aussagen immer nur mit anderen Aussagen verglichen werden können, nicht aber mit Tatsachen, weil diese (wenn es sie überhaupt gibt – na gut!) nicht zum System Sprache gehören. Man könne die Aussage ›Der Schnee ist weiß‹ nur mit einer anderen Aussage konfrontieren, also z.B. ›Der Schnee ist schwarz‹, nicht aber mit einer sprachunabhängigen Erfahrung, die den Schnee als schwarz auswiese. Diese Behauptung widerspricht zwar aller lebenspraktischen Intuition, nach der die Aussage ›Die Herdplatte ist kalt‹ schlüssig durch das sprachlose Anfassen der heißen Herdplatte geprüft und widerlegt werden kann. Sie weist aber immerhin darauf hin, dass hier ein Problem liegt, zumindest für einige Philosophen. Jedenfalls führt diese Argumentation hinüber zum zweiten Wahrheitsbegriff, zur Kohärenztheorie der Wahrheit: Wahrheit besteht nicht in einer Entsprechung von Aussagen und Tatsachen, sondern in der Verträglichkeit von Aussagen mit anderen Aussagen. (Die Frage, ob man hier besser von Kohärenz oder von Konsistenz spricht, lasse ich beiseite.) Auch dafür gibt es gewichtige Belege aus unserem Alltag. Allerdings gibt es da eine Asymmetrie: Man wird Äußerungen, die logische Fehler aufweisen, nicht als ›wahr‹ akzeptieren. Ob man allerdings Äußerungen schon deshalb als ›wahr‹ einstuft, weil sie kohärent oder konsistent sind, hängt von zusätzlichen Voraussetzungen ab. Wenn man zum Beispiel den Hegelschen Lapidarsatz voraussetzt »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig«,5 dann kann man diese Auffassung durchaus mit einiger Konsequenz vertreten: Eine ›Wirklichkeit‹, die nicht kohärent (›vernünftig‹) ist, wäre demnach bloßer Schein; da hat dann das berüchtigte Hegel-Diktum »Umso schlimmer für die Tatsachen« durchaus Sinn. Es ist ja die Kernüberzeugung aller idealistischen Auffassungen (und in diesem Sinne wird im Weiteren die Marke ›Idealismus‹ gebraucht), dass das erkennende Subjekt über ein verlässliches Vor-Wissen verfügt, das nur begrifflich ausgewickelt werden muss, während die Tatsachen bestenfalls als Katalysatoren oder veranschaulichende Beispiele taugen. Aber das heißt auch: Die Kohärenztheorie ist nur tragfähig auf der Basis eines festen _____________ 4 5
Nach wie vor als herausgehobene Referenz für die Explikation der Korrespondenztheorie gilt Tarski: Wahrheit. Hegel: Grundlinien, S. 55 (Vorrede).
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Glaubens an diese a priori-›Richtigkeit‹ der menschlichen Vernunft. Ohne diesen Glauben gilt das Bertrand Russell zugeschriebene Diktum: »Eine inkonsistente Theorie kann nicht ganz richtig, aber eine konsistente Philosophie kann sehr wohl völlig falsch sein.« Der dritte Kandidat ist die Konsenstheorie der Wahrheit: Als wahr ist eine Aussage dann einzustufen, wenn ihr alle relevanten Gesprächsteilnehmer zustimmen. Diese Auffassung nimmt die Kritik an den anderen beiden auf und verlegt die Begründungsbasis ins Soziale. Auch für diese Auffassung lässt sich einiges anführen. Nicht nur religiöse Wahrheiten werden auf das von der Gemeinde geteilte Vertrauen in bestimmte Autoritäten begründet, sondern auch Wissenschaften konstituieren sich durch Traditionen und kritischen Austausch in einer Forschergemeinschaft, vom traditionsgeleiteten, konsensgesteuerten Alltagshandeln ganz abgesehen. Selbst der demokratische Brauch, Entscheidungen durch Abstimmungen herbeizuführen, gehört in diesen Zusammenhang. Die Geschichte ist freilich auch voll von Unsinn, der auf Konsens beruhte. Deshalb müssen Vertreter der Konsenstheorie – wie z.B. Habermas – eine ideale Sprechsituation bemühen, in der keineswegs jeder vor sich hinplappern darf, sondern nur die relevanten oder kompetenten Gesprächsteilnehmer – die natürlich auch darüber entscheiden, wer relevant und kompetent ist ... Das Instrumentarium dieser ›Theorien‹ ist das reflexionswissenschaftliche der Begründungsphilosophie mit den traditionellen Fragen nach der apriorischen ›Bedingung der Möglichkeit von‹ und/oder dem ›Wesen von‹. Ich will diese Fragestellung umbiegen ins Realwissenschaftliche, d.h. in den Rahmen einer empirisch-anthropologischen Fragestellung (aus der idealistischen ›Theorie‹ eine empirische Theorie machen). Es geht dann nicht mehr um Wahrheit, sondern darum, weshalb etwas für wahr gehalten wird (auch wenn es vielleicht ganz falsch ist), also um Plausibilität (Wahrscheinlichkeit im Sinne von verisimilitudo) und um deren Ursachen. Konsens und Kohärenz und Korrespondenz bezeichnen dann Bedingungen, unter denen uns eine Aussage oder Auffassung plausibel erscheint. Wenn offenkundig ist, dass eine Aussage nur den Tatsachen entspricht oder nur mit anderen Aussagen zusammenpasst oder nur von anderen geteilt wird, haben wir ein Problem. 2. Bioanthropologische Rekonstruktion: Instrumentalismus und Panlinguismus Zur näheren Erläuterung ist noch eine weitere Wahrheitskonzeption einzuführen, die im philosophischen Milieu etwas scheel angesehen wird:
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Instrumentalismus (lat.), philosoph. Anschauung (J. Dewey), nach der die menschl. Intelligenz nur Instrument der Anpassung an die Realitäten ist. Die Gedanken, Vorstellungen u.a. unterscheiden sich nur nach ihrer entsprechenden Brauchbarkeit.6
So steht es in einem der zahlreichen Philosophischen Wörterbücher, die das Internet besiedeln. Hinzuweisen ist bei dieser Definition zunächst auf das zweimalige Erscheinen des Wörtchens ›nur‹: nur Instrument, nur nach ihrer entsprechenden Brauchbarkeit. Damit ist diese ›philosoph. Anschauung‹ überreich als defizitär gekennzeichnet. Ich will sogar noch weiter gehen: Es ist gar keine ›philosoph. Anschauung‹, sondern eine kognitionsbiologische Hypothese, die auch den Wahrheitsbegriff und damit den Fiktionsbegriff einem empirischen, realwissenschaftlichen Zugriff darbietet. Dieser Instrumentalismus gehört zu den ersten großen intellektuellen Erschütterungen der geistigen Welt durch den Darwinismus. Er ist in Deutschland dann bald wieder durch die geisteswissenschaftlichen Gegenströmungen zurückgedrängt worden, hatte aber in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einige Bedeutung. Schon hier gab es Tendenzen zu einer Art Panlinguismus und Panfiktionalismus, der beim instrumentellen Charakter unserer Kognitionen und insbesondere beim weltkonstituierenden Charakter der Sprache ansetzte. Es gibt da eine recht breite Strömung von Ernst Mach,7 der mit seinem Begriff der Denkökonomie eine frühe instrumentalistische Denkposition einnahm und ganz folgerichtig auf den Fiktionscharakter unserer Wirklichkeitsbilder stieß, über Fritz Mauthner, der die Sprache als brauchbares Werkzeug fürs ›irdische Wirtshaus‹ klassifizierte, das aber zum irreführenden Marterinstrument wird, wenn man Wahrheit von ihr erwartet, bis zu Hans Vaihinger, der ein ganzes System des Fiktionalismus entwarf. Mauthner wie Nietzsche blieben letztlich in der theatralischen Schreckensstellung der enttäuschten Idealisten befangen, die immer wieder von neuem in dieselben Klagen oder Befreiungsschreie ausbrechen: Klagen darüber, dass all unsere scheinbar eingeborenen _____________ 6
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Außer Deweys ›Instrumentalismus‹ wäre natürlich William James’ ›Pragmatismus‹ zu nennen. Nicht untypisch ist, dass im deutschen geistigen Milieu immer Charles Sanders Peirce als Exponent des Pragmatismus gilt, aber fast nur als Zeichentheoretiker und Logiker rezipiert wird. Ein zustimmendes Peirce-Referat bei James: Pragmatismus, S. 28, mag die Last einer Definition übernehmen: »Peirce weist darauf hin, dass unsere Überzeugungen tatsächlich Regeln für unser Handeln sind, und sagt dann, dass wir, um den Sinn eines Gedankens herauszubekommen, nichts anderes tun müssen, als die Handlungsweise bestimmen, die dieser Gedanke hervorzurufen geeignet ist.« Einen Einblick in gegenwärtige ›kontinentale‹ Diskussionen des Pragmatismus gibt Sandbothe: Pragmatismus. Bei der Lektüre hat man zuweilen den Eindruck, dass die Pragmatisten verkappte oder heruntergekommene Kantianer oder Hegelianer waren ... Mach: Analyse.
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Ideen nur Produkte der Sprache sind, und Befreiungsschreie, weil auf diese Weise der alte Gott und seine Zersetzungsprodukte erledigt schienen. Die fetzigsten Formulierungen für diesen manisch-depressiven Zustand hat Friedrich Nietzsche gefunden, der deshalb bis in die Gegenwart als Zitatensteinbruch für professionelle Entlarver dienen kann.8 Was von der darwinistischen Erschütterung an ideengeschichtlicher Breitenwirkung immerhin blieb, war eine erhöhte, kritische Aufmerksamkeit auf die Sprache (der ›linguistic turn‹ liegt um 1880-1900). Dominierend blieb dabei aber die idealistische Grundhaltung. Der letzte Versuch, die Tendenzen des 19. Jahrhunderts auf der Basis der biologischen Verhaltensforschung wieder aufzunehmen, die ›Evolutionäre Erkenntnistheorie‹ der 1970er und 1980er Jahre, wagte sich unseligerweise an die Bastionen der Transzendentalphilosophie und wurde bald von deren Sperrfeuer niedergemäht. – Man kann zwei Varianten der philosophischen Verarbeitung des ›linguistic turn‹ identifizieren, die sich letztlich nur durch das Ausmaß ihres Festhaltens an alten idealistischen Positionen unterscheiden. Die erste könnte man als heroischen Idealismus bezeichnen. Sie hat Nietzsche als einen ihrer Hausgötter gewählt, Mauthner gehört in die Tradition, und in der Gegenwart ist sie vertreten durch Derrida und seine Jünger und Jüngerinnen. Ihre Vertreter halten weiterhin fest an einem emphatischen Wahrheitsbegriff, sehen den Zugang zur Wahrheit aber verstellt durch die (logozentrische, penisförmige) Sprache und versuchen nun, da die Welt der Begriffe entlarvt ist, durch eine Art unendlich iterierende Aufhebung der Sprache oder direkt durch sprachlose Mystik die Schätze in ihrer Seele zu heben. Interessanter für eine Auseinandersetzung ist die zweite Variante, die z.B. durch den frühen Wittgenstein, genauer durch dessen vielhundertfach wiederholtes Diktum repräsentiert ist: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt«.9 Das ist natürlich Unsinn, jedenfalls wenn der Satz mit dramatisch-schicksalhaftem Unterton zitiert wird, als bedeute er so etwas wie die Einkerkerung der Seele in die Entfremdung der Sprache. Hinzudenken muss man vielmehr, dass diese Grenzen sich im Gegensatz zu Kerkermauern jederzeit verschieben lassen – und dann wird die Aussage eher trivial: Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Sprache. Ins Aktive gewendet wird die Auffassung denn auch von Nelson Goodman, der die sprachliche Welterzeugung auf eine Pluralität von Welten ausdehnt. Aber sein Dekret »Wir können zwar Wörter ohne eine Welt _____________ 8
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Typisch für die ausbeuterische Art des Umgangs mit Nietzsche ist Bolz: Geschichte des Scheins. Er zitiert aus fünf verschiedenen Werkausgaben, immer ›korrekt‹ mit Angabe von Band und Seite, aber kaum je mit Werktitel, so dass es ein eigenes Forschungsunternehmen wäre, wenn man die jeweiligen Zitatkontexte und damit die entsprechende Argumentation aufsuchen wollte. Satz 5.6 des Tractatus logico-philosophicus.
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haben, aber keine Welt ohne Wörter oder andere Symbole« ist gleichfalls nur als Tautologie zu ertragen.10 Der Panlinguismus Wittgensteins wie Goodmans fordert im Umkehrschluss, dass es außerhalb der Sprache überhaupt keine Welt gibt. Was machen dann die armen Tiere, die keine Sprache haben; haben sie keine Welt? Nach alter Idealistenweise wird auch hier die Welt aus der Idee/Sprache gezeugt. – Gewiss ist die Sprache von großer Bedeutung für unsere Orientierung und unser Verhalten. Und dass wir das von Sprache Verschnürte als unsere ›Welt‹ bezeichnen, hat gute Gründe: Es ist die Vergegenständlichungsleistung der Sprache, die es uns ermöglicht, sozusagen Weltkonserven (und zwar, durchaus im Sinne Goodmans, eine Vielzahl davon) herzustellen. Aber eine Welt haben auch der Nacktmull und die Zecke. Dabei wäre anzusetzen, wenn man den darwinistischen Ansatz fortführen möchte. Da wäre dann die sprachlich konstruierte ›Welt‹ in der Tat erklärbar als ein Instrument, mittels dessen diese spezielle Art in ihrer speziellen ökologischen Nische überlebt. Eben im Sinne jener (natürlich vom üblichen Wehklagen durchsetzten) Bestimmung, die Nietzsche vom menschlichen Intellekt gegeben hat: Dieser sei »gerade nur [!] als Hilfsmittel den unglücklichsten, delikatesten, vergänglichsten Wesen beigegeben [...], um sie eine Minute im Dasein festzuhalten, aus dem sie sonst, ohne jene Beigabe, so schnell wie Lessings Sohn zu flüchten allen Grund hätten.«11 Es besteht eine gewisse Hoffnung, dass das Forschungsprogramm, das in der instrumentalistischen Position steckt, realisiert werden kann, und zwar durch einen neuen Ansatz der evolutionären Erklärung menschlichen Verhaltens, der besonders in den USA unter dem Namen einer ›Evolutionären Psychologie‹12 von sich reden macht, sich keinen Deut um die ›alten Paläste‹ der Philosophie schert und wenigstens dadurch vielleicht vor einigen Irrwegen der Vergangenheit bewahrt bleibt (vielleicht sich auch neue einhandelt). Da sind die drei ›Wahrheitstheorien‹ denn recht gut unterzubringen. Allerdings handelt es sich dann nicht so sehr um drei Definitionen der Wahrheit, sondern um drei Gruppen von Motiven, aus denen die Menschen Aussagen für wahr oder plausibel halten (und insgesamt ist es weniger eine Unternehmung der Begründung als eine der Erklärung). So ist die Auffassung von der Korrespondenz von Aussagen und Tatsachen wahrscheinlich evolutionär tief in uns verankert: Unser kognitiver Apparat hat _____________ 10 11 12
Goodman: Welterzeugung, S. 19. Nietzsche: Wahrheit, S. 309. Einen Überblick bietet jetzt Buss: Psychologie. Fruchtbarer für die Erhellung menschlicher Kognitionen erscheinen mir die Beiträge von John Tooby und Leda Cosmides (s.u.). Die Hauptthesen sind in einem ›Primer‹ zusammengefasst: Cosmides / Tooby: Psychology.
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sich im Laufe der Evolution so entwickelt, dass er uns ein für die Reproduktion hinreichend langes Leben ermöglicht, und das heißt: Er ist hinreichend gut an die Umwelt angepasst, in der wir uns bewegen. Ob man dieses Passen als Erkenntnis oder gar als Wahrheit bezeichnet, ist eher nebensächlich. Das Problem, wie der Hiatus zwischen Aussagen und Tatsachen überbrückt werden kann, ist jedenfalls auf dieser Ebene leicht zu lösen: Die Brücke zwischen Aussagen und Tatsachen besteht in Handlungen (wozu natürlich auch Nichthandlungen zählen) und ihren Folgen. Aussagen haben die Funktion, Informationen über die Umwelt zu konservieren und zu transportieren, damit man in dieser Umwelt erfolgreich handeln kann. Ist eine solche Information falsch, dann führt das zu unangepasstem Handeln. Unangepasstes Handeln aber tut in irgendeiner Weise weh; wir werden deshalb im Falle einer Schmerz-Meldung unseren Informationspool so umzubauen versuchen, dass es beim Handeln nicht mehr weh tut (oder aus der Evolution verschwinden). Als wissenschaftlich ausgearbeitete Methode nennt man das dann Falsifikation. Da wir aber Beobachtungen immer schon im Lichte von Erwartungen/ Theorien durchführen, spielt auch das Moment der Kohärenz eine große Rolle. Das liegt nicht nur daran, dass unser kognitives System autopoietisch strukturiert ist, d.h. Neues nur als Bestätigung oder Irritation des Alten verarbeitet, sondern hat auch große Bedeutung für die praktische Orientierung. Da wird es dann sinnvoll sein, immer wieder Konsistenz- oder Kohärenzproben durchzuführen. Denn widersprüchliche Informationen sind instrumentell wertlos. Das ist die evolutionäre Wurzel unserer Neigung, kohärenten Informationen mehr zu trauen als inkohärenten (Kohärenztheorie). Und selbstverständlich ist es auch nützlich, die Erfahrungen unserer Mitmenschen zu Rate zu ziehen, unser Wissen mit ihrem Wissen abzugleichen, es gemeinsam zu nutzen und zum Zwecke gemeinsamen Handelns gemeinsame Wissensbestände zu pflegen (Konsenstheorie). Alle drei ›Theorien‹ bezeichnen Tendenzen, denen evolutiver Nutzen unterstellt werden kann und von denen man deshalb mit guten Gründen annehmen kann, dass sie uns angeboren sind. Tierfreunde werden uns überdies darauf hinweisen, dass auch viele Tiere aus Schaden klug werden und zumindest ansatzweise auch Informationen austauschen. Schwierigkeiten dürfte allerdings der Nachweis eines Bedürfnisses nach Kohärenz bereiten, und sei’s auch nur aus technischen Gründen.13 Aber wie dem auch sei: Es kommt beim Menschen als wesentliches Moment die Sprache hinzu und damit die Möglichkeit, Wissen zu verge_____________ 13
Es müsste dafür ja der Nachweis erbracht werden, dass heterogene Wissensbestände auf Kompatibilität geprüft werden, und das geht wohl nur, wenn man ein Vergegenständlichungsmedium hat.
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genständlichen.14 Das ist eine recht ambivalente Gabe der Evolution. Ihr verdanken wir z.B. eine Fülle falscher Vergegenständlichungen, die Vorstellung, dass Fiktion oder Realität oder Wahrheit und vieles andere etwas sei, dem Dingcharakter zukommt. Aber aufs Ganze gesehen waren solche Vergegenständlichungen höchst nützlich. Ihnen verdankt die Art homo sapiens wahrscheinlich ihren immensen evolutionären Erfolg. Sie ermöglichen es, Allgemeinbegriffe zu bilden und über Nichtanwesendes zu reden, d.h. z.B. Botschafter auszusenden, die uns mitteilen können, dass drei Tagereisen weiter eine Herde fetter Antilopen weidet, oder das Wissen zu verwalten, wann im Jahr die Rentiere kommen, oder Geschichten von Gott und seinen Heiligen oder den zwölf Kategorien zu erzählen, ja sogar über die Richtigkeit dieser Geschichten zu streiten. 3. Diskurs, Argumentation – Metainformation Es kommt hier etwas zum Zuge, was man mit aller Vorsicht doch als eine spezifisch menschliche Fähigkeit ansehen kann. Zur Beschreibung dieses ›Etwas‹ greife ich noch einmal auf die philosophischen ›Wahrheitstheorien‹ zurück, und zwar auf eine, die man Redundanztheorie nennt.15 Sie besagt, dass man auf den Begriff der Wahrheit eigentlich ganz verzichten kann, weil er redundant sei. Wenn ich sage ››Der Schnee ist weiß‹ ist wahr‹, sage ich ja nicht mehr als wenn ich sage ›Der Schnee ist weiß‹. Also wozu der Umstand? In der Tat könnte man auf dieses Ist-wahr-Tagging verzichten, wenn es nur um den Austausch wahrer Informationen ginge. Beim Informationsaustausch zwischen Tieren dürfte das so sein.16 Kaum als redundant wird man aber das Urteil ›ist wahr‹ bei Sätzen vom Typus ›Einsteins Theorie ist wahr‹ oder ›Der Zeuge sagt die Unwahrheit‹ einstufen. Es gibt offenbar eine sehr relevante Klasse von Aussagen, die ihrerseits zu Gegenständen von Aussagen über ihre Wahrheit gemacht werden können. Ich setze noch einmal beim Philosophendisput an. Ich mache mir dabei den Spaß, Habermas und Popper zusammenzuspannen, denn tatsächlich stehen sie einander in vieler Hinsicht näher, als sie und ihre Anhänger dachten. In einem weiteren Schritt werde ich ihre Position dann in der der _____________ 14 15
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Eibl: Vergegenständlichung. Z.B. bei Habermas: Wahrheitstheorien, S. 215, ohne Nennung eines Autors. Genannt wird gelegentlich Frank Plumpton Ramsey (ein Text in Skirbekk: Wahrheitstheorien, S. 244f., »Tatsachen und Propositionen«). Ich habe den Eindruck, dass diese Position von kaum jemandem ernsthaft vertreten wird, aber ein ganz praktischer Dummy ist. Vgl. aber Sommer: Lüge. Nach Sommers Belegen werden von Tieren zwar falsche Informationen gegeben, aber es wird nicht über die Richtigkeit diskutiert.
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beiden theoretisch raffiniertesten Vertreter der evolutionären Psychologie, John Tooby und Leda Cosmides,17 nun ja: aufheben. Habermas ist ein Vertreter der Konsensus-Theorie der Wahrheit. Das Gespräch über die Geltung von Aussagen heißt bei ihm ›Diskurs‹. Für Habermas steht dabei das Ideal einer herrschaftsfreien Kommunikationsgemeinschaft im Vordergrund, in der die verschiedenen Positionen ihre Auffassungen mit Gründen zu rechtfertigen versuchen. Der Konsensus verdankt sich also nicht dem Zufall, sondern ist »begründeter Konsensus«.18 Da Habermas jedoch seine binnensprachliche Perspektive nicht verlässt und nach Philosophenart nach Begründungen sucht, statt nach Erklärungen, gerät er in eine widersprüchliche Lage. Auch der Diskurs muss sich ja an Wahrheit orientieren, wenn er nicht zu zufälligen Ergebnissen führen soll, und das heißt, er setzt die Wahrheit bereits voraus, die er erst begründen will. Um diesem Zirkel zu entgehen, setzt Habermas auf eine letztlich ethische Qualität, nämlich die »rationale Motivation«.19 Wenn das keine bloße Gesinnungsqualität sein soll, gerät er damit allerdings in den anderen Zirkel, den der Normbegründung durch Norm. Da wir hier freilich nicht dem philosophischen Begründungsideal anhängen, ist das Habermassche Dilemma eher ein Beleg dafür, dass wir gar nicht anders können als Wahrheit (hier nur zu verstehen als die Summe der Wahrheiten) konsensuell zu konzipieren, wenn sie denn irgendwie mit Handeln verbunden bleiben soll. Man kann dieses ›Nicht-anders-Können‹ mit Habermas und mehr noch mit Apel transzendental bestimmen, aber man kann es auch biologisch erklären. Handeln von Menschen ist dann immer durch sprachliche Weltentwürfe geleitet, die nicht anders als konsensuell konzipiert sein können. Karl Raimund Poppers Erkenntnislehre markiert zwar scheinbar das Gegenteil von Habermas’ Position, nämlich die Korrespondenz-Theorie, aber es gibt bei ihm eine Position, die dem Habermasschen Diskurs ganz ähnlich ist: die Argumentation.20 Popper schließt dabei an Karl Bühlers Organon-Modell der Sprache an. Bühler hatte drei Grundfunktionen der Sprache unterschieden: Kundgabe, Appell, Darstellung. Für Popper sind die ersten beiden Funktionen (er nennt sie die ›expressive‹ und die ›Signalfunktion‹) charakteristisch für Tiersprachen, während er die dritte, die deskriptive Funktion, für ein menschliches Spezifikum hält.21 Er fügt die_____________ 17 18 19 20 21
Cosmides / Tooby: Source, sowie Tooby / Cosmides: Beauty. Habermas: Wahrheitstheorien, S. 239. Ebd., S. 240. Popper: Erkenntnis, z.B. S. 137ff. Unter evolutionärem Aspekt würde ich allerdings etwas anders konzipieren: Tiersprachen enthalten auch Darstellungsmomente, sind insofern ›trifunktional‹. Das menschliche Spezifikum ist nicht die Darstellungsdimension, sondern deren Ausdifferenzierung,
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sen Funktionen jedoch noch eine vierte hinzu, die argumentative, die es uns ermöglicht, deskriptive Aussagen zum Gegenstand der Rede zu machen und sie zu kritisieren. Auch hier geht es also um eine Metaebene, auf der Geltungsfragen verhandelt werden. Beide, Habermas wie Popper, argumentieren philosophisch und stehen damit vor dem Problem, wie man sich die Begründung von Entscheidungen auf dieser Metaebene denn nun vorzustellen hat. Muss über die Metaebene dann noch eine Metaebene gelegt werden usw.? Habermas stößt bis zu der These vor, dass die letzte Metasprache dann doch die Umgangssprache sei. Für Popper ist das Prinzip der kritischen Prüfung immer mit der (möglichen) Konfrontation mit empirischen Basissätzen verbunden. Beide nähern sich damit der Auffassung, dass die letzte Instanz in der Lebenswelt, im praktischen Handeln zu suchen sei. Aber sie haben zu große Vorbehalte gegenüber einer instrumentalistischen Position, um eine biologische Lösung anzustreben. Eine solche biologische Erklärung können wir bei den Evolutionären Psychologen John Tooby und Leda Cosmides finden. Sie operieren, vielleicht nicht ganz glücklich, mit dem Begriff der Metarepräsentation. Repräsentation wäre das, was im Sinne Bühlers durch die Darstellungs- oder Deskriptionsfunktion der Sprache geleistet wird, nämlich die Vergegenständlichung von Gedanken, Wahrnehmungen usw. durch sprachliche Fixierung.22 Das ist die Voraussetzung aller Weltkonserven. Es ist natürlich auch die Voraussetzung unangemessener Verdinglichungen, wie sie oben schon angesprochen wurden. Aber das wiegt anscheinend wenig gegenüber den Vorteilen, die dadurch für die Kommunikation gewonnen werden können, dass man auch über Nichtanwesendes kommunizieren kann, über Vergangenes, Zukünftiges, Fernes, Abstraktes. Die Pointe der Metarepräsentation besteht nun darin, dass Informationen auf der Ebene der Repräsentation mit zusätzlichen Metainformationen versehen werden können, die es erlauben, ihren Geltungsbereich näher zu bestimmen. Während also Habermas und Popper die Metaebene benötigen, um kritische Auseinandersetzungen über Wahrheit und Falschheit von Propositionen der Darstellungsebene zu ermöglichen, wird die wahr/falschDichotomie hier um weitere, sehr viel differenziertere Arten der Geltungszuweisung bereichert. Deshalb lasse ich den Begriff der Metarepräsentation jetzt weg, auch die Raummetapher einer Meta-›Ebene‹ mit all den Fallen, die in einer solchen Metaphorik stecken, und spreche nur noch von _____________
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die es dann ermöglicht, über Deskriptionen zu diskutieren. Vgl. Eibl: Animal poeta, S. 224ff. Ich habe das ausführlich dargelegt in Eibl: Vergegenständlichung, ferner in Eibl: Animal poeta, S. 232ff.
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Metainformationen, um hervorzuheben, dass diese durchaus auch punktuellen Charakter besitzen können. Die Metainformationen erlauben es, sehr produktiv mit Informationen umzugehen, die nur für einen bestimmten Raum oder eine bestimmte Zeit oder unter bestimmten Bedingungen gelten. Sie erlauben ferner, statistische Informationen hinzuzufügen, aus denen Grade der Zuverlässigkeit hervorgehen (Modalitäten wie ›sicher‹, ›wahrscheinlich‹, ›vielleicht‹), ferner Quellenangaben, die einer Information unterschiedliche Grade der Verbürgtheit zuweisen. Ein ungemein produktiver Musterfall ist z.B. die Erklärung von Handlungen in fremden Zeiten oder Kulturen aus den fremden Überzeugungen, wie es von Geschichtswissenschaft und Ethnologie, jedoch auch im Alltag betrieben wird. Weshalb haben die deutschen Kaiser immer wieder die Tortur auf sich genommen, sich in Rom krönen zu lassen? Weshalb hat Othello Desdemona ermordet? Es ist die Kenntnis fremder Überzeugungen, die uns eine Erklärung dieser Verhaltensweisen erlaubt (und es gibt natürlich auch immer wieder das problematische hermeneutische Verfahren, dass diese fremden Überzeugungen als Sinnressourcen mit den eigenen ›verschmolzen‹ werden). Doch auch unser eigenes Verhalten wird von solchen Geltungseinschränkungen geregelt, wenn wir unser Handeln auf wechselnde Umstände einstellen. Hierin liegt die eigentlich menschen-spezifische Fähigkeit, die für die immense Erfolgsgeschichte unserer Art verantwortlich ist, die Fähigkeit nämlich, einen riesigen Vorrat an (ganz unterschiedlich) bedingt ›wahren‹ Informationen zu verwalten. Durch Metainformationen vom Typus ›Dies ist Spiel‹ oder ›Dies ist ein Gedankenexperiment‹, wird ein weiter Formulierungsbereich geschaffen, in dem hypothetische und kontrafaktische Annahmen durchgespielt, Vermutungen über mögliche Folgen von Handlungen unter hypothetischen Bedingungen angestellt werden und sehr differenzierte Planungen vorgenommen werden können für den Fall, dass die Bedingung A oder aber die Bedingung B eintritt. Informationen können auf diese Weise von aktuellen Handlungsnotwendigkeiten abgekoppelt und im Sinne einer Vorratshaltung für Handlungsoptionen schematisiert werden. Zur Veranschaulichung bediene ich mich nun doch der Raummetaphorik: Man könnte zur Illustration von einem Quarantäne-Raum, einem Puffer-Raum, mentalen Experimentier-Raum, Gedankenlabor usw. sprechen. In jedem Falle werden Elemente unseres semantischen Gedächtnisses von direkten Anwendungslasten und damit von der Pflicht, sich in aktuellen Handlungen als ›wahr‹ zu erweisen, zeitweise suspendiert. Es dürfte deutlich geworden sein: Hierher gehört auch das, was wir ›Fiktion‹ nennen. Das ist freilich kein eigener dinghafter Bestand, den man als ›das Fiktionale‹ oder auch als ›das Imaginäre‹ zu bezeichnen hätte. Viel-
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mehr sollten wir strikt daran festhalten, dass Fiktionalität eine Eigenschaft der Rede ist, genauer ein Modus der Beziehung von Rede und Sache, in der grammatischen Ordnung vergleichbar dem Indikativ, Konjunktiv, Imperativ, Optativ, Jussiv, Konditional, Suppositiv ... Durch Modi, so sagt die Grammatik, werde die subjektive Stellungnahme des Sprechers zur Satzaussage ausgedrückt, d.h. die Modi geben Metainformationen zur Aussage. Damit wird deutlich, dass das unter ›Diskurs‹ oder ›Argumentation‹ oder ›Metarepräsentation‹ gefasste Verhältnis von Information und Metainformation generell unter dem grammatischen Begriff des Modus gefasst werden kann. Das übersteigt natürlich die bloßen Flexionsformen bei weitem, geht über die Modalverben zu kleinen sprachlichen Unregelmäßigkeiten, wie sie als Zeichen des Epischen Präteritums gelten (›Morgen fuhr sein Zug ab‹), hinaus zu weit allgemeineren semantischen Markern bis hin zu nichtverbalen Äußerungen wie einem Augenzwinkern oder dem bei amerikanischen Kollegen gebräuchlichen putzigen Brauch, beidhändig Anführungszeichen in die Luft zu hängen, bis hin zu institutionellen Vorkehrungen, die besagen: ›Dies ist Theater‹. Ob auf diese Weise fremde Rede markiert und zur Disposition überlegenen Nachdenkens gestellt wird, ob die Rede ironisch oder metaphorisch oder eben fiktional wird: Immer wird durch das Hinzufügen einer Ebene der Metainformation die Information selbst in den Status der Uneigentlichkeit gerückt. 4. Metainformation, Fiktion, ästhetische Lust Die Technik des Abkoppelns von Informationen durch Metainformationen ist schon aus dem Tierreich bekannt: Die Spielaufforderung des Hundes oder des Papageis, das Spielgesicht des Schimpansen (eine Frühform unseres Lächelns) sind bekannte Beispiele dafür. Die Metainformation lautet da allemal: ›Dies ist Spiel‹. Aber das sind nur Ansätze, an denen die Evolution ›weiterarbeiten‹ konnte. Differenziertere Stellungnahmen wie ›Das glaube ich nicht‹ oder ›Nimm das nicht allzu wörtlich‹ bleiben dem Menschen vorbehalten. Gar das Abwägen zweier widersprüchlicher Auffassungen oder die Vorratshaltung von Wissen mit begrenztem Gültigkeitsbereich, die Möglichkeit, Propositionen so zu markieren, dass sie intakt bleiben, aber gleichwohl nicht blindlings als handlungsrelevante Informationen verwendet werden, gibt der Menschenart eine immense Überlegenheit gegenüber allen Konkurrenten in wechselnden Milieus. Mein Lieblingsbeispiel dafür: Die Familie der Ameisen braucht nicht weniger als 12.000 hochspezialisierte Arten, um die ganze Welt zu besiedeln, der homo sapiens sapiens hingegen schafft das mit nur einer. Ursache dafür ist die Möglichkeit, bedingt wahre Annahmen zu verwalten und damit eine immense Breite
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exosomatisch verankerter Anpassungsmöglichkeiten zu erwerben. Verantwortlich dafür ist gewiss die Sprache, genauer, die mit der Sprache entstandene Fähigkeit zur Vergegenständlichung von Wissen, die es überhaupt möglich macht, eine derartige Wissensregie zu führen. Es sollte nun, nach der Einfügung in ein allgemeines anthropologisches Rahmenkonzept, möglich sein, erneut zu differenzieren und die zwischendurch eher locker und zu Illustrationszwecken hingestreuten Zusammenhänge des Einsatzes von Metainformationen in eine systematischere Form zu bringen und dabei auch der Fiktionalität einen präziseren Platz zuzuweisen. Natürlich wären dabei in hohem Maße historisch-kulturelle Faktoren zu berücksichtigen. Es ist z.B. nicht selbstverständlich, dass seit etwa 500 Jahren das Prinzip der kritischen Prüfung eine so rasante Karriere gemacht hat oder dass das Prinzip der Ironie, das vor 200 Jahren noch Entdeckung einer Avantgarde war, heute fast schon vulgär wirkt. Ich will vielmehr die hier anberaumte Dimension der Erklärung aus anthropologischen Basisdispositionen noch etwas weiterführen. Wenn wir den kulturellen Phänotyp einer solchen Disposition beobachten, haben wir es ja nicht nur mit seinen kulturellen Modifikationen zu tun, sondern auch mit zuweilen durchaus wechselnden Kombinationen und Folgephänomenen von Dispositionen. Genauer gefragt: Wie ließe sich unser geläufiger Begriff der Fiktionalität nun näher bestimmen, im Unterschied zu Ironie, Metaphorik, Scherz, Sachstreit und tausend anderen Manifestationen der Rede mit Elementen der Metainformation? Ich stelle dabei keineswegs den Anspruch, eine gültige Bestimmung von ›Fiktionalität‹ zu liefern. ›Fiktionalität‹ ist ein Alltagsbegriff und es wäre wieder einmal eines der idealistischen Missverständnisse, wenn man aus dem Vorhandensein eines Begriffs schlösse, es müsse auch eine Sache geben, die er eineindeutig repräsentiert, quasi seitdem der Schöpfer uns in die Geheimnisse seiner Namengebung eingeweiht hat. Was also assoziieren wir mit dem Begriff der ›Fiktion‹? Es ist in aller Regel etwas, das wir als ›Erzählung‹ bezeichnen können, in dem Sinne, in dem ich diesen Begriff einmal zu definieren versucht habe: Als Repräsentation einer nicht-zufälligen Ereignisfolge.23 Labov/Waletztky hatten Erzählen bestimmt als »eine Methode [...], vergangene Erfahrung dadurch zu rekapitulieren, dass eine verbale Folge von Teilsätzen auf die Ereignisfolge, die tatsächlich stattgefunden hat, bezogen wird.«24 Ich weiche davon ab, weil Labov/Waletzkys Definition erfundene Ereignisfolgen und nichtverbale Darstellungen ausschließt. Unter dem Aspekt der Paläoanthropologie aber bezeichnet die Labov/Waletzky-Definition sicherlich den historischen Kernbereich _____________ 23 24
Eibl: Animal poeta, S. 255, als Modifikation der Definition von Labov/Waletzky. Labov / Waletzky: Erzählanalyse, S. 95.
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des Erzählens: Es geht um die Rekapitulation vergangener Erfahrung, und zwar tatsächlicher Erfahrung. Wir dürfen annehmen, dass es sich hier um die ursprüngliche überlebenspraktische Funktion des Erzählens handelt, nämlich um das Fixieren von Erfahrungen, die in Form von Erzählungen gespeichert und weitergegeben werden. Das kann sogar noch bei Erzählungen der Gegenwart beobachtet werden, die von Belehrungsabsichten geleitet sind oder mit belehrenden Absichten interpretiert werden. Da ist es dann ziemlich gleichgültig, ob und in welchem Umfang die Inhalte erfunden sind. Denn die Geschichten werden ja deshalb erzählt, weil in ihnen, Wolffisch gesprochen, ein Allgemeines im Besonderen anschauend erkannt werden kann. Entscheidend ist da die Wahrheit dieses Allgemeinen. Das Besondere entzieht sich ohnedies häufig der Autopsie, wenn es in der Vergangenheit liegt oder in weiter Ferne. Allerdings ist das auch eine Quelle des Missverständnisses und der Manipulation. Unternehmer erzählen Geschichten von faulen Arbeitslosen, Gewerkschafter erzählen Geschichten von ausgebeuteten Arbeitnehmern. Beider Geschichten mögen erfunden oder wahr sein – entscheidend ist, dass sie als typisch ausgegeben werden. Ähnlich dürften schon die Geschichten unserer Vorfahren immer auch interessegeleitet gewesen sein.25 Aber solche manipulatorischen Effekte sind natürlich nur denkbar vor dem Hintergrund des ›ehrlichen‹ Erzählens, bei dem auf Tatsachen referiert wird. Gleichwohl gibt es auch das Phänomen einer reinen oder fast reinen Lust am Erzählen und Zuhören, ohne dass die Referentialisierbarkeit eine mehr als bloß punktuelle Rolle spielt. Auch hier gibt es eine bioanthropologische Erklärung. Ich habe sie freilich nun schon so oft dargelegt,26 dass ich sie hier zum Schluss nur noch als Merkposten aufführen möchte. Es ist das, was Cosmides und Tooby als den ›organizational mode‹ (Organisationsmodus) unserer Adaptationen bezeichnen. Im Funktionsmodus ist eine Adaptation dann aktiv, wenn sie die Probleme löst, als deren Lösung sie entstanden ist, wenn also z.B. das Sprachsystem Laute zum Zwecke der Kommunikation produziert oder wenn die Laufwerkzeuge zum Verfolgen oder Davonlaufen benutzt werden. Der Organisationsmodus hingegen dient dazu, die Adaptationen auszubauen, sie mit den korrekten Einstellungen, Informationen und Repräsentationen zu versehen und insgesamt eine bessere Organisation zur Ausführung ihrer Funktion zu entwickeln, z.B. Lallen für die Entfaltung eines effektiveren Sprachsystems oder Herumtollen zur körperlichen Ertüchtigung. Hierher gehört der ganze große Bereich des Spiels, der Betätigung von Adaptationen ohne Be_____________ 25 26
Vgl. hierzu Scalise Sugiyama: Food, sowie speziell zu interessegeleitetem Erzählen Scalise Sugiyama: Origins. U.a. in Eibl: Lustmodus.
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zug auf eine reale Zielhandlung, ebenso der nahe verwandte Bereich des Lernens, vielleicht auch der des Träumens. Damit bekommt der obskure ›Spieltrieb‹ eine funktionale Begründung im Organisationsmodus.27 Jeder komplexe Organismus muss sich nach seiner Geburt überhaupt erst einmal fertig bauen, und dieses Fertigbauen geschieht im Organisationsmodus. Beim Menschen hält sich dieser Organisationsmodus offenbar bis ans Lebensende durch, weil er wegen der höchst komplexen und heterogenen Struktur des menschlichen Gehirns auch nach der Fertigstellung zu Instandhaltungsund Reparaturaufgaben benötigt wird. Betätigung im Organisationsmodus kostet Energie, bringt aber im Augenblick der Betätigung nichts ein. Mit dem Hinweis auf den ultimaten Nutzen, dass man nämlich die entsprechenden Fertigkeiten später einmal, ›im Leben‹, gebrauchen kann, bringt man schon Menschenkinder schwer in Bewegung, und Tiere haben für solch längerfristige Planungen erst recht keinen Sinn. Zum Organisationsmodus gehört deshalb unabdingbar die intrinsische Belohnung des momentanen Verhaltens – das ist die Lust. Cosmides/Tooby sprechen, fürs deutsche Geisteswissenschaftlerohr in einem etwas provokativ weiten Sinn, auch von ›Aesthetics‹: Es gibt offenbar eine evolutionär entstandene adaptive Schaltung in unserem endokrinen Belohnungssystem, die bestimmte proximat zweckfreie Betätigungen mit Lust belohnt. – Das gilt auch für das Geschichtenerzählen. Es ist offenbar eine uraltanfängliche Neigung, anzusiedeln bereits bei den ersten sprachlichen Äußerungen darstellend-vergegenständlichender Art, und schon diese ersten Anfänge wurden befestigt und ausgebaut durch Geschichten, die sich immer wieder einmal vom tatsächlichen Hergang der Handlung augenzwinkernd entfernten, dann wieder eingeholt wurden, markiert durch die Spielgesichter und das schallende Gelächter der Erzählenden und der Zuhörenden. Drei Dispositionen aus alter Zeit wirken also zusammen bei dem, was wir gemeinhin Fiktion nennen: Die Fähigkeit, Informationen durch Metainformationen zu relativieren, u.U. bis zur Nullstufe, ferner die Fähigkeit, Sachverhalte in eine narrative Ordnung zu bringen, und schließlich die intrinsische Belohnung, die aus der ›zweckfreien‹ Betätigung dieser beiden Fähigkeiten erwächst. Die biologischen Funktionen dieser drei Dispositionen sollten klar geworden sein. Die kulturellen Funktionen, die die Fiktionen wahrnehmen können, sind ein anderes Thema.
_____________ 27
Diese ›Einübungs-Theorie‹ ist natürlich nicht grundsätzlich neu. Ich verweise dazu nur auf die noch immer lesenswerten Bücher von Karl Groos.
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Tooby, John / Leda Cosmides: Does Beauty Build Adapted Minds? Toward an Evolutionary Theory of Aesthetics, Fiction and the Arts. In: SubStance. A Review of Theory and Literary Criticism 30/1-2, Special Issue: On the Origin of Fictions (2001), S. 6-25. (Dieser Aufsatz in deutscher Übersetzung in: Uta Klein / Katja Mellmann / Steffanie Metzger (Hg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Paderborn 2006, S. 217-244). Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Berlin 1911. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung [1921]. Frankfurt/M. 1963. [Zedler, Johann Heinrich]: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. 64 Bde. Halle, Leipzig 1732-1750. Zipfel, Frank: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001.
Die vorstehenden Überlegungen wurden weitergeführt und in einen größeren Zusammenhang integriert in: Eibl, Karl: Kultur als Zwischenwelt. Eine evolutionsbiologische Perspektive. Frankfurt/M. 2009.
FRANK ZIPFEL
Autofiktion Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?
Der Begriff ›Autofiktion‹ wurde im Jahre 1977 durch den französischen Literaturwissenschaftler und Autor Serge Doubrovsky geprägt. Im Vorwort des schon im Titel mit Ambiguitäten spielenden ›Romans‹ Fils wird die Gattungszugehörigkeit des Textes wie folgt thematisiert:1 Autobiographie? Non, c’est le privilège réservé aux importants de ce monde, au soir de leur vie, et dans un beau style. Fiction, d’événements et de faits strictement réels, si l’on veut, autofiction […].2
Einmal geprägt fand der Begriff ›Autofiktion‹ schnell Eingang in die literarische Praxis und in die literaturwissenschaftliche Forschung, in die erstere dadurch, dass Doubrovskys Konzept der fiktionalen Autobiographie Schule machte, so z.B. bei Hervé Guibert, dessen autobiographische ›Aids-Trilogie‹ mit der Gattungsbezeichnung ›roman‹ veröffentlicht wurde,3 in die zweitere dadurch, dass bei der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung des Konzepts ältere Texte zur Autofiktion oder als deren Vorreiter erklärt wurden, so z.B. Gertrude Steins The Autobiography of Alice B. Toklas oder Roland Barthes par Roland Barthes.4 Doubrovskys implizite Bestimmung der Autofiktion als ›Fiktion von absolut wirklichen Ereignissen‹ ist in vieler Hinsicht interpretationsbedürftig _____________ 1
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Die Gattungsbezeichnung ›roman‹ findet sich auf der Titelseite des Textes. Der Titel spielt mit der Doppeldeutigkeit von ›Fils‹, das zum einen ›Sohn‹ bedeutet und sich damit auf die im Buch thematisierte Psychoanalyse des Autors bezieht, in der er die Beziehung zu seiner Mutter aufarbeitet, und zum anderen als Plural von ›fil‹ (›Faden‹) gelesen und dann auf die Erzählfäden des Textes bezogen werden kann. Doubrovsky: Fils, S. 10. Guibert: Ami; Guibert: Protocole; Guibert: Homme. Zum Katalog der inzwischen als ›Autofiktion‹ bezeichneten Texte vgl. Lecarme: Autofiction, S. 235-236 und Lecarme / Lecarme-Tabone: Autobiographie, S. 274-275.
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und ist in der französischen Literaturtheorie auf breiter Front diskutiert worden. So gut wie alle großen Namen der Autobiographie-Forschung (z.B. Philippe Lejeune, Jacques Lecarme) und der Gattungs- und Fiktionstheorie (z.B. Gérard Genette, Jean-Marie Schaeffer) haben sich früher oder später zur Frage der Autofiktion geäußert und damit dem Begriff zu einer Reihe recht unterschiedlicher Interpretationen und Bestimmungen verholfen. Dorrit Cohn stellte die Verbindung mit Autoren der amerikanischen Postmoderne wie Ronald Sukenick und Frederick Exley her, die fiktionale Texte schreiben, in denen sie mit eigenem Namen als Figur auftreten.5 Das Konzept und die Praxis der Autofiktion, verstanden als Kombination von Autobiographie und Roman, werfen in mehrfacher Hinsicht Fragen der Grenzen der Literatur auf. Neben der offensichtlichen Frage der Grenze zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen berühren sowohl die zur Autofiktion gerechneten Texte wie die literaturtheoretischen Konzepte der Autofiktion Fragen der Gattungsgrenzen und der Grenzen zwischen Literatur und Nicht-Literatur. Der vorliegende Beitrag stellt sich die Aufgabe, diese mit unterschiedlichen autofiktionalen Texten und den unterschiedlichen Interpretationen des Konzepts verbundenen ›Grenz-Fragen‹ zu erörtern. In einem ersten Teil werden einige Grundlagen des autobiographischen und des fiktionalen Erzählens in Erinnerung gerufen, im zweiten Teil die literaturtheoretischen Beziehungen zwischen Faktualität, Fiktionalität und Literatur erörtert; auf diesem Hintergrund werden im dritten und letzten Teil die konkreten Realisierungen dieser Beziehungen sowohl in unterschiedlichen autofiktionalen Texten wie in unterschiedlichen Konzepten der Autofiktionalität diskutiert. 1. Autobiographisches versus fiktionales Erzählen Im Begriff der Autofiktion werden zwei in der Regel als gegensätzlich betrachtete Konzepte zusammengebracht: das der Autobiographie bzw. des autobiographischen Erzählens und das der Fiktion bzw. des fiktionalen Erzählens. Zur Klärung der Frage, ob und inwiefern autobiographisches und fiktionales Erzählen als Gegensatzpaar zu betrachten sind, sollen im Folgenden die charakteristischen Merkmale autobiographischen und fiktionalen Erzählens einander gegenübergestellt werden.
_____________ 5
Vgl. Cohn: Distinction, S. 94.
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1.1 Autobiographisches Erzählen Grundlegend für die Gattung der Autobiographie wie auch für die Schreibweise des autobiographischen Erzählens bleiben die inzwischen zwar kritisch kommentierten, aber nach wie vor unhintergehbaren Erläuterungen von Lejeune. Lejeunes Definition der Autobiographie lautet wie folgt: »Récit rétrospectif en prose qu’une personne réelle fait de sa propre existence, lorsqu’elle met l’accent sur sa vie individuelle, en particulier sur l’histoire de sa personnalité.«6 Aus dieser Definition leitet Lejeune vier charakteristische Merkmale der Autobiographie ab: 1. a) Prosa, b) Erzählung; 2. Thema: persönliches Leben, Geschichte einer Person; 3. Identität von Autor und Erzähler; 4. a) Identität von Erzähler und Figur, b) RetrospektionsPerspektive. Nach Lejeune sind von den vier Merkmalen eigentlich nur zwei zentral und unumgänglich, nämlich die Merkmale 3 und 4a – und dies gilt erst recht, wenn es, wie im vorliegenden Zusammenhang, weniger um die Gattung der Autobiographie, sondern vielmehr um die Schreibweise des autobiographischen Schreibens geht.7 Diese beiden Merkmale können in der Formel ›A(utor) = E(rzähler) = F(igur)‹ zusammengefasst werden. Lejeune geht zudem der Frage nach, wie dem Leser angezeigt wird, dass der ihm vorliegende Text durch diese Merkmale bestimmt ist, und kommt so zu seiner Theorie des ›autobiographischen Paktes‹. Dem Leser muss deutlich gemacht werden, dass die Person, von der berichtet wird, keine andere ist als der Autor selbst. Es gibt nach Lejeune zwei Möglichkeiten für den Autor, den autobiographischen Pakt herzustellen bzw. anzubieten:8 1) durch die Namensidentität von Autor, Erzähler und Figur; 2) durch paratextuelle Angaben, z.B. durch eine Gattungsbezeichnung oder durch entsprechende Bekundungen im Paratext (Vorwort, Klappentext, ... ). Das Angebot des autobiographischen Paktes ist nach Lejeune deshalb notwendig, weil die Referenz des selbstreflexiven Personalpronomens ›Ich‹ im Schrifttext explizit etabliert werden muss. Das schreibende bzw. geschriebene Ich _____________ 6 7
8
Lejeune: Pacte, S. 14. Das Merkmal 1 grenzt die Gattung ›Autobiographie‹ vom autobiographischen Gedicht bzw. vom autobiographischen Essay ab, das Merkmal 2 unterscheidet die Autobiographie von den mehr auf die zeitgeschichtlichen Umstände ausgerichteten Memoiren. Zur der mit 4b von Lejeune anvisierten Abgrenzung der Autobiographie vom Tagebuch müsste Differenzierteres gesagt werden: Auch Tagebuch-Aufzeichnungen sind letztlich retrospektiv, da für alle Narration der Grundsatz der Erzähllogik gilt: erst erleben, dann erzählen. Ich verstehe Lejeunes autobiographischen Pakt als die Verdeutlichung an der Textoberfläche, dass es sich um autobiographisches Schreiben handelt, auch wenn Lejeune selbst keine klare Bestimmung dessen, was er unter autobiographischem Pakt versteht, gibt und sich die Aspekte, unter denen er den autobiographischen Pakt betrachtet, im Laufe seines Textes verändern.
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muss sich identifizieren, da die Identifikation als der, der spricht/schreibt, in der zerdehnten Sprachhandlungssituation – im Gegensatz zur face-to-faceKommunikation der gesprochenen Sprache – nicht ausreicht. Die Identifikation über die Übereinstimmung von Figuren- und Autor-Namen funktioniert, weil nach dem sozialen Kontrakt des Literaturbetriebs ein auf dem Buchdeckel gedruckter Autorname auf eine real existierende Person verweist (Ausnahmen bestätigen die Regel).9 Lejeunes Überlegungen bezüglich des Personalpronomens ›Ich‹ gehen vom Normalfall des autobiographischen Schreibens in der ersten Person aus. Allerdings ist auch Lejeune nicht verborgen geblieben, dass es auch autobiographisches Schreiben in der dritten Person gibt.10 Lejeune interpretiert diesen Fall als Texte, die zwar durch die Gleichung ›A = E = F‹ bestimmt sind, jedoch die dritte grammatische Person verwenden. Allerdings könnte man auch sagen, es handele sich um Texte, die durch die Gleichungen ›A = E‹, ›A = F‹ und ›E ≠ F‹ beschrieben werden. Damit reduziert sich illokutionstechnisch der autobiographische Pakt auf den auch von Lejeune angesprochenen referentiellen Pakt,11 also auf die Tatsache, dass etwas tatsächlich Passiertes berichtet wird und der Autor die Intention hat, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu berichten, bzw. mit etwas Selbstreflexion formuliert: die Wahrheit, so wie sie der Autor erinnert, das Geschehene, so wie es dem Autor erschienen ist.12 Der autobiographische Pakt ist damit eine Art emphatische Formulierung der allgemeinen Referenzregeln der Sprache bzw. des Behauptens wie sie z.B. John R. Searle in seinen Behauptungsregeln oder Paul Grice in seinem Kooperationsprinzip der Kommunikation ausformuliert haben. Die in diesem Zusammenhang relevanten Behauptungsregeln bei Searle sind die »essential rule: the maker of an assertion commits himself to the truth of the expressed proposition« und die »sincerity rule: the speaker commits himself to a belief in the truth of the expressed proposition«;13 bei Grice handelt es sich um die Qualitätsmaxime »do not say what you believe to be false«.14 Diese Behauptungsregeln bzw. Kommunikationsmaximen scheinen als Vorschriften für die (im Kommunikationsmodell in der Regel als ›Sender‹ bezeichneten) Textproduzenten formuliert, man kann sie jedoch auch und zutreffender als Ausformulierung eines stillschweigend eingegangenen Kommunikationsvertrages zwischen Produzent und Rezipient verstehen. Die Ausformulierung der in gewisser Weise von Produzent und Rezipient bewusst oder unbe_____________ 9 10 11 12 13 14
Vgl. Lejeune: Pacte. Vgl. Lejeune: Autobiography. Vgl. Lejeune: Pacte, S. 36. Vgl. ebd. Searle: Discourse, S. 322. Grice: Logic.
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wusst gekannten und befolgten Basisregeln, die das Gelingen der Kommunikation quasi garantieren, ist das, was man mit Lejeune den ›referentiellen Pakt‹ nennen kann. Dieser referentielle Gebrauch der Sprache wird in jeder faktualen Erzählung und damit auch im autobiographischen Schreiben realisiert. 1.2 Fiktionales Erzählen Der alte Vorwurf, dass Dichter lügen, rührt daher, dass fiktionales Erzählen sich offensichtlich nicht an die Regeln des im vorigen Abschnitt erläuterten referentiellen Gebrauchs der Sprache hält. Um diesem Vorwurf zu begegnen, kann fiktionales Erzählen als eine vom normalen Sprachgebrauch abweichende soziale, kulturelle, in gewisser Hinsicht institutionalisierte, jedenfalls etablierte Praxis beschrieben werden.15 Mein Versuch, die soziale oder kulturelle Praxis ›Fiktion‹ als eine Sprachhandlungspraxis d.h. eine regelgeleitete Praxis auszuformulieren, die bestimmte Sprachhandlungen ermöglicht, die durch diese Regeln definiert werden und die ohne diese nicht möglich wären, lautet abgekürzt wie folgt: Der Autor produziert einen Erzähl-Text mit nicht-wirklicher Geschichte mit der Intention, dass der Rezipient diesen Text mit der Haltung des make-believe aufnimmt, und der Rezipient erkennt diese Absicht des Autors und lässt sich aus diesem Grunde darauf ein, den Erzähl-Text unter den Bedingungen eines make-believe-Spiels zu lesen.16 Einige Punkte dieser Ausformulierung sollen kurz erläutert werden. Die Ausformulierung betrifft drei verschiedene Ebenen: den Erzähltext, die Produktionsseite und die Rezeptionsseite – der Erzähltext wird dabei nach der klassischen narratologischen Unterscheidung in Geschichte und Erzählung, histoire und discours aufgeteilt. Die Ausformulierung spricht von »Erzähltexten mit nicht-wirklicher Geschichte«. Auch wenn diese Formulierung philosophisch-ontologisch bedenklich sein mag, kommt man m.E. in einer literaturtheoretischen Fik_____________ 15
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Eine soziale, in gewissem Sinne institutionalisierte Praxis kann mit Lamarque / Olsen wie folgt definiert werden: »An institutional practice, as we understand it, is constituted by a set of conventions and concepts which both regulate and define the actions and products involved in the practice. [...] An institution, in the relevant sense, is a rulegoverned practice which makes possible certain (institutional) actions which are defined by the rules of the practice and which could not exist as such without those rules.« (Lamarque / Olsen: Truth, S. 256) Searle hat eine ähnliche Theorie der institutional facts formuliert, die er von brute facts unterscheidet: »Brute facts exist independently of any human institutions; institutional facts can exist only within human institutions.« (Searle: Construction, S. 27) Solche institutionellen Fakten können nur in einem System von konstitutiven Regeln ent- und bestehen (vgl. ebd., S. 43-48). Vgl. Zipfel: Fiktion, S. 297.
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tionstheorie um die Rede von der Nicht-Wirklichkeit fiktiver Geschichten nicht herum.17 Spricht man von Fiktion auf der Ebene der Geschichte eines Erzähl-Textes, meint man damit letztlich, dass die dargestellte Geschichte nicht wirklich stattgefunden hat.18 Das Prädikat ›ist eine Fiktion‹ besagt in diesem Fall, dass der erzählten Geschichte kein Geschehen in der Realität entspricht, dass sie nicht auf tatsächlichen Ereignissen beruht.19 Verkürzt gesagt: Die Geschichte handelt von nicht-wirklichen Ereignissen, nichtwirklichen Figuren, nicht-wirklichen Orten oder nicht-wirklichen Zeiten. Fiktive Geschichten sind allerdings nie ganz und gar unwirklich. Die Welt einer fiktiven Geschichte, die so genannte fiktive Welt, basiert immer (wenn auch in unterschiedlichem Maße) auf der Welt unserer Wirklichkeitskonzeption. Der Zusammenhang von fiktiver und realer Welt kann durch das so genannte ›Realitätsprinzip‹ erläutert werden. Das Realitätsprinzip besagt, kurz gefasst, dass eine fiktive Welt so nah wie möglich an der realen Welt konstruiert wird. Insofern kann man das Realitätsprinzip auch als »principle of minimal departure« bezeichnen, wie Marie-Laure Ryan es in ihrer Explikation dieser Regel tut: This principle states that we reconstrue the world of a fiction [...] as being the closest possible to the reality we know. This means that we will project upon the world of the statement everything we know about the real world, and that we will make only those adjustments which we cannot avoid.20
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Man kann zwar wie z.B. Gabriel anstatt von nicht-wirklichen Gegenständen von der Nichtreferenzialisierbarkeit von referenzialisierbaren Ausdrücken sprechen, aber das ist letztlich auch nur eine Umformulierung der Rede von nicht-wirklichen Geschichten, Ereignissen oder Figuren. Literaturtheoretisch kann man mit einer gewissen ontologischen Indifferenz von nicht-wirklichen Ereignissen sprechen, d.h. man kann die philosophische Diskussion darüber, ob Existenz mit raum-zeitlicher Identifizierbarkeit einhergeht, beiseite lassen (vgl. Zipfel: Fiktion, S. 103-106). Diese literaturtheoretische Rede von ›Fiktion‹ ist m.E. unabhängig von erkenntnistheoretischen Positionen hinsichtlich der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Erkennens und nach den daraus abgeleiteten ontologischen Konsequenzen. Spricht man in dieser erkenntnistheoretischen Hinsicht von ›Fiktion‹ in Bezug auf Wirklichkeit, so spricht man von solchen allgemeinen Einsichten wie z.B., dass die Kategorien unserer Beschreibungssysteme vom Betrachter eher erfunden als vorgefunden werden, dass nur relativ zu einem Beschreibungssystem oder einer Theorie zu klären ist, was als Gegenstand oder Tatsache angesehen wird, oder dass es zur Beurteilung von Erkenntnissen letztlich keine von allen Beschreibungssystemen unabhängigen Daten oder Fakten gibt. Die Rede von ›Fiktion‹ in Bezug auf literarische Texte hingegen bezieht sich auf die Frage, inwieweit das in diesen Texten Dargestellte in denotativer Art auf eine vorgegebene Welt-Version Bezug nimmt. Ähnlich formuliert Stierle, jedoch unter Rückgriff auf das Konzept der Kommunikation: »Die fiktionale Kommunikation ist zunächst dadurch bestimmt, daß einer Sachlage bzw. einer Sequenz von Sachlagen kein Sachverhalt zugeordnet ist.« (Stierle: Negation, S. 237) Ryan: Fiction, S. 406.
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Zur fiktiven Welt gehören also neben dem, was in den expliziten Aussagen des Textes über die Geschichte gesagt wird, alle Sachverhalte der realen Welt, sofern sie nicht durch den Erzähl-Text ausdrücklich aufgehoben oder negiert werden. So ist das Realitätsprinzip ein Beispiel für die unausgesprochenen Regeln, die die Sprachhandlungspraxis ›Fiktion‹ bestimmen. Erwähnenswert ist des Weiteren, dass die Fiktivität von Geschichten letztlich immer mit der Fiktivität der Ereignisträger, also in der Regel der Figuren, verbunden ist. Zum einen gibt es in Geschichten, die in fiktiven Orten angesiedelt sind oder in fiktiven Zeiträumen spielen, immer auch fiktive Ereignisträger. Ereignisträger, die sich an fiktiven Orten oder in fiktiver Zeit bewegen, müssen letztlich selber fiktiv sein. Zum anderen können Geschichten auch nur dadurch fiktiv sein, dass in ihnen fiktive Ereignisträger vorkommen, wenn die fiktiven Geschichten vor sowohl zeitlich wie örtlich realem Hintergrund spielen.21 Für den Bereich des Erzählens (discours) genügen zwei Bemerkungen, eine die Ebene der Erzähltheorie und eine die Ebene der Erzählpraxis betreffend. Auf der Ebene der Theorie geht es um die Behauptungsstruktur fiktionalen Erzählens. Wie faktuale Erzählungen bestehen auch fiktionale Erzählungen zum größten Teil aus Behauptungssätzen. Man kann aber nicht sagen, dass es der Autor ist, der behauptet, sonst müsste man sagen, dass er etwas behauptet, was gar nicht stimmt. Das Problem lässt sich durch die klassische Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler lösen: Nicht der Autor behauptet, sondern der Erzähler; oder anders: Der Autor ist verantwortlich für den Text, weil er ihn produziert hat, aber der Erzähler zeichnet sozusagen verantwortlich für die Behauptungen. Der Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler entspricht auf der Rezeptionsseite die Unterscheidung zwischen dem Adressaten, d.h. der dem Text eingeschriebenen Rezipientenrolle, und dem empirischen Leser. Auf der Ebene der Erzählpraxis führt die Fiktionalität des Erzählens zu einer Reihe fiktionspoetischen Lizenzen. Der Erzähler, der ja letztlich ein fiktiver Erzähler ist, ist nicht an die Erzähllogik des faktualen Erzählens gebunden. Die naheliegendsten Beispiele sind die: interne Fokalisierung oder der allwissende Erzähler heterodiegetischer Erzählungen, aber auch der mit übermenschlichem Erinnerungsvermögen ausgestattete homodiegetische Erzähler gehört in diese Kategorie. Natürlich sind die Abweichungen von der faktualen Erzähllogik ein mögliches, aber kein notwendiges Merkmal einer fiktionalen Erzählung. In fiktionalen Erzählungen kann auch _____________ 21
Diese Feststellung stimmt mit der Ansicht Käte Hamburgers überein, dass erst das Vorhandensein von fiktiven Figuren einen Text zur literarischen Fiktion macht, auch wenn Hamburger ihre Position auf gänzlich andere Argumente stützt (vgl. Hamburger: Logik, insb. S. 60, 63).
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faktuales Erzählen simuliert werden. In diesem Fall ist der fiktionale Erzähl-Text erzähllogisch nicht von einer faktualen Erzählung unterscheidbar. Für den Bereich der Textproduktion stellt sich die Frage nach dem Sprachhandlungsverhältnis zwischen dem Autor und seinem Text, also letztlich nach der Illokutionsintention, die der Autor mit dem Gesamttext verbindet.22 Diese wird in meiner Ausformulierung der Sprachhandlungspraxis ›Fiktion‹ in Anlehnung an die Ausführungen von Gregory Currie als die Intention des Autors, dass der Leser den Text in der Haltung des make-believe rezipiere, beschrieben. Das Konzept des make-believe ist in gewisser Weise eine Neuformulierung Coleridges bekannter Umschreibung von Fiktion bzw. Fiktionsrezeption als »willing suspension of disbelieve«.23 Der Begriff ›make-believe‹ wurde in den 1980er Jahren von Kendall L. Walton in die englischsprachige Literatur- und Fiktionstheorie eingeführt und ist inzwischen dort zu einem Schlüsselbegriff geworden.24 Fiktionstheoretisch wird mit ›make-believe‹ die Haltung bezeichnet, sich selber bzw. der Gruppe, mit der man zusammen spielt, etwas glauben zu machen: »We are intended by the author to make believe that the story as uttered is true.«25 Um die rezeptionsspezifische Seite der Sprachhandlungspraxis ›Fiktion‹ zu erläutern, kann man die mit dem make-believe verbundene Einklammerung des Unglaubens unter Berücksichtigung der Unterscheidung zwischen Autor/Erzähler bzw. Leser/Adressat wie folgt weiter ausformulieren. Zum einen kann man sagen: Der Rezipient hält die fiktive Geschichte ebenso wenig für wahr, wie der Autor sie als wahre Geschichte behauptet. Zum anderen gilt: Der fiktive Adressat liest die Geschichte ebenso sehr als wahr, wie der fiktive Erzähler sie als eine innerhalb der fiktiven Welt tatsächlich passierte Geschichte erzählt. Die Tatsache, dass der Leser eine fiktive Geschichte in der Haltung des make-believe für wahr hält, kann man also auch mit der Formulierung umschreiben, dass der Leser bei der Lek_____________ 22
23 24 25
Wenn hier von der Intention oder Absicht des Autors gesprochen wird, handelt es sich selbstverständlich nicht um die Intention des Autors, eine bestimmte ›Botschaft‹ zu vermitteln, sondern um die fiktionsspezifische sprachhandlungslogische Intention des Autors. Coleridge: Biographia. Bd. 2, S. 6. Vgl. Walton: Mimesis. Currie: Fiction, S. 18. In Analogie zum make-believe von Kinderspielen kann man die Bedeutung von make-believe als Rezeptionshaltung gegenüber fiktionalen ErzählTexten ungefähr wie folgt formulieren: So wie Kinder für die Zeit des Spiels in einer gewissen Weise daran glauben, dass die einen Cowboys und die anderen Indianer sind, dass ein halbwegs adäquat geformter Baumast ein Gewehr ist, dass derjenige, der bei dem Ruf ›Bäng‹ des Gewehrinhabers in der Schusslinie steht, getötet wird, usw., so soll und wird der Leser für die Zeit der Lektüre in einer ähnlichen Weise daran glauben, dass das, was er liest, eine wahre Geschichte ist.
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türe versucht, die Position des (dem Text eingeschriebenen) fiktiven Adressaten einzunehmen. Nach dieser Erläuterung einiger Elemente der Sprachhandlungspraxis ›Fiktion‹ auf unterschiedlichen Kommunikationsebenen wird deutlich, dass der Kommunikationszusammenhang zwischen Autor und Leser beim fiktionalen Erzählen in ähnlicher Weise wie beim autobiographischen Erzählen als Pakt oder Vertrag verstanden werden kann. Ein Fiktionsvertrag wird stillschweigend bei jeder Produktion und Rezeption von fiktionalen ErzählTexten auf der Grundlage der die soziale Praxis ›Fiktion‹ bestimmenden Regeln abgeschlossen. 2. Faktualität, Fiktionalität, Literarität Die Konzepte der Faktualität und der Fiktionalität werden in der Literaturtheorie oft mit der Frage nach der Literarität in Verbindung gebracht. Insbesondere die literaturtheoretischen Bestimmungen des Verhältnisses zwischen Literarität und Fiktionalität sind vielfältig. Sie reichen vom Aufgehen der Literarität in der Fiktionalität (unter dem Stichwort: ›Alle Literatur ist fiktional‹) über die Bestimmung von Teilbereichen der Literatur mit Hilfe des Begriffs der Fiktion (oft unter dem Stichwort: ›Alle Fiktion ist Literatur‹) bis zur theoretischen Unabhängigkeit der beiden Konzepte mit der Begründung, dass sie unterschiedliche Phänomenbereiche bezeichnen. Im Hinblick auf die im dritten Teil zu behandelnde Frage nach den Grenzen der Literatur im Zusammenhang mit der Autofiktion sollen hier drei mögliche Verhältnismodelle unterschieden werden. 2.1 Fiktion als das Bestimmungskriterium für Literatur Zuweilen wird der Begriff der Fiktion als Kriterium der Ästhetik von Texten und damit als die Bestimmungsgröße von Literatur verwendet. Explizit geschieht dies in Äußerungen wie: »Der Begriff der Fiktionalität beschreibt das regulative Prinzip, das alle semantischen Operationen bzw. Evaluationen im sozial und historisch institutionalisierten System literarischer Kommunikation steuert«;26 implizit, wenn die Theorie der Literatur auf der Hypothese einer Ästhetik-Konvention aufgebaut wird, die darin besteht, dass die alltagssprachliche Konvention, Äußerungen primär auf das vorherr-
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schende Wirklichkeitsmodell zu beziehen, vernachlässigt wird.27 Diese Position, die mit dem Schlagwort ›Alle Literatur ist Fiktion‹ gekennzeichnet werden kann, erscheint vor dem Hintergrund des sprachhandlungstheoretisch erläuterten Fiktionsbegriffs als problematisch. So können manche Autobiographien, Reiseberichte oder Reportagen als literarische Texte bezeichnet werden, ohne dass sie fiktional sein müssten. Geht man davon aus, dass alle Literatur fiktional ist, wird es unmöglich, solche Texte in den Bereich der Literatur zu integrieren – es sei denn, man definiert ›Fiktion‹ entsprechend um, wodurch dieser Begriff jedoch seine spezifische Differenzqualität verliert. Insofern ist ein Konzept, das Literatur auf Fiktionalität festlegen will, bereits für erzählende Texte zu eng – abgesehen von den Problemen, die durch eine solche Bestimmung für die Betrachtung anderer literarischer Gattungen entstehen. 2.2 Fiktion als ein Bestimmungskriterium für Literatur »Si donc il existe un et un seul moyen pour le langage de se faire à coup sûr œuvre d’art, ce moyen est sans doute bien la fiction.«28 So lautet die Aussage von Genette, mit der er behauptet, dass fiktionale Texte immer auch literarisch sind, dass also Fiktionalität ein sicheres Kriterium für Literarität darstellt. Neben der Fiktionalität als inhaltliches Kriterium sieht Genette die Poetizität als ein formales Kriterium des Literarischen. Im Rahmen einer so genannten essentialistischen Poetik gelten beide Kriterien als konstitutiv,29 d.h. als hinreichende Bedingung für die Literarität von Texten.30 Unter ›Poetizität‹ versteht Genette Formen von Literarität, wie sie von Roman Jakobson als Dominanz der »poetischen Funktion« bzw. der »Aus_____________ 27
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Vgl. Schmidt: Fictionality, S. 542-543; Schmidt: Grundriß, S. 196. Vgl. auch die Diskussion von Schmidts Standpunkt in Hempfer: Fiktionstheorie, S. 113f. Man findet die hier exemplarisch mit Äußerungen von Schmidt dargestellte Position in verschiedensten Bestimmungsversuchen von ›Literatur‹. Genette: Fiction, S. 20. Unter einer essentialistischen Poetik versteht Genette den traditionellen Versuch, Literarität als Eigenschaft oder Eigenschaftskomplexion von Texten zu beschreiben, d.h. notwendige und hinreichende Merkmale anzugeben, die einen Text zu einem literarischen machen – im Gegensatz zu einer konditionalistischen Poetik, nach der Texte dann als literarisch gelten, wenn sie von einem oder einer Gruppe von Rezipienten als ästhetische Objekte aufgenommen werden. Ein ähnliches Unterscheidungsprogramm findet sich z.B. bei Günter Saße, der zwischen syntaktischen und semantischen Bestimmungen der Literatursprache unterscheidet (vgl. Saße: Literatursprache, S. 698-702), oder bei Tzvetan Todorov, der Fiktion und Poetizität als die zwei Möglichkeiten einer strukturellen Definition von Literatur ansieht, die er jedoch zugunsten einer funktionellen Definition zu überwinden sucht (vgl. Todorov: Notion).
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richtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen« beschrieben wurden und die sich vor allem für die Beschreibung des ästhetischen Charakters von Lyrik eignen.31 Fiktionalität hingegen wäre das vorherrschende Literaritätskriterium für erzählende und dramatische Texte. Genettes Fiktionsbegriff stützt sich damit hauptsächlich auf die Fiktivität des Erzählten: »Est littérature de fiction celle qui s’impose essentiellement par le caractère imaginaire de ses objets.«32 Einen Zusammenhang zwischen den beiden Literaritäts-Kriterien Fiktionalität und Poetizität versucht Genette über das Konzept der Intransitivität herzustellen. Le trait commun me semble consister dans ce caractère d’intransitivité que les poétiques formalistes réservaient au discours poétique (et éventuellement aux effets de style), intransitif parce que d’une signification inséparable de sa forme verbale – intraduisible en d’autres termes, et donc destiné à se faire incessamment ›reproduire dans sa forme‹.33
Etwas verkürzt zusammengefasst lautet Genettes Argumentation wie folgt: Die Verwendung von Sprache in literarischen Texten ist als intransitiv zu bezeichnen, weil die Referenzfunktion der Sprache in den Hintergrund gedrängt wird. In qua Poetizität literarischen Texten wird die Bezugnahme auf die Welt durch die Form, durch die Jakobsonsche poetische Funktion überlagert, in qua Fiktionalität literarischen Texten wird die Referenz durch das Erzählen von fiktiven Objekten unterlaufen. Le texte de fiction est lui aussi intransitif, d’une manière qui ne tient pas au caractère immodifiable de sa forme, mais au caractère fictionnel de son objet, qui détermine une fonction paradoxale de pseudo-référence, ou de dénotation sans dénoté.34
Auch wenn Genettes Argumentation, die hier nicht weiter verfolgt werden kann, in ihren Einzelheiten nicht völlig überzeugend ist,35 bleibt die Aussage ›Alle Fiktion ist Literatur‹ durchaus bedenkenswert. Eine solche Sichtweise impliziert eine Ausweitung des Literatur- bzw. Kunstbegriffs: Alle fiktionalen Erzähl-Texte (von Perry Rhodan bis Joyces Ulysses) werden als Literatur angesehen. Eine solche Ausweitung des Literaturbegriffs kann im Sinne einer ›Demokratisierung‹ des Literaturbegriffs für manche literaturwissenschaftlichen Ansätze und den mit ihnen verbundenen Gegenstands_____________ 31 32
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Jakobson: Linguistik, S. 92. Genette: Fiction, S. 31. Genette berücksichtigt daneben jedoch auch die Verdoppelung der Sprachhandlungssituation – »dissociation entre l’auteur (énonciateur réel) et le narrateur (énonciateur fictif)« (ebd., S. 36) – sowie die Intentionalität des Textproduzenten, die Genette jedoch im Rahmen der pretense-Theorie als Fingieren expliziert (vgl. ebd.). So kann man den in der vorliegenden Arbeit explizierten Fiktionsbegriff als eine Präzisierung von Genettes Fiktionskonzept begreifen. Ebd., S. 35f. Ebd., S. 36. Vgl. Zipfel: Fiktion, S. 317-320.
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bestimmungen der Literaturwissenschaft wünschenswert sein.36 In letzter Konsequenz wird hierbei nicht nur die so genannte Trivialliteratur in den Bereich der Literatur integriert, sondern z.B. auch Werbetexte in Form von fiktionalen Erzähl-Texten. 2.3 Die grundsätzliche Unabhängigkeit von Fiktion und Literatur Betrachtet man die beiden dargestellten Anstrengungen, Literatur und Fiktion in einen Begründungszusammenhang zu bringen, so ist ihnen gemeinsam, dass sie versuchen, mit der Fiktionalität eine Art objektivierbares Kriterium für die Bestimmung von Literatur zu gewinnen. Allerdings gibt es auch Konzeptionen von Literatur, die Literarität und Fiktionalität klar voneinander trennen. Als exemplarisch hierfür kann das Konzept von Literatur als soziale Praxis von Lamarque/Olsen angesehen werden.37 Texte, die im Rahmen der sozialen Praxis ›Literatur‹ produziert, vervielfältigt und rezipiert werden, werden nach Lamarque/Olsen als Objekte ästhetischer Wertschätzung aufgefasst: »The mode of apprehension which the practice defines is one of appreciation.«38 Lamarque/Olsen unterscheiden in der sozialen Praxis ›Literatur‹ zwei charakteristische Dimensionen der Wertschätzung: eine kreativ-imaginative und eine mimetische Dimension. Der kreativ-imaginative Aspekt der Literatur umfasst die formale Konzeption bereits vorhandener Geschichten oder Sachverhalte und die inhaltliche Konzeption neu zu erfindender Geschichten. Man erwartet von literarischen Werken Komplexität und Kohärenz in der formalen Gestaltung.39 Neben diese kreativ-imaginative Dimension stel_____________ 36
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Eine soziologisch orientierte Literaturwissenschaft kann an einem erweiterten Literaturbegriff interessiert sein, um z.B. der Forderung nach einer Einbeziehung der Trivialliteratur als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen Nachdruck zu verleihen. Das Interesse an der Analyse solcher Texte scheint mir dabei vorwiegend ein soziologisches, z.B. ideologiekritisches, und weniger ein ästhetisches zu sein. Eine Bestimmung von Literatur als soziale Praxis entspricht in vieler Hinsicht anderen Bestimmungen von Literatur, z.B. als »offenes System« (Landwehr: Text, S. 15), als »Gesamtkomplex der Produktion, Vermittlung, rezeptiven Verarbeitung und Wirkung sprachlicher Texte« (Schmidt: Literaturwissenschaft, S. 18), als »soziale Institution« (Fricke: Norm, S. 101), als »Sozialsystem Literatur« (Vgl. Pfau / Schönert: Probleme, S. 8-11). Lamarque / Olsen: Truth, S. 256. Vgl. ebd., S. 265: »Using the distinction between form and subject, we can say that the aesthetic value defined by the creative-imaginative aspect of the concept of literature is constituted by the imposition of form on a subject. Imposing form on a subject is to impose coherence on a complexity of elements: a manifold of elements is in construal both identified and recognized as forming a unity. An expectation of a complex and coherent form is thus one central element in the literary stance; and appreciation,
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len Lamarque/Olsen die so genannte mimetische Dimension. Sie wird als Darstellung eines Inhalts von allgemein menschlichem Interesse beschrieben; was literarische Texte darstellen, betrifft die Leser in ihrem wesentlichen Menschsein.40 Die beiden Dimensionen der die soziale Praxis ›Literatur‹ definierenden Wertschätzung – komplexe und kohärente Form sowie menschlich interessanter Inhalt – gelten sowohl für faktuale als auch für fiktionale Texte.41 So wird der Begriff ›Literatur‹ völlig ohne Bezug auf den Begriff der Fiktion bestimmt. Lamarque/Olsen sind der Ansicht, dass ›Literatur‹ und ›Fiktion‹ schon deshalb grundsätzlich voneinander unabhängige Begriffe sind, weil ›Fiktion‹ ein deskriptiver Begriff ist, während ›Literatur‹ nur als evaluativer Begriff expliziert werden kann. Die beiden durch die jeweilige soziale Praxis definierten Bereiche haben zwar eine Schnittmenge, sie sind jedoch weder deckungsgleich, noch geht der eine in dem anderen auf. In gewisser Weise kann man die Theorie von Lamarque/Olsen mit Nelson Goodmans Theorie der Exemplifikation als ›Symptom des Ästhetischen‹ in Verbindung bringen.42 Goodmans Konzept der Exemplifikation kann als »das Kondensat aller Redeweisen darüber, daß sich in beispielhafter Weise an einem Besonderen etwas Allgemeines [...] zeigt«,43 angesehen werden. Die Rezeption von Kunstwerken als neue Kategorien und Erfahrungsschemata exemplifizierende Objekte ist dabei unabhängig von deren faktualem oder fiktionalem Status. Auch wenn das Fehlen der Denotation in fiktionalen Texten eine exemplifizierende Rezeption ermutigt oder gar erfordert, ist der Umkehrschluss, dass die Denotation in faktualen Texten Exemplifikation verhindere, nicht zutreffend. Exemplifikation als Symptom des Ästhetischen ist somit grundsätzlich unabhängig von Fiktionalität.44
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the mode of apprehension defined by the literary stance, aims at identifying the complex and coherent form of a literary work of art.« Vgl. ebd., S. 265: »The interest which literature has for human beings, it has because it possesses a humanly interesting content, because what literature presents or says concerns readers as human beings. [...] To recognize something as a literary work is to recognize it as being intended to convey a humanly interesting content.« Inwieweit diese beiden Kriterien tatsächlich die soziale Praxis ›Literatur‹ in umfassender Weise bestimmen, wäre zu diskutieren. Das Augenmerk liegt jedoch hier stärker auf der formalen Konzeption als auf den Inhalten der Literatur-Definition von Lamarque/Olsen. Vgl. Goodman: Languages, S. 252-255; Goodman: Worldmaking, S. 67-69. Thürnau: Versionen, S. 90. Vgl. hierzu ausführlicher Zipfel: Fiktion, S. 270-277.
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3. Autofiktion und die Grenzen der Literatur In Abschnitt 1 wurden zwei unterschiedliche soziale Praktiken der Verwendung von Sprache erläutert: die referentielle Praxis, die jeder faktualen Erzählung und damit auch dem autobiographischen Erzählen zugrunde liegt, die Fiktions-Praxis, die fiktionales Erzählen bestimmt. Beide Praktiken scheinen sich gegenseitig auszuschließen: »En principe, le statut illocutoire de la fiction et celui de l’autobiographie s’opposent, s’excluent absolument l’un de l’autre.«45 Die referentielle Praxis wird durch die Behauptungsregeln bzw. durch die Konversationsmaximen der Ehrlichkeit in Bezug auf das tatsächlich in der Welt Passierte, die Fiktions-Praxis wird durch Regeln wie das Realitätsprinzip und durch den make-believe-Zusammenhang in Bezug auf erfundene Geschichten bestimmt. Im Hinblick auf die Autofiktion stellt sich also die Frage: Ist es möglich und, wenn ja, wie, dass ein und derselbe Text durch zwei unterschiedliche, sich gegenseitig ausschließende Praktiken oder Pakte bestimmt wird, wie es Doubrovskys Definition von ›Autofiktion‹ als ›Fiktion realer Ereignisse‹ nahe zu legen scheint? Diese Frage kann differenziert beantwortet werden, indem man drei verschiedene Interpretationen des Konzepts ›Autofiktion‹ unterscheidet. Für jedes Konzept stellt sich dabei zudem die Frage nach seiner Bedeutung für die Grenzen zwischen Faktualität, Fiktionalität und Literarität. 3.1 Autofiktion als eine besondere Art autobiographischen Schreibens Doubrovsky gilt als Erfinder der Autofiktion, oder genauer: Ihm kommt das Privileg zu, als erster den Begriff ›Autofiktion‹ im Zusammenhang mit einem seiner Erzählwerke gebraucht zu haben. Bei näherer Betrachtung jedoch beschränken sich Doubrovskys Texte erzähllogisch relativ eindeutig auf autobiographisches Schreiben. Lecarme stellt fest, dass im Laufe der Zeit mit Werken wie Le livre brisé (1989) oder L’après-vivre (1994) die Duobrovskysche Autofiktion zur Autobiographie wird: »L’autofiction ne s’oppose plus à l’autobiographie, mais en devient, sinon un synonyme, du moins une variante ou une ruse [...].«46 Jedoch war bereits in Doubrovskys erster Autofiktion Fils (1977) das Fiktionale auf zwei Elemente reduziert: die paratextuelle Bezeichnung ›roman‹ und die Erzählweise, die einen Tag, in dessen Zentrum eine psychoanalytische Sitzung steht, als Rahmen für eine eher assoziative und nicht chronologisch geordnete Darstellung des Lebens von Doubrovsky benutzt. Doubrovsky selbst unterstreicht in einem sich auf Fils _____________ 45 46
Gasparini: Roman, S. 13. Lecarme: Autofiction, S. 227.
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beziehenden Artikel, dass die erzählte Geschichte sein wirkliches Leben darstellen soll und in keiner Weise fiktive Elemente enthält. Non seulement auteur et personnage ont la même identité, mais le narrateur également: dans ce texte, je, c’est encore moi. En bonne et scrupuleuse autobiographie, tous les faits et gestes du récit sont littéralement tirés de ma propre vie; lieux et dates ont été maniaquement vérifiés. La part d’invention dite romanesque se réduit à fournir le cadre et les circonstances d’une pseudo-journée, qui serve de fourre-tout à la mémoire.47
Im Gegensatz zu späteren Autofiktionen anderer Autoren betrifft Doubrovskys Fiktionalisierung, wenn man von einer solchen überhaupt reden kann, nicht die erzählten Ereignisse, sondern lediglich deren durch die Psychoanalyse inspiriertes Arrangement in der Erzählung. Mais qu’en est-il de la fiction [...]? Elle se réduit au travail du style et à la science des jeux de languages; elle ne déborde guère l’usage assez discret du déplacement et de la condensation, elle ne modifie pas essentiellement une expérience vécue dont le contenu n’a rien de fictif, et elle ne dissout pas cette matière vraiment première dans l’imaginaire.48
Was Doubrovsky als das fiktionale Element seines Buches ansieht, ist nichts anderes als dessen Konstruktion. Diese Konstruktion ist jedoch nicht wirklich fiktionsspezifisch: Die nicht-chronologische psychoanalytisch-assoziative Anordnung der Ereignisse erscheint zwar statistisch gesehen eher untypisch für autobiographisches Schreiben, ist jedoch erzähllogisch im Hinblick auf die Fiktion unproblematisch, so dass auch auf der von Doubrovsky als relevant angegebenen Fiktionsebene des Erzählens keine wirkliche Fiktionalisierung (z.B. durch eine faktual nicht mögliche Perspektive) stattfindet. Obwohl Doubrovsky davon überzeugt ist, dass seine Erzählweise bereits als eine Art Fiktionalisierung anzusehen ist, gesteht er immerhin, dass die Bezeichnung seines autobiographischen Werks als ›Roman‹ auch als eine Art Trick intendiert war: Den Satz des Vorwortes »Autobiographie? Non, c’est un privilège réservé aux importants de ce monde, au soir de leur vie, et dans un beau style« erläutert Doubrovsky in einem Artikel wie folgt: La fiction serait donc ici une ruse du récit; n’étant pas de par son mérite un des ayantsdroit de l’autobiographie, ›l’homme quelconque‹ que je suis doit, pour capter le lecteur rétif, lui refiler sa vie réelle sous les espèces plus prestigieuses d’une existence imaginaire.49
Die Fiktion ist dabei jedoch weniger eine List des Textes qua Erzählung als eine List des Textes qua Paratext – die Gattungsbezeichnung ›roman‹ – und damit eine List des Autors in der paratextuellen Kommunikation mit dem Leser. Die Bezeichnung ›roman‹ soll das Interesse des Lesers für eine _____________ 47 48 49
Doubrovsky: Autobiographie, S. 89. Lecarme: Nouvel, S. 46. Doubrovsky: Autobiographie, S. 90.
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Erzählung wecken, für die der Autor eigentlich kein Publikum erwartet, die er möglicherweise als nicht interessant genug empfindet, als dass es sich lohnen würde, sie zu erzählen und besonders sie zu lesen. Doubrovskys List wirft unweigerlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Autofiktion und Literatur auf. Je nachdem, wie man die Bezeichnung ›Roman‹ interpretiert, wird der Zusammenhang zwischen Doubrovskys Art der Autofiktion und dem Literarischen auf unterschiedliche Art und Weise hergestellt. ›Roman‹ kann zum einen die Einordnung des Textes in den Bereich des Fiktionalen bedeuten. So ist Marie Darrieussecq der Ansicht, dass Doubrovskys List eigentlich darin besteht, seine Texte durch die Zuordnung zur Fiktion nach den essentiellen Kriterien Genettes zur Literatur zu machen.50 Da Fiktion für Genette ein hinreichendes Merkmal für Literatur ist, werden Doubrovskys Texte durch ihre Einordnung in die Fiktion zur Literatur ohne Wenn und Aber. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Einordnung von Doubrovskys Fils in den Bereich der Literatur nach Genetteschen Kriterien eigentlich eher über die formalen Aspekte des Textes herzustellen wäre. Die besondere Konstruktion des Textes – die Ereignisse werden eher psychoanalytisch-assoziativ als kausal-chronologisch präsentiert – könnte durchaus als eine Form der Poetizität angesehen werden.51 Da Doubrovsky jedoch Konstruktion direkt mit Fiktionalität verbindet, benutzt er die Behauptung der Fiktionalisierung als ›Mittel‹ der Literarisierung. Die Bezeichnung ›Roman‹ kann aber in Doubrovskys Verwendung nicht nur ›Darstellung einer fiktiven Geschichte‹, sondern auch ›Erzählung einer besonders spannenden, faszinierende Geschichte‹ bedeuten. Es handelte sich also um den Versuch, die eigene Person durch die (vorgebliche) Fiktionalisierung dem Leser interessant zu machen, bzw. um den Versuch, den Rezipienten durch die Bezeichnung ›Roman‹ die Autobiographie eines unbedeutenden Mannes ›unterzujubeln‹. Mit Lamarque/Olsen könnte man sagen, dass hier durch die Bezeichnung ›Roman‹ behauptet wird, dass eine Geschichte von allgemein menschlichem Interesse erzählt werden soll. Auch in dieser Interpretation erscheint die paratextuelle Bezeichnung als Versuch, einen Text von zweifelhaftem Status (zumindest in den Augen des Autors) im Bereich der Literatur zu verorten, allerdings nicht über das Kriterium der Fiktionalität, sondern über das des menschlichen Interesses. Bemerkenswert ist, dass auch in dieser Sichtweise Doubrovsky zu einem inhaltlichen und nicht zu einem formalen Kriterium greift, um seinen Text zu literarisieren. _____________ 50 51
Vgl. Darieussecq: Autofiction, S. 372f. Vgl. die Aussage von Weitzmann über Doubrovsky: »Pour lui, il s’agissait moins de mentir sur les faits que de les ›lyriciser‹, si je puis dire.« (Weitzmann: Chaos, S. 78)
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Schließlich kann man die Bezeichnung ›Roman‹ für die Darstellung des wirklichen Lebens des Autors als einen Versuch verstehen, die ›Zensur‹ zu umgehen: »Que reste-t-il alors de la fiction, hormis une annonce générique à laquelle tous les lecteurs n’apportent pas nécessairement leur adhésion, mais qui permet de tourner beaucoups de censures?«52 Gemeint ist damit sowohl die ›äußere Zensur‹ durch die Anderen (Verwandte, Freunde und Bekannte des Autors), die sich möglicherweise nicht adäquat dargestellt sehen, wie auch die ›innere Zensur‹, die mehr oder weniger peinliche Taten oder Ansichten des eigenen Lebens zu unterdrücken sucht. Den Anderen soll durch die Zuordnung des Textes zur Fiktion der Wind aus den Segeln genommen werden mit dem Hinweis, dass gar kein Anspruch auf Darstellung wirklicher Personen vorhanden sei; dem Ich soll die Ummantelung des Geschilderten als Fiktion das Zurückschrecken vor peinlichen Geständnissen nehmen. Die Autofiktion wird damit zur entfesselten Autobiographie (»autobiographie déchaîné«).53 Auch in dieser Interpretation ist die Bezeichnung ›Roman‹ als List zu verstehen. Ein eigentlich unter den Bedingungen des autobiographischen Erzählens verfasster Text wird mit dem Fiktions-Pakt bemäntelt und es wird davon ausgegangen, dass sowohl der Produzent wie auch der Rezipient sich entsprechend verhalten, ersterer durch das Umgehen der Auto-Zensur, letztere durch Einklammerung der Denotation und der aus der konkreten Referenz möglicherweise entstehenden persönlichen und rechtlichen (Frage der Verletzung der Persönlichkeitsrechte) Konsequenzen.54
_____________ 52 53 54
Lecarme / Lecarme-Tabone: Autobiographie, S. 268. Ebd. Interessant ist in diesem Zusammenhang die kuriose Doubrovsky/Weitzmann-Kontroverse. Doubrovsky beklagte sich 1997 öffentlich darüber, dass sein Neffe Marc Weitzmann in dessen autofiktionalem Roman Chaos die Familiengeschichte der Doubrovsky/ Weitzmanns falsch darstelle und damit auch ihn selbst (Doubrovsky) in einem falschen Licht erscheinen ließe. Der treffende Kommentar hierzu in Le Monde des Livres (05.09. 1997): »Issus de la même famille, Serge Doubrovsky et Marc Weitzmann n’ont pas la même perception de ce que fut l’ancêtre Max, de la manière dont pères, mères, oncles et cousins vécurent la Shoah, ni de la ruse employée par un écrivain qui choisit l’autofiction. Personne ne pourra jamais juger si, comme l’affirme Serge Doubrovsky, les propos qui lui sont attribués sont ›déformés ou falsifiés‹ (quoique Marc Weitzmann revendique le droit de déformer la réalité pour la rendre plus lisible). Mais en accusant Weitzmann d’avoir signé une ›réécriture frauduleuse du Livre Brisé‹, Doubrovsky dénie à son jeune neveu le droit d’avoir sa propre interprétation des faits, le droit de se fabriquer à son tour un être fictif pour éloigner la nausée qui l’assaille, le droit de se débarasser de son propre chaos.« (Douin: Autofriction) Vgl. auch Hughes: Recycling.
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3.2 Autofiktion als eine besondere Art des fiktionalen Erzählens In der französischen Literaturwissenschaft wird inzwischen allgemein zwischen einer engen und einer weiten Definition von ›Autofiktion‹ unterschieden. Die weite Definition wird in der Regel mit dem Autor der ersten größeren, aber lange nicht veröffentlichten Arbeit über Autofiktion, Vincent Colonna, und mit Genette in Verbindung gebracht.55 Diese weite Definition geht davon aus, dass Autofiktion durch die Namensidentität von Autor und Figur zusammen mit einer Fiktionalität behauptenden Gattungsbezeichnung gekennzeichnet ist, insofern wäre die Autofiktion durch die Gleichung ›A ≠ N = F‹ bei gleichzeitig A = F beschrieben. Dieses zum Teil kontradiktorische Gleichungsset lässt sich in zwei Hinsichten auflösen. Genette ist der Ansicht, dass in dem Fall, wo ›A = F‹ eine tatsächliche Identität bedeuten soll, man eigentlich auf ›A = N = F‹ zurückfällt und die Autofiktion nichts anderes als eine »autobiographie honteuse« sei, eine ›uneingestandene‹ Autobiographie. Genette zieht es vor, die Autofiktion in den Bereich der Fiktion einzuordnen: Sie wird dann durch die Gleichung ›A ≠ N‹ bestimmt, und ›A = F‹ bezieht sich in diesem Falle nur auf die Identität der Namen von Autor und Figur. Die Tatsache, dass der Autor unter dem eigenen Namen in das fiktionale Universum seiner Erzählung eintritt, bedeutet dann nichts anderes, als dass im fiktionalen Universum der Erzählung eine fiktive Figur, die den Namen des Autors trägt (und möglicherweise ein paar Persönlichkeitsmerkmale mit ihm teilt), vorkommt.56 Besonders greifbar wird eine solche Interpretation der Autofiktion in Texten, deren Geschichten ans Phantastische grenzen. Als klassisches Beispiel hierfür gelten Erzählungen von Borges wie Das Aleph (eine Figur namens Borges bekommt die Gelegenheit ein Aleph zu betrachten, d.h. einen »Ort, an dem, ohne sich zu vermischen, alle Orte der Welt sind, aus allen Winkeln gesehen«),57 Der Zahir (eine Figur namens Borges wird von einem Zahir, einem Gegenstand an den man, hat man ihn einmal gesehen, unablässig denken muss, in den Wahnsinn getrieben) oder Der Andere (der 70-jährige Borges begegnet dem 19-jährigen Borges auf einer Bank die für den einen am Charles River in Boston für den andern an der Rhône in Genf steht). Als einer der ersten Texte dieser Art könnte Dantes Divina Commedia angesehen werden, auf die bezeichnenderweise in Das Aleph auf mehreren intertextuellen Ebenen Bezug genommen wird. In diesem Verständnis bedeutet ›Autofiktion‹ eine besondere Art fiktionaler Erzählung, in der eine der fiktiven Figuren den Namen des Au_____________ 55 56 57
Vgl. Colonna: Autofiction. Vgl. Genette: Fiction, S. 85-88. Borges: Aleph, S. 140.
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tors trägt. Es stellt sich natürlich dann die Frage, wie die Tatsache, dass der Autor einer der Figuren seiner fiktionalen Erzählung seinen Namen gibt, zu interpretieren ist. Im vorliegenden Zusammenhang ist Mansbrügges Interpretation der Texte von Borges als poetologische Erzählungen interessant.58 Mansbrügge geht davon aus, dass die Tatsache, dass die Hauptfiguren in Das Aleph und Der Zahir den Namen des Autors tragen, dadurch erklärt werden kann, dass es sich in beiden Fällen um poetologische Äußerungen von Borges über das Schreiben allgemein und sein Schreiben im Besonderen handele. Beide Texte führten Formen der schriftstellerischen Obsession vor: Das Aleph das Phantasma des Schriftstellers der unendlichen Produktivität bzw. der Inkorporation der ganzen Welt in sein Werk, Der Zahir im Gegensatz dazu die obsessive Konzentration auf das Detail. Beide schriftstellerischen Haltungen werden in gewisser Weise als legitimes Ziel dargestellt, das aber, in extremis verfolgt, zugleich zu einer Autor und Werk zerstörenden Obsession wird. Auch diese Form des autofiktionalen Erzählens betrifft damit in gewisser Weise die Grenzen der Literatur. Es geht dabei allerdings weniger um die Grenzen zwischen Literatur und Nicht-Literatur, sondern um die Grenzen zwischen den literarischen Gattungen. Die poetologischen Äußerungen, deren angestammte Gattung der faktuale Essay ist, wird in die fiktionale Erzählung verlagert. Diese Verbindung zwischen poetologischem Essay und autofiktionalem Erzählen lässt sich auch in anderen Texten beobachten. Louis Aragon verbindet in seiner Erzählung Le mentir-vrai (auto)fiktional erzählende Abschnitte, die Ereignisse aus seiner Kindheit thematisieren, abwechselnd mit poetologisch-essaystischen Passagen, wobei fiktionales Erzählen und poetologische Essays sich gegenseitig beleuchten. Roland Barthes par Roland Barthes wird vom Autor als eine Gattungsmischung beschrieben, als ein Essay, der quasi zum Roman wird, allerdings zu einem Roman ohne Namen:59 La substance du livre, finalement, est donc totalement romanesque. L’intrusion, dans le discours de l’essai, d’une troisième personne qui ne renvoie cependant à aucune créature fictive, marque la nécessité de remodeler les genres: que l’essai s’avoue presque un roman: un roman sans noms propres.60
_____________ 58 59
60
Vgl. Mansbrügge: Aleph. Barthes’ Text wird in der Regel als Vorläufer autofiktionalen Erzählens angesehen. Er besteht im ersten Teil aus Photographien, im zweiten aus einer mehr oder weniger alphabetisch geordneten Abfolge von vorwiegend essayistischen Texten, die jedoch auch Erinnerungen enthalten. Dem Text vorangestellt ist die paratextuelle, in Barthes’ Handschrift gedruckte Anweisung, das Ganze als von einer Romanfigur verfasst zu lesen: »Tout ceci doit être considéré comme dit par un personnage de roman.« Barthes: Barthes, S. 110.
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Erwähnt sei, dass auch unabhängig von dieser spezifischen Mischung von poetologischem Essay und fiktionalem Erzählen sich in fast allen autofiktionalen Texten eine mehr oder weniger starke poetologische Komponente ausmachen lässt. Stein z.B. lässt Toklas ihre (Steins) literarische Vorgehensweise beschreiben und scheint damit gleichzeitig eine Begründung für die spezifische Erzählsituation von The Autobiography of Alice B. Toklas zu liefern,61 Max Frischs Montauk ist durchsetzt von Reflexionen über das Schreiben des Autors, und sogar Marguerite Duras’ L’amant, ein Text, der ohne explizit poetologische Passagen auskommt, kann als Darstellung der Entwicklung der Protagonistin zur Schriftstellerin und damit als Begründung ihres Schreibens (sowohl des Dass wie auch des Wie) gelesen werden. 3.3 Autofiktion als Kombination von autobiographischem Pakt und Fiktions-Pakt Auch wenn bereits Autofiktionen, die entweder als Form des autobiographischen Schreibens oder als Spielart des fiktionalen Erzählens gesehen und gehandhabt werden, zu Grenzüberschreitungen zwischen Faktualität, Fiktionalität und Literarität führen, so geht die größere Verunsicherung von Konzepten und Texten aus, bei denen eine eindeutige Zuordnung zum Faktualen oder Fiktionalen fragwürdig wird. Theoretische Konzepte von Autofiktion werden ebenso wie konkrete Texte dann besonders interessant, wenn sie sich nicht mehr auf die eine oder andere Art des Erzählens und des Sprachgebrauchs festlegen lassen. Darrieusecq definiert deshalb ›Autofiktion‹ wie folgt: [...] l’autofiction est un récit à la première personne, se donnant pour fictif (souvent, on trouvera la mention roman sur la couverture), mais où l’auteur apparaît homodiégétiquement sous son nom propre, et où la vraisemblance est un enjeu maintenu par de multiples ›effets de vie‹.62
Wichtig ist Darrieusecq in ihrer Definition, dass der autofiktionale Text sich sowohl als referentiell wie auch als fiktional zu erkennen gibt (»l’autofiction _____________ 61
62
Vgl. z.B. den Absatz: »Gertrud Stein, in her work, had always been possessed by the intellectual passion for exactitude in the description of inner and outer reality. She has produced a simplification by this concentration, and as a result the destruction of associational emotion in poetry and prose. She knows that beauty, music, decoration, the result of emotion should never be the cause, even events should not be the cause of emotion nor should they be the material of poetry and prose. Nor should emotion itself be the cause of poetry and prose. They should consist of an exact reproduction of either an outer or an inner reality.« (Stein: Autobiography, S. 228) Darrieusecq: Autofiction, S. 369f.
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demande à être crue et demande à être non crue; ou pour le dire encore une fois autrement, l’autofiction est une assertion qui se dit feinte et qui dans le même temps se dit sérieuse«)63 bzw. dass dem Leser sowohl der autobiographische Pakt wie auch der Fiktionspakt angeboten werden, ohne dass er die Möglichkeit an die Hand bekommt, den Text ganz oder teilweise nach einem der beiden Pakte aufzulösen (»se présentant à la fois comme roman à la première personne et comme autobiographie, l’autofiction ne permet par au lecteur de disposer des clés pour différencier l’énoncé de réalité de l’énoncé de fiction«).64 Darrieusecqs Ausgangsdefinition ist sicherlich in mehreren Punkten zu wenig differenziert. So gibt es zum einen andere Möglichkeiten der Identifikation des Autors mit einer Figur der erzählten Geschichte als die Namensgleichheit, z.B. über die vorherigen Werke, und zum anderen Möglichkeiten der Fiktionalisierung jenseits des Paratextes, z.B. durch die Integration fiktiver Elemente auf der Ebene der Geschichte oder die Verwendung der dritten Person anstatt der ersten. Allerdings ist die Zielrichtung der Definition klar: Das pragmatische Paradoxon des »C’est moi et ce n’est pas moi« soll erhalten bleiben.65 Eine Erzählung, die ins Unwahrscheinliche oder gar Phantastische gleitet, ist für Darrieusecq keine Autofiktion mehr, weil sie dem Leser die Unsicherheit darüber, was fiktiv und was wirklich ist, nimmt.66 Der autofiktionale Text ist somit immer mit Ambiguität behaftet. Betrachtet man Darrieusecqs Definition und verschiedene Texte, auf welche die Definition zutrifft, im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Grenzen der Literatur, stellt sich die Frage nach den potentiellen Funktionen autofiktionalen Erzählens. Darrieusecq geht davon aus, dass es die Funktion der Autofiktion sei, vorhandene literarische Praktiken in Frage zu stellen. Diese Infragestellung kann unterschiedlich interpretiert werden. Im Sinne einer postmodernen Kritik der Referentialität, der zufolge Referenz als Illusion und Sprache ausschließlich als endlose Semiose von Signifikanten ohne Signifikat angesehen wird, könnte Autofiktion als die literarische Darstellung oder Verdeutlichung der Auflösung der Grenze zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen oder als die literarische Inszenierung der grundsätzlichen Fiktionalität des Realen verstanden werden. So behauptet Paul de Man, dass letztlich zwischen autobiographischem und fiktionalem Erzählen nicht unterschieden werden kann: »It appears [...] that the distinction between fiction and autobiography is not an either/or polarity, but _____________ 63 64 65 66
Ebd., S. 377. Ebd. Genette: Fiction, S. 97. Vgl. Darrieusecq: Autofiction, S. 378.
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that it is undecidable.«67 Eine solche Interpretation widerspricht jedoch der Definition von Darrieusecq und meiner Ansicht nach auch der Leseerfahrung. Das Besondere der Autofiktion in Darieusecqs Verständnis besteht darin, dass der sprachhandlungslogische Widerspruch zwischen referentiellem Pakt und Fiktionspakt erhalten bleibt. Geht man jedoch davon aus, dass es durch die Autofiktion zu einer gänzlichen Fiktionalisierung der (Wirklichkeits-)Darstellung käme, würde damit der referentielle Pakt aufgegeben und zurück bliebe nur die reine Fiktion. Ich möchte einen weiteren Punkt hinzufügen, der zugegebenermaßen auf meiner persönlichen Leseerfahrung beruht. Es erscheint mir kaum möglich, einen Text durchgehend sowohl nach dem referentiellen Pakt wie auch nach dem Fiktions-Pakt zu lesen. Ich denke vielmehr, dass das vom autofiktionalen Text inszenierte Spiel darin besteht, dass der Leser von einem Pakt zum andern wechselt und dies mehrmals im Laufe der Lektüre. Die dabei möglicherweise entstehende Verwirrung ist nicht eine Vermischung zwischen referentiellem Pakt und Fiktions-Pakt, sondern nur die Verwirrung, dass der Text weder nach den Leseinstruktionen des Referenz-Paktes noch nach denen des Fiktions-Paktes eindeutig aufzulösen ist. Damit jedoch bleibt die Unterschiedlichkeit der beiden Pakte gewahrt, man könnte sogar sagen, dass der Leser gerade durch das Hin und Her zwischen dem einen und dem anderen auf die Spezifik der beiden Pakte aufmerksam gemacht wird. Es mag dem Leser am Ende nicht gelingen, bis ins Letzte sagen zu können, welche Elemente des Textes auf wirklichem Erleben beruhen und welche als fiktiv anzusehen sind, die grundsätzliche Unterscheidung zwischen der Praxis des faktualen und der des fiktionalen Erzählens bleibt davon unberührt. Autofiktion ist bei genauerer Betrachtung also nicht dazu geeignet, die Entgrenzung des Fiktionsbegriffs und damit die Entgrenzung eines auf Fiktion beruhenden Literaturbegriffs zu befördern oder auch nur zu illustrieren. Eine andere Interpretation der Infragestellung vorhandener Praktiken bezieht sich vornehmlich auf den Bereich des autobiographischen Schreibens. In vielen autofiktionalen Texten werden klassische Probleme des autobiographischen Schreibens thematisiert. Das prominenteste dieser Probleme betrifft die Erinnerung. Unzuverlässigkeit und die Lückenhaftigkeit des Gedächtnisses sind Probleme, die in der rein autobiographischen Literatur fast immer eine Rolle spielen und thematisiert werden. Die klassische autobiographische Erzähl-Situation – in einer fortgeschrittenen Lebensphase versucht ein/e Autor/in sein/ihr Leben seit der Kindheit zu erzählen – führt quasi automatisch zu Fragen nach der Verlässlichkeit der Erinnerung besonders im Hinblick auf die frühen Lebensphasen. In der Regel werden diese Reflexionen über das Gedächtnis in autofiktionalen Texten _____________ 67
De Man: Autobiography, S. 921.
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in mehrerer Hinsicht verschärft. Thematisiert wird nicht nur, dass Erinnerungen unzutreffend oder lückenhaft sein können. Es wird zudem in mehr oder weniger durch die Psychoanalyse inspirierten Überlegungen darüber spekuliert, ob der/die Autor/in seine/ihre Erinnerungen bewusst oder unbewusst erfindet. So legt Duras im Nachhinein und quasi willkürlich fest, welche Schuhe sie am Tag der Begegnung mit dem chinesischen Liebhaber getragen hat: »Ce jour là je dois porter cette fameuse paire de talons hauts en lamé or. Je ne vois rien d’autre que je pourrais porter ce jour-là, alors je les porte.«68 Alain Robbe-Grillet reflektiert schon ab der ersten Seite seines Textes über die Erfindungen seines Gedächtnisses: Mais les souvenirs personnels qu’il me semble parfois avoir gardés de ces brèves entrevues [...] ont très bien pu avoir été forgés après coup par ma mémoire – mensongère et travailleuse – sinon de toutes pièces, du moins à partir seulement des récits décousus qui circulaient à voix basse dans la famille, ou aux alentours de la vieille maison.69
Diese Reflexionen gewinnen im Laufe der Lektüre dadurch an Schärfe, dass der Leser darüber im Dunkeln gelassen wird, ob es sich bei Henri de Corinthe, um den es hier geht, um eine reale Person oder um eine fiktive Figur handelt. Zugespitzt wird mit diesen Aussagen und Reflexionen die Frage, inwieweit der vielen Autobiographien zugrunde liegende Prozess der Selbstfindung besser als ein Prozess der Selbsterfindung zu beschreiben wäre. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass fast alle autofiktionalen Texte durch eine profunde Skepsis, wenn nicht durch eine radikale Ablehnung des Konzepts der Selbstfindung und deren Darstellung geprägt sind. Abgelehnt wird die retrospektive Darstellung eines Lebens als sinnerfülltes Ganzes, weil das Konzept eines das Leben zusammenhaltenden Sinns als nicht mehr tragfähig oder sogar als gefährliche Illusion angesehen wird.70 Zum Tragen kommt dabei auch die grundsätzliche (post)moderne Kritik am Konzept eines homogenen, kohärenten, autonomen, selbstbewussten und sich selbst transparenten Subjekts. Als eindeutiges Zeichen eines Gefühls der Opazität, der Diskontinuität und der Sinnentleertheit des Ich kann die oft unchronologisch assoziative Erzählweise und die damit einhergehende Fragmentierung sowohl des Textes wie auch der Darstellung der Lebensgeschichte gesehen werden: »Écrire par fragments: les frag_____________ 68 69 70
Duras: L’amant, S. 19. Robbe-Grillet: Miroir, S. 7f. Vgl. z.B. den Anfang von Angélique ou l’enchantement, dem zweiten Teil von RobbeGrillets autofiktionaler Trilogie Romanesques: »Aussi ne saurais-je partager l’avis de Philippe Lejeune concernant la mise en texte des souvenirs. ›L’exigence de signification est le principe positif et premier, dit-il, de la quête autobiographique.‹ Non, non! Certainement pas! Cet axiome n’est pas valable [...] pour ma propre entreprise actuelle.« (Robbe-Grillet: Angélique, S. 67)
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ments sont alors des pierres sur le pourtour du cercle: je m’étale en rond: tout mon petit univers en miettes; au centre, quoi?«71 Die von Barthes wohl angedeutete Unbeantwortbarkeit der rhetorischen Frage nach der Mitte, um die seine Fragmente kreisen, soll wohl die postmoderne Auflösung des Subjekts oder die Entlarvung des Subjekts als Spracheffekt (»le sujet n’est qu’un effet de language«) verdeutlichen.72 Allerdings übertrifft Barthes andere Autoren autofiktionaler Texte an Reflexionskraft, wenn er auch den Glauben an die Möglichkeit der Auflösung des Subjekts durch seine fragmentierte Darstellung und damit den Glauben an den ausschließlich fiktionalen Charakter der Selbstdarstellung als Illusion entlarvt. J’ai l’illusion de croire qu’en brisant mon discours. je cesse de discourir imaginairement sur moi-même, j’atténue le risque de transcendance; mais comme le fragment […] est finalement un genre rhétorique et que la rhétorique est cette couche-là du langage qui s’offre le mieux à l’interprétation, en croyant me disperser, je ne fais que regagner sagement le lit de l’imaginaire.73
In der Tat ist zu fragen, ob in Texten wie z.B. Robbe-Grillets Le miroir qui revient, der in fragmentierter Form einen durchaus umfassenden Bericht seiner Kindheit und Jugend liefert, sich nicht gegen die explizite Absicht des Autors aus den Fragmenten ein kohärentes, sinnerfülltes Bild einer Lebensgeschichte ergibt. Zu fragen wäre dann wiederum, ob der Autor seine im Text explizierten Absichten bewusst oder unbewusst durch den Text konterkarieren lässt. Festhalten kann man, dass in autofiktionalen Texten in der Regel eine Infragestellung des traditionellen autobiographischen Diskurses und seiner subjekttheoretischen Voraussetzungen erfolgt. Die Integration von fiktionalen Elementen, sei es auf der Ebene der Geschichte oder auf der Ebene der Erzählung, scheint die Unsicherheit des referentiellen Diskurses im Hinblick auf die Vergangenheit unterstreichen zu wollen. An der Oberfläche scheint es so, als ob der mit dem autobiographischen Diskurs verbundene referentielle Pakt damit mehr oder weniger grundsätzlich infrage gestellt würde. Allerdings bemerkt bereits Lejeune, dass die Frage des autobiographischen Paktes (als Ausformulierung bestimmter Regeln einer sprachlichen Praxis) unabhängig ist von der Fragestellung, ob in der Autobiographie das gelebte Leben den Text bestimmt oder der Text das Leben.74 Ähnlich wie in dem in 3.1 diskutierten Fall Doubrovskys führt auch hier die Fiktionalisierung nur dann zu einer Literarisierung, wenn Fiktion als hinreichendes Kriterium für Literatur angesehen wird, während die zuweilen als Fik_____________ 71 72 73 74
Barthes: Barthes, S. 89. Ebd., S. 77. Ebd., S. 90. Vgl. Lejeune: Moi, S. 29-30.
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tionalisierung angesprochene, aber letztlich unabhängig vom Fiktions-Pakt entstehende Fragmentierung der Texte im Sinne einer Poetisierung als Literarisierung angesehen werden könnte. Eine in gewisser Weise ebenfalls mit der Zersplitterung des Subjekts verbundene, aber weniger radikale und recht spekulative Funktionszuschreibung der Autofiktion führt stärker in den Bereich des Persönlichen. Die kanadische Literaturwissenschaftlerin und Soziologin Régine Robin gibt zu bedenken, dass ein beträchtlicher Teil der Autoren autofiktionaler Texte einen jüdischen Hintergrund haben.75 Auch wenn Robin einräumt, dass weder die Autofiktion spezifisch für die Darstellung jüdischer Identität noch jüdische Identität spezifisch für autofiktionale Texte ist, scheint sie doch nahe legen zu wollen, dass die Gegensätzlichkeiten jüdischer Identität ihren adäquaten Ausdruck in der Gegensätzlichkeit der Pakte in autofiktionalen Texten finden (können). Der französische Autor Marc Weitzmann hebt in einer Passage poetologischer Reflexion seines autofiktionalen Textes Chaos nicht nur die auffällig hohe Zahl jüdischer Autoren hervor, sondern auch die Beliebtheit der Autofiktion bei homosexuellen Autoren (von denen Hervé Guibert und Christophe Donner die in Frankreich prominentesten sind).76 So legt Weitzmann den Robins Bemerkung verallgemeinernden Schluss nahe, dass die Autofiktion wegen ihrer grenzüberschreitenden Qualität allgemein zur Darstellung von ›grenzüberschreitenden‹ Lebensgeschichten besonders geeignet sei. Einer solchen Funktions-Interpretation können Überlegungen, die die Ambiguität der Autofiktion mit dem Konzept der Exemplifikation in Verbindung bringen, entgegengestellt werden. Trotz der theoretischen Unabhängigkeit zwischen Fiktion und Exemplifikation, wird in der Praxis oft davon ausgegangen, dass fiktionale Texte eher in exemplifizierender Weise, d.h. durch Erfassen eines Allgemeinen im Besonderen, und faktuale Texte eher in denotativer Weise, d.h. im Falle des autobiographischen Schreibens als Nachvollzug einer individuellen Lebensgeschichte, rezipiert werden. Zwar ist es grundsätzlich möglich, faktuale Texte exemplifizierend zu rezipieren, manche Autoren, wie z.B. Anderegg, sind jedoch der Meinung, dass eine solche Rezeption dem Vorwurf ausgesetzt ist, das Einzelschicksal nicht wirklich ernst zu nehmen: »Das Wirkliche pflegt sich als solches der Verwandlung in symbolische Zeichenhaftigkeit zu widersetzen.«77 So könnte das Angebot von zwei widersprüchlichen Pakten zu einer komplexen Rezeptionshaltung einladen: auf der einen Seite die Individualität des Einzelschicksals wahrzunehmen und zu respektieren, auf der anderen die _____________ 75 76 77
Vgl. Robin: Golem, S. 32-33. Vgl. Weitzmann: Chaos, S. 77f. Anderegg: Sprache, S. 117f.
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Scheu vor einer exemplifizierenden Lektüre des Individuellen zu verlieren. Duras scheint diese doppelte Rezeption in L’amant u.a. dadurch zu unterstützen, dass sie manche Episoden in der dritten Person erzählt und dabei zudem anstatt des Possessivpronomens den bestimmten Artikel verwendet (z.B. la mère anstatt ma mère oder sa mère). Durch die Verwendung des bestimmten Artikels scheint die Geschichte ins Allgemeine transferiert zu werden.78 In diesem Sinne der Ermutigung zur exemplifizierenden Lektüre fände durch die Autofiktion eine Literarisierung des Individuellen statt. Eine andere im Hinblick auf die Grenzen zwischen Faktualitiät, Fiktionalität und Literarität interessante Interpretation von Autofiktion ist, dass mit der Integration fiktionaler Elemente in die Lebensgeschichte bzw. mit dem gleichzeitigen Angebot von referentiellem und Fiktions-Pakt eine Art Überwindung der Grenze zwischen literarischem Werk und Autor-Biographie, und damit zwischen Kunst und Leben inszeniert werden soll. So unterschiedliche Autoren wie Duras oder Raymond Federman treffen sich in dem Verfahren, in verschiedenen Texten dieselben Ereignisse mit denselben Figuren in unterschiedlichen Versionen zu erzählen. Damit scheinen sie für den Leser die Grenze zwischen der von ihnen gelebten und der von ihnen erfundenen Welt verwischen zu wollen. Auch Robbe-Grillet inszeniert ein Verwischen der Grenzen zwischen Lebenswelt und Werkwelt, allerdings indem er innerhalb seiner Autofiktion sein ganzes Werk für autobiographisch erklärt. Er stellt den Satz »Je n’ai jamais parlé d’autre chose que de moi« an den Beginn seines Textes und verdeutlicht im Laufe des Textes, welche lebensgeschichtlichen Details (Orte, Personen, Situationen) in welcher Form in seine Romane Eingang gefunden haben.79 In ähnlicher Art und Weise hatte bereits Aragon in seiner Erzählung Le mentir-vrai deutlich gemacht, wie er Elemente seines Lebens durch kleine Veränderungen in Literatur verwandelt. Robbe-Grillet liefert zudem eine theoretische Rechtfertigung seines Tuns: Einige Schlüsselkonzepte der modernen französischen Literaturwissenschaft wie die Verabschiedung des Autors, das Verständnis des Textes als kombinatorisches Spiel und die Depersonalisierung der Textintention, Konzepte, die Robbe-Grillet selber vertreten hatte, werden nun als Albernheiten bezeichnet und sollen als verblasste Ideologien überwunden werden.80 Es erfolgt also eine Rückbindung des literarischen Textes an die Lebenswelt des Autors und damit eine Zurücknahme der Kon_____________ 78 79 80
Ob sich dieser Effekt auch in Max Frischs Montauk einstellt gegen die explizite Intention des Autors, in diesem Werk nicht ins Allgemeine auszuweichen, wäre zu diskutieren. Der Satz erscheint erst auf der vierten Textseite (Robe-Grillet: Miroir, S. 10), ist aber der Anfangssatz der ersten Version des Textes, wie dem Leser am Beginn des veröffentlichten Textes mitgeteilt wird, vgl. ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 10f.
Autofiktion
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zeption des Werkes als autonomes, vom Leben des Autors abgetrenntes Kunstobjekt. In ähnlicher Weise interpretiert Adams die autofiktionalen Texte von Ronald Sukenick.81 Der Leser werde durch die Mischung von fiktiven und realen Elementen dazu gezwungen, die Gültigkeit der traditionellen Trennung zwischen Kunst und Leben in Frage zu stellen. Autofiktion würde in diesem Fall in besonderer Weise die Frage nach den Grenzen der Literatur und der Kunst thematisieren. 4. Schlussbemerkung Das Charakteristikum der Autofiktion ist die Verbindung von zwei sich eigentlich gegenseitig ausschließenden Praktiken: die referentielle Praxis und die Fiktions-Praxis. Die verschiedenen Formen der mehr oder weniger paradoxen Verknüpfung des referentiellen Paktes mit dem Fiktions-Pakt werfen in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlicher Intensität Fragen der Grenzen der Literatur auf. Die Grenzen zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen werden in letzter Konsequenz eher verdeutlicht als verwischt. Die Gattungsgrenzen zwischen poetologischem Essay und fiktionaler Erzählung werden in Frage gestellt. Das Verhältnis von Fiktionalität und Literarität wird in all seinen Variationen thematisiert: von der literaturtheoretischen Frage, inwiefern Literarität durch Fiktionalität bestimmt werden kann, über die Frage des Verhältnisses zwischen Fiktionalität und Poetizität bis hin zu rechtlichen Problemen zwischen der ›Freiheit‹ der Fiktion und den Persönlichkeitsrechten der Dargestellten. Berührt werden auch die Grenzen zwischen exemplifizierender und Individualität respektierender Rezeption. Schließlich wird die Frage des Verständnisses von Literatur im persönlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang und damit die Frage der Grenze zwischen Kunst und Leben gestellt. Bibliographie Adams, Timothy Dow: Obscuring the Muse. The Mock-Autobiographies of Ronald Sukenick. In: Critique. Studies in Modern Fiction 20/1 (1978), S. 27-39. Anderegg, Johannes: Sprache und Verwandlung. Zur literarischen Ästhetik. Göttingen 1985. Aragon, Louis: Le mentir-vrai. Paris 1964. Barthes, Roland: Roland Barthes par Roland Barthes. Paris 1975. Böning, Thomas: Dichtung und Wahrheit. Fiktionalisierung des Faktischen und Faktizierung der Fiktion. Anmerkungen zur Autobiographie. In: Gerhard Neumann / Sigrid Wei-
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MARGRIT SCHREIER
Belief Change through Fiction: How Fictional Narratives Affect Real Readers
1. Introduction: Literary Texts and Their Readers What if you woke up one morning, finding yourself surrounded by strangers, without a clue to your name and your identity, but snippets from all the books you have ever read floating through your mind? How would you go about reconstructing and piecing together your memories and yourself, the essence of what constitutes you as a person – and can all those books you read in your previous life help you achieve this? This is the concern at the centre of Umberto Eco’s recent novel The mysterious flame of Queen Loana, and it illustrates in more than one way how literary texts can transcend the boundaries that have traditionally been associated with the concept of literature:1 within the fictional world, it turns out that books are indeed an integral part of the identity of Yambo, the main protagonist, and books serve as the clues that gradually lead him back to a sense of self. Outside the fictional and within our everyday world, readers may begin to wonder about the nature of memory and identity and how it is that we know that our memories are indeed our own – and not something we have read or heard from someone else. Traditionally, the study of literature has focused on the literary work as such, within the nexus of other literary works. Especially within the hermeneutic tradition, an essentialist conceptualization of the literary text has been predominant: the text is assumed to exist on its own, independent of its readers, and to carry certain meanings which can be uncovered by an appropriate exegesis of the text.2 Against the background of an essentialist concept of the literary text, readers’ reactions to such texts fall into two _____________ 1 2
Eco: Loana. Groeben / Schreier: Literature.
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Margrit Schreier
categories: they are either right, by realizing what is already inscribed in the text, or they are wrong. If they are right, they are of no additional interest by comparison to the text itself. If they are wrong, they are of no interest precisely because they fail to do justice to the text. Within this framework, the question of the effects of a literary text upon its readers is basically a question of aesthetics. Yet reports have always existed of effects which, like Yambo piecing together his past from Tom Sawyer, A la recherche du temps perdu, and many other books, extend well beyond the realm of the aesthetic. Goethe’s Werther, for instance, is reputed to have incited quite a number of young men to commit suicide, and Harriet Beecher-Stowe’s Uncle Tom’s Cabin has even been claimed to have contributed to the outbreak of the US Civil War between the North and the South.3 The study of how readers process literary texts, what meanings they attribute to them and the effects these texts subsequently have on their readers has been approached from a different tradition which starts out not from an essentialist, but from a functionalist notion of the text.4 This tradition has its roots in conceptualizations of the literary text in reception aesthetics and semiotics on the one hand and in constructivist theories of thinking and cognition, including text processing, on the other hand. In both reception aesthetics and semiotics the literary text has been conceived of, in contrast to pragmatic texts, as quintessentially open and potentially polyvalent, allowing not for one, but a number of different meanings.5 It is thus ultimately the reader who fills these open slots and thus in the process of reading brings the literary work into existence. While Iser’s implied reader is still very much inscribed into and thus constrained by the text,6 Schmidt takes up and extends this notion of the open into a functional concept of the literary text. In fact he no longer speaks of the text, but of a Kommunikat, a kind of template that is provided by the polyvalent literary work which is completed and realized as a text only in the act of reception.7 Starting from the same ›template‹, i.e. the same literary text, different readers may generate different realizations, and even the same reader may read a text differently, depending on the reading situation. The final text as the result of an individual reception process is thus conceptualized as a function of the specific reader and the reading situation (and, of course, of the text itself). _____________ 3 4 5 6 7
Green / Brock: Persuasiveness, pp. 117f. For this and the following, see Groeben: Literaturwissenschaft; Meutsch / Viehoff: Comprehensions; Schmidt: Grundriß; Steen / Schram: Study. On the polyvalence convention, see Groeben / Schreier: Hypothesis. Iser: Leser. Schmidt: Grundriß.
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These assumptions concerning a functional concept of the literary text converge with the results of research on the processing of non-literary, pragmatic texts. It is one of the most robust results in psycholinguistics and cognitive psychology that the meaning that a reader assigns to a text is a function both of textual and of reader characteristics.8 In text reception, bottom up-processes starting out from textual characteristics converge with top down-processes drawing upon cognitive schemata and prior knowledge on the reader’s side.9 Text reception is thus not a process whereby a text carries, so to speak, a specific meaning that is then recognized by the reader and extracted from the text, but the reader actively constructs meaning, and in this process reader and textual characteristics interact. This interactionist and constructivist notion of text processing has been shown to apply not only to the reception of pragmatic texts where it originates, but even more to the processing of literary texts which has been demonstrated to require and involve even more and at times different cognitive inferences than the processing of pragmatic texts.10 It is a particular type of text-reader-interaction and its subsequent effects that will be at the centre of this contribution: the ways in which literary texts can change readers’ beliefs about the world and thus extend the boundaries of the literary. In this, the focus will be on fictionality as a central characteristic of the literary (without, however, going into the relation between the two).11 To start with, a pragmatic approach to conceptualizing fiction will be outlined that is based on a functional concept of the literary text as it is described above. The main part of this contribution will provide an overview of some pertinent studies and findings concerning belief change through fiction, drawing also upon our own research. 2. Extending the Functional Concept of Literary Texts: The Pragmatic Conceptualization of Fiction From an essentialist point of view, there has been a strong concern with defining fictionality as a textual characteristic and with clearly distinguishing fiction and non fiction on conceptual grounds.12 A first tradition that starts out from an essentialist notion has been concerned with defining fiction in terms of formal textual characteristics, such as the epic form of _____________ 8 9 10 11 12
Christmann / Groeben: Psychologie. Van Dijk / Kintsch: Strategies. Christmann / Schreier: Kognitionspsychologie. Hoops: Fiktionalität. For an overview, cf. Nickel-Bacon / Groeben / Schreier: Fiktionssignale.
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the past tense,13 the difference between author and narrator,14 or the poeticity of the language.15 While these are certainly typical of fictional texts, they are neither necessary nor sufficient characteristics of fictionality.16 Poetic language by itself does not yet make a text a work of fiction, and a fictional text may well be written in an everyday type of language. As a consequence, Anderegg for instance has suggested that language in fiction be more appropriately conceptualized as a »world of transition«, comprising the entire range from the everyday to highly poetic types of language.17 A second (also essentialist) tradition has drawn upon the apparent lack of external referents of entities and settings in fictional texts. Against this background, fiction has been considered an ›as if‹ type of discourse, references to protagonists and settings as »empty labels«.18 Yet once again, such fictitious elements can be considered typical, but neither necessary nor sufficient characteristics of fiction. Although fictional texts will usually contain many fictitious elements, they will also make reference to many factual places and protagonists (Milan, for instance, the home town of Yambo, the main protagonist of Eco’s The Mysterious Flame of Queen Loana, most certainly has an existence outside the novel). Moreover, fictitious content is by no means restricted to fictional texts.19 A third, pragmatic approach to defining fictionality extends the functional notion of the literary text to the conceptualization of fiction by abandoning the assumption that fictionality constitutes a textual quality.20 Instead, fictionality is considered a characteristic that is ascribed to a text as a result of operations of fictionalization carried out by the authors and the readers of these texts alike according to certain conventions.21 Schmidt, for instance, distinguishes between an everyday type of communication system where the fact and the monovalence conventions obtain on the one hand and a literary-aesthetic communication system that is governed by the aesthetic and the polyvalence conventions on the other hand.22 _____________ 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
Hamburger: Logik. Cohn: Signposts; Stierle: Rezeption. Petersen: Fiktionalität; Schlaffer: Poesie. Searle: Status. Anderegg: Das Fiktionale, p. 172. Thürnau: Versionen; see also Gabriel: Fiktion; on the ontic status of fiction, Pavel: Worlds, ch. 2. Barsch: Fiktion/Fiktionalität. See for instance Eco: Walks; Hoops: Fiktionalität; Landwehr: Text; Schmidt: Fiktionalität; Schmidt: Grundriß. Iser: Das Fiktive; Rusch: Fiktionalisierung; Searle: Status. Schmidt: Grundriß. Where Schmidt uses the terminology of ›convention‹, Eco speaks of a ›contract‹ between author and reader (Eco: Walks), and Landwehr refers to the
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Utterances in an everyday context or texts produced in such a context (such as the menu in a restaurant, news items in the paper, or the departure times at the train station) are expected to have primarily one meaning (monovalence convention) and to be correct, at least as far as the speaker / author is aware of (fact convention). That especially the fact convention does indeed govern our interactions in an everyday context becomes apparent when the convention is flaunted, for instance by printing incorrect news items in the paper or wilfully displaying departure times of trains that do not in the least correspond to the actual departure times. In such cases, sanctions will usually follow. With a novel, on the other hand, these conventions are clearly not in place. In a literary-aesthetic communicative context, meaning is not expressed explicitly and in so many words; on the contrary, as outlined above, different readers may well find different meanings in the same text, or the same reader may discover different meanings in a renewed reading.23 At the same time (and this is really a consequence arising from the polyvalence convention being in place), truth is not a relevant criterion in evaluating texts produced within the literary system. If a novel contains fictitious elements, if the events described have never taken place, no sanctions will follow, but according to the aesthetic convention this is only to be expected. But if the text turns out to be not sufficiently appealing in aesthetic terms, or boring, this may well be followed by sanctions, for instance in terms of bad reviews, low sales figures, and problems for the author in securing another book contract. Within this conceptualization, it is the fact convention that leads us back to the issue of fiction and fictionality. How is it, though, that readers know in which communication system to operate, that operations of fictionalization, not factualization, are called for in the reception process? It is probably first and foremost paratextual information that functions as an orienting signal here:24 the information about the book and its author on the jacket or on the back cover, references to the genre (which are also indicated by the section of the bookstore where the book is placed), the author’s cautionary note alerting the readers to the fictitious nature of the characters, assuring them that any resemblance to any living persons is purely coincidental, or introductory formulae such as the traditional ›once upon a time‹ or the reference to the old manuscript or letters that the author came upon one day when clearing out the attic. Such paratextual _____________
23 24
›co-intentionality‹ of the production and reception of works of fiction (Landwehr: Text). Polyvalence convention: Groeben / Schreier: Hypothesis. Eco: Walks; Genette: Paratexte.
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signals provide the reader with a frame of reference pointing towards the literary-aesthetic system of communication even prior to the beginning of the actual reception process. Formal and semantic criteria that are more typically and more frequently found in fictional than in non fictional texts (see above), such as fictitious events or characters, poetic language, the difference between author and narrator, and the like, can likewise function as orienting signals, albeit – because of the overlap between fiction and non-fiction pointed to above – as less clear-cut ones.25 It is by inserting such orienting signals into the text that the author acts in accordance with the aesthetic convention, and it is by ›reading‹ these signals correctly and acting within the relevant communication system that the reader fulfils his or her part within the contract. Processing a literary text according to the aesthetic convention thus requires some knowledge on the reader’s side about how the literary-aesthetic system ›works‹, which signals in the text are typically used to denote fictionality and which signals point towards a factual frame of reference. If a reader is not familiar with the framing convention of the manuscript discovered in an attic, she/he may well – mistakenly – consider the text to be of a factual kind. It is by taking this part of the reader into account that the pragmatic approach to conceptualizing fiction and fictionality is more comprehensive compared to other approaches that it integrates into a more general framework. Moreover, the pragmatic approach draws attention to the permeability of the borderline separating fiction from non fiction. By abandoning the notion that there are fictional texts and non fictional texts and replacing it by the assumption that fictionality and factuality are the result of a match between operations carried out by the author and the reader, the notion of a ›mismatch‹ opens up an entire borderland area in between the realms of ›fact‹ and ›fiction‹. It is here that we find the author ›stretching‹ the conventions to their limits, using relevant orienting signals in what is meant to be a fictional text only sparingly and thus leaving the reader in doubt: is it real or not?26 And this borderland is also the home of the reader who simply disregards relevant orienting signals, reading a travelogue as she/he would read a novel, or a novel set in foreign parts as others might peruse a Lonely Planet guide. Concerning this issue of permeability, however, even the pragmatic approach does not go far enough. It permits of conceptualizing ways of reading that are not in accordance with the conventions – this is its advan_____________ 25
26
This is not to claim that paratextual signals are necessarily unambiguous: there can of course be frames within frames (see the famous example of The War of the Worlds: for an analysis, see Groeben / Schreier: Grenze). Nevertheless, paratextual signals tend to be less ambiguous compared to other orienting signals (Eco: Walks, ch. 6). For a digital example, see Schreier: Recipients.
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tage over other approaches. But at the same time these readings are characterized as somehow flawed, as a violation of the conventions, wilfully stepping outside the literary-aesthetic system of communicative actions. But is it really such a rare, such an unconventional way of reading a fictional text to bring truth-related criteria to its reception? Or, to put it differently: what exactly does it entail for the reception of a text to say it is fiction? To say that truth is irrelevant to the reception of fiction would be far too simplistic a way of putting it. Indeed the fact convention is suspended (see above), and a fictional text will usually not be true in the literal sense: the events described did not in fact occur and are not claimed or expected to have occurred:27 there exists no Yambo, for instance, who has lost all memory of his self and his family. Many types of fiction are, however, expected to be true in the metaphorical sense of conveying a ›higher truth‹: a truth about life, about man- and womankind – for instance about memory, remembering, and the question to which extent our memories are indeed our own. Fiction is thus frequently expected to be relevant to life, and it is upon this expectation that many of the functions rest that have been ascribed to literary works, such as their moral, educative, or informative function.28 And research has shown that readers do indeed look for such ›higher truths‹ in fiction and apply works of fiction to their everyday lives.29 But how does this ›higher truth‹ of fiction come about if works of fiction lack truth in the literal sense? Iser speaks of the ›imaginary‹ in this context,30 Eco points out that fiction invariably draws upon fact,31 and Gerrig terms such information that equally applies in the everyday world and in the world of fiction ›context-free assertions‹.32 Reality provides the building blocks not only for truth, but also for constructing the possible, the imaginary, that which might have been and bears some similarity to what was (›verisimilitude‹). It is thus per default the laws and assumptions of our everyday world that obtain even in the world of fiction, unless explicitly stated otherwise. Where Eco tells of the bookstore owned by Yambo, the readers will assume that this bookstore looks much like any other bookstore for second hand and rare books – unless the author makes it clear that we are dealing with a world departing from our own in this respect. We will expect characters to be consistent, and if an ordinary man like Yambo suddenly no longer recognizes his wife and his daughters _____________ 27 28 29 30 31 32
Gerrig refers to such information as ›context details‹ (Gerring: Worlds, p. 216). Wild: Literatur. For instance Charlton / Pette / Burbaum: Strategies; Pette: Psychologie. Iser: Das Fiktive. Eco: Walks. Gerrig: Worlds, p. 216.
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we will – rightly – assume that something momentous must have occurred to bring about behaviour that is so much ›out of character‹. In the same vein, if a work of fiction is placed in a real-world setting, as for instance parts of The Mysterious Flame of Queen Loana that are set in Milan, we will assume that the author did some research prior to writing, that the fiction will in relevant aspects conform to reality (that the cathedral, for instance, will in reality be situated in the same location as it is in the novel). The characters, settings, and events in a work of fiction thus do not usually correspond to characters, settings, and events in reality, and the reader is not supposed to ›go looking‹ for them. But some settings, characters, or events might have a referent in reality, and the reader would then be justified in assuming that central aspects of that character, setting, or events are portrayed in a truthful way; the reader can thus learn something factual from the work of fiction. But even if there is no immediate referent in reality, reference will usually be made to reality, be it in terms of similarity, exaggeration, or contrast. Exhausting the full potential of such a work of fiction would then mean to not merely enjoy the narrative for its own sake, or the language for its aesthetic quality, but to also infer something about reality. Just as, on the textual side, fact lies at the core of fiction, relating fiction to fact and to reality seems to be central to the reception of fictional works. These distinctions and interrelations between ›fact‹ and ›fiction‹ make reading a work of fiction ›correctly‹ a daunting task indeed. Especially if a reader is not familiar with the setting portrayed, how is she/he to know where it is ›safe‹ to take information at face value? It is therefore hardly surprising that, as recent research has shown, readers do indeed integrate information that they have drawn from fiction with real-world knowledge, sometimes mistakenly taking information at face value from which conclusions about reality were merely meant to be inferred on a more abstract level, if at all. In the following section, an overview of such research will be provided. 3. How Fiction Can Change the Way We Think: An Overview of Findings 3.1 Belief Change through Fiction: Empirical Evidence In the early days of conceptualizing the storage and remembering of information drawn from fiction, the assumption prevailed that this occurred in a neatly compartmentalized manner, with information from fictional sources being stored and remembered separately from factual, real-world
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type information.33 This compartmentalized approach to the storing of information from fictional sources also entailed assumptions concerning the processing of such information, neatly summarized in Samuel Taylor Coleridge’s phrase »suspension of disbelief«:34 when reading fiction, this implies, our default mode of processing would be to disregard the information contained therein as incorrect and irrelevant. In order to gain anything from the work of fiction, we therefore have to actively work against this tendency, for the time being acting as though it were true, even though in the back of our minds we remain aware of the fact that it isn’t – storing the information away as ›fiction‹. Recently, however, this assumption has been questioned, notably by Richard Gerrig and Deborah Prentice.35 Drawing upon theories about information processing from social and cognitive psychology, they assume that our default response to any information we encounter, whatever its source, is to accept it as correct. We will doubt information only, they argue, if we have reason to do so and if thinking about the issue at any length seems to be worth the cognitive effort. If we come across information embedded in a work of fiction, we know, on the one hand, that this information need not be correct and therefore have reason to doubt it. On the other hand, also because we know that fiction need not be true to reality, our motivation to think at any length about information from a fictional source might be low because we dismiss it from the start. Most likely, Gerrig and Prentice assume, our main concern with a fictional narrative will not be with the truth status of the information it contains, but with other aspects, such as the degree to which it succeeds in drawing us into the fictional world – an assumption that mirrors the distinction between the fact and the aesthetics conventions outlined above (see section 2). Gerrig and Prentice thus argue that we might paradoxically come to accept information from a fictional source as correct precisely because we know that it is unreliable and consequently do not subject it to closer scrutiny. A first seminal study designed to test the hypothesis that readers will change their beliefs as a consequence of reading fiction was carried out by Prentice, Gerrig, & Bailis.36 They created a story expressly for the purpose of the study which focused on the abduction of a university professor and a student that is later revealed as a hoax. Built into the story were eight statements that went counter to common everyday beliefs, such as ›Eating chocolate makes you lose weight‹ or ›Psychological disorders are conta_____________ 33 34 35 36
For an overview, see Gerrig: Worlds, ch. 6; Winterhoff-Spurk: Fernsehen. Coleridge: Biographia, p. 6. Gerrig: Worlds, ch. 6; Prentice / Gerrig: Boundary. Prentice / Gerrig / Bailis: Readers.
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gious‹. All statements were context-free assertions, i.e. they did not refer to details specific to the respective fictional world. These statements were embedded into the dialogue occurring between characters. More accurately, two versions of the story were constructed, containing altogether 16 key statements. Of these key statements, eight were in accordance with common knowledge (for short, these will also be referred to as ›plausible statements‹), and eight were not (for short, these will also be referred to as ›implausible statements‹). The two versions of the story were mirror versions of each other: the eight statements that would be correct in the first version would be changed into incorrect ones in the second version, and vice versa. The ›correct‹ mirror statement of ›Eating chocolate makes you lose weight‹ would for instance read ›Eating chocolate makes you gain weight‹. In the study by Prentice et al., participants read one version of the story each or they read a control story that was unrelated to the topics of the 16 key statements. Afterwards they were presented with 32 statements and asked to indicate the extent to which they agreed with these statements. Among these 32 statements, 16 corresponded to the key statements in the story, the remaining 16 statements were included for control purposes and unrelated to the topic of the narratives. In order to measure belief change, it was assessed to what extent participants who had previously read an incorrect statement embedded in a fictional narrative then agreed with this statement and to what extent participants agreed with the statement who had not previously read it. Belief change through fiction was assumed to have occurred to the extent that participants agreed with an incorrect statement more after they had read it in a fictional context than if they had not previously read it. This is also the design that was used, with minor variations, in subsequent research on the topic. As described above, Prentice et al. assumed that readers would be especially likely to accept information from a fictional source as correct because their motivation to critically read and process this information would be low. Strictly speaking, this assumption falls into two parts. The first part translates into the hypothesis that readers will actually be more likely to change their beliefs after reading a piece of information in a fictional than in a factual context. The second part refers to the type of processing that leads to a belief change. This translates to the hypothesis that, whatever the source, belief change will be greater if the reader does not think about the information in any detail. To test their hypothesis that belief change would be greater after reading a fictional than a factual narrative, Prentice et al. gave the participants in their research additional information about the texts they would be reading: in the ›fact condition‹ they were told that they would be reading a report by a journalist on recent events; in the ›fiction condition‹ they were told that they would be reading a fictional
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short story. For testing the second hypothesis concerning critical reading and processing independent of the source, Prentice et al. varied the participants’ familiarity with the story setting, assuming that if the story was set in familiar surroundings, the readers would be more strongly motivated to identify any incorrect information. As participants were recruited from two different universities, Princeton and Yale, this last variation was achieved by changing the name of the universities where the events in the story took place: in one version, it was Princeton, in the other version, it was Yale. The participants from Princeton were familiar with the setting of the story located in Princeton, but not familiar with the setting of the story located in Yale, for the Yale participants, the mirror situation obtained; in all other respects, the two versions of the story were identical. The hypothesis concerning critical processing was that there would be no belief change for participants reading a narrative set at their home university, regardless of the fictional or the factual character of the narrative. These hypotheses put forward by Prentice et al. could be fully confirmed. It was indeed the case that those participants who read the story as fiction agreed more with statements such as ›Eating chocolate makes you lose weight‹ than did readers who read the story as a factual report. Prentice et al. could also show that the students who read the story as set at their home university – who were supposed to read the story more critically – did indeed agree significantly less with statements embedded in the fictional text than those students who read the same text set at a different university. Belief change through fiction thus seemed to be limited to unfamiliar settings. The basic finding of this study by Prentice et al., namely that even information that is blatantly at odds with common sense can indeed lead to a belief change if it is read in the context of a fictional narrative, has since been confirmed in several studies.37 The results could be replicated with both the ›artificial‹, specially constructed narrative used by Prentice et al.38 and with natural, only slightly modified narratives.39 The results were also obtained for context-free statements that were not explicitly part of the narrative, but had to be inferred by the readers.40 Finally, the hypotheses could also be confirmed cross-culturally, for German as well as for USAmerican participants.41 _____________ 37 38 39 40 41
For an overview, see Green / Brock: Persuasiveness; Green / Garst / Brock: Power. See for instance Appel: Realität. See for instance Green / Brock: Transportation. For instance inferences concerning the belief in an essentially just or unjust world: Green / Brock: Transportation. Appel: Realität; Appel / Richter: Effects.
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In most of these studies, the focus was on belief change as a result of reading statements or reading about events that ran counter to common sense beliefs. Two studies also assessed readers’ reactions to statements that were in accordance with everyday knowledge,42 exploring whether the reading of such statements would also increase subsequent agreement compared to a control group. On average, this turned out not to be the case: participants who had previously read such assertions embedded into or implied by a fictional narrative did not agree with such assertions more than did participants who had read a different, unrelated text (for exceptions, see section 3.2 below). Fiction thus appears to induce readers to adopt beliefs that they had not previously held, but it does not cause readers to change beliefs to a more extreme position in the same direction if readers already hold these prior to reading. The large majority of these studies have also focused on assessing belief change immediately following the reception of the fictional text. Consequently one might wonder whether fictional narratives can indeed lead to an enduring change of beliefs, or whether the effects reported are only a transitory phenomenon: perhaps study participants are more inclined to agree with counter-intuitive statements immediately after reading, but once the narrative is no longer cognitively and emotionally present, these statements are forgotten and beliefs return to what they were before. This question of the duration of belief change through fiction was addressed by Appel and Richter:43 they presented participants with a slightly modified, German version of the texts used by Prentice and collaborators, or an unrelated control story. As in the study by Prentice et al., participants were asked to indicate their agreement with 16 statements immediately after reading, eight of which ran counter to everyday beliefs and had been embedded in the narrative. But in addition the participants were asked to return to the lab approximately two weeks after they had read the text and to again indicate their agreement with the same 16 statements. It turned out that the belief change had not only persisted, but actually increased during these two weeks; in other words, two weeks after reading the story, participants agreed even more with counter-intuitive statements such as ›Eating chocolate makes you lose weight‹. Belief change through fiction is thus by no means a transitory, but an enduring phenomenon which increases in strength over time (for potential reasons why this might be the case, see section 3.2 below). When participants are asked to indicate the extent to which they agree or disagree with a given statement, it is belief extremity that is being assessed. _____________ 42 43
For instance Appel / Richter: Effects; Schreier / Odag / Groeben: Roman. Appel / Richter: Effects.
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Another component of the belief system concerns the certainty of our beliefs.44 Belief extremity and belief certainty are not entirely unrelated: if a person agrees strongly that chocolate helps one lose weight, she will most likely also be quite certain that this is indeed the case. Nevertheless, these two components have been distinguished in empirical research in the past, and Appel and Richter explored the effects of reading fiction not only on belief extremity (as reported above), but also on belief certainty;45 in other words, after reading one of the three fictional texts used in the study, participants were asked to indicate not only the extent to which they agreed with each of the 16 statements presented, but also how certain they were that the statement was indeed correct or incorrect. It turned out that the reading of counter-intuitive statements embedded in a fictional text had no effect on belief certainty. Participants who had read in a fictional text that chocolate helps one lose weight were thus not any more certain that this was indeed the case than were participants who had not previously read any such statement. A different picture emerged, however, for statements that were in accordance with everyday beliefs: after they had encountered such plausible statements as part of a fictional text, participants expressed greater certainty that these statements were indeed correct than did participants who had not previously come across these statements embedded in a fictional narrative. Two weeks later, this certainty effect for plausible statements had disappeared. In summary, recent research has shown that when readers encounter improbable statements in a fictional text, be they explicitly expressed or merely implied, readers will more strongly endorse such statements, and their endorsement will even increase over a period of two weeks. If the information embedded in a fictional narrative is in accordance with everyday beliefs, readers’ agreement with such statements will not be affected. Readers will, however, be more certain that the information is indeed correct, at least immediately following the reading of the fictional narrative into which the statements have been embedded. Thus, fiction clearly has the power to affect our beliefs, be it by changing them in a new direction or by making us more secure in our previously held beliefs. 3.2 Belief Change through Fiction: How Does It Work? It was pointed out above that this interest in readers’ reactions to a fictional narrative is very much part of an empirical approach to the study of litera_____________ 44 45
Belief certainty: Krosnick / Petty: Attitude. Appel / Richter: Effects.
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ture that is in turn based on a functional concept of the literary, fictional text and on a conceptualization of the reader as actively and constructively processing the text. But at the same time this conceptualization of reading as an active, constructive process appears to be at odds with the results concerning belief change through fiction described above: if readers actively process what they read, bringing together story content and their own knowledge about the world, should they not be able to recognize information that is at odds with common sense and consequently reject and not adopt it? This raises the question of what exactly happens during the processing of information from fictional narratives. Prentice and Gerrig assume, in explicit contrast to Coleridge’s tenet of the »willing suspension of disbelief«, that human beings treat any information they come across as correct, unless they have reason to doubt it (see above).46 In this, Prentice and Gerrig draw upon so-called dual-process theories of persuasion.47 All theories of this type have in common the distinction between two modes of information processing, the first being systematic, elaborative, and indepth, the other non-systematic and superficial. In the systematic mode, information is subjected to scrutiny before it is accepted as correct or rejected as incorrect. This mode is adopted if the recipient of a message is either knowledgeable about the topic in question or highly motivated to question the information; usually, both topic-related knowledge and motivation are assumed to be present to some extent if information is processed critically. Concerning the second, non-systematic mode, theories differ concerning the exact cognitive processes: whether information is simply accepted as correct without any further processing taking place, whether it is processed, but according to misleading cognitive ›shortcuts‹ (so-called cognitive heuristics), or whether inappropriate and inadequate criteria are used to evaluate the information (such as the attractiveness of a communicator). In either case, information is accepted as correct due to insufficient processing. It is further assumed that this second mode obtains if the recipient of a message either does not know anything about the message topic or is not motivated to scrutinize the message further. It was also pointed out earlier that Prentice and Gerrig hypothesize that readers of fiction will usually not be sufficiently motivated to process information from a fictional source in any greater depth precisely because in our society truthfulness is not the major criterion for evaluating fiction (see section 2 above). _____________ 46 47
Prentice / Gerrig: Boundary. For an overview, see Chaiken / Trope: Theories.
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A somewhat different model of the processes underlying belief change through fiction has been proposed by Green and Brock:48 the transportation imagery model. Here it is not, as in dual process theories, the lack of cognitive processing per se that is considered decisive in bringing about belief change through fiction, but that particular state of mind of being drawn into and fully absorbed by a book. They call this state ›transportation‹, drawing upon a term introduced by Gerrig.49 Unlike the elaborative type of critical processing, transportation is assumed to constitute a convergent process by which readers become fully focused on the events transpiring in a narrative, even to the point of temporarily forgetting about the world around them. Green and Brock postulate that transportation affects belief change through fiction both directly and indirectly: in addition to directly increasing belief change, it is assumed to decrease the degree of critical cognitive processing and to increase the perceived realism of a narrative and the extent to which the reader identifies with the characters.50 The less critical processing and the higher the perceived realism and the degree of identification, the more belief change is assumed to occur. In order to measure transportation, Green and Brock developed a 15-item questionnaire that contained statements such as »While I was reading the narrative, I could easily picture the events in it taking place.«; participants are asked to indicate the extent to which they agree on a seven-point scale (ranging from very much to not at all).51 These two models are not mutually exclusive, to the extent that the reduction of critical processing that is at the centre of the first model is also, as an intervening process, part of model 2. Nevertheless, the models are based on somewhat different assumptions. In model 1 (cognitive elaboration model), belief change through fiction is supposed to occur due to a lack of critical, elaborative processing. In model 2 (transportation imagery model), it is assumed to primarily result from a strong sense of engagement with the text. According to the cognitive elaboration model, there should be belief change in the direction of ›incorrect‹ statements after reading such statements in a fictional, but not in a factual context – with fiction acting as a cue for processing with low elaborative scrutiny. Moreover, there should be belief change only if the fictional setting is unknown to the participants; if participants know the setting, the model would predict that they adopt an elaborative mode of processing and reject pertinent statements _____________ 48 49 50 51
Green / Brock: Mind’s Eye. Gerrig: Worlds, pp. 10f. Termed participatory reactions by Gerrig, see Prentice / Gerrig: Boundary, p. 543. Green / Brock: Transportation.
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as incorrect. Both assumptions were examined in the seminal study by Prentice, Gerrig and Bailis and could be confirmed (see section 3.1 above).52 Other research, however, has yielded less conclusive results. No differential effect of reading ›fiction‹ versus ›fact‹ upon belief change was found in research by Strange and Leung,53 involving a narrative about a teenager planning to drop out of high school, nor in research by Green and Brock,54 involving a ›natural‹ fiction story. The effect of familiarity on belief change obtained by Prentice and collaborators could not be replicated in a study by Wheeler, Green, & Brock – instead, all readers expressed opinions that were more in line with statements put forward in the story world than non-readers did, regardless of familiarity with the story setting.55 Evidence concerning the distinctive cues that lead readers to adopt a cognitively elaborative or non-elaborative mode of processing according to model 1 is thus inconclusive. The transportation-imagery model predicts first of all that degree of transportation should coincide with degree of belief change.56 Concerning mediating processes, the model further predicts a negative association between transportation and critical processing and a positive association between perceived realism and identification with the protagonists on the one hand and transportation on the other hand. Finally, it is assumed that more critical processing will lead to less belief change and that more perceived realism and greater extent of identification will result in more belief change. The central assumption in this model, i.e. the positive relationship between degree of transportation and extent of belief change, has repeatedly been confirmed.57 It is noteworthy, though, that the exact results differ somewhat, depending on the instrument that was used to assess transportation. The most clear-cut results were achieved using the transportation questionnaire developed by Green and Brock.58 An alternative instrument, differentiating between altogether 14 experiential states during reading, was developed by Appel, Koch, Schreier, and Groeben.59 Appel identified a positive relationship between transportation and belief change only for _____________ 52 53 54 55 56 57 58 59
Prentice / Gerrig / Bailis: Readers. Strange / Leung: Accounts. Green / Brock: Transportation. Wheeler / Green / Brock: Narratives, employing the same narrative as Prentice et al.; for further negative evidence, see also Green: Transportation. Green / Brock: Mind’s Eye. Appel / Richter: Effects; Green: Transportation; Green / Brock: Transportation; overview in Green / Brock: Persuasiveness. Green / Brock: Transportation. Appel / Koch / Schreier / Groeben: Aspekte.
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the specifically emotional aspects of transportation.60 Schreier and collaborators, using the same 14 scales instrument, again found a general positive relationship between transportation and belief change.61 But here belief change concerned not only the information provided in the fictional narratives, but extended to other statements that had not been part of the narratives and could not be inferred from them. This last result suggests that transportation might generate in readers a general predisposition to believe information that is encountered while in a state of transportation. The assumptions concerning mediating processes within the transportation imagery model could also largely be confirmed. Green and Brock showed that higher transportation does indeed result in less critical processing and goes along with increased identification with the story protagonists;62 moreover, increased transportation, as predicted, coincides with an increase in perceived reality.63 While the evidence thus supports the postulated relationship between transportation and the various mediating processes, the relationship between these processes and belief change is much less clear-cut. Higher perceived realism of a fictional narrative does not appear to be related to subsequent belief change.64 Critical processing appears to reduce belief change65 – a finding which is in line with both the transportation imagery model (2) and the reduced cognitive elaboration model (1). Degree of critical processing, however, should also vary with the extent to which a person is typically inclined to thoroughly consider and weigh information. This personality characteristic has been termed ›need for cognition‹ and can be measured by questionnaire.66 If critical processing is assessed at the personality level, it does not appear to be related to belief change.67 Appel, however, found a relationship between need for cognition and belief change in the direction of previously held beliefs:68 whereas in general belief-consistent information embedded in fiction did not appear to affect readers, readers high in need for cognition endorsed previously held beliefs even more strongly after having read pertinent information. Especially with respect to critical processing, the results concerning the relationship between supposedly mediating processes and subsequent belief change have thus been inconclusive. _____________ 60 61 62 63 64 65 66 67 68
Appel: Realität. Schreier / Odag / Groeben: Roman. Green / Brock: Mind’s Eye. Green: Transportation. Ibid. Green / Brock: Transportation. Cacioppo / Petty: Cognition. Appel: Realität; Green / Brock: Transportation, study 2. Appel: Realität.
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It has already been mentioned above that Appel and Richter did not only look at belief change immediately following the reading of a fictional narrative, but also at belief change after two weeks.69 At the same time, they used the degree of belief change over time to differentiate between the cognitive elaboration and the transportation imagery models of persuasion through fiction. According to the cognitive elaboration model, belief change is assumed to persist only if it is based on systematic processing and consequently on a restructuring of pertinent cognitions. Belief change based on non-systematic processing would be expected to deteriorate over a two-week period. But there are exceptions to this general rule: if a persuasive message remains vivid over time and the source-related information that caused the recipient to not process the message systematically is forgotten (such as: the information that the source is fictional), an absolute sleeper effect can occur.70 In this case, belief change would be expected to actually increase over time. Appel and Richter assume that the processing of information from fiction according to the transportation imagery model meets the conditions for an absolute sleeper effect. It has been shown that verbal and visual memory for information from a fictional source is stronger than memory for such information from a factual source; and it has also been demonstrated that source details concerning stories are forgotten after about one week.71 The transportation imagery model therefore predicts that because of the state of high transportation during reading memory for information from a fictional source will remain vivid over time. Accompanied with a loss of source memory, this vivid memory for fictional information should result in an absolute sleeper effect, i.e. an increase of belief change over time. The results of the study, showing an increase of belief change over time, have already been reported in the previous section. The research by Appel and Richter thus confirms the transportation imagery model: readers change their beliefs after reading fiction not because they fail to think in sufficient detail about what they read, but because they are so thoroughly absorbed in the story. Two models have thus been proposed to account for the phenomenon of belief change following the reading of fiction. According to the cognitive elaboration model, belief change occurs because readers consider the fictional nature of the narrative as a discounting cue and do not consider it worthwhile to process fictional information systematically. According to the transportation imagery model, on the other hand, belief change occurs primarily as a result of the extent to which readers are transported into the _____________ 69 70 71
Appel / Richter: Effects. Hovland / Lumsdaine / Sheffield: Mass Communication. Marsh / Meade / Roediger: Facts.
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story. Degree of transportation is supposed to decrease critical processing and to increase perceived realism of the narrative and readers’ identification with the story protagonists, and all three mediating processes are assumed to contribute to belief change. While evidence concerning these models has not been clear-cut, overall the results favour the transportation imagery model. Only the cognitive elaboration model predicts a difference in belief change as a result of the source being labelled ›fact‹ or ›fiction‹, with belief change expected to occur for a fictional source only. In the majority of studies, this prediction has not been confirmed. The hypothesis that familiarity with the story setting and events increases systematic processing of story-related information is also unique to the cognitive elaboration model, and this hypothesis has also not received sufficient empirical support. By contrast, predictions derived from the transportation imagery model could for the most part be confirmed. In particular, transportation (even if varying in kind) has repeatedly been shown to be related to belief change and to even result in an increase of belief change over time (absolute sleeper effect). What remains somewhat unclear on the basis of research conducted so far is the role of critical and elaborative processing which is in fact part of both models. 4. Outlook This research, although only in its beginning phase, demonstrates the importance of taking the reader into account when discussing issues of literariness and fictionality. Just as fiction builds upon fact, readers – who can be assumed to be perfectly aware of the general distinction between factual and fictional texts and the conventions governing their production and reception – make use of this factual information contained in the text, draw their conclusions, and integrate this information with other information about the world. Information taken from factual and from fictional sources is thus by no means neatly compartmentalized and differentiated, but fiction appears to be used as an important source of information about the world by its readers. While the possibility that fiction may affect our opinions has thus been clearly demonstrated, other aspects of the process of belief change through fiction remain much less clear. Taken together, findings so far suggest that transportation plays a key role in this. But how exactly transportation affects the process of belief change and how it interacts with critical processing, perceived reality, and other mediating factors remain open questions. It is also not clear which parts of readers’ belief systems are affected by reading fiction: readers appear to be persuaded not only by
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what they explicitly read as part of a fictional narrative, but also by what they infer from the story. Does this apply to all types of inferences alike, or to some more than others? Are readers, for instance, more inclined to believe what they infer about story protagonists than about other aspects of the story world? So far, research on belief change through fiction has operated with fairly short, usually suspenseful narratives that were presented to readers in a laboratory context; effects of the texts were assumed to be similar across readers, excepting cognitive-emotional processes such as transportation or degree of critical thinking about the text. But if one applies the functional concept of the text consistently to the question of belief change through fiction and conceptualizes reading and its effects as an interaction of textual and reader characteristics, these characteristics have to be taken into account more explicitly than has been the case in the past. What about different genres, for instance: are the effects on belief change the same across genres? Readers, in turn, come with varying knowledge of literary genres, narrative forms, and stylistic devices, with their distinctive likes and dislikes: how do these interact with textual characteristics in their effects on belief change? And what about readers’ own notions of fictionality and literariness – do effects on belief change vary with such individual notions? Prior research on this topic almost seems to suggest that fiction affects the readers’ beliefs in a quasi-automatic fashion. If one considers reading an active, constructive process, this is unlikely to be the case, and it is up to future research to show what the boundary conditions of belief change through fiction are. Bibliography Anderegg, Johannes: Das Fiktionale und das Ästhetische. In: Dieter Henrich / Wolfgang Iser (eds.): Funktionen des Fiktiven. Munich 1983, pp. 153-172. Appel, Markus / Erik Koch / Margrit Schreier / Norbert Groeben: Aspekte des Leseerlebens: Skalenentwicklung. In: Zeitschrift für Medienpsychologie 14 (2002), pp. 149-154. Appel, Markus: Realität durch Fiktionen: Rezeptionserleben, Medienkompetenz und Überzeugungsänderungen. Berlin 2005. Appel, Markus / Tobias Richter: Persuasive Effects of Fictional Narratives Increase over Time. In: Media Psychology 10 (2007), pp. 113-134. Barsch, Achim: Fiktion/Fiktionalität. In: Ansgar Nünning (ed.): Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart 1998, pp. 149-150. Brock, Timothy / Melanie C. Green: Persuasiveness of Narratives. In: T.B. / M.C.G. (eds.): Persuasion: Psychological Insights and Perspectives. 2nd rev. and enl. ed. Thousand Oaks 2005, pp. 117-142. Cacioppo, John / Richard Petty: The Need for Cognition. In: Journal of Personality and Social Psychology 42 (1982), pp. 116-131.
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