Science Fiction
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Science Fiction
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31077 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: THE CALTRAPS OF TIME Aus dem Englischen übersetzt von Horst Pukallus Umschlagentwurf: Hansbernd Lindemann Umschlagillustration: Emsh Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1968 by David I. Masson Übersetzung Copyright © 1984 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1984 Gesamtherstellung: Eisnerdruck GmbH, Berlin ISBN 3 548 31077 X Mai 1984 CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Masson, David I.: An den Grenzen der Zeit/David I. Masson. [Aus d. Engl, übers, von Horst Pukallus]. – Frankfurt/M; Berlin; Wien: Ullstein, 1984. (Ullstein-Buch; Nr. 31077: Sciencefiction) Einheitssacht.: The caltraps of time ‹dt.› ISBN3-548-31077-X
David I. Masson An den Grenzen der Zeit
Science Fiction
Inhalt Vorwort
7
Verlorener Boden (Lost Gmünd)
14
Weniger sicher (Not so Certain)
62
Schlund der Hölle (Mouth of Hell)
86
Hausfreund von vorgestern (A Two-Timer)
110
Die unendliche Wahl (The Transfinite Choice)
188
Psychosmosis (Psychosmosis)
213
An der Zeitfront (Travellers Rest)
234
Michael Moorcock, dem Herausgeber des Magazins NEW WORLDS SF, in dem diese Stories zuerst erschienen sind, gehört mein Dank für den mir zugesprochenen Mut.
VORWORT
Kurzgeschichte oder Roman, Roman oder Kurzgeschichte. Science Fiction ist eine Ausdrucksform, die für beide einzigartige Gelegenheiten bietet. Ein einzelner, klarer Einfall, eine neue Idee oder eine Erfindung können in einer Kurzgeschichte umrissen, erläutert und dramatisch präsentiert werden. Die vielschichtigeren Konzeptionen verarbeitet man zu Romanen; etwa den Entwurf einer völlig neuartigen Gesellschaft oder die vollständige Umwälzung von alten Gesellschaftsformen, ebenso alle anderen Gedanken, die den Umfang eines Romans erfordern, um in allen Einzelheiten untersucht werden zu können. Aber die Kurzgeschichte nimmt im Kanon der Science Fiction noch immer den allerwichtigsten Platz ein. Es ist eine Versuchung, die Feststellung zu treffen, daß die SF mit Texten, die pro Jahr mit Millionen von Wörtern an Originalveröffentlichungen vertreten sind, die englischsprachige Kurzgeschichte am Leben erhält. Doch das auszusprechen, will ich denen überlassen, die zum Sprücheklopfen neigen. Mich interessiert mehr die einmalige Natur der SFStory. Einmalig in der Beziehung, daß eine treue Leserschaft Sammlungen von Kurzgeschichten ihrer Lieblingsautoren wünscht und kauft, Anthologien sowohl mit neuen wie auch nachgedruckten Geschichten in großer Zahl liest, daß sie nach einem Jahr fortwährenden Lesens von Kurzgeschichten 7
nichtsdestotrotz weiterhin anderer Leute Auswahlen der besten Geschichten des Jahres kauft. Diese Treue hat ihren Grund. Die SF-Story ist eine Neuigkeit in der Welt, etwas, das der Story als Erzählform eine zusätzliche Dimension verleiht. Die herkömmliche Kurzgeschichte ist, wie der Roman, eine Studie in Verhaltensweisen, der Details und der Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen. Beide haben einen Mangel. Die Geschichte mag am Ende eine überraschende Wende nehmen oder einfach einen Lebensabschnitt eines New Yorkers beschreiben, das Interesse gilt immer den betroffenen Personen. Edgar Allan Poe hat uns um die Mysteryoder Horror-Story bereichert, die sich um Dinge genauso kümmert wie das Genre sonst um Menschen. Das Schicksal der Personen, die in den Mahlstrom gezogen werden, ist wichtig aber ebenso der Mahlstrom selbst und das, was sich unter ihm befindet. Ich entsinne mich an keinen der Charaktere in »Der entwendete Brief«, doch der Brief selbst und sein verborgener und gleichzeitig so offenkundiger Verbleib haften mir noch immer im Gedächtnis. Die Konzeption von der Idee als Protagonist war geboren. H. G. Wells hat diese Kunst, während das 19. Jahrhundert ausklang, mit Geschichten wie »The Land Ironclads«, worin die Idee ganz offensichtlich als Protagonist auftritt, zur Vollendung gebracht. Seit jener Zeit hat die SF nicht mehr rückwärts geschaut, sondern ist unter Anwendung dieses Kniffs in alle 8
Richtungen expandiert, hat alle diesem neuartigen Gedanken inhärenten Möglichkeiten erkundet. David I. Masson ist ein Meister dieser künstlerischen Ausdrucksform. Sie entspricht seinen besonderen Bedürfnissen, und er versteht maximal zu nutzen, was sie an Entfaltungsmöglichkeiten gewährt. Er ist gebildet und weiß sich auszudrücken, und eindeutig weiß er darüber Bescheid, wo die Story steht und früher gestanden hat. Indem er auf dieser starken Ausgangsposition aufbaut, zeigt er stets noch mehr neue und aufregende Bereiche, in die sie vordringen kann. Am liebsten von seinen Geschichten – und seit ihrem ersten Erscheinen in einem Magazin habe ich sie immer wieder gelesen – ist mir »Schlund der Hölle«. Darin demonstriert er am klarsten eine einzigartige Stärke, die unheimlich ausgeprägte Fähigkeit, eine physische Situation mit einem abstrakten Konzept zu vereinen. Kafka war dazu auf allgemeinere Weise imstande, er stellte seine Charaktere in eine unreale Welt, die unserer Welt als Gleichnis diente; ein Zerrspiegelbild. Masson wird deutlicher. »Schlund der Hölle« erzeugt in literarischem Rahmen – nach meinem Empfinden – all die Symptome, die man verspürt, wenn man schläft und zu fallen träumt. War das die Absicht des Autors? Vielleicht, aber ich habe das Gefühl, seine Antwort auf diese Frage würde so durchsichtig vieldeutig ausfallen wie seine Geschichten. Anscheinend enthüllt er alles – aber macht er es wirklich? Diese Geschichten drehen sich gar nicht 9
um das, um was sie dem Anschein nach die meiste Zeit gehen. Hierbei handelt es sich nicht um versuchten Obskurantismus, sondern um einen aufrichtigen Versuch der Analyse. An der Oberfläche sind Massons Kurzgeschichten schlicht und geradlinig; sie verfolgen vielleicht, wie in »Schlund der Hölle«, das Vorgehen einer Gruppe von Forschern, oder begleiten einen Mann, wie in »Verlorener Boden«, auf dem Weg zur Arbeit. Und doch befassen sie sich mit weit mehr. Was sind diese »Stimmungsberichte«, die in der vorerwähnten Story die Stelle der normalen Wetterberichte einnehmen? Masson verrät zwar ziemlich viel über sie, überläßt es jedoch dem Leser, eigene Schlußfolgerungen zu ziehen. Bevor Sie diese Geschichten lesen, möchte ich zur Vorsicht raten. Falls möglich, widerstehen Sie der Versuchung und werfen Sie keinen einzigen Blick auf die Vorbemerkungen des Autors zu den einzelnen Geschichten, ehe Sie die jeweilige Geschichte gelesen haben. Die Vorbemerkungen sind ausschließlich für die Buchausgabe verfaßt worden und waren beim ursprünglichen Erscheinen der einzelnen Geschichten nicht vorhanden. Die Herausgeber einer SF-Reihe drücken Büchern ihren Willen nur dadurch auf, indem sie sie auswählen. Danach gibt der Verlag sich alle Mühe, von jedem Buch eine letztgültige Fassung zustande zu bringen, und beugt sich dabei in jeder Hinsicht den Wünschen des Autors. Das schließt allerdings keineswegs einen dahingehenden Kommen10
tar vom Verfasser des Vorworts zum vorliegenden Buch aus, daß die erwähnten Vorbemerkungen, wenn man sie tatsächlich vor den Geschichten liest, letzteren etwas nehmen. Masson baut seine Geschichten viel besser auf, als er selbst ahnt, und es ist für den Leser günstiger, seine Intentionen nicht schon vorher zu wissen. Läge dergleichen in meiner Macht, hätte ich die Vorbemerkungen weggelassen und statt dessen eine vorgedruckte Postkarte eingesetzt, nach dem Lesen abzuschicken, so daß als Antwort die Informationen in einem schlichten braunen Umschlag verschickt werden könnten. Also widerstehen Sie der Versuchung, wenn möglich; die Mühe wird sich lohnen. Masson ist nicht nur ein Künstler, sondern auch lehrreich. Das wird bereits durch seine Stellung als Universitätsbibliothekar deutlich. Er ruft in uns nicht jenes nur allzu abgedroschene Bild vom Bibliothekar hervor, der Karten sortiert und in Regalen Bücher ordnet. Der echte Bibliothekar ist in Wirklichkeit der ultimate Lehrmeister, der allen, die ihrer bedürfen, die gesammelten Aufzeichnungen der gesamten Menschheit zugänglich macht. Masson nimmt uns behutsam am Arm, schiebt uns auf einen Platz und erzählt uns eine faszinierende Geschichte. Wir nicken vor uns hin, recht angetan davon, und erst nachdem er das Zimmer verlassen hat, merken wir, daß wir unterdessen auch etwas sehr Bedeutsames gelernt haben. Schon lange hege ich persönliches Interesse an der 11
Linguistik, deshalb hat mich »Nicht so sicher« ganz besonders in ihren Bann gezogen. Hier liegt das klassische SF-Format vor; ein Forschungsraumschiff sucht einen fernen Planeten auf, es gibt Schwierigkeiten mit extraterrestrischen Eingeborenen. Alles gute Unterhaltung, leicht zu lesen und in dieser Vordergründigkeit ein reines Vergnügen. Erst nachher erkennt man, daß man eine Anzahl grundsätzlicher, faszinierender linguistischer Fakten vermittelt bekommen und sie sich auf die müheloseste Art und Weise angeeignet hat. Nicht einen Moment lang soll vergessen werden, daß Masson ein wundervoller Geschichtenerzähler ist. Seine Stories haben eine erzählerische Dichte, die der Intensität der Charakterisierung in einer Story Hemingways nicht nachsteht. Hemingway teilt dem Leser wenig über einen Charakter mit, während sein Werk so vieles offenlegt – und noch viel mehr nur andeutet. Masson vollführt das gleiche mit der Gesellschaft und ihren Entdeckungen in »Die unendliche Wahl«. Wir sehen, er ist mit dieser von ihm erdachten Welt der Zukunft so gut vertraut, daß er ein Buch über sie schreiben könnte; die Fülle seines imaginativen Wissens ist offen ersichtlich. So wie Hemingway über einen seiner Charaktere alles wußte, sich darüber im klaren war, daß das, was er ausließ, mehr Bedeutung hatte als das, was er hinschrieb, so weiß Masson alles über speziell diese künftige Welt. Man ist versucht, viel zuviel über diese Geschich12
ten zu schreiben, statt sie für sich selbst sprechen zu lassen. Doch es reicht aus, hier abschließend zu sagen, daß sie nicht nur erstklassige Beispiele der Kurzgeschichte sind, sondern zudem einwandfreie Exemplare jenes außergewöhnlichen Viehs namens Science Fiction-Story. Sie zeichnen sich durch alle Stärken und keine einzige Schwäche dieser Erzählform aus. Harry Harrison, 1976
13
VERLORENER BODEN
Noch lauert die Schlange im Gras, der Entführer auf den Weiden von Enna, wartet die ins Feld der Zeit geschobene Fußangel, die Falltür zur Hölle. Freilich, mancher kann sich überall zurechtfinden.
»Iß jetzt deinen Speck auf, May«, sagte Miriel. »Papa ist fertig, um dich wegzubringen, also laß ihn nicht warten.« May, die unbeirrbar hartnäckig vor sich hin summte, nahm ihre Gabel zur Hand und fing mit den knusprigen Bröckchen zu spielen an. »May!« wiederholte Miriel in scharfem Ton. Die Zehnjährige schüttelte zwar störrisch ihre Locken, fügte sich aber. Philip, dessen dunkle Augen mit dem Ausdruck eines besorgten Hundes in den Mienen von Mutter und Schwester forschte, rührte in seinem Porridge. Er war erst im dritten Lebensjahr. Roydon, hinter der Zeitung versteckt, rutschte ein wenig in seinem Sessel herum, sich mißbehaglich des säuerlichen Biskuitgeruchs in der Sonne bewußt. STREIK INFOLGE KÜRZLICHER PERIODE SCHLECHTEN KLIMAS? lautete eine Schlagzeile. NEUES TOBEN SUCHT OHIO HEIM besagte eine andere. Roydon runzelte die Stirn, steckte sich einen winzigen Ohrhörer ins Ohr und schaltete den Minirecorder ein, den er auf die neuesten Voraussagen eingestellt hatte. 14
»Über Schottland und dem übrigen Norden wird eine Ballung von Niedergeschlagenheit und ähnlichen Tiefs in rascher Folge die andere ablösen«, verhieß die Vorhersage. »Unsicherheit und ziemlich trübe Stimmungen heute und morgen, gefolgt durch kurze Anwandlungen von Kummer, teils drückend, teils stürmisch, dazwischen zeitweise heiter und klar. Gegen Mitte der Woche wird der Kummer sich verzogen haben, im Süden etwas früher. Tendenz schwach bis mäßig, springt um ins Kreative bis Instinktive. Temperament für den Rest der Woche kühler als normal, aber mild. In der zweiten Hälfte der Woche wird allerdings in tiefliegenden Gebieten mit der Entstehung frühmorgendlicher Ängste gerechnet, die sich jeweils erst im Laufe des Tages verziehen.« Roydon schaltete den Recorder ab und entfernte den Ohrhörer aus seinem Ohr. »Gib May mal besser ‘ne gebremste Pep-Pille, ehe sie geht. Die Voraussage ist ein bißchen mies. Würde mich nicht überraschen, wenn es auch heute nachmittag ab und zu Kummer gibt.« »Na schön«, sagte Miriel. »Hier, May, schluck das mit deinem Tee. Und du könntest ruhig auch eine nehmen, Liebling. Phil kann ich eine sofort wirksame Vierteldosis verabreichen, falls er zum Spielen rausgeht.« »Ach, muß das sein, Mami?« meinte May. »Die Schule ist doch so in Ordnung, das Zeug wird immer beim Frühstück rumgereicht.« »Ja, May. Ich glaube, Miss Wetterbrück ist in die15
sen Angelegenheiten ein wenig unvorsichtig. Immerhin hat sie ja noch an vieles andere zu denken.« »Oh, also gut.« Als Roydon dann May aus seinem kleinen Stadtauto – dem grünen – steigen ließ, sang sie. Die PepPille hob auch schon seine Stimmung, die ohnehin gesichert war durch den Zerstäuber im Fahrzeug. Er mußte sich gehörig zusammenreißen, um nicht mitten im Berufsverkehr rowdyhaft zu grölen und kreuz und quer dahinzuflitzen. »Ich hätte bis zum Mittag warten und dann eine Schnellwirkende nehmen sollen«, dachte er. »Miriel verhätschelt mich – und ich laß es zu.« Das Bild ihres braunen, ovalen Gesichts, altmodisch gerahmt im glatten Herabhängen ihres weichen, dunklen Haars, schwebte einen Moment lang zwischen ihm und dem Straßenverkehr. Nach elf Jahren war es ihm unverändert ein Geheimnis und entzückte ihn. Er öffnete die Lüftungsklappen und ließ für ein Weilchen etwas von der Trauer hereinwehen. Einige Schulkinder, die auf dem Weg zur nächstgelegenen Schule am Straßenrand warteten, um die Fahrbahn überqueren zu können, vergossen Tränen. »Was für leichtfertige Eltern«, dachte er. Nach einem Moment in der klimatisierten Schule würden sie sich wieder wohl fühlen. Im Studiogebäude herrschten Wirrwarr und Geschäftigkeit. Panset, der Chef, war immerzu bald drinnen, bald draußen und vergleichsweise wenig von der Stimmungswetterlage beeinträchtigt, wenn man davon absah, daß er bei außergewöhnlich hitzi16
gen Temperamenten im Freien ein Beruhigungsmittel schlucken mußte. Die Pep-Zerstäuber funktionierten im ganzen Gebäude tadellos. Die Aktualitätensendung für den Abend begann Gestalt anzunehmen, mußte aber noch bis zum Spätnachmittag in halbgarem Zustand bleiben, bis Roydon es den Händen und Mündern der Leute im Studio überlassen konnte. Mittags rief er Miriel an, um ihr mitzuteilen, daß er, so wie die Dinge liefen, heute abend später als sonst heimkommen würde. »Gehen wir irgendwo außerhalb was essen, Vic?« rief er über den Tisch seinem Kollegen zu und heftete unter seinen buschigen Brauen einen charakteristisch eindringlichen Blick auf ihn. »Ich bin den Kantinenfraß allmählich satt.« »Dann pep dich besser noch mal richtig auf, Royo, draußen ist ein scheußlicher Kummer«, sagte Ken Mattock, der gerade eintrat und durch zusammengedrückte Nasenlöcher tief und unregelmäßig Atem holte. »Ach, wir gehen bloß bis zur Ecke, das ist nicht weit, also werden wir’s wohl überleben, was, Vic?« »Wenn’s dir nichts ausmacht, nehme ich trotzdem lieber vorher einen fixen Muntermacher, ich bin heute früh nämlich reichlich abgeschlafft«, sagte Vic und bediente sich aus seinem Pharmatäschlein. »So, das wird mich wieder in Schwung bringen – jetzt bin ich bereit.« Am selben Abend, nachdem sie die ziemlich verstörte May endlich dazu gebracht hatte, sich ins Bett 17
zu legen, schnitt Miriel nochmals das Thema der Sicherheitsvorkehrungen in der Schule an. »Weißt du«, sagte sie, »mir mißfällt’s, wie sie dort die Peps und Ruhigsteller austeilen – viel zu gedankenlos und zu schnell damit bei der Hand. Nach dem Mittagessen habe ich May im roten Stadtauto hingebracht – sie war ganz außer sich und konnte es nicht erwarten, wieder reinzukommen. Ich habe mit dem Direktor gesprochen. Künftig werde ich ihr mit größter Umsicht ihre Mittelchen geben, und sie wird zum Essen in der Schule bleiben. Das heißt, sie wird nicht mehr so fahrlässig dem Freien ausgesetzt sein.« »Du verzärtelst sie zu sehr«, sagte Roydon. »Nein, Roy, ich kann nicht zulassen, daß ihre Bildung wegen dieser ständigen Stimmungsschwankungen in die Binsen geht. Manchen Eltern mag das ja egal sein, aber uns nicht. Wir müssen an ihre Zukunft denken.« Roydon gab nach. Er seufzte beim Gedanken an das Goldene Zeitalter in der Erinnerung seiner Eltern, als die Weltatmosphäre den Menschen keine anderen Unannehmlichkeiten als gewöhnliches Wetter und ein bißchen Fallout beschert hatte. Ein Punkt in der heutigen Aktualitätensendung, der das Chaos in Afrika und Indien betraf, durch pharmakologische Hilfeleistungen mit knapper Not eingedämmt, unterstrich noch seinen Gedankengang. Die Inder und Afrikaner versuchten Kummer mit hektischen Tanzdarbietungen nach dem Muster der einstigen Abhilfe durch die Tarantella im Mittelmeerraum sowie Wut18
ausbrüche und Ängste durch große Chorgesänge zu vertreiben, doch naturgemäß waren diese volkstümlichen Hilfsmittel wenig verläßlich. Nur die fortgeschrittensten Nationen waren dazu imstande, den neuartigen emotionalen Einflüssen in der Luft zu begegnen: mit Klimaanlagen oder Drogen, die feinwirksam genug waren, um hinlänglich schnell oder ausreichend langsam ihre Wirkung zu tun, ohne das Urteilsvermögen und die körperlichen Reaktionen zu beeinträchtigen. Roydons »Welttag«-Sendung kam, und er schaute sie sich pflichtgemäß und selbstkritisch an. Danach folgte in der Reihe »Koryphäen der Wissenschaft« ein Interview mit einem Mikrodiathesiologen. »Sehen Sie mal«, erläuterte der Gelehrte, »das Stimmungsklima differiert nicht bloß von Land zu Land, sondern sogar von Ort zu Ort, es ist unterschiedlich zwischen Straße und Dach, zwischen Talsohle und Abhang, und zwar manchmal in krasser Weise. Man denke sich einmal die Ecke eines hohen Gebäudes oder die Höhe einer Klippe. Während die allgemeine Stimmungslage in der Umgebung am einen Tag oder in der einen Stunde düster sein kann, am nächsten Tag oder in der darauffolgenden Stunde dagegen optimistisch, wechselt die Stimmung im Bereich des Acron, wie wir dazu sagen, oft vom einen zum anderen Augenblick, von der Verzweiflung zur Ekstase und umgekehrt. Infolgedessen tritt im einen Moment halb mystische, naturliebende Lebensfreude auf, im nächsten Moment springt der Betroffene in den Tod.« 19
»Aber in anderen Bereichen erlebt man ein derartig schroffes Umschlagen der Stimmung nicht, oder?« »Normalerweise nicht. Tatsächlich ist das Mikrosentiment an zahlreichen Stellen stabiler als die allgemeine Stimmungswetterlage in Kopfhöhe. Die Oberfläche von Sumpfland zeichnet sich immer durch Depressionen und Furchterregung aus. In einem Park oder einem anständig gepflegten Garten ist sie herzlich, freundlich, friedlich. Und natürlich gibt’s noch eine dritte Klasse der Mikrodiathesis, die im Rhythmus von vierundzwanzig Stunden wechselt. Ein Wäldchen oder ein See ist zur Mittagsstunde gewöhnlich heiter und gelassen, zur Mitternacht – im Mondschein – ist er amorös, aber in völliger Finsternis äußerst feindselig und angstvoll. In diesem Fall hängt die Natur des Kreislaufs vom Grad der Helligkeit ab.« Hier gähnte Roydon demonstrativ und schaltete den Apparat ab. Details dieser Art überforderten ihn, das merkte man seinem Gähnen an. Sein Herzschlag jedoch beschleunigte sich. Solche Sendungen empfand er als beunruhigend. Die Welt war auch ohne diese örtlichen Einflüsse gefährlich genug. Er zog es vor, nicht zuviel darüber zu wissen. Die Zuflucht von Miriels Armen und Haar sperrte die Welt und ihre Gefahren aus. Drei Jahre später geschah es. Roydon, der inzwischen zum Studio-Team von »Welttag« gehörte und dessen normale Arbeitszeit nun zwischen fünfzehn 20
und dreiundzwanzig Uhr lag, erhielt an einem Märznachmittag gegen siebzehn Uhr im Studio einen Anruf. »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst mich abends nicht anrufen – hier geht’s viel zu hektisch zu!« »Roy, Roy, es geht um Phil! Er … er …« »Ihm ist was zugestoßen?« schrie Roydon. Ihm fiel ein, daß meistens einige erheblich ältere Kinder Phil vom Kindergarten nach Hause brachten. Unter Geschluchze erzählte Miriel ihm, daß Phil und seine Freunde während des Heimwegs auf der Straße hinter einem Gefälle unvermutet in eine Terror-Tasche geraten waren; und als sie auseinanderliefen, war Phil anscheinend wie von Sinnen über die Straße gerannt, direkt in ein Auto. Im Handumdrehen war alles vorbei gewesen. Nach der Beisetzung, die wie zur Ironie an einem Morgen der Wohlgelauntheit und Heiterkeit stattfand, sah es so aus, als müsse Miriel, die sich bis dahin streng beherrscht hatte, einen Zusammenbruch erleiden. Sie verweigerte die Einnahme sämtlicher Drogen, rührte sich selbst an den fröhlichsten Tagen kaum und verfiel in so etwas wie störrische Trauer. Roydons Eltern, die für einige Tage bei ihnen geblieben waren, nahmen May bei sich auf – sie wohnten nicht allzu weitab –, und für den Rest des Schulhalbjahrs brachten sie sie zur Schule und holten sie ab. Es gelang Roydon, sich freizumachen, und er fuhr mit Miriel westwärts in einen wilderen Teil des 21
Landes, den sie beide noch nicht kannten und wo nichts sie an Philip erinnern konnte. Sie ließen die zwei Stadtautos daheim und mieteten einen Geländewagen. Allmählich begann sich Miriel zu erholen, aber ihr Blick blieb irgendwie gespenstisch und neigte dazu, durch Roydon hindurch oder an ihm vorüber zu starren – und das bereitete ihm Sorge. Der Frühling gestaltete sich angenehm, die Stimmungswetterlage war optimistisch, mit nur gelegentlichen Eintrübungen von Kummer. Roydon ließ Miriel vom Kummer erfassen, wenn sie sich auf Spaziergängen befanden, und manchmal auch sich selbst, weil er das Gefühl hatte, daß sie von angestauten Emotionen befreiten. Am ersten Sonntag nach der Abfahrt gingen sie in die Kirche. Die zahlenmäßig recht kärgliche Gemeinde saß zusammengedrängt inmitten des kalten frühgotischen Innern. Die Predigt taugte nichts. Aber die graugrüne Düsternis und die schmalen Bogengewölbe hatten eine besänftigende Wirkung. In der Stille summte leise der Motor des Kraft & RuheDuftstoffgebläses. Danach allerdings bereute Roydon sehr, daß sie die Kirche aufgesucht hatten, denn beim Verlassen gerieten sie auf den Kirchhof, und dort blieb Miriel plötzlich mit einem Schaudern stehen. Das Begräbnis lag noch nicht lange genug zurück. Ringsherum standen wie trunken geneigte Grabsteine, die Inschriften im weichen Stein dieser Gegend zu Kerben verwittert. Aber sie war vor einem besonders hohen und breiten Grabstein verharrt. 22
»Schau nur, Roy«, sagte sie unsicher. »Womöglich hast du hier einmal einen Vorfahren gehabt.« »Tja, wahrhaftig, der Name endet mit ›back‹, und der zweite Buchstabe ist zweifellos ein R. und anscheinend ist die Länge auch richtig. Aber den Vornamen kannst du auch nicht entziffern, oder?« »Nein, ich glaube nicht. Was für eine lange Inschrift.« »Den paar Worten zufolge, die ich lesen kann, war das wohl so ein Ausbund von Tugend. So eine Lokalgröße, denke ich. Auf den Grabsteinen hat man früher Heilige aus ihnen gemacht. In Wirklichkeit hat er wahrscheinlich die Hälfte aller Bälger in der ganzen Gemeinde gezeugt und die Pächter schikaniert. Ich werde irgendwann mal einen Blick ins Kirchenbuch werfen, bloß für den Fall, daß er tatsächlich den gleichen Namen gehabt hat. Andererseits ist der Name allerdings nicht einmalig.« »Was hat es mit den Snevley Fields eigentlich auf sich?« erkundigte sich der Hüne am Tresen. Roydon, der bei einem Krug Bier saß, drehte sich halb um. Miriel war oben im Zimmer. Der hochgewachsene Mann, der wie ein Grundbesitzer oder Geschäftsmann aussah, unterhielt sich mit einem stämmigen, kleinen Burschen, der ebenso gut Bauer wie Rechtsanwalt sein konnte. »Was möchtest du über die Snevley Fields wissen?« »Merkwürdige Sachen passieren dort … worum 23
handelt’s sich?« »Dort geschehen ganz entschieden merkwürdige Dinge«, sagte der gedrungene Mann, der vor sich, genau wie der Hüne, einen Whisky stehen hatte. Roydon spitzte seine »Welttag«-geschulten Ohren. »Anscheinend ist Morris’ gesamtes Vieh dort verschwunden. Genauso wie Midgleys Hund. Midgley ist auf der Seite der Carruthers vorbeigegangen, und sein Hund war hinter Kaninchen her. Das war vor einer Woche, und seither hat niemand den Hund mehr gesehen.« »Aber das ist doch völlig plattes Land, ohne alle Dachs- oder Fuchsbauten.« »Genau. Und erst recht ohne Löcher, in denen Kühe verschwinden könnten …! Midgley hat ein bißchen Schiß, selbst das Gelände zu betreten. Und was Morris betrifft, er glaubt, daß das Land verhext ist. Er redet von Feen und so was. Er wagt sich nicht mehr in die Nähe. Er ist ein wenig abergläubisch, der alte Morris.« »War’s am hellichten Tag?« »Von Morris’ Rindern wissen wir’s nicht. Aber Midgleys Hund ist am frühen Nachmittag abhanden gekommen.« »Irgendwelche Anhaltspunkte?« »Keine! Die einzige Auffälligkeit ist, allem Anschein nach sind die Snevley Fields von irgend jemand mit neuen Hecken bepflanzt worden, sagt Morris. Er hat’s durchs Fernglas gesehen. Er sagt, die neue Bepflanzung geht bis hinter den Bach.« 24
»Snevley ist doch verpachtet, oder nicht?« »Ja, an Leute aus Scrutton. Aber sie sind schon wochenlang nicht mehr hier gewesen.« »Ihr sprecht über die Snevley Fields?« mischte sich ein hochaufgeschossener Mann ein, der einen Mantel trug und am anderen Ende des Tresens stand. »Ja, und Harry sagt, diese sonderbaren Dinge reichen bis über den Bach hinaus.« »Das stimmt«, sagte der Lange. »Und da ist noch was. Ihr wißt, daß der Bach zwischen den beiden Heckenreihen ein ganzes Stück weit völlig geradeaus verläuft? Das Bachbett ist schon vor langem entsprechend gegraben worden.« Die beiden anderen Männer nickten, zum Zeichen der Zustimmung. Drei weitere Zuhörer taten das gleiche. »Tscha, und jetzt ist es nicht mehr so. Nun fließt er ganz wild gewunden. Und die Hecken – sie sind fort!« Bedrücktes Schweigen schloß sich an. »Ich weiß, daß noch jemand in der Gegend einen Hund verloren hat«, rief ein schwärzlicher Mann in einer Ecke. Schweigen. Köpfe drehten sich. »Ted war’s. Seine Hündin lief am Parker’s Knoll rum, kommenden Freitag muß es ‘ne Woche her sein. Sie hat auch Kaninchen gejagt. Ted sagt, er hatte sie im Blickfeld, und auf einmal ist sie einfach weg gewesen.« »Was soll das heißen, weg?« forschte der Hüne nach. »Vor seinen Augen ist sie verschwunden, mitten auf dem nächstgelegenen Feld. Heda, Fred, hol mal das Sprühdings raus, diese gereizte Stimmung sickert 25
wieder herein … mir sträuben sich die Nackenhaare.« »Bei dir is’ das bloß der Whisky, Bill«, rief der Gedrungene in das allgemeine Gelächter hinein, doch der Wirt brachte eine Spraydose zum Vorschein und versprühte Kraft & Ruhe-Aroma im Lokal. »Na ja, wie gesagt, sie ist vor seinen Augen verschwunden. Im einen Moment war sie noch da, sauste wie ein Blitz übern Acker Im nächsten Augenblick – da war sie einfach weg. Ist auch nie wieder nicht aufgekreuzt.« »Das ist aber verdammt viel Land, das. Zwischen Snevley und Parker’s Knoll.« »Und genauso auf der anderen Seite, zwischen Goffs Brook und Snevley, würde ich sagen«, meldete sich ein kleinwüchsiger Mann zu Wort, der sich bis dahin nicht geäußert hatte. Roydon, der an Interviews mit ländlichen Typen schon gewöhnt war – oder daran, wie sie mißlangen –, hielt zu alldem den Mund, aber nach einer Weile fand er eine Gelegenheit, den Kellner hinterm Tresen nach den Namen des Langen und des Gedrungener zu fragen, und wieder etwas später sprach er den Wirt an und bekam von ihm ihre Anschriften (wie sich herausstellte, waren sie der Kolonialwarenhändler des Dorfes und der örtliche Kraftfahrzeugmechaniker) und die ungefähre Lage von Goffs Brooke. Snevley und Parkers’ Knoll beschrieben. Er behauptete, Sonntagsmaler mit einer Vorliebe für Landschaften zu sein und zudem für später am Angeln Interesse zu haben. 26
Am darauffolgenden Morgen, angetrieben von einem starken Instinkt, während ein herzhaft-munteres Temperament in der Luft lag, trat Roydon mit Miriel eine kleine Wanderung an, um sich das geheimnisvolle Gebiet anzuschauen. Die Voraussagen waren einigermaßen optimistisch, und er dachte, ein ausgedehnter Spaziergang mit ihm könne sich auf Miriel nur positiv auswirken, während er gleichzeitig einer Angelegenheit nachzugehen versuchte, die etwas für die Aktualitätensendung herzugeben versprach. Nach zwei Stunden befanden sie sich in Sichtweite des Gehöfts, das den Namen Snevley trug. Dahinter erstreckten sich unterhalb eines flachen Abhangs die Snevley Fields, eine Reihe von Weiden, die bereits dicht an dicht übersät waren mit Butterblumen. Das Paar verschnaufte. »Laß uns um dieses Feld gehen und dann hinauf zu dem Gestrüpp. Vielleicht haben wir von dort aus besseren Ausblick auf diese Lücke in den Hecken, von der die Leute geredet haben.« Als sie die dem Gebüsch nahe gelegene Ecke der Weide erreichten, wo sich ein merkliches Absinken der emotionalen Temperatur spüren ließ, machte Roydon ein paar Fotos. Die Kühle war in wachsendem Maß feindselig spürbar und seine Frau durch keinerlei Drogen gegen sie geschützt. »Du bleibst hier stehen und wartest, Miriel. Ich steige auf die Anhöhe und schaue nach, was man dort von dem Baum aus erkennen kann.« Roydon entfernte sich. Eine hochgradig argwöhnische Stimmung beherrschte den Hügel. Als Roydon zum Baum auf der Hügel27
kuppe gelangte, wandte er sich um. Miriel war nicht mehr zu erblicken. Roydon betrachtete, während er aus vollem Hals ihren Namen brüllte, die Landschaft ringsum. Er glaubte, in einigem Abstand auf einem schmalen Wiesenstreifen zwischen zwei Hecken einen flackrigen Flecken zu sehen, der sehr schnell dahinsauste. Schon in der nächsten Sekunde war er verschwunden, in der näheren Hecke aufgegangen. Vielleicht war zwischen den Hecken eine Saatkrähe durch die Luft geschwirrt. Die geschwinden Schatten von Wolken trübten die weitere Sicht. Nachdem er gut eine Minute lang nach Miriel gerufen hatte, lief Roydon den langgestreckten Hang wieder hinunter und kam nach einer Weile, außer Atem und benommen, Schmerzen in den Knien, an der Stelle an, wo sie sich getrennt hatten. Er entdeckte ein paar gebrochene Zweige, und nach etlichem Umherspähen war ihm, als könne er nahebei in der Erde Abdrücke ihrer Schuhe erkennen, die in die Richtung, aus der sie gekommen waren, zurückführten. Dahinter jedoch verbarg hohes, zähes Gras alle denkbaren Spuren. Das Gefühl von Feindseligkeit nahm zu, vermischt mit akuter Furcht. Durch das Gezweig und die Gräser fauchte der Wind. Roydon ertappte sich dabei, wie er »Kuh, blöde Kuh!« vor sich hin murmelte. Er zwang sich dazu, eine Pille zu schlucken, merkte einige Minuten später jedoch, daß er versehentlich eine mit Langzeitwirkung genommen haben mußte. Heiser vom Schreien und Fluchen, stolperte er dorthin 28
zurück, wo sie den ersten Ausblick auf Snevley erhalten hatten, davon überzeugt, daß sich Miriel unterdessen auf dem Rückweg befand. Als er sich Snevley näherte, geriet er in einen Schwall von Zorn und Gram. Mit Geschluchze und Gezeter, wobei ihm Tränen über die Wangen rannen, lief er durch den Hof und stürmte durch die offene Tür ins Gebäude. Niemand war im Haus. Er hastete von Zimmer zu Zimmer, ohne irgendwen oder einen Hinweis auf irgend jemandes Anwesenheit zu finden, schaute im Laufe seiner Suche sogar in sämtliche Schränke, entfloh schließlich dem Gehöft und eilte zurück zum Dorf. Zu gute Letzt taumelte er, inzwischen in einem Zustand rührselig-weinerlicher Exaltiertheit, nachdem die Pille in aufmunternderer Umgebung endlich gewirkt hatte, ins Gasthaus. Miriel war nicht im gemieteten Zimmer. Kein Mensch hatte sie gesehen. Jemand brachte ihn zur Polizeiwache, in deren mit Tranquilizern angereicherter Luft er seine Geschichte vortrug. »Jetzt reicht’s«, sagte der Sergeant. »Ich rufe das HQ an. Diese Fälle von Verschwinden liegen außerhalb unserer Möglichkeiten.« Noch am selben Abend war unversehens Roydon selbst derjenige, den man für »Welttag« interviewte. Ken war per Jet au: London angebraust gekommen, um mit ihm persönlich zu reden Am nächsten Tag waren die Kriminalpolizei und aus dem Westen der Gegend die Hälfte aller Nachrichtenjäger des Distrikts eingetroffen. Niemand wagte die »Verbotene 29
Zone« zu betreten, und das Heer errichtete einen Kordon. Im weiteren Verlauf der Woche schaffte man einen Hubschrauber und ein Rudel Spürhunde mit Langlaufleinen und daran befestigten Mikrofonen heran. Die Spürhunde entdeckten nichts, aber zwei von ihnen verschwanden von ihren säuberlich durchtrennten Leinen. Von Hubschrauber aus konnte man nichts erkennen als Felder und Wiesen, auf denen sich nichts Lebendiges rührte, ausgenommen Vögel; zwei Einheimische allerdings versicherten (Midgley und der Gedrungene), nachdem man sie dazu hatte überreden können an einer Flugerkundung des Geländes teilzunehmen, die Landschaft habe sich (soweit sie das sagen konnten, denn sie waren zu vor noch nie geflogen) stark verändert. Das Areal war nunmehr mit Rollen von Stacheldraht abgesperrt, ringsherum hatte das Militär Wachtposten eingerichtet, und man betrieb eine ziellose Beobachtung, zu der man des Nachts gelegentlich einen Scheinwerfer verwendete. »Lieber würde ich geradewegs in so’n beschissenes Minenfeld laufen als da reingehen«, hörte Roydon einer Soldaten zu einem anderen sagen. »Nehme an, das is’n Minenfeld, bloß eins von ‘ner anderer Sorte«, sagte der andere Soldat. »Ich nehme an, da hat’s verfluch tiefe Gruben, prima getarnt.« Roydon flog nach London. Er wollte aus allem aussteigen. Die Stadt empfand er als sinnlos, wie einen 30
unsynchronisierten Film in einer fremden Sprache. Ihr Lärm und ihre Geschäftigkeit schienen auf der anderen Seite einer unsichtbaren Barriere stattzufinden. »Hör mal her, Royo«, sagte Vic, indem er ihn neben dem Studio zur Seite nahm, »eine Untersuchungskommission wird die Gegend aufsuchen. Warum schließt du dich ihr nicht als Reporter an? Panset sagt, er würde dich empfehlen.« »Was sind das für Leute?« »Irgendwelche Wissenschaftler. Du weißt ja, als Ken dort war, hat man mit einer Lidar-Sonde gewisse Anomalien festgestellt… oder weißt du’s vielleicht gar nicht? Einige von ihnen glauben, es könne mit der raumzeitlichen Geometrie der Region etwas nicht stimmen. Jedenfalls befassen sie sich jetzt mit dieser Möglichkeit.« May kam in die Obhut einer Tante und eines Onkels. Roydon durfte sich dem Team der Wissenschaftler anschließen, machte das Haus dicht und kehrte an jenen scheinbar verfluchten grünen Landstrich zurück, an den er nun – wie mit Gurten an ein Streckbett – gebunden war durch Bande von Furcht, Zorn, Erinnerungen und Liebe. Allmählich gelang es ihm, die Gedankengänge der Untersuchungskommission und die Richtung, die ihre mit Masern und geladenen Partikeln durchgeführten Experimente nahmen, zumindest in verschwommener Weise geistig nachzuvollziehen. So ergab es sich, daß sechs Monate später Roydon selbst, indem er für das Fernsehen mit dem Pressesprecher der Gruppe ein vorbereitetes 31
»Interview« machte, der Öffentlichkeit ein erstes Bild von dem, was geschah, vermitteln konnte. »In dieser Landschaft ist eine Ballung anachronistischer Zellen oder Domänen entstanden und hat sich über ein weites Gebiet ausgedehnt. Jede Zelle ist in der Zeit an einen früheren Punkt zurückgekehrt – gegenwärtig können wir noch nicht genau sagen, an welchen Zeitpunkt –, und die benachbarten Zellen haben sich in gleicher Art zurückentwickelt, aber anscheinend ohne ein zusammenhängendes Muster zu bilden. Wir haben es hier praktisch mit einer Flickwerk-Überlappung verschiedener Zeitebenen zu tun.« »Wie weit sind diese rückwärtigen Zeitebenen von uns entfernt?« »Das wissen wir nicht. Einige liegen vielleicht nur ein paar Sekunden oder Mikrosekunden zurück. Bei anderen können es mehrere Wochen sein oder Jahre, möglicherweise sogar Jahrhunderte. Einige sind bestimmt um viele Jahre zurück. Es lassen sich Übereinstimmungen zwischen Veränderungen sichtbarer Landmarken und alten Zehntschaftskarten feststellen.« »Aber wenn wir das Land sehen, wie ist es dann erklärlich, daß wir die verschwundenen Personen und Tiere nicht sehen können?« »Wir vermuten, sie haben das Gebiet verlassen, aber innerhalb der zeitlichen Zelle, in die sie geraten sind.« »Legt also die zeitliche Zelle, in die man zuerst gerät, die Zeitebene fest, in der man bleibt?« 32
»Darüber wissen wir noch nichts. Es kann, muß aber nicht so sein.« Eines Tages schlich Roydon, der als Mitglied des wissenschaftlichen Teams alle Posten der Armee passieren durfte, still zu der Stelle, wo er seine Frau zuletzt gesehen hatte. Mittlerweile hegte er die Überzeugung, daß sie sich weiter in das betroffene Gebiet entfernt hatte; daß sie es gewesen war, die er erspäht hatte, wie sie fortlief, kein Vogel in niedrigem Flug. Doch der Anblick, den die Landschaft bot, verwirrte ihn, die Orientierung fiel schwer. Wo er nach seiner Meinung unterhalb der Anhöhe zur Ecke der Weide gelangt sein mußte, fand er nun einen langen Steindamm, an den sich steinerne Stufen lehnten, und dahinter verlief ein Zaun. Er überquerte den Damm und hielt sich geduckt, für den Fall, daß ihn außerhalb der Zone jemand bemerken könnte. Roydon war fest dazu entschlossen, Miriel zu folgen und sie in dieser vergangenen Welt – wenn nötig, jahrelang – zu suchen. Die Atmosphäre war gut gelaunt und wies leicht intellektuelle Strömungen auf. Er durchstreifte das Gesträuch, kehrte um, strebte am Zaun entlang, schlitterte Steine hinab, von denen er sich nicht entsann, sie schon einmal gesehen zu haben, drang in eine zutiefst herzliche Atmosphäre vor, wanderte um einen runden Tauteich und an einer knorrigen alten Weißdornhecke vorbei und stand plötzlich einem stinkigen, in Lumpen gekleideten Greis gegenüber, der sich an die Stirn faßte und auf ein Knie sank. »Woher kommen Sie?« 33
Roydon mußte die Frage dreimal wiederholen, bevor der Mann antwortete. »Scrootton, so’s b’liebt, Herr.« »Haben Sie hier in der Umgebung eine junge Frau in seltsamer Kleidung gesehen?« »?« »Haben – Sie – hier in der Nähe – eine –junge – Frau – in seltsamer Kleidung – gesehen …?« Roydon mußte die Frage nochmals wiederholen. »Nee, Herr«, erhielt er dann Auskunft. »Han nimmer keen Hex’ g’sehn, Herr!« Damit gab die Gestalt Fersengeld. Als Roydon zur Verfolgung ansetzte, sah er sie mitten im Lauf in der Luft verschwinden. Roydon ging langsam weiter, reichlich aufgewühlt, stolperte über einiges Geröll, zwängte sich durch üppiges Gestrüpp und betrat einen Schafspfad, der zwischen Grasbüscheln dahinführte. Einige Meter weiter auf dem Trampelpfad sah er einen grotesken Anblick. Ein dürrer Mann in einer Art sackähnlichen Kutte, einer zerlumpten Hose, die einer schlecht bemessenen Strumpfhose glich, hockte barfüßig auf einer kurzen Leiter, die sich in verrückter Schräge über den Pfad neigte. Die Leiter schien auf reines Nichts gestützt zu sein, und ihre Pfosten endeten oben tatsächlich – sonderbar schief – wie abgesägt an einer Schnittstelle, deren Beschaffenheit sich fortwährend geringfügig änderte; trotzdem stand die Leiter ruhig und fest da, wackelte lediglich in dem Maß, wie der Mann sich bewegte. Eine Weile verstrich, bis Roydon erkannte, daß die Pfosten der Leiter, je nachdem 34
wie stark sie wackelte, mal länger sichtbar waren, mal kürzer. Unablässig stieg der Mann hinab – und mit Bündeln, die für Roydons Begriffe nach Dachstroh aussahen (er hatte einmal ein Museum alter Handwerkskünste besucht), wieder hinauf, und die Strohbündel schob er übers Ende der Leiter hinaus, wo sie mitsamt seinen Händen außer Sicht verschwanden. Seine handlosen Arme, jeder auf anstößige Weise verstümmelt durch einen wechselhaften, weißbläulichen und karmesinroten Querschnitt, hantierten jedesmal eine Zeitlang mit dem Stroh und kamen danach wieder zum Vorschein, wogegen die Bündel verschwunden blieben. Am Erdboden befand sich ein großer Haufen dieser Strohbündel. Die ganze Stelle wimmelte von Fliegen und Mücken. Der Mann auf der Leiter summte endlos einen unheimlichen, klagenden Gesang vor sich hin. Hinter ihm konnte man den Rand einer Waldlichtung sehen. Nahebei lungerten geschmeidig zwei hagere Hunde herum, die wie Jagdhunde aussahen, aber recht lange, spitze Ohren hatten. Die Baumwipfel des Waldes schienen in einer Höhe von etwa drei Metern abgehackt worden zu sein. Der Mensch auf der Leiter und seine beiden Hunde beachteten Roydons Rufen und Winken nicht im geringsten, bemerkten es anscheinend überhaupt nicht. Irgend etwas jedoch verhinderte, daß Roydon an der Leiter vorbeigehen oder sie überqueren konnte. Vielleicht lag es daran, daß nur dreieinhalb Meter hinter dem Mann die Waldlichtung eine starke Einbuchtung aufwies, die an der rechten 35
Seite sofort in den Schafspfad überging. Außerdem war dieser Teil des gestutzten Waldes mit Frost bedeckt, die Äste waren ebenso vereist wie das von jedem Unterholz entblößte Erdreich, und leichtes Schneetreiben rieselte aus dem Nichts herab. In diese winterliche Waldlandschaft, erhellt von rötlichem Schimmer aus dem Osten, kam unversehens ein Rudel großer, wilder Hunde gestürmt, die wütend bellten und quer durchs Gelände auf den unverändert achtlosen Mann mit der Leiter und seine beiden Hunde zuliefen. Doch statt sich auf sie zu stürzen, verschwand das Rudel Tier um Tier mitten in der unbewegten Luft der Lichtung, und indem die Hunde einer um den anderen verschwanden, stellte sich nach und nach wieder Stille ein. Ein letzter Hund, ein Nachzügler, sprang noch heran, da ließ der Mann auf der Leiter, als wende er sich an jemanden weit hinter Roydons Rücken, einen Ausruf vernehmen. »Dasch d’ Pescht dir hol’, Will, nu sput’ dir, ‘s isch faschd Middah!« Er verhielt, wie um zu lauschen, dann lachte er mit Gepruste auf und setzte sein Gepfeife und Summen fort. Tief im frostigen Wald erschollen sonderbare Bläsertöne, untermischt mit Geschrei; dazwischen hörte man das Knacken von Geäst und regelmäßiges, dumpfes Knallen. Von so etwas wie Panik gepackt, flüchtete Roydon den Trampelpfad entlang, preschte durch ein düsteres Dickicht und geriet –ohne jede Vorwarnung – mitten in einen merkwürdigen, breiten Tunnel oder anders36
artigen Hohlraum, dem Anschein nach geschaffen aus schwärzlichem Glas, schwach erhellt durch eine nicht feststellbare Lichtquelle. Die Luft enthielt deutliche Heiterkeit und ausgeprägten Ordnungssinn. Als er wieder ans Tageslicht gelangte, sah er vor sich einen weiten, flachen, ebenen Streifen aus dem gleichen Material, wie die fast hundert Meter breite Spur einer gigantischen Schnecke. An den Rändern stand auf Stangen oder Spiralfederbeinen eine Anzahl glasiger Kästen und Rohre, von denen etliche geschäftig blinkten und klickten. Der Streifen erweckte den Eindruck, er sei aufgesprüht. »Was für eine vergangene Zeit ist denn das bloß?« dachte Roydon. Auf der anderen Seite des Streifens erstreckten sich Reihen dichter Sträucher, übersät mit exotischen Schmetterlingen. Von Westen näherte sich das Brummen eines Hubschraubers. Roydon suchte Deckung unter einem Strauch und scheuchte dabei ein wenig die Schmetterlinge auf. Als der Helikopter in Sichtweite kam, sah Roydon, daß er ein reichlich ungewohntes Aussehen hatte; zum Großteil bestand er aus glasigem Material von schwärzlicher und grünlicher Färbung. Nachdem er fort war, wanderte Roydon oberhalb der Sträucher weiter. Dann nahm er unter dem Strauchwerk Deckung, als er die Maschine näherbrummen hörte, und scheuchte dabei Schmetterlinge auf. Sobald sie fort war, ging er weiter. Dann warf er sich unter dem mit Schmetterlingen übersäten Gesträuch in Deckung und behielt den Hubschrauber im Auge. Als er verschwunden war, 37
setzte Roydon seinen Weg fort und schüttelte unsicher den Kopf. Irgend etwas gab es, an das er sich nicht so richtig entsinnen konnte. Er hatte ein Dejávu-Erlebnis. Seltsam. Er erinnerte sich an den Tunnel und den Streifen. Welch sonderbarer Streifen! Welches verflossene Zeitalter mochte dies sein? Und welch ungewöhnliche Gerätschaften an den Rändern standen. Weshalb klickten und blinkten sie so …? Roydon bemerkte, daß er durch die Sträucher tappte. Er fühlte sich unüberwindbar schwindlig und benommen. Da erblickte er einige Kilometer voraus Parker’s Knoll – oder was Parker’s Knoll hätte sein müssen. Obenauf stand ein Bau, der wie ein gläserner Wasserturm wirkte. Die gesamte Landschaft dazwischen war durchsetzt mit mittelhohen Häuserblocks aus grünlichtrübem Glasmaterial, und überall zwischen ihnen verliefen Reihen von Sträuchern. Männer, Frauen und Kinder in enger Kleidung von mattseiden-weißlichem Glanz bewegten sich umher. Der Klang ihrer Stimmen erreichte ihn. Am Himmel wimmelte es dermaßen von Flugapparaten, als seien es Insekten, und all die Maschinen dröhnten und lärmten gemeinsam mit den Menschen; trotzdem waren deren Stimmen ziemlich klar unterscheidbar. Nur der ebene Streifen und seine unmittelbaren Randbereiche lagen allem Anschein nach völlig verlassen. Da erblickte er etwas, das Parker’s Knoll sein mußte, nur gekrönt von einem glasigen Turm, und er sah Menschen in hautenger Kleidung, hoch droben Flugapparate. Er schüttelte, wie um klarer denken zu 38
können, den Kopf, und da sah er Parker’s Knoll mit einem Turm darauf, die Bevölkerung, den belebten Himmel, hörte den Lärm. Roydon setzte sich hin (und zwischen dem anfänglichen Einknicken seiner Knie und dem Moment, als er schließlich saß, hatte er einen visionären Ausblick auf Millionen und Abermillionen von … von was? … von stets dem gleichen Vorgang, den er jedesmal augenblicklich wieder vergaß). Er setzte sich und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Konnte es sein, daß er sich irgendwo in der Zukunft aufhielt, nicht in der Vergangenheit? War der Hubschrauber vielleicht aus dieser Welt der Zukunft gekommen? Der Apparat kehrte zurück, und zum zweitenmal (war es wirklich erst das zweite Mal?) ging Roydon in Deckung, hörte jedoch zu seinem Erstaunen, wie ihn jemand durch irgendeine Art Lautsprecher ansprach. »Wir können Sie da unten im Gebüsch ausmachen. Wer sind Sie? Können wir Ihnen helfen? … Wer sind Sie? Sind Sie Roydon Greenback? Bitte kommen Sie heraus. Bitte kommen Sie heraus. Wir würden Ihnen gerne helfen.« Die Aussprache, die der Mann an den Tag legte, machte seine Redeweise poltrig und reichlich vulgär, und die Vokale waren nur mit Mühe herauszuhören. Roydon kletterte ins Freie und winkte. »Ja, ich bin Roydon Greenback«, rief er einen Moment später. »Und wer sind Sie? Wo bin ich?« Der Helikopter verringerte seine Höhe, und man warf eine Strickleiter herunter. »Bitte klettern Sie zu 39
uns herein.« »Ich suche meine Frau.« »Wir wissen nicht, wo sie ist, aber vielleicht können wir Ihnen helfen. Wollen Sie zuerst zu uns kommen?« Wortlos erkletterte Roydon die Strickleiter, die sich sofort als außerordentlich zügig besteigbar erwies, und man fand daran guten Halt. Während des Hinaufsteigens bemerkte er so etwas wie ein Flimmern, und als er, schon an der Luke des Helikopters, nach unten schaute, verblüffte es ihn, die Landschaft drunten von neuem menschenleer und völlig grün zu sehen. Sie war in der Tat sogar sehr üppig grün, und nur der glasige Streifen und ein paar Sträucher neben dem Fleckchen Wiese, wo er sich vorhin niedergesetzt hatte, befanden sich noch genau unter ihm in Sicht. Eine große, von einem Handschuh umhüllte Faust zog ihn in den Hubschrauber hinein. »Roydon Greenback. So, so! Sie sind bei uns so was wie eine legendäre Figur, der Mann, der in den poikilochronistischen Dschungel eindrang, um die Frau zu suchen, die er liebte. So, so. Sie haben Glück gehabt, Sie sind in eine Domäne geraten, deren Entstehungszeitpunkt plus einundsechzig Jahre her ist und die seither eine Parallelslipper-Statik aufweist. Daher sind Sie vorwärts bis in unsere Zeit gelangt. Sie hängen ursprünglich einundsechzig Jahre hinter uns zurück. Wir bringen Sie jetzt in unsere einundsechzig Jahre spätere Welt.« Die Stimme polterte nicht länger, aber ihre Ver40
zerrtheit, so hatte es den Anschein, verunstaltete weiterhin die Vokale, und dadurch – sowie durch das teils unvertraute Vokabular – konnte Roydon kaum zwei von drei Wörtern richtig verstehen. Er betrachtete den Menschen, dem die Stimme gehörte, einen hochgewachsenen, rothaarigen Mann mittleren Alters mit zottigen Locken und langem Bart. Seine Kleidung bestand scheinbar aus einem hautengen, durchscheinenden Schwimmanzug mit Taschen, aber ohne Tauchermaske und Sauerstoffgerät, und seine Hände steckten in langen, durchsichtigen Handschuhen, die bis an die Oberarme reichten. In der Hubschrauberkabine befand sich ein halbes Dutzend Personen, darunter zwei Frauen. »Ich bin Paul Sattern, Chefchronismologe. Das ist Fenn Vaughan, Chronismologen-Maturator. Dies ist Mary Scarrick, Entomologin. Hier sehen Sie Richard Metcalfe, Chronistik-Metorologe. Elisabeth Raine, Airochemikerin. Morris Ekwall, TransitionalDiathesiologe. Zen Haddock, Botaniker; er nimmt auch Erdproben für die Podologen. Und an den Kontrollen sitzt Peter Datch.« Die korrekte Reaktion auf eine Vorstellung war für Roydons Empfinden ein Nicken. Anscheinend befaßte sich Morris Ekwall auf irgendeine esoterische Art und Weise hauptsächlich mit den heftigen örtlichen Schwankungen der Stimmungswetterlage, die die Zeitverschiebungen des Gebietes begleiteten, während Richard Metcalfe die meiste Zeit hindurch in der Landschaft Geräte absetzte und ihre Messungen 41
von Instrumenten im Helikopter ablas. Was Vaughan und Sattern eigentlich taten, dahinter kam Roydon nie, doch beschäftigten sich die anderen mit den Insekten, Pflanzen, dem Erdreich und der Atmosphäre. In regelmäßigen Abständen stieg einer von ihnen – oder auch mehrere – die Strickleiter hinab, kehrte aber jedesmal ziemlich rasch in die Maschine zurück. »Chronismologen-Teams haben die Aufgabe«, sagte Sattern zu Roydon, »den Poikilochronismus und seine Veränderungen zu kartografieren. Die Domänen ändern sich ständig.« »Was meinen Sie damit? Wechseln sie ihre Zeitebene?« »Gewöhnlich zerfällt eine Domäne in mehrere völlig unabhängige Domänen, vor allem, wenn sie groß ist, oder in einem Teil des Poik wird ein Verbund von Bereichen und Domänen durch neue ersetzt, die nicht zusammenhängen. Es gibt nicht immer sichtbare Anzeichen – man muß Instrumente benutzen, um Unterschiede festzustellen.« »Und unser Richard hier«, sagte Vaughan, »versucht gerade, sie dabei zu erwischen, er denkt, das läuft nicht nur so Zack-zack, sondern Schwuppschwupp! Hä, Richard?« Und leise sang er: »Mikro, Nano, Piko, Femto, für Metro-Met, da ändert sich’s nicht: Was er auch drunten messen mag, nie hat er beim Wechseln sie erwischt.«
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Richard schaute gekränkt drein. »Sind wir jetzt vom Einfluß frei?« erkundigte sich Roydon. »Frei?« wiederholte Sattern. »Sie meinen, außerhalb des Poik? Nein. Er ist wesentlich größer als zu Ihrer Zeit. Jedes Jahr dehnt er sich um rund drei Hektar aus. Innerhalb der letzten zehn Jahre hat er viele Quadratkilometer unserer in Normaldichte bewohnten Regionen verschluckt… aber langsam. Wir mußten die Bevölkerung umsiedeln. Mit so was sind verdammt viele wirtschaftliche und soziale Probleme verbunden. Ein paar Abgeirrte sind verlorengegangen … so wie Sie.« Sattern unterbrach die Unterhaltung und sprach eine verkürzte Darstellung der Entdeckung Roydons in ein Mikrofon. Einige Minuten später sah Roydon, als er nach unten blickte, das verhaßte Grün, das bereits mit sonderbaren glasigen Klötzen und Höckern gespickt war, schlagartig enden. Dahinter lag ein Gewirr geschwungener Autobahnen, auf denen massenhaft Pünktchen dahinsausten. Nun schienen sich von allen Seiten Hubschrauber heranzudrängen, und dichter Verkehr kleiner, schneller Jets belebte über ihnen den Himmel. Bald darauf ragte weit und breit, in allen Richtungen, ein Wald vielstöckiger Gebäude aus glasigem Baumaterial empor, von Bauten in schlichter Rechteckform. Da und dort leuchteten zu Füßen der Häuser großflächige Blumenbeete oder von Schmetterlingen bevölkerte Strauchreihen, aber ein 43
Großteil des Untergrunds bestand aus dicht über dem Erdboden gestutztem, graugrünem Bewuchs. Der Helikopter schwirrte auf das Dach eines flacheren, kubischen Bauwerks hinab, und man begleitete Roydon hinunter ins Chronismatische Zentrum. Dort fand er eine kleinere, ruhige Menschenmenge versammelt, deren Angehörige alle gekleidet waren wie das Grüppchen aus dem Hubschrauber. Eine Wand der großen Räumlichkeit verwandelte sich lautlos in einen Farbbildschirm, und im Laufe der nächsten Stunde unterzogen Reporter, die auf dem Bildschirm erschienen, Roydon unter Verwendung ihrer unvertrauten Terminologie und ihres abgeflachten Akzents einem unbarmherzigen Interview. Danach fand ein Gedankenaustausch zwischen der Besatzung des Hubschraubers, einigen Leuten aus der Versammlung und den Reportern auf dem Bildschirm statt, welch letztere anscheinend in London saßen, doch schaltete man gelegentlich auch um nach New York, Moskau und Peking. Zum größten Teil entging Roydon der Sinn der Gespräche, denn die Nerven in seinem ganzen Körper schienen eine Gigue zu tanzen. Ein Mädchen mit dunkelrötlichem Haar, das er für Satterns Sekretärin hielt, führte ihn schließlich hinaus, und man reichte ihm eine Mahlzeit und ein Schlafmittel. Er erwachte auf einer Couch und mußte erneut ins Fegefeuer. Man brachte ihn im Zentrum unter, spielte ihm bisweilen Video-Aufzeichnungen des mit ihm gemachten Interviews vor, ließ ihn durch Wissen44
schaftler und Reporter von neuem ausfragen, lud ihn zum Auftreten in Feature-Sendungen ein, testete seinen Blutdruck, die Oberflächenspannung seiner Haut, die Zusammensetzung seiner Blutflüssigkeit, sein olfaktorisches Kennzeichen und führte zahlreiche weitere Untersuchungen an ihm durch, bis er nach einer Woche zusammenbrach und man ihn für zehn Tage in Tiefschlaf versetzte. Als er wieder zu sich kam, sah er das rothaarige Mädchen, dessen Name Sal lautete, wie es ihn versonnen betrachtete. »Jemand möchte Sie sprechen«, sagte es. »Machen Sie sich auf einen gehörigen Schreck gefaßt.« Die Miene des Mädchens widerspiegelte Ernst. »Wer ist es? Sind diese Personen hier?« »Nein, natürlich nicht. Per Bildschirm. Es ist jemand aus Ihrer Familie. Denken Sie schon einmal nach … wer könnte einundsechzig Jahre später noch am Leben sein?« »Doch nicht… doch nicht May?« »Es ist Ihre Tochter. Sie hieß May. Bedenken Sie, sie hat ihr ganzes Leben in normaler Zeit verbracht. Wie alt war sie, als Sie sie zuletzt gesehen haben?« Trotzdem konnte Roydon noch für geraume Zeit nicht glauben, daß diese ziemlich gebeugte, aber wohlerhaltene alte Dame in grauer Hose und grauer Jacke seine eigene Tochter sein sollte. Er empfand unbeschreibliche Verlegenheit, als ihr nach einem Moment befangenen Wortwechsels auf dem Bildschirm ein oder zwei Tränen langsam übers Gesicht 45
rannen. »Du bist genau wie auf deinem Foto«, sagte sie mit leiser, brüchiger Stimme, dann schwand ihre Fassung völlig, und sie schluchzte. »Du bist nie zurückgekommen … du bist nie wiedergekommen!« Nach und nach gelang es ihm, ihre Lebensgeschichte zusammenzufügen. Während der restlichen Jahre bis zur Volljährigkeit war sie gemeinsam mit den Kindern ihres Onkels aufgewachsen und hatte sich der Situation angepaßt, aber immer den Verlust ihrer Eltern beklagt, besonders Roydons. Eine unglückliche Ehe mit zwanzig hatte vier Jahre gedauert. Eine zweite, mit dreißig Jahren geschlossene Ehe mit einem älteren Mann hatte vor sieben Jahren mit seinem Ableben geendet. Ihre beiden Kinder – sie hielt Stereofotos von ihnen hoch – waren bereits erwachsen. Sie zeigte ihm auch Stereofotos ihrer fünf Enkel. Ein Fünfminutengespräch mit ihrem Sohn und ein Dreiminutengespräch mit ihrer Tochter schlossen sich an. Sie selbst wohnte in jenem Teil des normaldicht besiedelten Britannien, den man noch immer als Aberdeen kannte, denn dort waren auch die Verwandten ihres verstorbenen Mannes daheim. Roydon bot an, sie zu besuchen, aber allem Anschein nach reiste heutzutage ein gewöhnlicher Bürger nicht allzu viel. »Der Boden- und auch der Luftverkehr sind viel zu dicht, und der Stratoflug ist nur für weite Entfernungen«, erläuterte Sal, die nach einer halben Stunde wieder hereingekommen war. May versicherte ihm, sie sei mit dem Kontakt per Bildschirm vollauf zufrieden, und sie verabredeten, daß er sie künftig ein46
mal wöchentlich anrufen sollte. Sal, so begann nun deutlicher zu werden, war so etwas wie eine Koordinatorin, die die Verbindung zwischen dem Zentrum und anderen Institutionen zu pflegen hatte. Aber sie nahm Roydon unter ihre besondere Obhut, und an jedem Tag verstrichen nur wenige Minuten, ohne daß sie sich mit irgend etwas Eßbarem einstellte, eine Unterhaltung mit ihm anknüpfte oder ihn auf irgendwelche Möglichkeiten zum Zeitvertreib aufmerksam machte. Mittels einer Art Tele-Maßnehmer sorgte sie dafür, daß er ein passendes Exemplar der durchscheinenden Anzüge erhielt. Sie erklärte ihm zahlreiche Verhaltensweisen und Begriffe, deren Bedeutung er nicht verstand. Den Blick ihrer grünen Augen fest auf ihn gerichtet, sprach sie ihm langsam schwierige Wörter mit rauchiger Stimme vor. Wenn sie sich im Freien befanden, schenkte sie seinen Reaktionen auf die Stimmungswetterlage scharfe Beachtung und hatte stets das richtige Gegenmittel zur Hand. »Das Stimmungsklima ist auch nicht mehr, was es mal war«, beklagte sich eines Tages Sattern bei Sal und Roydon, als er von einer Konferenz der Leiter der Hubschrauber-Teams zu ihnen kam. »Der Frühling war früher immer hoffnungsvoll, der Sommer voller Frohsinn, der Herbst voller Bedauern, der Winter trübsinnig. Jetzt läuft alles kreuz und quer. Man weiß nie, womit man rechnen muß.« »Du wirst im fortgeschrittenen Alter bloß empfindlicher, Paul«, sagte Sal mit einem Lächeln. 47
»Da ist wirklich was dran an dem, was du sagst. Die VBI nutzen sich ab. Ich muß mir ‘n paar Muntermacher besorgen.« »Wie kommen Sie draußen mit der Stimmungswetterlage zurecht?« erkundigte sich Roydon. »Wir haben damit wenig Scherereien«, antwortete Sal. »Wir nehmen während der Kindheit Vorbeugeimpfungen vor. Zu Ihrer Zeit gab’s so was noch nicht. Deswegen müssen wir Sie auf Aufenthalte im Freien mit Medikamenten sehr ausgewogen vorbereiten. Aber durch das endokrine Typometer stehen uns genug Daten über Sie zur Verfügung, um Sie einigermaßen sicher abzuschirmen.« Ein oder zwei Wochen später teilte Sal ihm mit, daß Paul Satterns Team ihn gerne auf einigen Flügen dabeihätte, weil man hoffte, er könne ihnen in bezug auf einige Punkte der Vergangenheit richtigen Aufschluß geben. Er erhielt für Einkaufszwecke unbegrenzten Kredit und den offiziellen Posten eines »Historischen Beraters«. Chronismologen waren sehr gefragt, weil man den Poikilochronismus als öffentliche Gefahr ansah, und man bezahlte sie hoch, zum Teil wegen der Gefahren, denen sie sich aussetzen mußten. AUSGEBILDETE CHRONISMOLOGEN, las Roydon auf der altmodischen Stellenanzeigenseite einer Plastikzeitung. Tätigkeitsbereiche für Chronismologen offen. Höhere wissenschaftliche Qualifikation Voraussetzung. Anfängl. Kredit-Äquivalent £ 5000,- – £ 6000,- p.a. Zuwachs £ 500,- p.a. Tätigkeitsdauer mindestens ein Jahr. 48
»Es sind zwei neue Poiks festgestellt worden«, erzählte Sal. »Einer im Bonnium und einer in Sri Lanka.« »Ja«, ergänzte Paul, »und wir glauben, daß es ein paar in Zentralafrika und einen in der Antarktis gibt, nur ist die Antarktis ziemlich spärlich bevölkert, und die Nachrichten, die aus Zentralafrika kommen, sind gleich Null – das Stimmungsklima hat weite Bereiche vom Rest der Erde abgeschlossen. Innerhalb einiger Jahrtausende oder bloß Jahrhunderte wird sich vielleicht die ganze Welt, die Meere eingerechnet, in einen einzigen, großen Poik verwandeln, es sei denn, es gelingt uns, genug über diese chronismatischen Prozesse herauszufinden, um sie stabilisieren oder umkehren zu können. Wir befinden uns in doppelter Hinsicht in einem Wettlauf gegen die Zeit.« »Ich hatte keine Ahnung, wie die Dinge stehen«, sagte Roydon matt. »Naja, wir haben in unserem eigenen kleinen Raum-Zeit-Winkel ausreichend zu tun. Ist Ihnen danach zumute, uns morgen zu begleiten?« »Ich muß nachschauen«, überlegte Roydon, »ob ich bessere Hinweise darauf entdecken kann, wohin sie gegangen ist. Diese Krähe … war es überhaupt eine Krähe? Ob ich die Stelle wiederfinden kann? Werden sie mich hinbringen?« Miriels dunkles Haar und ihr ovales Gesicht schwebten plötzlich verschwommen vor ihm, und er tastete sich, indem er irgend etwas murmelte, zum Zimmer hinaus. Paul Sattern blickte ihm nach, dann wandte er sich mit bitterem Lächeln Sal zu und schüttelte andeutungsweise den Kopf. Das 49
Mädchen errötete, biß sich auf die Lippen, nahm einen Stapel Bänder zur Hand und entfernte sich durch die andere Tür. Jenseits der Schwelle begegnete sie Richard, dem Mann, der verantwortlich war für all die Geräte. Richard erbleichte, als er ihr ins Gesicht sah, aber er schwieg und betrat das Zimmer. »Na?« äußerte Paul. »Diese Attosekundenzähler zum Zwischenschalten … werden sie rechtzeitig bereit sein?« fragte Richard heiser nach, als sei diese technische Fragestellung lediglich die codierte Fassung von etwas anderem. »Natürlich. Du kannst morgen damit eine neue Linie zwischen LV 3 und PN 8 abstecken. Aber ich halte es immer noch für denkbar, daß die Femtozähler etwas anzeigen.« »Sie sind zu langsam«, entgegnete Richard und fing eine lebhafte Diskussion an, aber er verhielt sich zerstreut, und als Sal wiederkehrte, zuckte er auf. Roydon, der sich nebenan erholte, hörte einen Großteil der Diskussion mit, aber für ihn hätte sie sich ebensogut um Krähen oder Stare drehen können. Fenn Vaughan schlenderte herein und ging an den dreien vorüber. Dabei sang er: »Wo die Femtosekunden eilends verticken, sitzt Richard aufm verlängerten …« Paul trat ihm ans Schienbein. Fenn ging weiter, indem er sich aufs Pfeifen beschränkte. Das Grüppchen verfiel in Schweigen. 50
»Was sind das dort für Dinger?« wollte Roydon wissen. Der Hubschrauber kreuzte langsam überm Grün. »Das sind künftige Bauten«, erklärte Sal, die Paul gedrängt hatte, sie mitzunehmen, damit sie Roydon im Auge behalten konnte. »Wir haben keine Ahnung, ob sie aus Plaston oder etwas ganz Neuem bestehen. Zuerst hat die Dreimeter-Obergrenze verhindert, daß sie oberhalb davon existieren, aber infolge einer Ansteckungserscheinung wachsen sie jede Woche einen Zentimeter höher, und dadurch schieben sie die Obergrenze aufwärts. Eines Tages werden sie vollständig sein. Aber jetzt sehen sie noch wie Ruinen aus. Dick sagt, die Zeit auf diesem Fleckchen Erde da unten ist plus einundneunzig Jahre. Aber freilich verhält es sich mit Gebäuden der Gegenwart und Vergangenheit meistenteils gleich – wenn sie in neuen Domänen stehen, können sie die Obergrenze anfangs nicht überschreiten. Sehen Sie sich diese Ansammlung im Westen an, sie lassen sich ganz unterschiedlich datieren, vorwiegend Vergangenheit bis Gegenwart, aber sie haben zu wachsen angefangen, als dort noch keine Bauten standen, infolgedessen sind sie noch unvollständig.« »Aber dann muß von so einer Domäne aus die ganze Welt doch völlig verrückt aussehen – Unmengen von Grundmauern und sonst nichts!« »Nein, nein, wenn Sie unten sind, können Sie ringsum vollständige Gebäude sehen, wahrscheinlich eine in Normaldichte besiedelte Gemeinde. Nur der 51
Teil, aus dem die Domäne selbst besteht, zeichnet sich durch Unfertigkeit aus. Wenn jemand aus der Welt der jeweiligen Zeit in die Domäne gelangt, wird er wohl glauben, er sei in ein Abbruchviertel geraten. Das ist ein Grund, warum wir in der Nähe solcher scheinbaren Ruinen selten Leute bemerken.« »Was ist das für ein sonderbarer brauner Landstrich dort unten?« »Oh, dort ist es genau entgegengesetzt. Dort sind’s minus dreihundertsoundsoviel Jahre, sagt Dick. Die Mehrzahl der hiesigen Domänen sind ungefähr minus ein Jahrhundert oder etwas mehr – stimmt’s, Paul? –, und deshalb sind sie noch unbebaut.« »Wie groß sind die Domänen?« »Sie haben jede erdenkliche Größe zwischen einem Meter und mehreren Kilometern Durchmesser, und sie können jede beliebige Form haben. Dick sagt, sie sind beim Entstehen womöglich nur so groß wie ein Pünktchen, aber sie dehnen sich schnell aus und wechseln im Lauf der Ausdehnung die Zeitebene. Deshalb versprechen wir uns von den Attosekunden-Meßreihen, daß sie etwas anzeigen.« Roydons Augen verschlangen das verhaßte Grün geradezu. Der Hubschrauber sank tiefer, und Richard stieg mit seinem ersten Gerät die Leiter hinunter. So verfuhren sie querfeldein weiter, wie eine mathematisch gesonnene Erdschnake, die auf einem Rasen ihre Eier legt. »Also, das … das sieht ja ganz ähnlich wie das Dorf aus! Gehört es zum … zum Poik?« 52
»Ja, seit Dutzenden von Jahren befindet’s sich innerhalb. Weite Teile davon sind jetzt minus fünfundzwanzig Jahre.« »Stehen deshalb ringsherum all diese merkwürdigen Bauten?« »Ja.« »Schauen Sie, dort sind ein paar Leute! Wieso wissen sie eigentlich nicht, daß sie abgeschottet sind?« »Ist Ihnen das nicht klar?« rief Paul. »Die ›offenen‹ Domänen kann man betreten. Sie liegen vorwiegend an den Poik-Randzonen. Aber die meisten inneren Domänen kann man, sobald man erst mal drin ist, nur geographisch wieder verlassen. Man kann Menschen und Tiere sie durchqueren und verschwinden sehen. Beobachten Sie den Landarbeiter des neunzehnten Jahrhunderts dort auf dem Acker. Da – nun ist er fort. Aber er weiß davon nichts. Er lebt vollauf in einer Welt des neunzehnten Jahrhunderts. Sobald Sie sich in einem Bereich von, sagen wir mal, minus fünfundzwanzig Jahren aufhalten, so wie das Dorf, sind Sie sozusagen in ein fünfundzwanzig Jahre tiefes Loch gefallen, und Sie müssen sich von da an unwiderruflich auf dieser Ebene bewegen. Das ist das Risiko, das wir alle eingehen, wenn wir unwissentlich die Grenze einer Domäne überqueren. Man kann nicht zurück. Genauso muß es Ihrer Frau ergangen sein. Sie hatten Glück, wegen der Parallelslipper-Statik.« Roydon schauderte zusammen – allerdings nicht aus Furcht – und schluckte kloßig. 53
»Und natürlich kann man in so einer ländlichen Gegend, die meistens minus ein Jahrhundert oder ähnlich gelagert ist, kaum irgendein Anzeichen einer Grenze bemerken. Über Generationen hinweg bleiben solche Gegenden gleich.« »Wie kommt es, daß man aus der Luft alle Domänen sehen kann?« »Aufgrund der Obergrenze, die Sal erwähnt hat. Sie liegt drei Meter hoch, das heißt, drei Meter auch über ›alten‹ Gebäuden. An der Obergrenze sind alle Domänen mehr oder weniger ›offen‹, daher kann man sie von oben überschauen. Zwischen unten und oben bewegen sich auch die Schallwellen ungehindert hin und her. Drunten dagegen kann man benachbarte Domänen nur von einer ›offenen‹ Domäne aus sehen und hören. Übrigens verhärten sich manche ›offenen‹ zu geschlossenem Domänen.« »Sehen die Dorfbewohner und dergleichen Leute den Hubschrauber nicht?« »Doch, aber vor minus fünfundzwanzig Jahren gab’s schon Hubschrauber, deshalb nehmen sie wahrscheinlich einfach an, daß es sich um irgendeinen anderen Hubschrauber handelt. Falls jetzt noch einer käme, könnten sie vielleicht mitansehen, wie wir uns in einem Geisterzusammenstoß gegenseitig durchdringen, während von uns niemand etwas bemerken würde – jedenfalls oberhalb der Dreimetergrenze.« »Wie verhält’s sich mit den Leuten in der Gegend, wo Sie mich entdeckt haben?« 54
»Das war eine annäherungsweise Nullzone. Sie hat gezeigt, wie die Gegend heute aussähe, hätte sich gar kein Poik entwickelt. Die dortige Bevölkerung war für sich selbst durchaus real, aber in unserer von Poiks betroffenen Welt hat sie keinen Wirklichkeitswert. Geister, wenn Sie so wollen.« »Kann ich bei dem Dorf hinunter?« »Beim Dorf? Nein. So was ist heikel, wenn Menschen in der Nähe sind. Lassen Sie Richard seinen neunten Zähler lieber allein hinter der großen Scheune dort absetzen.« »He«, schrie Roydon, als der Hubschrauber zum elftenmal hinabschwebte, »das ist doch der Hügel, den ich runtergelaufen bin!« »Die Stelle dort im Osten?« forschte Paul nach. »Ich glaube, ja.« »Na, genau dort will Richard seinen nächsten Zähler absetzen.« »Darf ich dann mit nach unten?« »Ja, aber begehen Sie keine voreiligen Handlungen. Sagen Sie uns, was Sie von der Lage halten, und wir werden geeignete Maßnahmen ergreifen.« Roydon folgte Richard an der Strickleiter abwärts, als sie über der entsprechenden Stelle schwebten. »Warten Sie, Royo, ich komme auch mit«, rief Sal und kletterte als dritte hinterdrein. Richard sagte nichts, doch seine Miene drückte Gefaßtheit aus, als er den Untergrund begutachtete, ehe er an einer langen Stange das Gerät hineinschob, das dem Zweck diente, Millionstel von Millionsteln von Millionsteln 55
einer Sekunde zu messen. »Nichts zu erkennen … nur noch Schutt vom Damm übrig, der Zaun ist völlig verfallen, und überall Brombeersträucher und Brennesseln, und dazu jede Menge Ampfer«, murmelte Roydon vor sich hin. Er drehte sich, sein Blick erforschte die Richtung, von der er hoffte, sie stimme mit der überein, die vor so langer Zeit jener geschwinde Fleck genommen hatte. Richard straffte seinen Rücken und musterte Roydon, bewahrte jedoch Schweigen. Der Narr denkt, sagte sich Richard, weil wir ihn aus einer Parallelslipper-Statik geholt haben, wäre die Domänenzeit für immer stehengeblieben. Er ist sich nicht darüber im klaren, daß die Domäne größtenteils um einundsechzig Jahre weiter ist, daß die Zeit auch dort weiter verstreicht, ausgenommen in bezug auf das, was parallelverschoben oder ausgeschieden wird. Sal, die ein wenig abseits stand und Roydon besorgt beobachtete, schaute beiläufig Richard an, und dank einer blitzartigen Eingebung legte sie seinen Gesichtsausdruck richtig aus. »Roy!« schrie sie. In diesem Moment hatte eine unerwartete, heftige Wallung instinktiven Drängens die Senke heimgesucht. Bei diesem Aufschrei, der in seinen Ohren wie von der Stimme seiner Frau ausgestoßen klang, verfärbte sich Roydons bleiches Gesicht vollends kalkweiß. Er stürmte davon, am alten Verlauf der Hecke entlang. In seiner Wahrnehmung schien die Hecke sich zu krümmen und neben ihm zu flimmern – lief auf der anderen Seite sie! 56
Sal rannte schräg durchs Gelände, um ihm den Weg abzuschneiden, aber sie hatte kaum zwanzig Sätze getan, als sie verschwand. Zwei Sekunden später verschwand in derselben Richtung auch Roydon. »Richard, du Dummkopf, komm herauf!« brüllte Paul aus dem Hubschrauber. »Dieser Bereich ist ein Irrgarten von kleinen Domänen. Komm rauf! Wir können dich hinabsteigen lassen, wo sie verschwunden ist.« Doch als Richard, der totenblaß war und vor sich hin brabbelte, an der betreffenden Stelle hinabstieg, sah er fünf Schritte weiter den Rand eines tiefen Steinbruchs. Drunten starrten in enge, weiße Shorts gekleidete Männer, die mit UltraschallAbbauwerkzeug ihre Arbeit verrichteten – fern in der Zukunft –, den zerschmetterten Leichnam an. Roydons flimmerige Hecke war nichts anderes als der Rand eines Stechginsterdickichts. Roydon hastete in trockener Heide dahin. Es war sehr heiß. Das Flimmern entstand durch das Auf- und Niederducken von siebenundzwanzig eingezogenen Köpfen. Ein Dutzend hölzerner Speere mit Knochenspitzen sauste auf ihn zu, gezielt auf seine Achillessehne. Drei Speere trafen ihn hoch durch die Waden, einer durchbohrte ihm einen Oberschenkel überm Knie. Er stürzte. Die mit Fellen bedeckten Gestalten heulten und brüllten und fielen über ihn her. »Laß Richard, wir müssen erst diesen Irren heraushauen!« schrie Fenn Vaughan in Pauls Ohr. »Ich habe den Verbleibpunkt festgestellt. Ich glaube, gerade habe ich gesehen, wie irgend etwas ihn getroffen hat.« 57
»Also gut. Dreh bei, Peter. Laß Fenn peilen.« Innerhalb von zehn Sekunden befand sich der Hubschrauber über der Stelle von Roydons Verschwinden, einem Flecken Heideland. Halb war ein nackter, haariger Schenkel zu sehen, und vom Untergrund hallte ein seltsam dumpfes Getobe wider. Paul und Fenn turnten an der Strickleiter hinunter, Lähmstrahler in Bereitschaft. Der Stamm war drauf und dran, Roydon mit Lederriemen zu fesseln. Roydon wirkte benommen. Mit einem Aufheulen, das durch Mark und Bein ging, stürmten Fenn und Paul zum Schauplatz des Geschehens. Ein Blitzschlag und ein gleichzeitiges Donnergrollen vervollständigten die Panik des Stammes, und inmitten eines wolkenbruchartigen Regengusses zerstreuten sich seine Mitglieder ringsum in der Heide. Paul und Fenn schleppten Roydon ein paar Schritte weit mit sich, zurück zur Schwelle der Domäne, wohinter man wieder den Hubschrauber sehen konnte, wie er sich geisterhaft im bereits im Nachlassen begriffenen Regenguß abzeichnete, durchtrennten Roydons Fesseln, spähten unterdessen besorgt nach allen Seiten. Von den Flächen des Hubschraubers kam das Echo der Laute einer Amsel, die irgendwo im neunzehnten Jahrhundert rief. Paul preßte Notverbände auf Roydons Verletzungen. Roydon taumelte auf die Beine empor. »Muß sie finden«, sagte er schwerfällig. »Ihretwegen haben wir jetzt einen Toten zu beklagen – wir wollen nicht, daß es drei werden. Die Leiter rauf, Sie Narr, bevor der Stamm zurückkommt.« 58
Die Sonne glitzerte auf der nassen Heide. In diesem Moment erreichte ein noch schwächeres Echo, das vom unteren Rumpf des Hubschraubers zurückfiel, die Männer am Erdboden. »Miriel«, so ertönte es anscheinend, »Miriel.« Die Männer und Frauen im Hubschrauber, denen offenbar die Worte fehlten, deuteten mit wildem Gewinke nach einer Seite. »Steigen Sie die Leiter bis zur roten Markierung hinauf«, schnauzte Paul. »Sie werden rübergebracht.« Alle drei kletterten schnellstens über die Dreimeter-Markierung hinaus. »Wir setzen euch unauffällig ab«, erscholl schließlich Peters Stimme, »danach versuchen wir, Richard wieder an Bord zu holen.« Der Hubschrauber schwebte etliche Meter weit nordwärts, seine schwer belastete Leiter baumelte gefährlich in der Luft. Ein alter Herr, gekleidet in einen düsteren Rock, reichlich Spitzen um den Hals und eine Kniebundhose, kniete vor einem flachen, mit jungem Gras bedeckten Erdhügel am Untergrund. Er hob nicht einmal den Blick, als die drei Männer neben ihm auf den Erdboden sprangen, und scheinbar hörte er nicht das Dröhnen des Hubschraubers, der nun südwärts entschwand. Überall ringsherum erblühte ein grüner Maienmorgen. Er weinte. »Miriel, Miriel!« Zu guter Letzt richtete er seinen Blick auf die kleine Gruppe rund um ihn. Allem Anschein nach war er nicht ganz richtig im Kopf; auf jeden Fall erregte er keinen allzu überraschten Eindruck. »Hier ist eine Locke ihres Haars, zum Zeitpunkt abgeschnit59
ten, da sie zu uns kam, hier eine Locke weißen Haars, zur Stunde abgeschnitten, da sie von uns schied, und hier ist ihr Ring, ihr Ehering. Stets hat sie uns angehalten, diese Gegenstände an der Stelle zu begraben, an welchselbiger sie sich einst zu uns gesellte, denn dieweil ihre sterblichen Überreste im Kirchhof zu Maffod begraben liegen und ihre Seele nunmehr bei ihrem Schöpfer weilt, muß ich zu meinem Leidwesen dennoch sagen, ihr Herz ist hier, obschon sie uns Dörfler sechzig Lenze lang wertgeschätzt hat. Wer seid Ihr, Sirs, zählt Ihr zu den Scharen der himmlischen Engel, und seid Ihr gekommen, um mich zu ihr in den Himmel zu geleiten?« »Sie war meine Frau«, sagte Roydon gefaßt. »Ach, Sir, sie war aber doch eine hochbetagte Greisin, als sie am vergangenen Freitag aus diesem Leben Abschied nahm. Wie also kann das sein?« »Trotzdem, es ist wahr. Ich sollte ihr Grab aufsuchen, aber ich weiß jetzt, wo es liegt. Ich habe es schon vor langem gesehen. Hat sie, nachdem sie zu Ihnen gekommen war, ihr ganzes Leben hier verbracht?« »Ja, Sir, sie war, wie man wohl sagen könnte, die Mutter unserer kleinen Herde. Betrauert und beweint von allen und jedem wird sie, von Jungen und Alten, von Mann und Weib, und man wird auf ihrem Grab einen wahrhaft vornehmen Stein aufrichten, Sir. Matthew ist schon dabei, ihn zu hauen, Sir, aber leider wird’s noch einen oder zwei Tage währen, bis das Werk getan ist. Unseres gesamten Dorfes Mutter war 60
sie, wenngleich sie, muß ich zu meinem Bedauern sagen, mit dem Herzen stets andernorts weilte, und das verlieh ihr eine gewisse Traurigkeit, eine Schicksalsergebenheit, die all ihre Tage nicht von ihr wichen. Gottes Willen hat sie sich unterworfen, und in der Tat liebte sie uns Dörfler ganz und gar innig. Miriel hat unser Dorf liebgewonnen und war ihm fortwährend zugetan, doch sie wird nimmer zu uns zurückkehren.« Und der Alte trottete mit kummervollem Lächeln zwischen den Wiesenblumen davon. Roydon nahm den Ring an sich und schob ihn auf den kleinen Finger seiner linken Hand. Seine Speerwunden schmerzten entsetzlich, aber in seinem Herzen breitete sich eine weite, dunkelgraue Ruhe aus.
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WENIGER SICHER
Sparen Sie sich die Mühe, hoffnungsvoll 2 mal 2 ist 4 und 2 mal 3 ist 6 usw. zum Alpha Centauri zu signalisieren – wir werden unser gesamtes Wissen anwenden müssen, um banalere Probleme der Verständigung zu lösen.
Die Shm’qh, Sshm-qh oder Sshmeqh (wie »Schmuck«, nur eher stimmlos) zeigten sich mit jedem Tag unzufriedener. Insgeheim verfluchte Jacobs sie und sämtliche Gegebenheiten dieses Auftrags. Am Anfang hatte alles günstig ausgesehen. Es gab hier auf diesem Planeten eine intelligente Rasse mit einer erlernbaren Sprache, die sich im großen und ganzen sogar nahezu vollständig sprechen ließ. Die Anstrengungen zum Zustandebringen einer Verständigung hatten endlich Früchte zu tragen begonnen. Man konnte Fragen stellen, um Zusammenarbeit ersuchen, Erklärungen liefern, diese und jene Dinge propagieren. Die menschlichen Dolmetscher der Expedition hatten die Sprache bereits in genügendem Maß gemeistert, um so gut wie alles zum Ausdruck bringen zu können, was die Expeditionsleitung von ihnen übersetzt haben wollte, und ebenso konnten sie inzwischen das meiste von dem verstehen, was man ihnen mitteilte; zu guter Letzt kam auch die Mehrheit 62
der Besatzung in unterschiedlichen Graden mit der Sprache zurecht, und Jacobs selbst beherrschte sie mittlerweile auf ziemlich fließende Weise. Die Verständigung ähnelte einer Unterhaltung mit Faltern in ihrer Faltersprache: Selbstlaute waren keine vorhanden; nur kam es bisweilen unter den Shm’qh zu überraschenden Häufungen von Selbstlauten, die sie gemeinsam mit vielen weichen, beinahe geniesten Mitlauten aussprachen, doch kannte niemand den Grund. Immerhin hatten die Shm’qh Zungen, Münder, gerade Zähne (jedenfalls etwas Ähnliches), einen fleischigen Faltmuskel, der die Stelle von Lippen einnahm, sowie etwas, das vergleichbaren Zwecken diente wie Stimmbänder und Lungen. Es hatte sich als möglich erwiesen, ihre Wörter zutreffend genug wiederzugeben, um sich, wenn auch mit gelegentlichen Wiederholungen, verständlich zu machen. Die Grammatik war sehr ungewöhnlich, aber man konnte sie sich durch ausreichendes Üben aneignen. Das Fehlen des Plurals, außer in bezug auf das, was als Pronomen galt, bereitete Schwierigkeiten, die sich jedoch überwinden ließen. Die Einheimischen wirkten friedlich und nahmen von den Eindringlingen mit verblüffender Gelassenheit Kenntnis, die ihrerseits jedes Benehmen vermieden, das als Streben nach Vorherrschaft hätte ausgelegt werden können. Sie waren auch nicht lästig neugierig. Maschinen kannten sie nicht, aber ihr Intelligenzgrad lag offensichtlich hoch. Ihr Planet bot ihnen alles im Überfluß; vielleicht forderte daher das 63
Leben ihre Intelligenz bloß zu wenig. In gewissem Umfang standen sie in ständiger Auseinandersetzung mit den nichtintelligenten Spezies, aber weder Krankheiten, Parasiten, pflanzliche oder tierische Räuber noch Hunger bedeuteten für sie eine ernsthafte Bedrohung. Anscheinend unternahmen sie keinerlei Versuche, irgend etwas zu verheimlichen oder die Menschen irgendwie irrezuführen. Trotzdem hatte es den Anschein, als ob sich ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit an irgendeinem Punkt erschöpfte. Es gab eine Grenze, eine Art des Ausweichens. Beispielsweise fragte der Dolmetscher eines Teams: »Können wir auf diesem Weg zurückkehren?« (Tsh’ny Ih’ly wh’ng ‘zhny’ bv’w w’gh’pfw, wörtlich: »Gezeigter Weg für mich und sonstwen zurück offen?«) Wie schlüssig festgestellt worden war, besagte »offen« das gleiche wie »möglich«, »geschlossen« soviel wie »unmöglich«, und über den richtigen Satzbau besaß man ebenfalls hinlängliche Klarheit. Die angesprochenen Shm’qh antworteten mit einer Art von Niesen, das »Nein« hieß (Shny’wh), und die Gruppe kehrte auf einem längeren Umweg heim. Wochen später stellte sich allerdings heraus, daß der nicht eingeschlagene Weg, obwohl schwieriger Natur, keineswegs für eine der beiden Spezies unpassierbar war; aber man fand nie irgendwelche Beweise für verborgene Umtriebe, an deren Geheimhaltung den Shm’qh gelegen gewesen sein mochte. Einmal fiel ein Mann in ein Loch, und nachdem man ihn mit gebrochenen Knochen gebor64
gen hatte, zog er sich einen Typus von Lungenentzündung zu, bei dem die Wirkung der verfügbaren Medikamente ausblieb. Die Frage »Wird er überleben?« (Ny’p’lw gh’qhty bv’w ‘ph’lh ‘w, wörtlich: »Wird er, der andere, weiter handeln können?«) erhielt als Antwort ein gedehntes (»Shnyauwh«, das man als »Nein« auffaßte, weil die selten gebrauchten Vokale anscheinend keine Bedeutung hatten. Nach einer Zeit kritischer Verfassung erholte sich der Mann jedoch innerhalb von vierzehn Tagen. Wieso hatten die Shm’qh so brutal pessimistisch sein müssen? Während einer Festlichkeit der Einheimischen ärgerten zwei Männer, die sich mit einem klobigen Generator abschleppten, sich schwer, als sie den einen der beiden nächststehenden Eingeborenen mit ziemlicher Lautstärke und unverkennbar den Menschen entgegengebrachten Heiterkeitsgebärden zum anderen äußern hörten: »Tyiwh dyim ipf«, wörtlich soviel wie »Verrückt sein« (oder in passabler Übersetzung: »Die zwei sind ja schön bescheuert!«). Ihre Haltung, die Entsprechung eines breiten Grinsens, bestand aus einem weiträumigen Wedeln des Schwanzes, dem Auf- und Niederrucken der nach außen gestellten Ellbogen und dem Spreizen des Ohrflaums, und dabei war der Kopf den beiden Gemeinten zugewandt. Vielleicht handelte es sich dabei lediglich um so etwas wie ein freundschaftliches Aufziehen, doch war Ty’whdy’m, wie Scatterthwaite hatte herausfinden müssen, als er es gegenüber einem Einheimischen benutzte, der sich einem Hochspan65
nungskabel zu sehr näherte, ein außerordentlich unverschämtes Wort. Scatterthwaite und Jacobs hatten vor dem höchsten Würdenträger und dem beleidigten Einheimischen – und unter den Augen des vollständig versammelten Volksstammes – eine kriecherische zeremonielle Abbitte leisten müssen, um einen vollkommenen Abbruch aller Kontakte zu verhindern. Die gesamte Mannschaft war gewarnt worden, das Wort nie wieder zu verwenden. Das war drei Monate vor dem Zwischenfall auf dem Fest gewesen. Als Jacobs schließlich darum gebeten hatte, daß seine Expedition ein paar heimische Kunst- und Gebrauchsgegenstände sowie Kulturpflanzen mit zur Erde nehmen dürfe (ohne die ausgiebige Dekontamination und die ausgedehnte Quarantäne zu erwähnen, denen diese Dinge und auch das Team dort vor ihrer Einwandfreierklärung unterzogen werden mußten), antwortete man ihm darauf mit einer glatten Verneinung, erteilt mit dem Äquivalent der Shm’qh für ein unergründliches Lächeln, das ein gemäßigtes Wedeln mit dem Schwanz, ein andeutungsweises Ausbreiten des Ohrflaums und ein Auswärtsspreizen der Ellbogen umfaßte. Jacobs bemühte sich mit aller Beredsamkeit, doch noch eine Zusage zu erhalten. Gänzlich ohne Erfolg, abgesehen davon, daß die Ablehnung sich von »Shny’wh« zu »Shnyiwh« und endlich zu »Shnyeewh« steigerte und die Ellbogen immer weiter auswärts wiesen. Aufgrund seiner Erfahrungen mit physiografischen Messungen sprang der Arzt ein und versuchte sich 66
als Ethnologe. Auch er konnte nicht helfen. »Warum ziehen Sie nicht mal Jimmy Anson zu Rate? Er ist ohnehin besser als ich, was die Psycho-Angelegenheiten angeht. Ich habe zur Zeit ohnehin alle Hände voll zu tun. Zur Zeit bin ich wegen der Leukozytenzählungen erheblich besorgter als Sie um Ihre kostbaren Andenken.« »Warum denn das?« »Oh, es besteht kein Anlaß zu unmittelbarer Beunruhigung. Sie zeigen lediglich an, daß wir uns gegenwärtig an irgend etwas anpassen, irgendeinem Fremdkörper oder irgendwelchen Fremdkörpern. Ich nehme nicht an, daß es sich gleich um eine ganze Masse verschiedener fremdartiger Gebilde handelt. Ein richtiggehender Schaden wird uns dadurch nicht zugefügt – aber wie wird man auf der Erde reagieren?« Jacobs suchte Anson auf, den Linguisten. »Sie haben im Vergleich zu uns einen Vorteil, alter Knabe – Sie können wenigstens all diese Aufzeichnungen und Analysen mitnehmen. Wir haben nichts als Fotos und Filme vorzuzeigen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum sie uns so was antun und uns keine Musterstücke überlassen wollen. Das dürfte zu Hause bei den Verantwortlichen verdammt schlechtes Licht auf mich werfen. Dergleichen ist mir noch nie passiert.« Der Linguist war der Expedition beinahe bloß infolge eines späten Einfalls zugeteilt worden, versehen mit einer Menge an Ausrüstung, die bei allen, 67
die mit dem Zusammenstellen von Ladung und der Versorgung befaßt waren, böse Worte hervorgerufen hatte. Zunächst von den Dolmetschern bemitleidet, brachte man ihm nach einiger Zeit neidische Duldung entgegen, während er – mit ihrer nur zu unentbehrlichen Unterstützung – Aufnahme um Aufnahme machte, vom Jungvolk ebenso wie von Erwachsenen beiderlei Geschlechts und jeglichen Alters, oft unter Verwendung flüchtiger Zeichnungen, um den Sinn dessen abzuklären, was er zu sagen gedachte oder was sie meinten, oder auch nur, um seine ausgeguckten Opfer solange bei Laune zu halten. Er konnte eine ganze Reihe Ergebnisse vorweisen, die ihn dazu anspornten, in voller Zufriedenheit Tag für Tag weiterzuarbeiten, und inzwischen kreuzte er nur noch ab und zu auf, um die Dolmetscher für Zwecke der Sprachforschung ein neues Gespräch verabreden zu lassen. Die Shm’qh nahmen es ohne Klagen hin, daß er sie mit Palatografen, Pharyngoskopen, Röntgenapparat und Taschenlampen innen und außen untersuchte. Zum Schluß wanderte er mit einem Minirecorder durch die Siedlungen und fertigte manchmal, um die Aufmerksamkeit der Bewohner abzulenken, Zeichnungen von den Pflanzen an. »Sind sie in dieser Sache denn so hartnäckig?« »Jedesmal wenn ich frage, antwortet man mir nur rundheraus mit nein – zwar höflich, aber immer bleibt’s beim Nein. Ich glaube, mit Scatterthwaites Ausrutscher haben wir sie schlimmer gekränkt, als uns eigentlich klar ist. Sie wissen, daß zwei von ih68
nen kürzlich Simons und Harte das gleiche an den Kopf geworfen haben?« »Tatsächlich? Das kann ich gar nicht glauben! Was haben die beiden denn getrieben?« »Absolut nichts Kritikwürdiges, sie haben bloß – an dem Tag, als die Festlichkeit stattgefunden hat – den Generator zum Blauen Hubbel getragen. Und da haben zwei Schmur…« – so nannte Jacobs die Einheimischen stets, wenn er mit seinen Leuten redete – »… ihnen gegenüber die Heiterkeitsgebärden gemacht und dies Wort gerufen … Sie wissen schon … Tchufjjim… oder wie das heißt.« »Sie meinen Ty-whdy-m, vermute ich?« »Das ist es. Nur haben sie den kurzen i-Vokal benutzt. Könnte das was zu bedeuten haben? Glauben Sie, das nimmt der Äußerung das Beleidigende?« Langsam zeigte sich auf Ansons Gesicht ein Lächeln, verbreiterte sich dann zu einem Grinsen. »Auf gewisse Weise, ja, aber wahrscheinlich nicht so, wie Sie sich’s denken. Ich glaube, ich kenne die Lösung zu diesem Problem.« »Wirklich? Na, dann heraus mit der Sprache, Mann, um Gottes willen! Vielleicht tanzen wir auf einem Vulkan – es könnte ja sein, daß sie einen Angriff gegen uns vorbereiten!« »Nein, ich gehe davon aus, daß nichts Übles entsteht. Soweit ich feststellen kann, stecken in dieser Rasse weder Bosheit noch Heimtücke. Aber beschäftigen wir uns erst mal mit dem Vokal. Diese Selbstlaute sind strenggenommen keine Phoneme …« 69
»Um Himmels willen, was sind Phoneme?« »Das genau zu erläutern, würde zu lange dauern. Grob gesprochen, ist das Phonem eine Lautkategorie, die zum Beispiel Laute wie t oder d oder das stimmlose o einschließt und in bestimmten Sprachen als Überbrückung anerkannt ist, mit deren Hilfe man sinnvolle Wörter bilden kann. Die Vokale der Sshmqh sind nun allerdings nicht so. Sie sind eher mit der Satzmelodie zu vergleichen. Sie bringen Empfindungen zum Ausdruck. Wenn ich nur Sshm-qh sage, mit diesem dunklen Murmellaut in der Mitte, den wir wie schwa aussprechen, dann heißt das, ich erwähne die Sshm-qh rein sachlich, ohne mit ihnen irgendein besonderes Gefühl zu verbinden. Übrigens, wenn kein Lautschriftzeichen zur Verfügung steht, um den schwa-Laut schriftlich festzuhalten, weshalb nehmen wir statt des zweideutigen Apostrophs oder des Bindestrichs nicht einfach ein gewöhnliches e? So, aber wenn ich Sshmiqh oder Sshmeeqh sage – oder Sshmiiqh, wie’s in diesem Fall wahrscheinlich richtig ist –, also mit einem Vokal vom i-Typ, dann besagt das, ich amüsiere mich oder bin ganz besonders fröhlich. Sobald ich Sshmooqh sage, also den uähnlichen Laut verwende, heißt das, sie sind mir lieb und teuer, oder ich schaue sie mit einem Gefühl der Rührung an, oder etwas in der Richtung. Spreche ich ihren Namen jedoch Sshmahqh aus, nämlich mit dem a-Laut, so bedeutet das, ich bin zornig oder habe Furcht, oder es liegt irgendein Notfall vor. Falls ich den o-artigen Laut nehme und Shhmauqh sage, ist 70
die Bedeutung, daß ich traurig bin, bedrückt oder daß irgend was mir Ehrfurcht einflößt.« »Verwenden sie diese Vokale nur bei bestimmten Schlüsselwörtern oder in vollständigen Sätzen?« »Ganzen Sätzen und auch längeren Äußerungen. Es sind suprasegmentale Phoneme im amerikanischen Sinn, kann man tatsächlich sagen, sie werden durch jede vollständige Äußerung mitgetragen. Der Mund kehrt bei den Sshmeqh in die i-Stellung oder a-Stellung zurück – oder was es gerade ist –, sobald sich dazu die Gelegenheit ergibt. Diese Reaktion erfolgt mehr oder weniger unbewußt.« »Ist das der Grund, warum der Tonfall ihres Sprechens so monoton klingt?« »Ja, damit liegen Sie völlig richtig. Unterschiedliche Tonhöhen haben keine Funktion.« »Also haben diese beiden Halunken sich über die Blödheit zweier Menschen amüsiert, die einen schweren Generator durch die Gegend schleppten?« »Nicht unbedingt. Nein, ich glaube nicht. Sie waren möglicherweise in heiterer Stimmung oder haben einen Scherz gemacht, aber ich bezweifle, daß sie’s darauf abgesehen hatten, Simons und Harte – und Harte, haben Sie doch gesagt? – regelrecht zu verhöhnen.« »Ja, Harte. Na, die beiden jedenfalls halten seitdem Abstand von den Ekeln. Sie sagen, jetzt hassen sie sie wie die Pest.« »Das ist doch völlig unnötig. Es wäre mir lieber gewesen, Sie hätten mich geholt. Wissen Sie, ich 71
glaube, Sie durchschauen die Klangstruktur dieser Sprache noch immer nicht. Wieviel verschiedene Konsonanten gibt es nach Ihrer Auffassung?« »Na, es gibt b, d, f, g, eine Art von gh-Laut, j, wenigstens zwei l-Laute, m, n, und die Linguisten rechnen wohl auch ng dazu, oder? Dann gibt’s da p, q, einen qh-Laut, sh, t, v, mindestens eine Art von w, einen gesonderten wh- oder hw-Laut, diesen allgegenwärtigen y-Laut, und so was wie einen zh-Laut – oder ist das das gleiche wie j? Das macht insgesamt, will ich mal sagen, einundzwanzig?« Anson stieß einen gerade noch hörbaren Seufzer aus. »An unterscheidbaren Mitlauten gibt es mindestens sechsunddreißig. Das sind für eine Sprache, bei der man berücksichtigen muß, daß sie keine richtiggehend auszusprechenden Selbstlaute kennt, nicht allzu viele. Und diese Konsonanten sind gar nicht so heikel, wie Sie anscheinend annehmen.« »Sie meinen, wir haben in dem Tchuffjim-Wort womöglich einen Mitlaut falsch verstanden… so daß es etwas ganz anderes heißen könnte?« »Genau das – und vielleicht liegt da noch ein wenig mehr vor. Kommen Sie, sehen Sie sich meine Tabellen an.« Anson zog eine Wandrolle herab. In deutlicher Handschrift standen darauf drei Spalten mit insgesamt zwölf Zeichen (jeweils sechs Paaren). »Ich habe keine Ahnung von diesen Phon … Phoni… Phoneme, sagen Sie dazu?« »Nein, das hier sind keine phonemischen Symbole. 72
Das ist mein Entwurf einer Struktur allgemeiner phonetischer Zeichen in Übereinstimmung mit der Phonologie der Sshmeqh, oder vielmehr mit dieser Sshmeqh-Sprache, denn mir ist erzählt worden, daß es rund um den Planeten noch etliche andere Sprachen gibt, die völlig anders beschaffen sind, und viele davon sollen echte Selbstlaute aufweisen. Ich wollte Sie ohnehin fragen, ob ich mich mit den Aufnahmegeräten für einen Monat zur nächstgelegenen Sprachgrenze absetzen kann – nach dem, was ich gehört habe, muß sie nur etwa zweieinhalbtausend Kilometer südsüdöstlich von hier verlaufen. Die dortige Sprache soll außerdem eine mit musikalischen Tonakzenten sein, so wie’s früher das Chinesische war. Dann wäre es mir auch möglich zu überprüfen, ob die Schriftzeichen der Sshmeqh interlingual sind. Ich würde eine unserer Kurzstreckenmaschinen nehmen. Ein Dolmetscher müßte mich begleiten, und ein einheimischer Bekannter käme mit, der den Weg kennt und dazu imstande wäre, mir bei der Erforschung der anderen Sprache zu helfen. Wir brauchten Tropenkleidung und dergleichen. Alle erforderlichen Analysen würde ich bis zu meiner Rückkehr aufschieben. Jedenfalls könnte man dabei genug Material sammeln, um künftigen Expeditionen die Elemente einer zweiten Sprache zu liefern. Hm?« »Und was soll hier aus Ihren Sachen werden? Sie wären dann auch außerhalb des Funkhorizonts.« »Ich wollte alles – für den Fall, daß mir irgend etwas zustößt – eingepackt und etikettiert lagern las73
sen, einschließlich meiner Notizen. Ich könnte auch Anweisungen für den Fall aufschreiben, daß wir nicht zurückkehren und Sie’s der Mühe wert halten, eine zweite Maschine auf Suche zu schicken – mit welchen Einheimischen in diesen und jenen Fragen Verbindung aufzunehmen ist, und so was.« »Ich glaube, es geht, wenn Sie innerhalb einer Woche aufbrechen und innerhalb der nächsten vier Wochen wiederkommen. Dann bleiben uns gegebenenfalls ein bis zwei Wochen Zeit für eine Suchaktion. Hören Sie sich mal unter den Dolmetschern um, wer sich am besten als Begleiter eignet … So, für was also stehen diese Spalten mit Zeichen denn nun?« »Danke, Chef. Tja, hier die linke Spalte enthält, was man bei uns Labiale nennt – Lippenlaute. Die Sshmeqh benutzen allerdings die Mundöffnung und die äußeren Zähne. Da gibt’s zwei Arten von pLauten, zwei b-Laute, aber kein eigenständiges f oder v, und es gibt zwei w-Laute und dazu zwei wh-artige Laute zusätzlich, zwei m sowie zwei labiale Laterale, die linguistisch reichlich seltene Erscheinungen sind.« Jacobs schnaubte. »Ähnlich verhält’s sich mit diesen Palatalen, oder was bei uns als mouillierte Vordergaumenlaute und so was gelten würde. Dafür benutzen sie die inneren Zahnreihen und die Zunge. Da gibt es zwei tyähnliche Laute, zwei sh-artige Laute und so weiter, und alle korrespondieren sie mit den ›Lippenlauten‹ 74
in der ersten Spalte … Hier rechts sehen Sie dann die quasivelaren Laute und die Quasi-Zäpfenlaute – zwei q, zwei qh und so fort. Zu deren Erzeugung dient die rückwärtige Zunge, die vordere Hauptzunge nehmen sie dazu überhaupt nicht. Bei diesen sechsunddreißig Konsonanten sind die kollokierenden Varianten nicht mitgezählt. Was zum Beispiel das Hinterzungen-l mit einem benachbarten Mundhöhlen-l anfängt, tut nichts zur Sache.« Jacobs biß stumm die Zähne zusammen. »Na, und das Wort, das die beiden Männer für Tyewdhyem gehalten haben – ich buchstabiere es mit nur vier Konsonantenzeichen, statt wie Sie mit sieben, und zwei schwa-Lauten – war in Wirklichkeit, da bin ich ziemlich sicher, Tchewhdyemm… schauen Sie hier, ich schreib’s hier an, aber beachten Sie, professionell buchstabiere ich’s normalerweise mit höchstens fünf Konsonanten, und der erste Konsonant ist anders, wie Sie sehen.« »Und das bedeutet?« »›Stark‹, ›wacker‹, ›beherzt‹, oder ›Mut‹, ›Mumm‹, je nachdem, wie der Zusammenhang ist. Das war’s, was sie sie genannt haben, nämlich so was wie harte Burschen. Der i-Selbstlaut und die Heiterkeitsgebärden waren, soweit sie überhaupt bewußt aufgetreten sind, als Kompliment gemeint, zu vergleichen, würde ich sagen, mit einem Schulterklopfen.« »Mein Gott! … Wieso sind diese Worte sich denn so ähnlich?« »Sie kommen Ihnen bloß so ähnlich vor, weil Sie 75
nicht mit der Sshmeqh-Phonologie vertraut sind. Außerdem wissen wir nicht, was die Hörzentren ihrer Gehirne tatsächlich erreicht. Hören Sie sich mal das hier an …« Er schaltete ein Bandgerät ein. »Tchmb«, wiederholte es ständig, »tch-mb, tch-mb…« »Und nun dies.« »Ty-mm-ny, ty-mm-ny, ty-mm-ny…« »Ich kann keinen großen Unterschied heraushören, außer am Schluß.« »Warten Sie. Hören Sie sich erst mal das an. Das ist wieder Wort Nummer eins.« Indem er eine andere Taste drückte, entlockte Anson dem Apparat etwas, das einem dunklen Gähnlaut glich, der ungefähr wie »Ttthawmhwbbah« klang. »Ttthawmhwbbah …« »Das ist mit nur etwa einem Viertel der normalen Laufgeschwindigkeit. Jetzt noch einmal das zweite Wort.« Diesmal brachte der Apparat ein »Tlrrhhohmwwawhnn« hervor. »Ttrrhhohmwwawhnn…« »Ja, jetzt begreife ich langsam. Sie glauben, das ist es, was sie tatsächlich hören?« »Wer kann das sagen? Wir können sie schlecht sezieren, und selbst wenn wir’s könnten…! Und da sie keine regelrechte Schrift kennen, sondern bloß eine Art Poktografie, fehlt es auch an jedem grafischen Aufschluß. Ich sage lediglich, daß ein Unterschied besteht, den man durchs Vierteln der Laufgeschwindigkeit zu hören bekommen kann, und daß vielleicht ihre Gehörorgane diesen Unterschied schneller als 76
unser Gehör erfassen können. Aber nun habe ich noch eine Überraschung für Sie. Die sechsunddreißig Konsonanten sind gar nicht ausschließlich echte Phoneme. Phoneme gibt’s schätzungsweise nur achtzehn. Nach menschlichem Verständnis ist das eine recht kümmerliche Zahl, vor allem in Anbetracht dessen, daß keine echten Selbstlaute vorhanden sind, aber durchaus ausreichend für den Gebrauch einer Sprache. Jedenfalls bin ich weitgehend davon überzeugt, daß ungefähr die Hälfte der sechsunddreißig Konsonanten Ausdruck von Kombinationen von Phonemen sind. Sie wissen, wie manche Leute ›ich han‹ sagen statt ›ich habe‹. Ja, und das stimmlose n am Ende von ›han‹ kann in ihrer Sprache als die Zusammenfassung eines n- und eines t-Phonems gelten. Und eben damit haben wir’s hier zu tun. Sehen Sie, hier ist meine Aufstellung der Phoneme.« Anson zog eine andere Wandrolle herab, die wieder drei Spalten zeigte, aber nur mit jeweils sechs Symbolen. »Ich will Sie nicht mit Einzelheiten aufhalten, aber in dem Wort mit der Bedeutung ›wacker‹ ist der tchLaut, um ein Beispiel zu nennen, eine Verbindung von zwei ty-Phonemen. Ich habe den Verdacht, daß in diesem besonderen Fall das erste ty von einem Wort stammt, das ety heißt, und ›sehr‹ bedeutet, man kann es ziemlich häufig hören. Und der lange m-Laut am Ende ist ohne Zweifel eine Verschmelzung zweier m, nur habe ich den Sinn noch nicht enträtseln können. Einer der beiden b-Laute in dieser Sprache 77
ist in Wahrheit eine Zusammenfassung von p und b, und genauso steht’s mit allen anderen Paaren stimmhafter Verschluß- und Reibelaute.« Jacobs stöhnte. »Ich wollte, ich bräuchte mich bloß mit der Erde zu beschäftigen.« »Oh, ich könnte Ihnen in vielen menschlichen Sprachen viel schlimmere Dinge zeigen. Das hier ist das reinste Kinderspiel. Aber jetzt habe ich noch eine kleine Überraschung für Sie. Sie sagen, Sie erhalten immer, wenn Sie fragen, ob Sie einige Musterstücke mitnehmen können, ein Nein zur Antwort – stimmt’s?« »Wenn ich nur herausfinden könnte, was es damit auf sich hat! Das verdirbt mir mein gesamtes Programm.« Anson musterte seinen Chef mit gelassenem, aber wachsamem Blick – so wie eine erfahrene Mutter ein störrisches Kind. »Sie glauben, es gibt nur ein Wort, das Shnyauwh lautet, nicht wahr? Und leider glauben das auch die Dolmetscher. Sie sind eine Hilfe, aber sie können nicht alles wissen. Aber es gibt nicht bloß ein Wort, es sind zwei Wörter, und nebenbei, keines davon fängt mit dem gleichen Laut an wie das Wort Sshmeqh – das ist eine andere Verschmelzung, ein doppelter sh-Laut. Bei beiden steht am Anfang ein einfaches sh. Hören Sie sich jetzt mal das an.« Nach einigem Herumschalten brachte Anson aus seinem Gerät ein »Shny-wh, shny-wh, shny-wh« hervor. 78
»Das ist die Redensart, die ich immer zur Erwiderung bekam, wenn ich meinen Informanten eine Frage stellte, von der ich schon vorher wußte, daß die Antwort negativ ausfällt. Nun hören Sie sich das an. Das war die Antwort, als ich bestimmte, ganz sorgfältig überlegte Fragen an sie gerichtet habe.« »Shny-wh, shny-wh, shny-wh«, ertönte es erneut. »Da besteht irgendein Unterschied.« »Na, dann versuchen wir’s mal mit langsamerer Laufgeschwindigkeit. Hier noch einmal Nummer eins.« »Thkhhnnauhhwh … thkhhnnauhhwh …« »Und nun Nummer zwei.« »Thkhhnnohfhgh … thkhhnnohfhgh …« »Die Selbstlaute klingen anders.« »Ausschließlich durch den Einfluß des letzten Konsonanten. Im ersten Wort war’s der hier, das zweite Zeichen des zweiten Paars auf meiner ersten Tabelle. Im zweiten Wort war’s das erste des zweiten Paars. Wenn meine Symbole zu schwierig sind, um sie sich zu merken, kann man den zweiten Ausdruck am Ende auch mit ph statt mit wh schreiben. Er ist dann gedrängter, knapper, könnte man sagen. Aber lassen Sie uns mal einen Blick auf den Schallspektrografen werfen.« Anson schaltete einen kleinen, beleuchteten Bildschirm ein, auf dem er nach einer Weile zwei Versionen einer Darstellung zustande brachte, die einem verzitterten, unscharfen Schwarzweißfoto einer in üppigem Dschungeldickicht und bei dichtem Nebel aufgenommenen, zerstörten Hängebrücke ähnelten. 79
»So, hier haben wir diese Verneinung, Shnyewh. Von links nach rechts sehen Sie die Zeitmessung, von unten nach oben die Tonhöhe. Vergleichen Sie sie mit dem anderen Ausdruck daneben, Shnyeph. Nun sehen wir hier gegen Ende diesen sonderbaren Übergang nach oben schwingen – den wir nie so richtig hinkriegen, kann sein, daß es mit dem Spannungsvermögen der Mundhöhle rund um die äußeren Zähne zusammenhängt –, und der zweite Pseudoformant…« – er zeigte auf einen herabhängenden Strang der Hängebrücke – »… fällt im Vergleich zu seinem Niveau im ersten Wort – schauen Sie hier – stark ab … Jetzt nehmen wir uns mal meine synthetischen Versionen vor. Sie sind die minimalsten aus freier Hand angefertigten Darstellungen, mit denen ich, wenn ich sie den Eingeborenen als Lautfolgen vorspielte, zu fünfundneunzig Prozent ›richtige‹ Antworten erhalten habe. Wenn man so will, sind sie das Skelett, die grundlegende Struktur. Der ganze Rest besteht aus abenteuerlichen Zurechtlegungen.« Anson erzeugte auf dem Bildschirm ein total futuristisches Beispiel abstrakter Kunst, in dem die Hängebrücke und der Dschungel durch glatte Flächen und Wellenlinien ersetzt worden waren, und der Nebel war ganz verschwunden. Dann ließ er es »abspielen«. Was zu hören war, ließ sich als die beiden ursprünglichen, wie geniesten Äußerungen erkennen, auch wenn sie ziemlich abgehackt und genäselt klangen. Die zweite Redensart wies einen deutlich härteren Schluß auf. 80
»Dieser ph-Laut stellt sich hier also als Verschmelzung zweier wh-Phoneme heraus. Zufällig ist es mir aber zum Glück bereits gelungen, die beiden Wörter sozusagen auseinanderzunehmen. Das eine, das – grob gesagt – ›Nein‹ bedeutet, ist eine Art von Agglutination von esh, was ›wirklich‹ ›tatsächlich‹ oder dergleichen heißt, von nye, also ›nicht‹ oder ›negativ‹, und ewh, das heißt ›folglich‹, ›so‹ oder ›auf diese Weise‹. Ihr ›Nein‹ besteht etymologisch also aus der Formulierung ›Wirklich nicht so‹.« »›Wirklich nicht so!‹ Und was ist mit der zweiten Redensart, um Himmels willen?!« Wieder widmete Anson seinem Chef jenen versonnenen Blick. »Tja, die zweite Redewendung besteht ebenfalls aus esh und nye sowie ewh, ferner einem zusätzlichen wh, das – da bin ich völlig sicher, zumal es Monate gedauert hat, es nachzuweisen – von whe kommt.« »Und was zum Teufel bedeutet whuh?« maulte Jacobs. »Whe heißt ›endgültig‹, ›gewiß‹, ›eindeutig‹, ›sicherlich‹, ›klar‹ oder ›mit Gewißheit‹. Es wird gebraucht, um eine bestimmte Stelle einer Pflanze oder auf einem Bild genau zu bezeichnen, oder den genauen Ort eines Vorfalls, oder eine von allen Beteiligten gleich erkannte farbliche Schattierung – damit nehme ich Bezug auf ihre Farben, nicht die Farben, die wir zu unterscheiden imstande sind.« »Und was … Um Gottes willen, hören Sie mit 81
dem Gequatsche auf und erklären Sie mir, was das alles zu bedeuten hat!« »In wörtlicher Übertragung heißt’s: ›Wirklich nicht so sicher.‹ Oder, wie wir sagen würden: ›Dies oder jenes ist wirklich weniger sicher.‹« »›Weniger sicher‹ – und was soll das besagen?« »Das ist ihr Äquivalent für unser Wort ›Vielleicht‹.« »›Vielleicht‹! Dann haben sie also hinsichtlich der Musterstücke bloß noch keine endgültige Meinung. Und – mein Gott! – dieser Hohlweg, der angeblich nicht durchquerbar sein sollte … sie haben lediglich sagen wollen, man könne ihn vielleicht durchqueren?« »Höchstwahrscheinlich.« »Und der arme, alte Jackson – von ihm haben sie nur gemeint, er werde vielleicht überleben?« »Ja, so stelle ich’s mir vor. Eigentlich hätte ich sofort darauf kommen müssen … ich habe ja davon gehört.« »Mein Gott, das hätten Sie in der Tat. Kann sein, ich hätte eher daran denken sollen, Sie zu fragen, aber Sie hätten sich durchaus von selbst ein paar Gedanken über unsere praktischen Probleme machen können, Jimmy … Übrigens, wenn zwei Ausdrücke sich dermaßen ähnlich sind, dann muß doch früher oder später einer davon untergehen, oder? Ich meine, so was kann ja schließlich auch für einen Schmur heikel sein, oder nicht?« 82
»Berücksichtigen Sie, daß wir keine Ahnung haben, wie ihr Gehör funktioniert. Wir wissen’s nicht einmal von ihrer syntaktischen Wahrnehmung. Ihre Grammatik muß mit einigem sehr merkwürdigen verbalen Denken verbunden sein. Sehen Sie, bis jetzt kann ich nur zwei Gruppen von Wörtern unterscheiden, nämlich Abhängige und Eigenständige, und zwei Funktionen, die absolute und die spezielle Bestimmung. Die Eigenständigen können mit absoluter Bestimmung einhergehen, aber es muß nicht zwangsläufig so sein … Trotzdem ist etwas an dem, was Sie da sagen. Das Problem könnte sich lösen, indem sich durch die Verschiebung einer anderen Funktion der näheren Bestimmung ein zusätzlicher Konsonant in den Vielleicht-Ausdruck einschleicht. Andererseits würde es mich tatsächlich nicht überraschen, sollte der Vielleicht-Ausdruck eines Tages zugunsten eines anderen, weniger unklaren Ausdrucks aussterben. Die Entwicklung einer Sprache gelangt niemals zum Stillstand. Soviel ich mitbekommen habe, ist schon so ein Ausdruck entstanden, der sich unter Umständen durchsetzen könnte, obwohl man ihn gegenwärtig noch mit einem ziemlich geringschätzigen Unterton verwendet. Er lautet ›Bheng elyeny‹, aber Sie könnten das phonemische…« – er schrieb etwas auf seinen Notizblock – »…so aufschreiben: ›Wweng elyeny‹ – und das bedeutet ›Aussicht gleiche« »Also können sie sich nicht entscheiden, ob sie uns Musterstücke zum Mitnehmen überlassen möchten oder nicht. Aber wie wäre es mir möglich, sie zur 83
Einwilligung zu überreden? Es ist für unser Programm sehr wichtig, daß wir wenigstens ein paar Muster zur Erde mitbringen, und die Genetiker und dergleichen Leute werden die Zellstruktur von Pflanzenexemplaren erforschen wollen und so weiter.« »Nein, ich glaube, es steckt etwas anderes dahinter. Sagen Sie nichts, lassen Sie mich überlegen … Ich bezweifle, daß die Dolmetscher diesen Fehler begangen hätten, aber Sie haben sich allein mit der Angelegenheit befaßt, nicht wahr?« »Ja, richtig.« »Tja … ich vermute, die Leute haben gedacht, Ihre Frage geht dahin, ob Sie damit Erfolg haben könnten, die bewußten Gegenstände unbeschädigt von hier zur Erde zu befördern. Die Syntax ist ein bißchen schwierig, aber Sie hätten um Erlaubnis zum Mitnehmen fragen sollen – etwa ›Qhedyep geph‹ –, statt sich nach der Möglichkeit des Mitnehmens – ›Ezhnye bvew‹ – zu erkundigen. Falls ich mich nicht irre, haben sie also angenommen, Sie gingen davon aus, daß sie wüßten, wie widerstandsfähig die Muster bezüglich der Beförderung sind, ob sie sie überstehen können. Und naturgemäß haben sie darauf mit ›Vielleicht‹ geantwortet. Habe ich recht?« »Mein Gott, ich glaube, ja! Alles, was sie sagen wollten, war also, daß sie nicht wissen, ob die Gegenstände den Transport überstehen können! Jetzt werde ich sofort gehen und sie um alle möglichen Musterstücke bitten … Mensch, Jimmy, dafür lade ich Sie zum Essen ins Savoni ein, sobald wir wieder 84
auf der Erde sind – das heißt, nachdem man uns aus der Quarantäne entlassen hat.« »Glauben Sie« (hier senkte Anson seine Stimme) »denn, daß man uns überhaupt jemals aus der Quarantäne entlassen wird, Chef?« »Das ist… ›wirklich … weniger … sicher‹.«
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SCHLUND DER HÖLLE
Dies ist eine » Was-wäre-wenn«-Story, der Bericht einer Entdeckung. Was fängt die Menschheit damit an? Was macht ein Rotkehlchen mit einem Schubkarren? Was hat doch Blake von der Sonne gesagt? »Man sieht eine Scheibe in der Form etwa einer Guinee…«
Als die Expedition, nachdem sie in kurzen Strecken das nördliche Vorgebirge durchquert hatte, das Plateau erreichte, fand sie es bar jeglichen menschlichen Lebens, eine stille Ebene, durchsetzt von Blümchen und auffälligen Flecken, an denen Moos und Flechten wucherten. Kettass, ihr Leiter, ordnete einen Halt an und erkundete die Landschaft, während man die Raupenfahrzeuge wartete. Die Sonne schien hell an einem klaren Himmel, nicht allzu weit im Süden, denn die hiesige quasi-arktische Umwelt verdankte ihr Dasein der Höhe, nicht dem Breitengrad. Unterhalb des Windes schwebten Moskitos dicht über Grasbüscheln, auf den Blumen wimmelte es von Käfern und Fliegen. Aber oberhalb eines Viertelmeters überm Untergrund wehte fortgesetzt von Norden ein bitterkalter Wind. Die Fernsicht war ungetrübt, doch fiel es schwer, zu beurteilen, was man sah, weil die baumlose Weite keine Anhaltspunkte zur Einschät86
zung der Größenverhältnisse bot. Erhebungen gab es kaum im Gelände. Für Bodenfrost fehlten alle Anzeichen. Nach einer Weile konnte man in einiger Entfernung einen Fuchs erkennen, der südwärts wanderte. Am Rand eines schlickigen Tümpels zeigten sich einige größere Spuren, von denen immerhin feststand, daß sie nicht von Huftieren stammten. Wenn man sich von den Fahrzeugen und Menschen auf einigen Abstand begab, störten nur noch das leise Gesäusel des Windes, der durch die Halme grasbewachsener Erdhöcker pflügte, das Zitt-zitt-zitt und sonstige Gezirpe von Insekten, das ferne Kläffen eines Fuchses oder anderen Raubtiers sowie das verstohlene Kichern von Sickerwasser die Stille. Da und dort sah man an den Nordseiten eines Erdhügels oder Klumpens von Erdreich Spuren von Reif, und ein paar Tümpel waren an den Rändern leicht gefroren. Kettass kehrte zum Rastplatz der Expedition zurück und gab Anweisung, die Mittagsmahlzeit zuzubereiten. Er dachte über die Situation nach. Der Wind war ein Ärgernis: er wehte unaufhörlich und unbarmherzig, und er lag offensichtlich unter dem Gefrierpunkt. Man konnte, wenn man hier stand, an der Südseite tatsächlich schmoren und an der Nordseite zur gleichen Zeit buchstäblich vor Kälte erstarren. Im Laufe der nächsten Stunde nahm der Wind an Stärke zu, während die Sonne womöglich immer noch heißer schien. Doch am südlichen Horizont zog allmählich eine dunkelgraue Wolkenbank herauf, stieg höher und verbreitete sich über den Himmel, 87
bis ihre äußeren Ausläufer die Sonne selbst bedrohten. Kettass befahl den erneuten Aufbruch, und die kleine Kolonne von Raupenfahrzeugen zockelte vorsichtig weiter, unter sorgsamem Suchen des Weges, den Wolken entgegen. Zwei Stunden später erspähte ‘Afpeng eine Herde Grauwild, und die Expedition legte einen Zwischenhalt ein. Eine längere Pirschjagd, durchgeführt von ‘Afpeng, Laafif und Niizmek, brachte drei Beutetiere ein, deren Kadaver man außen an den Fahrzeugen festband. Dann setzte man die Fahrt fort. Die Wolken schwollen immer mehr an, und am Abend bedeckten sie im Süden den halben Himmel, während der eisige Nordwind sich unablässig verstärkte. Man schlug ein Lager auf, bei dem die Raupenfahrzeuge zur Sicherung der Zelte den Windschutz abgaben. Die Beute beizte man und schweißte das Fleisch ein, um gegen eine etwaige spätere Vorratsknappheit vorzusorgen. Auch im Verlauf der schlaflosen Nacht wehte der Wind ohne Unterlaß und erlahmte erst vor Anbruch der Morgendämmerung. Die Nacht war klar und frostig. Am Morgen war der Himmel wolkenlos, das gesamte Plateau mit Reif überzogen. »Welche Richtung nehmen wir jetzt, Chef?« erkundigte sich Mehhtumm beim Frühstück. »Ganz einfach immer weiter südwärts.« Innerhalb von zwei Stunden taute der Erdboden. Die Käfer verließen ihre Verstecke, die Sonne brannte von neuem herab, die Erde erwärmte sich, doch der Wind blies heftiger denn je und so eiskalt wie 88
zuvor. Weit voraus erhoben sich voll herausgebildete Säulen von Kumuluswolken vom Horizont, und bald standen am südlichen Himmel Gewitterwolken emporgetürmt. Ein Geflecht trügerischer Zirruswolken breiteten sich aus, sie verdichteten sich zu einer Wolkendecke und verhüllten die Sonne. Der Wind nahm zu und war bisweilen böig. »Haben Sie den Boden bemerkt?« fragte Mehhtumm einige Stunden später Kettass direkt ins Ohr. »Das Gefälle? Ja.« Wieder ließ der Expeditionsleiter den Konvoi halten. Man hatte den Eindruck, als habe irgend etwas die Welt in eine leichte Schräge gebracht. Sie befanden sich in Abwärtsrichtung eines ausgedehnten, sehr flachen Abhangs, der sich, so weit man sehen konnte, gleichmäßig nach Osten und Westen erstreckte. Das Gefälle war nun auch nordwärts zu erkennen. Bisher war es jedoch zu schwach gewesen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Kettass gab Anweisung, die Fahrt im Breitkeil wiederaufzunehmen, mit seinem Fahrzeug, das gleichzeitig an der Spitze fuhr, in der Mitte. In den folgenden beiden Stunden machte das Gefälle sich immer deutlicher bemerkbar. Tümpel wichen Rinnsalen voller Nässe. Kettass’ Höhenmesser zeigte an, daß sie sich dem Meeresspiegel mittlerweile wieder um die Hälfte der vorherigen Höhe angenähert hatten. Die Vegetation dagegen wechselte kaum. Moose traten reichlicher auf, der Erdboden war fast warm, aber der eisige Wind blies ihnen unverändert in den Rücken, als wolle er sie den Hang 89
hinuntertreiben, diesen Abhang, der am einen wie am anderen Horizont kilometerweit reichte. Im Norden und Süden waren sie vom Gefälle eingeschlossen, ein sichtbares Rund, über das hinaus sie allerdings keinen Ausblick hatten. ‘Ossnaals Gesicht war graugrün, und Kettass wunderte sich darüber, daß ein Mann, der an einer Felswand so kaltblütig blieb, von dieser Landschaft derartig leicht beeindruckt werden konnte. Und nicht etwa, daß ‘Afpeng ein allzu gutes Bild abgegeben hätte; niemand wirkte besonders froh. »Wo das wohl ‘n Ende nehmen wird, hä?« murmelte Laafif. Die Gewitterwolken hatten sich in einen gewaltigen Wall finsteren Dunstes verwandelt, häufig erhellt von Blitzen. Aus dem Süden drang fast ununterbrochen Gerumpel herüber, und es knackte in den Funkgeräten. Kettass ließ die anderen Fahrzeuge aufholen, bis sie parallel zu seinem Spitzenfahrzeug fuhren. Das Gefälle war nun für die Fahrsicherheit eindeutig eine Gefahr. Eine Stunde später erteilte Kettass erneut Befehl zum Anhalten. Das Gefälle war mittlerweile bedrohlich steil. Obwohl es erst knapp Mittag war, herrschte Düsternis unter der Wolkendecke, die sich nunmehr über einen Großteil des Himmels wölbte. Die Pflanzen, die man sah, waren üppiger, wuchsen jedoch weiter verstreut, so daß man stets viel Fels und Geröll im Blickfeld hatte. Immerfort wehte der harsche Wind. 90
»Sieht so aus, als würden wir unsere KletterSaugscheiben doch noch gebrauchen können«, meinte Mehhtumm. Pripand und Ghuddup tuschelten neben Fahrzeug 5 miteinander und hielten voller Mißbehagen Umschau. ‘Ossnaals Gesicht war bleich, und alle anderen wirkten besorgt. »Wenn sich irgendwo eine geeignete Mulde oder ein Felsrücken fände, könnten wir die Fahrzeuge abstellen«, fügte Mehhtumm hinzu. Kettass schwieg. Er betrachtete den Höhenmesser. »Muß jetzt schon unterm Meeresspiegel liegen«, sagte er schließlich. »Trotzdem keine Bäume, nichts außer diesem arktischen Wind, der die Vegetation niederhält, und keine Talsohle abzusehen.« Er schwieg erneut. »Wir setzen uns bis auf weiteres hier fest«, sagte er dann. »Zwei Fahrzeuglängen wird Abstand voneinander gehalten. Befestigen Sie die Ankereisen, so gut es geht. Packen Sie für alle Fälle die Rucksäcke und Kletterausrüstungen aus. Die Zelte müssen genügend östlich von der Linie, die die Fahrzeuge bilden, aufgeschlagen werden, und suchen Sie bewachsenen Untergrund aus, das Geröll kann von Hochwasser stammen. Das gleiche gilt für die Vorräte. Sobald das erledigt ist, essen wir erst einmal.« Bevor das Essen zubereitet war, fegte plötzlich im Wind schwacher Hagel herab, der sich gleich darauf in kalten Regen verwandelte. Den ganzen Nachmittag hindurch kam es zu solchen Schauern. Die Ankereisen verhinderten, daß zwei Fahrzeuge in flachen Flutwasserschwällen ins Rutschen gerieten. 91
Kettass veranstaltete eine Lagebesprechung. »Mir kommt’s so vor«, äußerte Niizmek mürrisch, »als würden wir in der gegenwärtigen Richtung nicht in eine Talsohle gelangen. Wir können ein, zwei Kundschafter vorausschicken, die uns Klarheit verschaffen, und hier lagern, bis wir mehr wissen.« »Was ist Ihre Meinung, ‘Afpeng?« »Zwanzig Kilometer ost- oder westwärts zu fahren, um zu sehen, ob’s dort befahrbare Ausläufer oder Übergangszonen gibt?« »‘Ossnaal?« »Ich glaube … Ich weiß nicht… Es wäre Zeitverschwendung, es im Osten oder Westen zu versuchen. Man kann ja sehen, daß es dort nichts gibt, völlig gleich, wie weit man fährt. Wir müssen weiter oder umkehren.« »Wir können nicht alle zu Fuß gehen«, schnauzte Laafif. »Ohne die Fahrzeuge können wir nicht genug Proviant mitnehmen. Falls wir nicht bald die Talsohle erreichen oder das Gefälle sich vermindert, können wir einpacken. Höchstens zwei oder drei Mann sind dazu imstande, dem weiteren Verlauf des Gefälles zu folgen, und auch bloß ein paar Kilometer weit.« Ghuddup und Pripand, beide Techniker, sagten nichts. »Ich finde«, ergriff von neuem Mehhtumm das Wort, »wir sollten morgen früh einen Kundschaftertrupp vorausschicken, der noch einen halben Tag lang weiterzieht, so daß er am Abend wieder hier sein und uns Neues berichten kann. Dann wird’s Ih92
nen möglich sein, ‘ne Entscheidung zu treffen, was, Chef?« »Wahrscheinlich wäre es am besten, aber ich werde erst einmal darüber schlafen«, antwortete Kettass. Kaum jemand schlief in dieser Nacht. Der Wind war feucht, der Untergrund kühlte ab, und während der Donner nach Mitternacht verstummte, hielt das Sturmbrausen unentwegt an. Am darauffolgenden Morgen war der Himmel wieder klar, sah man von einigen Wolkenbergen tief am südlichen Horizont ab (der wegen des abschüssigen Geländes nicht weit entfernt sein konnte). Zwar war es kalt, aber Frost blieb aus. Nach einem beim ersten morgendlichen Lichtschein eingenommenen Frühstück stellte Kettass – zwischen den langen, düster-unheimlichen Schatten, die Fahrzeuge und Zelte über den schrägen Erdboden warfen – einen dreiköpfigen Erkundungstrupp zusammen. Mehhtumm sollte ihn anführen; um die Zahl vollzumachen, ersuchte Kettass um zwei Freiwillige. Zu seiner Überraschung meldeten sich ‘Ossnaal und Ghuddup. »Solange wir die Fahrzeuge nicht benutzen, bin ich sowieso überflüssig«, sagte Ghuddup. »Während meiner Abwesenheit kann sich Pripand um sie kümmern. Und falls wir klettern müssen, so was macht mir Spaß.« ‘Ossnaal versicherte Kettass, er fühle sich der Aufgabe gewachsen: »Ich möchte herausfinden, was wirklich vor uns liegt.« Das Trio brach fast unverzüglich auf; außer Eisernen Rationen und Wasser, Seilen, Gewehren – und 93
den neuartigen Saugtellern zum Klettern – nahmen sie Sauerstoff mit. »Sie wissen nicht, wie tief das Becken noch ist«, erklärte Kettass, »und auch nicht, in was für Luft Sie noch geraten werden.« Zunächst blieb die Gruppe per Funk mit dem Haupttrupp in Verbindung, aber nach ungefähr fünf Kilometern Marsch verschlechterte sich der gegenseitige Empfang zusehends, teilweise infolge des Geknisters, das mit der vormittäglichen Bildung von Gewitterwolken einherging. Vorher gab Mehhtumm noch durch, daß sie sich dem Luftdruck zufolge 2500 Meter unter der mittleren Höhe des Meeresspiegels aufhalten mußten, daß das Gefälle des Abhangs mehr als 50 % betrug und die Erdoberfläche sich aus Gestein und Sand zusammensetzte, gesprenkelt mit ungewöhnlichen und sehr farbigen Flechten, daß östlich und westlich von ihnen zahlreiche schmale Sturzbäche flossen und daß Dunst und Nebel aufgekommen waren und unweit voraus von unten aufstiegen. Danach herrschte Schweigen … bis man in fortgeschrittener Abenddämmerung ein auf nachgerade hysterische Weise ständig wiederholtes Rufzeichen empfing, von dem man schließlich feststellte, daß es von Mehhtumm kam. Bald nachdem sie die Funkverbindung zum Lager verloren hatten, hörten Mehhtumm, ‘Ossnaal und Ghuddup damit auf, die Wolkengebilde zu beobachten. Schmutziggraue Schwaden, wie Staub unter Betten, schwebten in Augenhöhe durch die Luft und et94
wa einen Kilometer weit südwärts. Blitze aus der gestaltlosen Wolkenwand dahinter verwandelten sie gelegentlich in rauchige Silhouetten. Die kumuloiden Wolkenberge über den Männern waren inzwischen größtenteils in der allgemeinen Masse von Gewitterwolken aufgegangen. Der schiefe Horizont endete in einem ungeheuren Brodeln scharfrandig sichtbarer Wolken, das einem riesenhaften Aal glich und sich unendlich nach Osten und Westen erstreckte. Am Erdboden spürte man hier nichts mehr vom Sturm, doch konnte man zwischen dem Donnern den Wind unverändert brausen hören. Die Atmosphäre war dumpfig und außerordentlich warm. Die Felsflächen waren heiß. Da und dort ragten und hingen aus Spalten fast obszöne Gewächse, die wie dunkle Polypen und Seeanemonen von kräftiger Färbung aussahen. Dann und wann fielen durch eine Kluft im Wolkenvorhang oder über den blumenkohlartig geformten Rand eines Wolkengetürms bronzehafte Schäfte brennendheißen Sonnenscheins herab. Sogar mit Hilfe der Saugteller kamen die Männer nur noch langsam voran. Mehhtumm veranlaßte, daß sie sich durch Seile miteinander verbanden. Eine Stunde danach betrug das Gefälle 70 %, und lediglich ein paar Gesimse wiesen noch Dornbüsche, Zwergkiefern und sonderbare Sukkulenten auf. Die Rinnsale waren zu schmalen Wasserfällen geworden, von denen viele abwärts in nichts als Gischt zerstoben. Aus der Tiefe wehte eine glutheiße Brise herauf. Nun erstreckten sich über den Männern zwei paralle95
le Stränge der walzenähnlichen Wolkenwand, und allem Anschein nach blieb der Sturm hoch darüber. Das glatte, brüchige Gestein wollte Kletterhaken keinen Halt gewähren. Durch die dunstige Luft konnten die Männer zwischen ihren Füßen gerade noch eine merkwürdig ungemusterte Maserung aus stumpfem Rosa, trübem Zitronengelb und Steingutblau erkennen. Sie vermittelte keinerlei Aufschlüsse, und die immer krassere Krümmung des Untergrunds stand damit in zumindest keinem ersichtlichen Zusammenhang. Die Höhenmesser abzulesen, war jetzt sinnlos, aber sie mußten sich eindeutig mehrere Kilometer unterhalb des Meeresspiegels aufhalten. Kribbelgefühle befielen die Männer am ganzen Körper – als wären sie in Sodawasser verwandelt worden, bemerkte Ghuddup –, und sie litten an Ohrensausen. Mehhtumm und Ghuddup verzehrten einen Teil ihrer Eisernen Rationen und tranken ein wenig Wasser, aber ‘Ossnaal, dessen Gesicht eine bläuliche Rosafärbung angenommen hatte, brachte nur Wasser hinunter. Gelegentlich nahmen sie tiefe Züge aus den Sauerstoffbehältern, ohne daß sich jedoch ihr Befinden spürbar besserte. Zwei Stunden danach mußten sie sich an eine fast senkrechte Felswand klammern, die sich ohne Ende nach Osten, Westen und abwärts erstreckte. Die musterfreie Maserung unter ihren Füßen war noch die gleiche, weder besser sichtbar noch in sich selbst klarer. Alle Wasserfälle waren zu feinem, lauwarmem 96
Regen geworden. Die Luft hinter der Gruppe bestand, soweit man es sehen konnte (Mehhtumm benutzte einen Handspiegel), aus einer Masse dunkelgrauen Dunstes, in der zahlreiche Turbulenzen auftraten und durch die ganz selten einmal der kupfrige Glanz heißen Sonnenscheins drang. Was man an winzigen Ausschnitten vom Himmel sah, wirkte sehr fahl. Der kahle Fels war so glutheiß, daß man es sogar durch die Saugteller-Handschuhe spürte. Er zeichnete sich durch einen höchst sonderbaren, blauroten und orangefarbenen Belag aus, der vielleicht organischen Ursprungs war. Das Kribbelgefühl verstärkte sich zu einem wahren inneren Aufruhr des Fleisches. Es dröhnte in ihren Ohren. In regelmäßigen Abständen durchfuhren Stiche ihren Brustkorb. Ihr Tastgefühl war beeinträchtigt und infolgedessen unzuverlässig. Daß sie über die Saugteller verfügten, war ihr Glück. Doch trotz allem ergriff ein gewaltiges Hochgefühl von Mehhtumm Besitz, eine nahezu kindische Lust am Abenteuer. ‘Ossnaal murmelte ununterbrochen vor sich hin. Ghuddup kicherte leise und faselte von einem »Schottenmuster« des Abgrunds. Eine halbe Stunde später stieß ‘Ossnaal einen schrillen Schrei aus, den die beiden anderen in ihren Ohrhörern vernahmen, und irgendein Anfall suchte ihn heim. Glücklicherweise hielten seine Saugteller. »Wir müssen ihn irgendwie zurück nach oben bringen«, rief Mehhtumm. »Ob wir ihn Stück für Stück hinaufschieben können?« Ihm war befremdlich 97
bekümmert zumute, und er betrachtete diese kritische Situation lediglich als interessantes abstraktes Problem. »Ich gehe nicht rauf!« fauchte Ghuddup. »Du kannst nicht hinab, und du kannst nicht an dieser Stelle bleiben. Unsere einzige Chance besteht darin zu versuchen, ihn Stück für Stück nach oben zu ziehen. Vielleicht kommt er wieder zur Besinnung oder verliert sie ganz, so daß wir einigermaßen mit ihm zurechtkommen.« »Ich verzichte nicht auf diese einmalige Gelegenheit zu sehen, was da unten ist«, fuhr Ghuddup ihn an. »Zum Teufel mit ‘Ossnaal, und mit dir auch zum Teufel! Du bist feige, das bist du, ein feiges Stinktier, ein feiges schottisches Stinktier!« Wie im Traum sah Mehhtumm, daß Ghuddup, der sich in der Mitte befand, mit einem Messer hastig die Seile zu seinen beiden Seiten durchtrennte. Die langen Enden fielen hinab. ‘Ossnaals in Zuckungen verfallene Gestalt hing an dreien der vier Saugteller. Ghuddup kletterte mit spinnenhafter Hurtigkeit weiter abwärts und gelangte binnen kurzem buchstäblich außer Sicht, doch konnte Mehhtumm noch eine Zeitlang seine genuschelten Unflätigkeiten im Funkgerät mitanhören. Noch immer in traumgleichem Zustand, versuchte Mehhtumm seine Gedanken zu sammeln. Zu guter Letzt kam er zu der Schlußfolgerung, daß er Hilfe holen mußte, weil er den Umnachteten nicht allein vom Fleck bewegen konnte und sie zusammen wahrscheinlich beide sinnlos verrecken würden. Er 98
drückte ‘Ossnaals linke Hand fest an den Fels, damit der Teller sich ansauge, prüfte danach die Festigkeit der drei anderen Sauger und verschob einen an eine günstigere Stelle. Er durfte keine Zeit vergeuden. Er holte eine Dose mit zum Markieren bestimmter Leuchtfarbe aus der Tasche und versprühte den Inhalt großzügig über ‘Ossnaals Kleidung und seine unmittelbare Umgebung. Zwei Minuten lang wartete er noch bei ‘Ossnaal und bemühte sich, ihn zu sich zu bringen, indem er ihn laut beim Namen rief. Endlich beruhigte sich der Mann und murmelte als Antwort auf Mehhtumms Rufe etwas wie »Festhalten, ja, nicht bewegen«. Mehhtumm machte sich ans Emporklimmen und kennzeichnete den Weg, den er über den Fels nahm, fortlaufend mit Farbspritzern. Nach einer halben Minute des Kletterns erregten Geräusche und Bewegung aus der Tiefe seine Aufmerksamkeit, und er schaute gerade noch rechtzeitig hinunter, um ‘Ossnaals Gestalt in den Abgrund trudeln zu sehen. Der unsichtbare Ghuddup schwadronierte in Mehhtumms Funkgerät noch gut eine halbe Stunde lang, bis seine Stimme endlich verstummte. Der Rest des Rückwegs war ein einziger Alptraum und dauerte viel länger, als Mehhtumm erwartet hatte. Nach ungefähr drei Stunden fing sein Kopf an, sich zu klären, sein körperlicher Zustand normalisierte sich, und was geschehen war, kam ihm nun voll zu Bewußtsein. Erste schreckliche Zweifel bezüglich seines Handelns befielen ihn. Aber nun blieb ihm 99
nicht anderes übrig, als so schnell wie möglich zum Lager zurückzukehren. Eine Stunde lang mußte er funken, ehe man ihn dort in den Apparaten hörte. Kettass schickte ihm Laafif und ‘Afpeng entgegen. Es gelang ihnen, ihn per Funkpeilung ausfindig zu machen, und sie brachten ihn, der wie ein Kind weinte, im Dunkeln zurück ins Lager. »Für meine Begriffe klingt das nach irgendeiner Art von Gasvergiftung«, sagte Kettass später zu Mehhtumm, als letzterer sich erholt hatte. »Ja, es könnte sich um eine Stickstoffvergiftung gehandelt haben, außer bei ‘Ossnaal. Bei dem muß irgend etwas anderes vorgelegen haben – meinen Sie nicht auch?« »Ich hätte ihn niemals mitgehen lassen dürfen. Er kam mir schon eine ganze Weile so merkwürdig vor … Wenn wir Ghuddup morgen früh nicht aufspüren können, müssen wir das arme Schwein auch abschreiben.« Am folgenden Morgen stiegen Mehhtumm, Laafif und Kettass im ersten Sonnenschein hinab, ohne Seile, aber mit Leuchtfarbe markiert. Ihre Sauerstoffgeräte hatten sie in solchem Umfang aufgedreht, daß sie ihnen ständig einen hohen Prozentsatz ihres Gesamtsauerstoffbedarfs lieferten. Sie folgten den gestern von Mehhtumm hinterlassenen Farbspritzern. Sie hatten sich dahingehend abgesprochen, daß derjenige von ihnen, der zuerst irgendwelche besonderen, beunruhigenden Symptome feststellte – oder 100
falls die anderen welche an ihm beobachteten –, sofort wieder hinaufklettern, und daß die beiden anderen, sobald einer von ihnen Anzeichen irgendwelcher Unregelmäßigkeiten zeigte, unverzüglich gemeinsam den Rückweg anzutreten hatten; bis dahin allerdings wollten sie dicht beieinander bleiben. Wie es sich ergab, mußte Laafif trotz der Sauerstoffversorgung etwa hundert Meter über der verhängnisvollen Stelle umkehren, weil er sich wirr fühlte. Mehhtumm klomm über die Stelle hinaus abwärts, obwohl ihn hartnäckig der Eindruck marterte, er habe sich zu einem Wasserfall verflüssigt. Er kletterte in stummer Beharrlichkeit weiter und überholte zügig Mettass. Er befand sich 400 Meter tiefer, wo er vor sich hin murmelte und nach allen Seiten spähte, als er und Kettass in den Funkgeräten etwas zwischen einem Schluchzen und einem Auflachen hörten, und Laafifs Gestalt kam ein Stück weit außerhalb, indem sie sich fortwährend überschlug, an ihnen vorbei herabgestürzt. Sie verwandelte sich in einen Punkt auf dem Teppich aus Dampfgebrodel, dem die gestrige bunte Maserung inzwischen hatte weichen müssen. Noch viele Augenblicke lang, nachdem der tatsächliche Empfang beendet war, hallten die Schreie in ihren Ohrhörern nach. Kettass, der einen gewissen Grad geistiger Klarheit bewahrte, konnte Mehhtumm schließlich davon überzeugen, daß es sich empfahl, nach oben zurückzukehren, und machte sich selbst und ihm deutlich, daß es auf Tausenden von Metern senkrechten Fel101
sens aussichtslos war, den gestern verschwundenen Durchgedrehten zu suchen. Mehhtumm erzählte später, in dieser Tiefe habe er ständig rings um sich kleine Ghuddups tanzen und ein gelbes Messer schwingen gesehen. Am Spätnachmittag gelangten sie ins Lager zurück, und am nächsten Tag trat die Expedition, nur noch ein Mann in jedem Fahrzeug, wortkarg die Heimfahrt an. Fünf Jahre dauerte es, bis die zuständigen Stellen zwei geeignete Senkrechtstarter gebaut hatten, die dazu imstande waren, sowohl in normaler Luft als auch in solcher mit hohem Druck verläßlich zu starten und zu fliegen, und die druckgesicherte Kabinen besaßen. Mehhtumm war inzwischen tot, bei einem Bergunglück auf dem Mogharitse ums Leben gekommen, aber Kettass hatte sich als Filmer und Globalradio-Kommentator einen Platz in einer der Maschinen sichern können, und Niizmek sich einen Platz in der zweiten. Eine auf dem Plateau errichtete Bodenstation übermittelte die Live-Reportage weiter, indem sie sie ab- beziehungsweise auffing, sobald die Innenschicht der Atmosphäre sie von oben zurückwarf, denn aufgrund der Tiefe des Beckens blieb eine direkte Funkverbindung zwischen Maschinen, Sendeanstalten und Programmteilnehmern ausgeschlossen; dennoch kam nur etwa ein Viertel der Reportage an. Die beiden Maschinen landeten im Sommer im 102
Bereich des 15°-Gefälles auf dem Plateau. Flüge zwischen ungefähr elf Uhr vormittags und Mitternacht stufte man wegen des starken Auftriebs und elektrischer Störfelder meteorologisch als undurchführbar ein. Deshalb startete man um 7 Uhr morgens, kurz vor Anbruch der Dämmerung, unter Verwendung leistungsfähiger Suchscheinwerfer. Kettass’ Maschine, geflogen von einem unerschütterlichen dreißigjährigen Flugveteranen namens Levaan, sollte in der Nähe der Route, die die ursprüngliche Expedition in den Abgrund eingeschlagen hatte, an der Felswand nach unten vordringen. Die andere Maschine erhielt den Auftrag, westwärts zu fliegen und nach einer Veränderung der geografischen Verhältnisse auszuschauen. Beide Maschinen sollten durch die Funkgeräte der Piloten (auf einer anderen Wellenlänge) in ständigem Kontakt bleiben. Levaan tastete mit dem Radar nach dem unsichtbaren Grund des Beckens. »Sie werden’s nicht glauben – wir haben dreiundvierzig Kilometer unter uns.« Kettass war sprachlos. »Aus rund siebenunddreißig Kilometern Tiefe kommt ein sekundäres Echo – könnte die Wolkenschicht da unten sein. Lassen Sie mich’s mal mit dem Lidar versuchen.« Er richtete den unhandlichen Laser abwärts. »Ja, es ist tatsächlich die Wolkenschicht. Und diese Anzeige hier, das ist die walzenförmige Wolke, oder vielmehr eine im Entstehen begriffene Walzenwolke … Ich bezweifle, daß es unten fürs bloße Auge was zu sehen gibt.« 103
»Das … das Bodenecho – was für eine Gesamttiefe zeigt es an?« »Gehen wir von der mittleren Höhe des Meeresspiegels aus, liegt der Grund des Beckens einundvierzig Kilometer unter dem Meeresspiegel und fast zweiundvierzig Kilometer unter der Höhe des Plateaus.« Sie begannen den Hinabflug. Von den vor fünf Jahren stattgefundenen Ereignissen waren keinerlei Spuren übriggeblieben. Die Maschine schwebte – wie das Senkrechtradar anzeigte – neun oder zehn Kilometer tief in den Abgrund. Kettass setzte die Welt davon in Kenntnis, daß man die düstere Felswand auch weiterhin sehen konnte, und machte ein paar Filmaufnahmen. Der Sonnenschein ergoß sich über die so unmöglich senkrechte Fläche. In einer Tiefe von fünfzehn Kilometern waren die sichtbaren Farben in vereinzelte Flecken und Kleckse zerspellt. Die freien Ausschnitte des Himmels waren milchig weiß geworden und gingen nun langsam in Bronzegelb über. Noch immer ließ sich nichts vom Grund des Beckens erkennen, und auch von der musterlosen Maserung, die Mehhtumm beschrieben hatte, war nichts zu erblicken, aber der Nebel dort unten leuchtete im gelben Sonnenlicht. Selbst in der klimatisierten Kabine war es gleich außergewöhnlich waren, sobald sie in die Sonnenstrahlen geriet. »Die Perspektive bewirkt, daß die Felswand sich über und unter uns nach innen zu wölben scheint«, sagte Kettass in sein Mikrofon. Der Anblick ähnelte 104
in der Tat dem, der sich einer Mücke bieten mußte, die ein paar Zentimeter vor einer Wand herumtanzte, die sich ihr entgegenwölbte und aus den Dauben eines Fasses bestand – nur dürfte die »Mücke« nicht umfangreicher sein als ein feines Haar. Der Himmel grenzte in schwindelerregender Höhe über den Maschinen an den Rand der Klippe. Gegen den gelblichen Himmel zeichneten sich nunmehr (sehr schmal) nicht weniger als drei parallele Wülste von Walzenwolken ab, und in der gegenwärtigen Flughöhe deutete sich eine vierte derartige Wolke durch mit Rauchzeichen vergleichbare, fischähnliche Umrisse an. Nicht allzu weit jenseits schwebten die ausgefransten, kohlschwärzlichen Sockel der ersten kumuloiden Wolken des Tages, und dahinter brannte bronzen die Sonne herab. Schwarzgraue Geistergestalten erwuchsen aus den Wolken und wollten, viele Kilometer hoch, rings um die Felswand himmelwärts. Manchmal hatte Kettass den Eindruck, die Maschine flöge auf der Seite, und die Felswand sei der horizontale Erdboden der Welt. Der Abwärtsflug begann holprig zu werden. Die andere Maschine, mittlerweile 50 km weiter westlich, meldete keinerlei Veränderungen. In einer Tiefe von 36 km sah man den offenen Himmel im Farbton einer Blutorange. Der Nebel, inzwischen nahezu untragbar turbulent, lag dicht unter ihnen, und nach vorsichtigem Aufklärungsflug entdeckte Levaan eine Lücke, unter der man durchs Flimmern der Luftströmungen verschwommen rosarote, grüne und indigo105
blaue Massen sich bewegen sehen konnte. 39 km tief, wo sie gegen heftigen Auftrieb ankämpfen mußten, erhielten sie Ausblick auf eine ausgedehnte Landschaft von dunkler, rotglühender Lava, erkalteter grünlicher Lava und etwas, das aussah wie violetter Schlamm, aufgeteilt in anscheinend kilometerbreite Streifen und Pfühle, rechts in verschiedenen Überlappungen begrenzt von der 30 bis 40 km hohen, senkrechten Felswand, südlich von vielen Kilometern entfernter, pechschwarzer Finsternis. Bisweilen zuckten am Fuß der Felswand gegabelte Blitze. Abgesehen von den Verzerrungen der Sicht, die durch die Luftströmungen bedingt waren, befand sich der gesamte Grund in ständiger, träger Regung. Er schwoll, ruckte, quoll und brodelte. Levaan unterbrach Kettass’ Kommentar, um ihm zu sagen, daß er es nicht wagte, noch länger unten zu bleiben, da der Auftrieb sich zu gewalttätig bemerkbar machte und das Material der Maschine zu ächzen anfing. Außerdem hatte die andere Maschine soeben das westliche Ende des Beckens gesichtet, so daß man nun von dort aus einen eigenen Kommentar durchzugeben wünschte. Levaans Maschine stieg auf, in der Höhe der Walzenwolken einmal durch eine Turbulenz ernsthaft gefährdet, konnte aber an ihnen vorüber größere Höhe gewinnen und drehte dann bei, um die andere Maschine einzuholen. Niizmek und sein Pilot Fehos hatten gerade eine abgestufte Geländeformation erspäht, die die Westseite des Beckens einschloß. 106
Am folgenden Morgen flogen die beiden Maschinen mit vertauschten Rollen in den Schlund. Fehos und Niizmek schwebten in einigem Abstand von der Felswand in den Abgrund, während Levaan seine Maschine ostwärts lenkte, um herauszufinden, was an jener Seite des Beckens lag. Doch in einer Tiefe von 39 km implodierte Fehos’ Transpex-Druckkabine mit einem Krachen, das man in allen Rundfunkempfängern des Planeten vernahm, und die Maschine, vergleichbar mit einem zerquetschten Insekt, stürzte ins Magma. Danach weigerte sich Levaan, seine Maschine über eine Tiefe von 25 km hinaus hinabzusenken. Wie sie feststellten, erstreckte sich die Felswand 163 km weit von Osten nach Westen, oder vielmehr, von leicht Nordöstlich nach leicht Südwestlich. Das westliche Ende, später bekannt als »Terrassen«, bestand aus einer Reihe beinahe senkrechter Klippen mit Höhen zwischen 2000 und 3000 m, voneinander abgesetzt durch jeweils mehrere Kilometer breite, felsige Abhänge und Geröllhalden. Die Ostseite, »Treppe« oder »Jakobsleiter« benannt, erwies sich als ziemlich ähnliche Formation, beschaffen wie eine Feile oder ein Gitter mit 500 m hohem Rücken oder Barren aus hartem Gestein, die (im Verhältnis zum Becken) Überhänge von 30° hatten und mit von Felsbrocken und Steintrümmern angefüllten Mulden weicheren Gesteins wechselten; das ganze Gelände war südwärts in einem Winkel von 35° abgeschrägt. An der Südseite stand – wie im Norden – eine senk107
rechte Felswand, zur nördlichen Wand fast parallel, aber eingegrenzt war sie durch ein mehrere tausend Meter hohes Gebirge, 146 km lang und rund 200 km entfernt. Nach einigen Monaten hatten die Presse und die Sendeanstalten ihre Superlative und Witzeleien (im Stil von etwa »Mutter Naturs Schwarzes Loch«) endlich verpulvert und verhalfen statt dessen dem »Slingo« zur Verbreitung, einem neuen fallschirmakrobatischen Luftsport, der den ganzen Planeten erfaßte. Dreißig Jahre später begleiteten sein Schwiegersohn, seine Tochter sowie drei Enkel Kettass, der mittlerweile ein rüstiger Mittsiebziger war, in einer drucksicheren Kabine der Seilbahn über die »Terrassen« hinunter, und stumm beobachteten sie durch die dreifache Transpex-Fensterwand aus nur 700 m Höhe das Lohen des Magmas. Er lebte nicht mehr lange genug, um noch die fünf Tode und 83 Streiks später für die Touristik eingerichtete Raketenroute benutzen zu können, die über die »Jakobsleiter« führte, aber zwei seiner Enkelinnen fuhren mit ihren Familien im Lift an der Nordwand nach unten. Das war im selben Jahr, in dem Lebhass und Tollhirn ihren unglückseligen Segelflugversuch unternahmen. Um diese Zeit, weitere Todesfälle und 456 Streiks später, wandelten bereits Wärmekraftwerke, größtenteils automatisch betrieben und gewartet, einen beträchtlichen Anteil der thermischen Energie des Beckens um und versorgten auf diese Weise zwei Kontinente mit Licht, 108
Wärme und Strom. Ihre Anlagen beanspruchten ein Viertel des Nordplateaus, ein anderes Viertel gehörte zu einem Sanatorium und einem für robustere Touristen gedachten Naturschutzgebiet, und die andere Hälfte diente als Wildpark und ÖkologieStudienreservat, doch die zerklüfteten Berge im Süden, durchfegt von ihren mörderischen Südwinden, widerstanden einer allgemeinen Erschließung.
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HAUSFREUND VON VORGESTERN
Ein Mensch des Mittelalters, der ins zwanzigste Jahrhundert gerät, könnte meinen, er sei unter Dämonen mit übernatürlichen Kräften gefallen. Falls er den Verstand nicht verliert, dürfte er – wie im zwanzigsten Jahrhundert ein primitiver Ureinwohner – bald alles als selbstverständlich ansehen – ausgenommen die sittlichen Lebensgrundsätze. Ihn zu verderben, müßte etliche Monate länger dauern. Wie würde wohl ein Gentleman der Restaurationszeit reagieren? Hier ist ein nicht allzu ernstzunehmender Versuch, diese Frage zu beantworten.
… ich stund, da’s sich begab, im Schatten eines niedren Tor-Weges, darin ich nicht ohne weitres gesehen werden kunnte von jemand, der vorüberwallen mochte, da erblickte ich wohl etwas gleich einem Geflimmre zwischen meinen Augen und einer Scheuer am jenseitigen Rande der Straße. Sogleich war’s, als wann dies phaenomenon sich verdicken wolle, und darnach stund ein kurzes Stück vor der Scheuer eine Art von umwandet gebautem Lehnstuhl, doch ohne Pfosten, weißlich in seiner Färbung, und darin saß einer, der spähte aus in die Welt, als 110
förchte er um sein Leben. Endlich sah ich selbigen Menschen sich gewissen Dingen vor dem Lehnstuhle zuwenden und die Hände rühren, hiernach immerzu nach rundherum lugen, als wann er sich schröcklich sorge, ein Complot möchte allda im Gange sein, um an seiner Person ein greulich Mord zu begehen, und alsdann bange an einer Seite herfürtreten und durch die Gasse schleichen, vielmal zur Rechten und zur Linken ausschauen. Die Kleider an seinem Leibe waren die fremdländischsten, deren ich jemalen welche erblickt hatte. Ei, mag sein, war mein Gedanke, er ist der Schelm, der mir vergangne Nacht mein SiebenSachen geklaut hat, wann ich den Alp-Druck litt. Ich verließ den Tor-Weg und betrat die Straße, verfolgete ihn eine kleine Strecke weit die Gasse hinab, ohne indessen meinen Blick auf ihm verweilen zu lassen, vielmehr indem ich so tat, eine Abkürzung nehmen zu wollen, auf daß er, sollte er sich umdrehen und meiner angesichtig werden, kein Argwohn fasse. Sobald er mich gnugsam entfernet von seinem Lehnstuhle bedunkte und er keinerlei Anstalten machte, das Auge rückwärts zu wenden, verlangsamete ich meinen Schritt und lief alsdann zurück zu obgemeldetem Lehnstuhle. Nahbei zeigete sich keine Menschen-Seele. Mit viel Aufmerksamkeit betrachtete ich diesen Lehnstuhl, und ich muß sagen, nimmer zuvor hatte ich dergleichen gesehen. Einen Dach-Aufbau hatte er, vier Wände, vier Fenster aus starkem Glase, zwei schmale Türlein mit ebenso Glas darin sowie einen Boden, und alles be111
stund aus einer Sorte Silber, doch weder so strahlend wie dies Metall noch im Glänze so kalt. Drinnen fund sich ein harter, silbriger Sitz, schlau geformet nach eines Sitzenden Gesäß; und darvor war etwas gleich einem Chorpult oder Werkbank, daran ich zahlreich Kreise mit Chiffren sah, wie man ähnlich viele Uhren oder Seeleuts-Compaß schauen kann, und auch Hebeln mit Zeigern. Heimlich stieg ich durch ein Türlein darein und nahm, was mein Blick ersah, genauer ins Augenmerk. Ein solchgestalter Kreis wies eine Inschrift auf, oder besser: eine gravure, ausgeführet in steilen romanischen BuchStaben, deren Wort-Laut ich nicht verstund: GEODÄTISCH-KOSMISCHER RENORMALISATOR. WERKSTATTGEPRÜFT. Ein andrer trug die gravure: HÖHENSTEUER. Wiederum ein andrer glich einem großen Compaß, darunter JAHRE (0=1) gravuret stund, im Inneren stak ein Hebel nebst einem Zeiger, und in dem Rund waren ringsherum, oben der Anfang, im Uhrzeiger-Sinne Zahlen angeordnet, und zwar von der Null bis zur Neunundneunzig. Ein weitrer so beschaffner Compaß trug unten die gravure JAHRE X 102 und hatte rundherum Zahlen von der Null bis zur Neun vorzuweisen; und ein dritter Compaß war versehen mit der gravure JAHRE X 103 und Zahlen, die im Uhrzeiger-Sinne von unten linker Hand von der Null bis zur Neunundvierzig reichten, im rechten Halb-Rund von oben nach unten abermals von der Null bis zur Neunundvierzig. Unter einem anderen, kleinren Ciffren-Blatte stund MONATE 112
gravuret, und würklich hatte es der Ciffren zwölfe, genau wie eine Uhr. Wieder eines hatte TAGE da stehen und drinnen einunddreißig Zahlen. Noch eines war gekennzeichnet durch STUNDEN und hatte rundum vierundzwanzig Ciffren. Mittenmang fund ich einen Knopf von roter Farbe, gänzlich glatt und mit einer geringen Vertiefung, so groß wie mein Daumen. Das ist fürwahr Hexerei, war mein Gedanke; ohngeachtet dessen fing ich an, die Ciffren-Blätter für die Jahre näher ins Auge zu fassen. Ich hatte mich gelehret in der Mathematic und wußte wohl, daß 103 nicht anders zu lesen ist als eintausend, während 102 desgleichen nichts andres besagt als einhundert. Nachdem ich selbige Ciffren-Blätter und ihre ZeigerBildnüsse enträtselt hatte, deuchte mir, daß die Zeiger nicht das gegenwärtige A.D. 1683 anzeigten, vielmehr das Jahr eintausendneunhundertundvierundsechzig, sintemalen der Zeiger für die JahrTausende rechter Hand ohnfehlbar auf die Ciffre 1 verwies. Die Tage und Stunden sowie auch die Monate waren getreulich so angezeiget, wie sie in Würklichkeit zu jenem Tage im April gehöreten. Hui, dieser Geisterbeschwörer, dacht ich bei mir, fände sich zweihunderteinundachtzig Lenze hernach wieder, wann er müde ist, sich allhier in diesem Jahre des Herrn sechzehnhundertunddreiundachtzig umzutun. Doch muß man Verständnis haben, daß mir gar wundermerklich zumute war, selbst derweil ich so kühles Nachsinnen betrieb. Aber indessen mir solches durch den Kopf geht, 113
gleitet mir auf dem seltsamen, rutschigen Silber des Bodens der Fuß aus, und wie ich wanke, hasch ich mit den Händen umher, daß ich nicht störtzen und mir den Balg aufschlahn möcht, und derowegen trifft meine Linke mit voller Wucht den roten Knopf, so daß dieser Knopf mit plötzlichem Ruck und leisem Geräusch einsinkt. Mir ward, als wann ich in eine Ohn-Macht gefallen sei, und die Straße entschwand vor meinen Augen, obzwar der Lehnstuhl stille stund. An der Stelle von Straße und Scheuer war nunmehr eine andrer, curioser Ort zu schauen, vergleichbar mit einer Kammer, und dortselbst brach ein erschröckliches Getöse über mich herein. Diese Kammer war hoch und hatte glatte Wände. Ich kunnte nicht observiren, ob sie erbauet war aus Holz, aus Stein oder aus Ziegeln, dieweil alles überzogen war mit etwas gleich feinem Mörtel und farbig übertünchet. Die Fenster waren ohngewöhnlich groß und ließen viel Licht einfallen, und zugewendet waren sie einer gewaltigen Haupt-Straße, daran riesengroße Bauten aus Stein stunden. Droben an der Decke derselbigen Kammer sah ich lange Stangen oder aber Stäbe aus irgendeiner Substance, die glüheten, als wären sie von Eisen, erhitzet in einem Schmelzofen, denn es kam viel Helligkeit in weißlichem Leuchten von ihnen herab. Ich hegte Forcht, sie möchten mir aufs Haupt herunterfallen und mich brennen. Benebens stunden mancherlei Tisch und Stuhl, deren Weise, wie sie gefertiget, mich befremdlich anmutete, und es waren einige aus Metall. 114
Das Getöse, dessen ich vorher Erwähnung getan, stammte von außerhalb. Mit jedem Augen-Blick wandelte es sich mit forchtbarem Gedonner und Gefauche. Ich duckte mich in meinem MagierLehnstuhl darnieder und anempfahl meine Seele dem ALLMÄCHTIGEN, dieweil mir deuchte, allhie dräue ein schröcklich Verhängnus, womüglich ein Krieg oder Erd-Beben, so daß ich alsbald vergehen müsse. Noch bevor viele Augen-Blicke verstrichen waren, ertönete das Dröhnen noch lauter, und ein Gefährt wie ein Wagen oder eine Kutsche kam draußen auf jener Straße angetost, mit einer Schnelligkeit, wie ich sie (so dachte ich bei mir) noch niemalen an irgend einer Kutsche erlebet hatte. Kein Roß war da, um das Gefährt zu ziehen, und doch eilte es so geschwind vorüber, daß ich nimmer sehen kunnte, ob wer darin saß. Im Dreinsausen brummte und rauschete es, bis mir die Seele rein vor Grausen aus dem Leibe fahren wollte. Noch schlotterte ich in meinem Zagen, da kam abermals ein solch Gefährt und verursachte, indem es in die andre Richtung fuhr, einen nämlichen Lärm und danebst ein Knattern. Mir war, als sähe ich darin ein Angesicht, das stier nach vorne schauen tät und nichts im Sinn hätt mit mir oder den Bauwerken ringsherum. Es wollte mich bedünken, daß all das Donnern und Gebrause, wie es fortwährend meine Ohren mit Beleidigung anfiel, von so beschaffnen Kutschen herrührte, die in der Nachbarschaft kamen und hinfuhren, meistenteils jedoch außer Sicht. Potz Blitz (war da mein Gedanke), nun steckt der 115
Stiefel am andren Fuß, denn wann jener Hexer um sein liebes Leben geförchtet, so liegt dergleichen itzo bei mir. Muß ich es erleiden (so richtete ich an mich selbst die Frage), nicht anders als er, daß mir, hernach ich die Maschine, darin ich sitz, vom ersten besten Kerl, der allhie passiret, fortgezaubert wird? Folgends machte ich mich (nach einem kurzen Stoßgebet zum HERRN) an die Untersuchung des Lehnstuhles, mit einer Gründlichkeit und Genauigkeit, wie ich sie vormalen nicht hatte walten gelassen. Und da entdeckte ich drunten bei meinen Füßen einen schwarzen Hebel, der mir den Eindruck erregte, als wäre er zu keinem andren Zwecke vorhanden, als ihn in einem Loch oder aber einer Scharte hin- und herzuziehen. Er stund rechter Hand, und an derselben Seite fand ich eine Inschrift (doch gefertigt aus Metall), die besagte: BETRIEB, und daneben: GESPERRT. Mit merklicher Zittrigkeit verschob ich obgemeldeten Hebel zur linken Seite. Darnach schob ich ihn, um Gewißheit zu haben, daß er sich würklich zurück verschieben lasse, wieder nach der rechten Seite. Die ersehnte Inschrift stund nicht zur Gänze in meinem Verstande, doch ich speculirte, daß der Apparates, wann der Hebel linker Hand sei, gewappnet wär wider Miß-Gebrauch durch jedweden beliebig hergelaufnen Schalk, aber wann derselbe Hebel rechter Hand sei, die Maschine erneut frei wär zur Benutzung. All seiner Bangigkeit zum Trotze hatte Mr. Geisterbeschwörer sich gnugsam in Sicherheit gewähnt, um solcher Vorsicht als eitel zu entsagen. 116
So legte ich endlich, indem ich abermals im geheimen ein Gebet sprach, den Hebel nach der linken Seite und stieg mit Behutsamkeit aus meiner Maschine. Die Kammer war warm und von wundervoller Sauberkeit, doch erfüllte allda ein ungemein befremdlicher Ruch die Luft, als wie von Brand; und ich ersah, daß es an den Wänden und ebenso unter der Decke groß Beflecknis gab von Ruß oder Staub, obschon nirgends an der Statt etwas zu sehn gewesen wär von einer Herdstelle. Der Boden bestund – oder vielmehr, er war damit bezogen – aus irgendeinem Stoff gar einzger Art, eben wie Holz oder Stein, doch dem Auge wollte er mehr einer Sorte Linnen-Tuch oder Teppich ähneln. Auf einem großen Tische sah ich eine Reihe von Büchern, allesamt eingebunden, aber nicht etwa in Leder, vielmehr auch in eine Art von Tuch (so kam es mir vor), ein jedes in einer andren Farbe. Ihr Papier war viel feiner und weißer, als ich es jemalen für müglich erachtet hätte, zur gleichen Zeit aber auch dünn und leichtweg zerreißlich. Die Buch-Staben waren von wunderbarer Schwärze und überaus feinem Druck, dahero mir vor Augen ganz wirr ward. Anbetreffs der Worte muß man sagen (denn soviel war gewiß), daß sie im Engeländischen abgefaßt waren; doch kunnte man schwerlich von zwoen oder dreien in einer Reihe den Sinn begreifen. Nicht unser langes s hatte man genommen, vielmehr durchgehends nur das kleine s. Der Druck hatte stattgefunden in London, doch ein Buch, das ich zur Hand nahm, war gedruckt worden, so hatte es 117
den Anschein, in einem Orte namens Chicago (derowegen ich mich sofort an meine Spanischen Reisen gemahnet fühlte). Dem zum Trotze aber war es im gleichen Engeländischen als wie die andren Bücher abgefaßt. Wasgestalten die Themata dieser Werke waren, vermag ich nicht zu vermelden, denn ihre diesbezüglichen Wörter waren zu wundersam und meinem Verstande über. Gar viele, so wollte mich dünken, enthielten mancherlei an Mathematic, aber auch dieselbe blieb mir verschlossen, als wären darvor sieben Siegel. Diamagnetismus, lautete der Titul eines solchen Buches, und das sollt, so sann ich bei mir, eine Art von Magnetischer Operation sein, doch stak es voller Diagramme und Ciffren, wogegen ich darin keinen Magnet-Stein und auch keinen Compaß abgebildet fund. Ein andres war betitult: Thermistoren, aber was es darin galt, das kunnte ich nicht entdecken, zumalen es eine Sorte Bildnisse hatte, die waren so flach, daß ihre Beschreibung aller Glaubwürdigkeit spotten möchte, dahero sie weniger einem Stiche ähnelten als dem würklichen Anblick, wie er sich dem Auge bietet, aber gemacht waren sie ohne jegliche Farbe, außer dem Schwarzen sowie dem Weißen. Nichts in allem Dargestellten kunnte man erkennen, denn alles war höchst befremdlich, mit Ausnahme von einem Finger und einem Daumen auf einem Bildnis, welche mich sehr groß dünkten, und darzu etwas wie einen Stift, allem Anschein folgends auch von ohngewöhnlicher Größe. Sollt ich dann, so mein Gedanke, unter die Riesen geraten sein? Aber 118
mein Gedächtnis rief mir jenes Angesicht in dem Gefährt in Erinnerung, das hatte ohnweitres eine mittlere Größe gehabt; und was ich sah an Meublen, hätte einem Riesen nimmer genüget, und item stund der Sachverhalt mit der Türe. Auf dem Tische lag ein Haufe Papier, alles bedruckt, jedoch gar wundermerklich von Glattheit und Glanz. Das fiel meiner Vorstellung schwer, zu begreifen, warumb einer in seinem Lebens-Lauf so viele gedruckte Worte zu sehn begehren sollt, zumalen allesamt mit Betreff so sonderlicher Sachen. An der Wand, aufgehangen an einer Art von Nagel, fund sich eine große Tabella, ähnlich als wie ein Stich auf Pergament, aber gleichfalls sehr glanzvoll, und ich fand heraus, daß es sich um etwas handelte wie ein Calendarium oder einen Almanach mit den Tagen eines Monates, dem Monat April. Die Wochen-Tage allerdings waren verändert, so daß sie nicht stimmeten. Ich ersah, daß das Jahr in der Tat Anno Domini 1964 war, allso meine Maschine mich dorthin transportiret hatte, wohin ihre Ciffren-Blätter wiesen. Dafür dankte ich dem ALLMÄCHTIGEN GOTT und betete abermals aus tiefstem Herzens-Grunde, auf daß alles sich zum Besten fügen möge. Unterdessen hatte ich mich gleichsam an den Lärm von draußen gewöhnet. Mir mutete gnugsam erkühnet an, daß ich wähnte, vielgemeldte Kammer nunmehro verlassen und mich aus der Sicht-Weite meines Apparatus wagen zu können. Folgends tat ich ganz leise die Türe der Kammer auf (und was war 119
das für eine merkwürdig beschaffne Türe!) und erspähte, was jenseitig lag. Hintern fand sich ein Gang, zu vergleichen mit einer Eingangs-Halle oder Vorhof, (aber gänzlich unter einem Dache), doch kahl und öd, allein erhellet durch jene sonderbaren weißglühenden Stangen, die ohngeachtet ihrer LeuchtKrafft keine Hitze abgaben. Keine Menschen-Seele kunnte ich erblicken, doch sah ich aller Wanden dieser Halle viele Türen. Ich kehrte mich um, mir die Türe zur Kammer zu merken, und ersah, sie trug die Nummero Dreizehn, hoch angebracht mit Ciffren aus fester Masse von schwarzer Farbe. Daß kein Unstern diese Zahl begleite, war darauf mein Gedanke. Sodann schloß ich die Türe, tat sie nochmals auf, schloß sie wiederum und schlich durch diese Eingangs-Halle resp. Vorhof, bis ich um eine Ecke Tages-Licht fallen sah. Allhier gelangte ich vor eine hohe Pforte, die womüglich hinaus auf die Haupt-Straße führte, dieweil der Lärm, verursacht durch jene Gefährte, mit sehr viel mehr Lautheit sich vernehmen ließ. An der Wand hungen große Tafeln nebst Papiern und Carten und weitre jener Zahlen aus fester Masse, und gleichfalls sah ich Knöpfe zum Eindrücken und anderlei Dinge, die ich nicht begreifen kunnte. Mit Plötzlichkeit (eh ich das Weite zu suchen vermocht) tut eine Türe sich auf, und herfür tritt ein Mannsbild in curiosen Kleidern von höchst possierlichem Schnitt, so daß ich, wär ich nicht so erschröckt, lauthals gelachet hätt. Er trug Beinkleider oder Buxen, 120
lang und eng und aus Tuch von heller Färbung; darzu einen kurzen Rock aus geschmeidigem Gewebe, der ihm kaum bis zur Taille oder wenig tiefer reichte, vorn offen und inwendig Linnen als Futter; und um den Hals hatte er etwas geschlungen. Fürwahr possierlich anzusehn war seine Haar-Tracht. Indem er mich sieht, macht er den Mund auf und sagt ein Wort. Das bedäuchte mich in einer fremden Zunge gesprochen, sintemal ich darmit nichts anzufangen verstund. Und wie im Nachstehenden vermerkt war der Wort-Laut von unsrem Discurs. Er: H’llou. Kannich irndwih hälfn? (Das sprach er in einer Art von Frage-Tonfall.) Ich: Um Vergebung, Sir, conversiret Ihr engeländisch? Darauf schnitt er ein sauersichtig Miene und entschwund hinter die Türe, nicht ohne jedoch sie offen zu belassen, denn ohnverzüglich hört ich ihn und eine andre Person die folgenden Worte wechseln. Er: Da ‘s ‘n Kähl dä sieht us wie ‘n Ausruhfer. Kännen Se den? Konntnich gnau vasteen wasser sacht. Jener: Neeh alde Jong. Sowieso nich mein Bihr. Flaicht der Buhsche wofor eim Monaht hihrwar. Kahm rin unn is wier weck. Wihr solltn hihr meer Sichrheitsforkeerungen hahm. Hier darfstu nich weilen, war darauf mein Gedanke, dieweil du weder für dein Hiesein Rechtfertigung geben noch einen Zweck benennen kannst, und diese 121
Leut sprechen (so dachte ich) kein Engeländisch. Flugs fleucht ich zurück zu der Türe mit der Nummero Dreizehn, machte darbei jedoch so wenig Geräusch wie müglich, tat sie auf, schloß sie hinter mir, stieg in meine Maschine, verschob den Hebel zur rechten Hand und verstellete den Monate-Zeiger dergestalt – um die geringfügigst und ohngefährlichste Verändrung zu vollziehn –, daß selbiger Zeiger einen Monat weniger anzeigete (namentlich den Märzen, wollte mich dünken), und endlich druckte ich den roten Knopf nieder. Nach einer flüchtig Schwächnis, in deren Verlauf die Kammer-Mitte sich nebulöse trübete und dunkler ward, fund ich mich selbst und die Maschine in vielgemeldter Kammer wieder, verschob den Hebel abermals, auf daß der Apparatus gehemmet sei, stieg hernach aus, um einen Blick aufs Calendarium zu tun. Würklich zeigete der nämliche den Monat März an, woraufhin ich mich von neuem (darbei ich observirete, daß die Papiern in andrem Zustande, als ich zuvor bemerkt) hinaus zur Türe und in die Eingangs-Halle schlich. Noch ehe ich huschhusch! um die Ecke kunnte, creutzet ein andres Mannsbild meinen Weg, in einem Kleide, demjenigen ähnlich, was ich vordem an jenem ersten Manne gesehn. Zu meinem Heile hatte ich auf meinem Haupte nichts als den eignen Schopf, denn keiner dieser Purschen trug eine Parucke, und gleiches galt, so sollt ich erfahren, für alle Menschen-Kinder ihres Volkes. Der Mannskerl jedwedenfalls wendet den Kopf und schaut mich an. Ich verneigte mich höflich, 122
schritt zu den Tabellen an der Wand, betrachtete sie ein Weilchen lang, machte kehrtum und begab mich ohnhastig zurück in die Kammer, woher ich gekommen war; an der Türe blickte ich mich über die Schulter um, aber der Mann war nirgends zu sehn. Wiederum eilte ich in die Kammer und stieg in meine Maschine, verschob den Hebel und veranstaltete zunächst einen innerlichen Disput um die Frage, wohin ich mich itzo wenden solle. Zu guter Letzt entschied ich, ‘s mit einer Zeit ein paar Monate später zu wagen, dahero ich den Monate-Zeiger auf August richtete, und binnen kurzem befand ich mich dort leibhaftig. So wie zuvor, war das Lärmen von draußen vernehmlich, aber weniger laut, und außerhalb der Kammer traf ich keine Menschen-Seele an, obwohl ich eine halbe Stunde lang abwartete. Doch als ich die hohe Pforte zur Haupt-Straße aufzutun versuchte, erwies nämliche sich als fest und sicher verschlossen und abgesperret, wollte sich auch durch keinerlei Hülfs-Mittel auftun lassen. Daraus zog ich die Schluß-Folgerung, ich müsse an einem Feiertage angekommen sein. Ich erforschete die Tabellen und entdeckte auf diese Weise, daß der Tag, den die Maschine anzeigete, in der Tat in diesem Monat jenes Jahres nichts andres war als ein Sonntag. Mir meinte nicht anders, als daß ich wohl in eine besondre Einrichtung von Schule geraten sei, sintemal die Angelegenheiten, die da in den Büchern discutiret stunden, selbst den gelahrtesten und hellgescheitesten 123
Virtuosi unserer Königlich-Britischen Gesellschaft Rätsel aufgegeben hätten. In einigen der benachbarten Gemächer fund ich eine Anzahl von Büchern, die abgefaßt waren in Hoch-Teutsch, darzu zween in Frantzösisch, kein einziges aber in Latein, und nahezu alle andren waren im Engeländischen geschrieben. Ich hatt ein trüb Gefühl, daß die befremdlich Zunge, wie ich sie allhie von jenen Männern vernommen, gewissermaßen ein Engeländisch sein möge, allein so übel mißverständlich durch unreine Aussprache, und diese Bücher-Funde verstärkten meinen Glauben in obgemeldete Richtung. Solche Erwägungen jedoch erfülleten mich um so mehr mit Forcht und Bangen, denn meine Aussichten, mit heiler Haut aus dergestalter Prüfung hervorzugehen, dünkten mich allzu miserabel, kunnte ich doch keinen falschen Part mimen, etwa einen Reisenden, denselben man in Frieden ließe. Wär’s mir müglich, räsonirete ich, ein paar mehr simple Bücher mir zuzueignen, kunnte ich daraus Neues erlernen, aber wie sollt ich interpretiren, welche Bewandtnis es mit all den fremdländischen Ausdrucks-Weisen hatte? Während ich in Gedanken derlei Fragen nachhung, stieß ich in einem Zimmer auf einen großen Haufen Papier-Bogen, welche gefaltet da lagen. Sie erregeten mein Interesse, und folgends ersah ich, daß ich eine Art von Kuririn Händen hielt, darein man vielerlei Zeitung gedruckt hatte, die allda das Volk anbetreffen mochte. Der Druck war unterteilt in zahlreiche Columnen mit langen Linien darzwischen, und 124
dicke Worte stunden über jeder Columne. Wiederum aber war mein Verständnis zu gering im Angesichte all dessen, was da geschrieben war, und die wenigen Zeilen, so ich mit dem gewöhnlichen Verstände zu begreifen vermochte, betrafen allesamt Räuberei und Mordio nebst etlicher gleichsam kriegerischer Kurzweil. Danebens gab es eine unerhört feine Art von gravure, ganz und gar wie aus dem Leben gegriffen, ähnlich wie ich dergleichen zuvor in jenen Büchern gesehn, und sie zeigeten Menschlein, die dahin und dorthin loffen, auch einzelne Gesichter, die mich kummervoll anschaueten, ferner halb nackichte Dirnen. Auf einem Blatte war ein solches Gefährt, wie ohnlängst auf der Haupt-Straße observiret, vollauf ohne jeglich Roß und ringsherum umschlossen mit gläsernen Fenstern, und fernerhin sah ich ein Zeitung, die – so hatt ich Eindruck – aus India stammete, ebenso aus China, aus Moscau sowie aus den zwo America, darbei ein Datum vermerket stund, das war blos einen Tag älter als das Datum dieses Kurirs (welchnämlicher am Samstage Verbreitung erhalten), ganz so, als hätten alle vermeldten Begebenheiten sich nicht weiter als in der nächstgelegnen Grafschaft zugetragen. Von neuem befiel mich da ein Beben, mußt ich mich doch gar arg wundern, unter was für Hexer ich allhiero geraten, zu was für einem Volke, das von Geschehnissen auf allem Erden-Runde so wohl Bescheid hatte als von Dingen, die vor der eignen Tür-Schwelle sich begaben. Darnach trollete ich mich zu meiner Maschine, als 125
wann ein Hund reumütig zu seinem Zwinger heimkehret, und in meinem Innren herrschte Debatte, was ich nun im weitren anstellen sollt. Meine Begierde war heftig, von dieser Welt mehr Kunde zu erlangen, aber ich sah mir die Müglichkeit mangeln, fort und in sie hinaus zu gehn. Da fiel mein Blick in der Maschine auf ein Teil des Pultes, daran geschrieben stund: HORIZONTALBEWEGUNG. Potz Glück, war sofort mein Gedanke, hier ist Abhülf, da mag ich eine Fahrt antreten oder, wann nicht, diesen Bau verlassen, ohne daß ein Seel mich behelliget. Besagtes Teil am Pulte kunnte man verrücken, nicht ohnähnlich einem Deckel, allein es rutschete abwärts, und darunter enthülleten sich meinem Blick etliche glanzvolle Kristall-Flächen, vergleichbar mit Fensterlein im Metall, eine jede unterteilt in Vierecke, und neben jeder zwei Knöpfe zum Niederdrucken, einer zur linken, einer zur rechten Hand. Unterhalb der ersten Kristall-Platte war die Inschrift METER, unter der zweiten Platte stund DM und HM; unter der dritten Platte las ich KM X 1,10. Die Flächen der zweiten und dritten Platte waren jede nach allen zween Seiten von Linien durchmessen, daraus sich eine Vielzahl kleinrer Vierecke bildeten. Zuletzt waren das zwei kleine Halb-Kugeln oder HemiSphären, dargestellet mit Linien, die als Längen- und Breiten-Grade dieneten, und mit feinen Umrissen, welche die Continente bezeichneten. Die HemiSphäre zur Linken hatte unten den Buchstaben N, die andere den Buchstaben S stehn, daraus ich ersah, sie 126
zeigeten die Welt im Norden und Süden vom Äquator. Selbige Hemi-Sphären wiesen jede darneben gleichfalls zwei Knöpfe auf. An jeglicher solcher Stelle war der Knopf linker Hand gekennzeichnet mit einem zur rechten Seite gebogenen Pfeil und dem Buchstaben W, wogegen der andre Knopf einen gleichartigen Pfeil, jedoch den Buchstaben O hatte. Das muß sich wohl so verhalten, dachte ich bei mir, daß die erste Platte bestimmet ist für die kleinste mügliche Bewegung, dargegen der Globus für die größte mügliche Fortbewegung, namentlich stracks um die Welt. Diese Knöpfe zur Linken seind zum Reisen gen Norden, zugleich aber auch, wann man sie im Sinne des Uhrzeigers drehet, zur Reise gen Süden, die entgegengesatzte Richtung, und die Knöpfe zur Rechten seind zum Reisen gen Osten oder Westen. Itzo will ich nun die Probe aufs Exempel machen und auf diesen grünen Knopf drucken. (Denn unter den Platten war, dem roten Knopf ganz ähnlich, ein solcher grüner Knopf.) Nach abermaligem Stoß- und Bittgebet drehete ich den linken Knopf mit soviel Vorsichtigkeit, darzu ich im Stande war. Ich sah auf der Platte einen dünnen schwarzen Strich sich erheben. Sobald er die Ausdehnung – wie ich meinete – von einem halben Viereck erreicht hatte, unterließ ich weiteres Drehen am Knopfe, und darauf wuchs der Strich nicht mehr an. Darnach druckte ich den grünen Knopf nieder. Und schaue da, meine Schulter stieß sich an etwas, und ich stellete fest, die Maschine war etwa zwei Schuh 127
weit zur Seite geruckt, und etwa der vierte Teil ihrer derseitigen Wandung war in der Wand der Kammer verschwunden. Just da erblickte ich auch ein winzig Ciffren-Blatt mit einer Nadel mittendrin, und drüber stund ein N, dahero ich mir dachte: Dies ist ein rechter Compaß, der will mir kundtun, wo Norden ist. Die gesehne Haupt-Straße jedwedenfalls verläuft nord-östlich von der Statt, daselbst ich weile. Die Breite von solch einem Meter, ersah ich itzo, mußte drei oder vier Schuh betragen, und es gab längs sowie aufwärts je zehn Vierecke; darauf lag in meinem Empfinden die Schlußfolgerung nah, daß das kleinste Viereck auf der nächsten Platte nichts andres war als gleich zehn Meter groß, ohngeachtet dessen, wieviel von solch einem Meter die Größe würklich betragen mochte. Folgends bewegete ich die Maschine um einen Meter gen Osten, und darauf offenbarete sich mir, daß ich in meinem Gedanken-Gang nicht gefehlet hatte; das Viertel jener Seite meiner Maschine war wieder ganz und heil, und derowegen sandte ich ohnverzüglich ein Dankgebet gen Himmel. Ein Meter, reimete ich mir allso zurecht, mußte demnach in der Sprache dieser Leut – soll heißen, im Fall ich mich in der Tat unter den Leut befund, die oftgemeldte Maschine geschaffen hatten, doch kannte ich diesbezüglich keine Gewißheit – ohngefähr gleich einer engeländischen Elle sein. Die zween Richtungen, in die ich mich bis dahin gewendet, waren auf der ersten Platte in der Farbe Schwarz dargestellet. Wann die Maschine sich in der Waagerechten be128
weget, sann ich dannoch bei mir, und ich gelange in einen Hügel darein, so muß ich elendiglich ersticken, oder wann ich über ein Tal kömme, so muß ich kläglich in die Tiefe störzen und das teure Leben lassen. Eingedunk dessen besah ich mir abermals das Ciffren-Blatt mit der Benennung HÖHENSTEUER, und diesmal bemerkte ich, daß es in Wahrheit zwei Ciffren-Blätter waren, deren eines, das kleiner war, im andren stak, und das große äußere Blatt den Verweis GRUNDEINSTELLUNG, dagegen das innere benannt war mit FEINEINSTELLUNG. Drüber fund sich ein schmales Röhrchen, darin ein grünschimmrig Leuchten oder Pünktlein schwebete, und darneben stund geschrieben: OBERFLÄCHENANZEIGE/METER und BLAU = FAHRZEUG; gleichfalls sah ich in regelmäßigen Abständen Marken längs des ganzen Röhrchens. Mit aller Ausführlichkeit sann ich über diese Dinge nach, und zum Schluß meinete ich zu wissen, wasgestalten ihre Bedeutung. Die FEINEINSTELLUNG sollt mich mit Behutsamkeit nach oben oder unten befördern, die GRUNDEINSTELLUNG aber mit Schwung. Im Fall ich einen blauen Punkt erblickte, wußte ich, denselben galt’s zu meiden als wie die Pest, und kunnte ich zur gleichen Zeit ersehen, wo die Maschine war und wie weitab vom Untergrund, bevor ich den roten oder grünen Knopf niederdruckte. So belehret, dorfte ich mich vor jähem Tode sicher dünken. Potz Blut, sagte ich mir darauf, keine MenschenSeele ist auf jener Haupt-Straße zu erblicken, und 129
viele Minuten lang seind keine Gefährte des Weges gekommen. Dahero will ich meinen Apparatus aus diesem Bau von hinnen befördern, aber gnugsam nah verbleiben, daß schwerlich ein Gefährt ihn niederrammen mag. Und das tat ich und versatzete die Maschine drei Meter gen Osten und zwei gen Norden. Das Gelärm erscholl draußen doppelt so schlimm, und der Ruch von Verbrennung stank weit ärger und war vermenget mit irgend etwas von süßlichem Geruch, so daß es mir im ersten Augen-Blick fürwahr den Atem verschlug. Ringsherum waren keine Personen in Sicht, doch wähnte ich, es sei in jedwedem Fall angebracht und ziemlich, meine Maschine dicht an einer Wand abzustellen, und mit einigem an Hantirung vermochte ich besagte Absicht zuletzt auch zu verwürklichen. Kaum hatte ich mein Tun beendet, da nahete sich eine Schar Brut. Ein Knabe trug einen Stock darbei, mit selbigem drosch er gegen die Wand und auch an meinen Apparatus. Ein andrer verharrete und rief (so meinete ich jedwedenfalls zu hören): Guckda doh iß ain noi Telefoonzäll (oder etwas von ähnlicher Natur) ainer baut ne hütt am Sunntach doh uff. Abermals erfüllete mich Forcht, doch da ruft ein andrer Bengel ihm zu: Nu kumm, mer sinn schoh spät drah. Und darnach seind sie alle weggeloffen. Sodann sah ich eine Strecke weiter die Straße hinab drei Gefährte unbeweget an ihrem Rande stehn. Die Bauten in meiner Nähe waren ausgedehnet Anlagen von Stein, aber woselbst die Gefährte stunden, erspäht ich viele niedere Häuser, aus Ziegeln erbauet, alle 130
von mehr oder weniger gleicher Bauart, und ein jedes stund in einem kleinen Gärtlein oder Fleckchen Land mit einigen Bäumchen. Ein Gefährt sah ich in einer Seiten-Straße mittenmang in einem dergestalten Garten stehn, und darbei war ein Mensch, der rieb es mit Hingabe ab, nicht anders als wann es ein Roß sei. Am Boden hatt er einen Kübel von hellblauer Färbung. Auf beiden Seiten der Straße rageten, in gleichmäßigen Abständen aufgestellet, lange Masten in die Höh, die sahen mir aus wie Wanderstäb von Riesen, doch waren sie aus Stein und droben krumm, und am Ende der Krümmung hung ein kleines Gefäß aus Glas. Später erfuhr ich, wie man noch sehn wird, das waren Straßen-Laternen zum Nutzen der Allgemeinheit. Die Ränder der Straße waren ohnglaublich säuberlich und schmuck, begrenzet von gleichsam pygmaeischen Stein-Mäuerlein, darzu gepflastert mit Fliesen, um einen festen Gehweg zu machen. Der Himmel bot sich meinem Blick trüb und rauchig dar, wenngleich ich weit und breit keine Wolke erblicken kunnte. Wiewohl ich mich, so hatt es den Anschein, inmitten einer großen Stadt aufhielt, gab’s in der Straße keine Rinne für den Unflat, vielmehr merkte ich, daß sie sich zur Mitte hin aufwölbete, und sie war glatt und schwarz wie von Pech. An den zwo Seiten, unterhalb der Gehwege und den Mäuerlein, die als Trennung sie vom Grün schieden, sah ich Löcher mit grobem Gitterwerk drüber, als sollte Wasser darein abfließen, aber es floß dort kein Wasser. Indessen nicht wenig erkeckt, wollt ich itzo wis131
sen, was der Pursche drüben mit seinem Gefährt hantirete. Ich beobachtete, wie er an einer Stelle nah beim Haus seinen Kübel entleerete, und während er so beschäftigt war, transportirete ich meine Maschine soviel Meter weit, wie ich als vonnöten erachtete, um mich an den Rand der Straße ihm gegenüber zu bringen. Ich gelangte mitten auf die Straße, jedoch indem deren Höhe an einer Seite den Boden meines Apparatus übertraf, und just da kam mit Gelärm ein andres Gefährt auf mich zu, ganz als wann der Teufel es ritte. Ich gab meine Wenigkeit verloren, doch da verhielt das Gefährt mit einem gar abscheulichen Geräusch, schwenkte sodann an mir vorüber, in der Tat mit einer Wildheit, als stamme es stracks vom Satan. Daraufhin blickte der Pursche mit dem Kübel sich um, und sobald er mich gesehn, kömmt er an den Straßenrand und ruft: Wat hänge Se denn doh mit dem komisch Kackstohl inne Schtrohß römm? Ich kunnte mir einen Begriff darvon machen, er meinete, daß ich den Weg blockire, und folgends tat ich eine Türe auf und rief in gedämpftem Tone zu ihm hinüber: Wenn Ihr die Güte habt und einen Klafter oder zwei rückwärts weichet, so will ich die Maschine an sichrer Statt abstellen. Dem Anscheine nach verstund er wohl, was ich ihm bedeutet, denn er fleuchete zu seinem Gefährt und verharrete daselbst unter stetem Anstarren meiner Person, während ich meine Maschine um zwei Meter in seine Richtung bewegete und zur gleichen Zeit (indem ich mich am HÖHENSTEUER der FEINEINSTELLUNG bedienete) 132
ihren Boden aus der Straße hub. Wie hamm Se dat gemacht? sagt da er, und itzo war’s an ihm mit dem Zagen. Diesen Leut ist die Maschine unvertraut, dachte ich mir sofort, allso muß sie das Geheimnus eines Virtuosi sein oder aus einer andren Zeit gekommen. Mein Pursch dort hatte ein sanftherziges und offenmütiges Gebaren, so daß ich ein gewisses Maß an Vertrauen zu ihm faßte, dahero verschob ich den schwarzen Hebel, so daß die Maschine gesperret ward, stieg hinaus und verzählete ihm, daß ich durch ein seltsam Geschick aus andrer Zeit herverschlagen worden, allwo ich diesen staunenswürdigen Apparatus gefunden und dessen Gebrauch ich erlernet hätt, daß man darmit einen Menschen von einem zum andren Ort, aber ebenso ohnschwer von einer in eine andre Zeit senden könne. Ich gab ihm Aufklärung, daß mir seine Rede mangelhaft verständlich sei, bat ihn, derowegen langsam zu sprechen, auf daß ich nach bestem Vermögen seine Worte begreifen möchte. Könne Se dat Ding dahinne glaich am Huß innen Schatte stelle? frug er mich und zeigete mit dem Finger. So tat ich nach seinem Wunsch und verbrachte die Maschine, fein Stück um Stück, an die Stelle, darwo er sie haben wollt, versicherte mich ihrer zuletzt wieder durch Verschieben des Hebels. Kumme Se rin, sagt er, dahero ich ihm Haus folgete. Ein jeglich Ding in diesem Hause war fürnehm, und der größte Teil fein säuberlich, auch waren alle Türen und Wände bemalet. Ein Ruch von Seife und Spezereien durchwehete die Luft. Er hieß mich Platz 133
auf einem großen Polsterstuhle nehmen und starrete mich wiederum in einiger Länge an, erhub sodann seine Hand zu einem winzigkleinen Knopf an der Wand, und mit Ur-Plötzlichkeit leuchtete helles Licht aus einem Glas-Gehäuse, das in jenem Gemach von der Decke hung. Darin brannte keine Flamme, und der Licht-Schein war von vollkommener Gleichmäßigkeit, doch vermocht ich keinerlei Verursachung zu ersehn, dadurch das Leuchten müglich sein kunnte. Jawoll das kannman sehe (so sprach er wohl) dat Se nit aus unser Zeit sinn. Ich vermut (allerdings sagte er Tzaid und isch) Se sinn auß ‘m siebzehnten o’er achtzehnten Jahunnert? Darauf ich ihm entgegnete, es sei just das Jahr A.D. 1683. Er richtete zahlreiche Fragen an mich, deren einige ich jedoch nicht verstund, während bei andren ich mich dummb stellete, sintemal mein Sinn nicht darnach ging, ihm allzu viel an Unterrichtung zu erteilen. Aber ich offenbarete ihm, daß ich für ein Weil zu bleiben trachtete, dieweil ich eine Confrontation mit jenem Hexer förchtete, der die Maschine in mein Dorf gebracht, und ich war mir wohlbewußt, daß er sie, im Fall ich sie dortselbst länger beließ, ohnfehlbar wiederfände, so daß ich jeglicher Gelegenheit zu weiteren Unternehmungen beraubet würde. Dann will ich Ihnen meine Frau vorstellen, sagt er (in seiner befremdlichen Rede) und geht hin und ruft sie aus dem Gärtlein ins Haus. Während er fortblieb, schauete ich nach meiner Maschine, die behütet außen an der Mauer stund, und sah mir an, was es in dem Gemach 134
zu sehn gab. Er kömmt mit seiner Frau wieder (einer unerhört schönen Dame, wie ich hernach sah, sobald ich mich an ihre tolldreiste Kleidung gewöhnet hatte), und zu guter Letzt ließen wir dreie uns nieder, um zu beraten, wasgestalten mein Bleiben sein könne. Natürlich müssen Sie bei uns wohnen, sagt sie, und angesichts ihrer Erscheinung fiel es mir überaus leicht, darzu meine Zustimmung auszusprechen. Aber wie soll ich Euch entgelten, und wie soll ich in diesem meinen Kleide ohnauffällig einherwandeln, da es dem Euren doch so ungleich ist? erwidere ich auf diese freundliche Einladung. Haben Sie nichts von Wert dabei, sagt er, so daß wir Ihnen ein paar Kleidungsstücke und so was kaufen könnten? meint er. Ein eitel Nichts hab ich darbei, so daß ich nicht weiß, warvon irgendein Kleid erwerben, sagte ich. Haben Sie denn zu Hause keine Bücher, Uhren oder etwa Silber? sagt darauf er. Die würden heute hohe Preise erzielen, sagt er (spricht darbei allerdings zu Huß, Biecher und Praise). Gegenstände, die zwei-, dreihundert Jahre alt sind, hat’s heute selten, deshalb gelten sie als kostbar. Und zufällig weiß ich Bescheid, wo man solche antiken Sachen an den Mann bringen kann. Ich gebe darauf zur Antwort: Das soll mir recht sein, ich will umkehren und einiges feine Zeug holen, doch laßt mich warten bis zum morgigen Tage, denn als dann mag’s sein, daß der Hexer beim Forschen nach meinem Apparatus verzweifelt und der Suche entsaget hat, oder daß er in die Ferne gezogen ist. Zu solcher Übereinstimmung gelanget, 135
sagt sein Weib, sie wolle nun Tee serviren. In ihrer Abwesenheit verhieß er mir, er gedächte mir das Haus zu zeigen, doch tat er nicht mehr als mich eine Stiege hinauf und in ein Kämmerchen resp. einen Abtritt zu geleiten, derselbe – so versicherte er mir – eine Wasser-Spülung hätte, deren man sich bediene, indem man auf Art von Griff druckte. Darneben war ein Kämmerchen situiret, das dem Waschen der Person dienete, da hatt es ein Basin mit zwei ZapfHähnen, aus denen Wasser floß. Der eine brachte sehr heißes Wasser zum Fließen, so daß ich ernstlich verbrühet worden wäre, hätt ich nicht beizeiten den Dampf gesehn. Danebst dem Basin gab es einen großen Trog mit abermals zwei Zapf-Hähnen, und darüber hung eine Art von Gerätschaft, einem Siebe gleich. Zu einer Kanne Tee reichte das Paar Brot und Gelee sowie eine beträchtliche Anzahl kleineren Backwerks. Darnach geht dieser Ehgemahl zu einem Kasten, der abseits auf einem Tische stund, und plötzlich dringet aus jenem Kasten lautes Geräusch, das war nichts andres als irgendeine wilde Music. Ich denke: Das ist wiederum so ein neuer Tand, doch endlich verstummete die Music, und unversehns, so daß mir aus Erschröcknis und Forcht ein Aufschrei entfuhr, begann eine Männer-Stimme zu ertönen. Darnach erklang eine Weile lang eines andren Mannes Stimme, und sodann erscholl von neuem jene tolle Music. Man gab mir Aufschluß, das wäre Music aus vielen Meilen Ferne, wie aber sie in den Kasten gelanget, 136
das vermochten sie mir nicht kundzutun. Besagten Kasten nannten sie ein Rahdjoh. Darnach besann sich der Mann auf sein Gefährt, das er sein Auto hieß, und ging von hinnen, um es vollends zu reinigen. Er zeigete es mir und erklärte, es werde angetrieben durch Verbrennung im Innern. Sobald er fertig war mit der Säuberung, entfachte er den Ofen im Rumpf, indem er nicht mehr tat als einen kleinen Schlüssel umzudrehn, und verbrachte es, darbei er im Innern saß, in seinen Stall, den er eine Garrasch hieß. Er sagte zu mir, meine Maschine würde im Hause sichrer sein, und hernach wir mit einen Maß-Band aus dünnem Stahl, das man biegen kunnte, sowohl die Maschine wie auch die Entfernung vermessen hatten, bewegte ich meinen Apparatus in einen geräumig Vorbau am Hause. Bei einem Mahle, das bestund aus kaltem Hammel sowie bittrem Bier aus einer Glas-Flasche, beteuerte er mir von neuem, für ein altes Buch oder ein Stück Silber-Ware sollt ich einen tüchtigen Preis erzielen. Mehrere Pfund, sagt er, genug um Ihnen ein oder zwei Hemden zu kaufen. Bei seiner Rede erstem Teil hub sich mein Mütchen himmelan, nur um mit dem zweiten Teil halbweg wieder zu sinken. Daß ein Buch, erworben für einen Shilling, solchen Wert erlangen könne, gnugsam um mehrere Pfund darfür zu erhalten, daß zur gleichen Zeit eine so hohe Summa nicht mehr erkaufen können sollt, daß sich nicht mehr erwerben läßt als ein Hemd, dergleichen vermocht ich schwerlich zu glauben. Doch er mitteilete 137
mir, ein Pfund sei heutzutage gar nichts. Drauf erwiderte ich, wohl gut dran zu tun, mich bei der Rückkehr in meine Zeit reichhaltig mit Waren auszustatten. Alsbald jedoch widmete sich unsere Conversation dem Staate Engeland. Das Paar vermeinete in mir einen Iren zu erblicken, darob ich mich indignirete, bis ich ersah, sie dachten sich kein Übel darbei, vielmehr waren lediglich mystificiret vonwegen meiner Weise zu reden, die funden sie fürwahr so schwer verständlich wie ich die ihrige. So offenbarete ich ihnen, daß ich aus einem Dorfe kam, einst localisiret, woselbst nunmehro diese Stadt stund. Und da erfuhr ich, des Dörfleins Namen trug itzo ein Vor-Ort selbiger Stadt (das ist ihr Name für einen Stadt-Teil), und daß besagter Vor-Ort just allhie ringsherum lag. Mich bedäuchte, diese Stadt müsse eine sehr große Welt-Stadt sein, aber er entgegnet mir, sie sei blos von mittlerer Größe, dieweil allein fünfzigtausend Seelen darin wohneten. Man kann sich leichthin ausmalen, daß ich, das vernommen, Mund und Augen aufsperrete. Doch hat es den Anschein, daß man eine Stadt nicht als groß ansieht, so nicht wenigstens zweihunderttausend Leut darin hausen; und von solchen Städten muß es etliche geben, indessen einige der allergrößten Städte mehr als eine Million Einwohner haben. Wie das Land so viele Menschen zu nähren vermag, das weiß ich nicht zu berichten, doch leben, allwo wir zwei Menschen hausen haben, daselbst ihrer zehn oder zwölfe. Während wir parlireten, leuchteten draußen all die Straßen-Laternen mit ei138
nem Schlage auf, wiewohl niemand nicht zur Stelle war, um sie zu entzünden. Er sagte zu mir, das geschähe vermittelst der Electricität, die man in großen Bauten, darin man mit Dampf Räder antreibet, erzeugen tät, oder (an andren Stätten) durch eine esoterische Art von Chymi, und die man durch Drähte viele Meilen weit senden würde. Lange vor meinen Wirten ward ich müde, und sie bereiteten mir droben in einer ohngenutzeten Kammer eine Bettstatt. Doch überredete mich mein Wirt, mich in jenem Trog von Kopf bis Fuß zu waschen, bevor ich mich zur Ruhe legete. Das Sieb, so ich unter der Decke gesehn, dienete dem Zwecke, Wasser wie einen Regen herabzusprengen, daran ich jedoch keinen rechten Gefallen hatt. An jedem Abend waschen sie sich täglich in diesem Badezimmer, zumalen die obgemeldte Electricität dem Wasser ständige Wärme verleihet (wie sich überhaupt mit Hülfe dieser Electricität anscheinend so gut wie alles bewerkstelligen läßt), und sie tragen Sorge, immerzu mit einem angenehmen Geruche behaftet zu sein (warfür sie mächtig Aufwand treiben), und trachten darnach, sich rein von einer Art Ruß oder Dreck zu bewahren, das allerorten in der Luft einherschweben und darvon auch jener Gestank nach Brand, der stets zu bemerken, stammen soll. Zunächst wollt ich nicht so recht Nachtruh finden, sintemal von draußen so viele laute Geräusche erschollen, doch nichts desto Trotz erwachte ich des Morgens zur gewohnten Stund. Mein Wirt und sein 139
Ehe-Weib ließen keinen Laut vernehmen, weder im Innern des Hauses noch außerhalb rührete sich etwas, ein Zustand, den ich höchst sonderlich empfand. Ich dachte bei mir, das sei nunmehr der geeignete ZeitPunkt, um zurück in mein Heim und meine Zeit zu kehren, zu packen, was ich wollt, und darmit ungeschoren erneut diese Zeit aufzusuchen. Ich schlich hinab und enträtselte in einem Weilchen die Art und Weise, wie man die Türe zum Vorbau auftun mußte. Dortselbst stund noch meine Maschine. Ich verschob den Hebel, so daß ihr Gebrauch wieder müglich ward, gedachte auch dessen, daß ich im Monat April einzutreffen hatte, so daß ich nebst dem Zeiger für die Jahre, denselben ich auf das Jahr richtete, daher ich gekommen, auch den Monate-Zeiger von neuem anders einstellete. Da sah ich in dem Röhrchen den grünen Flecken, der die Höhe anzuzeigen den Zweck hatte, nach oben rücken, bis er drei Meter höher anzeigete und der blaue Fleck darunter schwebete. Dahero ward mir klar, ich würde, wann ich nicht anders vorsah, zu Hause unterhalb der Weide oder ähnlich ohnzuträglich angelangen. Sehr aufmerksam studirete ich die Platten zur Versatzung von einer zur andren Statt und bewegete die Knöpfe, bis die Linien sich wieder wie zu Anfang dartaten, der grüne Fleck herabgesunken war und den blauen Fleck verschlungen hatte. Darnach erst wagete ich den roten Knopf, während ich den grünen Knopf unbeachtet ließ, zu drucken, und ich fund mich in der Maschine auf der Straße wieder, nah der Scheuer, just dort, woselbst 140
ich sie erstmals bestiegen. Doch mir ward zumute, als wäre das soeben erst geschehn, und in meinem Haupte herrschte gewaltige Benommenheit und Trübheit. Da sah ich, es war keine MorgenDämmrung ringsum, vielmehr lichter Nachmittag; und ein Vogel, den ich in einem Strauche gesehn, als ich mich auf die Reise durch die Zeit begab, der saß genau dergestalten da als wie zuvor. Eine Weile später kam ich zu der Erkenntnis, daß ich zum nämlichen Augen-Blick, in dem ich aufgebrochen, zurückgekehret war, und daß der Hexer, kurz darvor in die Gasse entschwunden, sogleich sich wieder zeigen mochte. Ich hatte die Zeiger für die Stunden und Tage vergessen. Sofort stellete ich dieselben um elf Stunden rückwärts, auf des Tages Sonnen-Aufgang, der vor meinem Eintreffen stattgefunden. All mein Besorgnis vom Vor-Tage hatte derowegen keine Ursach gehabet, dieweil ich ein jeglich Zeit auserkorn kunnte, sie zu bereisen. Hernach ich den roten Knopf abermals gedruckt hatte, war ich allda in grauer Dämmrung. Niemand nicht war zu erspähn, so daß ich meine Maschine ein ums andre Stück entlang der Straße verrückte, bis ich vor mein Haus gelangete, das (ganz natürlich zu dieser düstren frühen Stunde) nichts anders war als verriegelt und verrammelt. Darnach bewegete ich die Maschine in die Stube und suchete dort in der Trübnis nach meinem Säbel, nahm auch eine hohe silberne Kanne, eine Dose um Schnupf- Tobacco darein zu tun, eine sehr feine Taschen-Uhr, die ich hatt, eine 141
gläserne Schale und zwei Bücher mit Predigten, drei Flug-Schriften mit Satyrischen Versen sowie den Volum mit Mr. Sympkins Reisen, die er vor einem Dutzend Jahren getan. Sodann dachte ich mir, barbieren wirstu dich auch müssen, allso kramete ich zudem mein bestes Rasier-Messer herfür. Und itzo verstund ich, wer in jener Nacht diese Sachen aus meinem Hause gemauset hatte; beileibe war das nicht der Hexer gewesen. Ich nahm einen alten Sack, um den Großteil der Sachen darin zu transportiren, aber die Schale sowie die Tobacco-Dose wickelte ich in Tuch und tat sie in einen kleinen Coffre, so ich besaß. Mit einiger Mühewaltung verstauete ich alles in der Maschine und wollte schon den Rückweg antreten, da gedachte ich der Zeit und daß ich um diese Stund in meinem Bett im Schlummer gelegen hatte. Bin ich dann in meinem Bett, oder bin ich in Würklichkeit hier? denke ich mir da; und ich schlich mich in meine Schlafkammer, um nach dem rechten zu sehn. Erstes Licht des neuen Tages fiel herein, und da sah ich dort im Bette meine Gestalt ruhn, das Angesicht halbweg zur Wand gekehret. Doch erblickte ich in meiner Miene so etwas als wie eine flimmrige Bewegung. Mir sträubete sich das Haar auf dem Haupte, mir ward so kalt zumute, wie wann ich aus Eis wäre, das Mundwerk verdorrete mir, und mein Herz pochete mir, als wolle es seine Hülle sprengen. Und ich fühlte meinen Leib (nämlich denjenigen, darin ich stak, um es so auszudrucken) zu dem Corpus im Bette hingezogen, nicht anders, als es einem Körn142
chen Eisen bei einem Magneten ergehn mußte. Selbiger Corpus regete sich sacht und wältzete sich herum, schrie sodann auf und rief Isch (oder etwas ähnliches). Ich fleuchete die Schlafkammer, und es war mir, als müsse ich mich wider Taue stemmen, so mühsam ward es mir, so daß ich mit Gejammre in die Maschine kroch; ich versatzete sie zum Haus hinaus, und im ersten Licht der Morgen-Frühe vermochte ich dieselbe zum Morgen des folgenden Tages im August A.D. 1964 und vors Haus meiner Wirtsleut zu befördern. Dort angelanget, stellete ich die Maschine wieder unterm Vorbau ab, darbei warf ich eine Kiste um, doch blieb mir das Glück hold, und ich erweckete niemanden. Und ich fiel in meiner Maschine auf die Knie (darbei ich mir das SchienBein wundschlug und den Ellbogen zerschrammete) und flehete den ALLMÄCHTIGEN GOTT unterwürfig um Pardon an, im Fall ich mit dem Tun einer so widernatürlichen Reise durch die Zeit seinen Geboten getrutzet hatte, und ich bat ihn inbrünstig, mich vor den Fall-Stricken des Satans zu erretten. Dies begab sich zur selben Zeit, da ich aus dem Vorbau entschwunden; aber mir stund nicht der Sinn darnach, allein zu bleiben, bis diese späten Vögel erwachen mochten, dahero verstellete ich den Stunden-Zeiger um zwei Stunden weiter. Und darnach traf das Paar hellwach an, und es hatte mich bereits vermißt und eilete darhin und dorthin, blos mit den Nacht-Gewändern angetan, wohl im Glauben, ich sei auf Dauer fort. Und um Haares-Breite, sann ich bei 143
mir, wär’s in der Tat so geschehn. Aber ich sage: Nein, ich war nur zurückgekehret in meine Zeit, um einige Dinge zum Einhandeln zu holen, aber ich bitte Euch, fordert derlei nicht noch einmal von mir, ich tät’s nicht för alles Gold im Indischen, allso gebet darmit Ruh, bis ich ein- för allemal Abschied nehm. Darauf erwidert die Gattin: Sie sehen aus, als seien Sie einem Gespenst begegnet. Darauf ich: Ja, fürwahr, ich bin mir selbst begegnet. Darbei ließ ich es seine Bewandtnis haben, dachte im geheimen jedoch: Wär ich in meinen andren Leib hineingezogen worden, welches Ende hätte wohl alles genommen? Eine Weile später barbierete ich mich mit meinem Rasier-Messer, und der Gemahl leihete mir einiges von seinen Kleidern, auf daß ich kein Aufsehn errege, und ich kleidete mich darein und legete meine eigne Kleidung beiseite. Er wollte nicht in meinen Sack und den Coffre schaun, sintemal er itzo zur Arbeit müsse, woselbst erst er mir offenbaren könne, was für meine Waren zu haben sei. Alle dreie nahmen wir ein großzügiges Früh-Mahl ein. Dasselbe bestund aus goldbraunen Flocken, sehr fein und klein und brüchig, zu essen mit Milch und Cohnflähks geheißen; ferner gab’s eine große Kanne mit Caffee, aber viel zu stark gebrühet und zu vermischen mit warmer Milch aus einem Fläschlein; auch hatten wir gebacken Schinken und ebensolche Eier, hellbraune Scheiben von Brot, darauf man eine Marmalade von Orangen verstrich. Alsdann bat der Ehegemahl mich, mit ihm in sein 144
Auto zu steigen, und wie ich drinnen saß, legete er mir eine Art von Geschirr an, auf daß ich nicht umhergeworfen würde; darnach satzete er sich gleichfalls darein, und er fuhr das Auto – Sack und Coffre im hinteren Teile verstauet – zu des Ortes Mitte. Ich erlitt abermals mancherlei Schröcken und Grausen vonwegen all des Lärmens und der vielen andren Wägen (deren Dutzende, ja Hunderte in der Gegend einherwimmelten) sowie der ohnzählbaren Masse von Menschen, die hierhin und dorthin hasteten, ganz wie Leut, die von Dämonen besessen. Mir wäre etwan noch beträchtlich forchtsamer zumute gewesen, hätten nicht allerlei merkwürdige Gefühle meinen Körper heimgesuchet, daß es mich an eine SeeReise gemahnete, denn beständig stieß es mich mal zur einen, mal zur andren Seite, auch dann und wann rücklings in meinen Sitz; dahero mir übel und mulmig in meinem Wanst zumute ward, zumalen mehrere kräftige Gerüche durch den Wagen wallten. Dennoch fuhren wir am gemächlichsten von allen Wägen resp. Autos, die wir sahen; ohn Ausnahme brausten sie an uns vorüber. Es fuhren dortselbst auch große Wägen, nicht ohnähnlich Schiffs-Rümpfen mit zwei Stockwerken voller Sclaven, und diese Wägen waren ganz mit roter Farbe bemalt. Mein Wirt erläuterte mir (soweit ich seine Stimme in all dem Getöse vernehmen kunnte), das wären Wägen zum Nutzen der Allgemeinheit, Busse genannt (gleichwie sie nichts andrem mehr glichen als Booten), und man dürfe gegen ein gering Entgelt ein Stück Weges mitfahren. An 145
allen Wägen leuchteten bisweilen Lichtlein auf, die zeigeten an – so erklärete er mir –, was sie als nächstes zu tun gedächten. Ich erblickte große Bilder (während alle Wägen ringsum für ein Weilchen verharren mußten) gleich nebst der Straße, hoch wie Häuser und kunterbunt in allen Farben, doch blieb mir die Gelegenheit verwehret, darnach Erkundigung einzuholen, was sie zu bedeuten hätten. Er stellete sein Auto auf einem weiten Platz ab, darauf noch viele andre stunden, und geleitete mich am Arm ein gehörig Stück, vorbei an hohen Fenstern, darin man die mannigfaltigsten Waren zum Kauf feilbot, und nach einer Weile gelangeten wir in seinen Laden, woselbst er und andre ihr Geschäft betrieben, zum Teil mit Meublen zur inwendigen Ausstattung der Heime und Häuser, zum Teil mit Büchern (allhier allerdings allesamt in Leder eingebunden, anders als jene Bücher, die ich in jener befremdlichen Schule gesehn), im Rest auch mit sehr zahlreichem und vielfältigem Nippes und vielerlei Silber-Waren. Er ließ mich eine Zeit lang an der Seite stehn, während er mit einem andren Mannsbild parlirete, sodann führete er mich in ein hinteres Zimmer und ersuchete mich, Sack und Coffre aufzutun. Zunächst besah er sich meine Bücher. Als erstes Stück nimmt er den Volum mit den Reise-Beschreibungen zur Hand, und da fangen seine Augen an zu glänzen, er liest die Titul-Pagina, blättert auch hastig in dem Buch, geht dann in einen Winkel und schlägt in ein paar in Linnen gebundnen Bänden etwas nach, kömmt zurück und murmelt et146
was wie: Auch im Wing nicht zu finden (was immer das auch bedeuten mag). Darnach schauet er mich an und sagt: Ich gebe Ihnen dafür fünfzig Pfund. Beinahe hätte ich mich in sein Gebot gefüget, doch fiel mir just zurecht noch auf, wie er sich das Maul schleckte, und seine Hände sah ich ein wenig zittern, allso beriet ich mich insgeheim und erwidere ihm zuletzt: Ach, meiner Treu, das grämet mich gar zu arg, aber von meinem alten Reise-Gefährten durch zahllose Lande mag ich mich nicht trennen, es sei denn, für nichts geringres als dreihundert Pfund. (Sintemal ich indessen wußte, daß diese Pfund nicht lange hinreichen kunnten.) Diese Antwort belachete er mit Geringschätzung, aber wir gerieten ins Feilschen, bis wir uns zu guter Letzt – bei einer Flasche guten Weines, die ich, obschon ich dem Erwähnung zu tun vergaß, mir geschnappet und in den Sack gesteckt hatte – auf einem Preis von einhundertundfünfundsiebzig Pfund einigen kunnten. Hernach sagt er mir, nach wie vor könne ich Sympkins Werk mir erhalten und darin lesen; denn noch weiter hinten im Laden stund ein wundermerklicher Apparatus, der machte Bilder von allem, was man ihm zeigete, und selbige Bilder zeichneten sich aus durch nachgerade vollkommne Getreulichkeit, und für ein jedes solche Bild brauchet er blos soviel Zeit, wie vonnöten ist für ein Wimpern-Zucken. Diese Gerätschaft hieß er einen Kßerokß. Aber bei soviel Seiten, fügte er darhinzu, wird’s etwas dauern. Darnach jedoch, so versicherte er mir, könne ich mir den Sympkins in Gestalt eines Abbil147
des auf etlichen losen Blättern mitnehmen in meine Zeit. Was die restlichen Bücher und Tractate anbetraf, so kamen wir für jedwedes Stück auf ohngefähr zehn Pfund überein; ganz erheblich mehr jedoch ward mir für das Glas sowie das Silber offeriret, vor allem andren für die Tobacco-Dose, darob ich nicht wenig staunete. Auch der Säbel, der eine wohlgelungene Klinge hatte, erfreuete ihn gewaltig. Am Ende war ich reich genug für einen ausgedehnten Aufenthalt, wie er mir versicherte, und er verhieß mir, die Summa alsbald zu besorgen, von einem Haus, dortselbst er’s gut habe, und das wolle er zur Mittags-Stunde tun. Darnach empfahl er mir, am günstigsten in aller Ruh den Morgen in diesem hintern Zimmer zu verbringen, derweil er vorn im Laden vielerlei Geschäfte tätigte. Zuvor jedoch führete er mich zu obgemeldtem Kßeroks, der einem großen Bottich gleichsah, bedeckt mit Glas und nichts darin, blos dicke Spien, etliche Stück Metall sowie darzu ein grünes Licht, das leuchtete auf und erlosch. Er händigt allso mein Buch einem andren Mann aus, ermahnet ihn zu behutsamem Umgang darmit und befehlet ihm, mit Hülfe des beschriebnen Apparatus das Werk zu copiren. Während das geschah, ging das grüne Licht immerzu an und aus, so etwa wie an einem Webstuhl fortwährend alles hingehet und wieder zurück, und nach einer Weile kamen an der Seite Blätter aus Papier zum Vorschein, darauf waren (so kunnte ich sehn) gänzlich perfecte Abbilder jener 148
Paginas, welche im Buche man dem grünen Licht zukehrete. Mein Wirt überreichete mir ein Dictionaire, sehr klein gedruckt auf ungemein dünnem Papier, ferner einen Welt-Atlas im Duodez-Format und auch den Kurir, den er am Morgen erhalten, aber noch keines Blicks gewürdigt hatte. Vieles stund darin, das vermochte ich nicht zu begreifen, aber ich erfuhr, daß nun eine große Nation drüben in America war, es zahlreiche Nationen sogar in Africa gab, ebenso in West- und auch Ost- Indien, daß es ferner einen Antipodean-Continent namens Australien mittenmang zwischen Indien und dem Süd-Pol sowie einen öden Continent rings um selbigen Pol hatte. Schiffe verkehreten zwischen all den Continenten, und alle verstunden sich wohl darauf, untereinander fleißigen Handel zu treiben. An Terra Incognita gab es nichts mehr, dieweil der ganze Globus mittlerweile cartografiret war, oder vielmehr fast der ganze Globus. Männer und auch Frauenzimmer erkühneten sich zu Versuchen, das Meer zwischen Dover und Calais mit Schwimmen zu durchmessen, allein um des Wetteiferns willen; im Falle sie keine würklichen Riesen waren, so muß es sich doch um Riesen an KörperKraft gehandelt haben. Zur Mittags-Stunde, deren Anbruch er anhand einer wundersamen, kleinen Uhr ersah, welche er mittelst einer engen Kette aus Metall-Gliedern am linken Hand-Gelenk trug, verbrachte mein Wirt mich in eine Gaststätte resp. wie er es nannte, zu einem 149
Immbiß. Mannsbilder und Frauenzimmer und sogar auch Kindlein stelleten sich dortselbst in langer Reihe auf und warteten, bis ein jeder von ihnen sich an Speise und Trank von einer langen Tafel nehmen kunnte, was er begehrete, zusammen mit Messern und Gabeln, woraufhin ein jeglicher das Genommene zum Schluß entgalt und sich zum Hinsatzen an ein kleines Tischlein begab, um zu speisen. Noch kunnte ich wenig verstehn, zumeist nur dasjenige, was mein Wirt hinlänglich langsam zu mir sprach (oder sein Ehe-Gespons), dahero ich inmitten all der Leut saß als wie ein Fremder in fremdem Lande. Darnach ging er mit mir zur Bank, das ist jenes Haus, allwo sein Geld tat liegen. Dort sprach er vor und gab darhin Erklärung, er wolle von seinem Vermögen eine besondre Abzweigung vornehmen, welche er mit Geschmunzel Antiquitäten-Conto benannte, und vor meinen Augen zahlete er für selbiges Conto die Summa all dessen, das er mit schuldete, allerdings vollzog man das alles blos auf Papier, mit viel Schreiberei und Unterzeichnung. Vertraulich teilete er mir mit, er wage mich nicht zum Kunden dieses Bank-Hauses zu machen, aus Besorgnis, man würde mir etwan zu viel der Fragen stellen; allso stund ich blos darbei, so daß man meinete, ich sei einer seiner Leut. Zum Schluß ließ er sich zwanzig Pfund für geringre Ausgaben aushändigen, die er mir in die Hand druckte, einen Teil in Müntzen, doch was sie Pfund nennen, sind in Würklichkeit nur papierne Fetzen mit grünlich Bildlein darauf; aber er beschwor mir, 150
daß man darmit Waren im Werte eines Pfunds erwerben könne, und ebenso stellete es sich als Wahrheit heraus (blos ist ja der Wert eines Pfunds bei ihnen allzu kläglich niedrig). Von der Bank geht er mit mir sporenstreichs zu einem Schneider und ersteht dort für mich eine Ausstattung an Kleidern, alles gefertigt aus verschiedenerlei Linnen-Tuch, und entgilt es aus einem ganz neuen Büchlein mit Papiern, die Schecks heißen, ihm übergeben zur Nutzung des neuen Contos, und anläßlich dessen zeiget er mir, wieviel an Vermögen auf dem Conto ist; es war würklich eine hohe Zahl von Pfunden, in dieser Höhe mir noch immer unvertraut. Nach etlicher so verbrachter Zeit suchten wir von neuem seinen Laden auf, da war es schon eine halbe Stund nach drei. Die folgenden drei Stunden vertrieb ich mir mit abermaligen Studien, 1ernete jedoch kaum noch etwas darzu. Mit seinem Auto fährt er mich gen Abend zurück zu seinem Haus. Just stund ich nah beim Haus nebst dem Auto, da erspäht ich am Himmel einen Meteor, sichtbar gleich einem hellen Faden, der am einen Ende fortwährend an Länge zunimmt. Ich äußerte Verblüffung, doch wies er mich darauf hin, das sei ein Conndenß-Streifen oder Conndentz-Streifen, irgendein Ding jedwedenfalles, das meinem Verständnis entzogen blieb. Doch von neuem erscholl ein Gedröhne vom Himmel, und in andrer Richtung sah ich droben einen Gegenstand, der ähnlich einem großen Vogel war, an dem sich jedoch nichts rührte. Sagt er zu mir, das sei wieder 151
ein Flugzeug. Er erklärete mir, in diesen Flugzeug täten Menschen reisen, sie seien wie Schiffe, welche sich in die Lüfte erheben, angetrieben aber würden sie auf die gleiche Art und Weise als wie sein Auto, nämlich durch Verbrennung. In der Tat nennen sie diese Flugzeuge auch schlicht Maschinen. Sobald wir das Haus betreten, heißt seine EheGefährtin uns willkommen und reicht uns ein Glas (das war allerdings sehr klein) mit einer Sorte von Sherry-Wein, aber der mundete mir fremdartig. Unterdessen sie ein Mahl bereitet, geht er zu einem Kasten mit einem Fenster darin, und in selbigem Fenster leuchtet ein lebendiges Bildnis auf, das sich immerzu beweget und wechselt, und Klänge ertönen, ganz so, als wann in dem Kasten Zwerge ein Theater-Stück aufführen täten, doch waren die Farben ausschließlich Schwarz und Weiß mit Bläulichkeit. Zu einem Teil gab’s da neue Kunde aus aller Welt zu vernehmen, das meiste aber war nichts andres denn eitel Torheit. Auch einen solchgestalten Guck-Kasten hat’s in jedem Hause, gleichfalls zu verdanken jenem mächtigen Diener namens Electricität. Ich nahm meine alten Kleider und Schuh, verschnürete sie zu einem Bündel und verstaute dasselbe am Boden in meiner Maschine. Mein Wirt brachte ein großes Tuch, das breitete er über die Maschine, auf daß keine Finger neugieriger Gaffer sich daran vergreifen oder nicht zu viele Zungen darvon schwatzen möchten. Im Verlauf der Mahlzeit und hernach (wann sie 152
nicht diesen Kasten mit dem Fenster anstarreten, den sie einen Fern-Seher hießen) conversireten sie mit mir bezüglich der Zustände in der Welt. Eine viel zu weitschweifige Excursion wollt es erfordern, hier alles zu berichten, was ich bei dieser Aventure sah und kennenlernen dorfte. Vornehmlich aber wird es auf hohes Interesse stoßen, zu hören, was für ein Schlag Leut das war, in deren Mitte ich mich verirret hatte; doch gleichwie ich viele Wochen darmit zugebracht, es aufzudecken und mir Klarheit zu verschaffen, will ich mich hier unterstehen und zur Erläutrung nur wenige Minuten verwenden. Sehr vieles beredeten sie in bezug auf die Insolence der Jugend und taten so, als wann daran etwas von Neuheit wäre; mich dagegen wollt’s bedunken, daß die Schuld nicht in gleichwohl welchen Neuheiten zu sehn sei, sondern daß Wohlstand und Müßiggang die Wurzeln seind, aus denen besagte Insolence sproß. Arme und ungebärdige Lehr-Buben gibt’s allhie nicht, vielmehr kann ein jedes Pürschlein ohnschwer ein gutes Geld verdienen. Führen schon diese ein zu loses Leben, so gilt ein gleiches auf gewisse Weise auch für die Kindlein (gleichwie selbige eine an Beschwernis reiche Schule durchlaufen müssen, warvon ich noch berichten werde); und das ist der Same jenes andren Ärgernisses. Man erziehet die Sprößlinge nicht etwa zu Gehorsam und Gottes-Förchtigkeit, sondern (wie ich entdeckte) darzu, mit ihren Eltern zu maulen, kaum daß sie fünf Lenze alt seind, und sie treiben mit ihnen ihren Spott. Der Ursprung all dessen aber 153
lieget bei den Weibern; die nämlich seind keines Mannes Herrschaft unterworfen, nicht einmal vor dem Gesetz, vielmehr handeln sie mit ihnen in allem gleich und verrichten – mit soviel Stolz als wie die Männer – alle Arten von Hantirung (zumalen sie keine schlechtre Bildung genießen), und Hoch und Niedrig kleiden sich in Putz und Fürnehmheit und lassen ihren Nachwuchs achtlos heranwachsen (dahero unterm Jung-Volk des öftern die Tollheit ins Kraut schießt); und die Weiber bekümmern sich blos um Narreteien und Männer-Fang, wie ich aus einem Journal ersah, gemacht in Farben (allerdings ähnelte es mehr einem Quart-Format denn einem Journal) und allein für Frauen gedruckt. Sie gehn umher mit nackichten Beinen oder umhüllen sie mit glänzigem Strumpfwerk, das wundersam fein ist und eng auf der Haut haftet, und sie zeigen die Beine zuchtlos bis übers Knie. Alle müglichen reizvollen Bildnisse sah ich in diesen Journalen. (Gewisse andre Journale jedoch, ausschließlich gemacht für Männer, fund ich voll mit sündhafter Geilheit und Unflätigkeit, sowohl bezüglich der Bildnisse und auch des gedruckten Wortes). Anbetreffs des Männer-Fangs muß man wissen, daß Ehen allerorten nach Laune und Belieben geschlossen werden, nicht etwa nach Vereinbarungen zwischen den Eltern, vielmehr allein darnach, wie ein junger Pursch und eine Dirn einander behagen (jedoch will ich nicht verschweigen, daß dergleichen erst recht späten Alters sich vollzieht, oftmalen nach mehr denn neunzehn Lenzen); genauso ohn154
beschwert gehn sie etwan wieder auseinander, und zwar vermittels einer Scheidung. Die Religion hat in alldem kaum ein Wörtchen mitzureden, dieweil unsre Tolerance ist zu ihrer Gleichgültigkeit geworden, und gleichwohl es Kirchen gibt, sucht kaum einer sie noch auf, und Leut, die Enthusiasten im Glauben seind, findet man so gut wie keine mehr. Aufgrund dessen haben sie nichts, das ihrem Leben einen Sinn verleihet, es sei denn, soviel zu raffen und der Genuß-Sucht zu frönen wie eben müglich, sei es Geld oder Kurzweil. Aber dem zum Trutz haben sie ein süßres und geruhsamres Leben als wir es kennen. Wenige Personen sah ich krank, siech oder blos verkrüppelt. Die Königliche Krankheit, Fieber, Seuchen und Blattern gibt es allesamt nicht mehr. Nicht ein einzig Kind einer Familie stirbt vor Erreichung der Reife, falls man mir das glauben mag; doch sind die Häuser keineswegs übervoll mit Bälgern, sintemal man hat Mittel gefunden, dafür zu sorgen, daß die Frauen nicht empfangen, wann sie nicht den Wunsch haben. Das dünkt mich eine atheistische Erfindung und darzu eine, die zum Übel des ganzen Volkes ausschlahn müsse; aber sie denken sich nichts darbei, mit Ausnahm einiger Papisten und weniger andrer Leut. Jeder Mannskerl und jedes Frauenzimmer ist des Lesens kundig, doch macht die große Allgemeinheit nur insofern darvon Gebrauch, als sie Schriften und Druck-Werke verwendet, um Wetten einzugehn, geheißen Lotteri, an Versammlungen Teilnahme zu 155
pflegen, welche sie Bingoh nennen, und um die Richtungs-Hinweise zu lesen, dieselbigen überall angebracht seind, auf daß man seinen Weg sich suchen kann, und auch ersehn, welch Gewerbe da oder dort betrieben werden; diese Hinweis-Tafeln gleichen etwa den Materln, bloß seind sie profaner Natur. Großen Wert leget man auf Sicherheit, sowohl in den Straßen wie auch in Wald und Flur, so daß Diebstahl und Gewalttat, begangen selbst an der gemeinsten Person, als Verursachung marktschreierischer Zeitung in ihren Kuriren hinreichen; indessen jedoch metzeln sie einander mit den Autos, die lautstark einherbrausen, zuhauf nieder, und wenngleich sie behütet seind wider Einfälle ihrer Nachbar-Nationen in Europa, existiren sie doch unter einem DamoclesSchwert der Vernichtung vom andren Ende der Erde, die sie etwan befallen möchte vermittelst eben jener Flugzeuge, oder durch eine Art von Artilleri, die Tausende von Meilen weit feuern kann und ein Land zur Hälfte verwüsten, wo immer sie hintrifft; so wollte man mich jedwedenfalles glauben machen. Sie haben eine souveräne Königin, aber die Krone ist so arm an Macht geworden, daß man kaum von einer Monarchi, vielmehr von einer Republic sprechen kann. Es gibt ein Parlament, darin es auch Leut hat, die sie Torys nennen, ich weiß nicht, warum; denn dieselben treten gar nicht ein für eine papistische Thronfolge, vielmehr fürs Republicanische; und ihnen widerstreiten keine ohnversöhnlichen Whiggs, sondern eine Partei stehet da wider sie, dieselbe will 156
alle Geschäfte und Angelegenheiten des Königreiches (oder Königinnen-Reiches) in den Händen jener vereinen, die regiren. Den dritten Teil von allem, das jemand sich verdienet, muß er an Abgaben entrichten, dergleichen man in meiner Zeit nie und nimmer in Engeland zu hören bekommen hat. Ein jeder Mann, gleich wie gemein und nieder sein Stand – und was noch ärger ist, ebenso die Weiber –, hat das Recht, ein Votum zu erteilen für jene Personen, welchselbige sie im Parlament satzen sehn möchten; doch die dort satzen, die bewirken wenig, vielmehr votiren sie im Parlament allem zuwider, was ihre Führer ihnen unterbreiten. In Würklichkeit aber ist der schnöde Mammon König von halb Engeland, sintemal die mächtgen Händler und Vorsteher großer Geschäfts-Häuser fast allemal tun und lassen können, was immer ihnen gefällt. Der andren Hälfte König ist der Arbeitsmann, denn wann sein Los ihm mißbehaget, beredet er seine Zunft darzu, all ihre Arbeitsmannen das Werkzeug hinschmeißen und der Arbeit den Rücken kehren zu lassen, und Monate mögen darob verstreichen, bis man seinem Willen Genüge erweiset; unterdessen gibt die Zunft den Arbeitsmannen das Geld für ihren Unterhalt. In der Zeit-Spanne darzwischen jedoch leiden die Käufer von zween Seiten: zum einen werden ihnen die Preise erhöhet, zum andren bleibet Arbeit unverrichtet, so daß nichts gefertigt wird. Allem zum Trutz aber leben sie gnugsam wohl. So weichlich seind sie allesamt geworden, daß sie ein 157
laut Gezeter erheben, wann immer sie ein winzig Drecklein sehn oder ein gering Gewalt geschieht. Zum Strafmaß kennen sie weder Scheiterhaufen noch Vierteilung, kein Auspeitschung, keinen Pranger und auch keine Brand-Markung, und Missetätern schlahn sie nicht das Haupt ab. Gehenkt werden Übeltäter wenig und blos im geheimen; dennoch satzen welche im Parlament, die ein jedwedes Mal sogleich neue Gesetz zum Vorschlag machen, um auch dann noch dem Henker in den Arm zu fallen; dahero selbst der mißratenste Schurke mit keiner härtren Strafe als langer Einsperrung davonkommen mag. Gleichwohl sie alle in Forcht darvor leben, was aus alldem noch gedeihen solle, sich auch beträchtlich Sorgen hingeben um all die Übeltäter im Lande, kunnte ich niemalen einen Raufhandel sehn, keinen Pöbel beim Toben; nie und nimmer im Verlaufe der ganzen Frist, welche ich bei ihnen zugebracht, habe ich erlebet, wie einem von ihnen aus Mutwillen blos der gelindeste Verdruß zugefüget ward, und ebenso sah ich keine Menschen-Seele jemalen im Trunke sternhagelvoll einherkrauchen, vielmehr im schlimmsten Falle blos in exaltation versatzet. Obzwar meine Kleider ihnen so fremd bedunkten, hege ich den festen Glauben, ich hätte mich darin mittenmang unter die Leut auf der Straße begeben können, ohne Unziemlichkeiten beförchten zu müssen. So viele seind es, die an einer jeden Stätte zusammenströmen, in einem Theater-Hause oder einem der Busse, daß sie sich in langer Reih aufstellen, um zu harren; doch 158
schieben und stoßen sie nicht, vielmehr bewahren sie Ruh und Ordnung, ohne daß jemand sie ermahnen und zwingen müßt. Nirgends sah ich jemanden beim Betteln, und nur wenige erblickte ich, die arm oder von Siechtum gezeichnet aussahn. In Wahrheit jedoch sind sie stille, ja gar phlegmatische Leut, die nicht so ohnweitres lachen oder weinen oder in Leidenschaft entbrennen; ob es darvon rühret, daß sie dermaßen in Masse leben, oder von der Rußigkeit der Luft oder ihrer Hast, darin sie an ihre Arbeit gehn und von dort wiederkehren, weiß ich nicht zu offenbaren, doch ihre Mienen bekunden viel Ohnzufriedenheit und Mißmut, und ihre Nachbarn respectiren sie wenig. All ihre Liebe bleibt den ihren zu Hause vorbehalten, ihre ganze Barmherzigkeit dagegen Fremden in der Ferne; viele BittGesuche um Geld und Gut erhalten sie, welche sie zum Wohle bedürftiger Personen senden möchten, die ihnen völlig unbekannt seind, und zum Nutzen dieser oder jener Creaturen in Africa oder Indien, die sie doch niemalen sehn werden. An jedem Samstag stehn Kinder auf den Straßen, um kleine Fähnlein aus Papier, womüglich einen Zoll breit, für Münzen einzuhandeln, und das wäre dann zugunsten einer solchen Caritas. Was nun etwa ihren Grimm anbetrifft, so müssen sie ihn ganz und gar ohnbewehrt austoben, denn niemandem ist’s gestattet, ein Schwert, einen Dolch, ein Pistol oder eine Musquete zu tragen, ja es ist ihnen bei Strafe verboten, mit dergleichen durch die Gegend zu stolziren, obschon es 159
da und dort Halunken gibt, die insgeheim derlei Gegenstände haben, doch allein zu dem Zweck, eine Bank oder ein großes Waren-Haus zu berauben und so binnen eines kleinen Weilchens Tausende von Pfund zu erraffen. (Was meinen Säbel angeht, so betrachteten sie denselben lediglich als Zierat). Dahero kömmt’s unter ihnen niemalen zu Ehren-Händeln, vielmehr müssen zwei Contrahenten, so ihre Sach ernst ist, das Gesetz anrufen und auf diese Weise die Säckel der Advocaten füllen. Ihr so behaglich und friedlich Leben beruht womüglich auf ihrem Wohlstand. Licht, Hitze zum Kochen und zum Erwärmen ihrer Gemächer seind ihnen verfügbar blos durch den Druck auf einen Knopf; doch darfür müssen sie, wann man ihnen die Rechnung präsentiret, Entgelt entrichten. In des Sommers Wärme halten sie das Fleisch in einem Kasten frisch, der im Innern so kalt ist und bleibt, daß er inwendig zum Teil mit Eis und Reif überzogen; und das geht so, nicht anders als mit ihrer Beleuchtung und dem größten Teil der Erwärmung, durch jene obgemeldte Electricität. Im Falle sie mit einem Freunde parliren oder etwas zu erwerben wünschen, ohne sich auf eine Reise zu begeben, bedienen sie sich in ihren Häusern eines wieder andren Gerätes, das Tellefon oder auch Tählephon geheißen; dank selbigen Gerätes vermögen sie mit jedweder andren Person, die sie mittels Drehn an einem Ciffren-Blatte erreichen können, zu sprechen und sie diesseits auch zu hören. Auch das ist infolge der vielgemeldten Electricität müglich. Im 160
Laufe blos einer Woche können sie öfter MusicKlängen aus ihren Radjoh-Kästen lauschen und Bühnen-Stücke in ihren Fern-Sehern sehn, als wer dergleichen in unsrer Zeit in London während eines ganzen Jahres-Viertels könnte. Alle müglichen Arten von Gegenständen seind ihnen zu Gebote, sowohl zur Hantirung wie auch zur Kurzweil, und sie verzehren vielerlei Speisen, die meiner Beschreibung sich entziehn. In ihren Kaufläden sah ich von beiderlei Dingen Muster ohne Zahl, und gleichfalls verschiedenerlei Exemplare von der gleichen Sache sowie auch zahlreiche gleiche Stücke derselben Ware. Manches vom Feilgebotnen ist so teuer, daß allein die Reichsten es erstehn können; vieles aber vermag jedermann sich zu leisten, ausgenommen die Allerärmsten. In all diesem Wohlergehen gleicht ein jeder einem hohen Fürsten; und obzwar er keine Diener hat (sintemal keiner noch einem andren dienen will), ist in allem die Electricität sein Diener. Dem zu Trutz sind sie beileibe nicht zufriedner als wie ein Fürst, ja womüglich weniger, da sie’s nicht anders kennen; denn dies verweichlicht Leben ist ihr Geburts-Recht, und im Fall es ihnen schlechter oder wohler ergeht als ihren Nachbarn, die Schuld messen sie immer dem Staate zu. Dieweil sie allso dermaßen emsig kaufen und verkaufen, sich mit allen Arten von Gerätschaft und Gegenständen so überaus wohlversorget halten, stehn die verschiednen Waren-Häuser, welche jene Dinge ihnen anbieten, untereinander in großer Rivalität. 161
Dahero rühret ein gewaltig Aufwand, den sie überall betreiben, mit viel Worten und Bildnissen in allen Farben, kaum anders als aus dem Gemälde eines Malers bei Hofe, aber verbreitet zu vielen Tausenden, auf daß ja ein jeder es sehe, in ihren Journalen und auf riesigen Placaten, welche die Straße säumen, insbesonders in den Ortschaften. Ein solch Spectakul heißen sie schlicht Reclame, als wie wer ein Gebrüll tät, dies blos ein Raunen hieße. Das bringet mich zur Weise des Ausdrucks, deren sie pflegen. Danebst daß sie viele Wörter verwenden, welche ich hiebevor niemalen vernommen oder gesehn, verursachte es mir kaum weniger verzwickte Schwierigkeiten, ihr Kauderwälsch zu erlernen, daß sie so manches Wörtchen sprechen, das mir zwar bekannt bedäuchte, unter diesen Leut aber einen gänzlich andren Sinn hat. Viele Wörter, so entdeckte ich, waren zuschanden geworden (während dergleichen heillos Zeug wie Reclame erblühte). Allso meinen sie, wann sie ohngeheur sagen, doch würklich großartig; wann sie sagen fabelhaft, meinen sie in Wahrheit herfürragend. im Enthusiasmus sehen sie nichts andres als blos Eifer und Spaaß an einer Sache. Wieder andre Wörter jedoch sind bis ins Widersinnige verkehret und verhunzet worden. Wann vom Geschlecht die Rede, darin wir die Gesamtheit aller auf Gottes Erden-Rund lebenden Menschen verstehn, seind indessen sie niemalen weit vom Gemächt, und alles und jedes, was bei ihnen zu tun hat mit Geschlecht, sehn sie allein im Zusammenhange mit der 162
Paarung von Mann und Weib. Eine Romance gilt ihnen nicht als schwärmerisch Erzählung, vielmehr als eine Herzens-Affäre; und ähnlich verhält’s sich mit der Romantic. Ein Bus, bei dessen Nennung unsereins sofort an der Herings-Fischer Büs’ denkt (zumalen wir’s anders nicht wissen), ist bei ihnen ein großes Gefährt zum allgemeinen Gebrauch, wie schon hiebevor an andrer Stell Erwähnung getan. Bedürfnis zu haben, das heißt ihnen keineswegs, einen Mangel zu leiden, vielmehr sehn sie darin den Wunsch nach etwas und nennen dies Trachten schalkhaft Bedarf. Ist einer fein, so meinen sie nicht, er sei fürnehm, sondern erachten ihn als einen prächtig Pursch. Einer den sie scharfsinnig heißen, der ist bei ihnen nicht scharfen Sinnes, vielmehr meinen sie darmit, er sei klug und von hohem Verstände. Sie vermengen ihre Redewendungen mit unverhohlem Argot, derlei man bei uns von Beutelschneidern und Schlagetots vernehmen kann, doch gilt’s ihnen nicht als unhöflich. Darzu im Gegensatz ergehn sie sich bisweilen in längren, höchst gelahrten Reden, darin sogar ihre Sprößlinge sich schon üben, und sie geben ihre Meinungen schockweis weiter, als wie um jeden Preis ihren Zuhörer zu überzeugen und zu bekehren. Was ihre Art und Weise anbetrifft, wie sie sprechen, so kann man nichts andres sagen als wie daß sie vollauf wundermerklich ist, was ich schon aufgezeiget habe, doch ermangelt’s nicht an einem tüchtig Einschlag der gemeinen Sprache eines Cockney aus London. Nach Ablauf einiger Zeit gewöhnete sich mein Ohr 163
jedoch daran, so daß ich verstund, was sie mitteilen wollten. Die Nation, welche in America hauset, darzu jene, die im Moscowitischen darheim, seind die Herrn und Gebieter der Welt, sagt man, dieweil sie jene obgemeldte Artilleri, deren Würkung ich schon beschrieben, in großen Mengen haben. Danebst stammt von selbigen zween Nationen die Erfindung von Maschinen, die sie zum Monde sowie auch den Planeten namens Mars und Venus geschossen haben, ganz als wie aus einem Canonen-Rohr; und besagte Maschinen sandten Kunde von ihrer Reise sowie auch (auf irgendeine Weise) Bildnisse von dem, was ihnen unterwegs begegnet; so will’s mich dünken, es braucht beinah kaum dreihundert Jahre und fremdländische Unternehmungen (keine dargegen in Engeland), um diese schmeichelhaften Verse Mr. Drydens Wahrheit werden zu lassen: Wir wolln des Erd-Balls letzte Grenze überschreiten Und vom Himmel hoch das Meer obachten: Darher ersehen unsrer Nachbarn sämtlich Seiten Und ohn fährlich des Mondes Welt betrachten. Ferner haben jene zween Nationen gewisse Maschinen rund um die Erde geschossen, die haben vorerwähnten Erd-Ball in einer Höh von Tausenden von Meilen umkreiset, und in dem Innern derselben Maschinen reiseten Menschen mit, und zu guter Letzt 164
sind diese Personen mit ihren Maschinen heil und wohlbehalten zur Erde heimgekehret. Dem zum Trutz war meine Art von Apparates ihnen ohnbekannt. Was nun Moscau anbetrifft, so muß ich berichten, daß sie in ihrem Engeland es ansehn so wie wir Rom; und so wie wir Papisten und Dissenter mit Mißfallen ansehn, so halten sie’s mit einer Art von neuen Levellern, die bei ihnen Communisten geheißen, das seind allso Leut, die darnach trachten, den Staat zu störtzen, wann müglich; doch sie dörfen allerorten hin und fort, ohne daß wer sie hindert oder hemmt, blos gibt man ihnen keine Ämter, darin sie .StaatsGeheimnisse erfahrn. Bezüglich der übrigen, nämlich der Papisten und Dissenter in ihrer Mitte, so machen sie um jene kein Aufhebens, zumalen kaum jemand weiß, welcher Religion ein andrer anhanget, ja viele haben nicht einmal Klarheit, welcher Religion sie selber seind. Darzu gibt es im Lande eine große Menge Leut fremdländischer Herkunft. Es hausen nämlich viele Inder in England, sowohl aus Westwie gleichfalls Ost-Indien, um sich daselbst ihr Brot zu verdienen. Ihre Nachbarn, allwo sie wohnen, seind arg in Sorg, daß jene ihnen den Erwerb schmälern oder neuartig Seuchen bringen könnten, oder daß ihre fremde Lebens-Art resp. ihr sonderlich Gebaren dem öffentlichen Wohle abträglich sein möchten; und etliche Engeländer (so versicherte man mir) haben wider diese Fremdlinge Aufruhr gemacht. Aber die Allgemeinheit der gebornen Engeländer ist allzu 165
sanftzüngig und waget nicht, diese Sorgen laut auszusprechen, um nicht mit dem Schimpf-Namen Rassist beleget zu werden, denselben sie förchten wie die Pest, das kömmt von Massacern, welche zwei Jahrzehnt zuvor in Teutschland stattgefunden, sowie von Verfolgung und Bedrängnis, vermeldt aus Tausende von Meilen entferneten Landen in Africa und America. Darfür haben sie ein Deckmäntelchen; dahero nämlich, daß die Welt – wie sie’s bedunkt – klein worden, wähnen sie, ein jedwede Äußrung breite sich in ihrer Zeit in Windeseile aus. Ich jedoch erachte derlei als eine Sach ihres leichtgläubigen Hereinfallens auf andrer Leut Meinungen; das rühret, so lautet meine Mutmaßung, von ihrer als wie mit Scheuklappen beengeten Sicht her, darnach sie allesamt, blos dieweil sie ohn Ausnahme lesen können und ein Stimm-Recht fürs Parlament haben, würklich gleichgestellet seind, dargegen ihre Mehrzahl weder die Dinge der Religion noch die Stimme der Vernunft als erwägenswert erachten, vielmehr alles was darvon kömmt, in den Wind schlahn und ihre Fahne mit dem leisesten Windlein oder blos Lüftchen wehn lassen, das ihnen aus ihrer MitMenschen Munde zubläst und ihnen die Rede beschneidet als wie ein leibhaftiger Censor. In hohem Ansehn stehn bei ihnen Haar-Spaltereien; sehr leicht glauben sie alles, was sie gerne glauben möchten, und sie zeigen nicht die gelindeste Neigung, sich einen von Besonnenheit geleiteten Widerspruch gefal166
len zu lassen. Ein jeder, der einer beliebgen Sach einen guten oder üblen Namen anzuhangen vermag, gleichwie töricht er lautet, oder ob’s sich um einen Gegenstand, eine Tat, ein Werk, ein Kleid oder ein Wort handelt, wird schwerlich Zweifeln ausgesatzet, vielmehr greift man ohnverzüglich seine Meinung auf und plappert sie ihm knechtisch nach. Dahero werden sie von den Schreiberlingen in den Kurirn, den Sprechern im Fern-Seher sowie auch den Ausheckern der Reclame mal darhin, mal dorthin getrieben als wie eine Herde Schaf, so daß man getrost sagen kann, die Blinden führen die Blinden des Weges. Ein andrer Grund, darum sie so friedfertig und stille seind, ist womüglich, daß ihnen nach des Tages Plackscheisserei gar wenig Laune zu Umtrieben bleibet, so ihren Verdruß mehren könnten, und sie finden rein gar keine Muße zur innern Einkehr und Besinnung. Denn wiewohl sie so im Wohl-Stande leben, existiren sie doch in beständigem Drange, und obzwar sie an täglich Müßiggang viel haben, bedränget die Welt sie ohn Unterlaß von allen Seiten. Im Angesicht all ihres Dreinloffens hinter jeglicher Torheit und ihrer fortgesatzeten Hast hätte man vermeinen mögen, Ameisen seien mit Affen creutzet worden, um solch zapplig Brut herfürzubringen. All diese Sachen habe ich, wie schon erwähnet, nicht mit einem Male zur Kenntnis erhalten, sondern im Laufe etlicher Wochen. Meine Morgenstunden brachte ich in den hintren Gemächern des Ladens zu. Zwecks Einnahme von Speis und Trank (wie allhier 167
üblich, stets schon früh am Tage, nämlich um die Mittagsstunde) suchte ich gemeinsam mit meinem Gastgeber dieses oder jenes Speise-Haus auf oder kehrete mit ihm zurück in sein Heim. Wann wir zur Atzung in sein Haus gingen, verblieb ich oftmals nach der Mahlzeit dort und versuchte mich ein wenig im Gärtnern, oder ich spazirete durch die Gegend, bis ich die Nachbarschaft wohl kannte. Seine Gemahlin, welche den Wagen ebenfalls zu fahren verstund, behielt das Gefährt nach dem Mittag-Essen bisweilen zu ihrer Verfügung zurück, so daß er mit einem der Busse wieder zum Laden fahren mußt. War der Tag hell und schön, brachte sie mich in dem Auto aufs Land. Beim ersten Male erlebete ich eine Überraschung, als ich die Hügel unsrer Landschaft sah, in der Tat wenig verändert, blos da und dort mit einzelnen Häuslein bebaut, danebst hohe Pfähle aus Metall zu sehen, um ihnen die Electricität durchs ganze Land zu tragen. Doch selbst am klarsten Tage hung die Luft überall voller Ruch nach Brand und Rauch. Ein Bach, darin zu fischen meine Gewohnheit ist, war zu einem Abfluß-Kanal zwischen steinernen Wällen geworden und schwarz wie Pech darzu, und er floß mitten durch ein andres Städtchen, woselbst heute nichts andres denn ein Gehöft steht (nach welchem man, wie ich entdeckte, obgemeldten Ort benannt hat). Der allergrößte Teil des Landes jedoch ist verdränget worden durch ihre Häuser, und darwo unsre Vieh-Pfade sich einherwinden, verlaufen ihre festen Straßen, aufweichen ohnablässig und 168
mit Getöse ihre Wägen des Weges rasen. Ihre Ortschaften seind in der Hauptsach aus roten Ziegeln errichtet, aber geschwärzet vom ständigen Rauch, der in gewaltigen Mengen aus Fabriken kömmt, die so groß seind wie Dörfer und so bevölkert wie Städte und in denen sie all ihre Güter und Waren herstellen. An angenehmen Samstagen, oder auch Sonntagen (sintemal sie keine Kirchgänge machten, wodurch ich mich im geheimen sehr beunruhiget fühlte), fuhren mein Wirt und sein Ehe-Weib den Wagen in größere Ferne, manches Mal bis ans Meer. Dort harrte meiner eine neue Überraschung; denn am Strande lungerten Hunderte, ja Tausende von Männern, Weibern und Kindern herum (darvon viele mit lauten Radjohs, deren Mißklänge meine Ohren kränkten); und wiewohl nur ein paar Dutzend sich hinaus ins flache Meer wägeten, trugen sie allesamt blos die winzigste Kleidung, die kaum etwas verhüllete, gefärbt in den buntesten Farben. Meine Wirtsleut wollten gleichfalls im Meer baden (wie sie das nannten), und sie hatten dahero gleichartige Kleidung darbei, auch solch ein Stück für mich, doch beschied ich dies Ansinnen mit Ablehnung und gab mich mit Zuschaun zufrieden. Welchen Genuß sie an diesem Aufenthalt am Meer zu haben wähneten, vermag ich nicht zu sagen, es sei denn, sie hätten sich am Anblick so vieler nackichter Leiber erfreuet; denn alles war blos dergestalt, daß einem Sand ins Angesicht flog, ein zu kalter Wind wehete, die Sonne zu heiß brannte, und ringsum herrschte ein lärmerisch Ge169
wimmel von Menschen und Hunden. Ihre Schänken seind Häuser, darin man sich behaglich niederlassen mag, zumindest zur Speisung; was dann den Suff anbetrifft, so gestatten ihre Gesetze ihn allein zu gewissen Stunden des Tages. Ihr Bier ist dünn und ohne Geschmack, und ihren Weinen mangelt’s an Kraft. Sie wertschätzen sehr eine starke Spirituose aus Schottland und Ireland, welches Gesöff ich zunächst als Fusel ansah, allein genießbar für die hartgesottenen Wüstlinge vorgenannter Regionen. Sie heißen es Wißkhi. Von zwei Früchten verzehren sie bemerkenswerte Mengen, wargegen sie mir nicht sonderlich mundeten: einer roten, saftigen, reichlich sauren Frucht, Tohmahten geheißen (ich vermute, das seind die Tomatos aus America), die sie ganz und gar verschlingen; sowie die Pampelmuse, die sie Grähbfrieht nennen und welche (das für die vielen, die ihrer noch nie ansichtig worden seind) einer großen, gelben, sehr sauren Orange ähnlich ist, allso nicht, wanngleich man so etwas dem Namen nach vermeinen möchte, gleich der Kartoffel aus dem Boden gegraben werden muß. Doch liefert man ihnen auch eine staunenswerte Vielzahl andrer Früchte, Äpfel, Birnen, Bananas, Orangen, Pfirsisch, ErdBeeren und viele mehr von allen Enden der Erde, sowohl zur gewöhnlichen Ernte-Zeit wie auch außerhalb derselben, und sowohl frisch wie auch eingemacht, manche mit süßem Saft in Dosen aus Metall, die man Büxen nennt. Letztres Verfahren betreiben sie auch mit manch andrem, so etwa Fleisch, Fisch, 170
Käse, Butter, Honig, Wildbret und Marmaladas, dergleichen sie in Masse aus den zween America, etlichen Landen in Europa, aus Africa, den zween Indien sowie auch jenem antipodaeanischen Continent beziehn. Zugleich mit Speise und Trank, so muß ich berichten, pflegen ihrer viele, vor allen andren die Jüngren und ganz besonders die Dirnen, ein übles Brauchtum, namentlich das Tobacco-Schmauchen; darzu ist der Tobacco in kleine, weiße Papiern eingerollt, welchen sie den Namen Ziehgarrotten verliehn haben, und das fürwahr sehr trefflich, denn am Ende werden gar viele dieser Tobacco-Schmaucher darvon erwürget, dieweil ihnen, obzwar erst manches Jahr später, vom Tobacco die Lungen caput gehn. Sie schmauchen obgemeldte Ziehgarotten im obern Stock ihrer Busse, sogar in den Speise-Häusern, auch darheim, wann sie mit Freunden beim Umtrunk satzen, ja selbst wann sie ihre Arbeit verrichten. Auch in ihren BildnisTheatern (von denen noch zu reden sein wird) ist die Luft verpestet von ihrem Ziehgarotten-Rauch. Gleichwohl die Städte so voller Menschen seind, daß man im allgemeinen Gedränge kaum einmal verweilen kann, befund sich gegenwärtig, so mitteilte man mir, ein Großteil Leut nicht zu Hause. (Und würklich ward die ganze Drängelei im October zehnmal schlimmer, doch hatte ich mich unterdessen einigermaßen daran gewöhnet). All jene nämlich, die keine wahrhaftigen Plebejis seind, nehmen einmal in jedem Jahr ihre gesamte Familie und fahren darmit 171
für eine volle Woche oder gar vierzehn Tag in die Ferne, um von ihrer Arbeit Mühsal zu verschnaufen. Meine Wirtsleut hatten ihre Excursion schon im Maien gehabt, und blos für die Dauer einer Woche. Diese Reisen in die Ferne heißen sie Urlaub, und sie bedörfen ihrer dringlich, sintemal sie der hl. Feste und Feier-Tage, wie wir sie begehn, nur noch wenige kennen, so allein das Christ-Fest, Ostern sowie den Weißen Sonntag, darzu zwei oder drei andre Feste im Jahr. Manche ziehn an die Küste (dahero das Getümmel, welches ich dort am Strand bestaunet), andre reisen in die Wildnis oder in gräßliche Berge (um der Menschen Menge zu entfleuchen), viele jedoch in fremde Lande, so daß man sagen kann, der bescheidenste Krämer macht eine Rund-Reise als wie des fürnehmsten Noblisten Sohn, und das nicht blos ein einzig Mal in seinem Leben, vielmehr alle Jahre wieder, wanngleich ein jedes Mal nur zwei Wochen lang. Meine Reisen, welche ich bislang als beachtenswerte Denk-Würdigkeiten betrachtet, galten ihnen nicht mehr denn eine unbedeutend Excursion. Das kömmt von der großen Ohnbeschwertheit, darmit sie zu reisen vermögen, in Flugzeugen oder ihren Autos, an Bord von Schiffen, welche sie dank Öfen zum Verbrennen von Oel, verborgen in den Rümpfen, die Wasser durchmessen lassen können, und ebenso reisen sie zuhauf in langen Schlangen von Reise-Wägen oder Kutschen, eine an die andre gehakt (aber jede einzelne Kutsche so groß als wie eine Scheuer), die durch eine Maschine, so auch Oel ver172
brennet, in andren Fällen aber Electricität verbrauchet, entlang schier endloser Stränge aus Metall gezogen werden. Die Herbergen, darein die Reisenden allerorten einkehren können, seind so geräumig und säuberlich, daß es keinem, der durch Europa reiset, an etwas mangeln muß, vielmehr er sich allabendlich zur behaglichsten Ruhe betten kann, und sogar in manchen Gegenden von Africa und America seind (in der Tat!) solche heimeligen Stätten zu finden. Die jungen Purschen und Dirnen von fünfzehn oder mehr Lenzen bereisen bisweilen in kleinen Scharen fremde Lande. Manche von ihnen gehn im Winter nach Norwegen oder in die Schwyz, um sich dort einer Kurzweil hinzugeben, welche sie Schie-Fahren nennen. Dieselbe erfordert nichts andres als wie daß man auf einen mit Schnee bedeckten Berg steiget (oder sich an Drähten hinauf zum Gipfel ziehn läßt) und darnach von droben auf an die Füße gegurteten Bretten ohngeheuer hurtig wieder talwärts rutschet. Das Dasein dieser Menschen ist so mühelos geworden, daß ihrer etliche, die kühnren Herzens seind, darob gar Mißmut empfinden, wann immer sie nicht durch derlei Zeit-Vertreib ihre Gliedmaßen aufs Spiel satzen oder mindestens ihre Leiber vollkommen ermüden können. Verschiedenerlei Arten solcher und andrer Leibes-Übungen haben sie für sich ersonnen. Manche nehmen Stöcke mit flachen Stücken Metall am Ende, benannt Golf-Schläger (fürwahr!), und darmit hauen sie in einem ausgedehnten Garten eine kleine Kugel von der einen zur nächsten Stelle, im173
merzu hin und zurück. Andere schließen sich zu zwei Mannschaften resp. Tiehms zusammen, die widereinander Wettstreiten sollen, und sie befassen sich darmit, einen Ball, so groß wie eines Menschen Kopf, im Felde der jeweils andren Mannschaft zwischen zwei Pfosten zu stoßen; Tausende von Männern und Purschen satzen rundherum auf Bänken darbei, um des Ausgangs dieser Sache zu harren, und allesamt gebärden sie sich wie Pöbel im Wahnwitz, fortgeloffen aus dem Tollhaus. Im Sommer sieht man welche einen Ball von Faust-Größe mit hölzernen Keulen, welche oben flach seind, von sich schlagen, und andre versuchen, selbigen Ball zu erhaschen. All diese (jene andren dargegen beginnen sich erst nach des Sommers Ablauf umzutun) senden Mannschaften von Land zu Land, auf daß sie sich mit andren im Wett-Streit messen und man sehe, wer daraus als Best-Meister hervorgehet: und alle Welt und sämtliche Kurirn reden ohnablässig von nichts andrem außer ihren Progressen. Wieder andre Personen schlahn einen Ball über ein Netz hinweg sich fortwährend zu, jedoch mit weniger Wucht, warbei sie einander zu übertrumpfen sich abmühn, und dies Spiel heißen sie Tennis, aber es hat rein gar nichts mit dem Tennis zu schaffen, wie ich es einmal in London gesehn hab. Noch andre rollen in gewissen Häusern schwere Kugeln durch hölzerne Gassen, um zehn Kegel übern Hauf zu werfen, und selbiges Spiel ähnelt stark unsrem Kegel-Spiel, doch seind’s allhier Hunderte, die sich ihm widmen, und des öfteren las174
sen sie die ganze lange Nacht hindurch darvon nicht ab. Nochmals andre laufen auf Schlitt-Schuhn, nicht anders als wie die Holländern machen, doch tun sie’s allein aus Spaaß an der Sach, und neben blos dem Laufen auf Schlitt-Schuhn können manche darauf gar wundervolle Tänze darbieten, wasgestalten ich mit eignen Augen gesehn, in großen Hallen, darin sie immerzu Eis kalt bewahrn, sogar im Sommer, aber auf welche Weise, das kunnt ich nicht begreifen. Abermals andre schwimmen in Seen oder dem Meer, jedoch unterm Wasser, dieweil sie ein Möglichkeit gefunden, Luft mit sich in die Tiefe zu nehmen und darvon Atem zu schöpfen, und so gehn sie zehn oder zwanzig Faden tief hinab; drunten erjagen auch ihrer manche mit Speeren allerlei Fisch. Dann gibt’s welche, die klimmen in Höhlen und Klüfte des ErdGesteins selbst hinunter und spaziren unter dem ErdBoden (so jedwedenfalles behaupten sie) viele Meilen weit einher, auch das allein zum Vergnügen (so darbei welches zu finden sein mag). Ferner gibt’s auch welche, die erklettern die höchsten Gebürge sowie die schroffsten Klippen. Einige (doch seind’s deren nur wenige) schweifen unterm Himmels-Zelt in Flugzeugen umher, welche keine Maschine zum Angetriebe haben, vielmehr allein mit dem Winde und der Lüfte Wallen schweben. Und manche (deren Zahl wiederum noch geringer ist) springen gar kopfüber aus Flugzeugen und lassen sich Tausende von Klafter tief störtzen, blos um des Gefühls willen, das sie darbei haben, doch retten sie ihr Leben mittels 175
eines großen Sacks, den sie, so sie springen, gefaltet auf dem Buckel tragen, und hernach breiten sie ihn aus, so daß er sich mit Luft füllet und ihren Fall mindert, bis sie zu guter Letzt sachte zur Erde wiederkehren. Bei all diesen Belustigungen tun die Weiber sich nicht minder herfür als wie die Männer. Im Monat October sandten die Nationen der ganzen Welt Mannschaften aus sowohl Männern wie Weiber, auf daß sie in friedlichem Wett-Kampf resp. KräfteMessen sich im Rennen, Springen, Werfen von Gewichten etc. vergleichen möchten, an eine Statt in Japan; und alles was man dort vollzog, das kunnten sie in den Fenstern ihrer Fern-Seher mitanschaun. (Mein Gast-Herr gab mir zu verstehn, das wäre dank einer Kugel der Fall, die Hunderte von Meilen hoch überm Mare Pacifico schwebe, doch mochte ich ihm so etwas schwerlich als bare Münze abnehmen.) Ihr größte Menge hat nämlich kein würklich Anteil an diesen Darbietungen, vielmehr schauet sie sich all diese Plackerei blos vor ihren Fern-Sehern an und begaffet, was der Rest treibt; oder sie lauschen einer Art von Music (aus kleinen Radjohs), die zum Erbarmen ist und bei deren Tönen man sich allzu gerne die Ohren bedecken möcht, wargegen sie sich, wär’s nur müglich, den ganzen lieben langen Tag hindurch darvon täten umdröhnen lassen; oder sie gehn in großen Versammlungen, wie schon geschildert, Wetten ein, deren Facit sich nach ein paar Zahlen richtet, welche man ihnen auf einer Tafel präsentiret. Oder sie besuchen, wann ihr Leben ihnen zu 176
geruhsam dünkt, eine Einrichtung, die ähnlich ist wie ein Theater, nur ohne Schauspieler, um sich dort (in Heroen-Stücken) Marterungen, Schändungen, Hexerei und Mord-Taten anzusehn, vermenget (zur Erheitrung) mit dieser oder jener tollen Narretei, das alles vorgeführet in riesenhaften, ganz lebensechten, bewegten Bildnissen, vergleichbar mit jenen im Fern-Seher, häufig jedoch in Farben, auf daß sie um so wahrheitsgetreuer würken möchten. Danebst ihren Autos, welchselbige sie ohnhin einherrasen zu lassen, als wann sie Besessene seien, haben sie so etwas wie ein Metall-Pony, welches angetrieben wird durch eben jene oftgemeldte Verbrennung und dem sie den Namen Mohtohrad gegeben. Dessen Röhren ist gar noch ärger als wie von ihren Autos; vor allen andren bevorzugen ihre Purschen es ungemein. Ein recht ähnlich Ding dargegen hat keinen Ofen, vielmehr muß man es mit den eignen zween Füßen auf zwei Fuß-Stützen antreiben, welche sich vermittelst einer Kette immerzu drehn; besagtes Gefährt nennen sie ein Fahrrahd, und es ist nicht schneller als wie ein Mensch loffen kann. Pferde bekam ich kaum jemalen vor die Augen, doch bedienen sie sich ihrer zur Kurzweil und im Wett-Kampf. Dieweil sie soviel an Geschriebnem verwenden und darvon auch alleweil etliches in alle Welt schicken, haben sie einen nahezu vollkommnen Stift ersonnen, der schreibet mit Tinte, welche er im Innern hält; diese Tinte ist entweder ganz schwarz, oder aber blau oder (fürwahr!) in Rot oder Grün. Die Händler 177
und Handels-Häuser jedoch (und manche Leut auch darheim) haben einen Apparatus, der Buch-Staben auf einen Bogen Papier druckt, wann man mit den Fingern auf Reihen kleiner Knöpflein einklopfet, die ein jeder mit einem andren Buch-Staben bezeichnet seind; die Klänge, welche er von sich gibt, gleichen nur einem traurigen Klappern. Und was mich erstaunet hat, die Arbeit darmit geben sie jungen Dirnen, auf daß man jedermannes Schreiben ohne Mühe lesen könne, wie schön oder kläglich seine HandSchrift auch sein mag. Und wahrhaftig, das muß ich an dieser Stelle sagen, ihre Hand-Schrift ist solchermaßen fremd, ich wußte rein gar nichts darmit anzufangen, sintemal ich blos einen von zwanzig BuchStaben erkennen kunnte; dennoch ähneln ihre DruckWerke dargegen den unsrigen sehr. Einige wenige Personen allerdings schreiben in einer Art von cursiver Hand-Schrift, welche sehr förmlich, so daß man sie ohnschwer lesen kann. In ihren Send-Schreiben machen sie viel Aufhebens um Höflichkeit, doch pflegen sie im alltäglichen Umgang eine merkwürdig achtlose Freundlichkeit, indem sie jeden Mein Lieber rufen, sogar jene, welche sie darvor nie gesehn haben und von denen sie hoffen, sie müglichst nimmermehr zu sehn. Sowohl in Ihrer Unterhaltung wie auch in ihren Schreiben befleißigen sie sich gleichsam abgehackter, ohnbedachter Anreden, so etwa, indem sie, ganz wie es die Kinder tun, schon bei erster Bekanntschaft wahllos einer des andren Vor-Namen verwenden, auch Männer und Weiber untereinander, gleich 178
ob vermählet oder ledig; doch grüßen sie einander kaum jemalen mit nur der geringsten Geste, ausgenommen daß sie sich (bei erstmaliger Begegnung) die Hände drucken. Mein Gast-Herr lud bisweilen zum Mahle Freunde ins Haus, und ich fund all ihr Gebaren so wenig courtois, es war in der Tat müglich, mich ihnen allein mit dem Gemurmel Und das ist Dschoh vorzustellen (so nämlich riefen sie mich), und die Gäste mochten mehr nicht wissen, so daß ich darbei satzen und lauschen kunnte, ohne selbst ein Wort zu äußern. In jenem Maße, wie meine Keckheit wuchs, begab ich mich ohnbegleitet fort, manches Mal in eines ihrer Bildnis-Theatern, woselbst ich am Eingang das Entgelt entrichtete; oder ich machte Besorgungen in einem großen Laden, darin man alle müglich Waren sich auswählen und sie in einem Korb aus Metall zum Ausgang bringen kann, auf daß ein Dienst-Weib dort die Rechnung erstellet. Dahero gedieh es mir zur Gewohnheit, für meine Wirtin die Einkäufe zu erledigen, warob sie sich ungemein erfreuete. Die Bogen mit den Copien von Mr. Sympkins ReiseBeschreibungen, welche mir mit dem Kßerokß gemacht worden, verwahrete ich, nebenbei erwähnet, in einem Bündel im Innern meiner Maschine. Manche der Gäste, die zu meinem Gast-Herrn kamen, hatten Kinder, welche sie jedoch darheim zu belassen pflegeten, und ich erfuhr, daß allhie die Sprößlinge, ohngeachtet all des Unfugs, den sie sich mit ihren Eltern herfürnehmen, sich hart mühen müssen, denn schon, 179
wann sie kaum fünf Lenze zählen, beginnet ihre Schule, und sie währet, bis sie fünfzehn seind oder gar älter, allso bis sie Erwachsne. Die Dirnen gehn durch die gleiche Schule. So sie im spätren Leben einen angenehmen Platz haben wollen, müssen sie sich bewähren und vor Prüfern gut Zeugnus ihrer Tüchtigkeit ablegen, indem sie vielmalen lange Discurse für sie abfassen und auf zahlreiche schwierige Fragen Antwort erteilen. Die Älteren erlernen so manches an Natur-Philosophie, auf daß sie einstmalen all jene Wunder-Dinge beherrschen und lenken mögen, dank derer ihre Welt in steter Bewegung bleibet. Auch lernen sie fremde Sprachen, doch wenig Latein, und darzu vielerlei andre Sachen. Im September hatte mein Gast-Herr Geschäfte in London, und er nahm mich in seinem Auto mit dorthin. Und da erlebete ich eine weitre und ganz übermächtige Überraschung. Das London nämlich, wie wir’s kennen, war vollauf verschwunden und darhin, mit Ausnahme einiger Denk-Mäler, alle schwarz verrußt und derowegen kaum wiederzuerkennen, verschlungen in die Eingeweide einer Stadt, fast so groß als wie eine ganze Grafschaft, vollkommen angefüllet mit Häusern und andren Gebäuden. Nicht einmal in Anfängen vermag ich einen Begriff darvon zu vermitteln, wie sehr ausgedehnet sie ist, und der werte Leser wird mir ohnzweifelhaft keinen Glauben schenken, wann ich sage, daß ihr Durchmesser etwa fünfzehn Meilen beträgt und sie zum größren Teil beschmutzet ist von all dem Qualm. Des Nachts je180
doch wird sie sehr hübsch mit Lichtern in allen Farben erhellet. (Ein andrer Grund, warum es bei ihnen so selten zu Mord und Räuberei kömmt, ist darin zu erblicken, daß ihre Städte in den Nächten so hell seind wie am Tage.) Doch als ich die St.-PaulsKathedrale mittenmang zwischen riesigen Bauten, viele Hundert Schuh hoch, beinahe verschütt gangen sah, war ich froh, sobald ich der Stadt wieder den Rücken kehren kunnte. In jenem October fund nebst dem großen Wett-Streit in Japan allhier in Britannien eine große Wahl statt, darbei alle in Engeland und den benachbarten Landen für eine neue Regierung ihr Votum abgeben. Mich dünkte, nunmehro müsse es zu Aufruhr kömmen, doch obgleich die Kurirn allerlei darzu vermeldeten und commentireten, nahmen die Leut all die Vorgänge genugsam mit Gelassenheit auf. Am Ende gingen die Torys, welche in mehr denn einem Dutzend Jahre stets obsieget hatten, als Unterlegne draus hervor, und die andre Partei hatte den Sieg darvongetragen. Dahero sie verkündete, es stünden ohnerhörete Umwälzungen bevor, gleichwie sie durchaus nicht viel mehr Mitglieder im Parlament hatt als die Torys. Eines Nachmittages im September wollte das Schicksal es, daß meines Gast-Herrn schöne Gemahlin und ich gemeinsam versonnen hinaus in den Regen schaueten. Der Tag war ein Freitag, und sie sagete, sie wüßte allzu gern, ob es am Samstag schönes Wetter haben werde oder nicht, und zwar eines Ausfluges wegen. Ohnversehens sagt sie zu mir: Warum 181
reisen wir nicht in deinem komischen Apparat nach morgen, um nachzuschauen? Zunächst beschied ich sie abschlägig, zumalen ich sie darinn persuadiren kunnte, daß ich, so ich mich zum morgigen Tage versatzen tat, meiner eignen Wenigkeit begegnen müßt, und das wollte wohl ein übel Ding sein. Dann jedoch argumentiret sie: Wir könnten es doch mit dem frühen Morgen versuchen und dem Schlafzimmer fernbleiben. Allso gab ich endlich doch meine Einwilligung, daß ich am frühen Morgen des Samstags und auch in des Sonntages Morgenfrühe nach dem rechten sehn wolle. Darzu sagete sie Ja, aber gab darob keine Ruhe, sintemal sie mich zu begleiten wünschte, um diese Art und Weise, eine Reise zu tun, selbst auch einmal zu erleben. Für lange Frist ließ ich’s nicht an Bemühungen fehlen, ihr diese Absicht auszureden, aber zu guter Letzt erteilete ich meine Zustimmung. Wir zogen das Tuch von meiner Maschine und stiegen darein (woselbst wir eng zusammenrucken mußten), und ich bewegete Hebel und Zeiger. Dieweil ich merkte, daß sie darob kein Acht hatte, wie man diese hantirete, ward mir dann vollends ohnbesorget zumute. Alsdann druckte ich den roten Knopf, und sie schreit auf und klammert sich voller Forcht an mich, aber sogleich tröstete ich sie. Wir lauschten eine Zeit lang, doch war alles dunkel und stille. Darauf klommen wir hinaus und schlichen in jenes Zimmer, allwo der Fern-Seher stund. Die Nacht war leicht windig, Regen jedoch vernahmen wir nicht. Schließlich huscheten wir zu182
rück in den Vorbau und schlossen dortselbst die Türe auf, durch welche wir sodann in den kleinen Garten resp. Vor-Garten traten. Der Erd-Boden unter unsren Füßen war ein wenig feucht, aber es fiel in der Tat kein Regen. Am Firmament waren ein paar Sterne zu sehn, und durch die Wolken sah man auch einen Halb-Mond. Endlich schlichen wir Hand in Hand wieder in den Vorbau, schlossen ab und stiegen zurück in die Maschine. All die Ciffren und Zeiger sowie auch die Buch-Staben glommen im Finstren. Dahero vermochte ich die Maschine ohnschwer auf den Sonntag-Morgen einzustellen. Dieses Mal fanden wir hellen Mondes-Schein vor, und am Himmel ermangelte es aller Wolken; zudem war die Luft sehr lau, den Boden sahn wir trocken. Derowegen wähnten wir, es solle ein schönes Wochen-Ende geben. Sobald wir uns von neuem im Hause aufhielten, bat sie mich dringlich, mit ihr nochmalen jenes WohnZimmer aufzusuchen, auf daß wir des Mondes Anblick observiren möchten, ohne Entdeckung von draußen beförchten zu müssen. So genossen wir für eine ansehnlich Weile das Mond-Licht, und darbei fund ich meine Wirtin weitaus freundlicher denn bislang gemutmaßt. Nach einiger Frist jedoch (und ich für mein Teil mit gelindem Ohnbehagen) kehreten wir zum Freitag-Nachmittag zurück, und ich deckte meine Maschine erneut mit jenem großen Tuche zu. Unsere Vorher-Sage bewahrheitete sich getreulich, und wir hatten alle dreie am Wochen-Ende einen prächtigen Ausflug, doch verrieten wir ihrem Ge183
mahl nichts von unseren eigentümlichen Augurien. Von der Zeit an unternahmen sie und ich desöftren Voraus-Blicke in bezug auf des nächsten Tages oder folgenden Wochen-Endes Wetter, taten das jedoch stets bei Nacht. Wir waren uns unterdessen sehr wohl des Umstandes bewußt, daß wir in Gestalt zween andrer Leiber gleichzeitig droben in den Betten ruheten, und selbiger Gedanke bereitete uns in der Tat einen grausigen Kützel. Des Tages führeten wir uns anfänglich discret auf, dieweil immerzu Leut ans Haus kamen, um Waren zu liefern, Berechnungen vonwegen der Electricität anzustellen oder blos um an der Türe dies und jenes zu beschwatzen. Nach einiger Zeit allerdings wuchs unsre Hoffart zu groß, und wir fuhren im Auto zu Stätten, allwo man sie kaum kannte, und am Ende fingen wir gar an, uns stundenweis droben Amüsement zu verschaffen. Eines Nachmittages, indessen es auf November zuging, folgete ich ihr, nachdem wir just von einem Sortie in die vorherige Nacht wiedergekehret (denn mittlerweile waren wir so erkühnet, daß wir sogar derlei wägeten, doch achteten wir sehr darauf, in selbiger Nacht aus uns nicht etwa drei Paar zu machen), abermals hinauf ins Schlafgemach, ohne zuvor meine Maschine zu verhüllen, und gerade hatten wir erneut uns mit Küssen zu bedecken angefangen, als ihr EheGemahl (der früh heimgekehret sein und ohnbemerkt die Stiege erklommen haben mußte) darzwischen sprang. Er warf mich die Stufen hinab, so daß ich mir ums Haar den Hals gebrochen hätt. In meiner Ver184
wirrung taumelte ich in den Vorbau und in die Maschine, und ohne erst lange zu verschnaufen, versatzete ich sie zwei oder drei Achtel-Meilen die Straße aufwärts. Und darmit beging ich einen Fehler, dieweil ich ohnverzüglich im Innern meiner Maschine einen Pfosten aufragen hatte, wie sie an Stellen stehn, allwo die Busse halten, und darzu auch ein altes Weib, das schrie als wie am Spieß. Ich stieß sie hinaus, und sie fleuchete die Straße entlang, mit Geheul wie Mordio, zu Hülfe, Mordio! etc. verstreuete indessen aus ihrem Korbe sämtliche erworbnen Waren. Darob besann ich mich auf meinen Verstand, betrachtete aufmerksam die Platten, sorgete alsdann darfür, zurück in jene Art von Schul-Einrichtung zu kehren, woselbst ich das erste Mal angelanget, zugleich aber auch in meine Zeit, darwo die Scheuer stund. Ich stellete die Zeiger auf die genaue Stunde ein, da ich erstmals unser Dorf verlassen, sintemal ich mir dachte, ein frührer Zeit-Punkt sei fährlich, dieweil ich mir selbst begegnen möchte, ein spätrer Zeit-Punkt auch nicht ohngefährlich, dann nämlich müßten die Dörfler mein Fortsein bemerkt haben und täten mich mit Fragen bedrängen; und im Falle jemand meiner Maschine ansichtig worden wäre, hätt ich gewißlich zu erwarten gehabt, wegen Hexerei vors Gericht geschleppt zu werden. Mit knapper Not kam ich darvon, denn derweil ich an den Zeigern drehete, sah ich auf der Straße schon einen Bus sich nahen. Als ich den roten Knopf gedruckt, ward ich nahe185
zu von Ohn-Macht überwältiget, und eine förchterliche Benommenheit suchte mich heim, schlimmer noch als jemalen zuvor. Nichtsdestotrutz hatt ich soviel Witz, dessen zu gedenken, daß ich an dieser Statt und in diesem Augen-Blick schon zweimal gewesen, und daß, wann ich blos ausharrete, meine zween andren Ichs sowie deren Maschinen verschwinden wollten, zum einen in die Zukunft, zum andren nach jenem frühen Morgen elf Stunden vorher. Und tatsächlich wichen Benommenheit und Schwäche zuletzt von mir. Ich sperrete die Maschine, indem ich den Hebel verschob (Zumindest eine gewisse Sicherheit, dachte ich insgeheim), streifte sodann meine neue Kleidung ab (darvon ich inzwischen mehrere Garnituren besaß) und zog wieder meine alten Kleider an; und indem ich alles andre, auch Sympkins Reise-Beschreibungen aus der Kßerokß, in der Maschine beließ, entfernete ich mich ohnauffällig die Straße entlang. Ich eilte heim, so rasch mir müglich, dieweil ich nunmehr einen Plan ersonnen, nämlich mich in andren zukünftigen Zeiten oder gar in der Vergangenheit umzusehn, mich zuvörderst jedoch vermehrt mit Gütern (darvon mir noch verblieben) auszustatten, um mir dort den Unterhalt gewähren zu können. Zum Unglück begegnete ich unterwegs einem Alten, der mich wohl kannte, und er schwatzte mit mir ich weiß nicht was für Firlefanz, reichlich zehn Minuten lang. Am Ende kunnte ich das Weite suchen, nahm einen Schub-Karren, und lud feine Kleider, drei Pistolen, Bestand-Teile 186
von Janssonius’ Atlas sowie etliche Juwelen und danebst auch einen Spiegel auf. Mit alldem begab ich mich flugs zurück zur Stelle, daselbst ich die Maschine gelassen, aber sie war fort. Dieweil ich sie abgesperret hatte, folgerte ich bei mir daraus, daß der Zauberer gekommen und mit der Maschine verschwunden sein mußt. Und so blieb mir nichts andres übrig, als den Schub-Karren wieder heimwärts zu rollen und mein Zeug traurig abzuladen. Ich war ärmer um etliche hundert Pfund (A.D. 1964), die Blätter mit Sympkins Reise-Beschreibungen sowie einige Garnituren Kleider geworden, aber reicher um mancherlei Erinnrungen, eine Armband-Uhr und das Wissen um eine ohngeahnte Zukunft.
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DIE UNENDLICHE WAHL
Kann der Mensch, dieser anmaßende Schmarotzer im Sonnensystem, die Gesetzmäßigkeiten seiner Bestimmung umstoßen?
Irgend etwas mit dem Fünfzehn-Kilometer-Linearbeschleuniger war schiefgegangen. Die Öffentlichkeit war um keinen Deut klüger geworden, nachdem Presse, Rundfunk und Fernsehen ihre Eindrücke von dem verbreitet hatten, was nichts anderes war als des offiziellen Pressesprechers Auslegung der von den Nuklearexperten gelieferten Version ihrer eigenen Mutmaßungen. Um 1980 hielten die Dispute noch immer an. Naverson Builth merkte von allem lediglich, daß er im einen Augenblick das erste einer neuen Reihe von Experimenten vornahm, im nächsten Moment jedoch auf dem Rücken lag, und die Halle war völlig verlassen. Außerdem waren allem Anschein nach eine Anzahl neuer Instrumente und Apparate vorhanden, und man hatte ihr einen anderen Anstrich verliehen. Totenstille herrschte. Die Halle war beleuchtet, aber ziemlich schwach. Naverson versuchte es mit Rufen. Er stellte fest, daß er unversehrt war, und ging schließlich zu den Türen. Sie waren verschlossen. Er sah sich nach der Gegensprechanlage um. Sie fehlte. Weder vom Gerät 188
noch vom Anschluß ließ sich eine Spur finden. Er rief noch und hämmerte an die Türen, als aus dem Nichts ein großer, metallener Greifarm erschien und ihn packte. Etwa sechs Meter hoch beförderte er ihn durch eine schwenktürähnliche Öffnung und setzte ihn auf einem Boden ab, von dem er sich nicht entsinnen konnte, daß es ihn an dieser Stelle und in dieser Höhe überhaupt gab. Eine lange, mit Gelenken versehene Stange näherte sich und betastete ihn rundum, während Klammern seine Arme und Beine festhielten. Die Stange knackte wie zum Zeichen des Mißfallens und faltete sich zusammen. Vom Dach herab ertönte eine blecherne Stimme. »Nambiete«, sagte sie. »Wer zum Teufel sind Sie, und was zur Hölle glauben Sie eigentlich, was Sie hier mit mir machen können?« schnauzte Naverson. »Ich war in der Halle bei der Arbeit, und plötzlich war ich ganz allein. Was haben Sie mit der Sprechanlage angestellt, und wozu werde ich hier von diesen Maschinen herumgezerrt? Wie lange bin ich überhaupt schon hier?« »Nambiete.« »Sprechen Sie eigentlich englisch? Zum Teufel, wer sind Sie?« »Nambiete.« »Parlez-vous français? Qu‘est-ce que l’on fait alors dans cette galère?« »Nambiete.« »Govoritye li vy po russki?… Türkiyizce konushurmusunuz?« »Äsmol Nambiete.« 189
»Habla Usted espanol… Paria italiano?« »Biete äst Nam.« »Sprechen Sie deutsch? Um Gottes willen, was ist hier los?« »Namunnadressbiete.« »Scheren Sie sich sonstwohin. Ich kann kein Wort von dem verstehen, was Sie reden.« Schweigen. Die Klammern drückten seine Gliedmaßen fester nieder, und eine andere lange Stange schob sich heran. Kurz vor ihrem Ende war ein winziger Spiegel oder eine verglaste Öffnung, und dem gegenüber befand sich eine kleine Greifschere. Damit ertastete sie sich den Zugang zu den Taschen seines Overalls und zog mehrere Gegenstände heraus, die es anscheinend untersuchte. Endlich bekam sie einen Briefumschlag zu fassen, auf dem sein Name und seine Anschrift getippt standen. Der Umschlag fand langsame, lückenlose Aufmerksamkeit, Begutachtung von beiden Seiten, sowohl von oben nach unten wie auch seitwärts und rechts oben, den Poststempel (der ausnahmsweise leserlich war) eingeschlossen. Dann steckte die Stange den Umschlag zurück in seine Tasche und faltete sich zusammen. Der große Greifarm, der Naverson noch immer fest im Griff hatte, schwenkte ihn aufwärts und in eine Wandnische und rüttelte ihn, bis auch seine Füße drin waren, dann glitt eine Tür zu. Die Nische schoß nach oben wie ein Lift, hielt, eine Tür an der anderen Seite glitt beiseite, und er blinzelte in einen engen, in blendender 190
Helligkeit erleuchteten Raum. Ein kleiner, alter Mann mit rasiertem Schädel und hellblauer Kleidung saß an etwas, das wie ein Pult mit Schaltern und Hebeln aussah. Er hatte sich der Nische zugewandt und nahm gerade einen Schluck aus einer sonderbar geformten Flasche, die er danach am Boden abstellte. Verkrampft kletterte Naverson hinaus, befühlte seine Arme und Beine. »Zum Donnerwetter, was hat das alles zu bedeuten? Wer sind Sie, und was treiben Sie hier im Institut? Ich habe Sie hier noch nie gesehen, und anscheinend stellen Sie hier mit den Geräten lauter Blödsinn an.« »Hamsbietenmomangjedold«, erwiderte der kleine Alte freundlich, aber nachdrücklich, indem er Naverson musterte. Es war dieselbe Stimme. »Ich verstehe Sie nicht. Ne comprends pas. I don ‘t understand you. Ya ne ponimáyu. Anlamiyorum. No capisco. No entiendo.« »Watensbiete.« Der Alte drückte einen Knopf und rief etwas. »Eendränglingin Halldrai. Janzmähwürdsch. Uraltklamotten. Uralt Umschlach d’bei, Namunjefähr Neewersn Büld, uralt Schrüft, Poschdschdembel schätzswaise eensnoinsievenzwo. Verschdehd nüchunsre Schbrach … Biete waitre Ahnwaisungen.« Eine blecherne Stimme knisterte eine Antwort. Er drückte einen anderen Knopf. Metallarme ergriffen Naverson. Kurzer Schmerz in einem Ohrläppchen. Bewußtlosigkeit. 191
Naverson erwachte in einem Strudel geistiger Wirrnis. Man entfernte Klammern von seinem Schädel, den man geschoren hatte. Er war nackt und lag auf einer Couch. Ein paar Anwesende – davon gut die Hälfte (zu seinem Schrecken) anscheinend Frauen – begutachteten Diagramme und handhabten Schaltknöpfe. Die Räumlichkeit war noch kleiner als jene, die er vorher gesehen hatte, und noch heller beleuchtet. Die Temperatur betrug etwa 30°. Er entdeckte, daß er die Unterhaltungen der Personen, die ihn umgaben, im großen und ganzen verstehen konnte, obwohl manche ihrer Hauptwörter und auch Zeitwörter reichlich seltsam ausfielen. Die Anwesenden trugen einteilige, milchige Kleidungsstücke, die einen Großteil ihrer Gesichter verhüllten, aber über den Augen durchsichtig waren. »Wo bin ich?« fragte er; oder vielmehr äußerte er in der Sprechweise der Anwesenden »Wobinni?« (sinngemäß: Wo da?), aber die Absicht blieb dieselbe, und wir können von nun an übertragene Fassungen verwenden. Doch sollte man keineswegs etwas anderes annehmen, als daß unsere Fassungen mehr sind als sehr freie Übersetzungen … »Im Glossopsychischen Zentrum«, sagte eine Stimme hinter seinem Kopf, die – wie sich herausstellte – einem jungen Mann gehörte, der dort stand. »Anscheinend stammen Sie ungefähr aus dem Jahr eins-neun-sieben-zwo. Wahrscheinlich durch Unregelmäßigkeiten im Sub-Quark-Bereich des Linearbeschleunigers zu uns verschlagen, Jahr zwei-drei-vier192
sechs. Linguistische Parallelisierung erreicht. Ihr Fach, bitte?« »Fach. Elementarteilchen-Analyse.« »Vielleicht zu gebrauchen … Hier ist Anzug bereit, bitte anziehen.« Naverson stieg in das durchscheinende Kleidungsstück, das man offenbar für ihn maßgefertigt hatte. »Hunger«, sagte er. Zehn Monate später – nach Monaten intensiver Schulung – nahm er einen Posten in der neuen Weltregierungs-Behörde für Direkte ParameterKontrolle (»Drek Prametr Kontrl«) ein. Dafür dankte Naverson dem Himmel. Die Weltbevölkerung zählte nun ungefähr vier Millionen Millionen, und das Los der meisten Leute, die unter dem wachsenden Druck ihrer immer größeren Masse standen, war wenig beneidenswert. Eingesperrt in eine kleine Kabine (mit allem Stand.-Komf.) in erdteilumspannenden, vielstöckigen Kasernen, die nur am Meer und an den Bergen Grenzen hatten, ernährten sie und ihre Kinder sich von einer durch Rohrsysteme gelieferten Algenbrühe und wurden »unterrichtet«, überwacht und unterhalten durch riesige TV-Apparate. Sie wurden nach dem zweiten Kind pflichtgemäß sterilisiert und sahen nie natürlichen Sonnenschein, außer wenn man sie während der ersten dreißig Erwachsenenjahre einmal in fünf Jahren zur Schwerarbeit im Freien einzog. Die überwiegende Mehrheit kannte nichts, wofür es sich zu leben, und nichts, wofür es sich zu 193
sterben lohnte. Sobald man Kinder zu Erwachsenen umstufte (aufgrund der schlechten Ernährung erst mit 24), mußten sie sich ein anderes Zuhause suchen, und die Meldeamt-Computer teilten sie einem neuen Wohnblock zu, der auf einer weiteren Ebene errichtet war – auf den alten Flachdächern oder in einer neuerschlossenen Sektion am Rande des nächsten Vorgebirges. Dachwohnblocks gab es jedoch nur wenige, denn sie waren schwierig zu bauen, weil sie vielfach mit dem Luftverkehr, den obenauf gelegenen interplanetaren Raumhäfen sowie den Sonnenenergiekollektoren unvereinbar blieben. Die Entlastung, wie sie Siedlungen auf dem Mars, der Venus und dem Mond boten, war geringfügig. Nur die aktiveren und tüchtigeren Arbeitskräfte, die Meeresfarmer und höheren Geistesarbeiter, hatten mehr Bewegungsfreiheit, mehr Raum, mehr Betätigung und eine größere Auswahl an Nahrung. Naverson, bei der Direkten Parameter-Kontrolle tätig, gehörte dazu. Ob er es nun seinem unzweifelhaften Genie (gegen Ende der 1960er Jahre war er als atemberaubend vielversprechender junger Mann von der Uni abgegangen), einem Stimulationseffekt des Zwischenfalls, der ihn in die Zukunft verschlagen hatte, oder der zerebralen Beeinflussung verdankte, der er im Glossopsychischen Zentrum, wo man ihm die Sprachbeherrschung imprägniert hatte, unterzogen worden war, (oder allen drei Umständen gemeinsam), auf jeden Fall hielten seine Prüfer ihn für fähig, den gesamten relevanten Fortschritt, der zwi194
schen den Jahren 1972 und 2346 in der subatomaren, Sub-Element.-Partik.-(Quark-), Subquark- und HypoSubquark-Physik korrekt nachvollziehen zu können. Er machte die Entdeckung, daß der Glossopsych.Med. (der natürlich von nichts, was außerhalb seines Fachgebiets lag, einen blassen Schimmer hatte) sich geirrt hatte, als er seine Zeit-Versetzung lediglich subquarkischen Vorgängen zuschrieb – nichts von größerer Ordnung als Hypo-Subquark-Phänomene konnte daran schuld sein … Den kleinen Alten hatte er übrigens nie wiedergesehen; er war bloß der Nachtwächter des alten Beschleunigers gewesen, der inzwischen längst automatisch funktionierte. Die meisten von Naversons neuen Kollegen jedenfalls waren auf dem Gebiet der Direkten ParameterKontrolle (für die sich schließlich das Kürzel DPK durchsetzte) neu und infolgedessen geistig ermutigend unverbraucht. Man hatte einen offiziellen Einführungsvortrag veranstaltet, das sogenannte PepPalaver, das alle in Schwung bringen sollte, und es hatte sich ungefähr wie folgt angehört: »Also, Sportsfreunde, die Arbeit der DPK fängt da an, wo die komplexe allgemeinphysikalische Kontrolle zu kostspielig oder zu ineffektiv wird. Im Moment müssen wir unseren Weg zwar noch ertasten, aber wir erwarten Verzweigung in viele Unterabteilungen. Statistische Größen sind normalerweise schlecht im Feldversuch zu gebrauchen, dagegen ganz gut bei molekularen Manipulationen, am besten in bezug auf genetisches Material, mittelprächtig be195
züglich Organismen und kleineren Lebensgemeinschaften. Das übliche Rangehen erfolgt durch den Subquark-Bereich. ›Direkte Kontrolle‹ ist eigentlich als Bezeichnung ein Mißgriff. Verschiebungen im quarkischen und subquarkischen Bereich beeinflussen die Parameter-Bewertung, Forschung, Anwendung, Public Relations. In der Praxis werden viele von Ihnen in mehreren Abteilungen tätig sein. Grundsätzliche Fragen?« Einige Monate später sah sich Naverson der im Entstehen befindlichen Unterabteilung Alterskontrolle (»Aldrskontrl« oder Ak) zugewiesen. Seine Rolle pendelte sich zuletzt auf die eines Forschers mit Nebenaufgaben in der Anwendung und PR ein. »Sehen Sie«, erläuterte er zwei Jahre danach einem umgänglichen Mitarbeiter des Gesundh.-Min. »die Geriatrik hat versagt; sie war nicht imstande, die Lebenserwartung um mehr als achtzehn Prozent zu steigern, und die Erwartung des aktiven Lebens nicht mal um mehr als zwölf Prozent. Unser Ziel sind jetzt direkte Parameter. Relevante Parameter des Alterns zeigen sich in drei Quasi-Dimensionen als Verformungen einer Spirale. Ein Organismus beginnt seinen Lebenslauf bei der Zeugung auf breiter Basis, entwickelt sich mit konstantem Gradienten an der Zeitachse entlang spiralenförmig aufwärts und wächst in Spitz- oder Kegelform in jeweils individueller Zuspitzung bis zum buchstäblichen Punkt des Todes.« »Warum Spirale und keine gerade Linie?« 196
»Eine gerade Linie hat kein Ende. Zyklische Windungen einer Spirale korrespondieren mit zyklischen Effekten von interner/externer Umwelt, zum Beispiel dem Jahresverlauf. Komparative Umkreisausdehnung korrespondiert mit komparativer subjektiver und physiologischer Zeit.« »Sie meinen so was wie Länge von Stunden in der Kindheit?« »Genau. Kinderzeit-Stunden vergehen wie Erwachsenen-Wochen, mit Erreichen höheren Alters fliegen die Jahre nur so vorbei, während sich die Heildauer verlängert, deshalb dreht sich die Spirale einwärts, ihr Umkreis nimmt ab. Bei Nulldurchmesser und Nullumkreis ist Heilung unendlich langsam, Subjektivzeit unendlich schnell, also Tod … Die Breite der persönlichen Lebens-Basis und die allgemeine Zuspitzung des Spiralkegels hängen ab von Genus, Rasse, Gattung, Genen. Einfluß haben auch Bedingungen von Zeugung und Schwangerschaft, auch Strahlung, Krankheiten, Unfälle. Schwache Strahlungseinflüsse bringen Durchmesser zum Schrumpfen, Krankheiten buchten Kegel ein, Unfälle verengen ihn ganz plötzlich, Genesung beult ihn gewissermaßen wieder aus. Zylinder längs der Zeitachse würde Unsterblichkeit bedeuten!« »Wie hätte das zweiundzwanzigste Jahrhundert solche Erkenntnisse begrüßt!« »Ja, Sie meinen, als Computer jährlich die individuellen Gesundheitsfaktoren eingeschätzt haben, als man Diagramme und Tabellen mit prozentualen Ver197
änderungen unterschiedlicher Todesursachen für mehrere Jahre im voraus erarbeitet hat?« »Genau. Zum Beispiel starker Zigarettenraucher, Alter zwanzig, Wahrscheinlichkeit im Alter von achtzig Jahren an Altersschwäche zu sterben fünf Prozent, durch Bronchialkrebs mit fünfzig gleich dreißig Prozent, durch Magenkrebs mit dreißig gleich zehn Prozent, oder mit fünfundzwanzig durch Verkehrsunfall, Panik, Suizid oder Drogen gleich fünf Prozent.« »Nun wollen wir die Vitalität direkt beeinflussen, das Leben verlängern, die Computer reinlegen.« »Für welche Klassen von Personen?« »Manager, Direktoren, Spitzenkräfte der Regierung. Später höhere Geistesarbeiter?« »Welches Vorgehen?« »Drei Möglichkeiten. Erweiterung der Kegelbasis, Steilermachung der Kegelseite, Abflachung der Spiralen-Zuspitzung. Erster Versuch gilt Verbreiterung der Kegelbasis, betrifft also Zeugung. Kleintiere. Subquark-Methode. Sub-Bestrahlung der elterlichen Keimdrüsen. Hoffe auf Bereitschaft ausgesuchter Eltern der Manager-Kaste in einem Jahr.« »Welcher Prozentsatz an Zeitgewinn?« »Anfangs zehn Prozent Zuwachs? Erhoffe späteren kumulativen Fünf-Prozent-Effekt mit jeder Generation infolge nur einer Dosis, falls ‘n Trick zu finden.« »Für nutzlose allgemeine Bevölkerung wäre längeres Leben untragbar!« Auf jeden Fall sollte es 198
nicht sein. Forschungen hinsichtlich der Möglichkeit einer Kegelbasis-Ausweitung führten lediglich zu Resultaten wie allzu schwächlichen Fliegen, übergroßen Pilzen, fötushaften Mäusen sowie – nach überlangen Schwangerschaften – subinfantilen Affenkindern. Die Mäusemütter und Affeneltern, die die Tragezeit überlebten, vernachlässigten ihren Nachwuchs; letzterer mißriet zu asozialen Geschöpfen, die ihre 110-prozentige Lebensspanne als Elend für sich selbst und Plage für ihre Artgenossen zubrachten. Builth, inzwischen Leiter der Forschungsgruppe der Unterabteilung, verlegte sich auf die Möglichkeit des Kegelwinkel-Steilermachens, von der die Leute von der Parameter-Bewertung nun ein klares Bild hatten. Fünf Jahre später hatte er die Antwort im Sub-quark-Bereich gefunden: einen winzigen Transmitter von Sub-quarkonen, der seine unendlich kleinen Produkte, wenn man ihn so früh wie möglich in die Hypophyse pflanzte, durch den gesamten Organismus schicken und innerhalb weniger Wochen – so erwartete man – die Gene und das somatische Plasma jeder einzelnen Körperzelle beeinflussen würde, und der Transmitter sollte an Ort und Stelle gelassen werden. Allerdings war auf diese Weise kein kumulativer Effekt zugunsten späterer Generationen zu erzielen. Zum Unglück stellte sich jedoch heraus, daß sich bei 40 % der Experimente mit höheren Tieren nach im Kindesalter vorgenommener Implantation des Transmitters eine psychopathische Persönlichkeit 199
entwickelte. Die Implantation bei Erwachsenen verursachte Mosaikeffekte, so daß manche Zellen hartnäckig bei ihrem normalen Alterungsprozeß blieben. Bei über 30 % der höhertierischen Individuen, mit denen man diese Versuche anstellte, beeinträchtigten diese Mosaikbildungen den Organismus schon in mittlerem Lebensalter in erheblichem Umfang und verursachten unangenehme Fehlfunktionen, von denen spastische Anfälle und einige Arten von Krebs bloß zwei von zahlreichen Manifestationen waren. »Sportsfreunde«, sagte Naverson Builth in formellem Vorgesetztentonfall zu seinem Forschungsteam, »nun müssen wir’s mit Parameter drei versuchen: Spiralengradient. Vor einem Monat hat sich der DPK-Direktor einverstanden erklärt, unsere PBSportsfreunde auf den Gradienten anzusetzen.« »Aber das bedeutet Hypo-Sub«, rief Eck. »Genau! Hypo-Subquark-Transoszillationen notwendige Grundlage … Kein Schaden, jetzt damit loszulegen, uns gut vorzubereiten, bis die ParameterBewertung Resultate vorlegt.« Zwei Jahre später warteten die Leute von der PB mit der Lösung auf: die ganze bekannte physische Welt war ein und demselben Entwicklungsmaß oder »Gradienten« unterworfen, nämlich der natürlichen Zeitrate. Ihre Verknüpfungen mit der Entropie waren vielschichtig, aber die Grundrate stand fest. Elf weitere Jahre dauerte es – elf Jahre, in denen Naverson Spiralengradientik sozusagen lebte, aß und damit schlief –, bis seine Hypo-Unterabteilung auf 200
ihre Lösung stieß: die einzige Hoffnung bestand aus Infra-Hypo-Subquark-Shunts, weil im IHSQ-Bereich die fundamentale Struktur der Zeit lag. Im Ergebnis ihrer Forschungen kamen einige erstaunliche Dinge heraus. Eines Tages fachsimpelte Mank Schowk (Domenico Schukow) mit Naverson. »Einziger Grund, warum wir Vergangenheit nicht sehen/hören können, ist die Rückgangsgeschwindigkeit c, durch die ihre Signale einer transfiniten Rotverschiebung unterliegen und mit Nullenergie eintreffen.« »Und Zukunft?« »Noch nicht existent. Ständiges Entstehen von Zeit, immer vom Nullvolumen Gegenwart aus. Oder umgekehrt, Gegenwart bewegt sich mit Geschwindigkeit c in die Zukunft.« »Erklärung wieso?« »Vierte räumliche Dimension. Ein Moment vor achteinhalb Minuten ist in der vierten Dimension eine Astro-Einheit weit weg. Ein Moment vor einem Jahr ist längs der vierten Dimension ein Lichtjahr weit entfernt.« »Dann werden wir Zukunft oder Vergangenheit niemals erforschen können?« »Nicht in Supra-IHSQ-Bereichen. Wahrscheinlich auf keiner praktischen Ebene, innerhalb der nächsten fünfzig Jahre sowieso nicht.« »Und bei den heutigen Zuständen in der Welt gibt’s dafür weder fachliche Gründe noch Geld.« In vierzehn weiteren Jahren, nach denen Naverson 201
sich im mittleren Alter und leicht im Ergrauen befand, entdeckte man – zumindest auf gewisse Weise – einen Ausweg: man unterwarf die Laborratten, umgeben von Palladium-Windungen, einem um 0,01 % flacheren Gradienten, so wie vom Computer taxiert – und sie verschwanden ganz einfach; sie hörten auf, mit dem Rest des bekannten Universums eine Verbindung zu unterhalten, außer momentan begrenzt, und daher waren sie nicht mehr wahrnehmbar … »Flatch«, rief der Direktor am Visifon seinem gleichrangigen Kollegen bei der Bevölkerungsbehörde zu, »unsere Ak-Sportsfreunde haben für Sie einen Wunkun gebaut.« Ein »Wunkun« war der zur Zeit geläufige Begriff für ein Unheil mit positivem Ausgang, eine unselige Angelegenheit, die letztendlich doch noch etwas Gutes erbrachte: das häßliche Entlein, das in Wirklichkeit nichts anderes war als irgend jemandes Schwan, der goldene Eier legte. Die Bezeichnung war vom Namen des Chefs abgeleitet worden, der vor einem Jahrhundert die Expedition um die Venus durchgeführt hatte. Die halbe Oberfläche des Planeten war dabei zertrümmert worden (ebenso wie das Raumschiff), so daß man auf dem Planeten hatte landen und ihn schließlich bewohnbar machen können. »Raus damit. Habe jetzt Suizidtendenzen. Erde ist nur noch drei Generationen davon entfernt, ausschließlich Stehplätze zu haben. Krawalle und Virusepidemien monatlich mehr. Ähnlich wie der Zusammenkrach im einundzwanzigsten Jahrhundert, bloß 202
diesmal ausweglos.« »Bitte um Besuch. Sicherheitsstufe.« »Geht klar. In fünfzehn bis fünfundvierzig Minuten recht?« »Besser zwanzig bis sechzig.« »Völliger Unmög. Zwanzig bis fünfzig?« »Recht.« Als Flatch Bemp (d.h. Flotsham Bassompied) aus der Sahara eintraf, hatte DPK-Direktor Kulf (»Kulluf« gesprochen) Gren (d.h. Kinloch-Grattan) eine Dosis Lysergibenzedrin für ihn bereitliegen. »So«, sagte er, »jetzt ruf ich Nevzen Bewk an, tüchtiger Mann – kann Ihnen das schnell erklären.« Auf dem gesicherten internen Visifon-Bildschirm erschien Naverson Builths Konterfei. »Nev, hier’s Flatch Bemp, Direktor der Bevölkerungsbehörde.« Naverson nickte, eine Begrüßung, die in diesem Zeitalter als unterwürfig galt. Flatch zuckte nur mit der linken Braue. »Vielleicht hat die Bevölkerungsbehörde ‘ne Anwendung für Ihre Faxen. Bitte die Erklärung.« Naverson erläuterte, daß man nun dazu imstande sei, einem Organismus, abhängig vom Grade des Shunt, jeden beliebigen Gradienten zu verleihen. »Auch steiler?« erkundigte sich Flatch. »Auch steiler – also Alterung beschleunigt. Bei Abflachung langsamer.« »Wieviel Gradienten total?« »Unendlich. Einzige Beschränkung besteht in Prä203
zision von Operationen der Infra-Hypo-SubquarkInstrumente.« »Praktisch ausgedrückt?« »Sagen wir, 105 bei Abflachung, 108 bei Ansteilung. Technisch möglich auch Erstellung Nullgradient oder Negativgradient, entsprechen ewigem Leben und Regression in die Kindheit beziehungsweise Rückwärtszeit, menschlich betrachtet sinnlos. Die 105 Abflachungen aber positiv.« Flatch breitete die Arme aus, in dieser zusammengerückten, beengten Welt eine ärgerlich extravagante Gebärde, aber durch die Aufmunterung dank der L.Dosis und die Umstände des Augenblicks fühlte er sich dazu unwiderstehlich veranlaßt. »Heureka! Wie den Shunt anwenden?« »Spiralenumwundener Hohlraum. Jedes Alter.« »Größenlimit? Gehen mehrere gleichzeitig rein?« »Sagen wir, siebzig Meter im Kubik. Vierunddreißigmal 104 Kubikmeter.« »Also geht ‘ne Masse rein?« »Möglich. Vielleicht in einem Jahr zu sagen.« »Heurekest! Freiwilligen-Familien selektieren, Lebensraum versprechen, dann Shunts durchführen, Weltbevölkerung mindestens durch 105 teilen! Allen hier Top-Privilegien, Himmel auf Erden!« Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht… »Unverzüglich Sicherheitsstufe, Schweigepflicht, Todesstrafe, verstanden?« »Restliches Team?« »Zeitweilige Geheimhaltung gegenüber unteren 204
Mitarbeitern. Hä, Kulf?« »Recht. Sie bearbeiten jetzt Projekt X, Nev. Bleibt er hier, Flatch?« »Genau, am besten dort bleiben, Kontakt zu mir über Sie, Kulf.« »Recht.« Es beanspruchte zwei Jahre, die Anwendungsgrenzen der IntraSpiralen abzustecken. Sie bewährten sich an Elefanten und Mammutbäumen (komplett mit Wurzeln), ebenso an Familien von Zoobären und Ziegen (die meisten Landtiere lebten heutzutage in Zoos oder Labors, ausgenommen die landwirtschaftlich nutzbaren Tiere, die zu wertvoll waren, um verschwenderisch damit umzugehen). Als praktikables Limit erwies sich eine Sphäre von 97 m Durchmesser. Das Gradientendichte-Limit stellte sich als 105 X 2 Kanäle für die »flacheren« und über 107 für die »steileren« Gradienten heraus. Flatch Bemp hegte ethische Bedenken dagegen, Menschen in einen Gradienten mit kürzeren Lebensspannen zu schicken, und auch dagegen, die Lebensspanne auf mehr als 300 Jahre auszudehnen (und wer würde sich für außerhalb der Grenzwerte befindliche Gradienten überhaupt freiwillig melden?). Deshalb gab er sich mit den weniger flachen der abgeflachten Gradienten zufrieden, und dadurch sank die Zahl der Kanäle auf unter 104. Trotzdem bedeutete es einen Hoffnungsschimmer, die gegenwärtige Weltbevölkerung durch rund zehntausend zu teilen. 205
»Falls wir sie schnell genug loswerden können«, munkelte Naverson. »Weiß Flatch, was wir reinschicken werden?« näselte Mank. »Fowp ist der beste Theoretiker. Er und Eck sagen, jeder Gradient umfaßt eine Manifestation gleichartiger, vielschichtiger Realität, in jedem Gradienten existiert eine makrophysikalische Welt. Wir müssen nur für eine von Anfang an ausreichende Bevölkerungsdichte sorgen, genug Spezialisten, hydroponische Anlagen, Kulturen von Bodenbakterien, Ultraschall-Bimser, Algen, Fischlaich … dann wird innerhalb drei Generationen eine Zivilisation aufgebaut.« »Völlig auf Freiwill-Grundlage, Kulf«, sagte zwei Zimmer weiter Flatch. »Wir bieten weltweit Zeitgradienten-Auswanderung an. Viel Freiwillige, zähe Pioniere, Freigeister, Klaustrophoben, Menschenfeinde. Detaillierte Informationen nötig. Computer müssen Potential einschätzen, Störer aussieben, geeignet vielfältige Shunt-Gruppe zusammenstellen, ausgewogene Gradienten-Bevölkerung. Einzelheiten müssen bevorzugte Lebensspanne ausschließen, bei Jugendlichen klären, ob Eltern mitgehen oder bleiben. Kann nicht ‘n Teen, ‘n Twen und ‘n Fünfziger in denselben Gradienten schicken und erwarten, daß sie alle gleich lang leben.« Gedämpft lachte er albern vor sich hin. Gekoppelte Reihen von Computer-Anlagen erarbeiteten Dichten und eine Zeit-Logistik, um die Här206
ten der Auswanderung zu minimieren. Unterdessen hatten Naversons Leute (er leitete nun die ganze Unterabt.) eine Anzahl von Shuntern errichtet, einen für jeden zur Besiedlung freigegebenen Gradienten. Die Massenbeförderung von Menschen war billig, und es war ihnen lieber, das Projekt im jetzigen Stadium nicht zu dezentralisieren; außerdem war es für die Auswanderer günstiger, drüben alle an einer Stelle zum Vorschein zu kommen, von der aus sie sich ringsum ausbreiten und wo sie ihre PionierVersammlungen abhalten konnten. Wie vorgesehen wählte man die Auswanderer aus und schickte sie ins Unbekannte. Man schaffte eine Verschickungsrate von 10000 täglich und übertraf damit die Voraussage von Flatchs Logistik-Experten um den Faktor 10, aber im Vergleich zur Geburtenrate war dieser Abgang noch ohne Belang. Vier Jahre später – Jahre intensiver internationaler Verhandlungen und erheblicher Anstrengungen – standen tausend Shunter-Batterien in Betrieb, und die Abgangsrate (inzwischen bei jedem einzelnen Shunter verbessert) betrug weltweit insgesamt dreißig Millionen. Zu guter Letzt verschickte Naverson, nunmehr ein vorzeitig gealterter Mann von siebzig Jahren, durch 30 000 an den Randzonen der bewohnbaren Erdkugel aufgestellte Shunter-Batterien täglich 7000 Millionen, eine Rate, von der man annahm, daß sie den gegenwärtigen Geburtenüberschuß nahezu ausglich. Dies »Plateau« erreicht zu haben, glaubte Naverson, war eine echte Errungenschaft. Die Shunter-Batterien befan207
den sich fast ausnahmslos in dünn besiedelten Hochlanden abseits sogar der Ausläufer all der ausgedehnten Kasernenbauten-Komplexe, wo man große Sammellager einrichten konnte und die Auswanderer, wenn sie drüben waren, bei ihren Beratungen einen verheißungsvollen Ausblick auf die Ebenen hatten. Die Szenen, die sich in den riesigen Sammelgebieten boten – wie man jede zugelassene Familie mit ihrem Minimum an Habseligkeiten in Empfang nahm, in den Listen abhakte, impfte, mit Erstrationen, Waffen und Werkzeugen ausstattete, wie sie dann an ihrem Platz zwei Tage lang wartete, man sie anschließend noch einmal auf Infektionen untersuchte, vorrücken ließ, abfertigte, in die vieleckige, achtstöckige IntraSpiralen-Kammer pferchte und zusammen mit etwa 20000 anderen Individuen, einer Ziegenherde und jeder Menge Ausrüstung ins Unbekannte sandte –, hätten einen Eichmann als Endlösung aller Endlösungen in höchstem Maße fasziniert. Aber es war ein Dies Irae ohne Zorn. Die zahllosen Anwärter trafen nicht gerade mit Gesang ein, aber jedenfalls plauderten sie gutgelaunt, während sie durch die Eingänge strömten, die zwar nicht aus Perlmutt bestanden, aber wenigstens aus Palladium; und wenn sie sich beim letzten Blick auf dieses Kontinuum an den Händen hielten, so war das nur erwartungsgemäß. Ungefähr um diese Zeit hatte Naverson, dem man den Streß dieser umfangreichen Großaktion ansah, einen seltsamen Traum. Er redete mit Flatch (der in Wirklichkeit schon verstorben war). »Wir schwächen 208
die lokale globallineare Realität, perforieren sie, zersetzen sie. Vorher sozusagen 104 Gradienten dick. Jetzt bloß noch einer da. Auswanderer-Bevölkerungen decken Struktur zu. Können 1/10000-Ausdünnung nicht viel länger durchhalten.« »Unsinn!« entgegnete Flatch, und im selben Moment sackten sämtliche bewohnten Oberflächenregionen Terras ein, als sei es ein von Termiten durchlöchertes Gebäude. Naverson erwachte mit Herzklopfen, Schweißausbrüchen, ausgetrocknetem Gaumen, hörte das Dringlichkeitssignal des Visifons. Es war »Morgen«, aber er hatte verschlafen. »Nev«, sagte auf dem Bildschirm Misk Howla (Flatchs Nachfolger; in unserer Zeit würde er Méthexis Ulvelæj heißen), »Nev, ‘s is was schiefgangen. Unerklärliche Bevölkerungsdaten, ungenug gesunken. Massenhaft illegale Besiedlung in leeren Randzonen. Sind alle zurückgekommen?« »Absoluter Unmög«, erwiderte Naverson; dann schwieg er erst einmal. »Checken Sie per Computer Geburtsdaten, Herkunft, nötigenfalls Genen.« »Warum?« »Erst checken.« Zehn Tage später lieferten die Computer-Anlagen die gewünschten Auskünfte: die Existenz von fast 15 % der Erdbevölkerung (konzentriert nahe bei den neuen Siedlungen am Rande der Wohnsilos) war unerklärlich und unbekannten Ursprungs. Ihre Gentypen ergaben prozentual ein Bild, das zum Teil mit dem der örtlichen Bevölkerung übereinstimmte, teil209
weise jedoch aus rätselhaften Varianten zusammengesetzt war, oder sich durch Proportionen auszeichnete, denen die Computer nicht auf den Grund kommen konnten. »Wissen Sie warum, Misk?« meinte der alte Naverson in der überwältigenden Privatsphäre des Direktionsbüros zum jungen Direktor der Bevölkerungsbehörde, einem Büro, erhellt durch echten Sonnenschein, der am Rande eines Wohnsilos bei den Ahaggar-Bergen durch Scheiben aus echtem Glas fiel. »Wissen Sie warum? Die anderen Gradienten sind nicht leer beziehungsweise unbewohnt. Sie sind voll! Wahrscheinlich mehr oder weniger wie wir. Unser Zeit-Universum ist nur eins von Millionen, vielleicht von unendlicher Zahl. Drüben müssen sie ungefähr zum gleichen Zeitpunkt auf unsere Methode verfallen sein.« Misk, ein impulsiver Mann, sprang aus dem Fenster, das sich im 278. Stockwerk befand. Naverson, der mit Misks Mitarbeiter-Stab mittlerweile vertraut war, übernahm auch die bevölkerungsmäßige Seite des Problems, und binnen einer Woche wußte er über weitere Einzelheiten Bescheid: alle Gradienten, aus denen Einwanderer kamen, waren von der steileren Sorte; zur Zeit schickten mehrere Tausend von ihnen Emigranten, doch wahrscheinlich würde ihre Zahl und ihre Verschickungs-Quote zunehmen. Die Kammern, durch die man sie herüberschickte, waren nicht mit Naversons Anlagen identisch, sie hatten nicht einmal die gleichen Stand210
orte, aber ihr Betrieb erzeugte in vergleichbaren Randgebieten neue Populationen. Die Emigranten waren in eine bevölkerte Welt geraten, während sie eine leere Welt erwartet hatten; doch sie hatten ihre schlechte Situation genutzt versucht und dabei Unternehmungsgeist gezeigt, sich aufgesplittert, die mitgebrachte Ausstattung aufgeteilt, sich zerstreut, die bereits vorhandenen Menschenmassen infiltriert, freie Parzellen rings um die Wohnsilos okkupiert, und jahrelang waren sie der Entdeckung entgangen. Drei Monate danach erfaßte eine Reihe seltsam kurzlebiger Virusepidemien, angefangen in den Randzonen nahe der Alpen und der Rocky Mountains, 60 % der amerikanischen und europäischen Bevölkerung und kostete 25 % der Erkrankten das Leben. Trotz aller gegenteiligen TV-Propaganda gaben die Überlebenden den »Eindringlingen« die Schuld, und überall in den Wohnsilo-Distrikten machte man von da an sämtliche Neuankömmlinge ohne einwandfrei nachweisbare Herkunft einfach nieder, auch die Kinder. Später stießen Freiland-Arbeitstrupps häufiger auf ganze Shunting-Emigranten-Schübe, manchmal noch in ihren mehrstöckigen Kapseln, und dann entbrannte jedesmal – mit allem, was sich gerade als Waffe anbot – ein Kampf auf Leben und Tod. Naverson nahm an, das ein gleiches Schicksal seine Shunting-Emigranten ereilt hatte, noch immer ereilte und ihnen auch künftig nicht erspart bleiben würde … Mit 75 gelangte er ins Pensionsalter. Völlig verbraucht starb er als enttäuschter Mann im grauen 211
Winter des Jahres 2395, wenige Monate später, und ließ die Welten im Ringen mit ihren ungeheuren Bürden zurück. Im Februar des Jahres 2021 im selben Kontinuum, kurz vor der Zweiten Welthungersnot, waren die Nachrichten voller Meldungen über den Tod Naverson Builths, des brillanten jungen Forschers, den ein einst weltweit aufsehenerregender Unfall im großen Linearbeschleuniger betroffen und der seither 49 Jahre lang permanent im Koma gelegen hatte, am Leben erhalten durch die modernen medizinischen Wissenschaften … Es war seine Realität gewesen, deren Zersetzung durch Infra-Hypo-Subquark-Shunts erfolgte.
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PSYCHOSMOSIS
Diese Tabus, dieses Gomorrha, sie liegen der modernen westlichen Welt weniger fern, als man meinen möchte.
»Im Haus beim Dornendickicht ist jemand verschieden, Klein-Ness«, sagte Tan schnell und verschämt, als er seinen untersetzten Kumpel am Rande des Sumpfes traf, wo Ness schon einige Tage mit Fallenstellen zugebracht hatte. »Einer der Alten?« »Nein, nein – jene, die Kemms Frau war. Plötzlich hatte sie eine Krankheit.« »Ah«, machte Ness leise. »Dann werden wir zwei neue Namengebungen haben – oder sind Nants Frau und Groß-Ness’ zweiter Tochter schon neue Namen verliehen worden?« »Nein. Es ist vor einer Stunde geschehen. Du erfährst’s frühzeitig.« »Dann war’s ein beschwerlicher Tod … aber auf dem Namengebungsfest werden wir unseren Spaß haben.« Klein-Ness merkte, daß seine Atemzüge sich beschleunigt hatten. Es hatte ihm schon auf der Zunge gelegen, Tan beiläufig zu fragen: »Und wie geht’s …?« Er interessierte sich nämlich für GroßNess’ heiratsfähige jüngere Tochter. Mit knapper 213
Not hatte er sich die Frage verkneifen können. Sorgsam mied jedermann das Haus Kemms, seiner Eltern und alten Tanten. Vor dem Eingang war ein schwarzes Tuch über zwei Stangen gelegt worden. Nant und Groß-Ness hatten bereits ein, zwei Tage vorher gesehen, wie die Dinge liefen, und sich in ihren Häusern insgeheim beraten; deshalb waren sie vorbereitet, als man das schwarze Tuch ausbreitete. Weil Nants Frau und Groß-Ness’ zweite Tochter den gleichen Namen trugen wie Kemms zweite Frau, mußten sie sofort neue Namen erhalten. Als erste Vorsichtsmaßnahme war Nant dazu übergegangen, seine Frau nur noch »Frau« zu nennen. Sie hatte sich schließlich für »Mara« entschieden, was ein bißchen an ihren alten Namen erinnerte, und Groß-Ness hatte seine Tochter zu »Nura« überreden können (was ihrem bisherigen Namen noch stärker ähnelte). Obwohl er vermied, es auszusprechen, und nicht einmal daran zu denken wagte, rief der neue Name auch den Namen seiner verstorbenen Frau in Erinnerung, der den gleichen u-Selbstlaut und auch alle anderen Laute besessen hatte. Eine Viertelstunde, nachdem Klein-Ness die Neuigkeit von Tan erfahren hatte, stolzierten Nant und seine Frau durch die Niederlassungen, schlugen eine alte Schüssel und riefen den Beschluß aus. »Nants Frau heißt Mara! Kommt heute abend zum Fest!« Alle begannen »Mara, Mara, Mara« vor sich hin zu murmeln, um sich den Namen zu merken. Zehn Minuten später folgten Groß-Ness und seine Familie, sie schlugen zwei Gabeln aneinander 214
und riefen: »Groß-Ness’ zweite Tochter heißt Nura – kommt und besucht uns heute abend.« Die, die es hörten, murmelten »Nu-ura, Nu-ura« vor sich hin und sprachen darüber, welchem Haus sie zuerst ihren Besuch abstatten sollten. Im ganzen gesehen, neigten sie zu der Auffassung, es würde mehr Vergnügen geben, wenn sie Nants Haus später aufsuchten. Klein-Ness jedoch entschied sich dafür, erst seinen Besuch bei Nant zu machen, um den restlichen Abend in der Nähe des Mädchens sein zu können, dem er nun – mit gewissem Widerwillen – den Namen Nura zuordnen mußte. Was für ein Name! Bei Nant traf er Nura persönlich an, die dort einen Höflichkeitsbesuch abstattete und gerade ihr erstes Getränk des Abends zu sich nahm. Sie begrüßten einander mit ziemlicher Befangenheit und blieben auch weiterhin in einer Stimmung reichlichen Mißbehagens. Klein-Ness sah davon ab, ihren Namen offen zu bemängeln, aber Nura spürte gefühlsmäßig, wo das Übel lag. Kemm, der wie im Traum daherstelzte, kam herein, auf den Arm des Arztes gestützt, grüßte Mara heiser mit ihrem Namen und berührte den angebotenen (und fast leeren) Becher flüchtig mit den Lippen. Dann gingen er und der Arzt weiter, zu Groß-Ness, und die Anwesenden atmeten auf. Schließlich kam der Arzt, dessen Name Sull lautete, allein wieder. Allen war klar, daß er Kemm nach Hause gebracht hatte. (Dessen Eltern und Tanten waren bettlägrig.) Sull leerte in rascher Folge mehrere Becher und erzählte eine Zote nach der anderen. 215
Mara und Nura nickten einander zu und machten sich (begleitet von Klein-Ness, der Sulls Geschichten gerne gehört hätte) durch die von Fledermäusen verunsicherte Abenddämmerung auf den Weg zu GroßNess’ Haus. »Ich weiß einfach nicht, wie wir in den stumpfsinnigen alten Zeiten zurechtgekommen sind«, sagte gerade, als sie eintraten, laut die dunkle Schönheit Forna, die ihren Arm mit dem Hefts verschlungen hatte (ihr Mann Freth befand sich in sicherer Entfernung, nämlich in Nants Haus). Schon nach einem Becher begab sich Mara an Groß-Ness’ Arm auf den Rückweg, während Tark, Groß-Ness’ ältester Sohn, bis auf weiteres die Aufgaben des Gastgebers übernahm. Klein-Ness, in dem die Getränke ihre Wirkung auszuüben begannen, wäre am liebsten mit Nura allein gewesen, aber er wußte, dergleichen war am heutigen Abend unmöglich. Er blieb bis zum Schluß, um sie im Auge zu haben, und irgendwann am frühen Morgen verabschiedete er sich im Freien auf verliebte Weise von ihr und latschte heimwärts. Sein Vater, der das Fest schon vor Mitternacht verlassen hatte, schnarchte schon. Der Arzt Sull, den bereits zwei Stunden später die Eulen und das Knurren seines Magens weckten, blinzelte den Mond an, mischte sich einen starken Trank und schlich sich hinaus, ohne Skenna zu wecken. Mit einem zweiten Trank strebte er durch den Mondschein zu Kemms Haus, stahl sich hinein, ohne die Alten zu stören, schüttelte Kemm an der Schulter, 216
fand ihn jedoch bereits in verkrampfter Wachheit vor und ließ ihn den Trank einnehmen, dann hoben sie mit vereinten Kräften den Leichnam hinterm Haus auf den Karren. Innerhalb von zwei Stunden, während deren Verlauf keiner von ihnen ein Wort sprach, erreichten sie den Krater des Vulkans. Die graue Morgendämmerung berührte gerade den Gipfel, als sie den Karren umkippten und den Leichnam den heißen, aschigen Abhang hinunterstürzten. Nachdem sie den Karren zurückgebracht hatten, gingen Sull und Kemm in Sulis Haus, wo Skenna den beiden Männern stumm ein Morgenmahl reichte. Anschließend übernahm es Skenna – da Sull Hausbesuche durchführen mußte –, Kemm heimzubringen. Sie waren noch nicht weit, da erscholl wirres Geschrei. Schließlich lief ihnen ein Jugendlicher entgegen. »Maras Mann ist weg!« schrie er und rannte weiter. Nant hatte eine unruhige Nacht gehabt (oder richtiger: einen unruhigen frühen Morgen), das Gehirn umnachtet vom Saufen und undeutlichem Mißbehagen aufgrund des allzu übereifrigen Betragens, das Surt gegenüber Mara am vergangenen Abend gezeigt hatte. Als sie beide sich in den ersten Sonnenstrahlen regten, stöhnte er auf. »Ich würde sagen, Nira …«, begann er im Halbschlaf zu faseln. Mara schauderte zusammen, war mit einem Schlag hellwach und sah, ihr Mann war fort. Sie wußte, was sich ereignet hatte. In ihrer Kehle entstand ein Schrei. Sie taumelte hoch, riß ein Kleidungsstück an sich. An Haustüren und Fenstern ließ sich ein halbes 217
Dutzend zerzauster Köpfe blicken. »Er ist fort! Er ist fort! Er hat ihn ausgesprochen!« Und damit sackte sie auf den Erdboden nieder und fing ein Gejammer an, das fortgesetzt auf- und abschwoll. Niemand näherte sich ihr, aber man verbreitete die erschreckende Neuigkeit hastig von Haus zu Haus. Zum Glück war noch niemand wach genug gewesen, um sich über das gestrige Fest zu äußern. Surt, der in der Tat lebhaftes Interesse an Mara hegte, zog es vor, ganz aus dem Weg zu bleiben und seine Zeit abzuwarten. Für den heutigen Tag ging er fischen. Jeder in der Gemeinde strafte die junge Frau, die sich unter Geschluchze auf der Erde wand, mit Verachtung und Abscheu, ausgenommen der Arzt, der sich nach einer halben Stunde um sie kümmerte. Sull kam herangestapft, setzte sie auf, tätschelte ihr beide Wangen und nötigte einen Trank ihre Kehle hinab. Dann versuchte er, sie zum Haus ihrer Eltern zu führen. Sie riß sich von ihm los und floh ins eigene Haus. Eine Stunde später schaute ihre Mutter nach ihr, die zum Markt unterwegs war, doch weder betrat sie das Haus noch sagte sie ein Wort. Am Abend schlief Mara aus Erschöpfung allmählich ein, nur um ihrem Mann in lebhaften Träumen zu begegnen. Er lächelte ihr zu, zog sie am Arm mit sich, geleitete sie durch Traum-Täler und TraumHügel hinauf. Des Morgens erwachte sie in öder Wirklichkeit und vollkommener Verzweiflung, und so wie jemand sich in sein Schwert stürzen mochte, sprach sie seinen Namen aus. Auf seinem Rundgang 218
fand Sull ein stilles Haus vor, und da er sich denken konnte, was sich zugetragen hatte, warnte er die Gemeinde. »Die Frau, die einen neuen Namen erhielt, aber unglücklich war, ist nun auch fort – ein zweifaches Verschwinden.« Kaum war die Silbe »Nant!« über ihre Lippen gekommen, war Mara zumute, als spalte eine Klinge ihr das Hirn; sie empfand einen Schmerz wie von Weißglut, und dann lag sie plötzlich übergangslos auf einem steilen, von Farn bewachsenen Abhang und blickte in die Morgensonne. Der Hang bot einen Anblick, wie sie ihn aus ihrem bisherigen bewußten Dasein nicht kannte: die einzige hügelige Gegend im Land hatte aus den kahlen Seiten des Vulkans bestanden. Unter ihr – und bis in die Ferne – erstreckten sich Gehölze und ausgedehnte, bucklige Hügel. Die Luft war frisch. Wind wehte den Hang hinunter. Möwen schrien. Hinter einem Baum in ihrem Rücken – einem von mehreren Bäumen, die am Abhang verteilt standen – quietschte ein Eichhörnchen sie an. Aus südlicher Richtung drang leise das Plaudern und Singen von Stimmen herüber. Nach einer Weile klomm Mara dorthin, wo die Stimmen waren. Zwischen einigen Bäumen stieß sie auf ein Grüppchen von Leuten, von denen sie mehrere kannte. Ein Mann mittleren Alters war dabei, der vor drei Jahren während eines Fests verschwunden war, kurz nach dem Tod eines Freundes. Da war auch ein Mädchen, dessen Geliebter kurz nach dem Tod seines Bruders verschwand, und wenig später 219
war das Mädchen auch verschwunden. Der Geliebte war bei dem Mädchen. Für die Leute in der Gemeinde waren sie alle Namenlose. »Nira«, riefen die drei erfreut. Das war ihr erster Name, den sie gestern abgelegt hatte. Aber sie verschwanden nicht. Die drei lösten sich aus der Gruppe und umringten sie. »Du bist also übergewechselt«, sagte das Mädchen. »Nant ist hier. Den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch hat er dich gerufen. Jetzt bist du endlich da. Du gehörst nun zu den Beschwörern. Ja, er wartet auf dich. Laß dich von uns zu ihm bringen … es ist kaum eine Meile weit.« »Dann sind wir alle tot?« »Nein, wir sind nicht die Verschiedenen – wir sind die Beschwörer, wir sind im Innern. Aus Achtlosigkeit oder Trotz haben wir die Namen ausgesprochen, deshalb sind wir übergewechselt.« »Man … man weiß dort, wo ich bislang war, nichts von dieser Welt.« »Nein, aber wir versuchen ständig, sie aufmerksam zu machen. Wir rufen. Und nachts träumen wir von denen drüben, so wie wir von den Verschiedenen träumen. Aber sie sind zu vorsichtig, diese Schwerhörigen. Wenige von ihnen verlassen das Draußen.« »Ist er wohlauf?« »Er ist halb von Sinnen, hat aber die Hoffnung auf dein Kommen noch nicht aufgegeben.« »Wie lebt ihr hier?« 220
»Genauso wie die Außenseiter. Wir jagen, wir fischen, wir ziehen Pflanzen, wir ernten Früchte. Das ist hier einfach auch ein Land, nur auf der Innenseite gelegen. Ringsherum gibt’s nichts als die See, die großen Wasser. Man kann sie in der Ferne brausen hören. Wir sind noch nie allzu weit hinausgefahren. Ein Zurück gibt es nicht. Kaum jemand von uns bedauert’s lang.« »Wir werden’s nicht bereuen …« Auf einem Pfad, der ein Stück weit tiefer verlief, sah Nira eine Schar Kinder. »Wie sind die Kleinen dort übergewechselt?« erkundigte sie sich. »Sie sehen mir noch zu jung aus, als daß sie mit den Namen von Erwachsenen leichtfertig umgegangen sein könnten … oder haben sie die Namen toter Geschwister ausgesprochen?« »Sie sind nicht übergewechselt, sie sind hier geboren worden.« »Was sind das für Hügelchen dort hinten?« »Grabhügel.« Man sah Nira an, daß sie nicht begriff. »Erdhügel, um die Leiber der Verschiedenen zu bedecken.« »Dann leben wir hier nicht für immer? Oder sind diese Menschen durch Unfälle verstorben?« »Nein, nein, wir leben hier schlichtweg für die gewohnte Lebensspanne. Die Leichname unserer Verschiedenen begraben wir unter solchen Erdhügeln. Diese Blumen, die du siehst, sind ihre Geburtstagsblumen für jene, die hier geboren worden, oder Wechseltagsblumen für jene, die übergewechselt sind.« 221
»Gedenkt ihr nicht der Tage ihres Todes, da ihr ständig an die Toten denkt?« »Was wäre denn der Sinn von so etwas? Wir wollen uns an die glücklichen Tage erinnern, an denen sie zu uns gekommen sind, nicht der traurigen Tage, an denen sie uns verlassen haben … Wir wollen nun versuchen, Nant zu rufen.« Das Mädchen begann hangabwärts durch den Wald zu rufen, und die anderen fielen mit ein. Zuletzt kam eine Antwort. Ein Weilchen später kam jemand den Hügel heraufgelaufen, vorbei an Baumstämmen und Grasbüscheln. Es war Nant. Die anderen entfernten sich unauffällig. Nach der ersten Verzückung des Wiedersehens wanderten Nant und Nira – er beharrte darauf, sie bei ihrem alten Namen zu nennen – Hand in Hand ins Tal, wo sie sich unweit von der Ansammlung sonstiger Häuser ein neues Heim zu errichten gedachten. Unterwegs kamen sie an einer kleineren Reihe von Grabhügeln vorüber. Mehrere waren mit Blumen geschmückt. »Du und ich, wir werden eines Tages Wechseltagsblumen wie die da erhalten – du am einen, ich am nächsten Tag. Doch möge bis dahin noch lange Zeit sein. Ich hoffe, unsere Kindeskinder werden unter den ersten sein, die sie niederlegen. Nun müssen wir für dich etwas zu essen auftreiben, damit du wieder zu Kräften kommst, du bleiche Gestalt. Dann brauchen wir Hilfe, wenn wir mit dem Holzfällen den Anfang machen. Erst einmal steht uns für die Nacht das Gästehaus zur Verfügung. Und heute a222
bend wird man für dich und mich ein besonderes, gemeinsames Freudenfest veranstalten.« »Was wirst du für unseren Lebensunterhalt tun?« »Was sollte ich tun außer jagen, wie ich’s immer getan habe?« »Der Mann, der Hefts Vater war, ist gestorben«, teilte Sull der Gemeinde einen Tag vor der großen Wildschweinjagd und eine Woche nach dem Verbrennen des Hauses und der Güter des verschwundenen Paares mit. Niemand war überrascht – Hefts Vater hatte schon geraume Zeit gekränkelt. Heft hatte das schwarze Tuch ausgehängt. Am Abend warf er zusammen mit Sull den Leichnam in den Vulkan. Ein paar Wochen lang mied man Heft, doch als die Wildschweinjagd zu Ende war, hatte er schon recht gut gelernt, nur noch »Der Mann, der mein Vater war« zu sagen. Die Leute waren unsicher und reizbar geworden, vor allem die Mütter und Väter in den Familien. Einer der Helden der Jagd war Klein-Ness’ Freund Tan. Das kam daher, daß Erbitterung und Selbstverachtung ihn so tollkühn gemacht hatten, daß er unter den aufgebrachten Viechern mit den Spießen wütete und überhaupt wie ein Wahnsinniger tobte. Tatsache war, daß Tan eine halbe Stunde vorher einen bitteren Zank mit seiner Freundin Danna gehabt hatte. Sie nämlich hatte sich warmherzig über »unsere beiden Freunde, die nach der Namensgebung unglücklich waren und verschwanden« geäußert, und Tan, dem 223
stets eine unvernünftige Abneigung gegen den gutaussehenden Nant zu eigen gewesen war, hatte sie beschuldigt, zuviel »an den Mann« zu denken. Je abweisender sich Danna verhielt, um so blindwütiger war Tan geworden, und sie waren auseinandergegangen, als sei es ein für allemal. Als die Jagd begonnen hatte, war Tan inzwischen der Ansicht, sich unsinnig und grundlos eifersüchtig benommen zu haben, und er bezweifelte, sein Fehlverhalten jemals wiedergutmachen zu können. Daher sein »Heldentum«. Drei andere Teilnehmer der Jagd hatten sich auch als Helden hervorgetan, aber von ihnen kam nur Keth mit dem Leben davon. Ein Mann fand einen schnellen Tod, und man band seine Leiche an eine Tragestange, um sie bei erstbester Gelegenheit dem Vulkan zu übergeben. Der andere verfiel nach einer Weile der Qual (er war nicht nur schwer zerfleischt worden, sondern die Tiere hatten auch gehörig auf ihm herumgetrampelt) auf einen Ausweg und stöhnte das Wörtchen »Nant« hervor. Er verschwand auf der Stelle, während die Umstehenden entsetzt nach allen Seiten flohen. Als die Kolonne der Jäger, von denen einige Tan und Keth inmitten der kopfüber an den Tragestangen aufgehängten Kadaver auf den Schultern trugen, nach Hause zurückkehrte, empfing sie eine wild erregte Menge von Frauen, Kindern und Greisen. Einige Augenblicke lang lauschte die Horde der Daheimgebliebenen – sie hatten es sorgfältig vermieden, unterdessen die Namen jener zu nennen, die auf 224
die gefährliche Unternehmung ausgezogen waren – der Kunde, daß Pemfs erster und Ranns zweiter Sohn den Tod gefunden hatten, dann brach der freudige Aufruhr von neuem aus. Es war durchaus zu erwarten gewesen, daß Danna dem Getümmel fernblieb, bis sie von Tans Leistungen hörte, aber er hoffte, sie würde zu guter Letzt doch zu ihm kommen. Aber als das Fest seinen Gang nahm, ohne daß sie aufkreuzte, war ihm zumute, als schlösse sich langsam eine eisige Zange um seine Eingeweide. Er bahnte sich den Weg zu einer Greisin, die im Hintergrund der Wiese hockte. »Bitte sag mir«, sagte er ihr leise ins Ohr, »ist die Tochter Bans und Daabas irgendwo zu finden?« »Tscha, nein. Ich habe sie den ganzen Tag nicht gesehen.« »Ob sie sie vielleicht gesehen haben?« »Kann sein. Warte.« Und die Alte wackelte hinüber zu Daaba, die beim Fest saß und einen großen Humpen schwang. Tan sah, wie Daaba den Kopf schüttelte und Ban, der zwei Reihen vor ihr saß, etwas zurief. Der hünenhafte Mann stand auf und schwankte zu ihr. Daaba flüsterte mit ihm. Ban starrte sie an. Dann kam er zu Tan geschlurft, drängte sich durch die halbbetrunkenen Feiernden. »Nein«, sagte er mit unsteter Stimme, indem er den Blick des Jugendlichen erwiderte (aus Augen, die denen des vermißten Mädchens unheimlich ähnelten). »Nein, unsere Tochter hat zuletzt mit uns gesprochen, kurz nachdem der Jagdhaufe aufgebro225
chen war. Sie war wegen irgend etwas in Erregung. Sie ist dann den Weg hinabgewandert.« »Kann sie weit gegangen sein?« »Ich glaube nicht, daß sie das getan hat. Jemand würde sie gesehen haben. Und obwohl sie erregt war, befand sie sich keineswegs in der Stimmung, um … Du weißt, was ich meine … Unmöglich, daß sie … da bin ich ganz sicher… Außerdem war nichts da, was sie für so was hätte benutzen können, außer wohl ein Messer. Und uns fehlt nichts.« »Oder ein Unglück …? Vielleicht ein Raubtier?« »Wir wollen mal mit Forna reden.« Sie suchten sich einen Weg dorthin, wo die Paare engumschlungen saßen, kicherten und schwankten; es war nicht weit. »Forna!« schrie Tan der dunklen Schönen ins Ohr. »Ist deine alte Freundin, die meine Freundin war, mein Mädchen, den ganzen Tag hindurch im Ort gewesen? Sag’s mir, ich muß es wissen.« »Äh … Ach, du bist’s, du bist nun ein richtiger Held, weißt du das? O ja, ich finde es auch seltsam, daß sie nicht hier ist. Nein, ich entsinne mich nur, daß sie den Nachmittag hindurch in der Nähe deiner Hütte saß und immerzu irgend was gemurmelt hat. Eine Stunde vor der Rückkehr der Jäger habe ich sie das letzte Mal gesehen. Als ich das nächste Mal vorbeigegangen bin, war sie weg. Freth, hast du sie gesehen?« »Neeeh«, antwortete ihr Mann. Tan entfernte sich aus der Festversammlung, ge226
folgt von Forna und Ban, und drehte eine Runde um und durch seine ganze Hütte und deren Nachbarschaft, suchte da und dort. In der Hütte war alles unangetastet. Nichts fehlte. Im Lichtschein einer qualmenden Fackel zeigte sich, daß der Erdboden vor seiner Hütte zerscharrt war, aber keine offensichtlichen, frischen Fußspuren ließen sich finden. Sie schauten einander an. »Das Mädchen, das meine Tochter war, muß vom Verschwinden ereilt worden seih«, sagte Ban schwerfällig. »Vielleicht hat sie einen Namen jener beiden … ausgesprochen, die sie gut kannte. Ich muß die anderen warnen. Laßt uns zum Fest zurückgehen.« Tan brachte den Rest der Nacht damit zu, allein rings um das Dorf zu streifen. Er wagte es nicht, ihren Namen zu rufen. Am Morgen begann er das Land gründlich abzusuchen, begab sich sogar bis unter die Staubteufel in der Wüste hinaus, die sich rund ums Land erstreckte; aber alles blieb vergeblich. Im Innersten seines Herzens konnte er das Mädchen die Namen der verschwundenen Freunde aussprechen hören. Entfremdet von Forna, nachdem jene den leichtlebigen Freth geehelicht hatte, in keinem sonderlich guten Einvernehmen mit der restlichen Gemeinschaft, zu sanftmütig, zu versonnen, mußte es sich von Tan im Stich gelassen gefühlt und jenes unglückselige Paar angerufen haben, so daß es genauso aus der Welt verschwand. Nun traute Tan sich nicht einmal mehr, den Namen des Mädchens zu denken. 227
Doch in der dritten Nacht danach träumte er wiederholt von ihm und sah, wie es ihn traurig, vorwurfsvoll und sehnsüchtig anstarrte. Er hörte es rufen, ihn rufen. Er vermochte mit niemandem darüber zu sprechen. Als Held der letzten Wildschweinjagd erhielt er zumindest von Männern wie Heft und Klein-Ness noch dann und wann einen mit Unbehagen erteilten Schlag in den Rücken. Am Ende gewöhnte er sich der Höflichkeit halber wieder daran, an fröhlichen Feierlichkeiten und abendlichen Saufereien teilzunehmen, aber Ban pflegte ihn einen Augenblick lang grimmig anzustieren, wann immer er ihn sah, und sich dann zur Seite zu wenden. Vielleicht vermutete er, dachte sich Tan, daß sich hinter diesem Verschwinden ein Streit verbarg; aber nun konnte keiner der Männer das Mädchen noch erwähnen. (In Wirklichkeit allerdings vermied Ban lediglich die Gefährlichkeit und Unerfreulichkeit einer Begegnung, die ihn an seine einstige Tochter erinnern mußte.) Das vor kurzem verschwundene Paar hatte in der Tat zahlreiche Freunde gehabt, von denen nicht alle sich durch Wein, Fleisch und angenehme Gesellschaft völlig ablenken ließen. »Weißt du«, sagte daher eines Tages die gefühlsbetonte Valla, als sie mit ihrem Mann beim Essen saß (sie waren vor über einem Dutzend Jahren sehr jung die Ehe eingegangen), über einen Korb, den sie in Sulis Haus gesehen hatte, »es war genau der gleiche, wie Mara …« Vol sprang mit einem Schrei auf und warf dabei 228
etliche Teller um. Der Platz ihm gegenüber war leer. Vek war nicht daheim; aber er mußte Bescheid erhalten, und nicht nur er, sondern die ganze Gemeinde. Niemand brauchte seinen Namen zu ändern. Vol versuchte zu vergessen, befaßte sich mit den Angelegenheiten von Veks bevorstehendem Mündigwerden, und was Vek betraf, so war er vollauf mit sich selbst beschäftigt. Es geschah ungefähr eine Woche später, daß man nahe bei Klein-Ness’ Haus Tan antraf, wie er stumm ins Nichts glotzte, einen Arm halb ausgestreckt, eine Ferse etwas angehoben. So stand er zwei Stunden lang da, als sei er aus Holz, dann duldete er es, daß man ihn fortführte. Man pflockte ihn hinter Sulis Haus an, wo man ihn im Augenmerk behalten konnte, und man warf ihm, wann immer jemand vorüberging, diesen und jenen Brocken Fleisch zu. Ab und zu lachte er kurz auf, aber meistens zog er es vor, einfach wegzuschauen. Nach zwei Monaten war er tot. Aber seinen Namen hatte schon längst niemand mehr ausgesprochen. Vol hatte seine Träume von der Frau, die seine Gemahlin gewesen war, wohlbehalten durchgestanden, aber sobald er aufwachte, fand er seine bewußte Erinnerung an sie immer noch lebhafter statt im Verblassen begriffen. Fünf Monate nach ihrem Verschwinden – und nachdem er Vek zu einem guten Einstieg ins eigene Leben verholfen hatte – konnte er eines Nachts nicht schlafen und rief schließlich in seinem Kummer Valla beim Namen. 229
Er fühlte einen eiskalten Schnitt durch sein Gehirn gehen und unter sich plötzlich kiesige Erde, während über ihm Sterne (andere Sterne) funkelten. »Das ist der Tod«, dachte er, aber als der Morgen heraufzog und die Steifheit seiner Gliedmaßen ihn den Körper nur allzu deutlich spüren ließen, sah er ein, daß es sich nicht um den Tod handelte. Er befand sich auf dem kahlen Kamm eines langgestreckten, von Gras bewucherten Moränenhügels, der mitten aus dem Wogen eines Tales aufragte. Beiderseits erhoben sich mit Farnen bestandene und waldige Hügel, der nächste nur ein paar Meilen entfernt. Hinter Vol und vor ihm schimmerten in weiter Ferne rätselhafte weiße Umrisse, die er nicht genauer erkennen konnte. Nahebei plätscherte Wasser über Steine. Über ihm schwirrten Vögel und schrien. Weiter hügelabwärts schwoll ein unausgesetztes leises Rauschen-Brausen auf und ab. Flußauf erspähte Bewegung verriet ihm, wo die Siedlung stand. Als er hingehumpelt war, traf er dort Mara, und Nant war da, und ebenso war da Danna, in ihren Augen ganz neue Schwermut, aber gleichzeitig mit einem neuen Burschen; sogar Vaata traf er an, von dem er sich erinnerte, ihn zuletzt als junges Kerlchen gesehen zu haben. Nun war er erheblich älter, jedoch wiedererkennbar. Noch viele andere hielten sich hier auf, die er früher gekannt hatte, jedoch alle ein wenig verändert. Er verstand die Sachlage beinahe sofort. »Wo ist Valla?« schrie er sie an. »Ich bin durchgekommen! Wo ist Valla?« 230
»Sie ist mit anderen zum Blumen-Ritus für den armen alten Somm gegangen«, rief ein junges Mädchen, dem eifrig daran lag, zu zeigen, wieviel es wußte. »Komm, dir stehen einige Schwierigkeiten bevor, komm mit, lieber Junge«, sagte eine Greisin zu ihm, die er vergessen oder nie gekannt hatte, und nahm ihn fest an der Hand. »Komm mit mir und hör gut zu. Mach dich auf etwas gefaßt. Du bist zu lange bei den Schwerhörigen geblieben.« In diesem Augenblick sah er Valla inmitten einer Schar ernster Leute, die den Hang herabkamen. Sie ging Hand in Hand mit einem hochgewachsenen Mann, einem Fremden. Die Wahrheit suchte ihn heim. Er schrie auf und stürmte vorwärts. Die Leute umstellten die drei, die sich wie versteinert von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, nur ein paar Schritte voneinander getrennt. »Ja, Vol, es sah so aus, als würdest du nicht kommen. So wenige von den Schwerhörigen kommen herüber. Ich habe mich hier mit Tel vermählt. Es tut mir leid. Es ist zu spät. Ich werde sein Kind tragen.« Vol fuhr herum, durchbrach die Reihen der Umstehenden und floh stromaufwärts am Fluß entlang. Endlich gelangte er zur Schlucht und stürzte sich in die Tiefe. Sie fanden seinen Leichnam auf den Felsen unter den düsteren Klippen, bargen und begruben ihn. Fortan war es die Gewohnheit Vallas und ihres Mannes (unter Teilnahme der halben Niederlassung), am Jahrestag von Vols Überwechseln seinen Grab231
hügel mit prächtigen Blumen zu überhäufen, und dabei sang man die traurigsten Lieder. Beim ersten dieser Anlässe geleitete die ganze Gemeinde das Paar mit Gesang heim zu seinem Haus, und dort bat man mit einem nochmaligen, langen Gesang Valla, an die Zukunft und ihr demnächst zu gebärendes Kind zu denken, und sich selbst Trost zu gewähren, ehe man für diesen Tag von den beiden Abschied nahm. »Das ist der schrecklichste Wechsel, den ich je erlebt oder von dem ich je gehört habe«, sagte Losp zu Mek, als sie sich entfernten. »Ja, wahrhaftig. Aber alle Wechsel sind am Anfang schmerzlich. Kinder mit geschwätzigen Mäulern haben’s am schwersten, ich habe mal zwei gesehen … Ist aber schon lange her. Sie sind bei uns tadellos herangewachsen.« »Trotzdem, Kush ist ein reichlich unzufriedener Kerl.« »Tja, das stimmt, er ist verbittert und launisch. Aber einer der schlimmsten Wechsel war bisher der des armen Gal, der im Draußen bei der Wildschweinjagd so schwere Verletzungen erlitten hatte. Eine rasche Erlösung hatte er sich erhofft, und statt dessen kam er ins Innere, nur um einen qualvollen Tod zu sterben.« »Immerhin hatte er Lann zur Seite, den Arzt. Aber es war ein schweres Ende.« »In letzter Zeit sind viele Wechsel vorgekommen, aber im allgemeinen werden’s weniger, hast du nicht auch diesen Eindruck?« 232
»Ja, die Schwerhörigen werden schwerhöriger. Aber wir Beschwörer haben mehr Kinder als sie, soviel berichtet wird; auf diese Weise nimmt unsere Zahl ständig zu. Sieh nur uns beide an – mindestens zwei Beschwörer im dritten Glied.« »Im vierten: der letzte meiner Vorfahren, die übergewechselt sind, war eine meiner Urgroßmütter. Und Menga kennt keinen ihrer Ahnen, der nicht im Innern geboren ist… Wo steckt die Frau denn nur …! Palavert noch da hinten mit den anderen Frauen … Übrigens«, (mit verzerrtem Lächeln) »verwerfen unsere Grabhügel, indem die Alten dahinscheiden, die Erde allmählich viel zu dicht und stark. Wir müssen sie weiter entfernt und in ebenem Untergrund bestatten. In der nächsten Ratsversammlung muß ich diese Sache zur Sprache bringen … So, hier ist unser Haus. Ich werde versuchen, Menga von den alten Weibern loszureißen. Schönen Tag noch und erfolgreiche Jagd!« »Und euch gute Ernte!« Draußen hörten die Schwerhörigen zum erstenmal, solange sie zurückdenken konnten, wie der Vulkan zu rumpeln anfing.
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AN DER ZEITFRONT
Zeit kann leicht ein zeitloses Thema werden, falls ein ironisches Bonmot erlaubt ist. Aber hat diese Story vielleicht etwas über das menschliche Dasein auszusagen? Das muß der Leser entscheiden …
Es war ein apokalyptischer Sektor. Aus dem rotschwarzen Vorhang der vorderen Sichtbarriere, die in diesem Abstand von der Grenze nur zwanzig Meter weiter nördlich den Ausblick verwehrte, drangen alle Arten rasanten Horrors: Kernspaltungs- und Kernfusionsexplosionen, chemische Detonationen, ein Super-Hagel von Projektilen aller Kaliber und Mündungsgeschwindigkeiten, Sprühwolken aus Nervenparalysatoren und auf das Zwischenhirn wirksamen Drogen. Die Aufschlaggeschosse barsten am kahlen Fels der Abhänge oder auf dem Beton der Vorposten, von denen sie jeden Augenblick einige zertrümmerten oder ausschalteten. Die unbeschadeten Einrichtungen unterhielten ihrerseits ein gleichermaßen heftiges und nahezu senkrechtes Steilfeuer von Raketen und Granaten. Hier und da sah man eine Gestalt in Schutzkleidung »davonsprinten«, auf ihrem »Läufer« die Hänge hinabeilen oder entlanghasten, wie eine Ameise, die aus einem Ameisenhügel flieht, den man mit einem Flammenwerfer ausräuchert. Einige der 234
gegnerischen Geschosse, deren Flugbahnen sich verfolgen ließen, konnte man hoch droben ins Indigoblau der hinteren Sichtbarriere stoßen sehen, die in etwa fünfzig Meter Entfernung südlich verlief, ungefähr vierzig Meter unterhalb vom Standort der Beobachter von dem schroffen Gefälle der Felsoberfläche emporragte. Der Sichtbarkeitskorridor lag im Osten und Westen, so weit das Auge reichte – in der klaren Gebirgsluft trotz des von den Explosionen hochgeschleuderten Schutts etwa sechzig Kilometer (im Westen war die Sicht allerdings durch einen Ausläufer der Bergkette beschränkt) – unter einem unablässigen Trommelfeuer von beiden Seiten der Grenze. Der Hörbarkeitskorridor war erheblich breiter als der Sichtbarkeitskorridor; das vielfältige Gedonner, selbst bloß durch den linken Ohrhörer im Helm vernommen, war beträchtlich. »Muß computergesteuert sein«, ertönte es aus H.s Helmfunk in sein rechtes Ohr. Der Feststellung ging sein Sigel voraus, aber H. kannte den Tonfall B.s, seines Ein-Rang-Vorgesetzten, und außerdem konnte er es ihn in nur einem Meter Distanz sagen sehen, weil sie beide in derselben, zu Beobachtungszwecken bestimmten Betonkuppel waren, die eine Beobachtung durch ein Plaspex-Fenster und mittels eines nach Norden gerichteten Infrarot-Sichtgeräts mit einer vorwärtigen Reichweite von mehreren hundert Metern ermöglichte. Sein Ein-Rang-Vorgesetzter befand sich nun seit drei Minuten im Bunker, machte anscheinend einen Gesamt-Check, wahrscheinlich 235
für eine Einschätzung, die er dem Zwo-RängeVorgesetzten vorzulegen hatte, der sich jetzt womöglich im Befehlsbunker VV aufhielt. »Wie könnten sie nach Ihrer Ansicht sonst minutenweise Feuerschläge schicken?« meinte H. »Nun, natürlich könnten sie mit weitreichenden Niedrigfrequenzen arbeiten … Wir wissen eben nicht genau, wie die Drübenzeit beschaffen ist.« »Aber wenn die Zeitbeschleunigung sich asymptotisch zur Grenze verhält, wie es sein müßte, falls ihre Zeit spiegelbildlich funktioniert, könnte dann überhaupt jemals etwas die Grenze überquert haben?« »Soweit ich es überblicke, muß es sich nicht unbedingt so verhalten – kann sein, sie steigt stark an und fällt auf der anderen Seite im gleichen Winkel ab«, erklang B.s Stimme. »Aber ich bin sowieso nicht gekommen, um wissenschaftliche Fragen zu diskutieren. Ich habe Neuigkeiten für Sie, für den Fall, daß wir hier die nächsten paar Sekunden überleben: Sie werden abgelöst.« H. spürte, wie eine schwarze innere Sichtbarriere ihn zu umfassen begann, und in seinen Ohren schwoll ein Dröhnen bis zur Lautstärke des Bombardements an. Er krümmte sich, als seine Knie nachgaben, gewann die volle Besinnung wieder. Jetzt konnte er seine Ablösung sehen, eine Gestalt in einem Sch.-Anz. die ziemlich unsicher wirkte (wie jeder andere hier oben auch) und an der anderen Seite des Bunkers stand. »XN 3«, sagte er forsch, indem sich sein Puls236
schlag beschleunigte. »Also, welche Befehle?« »XN 2. Sofort – wiederhole: sofort – NotSet nehmen, R-Transport 3333 nach W benutzen, Marke vorzeigen …« – er hielt eine leuchtorangene Plakette in die Höhe, in die einige grobe schwarze Buchstaben gestanzt waren –, »… dann gemäß weiteren Befehlen verfahren.« Zum Gruß streckte H. den Daumen seiner rechts auf Ellbogenlänge zur Seite gehaltenen Faust nach oben. Dies war keine Situation für überflüssiges Mienenspiel und sinnlose Reden. »XN 3, jawohl, verstanden, NotSet, R-Transport 3333, Marke« (er hatte sie in seine vom Handschuh umhüllte Linke genommen), »Befehle W. Trete ab.« Ihm entging B.s Nicken, als er auf weichen Sohlen zum Ausgang huschte, dann vom vierten der dortigen Wandhaken ein kleines Bündel (eins von fünfzehn) an sich riß. Er schlitterte die unterirdische, zehn Meter lange, glitschige Rampe hinunter, betrat eine von mit Energiezellen unterhaltene Wandbeleuchtung erhellte Kasematte, drückte an der Wand einen Leuchtknopf, sah ein Lichtsymbol eine Reihe von Markierungen durchlaufen, sprang in den niedrigen »Wagen«, sobald er um die Ecke gekommen war und angehalten hatte, und kauerte sich dann fötusartig zusammen. Sein Körpergewicht löste den LukenMechanismus der Kapsel aus, die Luke fiel zu, die Kapsel glitt weiter und brauste (während Klammern H.s Körper umschlossen) hinab in den Schacht. Fünfundzwanzig Sekunden nach seinem »Ab237
schiedsgruß« richtete H. sich in der vorderen Eingangskammer des Befehlsbunkers VV auf, fast einen Kilometer tiefer bergab. Er stieg aus, woraufhin die Kapsel ihren Weg fortsetzte, ging in dieser größeren Version seines nördlichen Standorts zehn Schritte weit, salutierte mit aufgestelltem Daumen und zeigte seine Marke dem Zwo-Ränge-Vorgesetzten (erkennbar an Helmfarbe und Helmzeichen), während er gleichzeitig »Meldung XN 3 nach Ablösung!« erstattete. »XN 1 an XN 3: nehmen Sie dies« (dabei holte er eine ähnliche orangene Plakette aus der Tasche) »und besteigen Sie in minus siebzig Sekunden R-Transport nach unten. Übrigens, haben Sie schon mal einen Prähis gesehen?« »Nein, Sir.« »Dann schauen Sie mal hier durch. Sehen aus wie Pteros, sind aber primitiver.« Das nach Nordwesten ausgerichtete InfrarotTeleskop-Sichtgerät durchdrang die vordere Sichtbarriere, die sich aufgrund ihres Verlaufs im Norden etwa vierzig Meter von hier entfernt befand; ein ganzes Stück bergauf, aber noch außerhalb der dunklen Infrarotstrahlerbarriere, konnte man zwei schuppige Tiere sehen, etwa so groß wie Hunde, aber mit zwei Beinen und schweren Schwingen, die unter unhörbarem Geschrei und Gejammer am Felshang rund um einen Findling oder kleinen Hügel hüpften und flatterten. An dieser öden Stelle konnten sie kaum irgend etwas zu suchen gehabt haben, dachte sich H. 238
und waren womöglich im Vorbeifliegen getroffen worden. »Danke«, sagte er. »Bemerkenswert.« Elf von den 70 Sekunden waren vorüber. Er zog ein Spritzgefäß aus dem Wandfach, füllte es am Apparat mit einem Getränk und führte es sich durch den Helm zu. 17 Sekunden dahin, noch 53 abzuwarten. »XN 1 an XN 3, wie stehen die Dinge oben?« Natürlich war ein Bericht erforderlich: möglicherweise sah man XN 2 nie wieder, und in diesen Breiten war eine Kommunikation zeitauf-zeitab über Strecken von wenigen Metern hinweg kaum möglich. »XN 3. Lage hat sich den ganzen Tag hindurch verschärft. Ich befürchte, etwa nächste Stunde könnte mit einem Durchbruchversuch zu rechnen sein – ist natürlich nur meine persönliche Vermutung. Aber ich habe während der gesamten Zeit, seit ich hier bin, noch nichts erlebt, was damit zu vergleichen gewesen wäre. Ich nehme an, Sie haben’s hier im W auch gemerkt?« »XN 1, danke für den Bericht«, war alles, was er zur Antwort bekam. Doch er konnte ohnehin selber hören, daß das Großbombardement keinem glich, das man bisher auf dieser Ebene hatte bemerken können. Nur 27 Sekunden blieben ihm noch. Er salutierte und durchquerte mit seinem NotSet und der neuen Plakette den Bunker. Er zeigte die Plakette dem Posten, der sie abstempelte und wortlos in einen Korridor deutete. H. durchmaß ihn und gelangte etliche 239
Meter weiter an seinem Ende auf einen kleinen Bahnsteig. Leise schwebte ein schienenbetriebener Hängewaggon heran, durch dessen Schiebetüren man in Abteils steigen konnte. Eine Bahnsteigwache winkte H. und zwei andere Wartende in offene Türen, deren Anzeigen nicht leuchteten. Die Türen glitten zu, und behutsam legten sich auf dem nach hinten geneigten Sitz die Klammern eines Geschirrs um H. als der R-Transport bergab beschleunigte. Zehn Sekunden später hielt er beim nächsten Kontrollposten; in der Decke des Abteils glomm eine Leuchttafel auf und gab den Hinweis UMLEITUNG LINKS; wahrscheinlich war die direkte Strecke zerstört worden. Es hatte den Anschein, als beschleunige der RTransport mit etwas verminderter Leistung, während er nach links abbog (wie H. spüren konnte), und er stoppte noch an zwei weiteren Kontrollposten, bevor er wieder die Richtung nach rechts nahm und schließlich die Geschwindigkeit herabsetzte, rund 480 Sekunden nach der Abfahrt (Hads privatem Chronografen zufolge) – statt der 200 Sekunden, die normalerweise zu erwarten gewesen wären – endlich hielt und die Türen öffnete. Von diesem Punkt aus gab es wieder Tageslicht zu sehen. Vom Befehlsbunker aus, in dem er von XN 2 verabschiedet worden war, hatte Had ungefähr fünfzehn Kilometer südwärts und gut dreitausend Meter abwärts zurückgelegt, Umleitungen nicht mitgerechnet. Ein mit riesigen Flechten überwucherter Bergrücken verbarg hier die vordere Sichtbarriere, aber die 240
südliche Barriere war als blauschwarze Nebelwand erkennbar, einen halben Kilometer entfernt. Flechten und so etwas wie eine grasähnliche Vegetation bedeckten einen Großteil der umliegenden Landschaft, die aus einer Anzahl von Schluchten und Geländemulden bestand. Das Kriegsgetöse war noch hörbar, vermengt mit dem Wüten eines Gewitters, aber in dieser Gegend kam es nicht allzu häufig zu Einschlägen, und es ließen sich vergleichsweise wenig Schäden sehen. Am Himmel darüber ging es reichlich lebhaft zu. Einige Tiere von sehr seltsamem Aussehen, vielleicht – allgemein beschrieben – etwas zwischen Echse und Wiesel, schwärmten in der Nähe an einem Riesenfarn hinauf und hinab. Außer Had waren sechs Männer dem R-Transport entstiegen. Fünf davon entfernten sich in zwei Grüppchen – zu zweit und zu dritt – einen Weg entlang, der in östlicher Richtung verlief. Einer von ihnen (keiner von denen, die mit Had am Befehlsbunker VV eingestiegen waren) blieb bei Had. »Ich gehe runter ins Große Tal. Hab’s schon zwanzig Tage lang nicht gesehen. Dürfte alles verändert sein.« Die Stimme des anderen Mannes drang durch den Helmfunk in Hads rechtes Ohr. »Müssen Sie weit?« »Ich … ich … ich bin abgelöst worden«, bemühte sich Had unsicher um eine Antwort. »Na, das … das zerpulvert mich glattweg!« brachte der andere bloß hervor. »Wohin werden Sie gehen?« erkundigte er sich einen langen Moment später. 241
»Ich werde mir irgendeinen Erwerb im Süden suchen, glaube ich. Ich habe Wärme gern, Wärme und Grün, dann gefällt’s mir. Ich beherrsche ein paar Fertigkeiten, die mir in diesem oder jenem Gewerbe von Nutzen sein können. Entschuldigung … Ich wollte mich nicht brüsten – aber Sie haben mich ja gefragt.« »Ist schon recht. Aber Sie haben zweifellos großes Glück. Ich bin noch nie jemandem begegnet, den man abgelöst hat. Achten Sie darauf, daß Sie von dieser Chance guten Gebrauch machen, denken Sie dran. So was hilft uns dabei, diese Sache hier oben als der Mühe wert anzusehen – ich meine, schließlich habe ich nun endlich mal einen Menschen getroffen, der zu all den anderen darf, die wir angeblich schützen … Irgendwie werden sie durch so was für uns erst richtig real.« »Sehr nett von Ihnen, daß Sie’s so auffassen«, sagte Had. »Nein, es ist mein Ernst. Andernfalls müßten wir uns tatsächlich fragen, ob es überhaupt Menschen gibt, für die wir hier die Front halten.« »Na, wenn’s keine gäbe, wie sollte denn die ganze Technik entwickelt worden sein, um sie halten zu können?« meinte Had. »Einige der TechKols im Großen Tal, an die ich mich erinnere, könnten für diesen Zweck genug an Technik entwickelt haben.« »Ja, aber denken Sie an all die rein wissenschaftlichen Grundlagen, deren es bedarf, will man eine solche Technik entwickeln. Ich bezweifle, daß sie sich 242
in den TechKols im Tal erarbeiten ließen.« »Vielleicht nicht – mit solchen Fragen bin ich ein bißchen überfordert«, erreichte die Stimme des anderen Mannes Had in leicht beleidigtem Ton, und danach standen sie schweigsam da, bis die nächste Kabine der Seilbahn sich näherte und unterhalb der Haltesteile einschwenkte. Had gewährte dem Mann den Vortritt – er hatte das Gefühl, es ihm schuldig zu sein –, und eine Minute später (droben in seinem vorgeschobenen Beobachtungsbunker fiel ihm beiläufig mit plötzlicher Ironie ein, nur fünf Sekunden) kam die nächste Gondel. Er schwang sich hinein, genau in dem Augenblick, als ein äußerst befremdlich aussehender, blauroter Vogel mit langem nacktem Hals auf den Echsenwiesel-Riesenfarn hinabstieß. Die Seilbahn-Gondel schwebte zügig durch die Schluchten und Geländemulden abwärts, und die violette südliche Barriere blieb immer schneller zurück. Indem der Zeit-Gradient abflachte, begann Hads Gehirn wieder besser zu arbeiten, und ein Gefühl des Wohlbefindens und der Sinnerfülltheit erwuchs in seinem Innern. Die Geschwindigkeit der Seilbahn sank. Had war froh, daß er noch seinen Sch.-Anz. trug, als – vermutlich durch blinden Zufall – in der Nähe der Seilbahn zwei chemische Geschosse explodierten, nur fünfzig Meter unter ihm. Noch froher war er über seinen Sch.-Anz. als Splitter eines dritten Projektils ein ganzes Stück weiter abwärts das Kabel zerrissen und das Notkabel seine Gondel am nächs243
ten Pfeiler stoppte. Er fuhr mit dem Lift am Pfeiler hinab und telefonierte unten, das Helmfunkgerät ans Telefon gedrückt. Er erhielt Bescheid, er solle die benachbarte Seilbahn nehmen, drei Kilometer westlich. Sein Gesprächspartner, so nahm er an, mußte von einem Breitengrad aus sprechen, der ungefähr mit dem des Pfeilers übereinstimmte, denn sogar hier war eine Kommunikation auf der Nord-Süd-Linie noch nahezu ausgeschlossen und lediglich über wenige Meter hinweg möglich. Trotzdem zeichnete die Stimme des anderen sich durch krächzende Verzerrtheit aus und sprach schnell und abgehackt. Had mutmaßte, daß seine Stimme am anderen Ende dumpf und genölt eintraf. Unter Verwendung seines »Läufers« suchte er sich einen Weg durch Klüfte und Rinnen, orientierte sich mit dem Kompaß und behielt zwecks Richtungskorrektur die Sichtbarrieren und den Doppler-Farbäquator im Augenmerk. »Der Kerl muß was reden über TechKols«, dachte er. »Ihm müßte doch klar sein, daß hier – außer weit nördlich vom Großen Tal – keine Zivilisation entstanden sein kann. Die hiesige Gegend ist noch viel zu jung, um schon Menschen hervorgebracht zu haben … jedenfalls auf dieser Seite. Ich weiß nicht genau, wie weit die Ostseite sich in den Süden erstreckt.« Die Strecke, die er zurücklegen mußte, war auch nicht gefahrlos: mehrmals explodierten nahebei Geschosse, und in zwei Vertiefungen, die er daraufhin lieber zu umrunden beschloß, lag etwas – leicht zu 244
übersehen –, das verdächtig nach künstlichen Ansteckungsstoffen aussah. Außerdem kam ihm in einem Dickicht aus Malvensträuchern ein ergrimmtes Riesenfaultier in die Quere und mußte mit einer MWaffe erledigt werden. Aber für jemanden, der gerade aus der Hölle in den Bergen kam, war all das nichts anderes als ein gemütlicher Spaziergang. Endlich erreichte er die andere Aufreihung von Pfeilern und drückte am Fuß des nächstbesten Pylons den Telefonknopf, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß die Breitengrad-Nummer annähernd stimmte. Dieselbe Stimme, nun etwas weniger fremdartig und schnell, teilte ihm mit, in einer Dreiviertelminute werde ein Wagen vorbeifahren, und man werde veranlassen, daß er an dem Pfeiler hielt; falls er nicht hielt, solle er den neben dem Telefon befindlichen Alarmschalter betätigen. Trotz der Verwendung seines »Läufers« war seit dem Aufbruch damit fast eine Stunde verstrichen. Seit dem Verlassen des Vorpostenbunkers waren ungefähr neunzig Minuten vergangen – gut über eineinhalb Minuten der dortigen Zeit. Der Wagen kam und hielt, er kletterte hinauf und hinein, und diesmal verlief die Fahrt ohne Zwischenfälle, abgesehen davon, daß manchmal plötzliche Sturmböen das Fahrzeug packten und bisweilen Scharen aufgescheuchter Krähen vorüberflatterten, bis der Wagen schließlich zur Endstation gelangte, einem gedrungenen Hochbau, der an den üppiger bewachsenen Hängen stand. Der Wagen von unten 245
kam entgegengefahren, und als die Fahrzeuge einander passierten, gab aus dem anderen Wagen ein Mann per Funk den Hinweis »Erster eines ganzen Schubs!« durch. Tatsächlich standen im Innern der Endstation etwa zwanzig Mann mit kompletter Ausrüstung bereit – fast genug, daß es gerechtfertigt gewesen wäre, sie mit einem PolyHeli nach oben zu befördern, statt nach und nach mit den Wagen, die nur in längeren Abständen eintrafen. Allesamt wirkten sie aufgeregt und nicht im geringsten bedrückt, aber Hadol verzichtete darauf, etwas von seiner Zukunft auszuplaudern. Er setzte seinen Weg mit der Zahnradbahn fort, in Gesellschaft einiger Männer, die mehr Interesse an der Landschaft als an ihren Kameraden zeigten. Ein dunkelrötlicher Schleier von undurchdringlicher Dichte verhüllte ungefähr einen halben Kilometer nördlich die Kämme der Höhenzüge. Etwa einen Kilometer südlich begrenzte der bläuliche Nebel den Ausblick über das Tal, doch dazwischen war die Breitengradzone ansonsten einigermaßen klar und frei von offenkundigen Spuren der Kriegführung. Die Abhänge waren in höheren Bereichen von Hainen aus Kiefern und weiter unten von solchen aus Eichen und Eschen bestanden, bis die Bewaldung am angestellten Rande des Großen Tals, dessen Weideland man durch die Baumgruppen erspähen konnte, schließlich ganz verschwand. Die Schatten von Wolken, die am Himmel dahinwirbelten, glitten wie spielerisch über den Untergrund, Regengüsse und Hagelschauer fegten darüber hinweg, 246
und gelegentlich gewahrte man das Blitzen und Grollen eines Unwetters. Flüchtig konnte man hier und dort einen Blick auf Wild erhaschen, und über den Bäumen tanzten dichte Schwärme von Stechmücken. Eine rund fünfzigminütige Fahrt brachte sie hinunter, vorüber an zwei menschenleeren Stationen, durch zwei gewundene Tunnels, hindurch zwischen Wasserfällen und unter Klippen, wo Eichhörnchen von einer der Wurzeln, die dort herabbaumelten, zur anderen sprangen, durch eine immer wärmer werdende Luft, bis hinab zu den Weiden und Kornfeldern des Großen Tals, in dem oberhalb des gewundenen Flusses auf einer Anhöhe Emmel lag, ein enges Dorf aus Betonhäuschen und hölzernen Blockhütten. Von dort aus führte – parallel zu einer Bahnlinie – eine breite Straße geradewegs in den Osten. Der Strom war hier wirklich nicht sonderlich groß – er hatte ein flaches, steiniges, aber beschauliches Flußbett, und das Große Tal (dessen gesamte Ausdehnung man nun überblicken konnte) war an dieser westlichen Stelle kaum einen halben Kilometer breit. Die südwärtigen Hänge grenzten an das NordwestPlateau, das nun ebenfalls sichtbar war und eine reichhaltige Buschlandschaft aufwies. Der krasse Gegensatz dessen, was oben vorging – und was er nach obiger Bunkerzeit vor erst etwa vier Minuten hatte mitmachen müssen –, erzeugte in Hadolar nahezu einen Taumel der Freude. Dennoch händigte er seine leuchtfarbene Plakette pflichtgemäß in der Militärischen Abfertigungsstelle dem Wach247
habenden aus und ließ sie strahlungsprüfen, kontrollstanzen und abstempeln (und ebenfalls seine ständig mitzuführende Ausweismarke). Das abtrennbare Stück am Ende der Plakette erhielt er zurück; er mußte es in den Identitäts-Disc stecken, den er – wie stets – in einen Schlitz in einer seiner Rippen zu schieben hatte; der andere Teil kam zu den Akten. Er stieg aus seinem Sch.-Anz. und dem »Läufer«, lieferte M-Waffe, Munition und NotSet ab, erhielt zwei Brieftaschen mit jeweils tausend Credits in Gutscheinen sowie einen Zeitweil. Ziv.-Anz. Ein Sanitäter führte ihm ordnungsgemäß den Identitäts-Disc ein. Die ganze Zeremonie dauerte, von seiner Ankunft an gerechnet, knapp 250 Sekunden – zwei Sekunden drüben am Beobachtungsbunker. Er ging hinaus, als sei er der Erbe der ganzen Welt. Die Luft war voller Gerüche, nach Heu, nach Beeren, Blumen, Dung. Er atmete davon bis zur Berauschung. Im Imbiß bestellte, bezahlte und trank er vier Dezi leichtes Bier, dann bestellte er ein Sandwich und einen Apfel, bezahlte und verzehrte beides. Man sagte ihm, der nächste R-Transport ostwärts werde in einer Viertelstunde abfahren. Er hatte sich etwa eine halbe Stunde lang in der Imbißhalle aufgehalten. Ihm blieb keine Zeit mehr, sich den Fluß anzuschauen; statt dessen spazierte er zum Bahnhof, kaufte eine Fahrkarte nach Veruam am Meer, rund 600 Kilometer östlich und – wie die detaillierte StreckennetzÜbersicht zeigte – ungefähr 45 Kilometer südlich gelegen, und als der R-Transport aus dem Schuppen 248
in die Halle vorfuhr, suchte er sich ein Abteil. Gleich hinter Hadolar stiegen nacheinander ein Bauernmädchen und ein männlicher Zivilist ein, der einen schläfrigen Eindruck machte – wahrscheinlich ein Heereslieferant –, und so saßen sie in genau dieser Zusammensetzung zu dritt im Abteil, als der RTransport abfuhr. Er musterte das Bauernmädchen mit Interesse – es war blond und ein ruhiger Typ –, weil es die erste weibliche Person war, die er seit hundert Tagen zu sehen bekam. Wie er feststellte, hatte sich die Mode innerhalb von rund dreißig Jahren keiner radikalen Veränderung unterzogen, jedenfalls nicht bei den Bauernmädchen in Emmel. Nach einem Weilchen wandte er den Blick ab und betrachtete die Landschaft. Das Tal war nun von Felsen aus gelblichem Gestein gesäumt, mal im Norden, mal im Süden. Man konnte hier sogar die Verschiedentlichkeit der Farbtöne erkennen (das Tal war ein wenig breiter geworden); oder er bildete es sich nur ein, und die verschiedenen Farbtöne waren lediglich auf herkömmliche Effekte des Tageslichts zurückzuführen. Der Fluß schlängelte sich anmutig von einer zur anderen Seite und von Klippe zu Klippe. Gelegentlich sah man Inseln, alle winzig und bewachsen mit Haselnuß. Da und dort konnte man einen Fischer an einem Ufer oder durchs Wasser waten sehen. In gewissen Abständen kamen Gehöfte in Sicht. Nördlich oberhalb des Tals ragten die ausgedehnten Wände des Gebirgsmassivs empor – dem Anschein zufolge bar allen menschlichen Lebens, sah man einmal ab von 249
den Seilbahn-Stationen und hier und dort einem Hubschrauber-Landeplatz –, bis sie in den weitgespannten karminrot-bronzenen Schleier aus Nichts eintauchten, der nahe des Zenits in unmerklichem Übergang aus einem halb von Wolken verhangenen, grünlichen Himmel wuchs. Strudel eines Wirbelwindes zwischen den Wolken legten Zeugnis von den Auswirkungen des Zeit-Gradienten auf das Wetter ab, und in ihrer Mitte schienen sonderbar verästelte Blitzstrahlen, die im Norden, wo der Krieg tobte, gar nicht auffielen, Pirouetten zu vollführen. Im Süden war das Plateau noch hinter den Felsketten verborgen, aber oberhalb der Tal-Umrisse begannen sich nun allmählich Ansätze dunkelblauen Dunstes abzuzeichnen. Der R-Transport hielt an einer Station, und mit Bedauern sah Hadolar zu, wie das Mädchen ausstieg. Zwei Soldaten in Ausgehuniform stiegen zu und tauschten ein paar belanglose Erinnerungen aus; sie befanden sich auf Kurzurlaub und waren unterwegs zur nächsten Ortschaft, einer Kleinstadt namens Granev; sie schielten Hadolars Zeitweil. Ziv.Anz. an, sagten jedoch nichts. Granev war hauptsächlich aus Stahl und Glas erbaut: ein alles andere als aufregend attraktiver Ort. Das Städtchen bildete beiderseits seiner Hauptstraße einen jeweils acht Kilometer langen Siedlungsstreifen, einen Wohnblock mit je zwanzig Stockwerken, und die städtischen Wege waren überdacht. (Was für ein Glück, dachte sich Hadolar, daß Verständigung und Reisen so weit das Große Tal hinab möglich wa250
ren, buchstäblich über die ganzen zirka 670 Kilometer hinweg, ohne daß Probleme mit den Breitengraden auftraten.) Industrie und einige TechKols kamen in Sichtweite. Das Tal war immer breiter geworden, bis nun die südlichen Felsklippen, ungefähr einen Kilometer von der Bahnlinie entfernt, im blauen Dunst verschwanden. Bald waren die Felswände im Norden nur noch in düsterem, rauchigem Rotbraun zu erkennen, bis zuletzt auch sie außer Sicht gerieten. Der Strom war mittlerweile – wie sich jedesmal ersehen ließ, wenn der R-Transport, ihn überquerte – durch Zuflüsse angeschwollen, mehrere hundert Meter breit und recht tief. Bis jetzt hatte der R-Transport nur etwa achtzig Kilometer zurückgelegt. Die Luft erwärmte sich noch mehr, die Vegetation war üppiger. Fast alle Fahrgäste waren nun Zivilisten, und einige nahmen mit gewisser Ironie von Hadolars Zeitweil. Ziv.-Anz. Kenntnis. Er beschloß, sich in Veruam bei erstbester Gelegenheit mit neuer Garderobe auszustatten. Gegenwärtig allerdings lag ihm an nichts mehr, als in kürzester persönlicher Zeit so viele Kilometer wie möglich zwischen sich und den Bunker zu bringen. Einige Stunden später traf der R-Transport in Veruam am Nordostmeer ein. Fünfundvierzig Kilometer lang, vierzig Stockwerke hoch und von Nord nach Süd 500 Meter breit, war es eine eindrucksvolle Stadt. In den Randgebieten gab es nichts als Ebene zu sehen, denn im Norden verbarg noch der rötliche 251
Nebel alles, was über ungefähr sechs Kilometer entfernt lag, und im Süden verschleierte in rund zehn Kilometer Entfernung der bläuliche Dunst die Aussicht. Hadolaris, der keine Not litt, wandte sich an einen der etlichen Rehabilitations-Berater der Stadt, denn die zivilen Arbeitstechniken und materiellen Hilfsmittel hatten sich erheblich weiterentwickelt, seit er sich das letzte Mal damit befaßt hatte. Die Mundarten und die Sprechweise hatten sich in verwirrendem Maße gewandelt, und der gesamte Modus des gesellschaftlichen Verhaltens war in erschreckendem Umfang anders geworden. Gewappnet mit Handbüchern, einem Taschen-Recorder sowie ein paar Bändern mit Standard-Redensarten und Erläuterungen zur eingebürgerten Lebensart, machte er sich unverzüglich daran, dünnere Bekleidung, Wetterschutzkleidung, Schreibutensilien, weitere Aufnahmegeräte, Reisebeutel und andere persönliche Bedarfsgegenstände einzukaufen. Nach einer Nacht in einer anständigen Pension vereinbarte Hadolaris Gespräche mit den Personalchefs von sieben SubtropenMarktentwicklungsgesellschaften; man prüfte ihn auf seine Eignung und versah ihn mit sieben Begleitschreiben. Noch am Abend nahm er den R-Transport an der Nordostmeerküste entlang zum 550 Kilometer entfernten Oluluetang im Süden. Einer der Schneider, bei denen er sich eingekleidet hatte, hatte ihm verraten, daß man in sehr stillen Nächten ein dunkles, dumpfes Dröhnen hören konnte, vermutlich aus dem nördlichen Gebirge. Hadolaris wollte so weit 252
fort aus dem Norden, wie es sich ohne größere Umstände machen ließ. Er erwachte zwischen Palmen und Savannenschilf. Hier war von den beiden Sichtbarrieren keine Spur mehr zu bemerken. Die Stadt war in verschiedene kompakte Blocks vielstöckiger Gebäude unterteilt, jeweils voneinander getrennt durch prächtiges Waldland und fahrwegartige Straßendämme sowie Gleisstrecken. Anders als die Ortschaften im Großen Tal war sie – trotz der vergleichsweisen Kürze ihrer Nord-Süd-Achse – nicht auf nordwestliche Längsrichtung angelegt. Hadolarisóndamo suchte sich eine kleine Pension, zog einen Stadtplan – in dem auch die Industriegebiete verzeichnet waren – zu Rate, erwarb einen Führer für die nähere Umgebung und verbrachte mehrere Tage damit, sich umzuschauen und Erkundigungen einzuziehen, bevor er die Geschäftsstellen der sieben Marktentwicklungsgesellschaften aufsuchte. Abends saß er in Fortbildungskursen, und in den Nächten eignete er sich durch die Schlaflernmethode unbewußt den Inhalt der Bänder mit den Standard-Redensarten und sonstiges Wissen an. Zum Schluß – neunzehn Tage später (etwa vier Stunden auf Veruams Breitengrad, vier Minuten auf dem Emmels und keine zwei Sekunden droben im Beobachtungsbunker, sann er) – erhielt er in einer der Firmen eine Anstellung als untergeordneter Verkaufsleiter für Gemüseprodukte. Die Kommunikation nach Norden und Süden, so fand er heraus, war hier fernmündlich durchaus etli253
che Kilometer weit möglich, vorausgesetzt allerdings, man kannte sich mit den Gesetzmäßigkeiten aus. Infolgedessen erwies sich die hiesige Zoneneinteilung als kein allzu großes Hemmnis, und Reisen sowie die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Angebots waren in ziemlich weitem Umkreis durchführbar. Militär sah man hier selten. Hadolarisóndamo legte sich ein Automob zu, und später, als er in der Firma aufstieg, ein zweites für die Freizeit. Man mochte ihn, und bald hatte er einen gewissen Freundeskreis und eine ganze Anzahl von Hobbys. Nach eine Reihe von Liebesaffären heiratete er ein Mädchen, dessen Vater in der Firma eine hohe Stellung einnahm, und rund fünf Jahre nach seiner Ankunft in der Stadt durfte er sich Vater eines Knaben nennen. »Arisón«, rief seine Frau aus dem Boot. Ihr Sohn, nun fünf, trat an der warmen Oberfläche des Sees Wasser, die Fäuste überm Dollbord. Hadolarisóndamo saß auf einem der Inselchen und malte: mit zügigem Strich und raschen Tupfern bedeckte er die Leinwand auf der Staffelei, aus den Sumpfgehölzen über einer kleinen Bucht brach ein Muster aus Licht und Schatten. »Arisón! Ich bekomme das Ding nicht in Gang. Könntest du mal rüberschwimmen und es versuchen?« »Noch fünf Minuten, Mihányo. Erst muß ich das hier fertig haben.« Karamihányolàsve seufzte und bemühte sich weiter, obwohl mit wenig Hoffnung, vom Bug aus mit 254
ihrem horizontalen Jo-Jo-Angelgerät einen Fisch zu ergattern. Das Wasser war hier etwas zu unbelebt, als daß damit zu rechnen gewesen wäre, daß bald einer anbiß. Im Geäst zur Rechten flatterte ein Sittich. Derestó, der Junge, hörte mit dem Wassertreten auf, zog sich das Vertiskop aus dem Boot und ließ von Mihányo den Schalter für die Leuchte betätigen. Dann spähte er da- und dorthin unter die Oberfläche und stieß gedämpfte Rufe aus, als er winzige Fische der verschiedensten Formen und Farben einherflitzen sah. Schließlich rief Arisón, daß er es geschafft habe, klappte die Staffelei zusammen, streifte seine Hose ab, legte Farben und Leinwand obenauf und schwamm hinüber. In diesem See gab es keine Krokos, die Hippos befanden sich abseits, und Fadenwürmer und Bilharzien waren ausgerottet worden. Zwanzig Minuten angestrengten Herumfummelns brachten alles in Ordnung, versetzten die leise, durch Energiezellen bewegte Antriebsschraube wieder in Bereitschaft, um das Boot hinüber zur Insel steuern zu können, auf der Arisón vorhin gemalt hatte, dann weiter über den See bis zu der Stelle, wo die Wasser eines kleinen Bachs zuflössen. Dort fingen sie schließlich vier Fische. Als am Ende im Westen die Sonne sank, kehrten sie zurück zur Anlegestelle, vertäuten das Boot und fuhren im Automob heim. Als Derestó acht war und feierlich Lafonderestónami genannt werden konnte, hatte er eine dreijährige Schwester und einen kleinen, einjährigen Bruder. Er 255
war ein tüchtiger Schwimmer und verstand ebenso fähig mit dem Boot umzugehen, und er entwickelte sich zu einem richtigen jungen Organisationstalent, sowohl in der Schule wie auch zu Hause. Inzwischen nahm Arisón in der Firmenleitung den dritthöchsten Posten ein, aber er behielt in seiner Lebensweise ein gesundes Gleichgewicht bei. Den Urlaub verbrachten sie entweder fern in den Tropen zu (wo man dank des Zeitgefälles dazugewann) oder in den Vorgebirgen an der Südküste des Nordostmeers (wo man ein bißchen Zeit einbüßte), oder – immer regelmäßiger – im westlichen, von vielen Flüssen durchzogenen, landwirtschaftlichen Hochland, wo man vielerorts einen ungeheuer weiten Fernblick hatte und die Wolkenfelder keine Grenzen kannten. Sogar von dort aus sah man die Sichtbarrieren nur als Dunststreifen am nördlichen und südlichen Horizont, wenn der Himmel einen dunklen Hintergrund abgab. Ab und zu, meist während einer ruhelosen Nacht, dachte Arisón an die »Vergangenheit«. Im allgemeinen gelangte er stets zu der Schlußfolgerung, daß es kaum noch, falls eine halbe Stunde – um eine Schätzung vorzunehmen – nach seiner Ablösung ein Durchbruchsversuch erfolgt war, hier im Süden irgendeinen Einfluß auf sein Leben und das seiner Frau haben konnte, nicht einmal das ihrer Kinder, berücksichtigte man die südwärtige Zeitverlangsamung. Außerdem überlegte er, daß die Artillerieduelle dicht an der Front stattfinden mußten, weil nämlich nie irgendein Geschoß südlicher einschlug als an 256
einem Punkt nördlich von Emmels Breitengrad; oder falls es sich anders verhielt, mußte es dem Feind völlig an Kenntnissen der südlichen Zeit-Gradienten und der südlichen Geografie mangeln, so daß er das Verschießen seiner Raketen von deutlich nordwärts der Front bis weit südlich davon als nicht den Aufwand wert einstufte. Und selbst der schnellste Helikopter würde, gegen die Zeitbeschleunigung geflogen (so nahm er an), nicht durchkommen. Weil er schon immer anpassungsfähig gewesen war, hatte Arisón nach seiner Heimkehr von der Zeitfront nicht lange unter Umstellungsschwierigkeiten zu leiden gehabt. Das R-Transportnetz und andere Arten des Verkehrs und der Kommunikation hatten sich so verdichtet, daß man allgemein Tendenzen zur Angleichung von Sprache und Sitten feststellen konnte, obwohl naturgemäß die höheren Gebiete des Großen Tals und die militärische Zone in den Bergen sprachlich und gesellschaftlich ein wenig isoliert blieben. Auch im westlichen Hochland hielten sich Bereiche älterer sprachlicher Formen und altmodischer Bräuche, wie die Familie während ihrer Urlaubsreisen wiederholt beobachten konnte. Im großen und ganzen jedoch redete man im ganzen Land die Sprache der »zeitgenössischen« subtropischen Ebenen, unweigerlich natürlich auch in Abwandlungen, die auf der Onomatosyntomie oder »Schnellmäuligkeit« der unterschiedlichen Breitengrade beruhte. Auch »zeitgenössische« Sitten und gesellschaftliche Normen hatten sich herausgebildet. Man konnte sa257
gen, daß die südliche Gegenwart die nördliche Vergangenheit »kolonisiert« hatte, sogar die geologische Vergangenheit, wenn man die Vögel und andere Tiere berücksichtigte, die Wanderungen vornahmen; auf jeden Fall galt es jedoch in bezug auf den Einsatz größerer Ressourcen an menschlichem Einfallsreichtum auf Flexibilität, Traditionen und Techniken. Normalbürger kümmerten sich kaum um den Krieg. Die Zeitbeschleunigung arbeitete zu ihren Gunsten. Ihre unbeanspruchten geistigen Kräfte verwendeten sie für eine umfangreiche Auswahl an Spielereien und Zeitvertreiben, Gemache, Repräsentation, schöpferischer Betätigung, Entspannung, Kritik, Theoretisiererei, Diskussionen, Vereinsmeierei, Veranstaltungen und gesellschaftlichen Anlässen sowie gemeinsamen Projekten, aber nicht allzu häufig außerhalb der eigenen Gegend. Arisón war Mitglied eines Dutzends miteinander verflochtener Zirkel, und Mihányo pflegte sogar noch mehr Kontakte. Nicht etwa, daß sie nie allein gewesen wären; das geruhsame Tempo des Arbeitens und Lebens im Rhythmus von zwei »Wochen« zu fünf Arbeitstagen und zwei freien Tagen sowie sieben Arbeitstagen und sechs freien Tagen – ein System, das die gesamte Bevölkerung und alle Organisationen und Firmen erfaßte – ließ ihnen reichlich Freizeit, die sie mit sich allein verbringen konnten. Arisón fing mit TexturSkulptik an, kehrte nach zwei Jahren jedoch zum Malen zurück, diesmal mit dem Magnet-Pinsel statt mit dem Spraystift; durch seine Periode der Textur258
Skulptik geläutert, gelang es ihm, sich eine starke Beherrschung der Flächendarstellung zu erarbeiten und einen gewissen Namen zu machen. Mihányo dagegen entfaltete sich als Musikerin. Derestó würde sich, soviel ließ sich bereits voraussehen, als Führungspersönlichkeit bewähren, sowohl hinsichtlich der Menschen wie auch der Organisationen; außerdem zeichnete er sich von dreizehn Jahren an durch sportliche Leistungsfähigkeit aus. Seine achtjährige Schwester erwies sich als große Rednerin und Rhetorikerin. Der Sechsjährige würde, wenn die Hoffnungen nicht trogen, Autor werden (wenigstens erst einmal nebenberuflich): er hatte einen scharfen Blick für die Gegebenheiten des Daseins und einen ausgeprägten Drang, darüber etwas zu erzählen. Sobald er im Unternehmen den zweithöchsten Posten errungen hatte, gab sich Arisón damit zufrieden, dort zu verbleiben: Chef zu werden, hätte zuviel von ihm gefordert. Gelegentlich äußerte er sich zu Angelegenheiten der örtlichen Verwaltung, spielte dabei jedoch keine wesentliche Rolle. Mihányo und Arisón sahen am Nordostmeer von ihrer Barkasse aus einem festlichen Feuerwerk zu; die Barkasse lag vor einem der südlichen Vorgebirge. Das Tintenschwarz der nördlichen Sichtbarriere, die in riesenhaftem Bogen einen Teil des Sternenhimmels verdunkelte, gab hier einen hübschen, wie samtenen Hintergrund für die Darbietung ab. Zum Glück war auch das Wetter schön. Die Umrisse der Schiffe, 259
von denen aus man das Feuerwerk veranstaltete, ließen sich gerade noch unterscheiden. Auf einer Welt, die keinen Mond kannte, ließen sich die Freuden einer »lauschigen Nacht« oftmals nur durch solche aufwendigen Maßnahmen vermitteln. Das Mädchen und Derestó schwammen unablässig rund um die Barkasse. Sogar den Jüngsten hatten sie noch einmal herausgeholt, und er schaute nun reichlich verschlafen nach Norden. Zum Schluß schoß man den dreifachen grünen Stern an den Himmel, und das Schauspiel war vorüber; auf den Feuerwerks-Schiffen war es inzwischen Mitternacht geworden. Sie riefen Derestó und Venoyye, nachdem sie die beiden mit Hilfe einer Leuchtkugel wieder ausfindig gemacht hatten, zurück an Bord, und schließlich bequemten sie sich tatsächlich dazu, wieder aufs Boot zu klettern; sie schlotterten ein bißchen und trockneten sich daher in der Warmluftkabine, tänzelten dabei wie zwei Kobolde. Arisón steuerte die Barkasse zur Küste; Silarre schlief schon wieder. Auch Venoyye war eingeschlafen, als sie die Anlegestelle erreichten. Ihre Eltern mußten die zwei an Land und ins Strandhaus tragen. Am folgenden Morgen packten sie und fuhren im Automob heim. Ihr zwanzigtägiger Urlaub hatte nach Oluluetanger Zeit 160 Tage gedauert. Es regnete stark, als sie in die Stadt gelangten. Sobald sie die Kinder ins Bett gebracht hatten, führte Mihányo per Visavisfon ein langes Gespräch mit ihrer Freundin auf der anderen Seite Oluluetangs; sie (die Freundin) 260
war mit ihrem Mann zur Dachsbeobachtung im westlichen Hochland gewesen. Zuletzt bemächtigte sich Arisón des Apparats und tauschte mit dem Ehemann – nach einiger allgemeiner Konversation – einige Ansichten über die Entwicklungen in der Lokalpolitik aus. »Was für eine Schande, daß man hier unten so schnell alt wird«, jammerte Mihányo am selben Abend. »Könnte das Leben nur für immer weitergehen.« »Für immer ist ein großes Wort. Außerdem macht das Leben hier unten keinen Unterschied darin aus, wie man sich fühlt – am Meer hast du doch auch nicht den Eindruck, daß das Leben langsamer vergeht, oder?« »Wahrscheinlich nicht. Aber wenn’s so wäre …« Um ihre Stimmung aufzubessern, begann Arisón über Derestó und dessen Zukunft zu reden. Bald waren sie dabei, die Zukunft ihrer Kinder in einer Art und Weise zu planen, wie es zu tun Eltern nie widerstehen können. Dank seines Gehalts und etlicher Investitionen in der Firma würde es ihnen möglich sein, dem Jungen eine große Verwaltungslaufbahn zu eröffnen und trotzdem noch genug übrig haben, um auch den anderen Kindern jede Chance zu bieten. Am nächsten Morgen verabschiedete sich Arisón noch in so etwas wie einer restlichen Glanzstimmung von seiner Frau und ging an die Wiederaufnahme seiner Tätigkeit im Unternehmen. Er hatte einen außerordentlich betriebsamen Tag; als er im abendli261
chen Dämmerlicht das Firmentor durchquerte und zu seinem untergestellt geparkten Automob strebte, sah er es von drei Angehörigen des Militärs umlungert. In stummer Fragestellung musterte er sie, indem er sich näherte, seinen persönlichen Pulsat.-Schlüssel in der Hand. »Sie sind VSQ 389 MLD 194 R.V 27 XN 3, bekannt unter dem Namen Hadol Arisóndamo, wohnhaft« (der Mann nannte die Anschrift) »und gegenwärtig Stellvertretender Vorsitzender dieses Unternehmens.« Der unterkühlte Tonfall des Wortführers sprach Feststellungen aus, keine Fragen. »Ja«, bestätigte Arisón leise, sobald er wieder sprechen konnte. »Ich habe hier einen Einberufungsbefehl zwecks Ihres unverzüglichen Wiedereinsatzes bei unseren Streitkräften in dem Frontabschnitt, wo Sie abgelöst worden sind. Sie haben sofort mitzukommen.« Der Wortführer brachte eine leuchtorangene Plakette mit schwarzen Kennzeichnungen zum Vorschein. »Aber meine Frau, meine Familie!« »Sie werden benachrichtigt. Wir haben keine Zeit.« »Und meine Firma?« »Ihr Chef wird benachrichtigt. Kommen Sie jetzt.« »Ich … ich … ich muß erst meine Angelegenheiten in Ordnung bringen.« »Ausgeschlossen. Keine Zeit. Die Lage drängt. Ihre Familie und Ihre Firma müssen diese Dinge untereinander ausmachen. Unsere Befehle haben absoluten Vorrang.« 262
»Wie … wie können Sie Ihre Befugnisse nachweisen? Haben Sie eine dienstliche Legitimation?« »Diese Plakette dürfte genügen. Sie paßt zu dem Stück Plakette, das Sie hoffentlich noch in Ihrem Identitäts-Disc stecken haben – wir werden das alles unterwegs checken. Kommen Sie jetzt mit.« »Aber ich muß Ihre Legitimation sehen, woher soll ich denn, zum Beispiel, sonst wissen, daß Sie mich nicht bloß berauben wollen oder so was?« »Wenn Sie den Code kennen, müßte Ihnen klar sein, daß diese Symbole nur in eine einzige Situation passen können. Aber ich will ein Zugeständnis machen: Sie dürfen sich den Wiedereinberufungsbefehl ansehen, aber fassen Sie ihn nicht an.« Die beiden anderen Männer traten näher. Arisón sah, daß sie ihn in Schußrichtung ihrer M-Waffen hielten. Der Wortführer zog ein langes Schreiben heraus. Im Schein der Stablampe, mit der man ihm leuchtete, entzifferte Arisón – soweit es ihm möglich war, die Buchstaben, die vor seinen Augen zu tanzen schienen, zu erkennen – eine schriftliche Anordnung, die besagte, man habe ihn, Arisón, heute um die und die Zeit (Ortszeit) abzuholen, falls durchführbar, unmittelbar nach Verlassen des Arbeitsplatzes (Örtlichkeit angegeben); darunter hieß es, ein Untergebener solle gleichzeitig per Visavisfon Mihányo verständigen, ein anderer den Chef der Firma anrufen. Der Wiedereinberufene sei so schnell wie möglich zum Befehlsbunker (VV) zu bringen und dann zum vorgeschobenen Bunker (den er, durchzuckte es da 263
Arisóns Gehirn, vor rund zwanzig Jahren verlassen hatte, in Bunkerzeit jedoch vor erst etwa zehn Minuten – ließ man einmal die sechs oder sieben Minuten außer acht, die seine Fahrt in den Süden beansprucht hatte). »Woher will man denn überhaupt wissen, daß ich mich nach all den Jahren noch für so etwas eigne?« »Ohne Zweifel hat man Sie regelmäßig gecheckt.« Arisón spielte mit dem Gedanken, den einen Mann umzustoßen und dadurch auch die beiden anderen aus dem Gleichgewicht zu bringen, dann einfach auszureißen, aber die zwei hatten ihre M-Waffen unmißverständlich auf ihn gerichtet. Und außerdem, was könnte er dadurch gewinnen? Ein paar Stunden Vorsprung, nutzlose Unannehmlichkeiten, Blamage und Ruin für Mihányo, die Kinder und ihn selbst; denn erwischen würde man ihn bestimmt. »Das Automob«, erhob er einen lächerlichen Einwand. »Ganz unbedeutende Sache. Ihre Firma wird sich darum kümmern.« »Aber wie kann ich für die Zukunft meiner Kinder sorgen?« »Kommen Sie, es hat keinen Zweck, darüber zu diskutieren. Sie kommen jetzt mit, tot oder lebendig, wohl oder übel.« Stumm ließ Arisón sich zu einem leichten Militärfahrzeug führen. Binnen fünf Minuten saß er im R-Transport, einem gepanzerten Ungetüm mit dicken Fenstern. Innerhalb 264
weiterer zehn Minuten, in deren Verlauf der RTransport abfuhr, entledigte man ihn seiner Zivilkleidung und Habseligkeiten (die man, wie er erfuhr, später seiner Frau zukommen lassen würde), holte den Identitäts-Disc heraus, checkte ihn, entfernte das Stück Plakette, das seine Ablösung nachgewiesen hatte, unterzog ihn dann einer ärztlichen Untersuchung. Letztere fiel anscheinend zur vollen Zufriedenheit der militärischen Dienststelle aus. Er erhielt militärische Kleidung. Er verbrachte im Transport eine schlaflose Nacht, versuchte Klarheit darüber zu erlangen, was er aus dem gemacht hatte, wie jenes sich bewähren würde, auf wen Mihányo sich im Notfall verlassen könnte, wer ihr wahrscheinlich helfen, wie sie mit den Kindern zurechtkommen und was für eine Rente (so gut er das abschätzen konnte) sie erhalten würde, die (soviel man ihm erläutert hatte) die Firma zahlen mußte, wie weit es nun noch möglich war, die für die Kinder angepeilte Zukunft wirklich aufzubauen. In grauer Frühdämmerung traf der Transport in Veruam ein. Mit leerem Magen (er war außerstande gewesen, die Rationen zu essen) und ohne geschlafen zu haben stierte er geistlos hinaus auf den Rangierbahnhof. Die Männer mußten aus dem Transport (allem Anschein nach waren nur wenige Wiedereinberufene dabei) in geschlossene Lastwagen umsteigen, und die lange Kolonne setzte sich in Bewegung nach Emmel. In diesem Moment begann Arisóns Gehirn sich 265
von neuem die Verhältnisse der Zeitbeschleunigung zu vergegenwärtigen. Ganz oben in seinem Beobachtungsbunker mußte, überschlug er, seit seiner Abfahrt aus Oluluetang ungefähr eine halbe Minute vergangen sein. Die Fahrt nach Emmel mochte etwa zwei weitere Minuten in Anspruch nehmen. Der Weg von Emmel bis zum Bunker konnte nochmals zweieinhalb Minuten dauern, soweit sich das mathematische Kalkül festlegen ließ. Rechnete er die sechzehn bis siebzehn Minuten seiner zwanzig Jahre im Süden (und der Reise dorthin) dazu, konnten im Bunker, seit er sich von dort verabschiedet hatte, nicht mehr als rund zweiundzwanzig Minuten verstrichen sein. (Mihán, Deres und die beiden anderen mußten nun fast zehn Jahre älter sein, und wahrscheinlich hatten ihn die Kinder allmählich vergessen.) Das Bombardement war bei seiner Verabschiedung ungewöhnlich stark gewesen, und er entsann sich (tatsächlich hatte er sich seither mehrmals in Alpträumen damit auseinandergesetzt) an seine gegenüber XN 1 geäußerte Prophezeiung, man müsse innerhalb der nächsten Stunde einen Durchbruchsversuch befürchten. Falls er das Großbombardement überlebte, war doch die Wahrscheinlichkeit gering, daß er auch einen Durchbruch überstand; und einen Durchbruch von wem? Niemand hatte den Feind gesehen, diesen Feind, der seit undenklichen Zeiten danach trachtete, die Grenze zu überschreiten. Sollte es ihm gelingen, so stand der Untergang des Menschengeschlechts bevor. Kein Grauen, so glaubte man an der Front, 266
konnte dem Grauen der Stunde gleichkommen, in der dies geschah. Nach ungefähr hundertfünfzig Kilometern schlief er aus lauter Erschöpfung endlich ein, saß in verkrampfter Haltung da, an seinen Nachbarn gelehnt. Stopps, Anfahren und Kurven schreckten ihn in gewissen Abständen auf. Der Konvoi fuhr mit Höchstgeschwindigkeit. In Emmel tobte, als er ins Freie stolperte, ein Unwetter. Der Fluß führte Hochwasser. Die Männer marschierten in Reih und Glied zum Depot. Man sonderte Hadolar aus und brachte ihn zur Abfertigungsstelle, wo man ihn impfte, ihm »Läufer«, NotSet, Sch.-Anz. M-Waffe und sonstige Ausrüstungsgegenstände aushändigte, und eine Viertelstunde später (droben im Bunker vielleicht sieben oder acht Sekunden) hockte er mit dreißig anderen Männern in einem PolyHeli. Der Hubschrauber hatte kaum den ersten Höhenzug überquert und sich hinauf in den Sonnenschein erhoben, da konnte man an allen Seiten Explosionen und Stichflammen sehen. Die Maschine dröhnte weiter auf ihrem Kurs dahin, während sich eine Sichtbarriere allmählich hinter ihr schloß, die andere sich wie widerwillig vor ihr teilte. Das Schwindelgefühl, das Schlafwandlerische, wie es im Norden auftrat, erfaßte Had von neuem. Gedanken an Kar und die Kinder glichen jetzt nur noch dem Anzapfen der Pein eines Geistes, der mit ihm Hirn und Körper gemeinsam hatte. Nach fünfundzwanzig Minuten Flug landeten sie nahe beim unteren Ende einer R-Transportstrecke. Die zweiundzwanzigminütige 267
Zeitspanne im oberen Bunker, konnte Had nun absehen, würde etwas kürzer ausfallen. Man wies ihn als dritten in eine der R-Transportkapseln, und 190 Sekunden später war er oben und unterwegs in den Bunker W. XN 1 reagierte auf seinen Gruß lediglich mit dem knappen Befehl, sofort per R-Transport den Weg zum Vorposten fortzusetzen. Wenige Augenblicke danach sah er XN 2 wieder. »Ach, da sind Sie ja. Ihre Ablösung ist gefallen, deshalb haben wir Sie zurückgefordert. Sie waren gerade erst ein paar Sekunden weg.« Ein zerklüftetes Loch in der Bunkerwand legte von dem Vorfall Zeugnis ab. Den entkleideten Leichnam der Ablösung schaffte man soeben zur Vernichteranlage. »XN 2. Hier geht’s lebhafter zu als je zuvor. Auf jeden Fall haben wir’s mit wahren Teufeln zu tun. Mir ist aufgefallen, daß jeder neue Feuerschlag von unserer Seite durch sie innerhalb einer Minute mit gleicher Härte erwidert wird. Das neue Geschütz hatte gerade erst zu feuern angefangen, da schossen sie auch schon mit gleichartigen Granaten zurück – ich wußte gar nicht, daß sie sie auch haben. Sie zahlen mit gleicher Münze.« In H.s Gehirn, durch Hunger, Erschöpfung und viel Gefühl scheinbar geläutert, zuckte ein unaussprechlicher Verdacht auf, ein Verdacht, den man weder beweisen noch widerlegen konnte, weil er zu wenig Wissen und Erfahrung besaß, einen zu geringen Gesamtüberblick. Niemand hatte den Feind je gesehen. Niemand wußte, wie oder wann der Krieg 268
ausgebrochen war. Nachrichten und Verständigung unterlagen hier oben in nahezu lähmendem Maße Erschwernissen. Niemand hatte eine Ahnung, wie es sich tatsächlich mit der Zeit verhielt, wenn man sich der Grenze dicht näherte, oder wie es dahinter mit ihr stand. Konnte es sein, daß die Zeitbeschleunigung dort unendlich war und es jenseits der Grenze gar nichts gab? Konnten all die angeblich feindlichen Geschosse in Wirklichkeit ihre eigenen sein, die auf irgendeine Weise zurückkehrten? Vielleicht hatte der Krieg damit seinen Anfang genommen, daß ein ländlicher Forscher leichtsinnig einen Stein nordwärts geworfen hatte, der dann wiedergekehrt war und ihn selbst getroffen hatte? Gab es womöglich überhaupt keinen Feind? »XN 3. Könnten nicht die Granaten aus unserem eigenen Geschütz irgendwie von der Grenze zurückgeworfen werden?« »XN 2. Ausgeschlossen. Sie müssen jetzt versuchen, die vordere Werferstellung auf der Oberfläche zu erreichen – unser Tunnel ist bei 15° 40’ Ost zerstört. Sehen Sie dort den kleinen Hügel im Erfassungsbereich des IR-Geräts, ganz am Rand? Hier ist die Meldung. Und teilen Sie mündlich mit, man soll die Feuergeschwindigkeit verdreifachen.« Das zerklüftete Loch war zu klein. Er verließ den Bunker durch die vordere Pforte. Auf seinem »Läufer« rannte er in einen Geländestreifen hinaus, der sich zusehends in ein Dickicht aus Feuer verwandelte, einen Irrgarten aus Feuer, ein härenes Gewand für 269
die Erde, rannte wie im Traum. In einem unglaublichen Supercrescendo aus Lärm, Helligkeit, Hitze, Druck und Einschlägen lief er, den nun fast unsichtbaren Abhang hinauf, empor, empor …
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