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Das Buch »Sollte er in den Kopf getroffen werden, würde er nichts hören oder fühlen. Er hoffte, wenn es schon ge schehen sollte, daß es dann auf diese Art wäre. Seine Füße erschienen ihm sehr schwer und unbeholfen … Und sein Hals war so zugeschnürt wie damals, als er versucht hatte im College eine Rede zu halten.« Stein beck schrieb dieses Tagebuch zwischen Juni und De zember 1943 in England, Nordafrika und Sizilien. Er innerungen, Gedanken, Episoden, Meinungen und Gerüchte verbinden sich zu einer detaillierten Schilde rung des Krieges. Da ist zunächst England während der Vorbereitungszeit auf die Invasion. Die Stationie rung der amerikanischen Truppen im einstigen Mut terland ist offensichtlich nicht sehr willkommen. Zwi schen Engländern und Amerikanern kommt es zu Dif ferenzen. Steinbeck beschreibt minutiös die Stimmung der Soldaten, während sie auf den Tag X, den soge nannten D-day warten. Dann kommt Steinbeck über Nordafrika nach Sizilien, wo die Invasion gerade im Gang ist … In diesen Aufzeichnungen geht es nicht um Kriegsberichterstattung, vielmehr handelt es sich um eine Sammlung von Momentaufnahmen, welche die Stimmung und die Ansichten, Meinungen und Vorstellungen im Zusammenhang mit entscheidenden Tagen und Monaten des Zweiten Weltkriegs meister haft widerspiegeln.
Der Autor John Ernst Steinbeck, amerikanischer Erzähler deutsch irischer Abstammung, geboren am 27. Februar 1902 in Salinas, wuchs in Kalifornien auf. 1918–24 Studium der Naturwissenschaften an der Stanford University, Gele genheitsarbeiter, danach freier Schriftsteller in Los Gatos bei Monterey. Im Zweiten Weltkrieg Kriegsbericht erstatter, 1962 Nobelpreis für Literatur, gestorben am 20. Dezember 1968 in New York.
John Steinbeck: An den Pforten der Hölle Kriegstagebuch 1943 Deutsch von Hans Jürgen Jacobs
Deutscher Taschenbuch Verlag
D
Ungekürzte Ausgabe Juni 1993
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
© 1943, 1958 John Steinbeck © 1971 Elaine Steinbeck, Thom Steinbeck, John Steinbeck IV Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›Once there was a war‹ © 1992 der deutschsprachigen Ausgabe: Paul Zsolnay Verlag Gesellschaft m. b. H., Wien (Deutsche Erstveröffentlichung: 1989 im Diana Verlag, Zürich) Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany • isbn 3-423-11712-5
Vorwort
Es war einmal ein Krieg, aber schon vor so langer Zeit und so von anderen Kriegen und auch anderen Arten von Krieg aus dem Bewußtsein verdrängt, daß selbst Leute, die daran teilgenommen haben, geneigt sind, ihn zu vergessen. Dieser Krieg, von dem ich spreche, fand nach dem Einsatz gepanzerter Fahrzeu ge statt und kurz vor den ersten kleinen Atombom ben von Hiroshima und Nagasaki mit ihrem radioak tiven Niederschlag. Ich habe einen Teil dieses Krieges beobachtet, man könnte sagen, ihn besucht, da ich in der Ver kleidung eines Kriegsberichterstatters teilnahm und nicht selbst kämpfte. Heute finde ich es interessant, daß ich mich an nicht viel erinnere. Das Lesen dieser alten Berichte, die ich zu jener Zeit mit Aufregung abgeschickt hatte, bringt die Bilder und Gefühle, die schon fast völlig verloren schienen, wieder zurück. Vielleicht ist es richtig oder sogar notwendig, Un fälle zu vergessen, und Kriege sind sicherlich Unfälle, zu denen unsere Spezies offensichtlich neigt. Könnten wir aus unseren Unfällen lernen, wäre es vielleicht gut, die Erinnerung lebendig zu halten, aber wir ler nen einfach nicht dazu. Im antiken Griechenland sag te man, es müsse alle zwanzig Jahre einen Krieg ge ben, weil jede Generation wissen solle, wie so etwas sei. Wir müssen wohl vergessen, oder wir könnten uns diese mörderische Dummheit nie wieder leisten. 9
Der Krieg, von dem ich jedoch rede, ist vielleicht schon deshalb denkwürdig, weil er der letzte seiner Art war. Man nannte unseren Bürgerkrieg den letzten »ritterlichen« Krieg, und der sogenannte Zweite Weltkrieg war sicherlich der letzte der langen weltwei ten Kriege. Sollten wir so dumm sein, es noch einmal so weit kommen zu lassen, so wird der nächste Krieg der letzte überhaupt sein. Es wird niemand mehr üb rigbleiben, um sich an etwas erinnern zu können. Und wenn wir wirklich so dumm sind, (dann) ver dienen wir es aus der Sicht der Biologie nicht, daß wir überleben. Viele andere Lebensformen sind aufgrund unvorhergesehener Entwicklungen von der Erde ver schwunden. Mit einiger Sicherheit können wir davon ausgehen, daß wir gegen das unwandelbare Naturge setz nicht immun sind. Dieses Gesetz besagt, daß zu viel Aufrüstung, zuviel Überfluß und in den meisten Fällen ein Übermaß an Integration Symptome kom mender Auslöschung sind. Mark Twain spricht in ›Ein Yankee aus Connecticut‹ vom grauenhaften, zu gleich aber realistischen Paradoxon, daß die Sieger vom Gewicht der Toten erdrückt werden. Aber all das ist eine Hypothese, gleichgültig, wie realistisch sie sein mag. Merkwürdig ist, daß dieser Krieg, an den ich mich kaum erinnere, zu einer nebu lösen Sache geworden ist. Mein Freund Jack Wagner war im Ersten Weltkrieg. Sein Bruder Max war im Zweiten Weltkrieg. Jack verteidigt diesen Krieg im mer wie besessen und nennt ihn immer den Großen Krieg, was seinen Bruder mit Abscheu erfüllt. Und 10
der Große Krieg ist natürlich immer der, den man selbst erlebt hat. Aber hat man ihn wirklich erlebt? Erinnert man sich daran? Erinnert man sich an die heftigen Angrif fe, die Einstellung, das Grauen und – ja, auch an die angenehmen Dinge? Ich frage mich, wie viele der Männer, die dort gewesen sind, sich noch an Einzel heiten erinnern. Ich habe diese Berichte und Geschichten nicht mehr gesehen, seit sie eilig niedergeschrieben und te lefonisch über den Ozean gingen, um als Berichte di rekt vom Kriegsschauplatz im ›New Herald Tribune‹ und einer großen Zahl anderer Zeitungen zu erschei nen. Das waren die Zeiten, da jeder Kriegsberichter statter ein Buch schrieb, aber ich habe dieser Versu chung widerstanden, weil ich der Ansicht war, oder mir zumindest einredete, diese Geschichten sollten, wenn sie nicht auch noch in zwanzig Jahren vertret bar seien, auf dem vergilbenden Papier vergessener Zeitungen bleiben. Wenn ich sie jetzt hervorgeholt habe, so nicht nur aufgrund der oben genannten Mo tive. Während ich sie jetzt nach all diesen Jahren wie der lese, erkenne ich nicht nur, wieviel ich vergessen habe, sondern daß es sich um zeitgeschichtliche Stücke handelt: Die Haltung ist archaisch, das Motiv romantisch. Unter dem Blickwinkel von allem, was seither geschehen ist, ist vielleicht die ganze Samm lung unwahr, verzerrt und einseitig. Die Ereignisse, die ich hier beschrieben habe, sind wirklich geschehen. Aber wenn ich diese Reportagen 11
heute lese, werden andere Dinge in meiner Erinne rung lebendig, die gleichfalls passiert sind, über die aber nicht berichtet wurde. Daß nicht darüber be richtet wurde, hing teilweise mit Befehlen und Tradi tion zusammen, war aber zum größten Teil auch eine Folge der (großen) Kriegsanstrengungen. Alles, was die Kriegsanstrengungen störte oder ihnen zuwider lief, war automatisch schlecht. In großem Maß lag die Beurteilung der Fakten in den Händen des Kriegsberichterstatters selbst, aber wenn er sich ver gaß und eine der Regeln brach, gab es noch die Zen soren, die militärische Führung, die Zeitungen und schließlich, als einflußreichste Gruppe, die kriegsbe geisterte Zivilbevölkerung, die zivilen Kommandos des Stork Clubs und die Zeitschriften ›Time‹ und ›The New Yorker‹. Sie sorgten dafür, daß ein Bericht erstatter wieder auf die richtige Linie einschwenkte, oder regten an, daß er als Gefahr für die Kriegsan strengungen aus dem Gebiet entfernt wurde. Es gab Zivilistengruppen, die im taktischen und logistischen Bereich halfen; es gab Organisationen von Müttern, die die Moral überwachten, und mit Moral meine ich nicht nur sexuelle Moral, sondern auch die Dinge wie Glücksspiele und Auf-die-Pauke-Hauen. Geheimhal tung war eine Sache für sich. Vielleicht hatte die gan ze ansteckende Geheimhaltungshysterie der letzten zwanzig Jahre ihren Ursprung in dieser Zeit. Unser Geheimhaltungswahn gründete völlig legitim auf der Furcht, daß das Wissen um Truppenverschiffungen die Wolfsrudel der Unterseeboote anlocken könnte; 12
was ja auch oft passierte. Aber dann geriet alles außer Kontrolle, bis schließlich Fakten, die man in jeder Bücherei der Welt nachlesen konnte, zu sorgfältig gehüteten Geheimnissen wurden, und die bestgehü teten Geheimnisse waren jedermann bekannt. Ich will damit nicht andeuten, daß der Korrespon dent in diese Verhaltensregeln gezwungen worden wäre. Meistens trug er sein Regelbuch im Kopf und legte sich im Interesse der Kriegsanstrengungen sogar selbst Einschränkungen auf. Als sich Viking Press ent schied, diese Berichte in Buchform zu drucken, schlug man vor, ich sollte nun, da alle diese Einschränkun gen aufgehoben seien, die Ortsangaben »Irgendwo im Raum von …« herausnehmen und die Ortsnamen einsetzen. Das ist unmöglich. Ich war damals so um Geheimhaltung bemüht, daß ich mich heute nicht mehr erinnere, wo was wirklich passiert ist. Die Regeln, manchmal aufgezwungen, manchmal selbst auferlegt, erscheinen zwanzig Jahre später recht amüsant. Ich will versuchen, mich an einige zu erin nern. Es gab zum Beispiel keine Feiglinge in der ame rikanischen Armee, und von all diesen tapferen Män nern war der einfache Infanterist der tapferste und edelste überhaupt. Der Grund dafür ist unter Berück sichtigung der Kriegsanstrengungen offensichtlich. Der einfache Infanterist hatte die schmutzigste, er müdendste Aufgabe im ganzen Krieg, und er wurde kaum dafür belohnt. Abgesehen davon, daß sein Job gefährlich und schmutzig war, erwiesen sich sehr viele seiner Aufgaben als sinnlos. Man mußte ihm des 13
halb versichern, daß diese Dinge, die nach seiner Überzeugung sinnlos waren, tatsächlich notwendig und wohlüberlegt waren und er ein Held war, wenn er sie ausführte. Niemand dachte natürlich auch nur daran, daß der einfache Soldat keine Wahl hatte. Wenn er nur ein Wort sagte, wurde er entweder au genblicklich vor ein Exekutionskommando gestellt oder lebenslänglich ins Gefängnis gesteckt. Eine zweite Regel besagte, daß wir keine grausa men, ehrgeizigen oder unwissenden Kommandeure hatten. Wenn der unorganisierte Wahnsinn, zu dem wir gehörten, Schiffbruch erlitt, dann war es nicht nur vorhersehbar gewesen, sondern auch Teil einer überlegten Strategie, die schließlich zum Sieg führen würde. Nach einer dritten Regel, die man sehr ernst nahm, hatten fünf Millionen ganz normaler junger, vitaler und lüsterner Männer für die Dauer der Kriegsan strengungen ihre natürliche Beschäftigung mit Mäd chen vergessen. Die Tatsache, daß sie Bilder von nackten Mädchen, Pinup-Girls genannt, mit sich her umtrugen, erschien niemandem als Widerspruch. Die Regel war das Gesetz. Als das Nachschubwesen xMillionen Gummikondome und krankheitsverhü tender Medikamente anforderte, mußte erklärt wer den, sie würden benutzt, damit keine Feuchtigkeit in die Läufe der Maschinengewehre eindringen konnte – und vielleicht wurden sie auch wirklich dazu be nutzt. Da sich unsere Armee und Marine, wie jede andere 14
Armee und Marine, aus den Guten, den Schlechten, den Schönen und Häßlichen, den Brutalen, Emp findsamen und Grausamen, den Freundlichen, den Starken und Schwachen zusammensetzte, läßt sich diese Regel der allgemeinen edlen Gesinnung viel leicht nur schwer aufrechterhalten, aber es war gar nicht so schwer. Wir waren alle ein Teil der Kriegsan strengungen. Wir machten dabei mit und unterstütz ten sie sogar ganz aktiv. Nach und nach machten wir es uns zu eigen, daß die Wahrheit automatisch als Geheimnis zu behandeln war. Eine Bagatellisierung hätte den Kriegsanstrengungen geschadet. Damit will ich nicht sagen, daß die Korrespondenten Lügner gewesen wären. Das war nicht der Fall. In den Arti keln dieses Buches ist alles, was ich aufgezeichnet ha be, wirklich geschehen. In den Dingen, die ver schwiegen werden, liegt die Unwahrheit. Als General Patton einen kranken Soldaten in ei nem Lazarett ohrfeigte und als unsere Marine bei Gela neunundfünfzig unserer eigenen Truppentrans portflugzeuge abschoß, bat General Eisenhower per sönlich die Kriegsberichterstatter, die Berichte dar über nicht abzuschicken, weil sie schlecht für die Moral zu Hause seien. Und die Korrespondenten reichten ihre Geschichten nicht ein. Natürlich ließ das US-Verteidigungsministerium einem örtlichen Zeitungsreporter gegenüber etwas durchsickern, und die Geschichten wurden doch gedruckt, aber nie mand im Kampfgebiet war an diesem Verrat betei ligt. 15
In der Zwischenzeit wurden die üblichen merk würdigen Geschichten in die Welt gesetzt und pflichtgemäß durchgegeben. Eine der merkwürdig sten betraf einen Oberst oder General der Luftwaffe, dessen Pflicht es verlangte, daß er in der behaglichen Bodenstation zurückblieb, der sich jedoch zu Tode grämte, weil er nicht bei seinen »Jungs« über Deutschland mitten im Flakfeuer im Einsatz sein konnte. Es war die harte, ernste Pflicht, die ihn auf dem Boden hielt, viel schwieriger als der Einsatz in der Luft. Ich weiß nicht, wer diese Geschichte auf brachte, aber wahrscheinlich kam sie nicht aus dem Bericht der Unteroffiziere oder der einfachen Solda ten. Ich habe noch nie Bomberbesatzungen gesehen, die nicht im Handumdrehen diese ernste Pflicht auf sich genommen hätten. Sie waren vielleicht ein biß chen stürmisch, aber keineswegs verrückt. Wenn ich diese alten Berichte lese, sehe ich, daß wieder und wieder Sätze vom Zensor unterdrückt worden sind. Ich habe keine Ahnung, was gestrichen wurde. Korrespondenten hatten gewöhnlich keine Schwierigkeiten mit den Zensoren. Auch die Zenso ren hatten eine schwere Aufgabe. Sie wußten nie, was gegen sie hätte verwendet werden können. Niemand konnte sie wegen ihrer Streichungen belangen, und so strichen sie als Selbstschütz ziemlich rigoros. Die Zensur der Marine war besonders bei Ortsnamen empfindlich, ob sie nun irgendeine militärische Be deutung hatten oder nicht. Das war die sicherste Me thode. Einmal, als ich mich von den Zensoren un 16
gerecht behandelt fühlte, sandte ich Herodots Bericht der Schlacht von Salamis ein, die zwischen den Grie chen und Persern im Jahre 480 v. Chr. geschlagen worden war, und weil Ortsnamen vorkamen, wenn auch klassische, unterdrückten die Marinezensoren die ganze Geschichte. Wir versuchten wirklich, die Zensurregeln zu be achten, selbst in dem Bewußtsein, daß viele unsinnig waren, aber es war sehr schwer zu verstehen, was die Regeln wirklich besagten. Sie änderten sich jeweils mit der Person des Kommandeurs. Immer, wenn man dachte, nun sei endlich klar, was man einreichen könnte, übernahm ein neuer Kommandeur, und man konnte überhaupt nichts mehr schicken. Die Korrespondenten waren eine merkwürdige, verrückte und doch verantwortungsbewußte Mann schaft. Armeen ist schon aufgrund ihrer Natur, Grö ße, der Kompliziertheit ihrer Zusammensetzung und ihres Kommandos vorherbestimmt, Fehler zu ma chen; Fehler, die man erklären oder in offiziellen Be richten umdeuten kann. Daraus folgt, daß Komman deure wegen der Korrespondenten immer ein wenig nervös sind. Sie sind unruhig, wenn ihnen Leute, be sonders Experten, über die Schulter sehen. Und es traf zu, daß viele der professionellen Kriegsberichterstatter mehr Kriege und auch mehr von Kriegen mit anderen Voraussetzungen gesehen hatten als irgend jemand in der Armee oder Marine. So hatte Capa den spani schen Bürgerkrieg, den äthiopischen Krieg und den pazifischen Krieg durchgemacht. Clark Lee war bei 17
Corregidor und in Japan gewesen. Wenn die Armee und die Marine den Kriegsberichterstatter auch nicht mochte, konnte sie doch nichts dagegen tun, denn diese Männer standen in direkter Verbindung mit der Öffentlichkeit. Darüber hinaus waren viele von ihnen äußerst bekannt geworden und hatten enorme Ge folgschaften. Sie waren vom einen Ende der Nation bis zum anderen in einer Gesellschaft zusammenge schlossen. Viele von ihnen hatten ihre Methoden und ihren Stil etabliert. Und einige waren zu Primadon nen geworden, aber nicht viele. Ernie Pyle war so po pulär, und seine Leser zu Hause verließen sich so sehr auf ihn, daß er in seiner Bedeutung die meisten Offi ziere im Generalstab übertraf. Zu diesem erfahrenen Haufen von Profis stieß ich als Nachzügler, als heilige Kuh oder eine Art Tou rist. Ich glaube, sie hatten den Eindruck, ich würde mich in ihr hart erkämpftes Territorium drängen. Als sie jedoch herausfanden, daß ich ihre Arbeit nicht imitierte und keine direkten Nachrichten übermittelte, waren sie sehr freundlich zu mir und taten alles, um mir zu helfen und Dinge zu zeigen, die ich nicht kannte. So war es zum Beispiel Capa, der mir den besten Rat für das Verhalten im Kampfeinsatz gab, den ich je gehört habe. Er lautete: »Bleib, wo du bist. Wenn sie dich nicht getroffen haben, dann haben sie dich nicht gesehen.« Und dann mußte ausgerechnet Capa in Vietnam auf eine Landmine treten, gerade als er sich aus der ganzen schrecklichen, nutzlosen Geschichte zurückziehen 18
wollte. Und Ernie Pyle bekam auf der Reise, die sei ne letzte sein sollte, von einem Scharfschützen eine Kugel zwischen die Augen. Wir alle entwickelten unsere bescheidenen kleinen Tricks beim Schreiben. Wenn ich diese alten Stücke lese, erkenne ich einen meiner Tricks. Ich gab nie zu, etwas selbst gesehen zu haben. Wenn ich eine Szene beschreibe, lege ich die Worte einem anderen in den Mund. Ich habe vergessen, warum ich das getan ha be. Vielleicht hatte ich den Eindruck, die Szene wäre glaubhafter, wenn sie von einem anderen erzählt würde. Es ist auch möglich, daß ich mich als Ein dringling, als Lauscher fühlte und mich ein wenig schämte, überhaupt dazusein. Vielleicht schämte ich mich, daß ich nach Hause gehen konnte, die Soldaten aber nicht. Und dennoch war es oft weder sicher noch angenehm, ein Korrespondent zu sein. Ein gro ßer Teil der Truppen war im Nachschub- und Trans portwesen oder in den Büros beschäftigt. Selbst Kampfverbände hatten etwas Ruhe, wenn ein Einsatz beendet war. Aber die Kriegsberichterstatter glaub ten, daß alle ihre Zeitungen nervös wurden, wenn sie nicht ganz nah am Geschehen waren. Das Ergebnis war eine sehr hohe Todesrate unter den Korrespon denten. Wenn man lange genug Korrespondent blieb und sich immer dicht am Ort des Geschehens auf hielt, waren die Chancen hoch, erwischt zu werden. Wenn ich diese Berichte lese, bin ich entsetzt, wie viele Reporter bereits tot sind. Nur eine Handvoll dieser munteren Geister, die die Nächte schrecklich 19
machten und die Tage mit Beschwerden füllten, blieb am Leben. Aber um auf die Regeln zurückzukommen: Es ge hörte zum Stil, immer Angst zu haben. Ich nehme an, ich hatte wirklich Angst, aber es gehörte ja auch zum Stil. Ich denke, man wollte damit auch beweisen, wie tapfer die Soldaten sind. Und die Soldaten waren ge rade so tapfer oder feige wie jeder andere. Wir stutzten unsere Berichte selbst weit mehr, als die Zensur es tat. Wir fühlten uns dem gegenüber verant wortlich, was man die Heimatfront nannte. Es herrsch te allgemein das Gefühl, daß die Heimatfront, wenn sie nicht sorgsam vor dem Bericht, wie der Krieg wirklich war, geschützt würde, in Panik ausbrechen würde. Und wir hatten auch den Eindruck, wir müßten die Streit kräfte vor Kritik schützen, oder sie würden sich in ihre Zelte zurückziehen, um wie Achill zu schmollen. Die Selbstdisziplinierung und die Selbstzensur un ter den Kriegsberichterstattern war sicherlich mora lisch und patriotisch, aber sie war auch praktisch im Sinne des Selbstschutzes. Einige Themen waren tabu. Einige Leute durften nicht kritisiert oder auch nur in Frage gestellt werden. Der närrische Reporter, der diese Regeln brach, wurde zu Hause nicht gedruckt und zusätzlich durch den Führungsstab des Kriegs schauplatzes verwiesen. Und ein Kriegsberichterstat ter ohne Kriegsschauplatz ist arbeitslos. Wir wußten zum Beispiel, daß ein gewisser, sehr berühmter Offizier im Generalstab ständig die Pres seagenten wechselte, weil er nicht genügend Schlag 20
zeilen bekam. Wir kannten den Kommandeur, der einen Unteroffizier der Fernmeldetruppe fertigmach te, weil dieser sein Profil von der falschen Seite foto grafiert hatte. Mehrere gute Stabsoffiziere wurden aufgrund der Eifersucht ihrer Vorgesetzten von ihren Kommandos abgelöst, weil sie zuviel Enthusiasmus bei ihren Männern und zuviel Bewunderung bei den Reportern erregten. Es gab beständige Freistellungen wegen Krankheit, wobei die Krankheit ein giganti scher Kater war; spektakuläre Verbindungen zwi schen hohen Armeeoffizieren und »WAACs«, dem Truppenhelferinnenkorps, Entlassungen mit ärztli chem Attest wegen Dummheit, Brutalität, Feigheit und selbst sittlichen Fehlverhaltens. Ich kenne keinen einzigen Reporter, der irgendeine dieser Informatio nen benutzt hätte. Abgesehen von der Kriegsmoral wäre es beruflicher Selbstmord gewesen. Der Mann, der voreilig handelte und die Erstmeldung über den Waffenstillstand in die Welt setzte, war beruflich er ledigt, und seine Karriere war zu Ende. Ja, wir beschrieben nur einen Teil des Krieges. Aber zu jener Zeit glaubten wir, glaubten wir leiden schaftlich, es sei so das Beste. Und vielleicht ist das der Grund, warum, als der Krieg vorbei war, Romane und Geschichten von ehemaligen Soldaten wie ›The Naked and the Dead‹ auf die Öffentlichkeit, die sorg sam vor dem Kontakt mit dem verrückten, hysteri schen Schlamassel geschützt worden war, so schok kierend wirkten. Wir hatten sowieso eine Menge Material. Es gab 21
einen ungeheuren Überfluß an Heroismus, Selbstlo sigkeit, Intelligenz und Freundlichkeit, über den man schreiben konnte. Und vielleicht hatten wir recht, ei nen Teil des gesamten Bildes auszulassen. Wenn wir alles eingereicht hätten, was wir wußten, und es in der Sprache des Feldes verpackt hätten, wäre die Heimatfront sicherlich noch verwirrter gewesen, als sie es ohnehin durch unsere Berichte schon war. Da von abgesehen, gab es für jeden schreienden Egoisten einen Bradley und für jeden schlagzeilenverrückten militärischen Stümper große Männer wie Terry Allen und General Roosevelt. Auch unter den Mann schaftsdienstgraden, zwischen stinkenden, betrügeri schen, unflätigen Drückebergern, gab es wirkliche Helden, freundliche Männer, intelligente Männer, die wußten oder zu wissen glaubten, wofür sie kämpften, und den ganzen Rest in Kauf nahmen. Beruflich waren die Kriegsberichterstatter, wie ich glaube, moralische und verantwortungsbewußte Männer, viele von ihnen sehr tapfere Männer, einige von ihnen hingebungsvolle Männer. Aber in der Zeit, nachdem die Geschichten abgeschickt worden waren, würde ich sagen, waren wir nicht besser oder schlech ter als die Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften. Nur hatten wir mehr Möglichkeiten als die Truppen, ob nun Offizier oder einfacher Soldat. Wir trugen Pseudo-Rangabzeichen, die vom Hauptmann bis zum Oberstleutnant reichten, die uns gestatteten, in der Offiziersmesse zu essen, wohin die einfachen Soldaten nicht durften. Wir hatten aber auch – im Gegensatz 22
zu den Offizieren – persönlichen Kontakt zu den Mannschaftsdienstgraden. Ich erinnere mich an einen Offizierstanz in Nordafrika, eine langweilige, kühle Angelegenheit, bei der jüngere Offiziere wie Roboter mit Krankenschwestern zu alten Schallplatten tanz ten, die auf einem Grammophon abgespielt wurden, während in den Unterkünften ganz in der Nähe eine der besten Jazz-Combos, die ich je gehört hatte, reine Ekstase verbreitete. Natürlich gingen wir Korrespon denten gerne zu der besseren Musik hinüber. Rang hat sicherlich seine Privilegien, aber bei uns war das manchmal mit Freiheit gleichzusetzen. Wenn unsere Aufgabe erledigt war und unsere Geschichten durchgegeben waren, entdeckten und tauschten wir jede Adresse, wo auf dem Schwarzmarkt Fleisch, Al kohol und Frauen zu haben waren. Wir kannten die illegalen Taxis. Wir schummelten, klauten, simulier ten, drückten uns um Dinge herum und ließen es uns so gut wie möglich gehen. Ich lernte schon sehr früh, daß ich mit Hilfe eines halben Liters Whisky für einen Sergeant des Transportwesens schneller in ein Flug zeug kam als ein General mit dringenden Befehlen des Generalstabs. Wir haben der Armee nicht viel gestoh len. Wir brauchten das nicht. Es wurde uns gegeben. Im übrigen hatten wir es in der Armee mit Experten zu tun. Ich erinnere mich an einen General im Nach schubwesen, der mürrisch einen Bericht über fehlendes Kriegsmaterial von einem Nachschubdepot las und explodierte: »Der amerikanische Soldat ist der schlimmste aller Diebe. Wissen Sie, was geschehen 23
wird? Wenn unsere Soldaten alles gestohlen haben, was uns gehört, werden sie anfangen, die Deutschen zu bestehlen, und dann helfe Gott Hitler.« Und ich erinnere mich, daß auf einem Zerstörer auf See, nach dem alle Seitenwaffen der Offiziere, 45er-Pistolen und Karabiner plötzlich verschwunden waren, das Schiff vom Bug bis zum Heck durchsucht wurde. Obwohl auch die Treibstoff- und Wassertanks überprüft wur den, tauchte nicht eine einzige Waffe je wieder auf. Es gab eine Art von Zwang zum Stehlen. Gefangene wurden fachmännisch auf Armbanduhren, Kameras und Seitenwaffen (die Handelsware der GIs) gefilzt. Aber die Korrespondenten stahlen nicht viel. Erstens, wie ich schon sagte, weil das nicht nötig war, und zweitens, weil wir so viel reisten, daß wir kaum etwas mitnehmen konnten. Der Himmel weiß, wie viele Helme, Schlafsäcke und Gasmasken ich bekommen habe. Ich habe sie nur selten dahin transportiert, wo ich hinging, und ich habe sie nie zurückgebracht. In den Kellern einiger Londoner Hotels müssen auch heute noch Kisten voller Beutestücke liegen, die vor fünfzehn Jahren von Korrespondenten dort zurückge lassen und nie angefordert wurden. Ich persönlich weiß von zwei solchen Verstecken. Egal, was sie wert sind oder was sie ins Gedächtnis zurückrufen mögen, hier sind sie: zeitgeschichtliche Stücke, Märchen, halb bedeutungslose Erinnerungen an eine Zeit und an Wertvorstellungen, die für alle Zeiten von dieser Welt gegangen sind. Eine Auf zeichnung trauriger und lustiger Episoden aus dem 24
Krieg, den ich gesehen habe, auch wenn ich es nicht glauben kann: wirklichkeitsfremder und erfundener Pomp, der in Erinnerung bleibt wie die Schlachtbil der von Crécy und Bunker Hill und Gettysburg. Und auch wenn Krieg ein Beweis für das Versagen des Menschen als denkfähiges Geschöpf ist, gab es in die sem Erinnerungskrieg doch so etwas wie Ritterlich keit, Tapferkeit und Freundlichkeit. Ein Mann wurde getötet, das ist schon wahr. Oder er wurde vielleicht verstümmelt, aber wenn er überlebte, konnte er ge sunde Kinder zeugen. Jetzt haben wir uns seit vielen Jahren von der Angst, und allein von der Angst genährt, und die Angst bringt nichts Gutes hervor. Ihre Kinder sind Grausamkeit und Betrug und Argwohn, die in der Dunkelheit kei men. Und ebenso sicher, wie wir unsere Luft mit Bombenversuchen vergiften, ist unsere Seele durch Angst und gesichtslosen, dummen, schwärenden Schrecken vergiftet. Die Stücke in diesem Band wurden unter Druck und voller Anspannung geschrieben. Mein erster Ge danke war, als ich sie wieder las, zu korrigieren, zu ändern und zerrissene Sätze zu glätten und Wieder holungen zu streichen, aber gerade ihre Zerrissenheit ist, wie mir scheint, ein Teil des Dabeiseins. Sie sind so wirklichkeitsnah wie die böse Hexe und die gute Fee, so wahr und erprobt und zurechtgestutzt wie je der andere Mythos. Es war einmal ein Krieg, vor langer Zeit – vor lan ger, langer Zeit. 25
England
Truppentransportschiff Irgendwo in England, 20. Juni 1943 Auf den Docks sitzen die Truppen zu Tausenden auf ihrer Ausrüstung. Es ist Abend, und die ersten Ver dunkelungslampen werden eingeschaltet. Die Män ner haben ihre Helme aufgesetzt, die sie alle gleich aussehen lassen, sie aussehen lassen wie lange Reihen Pilze. Die Gewehre haben sie gegen ihre Knie gelehnt. Sie haben keine Identität, keine Persönlichkeit. Die Männer sind Einheiten in einer Armee. Die Kreide zahlen auf ihren Helmen wirken fast wie Nummern schilder auf Robotern. Die Ausrüstung ist sorgfältig gestapelt – gerolltes Bettzeug, Zeltbahnen und Klei dersäcke. Einige Männer sind mit Springfield- oder Enfield-Gewehren aus dem Ersten Weltkrieg bewaff net, einige mit dem M-1 oder mit Garand-Gewehren und andere wieder mit den schönen, kleinen, leich ten, praktischen Karabinern, die nach dem Krieg alle als Jagdgewehr haben wollten. Hoch und massig wie ein Bürohaus ragt der Trup pentransporter über dem Pier auf. Man muß sich den Hals ausrenken, wenn man sehen will, wo die Bullau gen aufhören und das offene Deck beginnt. Es ist ein namenloses Schiff, und das wird es auch bleiben, so lange der Krieg dauert. Nur wenige Männer kennen seinen Bestimmungsort und noch weniger seine Rou 27
te. Die Last auf den Schultern der Männer, die es be fehligen, muß fast unerträglich sein, denn der Kapi tän, der Schiff und Ladung verliert, wird nie wieder ruhig schlafen. Wahrscheinlich schläft er allerdings auch in diesem Augenblick nicht. Die Laderäume sind voll, und das Schiff erwartet eine Tonnage Menschen. Die Soldaten auf den Docks sind ruhig. Geredet wird nur wenig, gesungen gar nicht, und als die Dämmerung in Dunkelheit übergeht, kann man den einen nicht mehr vom anderen unterscheiden. Die Köpfe hängen vor Müdigkeit vornüber. Einige dieser Männer sind den ganzen Tag hierher unterwegs ge wesen, andere sogar viele Tage. Es gibt mehrere Arten, einen Hut oder eine Mütze zu tragen. Ein Mann kann sich durch Form und Sitz seines Hutes ausdrücken, nicht jedoch durch einen Helm. Einen Helm kann man nur auf eine einzige Art tragen. Auf eine andere Weise klappt es einfach nicht. Er sitzt gerade auf dem Kopf und reicht tief über Au gen und Ohren in den Nacken. Mit dem Helm auf dem Kopf bist du ein Pilz in einem Pilzbeet. Vier Gangways sind geöffnet, und die Einheiten stehen müde auf und schlurfen nacheinander los. Die Männer lehnen sich nach vorne, um das Gewicht ih rer Ausrüstung auszubalancieren. Füße schleifen über die steile Gangway. Einer nach dem anderen verschwinden die Soldaten durch die großen Türen im Bauch des Truppentransporters. Drinnen werden sie von Kontrolleuren aufgelistet. Die Kreidenummern auf ihren Helmen wiederum 28
werden mit denen auf einer Kontrolliste verglichen. Die Platzverteilung ist bereits bestimmt worden. Die eine Hälfte der Männer wird auf den Decks schlafen, die andere Hälfte in den Ballsälen und Messen, in denen einmal ganz andere Leute saßen und ganz an dere Dinge vorfanden, die nun natürlich verschwun den sind. Einige Männer werden in Kojen, in Hän gematten, auf den blanken Decks oder in Korridoren schlafen. Morgen wird man tauschen. Die Männer, die auf Deck geschlafen haben, werden hereinkom men, und die Männer, die drinnen waren, werden hinaus müssen. Bis zur Landung werden sie jede Nacht wechseln. Bis zur Landung werden sie nicht einmal ihre Kleider ausziehen. Das ist kein Vergnü gungsdampfer. Auf den Decks, die von den Verdunkelungslampen in eine schwach-blaue Dämmerung getaucht werden, sinken die Männer vor Müdigkeit um und schlafen gleich ein. Kaum haben sie ihren Platz gefunden, sind sie auch schon eingeschlafen. Viele nehmen nicht einmal ihren Helm ab. Es ist ein anstrengender Tag gewesen. Sie halten die Gewehre, die neben ihnen lie gen, noch im Schlaf in den Händen. Über die Gangways werden immer noch endlose Reihen Soldaten in den Bauch des Truppentranspor ters gefüttert – ein Regiment farbiger Truppen, hun dert Armeekrankenschwestern, hübsch mit ihren Helmen und Feldpaketen. Die Krankenschwestern zumindest haben Kabinen, wenn sie auch völlig über füllt sein werden. Über das erste Fallreep kommt zu 29
sätzliches Personal für die Kommandostelle eines Bombergeschwaders und eine Kompanie Militärpoli zei. Alle sind gleichermaßen erschöpft. Sie suchen ih re Plätze und schlafen ein. Die Verladung ist in vollem Gange. Rauchen ist nirgendwo gestattet. Jeder, der an Bord geht, wird dreifach geprüft, um sicherzustellen, daß er auch wirklich dazugehört. Das Verladen geht in aller Ruhe vor sich. Nur das Schlurfen von müden Füßen auf den Landungstreppen und halblaut gesprochene Be fehle sind zu hören. Die ständige Truppe der Militär polizei kennt jeden einzelnen Schritt. Sie hat eine sol che Massenabwicklung schon einmal bewältigt. Die Tennisplätze auf dem Oberdeck bestehen nun aus einem halben Morgen schlafender Männer – Männer, Füße und Ausrüstung. Militärpolizei ist überall anwesend, auf den Treppen und in den Kor ridoren. Sie dirigiert und beobachtet. Die Einschif fung muß reibungslos weitergehen, denn bereits ein kleiner Stau kann im Verladungsprozeß den Verlust von Stunden zur Folge haben, genau wie ein eigen sinniger Fahrer durch ein falsches Wendemanöver den Verkehrsfluß auf einer Hauptstraße lange Zeit lahmlegen kann. Doch trotz des schleppenden Gan ges geht die Einschiffung sehr schnell voran. Gegen Mitternacht ist der letzte Mann an Bord. Im Stabsraum sitzt der befehlshabende Offizier hinter einem langen Tisch, eine Reihe von Telefonen vor sich. Sein Adjutant, ein müder, blonder Major, macht Meldung und breitet seine Papiere auf dem 30
Tisch aus. Der Kommandeur nickt und gibt ihm ei nen Befehl. Überall im Schiff krächzen die Lautsprecher. Die Verladung ist beendet. Die Gangways gleiten vom Schiff ab. Niemand kann mehr das Schiff betreten oder verlassen – außer dem Lotsen. Auf der Brücke geht der Kapitän des Schiffes langsam auf und ab. Nun liegt die Last auf seinen Schultern. Tausende be finden sich jetzt in seiner Obhut, und wenn ein Un fall passieren sollte, wird es seine Schuld sein. Das Schiff bleibt am Pier, und ein schwaches At men dringt tief aus seinem Inneren. Die Truppen ha ben die Heimat nun wirklich verlassen und sind end gültig von ihr abgeschnitten, obwohl sie noch keine hundert Schritte vom Land entfernt sind. Auf dem Oberdeck lehnen einige wenige Männer an der Re ling und sehen auf den Pier herunter und hinüber zur Stadt. Das ölige Wasser kräuselt sich mit dem Wechsel der Gezeiten. Die Zeit zum Ablegen ist fast gekommen. Im Befehlsraum, der einmal als Schiffs theater diente, sitzt der Kommandeur hinter seinem Tisch. Sein müder, blonder Adjutant sitzt neben ihm. Das Telefon klingelt, der Kommandeur nimmt den Hörer ab, hört einen Augenblick zu und legt wieder auf. Er dreht sich zu seinem Adjutanten um. »Alles fertig«, sagt er. Irgendwo in England, 21. Juni 1943 Die Gezeiten wechseln gerade; es ist nach Mitternacht. Auf der Brücke, die die Gebäude auf dem Pier über 31
ragt, herrscht rege Betriebsamkeit. Die Trossen sind abgeworfen, und die Maschinen laufen. Das große Schiff fährt vorsichtig rückwärts gegen die Strömung und füllt den Fluß bis fast an beide Ufer aus. Dort aber erwarten die kleinen Schlepper das riesige Schiff und stoßen und drehen es herum, bis es sich in der richti gen Position befindet. Während es langsam auf die See zugeht, hängen sie an seiner Seite wie saugende Babys. Nur die wachhabenden Militärpolizisten sehen die verdunkelte Stadt vorbeigleiten. Tief im Innern des Schiffes, im Lazarett, nehmen jene Dinge, die so vielen Menschen geschehen kön nen, ihren Lauf. Ein Arzt im Rang eines Majors des Sanitätswesens hat die Uniformjacke ausgezogen und die Hemdsärmel hochgekrempelt. Er wäscht sich die Hände mit grüner Seife, während eine Armeekran kenschwester in Operationsuniform wartet und den weißen Kittel für den Doktor bereithält. Dem na menlosen Soldaten mit dem gefährlichen Blinddarm wird gerade von einer anderen Armeekrankenschwe ster der Bauch rasiert. Helles Licht überflutet den Operationstisch. Der Arzt zieht sich die sterilen Handschuhe über. Die Krankenschwester rückt ihm den Mundschutz über Nase und Mund zurecht, dann tritt er schnell zu dem narkotisierten Soldaten, der auf dem Tisch unter dem gleißenden Licht liegt. Das große Truppenschiff, ein schwarzes Ding, das in die Finsternis hineindampft, schleicht an der Stadt vorbei, und die Schlepper kehren zurück. Auf den Decks, in den Korridoren und in den Kojen liegen 32
Tausende von Männern wie ohnmächtig im Schlaf. Nur ihre Gesichter sind unter dem schwachen bläuli chen Verdunkelungslicht zu erkennen – Gesichter und das verschwommene Bild verschlungener Hände und Füße und Beine und Ausrüstung. Offiziere und Militärpolizisten wachen über diesen tiefen Schlaf, ein Schlaf vieler, der Schlaf von Tausenden. Ein Ge ruch steigt von den Männern auf, der charakteristi sche Geruch einer Armee. Es ist der Geruch von Wol le und der bittere Geruch von Erschöpfung, von Waffenöl und Leder. Die Männer liegen kreuz und quer, einige mit offenem Mund, aber die schnarchen nicht. Vielleicht sind sie selbst zum Schnarchen zu müde; doch ihr Atem ist pulsierend und hörbar. Der müde, blonde Adjutant spukt wie ein Geist über das Deck. Er weiß nicht, wann er jemals wieder schlafen wird. Er und der Kommandeur der Militär polizei tragen die Verantwortung für eine ruhige Überfahrt, und beide sind ernsthafte und verantwor tungsbewußte Männer. Die schlafenden Männer verpassen etwas Kolossa les, wie ja gewöhnlich die letzten Dinge immer ver paßt werden. Die Büroangestellten und Bauern, Ver käufer und Studenten, Arbeiter, Techniker, Reporter und Fischer, die ihre Arbeit niedergelegt haben, um eine Armee zu bilden, sind seit ihrer Einberufung für diesen Augenblick ausgebildet worden. Nun beginnt der Ernst, auf den sie vorbereitet worden sind. Ihr Land, zu dessen Verteidigung sie Soldaten geworden sind, gleitet langsam in der nebligen Nacht an ihnen 33
vorbei – und sie schlafen. Das Land, das in den kommenden Monaten ihre Gedanken erfüllen wird, ist weg, und sie haben es nicht verschwinden sehen. Sie schliefen. Sie werden es lange Zeit nicht mehr se hen, und einige werden es nie wieder sehen. Das war der Moment für Gefühle, ein Augenblick, der einma lig ist; aber sie waren zu müde. Sie schlafen wie Kin der; die wirklich versucht haben, wach zu bleiben, um Sankt Nikolaus zu sehen, es aber doch nicht ge schafft haben. Sie werden sich an diesen Augenblick erinnern, aber er wird nie wirklich geschehen sein. Die Nacht zieht langsam über die See herauf. Es ist bewölkt, und es beginnt leicht zu regnen. Es ist gutes Wetter für diesen Transport, denn ein Unterseeboot könnte uns aus zweihundert Metern Entfernung nicht ausmachen. Das Schiff ist ein grauer, nebelhaf ter Schatten, der durch grauen Nebel gleitet und mit ihm verschmilzt. Ein Kleinluftschiff der Marine wacht über ihm; manchmal kommt es so nahe, daß man die Männer in der kleinen Hängekabine erken nen kann. Das Truppenschiff ist nun völlig isoliert. Es kann andere Sender hören, aber es kann keinen Kontakt aufnehmen. Sein Sendegerät wird nur benutzt, wenn es angegriffen oder getroffen wird. Unterseeboote warten in der nebligen See vor ihm, und von den Männern an Bord haben viele den Ozean noch nie gesehen. Die See ist dunkel und furchterregend ge nug ohne diese lauernden Ungetüme. Und außerdem gibt es auch noch andere Dinge, die einem Jungen 34
vom Lande Furcht einflößen können – unbekannte Dinge, unbekannte Leute, unbekannte Sprachen. Die Männer wachen nun langsam auf, noch vor dem Appell. Sie haben den Augenblick des Abschieds versäumt. Vor ihnen liegt nur Unbekanntes: Be stimmungsort unbekannt, Route unbekannt, das Le ben selbst für die nächste Stunde unbekannt. Das große Schiff schiebt seinen Bug in den Atlantik. Auf dem Bootsdeck stehen zwei junge Burschen aus dem Gebirge, an das frühe Aufstehen gewöhnt, und sehen voller Verwunderung auf die unglaubliche See. Einer von ihnen sagt: »Sie soll salzig sein bis ganz auf den Grund.« »Aber du weißt doch wohl, daß das nicht stimmt«, sagt der andere. »Was soll das heißen, es stimmt nicht? Warum soll es nicht stimmen?« Der andere antwortet selbstbewußt. »Paß auf, mein Guter«, sagt er, »du weißt doch, daß es soviel Salz auf der ganzen Welt nicht geben kann. Stell dir das doch mal vor.« Irgendwo in England, 22. Juni 1943 Der erste Morgen auf einem Truppentransporter bringt immer ein schreckliches Durcheinander mit sich. Die Versorgung Tausender Männer in derart beengten Räumlichkeiten stellt ein großes Problem dar. Pro Tag gibt es zwei Mahlzeiten im Abstand von zehn Stunden. Reihen zum Frühstückfassen bilden sich um sieben und dauern bis zehn Uhr. Schlangen 35
fürs Abendessen bilden sich um fünf Uhr nachmit tags und lösen sich erst um zehn Uhr abends auf. Während dieser Zeiten sind die langen, engen Korri dore mit Männern gesäumt, die zu dritt Seite an Seite mit ihrem Feldgeschirr in der Hand warten. Am ersten Tag funktioniert es noch nicht. Es gibt Stauungen, und die Stimmung ist oft gereizt. Mor gens um zehn Uhr beklagt sich ein unglücklicher Soldat für chemische Kriegführung bei einem Mili tärpolizisten, der dafür sorgt, daß die Schlangen wei terschlurfen. »Bitte, Mister, nehmen Sie mich aus dieser Schlange. Ich habe schon dreimal gefrühstückt. Ich bin wirklich nicht mehr hungrig. Jedesmal wenn ich aus einer Schlange herauskomme, schubsen sie mich in eine andere.« Auf einem Truppentransporter können die Män ner nicht individuell behandelt werden. Sie sind ein fach Einheiten, die sechs mal drei mal zwei Fuß Platz einnehmen, horizontal oder vertikal. So viel Raum muß man einem Körper zugestehen. Sie sind Ma schinen, denen man Treibstoff geben muß, um zu verhindern, daß sie stehenbleiben. Die Produkte ih rer Verbrennung müssen sorgsam entfernt werden. Am zweiten und dritten Tag funktioniert die Sache schon besser. Die Schlangen kriechen reibungslos und pünktlich voran; aber dieser erste Tag ist ein schreckliches Durcheinander. Die Männer ruhen nun, und es gibt keinen Platz, um sich zu bewegen. Während der ganzen Überfahrt werden sie keine Möglichkeit haben, sich Bewegung 36
zu verschaffen. Da sind einfach zu viele Füße. Der Haupteindruck, den man von einem Truppentrans porter hat, sind Füße. Ein Mann kann seinen Kopf oder seine Waffen aus dem Weg nehmen, doch ob er nun liegt oder sitzt, seine Füße sind ein Problem. Sie breiten sich in den Gängen aus, sie stehen in allen möglichen Winkeln hervor. Sie sind nicht geschützt, weil sie der Körperteil sind, der wahrscheinlich nicht verletzt wird. Will man umhergehen, muß man zwi schen Füße treten und über Füße stolpern. Man sieht große, unförmige Füße, kleine, zierliche Füße; polierte Schuhe, an den Zehen verbogene Schuhe; Schuhriemen geknotet und verwirrt und sorgfältig geknüpfte kleine Schleifen. An Schuhen und Füßen kann man den Charakter ablesen. Es gibt ewig müde Füße und nervöse, flinke Füße. Erinnert man sich an einen Truppentransporter, so erinnert man sich an Füße. Nachts auf einem verdunkelten Schiff kann man umherkriechen und seinen Weg durch ein Gewirr von Füßen erfühlen. Die Männer werden jetzt unruhig. Es ist schwer, ruhig zu sitzen und nichts zu tun. Einige haben sich Taschenbücher mitgebracht, andere gehen zur Schiffsbücherei, um sich welche zu holen. Detektiv geschichten und Kurzgeschichten. Sie nehmen, was sie kriegen können. Für viele Männer ist Lesen kein Vergnügen, und sie müssen sich anders beschäftigen. Vor einigen Monaten forderte der Nachschub in seiner Versorgungsliste für das Ersatzlager der Solda ten einige hunderttausend Würfelspiele an, mit der 37
Erklärung, das Parcheesi-Spiel* gewänne in der Ar mee zunehmend an Beliebtheit. Diejenigen, für die Parcheesi ein ziemlich dummes Spiel ist, werden das nicht glauben können, wenn sie es selbst nicht erlebt haben, aber es stimmt. Das Spiel ist irgendwie span nender geworden und erfreut sich ohne Zweifel gro ßer Beliebtheit. Das Brett mit den Zielreihen** ist wegen des mangelnden Platzes verschwunden. Par cheesi wird nun einfach auf einer Felddecke gespielt. Es ist ein temperamentvolles, ungefährliches Spiel, das die Spieler fasziniert. Einige Parcheesi-Turniere dauern mehrere Tage. Eines wurde tatsächlich wäh rend der gesamten Überfahrt nicht unterbrochen. Ein anderes Spiel, das in der Armee sehr beliebt ist, ist Cassino. Die bekanntesten Arten dieses Karten spiels sind Studcassino und Cassino, bei dem fünf Karten gezogen werden. Es erfüllt mit Genugtuung, wenn man feststellt, daß unsere moderne Armee zu den traditionellen Tugenden zurückgefunden hat, die unsere Vorfahren verleugnet haben. Das Schiff ist schwer bewaffnet. Auf jedem Beobach tungspunkt ragen Kanonen hervor. Der Truppen transporter könnte sich den Weg durch beträchtlichen Widerstand freikämpfen. Zusätzlich zu den Rettungs
* Parcheesi ist ein Warenzeichen für ein Spiel, ähnlich wie **
»Mensch-ärgere-Dich-nicht«, das dem indischen Brettspiel »Pachisi« nachempfunden ist. Gemeint ist wohl die Zielreihe, die wie das Ziel bei »Mensch ärgere-Dich-nicht« angeordnet ist. 38
booten gibt es auf den Decks Hunderte Rettungsflöße, die sofort ins Meer geworfen werden können. Diese Boote und Flöße sind mit Lebensmitteln und Wasser, Medizin und sogar Angelgerät ausgerüstet. Jetzt gehen die Männer, die letzte Nacht auf den Decks geschlafen haben, in das Innere des Schiffes, während die Männer aus dem Bauch des Schiffes her auskommen. Der Wind an Deck ist frisch. Die Solda ten nehmen die Zeltbahnen und bauen damit origi nelle Unterstellplätze. Einige errichten einfache, klei ne Dächer zwischen Pfosten und Geländer, während andere durch Zusammenlegen mehrerer Zeltbahnen gemeinsame, windgeschützte Höhlen zwischen den Rettungsflößen bauen. Da drinnen richten sie sich ein und lesen oder spielen Parcheesi oder Cassino. Die See ist ruhig, und das ist gut so, denn eine große Anzahl der Männer ist noch nie zuvor auf irgendei nem Schiff gewesen. Selbst eine leicht aufgerauhte See ließe sie seekrank werden, und dann hätte die be sorgte und übermüdete Stammbesatzung des Schiffes ein zusätzliches Problem zu bewältigen. Die Decks können nicht abgespritzt werden, weil es keinen Platz gibt, wohin die Männer in dieser Zeit ausweichen könnten. Es gibt viele heikle Probleme auf einem solchen Schiff. Sollte ein anderes Schiff ge sichtet werden, dürfen die Männer nicht auf eine Sei te drängen, weil das Gewicht dann zu sehr auf diese Seite verlagert würde, und das bedeutete sogar Ge fahr für das Schiff. Unsere Ladung besteht aus Män nern, und sie muß mit Umsicht behandelt werden. 39
Jeden Tag gibt es einen Schiffsappell. Es wird Alarm gegeben, und nach dem Inferno des ersten Ta ges gehen die Männer jetzt ruhig auf ihre Positionen. Auf einem Truppentransporter wird man mit unend lich vielen Problemen konfrontiert. Irgendwo in England, 23. Juni 1943 Ein Truppenschiff ist eine seltsame Gemeinschaft und reagiert auch wie eine Gemeinschaft. Es ist je doch einzigartig, weil es von der Welt abgeschnitten ist und sich in ständiger Gefahr befindet, angegriffen und zerstört zu werden. Wie ausgeglichen die Män ner auch immer scheinen, diese Tatsache haben sie immer vor Augen. An jeder Stelle könnte ein Unter seeboot lauern, und jeden Augenblick könnte die Ex plosion erfolgen, die das große Schiff auf den Boden des Meeres versenkt. Deshalb können die Kanoniere nie entspannen; die Horchgeräte lauschen gespannt und sind ständig be setzt. Ein Teil der Aufmerksamkeit gilt immer dem Lauschen und Warten, und in der Nacht sind auch schon kleinste Geräusche von großer Bedeutung. In bestimmten Abständen werden die Kanonen abge schossen, um sicherzugehen, daß sie einsatzbereit sind. Der Geschützoffizier ist nie entspannt. Der Ka pitän auf der Brücke schläft nur selten und trinkt sei nen Kaffee im Stehen. Unter einer derartigen Belastung reagiert das menschliche Gehirn oft seltsam. Es läßt Befürchtun gen zum wirklichen Erleben werden und wiederholt 40
dann diese Erlebnisse. Daher ist ein Truppentrans porter immer voller Gerüchte; Gerüchte, die in Win deseile durch das ganze Schiff flitzen. Eigenartig ist jedoch, daß die Gerüchte auf allen Truppentranspor tern immer die gleichen sind. Irgendeine Verallge meinerung nimmt durch diese Gerüchte Gestalt an. Eine Geschichte kommt auf und geht von Mund zu Mund. Und jeder – vielleicht mit Ausnahme der ständigen Besatzung – glaubt jede dieser Geschichten für ein paar Stunden, bis eine neue ihren Platz ein nimmt. Es wäre eine gute Idee, einige dieser Gerüchte aufzuzeichnen, damit sie von denen, die sie hören, als das erkannt werden, was sie sind: die üblichen Ge schichten auf einem Truppentransporter. Die folgenden Geschichten werden ohne Ausnah me auf jedem Truppentransporter erzählt; und dar über hinaus werden sie auf jedem Truppentranspor ter geglaubt: 1. Heute morgen wurden wir von einem Unter seeboot gesichtet. Es konnte uns zwar selbst nicht er ledigen, aber es funkte seinen Kameraden, und nun lauert ein ganzes Rudel auf unserem Weg, um uns ab zufangen und zu versenken. Dieses Gerücht kommt angeblich vom Funkoffizier, der das Unterseeboot ge hört hat, als es seine Kameraden rief. Die Meute wird uns heute abend umzingeln. Alle diese Gerüchte stammen angeblich von verantwortlichen Offizieren. 2. Heute morgen ist ein Unterseeboot aufge taucht, ohne zu wissen, daß wir in der Nähe waren. Wir hatten schon alle Kanonen ausgerichtet, denn 41
wir konnten es mit unseren Horchgeräten ausma chen und waren bereit, es glatt aus dem Wasser her auszublasen. Das U-Boot sah uns, als es durch die Wasseroberfläche brach, und signalisierte gerade noch rechtzeitig, daß es eines von den unseren war. Es ist nicht geklärt worden, warum es uns nicht mit seinen Horchgeräten ausmachen konnte, und wenn man fragt, wird es heißen, daß wahrscheinlich seine Horchgeräte nicht funktionierten. 3. Etwas Schreckliches und Unbeschreibliches ist zwischen den Offizieren vorgefallen (dieses Gerücht wird nur unter den Unteroffizieren und Mann schaften erzählt). Das Verbrechen, das sie begangen haben, wird nicht erwähnt, doch ist bekannt, daß einige Offiziere in Haft genommen worden sind und vor das Kriegsgericht gestellt werden sollen. Dieses Gerücht könnte jedoch reines Wunschden ken sein. 4. Die PX-Läden für Offiziere wie auch die für Mannschaften verkaufen Brause in braunen Fla schen. Die einfachen Soldaten wissen nur zu gut, daß in ihren Flaschen Brause ist, aber das Gerücht läuft durch das Schiff, daß die braunen Flaschen in der Offiziersmesse Bier enthalten. Mißstimmung kommt dadurch auf, bis die Geschichte durch ein neues Ge rücht in Vergessenheit gerät. 5. Der Bug des Schiffes ist schwach und nur not dürftig geflickt. Auf der letzten Einsatzfahrt schnitt es einen Zerstörer (manchmal einen Kreuzer) glatt in zwei Teile; man flickte es wieder zusammen und 42
schickte es wieder auf See. Das Schiff ist vollkommen in Ordnung, solange wir nicht in einen Sturm gera ten; in dem Fall wird es aller Wahrscheinlichkeit nach in Einzelteile zerfallen. Da die Männer jedoch nicht zur Bugspitze dürfen, weil die Kanonenbesatzung dort ist, können sie nicht hinuntersehen und feststel len, ob das wahr ist oder nicht. 6. Gestern abend gab der deutsche Rundfunk be kannt, dieses Schiff sei versenkt worden. Das machen die Deutschen oft, wenn sie nach Meldungen suchen. Obwohl Eltern, Frauen und Freunde nicht genau wis sen, auf welchem Schiff wir uns befinden, wissen sie, wann Alarmbereitschaft besteht. Sie werden außer sich sein, und es gibt keinen Weg, ihnen mitzuteilen, es gehe uns gut, weil keine Nachrichten gefunkt wer den dürfen. Die Soldaten machen sich nun beständig selbst Sorgen, wenn sie sich die Sorgen ihrer Familien vorstellen. 7. Irgendeine Epidemie ist an Bord ausgebrochen. Die Offiziere verschweigen es, um eine Panik zu ver meiden. Sie übergeben die Toten heimlich nachts der See. Wenn die Tage vergehen, die Männer unruhiger werden und die Parcheesi-Spiele ein Ende gefunden haben, weil das Spielgeld in einige magere und hung rige Hände gefallen ist, verdichten sich die Gerüchte immer mehr. Irgendwo mitten über dem Ozean ganz in der Nähe fliegt ein großes Patrouillenflugzeug und umkreist uns beschützend, und das Gerücht kommt auf, daß es dem Kapitän signalisiert hat, den Kurs zu 43
ändern. Irgendwo geschieht gerade etwas Schreckli ches, und wir ändern unseren Bestimmungsort. Da wir allerdings unseren Kurs alle dreißig Sekun den ändern, kann man nichts Genaues über unsere Richtung sagen, selbst wenn man das Kielwasser be obachtet. So die Gerüchte. Es wäre interessant, wenn die Schiffsoffiziere eine Liste der Gerüchte aushängen würden, die die Soldaten wahrscheinlich bald zu hö ren bekommen. Damit könnte man einige Befürch tungen der Männer aus dem Weg räumen, und es wäre interessant zu beobachten, ob dann eine völlig neue Sammlung frischer Gerüchte aufkäme. Irgendwo in England, 24. Juni 1943 Eine kleine Künstlertruppe der USO* ist an Bord un seres Truppentransporters: Frauen und Männer, die losziehen, um die Truppen in allen Teilen der Welt zu unterhalten. Es handelt sich dabei natürlich nicht um die großen Namen, die mit einem Sturm von Publicity herkommen und nebenbei ihre Verträge mit Radiosendern erfüllen. Dies sind Mädchen, die singen und tanzen können und hübsch aussehen, und Männer, die Zauberkunststücke vorführen kön nen, und Pantomimen und Witzeerzähler. Sie haben nur wenige Requisiten und keine Tricks wie Licht und Farbe, um eine Show zu bestreiten. Aber es ist * USO – United Service Organization (=Org. der Streitkräfte zur Truppenbetreuung) 44
etwas sehr Ritterliches an ihnen. Das Theater ist die einzige Institution in der Welt, die seit viertausend Jahren im Sterben liegt und dennoch nie tot ist. Es gehören zähe und engagierte Leute dazu, um es am Leben zu erhalten. Ein Akkordeon ist das größte Stück, das die Entertainer bei sich haben. Die Abend kleider, die in Koffer gequetscht werden, müssen ge bügelt und in Ordnung gehalten werden. Die Le bensgeister müssen angeregt werden. Das ist wirklich die härteste Art der Unterhaltung. Als Theater dient eine der größeren Messen. Sie ist mit Soldaten vollgestopft; sie sitzen auf Bänken, ste hen auf Tischen und liegen in Eingängen. Ein kleines Podium an einer Seite dient als Bühne. Heute funk tioniert der Lautsprecher nicht, doch wenn er funk tioniert, kreischt er und verzerrt die Stimmen. Der Conférencier kommt auf die Bühne und begrüßt das zusammengepferchte Publikum. Er erzählt einen Witz – aber dieses Publikum setzt sich aus Männern aus verschiedenen Teilen des Landes zusammen, und jede einzelne Gegend hat ihren eigenen Humor. Er erzählt einen New-York-Witz. Gelächter, doch nur wenig. Die Männer aus South Dakota und Oklahoma verstehen diesen Witz nicht. Sie lachen zu spät, ei gentlich nur, weil sie lachen wollen. Er versucht einen anderen Witz und geht jetzt auf Nummer Sicher. Es ist ein Armeewitz über Militärpolizisten. Dieses Mal hat’s geklappt. Witze über Militärpolizisten mögen sie alle. Er stellt eine Akrobatik-Tänzerin vor, ein hübsches 45
Mädchen mit langen Beinen und dem angestrengten Lächeln, das Akrobaten entwickeln, um zu verbergen, daß ihre Muskeln vor Anspannung schreien. Das Schiff schwankt langsam von einer Seite auf die ande re. Der gesamte Auftritt des Mädchens hängt von ex aktem Gleichgewicht ab. Sie versucht jede Nummer mehrere Male und wird immer wieder aus dem Gleichgewicht gebracht. Aber sie versucht es tatsäch lich wieder, bis es ihr in einer Pause zwischen dem Schlingern des Schiffes gelingt und die Beine ord nungsgemäß zwei volle Sekunden lang verdreht sind. Die Soldaten empfinden mit ihr. Sie kennen die Schwierigkeiten. Sie wollen, daß es ihr gelingt, und sie jubeln ihr zu, als sie Erfolg hat. Es wird alles sehr ernst genommen. Sie verläßt die Bühne unter Pfiffen und jubelndem Beifall. Danach kommt eine Blues-Sängerin. Ohne den Lautsprecher kann man sie kaum hören, weil ihre Stimme, wenn sie auch voller Schmelz ist, nicht sehr ausgeprägt ist. Sie zwingt ihre Stimme zur Lautstärke und verliert so den Schmelz, aber sie ist hübsch und jung und eifrig. Eine junge Akkordeonspielerin tritt auf. Sie bittet um Vorschläge. Man soll gemeinsam singen, und es werden alte Songs gewünscht – ›Harvest Moon‹, ›Home on the Range‹, ›When Irish Eyes Are Smiling‹. Die Männer brüllen die Worte in allen Stimmlagen: für diesen Krieg gibt es noch kein Kriegslied. Noch nicht. Die Show geht weiter – ein Pantomime, der die medizinische Untersuchung eines Einberufenen dar 46
stellt und dies so herrlich imitiert, daß das Publikum vor Lachen brüllt. Ein Zauberkünstler hantiert mit farbigen Seidentüchern. In keiner Nummer ist die Illusion perfekt. Das Pu blikum hilft, so sehr es kann, denn es will, daß die Show gut ist. Und aus den kleinen Darbietungen, die nicht ganz überzeugend sind, und dem großen Pu blikum, das überzeugt sein möchte, entsteht auf ein mal etwas Ganzes und Gutes. Als alles vorbei ist, hat eine richtige Show stattgefunden. Einer der Künstler hatte Angst. Er hat nicht ge schlafen, seit das Schiff abgelegt hat. Er hat Angst vor der See und vor Unterseebooten. Er hat in seiner Ko je gelegen und auf die Explosion gewartet, die ihn tö ten wird. Er ist wahrscheinlich sehr tapfer. Er stellt seine Nummer vor, obwohl er schreckliche Angst hat. Es wäre dumm, ihm zu sagen, er bräuchte keine Angst zu haben. Er hat Angst, und das ist etwas, was er nicht steuern kann. Aber er führt seine Nummer vor, und das ist etwas, was er sehr wohl steuern kann. Auf den Decks haben sich die farbigen Truppen ausgebreitet. Sie sitzen schweigend. Eine schöne Baß stimme singt leise eine Strophe des Kirchenliedes ›When the Saints Go Marching In‹. Eine Stimme sagt: »Sing, Bruder!« Der Baß beginnt wieder, und einige andere Stim men fallen ein. Als die vierte Strophe beginnt, singt ein Orkan von Stimmen das Kirchenlied. Die Stim men nehmen den Takt auf, ordnen sich ein. Chöre formieren sich. Es herrscht absolute Finsternis. Die 47
dröhnenden Stimmen kommen aus der Dunkelheit. Die Männer singen, während sie ausgestreckt auf dem Rücken liegen. Das Lied wird gewaltig vor Glaubwürdigkeit. Das ist ein Kriegslied. Das könnte das Kriegslied sein. Nicht das sentimentale Gewäsch über Lichter, die wieder aufleuchten werden oder Lieder über Drosseln. Das finstere Deck zittert förmlich im Klang des Gesanges. Ein Chor hört auf und ein anderer beginnt ›When the Saints Go Marching In‹. Viermal, und beim fünften Mal verklingen die Stimmen zu einem kleinen Summen, und das Deck ist wieder still. Das Schiff schlingert, und Metall knirscht gegen Metall. Das Schiff ist wieder ruhig. Nur das Beben der Ma schine und das Rauschen des Wassers und das Wis pern des Windes in den Drahtseilen der Takelage durchbrechen die Stille. Wir haben noch keine singende Armee und auch keine Lieder für eine singende Armee. Künstliche Ge fühle und Nostalgien haben keine Chance, weil die Truppen instinktiv wissen, daß sie künstlich sind. Bis heute hat noch niemand Worte und Melodie gefun den für wahres Heimweh, wahre Angst und die wah re Grausamkeit des Krieges. Irgendwo in England, 25. Juni 1943 Wir kommen näher an das Festland heran. Die Vögel hatten uns bereits heute morgen ausgemacht. Ein großes Flugboot umkreiste uns und eilte dann fort, um uns zu melden. Es hat überhaupt keine Probleme 48
gegeben, und falls auf der Brücke jemand den Feind gemeldet hat, wissen wir es nicht. Von der Brücke ist durchgesickert, daß wir heute nacht landen werden. Die Soldaten säumen die Reling und melden jede tiefhängende Wolke als Sichten von Land. Jetzt, da wir fast am Bestimmungsort sind und unsere An marschwege kürzer werden, wird auch die Gefahr größer. Das Schiff dreht und windet sich ständig. Diese Gewässer sind die gefährlichsten von allen. Die Männer lesen ein kleines Heftchen, das verteilt worden ist. Es erklärt ihnen, wie man mit den Eng ländern gut auskommt. Es erklärt Sprachunterschie de. Es deutet an, daß ein »Closet« in England kein Ort ist, um Kleider aufzuhängen, daß das Wort »bloody« vermieden werden sollte, daß ein »garbage can« ein »dust-bin« ist. Und es warnt davor, daß die Engländer viele Wörter in einer anderen Bedeutung gebrauchen als in der, die wir ihnen geben. Viele un serer Männer finden das sehr lustig und gehen herum und reden in einem sonderbaren Kauderwelsch, den sie für englischen Slang halten. Ein leichter Dunst hüllt den Horizont ein. Spitfires stürzen auf uns zu und umkreisen uns wie wütende Bienen. Sie kommen so nahe heran, daß wir das wil de Pfeifen ihrer Flügel hören können. Lange Zeit umkreisen sie uns und ziehen dann ab, und andere nehmen ihren Platz ein. Am Nachmittag zeigt sich Land durch den Dunst schleier, und als wir näher herankommen, kann man die hübschen Häuser und die malerische Landschaft 49
erkennen – ordentlich und alt. Die Männer betrach ten es mit Verwunderung. Für die meisten ist es das erste Mal, daß sie ein fremdes Land sehen, und jeder sagt, daß es einer Gegend ähnlich sieht, die er kennt. Einer sagt, es sieht wie Kalifornien im Frühling eines verregneten Jahres aus. Ein anderer erkennt Ver mont. Die Männer drängen sich an den Bullaugen und der Reling. Das Truppenschiff läuft in den Hafen und wirft Anker. Es ist von allen Seiten von allen möglichen Schiffen und Marineeinheiten umringt. Die Männer sollen mit Leichtern an Land gebracht werden, aber noch nicht sofort, weil die Ausschiffung, wenn das möglich sein sollte, noch komplizierter ist als die Ein schiffung. Männer gehen leicht verloren oder geraten in die falschen Einheiten. Die Nacht zieht auf, und im Stabsraum versam meln sich die Offiziere und warten, bis die Ausschif fung ihrer Männer angewiesen wird. Das dauert fast die ganze Nacht. Zu einem genau festgesetzten Zeit punkt muß jede Einheit an einem genau festgesetzten Platz sein, wo ein Leichter auf sie wartet, um sie auf zunehmen. Die Truppenzüge stehen schon an Land bereit. Es war eine perfekte Überfahrt. Keine Probleme, keine Krankheit, kein Angriff. Den Schiffsoffizieren sieht man die Anstrengung an. Sie haben nicht viel geschlafen. Nach ein paar Fahrten müssen sie abge löst werden. Die Verantwortung ist zu groß für einen Mann, als daß er sie längere Zeit tragen könnte. 50
Am Morgen kommen die Leichter und legen an den Seiten des Truppenschiffes an. Die großen eisernen Tore öffnen sich, und die Truppen kommen heraus und nehmen ihre Plätze auf den Decks der kleinen Schiffe ein. Die Bullaugen hoch darüber sind voller neugieriger Köpfe. Männer für eine spätere Ausschif fung. Das kleine Boot entfernt sich, arbeitet sich zwi schen Schleppern, Zerstörern und den ankernden Frachtern durch die Bucht. Die Soldaten fühlen sich in dieser neuen Umgebung gehemmt. Sie sehen sich die ses neue Land skeptisch an, wie man es zwangsläufig tut, wenn man unsicher ist. Das kleine Boot keucht an die »Docks« heran, die mysteriöserweise zu einem »Kai« geworden sind, was wie »key« (aus)gesprochen wird. Viele finden das natürlich lächerlich. Als der Leichter festmacht, geschieht etwas Über raschendes. Ein Korps Dudelsackpfeifer marschiert auf in Kilts, mit Dudelsäcken und Trommeln und dem schwungvollen Marsch der Dudelsackpfeifer. Das scharfe Pfeifen schneidet durch die Luft. Die mi litärischste, kämpferischste Musik auf Erden. Unsere Männer drängen sich an der Reling. Die Truppe nä hert sich mit dröhnenden Trommeln und schrill pfei fenden Dudelsäcken, und als sie vorüberziehen, bre chen die Soldaten in lauten Jubel aus. Vielleicht mö gen sie diese Musik gar nicht – es dauert seine Zeit, bis man sie mag –, aber irgend etwas an dem fast Strengen dieser Musik berührt sie. Die Pfeifertruppe macht kehrt, marschiert zurück und ist verschwun den. Das war eine gute Idee. Unsere Männer fühlen 51
sich in einer unergründlichen Weise geehrt. Die Mu sik hat sie gerührt. Das ist ein ganz anderer Krieg, verglichen mit dem der Ausbildungslager und der Strategie in den Kantinen zu Hause. Vom Deck des Leichters können die Männer Häu ser ohne Dach und ausgebrannte Ruinen erkennen. Schutthaufen, wo Bomben gefallen sind. Sie haben Bilder davon gesehen, und sie haben davon gelesen, aber das waren nur Bilder und nur Lektüre. Das war nicht die Wirklichkeit. Das hier ist anders. Das ist überhaupt nicht wie auf den Bildern. Auf dem Kai wartet das Rote Kreuz mit großen Kesseln Kaffee und Bergen von Kuchen. Sie teilen bereits seit dem Mor gengrauen aus und werden bis weit nach Einbruch der Dunkelheit weiter austeilen. Der Landungssteg zum Leichter ist mittlerweile festgemacht. Die Män ner kämpfen sich mit ihren schweren Kleidersäcken, den Tornistern auf ihren Rücken und über die Schul ter geworfenen Gewehren die steile Gangway zu ei nem unbekannten Land herauf. Und in der Ferne können sie noch den Klang der Dudelsackpfeifer hö ren, die die Truppen für einen weiteren Leichter be grüßen.
Der Name eines Flugzeuges Ein Bomberstützpunkt, 26. Juni 1943 Die Bomberbesatzung kommt aus London zurück. Die Männer haben 48 Stunden Ausgang gehabt. Am 52
Bahnhof wartet ein Armeebus, und sie drängen sich mit anderen Besatzungen hinein. Dann fährt der große Bus durch die engen Straßen des kleinen alten Städtchens und rollt über das grüne Land. Getreide felder mit Hecken dazwischen. Rechts ist einer dieser großen Gemüsegärten in kleine Parzellen aufgeteilt, in denen Familien ihren eigenen Bedarf anbauen. Ei nige Männer und Frauen arbeiten gerade im Garten, sie sind mit dem Fahrrad aus der Stadt gekommen. Der Armeebus rattert über die holprige Straße durch ein kleines Wäldchen. In der Ferne sieht man einige niedrige braune Gebäude und eine Fahnen stange mit der amerikanischen Flagge. Ein Bomber stützpunkt. England ist damit übersät. Der hier ist einer der besten. Hier gibt es keinen Morast, und die Kasernen sind massiv und annehmbar. Die Anzahl der Flugzeuge auf diesen Flugplätzen ist nicht sehr groß. Wahrscheinlich sind hier nicht mehr als fünf undzwanzig »Fliegende Festungen« stationiert, und sie sind so verteilt, daß man sie nicht auf einen Blick sieht. Ein Angreifer kriegt vielleicht eine Maschine, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß er mehr als eine erwischt. Man hat nicht versucht, die Gebäude oder die Flugzeuge zu tarnen – es bringt nichts und macht nur eine Menge Arbeit. Luftschutz und Streuung der Flugzeuge funktionieren gut. Stacheldraht ist entlang der Straße in Rollen verlegt worden, und vor dem Verwaltungsgebäude befindet sich ein Tor mit einem Wachhäuschen. Der Bus hält am Tor an, und die 53
Männer springen heraus und befestigen ihre Gas masken an der Seite. Niemand darf den Ort ohne Gasmaske verlassen. Die Männer passieren das Tor, weisen sich aus und melden sich bei der Wache zu rück. Die Besatzungen gehen langsam zu ihren Un terkünften. Das Zimmer ist lang und schmal und nicht gestri chen. An jeder Seitenwand stehen eiserne Etagenbet ten mit Spinden dazwischen. Ein langer Kleiderstän der in der Mitte zwischen den Betten dient als Garde robe für Winter- und Regenmäntel. Gleich daneben befindet sich der Ständer für die Gewehre und Ma schinenpistolen der Besatzung. Jedes Bett ist sorgfältig gemacht, und an jedem Fußende hängen ein Helm und eine Gasmaske. An den Wänden hängen Bilder von Pin-up-Girls. Über all, an jedem Bett die gleichen Mädchen – großbusige Blondinen in verführerischer Pose, mit Kindergesich tern, geöffneten glänzenden Lippen und schläfrigen Augen, die zweifellos heißes Verlangen ausdrücken: aber überall die gleichen Mädchen. Die Besatzung der »Mary Ruth« hat ihre Betten auf der rechten Seite des Zimmers. Sie haben diese Betten erst seit ein paar Wochen. Eine »Fliegende Festung« war abgeschossen worden, die Betten sind jetzt frei. Es ist ein seltsames Gefühl, in dem Bett eines Mannes zu schlafen, der beim Frühstück noch bei dir war und nun tot oder als Gefangener Hunderte von Meilen entfernt ist. Es ist seltsam und unvermeidlich. Seine Kleider sind noch im Spind, sie werden abgeholt und 54
aufbewahrt. Sein Helm wird vom Fußende genom men, und deiner wird hingehängt. Nur seine Pin-upGirls läßt du, wo sie sind. Warum sie auswechseln? Deine sehen auch nicht anders aus. Diese Besatzung hat die »Mary Ruth« nicht getauft und ist nicht mit ihr herübergekommen. Am Bug des Flugzeuges steht der Name und darunter »Erinne rungen an Mobile«. Aber diese Besatzung weiß we der, wer »Mary Ruth« war, noch, welche Erinnerun gen gefeiert werden. Das Flugzeug war schon be nannt, als sie es bekamen, und es fiele ihnen nicht im Traum ein, seinen Namen zu ändern. Das würde Un glück bringen. Ein Gerücht fegt über die Flugzeugstützpunkte, daß irgendeine mächtige Lobby in Amerika gegen die Namen auf den Flugzeugen protestiert hätte und daß bald ein Befehl ausgegeben würde, wonach diese Namen entfernt und durch Namen von Städten und Flüssen ersetzt werden. Man kann nur hoffen, daß das nicht wahr ist. Die besten Schriftzüge in diesem Krieg findet man auf den Bugs der Bomber. Die Namen sind etwas ganz Persönliches, und die Flugzeuge werden zu Menschen. Ändert man den Namen von »BombenBoogie« in »St. Louis«, oder »Mary Ruth« in »Wichi ta« oder »Wolga-Jungfrau« in »Davenport«, hat man das Flugzeug verletzt. Der Name muß perfekt sein und von jedem Mitglied der Besatzung akzeptiert werden. Die Namen dürfen nicht geändert werden. Es gibt schon genug Langeweile im Krieg. 55
Die Besatzung der »Mary Ruth« sitzt auf ihren Bet ten und diskutiert das Pech von »Bomben-Boogie«. »Bomben-Boogie« ist ein Unglücksflugzeug. Es er reicht nie sein Ziel. Jeder Einsatz ist ein Fehlschlag. Sie holen es rein und überprüfen alles, testen es und schicken es auf Testflüge. Das Flugzeug ist perfekt, und dann startet es zu einem Einsatzflug, und seine Maschinen arbeiten schlecht, oder sein Fahrgestell macht Ärger. Irgend etwas ist immer los mit »Bom ben-Boogie«. Es erreicht nie sein Ziel. Keiner kann das verstehen. Vor vier Tagen startete es und kam noch nicht einmal bis zur englischen Küste, als eines seiner Triebwerke ausfiel und es umkehren mußte. Einer der Rumpfschützen schlendert ein bißchen herum, aber eine Minute später ist er zurück. »Wir stehen für morgen in Alarmbereitschaft«, sagt er. »Ich hoffe, es ist nicht Kiel. Bei Kiel gab es höllisch viel Flakfeuer.« »Der Kerl mit dem roten Bart ist dort«, sagt Brown, der Heckschütze. »Er hat mir direkt in die Augen gesehen. Ich zog auf ihn herunter, und meine Geschütze hatten Ladehemmung.« »Laßt uns essen gehen«, sagt der Heckturmschütze.
Neuigkeiten von zu Hause Bomberstützpunkt in England, 28. Juni 1943 Die Tage sind sehr lang. Durch die Sommerzeit ist es bis fast elf Uhr dreißig abends hell. Nach dem 56
Abendessen nehmen wir den Bus zur Stadt. Es ist ei ne kleine alte Stadt, die jeder Amerikaner kennt, so bald er lesen kann. Die Gebäude in den engen Stra ßen sind Tudor- oder Stuart-Stil, georgisch und eini ge sogar normannisch. Die Pflastersteine sind glatt gewetzt, und die Markierungssteine auf den Bürgersteigen von Generationen von Spaziergängern ausgetreten. Es ist eine Stadt zum Spazierengehen. Amerikanische Soldaten, kanadische Soldaten, Leute der Royal Air Force und viele der weiblichen briti schen Soldaten spazieren durch die Straßen. Nur Großbritannien zieht seine Frauen zum Wehrdienst ein, und sie werden voll und ganz in der Armee ein gesetzt, als Fahrer mit Mechanikerausbildung, Mel defahrer – schmuck und streng in ihren Uniformen. Die Besatzung der »Mary Ruth« landet in einem kleinen, überfüllten und lauten Pub. Sie drängen sich zur Bar durch, wo die Kellnerinnen Bier zapfen, so schnell sie können. Nach einem Augenblick hat die Crew einen Tisch gefunden, und die kleinen Gläser mit der blassen gelben Flüssigkeit stehen vor ihnen. Es ist seltsames Bier. Der größte Teil des Alkohols ist herausdestilliert worden, um Kriegsmaterial herzu stellen. Es ist nicht kalt. Es ist Scheinbier – mehr ein Symbol als ein wirkliches Getränk. Die Bomberbesatzung ist ernst. Männer, die in Alarmbereitschaft für einen Einsatz versetzt worden sind, sind gewöhnlich ernst, aber heute nacht liegt eine schwere Last auf der Crew. Man hat keine Ah nung, wie diese Dinge sich entwickeln. Ganz plötzlich 57
fühlt sich eine Besatzung vom Schicksal geschlagen. Dann gehen Kleinigkeiten schief. Dann sind sie be unruhigt, bis sie zu ihrem Einsatz starten. Wenn das Unbehagen da ist, tut das Warten förmlich weh. Sie trinken das schale, geschmacklose Bier in klei nen Schlucken. Einer sagt: »Ich habe eine Zeitung von zu Hause beim Roten Kreuz in London gese hen.« Es ist still. Die anderen sehen ihn über ihre Gläser weg an. Eine gemischte Gruppe von Piloten und ATS*-Mädchen am anderen Ende des Pubs ha ben zu singen begonnen. Es ist erstaunlich, wie viele der Lieder amerikanisch sind. Sie singen: ›You’d Be So Nice to Come Home to‹. Und der Takt des Liedes ist unmerklich verändert worden. Es ist nun ein eng lisches Lied. Der Rumpfschütze erhebt seine Stimme, damit man ihn trotz des Gesangs hört. »Es scheint mir, daß wir Angst haben, unsere Verluste bekanntzugeben. Es scheint fast, als ob das Kriegsministerium Angst hät te, daß die Leute es nicht aushalten könnten. Ich ha be noch nie etwas gesehen, das die Leute nicht doch aushalten könnten.« Der Turmschütze wischt sich den Mund mit dem Handrücken. »Wir erfahren nicht viel«, sagt er, »es ist komisch, aber je näher man an die Front kommt, um so weniger liest man Zeitungen und Kriegsberichte. * ATS = (US) Army Transport Service (Armeetransportdienst) od. (britsich): Auxiliary Territorial Service (= weiblicher Hilfsdienst des Heeres im 2. Weltkrieg 58
Ich erinnere mich, bevor ich Soldat wurde, habe ich immer gewußt, was los war. Ich wußte, was in der Türkei gerade los war. Ich hatte sogar Landkarten mit Stecknadeln und zeichnete Feldzüge mit farbigen Bleistiften ein. Jetzt habe ich schon seit zwei Wochen keine Zeitung mehr angesehen.« Der erste Mann spricht weiter: »In dieser Zeitung, die ich gesehen habe, waren einige komische Sachen drin. Die scheinen zu glauben, daß der Krieg fast vor bei sei.« »Ich wünschte, die Jerrys* würden das glauben«, sagte der Heckschütze. »Ich wünschte, du könntest Görings gelbe Nasen und die verdammten Flakschüt zen davon überzeugen.« »Nun, jedenfalls«, sagt der Rumpfschütze, »ich ha be mir diese Zeitung ziemlich genau angesehen. Es scheint mir, daß unsere Leute zu Hause einen Krieg führen und wir hier einen ganz anderen. Zu Hause haben sie ihn schon fast gewonnen, und wir haben unseren erst begonnen. Ich wünschte, sie kämen in den Krieg, in dem wir drin sind. Ich wünschte, sie würden in den Zeitungen von den Opfern schreiben und den Leuten sagen, wie es wirklich ist. Vielleicht würden sie gerne an dem Krieg teilnehmen, in dem wir sind, wenn sie nur wüßten, wie.« Der Heckschütze lebt so nahe an der Grenze zu Kentucky, daß er wie jemand aus Kentucky redet. »Ich habe einen hübschen Artikel über uns in der * Jerry: Bezeichnung für die deutschen Soldaten (A. d. Ü.) 59
Zeitung gelesen«, sagt er. »Da heißt es, wir haben Nerven aus Stahl. Wir haben keine Angst. Das einzi ge, das wir auf der Welt wollen, ist, die ganze Zeit fliegen und richtig gegen Jerry loslegen. Ich habe noch nie gehört, daß wir so ein Ausbund an Tapfer keit sind. Ich habe es drei- oder viermal gelesen, um mich zu überzeugen, daß ich keine Angst habe.« »Über Bremen hatten wir letzten Donnerstag mas sives Flakfeuer«, sagt der Funker. »Wenn wir noch mehr kriegen, können wir über einen soliden Flak teppich nach Hause gehen. Ich hasse dieses Flakfeuer. Haben wir am Donnerstag richtig Dresche bezogen!« »Nun, wir sind nicht getroffen worden«, sagt Hen ry Maurice Crain, einer der Bordschützen. »Der Bug unseres Flugzeuges ist abgeschlagen worden, aber das war ein Unfall. Einer der Kanoniere eines Flugzeuges hoch vor uns hat einige leere Geschützkisten rausge worfen, und die kamen glatt durch unseren Bug. Aber sie haben die Kiste schon wieder fast zusam mengeflickt.« »Jedenfalls«, sagt der erste Mann verbissen, »wünschte ich, die würden denen zu Hause sagen, daß der Krieg noch nicht vorbei ist und die nicht denken, wir wären so tapfer. Ich will nicht so helden haft sein. Wollen wir noch eins trinken?« »Wozu?« sagt der Heckschütze. »Dieses Zeug hat noch nicht einmal Charakter genug, daß man Abnei gung dagegen empfinden könnte. Ich gehe zurück und putze meine Geschütze. Dann brauche ich es morgen früh nicht zu machen.« 60
Sie stehen auf und drängen sich langsam nachein ander aus dem Pub. Es ist immer noch hell. Die Tau ben fliegen um den Turm einer alten gotischen Kir che, eine Architektur, die für nistende Tauben be sonders geeignet ist. Das Hotel, das vom Roten Kreuz übernommen worden ist, ist überfüllt mit Männern von all den Flugplätzen, die die ganze Landschaft übersäen. Un ser Bus hält an, und wir klettern rein. Die Crew sieht automatisch zum Himmel. Er ist klar mit kleinen weißen Wölkchen, die noch im Lichte der Sonne ste hen, die schon untergegangen ist. »Sieht aus, als ob es morgen klaren Himmel gibt«, sagt der Funker. »Das ist gut für uns, und es ist gut für sie, um uns zu erwischen.« Der Bus rattert zurück zum Flugplatz. Der Heck schütze grübelt. »Ich hoffe, der alte Rotbart hat eine schlimme Erkältung«, sagt er. »Der Blick in seinen Augen gefiel mir letztes Mal gar nicht.« Rotbart ist ein feindlicher Jagdflieger, der so nahe herankommt, daß man fast sein Gesicht sehen kann.
Aberglaube Bomberstützpunkt in England, 30. Juni 1943 Es ist eine schlechte Nacht in den Unterkünften, eine Nacht, wie sie nicht oft vorkommt. Man kann un möglich wissen, wie es anfängt. Die Nerven sind ein bißchen überreizt, und niemand ist müde. Der Heck 61
schütze der anderen Besatzung im Zimmer kommt von seinem oberen Bett herunter und fängt an, auf dem Boden herumzustöbern. »Was ist los?« fragt der Mann im unteren Bett. »Ich habe mein Medaillon verloren«, sagt der Heckschütze. Niemand fragt, was es gewesen sei, eine Christo phorus-Medaille oder ein Glücksbringer. Tatsache ist, daß es sein Medaillon ist und er es verloren hat. Alle stehen auf und helfen suchen. Sie rücken das Etagenbett von der Wand ab. Sie drehen alle Schuhe um. Sie sehen hinter den Stahlspinden nach. Sie be stehen darauf, daß der Bordschütze alle seine Ta schen überprüft. Es ist nicht gut für einen Mann, wenn er sein Medaillon verliert. Vielleicht hat man vorher schon ein gewisses Unbehagen gespürt. Jetzt setzt es sich fest. Das Unbehagen kriecht überall im Raum herum. Es tarnt sich mit Heiterkeit. Sie erzäh len Witze; sie ziehen sich gegenseitig auf. Sie fragen einander nach ihrer Schuhgröße, um ihrem Unbeha gen entgegenzutreten. »Was hast du für eine Schuh größe, Brown? Ich kriege deine Treter, wenn du schlappmachst.« Und dann hören die Witze auf. Es gibt viele kleine Dinge, die man zu tun hat, wenn man auf Einsatz geht. Man hinterlegt die Sachen, die nach Hause ge schickt werden sollen, falls man einen Unfall hat. Man legt sie unter das Kopfkissen, die Fotografien, die man hat, und den Brief, den man geschrieben hat, und den Ring. Sie sind unter deinem Kopfkissen, und 62
du machst dein Bett nicht mehr. Das muß unge macht bleiben, damit du gleich wieder reinschlüpfen kannst, wenn du zurückkommst. Niemand käme auf die Idee, ein Bett zu machen, während sein Inhaber auf Einsatz ist. Man geht auch glatt rasiert hinaus, weil man ja zurückkommt, um seine Verabredung einzuhalten. Man richtet seine Gedanken auf die Zu kunft und auf die Dinge, die man danach tun wird. In den Unterkünften erzählen sie von bösen Vor ahnungen, von denen sie gehört haben. Zum Bei spiel von dem Funker, der eines Morgens sein Bett zeug säuberlich auf seinem Feldbett zusammenfalte te und sein Kopfkissen drauflegte. Und er faltete sei ne Kleidung zu einem ordentlichen Paket zusammen und leerte seinen Spind. Nie zuvor hatte er so etwas getan. Und tatsächlich wurde er an diesem Tag abge schossen. Der Heckschütze hat sein Medaillon immer noch nicht gefunden. Er hat seine Taschen immer wieder durchsucht. Das grausame Gerede geht weiter, bis ei ne Stimme sagt: »Haltet um Gottes willen den Mund. Es ist nach Mitternacht. Wir müssen einfach ein biß chen schlafen.« Das Licht wird ausgeschaltet. Es ist völlig dunkel in dem Zimmer, denn auch die Verdunkelungsvorhän ge sind dicht zugezogen. Ein Mann spricht in der Dunkelheit. »Ich wünschte, ich wäre jetzt schon im Flugzeug.« Er weiß, daß er in Ordnung sein wird, wenn der Einsatz beginnt. Aber es ist diese Wartezeit, die quält. Und heute nacht ist es besonders schlimm. 63
Es ist still in dem Zimmer, und dann hört man zu erst Schritte und dann einen großen Krach. Ein wei terer Heimkehrer ist in der Dunkelheit über den Ge wehrständer gestolpert, als er versuchte, zu seinem Bett zu finden. Das ganze Zimmer bricht in laute Flü che aus. Jeder flucht über den Neuankömmling. Sie sagen ihm, woher er kommt und wohin er hoffent lich gehen wird. Es ist ein gesunder, lauter Ausbruch, der dem Raum die Spannung nimmt. Das böse Etwas ist gewichen. Man hört ein brummendes Geräusch, während man auf seinem Feldbett liegt, ein Geräusch, das an hält. Es ist die Royal Air Force, die wieder zu einem nächtlichen Bombenangriff startet. Es müssen Hun derte sein – ein großer Einsatz. Das Geräusch war schon den ganzen Abend zu hören, und es dauert noch eine weitere Stunde an. Hunderte LancasterBomber mit Hunderten Tonnen Bomben. Und wenn sie zurückkommen, gehen die nächsten raus. Man kann das, was mit Bomberbesatzungen pas siert, nicht einfach Aberglauben nennen. Durch An spannung und durch die Höhe befindet sich der Kör per in einem Ausnahmezustand. Der Mensch atmet Sauerstoff durch einen Schlauch, und seine Augen und Ohren arbeiten im verminderten Luftdruck. Es ist nicht verwunderlich, daß er dann manchmal Din ge sieht, die nicht da sind, und Dinge nicht sieht, die da sind. Schützen haben auf ihre eigenen Flugzeuge geschossen, und andere haben große Salven in die leere Luft gejagt, weil sie glaubten, sie hätten ein Ha 64
kenkreuz gesehen. Die Sinne sind nicht mehr zuver lässig. Und der Himmel ist mit Flakgeschossen über sät. Die Flakgeschosse explodieren um dich herum, und manchmal fetzen Splitter durch das Flugzeug. Die Jäger blitzen mit aufflackernden Geschützen an dir vorbei. Und wenn du ab und zu kleine Visionen haben solltest – nun, das muß einfach eines Tages passieren. Und falls in deinem konzentrierten Be wußtsein kleine Geschehnisse mit Bedeutung aufge laden werden – nun, derartige Dinge passieren im mer unter solcher Spannung. Geister sind immer durch die Lüfte geritten, und wenn dein Körper und deine Nerven noch durch die Höhe überanstrengt sind, dann müssen solche Dinge einfach eines Tages passieren. In der Unterkunft ist es still. Aus einer Ecke kommt ein leichtes Schnarchen. Einer spricht im Schlaf. Erst ein gemurmelter Satz und dann: »Helen, laß uns jetzt auf das Ferris-Rad gehen.« Von der gegenüberliegenden Wand kommt ein unterdrücktes Geräusch, und dann ein leises metalli sches Klimpern. Der Heckschütze tastet immer noch in seinen Taschen nach dem Medaillon.
Vorbereitung auf einen Luftangriff Bomberstützpunkt in England, 1. Juli 1943 In der Kaserne leuchtet ein helles weißes Licht auf, das dich aus dem Schlaf reißt. Eine scharfe Stimme 65
ruft: »Nun macht, daß ihr rauskommt. Einsatzbe sprechung um 3 Uhr, Bereitschaft ab 4.20 Uhr. Macht jetzt besser, daß ihr rauskommt.« Die Besatzung kämpft sich schläfrig aus ihren Feldbetten und in ihre Kleidung. Es ist 2.30 Uhr mor gens. Keiner hat viel geschlafen. Draußen wird es langsam hell. Die Crew tastet ih ren Weg durch Schläfrigkeit und Halbdunkel zu dem bewachten Tor, und jeder geht hin, wenn er vom Po sten identifiziert worden ist. Drinnen stehen Reihen von Bänken vor einer gro ßen, weißen Leinwand, die eine ganze Wand ein nimmt. Einige Männer der Besatzungen haben schon Platz genommen. Das Licht geht aus, und ein Projek tor wirft ein Luftbild auf die Leinwand. Es ist bemer kenswert klar. Es zeigt Straßen und Fabriken, einen sich schlängelnden Fluß, Docks und Unterseebunker. Ein Nachrichtenoffizier steht neben der Leinwand, er hält einen langen Zeigestock in der Hand. Er beginnt ohne lange Einleitung. »Da geht es heute hin!« sagt er und nennt den Namen einer deutschen Stadt. »Nun, dieses Geschwader wird aus dieser Richtung kommen.« Der Zeigestock folgt der Straße und wirft einen schwarzen Schatten auf die Leinwand. Der Zei gestock hält bei drei langen, schmalen, nebeneinan derliegenden Gebäuden. »Das ist euer Ziel. Da pro duzieren sie kleine Maschinenteile. Vernichten!« Er gibt die Zeiten bekannt, und ein Feldwebel schreibt sie auf eine Tafel. »Bereitschaft zu der Zeit, Start zu dieser Zeit. Ihr werdet über eurem Ziel um soundso 66
viel Uhr sein, und ihr solltet um soundsoviel Uhr zu rück sein.« Es ist alles auf die Minute genau festgelegt – 5.52 Uhr und 9.43 Uhr. Die unglaubliche Aufgabe, so viele Flugzeuge zu einer gegebenen Zeit an einen gegebenen Punkt zu dirigieren, bedeutet ein Timing auf Bruchteile von Sekunden. Der Nachrichtenoffizier fährt fort: (Die nächsten drei Sätze von der Zensur gestrichen) »Viel Glück und gute Jagd.« Das Licht geht wieder an. Die abge bildete Stadt verschwindet wieder. Ein Geistlicher er scheint an der Stirnseite des Raumes. »Alle Katholi ken versammeln sich hinten im Raum«, sagt er. Die Crews bummeln quer über den Weg zum Speisesaal und füllen ihre Teller und Tassen mit ge dämpften Früchten, Rührei und Speck, Frühstücks flocken und Kaffee. Die Besatzung der »Mary Ruth« ist fast fröhlich. Es ist eine Reaktion auf die Spannung der vorigen Nacht. Die Anspannung ist jetzt vorüber, weil es Ar beit gibt, der Flug bevorsteht und das Warten vorbei ist. Der Heckschütze sagt: »Falls heute irgendwas pas sieren sollte, will ich festhalten lassen, daß ich zum Frühstück Pflaumen hatte.« Sie essen in Eile und drängen sich dann raus, nach dem sie ihr Geschirr und die Tassen in seifigem Was ser abgewaschen und in großen Kesseln abgespült haben. Das Anziehen ist ein langwieriger und komplizier ter Vorgang. Sie ziehen sich nackt aus. Auf die bloße Haut ziehen sie wollene Unterwäsche an. Darüber 67
streifen sie etwas, das wie lange, blaßblaue Unterwä sche aussieht: Sie reicht bis auf die Fußgelenke und bis zu den Handgelenken, und in Hüfthöhe sind elektrische Stecker angebracht. Die Anzüge sind zwi schen zwei Lagen Textil mit elektrischen Drähten durchwirkt, die Wärme leiten, wenn der Stecker mit dem Wärmeanschluß des Flugzeuges verbunden ist. Über den Wärmeanzug kommt der braune Overall. Zuletzt dann dicke, mit Schaffell gefütterte, beheizba re Stiefel und Handschuhe, die gleichfalls Stecker für den Wärmeanschluß haben. Als nächstes wird die »Mae West« angezogen, die orangefarbene Gummi schwimmweste, die in Sekunden mit Luft gefüllt werden kann. Dann kommt der Fallschirm mit den schweren Leinwandriemen über den Schultern und zwischen den Beinen. Und zuletzt der Helm mit Mi krofon und Kopfhörern. Sobald er an die Bord sprechanlage angeschlossen ist, kann sich jeder Mann mit der übrigen Besatzung verständigen, egal welcher Lärm um ihn herum herrscht. Während des Anklei dens sind die Männer immer stärker geworden, als sie ein Ausrüstungsstück über das andere anzogen. Sie gehen steif wie Roboter. Selbst der magere Rumpfschütze sieht jetzt ein bißchen rundlicher aus. Sie ziehen sich sehr sorgfältig an, denn eine unge schützte Stelle oder ein nicht angeschlossener Anzug kann in einer Höhe von 10 000 Metern schlimme Er frierungen zur Folge haben. Dort oben ist es fürch terlich kalt. Es ist nun Tag, und es bläst ein kalter Wind. Die 68
Männer gehen zur Waffenkammer zurück und holen ihre Geschütze ab. Ein Lastwagen wartet auf sie. Sie verstauen die Geschütze vorsichtig auf dem Boden und hieven sich dann selbst steif hinein. Der Lastwa gen fährt die verlassene Startbahn entlang. Er biegt in eine seitliche Startbahn ab. Nun kann man die Flug zeuge hier und da auf dem Flugplatz sehen. Unter den Flügeln jeder Maschine hat sich eine kleine Gruppe Männer versammelt. »Da ist es«, sagt der Turmschütze. »Ich frage mich, ob sie es geschafft haben, den Bug zu reparieren.« Es war die »Mary Ruth« deren Nase durch Geschoßki sten eines vor ihr fliegenden Bombers beschädigt worden war. Der Lastwagen fährt bis unter den Bug des großen Flugzeuges vor. Die Crew klettert herun ter, und jeder Mann hebt sein Geschütz vorsichtig heraus. Sie steigen in das Flugzeug. Die Geschütze müssen installiert und vorsichtig getestet werden. Die Munition muß kontrolliert und die Geschütze gela den werden. Das nimmt alles Zeit in Anspruch. Das ist der Grund, weshalb die Männer lange vor der Startzeit geweckt wurden. Tausend Dinge sind vor dem Start noch zu erledigen.
Das Bodenpersonal Bomberstützpunkt in England, 2. Juli 1943 Die Bodenmannschaft arbeitet noch an der »Mary Ruth«. Master Sergeant (Hauptfeldwebel) Pierce 69
aus Oregon ist der Chef der Crew. Er ist schon lan ge Soldat und kennt seine Maschine. Es wird be hauptet, ihm gehöre die »Mary Ruth« und daß er sie dem Flugzeugführer nur gelegentlich leihe. Wenn er sagt, daß ein Flug nicht gestartet werden kann, dann wird er nicht gestartet. Den größten Teil der Nacht hat er damit verbracht, die Trieb werke zu kontrollieren. Corporal Harold ist auch da. Er hat die Bomben geladen und dafür gesorgt, daß die Ausrüstung des Flugzeuges in Ordnung ist. Das Bodenpersonal hastet herum wie die Kaninchen. Die Zeit wird knapp. Sie haben eine ruhmlose Pflicht zu erfüllen, eine Aufgabe ohne Heldentum und ohne Publicity. Und doch könnte das Flugzeug ohne sie nicht fliegen. Sie tragen Overalls und Baseballmützen. Die Bordschützen haben mittlerweile ihre Ge schütze eingebaut und testen die Schieber. Ein Mann des Bodenpersonals poliert die reparierte Nase und wischt auch das kleinste bißchen Schmutz weg, damit der Bombenschütze sein Ziel gut sehen kann. Ein Jeep fährt vor und bringt die Offiziere – Brown, Quenin, Bliley und Freerick. Sie verstreuen eine Zahl von kleinen, quadratischen Paketen auf dem Boden, eines für jeden Mann. Captain Brown verteilt sie. Sie enthalten Geld und Landkarten. Brown sagt: »Nun, falls wir irgendwelche Probleme kriegen sollten, mar schiert nicht in Richtung auf … denn die Leute dort sind nicht sehr freundlich gewesen. Geht in Richtung … dort sind sie sehr hilfsbereit.« Die Männer nehmen 70
ihre Pakete und lassen sie in die Taschen unter dem Knie ihrer Overalls gleiten. Die Sonne ist nun gerade unterhalb des Horizonts, und man sieht feine rosafarbene Federwölkchen am ganzen Himmel. Der Captain sieht auf seine Uhr. »Ich würde sagen, wir machen uns jetzt auf«, sagt er. Der andere Brown, der Heckschütze, kommt her übergerannt. Er übergibt ihm zwei Ringe, einen Ka meering und einen anderen. »Ich habe vergessen, die hierzulassen«, sagt er. »Würden Sie sie unter mein Kopfkissen legen?« Die Crew klettert auf ihre Plätze, und die Tür wird zugeschlagen und verriegelt. Die Seitentüren sind seitlich offen, mit den Geschützen, die hervorlugen, nun unten festgezurrt, aber sofort einsatzbereit. Der lange Patronengurt hängt lose in jedes der Geschütze hinein. Der Pilot winkt von seinem hohen Thron. Sein Fenster befindet sich direkt über dem Namen des Flugzeuges – »Mary Ruth, Erinnerungen an Mobile«. Die Triebwerke drehen sich, schnappen einzeln ein und dröhnen, während sie warmlaufen. Und nun er schallt über dem ganzen Flugplatz das knatternde Dröhnen der startenden Triebwerke. Von überall her auf dem ganzen Flugplatz kommen die großen Flug zeuge von ihren verstreuten Standorten zur Haupt startbahn gerumpelt. Sie formieren eine Reihe wie Riesenkäfer, eine Parade von Riesenkäfern, die sich herunter zur Startbahn bewegt. Der Pilot gibt ein Signal, und zwei Bodenmänner rennen blitzschnell los, ziehen die Bremsklötze von 71
den Rädern weg und springen ebenso blitzschnell wieder aus dem Weg. Die »Mary Ruth« bringt ihre Motoren auf Touren und kriecht dann langsam aus ihrer Zufahrt heraus und reiht sich in die Parade ein. Weiter vorne auf der Startbahn zieht das erste Flug zeug an, beschleunigt und hebt vom Boden ab. Hin ter ihm kommt ein weiteres und dahinter ein weite res und dahinter eines, bis die fliegende Reihe der Flugzeuge sich bis weit in den Norden ausdehnt. Ei nen kurzen Augenblick lang ist das Geschwader ver schwunden, aber nach einigen Minuten sind sie wie der über dem Flugplatz, jedoch diesmal nicht in einer Reihe. Sie haben Höhe gewonnen und fliegen in ge schlossener Formation. Sie überqueren das Flugfeld dröhnend und sind kaum vorbei, als ein weiteres Ge schwader von einem anderen Flugplatz vorbeikommt und dann ein weiteres und wieder eines. Sie werden sich an einem bestimmten Punkt treffen, die Ge schwader von vielen Flugfeldern. Und wenn der gan ze Verband vereinigt ist, werden vielleicht einhundert der großen Flugzeuge in V-Formation und innerhalb der V in weiteren V fliegen, jedes sich selbst und gleichzeitig die anderen durch seine Position schüt zend. Und dieser große Flug führt gen Süden wie der Zug der Gänse im Herbst. Damit diese Einsatzkommandos starten können, ist unglaublich viel Kleinarbeit nötig. Nachschub und Nachrichtendienst, Bestimmung des Zieles und Einsatzbesprechung, Einteilung des Personals und die Zuweisung der Besatzungen und die Arbeit der 72
Mechaniker, um die Triebwerke in Gang zu halten. »Bomben-Boogie« startete mit den anderen, flattert aber schon nach kurzer Zeit mit einem verreckten Motor zurück. Wieder mal hat dieses Flugzeug schlappgemacht. Niemand weiß, warum. Entmutigt sinkt es zu Boden. Sobald die Einsatzgruppe abgeflogen ist, steht das Bodenpersonal herum und macht einen verlorenen Eindruck. Die Männer haben jede Phase des Starts beobachtet, und jetzt hat man sie zurückgelassen, um den Tag geduldig zu warten, bis die Flugzeuge wieder zurückkehren. Es ist sehr schwierig, die Beziehung zwischen Bodenpersonal und den fliegenden Crews zu bestimmen; es gibt aber eine sehr enge Verbin dung zwischen beiden. Das Bodenpersonal wird ner vös und besorgt sein, bis die Flugzeuge wieder zu Hause sind. Und falls die »Mary Ruth« es nicht schaf fen sollte, nach Hause zurückzukehren, wird sie in einer mürrischen, wortlosen Art betrauert werden. Sie haben die ganze Nacht gearbeitet. Nun drängen sie sich auf einem Traktor zusammen, um zum Han gar zurückzufahren und in der Messe eine Tasse Kaf fee zu trinken. Master Sergeant Pierce sagt: »Das ist ein gutes Flugzeug. Habe nie Ärger damit gehabt. Es wird zurückkommen, falls sie es nicht völlig in Stücke schießen.« In den Unterkünften ist es sehr still; die Betten sind nicht gemacht, die Bettücher hängen an den Seiten der eisernen Feldbetten herunter. Die Pinup-Girls sehen etwas verstört aus in ihren Flitterge wändern. Die Familienfotos liegen oben auf den stäh 73
lernen Spinden. Das Ticken einer Uhr klingt durch dringend. Die Ringe werden unter Browns Kopfkis sen gelegt.
Warten Bomberstützpunkt in England, 4. Juli 1943 Das Flugfeld liegt verlassen da, nachdem die Flugzeu ge gestartet sind. Das Bodenpersonal kehrt in die Un terkünfte zurück, um ein bißchen zu schlafen. Es hat fast die ganze Nacht durchgearbeitet. Die Flagge hängt schlaff über dem Verwaltungsgebäude. In den Hangars arbeiten die Mechanikerteams an Maschi nen, die beschädigt worden sind. »Bomben-Boogie« wird hereingeholt, um ihn ein weiteres Mal zu über holen, und die Besatzung von »Bomben-Boogie« geht verärgert ins Bett zurück. Die Crews besitzen einige kleine Hunde. Diese Hunde, von denen die meisten einen ungewissen oder zumindest zweifelhaften Stammbaum haben, gehören keinem einzelnen Mann. Jedem Flugzeug gehört generell ein Hund, und die gesamte Besatzung ist sehr stolz auf ihn. Jetzt wandern die Hunde un tröstlich über das Flugfeld. Der Bomberstützpunkt liegt leblos da. Der Morgen geht langsam vorbei. Das Geschwader sollte um 9.52 Uhr über dem Ziel sein. Um 12.43 Uhr wird es zurückerwartet. Wenn es 9.50 Uhr ist und der Zeiger vorrückt, hast du nur das Flugzeug im Kopf. Jetzt sind sie im Bereich der Flak. 74
Jetzt hat sich vielleicht ein Rudel Kampfjäger auf sie gestürzt. Das geht alles in deinem Kopf vor. Jetzt, wenn alles gutgegangen ist und keine Unfälle passiert sind, werden die Bombenschächte geöffnet, und die Flugzeuge überqueren das Zielgebiet. Jetzt haben sie abgedreht und nehmen das Rennen nach Hause auf. Sie halten die Formation eng zusammen und gehen höher und höher, um dem Flakbeschuß zu entgehen. Es ist 10 Uhr, und sie sollten auf dem Weg zurück sein – jetzt 10.20 Uhr, und sie müßten bereits das Meer sehen können. Gestern nacht erzählte die Besatzung die Geschich te vom Ende eines Bombers, und in einem Augen blick wie diesem kommt die Erinnerung daran zu rück. Es war ein schöner Tag, so wurde erzählt, ein Tag wie aus dem Bilderbuch, mit großen Wolken und ei nem sehr blauen Himmel. Eine Art Himmel, wie man ihn zu Hause in der Reklame für Flugreisen sieht. Die Formation flog in Richtung auf St. Nazaire, und die Luft war sehr klar. Sie sagten, sie konnten die kleinen Städte am Boden erkennen. Dann ging die Flak los, erzählten sie, und einige Messerschmitts hielten sich außer Reichweite und fingen an, mit ih rer Kanone loszuknallen. Sie konnten nicht sehen, wo die Festung vor ihnen getroffen worden war. Wahrscheinlich die Steuerung, denn sie sahen sie nicht auseinanderbrechen. Sie waren sich alle einig, daß alles ganz langsam zu geschehen schien. Die Fliegende Festung nahm lang 75
sam die Nase höher und höher, bis sie fast senkrecht zu steigen versuchte, was natürlich nicht ging. Dann glitt sie in Zeitlupe ab, segelte rückwärts wie ein fal lendes Blatt und hielt dann kurze Zeit das Gleichge wicht, bis ihr Bug sich zu neigen begann und sie dann mit der Nase voran auf die Erde zuschoß. Der blaue Himmel und die weißen Wolken ließen daraus ein lebendiges Bild werden. Die Crew konnte beobachten, wie ein Bordschütze herauszukommen versuchte, und dann hatte er es geschafft, und sein Fallschirm öffnete sich. Und den Turmschützen sa hen sie, wie er sich herausfallen ließ. Der Bomben schütze und der Navigator fielen wie Blüten aus dem Bug, und der Rumpfschütze folgte ihnen. Die Besat zung der »Mary Ruth« schrie: »He, Piloten, schnell raus!« Das Flugzeug war schon ziemlich tief, als der Turmschütze es ebenfalls schaffte. Sie dachten schon, Pilot und Co-Pilot seien verloren. Sie blieben zu lan ge in ihrem Flugzeug, und dann war das Flugzeug schon so weit unten, daß sie es kaum noch sehen konnten. Es muß schon fast auf dem Boden gewesen sein, als sie zwei kleine weiße Flocken – zuerst eine und dann eine zweite – aus ihm herausschießen sa hen. Und die ganze Besatzung schrie vor Erleichte rung. Und dann traf das Flugzeug auf dem Boden auf und explodierte. Nur der Heckschütze und der Turmschütze hatten das Ende verfolgen können. Sie erzählten es über die Bordsprechanlage. Neben dem Hangar Nr. 1 ist ein kleiner Erdhügel, der mit kurzem, dichtem Gras bewachsen ist. Um 76
12.15 Uhr versammelt sich dort langsam das Boden personal, um geduldig auf die Rückkehr der Bomber zu warten. Der Leiter des Bodenpersonals bringt das Gerücht auf, daß sie sich gemeldet haben, aber es bleibt ein Gerücht. Ein kleiner Hund, er hätte ein grauer schottischer Terrier sein können, wenn seine Ohren nicht heruntergehangen und sein Schwanz nicht in die falsche Richtung gekrümmt gewesen wä re, gesellt sich zu ihnen und setzt sich auf den Hügel. Er macht es sich bequem und legt seine Schnauze auf die ausgestreckten Pfoten. Er macht seine Augen nicht zu, und seine Ohren zucken. Das gesamte Bo denpersonal ist jetzt hier versammelt und wartet auf die Flugzeuge. Es sind die längsten Minuten, die man sich vorstellen kann. Plötzlich hebt der kleine Hund den Kopf. Er be ginnt am ganzen Körper zu zittern. Der Leiter des Bodenpersonals hat einen Feldstecher. Er sieht den Hund an und richtet dann seinen Feldstecher nach Süden. »Kann überhaupt noch nichts sehen«, sagt er. Der kleine Hund hört auf zu zittern und winselt in den höchsten Tönen. Und da kommen sie. Man kann nur kleine Punkte weit im Süden sehen. Die Formation ist gut, aber eine Maschine fliegt allein voraus. »Kannst du die Num mer ausmachen? Welche ist es?« Das führende Flug zeug verliert an Höhe und kommt direkt auf die Rollbahn zu. Von seiner Seite werden zwei kleine Leuchtraketen abgeschossen, eine rote und eine wei ße. Der Krankenwagen, sie nennen ihn den Fleisch 77
wagen, rast die Rollbahn herunter. In diesem Flug zeug ist ein Verletzter. Die Hauptformation überquert das Flugfeld, und jedes Flugzeug schert zur Landung aus dem Verband aus, nur das einzelne Flugzeug sinkt direkt herunter, die Räder setzen auf, und die Fliegende Festung lan det wie ein großer Käfer auf der Rollbahn. In dem Augenblick, als ihre Räder aufsetzen, hört man ein scharfes, kläffendes Gebell, und man sieht einen grauen Streifen. Der kleine Hund scheint den Boden kaum zu berühren. Er hetzt quer über das Flugfeld auf das gelandete Flugzeug zu. Er kennt sein Flug zeug. Eine Festung nach der anderen landet, und das Bodenpersonal hakt die Nummern ab, sobald sie ge landet sind. »Mary Ruth« ist da. Nur ein Flugzeug fehlt; es mußte wegen Treibstoffmangels weiter süd lich landen. Auf dem Hügel gibt es einen großen Seufzer der Erleichterung. Der Einsatz ist vorbei.
Ein Tag voller Erinnerungen! London, 4. Juli 1943 Für die Truppen auf Urlaub gab es den ganzen Tag Paraden und Unterhaltung in London. Alles, was für einen Gast getan werden kann, ist getan worden. Heute morgen gab es einen vergnüglichen Ausflug, dann Bewegungsübungen, Tanzveranstaltungen, Re den, Rundfahrten zu einigen Sehenswürdigkeiten. Die Briten, die Kanadier und die anderen waren be 78
sonders freundlich. Die Kapelle im Park spielte ›The Star-Spangled Banner‹ und ›Dixie‹ und ›Home, Sweet Home‹. Alles, was getan werden kann, ist getan wor den, was das Heimweh aber nur verschlimmert. Der Sprecher sagt in gestochenem und präzisem Englisch: »Wir heißen euch an diesem Tag, der euch viel bedeutet, wieder herzlich willkommen.« Und man denkt an den rotnackigen Politiker, der vor En thusiasmus und Bourbon schäumt und auf einem fahnenbedeckten Podium Reden schwingt, während sein Publikum sich danach sehnt, daß endlich die Wassermelonen und der Kartoffelsalat kämen. Der Ausflugsleiter sagt: »Wir fahren jetzt zum Tower von London. Er ist in gewissem Sinne die Wiege der englischen Zivilisation« – das Wettrennen der dicken Männer, der Dreibein-Wettlauf*, das Ge kreische der Frauen, die mit Eiern auf Eßlöffeln lau fen, der Geruch von gegrilltem Fleisch. Auf dem Trafalgar Square spielt die Kapelle wun derschön einen würdigen und unwiderstehlichen Marsch – und dann war da auch noch Coney Island mit dem Durcheinander kreischender Kinder, dem Geruch von Speiseeis und Erdnüssen und nassen Zi garrenstummeln, der Brandung aus einem Drittel Wasser und zwei Drittel Menschen, die sich durch
* Ein Spiel, bei dem man paarweise an den Start geht. Das rechte Bein des Mitspielers und das linke Bein des anderen Mitspielers werden zusammengebunden, so daß sich das Paar tatsächlich auf drei Beinen fortbewegt. (A. d. Ü.) 79
Pampelmusenschalen und das Quietschen und Dröh nen von Spelunkenmusik kämpfen. Soldaten marschieren in London in Paraden; Män ner, die wie angezogene Maschinen marschieren, steif, gerade hochgereckt wie ihre eigenen Gewehre, Männer mit schwingenden Armen – zu Hause in den verschiedensten Berufen tätig, mit zerbeulten Strau ßenfeder-Hüten, in Umformen, die wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt wurden. Männer in Ritter gewändern, die noch gestern abend Metzger waren oder Angestellte oder Schalterbeamte der örtlichen Bank. Jetzt aber sind sie Ritter, die etwas Schwierig keiten mit dem Gleichschritt haben. Mit ihren Zier schwertern in allen unmöglichen Lagen über der Schulter trotten sie hinter ihrer Fahne her – die »Rit ter« aus allen Berufssparten. Die gastfreundlichen Leute in London servieren Käsekuchen und Obstdesserts mit Schlagsahne, Kekse und Tee, Marmelade, Gin und Limonensaft, Scotch und Wasser und Bier – Würstchen mit Senf, der un ten heraustropft und in den Ärmel läuft. Hamburger mit rohen Zwiebeln, die aus den runden Brötchen herausquellen, und Popcorn, das vor Butter tropft. Da ist der stechende Geruch von gutem Whisky und Bierfässern, die auf Holzböcken stehen. Schokola denkuchen und gebratene Eier, aber vorwiegend Hamburger mit Zwiebeln. Welchen Belag hätten Sie gern? Pickles oder Dill oder Mayonnaise oder alles zusammen? Die kühlen Mädchen tanzen gut und sind liebens 80
würdig und freundlich. Sie arbeiten hart in den Kriegsfabriken, und es ist schon schwierig, ein Kleid so gut zu bügeln. Lippenstift kann man kaum be kommen, und das Parfüm ist der letzte Rest in der Flasche. Ordentlich und hübsch und freundlich sind sie. Zu Hause die klebrigen Küsse auf dem Notsitz, und das Erschlagen von Stechmücken auf einer hei ßen, weinberankten Veranda. Und in den Spelunken heult die Musikbox, ihr Baß läßt die Luft vibrieren. Wenn du etwas sagst, weiß das Mädchen die passen de Antwort. Nichts bedeutet etwas, aber es paßt alles zusammen. Alles paßt zusammen. Das ist eine Zeit für Heimweh, und Weihnachten wird es noch schlimmer sein. Keine Würde, kein Lu xus, nicht die schönste Beschäftigung kann es ver hindern. Keine Show ist so gut wie die Doppelvor stellung im »Odeon«, kein Essen ist so gut wie das Mitternachts-Sandwich in »Joe’s Restaurant«, und niemand auf der ganzen Welt ist so hübsch wie die blonde Margie, die im »Poppy« arbeitet. Wenn sie nach Hause kommen, werden sie für lange Zeit ein bißchen gelangweilt an London den ken. Sie werden sich an exotische Abenteuer und selt same Speisen erinnern. Piccadilly und das »Savoy« und der Tower, die »Normandie-Bar« und Soho. Das wird in ihren Gesprächen auftauchen. Sie werden ih re Erinnerungen enthusiastisch mit denen anderer Soldaten, die auch dort waren, vergleichen. Die küh len Mädchen werden dann zu seltsamen und roman tischen Abenteuern aufgebauscht werden. Ein verein 81
zelter kleiner Blick wird in ihrer Erinnerung zu einer ausschweifenden Orgie. Sie werden sich an Dinge er innern, von denen sie nie gewußt haben, daß sie sie wirklich gesehen haben – die St.-Pauls-Kathedrale gegen einen bleifarbenen Himmel mit dem darü berhängenden Sperrballon; Waterloo-Station, die Sandsäcke hoch gegen die vielen Kirchen des Bau meisters Sir Christopher Wren gestapelt, die nerven aufpeitschende Sirene und der überraschende Luft angriff. Aber heute, am 4. Juli 1943, wandern sie vom Heimweh verstört herum; sie sehen nichts, sie hören nichts, außer den Gesichtern und den Stimmen ihrer Familien zu Hause.
Die Leute von Dover Dover, 6. Juli 1943 Dover, mit seiner Burg auf dem Hügel und seinen kleinen verwinkelten Gäßchen, mit seinen großen, häßlichen Hotels und seiner geheimen und gefährli chen Angriffsmacht hat von allen Städten die gering ste Distanz zum Feind. Dover ist voll von Erinnerun gen an Wellington und Napoleon, an die Zeit, als Napoleon nach Calais kam und über den Kanal hin weg England betrachtete und wußte, daß nur dieser kleine Streifen Wasser seine Eroberung der Welt be hinderte. Und später schleppten sich die Männer von Dünkirchen mit müden Füßen von den kleinen 82
Schiffen herunter und kämpften sich durch die Stra ßen von Dover. Dann kam Hitler zu dem Hügel über Calais und sah hinüber auf die Klippen, und wieder verhinderte nur der kleine Streifen Wasser die Eroberung der Welt. Es ist ein sehr kleines Stück Wasser. An klaren Tagen kann man die Hügel von Calais sehen, und mit einem Fernglas kann man den Uhrenturm von Calais erkennen. Wenn die Kanonen von Calais ab gefeuert werden, kann man das Mündungsfeuer se hen, während man mit einem Teleskop von der Burg aus die Kanonen selbst ausmachen kann, und sogar Panzer, die am Strand Gefechtsstellung einnehmen. In Dover fühlt man sich dem Feind sehr nahe. Drei Minuten in einem schnellen Flugzeug, drei Vier telstunden in einem schnellen Boot. Fast jeden Tag bricht ein Flugzeug wie ein Peitschenschlag durch die Verteidigungslinie und wirft eine Bombe ab oder ris kiert einen Schuß auf die Ballons, die in der Luft über der Stadt schweben. Und alle paar Tage richtet Jerry seine großen Kanonen auf Dover und feuert ein paar Salven brisanter Geschosse auf die kleine alte Stadt. Dann wird ein Gebäude getroffen und fällt in sich zu sammen, und manchmal werden ein paar Leute getö tet. Es ist brutal und nutzlos, es dient keinem militä rischen, nautischen oder moralischen Zweck. Es sieht fast so aus, als ob sich die Deutschen wegen des klei nen Streifens Wasser ärgern, durch den sie geschla gen wurden. Die Leute von Dover verfügen über eine Eigen 83
schaft, die durchaus der Schlüssel für das kommende Verderben der Deutschen sein könnte. Sie sind un verbesserlich und nicht zu beeindrucken. Der Deut sche mit seiner Uniform und seinem Pomp, seinen Drohungen und Plänen beeindruckt diese Leute überhaupt nicht. Der Einwohner von Dover hat viel leicht ein bißchen mehr einstecken müssen als die meisten anderen, nicht bei großen Luftangriffen, aber durch die täglichen Bombenangriffe und das Granat feuer, und noch immer ist er unbeeindruckt. Der Deutsche ist für ihn wie das Wetter. Er beklagt sich darüber und macht dann weiter mit dem, was er gerade zu tun hatte. Nichts auf der Welt ist so wichtig wie sein Garten und an anderen Tagen seine Hummer fallen. Das Wetter und der Deutsche ähneln sich, weil sie unbequem sind und manchmal einen Schlamassel verursachen. Wenn er ein Gebäude begutachtet, das von einer großen Granate in Schutt gelegt worden ist, dann sagt er: »Die Deutschen waren letzte Nacht wie der böse«, als ob er über einen Sturm spricht. Die ganze Sache geht so vor sich – auf den Hügeln um Calais sieht man einen Blitz in der Nacht. Sofort geben die Sirenen von Dover Feuerwarnung. Vom Mündungsfeuer muß man ungefähr neunundfünfzig Sekunden bis zur Explosion rechnen. Die Granate kann fast überall einschlagen. Es gibt eine Detonati on, deren Echo von den Klippen zurückgeworfen wird, und eine Wolke von Staub steigt in die Luft. Die Leute sehen auf ihre Uhr. Die nächste wird in zwanzig Sekunden stattfinden. Und genau zu der Zeit 84
sieht man einen weiteren Blitz von der französischen Küste her und zählt wieder die Sekunden. Das geht manchmal die ganze Nacht so. Eine Stunde nach der letzten Granate ertönt die Entwarnung. Das bedeutet nicht, daß alles vorbei ist. Die Deutschen schieben manchmal noch eine hinterher in der Hoffnung, noch ein paar Menschen umzubringen. Am Morgen sieht man die zerstörten Häuser; die Toten sind ausgegraben worden. Eine kleine Gruppe Männer säubert die Straßen von Schutt, so daß der Verkehr weiterfließen kann. Ein Polizist hält die Leu te davon ab, zu nahe zu kommen, aus Angst, ein Zie gel könnte herunterfallen. Dieses Haus ist wahr scheinlich so zerstört, daß es unbewohnbar bleiben wird, bis der Krieg vorbei ist, aber auch alle Häuser ringsherum sind beschädigt. Alle Fenster sind zer sprungen, und auch Glas wird es keines geben bis nach dem Krieg. Die Leute kleben bereits Papier über die kaputten Fenster. Wandputz ist in allen Häusern heruntergefallen. Überall werden die Häuser gerei nigt. Wolken vom Kehren quellen aus den Türen heraus. Frauen liegen auf den Knien und putzen die Böden. Die Detonation einer Granate, die in der Nä he einschlägt, reinigt den Kamin, sagen sie. Der Druck der Explosion bläst den Ruß aus dem Kamin und in die Zimmer. Also muß man da auch noch putzen. In einem Vorgarten steht ein Mann in seinen Blumenbeeten. Ein Stück Bauholz hat seinen Rosenbusch abgebro chen. Die Knospe, die sich zu öffnen begann, ver 85
welkt auf dem Boden. Der Mann bückt sich und hebt die Knospe auf. Er befühlt sie, hebt sie an seine Nase und riecht daran. Er nimmt das Stück Holz vom Stamm und sieht es an, ob es vielleicht noch weitere Schüsse abgeben könnte. Dann richtet er sich auf, dreht sich herum und sieht zur französischen Küste hinüber, wo fünfhundert Männer und ein giganti sches Geschütz und hochexplosive Geschosse, Karten und Pläne, mathematische Formeln, Uniformen, Te lefone und laute Befehle darauf aus sind, seinen Ro senstrauch zu vernichten. Auf der Straße geht ein Nachbar vorbei. »Der Boche* war wieder verdammt böse letzte Nacht«, sagt er. »Hat den gelben Strauch völlig abge brochen, und er fing gerade zu blühen an.« »Nun«, sagt der Nachbar, »wir wollen mal einen Blick darauf werfen.« Die beiden knien sich neben den Strauch. »Er ist über dem Pfropfen abgebro chen«, sagt der Nachbar. »Der Stamm ist nicht ge spalten. Treibt wahrscheinlich hier aus.« Er zeigt mit einem dicken Finger auf eine Verdickung an der Seite des Strauches. »Manchmal«, sagte er, »manchmal, wenn sie einen Schock bekommen haben, entwickeln sie sich noch schöner als je zuvor.« Jenseits des Kanals, auf der Rückseite des Hügels, den man von Dover aus sehen kann, wird das große Geschützrohr gereinigt, Kurven studiert, Meldungen gemacht, und man schäumt vor lauter Geopolitik. * Boche: frz., Schimpfwort für Deutscher (A.d.Ü.) 86
Minensucher
London, 7. Juli 1943 Tag für Tag laufen die Minensucher aus. Kleine Schiffe, die in Friedenszeiten Hering und Kabeljau gefangen haben. Sie sind jetzt mit seltsamen, neuen Fangleinen ausgerüstet und fangen größere Dinge. Die Besatzungen bestehen fast ausschließlich aus ehemaligen Fischern und Walfängern, und die Offi ziere sind von dem gleichen zähen Schlag. Sie haben einen unromantischen Job, der nicht im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht, der aber getan werden muß, und zwar sehr sorgfältig. Die Gefahr lauert ohne Flaggen und ohne Beschuß. Nur sehr wenige Aus zeichnungen werden den Männern auf Minensu chern verliehen. Gewöhnlich verlassen sie den Hafen in einer Linie; drei Boote, um die Minen zu entfer nen, und zwei, um die Warnbojen abzusetzen, die den minenfreien Kanal markieren. Sobald sie sich in dem Gebiet befinden, das es zu räumen gilt, breiten sie sich in Formation aus und fahren in genau be stimmten Abständen voneinander weiter. Der Ab stand zwischen ihnen ist der Bereich, der von ihren Instrumenten erfaßt werden kann. Die kleinen Schif fe suchen nach den beiden Arten von Minen, die normalerweise ausgesetzt werden. Die Haftminen, die explodieren, wenn ein Schiff mit seinem selbster zeugten magnetischen Feld darüber hinwegfährt, und eine andere Art, die durch die Vibration der Schiffs maschinen zur Explosion gebracht wird. Die Minen 87
sucher sind mit Instrumenten ausgerüstet, um beide Arten zur Explosion bringen zu können, und das aus sicherer Entfernung. Die drei voranfahrenden Schiffe bewegen sich langsam über das zu räumende Gebiet, und hinter ihnen folgen in bestimmten Abständen die Warnbo jenleger und setzen die Flaggen. Am Ende ihrer Fahrt drehen sie um und fahren zurück, so daß sich ihre Reichweite mit ihrem alten Kurs überlappt. Die Warnbojenleger nehmen die Flaggen wieder auf und markieren nun den äußeren Rand des Kurses. Alle Schiffe sind für die Abwehr von Flugzeugen bewaffnet. Die Schützen sind die ganze Zeit auf Po sten und suchen ständig den Himmel ab, während der Funker die Schußbeobachtungsgeräte an der Kü ste abhört. Sie gehen mit den Flugzeugen kein Risiko ein. Sobald sich eins nähert, richten sie ihre Geschüt ze aus, bis das Flugzeug identifiziert wird. Und selbst nichtfeindliche Flugzeuge fliegen nicht zu nahe her an. Denn diese Männer sind so oft aus der Luft bom bardiert und beschossen worden, daß sie sofort feu ern, wenn es nur den geringsten Zweifel gibt. Der Mast vieler Schiffe ragt noch über den Wasserspiegel hinaus. Sie sind zu Beginn des Krieges versenkt wor den, als die deutschen Flugzeuge noch fast völlig un gestraft über den Kanal flogen. Das passiert jetzt nicht mehr. Die Stimme des Funkers dringt durch das Sprech rohr zur kleinen Brücke. »Feindliches Flugzeug in der Nähe«, sagt er, und einen Augenblick später »Alarm 88
stufe rot«. Die Geschützführer drehen ihre Geschüt ze, und die Mannschaft steht in Bereitschaft. Alle Au gen sind auf den Himmel gerichtet. Von der engli schen Küste brausen die Typhoons wütend heran, schnelle und tödliche Flugzeuge, die dicht über der Wasseroberfläche fliegen. In der Ferne kann man das feindliche Flugzeug als Punkt erkennen. Es dreht ab und fliegt auf die französische Küste zu. Der Funker ruft: »Alles klar«, und die Mannschaft beruhigt sich. Auf der kleinen Brücke dirigiert der Kapitän das Abwerfen der farbigen Flaggen, während sein Adju tant den Abstand zwischen den Booten überprüft. Wenn ein Warnbojenleger zu nahe kommen würde, könnte eine Mine unter ihnen explodieren. Mit den Instrumenten wird der Abstand alle paar Sekunden überprüft. Die kleine Flotte bewegt sich sehr langsam, denn wenn sie durchgefahren ist und den minenfrei en Kanal markiert hat, müssen die Nachschubschiffe gefahrlos passieren können. Plötzlich wird der Warnbojenleger von einem hef tigen Schlag getroffen, die See ringsum wird flach und erzittert, und dann stößt hundert Meter vor ih nen eine Säule aus Wasser und Matsch mit furchtba rem Dröhnen in die Luft. Sie scheint lange Zeit in der Luft zu schweben, und als sie in sich zusammenfällt, ist der Warnbojenleger schon fast über ihr. Auf der Wasseroberfläche ist eine große schmutzi ge Stelle aus Grundschlick und einer schwarzen kleb rigen Substanz, die von der Explosion stammt. Die Mannschaft sucht gespannt das Wasser ab. »Keine 89
Fische«, sagen sie. »Was ist mit den Fischen passiert? Man könnte annehmen, ein oder zwei wären von der Explosion getötet worden.« Die Männer haben eine der schrecklichsten Waffen der Welt zur Explosion gebracht und machen sich Sorgen um die Fische. Der Kapitän markiert auf seiner Karte mit großer Sorgfalt den exakten Ort, an dem die Mine zur Ex plosion gebracht wurde. Er peilt die Küste mehrere Male an, um die genaue Position zu bestimmen. Eine weitere Mine explodiert auf der anderer Seite der Schneise. Der 1. Offizier nimmt das Blinkgerät und signalisiert: »Fische?«, und die Antwort kommt zu rück: »Keine Fische.« Der Tag ist lang und mühselig, Minensuchen und Umkehren und Minensuchen, und wenn die Aufgabe erledigt ist, dann nur bis zur nächsten Nacht. Denn auch diese Nacht könnten die Minenleger von der französischen Küste herüberschleichen und das Ge biet wieder mit den schrecklichen Dingern übersäen, oder ein Flugzeug könnte in der Dunkelheit tief flie gen und die Minen an Fallschirmen abwerfen. Die Arbeit der Minensucher ist nie beendet. Es ist spät, als sie nach Hause fahren, und es ist dunkel, als die kleinen Schiffe in den Hafen einlaufen und am Kai festmachen. Dann erst lockert sich die Spannung beim Kapitän und seinem 1. Offizier. Ihre Gesichter entspannen sich. Es spielt keine Rolle, wie lange sie mit oder ohne Erfolg Minen suchen, denn Gefahr lauert überall. Die Bedienungsmannschaften säubern ihre Geschütze, decken sie ab und gehen zu 90
ihren Unterkünften. Die Offiziere klettern in die kleine Offiziersmesse hinunter. Sie ziehen ihre lamm fellgefütterten Schuhe aus und lehnen sich in ihren Sesseln zurück. Der Kapitän nimmt die Arbeit wieder auf, mit der er schon seit Wochen beschäftigt ist. Er bastelt ein schönes, naturgetreues Modell eines – Mi nensuchers.
Küstenbatterie Irgendwo in England, 8. Juli 1943 Die Geschütze sind in einem Getreidefeld mit Mohn blumen versteckt. Man kann die Geschützmündun gen sehen, wie sie hervorragen und auf den Himmel zielen. Die Batterie steht an der Südküste in Sichtwei te von Frankreich. Es gab eine Zeit, als die großen Verbände deutscher Bomber diese ungeschützte Kü ste anflogen und ihre Bombenladungen nach London und Canterbury brachten. Aber jetzt ist die Küste nicht mehr ungeschützt. Die Beobachter sind über die Hügel verteilt, kom plizierte und empfindliche Horchposten, die ein Flugzeug meilenweit hören können; die Beobachter sind Frauen. Wenn ein verdächtiges Flugzeug ausge macht wird, geben sie seine Position den Zielweg rechnern telefonisch durch, und auch die Rechner sind Frauen. Für das Anvisieren der Ziele waren ebenfalls Frauen zuständig. Nur die Geschützbesat zung, die die Kanonen lädt und ausrichtet, besteht 91
aus Männern. Es ist eine erstaunliche Einrichtung, die gemischte Batterie, etwas Einzigartiges in der Ge schichte der Armee. Die Unterkünfte liegen ganz in der Nähe, eine Ba racke für die Frauen und eine andere für die Männer. Der Eßsaal wird gemeinsam benutzt, die Aufenthalts räume gemeinsam, und auch die Arbeit wird gemein sam getan. Die Besatzungen sind vierundzwanzig Stunden am Tag im Dienst. In einer bestimmten Entfernung von der Kanone können sie tun und lassen, was sie wol len. Die Frauen lesen und waschen ihre Kleidung, nähen und kochen. Die Küche, ein Provisorium, ist aus Kerosin-Blechdosen gebaut worden, die mit Sand gefüllt und wie Ziegel verlegt wurden. Die neue Kü che wird erst gerade gebaut. Die Gegend ist ruhig. Die Kanonen sind ruhig. Plötzlich heulen die Sirenen. Die getarnten Gebäude spucken Leute aus, junge Männer und Frauen. Sie strömen heraus und rennen wie verrückt. Seit dem Heulen der Sirenen sind noch keine dreißig Sekun den vergangen, und schon sind die Geschütze be mannt und das Ziel ausgemacht. Im unterirdischen Kontrollraum haben die Geräte ihr Ziel gefunden. Eine Frau hat es ausgemacht. Die Positionsdaten sind übermittelt worden, und die häßlichen Rohre wir beln herum. Über der Erde, in einem Betonstand, spricht eine Frau in ein Telefon. »Feuer«, sagt sie ru hig. Der Hang bebt von dem Geschützfeuer der Bat terie. Das Gras wird erschüttert, und die Mohnblu 92
men erzittern durch den Knall. Weitere Befehle wer den von unten heraufgegeben, und die Frau sagt wie der: »Feuer.« Der Ablauf ist exakt wie der einer Maschine. Es gibt keine überflüssigen Bewegungen und keinen Un sinn. Diese Frauen scheinen ganz natürlich Soldaten zu sein. Sie sind auch Soldaten. Nichts nehmen sie so übel, wie als Frauen behandelt zu werden, wenn sie in der Nähe der Geschütze sind. Sie arbeiten hart und unermüdlich. Manchmal werden sie innerhalb eines Tages und einer Nacht dreißigmal zu den Geschützen gerufen. In dieser Zeit feuern sie vielleicht zehnmal auf einen Angreifer. Sie sind bombardiert und im Tiefflug beschossen worden, und niemand hat je ein Mädchen zurückweichen sehen. Der Kommandeur ist sehr stolz auf sie. Er ist zu seiner Batterie ungemein herzlich. Etwas bitter sagt er: »Natürlich, warum fragen Sie nicht nach dem Moralproblem? Jeder will was darüber wissen. Ich will’s Ihnen sagen – es gibt kein Problem!« Er spricht von den Gewohnheiten, die sich in die ser Batterie herausgebildet haben; eine Reihe von Gewohnheiten, die sich automatisch ergeben haben. Die Männer und Frauen singen zusammen, tanzen zusammen, und wenn eine der Frauen beleidigt wor den sein sollte, hat der jeweilige Kerl die ganze Batte rie am Hals. Aber wenn ein Mädchen am Abend nach Hause geht, dann nicht mit einem Mann aus der Bat terie, die Männer nehmen die Mädchen auch nicht mit ins Kino. Es hat weder Verlobungen noch Ehen 93
zwischen den Angehörigen der Batterie gegeben. In stinktiv haben die Leute wohl selbst geahnt, daß dar aus nur Ärger entstehen würde. Diese Dinge sind keine Frage von Befehlen, sondern von natürlichem Anstand. Die Mädchen mögen ihre Aufgabe und sind stolz darauf. Man kann sich einfach nicht vorstellen, wie es Hausmädchen möglich sein soll, wieder zurückzu kehren, um unter den Blicken streitsüchtiger Haus herrinnen Möbel abzustauben. Wie es den Bauern mädchen möglich sein soll, auf ihre kleinen Bauern höfe in Schottland oder in Mittelengland zurückzu kehren. Das ist die große, aufregende Zeit ihres Lebens. Diese jungen Frauen sind sehr wichtig. Die Verteidigung des Landes liegt in ihren Händen. Der Manager des örtlichen Kinos hat für diesen Abend zwei Sitzreihen für die Mitglieder der Batterie reserviert, die keinen Dienst haben. Die jungen Frauen, die hingehen können, tauschen ihre Uniformho sen gegen hübsche Khaki-Röcke und Blusen. Sie verbringen einige Zeit damit, sich hübsch zu machen. Sie sitzen im Kino und lehnen sich vor Aufregung nach vorne. Der Film, mit Errol Flynn* in der Hauptrolle, ist ein kleiner miserabler Schinken mit * Errol Flynn (1909-1959): amerikanischer Filmschauspieler, der in seinen Filmen den Typ des mutigen und charmanten Draufgängers spielt. Er kämpft für eine gute Sache im Dien ste des Vaterlandes und bleibt der strahlende Sieger. Für Ge nerationen von Amerikanern wurde Flynn zu einer Symbol figur. (A. d. Ü.) 94
dem Titel ›Kriegsberichterstatter‹, der sechstausend Meilen weit von jeder Kampfhandlung entfernt pro duziert wurde, da, wo die Leute wahrscheinlich nie einen wirklichen Konflikt sehen werden. Es geht um einen amerikanischen Kriegsberichter statter, der lediglich durch gutes Aussehen, Klugheit, Tapferkeit und Kitsch das Dritte Reich besiegt. Die Gestapo und die deutsche Wehrmacht sind Wachs in seinen Händen. Es ist ein echter Flynn-Film. Und diese Frauen, die bombardiert und im Tiefflug be schossen wurden, die Feinde aus der Luft abgeschos sen haben und die dann zum Sockenstopfen zurück gekehrt sind – sind diese Frauen etwa hochmütig? Nicht im geringsten. Sie sitzen auf dem Rand der Stühle. Wenn der dumme Gestapo-Mann an den Helden herankriecht, schreien sie, um ihn zu warnen. Für sie ist das wirklicher als alles an diesem Nachmit tag, als sie auf eine Focke-Wulf 190 gefeuert haben. Der Held, der mit frisiertem Haar und makelloser Kleidung aus einem Ein-Mann-Dünkirchen hervor geht, der ist wahr, gut und wundervoll. An diesem Nachmittag waren die jungen Frauen noch verschwitzt, staubig und rochen nach Schieß pulver. Das gehörte zu ihrer Aufgabe – es ist Krieg. Und wenn der Film vorbei ist, gehen sie in ihre Ka sernen zurück und reden aufgeregt über den strah lenden Glanz der Hollywood-Kriegführung. Sie ge hen zurück zu ihrer täglichen Routine, um die engli sche Küste gegen Angriffe zu verteidigen, und wenn sie nach Hause gehen, singen sie: »Es war sooo schön, 95
wenn du nach Haus’ kämst, es wär sooo schön, mit dir am Kamin zu sitzen.«
Der alkoholische Ziegenbock London, 9.Juli 1943 Sein Name ist Geschwaderkommodore William Goat (»Ziegenbock«), DSO*, er ist alt und hat einige Aus zeichnungen bekommen, und einige sagen, er sei zu Unrecht ausgezeichnet worden. Als er vor zwei Jah ren zum Geschwader der Royal Air Force stieß, war er gerade noch fähig, auf langen und knorrigen Bei nen umherzuwanken. Für lange Zeit wurde er wie ein Rekrut behandelt – herumgestoßen, nicht beachtet und zuweilen mit Flüchen belegt. Aber allmählich wurden seine Fähigkeiten offensichtlich. Wenn er in der Nähe ist, bringt er Glück. Wenn er in der Nähe ist, hat sein Geschwader Glück und Jagderfolg. All mählich entwickelten sich mit seinen Talenten auch seine Hörner, sein Dienstgrad und seine Auszeich nungen sind in glänzenden Farben auf seine Hörner aufgemalt worden, und er stolziert mit einer wat schelnden Gespreiztheit umher. Er ißt fast alles. Keine Party und keine Truppenpa rade ist ohne ihn komplett. Auf einer Party, so er zählt man, aß er, als man ihn für einige Augenblicke allein gelassen hatte, zweihundert Sandwiches, drei * Distinguished Service Order, Militär-Verdienstorden: A. d. Ü 96
Kuchen, das Arrangement für Piano und Flöte von ›Pomp and Circumstance‹, trank eine halbe Schüssel Bowle und spazierte dann munter zwischen den Tän zern herum, rülpste leicht und betrachtete die Frau eines jungen Leutnants, die hier namenlos bleiben soll, mit wollüstigen Augen. Das Militär der höheren Kategorie bedachte er immer mit leicht galligen Blicken. Da Goat »Ziegen bock der Lüfte« ist, hat er ziemlich komische Ange wohnheiten. Wenn er eine Sauerstoffflasche sieht, rennt er hin und will sie haben. Er stülpt seinen Mund ganz über das Ventil, und wenn die Düse ge öffnet ist, entspannt er sich immer mehr; er grunzt glücklich, und seine Seiten blasen sich auf, bis er fast platzt. Kurz vor dem Platzen läßt er das Mundstück los und fällt langsam wieder zusammen. Aber die Energie, die er durch den Sauerstoff bekommen hat, , läßt ihn hoch in die Luft springen und imaginäre Ziegen-Kämpfe mit den Hörnern ausfechten. Er liebt auch die Glykol-Kühlflüssigkeit, die in den Triebwer ken der Typhoons verwendet wird. Stundenlang steht er unter den Fässern und leckt die Tropfen von den Zapflöchern. Er besitzt das Vertrauen seiner Leute. Als es einmal erforderlich war, daß sein Geschwader die Operationsbasis schnell wechselte, hatte man ihn zurückgelassen, denn in jenen Tagen wußte man noch nicht, wie wichtig er war. Am neuen Standort waren die Männer nervös, ängstlich und fast aufrüh rerisch. Als man schließlich erkannte, daß sie sich nicht beruhigen würden, mußte man ein Flugzeug 97
entsenden, um den Geschwaderkommodore abzuho len und zum neuen Standort zu bringen. Sobald er angekommen war, ging alles wieder seinen normalen Gang. Die Typhoons hatten vier Abschüsse innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Die nervöse Spannung ließ nach, das Essen wurde besser, als der Koch das Grübeln aufhörte, und eine ganze Zahl von Magen beschwerden verschwand sofort. Geschwaderkommodore Ziegenbock wohnt in ei nem kleinen Haus hinter dem Einsatzraum. Sein Name und seine Ehrungen sind auf die Tür gemalt worden. Es bringt Glück, wenn man zu ihm geht, ihm die Flanken streichelt und seine Hörner reibt, bevor man zum Einsatz startet. Er selbst geht nie auf Einsatz. In den Typhoons gibt es für ihn keinen Platz, doch wenn es möglich wäre, ihn hineinzuzwängen, würden sie ihn mitnehmen. Und weiß der Himmel, welch großartiger Kampf dann stattfinden würde. Dieser Ziegenbock hat nur eine wirklich schlechte Angewohnheit. Er liebt Bier und ist darüber hinaus fähig, es in solchen Mengen zu schlürfen, daß sogar das fast alkoholfreie englische Bier ihn beschwipst machen kann. Trotz ausdrücklicher Befehle gelingt es ihm immer wieder, schlechte Kumpane ausfindig zu machen, die ihm Bier geben. Sobald er berauscht ist, neigt er dazu, höhnisch spottend herumzulaufen. Er verhöhnt die amerikanische Air Force, er verhöhnt die Labour-Partei, und einmal verhöhnte er Mr. Churchill. Der Hohn ist wahrscheinlich eine Folge des Bieres, denn Bowle hat eine andere Wirkung auf ihn. 98
Die Erscheinung dieses Ziegenbocks ist nicht gera de eindrucksvoll. Er hat ein schäbiges, rötliches Fell und kalte Fischaugen; seine Beine sind krumm wie XBeine. Er trägt den Kopf hoch, aber die Hörner, in Rot und Blau bemalt, machen seine körperlichen Unzulänglichkeiten mehr als wett. Er hat in jeder Hinsicht eine militärische Figur. Er ist großartig bei Paraden. Zu gegebener Zeit wird man ihm eine Gruft im Luftfahrtministerium bewilligen, und er wird zu gegebener Zeit an jener militärischen Krankheit, der Leberzirrhose, sterben. Er wird mit allen militäri schen Ehren beigesetzt werden. Aber in der Zwischenzeit ist Geschwaderkommo dore Goat, DSO, der Glücksbringer seines Geschwa ders, und ihn zu verlieren würde Unruhe und sogar Verzweiflung hervorrufen.
Geschichten vom Blitz London, 10. Juli 1943 Leute, die einem erzählen wollen, wie der Blitz in London war, fangen ihre Geschichte mit Feuer und Explosion an und enden fast zwangsläufig mit einem sehr kleinen Detail, das in ihre Erinnerung gekrochen ist, sich breitgemacht hat und für sie das Symbol des gesamten Geschehens geworden ist. Das geschieht wieder und wieder in Unterhaltungen. Es ist, als ob der Verstand nicht das ganze Entsetzen und den Krach der Bomben und das allgemeine Grausen er 99
fassen könnte und sich deshalb an etwas Kleinem und Verständlichem und Gewöhnlichem festhält. Je der, der zu jener Zeit während des Blitzes in London gewesen ist, möchte es beschreiben, möchte es kon kretisieren, wenn auch nur für sich selbst. »Es ist das Glas«, sagt ein Mann, »der Klang des zerbrochenen Glases, das am Morgen weggefegt wur de, das bösartige Geklirre. Daran erinnere ich mich mehr als an irgend etwas anderes, dieser durchdrin gende Klang von zerbrochenem Glas, das auf Geh steigen zusammengekehrt wurde. Mein Hund hat vor einigen Tagen ein Fenster zerbrochen, und meine Frau fegte das Glas auf, und ein kalter Schauer kroch mir über den Rücken. Es hat einen Augenblick ge dauert, bis ich die Ursache begriff.« Man geht zum Essen in ein kleines Restaurant. Auf der anderen Seite der Straße befindet sich ein Trümmerhaufen, die bizarren Überbleibsel eines zerstörten Steingebäudes. Dein Begleiter sagt: »Eines Nachts hatte ich eine Verabredung mit einer Dame zu einem Abendessen in gerade diesem Haus. Sie sollte mich hier abholen. Ich kam etwas zu früh hier an, und dann schlug eine Bombe dort drüben ein.« Er zeigt auf die Ruine. »Ich bin auf die Straße gelau fen. Man konnte sehr gut sehen, die Feuer erleuch teten die ganze Stadt. Die Hausfront war auf die Straße gebrochen. Man konnte die Motorhaube ei nes Taxis aus dem Haufen der zerfallenen Wand se hen. Direkt vor meinen Füßen fand ich, als ich aus der Tür trat, einen blaßblauen Abendschuh, der 100
herausgeschleudert worden war. Die Spitze zeigte direkt auf mich.« Ein anderer zeigt eine Wand hinauf; das Gebäude ist weg, aber man sieht noch fünf offene Kamine, ei ner über dem anderen. Er weist auf den obersten Kamin. »Das war eine schwere Bombe«, sagt er. »Das fiel mir auf meinem Weg zur Arbeit auf. Wißt ihr, seit sechs Monaten hing ein Paar langer Strümpfe vor dem Kamin. Sie müssen dort festgesteckt gewesen sein. Monatelang hingen sie da, als ob sie zum Trocknen aufgehängt worden wären.« »Ich ging gerade am Hyde-Park vorbei«, sagt ein Mann, »als ein großer Luftangriff begann. Ich warf mich sofort in die Straßenrinne. Hab ich immer so gemacht, wenn man keinen Schutz erreichen konnte. Ich sah einen großen Baum, einen wie den da, glatt in die Luft springen und nicht weit weg von mir auf die Seite fallen – gerade da drüben, wo das große Loch im Boden ist. Dann fiel ein Spatz direkt neben mir auf die Straße. Er war mausetot. Der Explosions druck bringt Vögel sehr leicht um. Aus irgendeinem Grund hob ich ihn auf und hielt ihn lange Zeit in der Hand. Man sah kein Blut oder sonst etwas. Ich habe ihn mit nach Hause genommen. Seltsam, ich hätte ihn sofort wegwerfen sollen.« Eines Nachts, als die Bomben heulten und dröhn ten, hielt es ein Flüchtling nicht mehr aus. Er war von Ort zu Ort getrieben und hatte überall Qualen erlit ten, bis er schließlich nach London kam. Er schnitt sich die Kehle durch und sprang aus dem oberen 101
Fenster. Ein Mädchen, das in dieser Nacht den Kran kenwagen fuhr, sagt: »Ich erinnere mich, wie böse ich auf ihn war. Jetzt verstehe ich ihn, aber in dieser Nacht war ich wütend. Es gab so viele in dieser Nacht, die erwischt wurden und nichts dafür konn ten. Ich schrie ihn an, ich hoffte, daß er sterben wür de, und er starb.« »Die Leute retten so seltsame Dinge. Ein älterer Mann verlor sein ganzes Haus bei einem Brand. Er rettete einen alten Schaukelstuhl. Er nahm ihn über allhin mit, er ließ ihn nicht einen Augenblick aus den Augen. Seine ganze Familie war umgekommen, aber er hielt an diesem Schaukelstuhl fest. Er wollte nicht darin sitzen. Er saß auf der Erde daneben, aber man konnte ihm den Schaukelstuhl nicht wegnehmen.« Zwei Reporter warteten auf das Ende des Blitzan griffes im Savoy Hotel; sie spielten Schach und spra chen sich Mut zu. Als die Bombeneinschläge näher kamen, flüchteten sie unter den Tisch. »Der eine oder der andere von uns langte hinauf und mogelte ein bißchen«, sagt der Reporter. Hunderte von Geschichten – und alle enden mit einer kleinen Begebenheit, irgend etwas Kleinem, das man in Erinnerung behält. »Ich erinnere mich an die Augen der Leute, wenn sie am Morgen zur Arbeit gingen«, sagt ein Mann. »Sie hatten eine gewisse Müdigkeit in den Augen, die ich nie vergessen werde. Es war jenseits jeder Müdig keit, die man sich vorstellen kann – eine verzweifelte Erschöpfung, die keine Ruhe mehr finden konnte. 102
Die Augen der Leute schienen tief, tief in ihren Köp fen zu sitzen und ihre Stimmen aus großer Entfer nung zu kommen. Und ich erinnere mich, während eines Luftangriffes einen blinden Mann am Bordstein stehen gesehen zu haben, der mit seinem Stock gegen die Kante tappte und darauf wartete, daß ihn jemand durch den Verkehr führte. Da war gar kein Verkehr mehr, und die Luft war voller Feuer, aber er stand da und tappte, bis jemand vorbeikam und ihn in einen Bunker brachte.« In all diesen kleinen Geschichten ist es das Ge wöhnliche, das Alltägliche vor dem Hintergrund der Bombenangriffe, das ein unauslöschliches Bild hin terläßt. »Eine alte Frau verkaufte kleine erbärmliche Sprüh flaschen mit süßem Lavendel. Die ganze Stadt wurde von Bombeneinschlägen geschüttelt, und der Schein brennender Gebäude ließ es taghell werden. Die Luft war nur noch ein einziges donnerndes Tosen. Und in einem winzigen Loch in diesem Tumult, in einem Augenblick der Ruhe, hörte man ihre Stimme – eine quieksende Stimme. ›Lavendel!‹ sagte sie. ›Kauft La vendel als Glücksbringer.‹« Das Bombardement an sich verschwimmt wie ein Traum. Die kleinen Ereignisse bleiben so scharf wie am Tag des Geschehens.
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Lili Marleen
London, 12. Juli 1943 Das ist die Geschichte eines Schlagers. Sein Titel ist ›Lili Marleen‹, und er ist 1938 in Deutschland von Norbert Schultze und Hans Leip geschrieben worden. Nach angemessener Zeit versuchten sie ihn zu veröf fentlichen, er wurde aber von etwa zwei Dutzend Verlagen abgelehnt. Schließlich nahm sich Lale An dersen, ein schwedisches Mädchen, seiner an und benutzte ihn als Markenzeichen. Lale Andersen hat eine rauhe Stimme und entspricht dem, was man den Hildegard-Typ nennen könnte. ›Lili Marleen‹ ist ein sehr einfacher Schlager. Die erste Strophe beginnt: »Underneath the lanterns, by the baracks square, I used to meet Marlene and she was young and fair.«* Der Schlager war so simpel wie diese Zeilen. Und so ging er weiter und erzählte von Marleen, die zuerst Unteroffiziersstreifen und dann Offizierssterne liebte. Marleen lernte mehr und mehr Leute kennen, bis sie schließlich einen Brigadegeneral traf, der genau das war, was sie die ganze Zeit wollte. Wir haben ein Lied mit einem ganz ähnlich amüsan ten Zynismus.
* Übertragen lautet der Text: »Unter den Laternen vor dem Ka sernentor, traf ich oft Marlene, und sie war jung und schön.« Zum Vergleich die deutsche Originalversion: »Vor der Ka serne, vor dem großen Tor, steht eine Laterne, und steht sie noch davor …« (A. d. Ü.) 104
Irgendwann nahm Lale das Lied auf Schallplatte auf, und selbst die erfreute sich keiner Beliebtheit. Aber eines Nachts entdeckte die deutsche Radiostati on in Belgrad, die für Rommels Afrika-Korps Pro gramme sendete, daß aufgrund eines Bombenangriffs nur wenige Platten unbeschädigt waren. Aber unter diesen wenigen fand sich der Schlager ›Lili Marleen‹. Er wurde für Afrika gesendet, und am nächsten Mor gen wurde er vom ganzen Afrika-Korps gesummt, und Briefe kamen an mit der Bitte, ihn noch einmal zu spielen. Die Geschichte seiner Popularität in Afrika drang bis nach Berlin durch, und Frau Göring, die einmal Opernsängerin gewesen war, sang das Lied der unbe ständigen Lili Marleen vor einer auserwählten Gruppe von Nazis, falls es das gibt. Sofort war der Schlager be liebt und wurde fortwährend im deutschen Rundfunk gespielt, bis selbst Göring genug davon hatte. Es heißt, daß der Vorschlag gemacht wurde, das Lied zu unter drücken, weil das Thema Unbeständigkeit in den Oh ren bestimmter hoher Nazis nicht angenehm klang. Aber in der Zwischenzeit war ›Lili Marleen‹ außer Kontrolle geraten. Lale Andersen war nun als »Lieb chen der Soldaten« bekannt. Ihre rauhe Stimme drang noch aus tragbaren Plattenspielern in der Wüste. Bis dahin war ›Lili‹ nur ein deutsches Problem ge wesen, aber nun begann die Achte Britische Armee Gefangene zu machen, und unter ihren Beutestücken war auch ›Lili Marleen‹. Und das Lied fegte durch die Achte Armee. Australier summten es und fanden 105
neue Wörter dafür. Die Machthaber zögerten und überlegten, ob es wirklich eine gute Idee wäre, ein deutsches Lied über ein Mädchen, das nicht alle ty pisch britischen Tugenden verkörperte, zum Lieb lingslied der britischen Armeen werden zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt war das Lied bereits in die Erste Armee eingedrungen, und die Amerikaner begannen mit der Harmonie zu experimentieren und brachten sogar einen Jazz-Rhythmus hinein. Es hätte den Be fehlshabern nichts Gutes gebracht, wenn sie sich ge gen das Lied entschieden hätten. Es war außer Kontrolle. Die Achte Armee schlug sich im Feld tapfer, und es wurde beschlossen, ›Lili Marleen‹ als Kriegsgefangene zu betrachten, was so wieso geschehen wäre, wie auch immer die Befehls haber darüber dachten. Nun bahnt sich ›Lili Marleen‹ ihren Weg zu den amerikanischen Streitkräften in Afrika. Die Pressestelle des Kriegsministeriums nahm sich des Problems an und entschied, die Melodie bei zubehalten, aber einen neuen Text zu dichten. ›Lili Marleen‹ ist international. Der Verdacht ist begrün det, daß sie irgendwann neben den Kasernenmauern auftaucht – jung und schön und unbestechlich unbe ständig. Es gibt nichts, was man gegen einen solchen Schla ger tun kann, als ihn einfach seinen Weg gehen zu las sen. Kriegslieder müssen überhaupt nicht vom Krieg handeln. Tatsächlich tun sie es selten. Im letzten Krieg hatten ›Madelon‹ und ›Tipperary‹ auch nichts mit dem Krieg zu tun. Der große australische Schlager die 106
ses Krieges, ›Waltzing Matilda‹, hat den Diebstahl von Schafen zum Thema. Es ist anzunehmen, daß einige Gruppen in Amerika ›Lili‹ angreifen werden, erstens, weil sie ein ausländischer Feind ist, und zweitens, weil sie nicht besser ist, als sie sein sollte. Derartige Angriffe werden wenig Wirkung haben. ›Lili‹ ist unsterblich. Ihr einfaches Verlangen, einen Brigadegeneral ken nenzulernen, ist wohl nicht nur der Wunsch einer deutschen Frau. Politik kann beherrscht und nach Na tionen unterschieden werden, aber Lieder haben die Tendenz, Grenzen zu überspringen. Es wäre amüsant, wenn nach all dem Theater und Sieg-Heil-Geschrei, nach all der Marschiererei und Indoktrination der einzige Nazi-Beitrag für die Welt ›Lili Marleen‹ gewesen sein sollte.
Kriegsgespräch London, 13. Juli 1943 Es ist interessant, daß man immer weniger von gro ßer Strategie hört, je näher man einem Kriegsgebiet kommt. Es gibt mehr Diskussionen über Taktik und die Gesamtlage an einem Samstagabend im Stork Club als an allen europäischen Fronten. Das mag bis zu einem gewissen Grad daran liegen, daß es nicht genug Generäle gibt, die den Strategien eine gesell schaftliche Basis ermöglichen. Im Carlton Hotel in Washington findet man nämlich zur Mittagszeit mehr Generäle als auf der ganzen restlichen Welt. 107
Dieser eingeengte Blickwinkel kann rein geogra phischer Natur sein. Man reißt die Zeitungen in Eng land nicht mit Begeisterung an sich, und sobald man sich der Küste nähert, wo die ganze Zeit Gefechte stattfinden, verringert sich die Kriegsdiskussion, bis sie fast völlig verschwindet. Weiterhin ist interessant, wie zivile Grausamkeit von Soldaten oder Matrosen im Gefecht oder nahe dem Kampfgebiet nachläßt. In der aus Beton gebauten Messe über den Liege platzen der Torpedoboote versammeln sich die jungen Männer und trinken Bier. Es sind sehr junge Männer, aber ihre Gesichter sind alt, weil sie ihr Leben zu oft aufs Spiel gesetzt haben. Bisher sind die Würfel für ei nige dieser jungen Männer günstig gefallen, aber zu viele ihrer Freunde haben eine Sieben erwischt: es gibt keine Garantie für das Spiel oder ihr Glück. Die klei nen Boote sind nicht schwer bewaffnet, aber ihre Tor pedorohre haben eine fürchterliche Wirkung. Es sind die einzigen »Leichtgewichtler« der Welt, die den Schlag eines »Schwergewichtlers« (Anm.: aus der Bo xersprache) versetzen können. Zu ihrer eigenen Si cherheit verlassen sie sich nur auf ihre Geschwindig keit und die Schlauheit ihrer Besatzung. Heute nacht laufen sie zu einem Ding aus, wie die Männer das nennen. Ein Ding ist etwas mehr als eine Schlägerei, aber ein bißchen weniger als Das Ding. Ein Ding wird wahrscheinlich ein Angriff auf einen deut schen Konvoi sein, der heimlich in der Nacht durch den Kanal zu schlüpfen versucht, aber schwer bewaff net und gut gesichert ist, und außerdem dicht an der 108
Küste bleibt, so daß er die meiste Zeit im Bereich der Küstengeschütze fährt. Und dorthin werden sich die winzigen Schiffe unter Kanonenbeschuß durchzumo geln versuchen, sich auf der Route der Verfolger win den und drehen, ihre Torpedos auf das größte Schiff, das sie aufspüren können, abfeuern und dann versu chen, blitzschnell nach Hause zu entkommen. In der Messe reden die Männer in einer Art aufge setzter Fröhlichkeit. Nie hört man, daß über den Feind gesprochen wird. Aufgrund einer stillschweigenden Übereinkunft oder auch nur, weil es einfach zuviel Krieg gegeben hat, wird darüber nicht gesprochen. »Jerry« heißt der Feind, oder auch der »Boche«, und der Name wird wie etwas Gegenstandsloses und Un bestimmtes ausgesprochen. »Jerry« ist ein Problem für die Navigation, ein Job, eine Gefahr, aber nicht viel mehr als irgendein anderer großer und gefährlicher Job. Die Männer leiden unter der Anspannung. Sie haben so lange unter dieser Spannung gestanden, daß sie sich dessen wahrscheinlich gar nicht mehr bewußt sind. Es ist nicht Angst, es ist etwas, das man fühlen kann. Ein Druck in der Bauchgegend, der größer und größer wird. Er schwillt an und berührt die Lungen, so daß man außer Atem ist. Herumsitzen ist auch schlecht. Man neigt dazu, alles als unglaublich lustig anzusehen. Das ist der Moment, um eine schmutzige Geschichte zu erzählen, die sonst nicht angebracht wä re. Jetzt ist ihr röhrendes Gelächter sicher. In der Messe gibt es eine kleine Bar, in der eine An gehörige der weiblichen Marine das schale Bier aus 109
schenkt, das niemand mag. Das Bier schmeckt nicht gut, aber jeder nimmt ein Glas, und das Schlucken fällt schwer, weil der Magendruck immer größer wird. An der Wand hängt eine Uhr, und ihre Zeiger krie chen langsam, viel zu langsam auf die Einsatzzeit zu. Das Warten ist die schlimmste Zeit. Die Wetterbe richte treffen ein. Wind kommt auf, aber vielleicht nicht genug, um das Ding abzublasen. Dutzende der kleinen Schiffe werden hinausfahren. Es ist eine ge meinsame Operation der Alliierten. Holländische Boote und polnische und englische nehmen daran teil. Die Polen sind große Kämpfer. Das ist die richti ge Aufgabe für sie. Als die kleinen Schiffe die »Scharnhorst« angriffen, die gerade durch den Kanal schlüpfen wollte, saß ein polnischer Seemann – so wird erzählt – auf dem Bug seines Torpedobootes und feuerte in aller Seelenruhe mit einem Gewehr auf das riesige stählerne Schlachtschiff. Die Holländer sind ruhig und kalt, und die Briten geben wie gewöhnlich vor, daß es eine Art Gartenparty sei, zu der man eben geht. Zehn Minuten vor der Zeit ziehen die Männer ihre Anzüge an, Jacken und Hosen aus Öltuch, die dicht um die Gelenke schließen. Ein Handtuch wird um den Hals gewickelt, und die Jacke wird eng darüber geknöpft. Die kleinen Schiffe sind naß. Das grüne Wasser kommt ständig über den Bug, und es gibt wenig Schutz. Im Einsatz werden die Männer ver mutlich Helme tragen, aber das ist eine Annahme. Jetzt stehen sie herum, gepolstert und wattiert. Ihre 110
Arme stehen wegen der dicken Kleidung leicht ab. Der Führer der Gruppe ist ein junger Mann mit viel Erfahrung. Er ist zweiundzwanzig und kam von ei nem Zerstörer auf die kleinen Torpedoboote. Der große Zeiger der Uhr zeigt nun die Zeit zum Auf bruch. Der Kommandant sagt fast alles beiläufig und genau auf die Minute: »Alles fertig?« Die jungen Männer treten schwerfällig durch die Tür und gehen die Treppen hinunter zu den ver steckten Bunkern, wo die kleinen Stachelfische lie gen. Es dröhnt, als eine Maschine nach der anderen startet. Jetzt platzt die Druckblase im Magen, und man kann wieder atmen. Alles ist in Ordnung. Es ist eine gute Nacht, diesig, schlechte Sicht. Die Schiffe fahren rückwärts aus ihren Bunkern und reihen sich in die Formation ein. Ein winziger Blinker gibt Signale des Befehlshabers weiter, die großen Motoren donnern, die Boote springen vorwärts, und das weiße Kielwasser bleibt in der Form eines V zurück. Das grüne Wasser spritzt über den Bug. Die Mannschaft kauert sich zusammen, gegen Wind und See gewapp net – und niemand hat den Krieg erwähnt.
Die Hütte, die nicht da war London, 14. Juli 1943 Ein Sergeant lag auf der Wiese, zupfte Gras mit ein paar zarten Stielen aus und kaute darauf. Es war Sonntag, viele Leute lagen herum, Seeleute und Sol 111
daten und sogar einige Zivilisten. Auf der anderen Seite des Weges fischte eine Reihe von Leuten in ei nem Teich. Sie saßen auf geliehenen Stühlen und fischten im Wasser, das durch die Paddel der Boote und die aufgeregten Schwäne aufgewühlt wurde. Je der Angler hatte sein eigenes kleines Publikum. Der Sergeant sagte: »Das ist ein verrücktes Land. Sieh dir das an, den ganzen Tag hat man da noch kei nen Fisch gefangen, und trotzdem machen sie weiter. Vielleicht haben sie es gar nicht auf die Fische abge sehen. Es ist ein verrücktes Land, und es bringt auch mich zum Wahnsinn.« Er spuckte die gekauten grü nen Grashalme aus. »Da ist etwas, was mich beunru higt«, sagte er. »Eine Geistergeschichte. Ich kann sie zwar nicht glauben, aber ich weiß, daß sie passiert ist. Nur glaube ich nicht an Geister. Ich habe darüber nachgedacht, daran herumgeschnüffelt, und ich kann das Ganze nicht verstehen.« »Weißt du«, sagte er, »ich bin in einem kleinen La ger. Ungefähr eine Meile davon entfernt ist ein Dorf, und abends spazieren wir hin und trinken ein paar Gläser Bier und versuchen uns an diesem Pfeilwurf spiel.« Weiter oben fing einer der Angler einen Fisch von der Größe einer Sardine und verursachte dadurch so viel Aufregung, daß er augenblicklich von einer Menge Leute umringt war. Der Sergeant lachte in sich hinein: »Ich bin immer auf Lachs gegangen in Columbia«, sagte er und beließ es dabei. »Nun, je denfalls, es geht auf die Dämmerung zu, und ich habe 112
noch einigen Papierkram aufzuarbeiten, deshalb dachte ich, ich geh zurück zum Lager. Die anderen Kerls hatten noch keine Lust zu gehen. Sie waren da bei, die Kellnerin aufzuziehen, und erzählten ihr, sie wären mit Filmstars befreundet. So bin ich also allein losgezogen. Diese kleine Straße bin ich schon mindestens hun dertmal gegangen. Ich kenne dort jeden Meter, würde ich sagen. Es ist eine enge, schmale Straße mit Hecken auf beiden Seiten, so daß man nicht auf die Felder se hen kann. Die Straße ist sozusagen hineingeschnitten, fast wie ein Graben. Es war keine sehr dunkle Nacht, zum indest gab es wenig Sternenlicht, und man konn te große Wolken sehen, als ob es bald regnen würde.« Er schwieg und schien zu überlegen, ob er überhaupt fortfahren sollte. Er sah über den Teich hinweg zu dem kleinen Pavillon, wo man Boote mieten konnte und den ganzen Tag viele Menschen darauf warteten, daß sie endlich eins bekommen. Der Sergeant hatte sich plötzlich entschlossen. »Ungefähr auf halbem Weg sah man ein Licht auf der Straße. Da stand eine kleine Hütte, oder so was, mit einer Hecke zu beiden Seiten. Davor war ein Garten, ein Zaun und dann eben dieses große quadratische Fenster mit kleinen Fensterscheibchen. Nun, das Licht fällt also aus diesem Fenster. Ich sah direkt hin ein und konnte in das Zimmer sehen. Auf einem Tisch stand eine Lampe, und ein Feuer prasselte in einem kleinen Kamin. Es war irgendwie gemütlich. Es war kein sehr helles Licht, aber man konnte ganz 113
gut sehen. Auf dem Polster eines Stuhles lag eine weiße Katze und schlief. Und am Tisch im Lampen schein saß eine Frau von ungefähr fünfzig Jahren, würde ich sagen, und sie nähte irgendwas. Und ich stand da, und für ein paar Minuten beobachtete ich sie heimlich. Es sah so friedlich aus, gemütlich und hübsch. Nach einer Minute ging ich weiter. Irgend etwas beunruhigte mich. Und dann dachte ich: Genau, das ist’s, keine Verdunkelungsvorhänge. Solange ich dort war, zehn Monate, hatte ich nie Licht in diesem Fen ster gesehen. Ich wollte schon zurückgehen und der Frau sagen, sie sollte ihre Verdunkelungsvorhänge zuziehen. Falls ein Landpolizist vorbeikäme, hätte sie mit einer gesalzenen Strafe zu rechnen. Ich drehte mich um und sah zurück. Ich konnte die Hütte nicht sehen, aber ich sah das Licht auf die Straße scheinen. ›Nun‹, dachte ich, ›wird schon kein Polizist vorbei kommen.‹ Es sah so hübsch aus, das Zimmer und das Feuer, das man von draußen sehen konnte. Man hat die Verdunkelungsvorhänge furchtbar satt.« Der Feldwebel hob einen kleinen Zweig auf und grub damit an einem Grasbüschel herum. »Ich ging weiter, aber da war irgend etwas, das nicht aufhörte, in meinem Kopf zu ticken, etwas, das ich nicht genau erklären konnte. Ein leichter Sprühregen fiel, aber das machte mir nichts. Ich dachte an die Arbeit, die ich noch zu tun hatte, aber ich wurde das Gefühl nicht los, daß dort irgend etwas nicht in Ordnung wäre.« 114
Er hatte sein Grasbüschel mit einem Klumpen Er de ausgegraben. Er schüttelte die Erde ab. »Ich wollte gerade ins Lager reingehen, als der Groschen fiel. Al so, die Sache sieht so aus. Ich habe darüber nachge dacht, und ich kann es nicht begreifen. Da ist gar keine Hütte, nur vier Steinwände, schwarz vor Ruß. Vor einiger Zeit hatte ein ›Jerry‹ in einem BlitzAngriff eine Bombe auf diese Hütte geworfen.« Seine Finger sind ruhelos. Sie versuchten, das Grasbüschel wieder in das Loch einzupflanzen. »Se hen Sie, was mich am meisten an dieser Geschichte beunruhigt, ist«, sagte er, »daß ich einfach nicht an solches Zeug glaube.«
Gemüseanbau London, 15. Juli 1943 Es ist in England nichts Ungewöhnliches, am Rand amerikanischer Start- und Landebahnen sorgfältig gepflegte Gemüsegärten zu entdecken. Niemand scheint zu wissen, wo die Idee herstammt, aber die Zahl dieser Gärten hat beständig zugenommen. Es ist mittlerweile normal, daß sich ein Standort zum gro ßen Teil mit seinem eigenen Gemüse und eigenen Sa laten versorgt. Die Idee, die wahrscheinlich von dem Grundge danken ausging, daß die Männer so einen Teil ihrer Freizeit sinnvoll ausfüllen könnten, weil es kaum eine Unterhaltung gab, erwies sich als ungemein erfolg 115
reich. Die Gärten werden von den Einheiten versorgt und von den Gruppen bearbeitet. Aber manchmal macht sich ein Mann alleine daran und versucht, eine exotische Pflanze anzubauen, die normalerweise in diesem Klima nicht gedeiht. In jeder Einheit gibt es gewöhnlich einen Mann, der etwas von diesen Din gen versteht und beim Anpflanzen berät, aber selbst diese Männer wissen oft keinen Rat mehr, weil sich die Gemüsearten hier von denen zu Hause unter scheiden. Die Arten, die die Männer am liebsten anbauen wollen, sind in der Reihenfolge der Beliebtheit Mais, Tomaten und Paprika. Aus all diesen Arten wird aber in England ohne Gewächshaus nicht viel. Tomaten bleiben klein; es gibt keine jener Mordstomaten, die vor Saft fast platzen. Der Sommer ist kurz und kühl. Mais hat nur eine geringe Chance, reif zu werden, und Paprika muß unter Glas angebaut werden. Trotzdem gibt man sich alle Mühe, dies alles anzu bauen. Männer, die an Heimweh leiden, scheinen ungemein viel Freude daran zu haben, mit Erde zu arbeiten. Die Gärten werden meist mit viel Ehrgeiz begon nen. Wassermelonen und Beutelmelonen werden an gepflanzt, obwohl sie in diesen Breitengraden, wo gewöhnlich selbst Gurken nur in Gewächshäusern angebaut werden, praktisch keine Chance haben, reif zu werden; aber nach und nach entsteht aus dem ganzen Durcheinander eine gewisse Ordnung. Salat, Erbsen, grüne Bohnen, Zwiebeln und Kartoffeln ge 116
deihen hier sehr gut, wie auch Kohl, Rüben, rote Bete und Möhren. Die Gärten sind ertragreich und sehr gepflegt. An den Abenden, die jetzt sehr lang sind, arbeiten die Männer in den Beeten. Vor elf Uhr wird es nicht dunkel, man kann in den Kinos nur wenige Filme sehen, und die englischen Pubs sind nicht be sonders aufregend. Aber in bezug auf die Gärten scheint ständig Aufregung zu herrschen, und die hauseigenen Produkte schmecken viel besser als die, die man auf den Märkten kaufen kann. Eines der Lager hat sein Hauptquartier in einem großen englischen Landhaus, das ehemals sehr luxu riös gewesen sein muß. Dieses Anwesen besteht zum Teil aus einer Reihe von Gewächshäusern, und hier sind die Gärten ganz gewöhnlich. Es bestand nie die Notwendigkeit, Druck auszuüben, um die Männer zur Arbeit in den Gärten zu bewegen. Sie haben diese Aufgabe mit Enthusiasmus begonnen, und in vielen Fällen sind Männer aus den Städten, die nie in ihrem Leben einen eigenen Garten hatten, hier zu wahren Hobbygärtnern geworden. Durch einen Garten hat man Beziehung zur Normalität, eine Art Beziehung zum Frieden. Hin und wieder muß ein Garten, der gerade Ertrag bringt, aufgegeben werden, weil die Einheit in ein anderes Gebiet verlegt wird. Aber das scheint kein Problem zu sein. Die neue Einheit übernimmt den Garten, und die alte beginnt von vorne, wenn es am neuen Standort noch keinen geben sollte. Der Wert liegt in der Tätigkeit an sich. Der moralische Nutzen 117
des Experimentes ist sehr hoch, so hoch, daß vorge schlagen wurde, Nachschuboffiziere sollten ganz selbstverständlich mit einem Sortiment an Sämereien ausgestattet werden. Der Samen nimmt wenig Platz ein, und Gartengeräte können an Ort und Stelle her gestellt werden oder sind fast überall zu bekommen. Es gibt zwischen den Engländern und uns einen großen Unterschied in der Zubereitung von Gemüse. Die Engländer verkochen ihr Gemüse gewöhnlich zu einem klebrigen Brei, in dem die Form, und wie manche meinen, der Geschmack, längst verschwun den sind. Unsere Köche kochen ihr Gemüse nicht annähernd so lang, sie mögen es gern knackig. Die Engländer benutzen nicht im entferntesten so viele Zwiebeln wie wir und geben fast nie Knoblauch zu. Die kleinen Gärten sind eine Art Symbol des Wider willens gegenüber fremden Gewohnheiten. Der englische Durchschnittskoch betrachtet Ge müse mit Mißtrauen. Er ist der Ansicht, daß Gemüse, wenn es nicht beherrscht und vollkommen davon überzeugt wird, keinen Unsinn zu machen, wahr scheinlich revoltieren oder den Status eines Com monwealth-Landes verlangen wird. Folglich werden nur jene Gemüsearten gepflegt, die fügsam und in der Lage sind, sich englische Manieren anzueignen. Der Rosenkohl stellt ein gutes Beispiel für an nehmbares Gemüse dar. Zuerst wird ihm gestattet, groß und hart zu werden. Dann wird er vom Stamm gepflückt und fürchterlich verkocht. Nach ein paar Stunden ist die kleine grüne, wilde Knospe zu einer 118
merkwürdigen gräulichen Paste zerfallen. Erst dann wird das Ganze als tauglich zum Verzehr erachtet. Der gleichen Methode folgt man beim Kohl. Wäh rend der Kohl kocht, wird er gestochen und gesto ßen, bis er, wenn er dann endlich aufgetischt wird, seinen Charakter und Geschmack aufgegeben hat und genau den gleichen Geschmack hat wie der Ro senkohl, der wiederum wie Kohl schmeckt. Der Möhre gestattet man, ihre gelbe Farbe zu behalten, aber sonst wird nichts von ihren Eigenschaften be wahrt. Niemand hat bislang diese angeborene Angst der Engländer, Opfer einer Rebellion der Gemüsearten zu werden, erklären können. Die unbeschwerte ame rikanische Haltung, dem Gemüse eine gewisse Frei heit – wenn auch nicht das Wahlrecht – zuzugeste hen, wird von den Engländern als weichlich und de kadent angesehen. Gewisse englische Spione haben berichtet, sie hät ten in amerikanischen Gärten amerikanische Solda ten beobachtet, wie sie Möhren und Rüben und Zwiebeln herausgezogen und roh verzehrt hätten. Einem Amerikaner kommt es merkwürdig vor, daß die Engländer, die Hunde lieben und nur selten essen, trotzdem mit Gemüse so brutal umgehen. Das ist eben einer dieser nationalen Unterschiede, die un ergründlich sind.
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Der Zustand der Welt London, 16. Juli 1943 Das ist kein Krieg wie andere Kriege, der gewonnen werden soll wie andere Kriege. Wir erinnern uns an den letzten Krieg. Das war eine einfache, leichte Sa che. Als wir den Kaiser und seine kleine militärische Clique vernichtet hatten, war das Böse beseitigt, und alle guten Dinge kamen wieder ins Lot. So war es zwar nicht ganz, aber der Krieg wurde auf dieser Ba sis von Truppen geführt, die Lieder sangen und dann wieder nach Hause in eine Zeit des Glücks und Frie dens zurückkehrten. Man sagt, dies sei kein Krieg mit Gesang, und das ist wahr. Die Soldaten kämpfen und arbeiten unter einer bedrückenden Last. Sie wissen tief in ihrem In neren, daß die Vernichtung des Feindes noch nicht das Ende des Krieges bedeutet. Und fast überall ist unter den Soldaten nicht die Angst vor dem Feind verbreitet, sondern die Angst davor, was nach dem Krieg geschehen wird. Der Zusammenbruch der ge rade neu ausgerüsteten Fabriken, die Arbeitslosigkeit von Millionen aufgrund der zunehmenden Automa tisierung, eine Depression, die die letzte Wirtschafts krise wie einen Feiertag erscheinen läßt. Sie kämpfen unter dem Banner von vier noch nicht verwirklichten Freiheiten – vier Worte, und wenn ein Machthaber versucht, diesen Freiheiten zum Durchbruch zu verhelfen, erfahren die Soldaten, daß man diesen Menschen angreift und erniedrigt. Es 120
spielt keine Rolle, ob die Methoden und Pläne gut oder schlecht sind. Alle Pläne werden zu Hause ge macht. Und die Truppen haben das Gefühl, sie hät ten zu Hause nur eine Wahl – entweder eine schmerzlose Anarchie oder ein System, das in ihrer Abwesenheit aufgebaut worden ist und in dem die Karten zu ihren Ungunsten verteilt sind. Unsere Armee ist nicht naiv. Die einfachen Leute haben in den letzten fünfundzwanzig Jahren eine Menge gelernt, und die alten magischen Worte kön nen sie nicht mehr täuschen. Sie glauben nicht mehr an die goldene Zukunft, die aus Worten besteht. Sie möchten Freiheit haben, keine Armut oder Not. Das bedeutet, daß die kleine Farm in Connecticut vor der Zwangsversteigerung sicher ist. Das bedeutet, daß die Stelle, die der Soldat aufgegeben hat, als er sich der Armee anschloß, auf ihn wartet, und nicht nur war tet, sondern auch weiterbesteht, wenn die Kinder aufwachsen. Das bedeutet, daß es Schulen geben wird und im Krankheitsfall Ersparnisse oder Medizin, die gratis ist. Wenn man sich mit vielen Soldaten unter hält, beeindrucken die Sorgen, die aus ihnen spre chen. Wird das Land durch Vermittlung bestimmter Fürsprecher von gewissen Interessengruppen über nommen? Gebietet man der Inflation keinen Einhalt, weil ein paar Leute dadurch reich werden? Werden dort Vermögen angehäuft, während diese Männer hier 50 Dollar im Monat bekommen? Werden sie in ein Land zurückkehren, das durch Habgier zerstört worden ist? Wenn irgend jemand ihnen versichern 121
könnte, daß diese Dinge nicht wahr sind, oder, wenn sie wahr sein sollten, nicht mehr erlaubt wären, dann hätten wir eine singende Armee. Diese Armee kann den Feind besiegen. Daran besteht kein Zweifel. Sie wissen das und wollen das auch schaffen, aber sie wollen nicht nach Hause zurückkehren, um sich mit einem heraufziehenden Bürgerkrieg konfrontiert zu sehen. Die Schrecken der letzten Wirtschaftskrise sind ihnen immer noch gut in Erinnerung. Sie erinnern sich an die zwangsversteigerten Far men, die Schweine, die geschlachtet wurden, um die Preise hoch zu halten, das Unterpflügen der Ernte, weil damals die Führer nicht intelligent genug waren, um Mittel und Wege zu finden, die Überproduktion der Nahrung zu verteilen. Sie erinnern sich, daß jeder Plan für ein sorgenfreies Leben aller Menschen an dem Hindernis notwendiger Profite fehlschlägt. Diese Dinge können nicht genügend betont wer den. Jeder, der diesen Soldaten versichern kann, daß derartige Dinge nicht wieder geschehen, wird eine Waffe von unglaublicher Stärke in ihre Hand legen. Was aber hören die Soldaten? Daß Mr. Jones Mr. Wallace beschimpft, daß Mr. Jeffers sich mit Mr. Jo kes herumstreitet, daß Magnaten auf diesem oder je nem Gebiet um mehr Macht und mehr Zuständigkeit kämpfen. Der Kongreß hat in einer Art von Immunitätshy sterie gegen öffentliche Kritik sogar auf die Maschi nerie der Linderung verzichtet, die die Auswirkungen einer neuen Wirtschaftskrise hätte auffangen können; 122
Schwarzmärkte blühen überall, und die Schwarz händler sind keine Gauner, sondern die bedeutenden Leute. Die Soldaten hören, daß die Lebenshaltungs kosten steigen und die Löhne ihnen folgen. Ein Sol dat ist kein alleinstehender Mann. Gewöhnlich hat er eine Familie, die weitgehend von dem Geld abhängig ist, das er ihr schicken kann, aber sein Lohn steigt nicht mit den Lebenshaltungskosten. Das sind die Dinge, die er hört. Die Zeitungen sind voll davon, die Briefe von zu Hause sind voll davon – Zwistigkeiten, Sorgen, Habgier. Und da er ein Soldat ist, kann er sich nicht beklagen. Es ist ihm verboten, sich zu beklagen. Das kann man in einer Armee nicht zulassen. Er ist nicht zynisch, aber er macht sich Sor gen. Er will, daß dieser Krieg endlich zu Ende geht, daß er nach Hause zurückkehren kann, um zu sehen, was in seiner Abwesenheit mit seinem Land gesche hen ist. Die »Vier Freiheiten« definieren, was er will, aber wenn ihm kein gangbarer Weg, keine Grundlage und klarer Plan dafür gezeigt wird, kann er wohl nur an jene Freiheit glauben, die Anatole France definier te – die gleiche Freiheit für arm und reich, unter Brücken zu schlafen.
Theaterfest London, 18,Juli 1943 Es war ein später Nachmittag im englischen Sommer, und in einem der unzähligen Außenbezirke Londons 123
war das Kino ziemlich gut besetzt. Ein paar Soldaten, die verwundet worden waren und sich gerade von ih ren Verletzungen erholten, waren anwesend. Und ebenfalls Frauen der Streitkräfte, die ein paar Stun den dienstfrei hatten. Ein paar Zivilistinnen waren da, die sich nach dem Einkaufen schnell noch einen Film ansehen wollten, und auch ein paar Fabrikarbei ter, deren Schicht gerade zu Ende war. Ganz vorne waren ein paar Reihen mit Kindern, die sich so dicht vor der Leinwand zusammenscharten, wie sie nur konnten. Es war nur ein normaler Nachmittag im Kino. Das Haus war ziemlich voll, aber nicht überbesetzt. An besonders dafür vorgesehenen Plätzen saßen einige Männer in Rollstühlen aus dem Krankenhaus. Es wurde ›I Married a Witch‹ mit Veronica Lake gezeigt. Eine Komödie, in der eine Hexe aus dem puritani schen Neu-England wieder zum Leben erwacht und direkt in eine traditionelle Schlafzimmerkomödie purzelt – kein hervorragender Film, aber auch kein schlechter. Die Kinder waren von dem Film begei stert und glaubten die Geschichte, weil sie allen Fil men glauben. Draußen verdunkelte eine tiefhängende Wolke den Himmel, und es sah aus, als ob es später am Abend noch regnen würde. Bislang hatte es noch nicht genügend Regen gegeben. Während Veronica Lake mit dem blonden Haar, das sie über ein Auge fallen ließ, im Pyjama auf dem Bett eines Mannes saß und er sich um seinen guten 124
und ehrbaren Namen Sorgen machte und die Kinder vor Freude krähten – wirbelten zehn deutsche Kampfbomber über die Küste heran. Die Aufklärer hatten sie ausgemacht. Die Spitfires starteten. Die Luftabwehrkanonen feuerten, und zwei der Angreifer wurden abgeschossen. Ein dritter prallte gegen einen kleinen Berg. Dann begann eine verrückte, wilde Jagd in den grauen Wolken. Spitfires, die durch Wolken jagten und suchten. Die Angreifer teilten sich und stürzten auf London los, die Sirenen begannen zu heulen, und das gewaltige Alarm- und Abwehrsystem wurde aktiv. Nur einer der Angreifer kam durch, da es ihm ge lang, sich durch die Abwehr durchzuschlängeln. Er kam durch die Wolken gestürzt, und gleich unter ihm war das Kino. Er war sehr tief, als er seine Bom be ausklinkte. Das Dach des Kinos hüpfte in die Luft und sank dann wieder auf die Trümmer nieder. Die Leinwand wurde dunkel. Der Angreifer brachte sein Flugzeug in die Schräglage, wirbelte herum, kam zu rück und feuerte mit seinen Geschützen in den Trümmerhaufen. Dann riß er sein Flugzeug in die grauen Wolken hoch, drehte Richtung Küste ab und ließ die Kinder hinter sich zurück, die vor Angst und Schmerz schrien. Die Gemeinden haben für solche Fälle vorgesorgt. Innerhalb von Minuten waren Rettungsteams an der Arbeit; die Feuerwehrmänner waren schnell an Ort und Stelle. Die Mannschaften waren gut ausgebildet. Sie bahnten sich ihren Weg in das zerrissene und zer 125
fetzte Gebäude. Die verletzten Kinder wurden her ausgetragen und so schnell wie möglich in ein Kran kenhaus gebracht – zermalmt und zerschossen und zugrunde gerichtet. Die Toten wurden beiseite ge schafft für die Beerdigung, aber jene, die immer noch atmeten und sich bewegten und wimmerten, wurden zu den wartenden Ärzten gebracht. Die ganze Nacht durch wurde operiert, nach Ku geln gesucht, Hände und Beine abgeschnitten und Augen entfernt. Die Anästhesisten arbeiteten zartfüh lend gegen den Schmerz und ließen Bewußtlosigkeit auf Masken tropfen. Diese Prozession der Verstüm melten zum Krankenhaus hielt die ganze Nacht an. Die Ärzte arbeiteten vorsichtig und schnell. Schnelle Entscheidungen – dieses Kind hier wird nicht überle ben – ließen sie nicht zu Bewußtsein kommen. Dieses Kind hat keine Chance, wenn beide Beine amputiert werden. Entscheidungen und schnelle Arbeit. Von den Blutbanken wurde das Plasma eiligst her beigeholt, und die Lebenskraft aus den Venen ande rer Menschen tropfte in die Adern der Kinder. Um neun Uhr morgens waren die Operationen beendet. Im Kino fanden die übermüdeten Mann schaften immer noch ein paar Körper. Und in den Krankenhausbetten – große Knäuel aus Bandagen mit großen, starrenden, ungläubigen Augen und rie siger Müdigkeit – die kleinen Ziele, die siebenjähri gen Ziele militärischer Angriffe. Arbeiter gruben ein großes, langes Massengrab für die Toten. Veronica Lake war zusammen mit dem 126
schnellen Aufflackern brennenden Films verschmort, und nur die Spulen, auf die sie aufgewickelt war, blie ben übrig. Und in den Häusern wurden an diesem Morgen die Menschen gerade wach genug, um zu weinen. Es war sehr ruhig auf den Straßen. In einer Bar ließ sich ein Arzt einen Drink geben, bevor er ins Bett ging. Um seine Augen lagen Ringe aus roter Trauer, und seine Hand zitterte, als er den Whisky an die Lippen führte.
Verständnis füreinander per Anordnung London, 19. Juli 1943 Internationale Freundschaft, gute Kameradschaft und gegenseitiges Verständnis zwischen den Briten und Amerikanern sind oft so ausgeprägt, daß Krieg zwischen beiden in Reichweite scheint. Das liegt ge wöhnlich an der Anordnung für gegenseitiges Ver ständnis und führt häufig zu dummen Situationen. Verständnis und Toleranz auf Befehl fangen nor malerweise mit Verallgemeinerungen an. Unseren Truppen wird, wenn sie sich England nähern, in Bro schüren mitgeteilt, wie die Briten sind, wo ihre nega tiven und positiven Seiten liegen, welche Worte, die zu Hause völlig unschuldig klingen, in britischen Oh ren einen harten und häßlichen Klang haben. Das hat so ziemlich die gleiche Wirkung, wie wenn man ei nem Freund sagt: »Du mußt unbedingt Jones ken nenlernen – ein wunderbarer Kerl. Ihr beide werdet 127
euch gut verstehen.« Damit hat Jones zwei Verlust punkte auf seinem Konto, bevor man sich überhaupt kennengelernt hat. Er muß dem Urteil gerecht wer den, ein charmanter Kerl zu sein, bevor man ihn überhaupt erst akzeptiert. In diesem Fall ist es sogar noch schlimmer, weil man den Briten gesagt hat, sie würden uns mögen, wenn sie uns erst kennenlernen. Das Resultat ist, daß die beiden wie fremde Hunde zusammenkommen, von denen jeder Streit sucht. Es dauert lange Zeit, bis man mit dieser Art gegenseiti gen Verständnisses zurechtkommt. Die zweite Phase, miteinander auszukommen, be steht darin, einander zu beschreiben. Die Briten sind so und so. Die Amerikaner sind so und so. Die Briten sind genau wie andere Menschen, nur noch ausge prägter. Die Amerikaner sind Angeber, die das Geld lieben. Diese Liebe zum Geld ist natürlich ausschließ lich eine Eigenschaft der Amerikaner. Alle anderen Völker verachten Geld. Die Amerikaner sind nette, standhafte Leute. Die Briten sind nette, standhafte Leute. Das ist offensichtlich eine Lüge. Es gibt gute Menschen und Ekel auf beiden Seiten. Derartige Be hauptungen aufzustellen bringt nichts Gutes. Wenn man gerade anfängt, einige Engländer zu mögen und zu respektieren, kommt irgend jemand daher und er zählt, wie die Engländer sind, und man kann wieder von vorne anfangen. Und das passiert ohne Zweifel auch den Engländern. Die dritte Fallgrube betrifft die Qualität der kämp fenden Truppen. Ein großer, schlaksiger alter Bur 128
sche aus den Bergen kommt die Straße herunterge schlendert, und die Knöchel seiner Finger berühren fast den Bürgersteig, und gleich hinter ihm ein Wachsoldat mit gestrafften Schultern, hoch erhobe nem Kinn und neun Knöpfen, die auf Hochglanz po liert sind. Sofort wird ein Vergleich angestellt. Der eine ist ein guter Soldat, und der andere ist ein Tol patsch. Tatsache ist jedoch, daß sie beide im gleichen Maß vorwärts marschieren. Und beide könnten wahrscheinlich diese Strecke auch noch mit einem vollen Rucksack auf dem Rücken bewältigen. Und dann, wenn man genug über Soldaten erfahren hat, sieht man einen kleinen Tommy mit einem verzerr ten Gesicht und breiten Schultern, der seitwärts wie eine Krabbe geht, und man erkennt, daß er im Kampf so gut wie nur möglich ist, aber in seinen Lei stungen, nicht in seinem Auftreten. Die ganze Schwierigkeit scheint in den Verallge meinerungen zu liegen. Sobald man etwas verallge meinert hat, bleibt man daran hängen. Man muß die se Verallgemeinerung verteidigen. Sagen wir mal, der britische oder der amerikanische Offizier sei ein Gentleman. Und schon hat man eine Lüge. Es gibt gute und schlechte. Man findet selbst heraus, zu wel cher Kategorie einer gehört, wenn man in Ruhe ge lassen wird. Und wenn man einen amerikanischen Leutnant sieht, der sich in einem Londoner Pub schlecht benimmt, dann wird erwartet, daß man die se Tatsache abstreitet. Oder wenn man einen Fatzke von einem britischen Offizier mit schlechten Manie 129
ren trifft, erwartet man von den Briten, daß sie seine Existenz abstreiten. Aber dennoch existiert er, und sie hatten solche Typen genauso wie wir. Das Problem der Verallgemeinerung, besonders der patriotischen, besteht darin, daß sie die Leute dazu zwingt, Dinge zu verteidigen, die sie normalerweise selbst über haupt nicht mögen. Für einen Engländer, der überzeugt ist, Amerikaner seien Angeber, muß es ein großer Schock sein, wenn er einmal einen bescheidenen kennenlernt. Sein Glau be an die Gültigkeit bestimmter Aussagen ist erschüt tert. Vorgefaßte Meinungen sind schlimm genug, oh ne daß man noch versucht, neue Vorurteile zu schaf fen. Vor kurzem beschwerte sich ein Junge aus Geor gia mit einem Gesicht wie ein Wels und dem ausgezeichneten soldatischen Betragen eines Kojoten, er sei nun schon vier Tage hier und habe noch keinen Herzog gesehen. Er glaubte schon langsam, es gäbe gar keine Herzöge, und war über alle Maßen schockiert. Irgendwo gibt es Wahrheit oder eine Annäherung daran. Wenn ein Gefecht stattgefunden hatte und die Briten sagen »Wir sind ein bißchen herumgeschubst worden«, und die Amerikaner sagen »Sie haben uns durch die Hölle gejagt«, dann stimmt weder die eine noch die andere Behauptung. Hier wird die Unter treibung bewundert und die Übertreibung verachtet. Aber beides kommt der Wahrheit nicht nahe und hat nichts mit der tatsächlichen Kampfkraft der Soldaten zu tun. Wir wissen, daß man nicht sagen kann, die Amerikaner sind so oder so, wenn diese Amerikaner 130
Aufschneider aus Georgia oder langbeinige Männer aus West Virginia sind, ordentliche Geschäftsmänner mit Lesebrillen, zweifelhafte Juwelenhändler oder lange Holzarbeiter aus den Wäldern Oregons. Und es ist genauso dumm, die Briten zu beschrei ben, wenn sie aus Lancastershire kommen oder Wali ser und Cockneys sind oder Hafenarbeiter aus Liver pool. Wir kommen als Individuen sehr gut mitein ander aus, aber sobald wir die Amerikaner und die Briten werden, ist der Ärger nicht mehr fern.
»Big Train« London, 25. Juli 1943 Der Gefreite »Big Train« Mulligan fand sich nach sei ner Verlegung nach Übersee in einem Fuhrpark in London wieder. Dort chauffierte er einen braunen Armee-Ford und brachte alle möglichen Offiziere ir gendwohin. Das ist ein Job, der »Big Train« durchaus gefällt. Er fährt Generäle und Leutnants dahin, wohin man ihm sagt, und mit der Geschwindigkeit, die man ihm vorgibt. Setzt sie dort ab. Wartet. Holt sie wieder ab. Man muß ihm nur sagen, wann man an einem bestimmten Ort ankommen will, und er wird einen hinbringen, und obwohl die Gefahr für den Fahrgast, für Fußgänger und herumlaufende Katzen und Hun de groß ist, wird »Big Train« davon nicht weiter be rührt. Durch seinen Job kennt er wahrscheinlich mehr 131
militärische Geheimnisse als irgend jemand auf dem europäischen Kriegsschauplatz. Er aber erklärt das so: »Meistens hör ich gar nicht zu. Wenn ich doch zuhö re, geht es zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Ich muß an andere Sachen denken.« In bezug auf die Armee und sein Privatleben hat er eine bestimmte Philosophie entwickelt. Zum Thema Be förderung meint er: »Wenn man General werden will, dann ist es ganz in Ordnung, wenn man Ärmel streifen kriegt, wenn man aber glaubt, man könne nicht entscheidend zum Sieg beitragen, dann ist man als Gefreiter besser dran und hat auch mehr Spaß.« Er mag es nicht, andere Leute herumzukommandie ren, mag aber selbst auch nicht herumkommandiert werden. Das zweite kann er nicht vermeiden, aber das erste kann er verhindern, indem er bloß Gefreiter bleibt. »Nicht, daß es mir was ausmachen würde«, sagt er. »Ich würde einen solchen Job schon richtig anfassen, aber ich möchte einem Haufen Männern nicht sagen müssen, was sie tun sollen.« Nachdem er sich entschieden hatte, daß er 1. den Krieg nicht im Alleingang gewinnen könne, daß 2. der Krieg noch eine ziemliche Weile dauern werde, daß er 3. nicht an einem festgesetzten Tag nach Hau se kommen würde und daß es 4. sowieso alles scheiß egal sei, fand sich »Big Train« damit ab und versuch te, alles zu genießen, wenn er es schon nicht ändern konnte. Er kennt England wahrscheinlich mindestens so gut wie irgendein anderer lebender Amerikaner. Er 132
kennt die kleinen Städte, die Schleichwege, den Nor den und den Süden, und er besitzt etwas, das allge mein als bestes Adreßbuch in Europa betrachtet wird. Er unterhält sich mit jedem und vergißt nie ei nen Namen oder eine Adresse. Wenn er also seinen Oberst oder zwei Majore und einen Hauptmann ir gendwo in einem fragwürdigen kleinen Hotel in einer feuchten kleinen Stadt abgesetzt hat, diese die Betten und das Essen verfluchen, und »Big Train« entlassen ist, dann konsultiert er dieses Adreßbuch. Dann be sucht er einen seiner Freunde, die er hier oder dort kennengelernt hat. »Big Train« bekommt ein Stück Fleisch und fri sches Gemüse zum Abendessen. Er prostet seinen Freunden zu. Er schläft in sauberen weißen Bettlaken und bekommt zum Frühstück frische Eier. Absolut pünktlich trifft er in dem kleinen feuchten Hotel ein. Der Oberst und die Majore sind erschöpft, weil sie die ganze Nacht mit Klumpen in den Matratzen ge kämpft haben. Ihre Verdauung ist durch das teigige Essen ruiniert, aber »Big Train« ist ausgeruht und sieht blühend aus. Er ist aufmerksam und wird seine Offiziere in einer weiteren Taverne zurücklassen und einen Freund zum Mittagessen aufsuchen. »Big Train« ist nicht unbedingt attraktiv, aber er sieht gut aus und hat ein gewinnendes Wesen, und er mag vor allem die Gesellschaft von Frauen. Er fühlt sich glücklich, wenn ein Mädchen da ist, mit dem er sich unterhalten kann. Wie er über die denkt, hat noch niemand herausfinden können. Man kann »Big 133
Train« mitten in einer großen öden Ebene zurücklas sen, ohne ein Gebäude und einen Busch, ohne irgend etwas, und wenn man zehn Minuten später zurück kommt, sitzt ein Mädchen auf dem Sitz neben ihm, raucht die Zigaretten des Oberst und kaut einen Kaugummi des Majors, während »Big Train« sorg sam ihre Adresse und den Namen der Stadt, aus der sie kommt, aufschreibt. Seine Art, mit Frauen und Mädchen umzugehen, ist weder gierig noch feinfühlig. Sie besteht einfach darin, daß er wirklich an ihnen interessiert ist. Er spricht in einer Art liebevoller Höflichkeit mit ihnen. Er ist ein Verfechter guter Manieren. Er redet alle Frauen, ob er sie nun kennt oder nicht, mit »meine Liebe« an, und es gelingt ihm, überzeugend zu er scheinen; wahrscheinlich, weil er es auch fühlt. Die Folge ist, daß alle Frauen ihn wiedersehen wollen, und wenn der Krieg lang genug dauert, wird dieser Wunsch auch irgendwann einmal erfüllt. Mulligan ist vollkommen ehrlich. Wenn er dem Mädchen die Zi garetten des Obersten geben sollte, ein ganzes Päck chen, dann erklärt er das dem Obersten und erklärt sich bereit, diese zu ersetzen, sobald er wieder nach London kommt. Der Oberst weigert sich natürlich, das überhaupt in Betracht zu ziehen; es wäre einfach ungalant. Natürlich durfte das Mädchen seine Ziga retten rauchen. Sie fühlt sich wohl bei ihm, aber sie fühlt sich eigentlich immer wohl. Er starrt sie an, bläht seine Brust auf und fährt schließlich weg. »Big Train« weiß, wo sie wohnt und wer bei ihr wohnt. 134
Und er hat sich bereits ausgerechnet, was er wohl zum Abendessen bekommt, wenn er sie einmal be sucht. Von den Engländern hat »Big Train« eine knappe und einfache Meinung. »Ich komme ganz gut mit denen klar, die ich mag, und ich will nichts mit de nen zu schaffen haben, die ich nicht mag. Genau so war es auch zu Hause«, sagt er. Wahrscheinlich hat er eine größere Wirkung auf die anglo-amerikanischen Beziehungen als zweihundert Propagandisten der Re gierung, die sich darum bemühen, die fundamenta len Unterschiede zwischen den beiden Nationen her auszufinden. »Big Train« kennt außer dem Akzent und den Drinks nicht viele Unterschiede. Er mag die, die er mag, und er weigert sich, einen Mann aus ir gendwelchen Gründen zu mögen, den er auch zu Hause nicht leiden könnte. Seine Ausdrucksweise ist bildhaft und anschaulich. Er sagt von einem breit lächelnden Mädchen, sie sehe aus wie ein Esel, der Hummeln esse. Er lehnt es ab, sich wegen des Krieges Sorgen zu machen. »Wenn sie wollen, daß ich das tue, dann sollen sie mir Sterne auf die Achselstücke stecken«, sagt er. »Dazu haben wir Generäle.« »Big Train« Mulligan ist nach zwei Jahren in der Armee und einem Jahr Übersee wahrscheinlich einer der lockersten und erfolgreichsten Gefreiten, den der Krieg je erlebt hat. Wenn sie wollen, daß er sein Ge wehr nimmt und kämpft, dann ist er durchaus bereit, das zu tun. Aber bevor ihm das jemand aufträgt, wird 135
er sich nicht darum kümmern. Es gibt überall in Eng land gute kleine Abendessen in hübschen kleinen Häuschen, die auf ihn warten. Und solange es noch genügend von den Zigaretten des Obersten gibt, wird »Big Train« seine Gastgeberin nicht mit leeren Hän den zurücklassen.
Bob Hope London, 26. Juli 1943 Wenn die Zeit kommt, um den Dienst an der Nation in Kriegszeiten zu würdigen, sollte Bob Hope ganz oben auf der Liste stehen. Dieser Mann treibt sich selbst und ist getrieben. Es ist kaum zu verstehen, wie er so viel unternehmen, wie er so viel bewältigen, so hart arbeiten und so effektiv sein kann. Er arbeitet Monat um Monat mit einem Tempo, das die meisten Leute umbringen würde. Wer die Feldlager, Flugplät ze, Truppenunterkünfte, Nachschubdepots und La zarette überall im Land besucht, hört eins immer und immer wieder. Bob Hope kommt oder Bob Hope ist hier gewesen. Der Verteidigungsminister ist auf In spektionsreise, aber es ist Bob Hope, der erwartet wird und an den man sich erinnert. In irgendeiner Art hat er die Phantasie der Solda ten gefangen. Er hat die Lacher auf seiner Seite, wo immer er hinkommt, das Lachen von Männern, die Gelächter brauchen. Er hat sich seine eigene Rolle ge schaffen – die eines Mannes, der alles wirklich ver 136
sucht und immer versagt, der angibt und dabei er wischt wird. Sein Humor ist sarkastisch, zielt jedoch nie auf Menschen, sondern auf Zustände und An sichten. Und wo Bob Hope auftaucht, brüllen die Männer vor Lachen und wiederholen seine Witze noch Tage später. Hope bestreitet vier, manchmal fünf Auftritte am Tag. In einigen Lagern müssen die Männer in Schich ten kommen, weil sie ihn nicht alle zur gleichen Zeit hören können. Dann springt er in ein Auto, rast zur nächsten Kaserne; und weil er auch über Rundfunk sendet und jeder seine Sendungen hört, kann er ein Programm nur ein paarmal bringen. Deshalb muß er mitten in dieser ganzen Hetze und den Auftritten ständig neue Shows vorbereiten. Wenn er das einige Zeit tun würde, dann aufhörte und sich Ruhe gönnte, wäre das schon beachtlich, aber er ruht sich nie aus. Und das macht er schon seit Kriegsbeginn. Seine Energie ist grenzenlos. Hope bringt seine Show überall hin – nicht nur in die großen Lager. In kleinen Gruppen im Sonderdienst hört man immer den gleichen Satz: Bob Hope kommt am Donnerstag. Sie wissen schon Wochen im voraus, daß er kommt. Es wäre einfach entsetzlich, wenn er doch nicht käme. Vielleicht ist das eine Art von An sporn. Er hat eine Art Vertrag mit sich selbst und mit den Männern geschlossen, daß keiner – und Bob Hope am allerwenigsten – aufgeben darf. Es ist kaum mög lich, die Bedeutung dieses Unternehmens und die Ver antwortung, die es einschließt, zu überschätzen. 137
Das Bataillon von Männern, das Halbkettenfahr zeuge von Ort zu Ort bringt und einen Job macht, der keine Schlagzeilen und keine öffentliche Anteil nahme erntet, aber eben doch getan werden muß, wenn es einen Sieg geben soll, ist vergessen, und die Männer fühlen sich auch vergessen. Aber Bob Hope ist im Lande. Wird er auch zu ihnen kommen? Und dann trifft eines Tages die Ankündigung ein, daß er kommt. Dann haben sie das Gefühl, daß man sich an sie erinnert. Dieser Mann ist für sie zu einer Art Brücke geworden. Das hat nichts damit zu tun, wie komisch er sein kann oder wie gut Frances Langford singt. Es ist interessant zu beobachten, wie er zu ei nem Symbol geworden ist. Der Verfasser dieses Buches, der Hope nicht per sönlich kennt, kann nur vermuten, was in diesem Mann vor sich geht. Er hat schreckliche Dinge gesehen und sie mit Humor überlebt und sie erträglicher ge macht, aber das geschieht nicht, ohne eine Wunde zu rückzulassen. Er ist vom Rest der Welt abgeschnitten und darf keine Müdigkeit zeigen. Da er ein Symbol geworden ist, muß er das Leben eines Symbols führen. Wahrscheinlich besteht die schwierigste und auf reibendste Sache darin, in einem Krankenhaus ko misch zu sein. Die langen, niedrigen Gebäude liegen verstreut, falls sie einmal angegriffen werden sollten. Die ambulanten Fälle arbeiten in den Gärten oder le sen in den kastanienbraunen Bademänteln in den Aufenthaltsräumen. Aber in den Krankenabteilungen liegen in den langen Reihen der Schmerzen Männer, 138
deren Augen nur auf ihr Inneres und auf ihre Leute gerichtet sind. Einige befinden sich gerade im Stadi um der Genesung mit vielen Schmerzen und einem unerträglichen Jucken. Einige bewegen langsam ihre Finger, und andere klammern sich an die kleinen Trapeze, die ihnen helfen sollen, sich im Bett zu be wegen. Die makellos gekleideten Krankenschwestern ge hen leise durch die Gänge am Fußende der Betten. Die Zeit vergeht nur sehr langsam. Briefe, selbst wenn sie jeden Tag einträfen, würden Wochen aus einander liegen. Alles, was man tun kann, wird getan. Aber Medizin kann nicht die Einsamkeit und die Schwäche von Männern heilen, die stark gewesen sind. Und die Krankenpflege kann keinen einzigen endlosen Tag in einem Krankenhausbett verkürzen. Und Bob Hope muß mit seiner Truppe in diese stil len, in sich gekehrten, einsamen Häuser kommen und die Männer langsam und sanft wecken, ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken und schließlich La chen aus diesem trüben Wasser zaubern. Das ist eine Aufgabe! Lachen tut manchem dieser Männer weh, schmerzt in den geflickten Knochen, zerrt an den ge nähten Schnitten, und doch ist das Lachen eine gute Medizin. Diese Geschichte wird in einem dieser namenlosen Krankenhäuser erzählt, die vor Bomben geschützt werden müssen. Hope und seine Truppe hatten dort gearbeitet, und allmählich war es ihnen gelungen, die bleiernen Augen zum Glänzen zu bringen; sie hatten 139
Lachen gepflanzt und genährt und ins Leben gerufen. Ein Geschützführer mit Bauchverletzung schnappte vor Lachen nach Luft. Ein Verwundeter von der Ei senbahn schlug Applaus mit seiner rechten Hand auf den Gipsverband an seinem linken Arm. Und sobald das Lachen einmal am Leben war, lachten die Männer schon vor der Pointe, so daß sie wiederholt werden mußte, damit sie ein zweites Mal lachen konnten. Schließlich war es an der Zeit für Frances Lang fords Lieder. Die Männer baten um ›As Time Goes By‹. Sie stand neben dem kleinen GI-Klavier und be gann zu singen. Ihre Stimme war ein bißchen heiser und strapaziert. Sie hat zu lange und zu hart gearbei tet. Sie hatte acht Takte gesungen und begann mit der Überleitung, als ein Junge mit einer Kopfverlet zung zu weinen begann. Sie hörte auf und setzte dann wieder an, aber ihre Stimme gehorchte nicht mehr, und sie flüsterte das Lied zu Ende, und dann ging sie hinaus, damit niemand sah, wie sie zusam menbrach. Es war still in der Krankenabteilung, und niemand klatschte. Und dann ging Hope in den Gang zwischen den Betten, und er sagte ganz ernsthaft: »Männer, unsere Leute zu Hause haben es ganz schrecklich schwer, wenn es um Eier geht. Sie können überhaupt kein Eipulver bekommen. Also müssen sie diese altmodischen Dinger nehmen, die ihr immer aufschlagt.« Das ist ein Mann nach ihrem Herzen – das ist wirklich ein echter Mann.
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Ein gemütliches Schloß London, 27. Juli 1943 Der Jeep biegt von der Hauptstraße ab und hält an. Das große Tor aus grauem Stein spannt sich in einem Bogen über die Auffahrt. Als es gebaut wurde, war Amerika eine Wildnis mit ein paar Kolonisten, die sich leidenschaftlich an den Rand dieser Wildnis klammerten. Aus dem steinernen Wachgebäude taucht ein amerikanischer Wachsoldat auf und stellt sich neben den Jeep. Er sieht sich die Pässe an. Dann salutiert er und öffnet ein großes eisernes Tor. Der Jeep fährt weiter auf einer ansteigenden Zu fahrt, die von Eichen und Buchen mit zwei Meter dicken Stämmen torbogenartig gesäumt wird. Die Straße krümmt sich und führt einen kleinen Hügel hinauf, und man kann einen grauen Turm sehen, der die riesigen Bäume noch überragt. Dann verläßt man den hübschen, uralten Wald und sieht ein richtiges Schloß vor dem Hügel liegen, davor unterbrochene Grünflächen. Es ist ein kleines Schloß mit nur etwa vierzig Zimmern, für seine Zeit ein Wochenendhaus. Und es wurde von einem bestimmten englischen Kö nig für eine bestimmte englische Mätresse gebaut. Es ist merkwürdig, daß man diesen uralten Skan dal nicht genau benennen darf, aber es ist so. Wenn man zum Beispiel wissen würde, welcher König und welche Mätresse mit dem Bau des kleinen Schlosses zu tun hatten, dann würde auch der Feind wissen, um welches Schloß es sich handelt, und wenn weiter 141
hin bekannt würde, daß amerikanische Truppen in diesem Schloß Quartier bezogen hätten, würde es ein Angriffsziel für feindliche Flugzeuge. Aber da eine große Zahl englischer Könige Mätressen hatte und kleine Schlösser für sie baute, bietet eine derartige In formation dem Feind kein Ziel, oder anders ausge drückt, sie bietet ihm eine so große Anzahl von Zie len, daß er sich nicht darauf konzentrieren kann. Auf dem Rasen vor dem Schloß, wo einst vielleicht Gentlemen in schwerer Rüstung einander mit Spee ren herausforderten, absolviert ein Zug amerikani scher Soldaten mit Helmen und voller Marschausrü stung geschlossenes Exerzieren, marschiert hin, mar schiert zurück, öffnet und schließt seine Reihen, und die Bajonette blitzen in der Sonne des englischen Sommers. In den Gärten, die zu der spitz zulaufenden Tür führen, blühen die Rosen. Rote Rosen und weiße Ro sen. Ururenkel der Rosenstöcke, von denen vielleicht die Symbole von Lancaster und York stammen, die als Insignien des Bürgerkrieges getragen wurden. Die Stufen am Eingang sind tief ausgetreten, konkav wie Wasserbecken, und jenseits davon schließt sich eine dunkle Halle an, selbst mittags so dunkel und schat tig, daß man seine Augen daran gewöhnen muß, be vor man die geschnitzte Eichendecke sehen kann, von der Tausende von kleinen Eichengesichtern herunter blicken. Und in dieser großartigen Eingangshalle sitzt ein Sergeant der amerikanischen Armee hinter einem Tisch aus Kiefernholz und verrichtet seine Arbeit. 142
Auf der anderen Seite sieht man durch eine offene Tür einen noch größeren Raum, dieser ist jedoch hel ler, denn eine Seite besteht ganz aus Bleifenstern, die rauten- und rhombenförmig und in Kreisen und Monden aus Glas angelegt sind. Und auch hier blickt man auf den Rosengarten, den Rasen und auf den Wald. In diesem Zimmer befindet sich ein großer Kamin, ein offener Kamin, der so hoch ist, daß selbst ein gro ßer Mann hineingehen kann, ohne sich zu bücken, und sich hinlegen könnte, ohne sich zusammenzu kauern. Der Sims über dem Kamin ist mit Wappen schnitzereien verziert. Das ist der Salon. Auf Stühlen, die man sich irgendwo beschafft hat, sitzen die GIs und lesen oder hören Radio. Eine schöne Bar ist an einer Wand angebaut worden; dort werden CocaCola und Popcorn verkauft. Und über allem erhebt sich das bogenförmige Dach aus geschnitztem Ei chenholz, gearbeitet und eingepaßt, lange bevor Amerika geboren wurde. Und ein Soldat, der sich in seinem Sessel zurücklehnt, starrt fasziniert auf die Decke. Auf seinem Schoß liegt ein Exemplar von ›Yank‹. Er kneift die Augen zusammen und betrach tet die Decke. Er wendet seine Aufmerksamkeit ab und ruft: »Mensch, Walter, haben die Dodgers vier undzwanzig oder fünfundzwanzig Spiele gewonnen?« Geht man die breite Treppe hinauf, befindet man sich in einem langen Säulengang, und daran schlie ßen sich die etwa dreißig Zimmer an, in denen die Gäste des Paares untergebracht wurden, denn es ist 143
wahrscheinlich, daß nur etwa fünf- bis sechshundert Personen, einschließlich des Ehemannes der Dame, von diesem alten Skandal wußten. Die Zimmer sind groß, und jedes hat einen geschnitzten Kamin und ein kleines Bleifenster mit rautenförmigen Scheiben, von dem aus man verschwommen den Garten er kennen kann. Aber die Zimmer selbst sind heute Mannschaftsunterkünfte, die Betten in Reihen ge ordnet, die Schuhe ordentlich darunter, die Spinde mit den zusammengelegten Hemden und Hosen und Handtüchern und den Helmen. Die Zimmer sind wahrscheinlich viel sauberer als zu der Zeit, als die Mätresse des Königs hier lebte. Im Erdgeschoß befindet sich in einer Art Höhle die Küche, wo ein Armeekoch riesige quadratische Ap felkuchen backt. Der Boden ist so tief ausgetreten, daß er über einige der unebenen Stellen wegsteigen muß. Sein Kohleofen tost, und er ist am Rande jener Hoffnungslosigkeit, die Köche befällt, wenn sie er kennen, daß ihre Arbeit nie zu Ende gehen wird, daß es keine Möglichkeit gibt, einen Mann für alle Zeiten satt zu kriegen. Der Kommandeur ist ein Oberleutnant aus Texas, sein Stellvertreter ein Leutnant aus Chicago. Sie sind jung und ernst und freundlich. Die Aufgabe, das Schloß in Ordnung zu halten, ist nur ein Job für sie. Vieles ergibt keinen Sinn, abgesehen von dem Wechsel der Bewohner. Das Schloß, das für Herolde, Höflinge und Soldaten in Rüstung gebaut worden war, fühlt sich durch diese neue Lage nicht verletzt. Die 144
Jeeps und Panzerwagen, die Halbkettenfahrzeuge, die durch die Tore gefahren sind, die Soldaten mit ihren Helmen scheinen auf dem Rasen nicht fehl am Platz. Sie gehören hierher. Sie unterscheiden sich wahr scheinlich nur sehr wenig von den früheren Bewoh nern. Sicherlich wäre eben jener König froh um sie ge wesen, denn auch er hätte seine politischen Probleme.
Die Yankees kommen an London, 28. Juli 1943 Der kleine englische Bahnhof liegt mitten in den sich sanft wellenden Feldern. Das Gras wird gerade ge schnitten. Dort, wo die Mähmaschine schon gewesen ist, welkt es bereits wie auch die Mohnblumen. Ein Doppelgleis führt vorn in den Bahnhof hinein. Aus dem Bahnhof führen die Gleise in verschiedene Rich tungen hinaus. Um 4.03 Uhr fahren der amerikani sche Kommandeur und vier Offiziere zum Bahnhof. Ein britischer Offizier kommt aus dem Zimmer des Bahnwärters. »Der Zug hat vier Minuten Verspä tung«, sagt er. Alle Offiziere blicken auf ihre Uhr. Auf der Hauptlinie donnert ein Zug mit mehr als hundert Stundenkilometer durch. Der junge Leutnant sagt: »Ich dachte, britische Züge wären langsam.« »Sie haben früher den Weltrekord an Geschwin digkeit gehalten«, sagt der Kommandant. Auf einem anderen Gleis fährt ein Güterzug schnell durch den Bahnhof. Die flachen Wagen sind 145
mit Panzern beladen – eine ununterbrochene Reihe von Panzern über die ganze Länge des Zuges. Hun dert Meter vom Bahnhof entfernt ist ein Erfri schungswagen geparkt, ein Bus, den man in eine Kü che verwandelt hat. Dort wird Kuchen gebacken und Kaffee gekocht, zwei Mädchen vom Roten Kreuz füh ren das Unternehmen. Ihre Kaffeemaschinen damp fen, und große Körbe füllen sich mit Gebäck. Sie nehmen die Kuchen aus dem Ofen heraus und bela den die Körbe damit. Oben auf dem Bus befindet sich ein Lautsprecher, der mit einem Plattenspieler verbunden ist. Der Kommandant sagt: »Dieses große Mädchen ist klasse. Heute morgen um sechs Uhr waren fünfhun dert Männer hier. Sie waren alle ziemlich müde. Die ses große Mädchen legte eine Schallplatte auf und tanzte zu der heißen Musik einen schottischen High lander-Tanz. Die ist vielleicht komisch.« Der Duft des Kuchens kommt mit der Brise herunter. Der britische Offizier tritt wieder aus dem Signal wärterhäuschen. »Er wird in drei Minuten hiersein«, sagt er. Und wieder blicken die Offiziere auf ihre Uh ren. Der kleine Zug kommt um die Kurve. Er fährt am Bahnhof vorbei, rangiert und setzt rückwärts auf das Nebengleis. Die Abteile sind voll bepackt mit be helmten Männern, die ihre Ausrüstung vor sich auf den Knien aufgetürmt haben. Ihre Gesichter sind fast so braun wie ihre Uniformen. Sie sitzen da mit dem Sturmgepäck auf dem Rücken. Es ist ein heißer Nachmittag, einer der wenigen in diesem Sommer. 146
Während der Zug in den Bahnhof einfährt, heult der Plattenspieler auf dem Bus ›Mr. Five by Five‹. Die Musik ist weit zu hören. Die Soldaten drehen lang sam den Kopf und blicken in Richtung auf die Mu sik. Jetzt läuft ein Feldwebel am Zug vorbei und öff net die Türen zu den Abteilen, aber die Männer be wegen sich nicht. Ein untersetzter Hauptmann mit einem tiefschwarzen Schnurrbart ruft: »In Ordnung, Männer. Heraustreten.« Und die kleinen Abteile spucken Männer aus. Sie stehen hilflos auf dem Bahnsteig herum, ihre Schultern und ihre Rücken sind naß von Schweiß, der sich unter den Riemen des Sturmgepäcks gesammelt hat. Sie tragen auch ihre Kleidersäcke und die Sachen, die nicht mehr hinein paßten; eine Gitarre, eine Mandoline oder ein Paar Schuhe. Ein Mann hat eine Promenadenmischung von Foxterrier an der Leine, und der Hund steht japsend vor Aufregung neben ihm. Der untersetzte, nervöse Hauptmann läßt die Männer in Reihe antreten und marschiert mit ihnen zum Erfrischungswagen. Swing-Musik kreischt im mer noch aus dem Lautsprecher auf dem Dach. Eine Reihe Männer geht an einer kleinen Theke an der Seite des Wagens vorbei, und jeder Mann bekommt eine große Tasse Kaffee und zwei Stück Gebäck. Dann lösen sich die Reihen auf, und die Soldaten ste hen herum, trinken ihren Kaffee und sehen verloren aus. Das große Mädchen kommt aus dem Wagen heraus und nimmt sie sich vor. »Wo kommt ihr Kerls denn her?« 147
»Michigan.« »Dann sind wir ja Nachbarn. Ich komme aus Illi nois.« Ein bekannter Schürzenjäger, zu Hause ein geris sener Kerl, ein dunkelhäutiger Bursche mit Kotelet ten, sagt müde und nur mehr aus Pflichtgefühl: »Hast du heute abend schon was vor, Süße?« »Und was hast du vor?« fragt das große Mädchen, und die herumstehenden Männer lachen so laut, als ob das komisch wäre. Der müde Schürzenjäger legt einen Arm um ihre Taille. »Zeig’s mir«, sagt er, und die beiden vollführen einen grotesken Shag, eine Art Jitterbug in Zeitlupe. Ein blonder Bursche mit sonnenverbrannter Nase und roten Augenlidern nähert sich schüchtern einem Leutnant. Er hält seinen Kaffee in der einen und sei nen Kuchen in der anderen Hand. Zu spät erkennt er, daß er damit Schwierigkeiten kriegt. Er balanciert die beiden Gebäckstücke auf dem Rand seiner Tasse, und sie fallen prompt hinein. Er salutiert, und der Leutnant erwidert seinen Gruß voller Ernst. »Entschuldigen Sie, Sir«, sagt der Bursche. »Sind Sie nicht ein Filmstar?« »Das war ich einmal«, sagt der Leutnant. »Das war ich einmal.« »Ich wußte, daß ich Sie in Filmen gesehen habe«, sagt der junge Mann. »Ich werde nach Hause schrei ben, daß ich Sie hier getroffen habe. Sagen Sie«, sagt er voller Aufregung, »würden Sie Ihren Namen auf irgend etwas schreiben, damit ich ihn nach Hause 148
schicken kann, damit sie mir glauben und damit sie das Autogramm für mich aufheben können?« »Klar«, sagt der Leutnant und signiert einen schmierigen Umschlag, den der Soldat aus einer Ta sche gezogen hat. Der Bursche betrachtet ihn einen Augenblick. »Was machen Sie denn hier?« fragt er. »Naja, ich bin eben in der Armee, genau wie Sie.« »O ja, natürlich. Ja, das ist ja klar. Nun, jetzt wer den sie mir zu Hause glauben müssen, daß ich Sie ge troffen habe.« »Wie lange sind Sie denn schon in Übersee?« fragt der Leutnant. »Wir sollen nichts über solche Dinge sagen.« »Klar, habe ich vergessen. Guter Junge, daß Sie sich daran erinnert haben.« Das Gebäck hat sich im Kaffee schon fast aufgelöst. Der Junge trinkt den Kaffee mit dem Gebäck, ohne es zu bemerken. »Glauben Sie, daß man uns je nach London lassen wird?« fragt er. »Sicher, wenn Sie einen Urlaubsschein bekommen.« »London ist sicher weit weg, oder?« »Nicht so sehr. Sie könnten es in einem Achtund vierzig-Stunden-Urlaub leicht schaffen und haben noch ’ne Menge Zeit.« »Schön. Gibt es dort viele Mädchen?« »Sicher. Eine Menge.« »Und werden sie, ich meine, werden sie sich mit einem Burschen unterhalten?« 149
»Klar.« »Verdammt noch mal«, sagt der Junge. »Ver dammt noch mal!« »Antreten«, ruft der untersetzte, nervöse Haupt mann, und »Antreten!« ruft dann auch der Feldwe bel. Der blonde Bursche stellt sich in die Reihe im mer noch mit seiner Tasse in der Hand. Das große Mädchen übertönt die Musik: »Hallo, Süßer. Wir brauchen diese Tassen noch.« Sie eilt ungestüm auf ihn zu, schnappt sich die Tasse und klopft ihm einmal auf die Schulter. Die Männer zu beiden Seiten lachen laut, als ob das sehr komisch wäre.
Eine Hand London, 29. Juli 1943 Der Soldat trägt einen kastanienbraunen Bademantel, einen braunen Pyjama und Pantoffeln – die Uniform des Armeelazaretts. Er ist ein bißchen blaß und unsi cher auf den Beinen, wie es Rekonvaleszenten eben sind. Seinen linken Arm trägt er gebogen und hoch, und die Finger seiner linken Hand sind hilflos ge krümmt. Vor ihm auf dem Tisch steht ein halbferti ges Flugzeugmodell einer Liberator. Noch nicht ver kleidet, noch Gerippe. Er hat ein Brettchen aus Bal saholz vor sich, auf dem der Plan abgedruckt ist, eine Rasierklinge und eine kleine Leimschüssel, aus der ein Streichholz ragt. 150
»Ich bin in Afrika verwundet worden«, sagt er. »Bauchschuß, aber das haben sie ziemlich gut hinge kriegt.« Er hält seinen linken Arm hoch. »Das beun ruhigt mich«, sagt er. »Der war ziemlich schlimm ge brochen. Ich bin den Gipsverband noch nicht lange los.« Er bewegt ein bißchen die Finger. »Nicht viel Gefühl darin«, sagt er. »Ich kann keine Faust machen. Ich kann nichts damit halten. Zumindest konnte ich das nicht. Sie sind irgendwie taub. Ich hab dieses Modell gekriegt«, sagt er. »Ich kann Sachen mit meiner Hand auf den Tisch drük ken, so …« er legt die Seite seiner Hand auf das Bal sabrettchen. »Ich habe das alles mit meiner rechten Hand gemacht. Ich würde sagen, ich hab’ noch Glück gehabt, daß ich Rechtshänder bin.« Er be trachtet seine linke Hand und bewegt die Finger. »Der Arzt sagt, ich werde sie benutzen können, um Dinge damit festzuhalten, wenn ich nur genügend übe. Aber es ist schwer, damit zu üben, wenn man kaum fühlen kann, daß sie überhaupt da ist. Gestern ist was Komisches passiert«, sagt er. »Hier, ich zeige ihnen die genaue Stelle.« Er nimmt einen Bleistift und steckt ihn in das Gewirr von winzigen Verstrebungen. »Da, können Sie dieses Stückchen da sehen? Das mit dem kleinen Bleistiftzeichen? Ich ha be ein Zeichen darauf gemacht, damit ich mich erin nern kann, welches es war. Gestern habe ich versucht, das an die richtige Stelle zu bringen, und Sie können selbst sehen, daß man an diese Stelle nur schwer rankommt. Man muß es hier 151
festhalten und dann hochschieben. Nun, ich war mir gar nicht bewußt, daß ich das wirklich machte. Als ich es dann merkte, hielt ich dieses kleine Ding in meiner linken Hand.« Er betrachtet voller Verblüf fung seine verhutzelten krummen Finger. »Ich habe dem Arzt davon erzählt, und er sagte, das sei in Ord nung, und ich sollte sie so viel benutzen, wie ich nur könne. Nun, Sir, wenn ich es bewußt machen will, kann ich es nicht. Zumindest noch nicht. Vielleicht später, nach und nach ein bißchen mehr. Ich rolle ei nen Bleistift unter meinen Fingern. Sie sagen, das sei eine gute Methode. Ich kann ihn sogar ein bißchen fühlen.« Er hält mit der Seite seiner linken Hand ein Balsa brettchen mit der Konstruktionszeichnung nieder und schneidet mit der Rasierklinge vorsichtig das winzige gebogene Teilchen aus, das er als nächstes einsetzen wird. Es ist ein kniffeliges Stück, und seine Hand zittert ein bißchen, aber die Rasierklinge bleibt auf der schwarzen Linie, und er hält das kleine Stück chen hoch und legt es dann neben sich auf den Tisch, um auf jedes Ende einen Tropfen Leim zu geben. Dann setzt er mit seiner rechten Hand das Teilchen vorsichtig ein. »Ich lasse mir die Nägel wachsen«, sagt er. »Ich kann meine Fingernägel für eine Menge Sa chen gebrauchen.« Mit dem langen Fingernagel sei nes rechten Zeigefingers kratzt er einen kleinen Leimtropfen ab, der aus der Klebestelle herausge drückt worden ist, und wischt ihn an einem Stück chen Papier ab. 152
»Diese Hand macht mir Sorgen«, sagt er. »Natür lich glaube ich, daß ich trotzdem eine Stelle bekom men kann. Das macht mir nicht so große Sorgen. Ich kann immer eine Stelle kriegen. Aber ich muß diese Hand wieder in Form kriegen, damit ich wieder Din ge festhalten kann.« Er dreht das Modellflugzeug um und betrachtet dann die Konstruktionszeichnung für das nächste Teilchen. Er schweigt lange Zeit. »Meine Frau weiß, daß ich verwundet worden bin. Sie weiß nicht, wie schwer. Sie weiß, daß ich wieder gesund werde und dann nach Hause komme, aber … sie muß sich recht viele Gedanken machen. Ich muß diese Hand wieder hinkriegen. Sie würde keinen Krüppel mit einer Hand wollen, die nicht zu gebrau chen ist.« Seine Augen glänzen ein bißchen fiebrig. »Nun, wie würde es Ihnen denn gefallen, wenn ein Krüppel zu Ihnen nach Hause zurückkommt. Was würden Sie davon halten? Die Hand wird immer ein bißchen gekrümmt sein«, sagt er, »aber das wäre nicht so schlimm, wenn sie nur wieder funktionieren würde. Meine Frau hat eine Stelle in einer Flugzeugfabrik an der Küste … verrichtet dort Männerarbeit. Sie sagt, es gehe ihr gut, und ich solle mir keine Sorgen machen. Hier. Ich zeige Ihnen ein Bild von ihr.« Er greift in die Tasche seines Bademantels. »Wo ist es denn?« sagt er. »Die Krankenschwester steckt es immer hier hinein.« Er steckt seine linke Hand in die Tasche und zieht eine kleine Lederbrieftasche heraus. Und plötzlich erkennt 153
er, was er getan hat, und seine Finger lösen sich, und die Brieftasche fällt zu Boden. »Großer Gott!« sagt er. »Haben Sie das gesehen?« Er sieht die gekrümmte Hand an, die immer noch in der Luft zu schweben scheint. »Das ist schon das zweite Mal in zwei Tagen«, sagt er sanft. »Zweimal in zwei Tagen.«
Die Karriere des »Big Train« Irgendwo in England, 4. August 1943 Es war möglich, weitere Daten über das Leben und die Methoden des Gefreiten »Big Train« Mulligan zu sammenzustellen, eines Mannes, dem es gelungen ist, einen Großteil der Armee für sich arbeiten zu lassen. Einer seiner Feinde, von denen er nur wenige hat, sagte von ihm, er sei ein Drückeberger, denn er sei einfach viel zu faul. Im Verlaufe einer genauen Untersuchung, die sich über mehrere Tage erstreckte, sind gewisse Eigen schaften des Gefreiten hervorgetreten, zusätzlich zu denen, die in dem früheren Bericht erwähnt worden sind. »Big Train« hat eine sehr seltsame Methode. Wenn man nicht sehr vorsichtig ist, merkt man plötz lich, daß man sein Gepäck trägt, und man weiß nie, wie das passieren konnte. Vor kurzem, als »Big Train« in einer für ihn alltäglichen Verlegenheit war, stellte der Autor zu seiner Verblüffung fest, daß er aus Freundschaft Mulligan nicht nur 2 Dollar 10 Cents ge 154
liehen, sondern sie ihm ohne Sicherheiten förmlich aufgedrängt hatte und darüber hinaus hinterher das Gefühl hatte, ihm sei geradezu eine Ehre widerfahren. Wie das passieren konnte, darüber kann man nur spekulieren. Irgendwann wird Mulligan diesen Geld betrag zweifellos zurückzahlen, aber er wird dabei den Eindruck vermitteln, daß er beraubt worden sei. Mulligan hat Plünderung oder Beschlagnahmung, oder wie immer man es nennen will, zur höchsten Form entwickelt. Er glaubt standhaft an das Sprich wort, daß sich eine Armee auf dem Bauch vorwärts bewegt, eine Position, die er mag. Er liebt gutes Essen und bekommt es gewöhnlich auch. Vor ein paar Ta gen besuchte eine Gruppe ein Schiff, das vor kurzem mit Kriegsmaterial in einen englischen Hafen einge laufen war. Die Gruppe ging auf die Brücke, wurde dem Kapitän vorgestellt, trank eine kleine Tasse sehr guten Kaffees, und jeder aß etwa zehn Gramm Ge bäck, während man sich ein paar Minuten höflich unterhielt. Als man zum Dock zurückkehrte, wo der Wagen stand und wo Mulligan hätte warten sollen, war alles ganz anders. Mulligan war nicht in Sicht. Einer der Gruppe, der den Gefreiten seit einiger Zeit kannte und bewunder te, bemerkte: »Wenn ich Mulligan in diesem Augen blick suchen sollte, würde ich zum Kühlraum dieses Schiffes gehen, in der Zuversicht, daß sich Mulligan nicht fern davon befindet.« Also machte sich die Gruppe auf den Weg zum Kühlraum des Schiffes, und da war Mulligan dann auch und lehnte sich un 155
beschwert gegen einen Tisch. Er hielt das größte Roastbeef-Sandwich, das man sich vorstellen kann, in der Hand. Er hat gelernt, sehr schnell zu essen, wäh rend er über alle möglichen Themen redet. Er ver paßt nie einen Bissen oder ein Wort. Sein Tempo scheint langsam zu sein, aber die Durchführung ist exzellent. Nicht zwischen den Bissen, sondern schon beim Kauen erzählte er einem bewundernden Kreis, der aus dem Steward und drei Kanonieren der Mari ne bestand, eine Geschichte von Raub und Plünde rung, die ihre Aufmerksamkeit so vollständig in An spruch nahm, daß sie den Stapel Sandwiches hinter »Big Train« gar nicht bemerkten. Der ranghöhere Offizier sagte: »Mulligan, meinen Sie nicht, wir sollten jetzt endlich weiterfahren?« Mulligan sagte: »Ja, Sir. Ich wollte gerade wieder runter, aber ich dachte, der Hauptmann könnte hungrig sein. Ich war gerade dabei, einen kleinen Im biß für den Hauptmann herzurichten.« Er griff hinter sich und zog einen riesigen Stapel von RoastbeefSandwiches hervor, die er dann herumreichte. Ob nun diese Sandwiches ausgerechnet für einen solchen Notfall vorbereitet worden waren oder ob Mulligan vorhatte, sie selbst zu verspeisen, wird wohl nicht ge klärt werden. Wir möchten lieber daran glauben, was er sagte. Mulligan ist ein aufmerksamer Freund und ein selbstloser Mann. Davon abgesehen rennt er nie in eine Sackgasse. Er hält sich immer eine Rückzugs möglichkeit offen, was ja nur beweist, daß er ein gu ter Soldat ist. 156
Sollte seinem Offizier schlecht vor Hunger sein, hat Mulligan ein Stückchen Schokolade, um den Hauptmann über Wasser zu halten. Was macht es schon aus, wenn diese Schokolade sowieso dem Hauptmann gehörte und man ihm nur vorgetäuscht hatte, es sei nichts mehr davon da? Die entscheidende Tatsache ist, daß Mulligan, wenn der Hauptmann seine eigene Schokolade braucht, ihm gerne die Hälf te abgibt. »Big Train« ist jetzt etwas mehr als ein Jahr in Eng land und hat sich eine Sprache angewöhnt, die nur als Georgia-Oxford beschrieben werden kann. Er spricht Leute mit »mate« oder sogar mit »mait« an. In manchen Fällen weigerte er sich, die britischen Begriffe anzunehmen. Zu anderen Gelegenheiten be steht er grundsätzlich auf den britischen Worten und tut so, als kenne er die amerikanischen gar nicht. So mancher Offizier hat versucht, Mulligan zum Unteroffizier zu befördern, selbst wenn es nur deshalb war, um ihn loszureißen, aber er ist mit seiner eigen artigen Lebensweise wie mit einem Schützengraben verbunden. Es gibt nichts, was man in dieser Hinsicht unternehmen kann. Man könnte ihn ins Gefängnis stecken, aber dann hat man niemanden, der den Wa gen fährt. Wenn er ein Unteroffizier wäre, dann könnte man ihn fertigmachen, aber Mulligan hat bis her jeden Schritt seiner Vorgesetzten umgangen. Wenn die Empfehlung eingegangen war, wurde er ge nau zum richtigen Augenblick einer kleinen Übertre tung der Regeln für schuldig befunden – keiner be 157
deutenden, aber gerade genug, um seine Beförderung unmöglich zu machen. Sein Wagen ist bei der Inspek tion schmutzig. Mulligan bringt dann sechs Stunden Drill mit vollem Sturmgepäck hinter sich und ist für längere Zeit vor der Beförderung sicher. Mulligan hat fast alles, was er will – Frauen, Frei zeit, Reisen und Gesellschaft. Er will nur noch eines, und er denkt sich einen Weg aus, wie er es bekom men kann. Er hätte gerne einen Hund, vorzugsweise einen Scotchterrier, und er würde ihn gerne in sei nem Auto mitnehmen. Bislang hat er sich noch kei nen Plan ausgedacht, aber es steht schon jetzt fest, daß er nicht nur seinen Hund bekommen wird, son dern daß sein Offizier ihn füttern wird. Und wenn Mulligan abends ein Rendezvous hat, wird sich wahr scheinlich sein Offizier um den Hund kümmern und sich dabei auch noch sehr gut fühlen. Die Armee ist das perfekte Umfeld für diesen Mulligan. Es wäre dumm von ihm, sie zu verlassen. Und er ist nur sel ten dumm.
Kaugummi London, 6. August 1943 Die Schauerleute im Hafen sind alle alt. Das Durch schnittsalter liegt bei zweiundfünfzig Jahren, und die se Männer löschen die Schiffsladungen aus Amerika. Ihr Tempo scheint nicht rasch zu sein, aber die Fracht wird entladen und weggeschafft. Die einzigen 158
Männer auf den Docks, die vom Alter her eingezogen werden könnten, aber trotzdem keine Uniform tra gen, sind die Iren aus dem neutralen Freistaat, die keinen Militärdienst zu leisten brauchen. Sie bleiben unter sich; auch wenn sie ihre Neutralität begrüßen, ist es nicht angenehm, in einem Land, das sich im Krieg befindet, neutral zu sein. Sie fühlen sich als Außenseiter. Kleine alte Waliser mit harten, zerfurchten Gesich tern löschen die Ladung. Den riesigen Kran bedient ein ausgezehrter Mann. Er steht neben der offenen Luke und ordnet mit den Händen die Ladungstrage gurte, als ob er ein Orchester dirigierte. Handfläche nach unten bedeutet: Ladung nach unten. Handflä che nach oben läßt sie hochfahren, und an der Schnelligkeit der Bewegung erkennt der Kranführer, ob er schnell oder langsam fahren soll. Dieser Mann hat eine dünne, hohe Stimme, die aber trotzdem den Lärm der stampfenden Maschine und des kreischen den Getriebes durchdringt. Seine Finger flattern auf wärts, und die Lokomotive in den Gurten hebt sich in die Luft. Der Mann scheint sie mit seinen bloßen Händen über die Bordwand des Schiffes zu tragen. Die siebenundachtzig Tonnen der Lokomotive läßt er mit seinen Händen sanft auf die Gleise der Docks niedersinken. An einer unsichtbaren Grenze stehen die Kinder und beobachten, wie die Ladung aus dem Schiff ge hievt wird. Es ist ihnen nicht erlaubt, diese Grenze zu überschreiten, weil man befürchtet, sie könnten ver 159
letzt werden. Es sind mindestens hundert, die ein bißchen schäbig aussehen, wie jeder in England nach vier Jahren Krieg. Und auch nicht allzu sauber, denn sie haben auf dem Boden gespielt, der zum großen Teil aus Kohlenstaub besteht. Wie sie sich um einen amerikanischen Soldaten scharen, der gerade von Bord eines Schiffes gekommen ist! Sie wollen Kau gummi. So sehr auch die Briten die Angewohnheit des Kaugummikauens verachten, ihre Kinder finden sie wunderbar. Es gibt halbprofessionelle KaugummiBettler unter ihnen. Der Ruf »Ein Penny, Mister?« hat »Kaugummi, Mister?« Platz gemacht. Wenn man Kaugummi hat, dann besitzt man et was Dauerhaftes, etwas, das man Tag für Tag benut zen und dann verkaufen kann, wenn man keine Lust mehr darauf hat. Süßigkeiten sind vergänglich. Einen Augenblick hat man sie, und im nächsten sind sie weg. Aber Kaugummi ist ein echter Besitz. Die schmierigen kleinen Hände werden dem Sol daten hingehalten, und der Chor schwillt an: »Kau gummi, Mister?« »Ich habe keinen«, sagt der Soldat, aber sie schen ken dem keinerlei Beachtung. »Kaugummi, Mister?« schreien sie wieder und scharen sich dichter um ihn. Ein Steward kommt die Landebrücke vom Schiff her unter. Er ist ein bißchen beschwipst und landfein an gezogen. Er will sich ein paar schöne Stunden ma chen. Ein paar Kinder gehen zu ihm hinüber und stellen ihn auf die Probe. »Kaugummi, Mister?« fra gen sie. Der Steward grinst freundlich, zieht eine 160
Handvoll Münzen aus der Tasche und wirft sie in die Luft. Staub wirbelt auf und verdeckt das folgende Durcheinander, und als sich der Staub wieder legt, befindet sich der Steward auf der Flucht vor einer Meute Verfolger. Nur ein kleiner Junge ist bei dem Soldaten geblie ben – ein sehr kleiner Junge mit blondem Haar und grauen Augen. Er hält die Hand des Soldaten, und der Soldat errötet vor Freude. »Hast du einen Kaugummi für mich?« fragt der Junge. »Nein, kein einziges Stück.« »Gibt es viel Kaugummi in Amerika?« »O ja, eine ganze Menge.« Der kleine Junge seufzt tief. »Irgendwann werde ich mal hinfahren«, sagt er ernst. Die Meute kehrt langsam zurück. Sie haben ihr Opfer verloren und suchen nun ein neues. Dann wird die Abfallkiste über die Seite des Schiffes herunterge lassen. Sie ist vor lauter ausgepreßten Orangen ganz golden. Die Kinder zögern, denn es ist ganz gegen ih re Erziehung, Verbote zu übergehen. Aber die Versu chung ist zu groß. Sie können ihr nicht widerstehen. Sie überschreiten die imaginäre Grenze und stürzen sich auf die Abfallkiste. Sie drücken die Schalen aus, um auch noch den letzten Tropfen Saft zu erwischen. Ein Bobby kommt schnell herbei; sein hoher Hut läßt ihn einen halben Meter größer erscheinen, als er in Wirklichkeit ist. »Macht, daß ihr wegkommt, nun macht schon«, sagt er milde. 161
Die Kinder stopfen die Schalen in ihre Taschen und gehen dann gehorsam bis an ihre Grenze zurück; ihre Taschen aber sind prall vor Beute. »Das ist nicht in Ordnung«, sagt der Bobby. »Aber sie haben eben großen Hunger auf Orangen. Wirk lich. Ich habe schon seit vier Jahren keine Orange mehr gegessen. Das ist Gesetz; niemand über fünf Jahren kriegt eine Orange. Sie brauchen sie am meisten, verstehen Sie«, er klärt er.
Mussolini London, 9. August 1943 Das Schiff befand sich mitten auf dem Meer, als Mus solini zurücktrat. Gerüchte kursierten unter den Sol daten und der Besatzung und den Armeekranken schwestern, daß etwas Wichtiges geschehen sei. Dann kam von der Brücke die Bestätigung – »Mussolini ist zurückgetreten«. Fünf Tage lang beschäftigten sich die Menschen an Bord mit dieser Meldung, um in ih ren Gedanken und Hoffnungen damit zu spielen. Und der Verlauf war ungefähr so: Zwei Sergeants und ein Obergefreiter standen im Windschatten auf einem Schlauchboot. »Nun, Sie müssen zugeben, das sind gute Nachrichten, wenn sie stimmen«, sagte der Obergefreite. »Ja«, sagte der Technical Sergeant, »aber Sie wis sen, wie es ist, wenn ein Mann zurücktritt. Man tritt 162
ihm in den Hintern. Es muß eine Menge Leute ge ben, die den alten Mussolini ganz gerne mal treten würden. Ich wäre nicht überrascht, wenn er gar nicht mehr allzu lange leben würde.« »Sie haben recht«, sagte der Sergeant. »Ich möchte nicht gerne in Mussolinis Haut stecken.« Das Schiff pflügte durch die See, und der Geleit schutz blieb in der Nähe wie verängstigte Hühner … Ein Leutnant saß im Salon und unterhielt sich mit einer Armeekrankenschwester. »Eine Partie Rom mé?« fragte er. »Warum nicht«, sagte die Krankenschwester. Der Leutnant beugte sich zu ihr herüber. »Ein Ge freiter in meiner Einheit hat es genau mitbekommen. Irgend jemand hat den Duce abgemurkst.« »Wie meinen Sie das?« Der Leutnant mischte die Karten und schob sie zum Abnehmen herüber. »Sie haben ihn erwischt. Das meine ich. Ihm die Gurgel durchgeschnitten. Ich hoffe, er hat ein bißchen geblutet.« Die Krankenschwester sah nicht auf die Karten. Sie runzelte die Stirn. »Ich frage mich, ob er wirklich Macht hatte oder ob er nur eine Galionsfigur war.« »Warum? Welchen Unterschied macht das schon, wenn er tot ist?« »Nun«, sagte die Krankenschwester, »wenn er Macht hatte, dann werden die Faschisten mit ihm untergehen. Sie werden alle mit ihm getötet. Es wird eine Revolution geben. Das will ich damit sa gen.« 163
»Ich nehme an, Sie haben recht«, sagte der Leut nant. »Wollen Sie die Punktliste führen …?« Der Hauptmann lag in seiner Koje in der überfüll ten Kabine auf dem Rücken. Er sprach mit der Koje über ihm. »Das muß man diesen Itakern lassen«, sag te er. »Wenn die ein Ziel haben, für das sich ein Kampf lohnt, dann legen sie aber auch wirklich los.« Der Kopf eines Majors erschien über der Kante der oberen Koje. »Wovon reden Sie?« »Haben Sie noch nicht gehört? Nachdem Mussoli ni kaltgemacht worden ist, haben die Itaker revol tiert. Dort ist gerade die hübscheste Revolution im Gange, von der man je gehört hat. Rom ist ein einzi ges Durcheinander. Die Faschisten werden wie Rat ten gejagt.« »Guter Gott«, sagte der Major, »das wäre der rich tige Zeitpunkt für eine Invasion. Vom militärischen Standpunkt aus könnte es keinen besseren Augen blick geben. Ich frage mich, ob wir in der Lage wären, das zu machen.« Ein Steward bummelte im Korridor in der Nähe des Eisschrankes herum. Ein Mann des Küchenper sonals näherte sich verstohlen. »Bleib von den Erd beeren weg«, sagte der Steward streng. »Wir haben überhaupt keine Erdbeeren«, sagte der Anschleicher. »Die Krankenschwestern haben diese Erdbeeren vernascht, wie wir Italien vernaschen wer den. Ich habe von den Erdbeeren nichts abgekriegt.« »Sind wir denn schon in Italien?« »Schon in Italien? Haben Sie geschlafen? Wir sind 164
schon auf halbem Weg den Stiefel hinauf. In diesem Augenblick fährt die Militärpolizei Streifen in den Straßen von Rom, und die Itaker stecken sich Blu men ins Haar.« Der Hauptmann unterbrach das schläfrige Karten spiel. »Darauf müssen wir trinken«, sagte er. »Wer hat noch Whisky?« »Was soll denn das? Wir haben seit dem zweiten Tag auf See schon keinen Whisky mehr«, war die Antwort des Oberstleutnant. »Worauf trinkt ihr? Auf die Invasion Italiens?« »Invasion, Blödsinn. Italien ist in unserer Hand.« »Ich hab noch eine Flasche«, sagte der Oberstleut nant, kletterte über Beine hinweg und wühlte in sei ner Aktentasche herum. Sie standen zusammen, stie ßen mit den Gläsern an und schütteten den Whisky hinunter. Der Hauptmann wandte sich um und warf sein Glas aus dem Bullauge. »Das ist ein ziemlich be deutsamer Drink«, sagte er. »Ich will nicht, daß ein gewöhnliches Getränk in dieses Glas kommt.« Er spähte aus dem Bullauge. »Eine Möwe hat sich uns angeschlossen. Wir können nicht mehr weit von der Küste entfernt sein«, sagte er. Der Oberstleutnant sagte: »Wissen Sie, nachdem jetzt Italien draußen ist, wird es für Deutschland ziemlich hart, den Balkan unter Kontrolle zu halten. Die werden aus der Unterdrückung raus wollen. Ich wette, auch Griechenland wird revoltieren. Und die Türkei war fast bereit einzusteigen. Das könnte viel leicht der Anstoß sein, den man dort brauchte …« 165
Drei GIs saßen in einer vom Wind gebeutelten Höhle, die sie gebaut hatten, indem sie ihre Zeltbah nen zwischen ein Geländer, einen Schiffskran und ei nen Ventilator gespannt hatten. Sie beobachteten, wie die Schaumkronen vorbeiwogten. »Ich würde gerne dort sein, bevor es vorbei ist, Willie. Ich werde kaum eine Chance haben, etwas vom echten Kampf geschehen mitzubekommen, wenn wir uns nicht be eilen.« »Du wirst noch genug Kampf sehen, und du wirst noch viel Unheil anrichten, bevor deine Wehrzeit ab gelaufen ist, Freund.« »Ich bin mir da nicht so sicher. Wo diese Türken gerade wild werden, kann Deutschland nicht ewig durchhalten. Deutschland hat so viel zu tun, ich würde wetten, wir könnten sogar über den Kanal reinkommen. Es ist ein verdammt langsamer Kahn.« »Meine Herren«, sagte ein zwanzigjähriger Leut nant zu drei weiteren zwanzigjährigen Leutnants, »meine Herren, ich gebe Ihnen Paris.« »Mein alter Herr hat Paris im letzten Krieg einge nommen«, sagte einer der Herren. »Meine Herren«, sagte der erste Sprecher mit zit ternder Stimme, »wir haben den Kanal überquert. O mein Gott, o mein Gott! Wir sind drin.« Die drei faßten einander an der Hand wie bei ei nem brüderlichen Spiel. Und so kam das Schiff mit einem bereits durch kämpften und gewonnenen Krieg in den Hafen. Sie brauchten einige Zeit, um darüber hinwegzukommen. 166
Würfelspiel
London, 12. August 1943 Das ist eine von Mulligans Lügen, und sie betrifft ei ne Persönlichkeit namens Eddie. Mulligan war mit Eddie zusammen Soldat und kennt ihn gut. Nach und nach wird deutlich, daß Mulligan mit jeder wichtigen Persönlichkeit als Soldat gedient hat. Jedenfalls war dieser Eddie ein Falschspieler, aber von derart heiligem Charakter, daß seine Integrität beim Umgang mit Würfeln nie in Frage gestellt wur de. Eddie hatte eben nur Glück, soviel Glück, daß er die Würfel an einem Sonntag gegen die Wand werfen und sie halb über den Boden ihrer Unterkunft fliegen lassen konnte und immer noch einen Pasch würfelte. Aufgrund dieser Vorstellungen wuchs der Ver dacht, daß Eddie in der Gunst einer Macht stünde, die ein wenig über dem Menschen angesiedelt sei. Eddie wurde im Verlauf von einem oder zwei Jahren ein reicher und glücklicher Mann, nicht so glücklich in der Liebe, aber man kann ja nicht alles haben. Ed die behauptete, die Würfel könnten ihm jederzeit ei ne Frau besorgen, er hat aber nie eine Frau gesehen, die ihn einen Pasch würfeln lassen konnte. Wenn dies auch vielleicht saure Trauben für ihn waren, Eddie begnügte sich damit. Schließlich kam die Zeit, als Eddie und sein Re giment an Bord eines Schiffes gebracht wurden, das Kurs auf X nahm. Es war kein sehr großes Schiff, und es war sehr überfüllt. Decks und Kabinen und Gänge, 167
alles war überfüllt. Und zufällig lief das Schiff nach dem Zahltag aus. An diesem ersten Tag liegen zumindest zweihun dert Würfelspiele an Deck, und als Eddie sich einem anschloß, tat er es lustlos, nur um seine Hände warm zu halten und nicht zu ermüden. Er wußte, daß die bedeutendsten Sachen erst später kommen würden. Zwischen diesen Kinderspielen blies Eddie Trübsal und tat eine gute Tat oder zwei, um sich selbst in den Stand der Gnade zu versetzen, denn er wußte, daß er die später dringend brauchte. Er half einem leicht be schwipsten GI, einen Kleidersack zu tragen, und nahm dafür nur widerwillig eine Flasche Bourbon, die die gute Tat nach Eddies Meinung wieder aufhob. Er schrieb einen Brief an seine Frau, die er seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen hatte, und hätte ihn auch abgeschickt, wenn er nur eine Briefmarke gefunden hätte. Manchmal schlenderte er zum Deck zurück und nahm an einem kleinen Spiel teil, um sein Handge lenk geschmeidig und seinen Kopf klar zu halten, was aber nicht notwendig war. Eddie hatte eine Menge Geld. Er brauchte während des Vorgeplänkels keine Bank aufzubauen. Er hielt sich aus zwei Gründen aus dem spektakulären Spielen heraus. Erstens war es ei ne Zeitverschwendung. Es war mindestens genauso praktisch, das Geld in ein paar Hände kommen zu lassen, bevor er sich der Anstrengung unterzog, und zweitens zog Eddie zu einem solchen Zeitpunkt eine Position im Abseits und in der Anonymität vor. Es 168
gab auch noch einen anderen Grund. Das Schiff lief an einem Dienstag aus, und Eddie wartete auf den Sonntag, denn sonntags war er besonders heiß, eine Tatsache, die er einer sauberen und zurückgezogenen Lebensart zuschrieb. Einmal an einem Sonntag – und, wohlgemerkt, das geschah nach Mulligans Wor ten – hatte Eddie von einer Straßenbande in NeuMexiko eine kleine Dampfwalze gewonnen, und an einem anderen Sonntag hatte Eddie ein ganzes Camp ausgenommen und dann in seiner Demut 10 Prozent seines Gewinns für wohltätige Zwecke gespendet. Im Laufe der Woche nahm die Zahl der Spiele ab. Es gab weniger Spiele, und die Einsätze wurden grö ßer. Am Samstag liefen nur noch vier gute Spiele, und zu diesem Zeitpunkt begann Eddie sich dafür zu interessieren. Am Samstagmorgen spielte er noch lustlos, wurde aber am Nachmittag aktiver und stach zwei Spielrunden aus, denn die Zeit wurde knapp, und er wollte nicht, daß am nächsten Tag zu viele Spiele liefen. Um zehn Uhr erschien Eddie am nächsten Tag an Deck, sauber und gekämmt und bescheiden und mit ausbauchenden Taschen in seiner Feldjacke. Das Spiel hatte schon begonnen, aber es machten nur drei Männer mit. Eddie fragte unschuldig: »Jemand was dagegen, wenn ich für eine oder zwei Runden mit mache?« Die drei Spieler begutachteten ihn zynisch. Ein Pole mit einem blauen und einem braunen Auge gab eine grobe Antwort. »Moneten braucht man hier, Soldat«, sagte er, »wir spielen nicht mit Erdnüssen.« 169
Eddie ließ diskret das Ende einer Rolle Banknoten sehen, das aussah wie ein Rollbraten für ein Festes sen. Der Pole seufzte vor Glück, und die beiden ande ren, die weder bemerkenswert noch erfolgreich wa ren und in der Menge absolut nicht aufgefallen wä ren, rieben sich unwillkürlich die Hände, als ob sie ihre Finger warmhalten wollten. Eddie steckte seine Rolle so bescheiden weg, wie eine junge Frau die Trä ger eines Abendkleides in Ordnung bringt, das ei gentlich keine Träger hat. Er kniete sich neben die Decke und sagte: »Wie ist es mit dem Tarif?« Eine Wand von Zuschauern schloß sich hinter ihm. Eddie setzte dreißig von hundert ein. Der Pole wür felte, gewann und ließ den Einsatz liegen, und Eddie nahm einhundert von den zweihundert, und der Pole würfelte eine Sechs und gewann. Hinter dem dichten Kreis der Zuschauer konnte man das Geräusch von laufenden Füßen hören. Das würde ein richtiges Spiel werden. Das Schiff neigte sich ein wenig zur Seite, als GIs aus allen Richtungen angelaufen kamen, um we nigstens in der Nähe eines solchen Spieles zu sein, wenn sie es schon nicht direkt beobachten konnten. Die vierhundert lagen auf der Decke wie ein gro ßer Salat. Die beiden Männer, die ausstiegen, sahen Eddie an, und Eddie griff nach seiner Rolle, zählte vierhundert in kleinen Scheinen ab und legte sie schüchtern dazu. Der Pole starrte ihn mit seinem braunen Auge an und lächelte ihn mit seinem blauen Auge an; ein Trick, der ihm beim Pokern sehr gute Dienste geleistet hatte, bei einem Würfelspiel aller 170
dings wenig Wirkung hatte. Er blies auf die Würfel, sprach aber nicht mit ihnen. Er würfelte eine Acht und lächelte nun mit beiden Augen. Wieder blies er auf die Würfel und ließ sie aus der Rückhand rollen, um zu zeigen, wie leicht die ganze Sache war, und ei ne Vier und eine Drei sahen ihn an. Eddie atmete leicht, entspannt und seiner Sache si cher und zog den großen grünen Salat sanft auf seine Seite der Decke. Er zog weitere zweihundert aus sei nem Bündel, als ob es Toilettenpapier wäre, und legte sie auf die Decke. »Tausend«, sagte er, »alle oder hal be-halbe?« Der Pole nahm die Hälfte, und die beiden unbe kannten Männer teilten sich den Rest, und Eddie würfelte einen Pasch, eine Sechs und eine Fünf. »Las sen wir es liegen«, sagte er sanft. Nur der Pole hörte ihm zu. Er nahm die Würfel auf und betrachtete sie sorgfältig, um sicherzugehen, daß es diejenigen waren, die er selbst ins Spiel ge bracht hatte. Und dann beobachtete er Eddie, indem er mit beiden Augen schielte. Der Stapel Geld war mittlerweile zwanzig Zentimeter hoch und fiel aus einander wie ein loser Heuhaufen. Eddie summte ein bißchen vor sich hin, als er die Würfel rollen ließ, und eine Sieben blieb liegen. Der Pole schnaubte verächtlich. Eddie sagte: »Und laß das liegen, alles oder halbe-halbe für jeden.« Keiner atmete mehr auf dem Schiff, nur die Maschinen liefen noch. Münder standen offen. Gestalten verharrten wie er starrt in der dichten Menschenmenge, die um die 171
Decke herumstand. Nur hin und wieder wurde ein Wort darüber ausgetauscht, was gerade vor sich ging. Eddie finster anstarrend, kratzte der Pole den Rest seines Geldes zusammen. Eine ganze Woche sehr an strengender Arbeit lag auf der Decke, und der Einsatz war gemacht. Eddie war großartig. Er bewegte sich ungezwungen. Er schüttelte die Würfel nicht, klap perte nicht mit ihnen, sprach nicht mit ihnen, be schwor sie nicht. Er ließ sie einfach mit kindlichem Glauben ausrollen. Einen langen Augenblick starrte er verständnislos auf die Schlangenaugen, die ihn an starrten. Und dann verwandelte sich sein Ge sichtsausdruck in pures Entsetzen. »Nein«, sagte er, »irgendwas stimmt nicht. Ich gewinne sonntags, ich gewinne sonntags immer.« Ein Unteroffizier trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. »Mister«, sagte er, »Mister, wissen Sie, es ist nicht Sonntag. Wir sind rausgefahren und schon über der Datumsgrenze. Wir haben den Sonn tag verloren.« Auf jeden Fall ist das eine von Mulligans Lügen.
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Afrika
Ein Flugzeug für Afrika Ein nordafrikanischer Posten (Via London), 26. August 1943 Um neun Uhr morgens kommt eine Meldung, daß es mit der Versetzung nach Afrika geklappt hat. Man geht also zum Büro des Transportoffiziers. »Können Sie heute abend schon fliegen?« fragt er. »Sie müssen Ihr Gepäck bis drei Uhr abgeben. Sie werden sich bei der und der Adresse um sieben Uhr dreißig melden. Kommen Sie aber nicht zu spät.« Jetzt ist es Mittag. Man erledigt die tausend Sa chen, die bei einem Wechsel von einem Kontinent zum anderen notwendig sind. Man packt eine Tasche und verstaut die anderen Sachen, die man nicht mit nimmt, die warme Kleidung und die Papiere und die Bücher. Man ruft die Leute an, mit denen man noch verabredet war, und sagt ab. Um sieben Uhr dreißig trifft man bei der genann ten Adresse ein, und von da an ist der Verlauf der Sa che einem aus der Hand genommen, und alles geht glatt. Um Viertel vor acht steigt man auf einen Ar meelastwagen und wird zum Bahnhof gefahren. Ein Armeezug wartet schon. Diese Züge werden Geister züge genannt, denn sie haben kein festgelegtes Ziel. Alle möglichen Arten von Einheiten besteigen den Zug: Kampfeinheiten auf dem Weg zu ihren Schiffen; 173
Oberste, die nach Monaten im Feld nach Hause ge hen; Kuriere mit Taschen und Paketen voller Post. Die Kampftruppen tragen Pistolen und Messer und haben große Säcke mit Fliegerausrüstung bei sich. Es sind braungebrannte Offiziere, die in der Wüste ge dient haben, und sie sehen ein bißchen krank vor Er schöpfung aus. Eine Bomberbesatzung, die noch nicht im Kampf gewesen ist, ja noch nicht einmal im Flugzeug geses sen hat, seit sie nach Übersee gekommen ist, hat sich englisches Bier vorgenommen und es tatsächlich ge schafft, in einen Zustand lärmender Fröhlichkeit zu geraten. Die Signalpfeife ertönt, und alles strömt in den Zug. Es ist ein Zug mit Schlafwagen. Es gibt keinen Platz, wo man stehen und sich un terhalten könnte. Man geht also sofort zu Bett. Im Korridor lehnt sich die singende Besatzung aus dem Fenster und ruft Mädchen nach, als der Zug anrollt. Dann brechen sie in ›Home On the Range‹ aus, aber der Lärm des Zuges überdeckt ihren Gesang. Das Bier war nicht stark genug, um ihnen viel Auftrieb zu ge ben. Der verdunkelte Zug donnert durch die Nacht. Die Fenster sind geschlossen und schwarz angestri chen, so daß kein Licht nach außen dringen kann. Der Gesang bricht in sich zusammen, und die Besat zung zieht sich in ihre Abteile zurück. Um vier Uhr dreißig am nächsten Morgen klopft der Steward an die Tür, stellt eine Tasse Tee auf ein kleines Regal über dem Bett und geht wieder. Man trinkt schnell den Tee und rasiert sich, um rechtzei 174
tig um fünf Uhr den Zug zu verlassen. Es ist kalt und regnerisch. Man weiß nicht, wo man ist. Das haben sie dir nicht gesagt. Armeelastwagen warten, um die Leute zum Flugplatz zu bringen. Tiefe Regenpfützen stehen überall auf dem kleinen Bahnhof. Man klet tert auf einen Lastwagen, und nach kurzer Zeit ist man auf einem riesigen Flugplatz. Das ist einer der Flugplätze des Lufttransportkommandos, das Män ner und Material in alle Welt befördert. Kampfflug zeuge stehen auf dem ganzen Flugplatz verteilt, kaum sichtbar durch den Regen. Die C-54er stehen startbereit. Das ist ein großer und schöner Stützpunkt. Es gibt Clubräume, eine Bar und ein großes Restaurant. Draußen ist es kalt, und drinnen brennen in den Kaminen die glühenden Kohlen auf einem großen Haufen. Im größten Clubraum warten viele Leute darauf, abfliegen zu können. Es gibt Leute, die eine Woche hier sind, und ein paar Besatzungen, die ge rade erst angekommen sind. Ein Schallplattengerät spielt was von Dinah Shore. Die Männer schlafen auf den Sofas und warten auf ihren Abflug. Der Offizier der Meldestelle sagt: »Kommen Sie um ein Uhr dreißig zurück, und man wird Ihnen sa gen, wann Sie abfliegen.« Die nächste Stadt ist mehrere Kilometer entfernt. Die Besatzungen spazieren einige Zeit herum und gehen dann in das Clubhaus zurück, um ein ComicHeft zu lesen – ›Superman‹ oder so was. Sie lesen oh ne Begeisterung, aber mit großer Konzentration. 175
Der Offizier sagt: »Sie werden wahrscheinlich in acht Stunden fliegen«, und dann wieder das Umher wandern. Ein Flugzeug läßt die Motoren warmlau fen. Es fliegt nach Hause. Die Männer an Bord wer den morgen in New York sein. Selbst diejenigen, die erst vor kurzem rübergekommen sind, schauen diese Glücklichen sehnsuchtsvoll an. Kurz bevor sie an Bord gehen, werden sie umringt, und man gibt ihnen Botschaften mit. »Ruf meine Frau an und sag ihr, daß du mich getroffen hast. Hier ist ihre Telefonnum mer.« Es gäbe auch Briefe, die sie mitnehmen könn ten, aber das ist verboten. Die Männer, die nach Hause fliegen, schreiben tat sächlich die Nummern auf. Sie sehen ein bißchen be fangen aus, eben weil sie nach Hause dürfen, und doch auch sehr glücklich. Sie steigen in das große Flugzeug, und die Tür schließt sich. Es ist ein Flug zeug mit vier Triebwerken, und man muß eine lange Treppe hinaufsteigen, um hineinzukommen. Die kleine Menschenmenge steht am Eingang der Halle und beobachtet, wie es abhebt, und dann ist es schon im Regen verschwunden, fast noch bevor es über haupt vom Boden abgehoben hatte. Der Flugplatz ist plötzlich sehr einsam geworden. Die Männer kehren zu den Kohlenfeuern und den alten Zeitschriften zu rück; ›Esquires‹ und ›New Yorkers‹, Monate alt, und Ausgaben von ›Life‹ vom April und Mai. Der Offizier sagt: »Das Flugzeug nach Afrika wird in fünfzehn Minuten starten.« Man erwartet, das Flug zeug werde überfüllt sein, aber das ist nicht der Fall. 176
An Bord befinden sich nur eine kleine Kampfeinheit und zwei Zivilisten. Es ist eine C-54-A, das heißt, das Flugzeug hat Klappsitze und wird zu mehr als der Hälfte als Frachtflugzeug benutzt. Jetzt sammelt die Besatzung ihre Taschen und Fallschirme zusammen, legt die Gurte mit den Pistolen und Messern an. Sie sind ganz gleichgültig. Afrika bedeutet ihnen nichts. Eine Weile stehen wir zitternd im Regen, während unsere Namen aufgerufen werden. Dann klettert je der die Leiter hinauf und geht durch die Tür. Die Fenster des Flugzeuges sind nicht verdunkelt, wie es zu Hause der Fall ist. Es macht nichts, wenn man es sieht. Die große Tür wird zugeschlagen, und man kann hören, wie draußen die Motoren starten.
Algier Algier (Via London), 28. August 1943 Algier ist jetzt eine phantastische Stadt. Immer schon eine Stadt von seltsamer Mischung, ist sie durch den Zustrom britischer und amerikanischer Truppen und ihrer Ausrüstung in ein alptraumhaftes Durcheinan der gestürzt worden. Jetzt bahnen sich Jeeps und Mannschaftswagen ihren Weg durch Kamele und Pferdekarren. Der Sonnenschein ist blendend weiß in dieser weißen Stadt, und wenn keine Brise von der See her weht, ist die Hitze gewaltig. Die Straßen sind mit offenen Wagen, die mit frisch geernteten Trauben beladen sind, mit militärischen 177
Konvois, mit Arabern auf Pferden, mit Kanadiern, Amerikanern und Angehörigen der französischen Kolonialtruppen mit ihren hohen roten Hüten ge säumt. Uniformen in allen möglichen Farben und Farbkombinationen. Vielen der französischen Kolo nialtruppen hat man amerikanische Uniformen ge geben, weil sie keine eigenen hatten. Man kann nie wissen, wenn man auf amerikanischen Khaki zugeht, ob nicht ein Araber oder ein Senegalese darin steckt. Die Sprachen, die in den Straßen gesprochen wer den, sind faszinierend. Nur selten wird eine Unter haltung in nur einer Sprache geführt. Unsere Trup pen lassen sich nicht durch Sprachschwierigkeiten stören. Man kann also einen Soldaten antreffen, der sich in breitem Georgia-Dialekt mit einem Fremden legionär und einem in einen Burnus gekleideten Ara ber unterhält. Er spricht Georgia-Mundart und streut ab und zu schwerfällig ein französisches Wort ein, aber seine eigentliche Sprache ist die seiner Hände. Damit stellt er die Unterhaltung bis ins Detail sze nisch dar. Seine Freunde hören zu und beobachten ihn und antworten ihm auf arabisch oder französisch und äu ßern ihre Meinung durch Pantomime, und merk würdigerweise verstehen sie sich. Die gesprochene Sprache ist lediglich der tönende Hintergrund für die beachtliche Schauspielerei. Daraus entsteht ein Kau derwelsch von Gesten, die bereits eine feste Bedeu tung haben. Die Geste für einen Drink ist schon ein heitlich, und auch die Gesten für Freundschaft und 178
Wut und Liebe sind bereits zu einer festen Bedeutung geworden. Geld ist ein echtes Problem. Ein Franc ist zwei Cents wert. Es ist Papiergeld in Fünf-, Zehn-, Zwan zig-, Fünfzig-, Hundert- und Eintausend-FrancNoten. Das Papier, das benutzt wird, ist eine Art Löschpapier, das leicht zusammenklebt und zerreißt. Wenn man es in der Tasche trägt, wird es vom Schweiß leicht naß und klebrig und zerfällt, wenn man es herausnimmt, in den Händen oft in kleine Stücke. In einigen Geschäften wollen sie zerrissenes Geld nicht annehmen, und damit sind Soldaten be nachteiligt. Denn das meiste Geld, das ein Soldat be sitzt, ist nicht nur zerrissen, sondern auch aufge weicht und so abgenutzt, daß die Zahlen auf den Scheinen fast nicht mehr zu erkennen sind. Ein Bün del dieser Geldscheine fühlt sich wie eine Handvoll warmer, verwelkter Salatblätter an. Daneben gibt es noch amerikanische Banknoten, das sogenannte In vasionsgeld, das sich vom Geld zu Hause dadurch unterscheidet, daß ein goldenes Siegel auf die Vor derseite gedruckt ist. Diese Geldscheine fühlen sich kühl und beständig an, verglichen mit dem algeri schen Geld. Ein ganz neuer Touristenverkehr hat sich etabliert. Ein Soldat kann Körbe, schlechte Teppiche, Fächer und Gemälde auf Tuch kaufen, gerade wie auf Coney Island. Viele GIs mit dem Instinkt einer Elster wer den die Sachen nie nach Hause schaffen können, denn ihre Beutesammlung ist zu groß. Sie besitzen 179
neben farbigen Körben und Teppichen noch Erinne rungsstücke aus der Schlacht. Messer, Pistolen, Split terstücke von Granaten und Helmen. In jedem ein zelnen Fall denkt der Sammler an jemand zu Hause, wenn er etwas kauft. Großmutter würde dieser algeri sche Schal gefallen, und dieses italienische Bajonett wäre genau das richtige über Onkel Charleys Kamin, zusammen mit dem französischen Bajonett, das er aus dem letzten Krieg mitgebracht hat. Plötzlich wird der Befehl kommen, mit leichtem Kampfgepäck zu marschieren, und die verschiedenen Sammlungen müssen mit Instruktionen zur Weitersendung zu rückgelassen werden, die natürlich nie ausgeführt werden. Amerikaner sind große Sammler. Die näch ste Besatzung wird damit wieder von vorn anfangen. Um fünf Uhr nachmittags sind die Terrassen der Hotels völlig überfüllt. Das ist die Zeit, wenn sich die Menschen versammeln, um ein Glas zu trinken oder um einander zu sehen. Es gibt keine harten Getränke. Es gibt Bier, das aus Erdnüssen hergestellt wird und das auch einen starken Erdnußgeschmack hat. Der Wein ist gut und leicht und erfrischend, ein kleiner Schock für den Gaumen, der an Bourbon gewöhnt ist, aber annehmbar. Auf diesen Terrassen sitzen die Soldaten an klei nen Tischen herum und warten auf ihre Mädchen. Die französischen Frauen sind bemerkenswert ge pflegt. Ihre Schuhe haben dicke hölzerne Sohlen, sind aber sehr hübsch, und die wenigen Kleider, die sie besitzen, sind sauber und tadellos in Ordnung. Da es 180
wenige Mittel gibt, das Haar zu färben oder zu blei chen, scheint eine neue Mode aufgekommen zu sein. Eine einzelne Locke wird gebleicht und über die rest lichen ungebleichten Haare zurückgekämmt. Das hat eine seltsame und nicht unattraktive Wirkung. Gegen fünf Uhr findet auf den Straßen eine Inva sion von kleinen farbigen Jungen mit Zeitungsbün deln statt. Sie schreien: »Stahs’n Straipes. Stahs’n Straipes.« Die neue Ausgabe der Armeezeitung ist da. Das sind die einzigen Nachrichten, die die meisten Männer bekommen. In Wirklichkeit gibt es hier nur wenig Nachrichten. New York und London sind viel besser informiert als dieser Posten, der doch recht nah am Kampfgebiet liegt. Aber es scheint allgemein zuzutreffen, daß das Interesse des einzelnen an der umfassenden Lage abnimmt, je näher er dem Kampf gebiet kommt. Die Soldaten hier sind nicht so sehr am Verlauf des Krieges interessiert wie etwa die Soldaten in den Aus bildungslagern zu Hause. Hier sind die Qualität der Verpflegung in der Messe, die Feindseligkeiten mit dem Feldwebel und der Preis des Weins viel wichtiger als die Welt im Krieg. Es ist eine verrückte, fröhliche, traumhafte Stadt. Wahrscheinlich werden sich unsere Soldaten an sie als ein Gewirr von Farben und ein vielsprachiges Ge plapper erinnern. Die Hitze nebelt den Kopf ein we nig ein, so daß die Eindrücke verschwimmen und einander verwischen. Die Konturen sind nur noch unscharf. Es werden merkwürdige Erinnerungen 181
sein, wenn die Soldaten versuchen, ihre Eindrücke zu ordnen, um nach dem Krieg davon zu erzählen, und es wird überhaupt nicht merkwürdig sein, wenn sie dabei ein bißchen improvisieren.
Ein Uhrenbetrüger Ein nordafrikanischer Posten (Via London), 31. August 1943 Es war weit nach Mitternacht. Der Sergeant der Mili tärpolizei und sein Leutnant fuhren in einem Jeep auf der Sidi-Belle-Straße aus Oran heraus. Der Sergeant hatte den Griff eines Gewehrs aus dem Plexiglas des Bugs eines Bombers geschnitzt, und er hatte begon nen, in seiner Freizeit mit seinem Taschenmesser Fi guren hineinzuschneiden. Es war eine milde afrikani sche Nacht mit unglaublich vielen Sternen. Der Leut nant war ziemlich jung und vernünftig genug, sich zu einem guten Teil auf seinen Sergeant zu verlassen. Der Jeep sprang und ratterte über die Pflastersteine. »Fahren wir zu den Technikern und holen uns eine Tasse Kaffee und ein Sandwich«, sagte der Leutnant. »Biegen Sie an der nächsten Ecke ab.« In diesem Augenblick kam ein Waffentransporter mit fast einhundert Stundenkilometer vom Land in Richtung Stadt gedonnert. Er sauste an dem Jeep vor bei und bog an der Ecke auf zwei Rädern ab. »Du lieber Gott«, sagte der Sergeant, »soll ich hinter ihm her?« »Schnappen Sie ihn«, sagte der Leutnant. 182
Der Sergeant warf den Jeep herum und trat das Gaspedal durch. Als sie um die Ecke herum waren, konnten sie die Schlußleuchten in der Ferne sehen. Sie schienen dem Wagen schnell näher zu kommen. Der Waffentransporter wurde gestoppt und hielt ne ben einem Feld an. Der Jeep kam rutschend zum Stehen, und der Sergeant sprang – den Leutnant dicht hinter sich – aus dem Wagen. Drei Männer saßen in dem Waffentransporter, drei Männer auf dem Vordersitz. Sie waren ziemlich betrunken. Der Sergeant leuchtete mit seiner Ta schenlampe hinter die Sitze. Auf dem Boden des Lastwagens lagen zwei leere Weinflaschen. »Ausstei gen«, sagte der Sergeant. Als die Männer ausstiegen, durchsuchte er jeden einzelnen, klopfte die Hosenta schen und die Hosen unterhalb der Knie ab. Die drei Soldaten sahen ein bißchen heruntergekommen aus. »Wer hat den Wagen gefahren?« fragte der Leut nant. »Weiß ich nicht«, sagte ein kleiner dicker Soldat. »Hab ihn noch nie vorher gesehen. Er ist einfach rausgesprungen und weggerannt, als er Sie kommen sah. Hab’ ihn noch nie vorher gesehen. Wir gingen nur ein bißchen spazieren, und er fragte uns, ob wir nicht auf eine kleine Tour mit ihm kommen woll ten.« Der kleine dicke Soldat stieß die Worte hastig hervor. »Das ist erst mal genug«, sagte der Sergeant. »Sie brauchen Ihren Freunden das Alibi nicht vorzukau en. Wo haben Sie das Zeug rausgeworfen?« 183
»Welches Zeug, Sergeant? Ich weiß nicht, welches Zeug Sie meinen.« »Sie wissen ganz genau, was ich meine. Soll ich mich mal umsehen, Sir?« »Machen Sie nur«, sagte der Leutnant. Der Serge ant ging an den Rand des Feldes und ließ seine Ta schenlampe in den Stoppeln umherleuchten. Dann kam er zurück. »Kann nichts finden«, sagte er, und dann zu den drei Männern: »Wo habt ihr denn diesen Lastwagen her?« »Genau, wie ich Ihnen gesagt habe … dieser Soldat lud uns auf eine Tour ein, und dann sah er Sie kom men, sprang raus und rannte weg.« »Wie war sein Name?« »Weiß ich nicht. Wir haben ihn Willie genannt. Er hat gesagt, sein Name sei Willie. Hab ihn in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Aber er hat gesagt, er heißt Willie.« »Steigt in den Jeep«, sagte der Sergeant. »Ich habe die Schlüssel, Leutnant. Wir schicken jemand her, der den Lastwagen abholt. Nun macht schon, steigt in den Jeep ein.« »Aber wir haben doch nichts getan, Sergeant. War um nehmen Sie uns mit? Dieser Kerl Willie hat uns nur gefragt …« »Halt’s Maul und steig ein«, sagte der Sergeant. Die drei zwängten sich auf den Rücksitz des Jeeps. Der Sergeant setzte sich hinter das Steuerrad, und der Leutnant lockerte seine Pistole im Gurt und nahm auf dem kleinen Vordersitz Platz. Er hatte sich so ge 184
dreht, daß er die drei im Auge hatte. Nur der kleine Mann wollte reden. Der Jeep ratterte auf den dunklen Straßen Orans und fuhr zur MP-Station, setzte über den Bordstein und hielt, die Stoßstange knapp vor dem Gebäude. Drinnen wurde man durch die hellen Lampen geradezu geblendet, wenn man aus den ver dunkelten Straßen kam. Ein Sergeant und ein Oberstleutnant saßen hinter einem großen, hohen Schreibtisch und blickten die drei an, die vor ihnen aufgereiht waren. »Nehmt eure Erkennungsmarken ab und legt sie hier hin«, sagte der Sergeant. Er fing an, auf einem Block Notizen von den Daten auf den Erkennungs marken zu machen. »Legt alles, was ihr in euren Ta schen habt, in diese Schachtel.« Er schob eine Zigar renkiste an den Rand des Schreibtischs. »Aber das sind meine Sachen«, protestierte der kleine Mann. »Sie bekommen eine Empfangsbestätigung. Legen Sie die Sachen hier hinein und rollen Sie Ihre Ärmel hoch.« Die beiden Männer, die den kleinen Dicken beglei teten, waren still und wachsam. »Wer hat den Last wagen gefahren?« fragte der wachhabende Sergeant. »Ein Bursche namens Willie. Er ist rausgesprungen und weggerannt.« Der Sergeant wandte sich an die beiden anderen. »Wer hat den Lastwagen gefahren?« fragte er sie. Sie nickten beide mit dem Kopf in Richtung auf den kleinen dicken Mann, aber keiner von beiden 185
sprach ein Wort. »Ihr Schweinekerle«, sagte der klei ne dicke Mann ruhig. »Oh, ihr dreckigen Schweine kerle.« »Rollt eure Ärrmel auf«, sagte der Sergeant und dann: »Guter Gott, vier Armbanduhren. Sag mal, die hier ist eine GI-Uhr. Das ist Regierungseigentum. Wo haben Sie die her?« »Ich habe einem Kerl Geld darauf geliehen. Er wird sie wiederbekommen, wenn er es mir zurück gibt.« »Legen Sie Ihre Brieftasche hier hin.« Der kleine dicke Mann zog eine Brieftasche aus ro tem Saffian heraus und legte sie zögernd hin. »Ich will eine Empfangsbescheinigung. Das sind meine Er sparnisse.« Der wachhabende Sergeant am Schreibtisch schüt telte die Brieftasche aus. »Allmächtiger Gott«, sagte er und begann, die Berge von Geldscheinen zu zählen und machte sich Notizen auf dem Block. »Zehntau send algerische Francs und dreitausend amerikani sche Dollars«, sagte er. »Du trägst ganz schön was mit dir herum, was, Freundchen?« »Das sind meine Lebensersparnisse«, sagte der kleine dicke Mann klagend. »Ich will eine Empfangs bestätigung dafür, das ist mein Geld.« Der Leutnant hinter dem Schreibtisch wurde le bendig. »Schließen Sie die drei getrennt ein«, sagte er. »Ich werde mich mit ihnen unterhalten. Sergeant, schicken Sie ein paar Leute zu diesem Lastwagen raus, und befehlen Sie ihnen, das Gelände um den 186
Wagen herum abzusuchen. Sagen Sie ihnen, sie sol len nach Uhren, Elgin-Uhren* und Gl-Uhren su chen. Es wird ungefähr eine Schachtel in dieser Grö ße sein. Es müßten etwa tausend drin sein, wenn sie noch alle da sind. Die Araber zahlen vierzig Dollar dafür. Okay, sperren Sie diese Männer ein.« »Ein Kerl namens Willie«, beschwerte sich der dik ke Mann, »ein Kerl namens Willie hat uns zu einer Tour eingeladen.« Er sah die beiden anderen an, und sein weiches Gesicht sah giftig aus. »Oh, ihr drecki gen Schweinekerle«, sagte er.
Über dem Hügel Ein nordafrikanischer Posten (Via London), 1. September 1943 Sligo und der Junge nahmen ihren Urlaubsschein für 48 Stunden lustlos entgegen. Die Bars schließen in Algerien um acht Uhr, aber sie waren schon vorher ziemlich betrunken und nahmen dann noch eine Fla sche Wein mit und legten sich an den Strand. Die Nacht war warm, und nachdem die beiden die zweite Flasche Wein ausgetrunken hatten, zogen sie ihre Kleider aus, wateten in das stille Wasser hinaus, hockten sich dann hin und saßen dort nur noch mit ihrem Kopf über Wasser. »Ziemlich unangenehm, was, Junge?« sagte Sligo. »Es gibt Leute, die für solche * Elgin = Stadt in Illinois, bekannt u. a. für ihre Uhrenindustrie 187
Sachen ziemlich viel Kies bezahlen, und wir kriegen es umsonst.« »Ich wäre lieber zu Hause in der 10th Avenue«, sagte der Junge. »Dort wäre ich lieber als irgendwo anders. Ich würde gerne meine alte Dame sehen. Ich würde dieses Jahr gern die World-Series sehen.« »Du möchtest vielleicht einen Hammer in die Fresse haben«, sagte Sligo. »Ich würde gern zum Griechen gehen und mir ei ne doppelte Schokolade mit sechs geschlagenen Eiern holen«, sagte der Junge. Er tauchte kurz hoch, damit eine kleine Welle nicht in sein Gesicht schwappte. »Diese Stadt ist so einsam. Ich mag Coney.« »Zu viele Leute da«, sagte Sligo. »Diese Stadt ist so einsam«, sagte der Junge. »Da wir gerade von den Series sprechen, das würde ich gern selbst mal machen«, sagte Sligo. »Es passiert gerade in Zeiten wie diesen, daß ein richtiger Kerl mal so einfach abhauen will.« »Angenommen, du würdest abhauen, wo zum Teufel willst du hingehen? Da ist nichts, wo man hin gehen kann.« »Ich würde nach Hause gehen«, sagte Sligo. »Ich würde zu den Series gehen. Ich wäre der erste auf der Tribüne, wie schon damals 1940.« »Du könntest nicht nach Hause gehen«, sagte der Junge, »da ist keine Chance, nach Hause zu kommen.« Der Wein wärmte Sligo auf, und das Wasser war angenehm. »Ich hab Kies, und der sagt, daß ich nach Hause kann«, sagte er nachlässig. 188
»Wieviel Kies?« »Zwanzig Eier.« »Das schaffst du nicht«, sagte der Junge. »Willst du wetten?« »Klar, abgemacht. Wann zahlst du?« »Ich werde nicht zahlen, du wirst zahlen. Komm, gehen wir zum Strand und pennen wir ein bißchen.« An den Piers liegen die Schiffe. Sie hatten Lan dungsboote, Panzer und Truppen gebracht und lagen jetzt dort und nahmen den Schrott von den nordafri kanischen Schlachtfeldern auf, den sie zu den Hoch öfen bringen sollten, damit dort weitere Panzer und Landungsboote produziert werden konnten. Sligo und der Junge saßen auf einem Stapel Verpflegungs kisten und beobachteten die Schiffe. Den Hügel her unter kam ein Trupp mit hundert italienischen Ge fangenen, die nach New York gebracht werden soll ten. Einige der Gefangenen waren zerlumpt, und an dere trugen amerikanischen Khaki, weil ihre Kleidung an den falschen Stellen zu zerfetzt war. Kei ner der Gefangenen schien unglücklich darüber zu sein, nach Amerika verschifft zu werden. Sie mar schierten zum Landungssteg hinunter, standen in Gruppen zusammen und warteten auf den Befehl, an Bord zu gehen. »Sieh sie dir an«, sagte der Junge, »sie müssen nach Hause fahren, und wir müssen bleiben. Was machst du denn da, Sligo? Warum schmierst du denn deine ganze Hose mit Öl voll?« »Zwanzig Eier«, sagte Sligo, »und ich finde dich 189
und kriege auch das Geld aus der Wette noch.« Er stand auf, nahm seine Feldmütze ab und warf sie dem Jungen zu. »Da hast du ein Geschenk, Kleiner.« »Was hast du denn vor, Sligo?« »Komm mir bloß nicht nach, du bist zu dumm. Zwanzig Eier, und vergiß es nicht. Bis dann, auf der 10th Avenue.« Der Junge sah ihm verständnislos nach, als er weg ging. Sligo näherte sich in seiner schmutzigen Hose und mit zerrissenem Hemd langsam den Gefange nen, mischte sich dann unmerklich unter sie, stand mit unbedecktem Kopf da und blickte zu dem Jun gen zurück. Ein Befehl wurde zu den Wachen heruntergerufen, und sie trieben die Gefangenen auf den Landesteg zu. Sligos Stimme war zu hören. Er beklagte sich: »Ich hab’ hier nichts mehr zu tun. Sie mich nicht können stecken in diese Schiff.« »Halt’s Maul, Itaker«, knurrte ihn eine Wache an. »Interessiert mich nicht, ob du mal sechzehn Jahre in Brooklyn gelebt hast. Mach, daß du den Steg rauf kommst.« Er stieß den sich sträubenden Sligo den Landesteg hinauf. Und hinten auf dem Stapel Kisten beobachtete der Junge das alles mit Bewunderung. Er sah, wie Sligo an das Geländer trat. Er sah, wie Sligo immer noch protestierte und kämpfte. Er hörte, wie er schrie: »Ich Americano, americano Soldat. Ihr mich nicht hierher stecken können.« Der Junge sah, wie Sligo kämpfte, und dann konn 190
te er den endgültigen Triumph beobachten. Er sah, wie Sligo nach der Wache schlug, und er sah, wie sich der Knüppel der Wache hob und auf Sligos Kopf heruntersauste. Sein Freund brach zusammen und wurde fortgetragen, so daß er ihn nicht mehr sehen konnte. »Dieser Teufelskerl«, murmelte der Junge vor sich hin. »Dieser clevere Teufelskerl. Sie können ihm überhaupt nichts anhaben, und er hat auch noch Zeugen. Mensch, dieser Teufelskerl. Mein Gott, das ist zwanzig Dollar wert.« Der Junge saß lange Zeit auf den Kisten. Er verließ seinen Platz nicht, bevor das Schiff nicht abgelegt und die Schlepper es nicht von den Unterseebootnet zen weggezogen hatten. Der Junge sah, wie sich das Schiff dem Konvoi anschloß, und er sah, wie die Zer störer herankamen und den Konvoi unter ihren Schutz nahmen. Der Junge ging niedergeschlagen zur Stadt zurück. Er kaufte eine Flasche algerischen Wein und machte sich dann wieder auf den Weg zum Strand, um seinen Urlaubspaß ganz zu verschlafen.
Die Kriegsgefahr durch den »Short Snorter«-Club Irgendwo in Afrika (Via London), 2. September 1943 Die wachsende Zahl der Mitglieder des »Short Snor ter«-Clubs ist eine der größten Gefahren, die sich bis her aus dem Krieg entwickelt haben. Die Idee war als eine Art Scherz gedacht, zu einer Zeit, als nur sehr 191
wenige Menschen in einem Flugzeug über das Meer flogen. Es wurde damals bei den Besatzungen der Flugzeuge Brauch, ihren Namen auf eine Eindollar note zu schreiben, die den neuen Ozeanüberquerer zu einem Mitglied machte. Er sollte diesen Geld schein immer bei sich tragen. Er galt als Mitglieds ausweis des »Short Snorter«-Clubs. Falls er je gefragt werden würde, ob er ein »Short Snorter« sei und er seine Banknote nicht bei sich hätte, wäre er gezwun gen, allen anwesenden Mitgliedern einen Dollar zu zahlen. Das war dann ein toller Spaß, und außerdem hatte man immer jemanden, der die Drinks bezahlen mußte. Aber dann kam der Krieg und mit ihm der Bau von Tausenden von Flugzeugen und der Transport von Tausenden von Männern nach Übersee, und je der einzelne wurde ein »Short Snorter«. Mittlerweile gibt es Hunderttausende »Short Snor ters«, die über den Atlantik geflogen sind. Und es gibt weiterhin Hunderttausende, die unterschriebene Geldscheine bei sich tragen. Und der neue Typ des »Short Snorters« geht viel weiter, als seinen Geld schein von der Crew unterzeichnen zu lassen, die ihn bei seinem ersten Transatlantikflug herübergebracht hat. Es ist jetzt Brauch, den Geldschein von jedem unterzeichnen zu lassen, dem man über den Weg läuft. An einer Bar bittet man seinen Trinkgenossen, den Schein zu unterschreiben. Man bittet Generäle und Schauspieler und Senatoren, die Banknote zu unterschreiben. 192
Für die wachsende Anzahl von Unterschriften war ein Geldschein bald nicht mehr groß genug. Man zog eine weitere Banknote hervor und klebte sie mit Kle bestreifen an die erste. Dann wurde die Sache noch weiter getrieben. Man begann Geldscheine aus ande ren Ländern zu sammeln. An die amerikanische Dol larnote klebte man einen englischen Ein-PfundSchein, daran eine algerische Fünfzig-Franc-Note und daran wiederum einen Hundert-Lire-Schein. Überall, wohin man reiste, klebte man einen Geld schein an die wachsende Kette von »Short Snorter« Noten. Mittlerweile gibt es Leute, die Papierschlan gen von drei bis vier Meter besitzen, die gefaltet und gerollt ein riesiges Bündel in der Tasche abgeben, und diese Papierfahnen sind mit Tausenden Namen bedeckt und stellen daneben noch einen beträchtli chen Geldbetrag dar. Sogar das Ein-Dollar-Original verschwindet. Viele neue »Short Snorters« benutzen Zwanzig-DollarScheine und manche sogar Hundert-Dollar-Scheine. Das sind die neuen Autogrammhefte. Der ur sprüngliche Scherz ist verschwunden. In Bars, auf Flughäfen, in Clubs ist der Austausch von Unterschrif ten das allererste, was getan werden muß. Ernsthafte und intelligente Herren unterzeichnen die jeweiligen Geldscheine absolut humorlos. Wenn die Gruppe ziemlich groß ist, kann es unter Umständen eine Stunde dauern, bis jeder jeden Geldschein unter schrieben hat. In der Zwischenzeit wird die Suppe kalt. Es gibt Vorzugsplätze auf dem Geldschein für ver 193
ehrte und hochgeschätzte Autogramme. Der kleine Fleck unter Morgenthaus Namen ist ein solcher. Die breite Stelle neben dem Porträt auf dem Schein ist ein weiterer. Wenn man ein Autogramm bekommt, das man anderen zeigen möchte, dann läßt man es auf einen freien Platz schreiben, aber wenn es nur eine der Durchschnittsunterschriften ist, dann wird sie auf irgendeine Stelle im grünen Teil gesetzt, wo sie kaum auffällt. Es ist eine wahnsinnige, ernste, irre Sache. Würdevolle Männer balgen sich um Auto gramme auf ihren »Short Snorter«-Banknoten. Manchmal wird sogar eine besondere Schachtel, ge wöhnlich aus Zellophan, mitgeführt, in der die Note oder die lange Papierfahne aufbewahrt wird. Denn diese Schätze werden so oft in die Hand genommen, daß sie in Stücke fallen würden, wenn man sie nicht schützt. Der Aufwand an Mühe und Zeit für diese merk würdige Sache ist unwahrscheinlich. Unterhaltungs künstler, die herumreisen und unsere Truppen besu chen, unterzeichnen buchstäblich Tausende von Geldscheinen. Denn mittlerweile brauchen Leute keinen Ozean mehr zu überqueren, um Mitglied zu werden. Nach der neuen Methode kann jeder »Short Snorter« jede andere Person zu einem »Short Snor ter« ernennen. Der Club wird pyramidenförmig im mer größer. Wahrscheinlich gibt es jetzt zehn Millio nen »Short Snorters«, und jeden Tag kritzeln weitere Tausende auf Banknoten herum. Es wäre interessant zu wissen, wie viele Geldscheine aus dem Umlauf ge 194
zogen werden, um als Autogrammhefte verwendet zu werden. Die Zahl muß in die Millionen gehen. Die Benutzung großer Geldscheine als »Short Snorter«-Banknoten folgt einer merkwürdigen Logik. Ob Mann oder Frau, wer eine Zwanzig- oder Hun dert-Dollar-Note benutzt, hat das Gefühl, daß er die ses Geld wegen der Unterschriften nicht ausgeben wird, es im Notfall doch tun kann. So hat er einen Notgroschen oder auch einen Schatz. Er wird es nicht auf die Theke werfen oder in einem Würfelspiel ein setzen. Wenn er aber wirklich einmal in Schwierig keiten kommen sollte, dann hat er dieses Geld bei sich. Sehr merkwürdige Bräuche entstehen in einem Krieg, und sicherlich ist noch keiner in letzter Zeit an die Öffentlichkeit gedrungen, der merkwürdiger wäre als dieser.
Der Schrottplatz Ein nordafrikanischer Posten (Via London), 5. September 1943 Am Rande einer nordafrikanischen Stadt gibt es ei nen großen Panzerfriedhof. Dort stehen nicht nur al te Panzer. Es ist ein gigantischer Schrottplatz, auf den zerschossene Panzer, Lkws und Geschütze gebracht und geparkt werden, um dann überholt zu werden. Da sieht man Sherman’s-Panzer mit zusammenge schossenen Türmen und gebrochenen Ketten oder 195
mit defekten Motoren. Da finden sich Lastwagen, die in Granatlöcher gefallen sind. Da sind Hunderte be schädigter Motorräder und viele funktionsunfähige und ausgebrannte Geschütze – die Überbleibsel aus Monaten erbitterter Kämpfe in der Wüste. Am Rand dieses großen Friedhofs befinden sich die Reparatur- und Umbauwerkstätten. Inspekteure der Armee arbeiten sich durch Unmengen zerstörten Materials. Sie sehen sich jedes einzelne Stück an und kennzeichnen es mit einem Etikett. Vielleicht wird dieser Panzer mit einem sauberen Durchschlag einer deutschen 8,8 bald wieder im Kampf sein. Mit einem Turm von dem Panzer gleich daneben, dem die Ket ten weggeschossen wurden. Die meisten Panzer wer den wieder einsatzbereit sein, aber diejenigen, die nicht mehr zu reparieren sind, liefern immer noch Ersatzteile für die Panzer, die funktionstüchtig sind. Das ist wie bei den Gebrauchtwagenhändlern in ame rikanischen Städten, wo man zu einem geringen Preis eine Kupplung oder ein Rad kaufen kann, damit der Wagen wieder läuft. Die Motoren werden aus den zerstörten Lastwagen herausgeholt und auf die Montagebänder gelegt. Hier werden Fahrzeuge vollständig überholt, die Zylinder ausgeschliffen und neue Ringe eingesetzt. Tests wer den durchgeführt, und schließlich geht es in die Lak kiererei, wo die Fahrzeuge mit grüner Farbe neu ge spritzt werden. Gehäuse, Getriebe und Kupplungs scheiben werden mit Dampf gereinigt, kontrolliert und in Behälter gelegt, um dann als Ersatzteile ver 196
fügbar zu sein. An einer Seite des Schrottplatzes tür men sich reparierte Reifen auf. Hunderte Männer ar beiten auf diesem Schrottplatz und reparieren das zerstörte Material. Hier steht fast ein halber Hektar voller kaputter kleiner Artilleriegeschütze, 20- und 37-mmPanzerabwehrkanonen. Mit einigen von ihnen ist so lange gefeuert worden, bis ihre Rohre ausgebrannt sind. Einige von ihnen haben nur einen geplatzten Reifen oder einen verbogenen Lafettenschwanz. Die werden ausgesondert und zur Reparatur vorbereitet. Die Rohre werden durch neue ersetzt, und die alten kommen zum Schrott. Wenn alle brauchbaren Teile genutzt worden sind, bleibt immer noch ein großer Haufen verbogenen Stahls, der nur noch als Schrott zu brauchen ist. Aber die Schiffe, die der Armee von zu Hause Nachschub bringen, fahren auch wieder zu rück. Sie werden mit diesem Schrott beladen, der für die Herstellung von neuem Stahl für neues Kriegsge rät gebraucht wird. Es ist interessant zu beobachten, wie die gleichen Amerikaner, die ein paar Monate vorher in einer kleinstädtischen Werkstatt an Motoren herumbastel ten, jetzt am Motor eines (General-)Grant-Panzers herumfummeln. Und der Mann selbst hat sich nicht verändert. Er ist immer noch der eifrige Mann, der sich gut mit Motoren auskennt. Er ist nicht einmal sonderlich anders gekleidet, denn die Drillichanzüge sind den Overalls, die er jahrelang getragen hat, recht ähnlich. Neben diesen Männern arbeiten die Franzo 197
sen und Araber. Sie lernen von unseren Männern, wie man den Maschinenpark pflegt, damit sie ihn später benutzen können. Sie lernen schnell, aber oh ne viele Worte, denn die meisten unserer Männer beherrschen die Sprache der Männer nicht, die ihnen helfen. Es ist eine Ausbildung mittels Zeichensprache, und das scheint sehr gut zu funktionieren. Das zerstörte Kriegsgerät kommt in Strömen von den Schlachtfeldern herein. Der moderne Krieg geht mit seinem Material sehr rauh um. Während in die sem Krieg weniger Männer fallen, wird mehr Kriegs gerät denn je zerstört, denn hier kämpft eher eine Waffe gegen die andere als ein Mann gegen den an deren. Doch in den Fahrzeugen findet man viele traurige kleine Spuren. In diesem Panzer, der von einer Gra nate getroffen worden ist, sieht man einen Blutsprit zer auf der Stahlseite des Turmes. Und in diesem ausgebrannten Panzer ein großes Stück versengten Stoffes und einen verkohlten und gewellten Schuh. Das Innere der Panzer ist voll von den Spuren der Männer, die ihn gefahren haben; gekritzelte Notizen an den Wänden, eine Telefonnummer, die Zeich nung eines Profils auf der stählernen Schutzplatte. Wahrscheinlich hat jedes einzelne Fahrzeug in der ganzen Armee einen Namen, gewöhnlich der Name eines Mädchens, aber manchmal auch einen trotzi gen Namen wie ›Hunnen-Jäger‹. Der wurde schwer getroffen. Und da ist ein Panzer ohne Kette und ohne den ganzen oberen Teil des Turmes, der von einer 198
schweren Granate weggeschossen worden ist, aber vorn kann man auf dem Rand immer noch den Na men lesen. Er wurde ›Lucky Girl‹ genannt. Mit jedem dieser Vehikel, die hier auf dem Schrottplatz liegen, ist eine interessante Geschichte verbunden, aber in vielen Fällen ist die Geschichte mit dem Fahrer und der Besatzung gestorben. An den Rohren der Kanonen sind kleine Etiketten befestigt. Auf einem steht: »Der Rückstoß schlägt seitlich aus. Macht mir verdammt Angst.« Und ein anderes sagt: »Mit dem Ding kann man nicht mal mehr eine Scheune treffen.« Und nach kurzer Zeit werden diese Kanonen, funktionstüchtig und mit Tarnfarbe gestrichen, wieder zurück auf dem Kriegs schauplatz sein. Überall auf dem Schrottplatz hört man Hämmern und das Zischen der Schweißgeräte und das Pfeifen der Dampfleitungen. Die Männer sind bis zur Hüfte nackt, denn sie arbeiten unter der heißen afrikani schen Sonne, und ihre Haut ist fast schwarz ge brannt. Die kleinen Kräne sausen geschäftig herum, transportieren Ersatzteile, lagern Motoren und rei ßen die hoffnungslosen Fälle auseinander, um an die noch brauchbaren Teile heranzukommen.
199
Italien
Truppenübung Irgendwo auf einem Kriegsschauplatz im Mittelmeerraum, 29. September 1943 Amerikanische Truppen trainierten an den Stränden Nordafrikas für den Einsatz in Italien. An Land war es heiß und staubig, und landeinwärts gab es eine Menge Übungsrequisiten, mit denen die Männer ar beiten konnten. Da waren hölzerne Landungsboote, in denen staubige Männer kauerten, bis auf ein Si gnal hin die Rampe niedergelassen wurde und sie herausrannten und in Deckung gingen. So schnell wie möglich an Land zu kommen und so schnell wie möglich hinter einem Erdhügel in Deckung zu gehen, wo dich die Maschinengewehre nicht mehr erreichen können, ist bei einer Landung eine wichtige Sache. Und das übten sie wieder und wieder, und anstatt naß zu werden, wirbelten sie nur Staubwolken auf, den leichten rötlichen Staub Afrikas, in seiner Farbe ein wenig wie der rote Boden Georgias. Und als die Männer gelernt hatten, herauszusprin gen und weiterzurennen und in Deckung zu gehen und dann wieder vorwärts zu laufen und dabei von den beobachtenden Offizieren so wenig wie möglich gesehen zu werden, gingen sie zu dem Szenenaufbau hinüber, wo sie lernen sollten, wie sie sich zu verhalten haben, wenn sie in eine feindliche Stadt eindringen. 201
Szenenaufbauten wie diese gab es in den Holly wood-Studios zur Stummfilmzeit: hölzerne Fassaden und hohe und niedrige Gebäude mit offenen Fen stern und schmalen Straßen. Und da lernten die Männer, wie sie um eine Ecke kriechen und wie sie in der Deckung von Wänden schleichen sollten. Sie lernten mit Übungsgranaten, wie man ein Maschi nengewehrnest in einem Haus aushebt. Es war selt sam, sie proben zu sehen, als ob es sich um ein Schauspiel handelte. Das dauerte Wochen. Und wenn sie sich an die Methode gewöhnt hatten und fast schon instinktiv reagierten, wurden sie schließlich an die Küsten des Mittelmeeres gebracht, an die langen weißen Strände, die den Stränden von Salerno gar nicht so unähnlich waren. Das Wasser ist dort unglaublich blau, und die Strände sind weiß. Und das Wasser ist sehr salzig. Man treibt wie ein Korken darauf. An den Stränden übten sie mit echten Landebooten. Die Mannschaften fuhren auf das Meer hinaus, machten dann kehrt und probten einen An sturm auf die Küste. Die eisernen Rampen polterten herunter, die Männer rannten an Land und krochen und schlängelten sich ihren Weg zu der Linie am Strand hin, wo die Weinreben begannen, denn auch in Italien gibt es Weingärten. Wenn sie einige Zeit geübt hatten, wurde mit Ma schinengewehren mit scharfer Munition über ihre Köpfe weggeschossen, aber nicht sehr hoch über ihre Köpfe, damit sie lernten, geduckt zu bleiben. Jetzt stürzten sie in größeren Gruppen zum 202
Strand, rannten auf die Weinreben zu, krochen durch die Weingärten und weiter landeinwärts. Eine verblüffende Anzahl Männer kann in einem Wein garten verschwinden, so daß man sie nicht mehr se hen kann. Die dunklen algerischen Weintrauben waren reif, und während sie herumkrochen, pflückten und aßen die Männer sie, und die Fülle von GI-Ruhr nahm drastisch zu. Trotzdem gibt es keine Möglichkeit, ei nen verstaubten, durstigen Mann davon abzuhalten, reife Trauben zu essen, besonders dann, wenn sie di rekt über seinem Kopf hängen, während er unter ih nen durchkriecht. Wieder und wieder nahmen sie diesen kleinen Sektor ein, kletterten die Dünen hinauf und besetzten die Höhen. Sie mußten es bei Tag lernen und üben; der wirkliche Angriff würde in der Dunkelheit des frühen Morgens stattfinden. Aber nachdem die tägli che Ausbildung beendet war, gingen die Männer an den Strand zurück, zogen ihre Kleider aus und ver gnügten sich im Wasser. Das Wasser war warm und angenehm, und das Salz biß in den Augen. Ihre Kör per wurden jeden Tag brauner, bis sie nur noch ein wenig heller als die Araber aussahen. Nachts waren sie sehr müde, und es gibt in Afrika – schon gar nicht nach Einbruch der Dämmerung – nicht sonderlich viel zu tun. Man mag die Araber nicht. Sie sind das schmutzigste Volk der Welt und auch das übelriechendste. Die ganze Landschaft riecht nach Urin, viertausend Jahre Urin. Das ist der 203
charakteristische Geruch von Nordafrika. Den Män nern war nicht gestattet, in die Städte der Eingebore nen zu gehen, weil man sich dort eine ganze Menge Krankheiten zuziehen konnte. Und davon abgesehen gibt es zu viele religiöse Regeln und Vorurteile, mit denen ein harmloser Landser in Konflikt geraten kann. Man konnte auch nicht viel kaufen, und das, was es zu kaufen gab, kostete zuviel. Die Preise sind beim Eintreffen der Truppen in die Höhe geschnellt. Die Männer schliefen in ihren Zweimannzelten, zogen ihre Moskitonetze über sich und kratzten und fluchten die ganze Nacht, bis sie nach einiger Zeit zu müde zum Kratzen und Fluchen wurden und augen blicklich einschliefen, sobald sie sich ausgestreckt hatten. Ihr Verstand und ihre Körper wurden einer Maschine ähnlich. Sie redeten nicht über den Krieg. Sie sprachen nur von zu Hause und von sauberen Betten mit weißen Laken, und sie sprachen von Eis wasser und Eiskrem und Gegenden, die nicht nach Urin rochen. Die meisten von ihnen ließen ihre Phantasie auf Schneebänken und den Winterstürmen in den Staaten des Mittleren Westens verweilen. Aber der rote Staub blies über sie hinweg und verkrustete ihre Haut, und nach einer Weile konnten sie ihn nicht mehr abwaschen. Der Krieg hatte sich auf ihre eigene kleine Gruppe von Männern und ihren eige nen Job konzentriert. Es wäre eine Lüge, andeuten zu wollen, sie wären gerne dort. Sie wünschten alle, sie wären irgendwo anders.
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Irgendwo auf einem Kriegsschauplatz im Mittelmeerraum, 1. Oktober 1943 Woche für Woche wurde die Invasion geübt und ge wann Schwung, je näher der Tag rückte. Landungs operationen und Durchbrüche, heimliches Vorrücken und schnelle Attacken. Die ganze Sache lief nach und nach immer schneller ab, je näher dieser Tag rückte. Die Straßen hinter der Küste waren von hin und her rasenden Mannschaftswagen verstopft. Die Au topisten waren von Lastwagen gesäumt, die mit un terschiedlichstem Kriegsmaterial für die Invasion Ita liens vollgepackt waren. Für eine moderne Armee sind tausend Dinge notwendig, und aufgrund des schwierig zu organisierenden Nachschubes ist eine moderne Armee eine schwerfällige Angelegenheit. Einmal entworfene Pläne können nicht einfach geän dert werden, denn bei jeder Bewegung der Kampf truppen laufen hinter den Linien Hunderte Bewe gungen parallel ab. So zum Beispiel der Transport von Lebensmitteln und Munition und Lastwagen, die an einem bestimmten Punkt rechtzeitig ankommen müssen. Wenn das ganze große, schwerfällige Tier sich nicht mit vollkommener Koordination bewegt, ist es sehr wahrscheinlich, daß es sich überhaupt nicht bewegen wird. Moderne Kriegführung ähnelt dem Fließband in einer Autofabrik. Wenn ein Bolzen in der ganzen Maschinenanlage nicht an der richti gen Stelle sitzt oder nicht verfügbar ist, muß das gan ze Fließband anhalten und auf Ersatz warten. Impro visation ist nicht möglich. 205
Und überall in den Übungszonen in Nordafrika wurden die Übungen fortgesetzt, um sicherzustellen, daß jeder Bolzen an seinem Platz ist. Die Männer wurden auf Feldration gesetzt, um sie daran zu ge wöhnen. Die Feldflaschen müssen immer voll sein, aber voll von dem schlechtschmeckenden, desinfi zierten Wasser, das den Mund zwar befeuchtet, aber sonst kaum Genuß verschafft. Während die Männer an den Stränden den letzten Schliff bekamen, wurde das Kriegsmaterial zusam mengezogen. In großen Häfen, deren Namen nicht erwähnt werden dürfen, wurden Transport- und Landefahrzeuge aller Art konzentriert. Sie krochen an die Piers heran und öffneten ihre Bugklappen, nah men Panzer und beladene Lastwagen in ihren Bauch, glitten dann aus dem Hafen hinaus, lagen vor der Küste vor Anker und warteten auf den Tag X und die Stunde X, die nur sehr wenige in der gesamten Ar mee kannten. Auf den Frachtern hievten Kräne vollbeladene Last wagen und Zweieinhalb-Tonnen-Schwimmkampfwa gen, die vielleicht Amerikas eigentliche Geheimwaffe in diesem Krieg sind, an Bord. Schwimmkampfwagen – das sind große Lastwagen, die die Strände herunter poltern, ins Wasser fahren und sich in Boote verwan deln können, oder Boote, die beladen an den Strand kommen, herausklettern und als Lastwagen über die staubigen Straßen fahren. In den Häfen lagen ganze Gruppen wartender Schiffe, Panzer- und Truppenlandungsfahrzeuge aller 206
Art. Die Landungsfahrzeuge kamen zum Strand, spuckten ihre Ladung aus und fuhren zurück, um die nächste zu holen. Und auf den Piers schafften arabi sche Arbeiter Hunderttausende von Kisten mit Kon servenrationen zu den Leichtern, die dann hinaus fuhren und die Schiffe mit Lebensmitteln für die Sol daten füllten. Die Flotten wuchsen an, bis sie die Hä fen fast verstopften. Jetzt wußte auch der Feind, was vor sich ging. Er mußte es einfach wissen. Die Operation war zu groß, als daß er es nicht wissen konnte. Sie schickten ihre Flugzeuge über den Hafen, um die sich sammelnden Flotten zu bombardieren, und sie wurden vertrieben und von den Beaufighters und den P-38ern vernichtet. Sie schafften es nicht, Schaden anzurichten, denn der Feind hatte die Luftherrschaft bereits verloren, und die Flotten konnten schließlich in aller Ruhe laden. Aber nachts versuchten sie immer wieder durch zukommen, und die Flak machte sie am Himmel aus, wie sie es in der Geschichte am 4. Juli schon immer getan hatten. Und die Schiffe und Küstenbatterien bauten eine Wand von Geschossen gegen die ein dringenden Flugzeuge auf, so daß einige von ihnen ihre Bomben in der offenen Landschaft abwarfen, andere mit ihren eigenen Bomben explodierten und wieder andere in die See stürzten. Aber sie hatten die Luftherrschaft verloren. Jetzt rückte der Tag X näher, und in der Kom mandostelle sammelten sich die Offiziere und hielten Konferenz auf Konferenz ab, und man spürte eine 207
wachsende Spannung in der gesamten Organisation. Stabsoffiziere stürzten zu ihren Einsatzbesprechun gen und eilten dann zu ihren Einheiten zurück, um ihre Untergebenen einzuweisen. Man hätte leicht schließen können, wie nahe der Tag X war, allein aufgrund des Tempos. Und dann war plötzlich alles bereit, und eine merkwürdige Ruhe breitete sich über die ganze Invasionsstreitmacht aus. Irgendwo wurde ein Befehl gegeben, und noch in der Nacht bewegten sich die Schiffe auf ihre Treff punkte zu. Und in der Nacht kletterten endlose Rei hen von Männern auf die Lastwagen, und die Last wagen fuhren an die Piers und zu den Schiffen her unter. Die Männer krochen wie Ameisen an Bord und setzten sich auf ihre Ausrüstung. Die Truppen schiffe bewegten sich dann zu ihrem Treffpunkt, um dort auf den Augenblick der Abfahrt zu warten. Es war kein Beginn mit Fanfaren und Flaggen oder jubelnden Männern. Die Funkgeräte knisterten ihre kodierten Funksprüche durch. Botschaften gingen von den Funkräumen an die Brücken der Schiffe. Die Informationen wurden an die Maschinenräume wei tergegeben, und die großen Konvois liefen auf die hohe See aus. Auf den Decks der Truppenschiffe und auf dem flachen Boden der Landungsboote saßen die Männer auf ihren massigen Bergen an Ausrüstung und warte ten. Die Lastwagenfahrer saßen in ihren Lastwagen auf den Schiffen und warteten. Die Panzerfahrer hiel ten sich ganz in der Nähe ihrer eisernen Monster auf 208
und warteten. Die Schiffe begaben sich an ihre Posi tion in der Formation, und die Zerstörer eilten an ih re Positionen an den Flanken vor und hinter den Schiffen. Außer Sichtweite durchkämmten die Kampfschiffe den Ozean in alle Richtungen nach Un terseebooten, und die Horchgeräte bemühten sich, Geräusche aufzufangen, die anzeigten, daß sich ein stählerner Feind nähert. Über dem Konvoi hingen die silbernen Ballons im südlichen Sonnenlicht, Ballons, die die Stukas abhal ten sollten. Und dann ging die Sonne unter. Die Bal lons fingen die Sonne noch eine halbe Stunde auf, nachdem sie schon hinter der Wasseroberfläche des Meeres verschwunden war. Jetzt herrschte Funkstille, die Dunkelheit kam, und der große Konvoi kroch auf Italien zu. Die See war ruhig, und höchstens ein ganz empfindlicher Magen konnte sich unwohl fühlen. Es war kein Licht zu sehen, aber ein fahler Mond warf ein düsteres Licht auf die Schiffe, und die lang samen Wellen unterbrachen den Weg des Mondes auf dem Ozean. Die Kampftruppen saßen auf ihrer Ausrüstung und warteten. Das war es. Darum war es immer ge gangen. Deswegen hatten sie ihr Zuhause verlassen. Deswegen hatten sie gelernt und geübt und ihr We sen und ihre Kleidung und ihre Gewohnheiten ganz im Hinblick auf diesen Moment geändert. Und auch jetzt gab es nur sehr wenige Männer, die die Stunde X kannten.
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Invasion Irgendwo auf dem Kriegsschauplatz im Mittelmeerraum, 3. Oktober 1943 Auf den eisernen Böden der Infanterie-Landungs boote sitzen die Männer herum, und eine Zeitlang reden sie und lachen und machen Witze, um das große Ereignis zu überdecken. Sie versuchen, dieses große Ereignis als etwas Normales, etwas Gewöhnli ches anzusehen, als etwas ganz Alltägliches. Sie neh men sich gegenseitig auf den Arm, werfen sich vor, Angst zu haben, und sprechen von Erfahrungen aus vergangenen Tagen. Dann wird es allmählich wieder still, und sie bleiben ruhig sitzen, weil die Bedeutung des Ereignisses sie überwältigt hat. Es sind unerfahrene Soldaten. Sie sind bestens vor bereitet, abgehärtet und ausgebildet, und es fehlt ih nen nur eins, um sie zu richtigen Soldaten zu ma chen: das Feuer des Feindes. Sie werden nie zu Solda ten werden, bevor sie nicht die Feuerprobe bestanden haben. Niemand weiß, am allerwenigsten sie selbst, was sie tun werden, wenn das Schreckliche geschieht. Niemand weiß, ob er es aushalten kann. Niemand weiß, ob er weglaufen oder ausharren wird, ob er die Nerven verliert und zusammenbricht, oder ob er ein guter Soldat sein wird. Man kann das nicht wissen, und wahrscheinlich beunruhigt diese eine Tatsache einen mehr als alles andere. Und genau das unterscheidet den unerfahrenen vom erfahrenen Soldaten. Morgen um diese Zeit 210
werden diese Männer, zumindest die, die dann noch leben, anders sein. Dann werden sie wissen, was sie heute nacht noch nicht wissen können. Sie werden wissen, wie sie sich im Feuer verhalten. Eigentlich be steht kaum Gefahr. Sie werden gute Soldaten sein, denn sie wissen noch nicht, daß heute der Tag vor dem Angriff ist. Keiner kann das wohl wissen. Im Mondlicht auf dem eisernen Deck sehen sie einander seltsam an. Männer, die sie gut kennen und mit denen sie gedient haben, erscheinen ihnen selt sam. Jeder ist mit seinen Gefühlen allein, und in ih ren Gedanken streifen sie über die Gesichter ihrer Kameraden. Wer von ihnen wird morgen abend noch leben? Ich ja, das ist sicher. Niemand wird im Krieg getötet. Völlig unmöglich. Es würde keinen Krieg geben, wenn man darin umkäme. Aber jeder Mann schaut in dieser letzten Nacht im Mondlicht die anderen merkwürdig an und sieht den Tod in ih ren Gesichtern. Das ist die schrecklichste Zeit über haupt. Diese Nacht vor dem Angriff mit den neuen unerfahrenen Soldaten. Sie werden nie wieder so sein wie heute. Jeder Mann stellt sich in Gedanken vor, wie es sein wird, aber es ist nie so, wie er es sich gedacht hat. Wenn er sich vorstellt, wie der Angriff abläuft, ist er allein und von allen anderen abgeschnitten. Er ist al lein im Mondlicht, und die vielen Männer um ihn herum sind in diesen Augenblicken Fremde. So wird es nicht sein. Das Feuer und die Bewegung und die Anstrengung werden ihn zu einem Teil dieser Frem 211
den, die jetzt um ihn herumsitzen, machen, und sie werden ein Teil von ihm sein; aber jetzt weiß er das noch nicht. Das ist eine schlimme Zeit, die sich nie wiederholen soll. Nicht einer dieser Männer wird umkommen. Das ist unmöglich, und es ist kein Widerspruch, daß alle von ihnen umkommen. Irgendwie ist jeder von ihnen bereits tot. Und fast jeder hat schon seinen Brief ge schrieben und hat ihn irgendwo deponiert, damit er abgeschickt werden kann, falls er umkommt. Manche dieser Briefe sind voll von Rechtschreibfehlern, man che ungehobelt, manche elegant und voller Gemüts bewegungen, andere wieder dürftig und knapp. Alle sagen das gleiche. Alle sagen: »Ich wünschte, ich hätte es Dir gesagt, hab es aber doch nicht getan. Ich konn te es einfach nicht. Irgend etwas Unverständliches und Dummes hat mich davon abgehalten, es Dir zu sagen, und erst jetzt, wo es zu spät ist, kann ich es ausdrücken. Ich habe oft daran gedacht«, sagen die Briefe, »aber immer, wenn ich anfangen wollte, etwas zu sagen, hat mich etwas unterbrochen. Aber jetzt kann ich es sagen, aber es soll Dir nicht zur Last wer den. Ich weiß nur, daß es immer so war, nur hab ich es nie sagen können.« In allen Briefen ist das die Bot schaft. Die aufgestaute Zurückhaltung fällt in den letzten Briefen weg. So steht es in Briefen an Frauen und Mütter und Schwestern und Väter und, so groß ist das Verlangen, ein Teil von jemandem gewesen zu sein, manchmal auch in Briefen an gar nicht so nahe stehende Personen. 212
Die großen Schiffe gleiten durch die Nacht, die sie jetzt schützend deckt, und die Maschinen machen keinen Lärm. Befehle werden mit leiser Stimme gege ben, und die Unterhaltung ist gedämpft. Irgendwo vor ihnen wartet der Feind, und auch er ist ruhig. Weiß er, daß wir kommen, und weiß er, wann und in welcher Stärke? Liegt er schon kampfbereit mit sei nen Maschinengewehren in Deckung und hat seine Granatwerfer an den Küsten und seine Artillerie in den Hügeln in Stellung gebracht? Hat er Angst, oder ist er zuversichtlich? Die Offiziere kennen jetzt die Stunde X. Der Mond geht unter. Stunde X ist um 3.30 Uhr, gleich nachdem der Mond untergegangen ist und die Küsten dunkel sind. Vielleicht kann der Feind den Konvoi mit Fern gläsern gegen den untergehenden Mond ausmachen, aber vor uns liegt nur dunstiges, perlenähnliches Grau. Der Mond geht im Meer unter, und Schiffe, die die ganze Zeit neben dir und überall um dich herum gewesen sind, verschwinden in der Dunkel heit, und nur die winzigen Positionslichter zeigen an, wo sie sich befinden. Die Männer, die auf Deck sitzen, verschwinden in der Dunkelheit und der Stille, und ein Mann fängt an, leise zu pfeifen, nur um sicher zu sein, daß er da ist. Irgendwo auf dem Kriegsschauplatz des Mittelmeerraumes, 4. Oktober 1943 Bei Salerno gibt es einen guten Strand, und eine sehr gute Landung am Roten Strand Nr. 2. Die 213
Schwimmkampfwagen kamen beladen an den Strand, kämpften sich aus dem Wasser heraus und schlossen sich einer Reihe Lastwagen an. Die PontonLandungsbrücken lagen draußen im Wasser, und gro ße Landefahrzeuge hatten angelegt. Am Strand entlang waren die Bulldozer an der Arbeit und schoben Sand rampen zusammen, so daß die Lastwagen an Land fahren konnten, und direkt hinter dem Strandstreifen sah man die weißen Bänder, die anzeigten, daß die Landminen noch nicht entfernt worden waren. Es gibt kleine Büsche auf den Sanddünen am Roten Strand, südlich des Flusses Sele, und in einem Loch im Sand, das durch Sandsäcke abgestützt wurde, saß ein Soldat mit einem lederüberzogenen Stahltelefon neben sich. Er hatte sein Hemd ausgezogen, und sein Rücken war vor lauter Sonnenbrand dunkel. Sein Helm lag auf dem Boden des Loches, und sein Ge wehr hatte er auf einen kleinen Busch gelegt, damit kein Sand hineingeriet. Der Soldat hatte ein kleines Schutzdach aufgebaut, das ihn vor der Sonne schüt zen sollte, und er hatte als Tarnung Büsche darauf ge legt. Neben ihm standen ein Wasserbehälter und eine leere Verpflegungsdose, um daraus zu trinken. Der Soldat sagte: »Sicher können Sie was zu trin ken haben. Hier. Ich gieße Ihnen etwas ein.« Er füllte etwas Wasser aus dem Behälter in den Blechbecher. »Ich würde Ihnen nur ungern beschreiben, wie das schmeckt«, sagte er. Ich nahm einen Schluck. »Na, stimmt’s nicht?« sagte er. 214
»Stimmt absolut«, sagte ich Oben auf den Hügeln donnerten die 8,8er los, und die kleinen Explosionen wirbelten Sand auf. Das Gesicht des Soldaten hatte Streifen, wo der Schweiß durch den Staub herunter gelaufen war, und sein Haar und seine Augenbrauen waren von der Sonne fast weiß gebrannt. Aber um ihn herrschte eine Art von Fröhlichkeit. Sein Telefon summte, er nahm ab und sagte: »Ist noch nicht ge kommen, Sir. Nein, Sir, ich werd’s ihm sagen.« Dann legte er auf. »Wann sind Sie an Land gekommen?« fragte er. Und dann, ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort: »Ich bin gestern kurz vor dem Morgengrauen an Land gekrochen. Ich war nicht der allererste, aber mit Sicherheit der zweite.« Er schien sehr froh darüber zu sein. »Es war die Hölle«, sagte er, »es war die blutige Hölle.« Er schien Genugtuung zu empfinden wegen der Hölle, die es gewesen war, und das stimmte auch. Die große Frage war für ihn gelöst worden. Er war unter Beschuß gewesen. Jetzt wußte er, was er unter Beschuß tun konnte. Er würde nie wieder dieser Un sicherheit ausgesetzt sein. »Ich war ziemlich nah dar an«, sagte er und wies auf zwei wundervolle griechi sche Tempel etwa eine Meile entfernt. »Und dann hat man mich für die Kommunikation im Küstenbereich zurückgeschickt. Wann sagten Sie, sind Sie an Land gekommen?« Und wieder wartete er nicht auf die Antwort. »Es war so dunkel wie die Hölle«, sagte er, »und wir warteten hier draußen.« Er wies auf die See, wo 215
die riesige Zahl der Invasionsschiffe wartete. »Wir waren ja verrückt zu glauben, wir könnten uns an Land schleichen«, sagte er. »Die warteten schon auf uns. Die wußten genau, wo wir landen. Die hatten Maschinengewehre in den Sanddünen und 8,8er auf den Hügeln. Wir waren da draußen, alle in ein InfanterieLandungsfahrzeug gestopft, und dann brach die Höl le los. Der Himmel war voller Leuchtgeschosse, die alles hell erleuchteten, die Leuchtspurgeschosse zogen im Zickzack dahin, und der Lärm – wir konnten beobachten, wie der Angriff anlief, und dann lief ei nes der Boote auf eine Brandungsmine und ging hoch, und in dem Licht konnte man sehen, wie sie in der Luft herumflogen. Ich konnte sehen, wie die Boo te landeten, wie die Jungs herausrannten und auf den Strand krochen. Dann waren da auch noch eine Menge weißer Linien, und einige der Kameraden torkelten herum und brachen dann zusammen, und einige schlugen auf den Strand. Es sah nicht aus, als ob Männer getötet wurden, sondern eher wie ein Bild, wie ein Film. Wir saßen da oben ziemlich dicht zusammengedrängt, und dann kapierte ich plötzlich, daß das kein Film war. Das wa ren Jungs, die wild zusammengeschossen wurden, und dann bekam ich so etwas wie Angst, aber vor al lem wollte ich mich bewegen. Ich mochte es nicht, da zusammengepfercht zu sitzen, wo man nicht weg kommen oder sich nicht dicht auf den Boden drük ken konnte. 216
Nun, das Feuer hörte auf, und dann wurde es pech schwarz, obwohl es auch heller wurde, aber die 8,8er blinkten auf den Hügeln fast wie Signale, und die Granaten explodierten überall um uns herum. Sie hatten viele 8,8er, und sie schossen auf alles. Ich be kam gerade richtige Angst, als wir den Befehl erhiel ten, an Land zu gehen. Bei Gott, das war die längste Reise, die ich je unternommen habe, diese Meile bis zum Strand. Ich dachte, wir kämen nie an. Ich hatte mir vorgestellt, ich würde mich nach der Landung eingraben und aus dem Weg sein. Aber hier waren einfach zu viele auf diesem Landungsboot. Ich wollte Platz haben. Dieses Boot, das auf die Mine gefahren war, brannte immer noch, als wir an ihm vorbeifuh ren. Dann setzten wir am Strand auf, und die Rampen gingen runter, und ich stand bis zur Hüfte im Wasser. Sobald ich am Strand war, fühlte ich mich besser. Es schien nicht so, als ob jeder auf mich schießen würde. Ich rannte bis zu einer Buschreihe und warf mich dort zu Boden, und ein Kamerad warf sich di rekt neben mir hin, und dann fühlten wir uns ein bißchen komisch. Wir standen auf und rannten wei ter. Haben nichts zueinander gesagt, sind nur weiter gerannt. Das Tageslicht zog zu dieser Zeit gerade auf, und das Mündungsfeuer der Gewehre war nicht mehr so hell. Ich fühlte mich ein bißchen, als ob ich betrunken wäre. Der Boden hob und senkte sich un ter meinen Füßen, und ich war wie betäubt. Ich nehme an, das war so wegen der Explosionen. Meine Ohren sind noch nicht so gut. Ich vermute, wir ha 217
ben uns zu weit raufgemacht, weil man uns hierher zurückgeschickt hat.« Er lachte laut. »Ich hätte direkt weiter nach Rom gehen können, wenn mich niemand zurückgeschickt hätte. Ich würde sagen, ich hätte di rekt diesen Hügel hinaufgehen können.« Die Kreuzer eröffneten das Feuer auf die Hügel, und die 8,8er feuerten zurück. Von drüben in der Nähe des Hügels drang das schwere Trommelfeuer eines Kaliber-59-Maschinengewehrs herüber. Der Soldat fühlte sich ziemlich gut. Jetzt wußte er, was er tun konnte. Er sagte: »Wann, sagten Sie noch, sind Sie an Land gegangen?« Kriegsschauplatz im Mittelmeerraum, 6. Oktober 1943 Man kann nicht viel von der Schlacht beobachten. Diese Gemälde in den Geschichtsbüchern, die lange Reihen marschierender Truppen zeigen, sind entwe der idealisiert, oder aber die Zeiten und Schlachten haben sich geändert. Die Darstellung der gestrigen Schlacht in den Morgenzeitungen stammt nicht vom Korrespondenten selbst, sondern wurde aus Berich ten zusammengestellt. Was der Korrespondent wirklich sah, war Staub, das gefährliche Explodieren von Granaten, niedrige Büsche und zerrissene Gräben. Er lag auf dem Bauch, wenn er klug genug war, und beobachtete Ameisen, wie sie zwischen kleinen Stöckchen auf der Sanddüne herumliefen, und seine Nase war so dicht an den Ameisen, daß ihr Zug dadurch behindert wurde. 218
Dann sah er einen Vormarsch. Nicht gerade Linien von Männern, die in Kanonenfeuer hineinmarschier ten, sondern kleine Gruppen, die wie Krabben von kleinen Deckungen hier zu kleinen Deckungsmög lichkeiten da krochen, während das helle Rattern der Maschinengewehre und das tiefe Bollern der Gra natwerfer zu hören war. Vielleicht rannte der Korrespondent mit ihnen und warf sich wieder zu Boden. Sein Bericht wird von Schlachtplänen und Taktik handeln, von gewon nenem und verlorenem Terrain, von Attacke und Gegenangriff. Aber das hier sind wahrscheinlich ein paar der Dinge, die er wirklich sah: Er hat vielleicht den Spritzer Dreck und Staub gese hen, der eine Granatexplosion ist, und ein kleines ita lienisches Mädchen auf der Straße, dessen Bauch weg geschossen worden war. Er hat vielleicht einen ameri kanischen Soldaten gesehen, wie er sich über einen zuckenden Körper beugte und weinte. Er sah wahr scheinlich viele tote Maultiere, die auf der Seite lagen und zu Brei reduziert waren. Er sah die Trümmer von Häusern mit zerrissenen Betten, die wie Fetzen aus den Löchern in einer Mauer hingen. Da waren rote Karren und die Fahrzeuge von Flüchtlingen, die nicht angesprungen waren und die es deshalb nicht geschafft hatten, noch rechtzeitig wegzukommen. Die Krankenträger kamen von der Front zurück, gingen in ungleichem Schritt, damit ihre Last nicht zu sehr erschüttert würde, und das Blut tropfte von der Leinwand. Und auf den Tragen lagen Brüder wie 219
auch Feinde, wenn sie verletzt waren. Und dann noch die Verletzten, die mit zerschmetterten Armen und bandagierten Köpfen zurückkamen, die marschie renden Verwundeten, die sich unter Schmerzen nach hinten kämpften. Er würde das scharfe Pulver in der Luft gerochen haben und den heißen Blutgeruch, wenn es einen harten Kampf gegeben hatte. Beißender Staub würde in seine Nase steigen, und der üble Geruch von Män nern und Tieren, die gestern und tags zuvor schon getötet worden waren. Dann wird ein ganzes Gebäu de in die Luft gejagt, und ein erdiger, saurer Geruch dringt aus seinen Wänden. Er wird seinen eigenen Schweiß riechen und den Schweiß einer ganzen Ar mee. Wenn seine Kehle trocken ist, wird er das war me Wasser aus seiner Feldflasche trinken, das nach Desinfektionsmittel schmeckt. Während der Korrespondent für euch von Vor märschen und Rückzügen schreibt, wird seine Haut wund von den wollenen Kleidern, die er seit drei Ta gen nicht ausgezogen hat. Und seine Füße sind heiß und schmutzig und geschwollen, weil er seit Tagen seine Schuhe schon nicht mehr ausziehen konnte. Die Moskitobisse der vergangenen Nacht und die Bisse der Sandfliegen von heute werden ihn plagen. Vielleicht leidet er auch ein bißchen am Pappataci fieber und sein Kopf pocht und seine Sicht ist durch einen roten Schleier getrübt. Sein Kopf schmerzt viel leicht von der Hitze, und seine Augen brennen vom Staub. Das Knie, das er sich verstaucht hat, als er an 220
den Strand sprang, wird steif werden und schmerzen, aber es ist keine Wunde und kann nicht behandelt werden. »Die 5. Armee ist zwei Kilometer weiter vorge rückt«, wird er schreiben, während die Lastwagenko lonnen die Straße zu tiefem Staub zermahlen und die Lastwagenfahrer tief über ihre Steuerräder gekauert sind. Und rechts neben der Straße graben Bestat tungskommandos Löcher in das sandige Erdreich. Die Leichen liegen wirr und unförmig auf dem Bo den herum. Bevor man sie in die Sandlöcher legt, wird der zweite Teil der »Erkennungsmarke« abge nommen, damit man weiß, der Mann mit dieser Er kennungs-Nummer ist tot, nicht mehr im Dienst der Armee. Das sind die Dinge, die er sieht, während er von Taktiken und Strategien schreibt und Generäle nennt und in seinen Berichten Helden auszeichnet. Aus sei ner Tasche nimmt er eine stark gewachste Schachtel. Das ist sein Essen. Darin sind zwei kleine Pakete mit harten Keksen, die nach Hundekuchen schmecken. Dazu noch eine Büchse Käse und eine Rolle Vitamin bonbons, ein kleiner Beutel mit Zitronenpulver, da mit das Wasser aus der Feldflasche nicht ganz so ekel haft schmeckt, und eine kleine Packung Zigaretten. Das ist sein Essen, und es wird ihn mehrere Stun den auf den Beinen halten und seinen Magen arbei ten und sein Herz schlagen lassen. Und wenn die Kampftruppen weitermarschiert sind, während er ißt, werden eventuell schmutzige Kinder wie auf 221
dringliche Insekten zu ihm hinkriechen, geduckt und mit fliegenumrandeten Nasen schnüffeln. Diese Kin der werden um einen Keks und ein Vitaminbonbon betteln. Sie werden nach Süßigkeiten betteln: »Cara mela – caramela – caramela – okay, okay, danke, good bye.« Und wenn er einem der Kinder Bonbons gibt, kommen wie aus dem Boden weitere schmutzige Kinder gekrochen, die alle schrill um Süßigkeiten betteln: »Caramela – caramela.« Der Korrespondent wird das Communiqué zur Hand nehmen und den Morgenbericht für euch auf einer knirschenden, ver staubten Reiseschreibmaschine abfassen: »General Clarks 5. Armee rückte gestern gegen starkes feindli ches Feuer zwei Kilometer weiter.« Irgendwo auf einem Kriegsschauplatz im Mittelmeerraum, 8. Oktober 1943 Die Invasion und Einnahme des Küstenstreifens bei Salerno war sehr hart gewesen. Die Deutschen hatten auf uns gewartet. Ihre 8,8er befanden sich auf den umgebenden Hügeln und ihre Maschinengewehre in den Sanddünen. Ihre Minen schwammen in der Brandung, und sie saßen dort und warteten auf uns. Es gab keinen Weg. Die Deutschen mußten zurück geworfen werden. Aber eine Zeitlang sah es aus, als ob wir zurückgeworfen würden. Doch allmählich än derte sich das Bild durch das Feuer der Marine, das entschlossene Aushalten der bis vor kurzem noch unerfahrenen Soldaten und das Eintreffen unserer Reserveeinheiten von See her. Jetzt liegt die Invasi 222
onsflotte ziemlich sicher vor der Küste, und der Strand ist fest in unserer Hand. Die See ist während des ganzen Unternehmens ru hig gewesen. Ein Sturm hätte es schwieriger gemacht, aber das Meer war nett zu uns. Es ist so glatt wie Sei de und viele Kilometer lang mit kleinen Verpfle gungsdosen übersät, die auf dem Wasser treiben und in der Sonne glitzern. Das Wasser glänzt ölig, und überall treiben die Trümmer und der ganze Abfall unserer riesigen Flotte: Kisten, Dosen, Flaschen und der Unrat, den der Mensch nun eben gerne einfach wegwirft. In der Nähe der Küste feuern die Kreuzer und Schlachtschiffe weiter, aber jetzt sind ihre Kanonen höher gerichtet, und sie feuern über die Berge hinweg auf Ziele, die von der Küste aus nicht zu sehen sind. Das Kommandoschiff liegt geschützt in der Mitte der Invasionsflotte. Es ist ein schwimmender Sender. Von diesem Schiff sind alle Befehle ausgegangen, und bei ihm sind auch alle Meldungen eingegangen. Der gesamte Stab ist todmüde. Der Verlauf des Gesche hens war nicht wie sonst üblich. Das Kommando schiff war ständig beschossen worden. Die Besatzung ist in vierundzwanzig Stunden alle dreißig Minuten in Alarmbereitschaft versetzt worden. Das Signalhorn wird geblasen, und dann ertönt über Lautsprecher die Pfeife des Bootsmanns und dann das krachende Horn, das die Männer auf Gefechtsstation ruft. Dann legten müde Stabsoffiziere ihre Helme und ihre Ret tungsgürtel ab und machten sich auf den Weg auf das 223
Deck zu den ihnen zugewiesenen Stellungen, wäh rend die Bomben niederfielen und das Wasser in die Luft jagten. Nur wenige deutsche Flugzeuge schafften es durch dieses Abwehrfeuer, aber einige schafften es eben doch, und fast alle waren hinter dem Kommando schiff her. Sie deckten das Ziel mit ihren Bomben ein. Es hat Fehltreffer gegeben, die so nahe am Ziel vor beigingen, daß sie das Schiff im Wasser hin und her stießen und seine Panzerung nur wie durch ein Wunder standhielt. Und das dauerte vier lange Tage. Niemand konnte schlafen. Und was das Ganze noch schlimmer mach te: die deutschen Flugzeuge sprachen miteinander über Funk und machten sich nicht einmal die Mühe, ihre Gespräche zu verschlüsseln. Sie suchten dieses besondere Schiff und zielten darauf. Sie wußten, sie konnten mit diesem Schiff vielleicht das Hirn der ganzen Operation ausschalten. An Bord befinden sich sehr müde Oberste und Generäle, die auf den Befehl warten, an Land zu ge hen und dort eine Kommandozentrale zu errichten. Sie werden sich viel besser fühlen, wenn sie an Land sind. Es ist keine angenehme Sache, an Bord des Hauptziels innerhalb der Flotte zu sein. Das Kom mandoschiff ist jedoch nicht getroffen worden. An dere Schiffe im Umkreis sind bombardiert worden, aber nicht das Kommandoschiff. Man hatte an Bord das Gefühl, daß alles an einem seidenen Faden hing und der nächste Angriff sein Ziel erreichen würde. 224
In der Zwischenzeit verbreitet sich der Abfall in kleinen Strömungen auf der See. In einem Abschnitt von tausend Meilen werden noch Verpflegungsdosen angeschwemmt werden. Der Abfall wird die Küsten Italiens bedecken. Was das Leben des Kommandoschiffes noch le bendiger gemacht hat, ist die Tatsache, daß die Deut schen eine neue Bombe haben. So lautet jedenfalls das Gerücht. Diese Bombe wird abgeworfen und dann vom Flugzeug aus gesteuert. Sie wird per Funk gelenkt, und wenn sie das Ziel zu verfehlen scheint, wird sie vom Flugzeug dirigiert, so sagt man zumin dest. Und sicherlich reagieren diese Bomben nicht so wie andere. Sie kommen langsamer runter, und sie glühen, während sie fallen, mit einer Leuchtkraft, die man sogar bei Tageslicht noch sehen kann. Wenn das rote Signal für einen Luftangriff gegeben wird, bewegen sich die Zerstörer in Kreisen und bla sen Nebelschwaden ab. Die kleinen Nebelwerfer flit zen zwischen den großen Schiffen herum und ziehen weiße, stickige Nebelschleier hinter sich her, die nach Schwefel riechen. Die kleinen Boote fahren hin und her, bis sie die Flotte mit ihrem künstlichen Nebel bedeckt haben. Das Geräusch des Hustens ist ohren betäubend; zumindest, bis das Flakfeuer einsetzt. Und dann hört man durch den Nebel die dumpfen Explosionen der Bomben. Nichts klingt auch nur im entferntesten wie diese Bomben. Und der Druck ih rer Explosionen dringt durch das Wasser und trifft auf das Schiff. Man kann es unter den Füßen spüren. 225
Die endlosen Reihen von Landefahrzeugen, die den Nachschub für die Männer transportieren, die in den Büschen in den vordersten Linien liegen, gehen an Land: Kisten mit Lebensmitteln und Tonnen von Granaten und Patronen. Eine Unmenge an Nach schub säumt die Küste und wartet darauf, in das Landesinnere gebracht zu werden. Und die Frontlinie hat sich nach vorne verscho ben. Der Strand ist jetzt eingenommen, und die Inva sion läuft weiter. Die weißen Lazarettschiffe bewegen sich zum Strand, um ihre Ladung aufzunehmen.
Palermo Irgendwo auf einem Kriegsschauplatz im Mittelmeerraum, 10. Oktober 1943 Die See vor Sizilien rollte in langen, glatten Wellen ohne Gischt. Der Tag war strahlend schön und das Meer von diesem mediterranen Blau, das sich von jedem anderen Blau auf der Welt unterscheidet. Das Schnellboot stieß hart durchs Wasser, hinterließ da bei eine große schäumende Spur und bekam sogar noch ein bißchen vom geringen Seegang über den Bug ab. Es ist das nasseste Boot von allen, das Torpe doboot. Die Crew kauerte sich in ihrem Gummizeug auf Deck und versuchte, sich von den ständigen Gischtspritzern fernzuhalten. Auf beiden Seiten der Brücke saßen die Maschinengewehrschützen auf ih ren Positionen in den Gefechtstürmen hinter ihren 226
Gewehren, und das Wasser glänzte auf ihren Gesich tern. Die Munitionskisten der Kaliber-50-Granaten waren grün vor lauter Meerwasser. Rechts neben dem Boot trieb ein Körper im Was ser und hob und senkte sich mit den langen Wellen. Er war ziemlich angeschwollen, der braune Rettungs gurt und der Rettungskragen ließen ihn hoch auf dem Wasser treiben. Der Kapitän war in einen Schwimmanzug geklei det und barfuß. Der 1. Offizier hatte einen Gummi mantel an, aber seine Hose war aufgerollt, und auch seine Füße waren nackt. Die beiden blickten über das Torpedorohr an der Backbordseite auf den treiben den Körper. »Sollen wir mal rüber und ihn uns ansehen?« sagte der 1. Offizier. »Nein, so wie der aussieht, hat das keinen Zweck«, sagte der Kapitän. »Davon abgesehen müssen wir un seren Zeitplan einhalten.« Der 1. Offizier sagte: »Ich finde, das ist das Einsam ste, was es gibt. Ein Körper, der in der See treibt. Ich wüßte nichts sonst, was so einsam aussieht.« Der Kapitän ließ das Torpedorohr los, wandte sich um und hielt sich an dem Geländer hinter dem Ge schützturm an der Backbordseite fest. »Bevor Sie auf das Boot kamen, hatte ich einen, der machte mich ganz verrückt«, sagte er. Er begann ganz abrupt seine Geschichte. »Nachdem Palermo gefallen war«, sagte er, »dau erte es eine Nacht und den Teil eines Tages, bevor die 227
Siebte Armee zur Stadt vordrang. Ich war mit fünf anderen Schnellbooten auf Streifenfahrt, und wir hatten plötzlich eine Idee, und da wir sowieso in der Nachbarschaft waren, haben wir mal reingesehen. Sie wissen, wie Palermo aussieht. Dieser hohe, großartige Berg gleich neben der Stadt und die verrückten Lich ter, die da erscheinen, und dann liegt die Stadt da verstreut an seinem Fuß. Sie sieht so aus, als ob Odysseus sie gerade erst verlassen hätte. Man kann wirklich verstehen, was Vergil meinte, wenn man die sen Berg, diese ganze nördliche Küste Siziliens be trachtet. Er riecht geradezu nach Klassikern. Jedenfalls war es ziemlich spät an einem Nachmit tag, als wir uns der Stadt näherten, gleich neben der Mole herankrochen und uns in den Hafen einschli chen. Wir waren darauf vorbereitet, sofort abzuhau en, falls jemand auf uns schießen sollte, aber nichts geschah. Wir kamen in den Hafen, und der war wirk lich in Stücke geschossen worden. Überall gesunkene Schiffe und verformte Kräne und ein kleiner italieni scher Zerstörer, der auf der Seite lag. Die Luftwaffe hat dort an der Küste wirklich ganze Arbeit geleistet. Gebäude und Docks und die gesamte Anlage und alle Schiffe zu Schrott geschossen. Der Traum eines jeden Schrotthändlers! Ich erinnere mich, daß auf dem Wasser eine Ölschicht von den versenkten Schiffen war und eine tote Frau in der öligen Brühe trieb, mit dem Gesicht nach unten, mit fächerförmig ausgebrei tetem Haar. Sie bewegte sich in unserem Kielwasser auf und ab. 228
Zuerst«, sagte der Kapitän, »wußte ich nicht, wo her das merkwürdige Gefühl kam, aber dann wurde es mir klar. Am Strand war niemand zu sehen. Stellen Sie sich eine in Trümmern liegende Stadt vor, nun, da stochert gewöhnlich immer einer irgendwo her um. Hier aber nicht. Ich hatte Lust, an Land zu ge hen. Deshalb legten der 1. Offizier und ich zwischen zwei zerschossenen Fischerbooten an, nahmen uns jeder eine Maschinenpistole, machten das Boot fest und sprangen an Land. Es ist irgendwie schwer vorstellbar. Palermo ist ei ne ziemlich große Stadt. Mit Ausnahme des Hafens und des Küstenstreifens hatten unsere Bomber sie nicht sehr beschädigt. Oh, es gab natürlich ein paar Trümmer, aber das war nicht so wild. Ich sage Ihnen, in der ganzen Stadt war keine einzige Seele. Die Be völkerung war sofort in die Hügel gezogen, und die Truppen waren noch nicht da. Es war einfach nie mand da. Man konnte eine Straße hinaufgehen, wo die gro ßen Häuser waren, und die Türen standen offen und – niemand war da. Ich sah eine Katze, die über die Straße lief – eine weiße Katze, aber das war das einzi ge Lebewesen. Sie kennen diese kleinen, bunten Karren, die die Si zilianer haben, auf deren Seiten Bilder aufgemalt sind? Nun, von denen lagen ein paar auf der Seite, und die Esel, die sie gezogen hatten, lagen auch da – tot. Der 1. Offizier und ich gingen in die Stadt. Manch mal kam mir der Gedanke, in eins der Häuser zu ge 229
hen, nur um mir anzusehen, wie es drinnen aussah, aber ich konnte nicht. Es war still, kein Lüftchen regte sich, die Türen waren offen, und ich konnte mich ein fach nicht überwinden, in eins dieser Häuser zu gehen. Wir waren eine ziemliche Strecke in die Stadt ge gangen, weiter, als wir dachten, und es begann dun kel zu werden. Keiner von uns hatte daran gedacht, eine Taschenlampe mitzunehmen. Nun, als wir er kannten, daß es dunkel wurde, sind wir wohl beide – ohne jeden Grund, wie ich glaube – in Panik geraten. Wir begannen, zum Hafen zurückzugehen, und wir gingen immer schneller und schneller, und schließ lich fingen wir an zu laufen. Da war irgend etwas an dieser Stadt, das uns nach Einbruch der Dunkelheit wegtrieb. Die offenen Tü ren waren bereits schwarz und warfen tiefe Schatten. Wir trotteten durch die engen Straßen, und dann dachte ich – es ist niemand da, aber wenn ich jetzt jemanden sähe, würde ich Angst kriegen. Es wird sehr schnell dunkel da unten. Es war stockfinster in den engen Gassen, aber man konnte über den Häu sern noch Licht sehen. Schließlich rannten wir wirklich, und als wir am Dock ankamen und über die Wracks kletterten, keuchten wir. Der 1. Offizier sagte zu mir: ›Man hätte sich da drinnen verirren können und wäre die ganze Nacht nicht rausgekommen.‹ Er wußte, wir hatten Angst gehabt, und ich wußte es auch.« Ein starker Gischtspritzer kam über den Bug des Schnellbootes und traf ihn im Gesicht. 230
»Das hat mich verrückt gemacht«, sagte der Kapi tän. »Ich glaube, davor hatte ich mehr Angst als vor sonst etwas seit langer Zeit. Ich habe noch oft daran gedacht, und ein- oder zweimal habe ich davon ge träumt. Wenn ich so daran denke, war die ganze Sa che sowieso wie ein Traum, angefangen mit dieser toten Frau bis zum Schluß. Aber wenn ich je aus drücken müßte, wie es ist, einsam zu sein und Panik zu empfinden, dann glaube ich, würde ich sofort dar an denken.«
Souvenir Irgendwo auf dem Kriegsschauplatz im Mittelmeerraum, 12. Oktober 1943 Man sagt, und das mit gewissem Recht, daß die Ame rikaner um Souvenirs kämpfen, während die Deut schen um die Weltherrschaft kämpfen und die Eng länder für die Verteidigung Englands. Das ist viel leicht nicht der letzte, entscheidende Grund für unse re Landser, aber er hilft. Man schätzt, daß zwei Divisionen amerikanischer Truppen die Große Py ramide innerhalb von vierundzwanzig Stunden Stückchen für Stückchen wegtragen könnten. Der Autor hat selbst Zweimannzelte gesehen, die bis ans obere Spannseil mit fast wertlosen Erinnerungsstük ken an die Orte vollgestopft waren, die die Soldaten eingenommen hatten. In dunklen Hinterzimmern von Häusern in Algerien und Palermo und Messina 231
und mittlerweile auch in Salerno ist man fleißig da bei, kleine Stückchen farbigen Tuches und Zelluloid zu irgendwelchen Kinkerlitzchen zu verarbeiten, die man an Soldaten verkaufen kann. Ein Soldat hat sich in Palermo mit der Statue eines Gipsengels, die einen halben Zentner wog, dahinge schleppt. Sie war blau und rosa gestrichen, und auf ihrem Sockel stand in Goldbuchstaben »Balcome too Palermo«. Man wird nie erfahren, wie er diese Statue eigentlich nach Hause schaffen wollte. Wenn all die Souvenirs, die von unseren Truppen gesammelt wer den, je in die Häuser in Amerika gelangen, wird kein Platz mehr zum Wohnen sein. Das Postamt in einem Stützpunkt in Afrika hielt vor kurzem ein gefühlvol les Geschenk auf, das ein Soldat seiner Frau schicken wollte. Es war ein hochgeschätzter Besitz, und er hat te es für tausend Francs von einem Goum gekauft. Es bestand aus einem Literglas mit Fingern, die in Bran dy eingelegt waren. Es ist berichtet worden, daß die griechischen Tem pel bei Salerno in zwei Wochen mehr gelitten haben als in dreitausend Jahren, weil amerikanische Solda ten ständig kleine Steine als Souvenir abgeschlagen haben. Und obwohl sie jahrhundertelang die zerstö rerische Wut von Eindringlingen überlebt haben, ist nicht zu erwarten, daß sie das bewundernde Souve nirsammeln unserer Truppen aushalten, die nur ih rer kleinen Frau zu Hause ein kleines Steinchen schicken wollen. Wahre Souvenirjagd hat ihre Gesetze. Die sind 232
nicht auf eine Jagdgruppe anwendbar, die einen Kon zertflügel Stück für Stück über Tausende von Meilen transportierte. Und auch nicht auf die Swingband ei ner Bombergruppe, die einen lädierten Kontrabaß rettete und ihn mit Flugzeug-Reparaturmaterial in stand setzte, bis der Klangkörper zehn Zentimeter dick war. Echtes Souvenirsammeln konzentriert sich nur auf Dinge, die unmöglich noch zu gebrauchen sind und zu groß oder zu zerbrechlich sind, um sie nach Hause zu bringen. Der wahrscheinlich größte Souvenirsammler die ses ganzen Krieges ist ein Obergefreiter, der namen los bleiben muß, allgemein aber Bugs genannt wird. Als die Schlacht von Gela auf Sizilien abflaute, sto cherte Bugs gerade in den Trümmern herum, als er einen Spiegel sah – aber einen Spiegel, der ihn ver blüffte. Er hatte das Bombardement und den Granat beschuß auf wunderbare Weise überstanden, eine Tatsache, die Bugs sehr in Erstaunen versetzte. Der Spiegel war 1,84 auf 1,20 Meter, und er steckte in ei nem Rahmen aus geschnitztem und bemaltem Holz mit Hunderten kleinen Amoretten, die sich um ein langes blaues Band balgten, das ganz beiläufig die Blößen aller Amoretten abdeckte. Das ganze Stück muß ungefähr fünfundsiebzig Pfund gewogen haben, und es war so schön, daß es Bugs Herz brach. Er konnte den Spiegel einfach nicht zurücklassen. Bugs war wahrscheinlich der härteste Kämpfer im Krieg auf ganz Sizilien, denn er trug den Spiegel den ganzen Weg auf seinem Rücken. Wenn das Granat 233
feuer schlimm war, legte er den Spiegel mit dem Ge sicht nach unten und bedeckte ihn mit Erde. Beim Vorrücken ließ er ihn zurück und kam immer in der Nacht zurück, um ihn zu holen, obwohl er dadurch doppelt so viel marschieren mußte wie die anderen Männer seiner Truppe. Schließlich fertigte Bugs eine Art Schlinge, so daß er während des Vorwärtsrückens wie ein angreifendes Anschlagbrett aussah. Allmählich widmete er einen großen Teil seines Lebens der Pflege, dem Transport und dem Schutz des größten Souvenirs in der ganzen Siebten Armee. Als er schließlich in Palermo einmar schierte, tat er das voller Triumph, denn sein Spiegel war völlig unbeschädigt. Nur der Rahmen war vom Herumtragen ein bißchen mitgenommen. Nun wurde Bugs zum ersten Mal in einem Haus einquartiert; eines jener großen Häuser mit eisernen Balkongeländern und engen Treppen. Bugs versuchte vergeblich, den Spiegel um eine Ecke des engen Trep penhauses zu manövrieren. Er holte schließlich ein Seil, band ein Ende an den Balkon, ging zurück auf die Stra ße und band das andere an seinen Spiegel. Dann ging er zurück und zog ihn bis zum zweiten Stock hoch, wo er einquartiert war. Dort musterte er das Zimmer und entschied sich, wo er seinen Spiegel aufhängen wollte. Er schlug einen Nagel in die Wand, hing den Spiegel auf und trat einen Schritt zurück, um ihn zu bewundern. Und er war gerade weit genug zurückgetreten, als der Nagel herausriß und die ganze Sache herunterkrachte und in Millionen Stückchen zerbrach. 234
Bugs betrachtete das Durcheinander traurig, aber dann ergriff ihn die wunderbare Windei-Philosophie des Souvenirsammlers. Er sagte: »Na ja, vielleicht hätte er sowieso nicht in unsere Wohnung gepaßt.«
Willkommen Irgendwo auf dem Kriegsschauplatz im Mittelmeerraum, 14. Oktober 1943 Das italienische Volk begrüßt vielleicht einrückende amerikanische und britische Truppen in verschiede nen Teilen des Landes recht unterschiedlich, aber immer mit einer Begeisterung, die an Gewalttätigkeit grenzt. Es macht die Soldaten zuerst etwas unsicher, bis sie sich daran gewöhnt haben. Riesige Men schenmengen stehen auf den Bürgersteigen, wenn die Truppen vorbeimarschieren, und applaudieren ein fach, wie bei einer Darbietung. Dann gehen die Truppen sehr steif und sie lächeln unsicher, halb Sol daten und halb Schauspieler. Aber dieses Klatschen ist noch das Harmloseste. Die Soldaten werden noch verlegener, wenn sie von italienischen Männern förmlich mit Umarmungen erdrückt werden, die auch noch große nasse Küsse auf ihre Wangen drücken und ein bißchen dabei weinen. Die Soldaten wollen sie nicht gern wegsto ßen, aber sie sind es nicht gewöhnt, von Männern geküßt zu werden, also erröten sie und suchen so schnell wie möglich das Weite. 235
Eine dritte Art, Begeisterung zu zeigen, besteht darin, irgendwelche Früchte oder Gemüse auf die Be satzungstruppen zu werfen. In Sizilien waren die Trauben reif, und mancher Soldat bekam mit einer schweren Traube, die ihm mit der besten Absicht zu geworfen wurde, einen tüchtigen Schlag ins Gesicht. Der Saft lief ihnen innen im Hemd herunter, und nach einem Marsch durch ein paar Straßenzüge wa ren die Truppen so ziemlich von Traubensaft durch tränkt, der zufällig auch die Fliegen anzieht, und da gegen kann man nichts machen. Man kann diesen Enthusiasmus nicht unterbinden und sie dazu brin gen, keine Trauben zu werfen. Eine der lächerlichsten und auch gefährlichsten Eroberungen war jedoch die Belagerung und Ein nahme der Insel Ischia. Dort dachten die Leute, als sie nach einem Tribut an Gemüse oder Blumen such ten, daß die rosa Amaryllis die auffallendste und protzigste Blume sei. Das ist an sich schon keine an genehme Blume, aber in den Händen einer begeister ten italienischen Menschenmenge kann sie fast zu ei ner tödlichen Waffe werden. Ein mittelgroßer Bund Amaryllis mit den großen, dicken Stielen kann vier Pfund wiegen. Während ei ner kurzen Fahrt durch die Straßen der Stadt Ischia wurden einige Soldaten mit diesen Blumen fast zu Tode geschlagen. Und ein Marineoffizier wurde von einem wohlgezielten Strauß dieser schrecklichen Blumen glatt aus seinem Wagen geschleudert. Seine Freunde schlugen ihn für das Verwundetenabzeichen 236
»Purple Heart« vor und schrieben einen Bericht über seine Tapferkeit im Kampf. »Unter einem tödlichen Hagel von Amaryllis«, stand in dem Bericht, »kämpfte Korvettenkapitän Soundso seinen Weg durch die Straßen – trotz der Verwundung durch diese neue ge heime Waffe.« Man konnte leicht von einem Gegner umgebracht werden, der mit Amaryllis bewaffnet war. Der Druck, der auf den Italienern lastete, muß enorm gewesen sein. Sie schienen ihre Beherrschung zu verlieren, als der Krieg für sie nun wirklich und wahrhaftig zu Ende war. In Gruppen standen sie ein fach da und weinten – Männer, Frauen und Kinder. Sie wollten verzweifelt etwas für die Truppen tun und hatten nicht viel. Wein, Blumen, irgendein kleines Geschenk. Sie liefen in die Kirchen und beteten, und dann eilten sie vor Angst, sie könnten etwas verpas sen, zurück, um weitere Truppenverbände zu beob achten. Die italienischen Soldaten in Italien hatten augenblicklich auf den Befehl reagiert, ihre Waffen abzuliefern. Sie stapelten ihre Gewehre so schnell in den Straßen auf, daß man den Eindruck hatte, sie sei en sehr erleichtert, die verdammten Dinger endlich los zu werden. Aber was immer auch die faschistische Regierung zu verantworten hat, es ist im Augenblick offensicht lich, daß die kleinen italienischen Leute nie unsere Feinde gewesen sind. Ganze Städte könnten nicht so handeln, wenn sie es nicht ehrlich meinten. Aber in fast jeder Gemeinde findet man einen dicken und aalglatten Mann, manchmal einen Oberst, manchmal 237
einen Mann aus der Verwaltung. Hin und wieder trägt einer von ihnen den Silberdolch mit der Gold spitze auf der Scheide, was bedeutet, daß er einer war, der mit Mussolini nach Rom marschiert ist. In einem Land, das lange Hunger litt, ist dieser Mann wohlgenährt und schön gekleidet. Er hat auf Kosten dieser Leute gelebt, seit der Faschismus hier her kam, und es ist ihm selbst nicht schlecht gegan gen. Bei der Kapitulation einer Gemeinde ist er ge wöhnlich der erste, der sich anbietet, um bei der Verwaltung zu helfen. Er wird alles tun, um zu hel fen, wenn er nur seine Schmiergelder und seine Macht behalten kann. Man kann nur hoffen, daß ihm nie gestattet wird, zu helfen oder in seiner Position zu bleiben. Ja, unse re Kommandeure werden gewöhnlich sogar von Ab ordnungen der Stadtbewohner und der Bauern be sucht, die darum bitten, daß die örtlichen Faschisten entfernt und unter Kontrolle gehalten werden. Sie wissen, daß er sich an ihnen rächen wird, falls er je wieder an die Macht kommen sollte. Sie hassen ihn und wollen ihn los sein. Und wenn man sie fragt, ob sie Faschisten waren, antworten die meisten Ita liener: »Sicher, entweder man war Faschist, oder man bekam keine Arbeit, und wenn man nicht arbeitete, hungerte die Familie.« Und ob das nun wahr ist oder nicht, sie scheinen es ernsthaft zu glauben. Als die Eroberung Italiens den Stiefel hinauf ihren Fortgang nimmt, ändern sich die Früchte. Einige Sol daten haben bereits eine schlimme Vorahnung wegen 238
der Kohlanbaugebiete und der Kartoffelernte, falls auch diese Feldfrüchte als geworfene Beweise der Liebe und Bewunderung benutzt werden sollten.
Die Dame packt Irgendwo auf dem Kriegsschauplatz des Mittelmeerraumes, 15. Oktober 1943 Es gibt eine kleine Insel dicht am Festland in der Nä he von Neapel, auf der sich eine sehr große Torpedo fabrik befindet, eine der größten Italiens. Als Italien kapitulierte, besetzten die Deutschen die Insel, ver minten sie sorgfältig und führten die Detonationska bel unter Wasser bis zum Mutterland, so daß sie die Torpedofabrik in die Luft jagen konnten, falls sie er obert würde. Die Deutschen ließen ein paar schwer bewaffnete Wachen und außerdem einen italieni schen Admiral und seine Frau als Geiseln bei den Sprengsätzen zurück, die überall auf der kleinen Insel verteilt waren. Da bekam ein kleiner anglo-amerikanischer Mari neverband einen merkwürdigen Befehl. Ein einzelnes Torpedoboot sollte einige britische Kommandosol daten aufnehmen, die heimlich an Land gehen, die Kabel zum Festland durchschneiden, die deutschen Wachen töten und den italienischen Admiral und seine Frau evakuieren sollten. Das ausgewählte Boot war ein Torpedoboot. Es lag nachmittags am Pier und wartete auf die Einheit, die 239
an Bord kommen sollte. Die gefeierten Soldaten, die se »großmäuligen Teufelskerle«, ließen sich Zeit. Ja, sie trafen fast in der Abenddämmerung ein, fünf an der Zahl, was für sie schon eine große militärische Streitmacht darstellt. Und es waren sehr merkwürdi ge Männer. Es waren kleine, müde aussehende Männer, die Kellner oder Gepäckträger auf einem Bahnhof hätten sein können. Ihre Rücken waren etwas gebeugt und ihre Knie knorrig, und sie hatten einen schleppenden Gang. Ihre Schuhe mit den dicken Gummisohlen sa hen aus, als wären sie viel zu groß. Sie trugen ausge blichene kurze Hosen und offene Hemden, und jeder hatte einen altmodischen Revolver und ein langes, tückisches Messer bei sich. Ihr Anführer sah wie eine müde und verdrießliche Maus aus, die mehr als alles andere auf der Welt zu einem sicheren Job in einem Versicherungsbüro zurückkehren will, in der Gewiß heit, daß die Pension nicht gefährdet ist. Diese fünf Gestalten watschelten an Bord und gingen sofort unter Deck, um sich eine Tasse Tee und ein Stück von dem Kuchen zu holen, der ein bißchen nach Fisch schmeckte. Sie saßen traurig in der winzigen Offiziersmesse, träumten über ihrem Tee und kratzten die Moskitostiche an ihren knorri gen Knien. Als es dunkel war, schlich das Torpedoboot vom Dock auf die See hinaus und auf die Insel zu. Der Mond schien sehr hell, das mußte man berücksichti gen. Man war aber der Ansicht, die Aktion wäre in 240
dem diffusen Licht leichter durchzuführen. Die Mo toren waren in ihrer Lautstärke gedämpft worden, und das kleine, aber antriebsstarke Boot zog ruhig durch eine glatte, mondbeschienene See. Auf Deck war das Gummiboot, das die Nahkampf spezialisten an Land bringen sollte, schon aufgebla sen und bereit. Die Geschützbesatzung saß still auf ihren Gefechtsständen. Kurz vor Mitternacht drehte das Boot bei, denn die schwarzen Umrisse der Insel waren nicht mehr weit entfernt. Dann kam das Kommando die Kajüttreppe heraufgestolpert und stand an Deck herum. Der Kapitän des Torpedoboo tes sagte: »Sie kennen jetzt alle Pläne – schneiden Sie die Drähte durch, töten Sie wenn möglich die Wa chen, und bringen Sie den Admiral und seine Frau raus. Wie lange, glauben Sie, wird das dauern?« Der Anführer des Kommandos überlegte sich die Sache und tippte sich leicht mit den Fingern auf die Lippen. »Wir müßten in einer Stunde zurück sein«, sagte er schließlich. »Eine Stunde? Wieso, das kann doch nicht so lange dauern. Wenn Sie so lange brauchen, werden Sie es überhaupt nicht schaffen.« »Na, die Sache mit den Wachen und den Dräh ten«, erklärte der Kommandoführer, »das wird nicht lange dauern.« »Aber was denn?« fragte der Kapitän. »Nun, die Frau des Admirals wird Zeit zum Pak ken brauchen. Sie weiß ja nicht, daß wir kommen. Sie wird ihre Sachen nicht fertig haben.« Und damit 241
hoben sie das Gummiboot über die Seite und paddel ten leise weg. Eine Stunde lang lag das Torpedoboot im Mond licht und wartete. Die Soldaten behielten die dunkle Insel scharf im Auge, und nichts passierte. Es fielen keine Schüsse, und es waren keine Lichter auf der verdunkelten Insel zu sehen. Sie sah wie tot aus und lag still im dunstigen Mondlicht. Zehn Minuten bevor die volle Stunde vorbei war, begann der Kapitän, jede halbe Minute auf die Uhr zu sehen. Er murmelte dabei etwas von Schnell bootpatrouillen und der Notwendigkeit, sein Schiff nicht für irgendeinen Unsinn in Gefahr zu bringen. Wenn an Land irgendwelche Aktivitäten auszu machen gewesen wären, hätte er zumindest gewußt, daß dort irgendwelche Kampfhandlungen im Gange wären. Fünf Minuten vor Ablauf der Stunde zeigte sich eine große Gestalt auf dem Wasser. Weil im Prinzip alles gefährlich ist, drehten die Kanoniere ihre Ma schinengewehre in die Richtung und warteten darauf, daß die Gestalt sich zu erkennen gab. Sie kam näher und entpuppte sich als das Schlauchboot. Es legte sanft an der Seite des Torpedoboots an, und man half einer kleinen, schlanken Frau über die Bordwand und dann einem ziemlich untersetzten Admiral, der einen schönen Mantel trug, obgleich die Nacht warm war. Diese Gestalten gingen sofort unter Deck, aber der Führer des Kommandos sagte: »Bert, du fährst mit mir zurück.« Drei der Männer kletterten an Bord 242
des Torpedoboots, und das Schlauchboot stieß wie der ab und bewegte sich auf die Insel zu. Die drei Kommandomitglieder standen müde auf Deck herum. Der Kapitän des Torpedoboots war un geduldig. »Ist der Auftrag durchgeführt?« fragte er. »Ja, Sir, es waren acht Wachen da, nicht sieben.« »Sie haben Sie nicht getötet?« »Nein, Sir.« Die Augen des Kapitäns wanderten schnell zu dem langen, dünnen Messer am Gürtel des Mannes, und das Kommandomitglied fingerte nervös, fast ent schuldigend, an dem Stahlgriff herum. »Warum sind sie wieder zurückgefahren?« »Der Schrankkoffer der Dame, Sir. Wir konnten ihn nicht in das Boot bekommen. Es war nicht mehr genug Platz da. Sie sind zurückgefahren, um den Koffer zu holen. Ein ziemlich großer Koffer. Diese altmodische Art mit einem Buckel drauf, wissen Sie.« Der Kapitän stützte die Hände in die Hüften und betrachtete den kleinen Mann. »Sir?« begann das Kommandomitglied. »Ja, ich weiß. Und ich wünschte, wir hätten Bier, aber wir haben keins.« Er rief leise die Treppe hinunter: »Joel, Joel, stell Wasser auf. Hier werden gleich fünf Leute einen Tee wollen.«
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Capri Irgendwo auf einem Kriegsschauplatz im Mittelmeerraum, 18. Oktober 1943 Am Tag nachdem die Insel Capri eingenommen wor den war und bevor irgendeiner der Admiräle und Generäle es für nötig befunden hatte, die Verteidi gungsanlagen der felsigen Klippen und die gefährli chen Weinkeller zu inspizieren, schlenderte eine Gruppe von Soldaten von einem Zerstörer über ei nen der wunderschönen, von Bäumen gesäumten Pfade. Auch sie inspizierten die Verteidigungsanla gen, die der Insel und ihre eigenen, und sie fanden, daß es ihren eigenen an Verteidigungskraft fehlte. Der Hügel war steil, und diesseits und jenseits des Weges lagen Gärten. Als sie so herumschlenderten, hörten sie plötzlich eine schrille, schwache Stimme, die von einem mit Wein überwachsenen Bogen neben dem Weg kam. »Also wirklich!« sagte die Stimme. Die Marinesoldaten blickten über die niedrige Mauer und sahen eine kleine alte Frau – eine sehr kleine Frau – in Schwarz gekleidet, die unter den Weinreben hervorgeklettert kam und hurtig die Stu fen hinaufeilte. Sie war völlig außer Atem. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht«, keuchte sie. »Es war sehr schön, Englisch zu hören. Ich bin nämlich Engländerin, wissen Sie.« Sie hielt einen Moment inne, um diese kolossale Tatsache wirken zu lassen. Sie war in dezentes 244
Schwarz gekleidet, das sie noch älter machte. Sie hat te nie das geringste Zugeständnis an Italien gemacht. Ihre Kleidung hätte ihr selbst noch in Finchley Ehre gemacht und sie vor Aufsehen geschützt. Ihre Augen tanzten vor Freude – weise, kleine, humorvolle Augen. »Man spricht hier Italienisch«, sagte sie fröhlich, und es war offensichtlich, daß sie es nicht tat, wenn sie es vermeiden konnte. »Und dann kamen die Deutschen«, sagte sie, »und ich habe nicht mehr viel Englisch gehört. Das ist der Grund, wes halb ich Sie nur gerne sprechen hören würde. Ich mag Amerikaner«, erklärte sie, und man konnte er kennen, daß sie bereit war, jede Kritik an dieser Ein stellung hinzunehmen. »Ich habe schon lange kein Englisch mehr gehört. Die Deutschen kamen – aber das habe ich ja schon gesagt, nicht? Nun, wie dem auch sei: Der Krieg kam, und ich konnte nicht weg, und das ist doch schon drei Jahre her. Und wissen Sie, daß es schon ein Jahr her ist, daß ich eine Tasse Tee bekommen habe, mehr als ein Jahr … Sie werden es wohl nicht glauben.« Der Fernmeldeoffizier sagte: »Wir haben Tee an Bord. Ich könnte Ihnen heute nachmittag ein Päck chen bringen.« Die kleine Frau hüpfte wie ein Kind von einem Fuß auf den anderen. »Nei-Nei-Nei-Nein«, sagte sie aufgeregt. »Ach, wie schön, wie schön.« Der Fernmeldeoffizier sagte: »Gibt es sonst noch etwas, was Sie brauchen? Vielleicht kann ich Ihnen das auch mitbringen?« 245
Einen Augenblick lang betrachteten ihn die alten, fröhlichen Augen und schätzten ihn ein. »Sie könnten nicht …« begann sie und hielt dann inne. »Sie könn ten mir nicht ein kleines Stück … Butter bringen?« »Aber klar kann ich das«, sagte der Fernmeldeoffi zier. »Nei-ei-ein«, sagte sie und fing an, wie ein Kind zu tanzen, das »Himmel und Hölle« spielt. Sie hielt ei nen Finger hoch. »Wenn Sie mir ein kleines Stück Butter bringen, werde ich ein bißchen Teegebäck machen, richtiges Teegebäck, und wir werden eine Party feiern. Das wäre doch ein Spaß, oder? Wäre das nicht lustig?« Sie tanzte vor Aufregung. »Stellen Sie sich das nur mal vor«, sagte sie. »Ich bringe es Ihnen heute nachmittag«, sagte der Fernmeldeoffizier. »Wissen Sie, ich bin hier gefangen worden, und dann kamen die Deutschen. Sie haben mir eigentlich nichts Böses getan. Sie waren nur einfach hier«, sagte sie ernsthaft. »Meine ganze Familie lebt in Australien. In England habe ich keine Angehörigen mehr.« Ihre alten Augen wurden ohne Übergang traurig. »Ich weiß nicht, wie es ihnen geht«, sagte sie. »In drei Jah ren habe ich nur zwei Briefe von ihnen bekommen. Es dauert fast ein Jahr, bis man einen Brief be kommt.« »Wenn Sie einen Brief schreiben wollen, werde ich ihn abholen, wenn ich die Butter und den Tee bringe, und ihn im ersten Hafen abschicken.« 246
Sie sah ihn ernst an. »Und wie lange wird der brau chen, um nach Australien zu kommen?« fragte sie. »Oh, ich weiß nicht. Vielleicht ein paar Wochen.« »Nei-ei-ein«, rief sie und begann wieder mit klei nen zierlichen Tanzschritten zu tanzen, indem sie ihre Arme etwas anhob und ihre Handgelenke nach unten bog. Ihre schrille schwache Vogelstimme lachte, und ihre blassen alten Augen waren feucht. »Wirklich«, rief sie. »O Gott, das ist noch schöner als der Tee.«
Seekrieg Irgendwo auf einem Kriegsschauplatz im Mittelmeerraum, 19. Oktober 1943 Die Pläne für den Kampfverband X waren fast vollstän dig. In einem Restaurant in einer nordafrikanischen Stadt tranken die Offiziere Kaffee. Der große Nervöse, ein Korvettenkapitän und Minenfachmann für Kon taktminen, Magnetminen und Erschütterungsminen, die durch Vibration von Schiffsmotoren zum Explodie ren gebracht werden, lehnte sich über den Tisch. »Ich habe immer den Eindruck, daß die Kriegfüh rung auf See viel mit Kammermusik gemeinsam hat«, sagte er. »Kaliber-30-MGs, das sind die Violinen, die Fünfziger sind die Violas, und die 15-ZentimeterKanonen sind echte Cellos.« Er sah ein bißchen traurig aus. »Ich habe nie Ka nonen zum Komponieren gehabt. Ich habe nie Bässe zur Verfügung gehabt.« Er lehnte sich in seinem Stuhl 247
zurück. »Das Komponieren von Kammermusik ist ziemlich das gleiche wie ein guterdachtes und gutge plantes Seegefecht. Zerstörer raus, nun, das ist nur die Einführung in das Thema, ein Tarnangriff und die Vorbereitung für den großen Einsatz der Schlacht schiffe.« Er lehnte sich weiter zurück, kippte seinen Stuhl gegen die Wand und rastete seine Absätze auf der unteren Verstrebung ein. Ein Leutnant lachte. »So redet er immer. Wenn er nicht so viel über Minen wüßte, würden wir glauben, er wäre verrückt.« »Sie sind noch nicht in der Schlacht gewesen, in einem richtigen Seegefecht, und Sie haben keine Ah nung von Kammermusik«, sagte der Korvettenkapi tän. »Heute nacht zeige ich Ihnen was, wenn Sie mit mir gehen.« Der Jeep fuhr durch die Verdunkelung. Die Straßen der Stadt waren mit Militärfahrzeugen und schwerer Ausrüstung gesäumt; alles bewegte sich auf den Hafen zu, wo die Schiffe für Italien beladen wurden. Der Jeep, der sich gegen die Verkehrsrich tung durchkämpfte, fuhr den Hügel hoch, über die Steigung und auf der anderen Seite hinunter in das Tal – ein Tal, wo einmal Weingärten und kleine Landhäuser gewesen waren. Aber jetzt war es ein rie siges Lagergelände für Munition und Lastwagen und Panzer, die geparkt oder gestapelt darauf warteten, an Bord der Schiffe nach Italien gebracht zu werden. Der Mond beleuchtete die Materialmassen, die zum Kriegseinsatz bereit waren. »Wohin bringen Sie uns?« fragte der Leutnant. 248
»Sie werden schon sehen. Nur Geduld.« Der Jeep fuhr an eine sehr helle Wand heran, die sich weit in die Ferne erstreckte und in der perlenhaf ten Unbestimmtheit des Mondlichts verschwand. Ein hohes Tor aus eisernen Stangen und Spitzen öffnete sich in der Wand. Der Korvettenkapitän ging zum Tor und zog an einem Seil, das dort hing, und eine kleine Glocke erklang leise. Einen Augenblick später erschien eine weißgekleidete Gestalt am Tor, ein Mann mit einem langen, dunklen Bart. »Ja?« fragte er leise. »Dürfen wir hereinkommen?« fragte der Korvet tenkapitän. »Dürfen wir zur Abendandacht herein kommen?« »Ja, natürlich«, sagte der Bruder. Er zog an dem einen Flügel des Tores, und die Angeln quietschten ein wenig. Jenseits der Mauer lag ein wundervoller Garten im Mondlicht. Nirgendwo Kriegsmaterial. Alles war draußen geblieben mit Ausnahme der Blumen und dem Geräusch von fließendem Wasser und den mächtigen Konturen einer Kirche vor dem leuchtenden Himmel. Der Leutnant sagte: »Sie sprechen sehr gut Englisch.« »Natürlich«, sagte der Bruder. »Ich bin in Massa chusetts geboren.« »Sie sind Amerikaner?« »Wir kommen von überall her. Wir haben Deut sche und Franzosen und sogar einen Chinesen. Auch ein paar Russen.« 249
Die Gruppe ging langsam den Weg hinauf und kam an einen kleinen Springbrunnen, der das Ge räusch des fließenden Wassers verursachte und der heißen Nacht einen kühlen Hauch verlieh. »Die An dacht hat bereits begonnen«, sagte der Bruder. »Ge hen Sie leise.« Der Weg führte an Wänden von blühenden Bü schen vorbei, dann zwei Stufen hoch in eine dunkle Eingangshalle und schließlich durch den Eingang in einen Raum, der einem vertraut erschien und doch fremdartig war. Jenseits des Geländers lag unten das Hauptschiff der Kirche. Man konnte es nicht sehen, denn es brannte nur eine einzige Kerze, und sie ließ die Höhe und Größe der Kirche lediglich ahnen. Sie beleuchtete nur eine Ecke und einen Bogen und ei nen goldenen Punkt, und das Vorstellungsvermögen mußte den Rest ergänzen. Unten saßen, gerade noch sichtbar, die Reihen der weißgekleideten Brüder. Und dann drang der sanfte Klang ihrer Stimmen zu ihnen hoch und schwoll an. Sie sangen die uralte Musik, die körperlose und leidenschaftslose Musik, von der Mozart sagte, er hätte lieber einen dieser Gesänge ge schrieben als alle seine eigenen. Der Abendgesang stieg höher und höher, das Düstere der Bögen über ihnen. Der große, unbestimmte Raum schwoll an und pulsierte von dem Klang, der dann erstarb und in eine einzelne Stimme überging. Dann fielen die anderen wieder ein, und die Kerzenflamme zuckte an ihrem Docht. Das Geräusch der Lastwagen und Halbkettenfahr 250
zeuge und das Rasseln der Panzer drang schwach aus der Ferne, und die Musik stieg zu einem hohen Ton an und hörte dann auf. Die Reihen weißer Gestalten gingen langsam hinaus, und eine Hand wurde im Kerzenlicht sichtbar und drückte die Flamme aus. Der Jeep fuhr in die Stadt zurück, und dieses Mal fuhr er sehr langsam, denn er war zwischen einem Waffenfahrzeug und einem Mannschaftsfahrzeug eingekeilt, der mit schläfrigen, aufrechten Soldaten besetzt war, die schwankten, wenn der Mannschafts wagen über eine Unebenheit fuhr. Der Leutnant war sehr still. Ein gewisser Zwiespalt machte ihm Kummer. Er sagte: »Der Übergang von einer Situation zur anderen ging zu schnell. Man hat te keine Zeit, sich daran zu gewöhnen. An solche Sa chen müßte man sich langsam gewöhnen können.« »Es gab eigentlich keinen Übergang«, sagte der Korvettenkapitän. »Ich habe immer schon den Ein druck gehabt, die Kriegführung auf See sei wie Kammermusik komponiert. Es gab keinen Übergang. Sie haben nur zwei Seiten der gleichen Sache gesehen. Man kann keine isolierten Erfahrungen machen. Sie beziehen sich gerade so aufeinander wie die Streich instrumente in einem Quartett. Vielleicht verstehen Sie das in ein oder zwei Tagen, wenn wir in den Kampf eingreifen. Sie sind noch nicht im Kampf ge wesen, oder?«
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Der besorgte Barmixer Irgendwo auf dem Kriegsschauplatz im Mittelmeerraum, 20. Oktober 1943 Als unsere kleine amerikanische Streitmacht die Insel Capri ohne den geringsten Widerstand eingenom men hatte, war es nur natürlich, daß wir früher oder später Luigi, den Barmixer, kennenlernen würden. Luigi hatte über den ganzen Krieg hinweg seine Liebe zu den Amerikanern warmgehalten, die – wie er of fen zugab – auf der Erinnerung an die Trinkgelder beruhte, wenn in besseren Zeiten amerikanische Touristen nach Capri kamen, um in der Blauen Grot te und im roten Wein zu baden. Als die Marinesolda ten und Offiziere der kleinen Streitmacht die Vertei digungsanlagen von Luigis Bar inspizierten und sie für hervorragend befanden, war Luigi freundlich, aber traurig. Er sprach das Englisch, das wir kennen, das Englisch der Bananen-Schubkarren und der Piz zerias, der Spaghetti-Lokale und der Leierkasten männer. Luigis Dialekt klang wie zu Hause. Luigi war munter, aber traurig. Seine Freude ebbte gewöhnlich schnell ab und verflüchtigte sich. Eines Nachmittags, nachdem jeder von uns versucht hatte, sich an einen Mann namens Giuseppe Marinari aus Gary, Indiana, zu erinnern, der ein Cousin Luigis dritten Grades war, fragten wir ihn nach dem Grund seiner Traurigkeit. Und erst zu diesem Zeitpunkt sprach er offen über seine Schwierigkeiten. Es schien, als habe Luigi eine Tochter und als er 252
wartete er außerdem noch ein Enkelkind. Aber diese Tochter und das erwartete Kind befanden sich jen seits des kleinen Wasserstreifens in Castellamare. Und was noch schlimmer war, die Deutschen kamen Castellamare immer näher, und unsere Streitmacht dort war nicht groß genug, um sie entweder zurück zuwerfen oder ihren Vormarsch aufzuhalten. Folglich erschien es als sehr wahrscheinlich, daß Luigis Toch ter ihr Kind in einem Granattrichter im Licht von Leuchtgeschossen und niedergehenden Fallschirm leuchtkugeln zur Welt bringen und die Geburt wo möglich durch Bombenexplosionen beschleunigt würde. Luigi war beunruhigt und aufgeregt, weil er, wie er erklärte, keine anderen Töchter oder Enkel kinder hatte. Das sei aufgrund unglücklicher Um stände oder körperlicher Gebrechen sein einziges Küken, und der Grund dafür sei nur Gott bekannt. Und während uns Luigi sein Leid klagte, schenkte er auch schottischen Whisky aus, der die ganze Zeit, seit der Krieg ausgebrochen war, in der Erde hinter seiner Bar vergraben gelegen hatte. Als sie zum Schiff zurückging, konnte die kleine Gruppe die Traurigkeit nicht mehr loswerden, mit der Luigi sie angesteckt hatte. »Was würdest du sa gen, wenn das deiner Familie passieren würde?« frag te Leutnant Blank. »Und man kann sogar bis nach Castellamare hinübersehen.« In dieser Stimmung besuchte die Gruppe den Kommodore in der Offiziersmesse seines Flaggschif fes. Sie erzählten ihm ihre Geschichte, und der 253
Kommodore blickte sie über seine Kaffeetasse hinweg ernst an. Seine sehr ruhigen blauen Augen begannen vor Belustigung richtig zu strahlen. »Was soll ich denn tun?« fragte er, »Castellamare angreifen?« »Nein, Sir«, sagte Leutnant Blank. »Aber wir haben doch sechs eroberte italienische Schnellboote. Wie wäre es, wenn wir eins davon nehmen und mal schnell rüberfahren und sie holen? Das würde nur ei ne Stunde dauern, oder sogar noch weniger.« »Angenommen, Sie verlieren das Boot oder wer den getötet?« »Das passiert schon nicht, Sir. Wir würden nur mal rüberfahren und sie holen. Wir könnten das praktisch in ein paar Minuten schaffen.« Der Kommodore sagte: »Ich kann das nicht erlau ben. Das steht außer Frage. Es ist zu dumm. Wir ver suchen, Krieg zu führen und nicht eine Wöchnerin nenstation zu leiten. Und davon abgesehen habe ich Arbeit für Sie. Sie können nicht einfach so rumren nen.« »Ja, Sir«, sagte Leutnant Blank. »Das sind Ihre Befehle«, sagte der Kommodore. »Sie werden eines dieser Schnellboote nehmen und an der Küste des Festlandes Streife fahren, besonders in der Gegend von Castellamare. Sie werden jedes deutsche Schiff melden, und wenn Sie ein feindliches Fahrzeug sehen, werden Sie es angreifen. Es kann notwendig sein, daß Sie ziemlich nahe an die Küste herangehen müssen, um diese Befehle auszuführen. Haben Sie mich verstanden?« 254
»Ja, Sir«, sagte Leutnant Blank, »aber ich wünschte wirklich, wir könnten dieses Mädchen holen.« »Wir haben keine Zeit für Gefühlsduselei«, sagte der Kommodore. Die Sache ging sehr schnell über die Bühne. Man brauchte lediglich an dem kleinen Dock der kleinen Stadt anlegen und sich nach Luigis Tochter zu erkun digen. In zehn Minuten war sie am Dock. Sie trug ein Kleiderbündel und war – nach unserer Einschätzung – dem Tag der Niederkunft sogar noch ein bißchen näher, als selbst Luigi annahm. Und dann surrten die Isotta-Fraschini-Motoren des Schnellbootes, und die weiße Gischt spritzte vom Bug des Bootes weg, als es auf seinem Weg zurück nach Capri die Wellen schnitt; denn Schnellboote fahren nicht auf der Was seroberfläche, sondern schneiden das Wasser. Das Ende war recht albern. Luigi war am Hafen und weinte, und seine Tochter weinte, und ungefähr tausend Caprianos weinten. Das Geräusch der vielen Küsse war ohrenbetäubend, und viele Marinesolda ten sahen barsch aus, und eine Art Triumphzug fuhr mit der Seilbahn den Hügel hinauf, und es gab eine Party in Luigis Bar. Das Kind, ob Junge oder Mäd chen, wird Leutnant Blanks Vornamen bekommen, und nicht nur Luigi, sondern auch alle Verwandten Luigis werden sich unser aller noch viele Jahre in ih ren Gebeten erinnern. Soviel der Versprechen und Zusicherungen. Am nächsten Morgen ging eine Gruppe von fünf Solda ten den Hügel hinauf, um sich die Haare schneiden 255
zu lassen. Wir saßen herum und lasen in ›The Lon don Pictorial‹ von 1937 und warteten darauf, daß der eine Frisierstuhl frei würde, als Luigi in der Tür er schien. Luigi trug ein kleines Tablett, und auf diesem Tablett befanden sich Scotch und Soda für jeden von uns. Später am Tag gingen wir einkaufen, und wo wir auch anhielten, um uns etwas anzusehen oder etwas zu kaufen, erschien Luigi mit seinem kleinen Tablett. Es war ein recht netter Tag.
Die Kamera macht Soldaten Irgendwo auf dem Kriegsschauplatz im Mittelmeerraum, 21. Oktober 1943 Ich nehme an, es gibt keine Waffe, die die Seelen der Männer so hinterhältig und gezielt angreift wie eine Filmkamera. Männer, die angeekelt oder verletzt oder einfach einfältig sind, reagieren auf eine Bell & Howell-Eyemo wie ein Frosch auf einen heißen Stein. Einer unserer besten Sportjournalisten schlug einmal vor, die beste Art, Touchdowns im Football zu errei chen, bestehe darin, eine Wochenschaukamera zwi schen den Torpfosten anzubringen. Es ist eine Ge heimwaffe, die Leute auseinandernimmt, und das merkwürdige kindliche Ego, das jedermann in sich hat, bringt es dick aufgetragen an die Oberfläche. Kürzlich arbeiteten wir in Afrika, Sizilien und Itali en an einem Film für die Armee. Dort entdeckten wir, 256
daß die gleiche Kraft, die bei Gartenpartys auf Long Island und bei Tennis-Matches wirkt, auch an der Front wirksam ist. Sie funktionierte überall. Müde Truppen richteten sich auf und marschierten steif weiter, einige versuchten, sich vor der Kamera breit zu machen, andere blickten grimmig und soldatisch drein. Alle hielten sich gerade, und die Schritte be schleunigten sich. Der nur dürftig versteckte Schau spieler kam in jedem einzelnen durch. Schauerleute der Armee in den Docks eines nordafrikanischen Ha fens fingen plötzlich an, als sie eine Kamera entdeck ten, die Verpflegungskisten mit einer Schnelligkeit und in einem Rhythmus weiterzuleiten, den es wahr scheinlich nie mehr gegeben hat. Natürlich fielen sie, sobald die Kamera entfernt wurde, in ein vernünftige res, etwas schleichendes Tempo zurück, aber auf den paar Metern Film, die wir haben, schossen die Kisten nur so vorbei und stapelten sich zu einem Berg auf, den die Kamera nicht mehr erfassen konnte. Die Wirkung der Kamera ist keineswegs auf Ame rikaner beschränkt. Unser Film beschäftigte sich mit der verschiedensten Arbeit und den verschiedensten Menschen. Eines Tages stellten wir die Kamera auf einem Lastkahn auf, wo einige Araber damit beschäf tigt waren, die Ladung zu löschen. Anfänglich beweg ten sie sich wie die besten Schlafwandler, die ich je gesehen habe. Jeder Araber betrachtete jede einzelne Kiste als Person, die er nicht mochte; er berührte sie nur widerwillig und war erleichtert, wenn er sie wie der los war. Seine Abneigung hinderte ihn daran, sie 257
mit einer Geschwindigkeit, die Stromlinienform er fordert hätte, zu ihrem Bestimmungsort zu schaffen. Bei diesen Leuten konnten wir keine Eile feststellen, als die Kamera auftauchte. In dem Augenblick, als wir zu drehen begannen, richtete sich jeder Araber eindrucksvoll auf, zeigte sein Profil und blickte feier lich gen Mekka. Immer wieder versuchten wir, sie in einer Haltung zu erwischen, die man als natürliche Pose bezeichnen könnte – nicht bei der Arbeit, denn das wäre ein Widerspruch in sich –, sondern einfach entspannt und im Aussehen wie ein Araber. Aber entweder hatten sie zu viele Hollywood-Filme mit Valentino* in der Rolle eines Arabers gesehen, oder ein Valentino hatte Araber studiert, als sie unter dem Einfluß der Kamera standen. Wir erwischten sie nie, daß sie anders als feierlich in die Kulisse geblickt hät ten, immer im Profil und immer edel. Wir hatten sie entspannt filmen wollen, weil ich vermute, daß Ara ber genauso viele edle Momente wie alle anderen Menschen haben. Buschmänner könnten es mit ih nen in dieser Hinsicht vielleicht aufnehmen, aber ich bezweifle das. Und man konnte sie nicht täuschen. Sie wußten genau, wann gedreht wurde und wann nicht. Sie waren dann geübt, einander Szenen zu
* Rudolf Valentino (1895-1926): gefeierter Hollywood-Star der Stummfilm-Zeit, der vor allem in opulenten Ausstattungsfil men mit exotischem Ambiente brillierte. Zu dem Genre von Filmen, auf die Steinbeck sich hier bezieht, gehört u. a. Va lentinos Erfolg ›Son of the Sheik‹ (1926). (A. d. Ü.) 258
stehlen wie Komparsen in Hollywood. Schließlich gaben wir auf. Sie werden edel weitermachen, so weit es uns betrifft. Wir werden den Mythos des edlen Arabers weiter aufrechterhalten. Genau in dem Au genblick, als wir mit den Dreharbeiten aufhörten, wurden sie wieder zu natürlichen Arabern, aber das bekamen wir nie auf den Film. Die Kamera funktio nierte überall. Nichts kann man mit der Wildheit ei nes Quarterbacks* vergleichen, der nicht auf einen Gegner, sondern auf eine der Fernsehnachrichten auf einem Stativ zuläuft. Das mag Selbstgefälligkeit sein, es gab aber auch ein Beispiel, das für mehr als nur Selbstgefälligkeit sprach. Eines Tages stellten wir die Kamera auf, um das Löschen der Ladung eines Laza rettschiffes zu filmen, das in Sizilien beladen worden war. Die Luken des Schiffes waren geöffnet, und die hölzerne Plattform war ausgefahren. Die Kranken wagen standen in Reihen auf dem Pier, und dann kamen die Krankenträger in einer langen Kolonne mit den verwundeten Männern heraus, die auf den Tragen saßen oder lagen, zusammengekauert oder ausgestreckt, je nach Art ihrer Verletzung. Manche von ihnen waren von Schmerz gepeinigt, andere wa ren fahl vor Schmerz, und einige waren nur leicht verwundet, so daß ihre Augen klar waren. Und nicht ein einziger von ihnen konnte es unterlassen, auf die Kamera zu reagieren, wenn er an ihr vorbeikam. Je der lächelte oder nickte leicht. Einige salutierten * Quaterback: Feldspieler beim American Football (A. d. Ü.) 259
ernst. Die starren Gesichtszüge veränderten sich, und die Augen hellten sich auf, und wenn sich ein Arm bewegen konnte, dann bewegte er sich im Gruß. Ich glaube, das war keine Selbstgefälligkeit. Ich glaube, diese Männer, jeder einzelne von ihnen, hatten nur einen Gedanken. »Jemand zu Hause wird diesen Film sehen. Ich muß weniger schlimm verwundet erschei nen, als ich wirklich bin. Sonst machen sie sich Sor gen.« Ich glaube, dieses müde Lächeln war ein riesi ges Stück Rücksichtnahme und Mut.
Die Geschichte eines Kobolds Montag, 1. November 1943 Diese Geschichte könnte nicht geschrieben werden, wenn es keine Zeugen gäbe – keine verschwomme nen, unbekannten Gestalten, sondern Quentin Rey nolds und H. R. Knickerbocker und Clark Lee und Jack Belden, der bei Salerno verwundet worden war, und John Lardner und eine ganze Zahl anderer, die laut protestierten, wenn jemand die Tatsachen be zweifelt, die hier vorgetragen werden sollen. Die ganze Sache begann, als ein britischer Konsul Quentin Reynolds in der Empfangshalle des Hotels Alletti in Algier traf. Der Konsul war ein kleiner, harmloser Mann mit guten Manieren, der Amerika ner und Briten gerne als Verbündete sah und zu freundschaftlichen Gesten bereit war. In gutem Glauben fragte er Reynolds, wo er wohne, und 260
gleichfalls in gutem Glauben antwortete Reynolds, er sei noch nicht einquartiert worden. »In meinem Zimmer steht ein zusätzliches Bett«, sagte der Konsul. »Sie können es gerne haben, wenn Sie wollen.« Das war der Anfang, und was dann geschah, war niemandes Schuld. Es war eben nur einer jener Zufäl le. Der Konsul hatte ein hübsches Zimmer mit einem Balkon, von dem aus man den Hafen sehen und Luft angriffe beobachten konnte. Es war nicht Reynolds Schuld. Er nahm die Gastfreundschaft für sich selbst an und nicht für die neun anderen Kriegsberichter statter, die gleichzeitig mit ihm einzogen. Neun ist nur eine Zahl, mit der sich arbeiten läßt. Manchmal waren auch bis zu achtzehn da. Sie schliefen auf dem Boden, auf dem Balkon, im Bad, und einige schliefen sogar im Korridor vor der Tür zu Zimmer 140 im Hotel Alletti, Algier. Man war allgemein der Meinung, der Konsul solle sein eigenes Bett haben, oder wenigstens, solange er darin lag. Aber ließ man ihn nur einmal aufstehen, um zur Toilette zu gehen … Wenn er dann zurück kehrte, fand er mit Sicherheit Knickerbocker oder Lee oder Belden oder alle drei darin. Und noch etwas störte den Konsul ein wenig. Korrespondenten schla fen nachts nicht viel. Sie redeten und diskutierten und sangen, so daß der arme Konsul nicht viel Ruhe fand. Es passierte einfach zuviel in seinem Zimmer. Tagsüber mußte er arbeiten, und nachts bekam er sehr wenig Schlaf. Gegen Ende der Woche begann er, 261
mitten am Nachmittag auf ein Nickerchen zurückzu schleichen. Aber dann war sein Bett belegt. Irgend jemand lag immer darin. Aber gegen drei Uhr nach mittags war es gewöhnlich ruhig genug, daß er sich auf dem Boden zusammenrollen und ein bißchen ausruhen konnte. Das eben Erwähnte ist nicht der unglaubliche Teil – ganz im Gegenteil. Erst für das nun Folgende sind Zeugen nötig. Es war während einer dieser nächtli chen Diskussionen über Dinge im allgemeinen, als irgend jemand, vielleicht Clark Lee oder vielleicht auch Jack Belden, die Andeutung machte, wir hätten den algerischen Wein doch wohl alle ziemlich satt, und es wäre doch nett, wenn wir ein bißchen Scotch hätten. Und von diesem Punkt an ist das unsere Ge schichte, und wir haben vor, an ihr festzuhalten. Irgend jemand muß an etwas gerieben haben, ei nem Ring oder einer Lampe oder am völlig erschöpf ten britischen Konsul. Jedenfalls sah man eine kleine blaue Rauchwolke, und mitten im Zimmer stand plötzlich ein kleiner Mann mit spitzen Ohren und ei nem prächtigen Bauch. Er trug einen Anzug aus grü nem Leder, und seine Kappe und seine spitzen Schu he waren ebenfalls grün. »Alle Heiligen von Galway«, sagte Reynolds. »Seht ihr auch, was ich sehe?« »Ja«, sagte Clark Lee. »Und, glaubt ihr es?« »Nein«, sagte Lee, immerhin als Realist bekannt, der schließlich auch bei Corregidor dabei war. 262
Jack Belden hatte viele Jahre in China gelebt und kannte sich mit solchen Dingen aus. »Wer sind Sie?« fragte er streng. »Ich bin der kleine Charley Lytle«, sagte der Ko bold. »Und was wollen Sie von uns? Warum platzen Sie hier so rein?« brüllte Belden. Der britische Konsul stöhnte, drehte sich um und zog die Bettdecke über den Kopf. Knickerbocker gab inzwischen zu, sein erster Impuls sei gewesen, den Ko bold zu töten und auszustopfen, um ihn neben seinem Seglerfisch* in seiner Bude aufzuhängen. Ja, er schlich sich bereits an, als Charley Lytle die Hand hob. »Als der Krieg ausbrach, versuchte ich, mich re krutieren zu lassen«, sagte er. »Aber ich wurde aus politischen Gründen zurückgewiesen. Nicht, daß ich irgendwelche politischen Ansichten hätte«, erklärte er, »aber die Armee war der Ansicht, nur der Himmel könne wissen, wie diese Ansichten wohl aussähen, falls ich überhaupt welche hätte. Es hat schon seit Coolidge keinen republikanischen Kobold mehr ge geben. Ich wurde also abgewiesen bis zur Bildung ei nes Exil-Bataillons aus Kobolden. Damals entschied ich mich, dann eben Menschen wie Kriegsberichter stattern, Soldaten und ähnlichen Leuten Freude zu bereiten.« Reynolds Augen zogen sich gefährlich zusammen. * Eine Art Schwertfisch mit segelartig ausgebildeter Flosse oben. (A. d. Ü.) 263
Er ist sehr loyal. »Wollen Sie unterstellen, daß wir keine Freude haben?« knirschte er. »Daß meine Freunde nicht glücklich sind?« »Ich bin nicht glücklich«, sagte der britische Kon sul, aber niemand achtete auf ihn. Der kleine Charley Lytle sagte: »Ich hörte etwas von Scotch Whisky. Zufällig habe ich gerade …« »Wieviel?« sagte Clark Lee, der Realist. »Aber soviel Sie wollen.« »Ich meine, wieviel Geld?« fragte Lee. »Sie verstehen nicht«, sagte der kleine Charley. »Es geht nicht um Geld. Das ist mein Beitrag zum Krieg – ich glaube, Sie nennen es Kriegsanstrengungen.« »Ich bringe ihn um«, sagte Knickerbocker. »Nie mand spöttelt über meinen Krieg und kommt unge schoren davon.« Reynolds sagte: »Können wir eine Kiste bekommen?« »Sicher«, sagte der kleine Charley. »Drei Kisten?« »Klar.« Lee mischte sich ein. »Jetzt überfordere ihn nicht. Du weißt nicht, wo seine Grenzen sind.« »Wann können Sie liefern?« fragte Reynolds. Anstatt zu antworten, machte Charley Lytle eine theatralische und leicht obszöne Geste. Man sah nur noch eine kleine Rauchwolke, und schon war er ver schwunden. Dann folgten drei kleine Explosionen wie von ein paar winzigen Wasserbomben, und auf dem Boden von Zimmer 140 des Hotels Alletti in Al gier standen drei Kisten »Haig and Haig Pinch Bott 264
le«, umringt von den gierigen und ungläubigen Au gen einer Schar durstiger Korrespondenten. Reynolds atmete schwer wie ein Mann, der einen Anfall hat. »Ein Wunder!« flüsterte er. »Ein Wunder wie aus dem Mittelalter oder aus ›Mary Roberts Ri nehart.‹« Der mürrische Jack Belden hat lange Zeit in China gelebt. Er ist prinzipiell pessimistisch, hat schon alles gesehen und läßt sich nur schwer durch irgend etwas beeindrucken. Jetzt wanderten seine Augen zum bo genförmigen Fenster hinaus auf die vor Hitze ko chenden Straßen und den dampfenden Hafen unter ihnen. »Das ist ein mittelmäßiger Trick«, sagte er. »Aber es ist ein weithin bekannter Trick. Ich würde ihn gerne auf eine richtige Probe stellen.« Er igno rierte den zunehmenden Zorn seiner Kollegen. »Wenn dieser sogenannte Kobold an einem heißen Tag wie heute eine Flasche, sagen wir, »La Batts Pale India Ale« herbeischaffen kann, würde ich sagen, könnte er mal Spitze werden …« Er wurde durch leichten Schneefall von der heißen und von Fliegen dreck übersäten Decke unterbrochen. Unsere Augen folgten den trägen weißen Flocken bis zum Boden, wo sie auf eine Kiste schlanker Flaschen fielen. Ich glaube, Jack Belden ging zu weit. Er sagte mü de: »Aber sind sie auch wirklich kalt?« Reynolds stürzte vor und berührte den Hals einer Flasche. »Kälter als ein … (Zwei Worte von der Zen sur gestrichen)«, sagte er. In jener Nacht gab es einen Luftangriff, und selbst 265
der britische Konsul genoß ihn. Und jeder, der diese Geschichte nicht glaubt, kann die daran Beteiligten fragen, sogar den mürrischen Jack Belden.
Magische Gegenstände 3. November 1943 Sehr viele Soldaten haben einen kleinen Gegenstand bei sich, eine Art Glücksbringer oder Symbol, das für sie, wenn sie in der Schlacht Glück hatten, immer mehr an Bedeutung gewinnt. Und in einer Schlacht Glück zu haben bedeutet einfach nur, nicht verwun det zu werden. Die häufigsten magischen Anhänger sind natürlich Hasenfüße, die in fast allen Geschenk artikelgeschäften zu kaufen sind. Katholiken wie auch Nichtkatholiken tragen St.-Christophorus-Medaillen, die sie in vielen Fällen gar nicht als religiöses Symbol, sondern einfach als Glücksbringer betrachten. Eine Firma in Amerika hat eine Bibel mit Me talleinband herausgebracht, die in der Hemdtasche über dem Herz getragen werden soll, ein schauerli ches kleines Stück purer Berechnung. Man hat weder Vertrauen zu Metall noch zur Bibel, sondern hofft, eine Kombination von Bibel und Metall werde schon helfen. Viele dieser Bibeln sind an die Eltern von Sol daten verkauft worden, aber ich habe nie gesehen, daß ein Soldat sie tatsächlich bei sich trug. Diese be stimmte Tasche ist für Zigaretten, und die Soldaten, die Bibeln mit sich tragen, wie es manche tun, tragen 266
sie in ihren Hosentaschen, und sie werden nie als Glücksbringer angesehen. Die magischen Gegenstände bestehen aus allen möglichen Dingen: ein glatter Stein, ein merkwürdig geformtes Stück Metall oder kleine Fotografien, die in Zellophan eingeschlagen sind. Viele Soldaten be trachten Bilder ihrer Frauen oder Eltern fast als Schutz vor Gefahren. Ein Soldat hatte die Griffscha len seines 45er Colts entfernt und neue aus dem Ple xiglas eines abgeschossenen Flugzeuges gefertigt. Dann hatte er Fotos seiner Kinder unter das Plexiglas gelegt, so daß seine Kinder ihm aus dem Griff seiner Pistole entgegensahen. Manchmal werden Münzen als Glücksbringer be trachtet, manchmal auch Ringe und Anstecknadeln. Gewöhnliche Gegenstände, die ihre Eigenschaft aus der Verbundenheit mit den Zurückgebliebenen zu Hause beziehen, ein Geschenk, oder das Symbol für ein gefühlsmäßiges Erlebnis. Ein Mann trägt ein Me daillon bei sich, das seine verstorbene Ehefrau als Kind trug, ein anderer eine Kette aus Bernsteinper len, die ihn seine Mutter einst tragen ließ, um Erkäl tungen vorzubeugen. Jetzt wehren die Perlen alle Ge fahren ab. Es ist interessant, daß diese Glücksbringer mit der Dauer des Einsatzes an der Front nicht nur wertvoller werden, sondern auch von ihren Besitzern immer ge heimer gehalten werden. Und viele Männer erfinden kleine Rituale, um ihre Amulette zu aktivieren. Ein glatter Stein wird vielleicht gerieben, wenn die 267
Leuchtgeschosse über den Köpfen der Männer Spuren in den Himmel zeichnen. Ein Feldwebel hält einen Penny mit einem Indianerkopf in seiner linken Hand und gegen den Schaft seines Gewehres, wenn er feu ert. Er ist ziemlich überzeugt, daß er nicht vorbei schießen kann, wenn er das tut. Diese Art von Magie ist viel weiter verbreitet, als allgemein bekannt ist. Wenn die Zeit vergeht, sich die Gefahren mehren und es vielleicht ein knappes Entrinnen oder ähnli ches gibt, gewinnt das Amulett nicht nur eine wach sende Bedeutung, sondern auch tatsächlich eine ge wisse Persönlichkeit. Es wird zu einer Sache, mit der man reden und auf die man sich verlassen kann. Ei ner dieser Glücksbringer ist ein kleines hölzernes Schwein, nur etwa zwei Zentimeter lang. Sein Besit zer glaubt, nachdem er es über eine bestimmte Zeit spanne und in ein oder zwei brenzligen Situationen getestet hat, daß dieses kleine hölzerne Schwein be merkenswerte Dinge vollbringen kann. So hielt er bei einem Bombardement das Schweinchen in der Hand und sagte: »Schweinchen, die ist nicht für uns be stimmt.« Und bei einem Granatschuß sagte er: »Schweinchen, du weißt, daß die, die mich erwischt, auch dich erwischt!« Aber es bewahrt seinen Eigentümer nicht nur vor Schaden. Man weiß von diesem Schwein, daß es ei nen Nebel steigen ließ, die See beruhigte und in ei nem Restaurant, wo man schon seit Wochen kein Rindfleisch mehr hatte, plötzlich ein Beefsteak auf tauchen ließ. Weiterhin geht das Gerücht um, daß 268
dieses Schwein in Händen des vorigen Besitzers eine Todesstrafe in eine Haftstrafe umwandelte, verschie dene Krankheitsfälle geheilt und einen gewaltigen Glücksfall direkt herbeigeführt hat. Der Eigentümer dieses Schweines würde sich um nichts in der Welt von ihm trennen. Die Beziehung zwischen einem Mann und seinem Amulett wird nicht nur sehr stark, sondern auch per sönlich. Der Grund ist teilweise die Angst, verlacht zu werden, aber auch ein Gefühl, daß es seine Kraft ver liert, wenn man darüber redet. Außerdem hat man das Gefühl, man dürfe seine magische Kraft nicht zu oft in Anspruch nehmen. Die Wirkung des Glücks bringers ist nicht unerschöpflich. Sie kann schwächer werden, und es ist daher besser, sie sparsam einzuset zen und sie nur anzurufen, wenn die Not groß ist. Bestimmte Firmen haben diesen fast universalen Drang nach magischen Kräften ausgenutzt. Sie brin gen glücksbringende Ringe, Münzen und Figuren zu Tausenden auf den Markt, aber diese Dinge haben sich nie so durchgesetzt wie jene Gegenstände, die sich mit persönlichen Erinnerungen verbinden lassen. Was auch der Grund für diesen Glauben an magi sche Amulette sein mag, im Krieg ist es eben so. Und der Brauch ist keineswegs auf einfältige oder aber gläubische Männer beschränkt. Es scheint so, daß in Zeiten großer Gefahr und großer emotionaler Ver wirrung ein Mann Hilfe und Trost bei einer Instanz außerhalb seines Ichs sucht und ein übergeordnetes Symbol haben muß, an das er sich klammern kann. 269
Es kann praktisch alles sein, ein alter Schirmgriff oder ein religiöses Symbol, aber er muß es einfach haben. Es gibt Zeiten im Krieg, da ist das schlimmste Gefühl nicht Angst, sondern Einsamkeit und das Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit. Und in diesen Zeiten sind der glatte Stein oder der Penny mit dem India nerkopf oder das hölzerne Schwein nicht nur ange nehm, sondern unentbehrlich. Welchen Atavismus sie auch heraufbeschwören mögen, sie tauchen auf und scheinen ein Bedürfnis zu befriedigen. Das Dun kel ist uns nahe – uns allen.
Symptome 5. November 1943 In den Jahren zwischen dem letzten Krieg und diesem war ich immer von der Verschwiegenheit ehemaliger Soldaten bezüglich ihrer Erlebnisse im Kampf ver blüfft. Wenn sie an sich schweigsame Männer gewe sen wären, wäre es etwas anderes, aber einige von ih nen redeten gerne, und einige waren sogar Angeber. Sie beschrieben ihre Erlebnisse bis unmittelbar vor der Schlacht, und dann plötzlich schwiegen sie. Das wurde ihnen als heroisch angerechnet. Man nahm an, sie hätten derart Schreckliches gesehen oder getan, daß sie es nicht wieder heraufbeschwören wollten, damit es sie oder ihre Zuhörer nicht verfolge. Aber viele dieser Männer kannten diese Rücksichtnahme in anderen Bereichen durchaus nicht. 270
Erst kürzlich habe ich eine vernünftige Erklärung gefunden, und die Antwort ist einfach. Sie konnten und können sich nicht erinnern – und je schlimmer die Schlacht war, desto weniger erinnern sie sich. Bei allen möglichen Arten des Kampfeinsatzes wird der gesamte Körper mit Gefühlen bombardiert. Die endokrinen Drüsen ergießen ihre Flüssigkeit in den Organismus, um ihn zu befähigen, der großen Anforderung gerecht zu werden. Angst und Wildheit werden ebenfalls durch diese Flüssigkeit erzeugt. Er müdungsgifte schädigen den Organismus. Hunger und anschließend heruntergeschlungenes Essen ver zerren den Stoffwechsel, der bereits durch Adrenalin und Erschöpfung hinreichend verzerrt ist. Körper und Geist, die bereits derart gestört sind, sind wirk lich krank und fiebrig. Aber zusätzlich zu diesen Krankheiten, die aus dem Innern eines Mannes kommen und ihm zugeführt werden, damit er zeit weise Belastungen aushalten kann, die jenseits seiner natürlichen Widerstandskraft liegen, gibt es den noch größeren Streß der Explosion. Die Druckwelle läßt Erde und Luft erzittern. Sie erschüttert die Nerven der Soldaten. Erst schmerzen die Ohren, dann nimmt das Sehvermögen ab, und schließlich nehmen sie nichts mehr wahr. So fühlt man sich nach ein paar Tagen anhaltenden Beschusses. Die Haut fühlt sich dick und empfin dungslos an. Man hat einen salzigen Geschmack im Mund. Ein harter, schmerzhafter Knoten liegt im Ma gen, wenn das Essen noch nicht verdaut ist. Die Au 271
gen erkennen nicht viele Details, und die scharfen Konturen von Gegenständen sind leicht verwischt. Alles sieht ein bißchen unwirklich aus. Wenn man geht, hat man den Eindruck, die Füße würden kaum den Boden berühren, und man hat ein schwebendes Gefühl überall im Körper. Sogar das Zeitgefühl scheint verändert zu sein. Männer, die sich tatsächlich in einem normalen Tempo bewegen, scheinen eine Ewigkeit zu brauchen, um einen bestimmten Punkt zu passieren. Und wenn man sich selbst bewegt, glaubt man, daß man sehr langsam ist, obgleich man sich eigentlich sogar schneller als normal bewegt. Bei den Explosionen werden die Augäpfel so stra paziert, daß die Erde und die Luft zu zittern schei nen. Anfänglich schmerzen die Ohren, aber dann läßt das Hörvermögen nach und auch die anderen Sinne lassen nach. Es gibt natürlich Ausnahmen. Einige Männer können sich nicht so schützen, sie brechen zusammen, und das sind wahrscheinlich die Fälle, in denen wir von Kriegsneurose sprechen. Während dieser Schwächung der Sinne verlagern sich alle Schwerpunkte. Selbst der Instinkt der Selbst erhaltung ist abgestumpft. Es kann dann passieren, daß ein Mann Dinge tut, die man heroisch nennt, obwohl in Wirklichkeit seine gesamte Reaktions struktur verändert ist. Die ganze Welt nimmt für ihn etwas Unrealistisches an. Man lacht über Dinge, die unter gewöhnlichen Umständen nicht komisch sind, und man gerät schon wegen Kleinigkeiten außer sich vor Wut. In dieser Zeit ist ein netter, freundlicher 272
Mann zu großer Grausamkeit fähig und ein ängstli cher Mann zu großer Tapferkeit. Und fast alle Män ner verfügen über außergewöhnliche Widerstands kräfte gegen Belastungen. Dann kann der Schlaf wie eine Droge ohne War nung über einen kommen. Nach und nach scheint der Körper wie in Watte gepackt zu sein. Alle Haupt nervenstränge sind wie abgetötet, und aus der zer marterten Großhirnrinde tauchen merkwürdige traumähnliche Gedanken auf. Dann kann es vor kommen, daß viele Männer Visionen haben. Die Au gen heften sich auf eine Wolke, und ein übermüdetes Hirn verwandelt sie in ein Gesicht, einen Engel oder einen Teufel. Und im gequälten Hirn werden merk würdige Erinnerungen wach, Szenen und Worte und Menschen, die lange vergessen waren, aber ganz hin ten im Hirn aufbewahrt wurden. Das müssen keine bedeutsamen Dinge sein, aber sie kommen mit einer verblüffenden Klarheit ins Bewußtsein zurück, das sich von der Wirklichkeit abkehrt. Und diese Erinne rungen sind bereits Visionen. Und dann ist es vorbei. Man kann nichts mehr hö ren, aber man hat ein sausendes Geräusch in den Oh ren. Und man will um jeden Preis schlafen, aber wenn man schläft, wird man von Träumen heimge sucht, und im Innersten ist man unruhig und sieht allerlei Gestalten. Das Betäubungsmittel, das der Körper zum Schutz aktiviert hat, läßt in der Wirkung nach, und das ist wie bei den meisten Betäubungs mitteln ein bißchen schmerzhaft. 273
Und wenn man dann aufwacht und sich an das Geschehene erinnert, erscheint es schon wie ein Traum. Dann ist es nicht ungewöhnlich, daß man Angst hat und sich unwohl fühlt. Man versucht sich zu erinnern, wie es war, und man schafft es nicht ganz. Die Konturen in der Erinnerung sind ver schwommen. Am nächsten Tag gleitet das Erinne rungsvermögen noch weiter weg, bis nur noch sehr wenig übrig ist. Man sagt, eine Frau fühlt sich auch so, wenn sie versucht, sich an die Geburt ihres Kindes zu erinnern. Und auch Fieber hinterläßt das gleiche verschwommene Bild. Vielleicht ist es immer so, wenn etwas über das ertragbare Maß hinausgeht. Der Körper sorgt für den Schutzschild und läßt dann die Erinnerung schwinden, damit eine Frau ein weiteres Kind haben und ein Mann wieder in den Kampf zie hen kann. Die Erinnerung gleitet so schnell weg. Falls man nicht an Ort und Stelle Notizen gemacht hat, kann man sich später nicht mehr daran erinnern, wie man empfunden hat oder wie die Dinge wirklich aussa hen. Männer, die lange in der Schlacht waren, sind keine normalen Männer mehr. Und wenn sie nach her scheinbar verschwiegen sind, so erinnern sie sich vielleicht nur nicht gut.
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Die Sperrholz-Marine 15. November 1943 Die Befehle waren einfach. Der Sonderverband der Marine sollte alle deutschen Schiffe aus dem gesamten Seebereich nördlich von Rom vertreiben oder zerstö ren. Deutsche Konvois liefen in verschiedenen Häfen aus und transportierten möglicherweise schwere Waf fen und Gerät von Italien nach Südfrankreich. Der Sonderverband hatte Befehl, diesen Verkehr zu un terbinden. Es ist nicht gestattet, Angaben darüber zu machen, aus welchen Einheiten diese Streitmacht bestand, aber zumindest gehörten einige britische und einige ame rikanische Torpedoboote dazu. Die britischen Boote waren nicht ganz so schnell wie die amerikanischen, aber sie waren schwerer bewaffnet. Der Nachmittag vor dem Angriff wurde damit ver bracht, die Schiffe klarzumachen. Die Kanoniere nahmen ihre Geschütze auseinander, ölten sie und rieben die Salzspritzer von den beweglichen Teilen. Die Geschütze auf den kleinen Booten müssen stän dig gewartet werden. Selbst die Patronenhülsen fär ben sich durch die stetigen Salzwasserspritzer grün. Die amerikanischen Boote sind wie nasse Teufel. Bei jeder Geschwindigkeit und bei jedem Wetter schlägt grünes Wasser über den Bug. Die Männer ziehen Gummikleidung und -kapuzen an und bleiben selbst dann noch nicht trocken. Am Nachmittag wurden die Torpedos geprüft und 275
die Tanks bis an den Rand gefüllt. Die See war sehr blau und ganz ruhig. Während der ganzen ersten bei den Wochen des Angriffs auf Italien war das Meer ruhig wie ein Binnensee, und gerade dieser Teil des Meeres kann sehr rauh sein. Die britischen Offiziere und Männer trugen Bärte mit schönen, großartigen Bürsten, die nach vorn ab standen, weil sie ständig mit den Händen nach außen gestrichen wurden. Das verleiht einem Mann einen kämpferischen Gesichtsausdruck. Auch ein paar Amerikaner trugen einen Bart, aber die Tradition hat sich bei unseren Männern nicht durchgesetzt. Von dem kleinen Inselhafen aus kam die Küste Italiens am Nachmittag in Sicht – die steilen Hügel, die terrassenförmig für Wein und Zitronenbäume angelegt worden waren, und die Berge, die zu den nackten felsigen Gebirgsketten dahinter anstiegen. Der Vesuv rauchte im Hintergrund – eine hohe Feder aus Rauch. Auf dem Kai standen Carabinieri, die sich ergeben hatten, und beobachteten die »Sperrholz-Marine«, wie die Besatzungen die Torpedoboote nennen. Als die Sonne unterging, war die Arbeit getan, und das Abendessen wurde in den winzigen Kombüsen der »Sperrholz-Marine« eingenommen. Der Verband soll te bei Einbruch der Dunkelheit auslaufen. Lange vor der Dunkelheit war der Mond bereits aufgegangen. Er würde nach zwei Uhr morgens untergehen, und es war geplant, an Ort und Stelle und bereit für den Angriff zu sein, sobald der Mond untergegangen war. 276
Das war ein tödlicher Schwarm, der sich hier auf das Auslaufen vorbereitete. Mit all seinen Torpedo rohren hatte er die Möglichkeit, eine ganze Marine zu versenken. Die kleinen Schiffe können sich nahe her anschleichen, und wenn die Sache schlechtgeht, kön nen sie sich zerstreuen und wie Wachteln rennen. Und sie können so schnell drehen und wenden und mit ei ner solchen Geschwindigkeit fahren, daß man sie un möglich abfangen und nur sehr schwer treffen kann. Bei Einbruch der Dämmerung dröhnten die Moto ren nacheinander auf und pendelten sich dann auf ih ren pulsierenden Takt ein. Diese Motoren können ge drosselt werden, so daß sie sehr wenig Lärm verursa chen, aber normalerweise klingen sie wie Flugzeuge. Dann schien der Mond. Die kleinen Schiffe verlie ßen ihren Ankerplatz, und sobald sie die Wellenbre cher hinter sich gelassen hatten, formierten sie sich in drei Reihen und drosselten ihr Tempo auf normale Fahrt. Das weiße Kielwasser leuchtete im Mondlicht, und jedes Boot kreuzte das Kielwasser des voranfah renden Bootes, und der Takt der Motoren war dun kel. Auf Deck hatten die Männer bereits ihre Gum mihosen und -Jacken und die spitzen Gummikapu zen angezogen. In den Gefechtstürmen saßen die Männer schon an ihren Maschinengewehren und warteten. Auf Schiff 412 standen der Kapitän und sein 1. Of fizier auf der kleinen Brücke. Die Gischt schoß in peitschenden Strahlen über den Bug, wenn das Tor pedoboot seine Nase in die leichten Wellen senkte 277
und der Wind das Wasser aufnahm. Ihre Gesichter waren bereits tropfnaß. Hin und wieder ging der 1. Offizier die drei Stufen in den winzigen Kartenraum hinunter, wo eine abgeschirmte Lampe über der Kar te flimmerte, (Eine Zeile von der Zensur gestrichen.) Der 1. Offizier überprüfte den Kurs, steckte dann sei nen Kopf wieder durch die Tür und kletterte zurück auf die Brücke. Von achtern ertönte ein Ruf: »Flug zeug in westlicher Richtung!« Die Männer in den Türmen und am Heckgeschütz schwenkten ihre Waffen nach links und richteten die Mündungen nach oben. Die Kanoniere spähten un ruhig in den milchigen mondbeschienenen Himmel. Wenn sie nicht direkt aus dem Mond kommen, und das tun sie nie, sind sie sehr schwer auszumachen. Aber über die Maschinen des Schiffes hinweg war das Summen der Flugzeugmotoren zu hören. »Unsere oder feindliche?« fragte der 1. Offizier. »Unsere haben Befehl, uns nicht nahe zu kommen. Es muß ein feindliches sein«, sagte der Kapitän. Dann sah man backbord die dunklen Schatten eines Flug zeuges am Himmel, das nicht sehr hoch flog. Die Ka noniere wurden aktiv und folgten der Gestalt mit ih ren Mündungen. Es war zu weit weg, um darauf zu feuern. Der Kapitän nahm sein Megaphon und rief: »Es wird von der Seite kommen, wenn es angreift. Haltet es im Auge.« Das Brummen des Flugzeuges verschwand. »Vielleicht hat es uns nicht gesehen«, sagte der 1. Offizier. 278
»Bei unserem Kielwasser? Natürlich hat es uns ge sehen. Vielleicht war es doch eins von unseren.« Es muß seine Motoren abgestellt haben. Plötzlich ist es über uns, und seine Bombe landet und explo diert, kurz nachdem es an uns vorbei ist. Das Don nern der Explosion und das Knallen der Maschinen gewehre kommen auf einen Schlag. Eine Wasserwand wird von der Explosion über die Seite geworfen, und das Schiff scheint aus den Wellen zu springen. Die Spuren der Leuchtgeschosse greifen nach dem sich entfernenden Flugzeug, und die Spuren scheinen sich in Wellenlinien fortzubewegen, wie es der Strahl aus einem Schlauch tut, wenn man ihn bewegt. Der Kapitän ruft: »Paßt auf. Vielleicht kommt es zurück. Achtet auf die gleiche Seite.« Die Kanoniere schwen ken gehorsam ihre Geschütze herum. Dieses Mal stellte es seine Motoren nicht ab. Viel leicht brauchte es mehr Höhe. Man konnte es kom men hören. Die Geschütze eröffneten das Feuer auf das Flugzeug, bevor es über uns war. Die wogenför migen Spuren der Leuchtgeschosse folgten ihm wei ter, und jede der Spuren blieb ein bißchen hinter ihm zurück. Und dann sprang eine Spur etwas nach vor ne. Da zeigte sich ein kleines blaues Licht auf dem Flugzeug. Einen Augenblick lang schien es zu schwe ben und dann fiel es kopfüber, aber langsam, und das blaue Licht auf dem Rumpf wurde größer und grö ßer, während es abstürzte. Die anderen Geschütze waren noch hinter ihm her, während es herunter kam. Es ging etwa fünfhundert Meter von uns ent 279
fernt nieder, und in dem Augenblick, als es auf die Wasseroberfläche aufschlug, ging es in einer grellen Flamme auf. Dann explodierte es eine Sekunde später mit einem dumpfen Knall, und das Wasser ver schluckte das Feuer, und das Flugzeug war weg. »Der Pilot muß verrückt gewesen sein«, sagte der Kapitän, »so anzugreifen. Wer hat es erwischt?« Nie mand antwortete. Der Kapitän rief zu dem Back bordschützen hinüber: »Haben Sie es erwischt, Er nest?« »Ja, Sir«, sagte Ernest. »Ich glaube ja.« »Gut geschossen«, sagte der Kapitän. 19. November 1943 Das Torpedoboot 412 schlich sich nach Süden. Der Mond schien am Himmel zu hängen und die Absicht aufgegeben zu haben, je unterzugehen. In Wirklich keit war natürlich das Zeitgefühl verändert. Die Dämpfer waren immer noch auf den Motoren, aber die Schiffe fuhren etwas schneller, nicht das große dröhnende Sausen der weit offenen Torpedoboote, aber ein gleichmäßiges Hämmern, das ein geschwun genes V als Kielwasser aufwarf und das Wasser unter dem fächerförmigen Heck ein wenig zum Brodeln brachte. Der Kapitän sagte: »Haltet eure Augen für die anderen auf. Wir wollen nicht, daß unsere eige nen Leute uns einen draufhauen.« Er stieg wieder in das kleine Kartenzimmer hinunter und studierte sei ne Karten. Dann streckte er seinen Kopf hoch und sprach mit seinem 1. Offizier. »Ein Hafen ist jetzt 280
nicht mehr weit weg«, sagte er. »Fahren wir hin. Viel leicht schnappen wir einen Konvoi.« Über seine Worte hörte man das Summen von Maschinen in der Ferne. Der 1. Offizier drosselte seine Motoren noch wei ter, um besser hören zu können, und die Geschwin digkeit von Boot 412 verminderte sich. »Ich nehme an, das sind unsere«, sagte er. Der Kapitän legte seinen Kopf ein wenig schief. »Da stimmt was nicht«, sagte er. »Hört sich nicht gut an.« Und er legte seinen Kopf auf die andere Seite wie ein lauschender Cockerspaniel. »Haben Sie schon mal ein deutsches Schnellboot gehört?« fragte er. »Nein, noch nicht. Sie wissen verdammt gut, daß ich noch keins gehört habe.« »Ich auch noch nicht«, sagte der Kapitän, »aber die klingen für mein Ohr nicht wie die amerikanischen oder die britischen.« Er spähte über die Reling. Der Signalgeber hatte seine Signallampe bereit, um ein Erkennungssignal zu geben. Der Kapitän sagte schnell: »Motor abstellen.« Durch das milchige Licht kamen die deutschen Schnellboote. Sie schienen aus dem Dunkel herauszuwachsen. Die nebligen Formen dieser Schiffe waren mächtig und unverkennbar. Das Boot 412 trieb ruhig im Wasser. Der Kapitän sagte mit heiserer Stimme zum Si gnalgeber: »Signalisieren Sie um Gottes willen nicht!« Es war einen Augenblick lang still, und über all um sie herum schienen die Schnellboote zu sein. »Hören Sie zu«, sagte der Kapitän. »Vielleicht müs 281
sen wir einen Blitzstart machen. Ich weiß nicht, wann.« (Zehn Zeilen von der Zensur gestrichen.) Die deutschen Schnellboote fuhren langsam vorbei. Vielleicht kamen sie nicht auf den Gedanken, daß ein feindliches Schiff in der Nähe ihrer Kanonen so ruhig liegen könne. Das Atmen der Besatzung war fast hörbar. Die deutschen Schnellboote waren fast vorbei, als eins von ihnen auf gut Glück signalisierte. (Eine Zeile von der Zensur gestrichen.) Die Kano niere drehten ihre Rohre nach unten. Die Motoren des 412 dröhnten auf, und das Boot sprang im Was ser hoch. Es stand praktisch auf seinem eigenen Heck und raste weg. (Eine Zeile vom Zensor gestri chen.) Das Kielwasser hinter ihm sah im unterge henden Mondlicht cremig aus. Das Boot peitschte wie eine Möwe über das Wasser. Aber die deutschen Schnellboote feuerten nicht. Sie fuhren gelassen auf ihrem Kurs weiter. Nach fünf Minuten schneller Fahrt drosselte der 1. Offizier die Motoren, und Boot 412 sackte in das Wasser zurück, stabilisierte sich, und das Geräusch der Motoren erstarb. »Allmächtiger Gott«, sagte der Kapitän und pfiff vor sich hin. »Das war knapp.« (Drei Zeilen von der Zensur gestrichen.) »Wir blei ben hier einen Augenblick liegen und holen erst mal tief Luft. Das war zu knapp.« Der Mond lag endlich tief über dem Wasser. In ein paar Minuten würde es dunkel sein, herrlich dunkel, sicher und dunkel. Dann bewegten sich die Männer nervös über das stille Boot. 282
Und dann bewegte sich eine dunkle Gestalt über den dunklen Mond und dann eine weitere. »Großer Gott«, sagte der Kapitän, »das ist ein Konvoi. Deshalb waren die deutschen Schnellboote hier.« Ein großer dunkler Schiffsrumpf zog vor dem Mond vorbei. »Wir müssen sie einfach kriegen«, sagte der Kapitän aufgeregt. »Die werden uns bestimmt kriegen«, sagte der 1. Offizier. »Nein, die kriegen uns nicht.« (Drei Zeilen von der Zensur gestrichen.) Er rief leise seine Befehle. Die Torpedoschützen gingen auf ihre Positionen. Das 412 machte eine Wen dung und schlich sich an den vorbeifahrenden Konvoi an. Er schien Schiffe aller Größen zu umfassen, und das 412 konnte sie gegen den untergehenden Mond sehen, sie aber konnten das 412 nicht ausmachen. »Dieses große da«, sagte der Kapitän, »das muß mindestens fünftausend Tonnen haben.« Er gab seine Befehle und übernahm dann selbst das Steuer. Dann drehte er das Boot und sagte leise: »Feuer!« Man hör te ein scharfes explodierendes Zischen und ein Plat schen, und der Torpedo war unterwegs. Er drehte das Boot wieder und schoß einen zweiten ab. Und sein Mund bewegte sich, als ob er zähle. Dann gingen Wasser und Himmel plötzlich in gleißendem Licht auf, und einen Augenblick später hob das 412 fast aus dem Wasser ab. »Abhauen«, schrie der Kapitän. »Abhauen!« Und 412 sprang wie der auf ihr fächerförmiges Heck und schob ihren Bug in die Luft. 283
Die Explosion war fast im gleichen Moment vorbei, in dem sie begonnen hatte. Nur noch ein kleines Feu er sank in sich zusammen und tauchte sofort unter. »Munition«, rief der Kapitän. »Munition oder Treibstoff.« Aber der Rest der Flotte blieb nicht untätig. Die Leuchtgeschosse und die Raketen, sogar die Flakrake ten ergossen sich über die See hinaus. Das Kreuzfeuer reichte auf die See hinaus, kämmte sie durch und suchte sie ab. (Eine Zeile von der Zensur gestrichen.) Einige Zeit später berührte der Kapitän den Arm sei nes 1. Offiziers, und dieser drosselte die Geschwin digkeit wieder. Fernab in der Finsternis durchkämm ten jetzt deutsche Schnellboote wahrscheinlich das Wasser und suchten nach dem 412 oder nach dem Unterseeboot oder einem anderen Angreifer, der ihr Schiff getroffen hatte. Aber das Boot 412 war ent kommen. (Eine Zeile von der Zensur gestrichen.) Pechschwarze Dunkelheit lag auf dem Wasser, nach dem der Mond untergegangen war. Ozean und Land und Boot waren in die Nacht gehüllt. »Wir wollen machen, daß wir verdammt noch mal hier wegkommen«, sagte der Kapitän. »Machen wir uns auf den Rückweg.«
284
Ein Zerstörer
24. November 1943 Ein Zerstörer ist ein wundervolles Schiff, wahrschein lich das schönste aller Kriegsschiffe. Schlachtschiffe sind ein bißchen wie stählerne Städte oder große Zer störungsbetriebe. Flugzeugträger sind schwimmende Flughäfen. Selbst Kreuzer sind große Maschinen, aber ein Zerstörer ist ein wirkliches Schiff. Mit seinen schö nen klaren Konturen, seiner Geschwindigkeit und sei ner Rauheit, mit seiner merkwürdigen Pracht ist er durch und durch ein Schiff im alten Sinn des Wortes. Zum einen ist ein Zerstörer klein genug, so daß der Kapitän seine ganze Besatzung persönlich kennt, alles über jede einzelne Person weiß, seinen Vorna men und die Anzahl seiner Kinder und die Schwie rigkeiten, in denen er gesteckt hat und in die er viel leicht noch kommen wird. An Bord eines Zerstörers herrscht Ungezwungenheit und eine gute Beziehung zwischen den Männern. Und wenn der Zerstörer dann noch einen guten Kapitän hat, hat man wirklich ein Schiff, auf dem man gerne dient. Schlachtschiffe werden für den tödlichen Schlag zurückgehalten, und solch einen Schlag gibt es manchmal nur einmal in einem Krieg. Kreuzer gehen als zweite ins Gefecht, aber Zerstörer sind ständig im Einsatz. Sie sind wahrscheinlich die fleißigsten Schiffe in der ganzen Flotte. In einem wichtigen Gefecht übernehmen sie die Aufklärung und den ersten An griff. Sie geben Geleitschutz und eilen zu jedem 285
Kampf. Wo immer es ein Problem gibt, eilen als erste Schiffe die Zerstörer hin. Sie haben nicht die göttliche Würde der Schlachtschiffe und auch nicht die bi schöfliche Würde der Kreuzer. Zuallererst sind sie Schiffe, und die Männer, die dort arbeiten, sind See leute. In rauhem Wetter sind sie rauh, ehrlich und ungestüm. Ein Mann auf einem Zerstörer leidet in Kriegszei ten nie an Langeweile, denn ein Zerstörer ist das Schiff eines Seemannes. Er kann in Windeseile auf Fahrt gehen. Das Wasser brodelt unter dem fächer förmigen Heck wie der Niagarafall. Er zieht mit fünf unddreißig Knoten dahin, und die Gischt schießt über ihn hinweg. Er wendet und kämpft und zieht sich wieder zurück, er setzt Wasserbomben ab, bom bardiert und rammt andere Schiffe. Er kann für Himmelfahrtskommandos eingesetzt werden und ist gefährlich. Und aus all diesen Gründen ist die Besat zung eines Zerstörers von leidenschaftlicher Liebe zu ihrem Schiff erfüllt. Jeder kennt sein Schiff, jeden Zentimeter und nicht nur seine eigene Position. Der Zerstörer X ist so ein Schiff. Seit dem Kriegs ausbruch hat er viele tausend Seemeilen zurückge legt. Er ist bombardiert worden, und Torpedos sind unter seinen Bug gegangen. Er hat Geleitschutz gege ben und ist im Kampf gewesen. Sein Kapitän ist ein junger, dunkelhaariger Mann, und sein stellvertre tender Kommandant sieht wie ein blonder Student aus. Das Schiff ist makellos. Die Maschinen sind po liert und gestrichen und gewienert. 286
Der Zerstörer X ist ein ziemlich neues Schiff, vor fünfzehn Monaten in Dienst gestellt. Er hat Casa blanca bombardiert und Gela und Salerno, und er hat Inseln eingenommen. Die Offiziere würden na türlich gern auf größere Schiffe wechseln, weil sie dort leichter befördert werden können, aber die Mannschaft eines Zerstörers würde nicht gern auf ei nem anderen Schiff fahren. Der Zerstörer X ist ein persönliches Schiff und eine wirkliche Persönlichkeit. Man arbeitet dort in aller Ruhe. Niemand hebt je die Stimme. Der Kapitän ist ein freundlicher Mann, und das trifft auch auf jeden anderen zu. Befehle werden in der gleichen normalen Stimmlage ausgesprochen wie die Bitte um Salz in der Messe. Die Disziplin ist genau und pedantisch, aber sie wird in gegenseitigem Einverständnis akzep tiert und nicht von oben herab aufgezwungen. Der Kapitän sagt zum Beispiel: »Soundso viele Männer haben Landurlaub. Beim ersten Mann, der betrunken zurückkommt, ist der Landurlaub für alle anderen gestrichen.« Es ist sehr einfach. Die Besatzung würde jeden disziplinieren, der den Ausgang der ganzen Be satzung gefährdet. Daher kommen sie also in guter Verfassung und pünktlich zurück. Auf X muß nur selten jemand in den Bau. Wenn der Zerstörer X in einer Kampfzone ist, gibt es keine Entspannung. Die Männer schlafen in ihren Kleidern. Der aufreizende blökende Ton, der »Alarm« bedeutet, ist dazu geeignet, den tiefsten Schlaf zu durchbrechen. Es klingt wie der gellende Schrei eines 287
metallischen Maultieres, und die Reaktion setzt au genblicklich ein. Man hört ein Hasten von Füßen auf dem Korridor und das Geklapper von Füßen auf den Leitern. Innerhalb weniger Sekunden strotzt X vor bemannten und feuerbereiten Geschützen, Flakkano nen, die in den Himmel spähen, und die Fünf-ZollKanonen, die ebenfalls auf Objekte am Himmel feu ern können. Die geduckten und behelmten Männer schaffen es in weniger als einer Minute zu ihren Gefechtsstellun gen. Es gibt kein Hasten und keinen Tumult. Sie ha ben es schon hunderte Male gemacht. Und dann ver wandelt ein leise in ein Telefon gesprochenes Wort von der Brücke den Zerstörer in einen feuerspeienden Drachen. In kürzester Zeit kann er Tonnen von Stahl von sich schleudern. Äußerst merkwürdig ist es, die großen Geschütze zu sehen, wenn sie auf automatische Steuerung ge schaltet sind. Sie werden von der Brücke ausgerichtet und abgefeuert. Türme und Kanonen waren vorher schweres, totes Metall, und jetzt plötzlich erwachen sie zum Leben. Der Turm saust herum, aber es sind die Kanonen, die zu leben scheinen. Sie wippen und zittern, fast als ob sie in der Luft herumschnuppern. Sie zittern wie die Fühler eines Insekts, das seine Beu te hört oder riecht. Plötzlich bleiben sie stehen, und mit einem Donner fliegen die Granaten weg. Die Leuchtgeschosse scheinen endlos zu schweben, bevor sie treffen. Noch bevor die Granaten einschlagen, zit tern die Kanonen wieder und gehen auf ein neues 288
Ziel. Sie sind wie Klapperschlangen, die sich aufge richtet haben, um ihr Opfer zu schlagen, und sie scheinen wirklich lebendig zu sein. Es ist schon be ängstigend, das zu beobachten.
Eine zerlumpte Mannschaft 31. Dezember 1943 Als die Pläne gemacht wurden, eine deutsche Radar station auf einer italienischen Insel im Tyrrhenischen Meer einzunehmen, beauftragte man damit amerika nische Fallschirmjäger, vierzig Mann und drei Offi ziere. Sie kamen von irgendwo in Afrika zu dem Ma rinestützpunkt. Sie sagten nicht, woher. Sie kamen irgendwann in der Nacht und wurden am Morgen in eine Wellblechhütte zum Schlafen gebracht, eine har te und zerlumpte Mannschaft. Ihre Uniformen waren nicht mehr so schön und neu wie auf den Plakaten. Die Jacken mit all den Taschen und die Segeltuchho sen waren so oft gewaschen und in der heißen Sonne getrocknet worden, daß sie schon fast weiß waren, und an den Rändern waren sie ausgefranst. Die Offi ziere, zwei Leutnants und ein Hauptmann, waren auch nicht anders gekleidet als ihre Männer, und schon seit Monaten trugen sie keine Rangabzeichen mehr. Der Hauptmann hatte zwei Streifen eines Kle bebandes auf seine Schultern geklebt, um überhaupt zu zeigen, daß er der Hauptmann sei. Einer seiner Leutnants hatte ein Stückchen gelbes Tuch als Rang 289
abzeichen auf seine Schulter genäht. Sie waren zehn Monate in der Wüste gewesen, und es hatte keine Möglichkeit gegeben, die hübschen kleinen Rangab zeichen zu kaufen, die man sonst auf den Schultern trägt. Sie waren nicht mehr aus einem Flugzeug abge sprungen, seit sie ihre Ausbildung in den Vereinigten Staaten beendet hatten, aber das strenge harte Trai ning war auch in der Wüste weitergegangen. Für diese Männer hatte es auch keine Luxusartikel gegeben. Manchmal gingen die Zigaretten aus, und dann hatten sie eben keine mehr. Sie mußten oft wo chenlang mit Feldrationen auskommen und wußten schon lange nicht mehr, wie es war, in einem Bett zu schlafen oder auch nur auf einer Pritsche. Sie sahen einander alle irgendwie ähnlich, und vielleicht ist das das charakteristische Aussehen von Fallschirmjägern. Ihre meist grauen oder blauen Augen waren weit ge öffnet. Das Haar war kurz geschnitten, fast rasiert, was ihren Köpfen ein merkwürdig eiförmiges Ausse hen verlieh. Ihre Ohren schienen gerade aus ihren Köpfen hervorzustehen, vielleicht weil all ihr Haar abgeschnitten war. Ihre Haut war von der Wüsten sonne fast schwarz gebrannt, was ihre Augen und Zähne sehr hell erscheinen ließ. Ihre Lippen waren von monatelanger Sonneneinwirkung aufgerauht. Das Merkwürdigste an ihnen waren ihre Ruhe und ihre fast scheuen, guten Manieren. Ihre Stimmen wa ren so leise, daß man sie fast nicht hören konnte, und sie waren außergewöhnlich höflich. Die Offiziere ga ben ihre Befehle fast im Flüsterton, und es gab nichts 290
von der Steifheit der normalen militärischen Diszi plin. Es war fast, als ob sie alle ähnlich dächten, so daß überhaupt nur wenige Befehle notwendig waren. Wenn etwas getan werden mußte, zum Beispiel das Aus- oder Einladen ihres Nachschubs, dann arbeite ten sie wie Teile einer Maschine. Keiner schien sich schnell zu bewegen, aber es gab keine überflüssige Bewegung, und daher wurde die Arbeit in einem un glaublichen Tempo erledigt. Mit Salutieren wurde keine Zeit verschwendet. Ein Mann grüßte seinen Of fizier nur, wenn er ihn ansprach oder von ihm ange sprochen wurde. Diese Fallschirmspringer hatten so wenig Ausrü stung bei sich, wie man sich nur vorstellen kann. Sie hatten ein paar Gewehre, ein paar Maschinenpisto len, und die Offiziere besaßen die neuen Karabiner. Zusätzlich hatte jeder Mann ein Messer und vier Handgranaten, die gelb gestrichen waren, aber sie hatten ihre Granaten schon so lange, daß die gelbe Farbe schon fast abgegriffen war. Die Gewehre waren so oft poliert und geputzt worden, daß die schwarze Beschichtung an verschiedenen Stellen abgescheuert war und das blanke Metall durchschien. Die kleinen amerikanischen Flaggen, die sie auf ihren Schultern trugen, waren von der Sonne und vom Waschen der Kleider schon ganz bleich. In ihrer Ausrüstung hatten sie nur das Nötigste. Sie besaßen ihre Kleidung und was sie tragen konnten. Und irgendwie hatte man den Eindruck, sie seien sehr tüchtig. Am Morgen kamen ihre Offiziere zur Konferenz, 291
um über die Operation unterrichtet zu werden. Sie traten scheu ein und nahmen an dem einfachen Tisch Platz. Die Marineoffiziere verteilten Karten, und die Operation wurde in Einzelheiten beschrie ben, ein Teil wurde auf einer großen Tafel aufge zeichnet, die an der Wand lehnte. Die Insel hieß Ventotene, und auf ihr befand sich eine Radarstation, die den ganzen Seebereich nörd lich und südlich von Neapel absuchte. Die Radarsta tion gehörte den Deutschen, aber man nahm an, daß nur sehr wenige Deutsche dort seien. Es waren je doch zwei- oder dreihundert Carabinieri da, und man wußte nicht, ob sie kämpfen würden oder nicht. Auf der Insel gab es auch eine Anzahl politischer Ge fangener, die freigelassen werden sollten. Die Insel sollte dann von den Fallschirmjägern so lange gehal ten werden, bis ein Truppenverband an Land gesetzt werden konnte. Die drei Offiziere betrachteten die Tafel mit weit geöffneten Augen. Hin und wieder blickten sie sich ruhig an. Als die Diskussion beendet war, sagte der Marinekapitän: »Haben Sie alles verstanden? Gibt es irgendwelche Fragen?« Der Hauptmann der Fallschirmspringer studierte die Tafel mit der aufgezeichneten Karte der Insel und fragte leise: »Irgendwelche Artillerie?« »Ja, es gibt da ein paar Küstengeschütze, aber wenn sie die einsetzen, werden wir sie mit unseren Marinegeschützen kriegen.« »Ich verstehe. Nun, ich hoffe, die Italiener werden 292
nichts anstellen. Ich meine, ich hoffe, sie schießen nicht auf uns.« Seine Stimme klang sehr scheu. Ein Marineoffizier sagte scherzend: »Wollen Ihre Männer denn nicht kämpfen?« »Das ist es nicht«, sagte der Hauptmann. »Wir sind lange Zeit in der Wüste gewesen. Meine Männer sind ziemlich kampflustig. Sie könnten ziemlich grob werden, wenn jemand auf sie schießt.« Die Besprechung war beendet, und die Marine lud die Fallschirmjäger zum Mittagessen in der Marine messe ein. »Wenn Sie uns entschuldigen würden«, sagte der Hauptmann, »ich glaube, wir gehen lieber zu unse ren Männern zurück. Sie werden wissen wollen, was wir zu erledigen haben. Ich nehme diese Karte hier mit und erkläre es ihnen.« Er hielt wie zur Ent schuldigung inne und sagte: »Verstehen Sie, sie werden es wissen wollen.« Die drei Offiziere standen von dem Tisch auf und gingen hinaus. Ihre Männer warteten in der Blechhütte. Der zerlumpte Haupt mann und seine Leutnants gingen über die Straße, geblendet vom grellen Sonnenlicht, betraten die Un terkunft und schlossen die Tür. Sie blieben lange Zeit drinnen und erklärten den vierzig Männern die Operation.
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Ventotene
3. Dezember 1943 Die Kampfverbände der Marine trafen sich in der Dämmerung auf See, formierten sich und machten sich mit vorherberechneter Geschwindigkeit nach Ventotene auf, um bei Monduntergang an der Insel anzukommen. Ihr Auftrag lautete, die Insel einzu nehmen und die deutsche Radarstation zu besetzen. Der Mond war sehr groß, und man wollte verhin dern, daß die Leute auf der Insel erkennen, welche Streitmacht auf sie zukommt. Deshalb wollte man den Angriff nicht vor Einbruch der Dunkelheit ver suchen. Die Schiffe breiteten sich zur Fahrt im Ver band aus und zogen langsam über die ruhige See. Auf einem Zerstörer des Verbandes saßen die Fall schirmjäger, die den Angriff durchführen sollten, auf Deck und betrachteten den Mond. Sie schienen ein wenig unruhig zu sein. Nachdem man sie dazu aus gebildet hatte, vom Himmel zu fallen, bestand ihr er ster Auftrag in einer Seefahrt. Vielleicht sahen sie darin eine Beleidigung ihrer Tüchtigkeit. Überall an der italienischen Küste entlang unter nahm die Luftwaffe Angriffe. Die Marine konnte die Leuchtsätze sehen, die an Fallschirmen niedergingen, und dann die Explosionen und die Linien der Leuchtspurgeschosse zu ihrer Rechten. Aber die Kü ste wurde zu sehr beschäftigt, als daß sich dort je mand mit dem kleinen Marineverband hätte beschäf tigen können, der in nördlicher Richtung fuhr. 294
Der Zeitplan war absolut exakt. Der Mond wurde sehr rot, bevor er unterging, und gerade, als er unter ging, zeigte sich der hohe Buckel der Insel in seinem Schein. Und sobald er untergegangen war, erschien die Dunkelheit so undurchdringlich, daß man schon den Mann zu seiner eigenen Seite nicht mehr sehen konnte. Auf der Insel sah man überhaupt keine Lich ter. Diese Insel war drei Jahre lang verdunkelt. Als der Marineverband seine Position eingenommen hat te, fuhr ein kleines Boot, das mit einem Lautsprecher ausgerüstet war, näher an die Küste heran. Aus fünf hundert Metern Entfernung richtete es seine Laut sprecher auf die verdunkelte Stadt, und eine schreck lich klingende Stimme übermittelte den Aufruf. »Italiener«, sagte sie, »ihr müßt jetzt kapitulieren. Wir sind in großer Zahl gekommen. Eure deutschen Verbündeten haben euch im Stich gelassen. Ihr habt fünfzehn Minuten, um euch zu ergeben. Zeigt drei weiße Lichter als Zeichen der Kapitulation. Nach Ab lauf von fünfzehn Minuten werden wir das Feuer er öffnen. Dieser Aufruf wird noch einmal wiederholt.« Der Aufruf wurde noch einmal wiederholt – »… drei weiße Lichter als Zeichen der Kapitulation.« Dann war die Nacht still. Auf der Brücke eines Zerstörers spähten die Offi ziere in die Dunkelheit in Richtung Insel. An den Ge ländern des Schiffes spähten auch die Männer in die Dunkelheit. Der 1. Offizier blickte immer wieder auf seine Armbanduhr. Die Nacht war so dunkel, daß man das beleuchtete Zifferblatt zwei Meter weiter 295
noch sehen konnte. Die Feuerzentrale hatte die Schußwerte bereit. Die Geschütze des gesamten Ver bandes wurden auf die Insel gerichtet. Und die Mi nuten gingen langsam vorbei. Niemand wollte auf die Stadt schießen, die konzentrierte Zerstörungskraft der hochexplosiven Geschosse auf die Insel richten. Aber die Minuten verstrichen unaufhaltsam – zehn – elf – zwölf. Die grünen, leuchtenden Zeiger bewegten sich über das Zifferblatt der Armbanduhr. Der Kapi tän sprach ein Wort in sein Telefon, und dann hörte man ein Rascheln, und die Tür des Auswerterraumes öffnete sich einen Augenblick lang und schloß sich dann wieder. Und dann, als der Minutenzeiger schon etwas mehr als vierzehn Minuten zeigte, stiegen von der In sel drei weiße Raketen auf. Sie stiegen auf, beschrie ben langsam einen Bogen und fielen zurück. Und dann, noch nicht zufrieden, stiegen drei weitere auf. Der Kapitän seufzte vor Erleichterung und sprach wieder in sein Telefon. Und das ganze Schiff schien sich zu entspannen. In der Offiziersmesse saß der Kommandeur des Geschwaders am Kopfende des Tisches. Er war in Khaki gekleidet, der Kragenknopf seines Hemdes of fen, und seine Hemdsärmel waren aufgekrempelt. Er trug einen Helm, und eine Maschinenpistole lag vor ihm auf dem Tisch. »Ich werde rüberfahren und die Kapitulation entgegennehmen«, sagte er und be nannte fünf Männer, die mit ihm gehen sollten. »Die Fallschirmjäger sollen sofort rüberfahren, sobald ihr 296
sie im Landeboot habt«, sagte er zu seinem 1. Offizier. »Laßt das Rettungsboot zu Wasser.« Das Deck war sehr dunkel. Man mußte sich seinen Weg ertasten. Die Auslegerarme für die Boote wur den eingeschwenkt, wie es im Kampf immer ge schieht, und jetzt ließ eine Mannschaft das Rettungs boot zu Wasser. Sie hielten es auf der Höhe des Decks, damit die Männer einsteigen konnten – ein Steuermann und ein Maschinist waren bereits im Boot. Fünf Offiziere, mit Maschinenpistolen bewaff net, kletterten über die Reling und ließen sich im Boot nieder. Jeder Mann hatte eine Trommel mit Kugeln auf seiner Pistole, und jeder trug auch noch eine kleine Tasche mit einer weiteren Trommel. Das Boot wurde weiter heruntergelassen, und gerade als es die Wasserfläche berührte, warf der Maschinist den Motor an. Das Boot drehte ab und wandte sich der Küste zu. Richtung und Entfernung mußte man schon fast erraten, da die Küste selbst nicht zu sehen war. Der Kommandant sagte: »Wir müssen hin kommen und sie entwaffnen, bevor sie ihre Meinung ändern. Man weiß nie, was sie machen, wenn wir ih nen Zeit geben.« Und er sagte zu seinen Männern: »Geht kein Risiko ein. Eröffnet das Feuer, wenn ir gend jemand auch nur das geringste Zeichen von Widerstand erkennen läßt.« Das Boot glitt auf die dunkle Küste zu, die Moto ren waren gedämpft und liefen ruhig.
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6. Dezember 1943 Es gibt Zeiten, in denen das Glück bei einem Einsatz eine so große Rolle spielt, daß hinterher ein Gefühl von Grauen aufkommt. Und ein solcher Einsatz war die Invasion der Insel Ventotene durch fünf Männer in einem Motorboot. Sie wußten, daß sich auf der In sel eine deutsche Radarmannschaft befand, aber sie wußten nicht, daß sie siebenundachtzig Mann zählte und dazu noch mit Maschinengewehren schwer be waffnet war. Sie wußten nicht, daß die Einheit Muni tion und Lebensmittel hatte, um sechs Wochen durchhalten zu können. Die Männer in dem Ret tungsboot wußten lediglich, daß die Italiener als Zei chen der Kapitulation drei weiße Raketen in die Nacht geschossen hatten. Der Haupthafen von Ventotene besteht aus einem schmalen Meeresarm, der an einer steilen Klippe wie in einem Amphitheater endet, und auf dieser halb kreisförmigen Klippe liegt die Stadt hoch über dem Wasser. Zur Linken dieses Meeresarmes liegen der Pier und ein kleiner Wellenbrecher, der nicht mit dem Land verbunden ist und gebaut wurde, damit die Brecher nicht gegen den Pier donnern. Schließ lich gibt es links des Piers noch einen weiteren Mee resarm, der dem eigentlichen Hafen sehr ähnlich sieht, allerdings kein Hafen ist. Das Rettungsboot mit den fünf Männern näherte sich der dunklen Insel, und als es nahe genug an der Küste war, schaltete der Kommandant schnell eine Taschenlampe an, die eine tiefe Bucht erkennen ließ. 298
Natürlich nahm er an, das sei der Hafen, und das kleine Boot fuhr ohne Probleme hinein. Dann ging das Licht wieder an und schweifte umher, nur um festzustellen, daß das nicht der richtige Hafen, son dern die falsche Einfahrt war. Das Rettungsboot machte kehrt und fuhr wieder aus der Bucht heraus, und bald kam es an eine Sand bank, die aus dem Wasser aufragte. Und wieder blitzte die Taschenlampe auf, und man sah, daß es sich um den Wellenbrecher handelte. Wieder fuhr das Boot weiter, aber man hatte fast zehn Minuten verloren, weil man sich verirrt hatte. Der dritte Versuch war er folgreich, und das kleine Boot fand die Einfahrt zu dem wirklichen Hafen und fuhr hinein. Und gerade als das Boot seinen Bug in den kleinen Hafen schob, hörte man hinter dem Wellenbrecher eine Explosion und das Geräusch von laufenden Füßen. Dann von der Spitze der Klippe eine weitere Explosion, und dann auf dem Hügel mehr und mehr Explosionen. Man konnte zu diesem Zeitpunkt nichts anderes tun als weiterfahren. Das Boot legte am Pier an, und die fünf Männer sprangen heraus. Hinter dem Wel lenbrecher lag ein deutsches Schnellboot, und daneben stand ein deutscher Soldat. Er hatte gerade eine Stielhandgranate unter das Schnellboot gewor fen, um es zu zerstören und zu versenken. Einer der amerikanischen Offiziere lief auf ihn zu, und in einer einzigen Bewegung riß sich der Deutsche seine Lu ger-Pistole aus dem Gurt, warf sie ins Wasser und hob dann beide Hände über den Kopf. Der Strahl der 299
starken Taschenlampe legte sich wie ein Kreis um ihn. Der Offizier, der ihn gefangengenommen hatte, brachte ihn schnell zum Boot und stellte ihn unter die Aufsicht des Bootsmaschinisten. Und jetzt kamen Italiener vom Hügel herunterge schwärmt und schrien: »Kapitulation, Kapitulation!« Und als sie herunterkamen, ließen sie ihre Gewehre auf einen wirren Haufen fallen. Der Kommandant wies auf eine Stelle auf dem Kai. »Stapelt sie da auf«, sagte er. »Holt alles, was ihr habt, und stapelt es da auf.« Jetzt wurde der Kai kreuzweise mit Scheinwerfern ausgeleuchtet. Die fünf Amerikaner standen Seite an Seite mit ihren Waffen in Anschlag, während die ita lienischen Carabinieri ihre Gewehre brachten und sie auf einen Haufen legten. Alle schienen verwirrt und froh und verängstigt. Die Leute wollten sich eng zu sammendrängen, um die Amerikaner zu sehen, aber zur gleichen Zeit hielten sie die häßlichen Mündun gen der Maschinenpistolen auf Distanz. Es ist kein beruhigendes Gefühl, einer von fünf Männern zu sein, die zweihundertfünfzig Männern gegenüberste hen, selbst wenn diese Männer scheinbar kapituliert haben. Alle Italiener redeten. Niemand hörte zu. Und nie mand wollte zuhören. Und dann brach eine bemer kenswerte Gestalt durch ihre Reihen, ein großer, grauhaariger alter Mann, der einen rosafarbenen Py jama trug. Er stolzierte durch die schnatternden, schreienden Carabinieri und sagte: »Ich spreche Eng 300
lisch.« Augenblicklich hörte der Lärm auf, und ein Kreis von Gesichtern zeigte sich deutlich in den Lichtkegeln der Scheinwerfer. »Ich bin seit drei Jahren als politischer Gefangener hier«, sagte der alte Mann. Aus irgendeinem Grund sah er in seinem rosafarbe nen Pyjama nicht komisch aus. Er besaß viel Würde, sogar genug, um seine Kleidung vergessen zu machen. Der Kommandeur fragte: »Was waren das für Ex plosionen?« »Die Deutschen«, sagte der alte Mann. »Es sind siebenundachtzig Mann. Sie waren darauf vorberei tet, mit Maschinengewehren auf euch zu feuern, als ihr in den Hafen einfuhrt, aber als ihr Truppen im falschen Hafen und weitere Truppen auf dem Wel lenbrecher abgesetzt habt, dachten sie, sie waren um zingelt und zogen sich zurück. Sie sprengen auf ih rem Rückzug alles in die Luft.« »Als wir Truppen an Land setzten …?« begann der Kommandeur, unterbrach sich dann aber selbst. »O ja. Ich verstehe«, sagte er. »Ja, als wir die Truppen an Land setzten.« Einer der Offiziere fröstelte ein wenig und grinste zum Kommandeur hinüber. »Ich wünschte, diese Fallschirmspringer würden jetzt eintreffen«, sagte er. »Ich hätte auch nichts dagegen«, antwortete der Kommandeur. Und er wandte sich wieder an den alten Mann im Schlafanzug. »Wohin gehen die Deut schen?« »Sie werden sich zu ihrer Radarstation zurückzie hen, um sie zu zerstören. Sie haben ein paar Schüt 301
zengräben auf dem Hügel. Ich nehme an, sie werden die Stellung dort halten wollen.« In diesem Augen blick hörte man eine gewaltige Explosion, und oben auf dem Hügel brach Feuer aus, ein Feuer, das groß genug war, um das kleine Dock und die Einfahrt zur Bucht zu beleuchten. »Das war wohl die Radarstati on«, sagte der alte Mann. »Sie sind sehr gründlich. Schade, daß die Truppen, die Sie an Land gebracht haben, nicht zuerst dort waren.« »Ja«, sagte der Kommandant, »das ist wirklich schade.« Weitere Italiener kamen den Hügel herunter und gaben ihre Waffen ab. Sie schienen sehr froh zu sein, sie ablegen zu können. Offensichtlich hatten sie nie ein besonderes Verhältnis zu ihren Gewehren gehabt. Auf dem Dock standen die fünf Amerikaner unru hig herum, sie hielten ihre Pistolen entsichert, und ih re Augen schweiften ruhelos über die Italiener. Der Feuerschein von den brennenden Gebäuden hoch oben auf dem Hügel warf hinter den Dockhäusern tie fe Schatten. Der Kommandeur sagte leise: »Ich wünschte, diese Fallschirmjäger würden kommen. Wenn Jerry herausfindet, daß wir nur fünf Mann sind, würde ich keinen Pfifferling mehr für uns geben.« Und dann konnte man das Geräusch eines Motor bootes hören, und der Kommandant lächelte vor Er leichterung. Die dreiundvierzig Fallschirmjäger ka men an Land. »Leuchten Sie ihnen, Bootsführer«, rief der Kommandant. »Zeigen Sie ihnen, wo sie landen müssen.« 302
8. Dezember 1943 Die fünf Männer von dem Zerstörer bewegten sich ruhelos über den Kai der Insel Ventotene, die sie zu fällig und mit Glück eingenommen hatten. Man sah nicht das geringste Zeichen von dem Zerstörer, der vor der Küste lag, und Minuten wurden zu Stunden. Die dunkle Stadt auf der Klippe war für sie in ihrer Vorstellung von Scharfschützen bevölkert, und von drüben auf dem Hügel, wohin sich die Deutschen zu rückgezogen hatten, donnerte gelegentlich eine Ex plosion, wenn die Deutschen weitere Einrichtungen sprengten. Sie wußten nicht, wie viele Amerikaner da waren – es waren nur fünf. Und die Amerikaner wuß ten nicht, wie viele Deutsche da waren – es waren sie benundachtzig. Das war großes Glück für die Ameri kaner, denn wenn die Deutschen gewußt hätten … Das ist kein Gedanke, den man weiterspinnen sollte. Man hat den Drang, in Bewegung zu bleiben, ru helos hin und her zu gehen, und man ist auch ängst lich darauf bedacht, kein Licht im Rücken zu haben, wenn man allein ist und nicht weiß, wann aus der Dunkelheit auf einen geschossen wird. Dieses Her umgehen ist wahrscheinlich das schlimmste, was man tun kann. Nach Meinung von Bob Capa*, der in * Robert Capa wurde als Erno Endre Friedmann 1913 in Buda pest geboren. Als Fotojournalist war er an allen Brennpunk ten der Welt. 1949 gründete er zusammen mit CartierBresson und David Seymour in Paris die Foto-Agentur Ma gnum. Er starb 1954 in Indochina, als er beim Fotografieren auf eine Mine trat (A.d.Ü.) 303
mehr Kriegen und näher dran gewesen ist als fast je der, der jetzt noch lebt (und weshalb er noch lebt, weiß niemand), soll man sich auf keinen Fall bewe gen. Wenn man absolut unbeweglich in der Dunkel heit sitzt, so argumentierte er, weiß niemand, daß man überhaupt da ist. Erst durch die Bewegung ver rät man seine Position. Seiner Meinung nach soll man auch unter Beschuß so lange still sitzen bleiben, bis man weiß, aus welcher Richtung gefeuert wird. Das ist in der Praxis schwierig, aber es muß wohl richtig sein, denn Bob Capa lebt immer noch. Aber der erste Instinkt ist immer, sich zu bewegen und den Platz, an dem man sich gerade befindet, zu verlassen. Aber ein Licht im Rücken zu haben ist am schlimm sten. Es scheint einem in den Rücken zu brennen, und man malt sich aus, welch wunderbares Ziel man für jemanden in der Dunkelheit abgibt, wenn man selber vor einer Lichtquelle steht und nach vorne noch einen großen Schatten wirft. Wahrscheinlich gibt es auf der ganzen Welt nichts so Dehnbares wie das eigene Zeitgefühl. Man kann nicht wissen, wie lange diese dreiundvierzig Fallschirmjä ger brauchten, um an Land zu kommen. Es kann eine halbe Stunde gewesen sein, und es können drei Stun den gewesen sein. Für die drei Männer auf dem Kai waren es drei Tage. Wahrscheinlich dauerte es etwa fünfundvierzig Minuten. Die dunkle feindliche Insel und das dunkle Wasser boten nichts Behagliches. Aber nach einer schier unendlichen Zeit hörte man ein heimliches leises Brummen von Motoren. Dann 304
tauchte aus der Dunkelheit ein kleines Licht auf. Das Boot bat um Anweisungen. Einer der Offiziere auf dem Kai legte sich auf den Bauch, lehnte sich über das Steingeländer und gab Signale mit seiner Ta schenlampe, so daß man es von der Insel aus nicht sehen konnte. Und dann ließ er seine Taschenlampe in Intervallen aufblitzen, um dem Boot die Richtung anzugeben. Es tauchte abrupt aus der Dunkelheit auf: Aus der pechschwarzen Dunkelheit glitt es geräuschlos heran und stieß sanft gegen den Kai. Und es war eins dieser Boote, dessen Name die Marine streichen wird, wenn ich ihn hier angebe. Aber wichtig war, daß sich drei undvierzig Fallschirmjäger an Bord befanden. Sie schienen über die Seite des Bootes zu fließen; sie wa ren sehr still. Ihr Hauptmann ging augenblicklich an die Arbeit. Er schickte Vorposten aus, bevor er auch nur eine Minute an Land war, und sie schlichen sich den Hügel hinauf, um die Zugänge zum Hafen zu bewachen. Einige gingen in die Stadt und besetzten, mit Gewehren und Handgranaten bewaffnet, die Dä cher der Gebäude. Andere zogen zum Strand hinun ter, um den Zugang von See her zu bewachen. In der Zwischenzeit war ein kleiner Landesteg an den Kai gelegt worden, und der Nachschub wurde in der Dunkelheit an Land gebracht. Mitten in dieser Arbeit konnte man das Brummen eines Flugzeuges hören. Der Hauptmann der Fall schirmjäger gab einen kurzen Befehl, und die Män ner gingen in Deckung. Das Flugzeug brummte über 305
sie hinweg, und als es in einiger Entfernung von der Küste war, trat der Zerstörer wieder in Aktion. Er feuerte in seiner ganzen Blüte wie bei einem traditio nellen Feuerwerk zum vierten Juli. Seine Leuchtge schosse sprühten wie ein Springbrunnen. Und dann wurde es an Bord wieder dunkel, und das Flugzeug war verschwunden. Das Entladen ging weiter, bis ein Stapel von Gü tern auf dem Kai lag, Rationen in Kisten und Muni tionskisten und Maschinengewehre und die leichten Schlafsäcke der Fallschirmjäger. Sie brachten keine Luxusartikel mit. Das tun sie nie. Ihr Hauptinteresse gilt der Verpflegung und der Munition. Sonst kom men sie mit sehr wenig aus. Aber nach Ventotene brachten sie auch Wasser mit, in diesen Behältern mit Griffen, die für Wasser und auch für Benzin ver wendet werden. Denn auf Ventotene gibt es kein Wasser. Zu anderen Zeiten kamen immer Wasser schiffe vom Festland herüber. Das einzige Wasser am Ort wird während der Regenmonate in Zisternen ge sammelt. Als der Nachschub an Land war, versammelten sich die drei Fallschirmjägeroffiziere und die Marine offiziere in einem kleinen Steingebäude am Hafen. Auf dem Boden stand eine elektrische Lampe, und die Türen und Fenster waren geschlossen, so daß kein Licht nach draußen fallen konnte. Die Gesichter wurden von unten beleuchtet, und es waren ange spannte Gesichter, und die Kinnmuskeln waren ver krampft. Wieder wurden die Kisten herausgeholt. 306
»Ich werde meine Männer in der Dunkelheit nicht auf eine feindliche Übermacht hetzen«, sagte der Hauptmann der Fallschirmjäger. »Jerry wird mittler weile in den Gräben sitzen. Ich werde bis zum Mor gen keinen Angriff starten. Wir haben nur halb so viele Leute und keine Artillerie.« Ein Offizier sagte: »Vielleicht … vielleicht können wir sie überreden. Holen wir doch ein paar der Ita liener herein und sehen wir mal, was wir tun können. Jerry weiß nicht, wie viele Männer oder wie viele Schiffe wir haben. Denken wir mal ein bißchen dar über nach. Es wäre vielleicht doch möglich, sie zu überreden.« »Wie?« fragte der Hauptmann. »Nun, würden Sie mich morgen früh mit einer weißen Flagge raufgehen lassen?« »Die knallen Sie ab.« »Lassen Sie es mich trotzdem versuchen?« »Nun …« »Könnte uns eine Menge Schwierigkeiten erspa ren … Sir …« »Wir können es uns nicht leisten, Offiziere zu ver lieren.« »Sie werden mich nicht verlieren. Sagen Sie ja.« Der Hauptmann sah ihn lange Zeit an, und dann lächelte er dünn, und sein Kopf senkte sich fast un merklich.
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10. Dezember 1943 Der Leutnant ging langsam den Hügel hinauf auf die deutschen Stellungen zu. Er trug eine weiße Flagge über dem Kopf, und diese weiße Flagge war ein Bade tuch. Als er so ging, dachte er, was für ein Narr er doch sei. Er hatte wirklich seinen Kopf riskiert. Ge stern abend, als er um das Privileg gekämpft hatte, hier heraufzugehen und Jerry durch Tricks zur Kapi tulation zu bewegen, hatte er nicht gewußt, daß es so sein würde. Er hatte nicht gewußt, wie einsam und gefährdet er sein würde. Vierzig Fallschirmjäger ge gen siebenundachtzig Deutsche, aber Jerry wußte das nicht. Der Leutnant hoffte auch, Jerry wisse nicht, daß sein Mut ihn verlassen hatte. Seine Schritte klan gen laut auf dem Pfad. Es war früh am Morgen, und die Sonne war noch nicht aufgegangen. Er hoffte, sie würden seine weiße Flagge sehen. Vielleicht sah man sie bei diesem Licht nicht. Er hielt sich beim Hinauf klettern so viel wie möglich in offenem Gelände. Er wußte, daß die vierzig Fallschirmjäger hinter ihm herkrochen und sich den Hügel hinaufarbeite ten, sich in Deckung hielten und in Position gingen, damit sie, falls irgend etwas schiefgehen sollte, sofort angreifen konnten, weil dann noch die Chance be stand, Jerry zu überraschen. Er wußte, der Feldste cher des Hauptmanns würde auf die deutschen Posi tionen gerichtet sein und darauf warten, daß etwas passierte. »Wenn sie auf Sie schießen, werfen Sie sich hin und bleiben still liegen«, hatte der Hauptmann ge 308
sagt. »Wir werden versuchen, Sie zu decken und her auszuholen.« Der Leutnant wußte, daß er, wenn er getroffen würde und nicht tot wäre, den Schuß noch hören würde, nachdem er getroffen wäre. Sollte er aber in den Kopf getroffen werden, würde er nichts hören oder fühlen. Er hoffte, wenn es schon geschehen soll te, daß es dann auf diese Art wäre. Seine Füße er schienen ihm sehr schwer und unbeholfen. Er blickte vor sich hin und sah die kleinen Steine auf dem Weg und wünschte, er könne sich hinknien, um festzustel len, welche Steine es sind. Er hatte das unbedingte Bedürfnis, auf die Knie und aus der Schußlinie zu gehen. Seine Brust prickelte, als ob er sich darauf vorbereitete, die Kugel zu empfangen. Und sein Hals war so zugeschnürt wie damals, als er versucht hatte, im College eine Rede zu halten. Schritt für Schritt ging er näher heran, aber kein Anzeichen von Jerry. Der Leutnant wollte sich um drehen, um zu sehen, ob einer der Fallschirmjäger in Sicht sei, aber er wußte, die Deutschen würden ihn mit ihren Feldstechern beobachten, und sie waren nahe genug, um sogar seinen Gesichtsausdruck zu sehen. Schließlich geschah es, schnell und natürlich. Er ging an einem Haufen Felsbrocken vorbei, als ihm eine tiefe Stimme einen Befehl zurief. Da waren drei Deutsche, jung aussehende Männer, und sie richteten ihre Gewehre auf seinen Bauch. Er blieb stehen und starrte sie an, und sie starrten zurück. Er fragte sich, 309
ob seine Augen wohl auch so groß wären wie ihre. Sie hielten inne, und dann rief eine heisere Stimme von oben herunter. Die Jerrys standen auf und warfen schnell einen Blick den Hügel hinunter, bevor sie zu ihm traten. Und dann marschierten die vier weiter. Das alles schien dem Leutnant ein wenig dumm; klei ne Jungs, die eine Allee hochmarschierten, um Con nors Holzschuppen anzugreifen. Und das Badetuch an einem Stock schien auch dumm. Er dachte: »Nun, wie dem auch sei, wenn sie mich abknallen, werden unsere Jungs diese drei kriegen.« In seiner Phantasie konnte er behelmte Amerikaner sehen, die die kleine Prozession durch die Zielfernrohre ihrer Gewehre beobachten. Vor sich sah er ein kleines weißes Steingebäude, aber Jerry war zu clever, um sich in diesem Haus auf zuhalten. Hinter dem Gebäude begann ein Graben und führte zu einem Loch, das fast wie ein Bomben trichter aussah. Drei Offiziere standen ihm in dem Loch gegen über. Sie trugen graublaue Uniformen und die schö nen hohen Schirmmützen der Luftwaffe mit Sil beradler und Hakenkreuz. Sie waren Elektroingeni eure, Bodendienstpersonal der deutschen Luftwaffe. Sie sahen ihn an, ohne zu sprechen, und sein Hals war so zugeschnürt, daß er einen Augenblick lang selbst nichts sagen konnte. Das einzige, woran er denken konnte, war ein grüner Spieltisch; Jerry hatte drei Zweier offen liegen und der Leutnant zwei Drei er. Er wußte, daß sie nichts mehr hatten, aber sie 310
wußten nicht, was er noch in der Hand hatte. Er hoffte nur, daß sie es wirklich nicht wußten, denn al les, was er hatte, waren diese beiden Dreier. Der Oberleutnant sah ihn genau an und sagte nichts. »Sprechen Sie Englisch?« fragte der Leutnant. »Ja.« Der Leutnant holte tief Atem und brachte die Rede heraus, die er auswendig gelernt hatte. »Empfehlungen meines Oberst, Sir. Ich habe Befehl, Ihre Überga be zu fordern. Nach zwanzig Minuten werden die Kreuzer näher kommen und das Feuer eröffnen, wenn aufgrund der Kapitulation nichts anderes be fohlen wird.« Er bemerkte, wie die Augen des Ober leutnants unwillkürlich zur See hingingen. Der Leut nant vergaß seine Höflichkeit, wie er es geplant hatte. »Wo liegt denn der Sinn?« sagte er. »Wir würden Sie nur alle töten. Wir haben sechshundert Mann an Land, und die Kreuzer brennen darauf, auf Sie zu feuern. Wo ist denn der Sinn? Sie töten ein paar von uns, und wir töten Sie alle. Warum werfen Sie nicht einfach Ihre Waffen weg und ergeben sich?« Der Oberleutnant starrte ihm in die Augen. Mit diesem Pokerface-Blick. Der Blick schätzte ab: Passe oder spiele, passe oder spiele. Die Pause dauerte Jahr hunderte, und dann fragte der Oberleutnant schließ lich: »Welche Behandlung haben wir zu erwarten?« »Kriegsgefangene gemäß der Haager Konvention.« Der Leutnant versuchte verzweifelt, ein undurch dringliches Gesicht zu machen. Wieder gab es eine 311
lange Pause. Der Deutsche holte tief Atem, und sein Atem pfiff durch die Nase. »Es ist nicht unehrenhaft, sich einer Übermacht zu ergeben«, sagte er. 13. Dezember 1943 Als der Leutnant mit seinem Badetuch als weißer Flagge zu den Deutschen hinaufstieg, beobachtete ihn der Hauptmann der Fallschirmjäger durch einen Spalt zwischen zwei Gebäuden hindurch. Die Män ner, die sich versteckt hinter ihm befanden, sahen, wie der Leutnant angerufen wurde, und sahen ihn dann hinter dem weißen Steingebäude wieder. In diesen Augenblicken atmeten die beobachtenden Männer kaum. Sie warteten nur auf den Knall eines Gewehrschusses, der bedeuten würde, der Plan, die Deutschen mit einem Trick zur Kapitulation zu be wegen, wäre fehlgeschlagen. Die Zeit ging unendlich langsam vorbei. In Wirklichkeit dauerte es nur etwa fünfzehn Minuten. Dann tauchte der Leutnant wie der auf, und dieses Mal wurde er von drei deutschen Offizieren begleitet. Die Beobachter sahen ihn zu einer freien Stelle auf dem Weg hinuntergehen, anhalten und auf den Bo den zeigen. Dann zogen sich zwei der Offiziere wie der hinter das weiße Gebäude zurück. Aber nach ei nem Augenblick tauchten sie wieder auf und hinter ihnen die deutschen Soldaten. Sie kamen den Weg herunter und legten an der Stelle, auf die der Leut nant gedeutet hatte, ihre Waffen ab: ihre Gewehre 312
und Maschinengewehre und sogar ihre Pistolen. Der Hauptmann, der versteckt hinter Steinen lag, zählte mit. Er kontrollierte die gesamten siebenundachtzig Mann, die man dort vermutete. Er sagte zu seinem Leutnant: »Bei Gott, er hat die Sache geschaukelt!« Und jetzt formierte sich ein kleiner Festzug. Als die Deutschen den Weg herunterkamen, tauchten ame rikanische Fallschirmjäger aus dem Wald auf, bis die Deutschen von einer Ehrengarde von etwa dreißig Männern umgeben waren. Die ganze Gruppe stieg den Hügel hinunter und marschierte in die kleine weiße Stadt, die so hoch über dem Hafen von Vento tene lag. Da Ventotene seit Hunderten von Jahren eine ita lienische Gefängnisinsel war, hatte man genug Platz, um die Gefangenen unterzubringen. Die oberste Eta ge eines Gebäudes, das man das Rathaus nennen könnte, war ein großes, geräumiges Gefängnis mit vier oder fünf großen Zellen. Die Schlange mar schierte die Treppe des Rathauses bis zur dritten Eta ge hinauf, und dann wurden die Deutschen in drei Gruppen aufgeteilt. Jede Gruppe wurde in eine der drei Zellen gesteckt, während die vierte Zelle für die Offiziere reserviert blieb. Zehn Wachen mit Maschi nenpistolen wurden vor die Zellentüren gestellt, und die Eroberung war vorbei. Der Leutnant, der die weiße Flagge getragen hatte, setzte sich ein bißchen wackelig auf die Treppe des Rathauses. Der Hauptmann setzte sich neben ihn. »Irgendwelche Probleme?« fragte der Hauptmann. 313
»Nein. Es war zu leicht. Ich kann es noch gar nicht glauben.« Er zündete sich eine Zigarette an, und das Zittern seiner Hand ließ das Streichholz fast wieder verlöschen. »Hervorragende Arbeit«, sagte der Hauptmann. »Aber was sollen wir jetzt mit ihnen machen?« »Werden die Schiffe nicht heute abend zurück sein?« »Ich hoffe ja, aber nehmen wir an, sie sind nicht zurück. Wir können niemanden schlafen lassen, bis wir diese Jungs nicht losgeworden sind.« Ein Soldat trat zu ihnen. »Diese Jerry-Offiziere schlagen Krach«, sagte er. »Sie wollen den komman dierenden Offizier sprechen, Sir.« Der Hauptmann stand auf. »Kommen Sie besser mit mir«, sagte er zu dem Leutnant. »Was haben Sie ihnen gesagt, wie viele Männer wir haben?« »Sechshundert«, sagte der Leutnant, »und ich habe vergessen, wie viele Kreuzer vor der Küste.« Der Hauptmann lachte. »Ich habe einmal von ei nem Offizier gehört, der fünfzehn Männer so lange um ein Haus hat marschieren lassen, bis sie wie eine Armee aussahen. Vielleicht sollten wir das besser auch mit unseren vierzig machen.« An der Tür der Offizierszelle nahm der Haupt mann seine Pistole heraus und gab sie einer der Wa chen. »Lassen Sie die Tür offen und behalten Sie uns die ganze Zeit im Auge. Wenn sie eine verdächtige Bewegung machen, erschießen Sie sie!« »Ja, Sir«, sagte die Wache, und er schloß die schwere Tür auf und öffnete sie. 314
Die deutschen Offiziere standen an dem vergitter ten Fenster und blickten auf die verlassenen Straßen der kleinen Stadt. Sie konnten zwei einsame Wach posten vor dem Gebäude sehen. Der deutsche Ober leutnant wandte sich um, als der Hauptmann eintrat. »Ich will sofort den Oberst sprechen«, sagte er. Der Hauptmann schluckte. »Hm … der Oberst? Nun, er hat im Augenblick keine Zeit.« Der Deutsche starrte einen langen Moment in die Augen des Hauptmannes. Schließlich sagte er: »Sie sind der kommandierende Offizier, nicht wahr?« »Ja, das stimmt«, sagte der Hauptmann. »Wie viele Männer haben Sie?« »Wir beantworten keine Fragen«, sagte der Haupt mann steif. Das Gesicht des Deutschen war hart und ent täuscht. Er sagte: »Ich glaube nicht, daß Sie sechs hundert Mann haben. Ich glaube, Sie haben nur ein paar mehr als dreißig.« Der Hauptmann nickte ernst. Er sagte: »Wir haben das Gebäude vermint. Wenn es irgendwelche Schwie rigkeiten gibt – auch nur die geringsten Schwierigkei ten –, blasen wir euch alle in die Hölle.« Er drehte sich um, um die Zelle zu verlassen. »Sie werden bald an Bord eines Schiffes gehen«, sagte er über die Schulter. Als sie die Treppe hinuntergingen, fragte der Leut nant: »Haben Sie das Gebäude wirklich vermint?« Der Hauptmann grinste ihn an. »Haben wir wirk lich sechshundert Männer?« fragte er. Und dann sag 315
te er: »Gott, ich hoffe, der Zerstörer kommt heute abend und holt diese Jungs ab. Bis dahin wird keiner von uns auch nur ein bißchen schlafen können.«
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