Beiträge zur Kenntnis südasiatischer Sprachen und Literaturen
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Beiträge zur Kenntnis südasiatischer Sprachen und Literaturen
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Herausgegeben von Dieter B. Kapp
2003 Harrassowitz V erlag · Wiesbaden
Klaus Mylius
Geschichte der altindischen Literatur Die 3000jährige Entwicklung der religiös-philosophischen, belletristischen und wissenschaftlichen Literatur Indiens von den Veden bis zur Etablierung des Islam 2., überarbeitete und ergänzte Auflage
2003 Harrassowitz Verlag · Wiesbaden
Die erste Auflage erschien 1983 im Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig, unter dem Titel "Geschichte der Literatur im alten Indien". Derselbe Text erschien 1988 im Scherz Verlag, Bem München Wien, unter dem Titel "Geschichte der altindischen Literatur".
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Bibliographieinformation published by Die Deutsche Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data is available in the Internet at http://dnb.ddb.de.
© Otto Harrassowitz KG, Wiesbaden 2003 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Verarbeitung: Memminger MedienCentrum AG Printed in Germany
www.harrassowitz.de/verlag ISSN 0948-2806 ISBN 3-447-04772-0
Inhaltsverzeichnis
Vorwort des Herausgebers Vorwort zur 2. Auflage Vorwort zur 3. Auflage Einleitung . . . . . . . 1. Wesen, Umfang und Schichten der altindischen Literatur 2. Die Chronologie der altindischen Literatur . 3. Sprache und Schrift Die vedische Literatur 1. Einführung . 2. Die Samhitas . a) Der ~gveda . . b) Der Samaveda c) Der Yajurveda d) Der Atharvaveda . 3. Die BrahmaJfas . 4. Die Äral}yakas . 5. Die Upani~aden . 6. Die Vedangas Die epische Literatur . . 1. Einführung . . . 2. Das Mahabharata 3. Das Ramayal}a 4. Die Puralfas 5. Die Tantras . . --~ Die klassische Literatur . 1. Einführung . . . 2. Das höfische Kunstepos 3. Die Lyrik . . . . . . 4. Die Spruchdichtung 5. Fabeln und Märchen 6. Der Kunstroman . . 7. Die historiographische Kunstdichtung 8. Die Campii~Literatur . . . . . . . . .
vn vm x 1 1 4 7 15 15 22 22 35 37 41 46 54 56 64 71 71 73 99 109 121 127 127 138 144 149 153 168 173 177
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INHALT
9. Die dramatische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die theoretischen Grundlagen des altindischen Dramas . b) Die vor- und frühklassischen Dramen c) Die Blütezeit des altindischen Dramas . . . d) Die nachklassischen Dramen . . . . . . . . Die philosophische und wissenschaftliche Literatur . 1. Einführung . . . . . . . . . . 2. Die philosophische Literatur . 3. Die Arthasastra-Literatur . . 4. Die Dharmasastra-Literatur . 5. Die mathematische, astronomische u. astrologische Literatur 6. Die medizinische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die erotische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Literatur über Musik, Architektur und andere Gebiete . 9. Die Literatur über Grammatik und Metrik . 10. Die lexikographische Literatur Die buddhistische Literatur 1. Einführung . . . 2. Der Pali-Kanon . . a) Das Suttapitaka . b) Das Vinayapitaka c) Das Abhidhammapitaka 3. Die nichtkanonische Pali-Literatur 4. Die buddhistische Sanskrit-Literatur a) Die Literatur des Hinayana . b) Die Literatur des Mahayana . . . . c) Die Literatur des Vajrayana. . . . . d) Die buddhistische philosophische Literatur Die jinistische Literatur . . . . . . . . . . . 1. Die kanonische Jaina- Literatur . . . 2. Die nichtkanonische Jaina-Literatur Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . 1. Die Weltbedeutung der altindischen Literatur 2. Geschichte der Erforschung der altindischen Literatur in der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Aussprache der Sanskrit-Wörter Register .
178 178 183 193 201 205 205 207 221 227 232 238 242 246 251 258 263 263 267 268 292 295 298 305 306 315 324 329 339 339 353 365 365 366 385 387
Vorwort des Herausgebers Die von dem namhaften Indologen Klaus Mylius (Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt) verfasste und erstmals 1983 unter dem Titel "Geschichte der Literatur im alten Indien" im Verlag Philipp Reclam jun. (Leipzig) erschienene "Geschichte der altindischen Literatur", in deren Rahmen die vedische und klassische Sanskrit-Literatur, die buddhistische Pali- und Sanskrit-Literatur sowie die jinistische Prakrit-Literatur dargestellt und behandelt werden, erfuhr bereits fünf Jahre später eine erweiterte und aktualisierte Neuauflage, die der Scherz Verlag (Bern / München) herausbrachte. Im selben Jahr erschien überdies eine vom Scherz Verlag lizenzierte Ausgabe bei der \Vissenschaftlichen Buchgesellschaft (Darmstadt). Nachdem nun schon seit geraumer Zeit auch die zweite Auflage dieses Standardwerkes vergriffen ist, fasste der Autor dankenswerterweise den Entschluss, eine dritte, gründlich durchgesehene und insbesondere, was die Bibliographie angeht -auf den neuesten Stand gebrachte Auflage zu erarbeiten, die hiermit der Öffentlichkeit vorgelegt wird.
Köln, Dezember 2002
Dieter B. Kapp
Vorwor t zur 2. Auflage Dem ständig wachsenden Interesse an der Kultur und Geschichte des alten Indien, das nicht zuletzt mit seiner Literatur das Kulturerbe der Menschheit wesentlich bereichert hat, soll mit dieser nicht in extenso dargestellte n, dafür möglichst informative n Geschichte der altindischen Literatur Rechnung getragen werden. Die Abfassung eines solchen Übersichtsw erkes wurde auch .deshalb erforderlich , weil ältere Handbüche r 1 entweder vergriffen bzw. überholt sind oder aber an den indologisch nicht vorgebildete n Leser gar zu hohe Anforderungen stellen. Der notwendiger weise begrenzte Umfang des Buches bedingte eine Konzentration auf das \,Yesentliche. Um den Leser nicht mit einer übergroßen Materialfülle zu belasten, wurden nur die Hauptwerke von den Anfängen der altindischen Literatur in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausend s v. Chr. bis etwa 1200 n. Chr. besprochen bzw. erwähnt. Auf die Erörterung der ohnehin noch nicht beweiskräft ig entschlüssel ten Inschriften der Induskultur wurde ebenso verzichtet wie auf die der späteren epigraphisc hen Monumente und der älteren Stufe der neuindoaris chen und dravidische n Literatur. Unter Berücksicht igung dieser Einschränku ngen ist jedoch alle Kraft darauf gerichtet worden, dem interessierte n Nicht- Indologen wie dem Fachmann sowohl eine verlässliche Erstorientie rung als auch die Basis für weitergehen de Information en zu bieten. Immer wieder wird z.B. nach den Grundzügen des Buddhismu s, den Quellen der Yogalehre, den Praktiken altindischer Medizin oder dem Inhalt des Lehrbuches der Liebeskunst Klimasutra gefragt. Auf diese und viele andere Fragen soll das vorliegende Buch ebenso Antwort geben, wie es den Leser mit altindischer Spruchweis heit, den Motiven der großen Epen oder den Werken des Kalidasa vertraut machen will. Literatur als einen Teil des historischen Gesamtproz esses eines Volkes in ihrem Verhältnis zur jeweiligen ökonomisch -politischen Entwicklun gsstufe zu begreifen ist im Falle des alten Indien beim gegenwärtig en Stand der Forschung nur in Ansätzen möglich. Infolgedessen wurde der Werkbeschr eibung Vorrang gegeben, von der Wiedergabe von Textauszüg en dagegen weitgehend abgesehen. Die zahlreichen Hinweise auf Textausgab en, Übersetzun gen und Sekundärliter atur, die mit der hier gebotenen Knappheit der bibliograph ischen Daten mitgeteilt werden, sollen es dem an zusätzlicher Information interessierten Benutzer ermöglichen , sich weiterreiche nde Materialien zu erschließen. Die Nennung in Indien selbst erschienene r Arbeiten soll diese sonst nur schwer erhältlichen Angaben verfügbar machen und zugleich als Absage an den Eurozentrismus verstanden werden. Die vorliegende Ausgabe berücksicht igt in den letzten Jahren erzielte Forschungserge bnisse sowie nach Möglichkeit auch die in den Rezensionen der er-
VoRWORT
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sten Auflage (Leipzig 1983) von den Fachkollegen gegebenen Hinweise. Die bibliographischen Angaben wurden aktualisiert. Dem Scherz Verlag, der die Herausgabe dieser zweiten, durchgesehenen und erweiterten Auflage dieser Literaturgeschichte übernommen hat, gebührt aufrichtiger Dank. Indem sich der Autor mit einem Gruß an die Leser in der Bundesrepublik Deutschland, in der Schweiz und in Österreich wendet, verleiht er dem Wunsche Ausdruck, dass dieser Leitfaden der altindischen Literatur über das Angebot von Informationen hinaus zum tieferen Verständnis der kulturellen Leistungen und damit der weltgeschichtlichen Bedeutung des großen indischen Volkes einen Beitrag leisten möge.
K. M.
Leipzig, Mai 1988
Anmerkung
Das am meisten verbreitete Standardwerk über altindische Literatur ist die dreibändige Geschichte der indischen Literatur von M. Winternitz (Leipzig 1904-1920, Neudruck Stuttgart 1968). Das Werk ist gleichermaßen für Fachleute und Laien nützlich. Eine gute Übersicht (einschließlich der neuindischen Literaturen) gibt H. v. Glasenapp: Die Literaturen Indiens von ihren Anfängen bis zur Gegenwart (Potsdam 1929, Neuausgabe Stuttgart 1961). Insgesamt überholt, aber in vielen Details heute noch wertvoll sind die Akademischen Vorlesungen über indische Literaturgeschichte von A. Weber (Berlin 1852, 2. Aufl. 1876-1878); Indiens Literatur und Cultur in historischer Entwicklung von L. v. Schroeder (Leipzig 1887, Neudruck 1922) und die History of Ancient Sanskrit Literature von Max Müller (London 1859, Neuausgabe von S. N. Sastr1 als Bd. 15 der Chowkhamba Sanskrit Studies, Varanasi 1968). Gut lesbar ist die History of Sanskrit Literature von A. A. Macdoneil (1900, indischer Neudruck 1961). Dasneueste und weitaus umfangreichste einschlägige Werk ist A History ofindian Literature, die J. Gon da seit 1974 in Wiesbaden herausgab; jeder ihrer Bände behandelt ein abgeschlossenes Spezialgebiet. Von den zahlreichen indischen Unternehmen auf diesem Gebiet verdient K. Chaitanyas A New History
of Sanskrit Literature (New York 1962) hervorgehoben zu werden. Sehr nützlich ist die lexikalische Aufschlüsselung des Materials (Werke, Autoren, Termini technici usw.) in A Campanion to Sanskrit Literature von S. C. Banerji (Delhi 1971, 2. Aufl. 1989; ebenso in A. K. Roy und N. N. Gidwani: Dictionary of Indology (4 Bde., Delhi 1983-86). Über die Literatur der vorarischen Stämme Indiens handelt W. Ruben (Berlin/DDR 1952). Viele nützliche Hinweise auf Sekundärliteratur bieten H. Bechert und G. v. Simson (Hrsg.): Einführung in die Indologie (Darmstadt 1979, 2. Aufl. 1993).
VORWOR T
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Vorwo rt zur 3. Auflag e Die ersten beiden Auflagen der "Geschich te der altindisch en Literatur" waren bald nach dem Erscheine n vergriffen. Nach fast 15 Jahren kann nunmehr den interessie rten Leserimm en und Lesern eine neubearbe itete dritte Auflage vorgelegt werden. Ohne dass die bewährte Grundkon zeption des VVerkes zu ändern gewesen wäre, wurden Textstelle n, wo erforderlic h, aktualisie rt und die bibliographisch en Hinweise auf den neuesten Stand gebracht. Herzlich dankt der Verfasser seinem geschätzt en Kollegen, dem Direktor des Instituts für Indologie und Tamilistik der Universitä t zu Köln, Herrn Professor Dr. Dieter B. Kapp, für die Aufnahme dieser Literaturg eschichte in die von ihm edierte Reihe Beiträge zur Kenntnis südasiatischer Sprachen und Literature n. Danken möchte er ferner den Herren Dr. Thomas Malten und Jens Knüppel, M.A., für die engagierte redaktione lle Betreuung .
Dezember 2002
Klaus Mylius
Einleitung 1. Wesen, Umfang und Schichten der altindischen Literatur Die indische Literatur zeichnet sich durch drei wesentliche Besonderheiten aus: durch ihr ALTER, ihre KONTINUITÄT und ihren UMFANG. Mit Ausnahme von China verfügt kein anderes Land über eine mehr als drei Jahrtausende währende ununterbrochene literarische Tradition. Dem Umfang nach ist allein die altindische Literatur größer als die griechische und römische Literatur zusarnrnen. Imposant ist auch ihre VIELFALT. Sie umfasst vorwiegend religiöse, aber durchaus auch weltliche Stoffe, Epik, Dramatik und Lyrik, didaktische Poesie, eine aus Fabeln, Märchen und Romanen bestehende Erzählungsliteratur und schließlich ein philosophisches sowie ein breitgefächertes wissenschaftliches Schrifttum, das sich mit Mathematik, Astronomie, Medizin, Architektur, Grammatik, Etymologie, Metrik und anderen Gebieten befasst. Obwohl man annehmen muss, dass im Laufe der Jahrtausende viel verlorengegangen ist, stellt das Erhaltengebliebene immer noch ein literarisches Corpus von ungeheurem Umfang dar, weist doch zum Beispiel ein einziges Werk, das Epos Mahabharata, mehr als 100000 Doppelverse auf! Die AUTORSCHAFT der altindischen Literaturwerke ist ein außerordentlich kompliziertes Problem. Man hatte im alten Indien zum geistigen Eigentum eine von heutigen Gepflogenheiten weit abweichende Einstellung. Die Individualität eines Autors spielte eine relativ untergeordnete Rolle. In den älteren Zeiten galten kaum Einzelpersönlichkeiten, sondern vielmehr Schulen (sakha/ als Produzenten und Träger der Literatur. Auch die aus späteren Zeiten überlieferten Autorennamen sind häufig bloße Schatten. Dazu tragen mehrere Umstände bei. Einmal kennen wir nicht selten eben nur die Namen und wissen nichts über die Lebensumstände des betreffenden Autors. Zum anderen wird selbst die Fixierung des Namens durch die im alten Indien häufige Homonymität erschwert. Weiter zogen es manche Autoren vor, ihren eigenen Namen zu verleugnen und sich entweder hinter einer literarischen Berühmtheit zu verbergen oder ihr Werk unter dem Namen ihres Fürsten erscheinen zu lassen. All das stellt den Indologen vor unvergleichlich größere Schwierigkeiten, als sie bei der Erforschung der meisten anderen Literaturen auftreten. Die ältesten indischen Literaturwerke, die Hymnen des ~gveda, sind über mehrere Generationen hinweg von Dichtern geschaffen worden, die in bestimrrlten Familien konzentriert waren. Die spätere vedische Literatur wurde überwiegend von Brahmanen (Priestern) hervorgebracht, die damit ihren beträchtlichen Einfluss auf die Gesellschaft zu festigen trachteten. An der Schöpfung der
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EINLEITUNG
epischen Literatur waren dagegen auch weitgehend nicht-brahmanische Verfasser, wie im Land umherziehende Barden, beteiligt. Die klassische altindische Kunstdichtung entstand vorwiegend als das Werk von Berufspoeten, die an den Höfen der Könige und Fürsten lebten. Die wissenschaftliche Literatur schließlich geht in überwiegendem Maße auf die Tätigkeit gelehrter Brahmanen zurück. Zu den Unsicherheiten über die Verfasserschaft kommt hinzu, dass auch die Texte selbst nur in unterschiedlichem Grade zuverlässig überliefert sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - worauf wir noch zurückkommen werden eine schriftliche Aufzeichnung im wesentlichen erst seit der Neuzeit datiert, die mündliche Überlieferung also über viele Jahrhunderte hinweg das einzige Mittel der Textbewahrung darstellte. Sie war vorwiegend an brahmanische, priesterliche, Schulen geknüpft, die geradezu einzigartige mnemotechnische Leistungen vollbrachten. Daraus erklärt es sich, dass besonders religiöse Texte mit größter, ja absoluter Genauigkeit überliefert wurden. So kann kein Zweifel bestehen, dass uns die IJ_ksambita in eben der Fassung vorliegt, in der sie bereits vor 3000 Jahren bestand. Anders steht es um die weltlichen Werke, wie etwa die Epen und Fabeln. Diese haben nicht selten von einem U rkern aus verschiedene Stadien der Agglomeration und sonstigen Veränderung durchlaufen und weisen somit eine umfangreiche Textgeschichte auf. Dann steht vor den Philologen die mühevolle und nicht immer erfolgversprechend e Aufgabe, die späten von den frühen Passagen zu scheiden und den ursprünglichen Kern freizulegen. Für die Interpretation der altindischen Literaturwerke, besonders der älteren von ihnen, bieten die einheimischen Kommentare eine gewisse Unterstützung. Ihr Wert wurde in Europa teils unterschätzt (0. v. Böhtlingk, R. Roth), teils zu hoch eingestuft (R. Pischel, K. F. Geldner). Sicher ist, dass man die Kommentare berücksichtigen muss, ohne ihnen sklavisch zu folgen. Am berühmtesten geworden sind die südindischen Brüder Sayar;ta und Madhava aus dem 14. Jahrhundert, die also auch schon durch eine riesige zeitliche Kluft etwa von der IJ_ksambita getrennt waren. Doch gibt es auch Kommentare aus der Ära vor unserer Zeitrechnung; freilich ersieht man aus ihnen, dass auch für sie oftmals schon dieselben Worte rätselhaft waren, die uns heute noch unklar sind. Manche Werke, wie bestimmte Sutras, haben sich uns überhaupt erst mit Hilfe der Kommentare erschlossen. Die Inder haben von jeher das Kommentieren sehr geschätzt: Manche Kommentare wurden so berühmt, dass ihnen wiederum Subkommentare gewidmet wurden. Verblüffend wirkt mitunter der von den Kommentatoren an den Tag gelegte hochgradige Objektivismus, wenn etwa ein und dieselbe Persönlichkeit verschiedenartige philosophische Systeme empfehlend kommentiert. Dann kann es große Schwierigkeiten bereiten, die dahinter verborgene parteiliche Haltung aufzudecken. In der altindischen Literatur gibt es vielfach keine scharfe Trennung von
EINLEITUNG
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Poesie und Prosa. Häufig sind metrisch gebundene Abschnitte in Prosastücke eingelagert. Für unsere Anschauungsweise erstaunlich, nichtsdestoweniger aber sehr verbreitet ist der Umstand, dass wissenschaftliche Stoffe in poetischem Gewand vorgetragen werden. So erscheinen nicht nur medizinische Abhandlungen, sondern auch staatsrechtliche Betrachtungen, ja sogar Grammatiken und Wörterverzeichnisse in metrisch gebundener Form. Westliche Literaturgeschichtsschreibung hat der altindischen Literatur vielfach die Neigung zur Übertreibung und Maßlosigkeit nachgesagt. Dies trifft indessen nur sporadisch zu und berührt keineswegs das Typische. Die überkonzise Form der Sutras zum Beispiel ist für diese mnemotechnischen Leitfäden durchaus beabsichtigt und angebracht gewesen. Absichtlich kreiert wurden auch die für europäischen Geschmack gekünstelt wirkenden Produkte mancher KavyaDichter. In den Pura11as zweifellos vorhandene Übertreibungen werden bereits innerhalb der epischen Literatur selbst durch die auf weiten Strecken vorherrschende gedankliche Klarheit und sprachliche Zucht mehr als kompensiert. Man wird zum Verständnis des Wesens der indischen Literatur nicht vorstoßen, wenn man sich nicht von der Last traditioneller europazentristischer Vorstellungen zu befreien vermag. Ehe wir zur Gliederung der altindischen Literatur übergehen, soll der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen werden, dass seit 1924 in Mohenjo Daro (Sindh, jetzt Pakistan), Harappa (Panjab) sowie in Chanhu Daro, Larkana und anderen Orten unternommene Ausgrabungen präarische Städte mit Ziegelbauten, Kanalisation und Tempeln ans Licht gefördert haben. 2 Gefunden wurden auch Siegel mit einer noch nicht beweiskräftig entzifferten Schrift, die möglicherweise altdravidisch war, leider aber keine Bilinguale zur Nachprüfung aufweist. 3 Diese sogenannte Indusgesellschaft, die um 2200 v. Chr. ihre höchste Blüte erreichte, ist zwar im 2. Jahrtausend v. Chr. untergegangen, hat aberwie man erst allmählich erkannte - nachhaltig auf die Kulturgeschichte Indiens eingewirkt. 4 Dies gilt vor allem für den religionsgeschichtlichen Bereich. Die Induskultur wurde zur Quelle des Sivaismus und auch des Vi~Jfuismus, damit also im wesentlichen des heute in Indien dominierenden Hinduismus. Mit ziemlicher Sicherheit darf man ferner annehmen, dass die im heutigen Indien so verbreitete Yogapraxis bereits in der Induskultur ihre Wurzeln hatte. Eine endgültige Aussage über die Literatur dieses Zeitabschnittes lässt sich jedoch erst machen, wenn die Schrift schlüssig entziffert worden ist. Nach dem Prinzip der relativen Chronologie pflegt man die altindische Literatur in das vedische, epische und klassische Schrifttum einzuteilen. Da sich diese "Schichten" aber untereinander vielfach verzahnen, ermöglicht diese Einteilung nur eine ungefähre Gliederung, der wir im vorliegenden Buch folgen wollen, indem wir sie durch die selbstständigen Abschnitte über die wissenschaftliche, buddhistische und jinistische Literatur ergänzen.
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EINLEITUNG
Anmerkungen 1 Zur Aussprache der Sanskrit-Wörter siehe S. 428. 2 Vgl. B. M. Pande und K. S. Ramachandra: Bibliographyofthe Harappan Culture (Miami 1971); E. Mackay: The Indus Civilization (London 1935, dt. Die Induskultur, Leipzig 1938); H. Mode: Das frühe Indien (Weimar 1960); S. Piggott: Prehistoric India (London 1962); M. Wheeler: The Indus Civilization (2. Aufl., Cambridge 1960); M. Jansen: Die Indus-Zivilisation (Köln 1986); R. N. Dandekar: Harappan bibliography (Poona 1987). 3 Die Hypothese, dass der Indusschrift eine altdravidische Sprache zugrunde liegt, wird besonders von A. Parpola, S. Parpola, S. Koskenniemi und P. Aalto in zahlreichen Veröffentlichungen des Scandinavian Institute of Asian Studies, Kopenhagen, vertreten. Die Autoren haben in diesem Zusammenhang die elektronische Datenverarbeitung zur Schriftentschlüsselung heranzuziehen versucht.- Auch die vedische Herkunft der Harappa-Kultur wird behauptet, so von Bhagwan Singh: The Vedic Harappans (Delhi 1995). 4 Vgl. hierzu D. H. G01·don: The Pre-historic Background ofindian Culture (2. Aufl., New York 1960).
2. Die Chmnologie der altindischen Literatur Mit der Frage nach der Zeitstellung der einzelnen altindischen Literaturdenkmäler betreten wir ein Gebiet, das trotz aller bisherigen Bemühungen noch voller Rätsel ist. Historiographie im altgriechischen Sinne lag den alten Indern fern. Dabei haben die Angaben der brahmanischen Literatur meist noch weniger Wert als die der buddhistischen und jinistischen Quellen. Sprachliche Kriterien sind oft einigermaßen zuverlässig, doch können auch hier durch künstlich antiquierten Stil falsche Eindrücke erweckt werden. Besonders mangelhaft bestellt ist es um unsere Kenntnisse von der absoluten Chronologie. Hier differieren die Urteile nicht selten um mehrere Jahrhunderte, ja- wie wir bei der Besprechung des ~gveda noch sehen werden- um Jahrtausende. Nur wenige Daten sind in befriedigender Weise gesichert. Etwas besser steht es um die relative Chronologie. Mit Sicherheit dürfen wir behaupten, dass der Veda der älteste Teil und der Ausgangspunkt der indischen Literatur überhaupt ist. Jedenfalls gilt diese Feststellung für die Hauptmasse der vedischen Literatur. Teile des Vedanga und die Sm~tis- Appendices beziehungsweise Ausläufer des Veda - reichen bis auf die Zeit um 200 v. Chr. herab. Ebenfalls steht im großen und ganzen fest, dass der Buddhismus kurz vor oder nach 500 v. Chr. entstanden ist. Was aber besonders wichtig ist: Der Buddhismus setzte offensichtlich den größten Teil der vedischen Literatur voraus, der also vor der Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. entstanden sein muss. Jedoch lassen namhafte Autoren den Buddhismus zu einem späteren Zeitpunkt, 1 ja sogar erst wenige Jahrzehnte vor dem Alexanderfeldzug, entstanden sein.
EINLEITUNG
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Sicher ist jedenfalls, dass Alexander der Große von IVIakedonien seinen Feldzug nach Indien im Jahre 326 v. Chr. unternahm. Von nun an sind griechische Quellen hätdig der einzige chronologische Anhaltspunkt, den wir überhaupt besitzen. 2 Einige Jahre nach dem Alexanderfeldzug kam Megasthenes als Gesandter des Seleukos an den Hof des Maurya-Herrschers Candragupta I., 4 der in Pataliputra (das dem heutigen Patna entspricht) residierte. DerEnkel dieses Großkönigs war der berühmte Kaiser Asoka (etwa 273 bis 232 v. Chr. an der Regierung). 5 Dieser große Förderer des Buddhismus ließ in seinem Reich zahlreiche Inschriften auf Felsen und Säulen herstellen. 6 Sie sind in Indien die ältesten datierbaren Inschriften überhaupt. Wir wissen sodann, dass eine der Hauptpersonen des buddhistischen \IVerkes Milindapanha der griechischbaktrische König Menander war und dass die Entstehung dieses Werkes ungefähr in das Jahr 144 v. Chr. fällt. Nach der Zeitwende werden verlässliche chronologische Angaben auch aus der entgegengesetzten Richtung geliefert. Jetzt sind es Chinesen, die als buddhistische Pilger in das Heimatland des Buddha kamen und sehr genaue Berichte lieferten. Im Jahre 399 reiste der Pilger Fa-hian nach Indien. Von 629 bis 645 berichtet Hiuen-tsang über zeitgenössische Schriftstellerei und Literatur. 7 Der Pilger I-tsing,s in Indien von 671 bis 695, schließt die Reihe dieser Berichte ab. Um 1030 kam der Choresmier Al-Birun1 im Gefolge des Eroberers Mahmud von Ghazni nach Indien. Er berichtet in dem Werk India über indische Religion, Philosophie, Literatur, Gesetze und Sitten, besonders a.usführlich aber über die mathematischen und astronomischen Errungenschaften der Inder. 9 Gegen Ende des 12. Jahrhunderts setzten sich die mohammedanischen Invasoren in Indien endgültig fest und errichteten das Sultanat von Delhi. Mit dieser für die Geschichte Indiens so \vichtigen Zäsur schließen wir die Darstellung der altindischen Literaturgeschichte chronologisch ab. Wie schon erwähnt, sind die buddhistischen und jinistischen Quellen vielfach verlässlicher als die brahmanischen, wobei wir uns bei ersteren besonders an den Konzilberichten zu orientieren vermögen. Für ihre Geschichtsschreibung haben die Inder sonst relativ wenig getan. Zuverlässige Berichterstattung ist sehr selten; Dichtung und Wahrheit durchdringen einander, wobei die Chronologie besonders im argen liegt. Zwei Bezugspunkte der indischen Zeitrechnung, von der es mehrere Arten gibt, bilden die Vikrama- und die Saka-Ära. Die Vikrama-Ära wird traditionell auf einen König Vikramaditya von Ujjayin1 zurückgeführt, der im Jahre 58 v. Chr., dem Anfangsjahr dieser Zeitrechnung, die iranischen Sakas aus Indien vertrieben haben soll. Die Saka-Ära beginnt im Jahre 78 n. Chr. Es wird vermutet, dass sie sich auf den Zeitpunkt der Errichtung der Ku~al).a- Herrschaft über das nordwestliche Indien bezieht.
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EINLEITUNG
Das einzige Werk, das auf den Titel einer Historiographie mit einigem Recht Anspruch erheben darf, ist die RajatarangilJT aus dem 12. Jahrhundert, eme Chronik der Könige von Kashmir.
Anmerkungen 1 Vgl. u.a. H. Bechert: Die Lebenszeit des Buddha.- das älteste feststehende Datum der indischen Geschichte? in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Phil.-Hist. Kl., Jg. 1986, Nr. 4 (Göttingen 1986). 2 Vgl. R. G. Majumdar: The Cla.ssica.l Accounts of India. (Calcutta 1961). Das Werk gibt Auszüge aus den Berichten von Herodot, Megasthenes, Arrian, Strabo, Plutarch, Plinius, Ptolemaios u.a. Vgl. ferner B. N. Puri: India. in Cla.ssica.l Greek Writings (Ahmedabad 1963). Sehr wertvoll ist auch die Auswahl von Berichten bei J. W. McCrindle: Ancient India. (Calcutta und Westruinster 1877-1901, Neudruck New Delhi 1972). Den Bericht Indika. des Megasthenes hat E. A. Schwanheck ediert (Bonn 1846, Neudruck Amsterdam 1966). 3 V gl. J. W. McCrindle: The Invasion of India. by Alexa.nder the Grea.t, as Described by Arria.n, Q. Curtius, Diodoros, Pluta.rch, a.nd Justin (Westminster 1896, Neudruck Cleveland 1968); A. E. Anspach: De Alexa.ndri Ma.gni Expeditione Indica. (London 1903, mit reicher Materialsammlung); diverse Arbeiten von 0. Stein und B. Breloer. 4 Vgl. u.a. R. K. Mookerjee: Cha.ndra.gupta. Ma.urya. a.nd His Times (4. Aufl., Delhi 1966). 5 Aus der reichhaltigen Literatur vgl. V. A. Smith: Asoka (3. Aufl., Oxford 1920); ders.: Asoka., the Buddhist Emperor of India. (2. Aufl., Delhi 1964); B. G. Gokhale: Asoka. Ma.urya. (New York 1966).
6 Vgl. B. M. Barua: Asoka. a.nd His Inscriptions (3. Aufl., Calcutta 1968/69); J. Bloch: Les Inscriptions d'A.