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Erich Köhler: Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur Herausgegeben von Henning Krauß und Dietmar Rieger Band 6,1
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Erich Köhler
Das 19. Jahrhundert I Herausgegeben von Dietmar Rieger
Freiburg i. Br. 2006 3
Zweite Auflage Digitale Bearbeitung: Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau
© Universitätsbibliothek Freiburg i. Br. 2006
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Vorwort Mit den drei dem 19. Jahrhundert geltenden Bänden wird die Publikation von Erich Köhlers »Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur« abgeschlossen. Bei ihnen ist von den Herausgebern in ganz besonderer Weise auf den Vorlesungscharakter des Publizierten hinzuweisen. Die große Quantität und Diversität der in einer Geschichte der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts zu behandelnden Gegenstände vermag nicht in eine Vorlesung übernommen zu werden, die nicht nur wichtige Fakten vermitteln, sondern auch bei Einzelnem verweilen und das individuelle »Verhältnis« des Vorlesenden zu diesem zum Ausdruck bringen will. Hier besonders spielt die persönliche Auswahl eine große Rolle. Diejenige von Erich Köhler haben wir zu respektieren. Für wertvolle Mithilfe bei der redaktionellen Arbeit an diesen drei Bänden ist vor allem Frau Heidi Matthiessen, Herrn Dr. Manfred Hinz (Augsburg), Frau Sibylle Bieker und Frau Eva Seidenfaden M.A. (Gießen) zu danken. Besonders verpflichtet sind die Herausgeber für die Publikation nicht nur dieser drei, sondern aller Bände der »Vorlesungen« Frau Käthe Köhler, die mit nie ermüdendem Einsatz uns die Arbeit nicht nur wesentlich erleichterte, sondern in vielen Fällen geradezu erst ermöglicht hat. Henning Krauß Dietmar Rieger
Zur Neuausgabe Durch die freundliche Genehmigung von Frau K. Köhler war es möglich, eine digitale Publikation der gesuchten, im Buchhandel seit längerem vergriffenen Vorlesungsreihe auf dem Server der Universitätsbibliothek Freiburg zu veranstalten. Der leichteren Lesbarkeit halber sind die Anmerkungen jetzt nicht als End-, sondern als Fußnoten untergebracht, wie es bei einer digitalen Publikation einzig sinnvoll ist. Ansonsten ist die Ausgabe ein neugesetzter, sachlich aber unveränderter Nachdruck der Erstausgabe. Universitätsbibliothek Freiburg i.Br.
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Inhalt
Vorwort ..................................................................................................1 Zur Neuausgabe ....................................................................................5 Inhalt ......................................................................................................7 Die Französische Revolution als historische Voraussetzung der Romantik..............................................................................................10 Das Theater der Französischen Revolution....................................................... 13 Revolutionsrhetorik und Lieddichtung ................................................................ 13 Die Entstehung der modernen Presse während der Revolution ........................ 14 Der Klassizismus der Revolution und die Romantik .......................................... 16 Religiöse Entwicklungen während der Revolutionszeit ...................................... 17 Der revolutionäre Wortschatz ............................................................................ 18 Neoklassizismus im Konflikt mit der aufkommenden Romantik: André Chénier 20
Initiatoren der romantischen Bewegung ..............................................26 François-René de Chateaubriand...................................................................... 26 Atala und René, die Struktur des romantischen Genies .................................... 30 Madame de Staël und die Entdeckung der deutschen Romantik ...................... 36 Étienne Pivert de Senancour ............................................................................. 43 Benjamin Constant ............................................................................................ 47 Adolphe, die Psychologie des romantischen Helden ......................................... 48 Die Entstehung des »Journal intime« ................................................................ 53 Cécile, die Frau als Opfer .................................................................................. 59 Alfred de Mussets Confession d'un enfant du siècle: die Krankheit des Jahrhunderts...................................................................................................... 63 Der fatale Held der Romantik, Lamartines Graziella .......................................... 70 Flauberts Kritik an Lamartine und die Forderung nach »le vrai«........................ 71
Das Theater der Romantik...................................................................75 Die Theorie des romantischen Dramas: Victor Hugos Préface de Cromwell ..... 76 Die Umsetzung der Dramentheorie im Cromwell............................................... 84 Marion de Lorme, der romantische Kontrast im historischen Drama ................. 85 Hugos Hernani, der Idealtyp des romantischen Dramas.................................... 87 Le Roi s'amuse, Schicksalstragödie und Komödienstruktur .............................. 91 Lucrèce Borgia, das Groteske und das Sublime................................................ 91 7
Angelo, tyran de Padoue, die Kombination der Extreme ................................... 93 Ruy Blas, die Ambivalenz von Hugos Sozialkritik .............................................. 94 Les Burgraves, die Aporie des Kolossalen ...................................................... 104 Alexandre Dumas père: Antony – die Verlagerung des romantischen Dramas in die Gegenwart ................................................................................................. 107 Alfred de Vignys Chatterton, die Apologie des romantischen Genies .............. 109 Alfred de Mussets André del Sarto und Lorenzaccio, das Problem des Republikanismus im historischen Drama ......................................................... 115 Der sozialhistorische Hintergrund des Konflikts zwischen Klassik und Romantik ......................................................................................................................... 119
Die Lyrik der Romantik...................................................................... 124 Pierre-Jean de Béranger, Populismus und Napoleonkult ................................ 124 Alphonse de Lamartines Gefühlslyrik............................................................... 125 Sentiment und künstlerische Arbeit in Lamartines L'Isolement ........................ 127 Weltschmerz und Religion bei Lamartine......................................................... 132 Die Lyrik Alfred de Vignys und der romantische Atheismus............................. 136 Vignys Auseinandersetzung mit dem Neokatholizismus von Joseph de Maistre ......................................................................................................................... 137 Vignys Verarbeitung Jean Pauls in Le mont des oliviers und La mort du loup. 138 Vignys La bouteille à la mer, die romantische Empörung ................................ 142 Die »Religion der Verzweiflung« : Vignys Eloa ou la Soeur des Anges und Moïse ......................................................................................................................... 144 Vignys Poèmes philosophiques und die Entstehung der Großstadtlyrik .......... 146 Alfred de Musset, Weltschmerz und Liebe....................................................... 147 Mussets Rolla, Selbstportrait der »jeunesse dorée«........................................ 149 Die »Nuit«-Gedichte......................................................................................... 151 Victor Hugo, die zivilisatorische Funktion der Lyrik .......................................... 156 Hugos Odes et Ballades .................................................................................. 160 Les Orientales, Modellinterpretation von Les Djinns ........................................ 161 Hugos Les Rayons et les Ombres, Interpretation von Les Nuits de juin und Tristesse d'Olympio ......................................................................................... 163 Les Contemplations, Werbung des Dichters um die Gunst des Volkes ........... 165 Hugos La Légende des siècles ........................................................................ 167 Selbstreflektion der Romantik, Hugos Réponse à un acte d'accusation .......... 168 Gérard de Nerval, Biographie und literarische Vorbilder.................................. 170 Nervals Une Allée du Luxembourg und Fantaisie, der poetische Augenblick . 174 Le réveil en voiture, die poetische Restitution der Wirklichkeit ........................ 175 Das Initiationsritual in Nervals Les Chimères................................................... 176 El Desdichado, der unglückliche Orpheus ....................................................... 178 Myrtho, das Fortleben des Mythos................................................................... 184 Delfica, Nervals Verarbeitung von Goethes Wilhelm Meister........................... 186 Artémis, der Kreislauf der Zeit ......................................................................... 189 Le Christ aux Oliviers, die Apotheose des Zufalls............................................ 191 Die pantheistische Lösung in Nervals Vers dorés............................................ 193 Nervals Hermetismus und Baudelaires Fleurs du Mal ..................................... 198 8
Der Roman des Realismus................................................................200 Versuche einer Begriffs- und Epochenbestimmung: Lanson, Klemperer, Thibaudet......................................................................................................... 200 Die historische Entwicklung bis 1850 und die Literatur .................................... 203 Das Vorbild der Naturwissenschaften .............................................................. 205 Auguste Comtes Grundlegung des Positivismus ............................................. 206 Der Saint-Simonismus ..................................................................................... 207 Charles Fourier und die Entstehung des Sozialismus ..................................... 208 Sozialistische Theoretiker: Pierre Leroux, Louis Blanc und Pierre-Joseph Proudhon ......................................................................................................... 209 Félicité Robert de Lamennais und die Entstehung der katholischen Linken ... 210 Auf der Suche nach der umfassenden Gattung, Friedrich Schlegels Romantheorie .................................................................................................. 211
Auswahlbibliographie.........................................................................214 Literaturgeschichten allgemein ........................................................................ 214 Literatur des 19. Jahrhunderts ......................................................................... 214 Romantheorie und -geschichte ........................................................................ 215 Lyrik – Theorie und Geschichte ....................................................................... 215 Novelle und conte fantastique.......................................................................... 216 Sozialgeschichte und französische Gesellschaft ............................................. 216 Romantik.......................................................................................................... 217 Das romantische Theater................................................................................. 217 Der romantische Roman .................................................................................. 218 Lyrik, Epopöe, Historiographie und conte fantastique in der Romantik............ 218 Der Realsimus ................................................................................................. 218 Parnaß und Symbolismus................................................................................ 219 Der Naturalismus ............................................................................................. 219 Feuilleton-, Sozial- und Populärroman Der Feuilletonroman ........................... 220 Der Sozialroman .............................................................................................. 221 Der Populärroman ........................................................................................... 221 Der historische Roman .................................................................................... 222 Dekadenz und »Fin de siècle«......................................................................... 222 Chateaubriand ................................................................................................. 222 Béranger .......................................................................................................... 223 Senancour ....................................................................................................... 223 Staël................................................................................................................. 223 Constant .......................................................................................................... 223 Lamartine......................................................................................................... 224 Musset ............................................................................................................. 224 Hugo ................................................................................................................ 224 Vigny................................................................................................................ 225 Nerval .............................................................................................................. 226
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Die Französische Revolution als historische Voraussetzung der Romantik Gegenstand dieser Vorlesung ist die französische Literatur des 19. Jahrhunderts, zunächst der Romantik. Wir könnten nun mit Chateaubriand und Lamartine anfangen, könnten uns sogleich, gestärkt von der Erinnerung an Rousseau und Bernardin de Saint-Pierre 1, in den wehmuterfüllten Räumen der neuen Innerlichkeit umsehen und versuchen, möglichst Tiefsinniges über die Naturseele drinnen und die Naturseele draußen zu sagen, ohne uns über die geschichtlichen Voraussetzungen der Romantik den Kopf zu zerbrechen. Aber wir wissen, daß es eine die bürgerliche Revolution vorbereitende Aufklärungsliteratur gab, so wie es eine Vorromantik gegeben hat. Das ist nicht zufällig, und wir wollen daher nicht auf Grund der Tatsache, daß die Revolutionszeit kaum eine große Dichtung hervorgebracht hat, diese Epoche einfach unterschlagen. Die meisten Literaturgeschichten widmen der Literatur der Revolutionszeit nur sehr geringen Raum, weil der schöpferische Geist sich während dieser Zeit ganz offensichtlich aus den Gebilden der Literatur zurückgezogen hat. Wir sind indessen nicht so vermessen, diesem Geist stets nur in seinen poetischen Höhenflügen folgen zu wollen und dabei die geschichtlichen Kreuzwege der Menschen zu vergessen, aus denen jener Geist sich bildet. Die Französische Revolution 2 ist ein Ereignis von unermeßlicher Bedeutung. Sie vollzieht den Durchbruch des Bewußtseins zu einer Umwälzung der Geschichte. Man darf sagen: in der großen Französischen Revolution werden die Weichen der Geschichte umgestellt in Richtung auf die moderne bürgerliche Gesellschaft. Der 20. Juni 1789, der Tag des Ballhausschwurs, ist mehr als nur der Auftakt zu der Umwälzung, für welche der Sturm auf die Bastille wenige Wochen später das Fanal setzt. Die Vertreter des dritten Standes erklären sich zur Nationalversammlung, und das heißt: der dritte Stand erhebt den Anspruch, die Nation zu sein. Der König muß nachgeben. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, die einzelnen Phasen des revolutionären Geschehens und den Übergang zum Kaiserreich Napoleons darzustellen. Aber wir müssen uns klar darüber werden, was dieser geschichtliche Einbruch an neuen Verhältnissen für die Literatur mit sich bringt. Die Literatur des 18. Jahrhunderts, auch das Aufklärungsschrifttum, war im Bannkreis der noch vorwiegend aristokratischen Salons entstanden. Mit der Vernichtung des Ancien Régime und der Zerstörung der alten Gesellschaftsordnung war auch die aristokratisch bestimmte und gepflegte Salonkultur zu Ende. Das bedeutet nicht weniger, als daß die Literatur sich jetzt ihr Publikum, ihr anregendes, förderndes, lesendes und bezahlendes, das heißt schlechthin interessiertes Publikum wo-
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Vgl. E. Köhler, Aufklärung II (hrsg. D. Rieger), Stuttgart 1984,S. 15 ff., 108 ff. Vgl. hierzu H. U. Gumbrecht, Skizze einer Literaturgeschichte der Französischen Revolution, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 13, Aufklärung III (hrsg. J. v. Stackelberg), Wiesbaden 1980, S. 269 ff. 10 2
anders suchen muß: ein Publikum ohne wirkliche gesellschaftliche Zentren also. Es ist dies ein Vorgang, den die Literaturgeschichtsschreibung noch nicht annähernd in seiner Bedeutung erkannt und fruchtbar gemacht hat. Über ein Jahrzehnt lang waren sämtliche Salons geschlossen. Dieses Vakuum genügte, um den bis zur Revolution geltenden normativen Anspruch der mondänen Gesellschaft restlos zu zerstören. Die Salons der Restaurationszeit sind danach nur ein sehr schwacher Widerschein einstigen Glanzes. Ihre von der Vergangenheit erborgte Geselligkeitskultur läßt jede wirklich kulturbildende Kraft vermissen. Die wenigen Zentren aber, von denen belebende Impulse ausgehen, wie der exilierte Salon der Mme de Staël (1766-1817), wenden sich gegen den Klassizismus, gegen die Herrschaft des Geschmacks, und bereiten mit dem Bruch der Stil- und Gattungstraditionen der Romantik den Weg. Wenn Victor Hugo (1802-1885) programmatisch die Aufhebung der Stil- und Gattungsgrenzen des Klassizismus fordert, so erfolgt damit mit einiger Verspätung für die Literatur, was die Revolution für die Gesellschaft durchgeführt hatte: die Hierarchie der Ständeordnung wird zerstört; die Literatur hat sich von nun an mit der Deutung menschlicher Existenzweisen zu beschäftigen, deren Gesetze sich endgültig nicht mehr aus einem ständischen Ordo herleiten lassen, sondern von einer Neuformierung in Klassen, die von vorneherein eine bislang unerhörte Dynamik durch die rapide Entwicklung der modernen Industriegesellschaft erhält. Nur wenn man diesen historischen Sachverhalt immer im Auge behält, kann man zu einem echten Verständnis der Literatur des 19. Jahrhunderts gelangen. Die Restauration (1814-1830) stellt zwar vorübergehend und im Widerspruch zu der neuen ökonomischen und von der werdenden Industriegesellschaft bestimmten Wirklichkeit die alte Gesellschaftsordnung wieder her, aber sie vermag die Kluft zwischen Individuum und Gesellschaft, die mit Diderots Werk als ein »zerrissenes Bewußtsein« und in den Schriften Rousseaus als frühromantisches Bewußtsein die folgende Entwicklung vorausnahm und sich in der Revolution explosiv entlud, nicht rückgängig zu machen, sondern nur erneut zu vertiefen. Die Restauration, die der entstehenden Industriegesellschaft und ihrem Klassencharakter künstlich die alte Ständeordnung aufzupfropfen versuchte, war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Doch zurück zur Revolution. Vergleicht man ihre politischen Geschehnisse mit ihrer Literatur, so offenbart sich ein seltsamer Widerspruch. Man sollte erwarten, daß Robespierre und seine Schar, die doch eingeschworene jünger Rousseaus waren, daß die Schriftsteller unter den Revolutionären in ihren literarischen Produkten die rousseauisch sanktionierte Sprache des revoltierenden, sich auf seine gedemütigte Natur berufenen Individuums sprechen, eine Sprache, die gegen den normativen Klassizismus Sturm läuft. Genau das Gegenteil ist der Fall: Der Stil der Revolutionsliteratur ist wesentlich noch der Stil des 18. Jahrhunderts. Der paradoxale Tatbestand lautet: Der Inhalt dieser Literatur ist derjenige der Gegenwart und der Zukunft; der Stil und die Form aber sind diejenigen der Vergangenheit. Hier tut sich eine Kluft auf, die erklärt, daß in dieser Phase keine große Dichtung entstehen konnte, eine Kluft, in der sich dann die Romantik ansiedelt, um sie zu überbrücken. Und diese Überbrückung wird eben nicht mehr die Wiederherstellung der alten Form-Inhalt-Beziehung sein können, sondern der Vollzug des Traditionsbruchs 11
durch ganz neue Stil- und Gattungskonzeptionen, durch den endgültigen Bruch mit der normativen Asthetik. Es ist doch eigenartig, daß Revolution und Empire, ein Zeitraum von rund fünfundzwanzigJahren (1789-1814), den Klassizismus verlängern, anstatt auch in der Literatur den Umbruch zu vollziehen. Wir werden diesen Widerspruch zu erklären haben und mit dieser Erklärung dann auch einen der wesentlichen Impulse der romantischen Bewegung verstehen. Zunächst aber gilt es, einfach die Erscheinungen als solche zu charakterisieren. Wir wollen uns daher, ohne uns lange aufzuhalten, einige beispielhafte Fälle ansehen, im Sinne einer Beschreibung einiger wichtiger Phänomene. Schon vor der Revolution hatte eine modische Schwärmerei für die Antike um sich gegriffen, die sich an Ausgrabungen und Griechenland-Reiseberichten nährte. Entscheidend aber dürfte gewesen sein, daß sich die Revolutionäre auf den Tugendbegriff der römischen Republik beriefen und ihm zu neuer Wirklichkeit zu verhelfen suchten. Das Vorbild der antiken Republik gewann eine historische Aktualität, die nahezu alles beeinflußte. Die Kleidung orientierte sich antikisch. Die phrygische Mütze wurde zum Emblem der Freiheit. Die Neugeborenen erhielten antike Namen. Die Spielkarten zeigten neben Konterfeis von Voltaire auch solche von römischen Republikanern. Der Stil der Malerei wird antikisierend, und der bedeutendste Vertreter der zeitgenössischen Malerei und Schöpfer des berühmten Schwurs der Horatier, 1784, ist der dezidierte Klassizist und Revolutionär Louis David (1748-1825), der auftragsgemäß auch die großen Revolutionsfeste im antikisierenden Stil inszenierte. Der typischste Vertreter dieses Klassizismus in der Literatur ist wohl Lebrun-Pindare (1729-1807), ein Opportunist, der es sowohl mit dem Ancien Régime wie mit den Jakobinern und schließlich mit Napoleon konnte, der einen Genie-Kult mit sich selber trieb und sich seinen hochtrabenden Doppelnamen LebrunPindare selber zulegte. Bei dem Elegiendichter Charles-Hubert de Millevoye (17821816) und bei Jacques Delille (1738-1813) verhält es sich schon etwas anders. Bei beiden ist der Einfluß von Grays Elegy written an a country churchyard, (1750), Youngs The Complaint, or Night Thoughts an life Death, and Immorality, 1742-1745, der Idyllen Gessners und der Ossianübersetzungen spürbar. Der Titel von Millevoyes Elegie – La Chute des Feuilles, 1814 – ist charakteristisch für die neue Vogue der Grab-, Nacht-, Ruinen und Verfallspoesie, die mit zu den Ingredienzen der romantischen Dichtung gehören wird. Melancholie dieser Art durchzieht auch Les Jardins ou Part d'embellir les paysages, 1782 von Jacques Delille, der, fortschritts- und wissenschaftsgläubig, mit seiner umfänglichen Dichtung Les trois règnes de la nature, 1808, eine versifizierte Summa der Naturwissenschaften unternahm. Wie sehr diese Dichtungen auch inhaltlich der Vorromantik zuzurechnen sind – ihre Sprache und ihre Form sind klassizistisch.
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Das Theater der Französischen Revolution Ähnlich liegen die Dinge beim Revolutionstheater. Wir wollen uns auch hier kurz fassen. Dieses Theater ist nahezu gänzlich politisch und propagandistisch orientiert, gegen Monarchie, Feudaladel und Klerus. Eine Ausnahme macht ein Stück des Erfinders des Revolutionskalenders, Fabre d'Eglantine (Philippe-François Nazaire, 1756-1794), mit dem Titel: Le Philinte de Molière ou la suite du >MisanthropeJournaux Intimes< «, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich Schiller Universität Jena, Jahrgang 5, 1955156, Heft 2/3, S. 305 ff. 56 Günther Reichenkron, Erich Haase (Hrsg.), Formen der Selbstdarstellung. Analekten zu einer Geschichte des literarischen Selbstporträts, Berlin 1956. 53 55
sen des »Journal« aber ist eben das »Tagebuch«, ist das Diaristische, das jeweils gegenwärtig Erlebte, nicht die Perspektive des Rückblicks auf Vergangenes. Es ist für die Epoche, die wir behandeln, ungemein signifikant, daß jetzt der Schritt von der Selbstdarstellung aus der Distanz abgeklärter Altersweisheit zur Registrierung des jeweils soeben Erlebten getan wird, zur Rechenschaftsablegung des sich in jedem Augenblick seiner Existenz gleich wichtigen und ernsten Individuums. Die autobiographische Distanzdarstellung im Sinne von »Dichtung und Wahrheit« ist damit aufgegeben zugunsten einer Unmittelbarkeit, die scheinbar alle vermittelnde, transponierende Fiktion aufhebt und die Welt nun ganz konsequent in den Regungen der jeweiligen Befindlichkeit der Individualseele allein spiegelt. Und noch eines ist wichtig: Das »Journal intime« ist nicht zur Veröffentlichung bestimmt, und wenn dies doch der Fall ist – wodurch es erst eigentlich zur literarischen Gattung wird -, dann ist doch gerade der Ton des Nicht-Öffentlichen, des scheinbar nicht zur Lektüre anderer Bestimmten, das Wesen seiner Fiktion, das seinen Stil bestimmt. Das Geheimbleiben, als echte oder als scheinbare Intention, ist das Formprinzip des »Journal intime«. Mit ihm aber stellt sich eine zentrale Frage: die Frage nach der »sincérité«. Ist, wer ein Tagebuch führt, wirklich aufrichtig? Gegenüber sich selbst? Und wenn er daran denkt, von anderen gelesen zu werden? Wer denkt nicht daran? Ist nicht immer einer da, der über die Schultern guckt? Die ersten nachweisbaren »Journaux intimes« stammen von zwei nicht ganz unbedeutenden Philosophen: Maine de Biran und Saint-Martin. Beide Tagebücher setzen um 1792-1793 ein; beide stehen nach den eigenen Angaben ihrer Verfasser unter dem Eindruck Rousseaus und der Revolution. Im Jahr 1804 beginnen dann zwei große Schriftsteller ihre Tagebücher: Benjamin Constant und Stendhal. Maine de Birans und Saint-Martins »Journaux« waren keineswegs zur Veröffentlichung bestimmt, und daß dies bei den Tagebüchern Constants und Stendhals ebenso wenig der Fall war, zeigt allein schon die Tatsache, daß Constant einen erheblichen Teil seines »Journal« in griechischen Buchstaben geschrieben und Stendhal die Lektüre des seinigen absichtlich durch zahlreiche Passagen in englischer und italienischer Sprache und durch Abkürzungen erschwert hat. Zwei weitere wichtige Aspekte des »Journal intime« lassen sich an zwei Stellen aus dem Tagebuch des berühmten Historikers Michelet aufzeigen. Die eine stellt das »Journal« dar als (...) l'histoire d'une âme qui se raconte jour par jour au temps où elle ignore ses destinées futures. Il est impossible de le faire avec plus de franchise et de simplicité. L'absence de pose y est absolue. 57
An diesen Sätzen wollen wir festhalten neben der Betonung der Aufrichtigkeit, der »sincérité«, und Wahrheit und neben der Verleugnung jeder Pose, vor allem das »jour par jour où [l'âme] ignore des destinées futures», das heißt, die Unvorhersehbarkeit des Kommenden, die reine Gegenwartsperspektive, das Nichtvoraus-
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Jules Michelet, Mon Journal, (1820-1823) (hrsg. Mme J. Michelet), S. XIV, zit. in: Fritz Neubert, op.cit., S. 314.
wissen als Prinzip, anders gesagt, die grundsätzliche Verschließung der Zukunft, die höchstens als Hoffnung oder Verzweiflung Zutritt hat. Ein weiteres Charakteristikum, diesmal spezieller des romantischen »Journal intime«, ergibt sich aus einer zweiten Eintragung Michelets: Presque plus de journal. Je vois déjà venir le temps où il me faudra le supprimer tout à fait. Adieu les promenades, les longues rêveries. J'entre dans l'action. 58
Der Beginn des tätigen Lebens, der Aktion, bedingt hier das Aufhören des Notierens jeder Seelenregung. Michelets Bemerkung ergibt somit ein Indiz für die eigentliche Voraussetzung des romantischen »Journals»: eine gewisse Unfähigkeit zum Handeln, die durchaus auch nur zeitweilig sein kann, die Lähmung eines Willens durch die Umstände, eines Willens, dessen verbliebene Substanz sich in der Fluchtbewegung nach innen verzehrt. Von dieser Lähmung einer ganzen Generation, die sich im »ennui« verzehrt, werden wir auch weiterhin noch ausführlich zu sprechen haben. Es liegt etwas Merkwürdiges und nur scheinbar Paradoxes in dem Umstand, daß viele der großen Bekenntniswerke und Lebensbeichten ausgerechnet von Autoren stammen, deren religiöse Erziehung eine protestantische bzw. kalvinistische war. Rousseau stammte aus dem kalvinistischen Genf. Benjamin Constant ist Protestant. Und noch André Gide, protestantisch erzogen, gehört in diese Reihe. Es scheint, als vollzögen diese Protestanten mit einer gewissen Vorliebe in der Literatur, was ihre Kirche ihnen versagt, nämlich die detaillierte, persönliche Beichte, die Ohrenbeichte. Das extremste Beispiel bietet wohl der Spätromantiker Henri Frédéric Amiel. Amiel stammte, wie Rousseau, aus Genf und hatte in seiner Vaterstadt eine Professur für Ästhetik und Philosophie inne. Er lebte von 1821 bis 1881. Bei Amiel ist die durch Selbstzerfleischung und Selbstbeobachtung verursachte Unfähigkeit zur Formgebung zu einem fast klinischen Fall gediehen. Er verlor jede Kontrolle. Es wird von ihm erzählt, daß er seine Vorlesungen unterbrach, um schnell eine Tagebucheintragung vorzunehmen. Die permanente Selbstanalyse, in der sich die eigene Lähmung in qualvollen Exzessen manifestierte, ließ hier ein Tagebuch entstehen, dessen vollständiger Druck noch kein Verleger riskiert hat. Nur Teile sind veröffentlicht. Das Manuskript liegt in der Genfer Universitätsbibliothek und umfaßt sage und schreibe 17000 Seiten. Weiter kann man es kaum treiben. Dieses Tagebuch ist ein riesiger Friedhof romantischer Gefühle. Schon bei Benjamin Constant erhält diese Beichte ihren Grundton durch eine unbarmherzige Aufrichtigkeit. Auch bei ihm ist die Selbstbeobachtung zu einer Art Manie geworden. Keine Begegnung, kein Erlebnis, keine Regung bleibt unreflektiert. Eine stets wache, j a überwache Intellektualität beobachtet hier unaufhörlich und argwöhnisch das eigene Gefühlsleben, notiert es, zensiert es, durchleuchtet es und scheint doch machtlos. Diese sich selbst klare Disjunktion des geistigseelischen Vermögens, die Constant in seinem Leben durch seine Werke und seine politische Tätigkeit letztlich doch meistert, ist auch die Grundsituation seines Romanhelden Adolphe.
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Ebda., S. 314. 55
Wir wollen einen Blick in Constants Tagebuch werfen, um dessen Beziehung zum Roman, und das heißt die Beziehung zwischen Erlebnis und Fiktion zu erhellen gerade an einem Werk, dessen autobiographischer Charakter ebenso evident ist wie er meistens einseitig übertrieben wird. Constants Tagebuch ist nicht nur im Hinblick auf seine eigene Person interessant, sondern ebenso deshalb, weil sich Begegnungen mit bedeutenden Menschen hier in einer Weise spiegeln, die trotz ihrer subjektiven Perspektive jene Welt doch in sehr aufschlußreicher Weise beleuchten. Greifen wir eine Tagebucheintragung vom 7. Mai 1804 heraus. Constant ist auf der Deutschlandreise mit Mme de Staël und Schlegel. Es heißt hier: Route de Blaufelden à Aalen. Lu en route des épigrammes de Goethe. Prodigieux talent. Haine remarquable contre le christianisme. Goethe est un esprit universel et peut-être le premier génie poétique qui ait existé dans le genre vague et qui esquisse sans achever. Dispute avec Schlegel sur Don Quichotte. C'est la seconde fois que je remarque que s'étant livré presque exclusivement à l'étude des arts et de la poésie, son système lui est devenu une chose tellement personnelle que lorsqu'on l'attaque, il souffre physiquement. En parlant pour Cervantes, il pâlissait et ses yeux se remplissaient de larmes. De même sur la poésie italienne. L'homme a besoin d'émotions: fermez une porte, elles entrent par une autre. Dispute de Minette avec lui sur la plaisanterie. Elle ne sent pas qu'attaquer un homme sur sa manière de plaisanter, c'est l'attaquer sur ce qu'il y a de plus chatouilleux dans son amourpropre. C'est le blesser dans sa vanité individuelle et aussi dans sa vanité sociale. Minette ne ménage pas assez les autres. Il est vrai qu'elle les aime. De là vient qu'elle se fait beaucoup d'ennemis et d'ardents amis. Moi, je ménage les autres et je ne les aime pas. De là vient qu'on me hait peu et qu'on ne m'aime guère. 59
Rekapitulieren wir rasch: Lektüreeindrücke auf der Reise dieses Tages. Urteil über Goethe. Bis dahin eine Art Telegrammstil, ohne Verben. Bloße Notiz. Dann die Reflexion, syntaktisch vollständig. Das notierte Geschehnis provoziert die Überlegung. In dem »genre vague«, dessen Meisterschaft sich darin bekundet, daß es unvollendete Skizze ist, ahnt man den Reflex der Fragmenttheorie des anderen Schlegel, Friedrich. Der Niederschlag der Diskussion mit dem Mitreisenden August Wilhelm Schlegel ist wie ein Blitzlicht, durch das die Identität dieses Lebens mit seinen Entdeckungen auf dem Gebiete der Kunst festgehalten wird. Sogleich aber versucht der Folgesatz unerbittlich, maximenhaft diese Liebe zur Kunst als Kompensation eines ansonsten erlebnisarmen Daseins zu entlarven: L'homme a besoin d'émotions: fermez une porte, alles entrent par une autre., 60
Dann der Disput zwischen Minette und Schlegel. Minette, Sie ahnen es wohl schon, ist Mme de Staël, hier ebenso blitzartig beleuchtet in ihren strapaziösen Freundschaftsbedürfnissen, ihrer verletzenden Liebe, wie Schlegels Verletzbarkeit selbst. Und von dieser Charakterisierung der anderen her, dem Geist des »Journal intime« entsprechend, erfolgt dann die Anwendung auf das Ich, in stilistisch glänzender Antithetik:
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Benjamin Constant, »Journal«, in: Œuvres (hrsg. Alfred Roulin), op.cit., S. 270f. Benjamin Constant, »Journal«, in: Œuvres (hrsg. Alfred Roulin), op.cit., S. 270. 56 60
Minette ne ménage pas assez les autres. Il est vrai qu'elle les aime. De là vient qu'elle se fait beaucoup d'ennemis et d'ardents amis. Moi, je ménage les autres et je ne les aime pas. De là vient qu'on me hait peu et qu'on ne m'aime guère. 61
Diese Bewegung von außen nach innen, vom Anlaß des Reise-, Lektüre- oder Diskussionserlebnisses zur Reflexion, zugleich vom Partikularen zum ganz Persönlichen und doch Generellen, Generelles über Persönliches, kann als ein Formund Aufbauprinzip vieler Tagebucheintragungen gelten. Die zitierte Stelle verrät nur indirekt etwas über das komplizierte Verhältnis Constants zu Mine de Staël. In einer Eintragung vom 1. Juli des gleichen Jahres bricht die Verzweiflung über die »Sklaverei« dieser Verbindung auf. Germaine de Staël – Minette – heißt hier Biondetta. Man befindet sich wieder in Coppet am Genfer See: Peu et mal travaillé. Je suis entièrement désorganisé. Des maux d'yeux, beaucoup d'ennui, un dégoût insurmontable de ma situation, tout conspire à fletrir mon âme et à disperser mes idées. Fatale liaison! Ma santé, mon bonheur, ma gloire, tout en est victime. Jamais on n'a vu de caractère aussi misérablement faible que celui de Biondetta, jamais égoïsme qui se fît moins scrupule de peser sur les autres et de se les immoler, jamais prétentions plus multiformes et plus ombrageuses. Tout cela accompagné de beaucoup d'esprit, de grâces, de naturel e de bonté. C'est là le malheur. Enfin le temps s'avance où je prendrai mon parti, et certes j'irai plutôt en Laponie que de me laisser retenir plus longtemps dans cet esclavage. J'ai refait le plan de mon livre de nouveau. Il faut le prendre didactiquement. Mais il y a des livres qui me manquent: je les ai chez moi, mais il ne m'est pas permis d'aller chez moi. Enfin patience et fermeté. Il ne vaut pas la peine d'avoir attendu si longtemps pour braver l'éclat que j'ai voulu éviter et que j'éviterai, j'espère, en saisissant pour voyager l'époque de son voyage en Italie. 62
Auf die bitteren Vorwürfe, in denen Constant alle Schuld der Geliebten auflädt und sich selbst als ihr »victime« bemitleidet, folgt tags darauf die Umkehr zur Einsicht in die eigene Schwäche: Querelle avec Biondetta, jusqu'à 2 heures du matin. J'ai tort. Je ne puis lui dire tout ce que je pense; pourquoi commencer des querelles qui ne peuvent avoir aucun résultat? Pourquoi ne pas vivre doucement jusqu'à mon départ? C'est que mon caractère est faible en tout. Je ne sais pas plus résister à mon humeur que je ne sais résister à la volonté des autres; et je dis des duretés à une femme qui m'a gardé, sur dix ans, huit malgré moi, par la même raison qui a fait que je me suis ainsi pendant tout ce temps laissé garder malgré moi. 63
Ich überspringe fast drei Jahre. Constant ist nach wie vor außerstande, sich von Mme de Staël zu lösen. Täglich gibt es furchtbare Szenen, um so mehr, als Constant bereits in engen Beziehungen zu Charlotte von Hardenberg steht, die er später heiraten wird.
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Ebda., S. 271. Benjamin Constant, »Journal«, in: Œuvres (hrsg. Alfred Roulin), op.cit., S. 294f. 63 Ebda., S. 295. 62
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Am 28. Dezember 1806 liest Constant den Adolphe Freunden vor, unter ihnen Mme de Staël. Er notiert als Ergebnis der Diskussion, daß er seine Absicht, eine zweite Frau neben Ellénore in den Adolphe einzuführen, aufgeben muß, wenn er dem Helden des Romans nicht jede Sympathie des Lesers rauben wollte. Die gleiche Diskussion aber, die Persönlichstes aufrührt, provoziert eine der schrecklichen Szenen: Course à Genève. Dîner chez M. de Germany. Le pauvre homme n'a pas pour un mois de vie. revenu le soir tête à tête avec Minette. Si j'avais plus de suite et de fermeté, je serais beaucoup moins malheureux, même en conservant mes liens actuels. Mais je ne sais faire ce qui me plaît ni dans les petites ni dans les grandes choses, et par une singulière timidité, au moment même où je dis à une personne que je voudrais rompre avec elle, je n'ose pas la quitter un quart d'heure plus tôt, et j'ai la même peur de lui déplaire que si je me trouvais heureux de lui consacrer ma vie. Ces scènes me font à présent un mal physique. J'ai craché le sang. Et rien de Charlotte, et tout mon avenir dans les ténèbres. 64
Und tags darauf: La scène a recommencé le soir et duré jusqu'à 4 heures. 65
Zwei Tage Später, 31. Dezember: Journée paisible. Le diable n'était pas. Scène à son retour. 66
Der »Teufel« ist Mme de Staël. Fröhliches Silvester! – mit Versöhnung, die sogleich wieder in neuen Krach umschlägt. So geht es weiter, endlos. Constant ist unfähig, mit Mme de Staël zu brechen, obwohl alles ihn zu Charlotte von Hardenberg zieht, erwägt er eine Heirat mit Mme de Staël. Noch ein letztes Zitat aus dem »Journal« Sotte lettre de Mme de St[aël]. Elle vaut mains que je ne croyais. 67 Unzählig sind die Stellen, an denen sich Constant gegen das Schicksal dieser Verbindung aufbäumt, die Tyrannei der Frau, die eigene Schwäche anklagt, verzweifelt klagt über die Sklaverei, die ihn von der Arbeit, von der Aktion abhält, die ihn sein Leben, wie er glaubt, verfehlen läßt. Er begreift sich, trotz der Einsicht, daß er selbst mitschuldig ist und trotz der großen Schätzung ihrer Qualitäten, als das Opfer dieser Frau und der fatalen Bindung an sie. Und wie mit Mine de Staël die entscheidenden Jahre seines Lebens hindurch, so erging es ihm noch mit einer Reihe anderer Frauen über kürzere Epochen. Man muß sich nun fragen, wieso Constant in seinem Adolphe, der doch nach allgemeiner Ansicht ein autobiographischer Roman ist, nicht ein getreues Abbild dieser Erlebnisse gegeben hat, war-
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Benjamin Constant, »Journal«, in: Œuvres (hrsg. Alfred Roulin), op.cit., S. 569. Ebda., S. 569. 66 Benjamin Constant, »Journal«, in: Œuvres (hrsg. Alfred Roulin), op.cit., S. 570. 67 Ebda., S. 618 f. 58 65
um in diesem Roman die Rollen vertauscht sind. Denn nicht der Mann ist im Roman das Opfer der Frau, sondern umgekehrt. Die Entscheidung auf literarischem Gebiet fällt also anders aus als im Leben, nämlich im Sinne des romantischen Helden: Die Tyrannei der Frau ist zum alles bereiten, duldenden, zu jedem Opfer fähigen und darum natürlich auch anspruchsvollen und erst recht bindenden Leiden gedämpft in der Gestalt Ellénores. Die Schwäche des Mannes ist zum Unvermögen zur echten Liebe, zur Indifferenz, zur Willenlosigkeit geworden, zu Eigenschaften, die in ihrer Gesamtheit sich so böse auswirken wie sie fatal und unüberwindlich sind und die das Opfer eines Menschen fordern. Der biographische Stoff ist im Roman also zurecht gemacht, stilisiert, verlagert, abgewandelt, umgeformt, weil der Roman aus der partikulären Wahrheit sich begegnender Lebenswege die totale Wahrheit des ganzen Lebens dieser Generation kristallisieren wollte, um Kunstwerk zu werden. Mine de Staël ist, als Constant sie endgültig verließ, ebenso wenig daran gestorben wie andere Frauen, die mit ihm in Berührung kamen. Und trotzdem ist der Tod Ellénores, der Romanheldin, das eigentlich Poetische und Wahre, die Konkretisierung des wesenhaften Grundzuges der zwischenmenschlichen Beziehungen dieser Generation. Die poetische Wahrheit liegt auch hier – wie Flaubert einmal sagen wird – in der Übertreibung.
Cécile, die Frau als Opfer Das Bewußtsein der Lähmung, das die zur Tatenlosigkeit verdammte nachnapoleonische Generation immer neu formuliert, wurde mit dem René Chateaubriands zum »génie fatal«, tödlich für alles, was mit ihm in Berührung kommt. Adolphe ist eine weitere gültige Gestaltung dieses pessimistischen Menschenbilds, das einen Trost offenbar nur noch daraus gewinnen kann, daß es seine Einzigartigkeit an den makabren Wirkungen seiner Existenz bestätigt findet. Das Wunschbild des romantischen Helden erhält dämonische Züge, deren Verdichtung den anderen Menschen, und das heißt die Frau, zum Opfer werden läßt. Amélie und Céluta waren die Opfer Renés geworden; Ellénore ist dasjenige Adolphes. René hatte seine Schuld noch nicht begriffen; Adolphe weiß um sie, weil er sich selbst durchschaut und ist doch nicht fähig, die Konsequenz daraus zu ziehen. Constant hat sich keineswegs allein an seinen Erlebnissen orientiert, sondern ebenso sehr an der Literatur. Und nicht bloß an Chateaubriands René. In einem Aufsatz der von mir bereits genannten Festschrift für Fritz Neubert hat Walter Pabst zeigen können, daß Constant auf die Romane des 18. Jahrhunderts zurückgegriffen hat, auf Richardson, auf Laclos 68. Aber die von dort entlehnten Elemente erfahren eine bezeichnende Umwandlung und Funktionsveränderung: Richardsons Lovelace 69 ist der skrupellose, teuflische Verführer; ebenso der Val-
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Walter Pabst, »Die Stilisierung des literarischen Selbstporträts in Benjamin Constants 'Cécilé«, in: Formen der Selbstdarstellung. Analekten zu einer Geschichte des literarischen Selbstporträts, op.cit., S. 313 ff. Figur in Richardsons Roman Clarissa Harlow, 1747/48. 59
mont 70 des Choderlos de Laclos. Beide agieren ohne jede Rücksicht auf Gott und Welt. Die Frau ist ihr unschuldiges, hilfloses Opfer. Nicht anders ist es bei dem Marquis de Sade. Walther Pabst hat zeigen können, daß die erste Station, an der dieses Thema eine wesentliche Wandlung erfäht, ein heute fast völlig vergessener Briefroman ist, der aus dem Jahr 1.786 stammt und den Titel trägt: Lettres écrites de Lausanne. Sein Autor ist Mme de Charrière, die erste, um mehr als zwanzig Jahre ältere Freundin und Geliebte Benjamin Constants. In diesem Roman ist die Frau nicht mehr das Opfer eines zielbewußten, teuflisch-skrupellosen Verführers, sondern das Opfer männlicher Unfähigkeit zur Entscheidung, der Entschlußlosigkeit, der Angst vor der Meinung der Umwelt, der ängstlichen Rücksichtnahme, kurz, einer Feigheit, die das Opfer der Geliebten herbeiführt. In Adolphe erkennen wir im wesentlichen die gleichen Charakterzüge. Verführer noch, aber nicht aus Macht- und Beherrschungstrieb, sondern aus Renommiersucht und Bedürfnis nach Selbstbestätigung und zu keinem Entschluß fähig. Die Heldin des Romans von Mine de Charrière trägt den Namen Cécile. Und Cécile heißt auch die Titelheldin des zweiten Romans, den Constant geschrieben hat – und zwar nach dem Adolphe. Dieser zweite Roman blieb unvollendet; und er war unbekannt, bis er in jüngerer Zeit im Nachlaß entdeckt und im Jahre 1951 erstmals veröffentlicht werden konnte. Die männliche Hauptfigur dieses zweiten Ich-Romans ist noch um ein Erhebliches negativer gezeichnet als Adolphe. Dieser Held treibt ein ziemlich übles Spiel mit zwei Frauen: Cécile, der Titelheldin, und Mme de Malbée. Der Herausgeber dieses Romans, Alfred Roulin, der auch die Gesamtausgabe der Bibliothèque de la Pléiade besorgt hat, konnte unschwer zeigen, daß sich hinter Cécile Charlotte von Hardenberg verbirgt und daß Mme de Staël Modell für die Mme de Malbée des Romans gestanden hat. Der Schluß Roulins indessen, daß dieses Werk Erlebnisse Constants ziemlich unverändert wiedergebe, ja, daß mit seiner Hilfe Lücken des Tagebuchs, das heißt auch der Biographie aufgefüllt werden könnten, ist von Walther Pabst in dem genannten Aufsatz zurückgewiesen und widerlegt worden. Gerade der Vergleich mit dem »Journal« zeigt wiederum die Umwandlung der Situation, eine Rollenverschiebung vergleichbar derjenigen des Adolphe. Während Constant nichts sehnlicher wünschte, als sich endlich aus der Verbindung mit Mme de Staël zu lösen und sich mit Charlotte von Hardenberg zu vereinigen, treibt der Held des Romans Cécile ein hinterhältiges Spiel mit Cécile (das heißt Charlotte) und fühlt sich ungleich mehr der Mme de Malbée (Mme de Staël) verbunden. Es ist also das wirkliche Verhältnis im Roman ins Gegenteil verkehrt. Was damit bezweckt ist, wird klar, wenn wir noch einen anderen Aspekt ins Auge fassen. Ich erinnere an die Stelle aus dem »Journal«, aus der hervorgeht, daß Constant ursprünglich in den Adolphe eine zweite Frauengestalt einführen wollte, eine Nebenbuhlerin Ellénores. Er hat es nicht getan, weil er einsah, daß dadurch der Roman an Wirkung verloren hätte. Denn: hätte Adolphe Ellénore um der neuen Liebe zu einer anderen willen verlassen, dann wäre das eigentliche Thema – das
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Figur in Laclos' Roman Les liaisons dangereuses, 1782.
Scheitern durch Schwäche und Entschlußlosigkeit – soweit abgeschwächt worden durch ein zweites, fremdes Motiv, daß seine Substanz verloren gegangen wäre. In Cécile nun hat Constant diese zweite Frauengestalt doch noch eingeführt, aber doch mit einer Verschiebung insofern als die neue, die zweite Liebe das Opfer stellen muß und der Held dadurch um etliche Grade verachtenswerter wird. Diese neue Version des romantischen Helden verstärkt den Akzent des Egoistischen zum Bösartigen, das nur deshalb nicht skrupellos genannt werden kann, weil der Held seine Bösartigkeit selbst erkennt und beklagt, ohne sie überwinden zu können. Diese potenzierte Unfähigkeit ist aber sein Schicksal. Böse in Unschuld! Auf der Fahrt nach Besançon zu Cécile, einer Fahrt durch Sturm und Regen, die ihm wie die nahende Höllenstrafe erscheint, kommt ihm die Geliebte, Cécile, zu Fuß entgegen, durchnäßt und erschöpft. Er läßt sie zu Fuß hinter der Kutsche herlaufen, während er selbst wohlgeborgen in der Kutsche die Reise mit nassen Augen, aber trockenem Fell fortsetzt. Der Kommentar des mit seinen Liebschaften wohlvertrauten Kutschers bringt ihm die eigene Gemeinheit ins Bewußtsein: mit dem Ergebnis, daß er diese Gemeinheit durch eine neue aus der Welt zu schaffen versucht. Es heißt an dieser Stelle wie folgt: Mon domestique, vieux Français, familier comme ils le sont tous avec leurs maîtres, me dit en riant: »Ah! ah! Monsieur! et Mme de Malbée!« Ce nom prononcé dans cette circonstance, le rire sarcastique de cet homme grossier, l'espèce d'approbation qu'il donnait à ma perfidie, cet outrage que j'attirais sur la femme que J'avais trompée, tout cela redoubla mon déchirement intérieur. J'arrivai à Besançon dans cette disposition. J'y fus plus d'une heure avant le retour de Cécile, et j'employai cette heure à écrire à Mme de Malbée la lettre la plus passionnée qu'elle eût jamais reçue de moi. 71
Um die perfekte Demütigung Céciles zu tilgen, schreibt er an Mme Malbée den leidenschaftlichsten Liebesbrief. Das ist eine merkwürdige Art der Gewissensbereinigung. Sie läßt erkennen, was Constant hier wollte: nämlich die absolute Unfähigkeit zu der doch als notwendig und richtig erkannten Entscheidung zu verstärken, die Unmöglichkeit der Tat im Guten wie im Schlechten, ja, die Unfähigkeit zum Guten überhaupt, kurz, die fatale Disposition dieser Variante des romantischen Helden gegenüber Adolphe noch zu vertiefen. Cécile sollte sicherlich ähnlich enden wie der Adolphe, nämlich mit dem Tod der Titelheldin, der »victime«, verursacht durch männliche Charakterschwäche, über der ein unaufhebbares Verdikt des Schicksals liegt. Der Roman bricht ab mit der Ankündigung der Ärzte, daß Cécile ihre Krankheit, offensichtlich die Folge des nächtlichen Marsches in Regen und Sturm und ihrer Demütigung, nicht überleben wird. Fassen wir noch einmal zusammen, was wir an Adolphe und Cécile beobachten konnten. Beidemal handelt es sich um Ich-Romane, Selbstdarstellungen romantischer Helden in penetranter und doch fruchtloser Ich-Analyse. In Adolphe ist thematisch neu daran das minutiöse Verzeichnen aller Phasen einer erlöschenden Leidenschaft und die Kreierung der »femme de trente ans«. An beiden Romanen der Prozeß der Selbstentzweiung des Ich, aufgezeigt im Spiegel einer Liebe, die
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Benjamin Constant, »Cécile«, in: Œuvres (hrsg. Alfred Roulin), op.cit., 5.181. 61
mehr im Kopf sitzt als im Herzen und sich doch als Gefühl begreift. Adolphe kennt keine vermenschlichte Landschaft, keine mitfühlende Natur, keine »couleur locale«, so wenig wie ein wirklich romanhaftes Geschehen. Das dünnste äußere Geschehen steht in bewußtem Gegensatz zu dem Reichtum des psychologichen Prozesses, der aber gleichsam auf der Stelle tritt. Es ist Constant gelungen, was er realisieren wollte: (...) donner une sorte d'intérêt à un roman dont les personnages se réduisant à deux, et dont la situation serait toujours la même. 72
Die größte Faszination aber geht vom Stil aus, den Victor Klemperer in seiner Geschichte der französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert sehr glücklich folgendermaßen charakterisiert: Der Roman ist vollkommen klassisch erzählt in einer geradezu mathematischen Prosa, mit einer Klarheit, die keinen dunklen Winkel duldet, einer Präzision sondergleichen und völliger Ausschließlichkeit des psychologischen Interesses. 73
Der Gegenstand dieses klassisch-psychologischen Interesses aber ist der romantische Held mit seiner Problematik – und noch mehr als in Senancours Obermann sind Klassik und Romantik in Adolphe eine dichterische Synthese eingegangen. Constants Adolphe steht ebenso wenig beziehungslos im historischen Raum wie sein Autor. Freiheitsverlust und Willenslähmung des Helden durch die Liebe, von Constant explizit auf die Gesellschaft bezogen, enthalten den Reflex der napoleonischen Ära, sogar in deutlicher Spiegelung durch den oppositionellen Kreis um Mme de Staël. Für die Gesamtheit des französischen Volkes war es freilich ausschlaggebend, daß der dynamische Ablauf der französischen Revolution ausnahmslos jedes Individuum in das historisch-politische Geschehen hereingerissen, es engagiert hatte. Eine ähnliche Totalität des historischen Mitvollzugs durch die gesamte Nation hatte es noch nie gegeben. Die militärische Expansion unter Napoleon hatte dem Leben wieder den Preis des Abenteuers verliehen und hatte die heroischen Impulse der Revolution unter den kaiserlichen Standarten in die Welt getragen. Der Zusammenbruch des Kaiserreichs war das katastrophale Scheitern eines Sendungsbewußtseins, das in bittere Resignation umschlug, während die Zertrümmerung der Armeen Tausende von Existenzen bestimmungslos machte, ohne ihnen die Erinnerung an die verlorene Funktion zu nehmen. Übrig blieb die Zerstreuung und Isolierung der Individuen in Leben und Bewußtsein: der Drang, in irgendeiner Weise die lahmgelegten Energien in einer neuen Gesellschaft freizukämpfen, und der Zwang, die Illusionen eines sinnerfüllten, imaginär-idealen Daseins in einem quälenden Prozeß des Scheiterns loszuwerden. Der Roman wird jetzt – mit dem beginnenden Realismus – voll und ganz, was er seinem Gattungsgesetz nach von Anfang an ist: die spezifische künstlerische Form der Auseinan-
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Benjamin Constant, »Adolphe«, in: Œuvres (hrsg. Alfred Roulin), op.cit., S.9 (»Préface«). Victor Klemperer, Geschichte der französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1, op.cit., S.46f.
dersetzung zwischen Individuum und Gesellschaft als ganz und gar problematische Sinnsuche.
Alfred de Mussets Confession d'un enfant du siècle: die Krankheit des Jahrhunderts 1830, im Todesjahr Constants, veröffentlicht Stendhal die geniale Psychogenese des zu spät geborenen Romantikers, Revolutionärs und Napoleonschwärmers: Le Rouge et le Noir. Drei Jahre später macht sich Balzac an den großartigen Roman, der schon im Titel die Grunderfahrung der Generation besiegelt: Illusions perdues – »Verlorene Illusionen«. Und noch Flaubert muß sich unter der ungeheuerlichsten Anstrengung seines Kunstwillens von der romantischen Verführung freikämpfen: »Mme Bovary, c'est moi-même.« Indessen: Drei Jahre nach den Illusions perdues, sechs Jahre nach Le Rouge et le Noir, erschien ein Roman, den wir als letzte, äußerste Darstellung des romantischen Helden ansehen müssen, auch wenn er als Kunstwerk dem Vergleich mit den bisher behandelten nicht standhält. Dieser Roman, 1835 teilweise in einer Zeitschrift veröffentlicht und ein Jahr später in Buchform erschienen, ist ein Werk von Alfred de Musset, mit dem sehr bezeichnenden Titel: La confession d'un enfant du siècle.
Dieses Buch ist vielleicht das kostbarste, weil eindeutigste Zeugnis für die moralischen und geistigen Folgen des Zusammenbruchs der napoleonischen Unternehmungen. Die Confession Mussets enthält eine Art von Generationstheorie, die das Bewußtsein der ganzen Generation an das Grunderlebnis des Zusammenbruchs knüpft. Dabei steht keineswegs das militärische Abenteuer als solches im Vordergrund, sondern der universelle Charakter der napoleonischen Waffengemeinschaft. Was verloren ist, das ist ein Sendungsglaube, der noch von den Triebkräften der Revolution lebte. Jetzt vermag kein gemeinsames Ziel mehr das Individuum zu binden, das nun, gerade im Bewußtsein des Verlusts und der Unwiderruflichkeit dieses Verlusts sich als absolut vereinzeltes und vereinsamtes wiederfindet. Wir sehen leicht, daß die Lebenserwartung dieser Generation vornehmlich zwei Möglichkeiten hat: 1. diejenige der Tat, die dazu verdammt ist, in einer banal gewordenen Welt allein sich im Kampf mit der Gesellschaft zu beweisen und sich durch Anpassung an die gemeinen Gesetze der restaurativen Gesellschaft einen Platz an deren Sonnenseite zu erobern. Es ist dies der Weg der zahlreichen Arrivisten eines Balzac; der Erfolg hängt hier von dem Maß an Skrupellosigkeit ab, das dabei zum Einsatz gebracht wird. Die zweite Richtung ist diejenige, die wir schon René einschlagen sahen, die mit Renés Melancholie, Obermanns »ennui« und Adolphes Willensschwäche und Gespaltenheit ihre wesentlichen Möglichkeiten artikuliert. Mit dem Helden der Confession d'un enfant du siècle begegnet uns eine letzte gültige Variante, aufgezeigt wiederum an einer Liebesgeschichte, die uns den Vergleich mit den bisher behandelten Romanen ermöglicht. Und wiederum gilt 63
es, das Verhältnis von Autobiographie und Fiktion an einem Ich-Roman ins Auge zu fassen. Der Begriff der »Confession« im Titel des Werks deckt eine dreifache Bedeutung: 1.) Confession im Sinne Rousseaus: das heißt Lebensbeichte eines Menschen, und zwar des Helden der Geschichte: Octave. 2.) Confession eines jungen Mannes, der sich nicht, wie einst Rousseau, als Repräsentant des Menschen schlechthin, sondern als Vertreter einer bestimmten Generation, als ein »enfant du siècle« begreift und darstellt. 3.) Eine Confession des Autors selbst, der in seinem eigenen Lebensweg und seinem Charakter jene Strukturen auffindet, welche das Schicksal der ganzen Generation bestimmen. Die ganz und gar persönliche, individuelle Geschichte der Liebe des Helden Octave, das heißt die umgeformte und stilisierte Geschichte Mussets und George Sands, erscheint als Produkt der historischen Situation. Was Flaubert später für das Verhältnis von geschichtlicher Wirklichkeit und Liebe als literarisches Thema ausgesprochen hat, als er von der Education sentimentale sagte, daß sein Held die Liebe erlebe so wie sie allein in dieser Zeit erlebt werden könne, das hat Musset kaum weniger direkt in seiner Confession zum Ausdruck gebracht. Bei Musset erscheint alles romantische Verhalten zur Welt und zum anderen Menschen als eine Krankheit, die das Schicksal der Zuspätgeborenen ist. Für ihn selbst ist gemeint, was er in seinem berühmten Gedicht Rolla 74 in den Vers gefaßt hat: Je suis venu trop tard dans un monde trop vieux. 75
Dieses Schicksal als dasjenige seiner ganzen Generation darzustellen ist der Sinn der Confession d'un enfant du siècle. 76 Der Ich-Erzähler Octave beginnt seinen Bericht mit der Feststellung jener gemeinsamen Krankheit: Ayant été atteint, jeune encore, d'une maladie morale abominable, je raconte ce qui m'est arrivé pendant trois ans. Si j'étais seul malade, je n'en dirais rien; mais, comme il y en a beaucoup d'autres que moi qui souffrent du même mal, j'écris pour ceux-là, sans trop savoir s'ils y feront attention. 77
Dann folgt in einem langen Kapitel die Diagnose der Krankheit dieser Generation, die, gezeugt zwischen zwei Schlachten, dem Cäsar die Väter und Brüder in Hekatomben opfern sah, die heranwuchs, als der Ruhm den tausenfachen Tod verklärte, als, wie Musset sagt, es »nur noch Leichen oder Halbgötter gab«. Bis dann das Ende des Kaiserreichs kam: Alors s'assit sur un monde en ruines une jeunesse soucieuse. Tous ces enfants étaient des gouttes d'un sang brûlant qui avait inondé la terre; ils étaient nés au sein
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Alfred de Musset, »Rolla«, in: Poésies complètes (hrsg. Maurice Allem), Paris 1957, S. 273 ff. 75 Ebda., S. 274. 76 Alfred de Musset, »Confession d'un enfant du siècle«, in: Œuvres complètes en Prose (hrsg. Maurice Allem), Paris 1960, S. 65 ff. 77 Ebda., S. 65. 64
de la guerre, pour la guerre. Ils avaient rêvé pendant quinze ans des neiges de Moscou et du soleil des Pyramides... Ils avaient dans la tête tout un monde; ils regardaient la terre, le ciel, les rues et les chemins; tout cela était vide,... 78
Nichts blieb unter dem restaurierten Königtum als die Leere, und kein anderer Weg öffnete sich dem Ehrgeiz als die geistliche Laufbahn: Quand les enfants parlaient de gloire, on leur disait: »Faites-vous prêtres«; quand ils parlaient d'ambition: »Faites-vous prêtres«; d'espérance, d'amour, de force, de vie: »Faites-vous prêtres«. 79
Als einige Leute auftraten und dem Königtum und seinen Versuchen, den Absolutismus wieder herzustellen, die Idee der Freiheit entgegenhielten, horchten die »Kinder des Jahrhunderts« auf, erinnerten sich, daß ihre Großväter dem gleichen Wort gehuldigt hatten, und mußten mitansehen, wie diejenigen, die es zu laut aussprachen, in die Gefängnisse abgeführt wurden. Die gleichen »enfants du siècle« hörten, wie die einen den König wollten, die anderen die Freiheit, die dritten die raison, wieder andere die englische Verfassung, eine weitere Gruppe den Absolutismus und einer: Nichts von alledem; nur die Ruhe! Sie befanden sich orientierungslos im Vakuum zwischen dem Gewesenen und einer völlig offenen Zukunft: Trois éléments partageaient donc la vie qui s'offrait alors aux jeunes gens: derrière eux un passé à jamais détruit, s'agitant encore sur ses ruines, avec tous les fossiles des siècles de l'absolutisme; devant eux l'aurore d'un immense horizon, les premières clartés de l'avenir; et entre ces deux mondes... quelque chose de semblable à l'Océan qui sépare le vieux continent de la jeune Amérique, je ne sais quoi de vague et de flottant, une mer houleuse et pleine de naufrages, traversée de temps en temps par quelque blanche voile lointaine ou par quelque navire soufflant une lourde vapeur; le siècle présent, en un mot, qui sépare le passé de l'avenir, qui n'est ni l'un ni l'autre et qui ressemble à tous deux à la fois, et où l'on ne sait, à chaque pas qu'on fait, si l'on marche sur une semence ou sur un débris. 80
Der Schatten Napoleons lag über einer Generation, die keinen Boden mehr unter den Füßen hatte. Jeder Schritt war ein Schritt in eine Zukunft ohne Konturen, ohne Ziel, in einer Synkope der Geschichte, die sämtliche Traditionen zerriß. Musset entwirft das Bild einer Banalität und Sinnentleertheit, die der Jugend nur noch Surrogate bietet: Un sentiment de malaise inexprimable commença donc à fermenter dans tous les jeunes cœurs. Condamnés au repos par les souverains du monde, livrés aux cuistres de toute espèce, à l'oisiveté et à l'ennui, les jeunes gens voyaient se retirer d'eux les vagues écumantes contre lesquelles ils avaient préparé leurs bras. Tous
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Ebda., S. 67. Ebda., S. 68. 80 Ebda., S. 69. 79
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ces gladiateurs frottés d'huile se sentaient au fond de l'âme une misère insupportable. 81
Das Leben der Gesellschaft wurde düster, öde, leblos bei aller hektischen Betriebsamkeit. Die neue Mode, die schwarze Kleidung, wird zum schrecklichen Symbol. Wein und Weiber allein bieten Ersatz für die zerronnenen Träume des Ruhms. Die romaneske Grisette von einst, die man noch lieben konnte, ist zur käuflichen Dirne erniedrigt, makabres Sinnbild der Zeit, avec la faim sur les lèvres et la prostitution dans le cœur.82 Musset selbst taucht hier wieder als typischer Repräsentant dieser Generation zwischen den Zeilen auf: Sein eigenes Leben erschöpfte sich ja vorzeitig, mit 47 Jahren, an Alkoholismus, Opium und sonstigen Ausschweifungen. Die Dichter, so fährt Musset fort, besingen die Verzweiflung; die Idee des Todes dringt vom Kopf in die Eingeweide, das Heiligste wird profaniert. Dann faßt er noch einmal zusammen: Toute la maladie du siècle présent vient de deux causes; le peuple qui a passé par 93 et par 1814 porte au cœur deux blessures. Tout ce qui était n'est plus; tout ce qui sera n'est pas encore. Ne cherchez pas ailleurs le secret de nos maux. 83
Ich habe diese Diagnose deshalb ziemlich ausführlich behandelt – und empfehle nachdrücklich ihre Lektüre -, weil sie die geschichtliche Ausgangssituation nicht nur von Mussets Roman, sondern auch für die Gestaltung Stendhals, Balzacs und – mutatis mutandis – noch Flauberts darstellt. Und nun muß ich daran erinnern, daß es der Ich Erzähler der Confession ist, den Musset diese Überlegungen zu Beginn seiner Lebensbeichte anstellen läßt. Die eigentliche Erzählung fängt erst im 3. Kapitel an und schließt an die soeben skizzierten Reflexionen an mit dem Satz: J'ai à raconter à quelle occasion je fus pris d'abord de la maladie du siècle. 84
Was nun kommt, ist das Banalste des Banalen: Neunzehn Jahre ist der IchErzähler Octave, gesund, heiter, nach Studien und Beschäftigungen kreuz und quer ein passabel gebildeter Flaneur, der vom väterlichen Vermögen lebt und seinen Müßiggang mit Festen aller Art illuminiert. Bei einem brillanten Souper, das auf einen Maskenball folgt, fällt ihm aus Versehen die Gabel auf den Fußboden. Als er sich bückt, wird er gewahr, daß seine schöne, angebetete Geliebte, deren träumerische Blicke er als Ausdruck der Erwartung auf das anschließende nächtliche Alleinsein mit ihm gedeutet hat, unter dem Tisch zärtlich mit ihrem Tischnachbarn, einem intimen Freund Octaves, »fußelt« – wie wir sagen würden. Absichtlich läßt er wenig später auch noch die Serviette fallen: das gleiche zärtliche Bild unter dem Tisch.
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Ebda., S. 71 f. Ebda., S. 73. 83 Ebda., S. 78. 84 Ebda., S. 79. 66 82
Mit einem Male ist die so harmonische, selbstgefällige Welt dieses Dandy zerbrochen. Ich sagte: das Banalste des Banalen. Das war natürlich Mussets Absicht. Die illusionäre Welt dieses Neunzehnjährigen wird jäh zerstört, als mit der Untreue seiner Mätresse die ganze Trivialität der Wirklichkeit mit einem Schlage in den heiteren Lebenstraum einbricht. Die Liebe war für Octave mit dem Leben identisch gewesen, und mit der Entdeckung ihrer Fragwürdigkeit war das Leben selbst entwertet. Und nicht nur das: das latente »mal du siècle« bricht jetzt als unheilbare Krankheit aus. Für Octave beginnt ein » désespoir qui était sans remède«. 85 Der Himmel erscheint ihm so leer wie die Erde. Sein Ehrgeiz ist es nun, für einen blasierten Zyniker zu gelten, der sein Leben angesichts der erkannten Sinnlosigkeit dieses Lebens hochmütig lächelnd in Ausschweifungen verschleudert: Enfin mon unique plaisir était de me dénaturer. 86
Aber dann kommt sie doch noch einmal, die große Liebe. Nach den Ausschweifungen, deren Akkumulation allein ein Vergessen der seelischen Krankheit verhieß, lernt Octave, durch den Tod seines Vaters aufs Land gerufen, Mine Brigitte Pierson kennen, eine reife Schönheit, alsbald bereit, sich diesem jungen Mann zu opfern. Anders kann man es nicht nennen, denn alles Glück, das Octave mit dieser großherzigen Frau erlebt, ist überschattet von der Krankheit Octaves, seinen Fantomen, seinem manischen Trieb, im Glück selbst, in den schönsten Stunden noch, die bitteren Untergründe aufzusuchen. Octave hat einen »esprit toujours avide de souffrir«; er hat, ein für alle mal im Tiefsten verdorben, La curiosité du mal... maladie infâme qui naît de tout contact impur... une torture inexplicable dont Dieu punit ceux qui ont failli (...) 87
Überall sucht Octave wie besessen nach dem Übel, von dem er das eigene Leben bestimmt sieht. Sein krankhaftes Mißtrauen forscht unablässig in der Vergangenheit der geliebten Frau nach dunklen Stellen. Sein Leben folgt dem Rhythmus von zerstörerischer Quälerei seiner selbst und der Geliebten und der Rückkehr zu Augenblicken des Glücks, die ihm Madame Pierson selbstlos bietet: je prenais dans mes mains ses petites mains blanches, et je me perdais dans un rêve infini. 88
Das Rätsel Ich aber bleibt unlösbar: Comment donner un nom à une chose sans nom? Etais-je bon ou étais-je méchant? étais-je défiant ou étais-je fou? 89
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Ebda., S. 135. Ebda., S. 135. 87 Ebda., S. 248. 88 Ebda., S. 203. 89 Ebda., S. 203. 86
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Octave, der einmal, neunzehnjährig, hinter dem Schein die Lüge entdecken mußte und in einem Leben der Ausschweifungen die Lebenslüge selbst mitstiftete, ist nicht mehr fähig, an die Existenz der reinen Liebe zu glauben. In wilden Szenen demütigt er Mme Pierson, bringt er diese opferbereite, geduldige Frau soweit, daß sie tatsächlich in Liebe für einen anderen jungen Mann – namens Smith – entbrennt. Es wäre für Octave ein Leichtes, diese Liebe der Mme Pierson zu einem anderen Mann schon im Keime zu ersticken; er tut es nicht, sondern er bringt beide einander sogar näher, obwohl er selbst entsetzlich leidet. Ja, sein Dämon treibt ihn, das Böse, die Lüge, die er an dieser Frau nicht findet, selbst zur Existenz zu bringen. Die Welt soll eine Analogie seines eigenen zerrissenen Bewußtseins werden, damit er an ihr weiter leiden kann. Bis dahin ist die Handlung von überzeugender Konsequenz. Es ist ein Zustand erreicht, bei dem als Folge eine Katastrophe zu erwarten wäre, zumal die Krankheit des Helden zuweilen in echten Irrsinn überschlägt. In einem Anfall wahnsinnigen Schmerzes will er Brigitte töten. Aber das Messer, mit dem Octave die schlafende Geliebte in seiner Verzweiflung erstechen will, entfällt seiner Hand, als er auf ihrer Brust ein kleines Elfenbeinkruzifix entdeckt. Er findet einen Brief der Geliebten an seinen Nebenbuhler, der folgenden Wortlaut hat: Lorsque vous recevrez cette lettre, je serai loin de vous, et peut-être ne la recevrezvous jamais. Ma destinée est liée à celle d'un homme à qui j'ai tout sacrifié: vivre sans moi lui est impossible, et je vais essayer de mourir pour lui. Je vous aime; adieu, plaignez nous. 90
Brigitte Pierson hat sich also entschlossen, auf ihre neue Liebe zu verzichten und ihr Leben weiterhin Octave zu opfern. Und jetzt entschließt sich Octave seinerseits, zu verzichten und die Geliebte an den Nebenbuhler abzutreten. Er besteht hartnäckig darauf, und der Roman schließt damit, daß er Gott dafür dankt, daß von drei Menschen, die durch seine Schuld gelitten haben, nur einer unglücklich bleibt. Dieser Schluß des Romans ist ebenso rührend wie schlecht. Die Frau wäre fähig gewesen zu dem geplanten Verzicht; dem Helden nimmt man ihn nicht ab. Schon Sainte-Beuve, der große Kritiker, hat diesen Abschied als unmöglich angesehen. Ich möchte noch weitergehen und – mit der Bitte um freundliche Nachsicht – sagen: es ist jammerschade um den mißglückten Mordversuch. Das uns inzwischen so gut bekannte Thema der liebenden Frau als Opfer des romantischen Helden hätte nicht mit dem Verzicht des letzteren enden dürfen. Brigitte Pierson ist eine fast zum Engel gesteigerte Frau, die vorläufig Letzte der Reihe, in die Améli, Celuta, Ellénore und Cécile gehören. Octave ist ein René, dessen Seelenkrankheit noch zu größerem Bewußtsein gediehen ist als bei Adolphe, und er ist ein Adolphe, dessen Willenslähmung und Schwäche bis zum Rande des Wahnsinns gesteigert sind. Es hätte in der Konsequenz dieser Zuspitzung gelegen, daß das Opfer der Frau noch grausamer, noch unmittelbarer zum literarischen Ausdruck gelangt. Musset hatte es in der Hand. Aber hier hat der Rückgriff auf das eigene Erleben der inneren Notwendigkeit des Romangeschehens einen
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Ebda., S. 285. 68
Streich gespielt. Das Vorbild für die Gestalt der Mme Pierson ist George Sand (1804-1876). Octave ist Musset selbst. Der junge Nebenbuhler Smith ist der Arzt Pagello, mit dem George Sand ihren Alfred in Venedig betrog. Musset hatte, nach furchtbaren Szenen, verzichtet- die entsprechenden Briefe sind erhalten. Soweit, so gut, könnte man sagen. Aber die Mme Pierson des Romans ist um vieles reiner, unschuldiger, geduldiger und opferbereiter als George Sand; und Octave um vieles grausamer, quälender und kränker als Musset selbst. Der Nebenbuhler Smith um vieles edler als der Arzt Pagello, der ein eitler Schwätzer war, weder Musset gleichwertig noch George Sands würdig. Es zeigt sich an Mussets Roman, daß kein Autor ungestraft das Leben plötzlich wieder kopieren kann, nachdem er es vorher im Sinne der allgemeineren Wahrheit transformiert hat. Die Logik der Fiktion darf nicht durch die Fakten des Geschehens abgelöst werden, sonst wird ihre tiefere, poetische Wahrheit über das Leben und mit ihr das Kunstwerk als solches zerstört. Octaves Charakter läßt einen Verzicht nicht zu, wie immer dieser ad hoc motiviert sein mag. Und es ist nicht ohne Ironie, daß in diesem Falle das Leben selbst den falschen Rekurs des Autors auf das Leben widerlegt hat: Musset hat nämlich keineswegs auf ewig verzichtet, er hat vielmehr nach einiger Zeit sein intimes Verhältnis zu George Sand wieder hergestellt. Das also ist die große Schwäche dieses Romans. Er hat aber noch eine zweite, die sich paradoxerweise mit seinen interessantesten Qualitäten deckt. Wie eingangs ausgeführt, wird alles Leid und alle Veranlagung des Helden auf das geschichtliche Vakuum zurückgeführt, in dem die Energien dieser nachnapoleonischen Generation zu sinnlosem Tun verdammt waren. Das ist – bei aller Einseitigkeit – zutiefst wahr, aber diese Einsicht steht unvermittelt neben der Handlung. Obwohl Octaves Charakter und Lebensweg als Produkt dieser geschichtlichen Situation erklärt sind, ist es Musset nicht gelungen, das individuelle Seelendrama durch jene Verhältnisse zu konstituieren. Anders gesagt: der geschichtliche Befund, der doch explizit zugrundegelegt wird, ist nicht ausreichend übersetzt. Musset ist kein Epiker. Er hat die Diagnose seiner Generation gestellt, aber sein Werk blieb ein Krankheitsbericht, weil die Logik der Fabel sich nicht konsequent an den doch durchschauten Grundbestimmungen der Wirklichkeit orientierte und weil eine falsche Rückkehr zur partikulären Faktizität noch jene Logik selbst verfälschte. Eine große Möglichkeit ist unzureichend realisiert. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß Musset sich in kühner Weise der Kategorie des Zufalls bedient hat, um mit der Möglichkeit, daß Octave von der »maladie du siècle« befallen wird, historische Notwendigkeit auszudrücken. Ich will mich nicht so schnell wiederholen, daher sei dieser Gedanke jetzt nicht weiter ausgeführt. 91
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Es sei hier verwiesen auf mein eigenes Buch: Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, München 1973. 69
Der fatale Held der Romantik, Lamartines Graziella Wir haben die Kreuzwege des romantischen Menschen verfolgt, wie sie sich im Roman darbieten, sich am Thema des Opfers der Frau erzählerisch kristallisieren, und wir haben versucht, das Verhältnis von Leben und Fiktion gerade an der autobiographischen Ich-Erzählung zu klären. Wir wollen nun noch eine letzte und sehr späte Gestaltung des gleichen Themas betrachten, und zwar Lamartines Erzählung Graziella. Als Achtzehnjähriger erlebte Lamartine (1790-1869) in Italien eine Liebesromanze mit einem Mädchen aus dem Volke. Fast ein halbes Jahrhundert später machte er daraus eine Ich-Erzählung, die er 1848 unter dem Titel Graziella veröffentlicht. Ihr Inhalt ist kurz folgender: Der Ich-Erzähler reist nach einem zu Studienzwecken in Rom verbrachten Aufenthalt nach Neapel, wo er, zusammen mit einem Freund, sich in romantischer Schwärmerei in die südliche Natur einlebt. Die beiden Freunde fühlen sich – rousseauisch inspiriert – bei den einfachen und daher natürlich guten Fischern am wohlsten, verdingen sich als Ruderer und werden mit der Familie eines Fischers bekannt, der neben Frau und zwei Enkeln auch noch eine schöne Nichte namens Graziella hat. Mit der Ankunft der jungen Franzosen brechen zunächst allerlei Unglücksfälle über die Familie herein. Ein Sturm zerstört das Boot der armen Familie, und die Fischersfrau beschuldigt die Fremden, das Unglück verursacht zu haben. Wir erkennen hieran den Nachklang des romantischen Motivs von dem Unglück bringenden fatalen Helden. Zunächst freilich geht alles wieder gut: die beiden Franzosen sind gut bei Kasse, ersetzen das verlorene durch ein neues Boot mit bester Ausstattung, und vom Unglück ist nicht mehr die Rede. Ein Sturm zwingt sie, mehrere Tage lang mit der Fischerfamilie zusammen zu sein. Zwischen Graziella und unserem Ich-Erzähler spinnen sich zarte Bande an. Drei Bücher ihrer kleinen Reisebibliothek hatten die beiden Franzosen aus dem Sturm retten können: Ugo Foscolos Ultime lettere di Jacopo Ortis, 1802, den italienischen Werther also, einen Band Tacitus und Bernardin de Saint-Pierres Paul et Virginie, 1787, »ce manuel de l'amour naïf« 92 – wie es im Text heißt livre qui semble une page de l'enfance du monde arrachée à l'histoire du cœur humain et conservée toute pure et toute trempée de larmes contagieuses pour les yeux de seize ans. 93
Nun, die sechzehnjährigen Augen, von denen hier die Rede ist, gehören Graziella. Als Paul et Virginie ihr vorgelesen wird, verwandelt sie sich vom Kind in ein liebendes Mädchen – so gewaltig ist die Macht der Literatur! Nach der Abreise des Freundes wird unser Ich-Erzähler krank. Die Fischer nehmen ihn in ihre Hütte auf, Graziella pflegt ihn, er bringt ihr Lesen und Schreiben bei. Graziella liebt ihren Gast mit der ganzen naturhaft-naiven Kraft, deren sie fähig ist. Und er das Fischermädchen mit der ganzen Innigkeit des romantischen
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Alphonse de Lamartine, Graziella (hrsg. Jean des Cognets), Paris 1960, S. 48. Ebda., S. 48. 70 93
Schwärmers, der indessen weiß, daß alles bald ein Ende nehmen muß. Die unvermeidliche Trennung ist für Graziella tödlich. Wenige Monate nach seiner Abreise stirbt sie an gebrochenem Herzen. Ihr erster und letzter Brief und ein Päckchen, das die Locken enthält, die sie sich abgeschnitten hat, erreichen den Erzähler, als er gerade von einem Ball nach Hause kommt. Ihm bleibt eine Wunde fürs ganze Leben, und wiederum Jahre später schreibt er zum Gedenken an Graziella das Gedicht Le premier regret. Das ist der Inhalt dieser idealisierten autobiographischen Erzählung, deren stilistische Qualitäten nicht in Frage stehen. Sie ist indessen von einer sentimentalischen Naturschwärmerei, die bei der ersten Lektüre überzeugt, weil sie rührt, die einen aber bei der zweiten Lektüre nicht ganz wohl sein läßt. Wir wollen diese Erzählung unter dem Aspekt unseres bisherigen Themas betrachten, dabei aber diesmal methodisch anders vorgehen, indem wir uns an einer Kritik aus anderer und sehr berufener Feder orientieren.
Flauberts Kritik an Lamartine und die Forderung nach »le vrai« Die schärfste Kritik, die Lamartine überhaupt je erfahren hat, stammt von keinem geringeren als Flaubert. Flaubert mochte Lamartine nicht, was nicht hindert, daß seine Kritik sehr ernst zu nehmen ist. In einem Brief vom 24. April 1852 schreibt Flaubert an Louise Colet:
Causons un peu de Graziella. C'est un ouvrage médiocre, quoique la meilleure chose que L[amartine] ait faite en prose. 94
Zunächst hebt er einige »jolis détails« 95 hervor – drei insgesamt -, »voilà à peu près tout«. 96 Und in der sehr direkten Sprache, welche die Herausgeber seiner Korrespondenz veranlaßten, gelegentlich Punkte anstelle der Worte zu drucken, fährt er fort: Et d'abord, pour parler clair, la baise-t-il ou ne la baise-t-il pas? Ce ne sont pas des êtres humains, mais des mannequins. – Que c'est beau ces histoires d'amour, où la chose principale est tellement entourée de mystère qu l'on ne sait à quoi s'en tenir! l'union sexuelle étant reléguée systématiquement dans l'ombre, comme boire, manger, pisser, etc. ! Ce parti pris m'agace. Voilà un gaillard qui vit continuellement avec une femme qui l'aime, et qu'il aime, et jamais un désir! Pas un nuage impur ne vient obscurcir ce lac bleuâtre! O hypocrite! S'il avait raconté l'histoire vraie, que c'eût été plus beau! Mais la vérité demande des mâles plus velus que M. de Lamartime. – Il
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Gustave Flaubert, Correspondance, (hrsg. Jean Bruneau), Bd.2 Paris 1980, S. 77. Ebda., S. 77. Ebda., S. 77. 71
est plus facile en effet de dessiner un ange qu'une femme. Les ailes cachent la bosse. 97
Und weiter unten: Rien dans ce livre ne vous prend aux entrailles. 98
In Neapel hätte es auch anderes, Wahres, zu sehen und darüber zu schreiben gegeben: Mais non, il faut faire du convenu, du faux. Il faut que les dames vous lisent. Ah mensonge! mensonge! que tu es bête! 99
Welches schöne Buch hätte man aus dieser Geschichte machen können, wenn man zeigte, wie sie sich in Wahrheit abgespielt hat. Flaubert umreißt sie selbst: un jeune homme à Naples, par hasard, au milieu de ses autres distractions, couchant avec la fille d'un pêcheur, et l'envoyant promener ensuite, laquelle ne meurt pas, mais se console, ce qui est plus ordinaire et plus amer.
In Parenthese führt Flaubert den Schlug des Candide an: la preuve criante d'un génie de premier ordre [...] cette conclusion tranquille, bête comme la vie. 100 Aber eine solche Gestaltung – so fährt Flaubert fort(...) eût exigé une indépendance de personnalité que Lamartine n'a pas, ce coup d'oeil médical de la vie, cette vue du vrai enfin, qui est le seul moyen d'arriver à de grands effets d'émotion [...] Oui, je le répète, il y avait là de quoi faire un beau livre, pourtant. 101
Greifen wir die wichtigsten Vorwürfe heraus. Flaubert bezichtigt Lamartine der Unredlichkeit, der Verfälschung der Wahrheit, des »vrai«, zugunsten des Publikumsgeschmacks. Mit diesem »Wahren« hat es nun freilich etwas Besonderes auf sich. Man könnte meinen, Flaubert verlange von Lamartine, die Geschichte mit der Fischertochter Graziella genau so zu schildern, wie er sie erlebt hat, also nach der stattgehabten Wirklichkeit. Dem ist aber nicht so, sondern das Gegenteil ist der Fall. Nirgends bezweifelt Flaubert, daß der junge Lamartine in der Tat eine romantisch-idyllische Geschichte voller Unschuld erlebt hat und daß Graziella, verlassen, wenig später starb. Nirgends bezweifelt er, daß es so etwas gab und gibt. Warum verlangt er aber trotzdem, daß der Autor die Geschichte anders hätte darstellen sollen, mit Begierden und körperlicher Vereinigung und vor allem mit einem anderen Schluß: nicht Tod aus Liebeskummer, sondern Sich-trösten nach dem Kummer? Die Antwort lautet: das einmalig Geschehene, Exzeptionelle, ist zwar wirklich
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Ebda., S. 77. Ebda., S. 77f. Ebda., S. 78. Ebda., S. 78. Ebda., S. 78.
gewesen, aber es widerspricht dem Wesen dieser Wirklichkeit; als partikulärer Fall widerspricht es der generellen Gültigkeit des »vrai« und ist daher falsch. Die Geschichte, wie Lamartine sie erzählt hat, bietet eine von vielen Möglichkeiten, aber eben nicht diejenige, die das »Wahre« des Lebens typisch repräsentiert. Die Wahrheit der Dichtung ist eine andere als die von Details des ungeschiedenen Lebens. Erst in der Reproduktion der Gesetzlichkeit, im Auswählen des Signifikanten aus der Fülle des Möglichen, trifft die Kunst auf die gültige, echte Wahrheit des Wirklichen. Indem Lamartine alles Fleischliche mit dem »bläulichen Gewässer« einer melancholischen Seelenidylle übergoß und die verlassene Graziella an Liebeskummer eingehen ließ, hat er sich – obgleich die Geschichte sich im Leben so abgespielt haben mag – gegen die Wahrheit und Wirklichkeit dieses Lebens vergangen: denn diese Wahrheit und Wirklichkeit ist diejenige, die Flaubert skizziert hat: der junge französische Aristokrat liebt und verführt die Fischertochter, läßt sie im Stich, sie tröstet sich schließlich, und ihr Leben, beschattet zwar, verläuft in der naturhaften Banalität weiter, die ihm zuvor eigen war. Das ist die »bêtise de la vie«, ist »plus ordinaire« und »plus amer«. Wirklichkeit als Wesen und Realität als ungeschiedene Faktizität sind für die Dichtung zwei verschiedene Dinge. Diese Scheidung ist grundlegend. Weil die Realität des Seienden mit ihrer chaotischen, kontingenten Fülle das Wesen verdeckt, gilt es für die Dichtung, diese Realität zu verfremden, um ihr das Wirkliche zu entreißen. Dieser Vorgang ist für Flaubert dann der gleiche, wie hundert Jahre zuvor für Diderot: das Wesen der Kunst ist die Illusion der adäquaten Fiktion: Illusion, qui est la vraie vérité. Toute les autres [vérités] ne sont que relatives.
Die Geschichte Lamartines bietet nur eine »vérité relative«, und darum ist sie keine große Dichtung, darum zeiht Flaubert Lamartine der intellektuellen Unredlichkeit und der Verfälschung der Wahrheit. Die echt poetische Illusion ist – und darin hat Flaubert sicher richtig gesehen – eine Desillusion, zumindest im Roman. Der Lamartineschen »Illusion« fehlt eben dieser Aspekt des Aufdeckens, des Desillusionierens. Wir müssen, wenn wir der Kritik Flauberts folgen, nun auch die Frage stellen, die sich aus unseren bisherigen Betrachtungen zwangsläufig stellt. Wir haben gesehen, warum in Adolphe der Tod der Frau als Opfer des Mannes die poetisch notwendige Konsequenz des Geschehens ist, und wir haben die große Schwäche von Mussets Confession d'un enfant du siècle darin erblickt, daß Musset die innere Notwendigkeit gerade dadurch verfehlt hat, daß er durch den Rückgriff ins Autobiographische jenes Opfer der Frau eskamotierte. Wie kommen wir jetzt dazu, im Anschluß an Flaubert gerade diesen gleichen Sachverhalt bei Lamartine, das heißt hier den Tod Graziellas, als unehrlich und falsch anzusehen? Der Ich-Erzähler von Graziella hat nichts mehr von René, Adolphe, dem Helden von Cécile oder von Octave an sich; er hat kein unheilbar gespaltenes Bewußtsein, dessen Fatalität notwendig den anderen Menschen zum Opfer werden ließe. Graziellas Tod trägt keinerlei innere Notwendigkeit in sich, weder durch die Gestalt dieses Fischermädchens selbst noch von der Person des von ihr geliebten Mannes her. In Adolphe hat – und in der Confession hätte – der Tod der Frau im äußersten, 73
dichtesten Sinne das Scheitern des romantischen Helden an einer Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht, die allen seinen Bestrebungen Widerstand entgegensetzte und doch als solche mit allen ihren Widersprüchen in die Seele des Helden selbst hineinprojiziert lebt, auf diese Weise dessen Leben bestimmt – und mit dieser Bestimmung das Opfer des geliebten Menschen fordert und bedingt. Nichts davon ist in Graziella zu finden. Der Tod des Mädchens bestätigt nicht in innerer Logik die Fatalität einer unentrinnbaren, sinnlosen Wirklichkeit, wie in Adolphe, ja er setzt nicht einmal einer passageren Idylle einen Schluß, den das Leben gebietet, sondern verlängert und verklärt diese Idylle auf dem Wege melancholischer Reminiszenz ins völlig anders geartete Weiterleben des Helden hinüber. Der Tod wird hier »schön«; er verzaubert die selbstgefällige Erinnerung. Die romantische Faszination durch den Tod ist hier zum Rührstück verwässert, dem jeder echte Bezug zur Wirklichkeit fehlt, weil diese letztere selbst in ihrem Wesen nicht mehr wahrnehmbar ist, geschweige denn die Fabel und die Charaktere bestimmt. Constants Adolphe hatte die Totalität des nachrevolutionären Weltzustands in die Zerrissenheit des Helden hereingenommen, und der Tod Ellénores hatte, als handlungsmäßige und psychologische Konsequenz dieser Projektion, die Sinnentleertheit dieser Welt in einen echt poetischen Abschluß, in das Ende aller Hoffnungen der Individuen übersetzt. Die so privat-persönliche Geschichte Adolphes und Ellénores ist – um einen vorsichtig zu behandelnden Terminus zu gebrauchen – welthaltig; diejenige der Graziella ist es nicht – sie ist ganz und gar unverbindlich. Flaubert hatte recht: Graziella ist Illusion, die Illusion bleibt, anstatt Desillusion zu werden. Das Motiv des Todes verfälscht hier die Wirklichkeit, legt einen Schleier über sie. Und nicht der Tod, sondern das Einmünden des Lebens in die Banalität wäre dem Wesen dieser Wirklichkeit adäquat gewesen. Hätte Flaubert das Wort gekannt, er hätte es ausgesprochen und seine Kritik darin zusammengefaßt: Lamartines Graziella ist Edelkitsch!
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Das Theater der Romantik Wir haben den Roman der Romantik in einer bestimmten thematischen Richtung bis zu dem Punkt verfolgt, da er sich überlebt hat, das heißt da er auf eine veränderte und daher anders zu transponierende Wirklichkeit stößt. Die Eule der Minerva hatte längst zum Flug angesetzt, der in die Richtung des realistischen Romans führt. Wir müssen jetzt zurückkehren und ins Auge fassen, was die Romantik für die Geschichte des Theaters bedeutet. Das Drama hatte – wie wir uns erinnern – in der Revolution keine Synthese zwischen Form und Inhalt finden können. Unter dem Empire wurde, gemäß der Kulturpolitik Napoleons, vorwiegend im klassizistischen Stil weiter produziert. Die hier und da schon deutlich spürbaren Erneuerungstendenzen fanden sich nicht zu der geschlossenen Stoßkraft zusammen, die für den Bruch mit der durch die großen Namen der Klassik geheiligten Tradition nötig gewesen wäre. Dazu bedurfte es einer Sammlung der Kräfte, einer Zusammenfassung, einer Schule, in der sich ein Programm bilden konnte. Und in der Tat ist das große Manifest des romantischen Theaters, nämlich Victor Hugos berühmte Préface de Cromwell, nicht vorstellbar ohne jene vorausgehende Bewegung, die man üblicherweise die école romantique nennt. Freilich, aus dem Widerstreit der Meinungen, so interessant sie für die Erkenntnis der Genesis der Romantik sind, läßt sich nicht so leicht eine Formel finden wie diejenige Victor Hugos, der, selbst die zentrale Figur der Bewegung, doch erst 1869 zu der grundlegenden Erkenntnis gekommen ist: Le romantisme c'est la révolution française faite en littérature. 1830 noch hatte er weniger entschieden und doch vielleicht zutreffender formuliert: Le romantisme, [...] c'est [...] le libéralisme en littérature. 102
Wir werden auf dieses Problem noch zurückkommen, sobald wir uns in der Literatur der Romantik besser auskennen. 1820, in dem Jahre, da mit Lamartines Méditations poétiques die erste lyrische Offenbarung der Romantik die Geister erregte, formierte sich der erste romantische Cénacle, ein Kreis gleichgesinnter Schriftsteller und Kritiker. Man versammelte sich bei Emile Deschamps (1791-1871) oder bei Charles Nodier (17801844), den Geist angefüllt von glühenden Ideen; eine Gruppe dieser Generation, die – wenn auch unklar noch – wußte, was sie wollte, und sicher wußte, was sie nicht wollte. Alfred de Vigny (1797-1863), einer der eifrigsten Teilnehmer des Cénacle, beschreibt rückschauend in seiner Akademierede von 1846 diesen enthusiastischen Aufbruch seiner Jugend wie folgt: Un esprit nouveau s'était levé du fond de nos âmes [...] Il se trouva quelques hommes très jeunes alors, épars, inconnus l'un à l'autre, qui méditaient une poésie nou-
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Victor Hugo, »Hernani«, in: Théâtre complet (hrsg. Roland Purnal, J. J. Thierry), Paris 1963, Bd. 1, S. 1147 (»Préface«). 75
velle. Chacun d'eux, dans le silence, avait senti sa mission dans son cœur. Aucun d'eux ne sortit de sa retraite que son œuvre ne fût déjà formée. Lorsqu'ils se virent mutuellement, ils marchèrent l'un vers l'autre, se reconnurent pour frères et se donnèrent la main [...] Ils se confièrent leurs idées d'abord, puis leurs sentiments, et (comment s'étonnerait-on?) éprouvèrent l'un pour l'autre une amitié qui dure encore aujourd'hui [...] Dans ce champs libre nouvellement conquis, chacun prit la voie où l'appelait l'idéal qu'il poursuivait et qu'il voyait marcher devant lui. 103
Kein Wunder, daß diese jungen Leute ihre Ideen in die Öffentlichkeit tragen wollten. Victor Hugo gründete 1819 die Zeitschrift Le conservateur littéraire, die nur 3 Jahre lang lebte und die von der Muse française (1823-24) abgelöst wurde. Die wichtigste Stütze des Cénacle aber war von 1824 ab die dreimal wöchentlich erscheinende Zeitschrift Le Globe, deren liberalistisch gesinnte Herausgeber im Geiste der Mme de Staël nach einem Gleichgewicht zwischen dem nationalen Geschmack und den Einflüssen aus dem Ausland trachteten und die ihre literarische Aufgabe darin sahen, de propager dans un pays la connaissance de tous les autres; et cette connaissance ne saurait mieux s'établir que par celle des diverses littératures. 104
Sainte-Beuve (1804-1869) wurde wenig später zum wichtigsten Mitarbeiter des Globe. Ein zweiter Cénacle bildet sich 1828, im Hause Victor Hugos. Um ihn, der inzwischen der wortgewaltige Sprecher der Bewegung geworden ist, versammeln sich Sainte-Beuve, Vigny, Gérard de Nerval (1808-1855), Musset, Théophile Gautier (1811-1872). Zu diesem Zeitpunkt ist indessen die erste Phase der Bataille romantique schon gewonnen, und nach der Préface de Cromwell von 1827 kann jedes Vorwort zu einem neuen Manifest werden. Mit der Préface de Cromwell erfolgt der theoretische Durchbruch auf dem Theater. Die Absicht Hugos ist dabei jedoch eine weitere, größere, nämlich die Grundlegung einer neuen Ästhetik.
Die Theorie des romantischen Dramas: Victor Hugos Préface de Cromwell Victor Hugo (1802-1885) war damals schon kein Unbekannter mehr. Hugo ist durch seine Vielseitigkeit – er hat sich in allen Gattungen gleichermaßen versucht-, durch seine programmatischen Schriften und durch sein langes, bis zum Schluß literarisch tätiges Leben der eigentliche Repräsentant der romantischen Bewegung. Geboren wurde er 1802 in Besançon als Sohn eines napoleonischen Generals, aus dem er später einen Helden machte. Dem bewegten Leben des Vaters verdankte Victor Hugo es, daß er in früher Jugend, dem Vater von Garnison zu Garnison folgend, starke und stets lebendig bleibende Eindrücke von Spanien empfing,
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Alfred de Vigny, »Discours de réception de l'Académie Française«, in: Œuvres (hrsg. F. Baldensberger), Paris 1950, Bd. 1, S. 918 f. 104 Le Globe. Journal littéraire, Nr. 1, 15. September 1824. 76
und zwar von einem rätselhaften, unheimlichen, halbexotischen Spanien, das seiner Phantasie einen mächtigen Auftrieb gab. Von 1812 an lebt er in Paris. 1816 – als Vierzehnjähriger also – trägt er in sein Tagebuch ein: Je veux être Chateaubriand ou rien. 105
Er macht alle Krankheiten eines romantischen Jünglings mit, ohne daß diese – Renéstimmung, Mystizismus usw. – seinen robusten Geist ernsthaft schädigen können. Sein Denken ist zunächst ganz restaurativ, monarchistisch, katholisch. Deshalb erringt er auch ohne Schwierigkeit mit seinen ersten Gedichten den Akademiepreis von Toulouse und erhält ein Geschenk Ludwigs XVIII. Königliche Unterstützung sicherte ihm alsbald die Existenz, so daß er 1822 seine Jugendliebe Adèle Foucher heiraten konnte, die später, nachdem der vitale Hugo eigene Wege ging, ein intimes Verhältnis mit Sainte-Beuve einging. Inzwischen hatte er eine kurze Zeitlang zusammen mit seinem Bruder Abel die Zeitschrift Le conservateur littéraire herausgegeben, in der er selbst nicht nur mit Gedichten, sondern auch mit Kritiken vertreten war. Gleich nach seiner Heirat brachte er seine erste Gedichtsammlung heraus, die indessen erst 1828 ihre endgültige Gestalt erhielt und unter dem Titel Odes et ballades erschien. Inzwischen hatte Hugo sich längst auch in Prosa betätigt; zuerst mit einer Erzählung vom Sklavenaufstand in San Domingo, die er später zu dem Roman Bug Jargal, 1818, publ. 1826, ausweitete. 1823 schrieb er dann einen Schauerroman: Han d'Islande. Der Titelheld dieser in der Tradition des roman noir stehenden Gruselgeschichte, der in Gebirgsschluchten und Höhlen sein Unwesen treibt, ist eine Art Werwolf mit Anfällen von Weltschmerz. Der Roman ist nur schwer genießbar, ohne jede Psychologie, mit simpler Schwarzweißmanier, in der man jedoch schon die Kunst der Kontraste des späteren Hugo ahnt. Han d'Islande selbst ist der erste, noch ganz und gar unmögliche Entwurf einer grotesken Figur, wie sie Hugo dann später öfter darstellt, vor allem in dem Quasimodo von Notre Dame de Paris, 1831. Dann jedoch widmet sich Hugo etliche Jahre hindurch vorwiegend dem Theater. Im Dezember 1827 veröffentlicht er sein Schauspiel Cromwell und mit ihm das enthusiastische Manifest der romantischen Schule, die Préface de Cromwell, von der Théophile Gautier später in seiner Histoire du romantisme, 1827, sagen wird: La préface de Cromwell rayonnait à nos yeux comme les Tables de la Loi sur le Sinaï, et ses arguments nous semblaient sans réplique. 106
Man darf sich nun freilich nicht vorstellen, daß es sich um ein wohldurchdachtes, klares Programm handelt, das durchweg Neues bringt. Dem heutigen Leser erscheint die Préface de Cromwell vielmehr wie ein mit eiliger Vehemenz angerührter und nicht sorgfältig abgeschmeckter Salat von Paradoxien, Antithesen, Kühnheiten, fragwürdigen Verallgemeinerungen und tiefen Einsichten. Aber sie ist eben die wirkungsvolle Zusammenfassung aller neuen ästhetischen Tendenzen, durch-
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Zit. in: Victor Klemperer, Geschichte der französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, op.cit., Bd. 1, S. 76. Théophile Gautier, Histoire du romantisme (Slatkine reprints), Genève 1978, S. 5. 77
pulst von dem Elan des 25jährigen Hugo. Was enthält die Préface nun? Wir müssen sie ihrer literaturgeschichtlichen Bedeutung wegen näher kennenlernen. Es beginnt mit einer geschickten Captatio benevolentiae zugunsten des Stücks selbst – des Cromwell – und zugunsten der Préface. Kein Wohlwollen der Kritik wird ihm helfen, und nicht einmal ein Verbot durch die Zensur ist da, das ihm wenigstens den Erfolg der Neugierde sichern würde. So stellt er den Cromwell vor das Publikum wie den Kranken des Evangeliums: »solus, pauper, nudus«. Auch die Préface soll keine schützende Barriere sein – was man nicht so ganz glaubt -, vielmehr eine Reihe von grundsätzlichen Betrachtungen über die Kunst. Hugo will damit – wie er sagt – nicht die klassizistischen Literaturpäpste herausfordern, hat aber auch nichts dagegen, wenn andere Leute Stücke herausnehmen, um sie jenen »klassischen Goliaths« wie weiland David an den Kopf zu werfen. Fundament dieser Betrachtungen ist eine geschichtsphilosophische Epocheneinteilung der Literatur. Der Mensch als geschichtliches und gesellschaftliches Wesen hatte seine Kindheit und sein Mannesalter; jetzt steht er in der Reife des Alters: Il a été enfant, il a été homme, nous assistons maintenant à son imposante vieillesse. 107
Kindheit, Mannesalter, Alter – das sind: primitive, antike und moderne Epoche. Der primitive kindhafte Mensch singt wie er atmet, auf den drei Saiten seiner Lyra, die da sind: Gott, Seele, Schöpfung. Er lebt frei, in Gütergemeinschaft, nichts wird für ihn zur Fessel: Tout est à chacun et à tous. La société est une communauté. 108
Sein und Bewußtsein sind identisch: Voilà le premier homme, voilà le premier poète. Il est jeune, il est lyrique. La prière est toute sa religion: l'ode est toute sa poésie. 109
Die Dichtung dieser harmonischen Menschen im Kindheitszustand ist die Lyrik. Mit dem Übergang zum Erwachsenenalter, mit dem Übergang zur Zivilisation, dem Wechsel vom Land zur Stadt, von der Naturreligion zu den Religionen mit dogmatisiertem Kult, von der patriarchalischen Gemeinschaft zur theokratischen Gesellschaft, dem Krieg, den Wanderungen, wird die Poesie – Spiegel der Geschichte – zum Epos. Es ist das Zeitalter, über dem Homer herrscht. Seine »chasteté« tritt an die Stelle der »virginité« 110 der ersten Epoche. Das Epos schafft sich in der Tragödie eine Bühne. Der Chor ist nichts anderes als die dritte Person, diejenige des Autors, der seine Epopöe vervollständigt. Rom lebt von Griechenland, Virgil von Homer, bis das epische Zeitalter stirbt.
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Victor Hugo, »Cromwell«, in: Théâtre complet (hrsg. Roland Purnal, J. J. Thierry), op.cit. Bd. 1, S.410 (»Préface«). Ebda., S. 411. Ebda., S. 411. Ebda., S. 412.
Nun beginnt, mit dem Christentum, das dritte Zeitalter, das moderne. Das Christentum ist die »komplette« – »vollständige« – Religion, wie Hugo sagt. Sie ist »wahr«, weil sie in Kult und Dogma die Moral besiegelt, weil sie dem Menschen zeigt, daß er ein diesseitigvergängliches und ein jenseitig-unsterbliches Leben zu führen hat, daß er Seele und Körper besitzt. Mit dem Christentum teilt sich dem Menschen ein neues Gefühl mit, geboren aus der Sehnsucht nach dem Jenseits: die Melancholie. Hätte man bis jetzt glauben können, Hugo sei ein tiefer, inbrünstiger Christ, so zeigt sich schon an dieser von Chateaubriand inspirierten Auffassung, daß das Christentum für Hugo eher ein ästhetisches Arsenal darstellt, das ihm dazu dient, die Elemente des romantischen Weltbilds geschichtsphilosophisch zu verankern. Hugo begreift das Christentum ohnehin ganz humanistisch, ja liberal, als »religion d'égalité, de liberté, de charité«. 111 Das war zwar durchaus im Sinn des Erfinders, aber keineswegs im Sinne vieler seiner Statthalter. Das Christentum läßt den Menschen über sich selbst nachsinnen, über seine Katastrophen, Umwälzungen. Mit dem »génie de la mélancolie et de la méditation« 112 wird es zugleich befallen vom »démon de l'analyse et de la controverse«. Das scheint eine reichlich primitive Geschichtsphilosophie zu sein. Wir verstehen sie aber, wenn wir Hugos Gedankengang weiter verfolgen. Wenn er behauptet: »Le christianisme amène la poésie à la vérité«, 113 so denkt er an das Mittelalter, und an das Mittelalter denkt er, weil in dessen Kunst das Häßliche neben dem Schönen steht, das Unförmige neben dem Anmutigen, das Groteske neben dem Sublimen, das Böse neben dem Guten, der Schatten neben dem Licht. Genau diese Antithesen aber konstituieren das ästhetische Credo Hugos! Die Poesie, die er sich als die ideale vorstellt, als die Aufgabe seiner Zeit, soll diese doppelte Natur, die wahre Natur, darstellen. Prophetisch verkündet er: Elle se mettra à faire comme la nature, à mêler dans ses créations, sans pourtant les confondre, l'ombre à la lumière, le grotesque au sublime, en d'autres termes, le corps à l'âme, la bête à l'esprit.
[...] voilà un principe étranger à l'antiquité, un type nouveau introduit dans la poésie; [...] une forme nouvelle [...] Ce type, c'est le grotesque. Cette forme, c'est la comédie. 114
Darin sieht Hugo die fundamentale Divergenz zwischen klassischer und romantischer Literatur: erst wenn das Groteske an die Seite des Sublimen tritt, ist die Klassik überwunden, ist die Dichtung vollkommen, weil sie dann erst die Totalität von Mensch und Natur erfaßt. Ironisch fegt Hugo die Einwände hinweg, die ihm die Kritik im Namen des bon goût mit den klassischen Regeln macht:
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Ebda., S. 415. Ebda., S. 416. Ebda., S. 416. Ebda., S. 416. 79
Ces arguments sont solides, sans doute, et surtout d'une rare nouveauté. 115
Das ist schon nackter Hohn! Ob es gefällt oder nicht: es bleibt dabei: C'est de la féconde union du type grotesque au type sublime que naît le génie moderne. 116
Das »Groteske«, »comme moyen de contraste«, wird für Hugo zur »reichsten Quelle«, welche die Natur der Kunst anzubieten vermag. Damit ist der Grund gelegt für eine Ästhetik des Häßlichen: Le beau n'a qu'un type; le laid en a mille» 117 le laid [...] est un détail d'un grand ensemble qui nous échappe, et qui s'harmonise, non pas avec l'homme, mais avec la création tout entière. 118
Das Häßlich-Groteske also, die bisher unterdrückte Kehrseite des SublimSchönen, ermöglicht den Zugriff zum Ganzen, Universellen, zur Totalität. Ihre Vereinigung ist Shakespeare, mit ihm: das Drama. Shakespeare, c'est le Drame; et le drame, qui fond sous un même souffle le grotesque et le sublime, le terrible et le bouffon, la tragédie et la comédie, le drame est le caractère propre de la troisième époque de poésie, de la littérature actuelle. 119
In beängstigender, aber höchst einprägsamer Simplifikation resümiert Victor Hugo: Die Kennzeichen der primitiven ersten Epoche sind: die Ode (also die Lyrik), die »naïveté«; ihre Personen sind Kolosse: Adam, Kain, Noah. 120
Die Wesensmerkmale der zweiten, der antiken Epoche sind: die Epopöe, die » simplicité « ; ihre Personen sind Giganten: Achill, Atreus, Orest. 121
Die Kennzeichen der dritten, modernen Epoche sind: das Drama, die »vérité«; ihre Personen sind Menschen: Hamlet, Macbeth, Othello. 122
Und noch einmal faßt Hugo zusammen: die Ode – die Poesie des Jugendalters – besingt die Ewigkeit, sie lebt vom Ideal.
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Ebda., S. 417. Ebda., S. 417. 117 Ebda., S. 420. 118 Ebda., S. 421. 119 Ebda., S. 422. 120 Ebda., S. 423. 121 Ebda., S. 423. 122 Ebda., S. 423. 80 116
Das Epos – die Poesie des Mannesalters – besingt die Geschichte; sie lebt vom Grandiosen. Das Drama – die Poesie des Alters – stellt das Leben dar; sie lebt vom »Wirklichen« – »réel« 123
Hugo begreift also – und das ist überaus interessant – die »romantische« Dichtung, die seiner Auffassung nach im Drama gipfelt, als eine »realistische«, das heißt dem Wesen der Wirklichkeit adäquate: tout ce qui est dans la nature est dans l'art. 124
Und Hugo zieht die volle Konsequenz: Wenn das Groteske an die Seite des Sublimen treten soll, das heißt dann, daß der Graben zwischen den Gattungen der Komödie und der Tragödie zugeschüttet wird. Und wenn beide zusammen als Drama die Totalität des Menschlichen und der Natur erfassen sollen – so wie Shakespeare -, dann umgreifen sie auch die Wesensmerkmale der anderen Gattungen: des Lyrischen und des Epischen, so wie das moderne Zeitalter der Altersreife diejenigen der Kindheit und des Mannesalters in sich aufhebt. Das Drama als höchste, totale Gattung nimmt Lyrik und Epik in sich auf, lebt von den großen Quellen insgesamt: Bibel, Homer und Shakespeare. Das heißt: die Gattungsgrenzen sind hinfällig und nichtig; und mit ihnen sind die Stilgrenzen aufgehoben: Le drame est la poésie complète. 125
In Shakespeares Königsdramen wie am historischen Schauspiel, das seit Voltaire nicht mehr von der französischen Bühne verschwunden war, sieht Hugo exemplarisch das Epische und das Lyrische in das Dramatische eingeschmolzen. Von der speziellen Theorie des Grotesken abgesehen, ist diese Konzeption der Stil- und Gattungsmischung keineswegs Hugos originelle Idee. Aber er hat sie bestechend formuliert. Gleichwohl lohnt sich in Anbetracht dieser radikalen Aufhebung der Gattungs- und Stilgrenzen und ihrer Bedeutung ein Seitenblick auf Alfred de Vigny, Hugos Kampfgenossen, der in einem Vorwort zu Le More de Venise, Othello 1829 die Tragödie der Zukunft folgendermaßen umreißt: (...) dans sa conception, un tableau large de la vie, au lieu du tableau resserré de la catastrophe d'une intrigue; – dans sa composition, des caractères, non des rôles, des scènes paisibles sans drame, mêlées à des scènes comiques et tragiques; – dans son exécution, un style familier, comique, tragique, et parfois épique. 126
Um diese totale Gattung zu erreichen, muß das Drama von seinen Fesseln befreit werden. So wie die – nach Ansicht Hugos willkürliche – Unterscheidung der Gat-
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Ebda., S. 423. Ebda., S. 425. 125 Ebda., S. 424. 126 Alfred de Vigny, »Le more de Venise. Lettre à Lord... sur la soirée du 24 octobre 1829 et sur un système dramatique«, in: Victor Hugo, Théâtre complet (hrsg. Roland Purnal, J. J. Thierry), op.cit., Bd. 1, S. 280. 81 124
tungen fallen muß, so auch die Regel der zwei Einheiten, das heißt diejenige der Einheit der Zeit und der Einheit des Orts. Die dritte, diejenige der Handlung, steht auch für Hugo außer Frage. Das Leben, das réel, führt nach Hugo diese zwei Einheiten ad absurdum. Die Einheit des Orts – etwa die Empfangshalle eines Königs – kann nie die Fülle des Lebens einschließen; wie sollte sie auch! Wie kann sie je Ort der vielfältigsten Handlungen werden und wie Ort für Menschen, die immer außerhalb leben. Die Einheit des Orts verhindert jede wirklichkeitsgemäße und Wirklichkeit reproduzierende Lokalfarbe: la localité exacte est un des premiers éléments de la réalité. 127
Eine Handlung, die in 24 Stunden eingezwängt wird, ist ebenso lächerlich, wie wenn sie sich partout in ein und demselben Vorzimmer abspielen soll. Als ob nicht jede Handlung ihre eigene Dauer und ihren eigenen Ort hätte! Warum Menschen und Dinge so verstümmeln? Also fort mit diesen zwei Einheitsregeln, die dem génie unerträgliche, erstickende Fesseln anlegen! Ganz anders verhält es sich mit der Einheit der Handlung, der »unité d'action ou d'ensemble«. 128 Sie gewährleistet den Aufbau der Haupthandlung durch die sich unterordnenden Nebenhandlungen: L'unité d'ensemble est la loi de perspective du théâtre. 129
Gewiß, die Klassiker haben große Werke geschrieben. Aber was hätte ein Corneille erst schaffen können, hätte er nicht ständig in den Ketten der Regeln gelegen? Kühn zieht Hugo die Parallele zwischen der allgemeinen Idee der Freiheit und der Kunst: Disons-le donc hardiment. Le temps en est venu, et il serait étrange qu'à cette époque, la liberté, comme la lumière, pénétrât partout, excepté dans ce qu'il y a de plus nativement libre au monde, les choses de la pensée. Mettons le marteau dans les théories, les poétiques et les systèmes. Jetons bas ce vieux plâtrage qui masque la façade de l'art! Il n'y a ni règles, ni modèles; ou plutôt il n'y a d'autres règles, que les lois générales de la nature qui planent sur l'art tout entier, et les lois spéciales qui, pour chaque composition, résultent des conditions d'existence propres à chaque sujet. 130
Der Dichter soll sich nicht an Regeln noch an Vorbildern orientieren, sondern an Natur, Wahrheit und an seiner Eingebung, die selbst eine Natur und eine Wahrheit ist. Daraus ergibt sich die radikale Ablehnung der alten Lehre von der Imitatio. Weder Corneille noch Molière noch Schiller noch Shakespeare sollen nachgeahmt werden!
127
Victor Hugo, »Cromwell«, in: Théâtre complet (hrsg. Roland Purnal, J.J. Thierry), op.cit., Bd. 1, S. 428. 128 Ebda., S. 428. 129 Ebda., S. 430. 130 Ebda., S. 434. 82
Die »Imagination« des Dichters ist etwas ganz anderes als die reproduzierende Erinnerung an die Modelle. Höhnisch zitiert Hugo hier den charakteristischen Ausspruch des klassizistischen Kritikers La Harpe: Imaginer, dit La Harpe avec son assurance naïve, ce n'est au fond que se ressouvenir. 131
Nicht Imitation also, sondern: »La nature et la vérité« 132 Aber die Kunst kann die Natur und die Wirklichkeit nicht so wiedergeben, wie diese sich darbietet: L'art ne peut donner la chose même. 133
Die Kunst ist – und diese Formulierung Hugos erinnert an Stendhals berühmte Definition des Romans – ein Spiegel, welcher die Wirklichkeit in Relief und Farben widerspiegelt. Und insbesondere das Theater: Le théâtre est un point d'optique. Tout ce qui existe dans le monde, dans l'histoire, dans la vie, dans l'homme, tout doit et peut s'y réfléchir, mais sous la baguette magique de l'art. 134
Wenn der Dichter auswählen muß – und anders kann er der Wirklichkeit kein Relief verleihen -, so darf er nicht das »Schöne«, sondern muß das »Charakteristische« auswählen, die »couleur locale« 135 im Tiefsten von Mensch, Ort und Handlung selbst, das Individuelle. So wie das Drama von den Regeln der Einheiten zu befreien ist, so auch, wie jetzt alle Poesie, von den bisherigen Regeln des Versbaus. Der Vers bewahrt das Drama vor Trivialität und Vulgarität. Gerade deshalb muß er Freiheiten erhalten, die allein die neue Totalität der Inhalte und Stile in ihm aufzunehmen gestatten. Also weg mit der steifen, konventionellen, symmetrischen, puristischen Regelschönheit der klassischen Verse: nous voudrions un vers libre, franc, loyal, osant tout dire sans pruderie, tout exprimer sans recherche; passant d'une naturelle allure de la comédie à la tragédie, du sublime au grotesque; [...] sachant briser à propos et déplacer la césure pour déguiser sa monotonie d'alexandrin; plus ami de l'enjambement qui l'allonge que de l'inversion qui l'embrouille; fidèle à la rime, cette esclave reine, cette suprême grâce de notre poésie, ce générateur de notre mètre; inépuisable dans la variété de ses tours, insaississable dans ses secrets d'élégance et de facture [...] 136
Und weiter:
131
Ebda., S. 435. Ebda., S. 435. 133 Ebda., S. 435. 134 Ebda., S. 436. 135 Ebda., S. 437. 136 Ebda., S. 441. 132
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[...] le vers au théâtre doit dépouiller tout amour-propre, toute exigence, toute coquetterie. 137
Der Vers soll dienende Form sein, die alles aufnimmt – alle Sprachen, Flüche, Gesetze, volkstümliche Wendungen, Komisches, Tragisches, Lachen, Weinen, Prosa und Poesie – Form, die nichts vorschreiben darf. Die Idee, in Verse getaucht, erhält Kontur, erglänzt, wird scharf: C'est le fer qui devient acier. 138
Die Sprache ist in ständiger Bewegung und Entwicklung wie der menschliche Geist. Ihr Fesseln anlegen, bedeutet den Geist in Ketten schlagen: C'est en vain que nos Josués littéraires crient à la langue de s'arrêter; les langues ni le soleil ne s'arrêtent plus. 139
Dies sind die Grundgedanken der Préface de Cromwell.
Die Umsetzung der Dramentheorie im Cromwell Wir müssen nun fragen, in welcher Weise Victor Hugo die in seiner Préface de Cromwell aufgestellten Forderungen selber realisiert hat. Hat sein Theater wirklich die neuen ästhetischen Prinzipien zu Kunst gedeihen lassen? Und ist das Drama tatsächlich zu der beherrschenden, totalen Gattung geworden, die Hugo prophezeite? Die letztere Frage können wir sogleich verneinen. Die herrschende Gattung, die totale Gattung der modernen bürgerlichen Welt wurde nicht das Drama, wie Hugo meinte, sondern, wie Friedrich Schlegel verkündet hatte, der Roman. Die anderen Fragen sind indessen nicht so leicht und vor allem nicht so schnell zu beantworten. Natürlich sollte der Cromwell selbst schon die Anwendung der neuen Konzeption bringen. Aber gerade weil Hugo alles hineinstopfen wollte, was er für wichtig und richtig hielt, weil der Cromwell ein »totales « historisches Stück mit allen Elementen des réel und mit den Kontrasten des Grotesken und Sublimen werden sollte, deshalb ist dieses Schauspiel übermäßig lang gediehen, ist überfrachtet, unübersehbar, ist praktisch unspielbar und ist in der Tat auch nie aufgeführt worden. Der Held selbst ist ein Schwarz-Weiß-Kontrast, eine Antithese ganz im Sinne des Programms, aber, wie so oft bei Hugo, ohne innere Beziehung der Elemente dieser Antithese. Hugo wollte alles auf einmal präsentieren; Pathos und Komik und theatralische Effekte, Lokalkolorit und Schauerrequisiten. Er wollte Shakespeare überbieten: wo dieser einen Narren hatte oder zwei, brauchte Hugo deren gleich vier.
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Ebda., S. 441. Ebda., S. 442. 139 Ebda., S. 443. 84 138
Im Cromwell ist in unverdaulicher Anhäufung alles gesammelt, was in den folgenden Stücken durch größere Streuung genießbarer wird.
Marion de Lorme, der romantische Kontrast im historischen Drama Der Besprechung der weiteren Stücke will ich die Charakteristik des romantischen Theaters vorausschicken, die Théophile Gautier (1811-1872) 1857 gegeben hat, eine Charakteristik, die, so summarisch sie auch sein mag, doch sogleich zeigt, wie sich die neue Theorie praktisch-szenisch auswirkte: C'était le temps du drame historique, shakespearien, chargé d'incidents, peuplé de personnages, enluminé de couleur locale, plein de fougue et de violence; la bouffonnerie et le lyrisme s'y coudoyaient selon la formule prescrite; la marotte des fous faisait tinter ses grelots, et la bonne lame de Tolède, tant raillée depuis, frappait d'estoc et de taille.
Wir wollen uns das kurz an dem nächsten Drama Hugos ansehen, der im Frühjahr 1829 beendeten Marion de Lorme. Das Stück spielt zur Zeit Ludwigs XIII. und Richelieus. Die Titelheldin Marion de Lorme ist eine – übrigens durchaus historische – Kurtisane, die sich soeben zur Ruhe gesetzt hat und die nun zum ersten Male in ihrem bewegten Leben eine echte Liebe erlebt. Der Auserwählte ihres neu entdeckten Herzens ist ein junger Offizier namens Didier, eine reine, poetisch veranlagte, streng moralische, aber weltschmerzliche Seele, zugleich so ziemlich der einzige Mensch, der nicht weiß, welches Métier seine schöne Geliebte bis jetzt ausgeübt hat. Didier ist ein Findling, ein Bastard, wie man erfährt, der ahnt, daß sein Leben unter einem Unstern steht. [ ...] oui, mon astre est mauvais. J'ignore d'où je viens et j'ignore où je vais. Mon ciel est noir [...] 140
Zum ersten Male begegnen wir hier der Vorstellung des schwarzen Himmels, der schwarzen Sonne, die von Albrecht Dürers Darstellung der Melancholie stammt und die Romantiker fasziniert hat: »[...] le Soleil noir de la Mélancolie«, 141 wie es in Gérard de Nervals (1808-1855) Gedicht El Desdichado, 1854, heißt, [...] un soleil noir dans le ciel désert« 142 wie der gleiche Nerval in seiner Aurélia schreibt. Im zweiten Akt beginnt der Himmel sich für Didier wirklich zu verdunkeln. Er bleibt zwar Sieger in einem Duell mit dem Marquis de Saverny, einem ehemaligen Liebhaber der Marion de Lorme, der sie noch einmal zurückhaben will. Richelieu aber hat das Duellieren unter Todesstrafe verboten. Didier flieht mit Marion de Lorme.
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Victor Hugo, »Marion de Lorme«, in: Théâtre complet (hrsg. Roland Purnal, J. J. Thierry) op.cit., Bd. 1, S. 1032. Gerard de Nerval, »El Desdichado«, in: Œuvres (hrsg. Henri Lemaître), Paris 1966, Bd. 1, S.693. Gerard de Nerval, »Aurélia«, in: Œuvres (hrsg. Henri Lemaître), op.cit., Bd. 1, S. 802. 85
Beide werden von Komödianten einer Wanderschmiere versteckt. Sie werden jedoch aufgestöbert. Alle Gnadengesuche scheitern an der Härte Richelieus. Der Polizeioffizier Laffemas verspricht Marion, Didier zu retten unter der Bedingung, daß sie ihm eine Nacht gewährt. Verzweifelt wehrt sie sich dagegen, die durch die Liebe gewonnene Reinheit wieder zu verlieren: Fût-ce pour te sauver redevenir infâme, Je ne le puis! – Ton souffle a relevé mon âme. Mon Didier! près de toi rien de moi n'est resté, Et ton amour m'a fait une virginité! 143
Doch sie opfert sich, um Didier zu retten. Dieser, inzwischen über ihr Vorleben aufgeklärt und auch von ihrem vermeintlichen Rückfall erfahrend, weigert sich, sich retten zu lassen, weigert sich solange, bis es zu spät ist. In einer qualvollen Szene, an deren Ende die Henkersknechte eintreffen, beschimpft Didier die Geliebte, verzeiht ihr und erfleht ihre Verzeihung. Während Didier und sein Duellgegner Saverny den Weg zum Schaffott gehen, erscheint im Hintergrund die Sänfte des Kardinals. Marion wirft sich ihr in den Weg, aber die Antwort aus der Sänfte lautet: Pas de grâce. 144
Marion schreit dem Volk zu: Regardez tous! voilà l'homme rouge qui passe! 145
und sinkt aufs Pflaster nieder. Zwei Hauptfiguren – zwei romantische Gestalten – zwei romantische Lieblingsthemen: 1.) Der héros fatal, weltschmerzlich, das leidende Genie mit Zügen Renés und Byrons, ruhelos, von Anfang an einem furchtbaren Ende bestimmt, und 2.) Die Dirne, die in einer unerhörten Leidenschaft ihr Herz und ihre Bestimmung entdeckt, die sich in einer reinen Liebe läutert und daran zugrundegeht. Dazu ein erbärmlicher König, ein blutrünstiger Kardinal, Zerrbilder Ludwigs XIII. und Richelieus, Herzöge, Marquis, Soldaten, Henker, Komödianten und Narren, ein bereits historisches Gemälde mit Licht und Dunkel, ohne Nuance, ohne Übergänge, wenig Psychologie. Aber mit Pathos, leidenschaftlichen Ergüssen, melodramatisch, mit schnellstem Wechsel zwischen Hoffnung und Zittern. Dem Publikum blieb dieser dramatische Schüttelfrost jedoch zunächst vorenthalten. Marion de Lorme wurde von der Zensur nicht zur Aufführung freigegeben, weil die Behörden befürchteten, die Zuschauer würden in Ludwig XIII. eine Parallele zu Karl X. entdecken, und die Hugosche Präsentation Richelieus war nicht gerade
143
Victor Hugo, »Marion de Lorme«, in: Théâtre complet (hrsg. Roland Purnal, J.J. Thierry), op.cit., Bd. 1, S. 1779 (»Notices et Notes«). Die zitierten Verse finden sich nur in Victor Hugos Manuskript, bei der Vorstellung waren sie gestrichen. (V. Akt, 2. Szene, anstelle der acht Verse: »il faut que vous soyez un homme bien infâme-). 144 Ebda., 5.1143. 145 Ebda., S.1144. 86
geeignet, das Ansehen der katholischen Kirche zu steigern, die ohnehin wieder tüchtig mitregierte.
Hugos Hernani, der Idealtyp des romantischen Dramas Victor Hugo war nicht der Mann, sich entmutigen zu lassen. Er setzte sich hin und schrieb 1830 ein neues Stück: Hernani, sein berühmtestes, weil mit diesem Schauspiel der größte Theaterskandal des 19. Jahrhunderts eintrat und weil mit diesem Stück der Durchbruch der Romantik auf der Bühne selbst gelang. Hernani ist die Geschichte einer Frau zwischen zwei Männern – vier Hauptpersonen also, von denen – so wollte es der Dichter – drei zum Schluß dran glauben müssen. Der Titelheld Hernani, aus höchstem spanischen Adel, ist zum Räuberhauptmann geworden, zum Outlaw, weil er seinen hingerichteten Vater am Königshaus rächen will. Dieser héros fatal mit Zügen von Byron und Karl Moor liebt natürlich auch. Aber er sträubt sich dagegen, die von ihm geliebte Frau, Dofia Sol de Sylva, in sein gesetzloses Leben hereinzuziehen. Aber Dofia Sol wird von ihrem Onkel, dem Herzog Ruy Gomez de Sylva umworben, und nicht nur von diesem, sondern auch von Don Carlos, König von Spanien und – wenig später, noch im Verlauf des Stückes selbst – Kaiser als Karl V. Hernani wird als Bandit verfolgt. Herzog Ruy Gomez rettet ihm das Leben, indem er ihn den Schergen des Königs entzieht. Beide schließen eine Art von Vertrag, durch den Hernani dem Herzog sein Leben ausliefert, wann immer dieser es will und seinen Willen durch den Ton eines bestimmten Horns bekundet. Beide verbünden sich zu einer Revolte des aufsässigen Hochadels gegen den König. Die ersten drei Akte spielen in Saragossa. Im vierten Akt sind wir in Aachen, bei der Kaiserwahl. In der Gruft Karls des Großen soll Don Carlos, jetzt Karl V., ermordet werden. Während die Verschwörer in die Gruft eindringen, nicht ahnend, daß sie bereits umzingelt sind, führt Karl in einem großen Monolog am Grabe Karls des Großen eine Art von Zwiegespräch mit dem Begründer des Imperiums, das ihm die Erkenntnis seiner hohen Aufgabe und seiner Verpflichtung bringt. Der Monolog endet mit den Versen: Je t'ai crié: – Par où faut-il que je commence? Et tu m'as répondu: – Mon fils, par la clémence ! 146
In diesem Geiste verzeiht Karl den überrumpelten Verschwörern. Er setzt Hernani wieder in alle seine Rechte und Titel ein und überwindet sich soweit, ihm Doiia Sol zur Frau zu geben. Nur einer kann weder seinen Haß noch seine Liebe noch seine Eifersucht vergessen: der alte Herzog Ruy Gomez. Der 5. Akt – wir sind wieder in Saragossa – bringt die Katastrophe in typisch Hugoschen Kontrasten. Hernani und Doña Sol haben sich vermählt. Am Abend des fest-
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Victor Hugo, »Hernani«, in: Théâtre complet (hrsg. Roland Purnal, J.J. Thierry), op.cit., Bd. 1, S. 1286. 87
lich-lauten Hochzeitstages treten die soeben Vermählten, endlich allein, auf den Balkon. In die Stille der Nacht hinein wünscht Doña Sol sich den Gesang einer Nachtigall oder den Laut einer Flöte. Die Szene variiert, wie man leicht sieht, das berühmte Thema von Shakespeares Romeo und Julia. Hugos Version ist ihres Vorbildes nicht ganz unwürdig: DOÑA SOL Tout s'est éteint, flambeaux et musique de fête. Rien que la nuit et nous. Félicité parfaite! Dis, ne le crois-tu pas? Sur nous, tout en dormant, La nature à demi veille amoureusement. Pas un nuage au ciel. Tout, comme nous, repose. Viens, respire avec moi l'air embaumé de rose! Regarde. Plus de feux, plus de bruit. Tout se tait. La lune tout à l'heure à l'horizon montait; Tandis que tu parlais, sa lumière qui tremble Et ta voix, toutes deux m'allaient au cœur ensemble Je me sentais joyeuse et calme, ô mon amant, Et j'aurais bien voulu mourir en ce moment! HERNANI Ah! qui n'oublierait tout à cette voix céleste! Ta parole est un chant où rien d'humain ne reste. Et comme un voyageur, sur un fleuve emporté, Qui glisse sur les eaux par un beau soir d'été, Et voit fuir sous ses yeux mille plaines fleuries, Ma pensée entraînée erre en tes rêveries!
DOÑA SOL Ce silence est trop noir, ce calme est trop profond. Dis, ne voudrais-tu pas voir une étoile au fond? Ou qu'une voix des nuits, tendre et délicieuse, S'élevant tout à coup, chantât?... HERNANI, souriant. Capricieuse! Tout à l'heure on fuyait la lumière et les chants!
DOÑA SOL Le bal! – Mais un oiseau qui chanterait aux champs! Un rossignol perdu dans l'ombre et dans la mousse, Ou quelque flûte au loin!... Car la musique est douce, Éveille mille voix qui chantent dans le cour! Ah! ce serait charmant! (on entend le bruit lointain) d'un cor dans l'ombre.) Dieu! je suis exaucée! HERNANI, tressaillant à part. Ah! malheureuse!
DOÑA SOL 88
Un ange a compris ma pensée, – Ton bon ange sans doute? HERNANI, amèrement. Oui, mon bon ange! (Le cor recommence. – À part.) Encor!
DOÑA SOL, souriant. Don Juan, je reconnais le son de votre cor! HERNANI N'est-ce pas?
DOÑA SOL Seriez-vous dans cette sérénade De moitié? HERNANI De moitié, tu l'as dit.
Die Katastrophe ist glänzend inszeniert in dieser Einleitung des tödlichen Geschehens: Die Stille der Nacht nach dem rauschenden Ball, der Hymnus auf das Glück der Liebe, der Wunsch, daß ein Ton des Lebendigen den Schlaf der Natur begleite, das grausige Mißverständnis des Horns durch Doña Sol und anschließend die qualvolle, tödliche Desillusionierung. Maskiert erscheint der alte Herzog, zitiert den Wortlaut des Vertrags, durch den Hernani sich ihm ausgeliefert hat, und verlangt seine Erfüllung. Aus dem Giftbecher, den er dem Rivalen reicht, trinkt jedoch zuerst Doña Sol, dann Hernani. In einer letzten Umarmung sterben die beiden Liebenden, vereint, wenigstens im Tode. Der alte Herzog, Zuschauer ihrer Agonie, will auch jetzt noch mit dabei sein und erdolcht sich über ihren Leichen. Unsere Inhaltswiedergabe gibt nur andeutungsweise ein Bild davon, wie es in diesem Stück zugeht. Die Handlung ist nervenaufreibend, versehen mit allen erdenklichen Kontrasten, Stimmungsumschlägen, aufdringlich bunt, mit gehäufter couleur locale, angefüllt mit allen Extremen: Liebe, Haß, Ehre, Rachgier, Edelmut, Größe und Erbärmlichkeit. Die wechselnde Geräuschkulisse umdröhnt den Zuschauer derart, daß er auch die plötzlich eintretenden Stillen nicht mehr erträgt. Alles ist Hörnergeschmetter, Glokkenläuten, Kanonendonner, Waffengeklirr bei Fackellicht in Palästen und düsteren Gruften, dann wieder plötzlich Grabesstille, durch die man das Schicksal schlurfen hört – den Dolch oder das Gift im Gewande. Man kann sich durchaus noch vorstellen, wie dieses Stück wirken mußte. Die Erstaufführung warf ihre Schatten lange voraus. Die Widerstände waren stark. Die Zensur genehmigte zwar das Stück nach einigen Änderungen, aber schon Wochen vor der Premiere zirkulierten Parodien und gefälschte Textauszüge. Die Zeitungen polemisierten über das Stück, bevor es jemand kannte. Und Hugo selbst führte bei den Proben im Theater einen erbitterten Kampf um jeden Vers, vor allem, weil die verwöhnte Schauspielerin Mlle Mars ihren Ruf nicht durch Hugos romantische Verse aufs Spiel setzen wollte. 89
Zur Premiere sammelten beide Parteien, Romantiker und Klassizisten, Mannschaft. Hugos Freunde mobilisierten die Bohème: Literaten, Maler, Studenten von der Sorte des betonten Bürgerschrecks, mit krausen Haaren, wilden Bärten und bunter Gewandung. Théophile Gautier erschien mit seiner berühmten roten Weste. So kam es notgedrungen zum Krawall, zur »bataille d'Hernani«, von der man nicht ganz zu Unrecht gesagt hat, daß sie den Sturm auf die Bastille in der Literatur darstelle und nicht zufällig gleichsam am Vorabend der Julirevolution stattgefunden hat. Der Tumult setzte schon nach den ersten Versen ein: Ein nächtliches Schlafzimmer, mit der schwarzgekleideten alten Zofe der Doña Sol, in Erwartung Hernanis. Es klopft: Serait-ce déjà lui? 147
Erste Hälfte des Alexandriners! Es klopft wieder: C'est bien à l'escalier Dérobé. 148
Der zweite Vers brachte also bereits die Provokation eines ungewöhnlichen Enjambements mit einem adjektivisch gebrauchten Partizip Perfekt als Rejet! Der über die Geheimtreppe hereinkommt, ist indessen nicht Hernani, der zum Rendezvous Erwartete, sondern der Rivale Don Carlos, der König in Person. Tragisches scheint sich vorzubereiten. Aber Hugo hat das Komische nicht vergessen. Der verkleidete König drückt der erschrockenen Zofe eine Geldbörse in die Hand, und diese kommentiert, den Beutel in der Hand wiegend: Après tout, ce n'est pas un voleur. 149
Aber auch das Groteske ist nicht vergessen. Don Carlos will heimlich beobachten, wer sein glücklicherer Nebenbuhler ist, und er verdrückt sich zu diesem Behuf in einen Schrank. Kaum getan, erscheint Doña Sol, nach ihr der sehnsüchtig erwartete Hernani. Ihr Gespräch und die unbequeme Stellung treiben den König alsbald aus seinem Schrank: Quand aurez-vous fini de conter votre histoire? Croyez-vous donc qu'on soit à l'aise en cette armoire? 150
Ein fremder Mann im Schlafzimmerschrank der Geliebten, und das in Spanien, im 16. Jahrhundert! Die beiden Rivalen stellen sich in Positur und kreuzen die Schwerter. Da klopft es wieder: Ciel! on frappe à la porte! 151
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Ebda., S. 1300f. Ebda., S. 1155. 149 Ebda., S. 1159. 150 Ebda., S. 1167. 90 148
Es ist natürlich der dritte Verehrer, der offizielle Bewerber, der herzogliche Onkel der Doña Sol, Ruy Gomez. Was tun? Hernani schlägt Don Carlos vor, mit ihm gemeinsam im Schrank zu verschwinden. Fast kommt es soweit. Nur der Umstand, daß es Don Carlos schon beim ersten Aufenthalt in diesem Versteck zu ungemütlich geworden war, erspart dem Zuschauer das Schauspiel, den König von Spanien und designierten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches innerhalb weniger Minuten zweimal, und das zweite Mal zusammen mit seinem Rivalen und Todfeind, sich in einen Schlafzimmerschrank verkriechen zu sehen. So also verwirklicht Hugo sein Programm: die Verbindung des Sublimen mit dem Grotesken. Kein Wunder, daß der Krawall in jeder Szene neu ausbrach und die erregten Zuschauer sich an der Krawatte packten. Und das nicht nur bei der Premiere, sondern durch rund vierzig Aufführungen hindurch. Aber am Ende der »bataille d'Hernani« stand der Sieg der Romantiker. Hugo konnte triumphieren.
Le Roi s'amuse, Schicksalstragödie und Komödienstruktur Von solchem Auftrieb beflügelt, machte sich Hugo alsbald an ein neues Stück: Le Roi s'amuse, 1832. Es wurde sogleich nach der Erstaufführung verboten. Der sich amüsierende König ist Franz 1., bei Hugo sämtlicher menschlicher und königlicher Eigenschaften beraubt, dafür aber ein überdimensionaler Schürzenjäger – die gekrönte Skrupellosigkeit. Sie kennen die Handlung vielleicht aus Verdis Oper Rigoletto, 1851. Victor Hugos Titel verbirgt, daß die eigentliche Hauptfigur nicht der König ist, sondern sein Hofnarr Triboulet. Triboulets Tragödie besteht darin, daß er, der Krüppel, sich für Spott und Verachtung durch die Umwelt rächt, indem er den weiberjagenden König auf die Töchter und Frauen des Adels hetzt und ihm dabei Kupplerdienste leistet, während er selbst andererseits die eigene, innig geliebte Tochter fern vom Hof in aller Heimlichkeit und ohne Kenntnis von Charakter und Beruf des Vaters erziehen läßt. Ausgerechnet diese Tochter, Blanche, wird ebenfalls ein Opfer des Königs, und als der Vater sich rächen will, wird er versehentlich zum Mörder des eigenen Kindes. Der Sack, in welchem der triumphierende Triboulet den toten König wähnt, enthält den Leichnam der Tochter. Das ist eine Schicksalstragödie, aber aufgebaut auf komödienhaften, wenn nicht gar kolportagehaften Verwechslungen und Zufällen.
Lucrèce Borgia, das Groteske und das Sublime Nicht anders verhält es sich mit dem Gegenstück, das Hugo zu Le Roi s'amuse geschrieben hat:
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Ebda., S. 1170. 91
Lucrèce Borgia, 1833.
Nach der Tragödie der Vaterliebe kommt jetzt die Tragödie der Mutterliebe. Der Muttermord tritt an die Stelle des Tochtermords, und zum Mord kommt noch der Inzest hinzu, und zwar gleich in der Potenz. Hugo hat die Parallele wie den Unterschied der beiden Stücke selbst formuliert: Ainsi la paternité sanctifiant la difformité physique, voilà Le Roi s'amuse; la maternité purifiant la difformité morale, voilà Lucrèce Borgia. 152
Sieht man von der Glaubwürdigkeit, welche die Dichtung bedingt, ab, so ist – rein historisch betrachtet – der Gegenstand dieses zweiten Stücks ungleich wahrscheinlicher. Lukrezia Borgia (1480-1519) war ein würdiges Mitglied der schrecklichen Familie des unheiligsten unter den Heiligen Vätern, die jemals als Statthalter Christi auf Erden regierten. Die berühmt-berüchtigte Tochter Alexanders Vl. (14311503) hat bei Hugo von ihrem eigenen Bruder ein Kind, einen Sohn, Gennaro, den sie in Unkenntnis über seine Mutter aufwachsen läßt, den sie liebt, der sie wiederliebt, der sie am Schluß aus Rache tötet und erst von der Sterbenden erfährt, daß sie seine Mutter ist. In diesem Stück häufen sich – tatsächlich geschehend oder berichtet – die Morde, Giftmorde und Orgien ähnlich füllig wie im traulichen historischen Familienleben der Borgia. Der Sarg steht neben dem Bacchanal. Eine grausige, sadistische, brutale Welt tierischer Instinkte überbietet noch das gruslige Ende von Le Roi s'amuse. Im Vorwort zu Lucrèce Borgia hat Hugo sein Rezept der Personengestaltung verraten. Ich sage: Rezept, weil es in der Tat mit »Man nehme« anfängt: Prenez la difformité physique la plus hideuse, la plus repoussante, la plus complète; placez-la là où elle ressort le mieux, à l'étage le plus infime, le plus souterrain et le plus méprisé de l'édifice social; éclairez de tous côtés, par le jour sinistre des contrastes, cette misérable créature; et puis jetez-lui une âme, et mettez dans cette âme le sentiment le plus pur qui soit donné à l'homme, le sentiment paternel. Qu'arrivera-til? C'est que ce sentiment sublime, chauffé selon certaines conditions, transformera sous vos yeux la créature dégradée; c'est que l'être petit deviendra grand; c'est que l'être difforme deviendra beau. 153
Das ist natürlich Triboulet. Ähnliches gilt für Lucrèce Borgia mit ihrer» [...] difformité morale la plus hideuse... avec toutes les conditions de beauté physique [...]«. 154 In diese Figur [...] mettez une mère; et le monstre intéressera, et le monstre fera pleurer, et cette créature qui faisait peur fera pitié, et cette âme difforme deviendra presque belle à vos yeux. 155
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Victor Hugo, »Lucrèce Borgia«, in: Théâtre complet (hrsg. J. J. Thierry, Josette Mélèze), Paris 1963, Bd. 2, S. 288 (»Préface«). Ebda., S. 288. Ebda., S. 288.
Mit etwas anderen Worten: Man nehme ein moralisches oder körperliches Monstrum, äußerlich absolut häßlich oder absolut schön, gebe ihm ein einziges menschlich reines Gefühl, das stark genug ist, um mit der sonstigen Monstruosität in Konflikt zu geraten, und man heize das ganze tüchtig an, »chauffé selon certaines conditions« 156 -ich bin fast versucht zu sagen: »man lasse es mehrmals kräftig aufkochen« -, und schon ist das Ganze in Kunst verwandelt. Hugo schließt dieses Vorwort mit den Sätzen: A la chose la plus hideuse mêlez une idée religieuse, elle deviendra sainte et pure. Attachez Dieu au gibet, vous avez la croix. 157
Also: zum Grotesken und Monströsen einen Schuß Ideal, und schon ist die poesiefähige Mischung fertig. Dazu gekocht mit »gewissen Umständen«, und schon ist aus den Kontrasten die Schönheit entstanden. Ein sehr simples Rezept: Absolute Extreme und Gegensätze, also notwendig nur zwei Komponenten; so werden komplexe Charaktere unmöglich – und eben damit wird verfehlt, was Hugo doch will: das Leben, das réel. Und damit die so gegensätzlichen Charakterpole überhaupt miteinander in dramatische Kollisionen geraten können, bedarf Hugo der willkürlichsten und akkumulierten Requisiten: Gift, Dolch, Geheimtreppen, unglaubliche Verwechslungen, unwahrscheinliche Zufälle. Damit wird die Mischung zum dramatischen Sieden gebracht.
Angelo, tyran de Padoue, die Kombination der Extreme Geradezu exemplarisch ist dieses Rezept in dem 1835 geschriebenen und sogar mit Erfolg aufgeführten Stück Angelo, tyran de Padoue angewendet. Was hier an monstruösen und reinen Figuren, an geheimen Rendez-vous mit Fallen, an Räuberhöhlen, Palästen, Intrigen, Mordversuchen, gefälschten und abgefangenen Briefen, Dolchen, Gift, Spionen, Geheimtüren hinter Tapeten aufgeboten ist, das geht auf keine Kuhhaut. Das Hauptthema, die gequälte, unglücklich verheiratete und unglücklich liebende Frau als Opfer einer von brutalen Männern bestimmten Gesellschaft, geht in diesem blutigen Karneval fast unter. Wir wollen indessen trotz dieser falschen ästhetischen Konsequenzen nicht den Grundgedanken aus den Augen verlieren: die Erfassung der Totalität des Wirklichen, von Natur und Leben. Aber die Widersprüche werden bei Hugo in Verkennung ihrer wirklichen Dialektik nur als unvermittelte Kontraste begriffen; die extremen Charaktere und Handlungen isolieren die Teilaspekte, anstatt sie zu verknüpfen und in Beziehung und Reflex das Ganze verdichtend widerzuspiegeln. Hugo hat gewußt, daß das neu in seinem Eigenwert begriffene Individuum auf jeder Stufe der Gesellschaftsordnung zu finden und somit künstlerisch relevant ist. Die Aufhebung der Gattungs- und Stilgrenzen fiel für ihn durchaus zuammen mit
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Ebda., S. 288. Ebda., S. 287. 157 Ebda., S. 290. 156
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der Aufhebung der Standesgrenzen. Aber die ästhetische Konsequenz war auch hier wiederum falsch, weil er auch hier das Heil nur in der Kombination extremster Gegensätzlichkeit erblickte, nach Marie Tudor, die sentimentale Aufhebung der Ständehierarchie. Was ich damit meine, wird deutlich, wenn wir einen Blick auf die Handlung eines weiteren Stücks von Hugo werfen, die 1833 geschriebene Marie Tudor. Die Handlung ist diesmal nicht in Akte, sondern nach spanischem Vorbild, in drei »journées« eingeteilt. Englische Edelleute unter Führung des spanischen Gesandten Renard wollen den italienischen Günstling der englischen Königin Marie Tudor stürzen. Sie versichern sich dazu der Hilfe eines Metallarbeiters namens Gilbert. Gilbert hat eine Verlobte, Jane, die von jenem Günstling, er heißt Fabiani, verführt worden ist. Gilbert hat durch aufgefundene Briefe entdeckt, daß Jane in Wahrheit die Tochter des unter Marie Tudors Vater hingerichteten Lord Talbot ist und daß ihre Güter von der Königin dem Fabiani geschenkt worden sind. Die Königin, von der Untreue ihres Geliebten Fabiani in Kenntnis gesetzt, will diesen aus Rachsucht dem Schaffott ausliefern. Zu diesem Zweck inszeniert sie mit Gilbert einen Mordversuch auf sich selbst, als dessen Anstifter Fabiani hingestellt wird. Fabiani wird zusammen mit Gilbert in den Kerker geworfen. Die Königin bereut ihren Entschluß alsbald, will Fabiani heimlich entfliehen lassen; dafür soll Gilbert geopfert werden, denn das Volk und der Adel wollen einen Toten haben. Jane aber, die ihren Fehltritt längst bereut hat, sorgt zusammen mit Renard dafür, daß der Richtige geköpft wird, nämlich Fabiani. Marie Tudor ist ein ganz und gar schlechtes Stück. Es hat alle Fehler des Hugoschen Theaters und fast keine seiner Qualitäten. Die Königin ist ein Scheusal, eine Messalina, die alles vernichtet, was ihren Lüsten in die Quere kommt. Sie will ihren untreuen Geliebten töten und ihn dann wieder ausgerechnet mit Hilfe der Frau, mit der diese Untreue begangen wurde, befreien, anstatt – wie es in der Konsequenz ihres Charakters gelegen hätte – zuerst diese Frau aus dem Wege zu räumen. Das ist nur eine der Unmöglichkeiten dieses Stücks. Kurios ist aber das sentimental-soziale Element. Jane, ein Findling, die Verlobte des Arbeiters Gilbert, läßt sich von dem Günstling der Königin verführen, ein paar Tage, bevor sie erfährt, daß sie aus einem der ältesten und höchsten Adelsgeschlechter Englands stammt. Als der großmütig verzeihende edle Gilbert sein Heiratsangebot trotzdem erneuert, lehnt sie dies mit den Worten ab, daß sie nur als seine Geliebte oder als seine Magd weiterleben wolle, denn sie, die Gräfin Waterford, habe das Recht verwirkt, die Frau des edlen Arbeiters Gilbert zu werden. Diese Umkehrung der sozialen Hierarchie auf der Ebene des Seelenadels ist sentimentalische Kolportage in bester Absicht, aber doch Kolportage, konstruiert, künstlich hergestellt aus einer Kette von Zufälligkeiten, deren Unwahrscheinlichkeit ihr jede Authentizität nimmt.
Ruy Blas, die Ambivalenz von Hugos Sozialkritik Ungleich besser übersetzt ist diese sozial-revolutionäre Tendenz in Ruy Blas, den Hugo 1838 zur Aufführung brachte. Mit Ruy Blas kehrte Hugo wieder zum spani94
schen Schauplatz zurück unter Anlehnung an den pikaresken Roman. Aber diesmal sind wir zweihundert Jahre später dran als in Hernani. Dort hatte ein noch renitenter, selbstbewußter Adel sich gegen eine Monarchie aufgelehnt, deren kraftvolle Vertreter das Land auf die Höhe seiner Macht führten. Jetzt, in Ruy Blas, sind die Vertreter des Adels zu Höflingen gezähmt, aber der Absolutismus steht auf hohl gewordenem Fundament. Die Stunde seines Endes ist nahe. Eine ganz neue, bisher geschichtslose Macht drängt nach oben: das Volk. Diese Situation bestimmt die Handlung. Im ersten Akt schmiedet ein mächtiger Herr und Minister Spaniens, Don Salluste, Rachepläne gegen die Königin Maria, deren Zorn er sich zugezogen hat, weil er eine ihrer Hofdamen verführt und sich geweigert hat, dieselbe zu ehelichen. Der Versuch, seinen unter falschem Namen seit Jahren ein Bohemienleben führenden Vetter Don César für seine Rachepläne einzuspannen, scheitert, weil dieser sich nicht dafür hergeben will. Don Salluste liefert seinen Vetter nach dessen Weigerung in die Hände von Seeräubern und läßt seinen Diener Ruy Blas, der Don César sehr ähnlich sieht, sich als diesen ausgeben. Ruy Blas übernimmt die Rolle, weil er sich seit langem in die Königin verliebt hat und nun hofft, auf diese Weise in ihre Nähe zu gelangen. Ruy Blas wird als Don César am Hof eingeführt. Er erwirbt das Vertrauen der Königin, ja, diese beginnt, ihn ob seiner Redlichkeit und Verehrung zu lieben. Ruy Blas wird ein Grande, wird zum Günstling der Königin, deren Gatte, Karl II., ein eitler Schwächling ist. Im Interesse der Königin und des Reichs demütigt Ruy Blas die selbstsüchtigen, nur auf ihren eigenen Vorteil bedachten Minister. Jetzt aber verlangt Don Salluste von seinem ehemaligen Lakaien die Durchführung seiner Rachepläne. Nach mehreren Versuchen, die Königin zu retten, sieht Ruy Blas keinen Ausweg mehr und entschließt sich, seinem Leben ein Ende zu machen. Als er gerade Gift nehmen will, erscheint die Königin. Sie weigert sich, aus der von Don Salluste gestellten Falle zu fliehen. Jetzt kommt Don Salluste, verlangt von ihr den Verzicht auf den Thron und enthüllt ihr, daß Ruy Blas in Wahrheit sein Diener ist. Dieser, verzweifelt erst und dann finster entschlossen, sticht Don Salluste nieder. Als die Königin sich weigert, ihm diesen Mord und seinen Betrug zu verzeihen, nimmt er das bereitstehende Gift und haucht in den Armen der jetzt ihre Liebe zu ihm bekennenden Königin seine Seele aus. Betrachtet man nur diesen äußeren Ablauf der Handlung und ihr trauriges Ende, so erscheint der Unterschied zu den übrigen Dramen Hugos nur gering. Auch hier steht das Groteske neben dem Sublimen. Als der den Seeräubern wieder entsprungene Don César im 4. Akt unter den komischsten Begleiterscheinungen wieder auftauchte und durch den Kamin in das Haus seines Vetters eindrang, begannen die Zuschauer schon bei den ersten Aufführungen zu pfeifen. Und doch ist dieses Stück Hugos sein bestes und das einzige, das auch heute noch aufgeführt wird. Der Ruy Blas ist das am stärksten politisch geprägte Drama Hugos. Das wäre nun freilich noch kein Grund für seine Qualität, sondern höchstens eine Erklärung für einen Tageserfolg. Aber Hugo ist es hier gelungen, das Theater nicht nur zur Tribüne für seine Ideen zu machen, sondern die politische Gärung seiner eigenen
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Zeit in eine dramatische Handlung mit achtbaren poetischen Qualitäten zu übersetzen. Längst waren Hugos kritikloser Royalismus und sein vorübergehender Bonapartismus der Einsicht gewichen, daß Reformen nottaten, daß die alten politischen Institutionen, zumal diejenigen der restaurativen Monarchie, der werdenden Industriegesellschaft nicht mehr gerecht werden konnten. Die Bekanntschaft mit den Schriften Fouriers und Saint-Simons führte ihn zur Beschäftigung mit dem Frühsozialismus und zu der Auffassung, daß die Zukunft dem Volk gehören würde. Es ist freilich eine sehr romantische Konzeption des Werkes, romantisch darin, daß – scheinbar paradox – das Bürgertum in seinem Theater gar nicht vorkommt. Noch kann das Bürgertum sich literarisch vom Volk repräsentieren lassen – und von dem historischen Augenblick an, da dies nicht mehr möglich ist, ist auch die Romantik zuende. Das »Volk« wird zur »classe dangereuse«. Hugo hat, kaum verschleiert, in seinem Vorwort die Parallele zwischen der eigenen Zeit und dem Spanien seines Dramas gezogen. Dieses Vorwort bringt nun eine interessante Ergänzung der Hugoschen Theaterkonzeption insofern, als der Autor auf die Schichtung des Publikums und dessen Bedürfnisse eingeht. Er unterscheidet die Frauen, die Denker und die Menge. Die Frauen interessieren sich für die Darstellung der »passion«, die »penseurs« für die Charaktere, die Menge für die Handlung: Tous veulent un plaisir; mais ceux-ci, le plaisir des yeux; celles-là, le plaisir du cœur; les derniers, le plaisir de l'esprit. 158
Dieser Typologie des Geschmacks entsprechen nach Hugos Meinung die drei verschiedenen Gattungen des Theaters: [...] le mélodrame pour la foule; pour les femmes, la tragédie qui analyse la passion; pour les penseurs, la comédie qui peint l'humanité. 159
Alle drei Forderungen sind berechtigt, und aus allen dreien ergibt sich das Gestaltungsprinzip des Dramas, in dem Hugo jene drei Formen zusammenfassen will: Les femmes ont raison de vouloir être émues, les penseurs ont raison de vouloir être enseignés, la foule n'a pas tort de vouloir être amusée. De cette évidence se déduit la loi du drame. 160
So ergänzt Hugo seine Theorie des Dramas als der höchsten, totalen Gattung durch eine Rechtfertigung von den Forderungen des Publikums her und bestimmt damit gleichzeitig die Funktion des Theaters: erschüttern, belehren, erfreuen; so wird das Drama, Komödie und Tragödie in sich aufnehmend, zur
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Victor Hugo, »Ruy Blas«, in: Théâtre complet (hrsg. Roland Purnal, J.J. Thierry), op.cit., Bd. 1, S. 1489 (»Préface«). 159 Ebda., S. 1489. 160 Ebda., S. 1490. 96
troisieme grande forme de l'art. [...] De cette façon, les deux électricités opposées de la comédie et de la tragédie se rencontrent, et l'étincelle qui en jaillit, c'est le drame. 161
Dann geht Hugo dazu über, den Sinn des Ruy Blas selbst zu erklären, und zwar zunächst, wie er sagt, unter dem Gesichtspunkt einer »philosophie de l'histoire«. Wenn eine Monarchie ihrem Ende zugeht – so expliziert Hugo -, dann löst sich die Politik in Intrigen auf, die Spitze der Gesellschaft degeneriert, alle Interessen werden kleinlich, partikulär, egoistisch. Eine Lähmung legt sich über die Gesellschaft. Im Gefühl, daß bald alles zusammenbricht, gelangt nur der Gedanke zur Herrschaft, möglichst viel von dem ruinösen Erbe zu profitieren. Der ungehemmte Eigennutz triumphiert hinter der aufrechterhaltenen Fassade. Der Adel teilt sich. Seine minderwertige Hälfte drängt hemmungslos zu Macht und Reichtum unter skrupelloser Ausnutzung der Umstände: On a de l'esprit, on se déprave, et l'on réussit [...] on prend tout, on veut tout, on pille tout. On ne vit plus que par l'ambition et la cupidité. 162
Die andere, bessere Hälfte des Adels zieht sich in die Schlösser zurück, angewidert von den Geschäften, resigniert vor dem Ende einer Welt, verschließt die Augen, ruiniert sich im Bedürfnis, das Leben noch erträglich zu machen im Genuß. Der verarmte Edelmann, von seinen Gläubigern verfolgt, wird zum Abenteurer und Bohemien. Dieser Zustand, so fährt Hugo beziehungsreich fort, wird von jeder Monarchie einmal erreicht. Dann bietet sich das gleiche Bild wie in Spanien Ende des 17. Jahrhunders. Die erste Hälfte des Adels, das ist Don Salluste, die zweite sein Vetter Don César. Aber neben diesen Gruppen und neben den diese Gruppen repräsentierenden Figuren, sieht man »im Schatten etwas Großes, Düsteres, Unbekanntes sich bewegen«: C'est le peuple. Le peuple, qui a l'avenir et qui n'a pas le présent; le peuple, orphelin, pauvre, intelligent et fort; placé très bas, et aspirant très haut; ayant sur le dos les marques de la servitude et dans le cœur les préméditations du génie; [...] Le peuple, ce serait Ruy Blas. 163
Über diesen drei Personen, in denen sich der Zustand der sterbenden Monarchie resümiert, steht als leuchtend reine Gestalt eine Frau, die Königin, in deren edlem Herzen, geweckt durch die Liebe, für die Zukunft ebenso Raum ist wie für die Vergangenheit. Sie wird zum Leitbild einer humanen Synthese, wie sie Hugo zu dieser Zeit noch vorschwebt:
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Ebda., S. 1490. Ebda., S. 1491. 163 Ebda., S. 1493. 162
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[...] penchée vers ceux qui sont au-dessous d'elle par pitié royale et par instinct de femme aussi peut-être, et regardant en bas pendant que Ruy Blas, le peuple, regarde en haut. 164
Ihr Gemahl aber, der König, [...] dans l'histoire comme dans le drame, [...] n'est pas une figure, c'est une ombre. 165
Auch er ist Symbol – Symbol des sterbenden Königtums. Hugo hat die zeitgenössische Wirklichkeit und seine persönlichen Hoffnungen in dieses Bild hineinprojiziert. Das Volk und die sterbende Monarchie, so wie Hugo sie hier analysiert, entsprechen nicht der noch intakten Ständegesellschaft des 17. Jahrhunderts in Spanien, entsprechen nicht der Statik der ständischen Welt, sondern ganz und gar der Dynamik der neuen Klassengesellschaft, die jede Monarchie zum Anachronismus werden läßt. Ja, die Analyse Hugos gilt – so simplifiziert sie erscheinen mag – im Grunde genau für die Welt der Romane Balzacs, der ja der Historiker seiner Zeit sein wollte. Dieser Aspekt gilt jedoch -wie Hugo weiter ausführt-nur für eine Seite des Werks. Drei Seiten, drei Schichten dagegen unterscheidet er; erst deren Gesamtheit konstituiert das Drama als ein Werk der Kunst: 1.) die philosophische, 2.) die menschliche, individuelle und 3.) die dramatische: Le sujet philosophique de Ruy Blas, c'est le peuple aspirant aux régions élevées; le sujet humain, c'est un homme qui aime une femme; le sujet dramatique, c'est un laquais qui aime une reine. 166
Diese Formulierung Hugos enthält eine bemerkenwerte theoretische Einsicht, die zu prinzipiellen Erwägungen Anlaß gibt. Das »sujet philosophique« ist hier das Volk, das danach trachtet, nach oben zu gelangen. Wir können diese »philosophische« Thematik auch die »allgemeine« geschichtliche nennen insofern, als sie den Grundzug der historischen Wirklichkeit, das heißt der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Zeit Hugos enthält, ihre Dynamik, nur transponiert in das Spanien des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Sollen dieser allgemeine Befund der Wirklichkeit und seine Konkretisierung im wichtigsten Bereich, dem Volk innerhalb der Gesellschaft, künstlerisch gedeutet werden, so muß er in eine menschliche Handlung, das heißt in interessierende, ja bewegende, Miterleben erzeugende Handlung zwischen Individuen übersetzt werden, in menschlich-individuelle Gefühle, die nachvollzogen werden können, die Identifikation erlauben, ja zwingend herstellen. Das ist das »sujet humain«, die Verwandlung des Allgemeinen in eine Beziehung zwischen Individuen: »un homme
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Ebda., S.1493. Ebda., S.1493. Ebda., S.1494.
qui aime une femme.« Damit diese menschliche Beziehung, die das Gefühl anspricht, überhaupt ansprechendes Geschehnis, überhaupt affizierende Handlung wird, muß es seine Kollisionen und seine Peripetien haben, das heißt den dramatischen Prozeß, der aus Widersprüchen und deren Aufeinanderstoßen lebt: »un laquais qui aime une reine.« Hugo hat richtig gesehen, daß erst die Gesamtheit dieser drei thematischen Schichten das Kunstwerk ausmacht. Er hat dies ausgesprochen. Was er nicht explizit gesagt hat und was ihm vielleicht auch nicht völlig klar war, ist, daß die beiden spezielleren Schichten, die menschlich-interessierende – die Liebe – und die dramatisch-kollidierende – Lakai-Königin – in ihren wesentlichen Elementen vom allgemeinen Thema, den Grundbestimmungen der Wirklichkeit bedingt, gestellt und ausgerichtet sein müssen. Hier hat die Praxis Hugos zu einem erheblichen Teil versagt. Dafür wollen wir ein Beispiel heranziehen. Der Diener Ruy Blas soll das aufbegehrende Volk repräsentieren. Es wäre logisch und konsequent und wahrscheinlich, wenn Ruy Blas, ohne erst die Person der Königin zu kennen, auf Don Sallustes Pläne einginge in der Absicht, mit seiner Person das Volk an die Macht zu bringen und die parasitäre Adels- und Ministerclique auszuschalten – so wie er es dann ja in der 2. Szene des III. Akts auch wirklich tut. Der menschliche Konflikt wäre dann erst und mit innerer Notwendigkeit in dem Augenblick entstanden, da seine politische Absicht im Stadium der Realisierung in Kollision mit der Liebe zur Königin geraten wäre, die doch letztlich jene verhaßte Ordnung institutionell repräsentiert, welche persönlichen Eigenschaften sie auch immer haben mag. Dadurch wäre ein echter dramatischer Konflikt entstanden, in dem sich die allgemein-thematische Schicht in der Tat authentisch und unlösbar mit der menschlich-persönlichen verbunden hätte. Die spezifische Erscheinungsform des Menschlichen in dieser Liebe wäre dann von Anfang an bedingt durch das Allgemeine- »Philosophische«. Statt so zu verfahren, hat Hugo seinen Helden sich schon als obskuren Diener in die ferne Königin verlieben lassen; und Ruy Blas' Entschluß, sich als Werkzeug Sallustes unter falschem Namen an den Hof bringen zu lassen, wird mit der geradezu grotesk anmuten den Absicht motiviert, die Liebe der Königin zu erringen. Das ist »Tausend und eine Nacht«. Die Sucht der Kontraste hat Hugo hier wieder einen Streich gespielt. Die Vermittlung zwischen der allgemeinen und der »menschlichen« Schicht ist hier schon im Ansatz verfehlt. Anders sieht es indessen aus, wenn wir das Verhältnis jenes allgemeinen Themas zur dritten Schicht, der »dramatischen«, wie Hugo sie nennt, betrachten. Soweit dies das Verhältnis Lakai – Königin im engeren Sinne betrifft, ist freilich auch hier eine Einschränkung im soeben angedeuteten Sinne zu machen. Nehmen wir aber die Königin als stellvertretend für Hof, Hochadel und Monarchie, dann stellt sich das ganze Problem anders dar. Um hier klarer zu sehen, müssen wir die Gestalt des Titelhelden noch einmal in Augenschein nehmen. Die Kritik ist mit dieser Figur ziemlich unsanft umgegangen und hat die Widersprüche in ihrem Verhalten und Handeln dem Autor fast immer als Fehler angerechnet. Sicherlich ist daran manches berechtigt. Dafür ein Beispiel. Ruy Blas, Minister, Günstling und Grande Spaniens geworden, kanzelt in einer großen politischen Rede voller historischer Kenntnisse und staatsmännischer Weisheit die habgierigen Großen des Reiches ab. Die Königin hat heimlich zugehört und fragt Ruy Blas anschließend, woher er 99
alle diese Kenntnisse habe, wie er sie sich erworben habe. Wenn schon die Königin, die ja Ruy Blas für einen echten Aristokraten hält, sich wundert, wie viel mehr dann der Zuschauer, der weiß, daß Ruy Blas noch vor wenigen Monaten Diener war. Die Antwort, die der Held gibt, ist nicht dazu angetan, die neue Weisheit Ruy Blas' glaubwürdiger zu machen. Er antwortet auf die Frage der Königin mit schlichtem Pathos: Parce que je vous aime! 167
Das Wunder der Liebe also ist's gewesen! Gewiß: Omnia vincit amor, aber das ist denn doch gar zu romantisch, und man nimmt es weder dem Helden noch dem Autor ab, so schön der Gedanke auch wäre, daß die Liebe allein alle Mühe des Studiums entbehrlich macht. Wie sieht es aber mit den anderen Widersprüchen im Charakter der Titelfigur aus? Zwei Dinge vor allem hat die Kritik Hugo vorgeworfen: der erste Tadel betrifft Ruy Blas' Servilität gegenüber Don Salluste; der zweite die Ermordung des wehrlosen Don Salluste durch den Helden am Schluß und dessen eigenen Selbstmord. Wir müssen uns dazu noch einmal die Rede Ruy Blas vor den Ministern vergegenwärtigen, eine Rede voller Klugheit, Kraft, Mut und Entschlossenheit – Entschlossenheit, das Reich von seinen falschen Führern und das darbende Volk von seinen Blutsaugern zu befreien. Kurz darauf aber, als Don Salluste von Ruy Blas die Durchführung seiner zynischen Rachepläne verlangt, windet sich Ruy Blas vor seinem ehemaligen Herrn auf den Knien, ein Sklave, einfallslos und ohne Kraft, den Schurken unschädlich zu machen: Ayez pitié de moi! grâce! ayez pitié d'elle! Vous savez que je suis un serviteur fidèle. 168
Die Großen des Reichs hat er gedemütigt wie ein echter Volksheld; vor dem einstigen Herrn, der ihn geprügelt hat, wann es ihm einfiel, gewinnt die Bedientenseele wieder die Oberhand, die Lakaienmentalität. Und wenn er am Schluß die Kraft aufbringt, Don Salluste zu töten, so geschieht dies nicht etwa aus dem Bewußtsein heraus, daß er Reich, Königin und Volk von diesem skrupellosen Aristokraten befreien muß, sondern aus Verzweiflung darüber, daß Don Salluste der Königin seine plebejische Herkunft enthüllt hat. Eine restaurativ oder reaktionär orientierte Kritik hat diese Widersprüche entweder hämisch als Schwächen deklariert oder aber die demokratische Grundtendenz des Stückes entschärft, indem sie die ganze Problematik auf die isolierte Individualität des Helden mit seinen Leidenschaften, Schwächen und Stärken, reduzierte und eben diese unverbindliche Mischung »schön« rührend und ergreifend fand. Die liberal und demokratisch orientierte Kritik, die »linke« sozusagen, begrüßte das Stück; ihre entschiedensten, aktivsten Vertreter freilich waren peinlich berührt, zu-
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Ebda., S.1585. Ebda., S.1596. 100 168
mal, nachdem die Zeit des romantischen Sozialismus vorbei war. So wird das Urteil Emile Zolas (1840-1902) verständlich. Als Ruy Blas 1872 und 1879 wieder aufgeführt wurde – nachdem Napoleon III. das Stück verboten hatte – und es für den aus dem Exil heimkehrenden Hugo zu einem Erfolg wurde, wahrscheinlich dank Sarah Bernard (1844-1923) in der Rolle der Königin, da reagierte Zola mit einer bissigen Kritik, die in den Roman expérimental, 1880, einging. Zola rühmte zwar die großen sprachlichen, vor allem lyrischen Schönheiten des Stücks, ließ jedoch an Handlung und Titelheld kein gutes Haar. Hugos Erklärung – gegeben im Vorwort – erscheint Zola wie ein schlechter Witz: Le plus singulier, c'est que Victor Hugo a eu la prétention de cacher un symbole sous le lyrisme de Ruy Blas. [...] On sait combien les symboles sont complaisants; on en met où l'on veut, et on leur fait signifier ce qu'on veut. Seulement celui-ci, en vérité, se moque par trop du monde. [...] Ruy Blas est un bohème, un déclassé, un inutile, jamais il n'a été le peuple! [...] Que devient le fameux symbole? Si le peuple se tue sottement, sans cause aucune, après avoir supprimé la noblesse, la société est finie. On sent ici la misère de cette intrigue extravagante, qui devient absoluement folle, dès que le poète s'avise de vouloir lui faire signifier quelque chose de sérieux. 169
Und weiter: [...] Ruy Blas [...] n'est qu'un chevalier d'industrie, qui dans la vie réelle, passerait en cour d'assises. 170
Und abschließend: Au fond Ruy Blas n'est qu'une monstrueuse aventure, qui sent le boudoir et la cuisine. Victor Hugo a beau emporter son drame dans le bleu du lyrisme, la réalité qui se trouve par-dessous est infâme. 171
Was Zola Victor Hugo vorwirft, ist also der Umstand, daß das Volk hier durch einen Helden vertreten wird, ja symbolisiert wird, dessen Handeln nicht von den Interessen, ja nicht einmal vom Bewußtsein des Volks bestimmt wird, sondern allein von partikulären, persönlichen Motiven, denen keine Verbindlichkeit innewohnt. Für Zola ist Ruy Blas ein »chevalier d'industrie», ein Hochstapler, der sich nach oben mogelt, wobei es gleichgültig ist, ob die treibende Kraft dabei die Liebe – eine ohnehin zugleich nach Boudoir und Küche riechende Liebe – oder persönlicher Ehrgeiz ist. Und nicht nur das: Für den demokratischen und sozialistischen Schriftsteller Zola kann kein dramatischer Held Symbol des Volkes sein, wenn dieser Held nach der Beseitigung des Gegners Selbstmord begeht, denn das bedeutet, wie Zola deutlich macht, daß das Volk nach der Ausschaltung der herrschenden Klasse sich freiwillig und grundlos
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Émile Zola, Le Roman expérimental (hrsg. Aimé Guedj), Paris 1971, S.105. Ebda., S.106. 171 Ebda., S.106. 170
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seines geschichtlichen Anspruchs begibt. Für Zola ist Ruy Blas daher ein » déclassé «, ein Deklassierter im Sinne von »klassenflüchtig«. Wir müssen uns nun fragen, ob Victor Hugo diese Vorwürfe in ihrer ganzen Schärfe verdient hat. Und wir müssen uns ebenso fragen, ob mit dieser Kritik auch das ästhetische Urteil über Ruy Blas gesprochen ist. Dabei ist zunächst einmal festzustellen, daß Zola sein politisches Weltbild, und das heißt das fortgeschrittene demokratische Weltbild der Zeit um 1870 auf die Epoche der Restauration überträgt und als Maßstab an ein Werk des Jahres 1838 anlegt. Das heißt praktisch: Er verlangt von Hugo wie von dessen Helden den äußerst möglichen Bewußtseinsgrad einer Generation, die inzwischen die Revolution von 1848, den Aufstand der Pariser Kommune und die rapide Entwicklung der Industriegesellschaft miterlebt hat. Er fordert also entschieden zuviel; er verlangt von Hugo die Zugrundelegung einer gesellschaftlichen Wirklichkeit – und zu dieser Wirklichkeit gehört durchaus auch das Bewußtsein neben dem Sein -, die noch gar nicht existierte. Und wir müssen jetzt fragen, ob die von Zola derart kritisierten Züge nicht doch – wenigstens zum Teil – gerade der Wirklichkeit von 1838 adäquat sind. Die Wahl des Stoffes schloß natürlich eine quasi direkte Übernahme der zeitgenössischen politischen Verhältnisse aus. Der dritte Stand im engeren Sinne, Volk und Kleinbürgertum, welche die große Revolution durchgeführt hatten, war vom Empire und erst recht von der Restauration um die Früchte seines Sieges betrogen worden, und zwar durch die restaurierte Monarchie im Verein mit dem Großbürgertum, einem Großbürgertum, das die Besitztümer des emigrierten oder ausgerotteten Adels zu Schleuderpreisen aufgekauft hatte. Der gleiche Vorgang wird sich, diesmal ganz im Zeichen einer kapitalistischen Großbourgeoisie, nach der Revolution von 1848 wiederholen. Der spanische Lakai Ruy Blas konnte weder das entstehende Industrieproletariat des 19. Jahrhunderts noch etwa einen Figaro à la Beaumarchais repräsentieren. Und doch lebt gerade in dem vielgetadelten, scheinbar unverständlichen Verhalten Ruy Blas' der historische Widerspruch in einer doppelten Weise: Ruy Blas ist vom intriganten Adel an die Spitze gebracht worden, um, als Vorwand und Mittel zugleich, das Königtum den Interessen dieses Adels gefügig zu machen. Aber Don Salluste wird von seinem Diener schließlich getötet. Der Adel hat seinen eigenen Widerspruch gezeugt und als eigene Antithese gesetzt. Hugo hat hier durchaus ein wesentliches Moment der geschichtlichen Dialektik in seine Gestalten übersetzt. Das zeigt sich auch an dem zwiespältigen Charakter Ruy Blas', der einmal die Großen des Reichs entmachtet, um dann wieder vor seinem Herrn, Don Salluste, zu kriechen. Er verkörpert Größe und Schwäche des Volks, eines Volks, das nach seinem einzigartigen revolutionären Aufbruch erneut in die Niederungen der Gesellschaft zurückkehren mußte, dem die jahrhundertelang anerzogene Bedientenseele jetzt wieder zum Schicksal zu werden schien. Der erbärmliche Rückfall Ruy Blas' in die Sklavenmoral hat sehr konkrete historische Bezüge einer erneuten existentiellen Abhängigkeit, diesmal nicht mehr vom herrschenden Stand, sondern von dem reaktionären Bündnis von Aristokratie und Geldbourgeoisie. So erklärt sich das gespaltene Bewußtsein des Ruy Blas. Und Zola hätte ihm und seinem Autor die Gespaltenheit so wenig vorwerfen dürfen wie seinen Selbstmord, denn dieser Selbstmord bestätigt – wiederum übersetzt – nur jene historische Schwäche des Volkes von 1838. Zola hatte zwar die 102
Symbolik begriffen, die in der Tötung Don Sallustes durch Ruy Blas, des Unterdrückers durch den Unterdrückten, lag, aber er hatte kein Organ für den bemerkenswerten Umstand, daß Hugo, der sonst so romantisch-pathetische Dichter, hier auf eine Glorifizierung seines Helden verzichtete, daß er ihn nicht nur aus Verzweiflung über sein Scheitern sterben ließ, sondern ihn seinen Gegner auf eine sehr wenig honorable Weise, gleichsam mit den Mitteln des Volkes, ohne aristokratischen Ehrenkodex, erledigen ließ, in vollem Bewußtsein dessen, was er tut: Monseigneur, nous faisons un assemblage infâme. J'ai l'habit d'un laquais, et vous en avez l'âme! 172
Auf Sallustes Ruf nach einem Schwert hat Ruy Blas nur noch grausamen Hohn übrig; der nunmehr von seinem Lakaien geduzte Marquis ist bereits ins Nichts gestoßen: Marquis! tu railles! Maître! est-ce que je suis un gentilhomme, moi? Un duel! fi donc! je suis un de tes gens à toi, ... Un maraud qu'on châtie et qu'on fouette – et qui tue! Oui, je vais te tuer, Monseigneur, vois-tu bien? Comme un infâme! comme un lâche! Comme un chien! 173
Und den Ausruf Don Sallustes: Je meurs assassiné! Démon!
korrigiert Ruy Blas kalt: Tu meurs puni! 174
Ein mißbrauchter und geprügelter Lakai braucht keinen Ehrenkodex, der ihm ja auch sonst vorenthalten war, und sein Töten ist Strafen. Zola hat diese Dinge nicht gesehen, weil er allein vom demokratischsozialistischen Aktivismus seiner Zeit her urteilte. Wir können indessen nach den soeben angestellten Betrachtungen sagen, daß die Widersprüche im Charakter des Titelhelden nicht einfach dem Autor als Fehler, sondern eher als Stärke anzurechnen sind. Wenn wir eingangs feststellen mußten, daß die Liebe des Lakaien zur fernen Königin die Vermittlung vom Allgemeinen zum Dramatischen verfehlte – Zola nannte den Ruy Blas wegen dieser phantastischen Anfangskonstellation einen »conte de fées« 175, so gilt ein Gleiches nicht mehr für den Schluß. Hier löst die Liebe, bzw. der Schiffbruch in der Liebe, die Rückkehr zum revolutionärdemokratischen Impuls in durchaus glaubhafter Weise aus. Die Transformation
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op.cit., S. 1652. Ebda., 5.1655. 174 Ebda., 5.1656. 175 Émile Zola, Le Roman expérimental, op.cit.,S.105. 173
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des »Allgemein-Philosophischen«, das heißt der Grundbestimmungen der Wirklichkeit, in die menschlich-individuellen und dramatischen Vorgänge ist hier durchaus gelungen. Das sind auch die eigentlichen Gründe dafür, daß man in Ruy Blas bei allen Schwächen doch das beste unter den Theaterstücken Victor Hugos sehen darf. Es ist indessen noch nicht sein letztes.
Les Burgraves, die Aporie des Kolossalen 1838 machte sich Hugo auf seine schon länger geplante Reise längs des Rheins. Und wie zu erwarten, war er, der Romantiker, hingerissen von den Burgruinen und den Legenden, die sich um deren einstige Insassen gebildet hatten. Aus den Eindrücken dieser Reise erwuchs der Plan zu einem neuen Drama, betitelt: Les Burgraves (Die Burggrafen), 1843. Oft stieg Hugo abends zu einer verwitterten Ruine empor, um sich den obligaten Rêverien hinzugeben. Er schildert diese Erlebnisse im Vorwort der Burgraves, Erlebnisse, die offensichtlich bereits von der literarischen Konzeption vorgeprägt waren: [...] au moment où le crépuscule ôtait leur forme aux collines et donnait au Rhin la blancheur sinistre de l'acier, il prenait, lui, le sentier de la montagne, [...] et il montait jusqu'au burg démantelé. Là, seul comme le matin, plus seul encore [...] perdu dans l'obscurité, il se laissait aller à cette tristesse profonde qui vient au cœur quand on se trouve, à la tombée du soir, placé sur quelque sommet désert, entre les étoiles de Dieu, qui s'allument splendidement au-dessus de notre tête, et les pauvres étoiles de l'homme, qui s'allument aussi, elles, derrière la vitre misérable des cabanes, dans l'ombre, sous nos pieds. 176
In einer Vision verbinden sich Landschaft und Legende, Geschichte und Natur für den Betrachter, der sich diesen Eindrücken hingibt. [ ...] debout dans quelque brèche du donjon, songeant, regardant, examinant l'attitude de la ruine, étudiant, témoin importun peut-être, ce que la nature fait dans la solitude et dans les ténèbres; écoutant, au milieu du fourmillement des animaux nocturnes, tous ces bruits singuliers dont la légende a fait des voix; contemplant, dans l'angle des salles et dans la profondeur des corridors, toutes ces formes, vaguement dessinées par la lune et par la nuit, dont la légende a fait des spectres. 177
Diese Landschaft aus Ruinen, Gewölben, Wald, Mond, Sternen und Nacht bevölkert die Legende, belebt sie, füllt sie mit gigantischen, aufsässigen Rittern und mit der gewaltigen Figur des »dormeur impérial de Kaiserslautern«, 178 dem Jupiter unter diesen Giganten, »Frédéric Barberousse«. 179
176
Victor Hugo, » Les Burgraves«, in: Théâtre complet (hrsg. J. J. Thierry, Josette Mélèze), op.cit., Bd. 2, S.15 (»Préface«). 177 Ebda., S. 15f. 178 Ebda., S. 18. 179 Ebda., S. 18. 104
Nicht zufällig vergleicht Hugo den Kaiser mit dem Jupiter der Gigantomachie. Er vergleicht auch das Land am Rhein mit dem Thessalien des Äschylos. Hier, am Rhein, haben vor sechs Jahrhunderten andere Giganten gegen einen anderen Jupiter gekämpft: die Burggrafen gegen den Kaiser. Die Titanen der Antike sind Mythologie, die Burggrafen aber Menschen, sie sind unsere Väter, sie sind wirklich. Und so verschmilzt für Hugo die Gesamtheit dieser Eindrücke zum Konzept eines umfassenden Dramas: Ainsi l'histoire, la légende, le conte, la réalité, la nature, la famille, l'amour, des moeurs naïves, des physionomies sauvages, les princes, les soldats, les aventuriers, les rois, des patriarches comme dans la Bible, des chasseurs d'hommes comme dans Homère, des Titans comme dans Eschyle, tout s'offrait à la fois à l'imagination éblouie de l'auteur dans ce vaste tableau à peindre, et il se sentait irrésistiblement entraîné vers l'œuvre qu'il rêvait, [...]. 180
Wieder schwebte ihm ein Kolossaldrama vor, heroisch, sublim, pathetisch, Epos und Drama vereinigend: [...] commencer par l'épopée et finir par le drame. 181
Hugo hat seine Deutschlandreise nicht auf den Rhein beschränkt. Er wußte auch, was man dem Neckar schuldig ist, und ging deshalb nach Heidelberg. Nachhaltig beeindruckt von der Landschaft, fand er deren Tiefe auch in den Gesichtern der Heidelberger Studenten wieder: Je rencontre en chemin des groupes d'étudiants de cette grande université de Heidelberg, nobles et graves jeunes hommes dont le visage pense déjà. 182
Hugo war halt doch ein großer Romantiker! Es waren aber auch hier weniger die Lebendigen als vielmehr die Toten, die ihn interessierten und die er in der Landschaft wieder auferstehen sah. Hugo hat diese Eindrücke wie diejenigen seiner ganzen Reise in einem umfänglichen Bericht geschildert, den er in Briefform unter dem Titel Le Rhin, 1842, veröffentlichte. Eines Tages kommt Hugo nach Neckarsteinach. Vier Burgen auf einmal! Kein Wunder, daß er öfter hingeht, daß ihn das Schwalbennest besonders anzieht, in dem einst der Raubritter Bligger, genannt »die Geissel«, hauste, ein Riese in den Armen eines Schmiedes, der, vom Kaiser verbannt, sich gegen alle Feinde siegreich wehrte, der, vom Papst exkommuniziert und von seinen Freunden und Rittern verlassen, einsam solange in seinem Burghof hin- und herläuft, bis er tot umfällt. Victor Hugo hat diese Legende in den Burgraves verwendet. Die Landschaft um Heidelberg hat also einen erheblichen Anteil an Hugos dramatischer Konzeption. Der Schauplatz der Burgraves ist indessen die Burg Heppenheff am Rhein. Dort hausen vier Generationen eines alten Rittergeschlechts: der
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Ebda., S.18. Ebda., S. 19. 182 Victor Hugo, »Heidelberg«, in: Le Rhin (Charpentier et Fasquelle), Paris o. Datum, Bd. 3, S.22. 105 181
hundertjährige Job und sein achtzigjähriger Sohn Magnus, zwei alte Recken und, mit ihnen stets in Streit lebend, der Enkel Hatto und der Urenkel Gorlois, beide degeneriert, ohne Gefühl für Ehre, ihr Leben mit Besäufnissen verbringend. Der Enkel Hatto ist mit einer Verwandten, der zarten, schönen, aber schwer kranken Regina verlobt. Regina aber liebt nicht den Hatto, sondern einen Knappen namens Otbert, der in Wahrheit ein verspäteter illegitimer Sohn des alten Job ist, ein Umstand, der ihm jedoch unbekannt ist. Reginas Krankheit könnte nur von der alten Zauberin Guanhumara geheilt werden, die in dunklen Höhlen Zaubertränke aus Menschenknochen kocht. Guanhumara aber hat eine alte Rechnung mit Job zu begleichen, weil dieser einst in seiner Jugend aus Eifersucht ihren Geliebten, seinen eigenen Bruder, ermordet hat. Otbert, der seine Regina liebt wie diese ihn, erhält von Guanhumara das Versprechen, Regina von ihrer Krankheit zu heilen, wenn er sich verpflichtet, den alten Job umzubringen. Regina wird geheilt. Job ist über die Genesung der von ihm väterlich bzw. urgroßväterlich geliebten Regina so glücklich, daß er sie entlobt und Otbert zur Braut gibt, das Paar aber auffordert, vor der Rache Hattos zu fliehen. Kurz zuvor hat Job, dem alten ritterlichen Gesetz der Gastfreundschaft gehorchend, einen greisen Bettler mit großen Ehren empfangen. Dieser Bettler, der schon auffällig seltsame Reden geführt hatte, erscheint jetzt plötzlich wieder und gibt sich zu erkennen. Da staunt der Zuschauer nicht weniger als die Burggrafen: Er ist kein geringerer als der längst für tot gehaltene Kaiser Barbarossa in Person. Der achtzigjährige Magnus will sich auf ihn stürzen: Endlich hat er den Todfeind seines Geschlechts in den Händen, den Kaiser, der die feudale Selbstherrlichkeit der Burggrafen gebrochen hatte. Aber Job hindert ihn daran, die Rache an einem Wehrlosen zu vollziehen, ja er beugt vor dem Kaiser das Knie und veranlaßt alle anderen, sich ihm gefangen zu geben. Er selbst erhält von Barbarossa den Befehl, sich nachts in ein Gewölbe der Burg zu begeben, und zwar an den gleichen Ort, an dem Job in seiner Jugend den eigenen Bruder Donato, den Geliebten Guanhumaras, mit einem Dolch durchbohrt hat. Unter furchtbaren Gewissensqualen steigt der hundertjährige Job in das Gewölbe hinab. Dort erscheint Guanhumara vor ihm, erinnert ihn an sein Verbrechen und verkündet ihm, daß sein eigener Sohn Otbert ihn töten werde. Kurz darauf tritt Otbert auf. Guanhumara hat Regina durch einen Zaubertrank in Ohnmacht versetzt und will sie erst wieder zum Leben erwecken, wenn Otbert den versprochenen Mord an Job vollzogen hat. Job erklärt sich bereit zu sterben. Als Otbert jedoch die Mordwaffe zückt, erscheint plötzlich Barbarossa auf dem Plan und verkündet, daß er selbst der angeblich ermordete Donato und Bruder Jobs sei. Guanhumara, deren Leben nur noch der Rache gewidmet war, verübt Selbstmord – aus! Guanhumara wirkt wie eine Eumenide; sie ist eine Rachegöttin, ins Riesenhafte aufgetrieben wie alle Figuren dieses Dramas. Die Namen hat Hugo aus allen möglichen Legenden zusammengeholt. So ist Hatto z. B. der Name eines Erzbischofs von Mainz, von dem erzählt wurde, daß er sein ausgehungertes Volk in einer Scheune ausräuchern ließ und selbst schließlich von Ratten aufgefressen wurde. Hugo hat in den Burgraves einen geschichtlichen Prozeß darstellen wollen, der mehrere Jahrhunderte gedauert hat: die Zähmung der Feudalität durch die monarchische Gewalt; die Heldentaten und die Sünden vieler Geschlechter sind hier auf 106
vier Generationen und eine Handlung zusammengepreßt. Es handelt sich also um einen epischen Stoff, der schlechthin nicht dramatisierbar war. In allzu vielen Monologen, die notwendig sind, um den Sinn des ganzen Geschehens zu verdeutlichen und eine ferne Vergangenheit hereinzuholen, geht die Dramatik verloren. Hugos Drang ins Kolossale hat hier Schiffbruch erlitten, weil alles kolossal und titanisch werden sollte: der Trotz, der Heldenmut, der Haß, die Rache, die Degeneriertheit, der Kaiser. Diese Familientragödie aus dem deutschen Mittelalter wurde ein eindeutiger Mißerfolg, der sich schon bei der Premiere abzeichnete. Sie fand im Jahre 1843 statt. Wenig später bejubelte das Publikum des gleichen Theaters ein Stück von François Ponsard (1814-1867), eine Lucrèce, ein schlechtes Stück, das aber gebaut war wie eine klassische Tragödie. Man war des strapaziösen romantischen Theaters schon müde geworden. Jedoch war das nicht der Hauptgrund für das Ende dieser Gattung. Doch dazu später. Auch Hugo hatte jetzt selber genug davon. Erst viele Jahre später -1882 – schrieb er noch ein weiteres Drama mit dem Titel Torquemada. Titelheld ist ein gleichnamiger spanischer Großinquisitor. Thema: der Religionsfanatismus. Es ist nie aufgeführt worden, und wir können auf eine Besprechung verzichten.
Alexandre Dumas père: Antony – die Verlagerung des romantischen Dramas in die Gegenwart Victor Hugo war sowohl als Theoretiker wie als Praktiker die beherrschende Gestalt des romantischen Dramas. Neben ihm aber feierten auch einige andere Romantiker zeitweilig Triumphe auf der Bühne, und drei von ihnen müssen wir uns noch etwas näher ansehen. Der eine ist der Vater der unverwüstlichen Drei Musketiere und Erfinder des Grafen von Monte Christo und Inhaber der größten Romanfabrik aller Zeiten: Alexandre Dumas père (1802-1870). Dumas, Sohn eines Revolutionsgenerals und Enkel eines Kreolen und einer Negerin aus San Domingo, begann seine literarische Laufbahn mit miserablen Gedichten. Seine Produktivität ist ebenso staunenerregend wie die Schnelligkeit, mit der er seine Einkünfte – er verdiente Millionen – wieder verschleuderte. Daß er die nötige Zeit fand, soviel Geld wieder auszugeben, läßt sich eben nur aus seinem Fabrikationsgeheimnis erklären: Bei seinen Romanen gab er meist nur die Handlung an und ließ die einzelnen Teile durch Angestellte ausführen. Bei diesem literarischen Großbetrieb ist es möglich geworden, daß sich das Gesamtwerk Dumas, rein quantitativ gesehen, auf rund 25 Bände Theater und circa 250 Bände Romane beläuft. Seinen ersten Theatererfolg hat er 1829 mit dem historischen Drama Henri III et sa Cour, dem in der Folgezeit zahlreiche weitere Stücke folgen. Der große Wurf, den die Literaturgeschichte nicht übersehen darf, gelingt ihm im Jahre 1831 mit dem Drama Antony. Der gleiche Mann, der mit so großem Erfolg das Prinzip der werdenden Industriegesellschaft, nämlich die Ausnutzung des Mehrwerts durch entsprechende Arbeitsteilung, auf die Literatur übertrug, dieser gleiche Mann hat seinen Helden Antony, einen echt romantischen Helden, an der falschen Moral dieser Gesellschaft schei107
tern lassen und diese dabei deutlicher entlarvt als die meisten seiner romantischen Dichterkollegen. Antony ist ein Findelkind, und daher ist er in dieser Gesellschaft ein Deklassierter. Das Motiv des Findelkinds ist durchaus romantisch, ist eine Variante der Fatalität, die ihre düsteren Schatten schon bei der Geburt über den romantischen Helden wirft. Und wie dieser stets – das wissen wir schon -, so wird auch für Antony dieser Unstern, der über seinem Schicksal waltet, zum Ausweis der eigenen Singularität, wird zur Legitimation eines von glühender Leidenschaftlichkeit bestimmten Individualismus. Antony hat zunächst auf seine große Liebe Adèle verzichtet, weil er ihr seine obskure Herkunft nicht einzugestehen wagte. Aber sein Fatum, das ihn diese Leidenschaft zuerst zurückstauen hieß, bewirkt, daß er einige Jahre später Adèle wieder begegnet. Sie ist inzwischen mit einem Oberst namens Hervey verheiratet und hat ein Kind. In Antony erwacht jetzt die alte Liebe stärker denn je; er zwingt die aus Tugend widerstrebende Adèle geradezu, seine Geliebte zu werden. Adèles Flucht vor der Leidenschaft ist vergebens. Aber sie weigert sich, mit Antony zu fliehen und damit ihre Tochter mit der Unehre der Mutter zu beladen, die Weigerung selbst ist also wieder von der Moral der Gesellschaft bedingt; freilich, der Tod ist ihr lieber, als ohne Liebe weiterzuleben. Antony, verzweifelt wegen dieser letzten Tükke seines Schicksals, erdolcht die Geliebte. Die Wirkung dieses Stücks auf die Zuschauer muß ungeheuer gewesen sein. Neben Antony, dem homme fatal, Adèle, die faible femme par excellence, die hingebende Frau als Opfer des fatalen Helden erstmals auf der Bühne. Théophile Gautier beschreibt 1867 die Wirkung: La passion brûlante de la pièce avait incendié tous les cœurs. Les jeunes femmes adoraient Antony; les jeunes gens se seraient brûlés la cervelle pour Adèle d'Hervey. 183
Diese Resonanz erklärt sich dadurch, daß Antony alle Qualitäten und Schwächen des romantischen Dramas in sich vereinigt, darüber hinaus jedoch in der Tat etwas Neues bringt, genauer gesagt, zwei sehr wesentliche neue Dinge: 1.) Adèle, deren Ehe banal verläuft und keineswegs glücklich ist, stellt erstmals die Gestalt der femme incomprise auf die Bühne. Damit ist ein neuer Typus kreiert, ein neues Element in der uralten Themenkonstellation der Liebe, an dem neue Wirklichkeitsbezüge sich kristallisieren können. Es wäre der Untersuchung wert, warum die femme incomprise gerade jetzt, aus welchen Gründen, als Typus geboren wird. 2.) Das romantische Drama ist fast durchweg historisches Drama – entsprechend dem neuen geschichtlichen Weltbild der Romantik und entsprechend der Orientierung an Shakespeare und Walter Scott. Und auch die vorausgehenden Stücke Dumas' waren historische Dramen. Der Antony aber verlagert den Schauplatz in die Gegenwartsgesellschaft. Es ist dies – wenn auch ohne vergleichbare Tragweite, der gleiche Schritt, den Balzac, sich vom Vorbild Walter Scotts lösend, im Roman tun wird.
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Théophile Gautier, Histoire du romantisme, op.cit., S. 167. 108
Victor Hugo hatte die Wahl historischer Stoffe einmal damit gerechtfertigt, daß für den Zuschauer eine Distanz zwischen das Bühnengeschehen und die zeitgenössische Wirklichkeit gelegt werden müsse, damit der Zuschauer nicht allzu direkt und peinlich berührt werde. Der Erfolg des Antony aber beruhte gerade auf der Tilgung dieser Distanz: Das Recht des romantischen Individuums auf Leidenschaft wurde hier an der engstirnigen Gesellschaft der Zeit selbst demonstriert. Und alle, die unter ihr litten, eingestanden oder uneingestanden, fühlten sich angesprochen von der gewitterhaften Stärke eines Gefühls, für das kein Platz in dieser Gesellschaft schien. Der kritische Betrachter wird einen Teil der Schuld an dem tragischen Ausgang durchaus dem Helden selbst zumessen – von Dumas war es indessen nicht so gemeint, und das Publikum hat im Sinne des Autors reagiert. Der romantische Held und sein Glück zerbrechen an der Scheinmoral einer Gesellschaft, die schon die von Flaubert so gehaßten Züge der bêtise bourgeoise trägt.
Alfred de Vignys Chatterton, die Apologie des romantischen Genies Vier Jahre später bringt ein großer romantischer Dichter, der uns noch als Lyriker und Erzähler beschäftigen wird, ein Theaterstück auf die Bühne des Théâtre Français, das eine ähnlich direkte und konkrete Beziehung zur zeitgenössischen Wirklichkeit aufweist wie der Antony. Dieser Dichter heißt Alfred de Vigny, und sein bestes Theaterstück ist Chatterton, 1835. Vigny wurde 1797 als Sohn einer nur mäßig begüterten Adelsfamilie geboren, deren Traditionen vom Ancien Régime geprägt waren; und die Vergangenheit lag wie ein die Zukunft verdüsternder Schatten über diesem Menschen. Vignys Grundzug ist der Pessimismus, eine Resignation, deren Schmerzlichkeit sich bei diesem spröden, scheuen Menschen niemals wie bei den meisten anderen Romantikern in der direkten Ich-Aussage Ausdruck gab. Vigny mußte bittere Enttäuschungen erfahren: Nach einer freudlosen, nur von intensiver Lektüre erhellten Jugend lernte er das Soldatenleben von seiner ödesten Seite kennen, bis er als Offizier den Dienst quittierte. Seine Ehe mit einer Engländerin litt unter der lebenslänglichen Krankheit der Frau; seine Leidenschaft für die Schauspielerin Marie Dorval (1798-1849) trug ihm mehr Qualen als Freuden ein. Die Revolution von 1830 enttäuschte auch noch seine politischen Hoffnungen, und kurz darauf schrieb er die für sein ganzes Werk charakteristischen Verse: Je ne sais d'assurés, dans le chaos du sort, Que deux points seulement, la souffrance et la mort. 184
Vigny ist überzeugt von der Grausamkeit der Natur und von der Unerbittlichkeit, mit der Gott den Menschen dem willkürlichen Spiel des Schicksals ausgeliefert hat. Und in der Erzählung Stello, 1831, schreibt er:
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Alfred de Vigny, »Livre moderne«, in: Œuvres (hrsg. F. Baldensberger), op.cit., Bd. 1, S. 115. 109
[...] qu'attendre d'un monde où l'on vient avec l'assurance de voir mourir son père et sa mère? D'un monde où de deux êtres qui s'aiment et se donnent leur vie, il est certain que l'un perdra l'autre et le verra mourir? 185
Angesichts solcher condition humaine, in welcher – wie Vigny an anderer Stelle sagt – »die Hoffnung die allergrößte unter unseren Torheiten ist«, 186 bleibt nur noch eins übrig: männlich und anständig durchzuhalten. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Vigny einsam auf dem Land, immer mehr verschlossen in seiner tour d'ivoire, seinem Elfenbeinturm, wie er dieses Leben mit einem Ausdruck benannte, mit dem bis heute die Isolation des Dichters belegt wird. Vigny starb 1863. Vigny war ein Bewunderer Shakespeares, dem er auf der französischen Bühne Heimatrecht geben wollte. Er hat deshalb zuerst – zusammen mit Emile Deschamps (17911871) -Romeo und Julia (1839) übersetzt und 1829 französische Versionen des Othello und des Kaufmann von Venedig angefertigt. Zwei Jahre später brachte er ein eigenes historisches Drama heraus: La Maréchale d'Ancre, 1831. 1835 glückte ihm dann ein großer dramatischer Wurf: Chatterton, drei Akte in Prosa. Drei Jahre zuvor hatte Vigny einen philosophischen Roman geschrieben – Stello -, dessen Titelheld ein vom Weltschmerz überfallener Künstler ist, ein genialer Dichter, der sich an einen befreundeten Arzt wendet, um Heilung vom Leiden an der Welt zu finden. Dieser Arzt, der Doktor Noir, erzählt Stello drei Geschichten, welche die Auffassung illustrieren sollen, daß der echte Dichter in jeder Gesellschaft ein Verdammter sei. Ein Jahr zuvor hatte Vigny in einem Brief (30. März 1831 an Brizeux) diesen Gedanken folgendermaßen formuliert: Les parias de la société sont les poètes, les hommes d'âme et de cœur, les hommes supérieurs et honorables. Tous les pouvoirs les détestent, parce qu'ils voient en eux leurs juges, ceux qui les condamnent avant la postérité. 187
In aller Deutlichkeit ist hier das stets prekäre Verhältnis der Dichtung zu den Inhabern der Macht formuliert – und umgekehrt. Die drei Geschichten des Doktor Noir erzählen Leiden und Tod von drei Dichtern. diejenige von Gilbert, der unter Ludwig XV. im Elend gestorben sein soll, diejenige André Chéniers, der unter der Guillotine starb, und diejenige des Engländers Chatterton, der seinem Leben mit achtzehn Jahren freiwillig ein Ende setzte. Der geniale Dichter ist – wie es hier heißt – von der Gesellschaft einem immerwährenden Ostrazismus unterworfen. Eine der drei Geschichten, diejenige Chattertons, hat Vigny zum Drama verarbeitet; und dieses Stück wurde zu einem der drei ganz großen Theatererfolge der Romantik neben Dumas' Antony und Hugos Hernani. Die Zuschauer der Premiere, die am 12. Februar 1835 stattfand, waren ganz und gar hingerissen. Marie Dorval, Vignys Geliebte, spielte die Rolle der weiblichen Hauptgestalt Kitty Bell, die am Schluß ihren Geist vor Seelenschmerz aufzugeben hatte. Als Marie Dorval, nach-
185
Alfred de Vigny, »Stello«, in: Œuvres (hrsg. F. Baldensberger), op.cit., Bd. 1, S. 753. Ebda., S. 753. »L'espérance est la plus grande de nos folies«. 187 Alfred de Vigny, Correspondance (hrsg. F. Baldensberger), Paris 1933, S. 245. 110 186
dem sie ihren letzten durchdringenden Schrei ausgestoßen hatte, ihren entseelten Körper die ganze Treppe entlang nach unten rutschen ließ, da kannte die Begeisterung keine Grenzen. Alfred de Musset und Berlioz applaudierten frenetisch – wie Théophile Gautier erzählt-, George Sand brach in Tränen aus, und Maxime du Camp, Schriftsteller und Jugendfreund Flauberts, fiel gar in Ohnmacht. Wir müssen uns fragen, wie eine solche umwerfende Wirkung zustandekam. An der Rutschpartie der Marie Dorval allein kann es nicht liegen. Der Inhalt ist sehr schnell resümiert, weil er an äußeren Ereignissen überaus arm ist. Vigny selbst hat ihn in seinem Vorwort folgendermaßen umrissen: C'est l'histoire d'un homme qui a écrit une lettre le matin, et qui attend la réponse jusqu'au soir; elle arrive, et le tue. – Mais ici l'action morale est tout. 188
Wir müssen indessen noch einiges dazu sagen. Der Held, der achtzehnjährige Chatterton, ist schon berühmt, aber bettelarm. Er wohnt im Haus des vulgären Geldprotzen John Bell. John Bell hat eine zarte, gefühlvolle Frau, Kitty Bell, deren Mitleid mit dem jungen und leidenden Dichter sich unaufhaltsam in eine starke und reine Liebe verwandelt. Chatterton, um aus seiner Misere herauszukommen und in dem Glauben, dem Dichter stünde eine führende Stelle in Staat und Gesellschaft zu, schreibt an den Lord Mayor von London, Lord Beckford. Als dieser ihm die Stelle eines Kammerdieners anbietet, nimmt der ohnehin von dem Vorwurf des Plagiats tief getroffene Chatterton Gift. Er stirbt in den Armen seines Freundes, eines edlen Quäkers. Kitty Bell bricht das Herz, nachdem sie dem Sterbenden noch ihre Liebe gestanden hat. Es ist an dieser Inhaltsangabe zunächst einmal zu erkennen, daß der Chatterton ein Thesenstück ist: Der sensible Dichter geht an der ihm feindlichen und völlig fremden Gesellschaft zugrunde. Vigny selbst erklärt: J'ai voulu montrer l'homme spiritualiste étouffé par une société matérialiste, où le calculateur avare exploite sans pitié l'intelligence et le travail. 189
Die Ausbeutung von Intelligenz und Arbeit als Wesensmerkmal der Gesellschaft. Damit ist dramatisch das Thema von Balzacs Roman Les Illusions perdues, 183743, aufgenommen. Vigny hat den Chatterton in einem Zuge in siebzehn Nächten geschrieben und ihm ein Vorwort beigegeben, das den Titel trägt: Dernière nuit de travail. Wir stehen mit dem Chatterton vor der ersten ausgeprägten Gestaltung eines neuen Themas, das die Romantik geboren hat: der von der Gesellschaft zum Elend verdammte Künstler als höchste Inkarnation des romantischen Menschenbilds im leidenden Genie. Aber nicht alle, die schreiben, stehen in einem feindlichen Verhältnis zur Gesellschaft. Vigny entwirft eine Typologie, mit der man mutatis mutandis auch heute noch einiges anfangen kann. Es ist eine Typologie, in deren unterste Stufe er den Schriftsteller einreiht, der der Gesellschaft nach dem Mund redet, den Beherrscher des Augenblicks, den äußersten Gegenpol zum in-
188
Alfred de Vigny, »Chatterton, dernière nuit de travail«, in: Œuvres (hrsg. F. Baldensberger), op.cit., Bd. 1, S. 771. 189 Ebda., S. 771 111
spirierten Dichter, der nur die Wahrheit seiner Eingebung kennt. Dieser Schriftsteller trifft jeden Geschmack. Vigny nennt ihn den homme de lettres, der kein Mitleid braucht, da die Anpassung an die Gesellschaft sich glänzend bezahlt macht. Sein Verzicht ist affirmativ ohne Skrupel. Höher steht die zweite Gruppe der intelligenten, ihres Tuns sicheren, fruchtbaren, ehrlichen und energischen Autoren, die zwar immer umstritten sind, immer kämpfen müssen, aber nicht allzu sehr darunter leiden: C'est le véritable, le grand écrivain. 190
Den höchsten Rang in der Kunst aber und den niedrigsten in der sozialen Ordnung nimmt der empfindsame, schutzbedürftige Mann der Ekstasen und Träumereien ein, der Inspirierte, der von seiner Imagination Besessene, dem jede Begegnung mit der Umwelt tiefe Wunden schlägt, das Dichtergenie, das selbst fassungslos dem zusieht, was in ihm vorgeht: On dirait qu'il assiste en étranger à ce qui se passe en lui-même, tant cela est imprévu et céleste! [...] C'est le Poète. 191
Zwei Dinge muß man ihm gewähren, ohne ihn dafür zum Abhängigen zu machen: le pain et le temps. 192
Wird ihm darin nicht geholfen, so bleibt ihm nur der Tod, der Selbstmord: Est-ce lui qui est coupable, dites-le-moi? ou bien est-ce la société qui le traque ainsi jusqu'au bout? 193
Die Antwort ist klar. Vigny will nicht von der Gesellschaft verlangen, daß sie die Werther und die Saint-Preux' daran hindere, ihrer Charlotten und Julies wegen Liebesqualen zu erleiden oder blasierte reiche Müßiggänger vom Selbstmord abzuhalten; aber dem seltenen Genie soll sie helfen, indem sie seine besonderen Bedürfnisse und seine Ausnahmenatur respektiert. Doch die geistferne Gesellschaft ist dazu nicht fähig. Chatterton sollte ein Fanal sein, sollte eine große, gleichsam philosophische Wahrheit aussprechen viel mehr als eine künstlerische Schönheit präsentieren. Noch 1859 sagt Vigny über seine Absicht: Avec Chatterton, j'ai essayé de faire lire une page de philosophie au théâtre. Je voulais qu'on dît: c'est vrai et non c'est beau. 194
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Ebda., S. 764. Ebda., S. 765. 192 Ebda., S. 770. 193 Ebda., S. 767. 194 Alfred de Vigny, »Chatterton, dernière nuit de travail«, in: Théâtre (hrsg. F. Baldensberger), Paris 1927, Bd. 2, S. 363. 112 191
Vigny wußte also, daß allzu schnelles Lob des Schönen dessen Wahrheit entschärft. Nun, die Wahrheit der Kunst – wir haben dies schon öfter feststellen können – setzt Übertreibung voraus; wir können sie auch Steigerung oder Überspitzung von Charakteren, Situationen und Handlungen nennen im Sinne des aristotelischen Begriffs vom wahrscheinlichen Unmöglichen. Deswegen hat Vigny aus der Biographie Chattertons ausgeschieden, was er nicht gebrauchen konnte, und nur das ausgewählt, was ihm für sein Thema tauglich schien: Le Poète était tout pour moi; Chatterton n'était qu'un nom d'homme, et je viens d'écarter, à dessein, des faits exacts de sa vie pour ne prendre de sa destinée que ce qui la rend un exemple à jamais déplorable d'une noble misère. 195
Vignys Chatterton ist der auf Erden exilierte romantische Mensch par excellence in der Gipfelerscheinung des künstlerischen Genies. Sein Charakter schon hat die Disposition zum Leiden, dessen Anlässe von der Gesellschaft bereitgehalten werden. Die Gesellschaft ist das Instrument der Fatalität. Chattertons Krankheit ist der Haß auf das Leben und die Liebe zum Tod. Die Gesellschaft braucht sich nur genauso zu zeigen wie sie ist, und schon ist es um den Dichter geschehen. Diese Gesellschaft aber erhält bei Vigny die schärfsten Konturen der geschichtlichen Wirklichkeit. John Bell, in dessen Haus Chattertons junges Leben dem Ende zugeht, ist ein skrupelloser kapitalistischer Ausbeuter, in dessen Gehirn nur noch Raum ist für die Kalkulation der Gewinnspannen; ein Unternehmer, der seine engelhafte, duldende Frau systematisch in seine Geschäfte einspannt, denn Zeit ist Geld – wie er sagt-, und Geld ist – wie er schamlos bekennt – auch die Lebenszeit seiner Frau. John Bell ist Besitzer von Fabriken und Häusern, er verfügt wie ein böser Gott über die Existenz seiner Arbeiter und ihrer Familien. Der Quäker nennt ihn den »baron absolu de ta fabrique féodale«. 196 In der zweiten Szene des ersten Akts führt Vigny dem Zuschauer eine Arbeiterdelegation vor, die John Bell bittet, die fristlose Entlassung eines Kollegen wieder rückgängig zu machen, der bei einem Betriebsunfall einen Arm verloren hat. Ihre Bitte bleibt vergeblich: jener Arbeiter ist für John Bell nicht nur wertlos durch seine Verstümmelung, er hat sogar Schaden eingebracht, weil der abgequetschte Arm auch noch eine Reparatur der Maschine notwendig gemacht hat. Seinen Arbeitern erklärt er mit brutalem Zynismus: Les machines diminuent votre salaire, mais elles augmentent le mien; j'en suis très fâché pour vous, mais très content pour Moi. 197
John Bell vertritt die erste, noch gleichsam naive Phase eines unmenschlichen Raubkapitalismus. Der edelmütige Quäker, der in seinem Hause eine Art von Narrenfreiheit genießt, weil er einmal eines seiner Kinder gerettet hat, bescheinigt ihm eine Härte des Herzens, welche die Konsequenz des Zeitgeistes ist:
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Alfred de Vigny, »Chatterton, dernière nuit de travail« op.cit., S. 771. 196 Ebda., S. 780. Ebda., S. 780. 197 Ebda., S. 778. 113 196
[...] ton cœur est d'acier comme tes mécaniques. [...] Mais ce n'est pas ta faute, tu agis fort bien selon ce que tu as trouvé autour de toi en venant sur la terre: je ne t'en veux pas du tout, tu as été conséquent, c'est une qualité rare. 198
Diesem Ausbeuter gegenüber, der seine Frau in gleicher Weise als Besitz betrachtet wie seine Fabrik, seine Häuser und seine Arbeiter, ja als einen Besitz, der Zinsen einzubringen hat, bildet Chatterton den absoluten Gegensatz. Aber in einem dialektischen Sinne: die Verpflichtung, die er einem Verlag gegenüber eingegangen ist, der Ablieferungstermin, das Verkaufen seiner Dichtung, all das ist für ihn eine furchtbare Demütigung: J'ai manqué de respect à mon âme immortelle, je l'ai louée à l'heure et vendue. [...] 199
Die maladie morale des romantischen Genies hat diesen achtzehnjährigen, am Rande des göttlichen Wahnsinns lebenden Dichter mit einer Empfindlichkeit ausgestattet – das heißt, der Autor Vigny hat es getan -, die mit seismographischer Feinheit auf die Berührung mit einer Welt reagiert, die sich anschickt, ausschließlich in Kategorien des Geldes zu denken. Die Arbeiterszene ist deutlich genug: Die Gesellschaft des Ausbeutertums ist auch die Gesellschaft der größten Geistferne. Vigny wollte – ich habe das bereits im Original zitiert zeigen, wie der geistige Mensch von einer materialistischen Gesellschaft erstickt wird, in welcher die gierige Kalkulation mitleidlos die Arbeit und die Intelligenz ausbeutet. 200
Neben der Ausbeutung der Arbeit – gezeigt in der zweiten Szene des ersten Akts und passim – steht die Ausbeutung des Geistes oder vielmehr das Zur-WareWerden des Geistes. Dieser gleiche Vorgang, den Karl Marx wenig später theoretisch zu erhellen und historisch-ökonomisch zu erklären unternimmt, ist der eigentliche Ausgangspunkt der Vignyschen Gestaltung des romantischen Themas vom leidenden Genie, das in einer so bestimmten Gesellschaft endgültig zum Untergang verurteilt ist. Nur wenige Jahre später wird Balzac am Schicksal des Freundespaares Lucien de Rubempré und David Séchard in den Illusions perdues das gleiche Thema episch gestalten. Chatterton ist dieser Welt nicht gewachsen. Als Lord Beckford ihm die Kammerdienerstelle anbietet und diese großzügige Geste noch mit den Worten kommentiert: Ne faites pas le dédaigneux, mon enfant; [...] vous n'êtes bon à rien qu'à ce qu'on vous propose[ ...] 201
da ist Chattertons ohnehin geringe Widerstandskraft zu Ende. Er nimmt Gift, und Kitty folgt ihm in den Tod. Beide zerbrechen an einer Welt, deren Gesetze keinen
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Ebda., S. 781. Ebda., S. 831. 200 Ebda., S. 771. 201 Ebda., S. 836. 114 199
Raum für den reinen, aber zerbrechlichen Geist und für die nur dem Menschlichen offene Seele lassen. Vigny ist es in Chatterton gelungen, den historischen Selbstwiderspruch des Individualismus in einer ganz und gar verinnerlichten Handlung dramatisch überzeugend zu gestalten: die Kollision zwischen einem die Gesellschaft beherrschenden, zum brutalen Egoismus gewordenen, alles Geistige verdinglichenden Individualismus, mit einem nach innen gewandten Individualismus, dem sich jene andere Welt total entfremdet hat. Chatterton ist ein Waisenkind, im Sinne des Standesamts wie in dem der Gesellschaft, so wie Antony ein Findelkind und Ruy Blas ein Deklassierter sind. Alle drei Dramenhelden sind, wie wir sahen, in sehr konkreter Weise mit der zeitgenössischen Wirklichkeit verbunden, nicht nur durch ihre betonte inferiore soziale Stellung, nicht nur durch den Konflikt mit ihrer Umgebung, sondern auch durch ihren komplexen Charakter, in dessen Doppelheit von Stärke und Schwäche – bei Chatterton ist es die Hypersensibilität und Ablehnung jeder bürgerlichen Tätigkeit des Verdienens – die Antinomien der historischen Wirklichkeit projiziert sind. Tragende Charaktere müssen so beschaffen sein, daß Realität an ihnen ansetzen, gleichsam haften kann, sich an ihnen kristallisiert zu Handlungen und Empfindungen. Alle drei sind in sehr realen und doch künstlerisch umgesetzten Bezügen Kinder ihres Jahrhunderts, und darin liegt ihre Stärke, darin liegt ihre poetische Qualität begründet. Bei Chatterton ist noch als Besonderheit zu vermerken, daß sich die Handlung an einem einzigen Tag und, mit unwesentlicher Abweichung, auch an einem Ort abspielt. Die drei klassischen Einheiten haben sich hier in zwangloser und geglückter Weise mit einem spezifisch romantischen Thema verbunden. Die zeitliche und örtliche Verdichtung der Handlung gibt dem an äußerem Geschehen so armen und an innerem Geschehen so ungemein reichen Drama ein Maximum an Wirkung. Interessant ist die Rezeptionsgeschichte von Chatterton. Bis 1857 hatte das Stück Erfolg beim Publikum. Von da an schlug die negative Einstellung der Kritik voll durch, die schon früh einsetzte, weil der Aspekt scharfer Gesellschaftskritik in diesem Stück unverkennbar war. Natürlich wurden die Angriffe nicht direkt geführt, vielmehr stieß man sich in moralischer Entrüstung an der angeblichen Verherrlichung des Ehebruchs und am Selbstmord. Eine radikale Umwertung erfolgt nach 1857. Der Kapitalist John Bell wird jetzt als einzige vernünftige Person des Stückes gepriesen, die Forderungen Chattertons an die Gesellschaft als absurde Vorstellungen eines verwirrten Geistes hingestellt. Die Zensur streicht die Passagen, die Staat und Kirche kritisieren. Alle romantischen Elemente werden mit revolutionären gleichgesetzt und Chatterton schließlich als Vertreter der maladie romantique verschrien.
Alfred de Mussets André del Sarto und Lorenzaccio, das Problem des Republikanismus im historischen Drama Wir wollen damit Vigny vorläufig verlassen und noch einen Blick auf das Theater von Alfred de Musset (1810-1857) werfen, den wir ja schon als Autor der Confession dun enfant du siècle kennen. Musset besaß – man übersieht dies zu oft – eine 115
ausgeprägte Theaterbegabung. Das erste Stück, das er auf die Bühne brachte, La Nuit vénitienne,1830, war indessen ein übler Reinfall. Kaum angefangen, wurde es schon ausgepfiffen, und als gar noch eine Schauspielerin sich von einer Bank erhob, deren Farbe noch nicht trocken war, die Dame sich also mit »frisch gestrichener« Kehrseite den Zuschauern darbot, da war es ganz aus. Und Musset hatte erst einmal genug. Er schrieb zwar weiter dramatische Stücke, verzichtete aber auf die Bühne und faßte sie unter dem Titel Un Spectacle dans un fauteuil 1833, 1834 zu einer Sammlung von Lesedramen zusammen. Er erneuerte damit eine schon im 18. Jahrhundert blühende mondäne Theatergattung, das sogenannte proverbe, Stücke, die in Form von Komödien Sprichwörter illustrieren. Musset füllte sie mit Elementen Molières, Marivaux', Beaumarchais' und seiner eigenen Erfahrung. Essind zum Teil sehr geglückte Werke, voller Geist, Liebe, reiner Leidenschaft oder Frivolität, mit meisterhaft arrangierten Intrigen und glänzendem Stil, stets mit einem Schuß lächelnder Wehmut oder gar Tragik. Ich nenne nur ein paar Titel: Fantasio 1834, Il ne faut jurer de rien,1836, Un Cap rice, 1837, A quoi rêvent les jeunes filles,1838. Etliche von ihnen sind Theatererfolge bis zum heutigen Tag, so etwa On ne badine pas avec l'amour, 1834. Wir können uns bei diesen Werken nicht aufhalten, sondern wollen uns in notwendiger Beschränkung den beiden bedeutendsten dramatischen Leistungen Mussets zuwenden: André del Sarto, 1833, und Lorenzaccio, 1834. André del Sarto ist ein Künstler- und Liebesdrama um die Gestalt des florentinischen Renaissance-Malers Andrea del Sarto. Musset hat sein persönliches Lebensproblem des Verhältnisses von Kunst und Liebe in das Schicksal seines Helden hineinverwoben. Andrea del Sarto ist ein alternder Künstler, der vor dem Nachlassen seiner Schaffenskraft resigniert. Um so abgöttischer liebt er seine schöne Frau Lucretia. Aber er muß entdecken, daß sie ihn mit seinem besten Schüler und Freund Cordiani betrügt. Lucretia hat nur aus Mitleid mit der Leidenschaft Cordianis dessen Werben nachgegeben, und sie will alle Schuld auf sich nehmen. Andrea del Sarto ist unfähig zum Haß, wie tief er auch verletzt sein mag. Aber er beugt sich dem konventionellen Ehrenkodex. Nur widerwillig stellt er Cordiani zum Duell. Dieser, im Gefühl seiner Schuld, wehrt sich kaum. Andrea verwundet ihn und glaubt ihn sterbend; er bereut jetzt zutiefst jeden Rachegedanken. Als Lucretia und Cordiani die Flucht ergreifen, sendet er ihnen, nun selbst auf dem Sterbebett, eine Botschaft nach mit dem Wortlaut: Pourquoi fuyez-vous si vite? La veuve d'André del Sarto peut épouser Cordiani.
Es ist ein Drama der Kunst, der Liebe, der Schwäche, der Menschlichkeit, des Verzeihens, letztlich eine Apotheose der Liebe als der humansten Kraft im menschlichen Herzen. Der schwache Mensch, der Alfred de Musset war, hatte Zeit seines Lebens eine sublime Vorstellung von menschlicher Größe und humanem Verstehen. André del Sarto ist indessen auch ganz speziell eine Tragödie des Künstlers und des Künstlertums. Die Problematik der Künstlerpersönlichkeit, begriffen als Genie in ständiger Bedrohung, des Künstlerdaseins als einer Ausnahmeexistenz – dieses Thema hat Musset immer wieder beschäftigt. Zum »verkannten Genie« – wir kennen es aus Vignys Chatterton – tritt das »unglückliche Genie«, das leidende, und 116
meist an der Liebe leidende. Menschliches Scheitern und künstlerisches Scheitern sind in André del Sarto nicht zu trennen. Der Absolutheitsanspruch des Künstlers, den er auf die Liebe überträgt, wird von dieser widerlegt und zunichtegemacht. Gewiß ist dieses Thema, ist dieses Problem das ganz persönliche Thema und das ganz persönliche Problem Mussets selbst, darüber hinaus aber auch die spezifische Problematik des romantischen Selbstverständnisses, verdichtet im Schicksal des Künstlers. 202 Mussets bestes dramatisches Werk aber ist Lorenzaccio. Ein Meisterwerk durch seinen Gedankenreichtum und seine psychologische Abgründigkeit, vielleicht sogar das Stück, in dem der Geist Shakespeares am tiefesten in das Theater der französischen Romantik eingedrungen ist. Neben Shakespeare ist der Einfluß von Schillers Fiesko, 1783, zu spüren. Mussets Werk nimmt seinen Vorwurf aus der Geschichte von Florenz. Im Jahre 1532 wurde der tyrannische Herzog Alessandro de' Medici von seinem Vetter Lorenzo, genannt Lorenzaccio, ermordet. Bei Musset sieht diese Geschichte folgendermaßen aus: Lorenzo de' Medici, ein stiller, seinen Büchern lebender, idealistischer junger Mann, will unter dem quälenden Eindruck der Tyrannei seines Vetters Alessandro durch eine heroische Tat gleich Brutus das Volk von Florenz von seinem Despoten befreien. Um dessen Vertrauen zu erringen, nimmt er an allen Ausschweifungen Alessandros teil – und wird von ihnen angesteckt. Trotzdem tötet er ihn schließlich. Aber das Volk von Florenz weiß mit der angebotenen Freiheit nichts anzufangen und sieht zu, wie ein neuer Tyrann aus dem Hause Medici, Cosimo, den Platz des alten Tyrannen einnimmt. Lorenzo flieht nach Venedig. Auf seinen Kopf wird ein Preis gesetzt. Als er erkennt, daß seine Tat sinnlos war und ihre Vorbereitung ihn selbst durch und durch korrumpiert hat, läßt er sich, ohne ernsthaften Versuch zur Rettung, ermorden. Um zu einem Verständnis dieses Werks zu gelangen, müssen wir etwas weiter ausgreifen. Und zwar zunächst auf die Geschichte. Ludwig XVIII. hatte trotz seiner starken Neigungen zur Wiederherstellung des Absolutismus doch wesentliche Ergebnisse der Revolution und des Empire beibehalten: die Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht auf persönliche Freiheit, die neue Gebietseinteilung Frankreichs, das einheitliche Steuerwesen. Die Restauration bediente sich der kaiserlichen Beamtenschaft und bewirkte einen Kompromiß zwischen dem napoleonischen Funktionärsstand und dem aus der Emigration zurückkehrenden, stark dezimierten Adel des Ancien Régime. Die Wiedereinführung des Ämterkaufs wirkte sich zugunsten des Bürgertums aus, das sich auch durch Stellung von bezahlten Vertretern vom Militärdienst befreien konnte. Klerus und Aristokratie hatten ihren Reichtum verloren. Nutznießer war die Bourgeoisie, die nicht nur massenweise Güter aufgekauft hatte, sondern auch schon fast alle wichtigen Ämter innehatte. Ihr neues Bewußtsein als Oberschicht wurde zur Ideologie einer privilegierten Klasse, mit tiefer Verachtung für das Volk, dem sie die Durchführung der Revolution verdankte. Die neureichen Bürger und Bodenspekulanten, ängstlich darauf bedacht, ihre Güter nicht wieder an Kirche und Adel zurückgeben zu müssen, bildeten das Hauptkon-
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Ich darf hierzu auf eine jüngere Untersuchung verweisen: Angelika Fahrig, Kunst und Künstler im Werk Alfred de Mussets, Heidelberg 1976. Darin ein Kapitel zu André del Sarto. 117
tingent der Partei der Liberalen, deren starker rechter Flügel. Ihre Gegner waren die Ultraroyalisten, die Partei von Klerus und Adel. Deren Führer, der Herzog von Artois, kam jedoch 1824 als Karl X. an die Regierung, und damit begann alsbald eine Reihe von reaktionären Maßnahmen, die größte Erbitterung hervorriefen. Als Karl X. die Zensur wieder einführte, die Universität unter kirchliche Aufsicht stellte, die Wahlgesetze änderte und die Kammer auflöste, in der sich seine Gegner zu einer Mehrheit zusammengeschlossen hatten, da ging die Jugend, vorwiegend Studenten und Arbeiter, auf die Straßen und kämpfte auf den Barrikaden. Das Ergebnis dieser Revolution von 1830 war, daß die ältere Linie der Bourbonen durch das Haus Orléans abgelöst wurde. Die Trikolore wurde wieder eingeführt und das Wahlgesetz abgeändert. Aber unter Louis-Philippe, dem »Bürgerkönig«, trat die Bourgeoisie des Geldes endgültig ihre Herrschaft an. Adel und Klerus wurden aus den kaum wieder gewonnenen Machtpositionen verdrängt. Das alte Wahlgesetz hatte bestimmt, daß nur diejenigen wählen durften, die eine direkte Steuer von mindestens 300 Francs entrichteten. Das waren nur rund 87000 Franzosen, vorwiegend Großgrundbesitzer, Kaufleute und Industrielle. Das neue Wahlgesetz senkte die Wahltaxe auf 200 Francs, mit dem Resultat, daß es jetzt circa 200 000 Wahlberechtigte gab, daß also die Bourgeoisie Zuzug erhielt und das Volk nach wie vor ganz vom politischen Leben ausgeschlossen war. Das Bürgertum schaffte sich zudem in der Nationalgarde eine Art von Schutztruppe, indem es den König verordnen ließ, daß jeder, der eine eigene Ausrüstung bezahlen konnte, Dienst in der Nationalgarde tat. So machte es das gesamte Kleinbürgertum zu den Wächtern seiner Herrschaft. Republikanische Jugend und Arbeiterschaft, wiederum um die Früchte des Siegs betrogen, schlossen sich zu Kundgebungen und Protesten zusammen und verübten Attentate auf den König. Als 1835 zu ihrer Unterdrückung die Septembergesetze erlassen wurden, war der Keim für die Revolution von 1848 gelegt. Die Julirevolution von 1830 hatte nicht nur die freiheitlich gesinnte junge Intelligenz und das Volk enttäuscht, sondern auch den am Ancien Régime hängenden alten Adel. So hatte die bürgerliche Juli-Monarchie zwei erbitterte Gegenparteien in den Republikanern einerseits und in den Legitimisten andererseits, welche die ältere Linie der Bourbonen wieder auf dem Thron sehen wollten. Alfred de Vigny war gemäßigter Legitimist; seine Position gegen die macht- und geldgierige Bourgeoisie hat neben humanen Impulsen auch diese politischen. Alfred de Musset hingegen blieb politisch indifferent, ohne deshalb – wir haben es schon an der Confession gesehen – die politischen Zustände zu ignorieren. Aber – und damit kommen wir wieder auf unser eigentliches Thema zurück – am Anfang von Lorenzaccio stand nicht Alfred de Musset, sondern wieder einmal sein Schicksal in Gestalt von George Sand (1804-1876). Die Handlung, die ich vorhin kurz skizzierte, stammt von ihr. 1830, unter dem frischen Eindruck des enttäuschenden Ausgangs einer Revolution, die anstatt der Verwirklichung republikanischer Ideale die Herrschaft der Kaufleute und Spekulanten brachte, entwarf George Sand das Drama von dem Tyrannenmörder, dessen Tat durch ein unmündiges Volk und seine schwachen Führer nutzlos wird, weil sie eine neue Tyrannei sich an die Stelle der alten setzen lassen. Wir erkennen hier eine partielle Motivüberschneidung mit Hugos Ruy Blas. Musset hat an dieser evidenten politischen Parallele nichts geändert, als er drei 118
Jahre später den Text George Sands umarbeitete. Die Enttäuschung über die JuliMonarchie war allgemein bei allen, die nicht von ihr profitierten. Und Rechtlosigkeit und Misere der sich in der industriellen Umwälzung zum Proletariat wandelnden Lohnarbeiterschaft waren offenkundig. Der Ruf »La propriété c'est le vol« = »Eigentum ist Diebstahl« fand angesichts dieser Verhältnisse Resonanz bei den Philanthropen wie bei den Sozialisten, und erst recht bei der radikaleren Gruppe, die sich nach dem Vorbild des Revolutionärs Babeuf Kommunisten nannten und deren Thesen Karl Marx fünfzehn Jahre später, 1848, -in Frankreich – im Manifest der kommunistischen Partei formulierte. Doch zurück zu Lorenzaccio. Der Vergleich zwischen George Sands Manuskript und Mussets endgültigem Text zeigt, daß Musset an der Handlung als solcher nichts Entscheidendes geändert, wohl aber durch seine Konzeption des Helden, durch Änderungen von Details und durch grundlegende sprachliche Neustilisierung ein eigenes, originales Werk daraus gemacht hat. Lorenzo ist selbst in seiner menschlichen Existenz das Opfer der Tat, zu der ihn die Geschichte veranlaßt hat. Dieser von den republikanischen Idealen des alten Rom erfüllte und unter dem vergossenen Blut der Tyrannei leidende junge Mann hat eine verborgene Neigung zum Laster, die plötzlich aufbricht, als er an dem gemeinen Leben Alessandros teilnimmt, um sich dessen Vertrauen zu erwerben und eine Gelegenheit zu dessen Ermordung zu finden. Sehr rasch ist diese gemeine Lebensführung nicht mehr Vorwand, nicht mehr Mittel, sondern wird Lust und Selbstzweck, erfaßt immer mehr sein Wesen, seinen Charakter selbst. Aus Lorenzo wird Lorenzaccio – das Suffix accio drückt das Gemeine aus. Wenn er schließlich den Tyrannen, dem er sich so schnell anverwandelt, doch noch tötet, so geschieht es weitgehend zur eigenen Rechtfertigung. Und seine kurze, aber intensive Erfahrung im Umgang mit den anderen republikanischen Verschwörern läßt ihn ahnen, daß deren Schwäche seine Befreiungstat zur Nutzlosigkeit verdammt. Aber er braucht diese Tat bereits als Alibi für sich selbst. Damit aber wird aus der Befreiungstat ein Mord. Und jeder moralische Vorwand für diese Tat wird in dem Augenblick vollends zunichte, da Lorenzo die Bestätigung ihrer Nutzlosigkeit erhält. Die zum Mord gewordene Befreiungstat besiegelt die Tatsache der eigenen Depravation. Und Lorenzaccio willigt selbst ein in das Ende seines menschlich verpfuschten und politisch unnützen Lebens. Mussets Lorenzaccio verdiente eine eingehendere Würdigung, als ich sie im Zusammenhang dieser Vorlesung geben kann. Ich kann dafür indessen auf eine vorzügliche jüngere Studie verweisen von R. Rütten, »Individuum und Gesellschaft in Alfred de Mussets Lorenzaccio«, in GRM NF 23 (1973), S. 67ff.
Der sozialhistorische Hintergrund des Konflikts zwischen Klassik und Romantik Die kurze Blütezeit des romantischen Theaters setzt, wie wir gesehen haben, am Vorabend der Julirevolution von 1830 ein. Ihr Ende, blamabel genug, wird bezeichnet durch den Mißerfolg der Burgraves von Victor Hugo, im Jahre 1843. Im gleichen Jahr erlebt das klassische Stück Lucrèce von François Ponsard (18141867) seine glanzvolle Uraufführung, ein Stück, das von seinem Autor programma119
tisch als Unterwerfung der bürgerlichen Individuen unter die Normen des gesellschaftlichen Status quo gedacht war. Unsere Behandlung des Theaters könnte den Eindruck entstehen lassen, als hätte der Durchbruch, den die Romantik mit der bataille d'Hernani auf der Bühne erreichte, das nicht-romantische, traditionelle und das heißt klassizistische Theater völlig verdrängt. Dem war nicht so. Vielmehr stehen romantisches und klassizistisches Theater sich unversöhnt gegenüber, und der Triumph der Romantik blieb nie unangefochten. Wir müssen nach den Gründen fragen. Die Kulturpolitik Napoleons I. war eindeutig klassizistisch orientiert. Sie betrieb die Entpolitisierung der Literatur, erkannte in der Klassik das ganze nationale Modell und im Klassizismus den stabilisierenden Faktor, der sich überdies zur Verklärung der Herrschaft Napoleons eignete. Nicht zu Unrecht witterte der Kaiser in der Romantik die politische Opposition. Die Verfolgung der Mme de Staël ist dafür nur ein Symptom unter vielen. Während der Restaurationszeit, von 1815 bis 1830, wird noch deutlicher, welche politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen hinter der Auseinandersetzung zwischen Klassizismus und Romantik stehen. Victor Hugos von mir bereits zitiertes Dictum: »Le romantisme, c'est le libéralisme en littérature«, trifft sehr gut den Sachverhalt. Die Einstellung zu den umwälzenden Ereignissen der jüngsten Geschichte-Aufklärung, Revolution, Empire, Restauration – war bestimmend für die Entscheidung: Klassizismus oder Romantik – mit Übergängen, Widersprüchen, Nuancen, wie wir noch sehen werden. Hier muß auf ein Phänomen aufmerksam gemacht werden, das in der gängigen Literaturgeschichte wenig berücksichtigt wird und doch von großer Bedeutung ist. Ich meine die Entstehung der Literatursoziologie und ihre ersten Einsichten, die an die säkularen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit anknüpfen. Ihre Entdeckungen sind nicht nur liberalen Geistern zu verdanken, wie Mme de Staël, sondern nicht zuletzt auch konservativen, ja reaktionären Denkern wie Julien Louis Geoffroy (1743-1814) und dem Vicomte de Bonald (1754-1840). In zulässiger Vereinfachung lassen sich die Theorien dieser Kritiker auf die folgenden zwei Punkte beziffern: - »La littérature est l'exposition de la société». Diese Formel stammt von Bonald. Viel zitiert wird sie zu einem Axiom der künftigen Literaturkritik. - Die Literatur hat politische und soziale Folgen schwerwiegender Art. Diese Auffassung ergab sich aus dem unleugbaren Anteil der Literatur der Aufklärung am Ausbruch der Revolution. Es ist nun ganz klar, daß aus diesen Erkenntnissen höchst gegensätzliche Folgerungen gezogen werden mußten, je nach politischer, sozialer oder allgemein ideologischer Einstellung – Folgerungen gezogen aber auch Forderungen abgeleitet. Für die konservativen und restaurativen Kräfte hieß das: – Wenn die Literatur »Ausdruck der Gesellschaft« ist, dann ist die Klassik, wie das 17. Jahrhundert sie geprägt hat, Ausdruck der alten, wohlgeordneten, monarchischen Ständegesellschaft, großartiger Ausdruck der idealen Ordnung des Ancien Régime. - Wenn die Literatur entscheidende Wirkung auf Gesellschaft hat, dann ist der
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Klassizismus ein bedeutsamer Garant für die in der Restauration erreichte alte Gesellschaftsordnung. 203 Der klassizistische Literaturkritiker Nisard (1806-1888), später auch Unterrichtsminister, brachte beide Gedanken 1844 auf die Formel: »La grandeur dans l'ordre». Sie stand bereits im ideologischen Dienst der bürgerlichen Herrschaft. Für die liberalen, progressiven Kräfte dagegen mußte die Einsicht, die Literatur sei Ausdruck der Gesellschaft, sich auf die zeitgenössische Gesellschaft und auf die romantische Literatur beziehen, und jeder soziale und politische Fortschritt sich der Hilfe der nicht-klassizistischen Literatur, eben der romantischen, bedienen. Vom progressiven Flügel des liberalen Bürgertums wird somit die Romantik gerade als Erbe des revolutionären, fortschrittlichen und zunehmend sozialen Denkens bejaht. Romantik ist Ausdruck der durch die Revolution veränderten Gesellschaft und trifft ihr Wesen und verbürgt ihre Zukunft. Allerdings, so muß nun gleich einschränkend gesagt werden, wandelt sich das Bild der Romantik alsbald unter dem Druck der geschichtlichen, insbesondere der politischen und sozialen Entwicklung: Es erfolgt die Spaltung in eine »linke« und in eine »rechte« Romantik, das heißt in eine solche, die an den kämpferisch-aktivistischen und progressiven Impulsen festhält, und in eine andere, die den Weg der Abkehr von der Gesellschaft und der Verinnerlichung beschreitet. Und noch auf eine zweite Spaltung ist hier aufmerksam zu machen, deren Ursache in der Fraktionierung der bürgerlichen Klasse zu suchen ist: Der Gedanke, daß die Romantik eine neue Revolution herbeiführen könnte, schreckt Teile des Bürgertums so sehr, daß auch eine Gruppe der liberal Gesinnten sich ablehnend oder feindlich zur Romantik verhält. So kommt es zu einem liberalen Klassizismus, der schließlich, ohne es zu wollen, zum Verbündeten jener Großbourgeoisie wird, die, nachdem sie die Macht angetreten hat, der kämpferischen Vergangenheit abschwört und sie umdeutet, wo und immer sie dies kann. Deutlich sichtbare Wendemarke ist die Revolution von 1830. In seiner Sozialgeschichte der Kunst und Literatur schreibt Arnold Hauser: »Das 19. Jahrhundert, oder das, was wir darunter zu verstehen pflegen, beginnt um 1830. Erst während des Bürgerkönigtums entwickeln sich die Grundlagen und die Umrisse dieses Jahrhunderts – die Gesellschaftsordnung, in der wir selber wurzeln, das Wirtschaftssystem, dessen Grundsätze und Widersprüche immer noch bestehen, und die Literatur, in deren Form wir uns im großen und ganzen auch heute noch ausdrücken.« 204 Man wird diese Behauptung nuancieren oder differenzieren, schwerlich aber ihre prinzipielle Richtigkeit bezweifeln können. Die Revolution von 1830, welche der Restauration ein Ende setzt, bedeutet auch den endgültigen Abschluß des jahrhundertelangen Kampfes des Bürgertums gegen den Adel. Zur ökonomischen Macht, welche die Bourgeoisie von nun an ungehemmt entfalten kann, tritt unter der Julimonarchie auch die politische Herrschaft. Damit ist auch die aufklärerische revolutionäre Phase des Bürgertums definitiv zu Ende. Es ist an der Macht, jede neue Revolution könnte diese Macht nur gefährden, und daher vollzieht das Bür-
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Vgl. die Darstellung bei Gerd Thieltges, Bürgerlicher Klassizismus und romantisches Theater. Untersuchungen zu den frühen Dramen Prosper Mérimées, Genève 1975. 204 Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, op.cit., S. 240. 121
gertum – und das ist für die Entwicklung der Literatur überaus wichtig – von nun an den Bruch mit der eigenen revolutionären Vergangenheit. Zu den interessantesten Zeugnissen für diese liquidatorische Bewältigung der Vergangenheit, für den Versuch, sie unverbindlich zu machen, gehört die Auseinandersetzung mit der Aufklärung in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, deren Tendenzen bis in die Gegenwart reichen. Heinz Thomas' ausgezeichnete Dissertation Aufklärung und nachrevolutionäres Bürgertum. Zur Aufklärungsrezeption in der französischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts gibt darüber Auskunft. 205 Der Verfasser verfolgt Schritt für Schritt an der Bewertung der Aufklärung in der Literaturgeschichtsschreibung von 1794 bis 1914, wie der Übergang des Bürgertums von der kämpfenden zur herrschenden Klasse auch ideologisch vollzogen, legitimiert und abgesichert wird. »In diesem Prozeß« so Thoma – »verkörpert die Aufklärung das theoretische Gewissen des Bürgertums. Vor ihren philosophischen Einsichten, ihrer Kritik, ihren gesellschaftlichen Entwürfen und Prognosen, ihrem Theorie-Praxis-Verhältnis, ihrem Umgang mit Problemen von Kunst und Wissenschaft muß sich das nachrevolutionäre Bürgertum verantworten.« 206 Auch aus dieser Perspektive erhellt sich die Bedeutung der Julirevolution, nach der erstmals das Bürgertum alle Machtpositionen des politischen und ökonomischen Lebens besetzt. In der Julimonarchie, in welcher die von Guizot ausgegebene Parole »Enrichissez-vous« zur Maxime des sozialen Handelns wird, verankert das staatliche Erziehungswesen das 17. Jahrhundert als Modelljahrhundert im schulischen Unterricht, macht die klassische Literatur zu einem ideologischen Herrschaftsinstrument und entschärft die Aufklärung in den Unterrichtsprogrammen bis hin zur vollständigen Entstellung. Indessen ist es nicht so leicht, das Prestige eines Voltaire, Montesquieu, Rousseau oder Diderot zu untergraben oder umzubiegen. Die ideologischen Positionen des Bürgertums sind auch keineswegs einheitlich. Es muß der sozialen Fraktionierung, die eine politische zur Folge hat, Rechnung getragen werden. Die Herrschaft des Bürgertums ist zunächst vor allem die Herrschaft einer Fraktion des Bürgertums, welche die Opposition der benachteiligten, nicht von dieser Herrschaft profitierenden Gruppen, hervorruft und zu ideologischen Kontroversen führt, von denen die Rezeption der Aufklärung mitbestimmt wird. Mit und nach der Julirevolution tritt überdies, als selbsterzeugter Widerspruch der bürgerlichen Herrschaft, das Proletariat in Erscheinung. Die soziale und ökonomische Fraktionierung des Bürgertums, der Umstand, daß wichtige Gruppen dieses Bürgertums, das Kleinbürgertum, die Intellektuellen, aber auch Teile des verarmten Adels, das humanistische Erbe der Aufklärung festhalten und in demokratische, ja frühsozialistische Positionen überführen, ist ausschlaggebend für die Entwicklung der französischen Literatur in der ersten Jahrhunderthälfte. Die Julimonarchie erlebt nicht nur den unerhörten ökonomischen Auftrieb und die Parole des »Enrichissez-vous«, sondern auch
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Heinz Thoma, Aufklärung und nachrevolutionäres Bürgertum. Zur Aufklärungsrezeption in der französischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, Studia Romanica, Heft 30, Heidelberg 1975. 206 Ebda., S. 10. 122
Proudhons Signal »La propriété c'est le vol«, 207 auch den katholischen Sozialismus eines Lamennais, den romantischen Sozialismus einer George Sand, die Auswirkungen des utopischen Sozialismus Fouriers und Saint-Simons. Die Auseinandersetzung zwischen Klassizismus und Romantik muß in diesem Zusammenhang, in diesem historischen Kontext gesehen werden. Wir kehren damit zu unserem Ausgangspunkt zurück. Das romantische Theater war liberal, »links«liberal bis revolutionär, auf jeden Fall sozialkritisch und emanzipatorisch. So jedenfalls verstand es sich selbst, in durchaus bewußtem Gegensatz zu einem Klassizismus, den es als Träger einer reaktionären, legitimistischen Ideologie erkannte, und in dem es sogar hellsichtig das ideologische Vehikel einer neuen Form von Herrschaft, der Herrschaft des Kapitalismus erahnte. Das romantische Theater lebte vom Vertrauen in den Fortbestand eines bürgerlich-progressiven Bewußtseins und in die Solidarität mit den Unterdrückten, mit dem Volk. Sein Schicksal war besiegelt mit dem Triumph der ökonomischen Prosperität des zur Herrschaft gelangten Bürgertums. Das heroische Pathos, mit dem es vergangene Historie bedachte, seine letztliche Ohnmacht im Aufbegehren gegen die realen Machtverhältnisse, der Romantizismus seiner sozialen Impulse, besiegelten sein Scheitern. Das nachromantische Theater, das Theater des Second Empire, wird rein affirmativ und systemstabilisierend sein. Die progressive Rolle der dramatischen Gattung hat für eine lange Zeit ausgespielt. Wir werden später noch zu fragen haben, warum gerade die romantische Gattung zu dieser Ohnmacht verdammt ist. Bevor wir dieses Kapitel – vorläufig – abschließen, sei auf einen bemerkenswerten Umstand hingewiesen, der im Kontext unserer letzten Überlegungen eine gewisse Beachtung verdient. Wer die Geschichte des Theaters im 18. Jahrhundert, das Theater der Aufklärung kennt, muß sich fragen, was eigentlich aus dem drame bourgeois eines Diderot, eines Mercier, ja aus der Komödie eines Beaumarchais geworden ist. Sollte man nicht erwarten, daß mit dem Sieg des Bürgertums nach der Revolution, das bürgerliche Schauspiel sich durchsetzen würde? Das Gegenteil ist der Fall. Das nachrevolutionäre Bürgertum ist außerstande, ein bürgerliches Theater zu schaffen. Das bürgerliche Drama des 18. Jahrhunderts verschwindet von den Spielplänen und aus der Produktion. Das Interesse am Theater polarisiert sich am romantischen Theater einerseits und am klassizistischen Theater andererseits, wobei dieses letztere freilich – und das ist bedeutsam – »verbürgerlicht« wird im Sinn des bürgerlichen, stabilisierenden Klassizismus. Das Herausfallen des bürgerlichen Schauspiels aus dem literarischen Gattungssystem der bürgerlichen Ära im Vorfeld von deren gesellschaftlichem Machtantritt bedarf noch der Untersuchung. Es gilt für uns nunmehr, die reife Großgattung zu betrachten, in welcher die Romantik Triumphe feierte: die Lyrik.
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Pierre-Joseph Proudhon, »Qu'est-ce que c'est que la propriété ou recherches sur le principe et du gouvernement«, in: Œuvres complètes (hrsg. M. Augé Laribé), Paris 1926, Bd. 4, S. 2. 123
Die Lyrik der Romantik
Pierre-Jean de Béranger, Populismus und Napoleonkult Wir haben in André Chénier den letzten großen Vertreter der Klassik kennengelernt, den die Begegnung mit dem Geist der neuen Zeit zu einer reifen Kunst fähig werden ließ, wie sie die klassizistische Lyrik vorher nicht gekannt hatte. Mit ihm ist sie auch zu Ende. Nur ein Poet hat sie mit Erfolg in die Romantik hinübergerettet, und zwar im Bereich der leichten Muse. Und daß dies gelang, ist der Verbindung mit dem Ton des Volkslieds zu verdanken, der Chanson, die längst als gesunkenes Kulturgut ein scheinbar an keine Zeit gebundenes, kräftiges Leben hatte. Der Dichter, den ich meine, ist Pierre-Jean de Béranger, (1780-1857). Die Nachwelt hat es sich angewöhnt, ihn ebenso zu schmähen oder wenigstens gering zu schätzen, wie er zu seinen Lebzeiten berühmt war. Béranger- 1780 geboren – ist freilich bar jeder gedanklichen Tiefe; seine Originalität beruht darauf, so gedichtet zu haben, daß seine Gedichte sangbar wurden für alle – seine Gedichte sind Lieder. Nahezu jeden seiner Texte paßte er einer bereits existierenden, bekannten Melodie an. Er hat den Ton getroffen, der die einfachen Wünsche und Sehnsüchte ausdrückte. Béranger war kaum gebildet; seine Eltern hatten ihn sehr früh sich selbst und einer Tante überlassen. Er fand jedoch instinktsicher sehr bald sein eigentliches Gebiet: die Chanson, besang die Liebe zu Lande und in der Stadt, die harmlose Lebenslust mit einem guten Schuß jener kleinbürgerlichen Biederkeit, die sich bei einer Flasche Wein und Seitenblicken auf verbotene Liebe schon ungeheuer frivol vorkommt. Bacchus in der Stämmkneipe plus bäuerlicher Nymphe. Klassisches Gold ist hier in gängiges Kleingeld umgewechselt. Eine ganze Reihe von Liedern hat das ästhetische Verdikt der Folgezeit überstanden und ist bis heute lebendig geblieben. Erinnert sei nur an den Roi d'Yvetot: Il était un roi d'Yvetot Peu connu dans l'histoire, Se levant tard, se couchant tôt, Dormant fort bien sans gloire, Et couronné par Jeanneton D'un simple bonnet de coton, Dit-on.Oh! oh! oh! oh! ah! ah! ah! ah! Quel bon petit roi c'était là!La, la. 208
Hier war der ferne König in den Hinterhof geholt, jedes Zaubers entkleidet, und was übrig blieb an Dignität, erhellt den ruhmlosen Hinterhof selbst. Verniedlichte
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Pierre-Jean de Béranger, » Roi d'Yvetot«, in: Œuvres de P. J. de Béranger, nouvelle édition, Paris 1876, Bd. 1, S. 1. 124
Weltgeschichte, harmlose Rache an ihr, zersungene, auf Gleichstand gebrachte und entschärfte Majestät. Die kaum vorstellbare Popularität verdankte Béranger nicht dieser Art von Liedern allein, sondern ebenso seinen kecken Attacken gegen Adel und Klerus. Béranger war Liberaler; und er produzierte sich als der Sänger der Armen. Zweimal wurde er unter der Restauration nach aufsehenerregenden Prozessen ins Gefägnis geworfen und jedesmal nur um so mehr gefeiert. Und wäre dies noch nicht genug Anlaß, seiner zu gedenken, so verdient er noch Beachtung als Hauptschöpfer der Napoleonlegende. Béranger hat aus dem Kaiser, dessen dämonische Größe die Welt erschütterte, einen lieben braven Mann gemacht, den gütigen Vater seines geringsten Soldaten, mit sanftem, alles verstehendem Lächeln und mit Herz für die Armen und ihre Nöte. Er läßt die Großmütter abends den Enkeln von diesem gütigen Kaiser erzählen und verklärt seine Gestalt für eine von der Gegenwart enttäuschte Generation. Der Napoleonmythos drang durch Béranger in alle Schichten. Napoleon III. wußte, was er tat, als er Béranger 1857 auf Staatskosten begraben ließ, so als sei mit ihm ein goldener Stern des Empire verblichen. Die eindringlichste kritische Behandlung und Würdigung hat das Werk Bérangers erfahren durch den Prager Romanisten Jan O. Fischer, Pierre-Jean de Béranger. Werk und Wirkung, Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 11 Berlin 1960. 209
Alphonse de Lamartines Gefühlslyrik Von der großen, anspruchsvollen Kunstlyrik der Romantik ist Béranger unberührt geblieben. Ihren bedeutenden Auftakt bildet die kleine Gedichtsammlung, die Lamartine (1790-1869) im Jahre 1820 veröffentlichte unter dem Titel Méditations poétiques. Alphonse de Lamartine war damals 30 Jahre alt. Er entstammte einer alten, aber verarmten burgundischen Adelsfamilie und verbrachte den größten Teil seiner Kindheit in dem Schloß der Familie in Milly bei Mâcon in Burgund. Die von der Mutter beeinflußte, sehr fromme Erziehung konnte es nicht verhindern, daß der junge Mann in eine etwas peinliche Liebesaffäre verwickelt wurde. Seine Eltern schickten ihn daher auf eine Italienreise, die alles vergessen machen sollte. In Italien erlebte Lamartine dann jene Liebesidylle mit einem neapolitanischen Fischermädchen, aus der viele Jahre später der uns schon bekannte kleine Roman Graziella entstand. Das war 1811 bis 1812. Nach Napoleons Sturz wurde er königlicher Leibgardist, hatte aber schon nach einigen Monaten genug von dieser hohen Ehre und zog sich wieder in die Einsamkeit von Milly zurück. 1816 lernte er Mme Julie Charles kennen, eine von der Schwindsucht gezeichnete junge verheiratete Frau, die im Dezember des folgenden Jahres – 1817 – an dieser Krankheit starb. Sie vor allem ist die Elvire von Lamartines Dichtungen, ein Symbol edelster Weiblichkeit, entkörpert fast, idealisiert zum reinen Bezugspunkt der Gefühle. Die Elvire der Ge-
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Jan Otakar Fischer, Pierre-Jean de Béranger. Werk und Wirkung, Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 11, Berlin 1960. Vgl. neuerdings Dietmar Rieger, Béranger in der Provinz, Heidelberg 1986, Reihe Siegen, Heft 71. 125
dichte erscheint als eine der Welt abgestorbene, entsinnlichte und ungreifbare Gestalt, transparent, auch wo sie Konturen zeigt. Die unglückliche Liebe zu Julie Charles und deren früher Tod lösten in Lamartine aus, was bereits in der Luft lag und was in ihm angelegt war: poetisierter Weltschmerz, Liebesleid, Naturschwärmerei. Er schrieb seine Méditations und wurde mit einem Schlage ein berühmter Mann. Im gleichen Jahr -1820 – heiratete er die Engländerin Eliza Birch, die neben anderen Vorzügen auch noch den besaß, reich zu sein. Lamartine trat in den diplomatischen Dienst, wurde bereits 1830 zum Mitglied der Akademie gewählt, drei Jahre später Abgeordneter und gehörte unter der Juli-Monarchie zur demokratischen Opposition, ohne sich jedoch einer bestimmten Partei anzuschließen. Die Revolution von 1848 brachte ihn an die Spitze des Staates. Aber die Republik Lamartines war nur von kurzer Dauer. Drei Monate nur blieb er im Ministeramt, und als Napoleon III. seinen Staatsstreich von 1851 inszenierte, war Lamartines politische Laufbahn für immer beendet. Von nun an lebte er eigentlich bloß noch für seine immensen Schulden und schrieb sich ihretwegen die Finger wund. Er starb 1869 in Paris. Lamartines romantischer Weltschmerz war zeitlebens von tiefer christlicher Frömmigkeit gesänftigt. Gleichwohl erfuhr er – vor allem in seiner Jugend – den Drang zur Revolte gegen Schicksal, Vorsehung und Gott; er kannte auch die Faszination des Nichts, des Abgrunds – das Schlüsselwort abîme erscheint bei ihm immer wieder. Aber stets mündet die Verzweiflung vor dem Nichts wieder ein in hoffnungsvolle Gläubigkeit. Er hat indessen wie kaum ein Zweiter unter dem Eindruck der Vergänglichkeit des Lebens gestanden, des ständigen Abends, des permanenten Herbstes einer sterbenden Natur: Ainsi tout change, ainsi tout passe; Ainsi nous-mêmes nous passons, Hélas! sans laisser plus de trace Que cette barque où nous glissons Sur cette mer où tout s'efface. 210
Das alte Symbol des sturmbewegten und zum Untergang verurteilten Lebensschiffs-wir finden es als bâteau ivre bei Rimbaud wieder – ist bei Lamartine durchaus Ausdruck eines authentischen Lebensgefühls, das sich – einmal wenigstens – auch mit bitteren Vorwürfen an Gott selber heranwagt, an einen Gott, unter dessen erbarmungsloser Willkür das Universum stöhnt: Et la terre, et le ciel, et l'âme et la matière, Tout gémit... 211
Lamartines Méditations poétiques wurden enthusiastisch begrüßt. Wenige Wochen nach ihrem Erscheinen war bereits eine zweite Auflage nötig, die um zwei Gedich-
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Alphonse de Lamartine, »Le Golf de Baya«, in: Œuvres poétiques complètes (hrsg. Marius François Guyard), Paris 1963, S. 62. 211 Alphonse de Lamartine, »Le Désespoir«, in: Œuvres poétiques complètes (hrsg. M.F. Guyard), op.cit., S. 21. 126
te erweitert wurde. Endlich war der Mann erschienen, welcher der Chateaubriand der Lyrik war und zugleich ein französischer Byron – so nannte ihn Stendhal ein Jahr später. Endlich lag sie auch in Versen vor, die Poesie des vereinsamten Herzens, eine ganz persönliche Poesie, die das individuelle Erleben, die ganz subjektive Erfahrung von Glück und Leid eher einer Aussprache für wert hält als das Allgemein-Verbindliche – besser gesagt: das Individuelle wird das Verbindliche: Spiegelung der Welt in ganz und gar subjektiver Brechung, vor allem als Leiden an der Welt, in der Reduktion von Zeit und Raum auf den Reflex der Seele. Lamartine hat als erster dieses romantische Lebensgefühl in Verse voller Musik und Bewegung gegossen. Er hat diese frühreife Leistung aber nie mehr überbieten können. Zwar hat er es noch mehrfach versucht: mit den Nouvelles Méditations von 1823, den Harmonies poétiques et religieuses von 1830 und den Recueillements poétiques von 1839. Aber alle diese späteren Dichtungen und Gedichtsammlungen bringen gegenüber den Méditations von 1820 nichts Neues, sind nur deren Wiederholung oder Variation. Erst einige Zeit später hat Lamartine selbst begriffen, daß er mit seiner Wendung zur Gefühlslyrik etwas entscheidend Neues gebracht hatte. Und so konnte er im Vorwort zu einer späteren Auflage der Méditations, sich nun in voller Bewußtheit von der traditionellen Lyrik distanzierend, schreiben: Il fallait avoir un dictionnaire mythologique sous son chevet, si l'on voulait rêver des vers. Je suis le premier qui ai fait descendre la poésie du Parnasse, et qui ai donné à ce qu'on nommait la muse, au lieu d'une lyre à sept cordes de convention, les fibres mêmes du cœur de l'homme, touchées et émues par les innombrables frissons de l'âme et de la nature. 212
Das menschliche Herz soll sprechen, in Worten und Tönen, die seine Zuckungen selbst artikulieren, ohne den Filter des Verstands, ohne den vorherigen Durchgang durch eine auf Regel bedachte Konvention. Das Gefühl soll sich unmittelbar und spontan in poetischem Ausdruck kristallisieren, denn dieses Gefühl ist die Natur des Menschen, und die Natur draußen ist seine kosmische Entsprechung, in der es alle seine Regungen wiederfindet. Seele und Natur: sie sind Korrelate, bilden das Spannungsfeld dieser Dichtung zwischen Identität und schärfstem Gegensatz, zwischen Mitgefühl und Indifferenz. Die Natur ist Heimat und Exil zugleich, und sie ist beides für das vereinsamte Ich, sie birgt Trost und Schmerz.
Sentiment und künstlerische Arbeit in Lamartines L'Isolement Der Eindruck des Inspirierten, des unmittelbar unter dem Diktat des Gefühls Geschriebenen, den Lamartines Gedichte wecken sollten und auch tatsächlich bei erster Lektüre wecken, ist freilich trügerisch. Mit Gefühlen allein kann niemand
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Alphonse de Lamartine, »Méditations poétiques«, in: Premières Méditations poétiques, Paris 1909, (»Préface«). 127
schreiben. Und der Forschung ist nicht entgangen, wie viele Zwischenstufen, Korrekturen, Feilungen auch bei Lamartine zwischen dem ersten Entwurf und der endgültigen Fassung liegen. L'Isolement ist das Gedicht überschrieben, das die Méditations einleitet: 13 Vierzeilerstrophen aus Alexandrinern mit gekreuzten Reimen, inhaltlich gegliedert in drei Gruppen von 4 + 5 + 4 Strophen. In den ersten drei Strophen entwirft der Dichter ein Naturpanorama von oben, das mit den Versen einsetzt: Souvent sur la montagne, à l'ombre du vieux chêne, Au coucher du soleil, tristement je m'assieds; Je promène au hasard mes regards sur la plaine, Dont le tableau changeant se déroule à mes pieds. 213
Wir haben also Gebirge, Schatten, eine alte Eiche, untergehende Sonne, Ebene von wechselnder Gestalt und den Dichter, der trauert. Er tut es oft- »souvent« -, die Zeit der Stimmung des Gedichts kondensiert also in einem Augenblick ein nicht näher begrenztes, wiederholtes Erlebnis. Unbestimmt und doch intensivierend wie dieser iterative Vorgang sind der schweifende Blick des trauernden Ich und der Wechsel im Naturbild zu seinen Füßen. Der Sonnenuntergang, Dekorum der Melancholie und Kulisse der Trauer seit Bernardin de Saint-Pierre, fixiert die Stimmung des Gedichts auf eine Tageszeit, ohne ihm die Permanenz zu nehmen. Die zweite Strophe gliedert das Bild, zeichnet in die Landschaft zu Füßen des einsamen Betrachters die Konturen eines Flusses und eines Sees: Ici, gronde le fleuve aux vagues écumantes, Il serpente, et s'enfonce en un lointain obscur; Là, le lac immobile étend ses eaux dormantes Où l'étoile du soir se lève dans l'azur. 214
In wirkungsvoller Antithese stellt sich hier die Natur dar: – »ici« – der grollend und schäumend schlangengleich sich bewegende Fluß und dort- »là« – der unbewegliche See mit seinen schlafenden Wassern, deren einzige Bewegung, ebenfalls Stillstand fast, der aufsteigende Abendstern bildet. Eine Antithese, ein Gegensatz, sagte ich, und doch lösen sich beide Elemente in gemeinsamer, unbestimmter Ferne auf. Il serpente, et s'enfonce en un lointain obscur;
läßt den Fluß, der zuerst so deutlich unterscheidbar ist, in dunkler Ferne verschwinden, sich einsenken – »s'enfoncer« -, unterstrichen vom dunklen Gleichklang der en-Silben. Die Entgrenzung des vorher so Konkreten, die hier inhaltlich deutlich wird, ist durch die Metrik betont: Die Zäsur dieses Alexandriners liegt nicht, wie in den vorausgehenden Versen, nach klassischer Weise in der Mitte, sondern
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Alphonse de Lamartine, »L'Isolement«, in: Œuvres poétiques complètes (hrsg. M.F. Guyard), op.cit., S. 3. 214 Ebda., S. 3. 128
fällt hinter die dritte Silbe: »Il serpente.« Das et, das die folgende, längere Vershälfte einleitet, hat gegenüber dem »il serpente«, gegenüber der konkreten, konturierten Bewegung adversativen Charakter und führt den Fluß in die gleiche Unendlichkeit, den der an sich durch seine Ufer so klar begrenzte See infolge seiner Unbeweglichkeit gewinnt, weil diese Unbeweglichkeit doch sozusagen tätig wird, indem sie sich ausdehnt- »étend«. Die Dämmerung – »crépuscule« – wirft, in Strophe 3, einen letzten Strahl über das verfließende Bild, über dem sich langsam der Mond, der »dampfende Pflug der Königin der Schatten« – wie er umschrieben ist-, erhebt: Et le char vaporeux de la reine des ombres Monte, et blanchit déjà les bords de l'horizon.
Jetzt wird präzisiert, was vorher entkonkretisiert wurde: der Horizont. Zugleich wird aber die Linie wieder verwischt: der Mond tilgt durch sein weißes Licht die Ränder des Horizonts. Und der Versbau nimmt durch das schon vorhin festgestellte Verfahren an der Entgrenzung teil. Der Mond: Monte et blanchit déjà les bords de l'horizon.
»Déjà« – der Vorgang, erst begonnen, hat noch alles vor sich. Die konkrete Bewegung»monte« – wird rhythmisch-syntaktisch nach zwei Silben abgebrochen, so wie vorhin bei »serpente«, und ein »et« – nach der frühen liierenden Zäsur – verlängert die Bewegung in einen Prozeß ohne Ende. Die Wirkung ist gegenüber der vorausgehenden Strophe noch verstärkt: » monte« ist wie ein rejet, das sich durch Enjambement an den vorausgehenden Vers anschließt. Das Bild dieser Landschaft aus Bergen, See, Fluß, Mondlicht, Schatten und Dämmerung wird ergänzt durch den Glockenton eines Kirchturms, der sich in den Lüften verliert. Sein heiliges Konzert vermischt sich mit den letzten Geräuschen des Tages; andächtig hält der Wanderer inne: Cependant, s'élançant de la flèche gothique, Un son religieux se répand dans les airs, Le voyageur s'arrête, et la cloche rustique Aux derniers bruits du jour mêle de saints concerts. 215
Die friedliche Idylle ist vollendet. Zu erwarten wäre, daß unser Dichter seine Traurigkeit in der fließenden Harmonie dieser Landschaft verliert. Aber – mit einem scharfen »mais« setzt jetzt der zweite Teil des Gedichts mit Strophe ein -, aber seine Seele bleibt gleichgültig, nichts spricht sie an, sie ist in diesem Leben wie ein verirrter Schatten aus einer anderen Welt: » une ombre errante. « Ein Abgestorbener, dessen Blicke vergeblich von Hügel zu Hügel, von Nord nach Süd und von West nach Ost schweifen und die »unendliche Weite« absuchen nach einem Glück, das ihn doch nirgends erwartet:
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Ebda., S. 3. 129
Je parcours tous les points de l'immense étendue, Et je dis: Nulle part le bonheur ne m'attend.
Was sollen diese Täler, Paläste und Hütten, deren Zauber für mich verloren ist; Flüsse, Felsen, Wälder und selbst die teure Einsamkeit. Ein einziges Wesen fehlt, und schon ist alles entvölkert: Que me font ces vallons, ces palais, ces chaumières? Vains objets dont pour moi le charme est envolé; Fleuves, rochers, forêts, solitudes si chères, Un seul être vous manque, et tout est dépeuplé. 216
Die Welt ist leer hinter der Fülle, hinter dem scheinbaren Reichtum, dessen einst so tröstliche Elemente in diesen Versen in asyndetischer Reihung und effektvoller Klimax gehäuft sind, um ihre Nichtigkeit für das verlassene Ich um so bedrängender hervortreten zu lassen. Und könnte das Ich dem Laufe der Sonne folgen, ihren Kreis um die Welt mitvollziehen, seine Augen würden doch immer nur die Leere und die Wüste sehen. Das ungeheure Universum – »l'immense univers« – ist nichts als ein »vide« und ein »désert« (Str. 8-9). Aber- mit einem zweiten scharfen »mais« zu Beginn der 10. Strophe wird nun der dritte Teil des Gedichts eingeleitet -, aber vielleicht gibt es jenseits des Bereichs, den die Sonne beherrscht, eine andere, eine wahre Sonne, Ziel aller Träume, vielleicht erreichbar, wenn alles Irdische abgestreift ist. Dann heißt es, in Str. 11: Là, je m'enivrerais à la source où j'aspire, Là, je retrouverais et l'espoir et l'amour, Et ce bien idéal que toute âme désire, Et qui n'a pas de nom au terrestre séjour! 217
In inhaltlich und rhythmisch höchst intensiver Beschleunigung treiben die beiden Anaphernpaare – »Là, là, et, et« – dieser Strophe die plötzlich erwachte Hoffnung voran. Die wiedergefundene Liebe ist eine andere, sie bestimmt sich durch das Ziel des »bien idéal«, das freilich gefangen bleibt im Konditional. Die wahre Sonne, das ideale Gut, die jenseitsgerichtete Liebe – das ist neuplatonische Lichtmetaphysik, die Kraft des Eros zum Aufstieg aus dem irdischen Dasein, aus dem »terrestre séjour«. Das »bien idéal« erscheint in der folgenden Strophe als »vague objet des mes voeux«, der »terrestre séjour« als »terre d'exil« . Und schon hat die Ekstase den Dichter soweit hingerissen, daß er die Fesseln des Exils sich lösen fühlt: Il n'est rien de commun entre la terre et moi.
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Ebda., S. 3. Ebda., S. 3. 130 217
Die letzte Strophe vereinigt das romantische Bild vom Verfall des Irdischen, vom Verwelken im Herbst der Dinge und Wesen mit der neuplatonischen Vorstellung vom Aufstieg aus der Materie, deren Schlacken abfallen: Quand la feuille des bois tombe dans la prairie, Le vent du soir s'élève et l'arrache aux vallons; Et moi, je suis semblable à la feuille flétrie: Emportez-moi comme elle, orageux aquilons! 218
Ich habe dieses Einleitungsgedicht der Méditations mit einiger Ausführlichkeit paraphrasierend behandelt, weil in ihm alle für Lamartines Dichtung wesentlichen und charakteristischen Züge aufweisbar sind. Wer genau zusieht, erkennt bald, wie viele Lektürefrüchte hier vereint sind. Und längst haben fleißige Forscher gezeigt, welchen Anteil Byron, Chateaubriand, Ossian, Millevoye, Rousseau und Petrarca an der Lyrik Lamartines haben. Die letzte Strophe mit dem Bild der fallenden Blätter ist an Millevoyes La Chute des feuilles, 1814, orientiert. Die Welt als Wüste – biblisches Bild -, das ist Petrarcas »mondo-deserto« und Rousseaus »vaste désert du monde« . Die letzte Zeile des Gedichts ist fast wörtlich bei Ossian und in Chateaubriands René wiederzufinden usw. usw. Und all das gilt genauso für die anderen Gedichte Lamartines. Aber was tut's! Alles kommt darauf an, daß die Elemente der literarischen Tradition sich zu einer Einheit fügen, die als solche originell und neu ist. Sie rundet sich zum lyrischen »System« der Inhalte der romantischen Seele. Das Gedicht L'Isolement verrät uns noch mehr über Lamartines Dichtkunst, wenn wir die schon angedeuteten Züge noch genauer in Augenschein nehmen. Schlüsselwörter für sein gesamtes Werk – und im weiteren Sinne für die romantische Dichtung überhaupt – sind ombre, immensité, vide, désert, indifférence, exil, vague, feuille flétrie. Ombre: einmal kühler, sänftigender Schatten von Baum oder Tal, meist aber in Beziehung zum lautähnlichen sombre; es assoziiert sich – in anderen Gedichten – vielfach dem Grab – tombeau. Den gleichen Gedanken, mythologisch angeschlossen, enthält unser Gedicht mit ombre errante, dem Schatten der hin- und herirrt. Ein Schatten, das ist die verirrte Seele, die, sie weiß nicht warum, sich in einer terre d'exil aufhalten muß, ruhelos und immer von Sehnsucht nach einem unbestimmbaren Ort in der immensité des univers getrieben. Der Tod, das ist auch der Übergang in dieses andere Reich, das allein den désepoir, die Verzweiflung, wieder zur Hoffnung, espoir, werden läßt. Der Verfall des Lebens, das welkende Blatt, das dem Menschen gleichgesetzt wird, der unvermeidbare Herbst, ist der Übergang in jenes andere Reich, das Verlassen einer Welt, die für die heimatlose, exilierte Seele zur Wüste, zum désert, geworden ist. Exil und Wüste sind biblische, religiöse Vorstellungen. Exil schließt an den Exodus an und noch weiter an die Vertreibung aus dem Paradies: Beides Folgen eines unerforschlichen Ratschlusses Gottes, dessen unfaßbarer Sinn bei jedem Schwanken der gläubigen Seele in das Gefühl von der Sinnlosig-
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Ebda., S. 3. 131
keit und Blindheit des Schicksals umschlägt. Dann nimmt die ratlose Frage den Aspekt der Empörung, der Revolte, an; der Mensch wird luziferisch, und Gott wird blind – selbst bei Lamartine einmal: in dem Gedicht Le Désespoir. Und es stellt sich erneut die Frage: ist Gott ohnmächtig gegenüber dem Bösen, oder ist er selbst böse, weil er es zugelassen hat? Der Mensch, der sich unschuldig weiß, begreift nicht, warum er zum Leid verurteilt ist; und wenn er sich schuldig weiß, versteht er nicht, weshalb er zum Schuldigwerden verdammt ist. Gottes Gleichgültigkeit liefert den Menschen der Willkür der Kontingenz aus: ... au gré du hasard dans les déserts du vide, 219
und die Hoffnung wird in dieser Welt zum Gifttrank – »philtre empoisonneur«. 220 Der »Weihrauch der Tränen, Seufzer und Schmerzen« – eine geradezu blasphemische Wendung – steigt auf zu einem gleichgültigen Gott, der kalt auf die Opfer herabsieht, die man ihm bringt. Und gleichgültig wie Gott zeigt sich dann seine Schöpfung, die Natur, und gleichgültig wird dann der Blick des exilierten Menschen, mit dem er die Sonne verfolgt – das ist die Grundstimmung des metaphysisch vertieften ennui.
Weltschmerz und Religion bei Lamartine Als einen gestürzten Engel fühlt sich das romantische Individuum, gestürzt, ohne zu wissen, weshalb. In dem englischen Dichter Byron (1788-1824), dessen Erfolg in Frankreich um 1810-1820 ungeheuer war, schien dieses luziferische Schicksal sich inkarniert zu haben. Und Frankreich wartete ungeduldig auf einen französischen Byron, und zwar auf einen konvertierten Byron, denn der englische Dichter hatte den Sprung von der Revolte zur frommen Gläubigkeit nicht getan. Und Lamartine beeilte sich, schon im zweiten Gedicht der Méditations, als Antwort gleichsam auf L'Isolement, dieser Erwartung zu entsprechen. Dieses zweite Gedicht ist überschrieben: L'Homme. Der Untertitel lautet: à Lord Byron: Et toi, Byron, semblable à ce brigand des airs, Les cris du désespoir sont tes plus doux concerts. Le mal est ton spectacle, et l'homme est ta victime. Ton oeil, comme Satan, a mésuré l'abîme, Et ton âme, y plongeant loin du jour et de Dieu, A dit à l'espérance un éternel adieu! 221
Der gefallene Engel! Das ist der Grundgedanke dieses Gedichts, der Engel, in dessen Auge auch nach dem furchtbaren Sturz in die Finsternis noch der Lichtstrahl des Himmels aufleuchtet:
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Alphonse de Lamartine, »Le Désespoir«, op.cit., S. 21. Ebda., S. 22. 221 Alphonse de Lamartine, »L'Homme«, in: Œuvres poétiques complètes (hrsg. M. F. Guyard), op. cit., S. 5. 132 220
Tout homme en te voyant reconnaît dans tes yeux Un rayon éclipsé de la splendeur des cieux! 222
Und Lamartine, in Kenntnis der Genesis, die – revelatorisch genug – den Teufel » Lichtbringer« nennt -Lucifer-und den fatalen Apfelbaum mit der Schlange den »Baum der Erkenntnis«, Lamartine formuliert in zwei Versen die Größe des Wahrheit und Erkenntnis suchenden Menschen und fordert ihn zugleich zur Unterwerfung unter das unerforschliche Gesetz seiner Schwäche auf, zur Hingabe an Gott: Notre crime est d'être homme et de vouloir connaître: Ignorer et servir, c'est la loi de notre être. 223
Die Schuld des Menschen ist sein Erkenntnistrieb. Und dann will er Byron, den genialen Empörer, bekehren: Byron, ce mot est dur: longtemps j'en ai douté; Mais pourquoi reculer devant la vérité? Ton titre devant Dieu c'est d'être son ouvrage! De sentir, d'adorer ton divin esclavage; Dans l'ordre universel, faible atome emporté, D'unir à ses desseins ta libre volonté, D'avoir été conçu par son intelligence, De le glorifier par ta seule existence! Voilà, voilà ton sort. Ah! loin de l'accuser, Baise plutôt le joug que tu voudrais briser, Descends du rang des dieux qu'usurpait ton audace; Tout est bien, tout est bon, tout est grand à sa place (...) 224
Diese Verse sind enthusiastisch, pathetisch, beredt, aber nicht überzeugend. Byron jedenfalls ließ sich nicht bekehren. Es ist bekannt, daß er das Gedicht Lamartines gelesen hat und daß er milde lächelte. Die hingebungsvolle Frömmigkeit, die Lamartine hier empfiehlt, die alle Zweifel und alle Empörung in einen beruhigenden Glauben hinein auflöst, ist nun freilich eine sehr verschwommene Religiosität- auch bei Lamartine. Sie ist im Grunde mehr Sehnsucht als Gewißheit, und diese Sehnsucht selbst ist unbestimmt in ihrem Ziel, wie orthodox ihr Gottesbild sich immer gebärden mag. Es ist mehr als bloß poetische Umschreibung, wenn Lamartine in L'Isolement die Gottheit, die »wahre Sonne« nennt, wenn er sie – platonisch-als »le bien idéal« 225 bezeichnet. Und selbst dieses Bild und diese metaphysische Abstraktion verlieren noch ihre Konturen»vague objet de mes voeux«. 226 Das »bien idéal« ist namenlos – »n’a pas de nom« 227 –, verliert sich fast in der negativen Theologie heterodoxer Mystik.
222
Ebda., S. 11. Ebda., S. 5. 224 Ebda., S. 5. 225 Alphonse de Lamartine, »L'Isolement«, op.cit., S. 4. 226 Ebda., S. 4. 227 Ebda., S. 4. 223
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Freilich, die Unbestimmtheit dieses Gottesbilds, die Unbestimmtheit dieser doch so starken Sehnsucht nach der Rückkehr aus dem Exil des irdischen Daseins, ist eben das Grunderlebnis der Romantik und speziell Lamartines. Der Begriff vague, das Bewegliche, Verschwimmende, Undefinierbare, Verfließende, das noch aus seiner Blütezeit in der italienischen Renaissance-Literatur die Bedeutungskomponente des idealen Begehrens nach undefinierbarer Schönheit und der unaussprechlichen Schönheit selbst mit sich bringt – durch die vague rêverie der Frühromantik hindurch, über das vague des passions, wie ein Kapitel von Chateaubriand Génie du Christianisme betitelt ist-, dieses vague wird zum Inbegriff der Entgrenzung, der Aufhebung des Unterscheidenden. Es ist das Schlüsselwort des Übergangs, einschließlich des Übergangs vom Leben zum Tod, zu einem Tod, der doch – nun wieder christlich – Erlösung vom Leben und vom irdischen Gefängnis der Seele bedeutet. Wenn man dem Wort vague in den Dichtungen Lamartines aufmerksam nachgeht, dann zeigt sich, daß sich hierin ein tiefes Element von Lamartines Lebensgefühl ausdrückt, ja weiter, daß sich hier eines der Geheimnisse seines Stils offenbart. Ich habe dies schon anzudeuten versucht. Lamartines Eigenart sind die verschwebenden Stimmungen, die Tilgung der Konturen in dem Augenblick selbst, da er sie einzeichnet. Eine Überprüfung der von ihm vorgenommenen Korrekturen läßt dieses Bedürfnis nach Entschärfung, Entgrenzung, nach schwebenden Übergängen deutlich erkennen. Ich erinnere an den Fluß, See und Horizont in L'Isolement. Ziemlich genau in der Mitte dieses Gedichts, genau die mittlere Strophe des fünfstrophigen Mittelteils beschließend, steht ein Vers, der die gesamte, bis dahin entfaltete und in Beziehung zur Seele gesetzte Natur für leer, für inhaltslos und antwortlos erklärt: Un seul être vous manque, et tout est dépeuplé. 228
Dieser Vers ist Angel- und Wendepunkt des Gedichts. Ein einziges Wesen ist, weil es abwesend ist, Ursache der Trauer und Öde, Anlaß für die Erfahrung von Exil, Wüste, Sehnsucht nach Tod und Erhebung ins vage Jenseitige, zum »vague objet« des »bien idéal«. »Un seul être« – das klingt bestimmt, aber diese Bestimmtheit ist sofort aufgehoben, denn dieses Wesen ist nicht näher bezeichnet. Ja, es wird noch unbestimmter, denn dieses einzige Wesen, nach allem, was vorausgeht, doch auf das trauernde Ich des Dichters bezogen, verliert auch noch diese Singularität, weil das »vous«, die Wendung an Alle, es sogleich universal ausweitet: Un seul être vous manque, et tout est dépeuplé. 229
und alles, das Universum, ist betroffen. Es fehlt das Wesen, das einem eigentlich bestimmt ist, soll das Leben seinen, bzw. einen Sinn offenbaren. Anders gesprochen: Es fehlt die Chance der Identität. Alle
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Ebda., S. 4. Ebda., S. 4. 134 229
Elemente der Natur sind hier eingeführt mit dem bestimmten Artikel: la montagne, le vieux chêne, le fleuve, le lac usw. Und doch hat man sofort den Eindruck, daß nirgends ein bestimmtes Gebirge, eine Eiche, ein Fluß usw. gemeint sind. Der Artikel ist nur Namengebung des Namenlosen, Bestimmung des Unbestimmten, ist identisch mit seinem Gegenteil, hebt die Grenze zwischen dem Bestimmten und dem Unbestimmten auf und macht gerade dadurch das Gegenständliche transparent für den in entgrenzte Weite und bodenlose Tiefe gelenkten Blick. Das Geheimnis von Lamartines Stil ist die Präzision des Unpräzisen. Die Liebe zu Elvire – der Julie Charles – ist – man sieht es an dem soeben zitierten Vers – so entkonkretisiert, so vergeistigt, so spiritualisiert wie die Trauer und die Sehnsucht selbst. Dieser Abstraktionsprozeß – wenn wir das so nennen wollen – ist in der Landschaft in seiner Negation durch die anschauliche Konkretisierung wieder erlebbar gemacht und aufgehoben, aber nicht rückgängig gemacht. Der Mond steht nicht eigentlich am Abendhimmel, als Silhouette, sondern ist nur durch seinen Widerschein existent, der alles mit einem Licht übergießt, das die Konturen verwischt, den Horizont entgrenzt. Der Berg, die alte Eiche, der Fluß, der See, die Wälder, die Kirche, das Abendläuten, der Wanderer in der Dämmerung, alle diese Elemente und Motive stehen nicht für sich, sondern für die Atmosphäre; sie evozieren das Ganze dieser Natur, die zum Spiegel der Wehmut der Seele wird. Sie gliedern nur ihre eigene Entstofflichung in ständigen Übergängen und modulieren den Rhythmus der Gefühle. Abenddämmerung und Herbst sind die Motive des Übergangs par excellence, zugleich ideale Stationen für den Weg von Außen nach Innen, aber auch für den Weg vom Licht in die Finsternis, vom Leben zum Verfall, Sinnbild einer Vergänglichkeit, die aus ihrer Steigerung selbst den Umschlag in den Gedanken der Ewigkeit erzeugt. Dieser Übergang in der Naur ist mehr als ein Gleichnis – er identifiziert Seele und Natur: D'ici je vois la vie, à travers un nuage, S'évanouir pour moi dans l'ombre du passé; 230
So heißt es in dem Gedicht Le Vallon. Ein weiteres berühmtes Gedicht- L'Automne 231- erhält eine wesentliche Strukturkomponente – inhaltlich wie formal – vom Übergang, von den vergilbenden Blättern, dem »reste de verdure«, der den Rand des Grabes – »le bord de mon tombeau« provoziert. Und der Abschied der Natur, ihre Trauer – »le deuil de la nature« – bezeichnet die entschwundene Hoffnung – »l'espoir évanoui«, das »adieu« -, das letzte Sehen, den letzten Gruß, das letzte Lächeln – »les derniers beaux jours«, »la dernière fois«, »le dernier sourire«. Salut! bois couronnés d'un reste de verdure! Feuillages jaunissants sur les gazons épars! Salut, derniers beaux jours! le deuil de la nature Convient à la douleur et plaît à mes regards!
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231
Alphonse de Lamartine, »Le Vallon«, in: Œuvres poétiques complètes (hrsg. M. F. Guyard), op.cit., S. 20. Alphonse de Lamartine, »L'Automne«, in: Œuvres poétiques complètes (hrsg. M. F. Guyard), op.cit., S. 75 f. 135
Je suis d'un pas rêveur le sentier solitaire, J'aime à revoir encor, pour la dernière fois, Ce soleil pâlissant, dont la faible lumière Perce à peine à mes pieds l'obscurité des bois!
Oui, dans ces jours d'automne où la nature exoire, À ces regards voilés, je trouve plus d'attraits, C'est l'adieu d'un ami, c'est le dernier sourire Des Lèvres que la mort va fermer pour jamais! 232 Und doch enthält eben dieser Abschied, dieser Übergang, den Keim einer Hoffnung, in L'Automne sich verdichtend in einem dreifachen, wiederum jeder Gewißheit sich enthaltenden »peut-être«. Wie die welkende Blume ihren Duft dem Wind überläßt, so der sterbende Körper die seufzende Seele dem Sphärenklang des Himmels: La fleur tombe en livrant ses parfums au zéphire; À la vie, au soleil, ce sont là ses adieux; Moi, je meurs; et mon âme, au moment qu'elle expire, S'exhale comme un son triste et mélodieux. 233 Das ist – genau besehen – wieder Plato, und zwar der Phaidros, und es ist Millevoye, das heißt eine Strophe aus Millevoyes Dichtung Le bûcher et la lyre, 234 in der sowohl der »zéphire« wie die »parfums«, die »adieux« wie das »s'exhaler« und der »son mélodieux« vorkommen. Und doch faßt diese Abschlußstrophe von L'Automne in gültigster Form die romantische Welt Lamartines zusammen und besiegelt die Einheit eines Gedichts, das mit Recht zu den schönsten der ganzen Romantik gezählt wird. L'Automne gehört mit L'Isolement, Le Vallon und Le Lac zu den vier Gedichten Lamartines, deren Wirkung diejenige aller anderen überdauert hat, weil sie nicht nur musikalische Verse und Strophen und schöne Gedanken haben, sondern weil hier die subjektiv reflektierte Welt des romantischen Individuums und die Welt Lamartines mit allen ihren wesentlichen Grundbestimmungen in den Konvergenzen eines kompositorischen und stilistischen Ganzen aufgehoben und erlöst sind.
Die Lyrik Alfred de Vignys und der romantische Atheismus Ein Gedanke, den Alphonse de Lamartine gleichsam nur gestreift hat, nämlich die Auflehnung gegen Gott, wurde für Alfred de Vigny (1797-1863) zur Obsession seines ganzen Lebens. Vignys gesamte Dichtung ist eine ausgesprochene Gedan-
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Ebda., S. 76. Charles-Hubert Millevoye, »Le bûcher et la lyre«, in: Œuvres de Millevoye, Paris 1835, Bd. 1, S.120. 234 Alphonse de Lamartine, »L'Automne«, op.cit., S. 75. 136 233
kendichtung, und sie lebt von der Frage nach dem Sinn des Schicksals, nach dem Willen Gottes, der doch nach allem nur ein grausamer Gott sein kann. Gott ist willentlich ungerecht, und er gibt, voller Verachtung für seine Geschöpfe, nicht einmal eine Erklärung dafür. Der Verurteilte erhält keine Begründung für seine Strafe: Il est certain que le maître de la prison, le gouverneur, nous eût fait savoir, s'il l'eût voulu, et notre procès et notre arrêt. 235
Der Gott Vignys ist der Gott des alten Testaments, ein Gott der Rache, des »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Und das Furchtbare ist, daß er in absoluter Gleichgültigkeit gegenüber dem Recht den Unschuldigen für den Schuldigen büßen läßt: Seigneur, vous êtes bien le Dieu de la vengeance: En échange du crime il vous faut l'innocence. 236
Vignys Gott ist ein Sadist.
Vignys Auseinandersetzung mit dem Neokatholizismus von Joseph de Maistre Da Vignys Werk im Kern unverständlich bleiben würde und letztlich auch die ganze religiöse Problematik der Romantik, ohne ein Eindringen in diesen Komplex, müssen wir uns kurz nach der Gegenposition umsehen. Der wichtigste Vertreter neben Bonald und zugleich derjenige, dessen jesuitisch-katholische Überzeugungen Vigny besonders herausforderten, ist Joseph de Maistre (1753-1821) – nicht zu verwechseln mit seinem zehn Jahre jüngeren Bruder Xavier de Maistre. Joseph de Maistre war ultramontaner Apologet der absoluten kirchlichen und der staatlichen, das heißt der päpstlichen und der königlichen Autorität. Während der großen Revolution, die ihn ruiniert hat, mußte er emigrieren. Die Revolution war für ihn das Chaos nach der Ordnung, aber er begriff sie als Zeichen Gottes, als unüberhörbare Aufforderung, sich wieder dem Willen der Kirche und des gesalbten Königs zu unterwerfen. In seinem 1796 erschienenen Buch Considérations sur la France entwickelt er seine Theorie einer Vorsehung, welche die Revolution als eine läuternde Strafe zugelassen hat. Es ist nur konsequent, daß er Klassizist ist und Antiromantiker, weil er in der Romantik einen Nachvollzug der Revolution erkennt. In seinen Soirées de Saint-Pétersbourg, 1821, erweitert er seine Theorie durch den Gedanken, daß, wenn die Revolution eine gerechte Strafe der göttlichen Vorsehung ist, es auch unwesentlich ist, ob Schuldige oder Unschuldige ihr Blut vergießen: das ist eine Theorie der Kollektivschuld auf der Basis einer strengen Eschatologie, bei der letztens völlig unerfindlich bleibt, warum die Menschheit, anstatt Sub-
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Alfred de Vigny, »Le journal d'un poète«, in: Œuvres (hrsg. F. Baldensberger), op.cit., Bd. 2, S.946. Alfred de Vigny, »La fille de Jephté«, in: Œuvres (hrsg. F. Baldensberger), op.cit., Bd. 1, S. 45. 137
jekt der Geschichte zu sein – was allein »Schuld« ermöglicht -, ganz zum Objekt göttlichen Wollens geworden sein soll, so als ob Gott, um überhaupt zu sein, des Opfers der Menschen bedürfte. Vigny hat – nach intensiver Auseinandersetzung mit de Maistre und dessen Schülern – diese Theorien verworfen bzw. sie als Bestätigung seiner eigenen Auffassung angesehen. Solche Vorsehung ist für ihn unmenschlich. Aber welche Haltung soll der Mensch diesem von Gott über ihn verhängten Schicksal gegenüber einnehmen? Zeit seines Lebens schwankt Vigny zwischen Revolte und Resignation. Seine geheime Liebe gilt – wir werden es noch sehen – den Empörern. Der tiefste Zug im Geiste dieses scheuen Dichters aber ist vielleicht die Liebe zu den unschuldig verdammten Menschen, und daher die Vorliebe für Gestalten, die sich voller Erbarmen und Mitgefühl dem Leiden helfend zuneigen, auf die Gefahr hin, selber alles, das Leben, ja sogar das ewige Leben, das Heil der Seele zu verlieren. Es sind dies vor allem weibliche Gestalten; dazu gehören: Kitty Bell in Chatterton und der Engel Eloa des gleichnamigen Gedichts, ein Engel, geboren aus einer Träne Christi, der sich voll Mitleid auf die Suche nach dem gefallenen Erzengel macht.
Vignys Verarbeitung Jean Pauls in Le mont des oliviers und La mort du loup Auf die verzweifelte Frage des Menschen an Gott antwortet nur ein Schweigen. Und dem Menschen bleibt nichts übrig, als das Schweigen Gottes seinerseits mit Schweigen zu vergelten. Im Jahre 1862, nachdem er selbst ein Leben lang gefragt hat, legt Vigny seine wohl endgültige Erkenntnis nieder über das Verhältnis Mensch und Gott: S'il est vrai qu'au jardin sacré des Écritures, Le Fils de l'homme ait dit ce qu'on voit rapporté; Muet, aveugle et sourd au cri des créatures, Si le Ciel nous laissa comme un monde avorté, Le juste opposera le dédain à l'absence Et ne répondra plus que par un froid silence Au silence éternel de la Divinité. 237
Diese Verse – überschrieben Le Silence – bilden den Abschluß des Gedichts Le Mont des Oliviers: Christus im Garten Gethsemane. Die Anregung zu diesem Gedicht kam aus Deutschland, durch die Vermittlung von Mme de Staël. Mme de Staël hatte in De l'Allemagne eine Teilübersetzung von Jean Pauls (1763-1825) abgründigem Prosastück gegeben, das den Titel trägt: Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei. Dieses kleine Werk aus dem Siebenkäs hat nicht nur auf Vigny, sondern auch – u. a. – auf Hugo, Musset und vor allem
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Alfred de Vigny, »Le mont des oliviers«, in: Œuvres (hrsg. F. Baldensberger), op.cit., Bd. 1, 5.156. 138
auf Gérard de Nerval eingewirkt. Ich kann es mir daher nicht versagen, ein Stück daraus zu zitieren. Jean Paul spricht hier von der ungeheuren, tragischen Verlassenheit dessen, der vom Zweifler an Gott zum Leugner seiner Existenz geworden ist: Niemand ist im All so sehr allein als ein Gottesleugner. – Er trauert mit einem verwaisten Herzen, das den größten Vater verloren, neben dem unermeßlichen Leichnam der Natur, den kein Weltgeist regt und zusammenhält, und der im Grabe wächset; und er trauert so lange, bis er sich selber abbröckelt von der Leiche. Die ganze Welt ruht vor ihm wie die große, halb im Sande liegende ägyptische Sphynx aus Stein; und das All ist die kalte eiserne Maske der gestaltlosen Ewigkeit. 238
Dann schildert Jean Paul eine Traumvision: Auf einem Friedhof erwachend, sieht er alle Gräber geöffnet, Schatten gehen aufrecht in der Luft, am Himmel hängt der Nebel in Falten, die sich zum Netz zusammenziehen. Der Himmel ist schwarz, vergeblich sucht der Träumende die Sonne. Die Friedhofskirche schwankt unter dem Kampf von Mißtönen. Die Toten, die auf dem Zifferblatt der Ewigkeit nachsehen wollen, finden keine Zahl: Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: »Christus! ist kein Gott?« Er antwortete: »Es ist keiner.« Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den anderen wurde durch das Zittern zertrennt. Christus fuhr fort: »Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: »Vater, wo bist du?« aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernden Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäute sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn er ist nicht!« Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauche zerrinnt, und alles wurde leer. Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: »Jesus! haben wir keinen Vater?«Und er antwortete mit strömenden Tränen: »Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.« Da kreischten die Mißtöne heftiger – die zitternden Tempelmauern rückten auseinander – und die ganze Erde und die Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermeßlichkeit vor uns vorbei (...) 239
Soweit hatte Mine de Staël übersetzt. Und Vigny kannte – im Gegensatz zu Nerval, der Jean Paul im Original las – nur diesen Teil. Hören wir uns nun an, wie das Thema bei Vigny gestaltet ist:
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Jean Paul, »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei«, in: »Siebenkäs«, Werke (hrsg. Norbert Miller), Darmstadt 1971, S. 271. 239 Ebda., S. 273. 139
Alors il était nuit, et Jésus marchait seul, Vêtu de blanc ainsi qu'un mort de son linceul; Les disciples dormaient au pied de la colline. Parmi les oliviers, qu'un vent sinistre incline, Jésus marche à grands pas en frissonant comme eux; Triste jusqu'à la mort, l'oeil sombre et ténébreux. 240
Christus läßt sich nieder, die Stirn an der Erde: Puis regarde le ciel en appelant: »Mon Père!« -Mais le ciel reste noir, et Dieu ne répond pas. Il se lève étonné, marche encore à grands pas, Froissant les oliviers qui tremblent. Froide et lente Découle de sa tête une sueur sanglante. Il recule, il descend, il crie avec effroi: »Ne pouviez-vous prier et veiller avec moi?« Mais un sommeil de mort accable les apôtres. 241
Und wieder, und noch ein drittes Mal, ruft Christus den Vater und wieder antwortet ihm, dem Menschensohn und Gottessohn, das Schweigen: Il eut froid. Vainement il appela trois fois: »Mon Père!« Le vent seul répondit à sa voix. Il tomba sur le sable assis et, dans sa peine, Eut sur le monde et l'homme une pensée humaine. -Et la Terre trembla, sentant la pesanteur Du Sauveur qui tombait aux pieds du Créateur. 242
In langer Rede rechtfertigt Christus vor dem schweigenden, unsichtbaren Vater sein Tun, und diese Rede wird zur furchtbaren Anklage, denn zu diesem Tun hatte Gott ja seinen eigenen Sohn auf die Erde gesandt. Liebe, Brüderlichkeit, Erlösung, Hoffnung für die Unschuldigen, wollte er bringen, durch sein eigenes Opfer. Und er wollte der stöhnenden Menschheit an seiner Stelle zwei Engel hinterlassen: die Gewißheit und die Hoffnung. Was aber weiterhin herrscht, kaum gestört, sind Zweifel und Übel: Et si j'ai mis le pied sur ce globe incomplet Dont le gémissement sans repos m'appelait, C'était pour y laisser deux Anges à ma place De qui la race humaine aurait baisé la trace, La Certitude heureuse et l'Espoir confiant Qui, dans le Paradis, marchent en souriant. Mais je vais la quitter, cette indigne terre, N'ayant que soulevé ce manteau de misère Qui entourne à grands plis, drap lugubre et fatal
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Alfred de Vigny, »Le mont des oliviers«, op.cit., S.152. Ebda., S.153. 242 Ebda., S.153. 140 241
Que d'un bout tient le Doute et de l'autre le Mal. 243
Warum – so lautet die Frage des todtraurigen Christus an den schwarzen Himmel seines Vaters -, warum soll das Übel weiterhin in fataler Willkür die Welt beherrschen, warum soll der Tod weiterhin die unschuldigen Kinder der Erde überfallen nach seinem willkürlichen Belieben, wo es doch ganz in der Macht Gottes stünde, dies alles zu ändern. Und wieder bleibt alles still: Ainsi le divin Fils parlait au divin Père. Il se prosterne encore, il attend, il espère... Mais il renonce et dit: »Que votre volonté Soit faite et non la mienne, et pour l'Éternité!« Une terreur profonde, une angoisse infinie Redoublent sa torture et sa lente agonie. Il regarde longtemps, longtemps cherche sans voir. Comme un marbre de deuil tout le ciel était noir; La Terre sans clartés, sans astres et sans aurore, Et sans clartés de l'âme ainsi qu'elle est encore, Frémissait. – Dans le bois il entendit des pas, Et puis il vit rôder la torche de Judas. 244
Christus verzichtet und fügt sich in den Willen Gottes, des Vaters – für alle Ewigkeit. Die Antwort, die ihm wird, ist das Aufleuchten der Fackel des nahenden Judas, ist der Tod, um dessen Aufhebung er soeben noch gefleht hat. Und wieder legt sich das Schweigen über die Erde. Es folgen die bereits zitierten Verse Le Silence – »Le silence éternel de la Divinité». Die Frage Christi ist die Frage des Menschen an seinen Schöpfer. Vigny hat den Sinn, den das Neue Testament dem Opfertod Christi gibt, anders akzentuiert, hat ihn verändert, ja, er hat sogar noch auf jene Frage verzichtet, die Christi ganz tiefe Verzweiflung am Kreuz ausspricht: »Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?«
Man muß sich fragen: warum? Hätte nicht gerade dieser Ruf des verlassenen Gottes- und Menschensohnes in Vignys Gedankengang gepaßt? Die Antwort ist folgende: Der Christus am Kreuz ist ein verzweifelnder – der Christus Vignys geht, bevor er sich fügt, bis zur Empörung! Ja, er geht noch weiter! Nach der vorhin zitierten Stelle, wo er davon spricht, daß er vergeblich »Certitude« und »Espoir« in die Welt bringen wollte, daß Doute und Mal weiterhin regieren, heißt es weiter in der Rede an Gottvater: Mal et Doute! En un mot je puis les mettre en poudre: Vous les aviez prévus, laissez-moi vous absoudre De les avoir permis. – C'est l'accusation Qui pèse de partout sur la Création! 245
243
Ebda., S. 154 f. Ebda., S. 156. 245 Ebda., S. 155. 244
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Der hier ausgesprochene Gedanke ist ungeheuerlich in seiner Verkehrung: Christus, auf die Welt gesandt, um durch seine Menschwerdung und sein Opfer die Menschheit von ihrer Schuld zu erlösen, dieser selbe Christus begreift den Sinn seines Opfers jetzt – angesichts der unschuldig leidenden Menschheit – als Aufgabe, die schlechte Schöpfung zu korrigieren, ja, Gott, seinen Vater, von der Schuld zu erlösen, die er auf sich nahm, als er Übel und Zweifel die Herrschaft über die Welt gestattete. Diese Wendung ist ungeheuerlich, sie ist gotteslästerlich, wenn man sie mit orthodoxen Maßstäben mißt. Die Frage: »cur deus homo« – »warum ist Gott Mensch geworden« – wird beantwortet: Um sich durch sein Menschsein und sein Leiden als Mensch am Kreuz von der eigenen Schuld zu lösen. Es ist dies ein blasphemischer und ein großartiger kühner Gedanke. Und es ist der letzte Gedanke des Dichters gleichsam. Nur kurze Zeit nach der Abfassung dieses Gedichts ist Vigny gestorben.
Vignys La bouteille à la mer, die romantische Empörung Hier ist indessen nur ein Weg zu Ende gegangen, dessen Richtung schon in Vignys frühesten Gedichten erkennbar ist. Das Christentum war für ihn tot – von einem kurzen Schwanken beim Tod der geliebten Mutter abgesehen. Der Gott, an den zu glauben er gezwungen war, war ein gleichgültiger Gott, den das Schicksal seiner Schöpfung kalt läßt. Die Menschen zwar können hassen, aber nur deshalb, weil sie auch zu lieben vermögen. Gott hingegen läßt den Tod zu ohne Haß, weil er das Leben auch ohne Liebe gegeben hat. Dieser Gedanke ist bereits 1821 von Vigny ausgesprochen worden, in dem Gedicht Le Déluge: La pitié du mortel n'est point celle des Cieux. Dieu ne fait point de pacte avec la race humaine: Qui créa sans amour fera périr sans haine. 246
Endgültig verzweifelt am Gott der Christenheit, scheint Vigny im reiferen Alter einen anderen Gott gesichtet zu haben. In dem Gedicht La Bouteille à la mer aus dem Jahre 1854 erscheint ein Schiff, das auf der Rückreise von einer Forschungsfahrt zum Pol begriffen ist. Das Schiff, in einen Sturm geraten, ist kurz vor dem Untergang. Der Kapitän vertraut die Ergebnisse der Forschungsfahrt einer kleinen Flasche an und wirft sie ins Meer, während das Wasser schon seine Knie umspült: Il lance la Bouteille à la mer, et salue Les jours de l'avenir qui pour lui sont venus. 247
246
Alfred de Vigny, »Le Déluge«, in: Œuvres (hrsg. F. Baldensberger), op.cit., Bd. 1, S. 35. Alfred de Vigny, »La bouteille à la mer«, in: Œuvres (hrsg. F. Baldensberger), op.cit., Bd. 1, S.160. 142 247
Hier ist eine Zukunft gesichtet, die ihren Sinn trotz des sinnlos zufälligen Todes bewahrt. Der Kapitän lächelt versöhnt in dem Gedanken, daß das zerbrechliche Glas seinen Namen und seine Arbeit zum Hafen tragen, daß es die Erde um eine bisher unbekannte Insel vermehren wird. Er lächelt bei dem Gedanken: Que Dieu peut bien permettre à des eaux insensées De perdre des vaisseaux, mais non pas des pensées, Et qu'avec un flacon il a vaincu la mort. 248
Das ist die Überlistung des gleichgültigen Gottes, der keine Macht über die Gedanken hat: Jetons l'œuvre à la mer, la mer des multitudes: - Dieu la prendra du doigt pour la conduire au port. 249
Wieder ist von Gott die Rede und diesmal davon, daß seine Hand die Flasche an Land geleiten wird. Der Widerspruch ist nur scheinbar: es ist ein anderer Gott, ein Gegengott, und Vigny hat ihn auch benannt im gleichen Gedicht: La vrai Dieu, le Dieu fort, est le Dieu des idées. 250
An eines also vermochte Vigny noch zu glauben: an den Fortschritt des menschlichen Geistes, aller Schicksalswillkür und allem Leiden zum Trotz. Dazu hat er sich freilich erst durchringen müssen. Und in früheren Gedichten ging es noch um Empörung und um die Frage, wie man in dieser Welt bestehen könnte. Diese letztere Frage und die Antwort darauf enthält das berühmte Gedicht La Mort du Loup aus dem Jahre 1838. Die Anregung kam von einer Stanze von Byrons Werk Childe Harold's Pilgrimage,1812. Inhalt ist der Tod eines gejagten Wolfes, eines sehr anthropomorphen Wolfes, der »Mund« und »Füße« hat statt Maul und Pfoten und eine »Witwe« und »Kinder« hinterläßt, obwohl Vigny natürlich weiß, daß hier für die Tierwelt andere Bezeichnungen gelten. Aber der Wolf vertritt des Menschen Seele, und zwar den seelischen Adel heroischen Sterbens. Schweigsam, stolz, schwer verwundet, vielfach von den Jägern durchbohrt, zerreißt der Wolf noch den letzten der Hunde, die ihn gehetzt haben: -
Il nous regarde encore, ensuite il se recouche Tout en léchant le sang répandu sur sa bouche, Et, sans daigner savoir comment il a péri, Refermant ses grands yeux, meurt sans jeter un cri. 251
Und der Dichter, der in Ich-Form diese Jagd erzählt hat, expliziert die Bedeutung dieses Symbols:
248 249 250 251
Ebda., S. 160. Ebda., S. 160. Ebda., S. 163. Alfred de Vigny, »La mort du loup«, in: Œuvres (hrsg. F. Baldensberger), op.cit., Bd. 1, 5.148. 143
Seul le silence est grand; tout le reste est faiblesse. 252
Der letzte Blick des stumm sterbenden Tiers will besagen, daß auch der Mensch sich erheben solle Jusqu'à ce haut degré de stoïque fierté... ........ Gémir, pleurer, prier est également lâche. Fais énergiquement ta longue et lourde tâche Dans la voie où le Sort a voulu t'appeler. Puis après comme moi, souffre et meurs sans parler. 253
Das Stichwort ist in diesen Versen gefallen: »stoïque fierté«. Stoizismus ist die einzige Haltung, die der Willkür des Schicksals und dem Leiden gegenüber geziemt. Die Würde des Menschen resultiert aus der Kraft, das Leid zu ertragen, und das heißt in dieser Welt überhaupt zu bestehen. Und Vigny faßt seine Liebe zum leidenden Menschen in einem Vers eines anderen Gedichts – La Maison du Bergerzusammen: J'aime la majesté des souffrances humaines: 254
Die »Religion der Verzweiflung« : Vignys Eloa ou la Soeur des Anges und Moïse In dem epischen Gedicht Eloa ou la Soeur des Anges 255 von 1823 hat Vigny das Mitgefühl für das Leiden auf die Ebene von Engel und Satan verlagert. Eloa – der Name ist dem Messias Klopstocks entlehnt – ist ein Engel, geboren auf der Erde aus einer Mitleidsträne Christi, zur Zeit, da der Sohn Gottes heilend durch die Lande zog. Voller Erbarmen mit dem gestürzten Erzengel sucht Eloa diesen auf in den Weiten und Tiefen des Universums, trachtend, ihn zu Gott zurückzuführen, ihn zur Unterwerfung zu bewegen. Aber der Gegenstand dieser Bemühung bleibt der Empörer, der zum Bösetun verdammt ist. Er spielt den Gerührten, weckt noch mehr Mitleid und noch mehr Hoffnung auf Umkehr und – verführt den schönen Engel, der sich ihm in der Aufwallung seines liebevollen Herzens ergibt. Eloa wird die Beute des Satans. Das entscheidende Zwiegespräch lautet folgendermaßen: (es spricht zuerst Eloa): Où me conduisez-vous, bel Ange? – Viens toujours. –
252
Ebda., S. 148. Ebda., S. 148. 254 Alfred de Vigny, »La maison du berger«, in: Œuvres (hrsg. F. Baldensberger), op.cit., Bd. 1, 5.131. 255 Alfred de Vigny, »Eloa ou la sœur des anges«, in: Œuvres (hrsg. F. Baldensberger), op.cit., Bd. 1, S. 10. 144 253
Que votre voix est triste, et quel sombre discours! N'est-ce pas Eloa qui soulève ta chaîne? J'ai cru t'avoir sauvé. – Non, c'est moi qui t'entraîne. - Si nous sommes unis, peu m'importe en quel lieu! Nomme-moi donc encore ou ta Soeur ou ton Dieu! - J'enlève mon esclave et je tiens ma victime. - Tu paraissais si bon! Oh! qu'ai-je fait? – Un crime. - Seras-tu plus heureux du moins, es-tu content? - Plus triste que jamais. – Qui donc es-tu? – Satan. 256
Der gefallene Erzengel ist Satan, der, seinem Gesetz gehorchend, dem Verdikt Gottes gehorchend, für seine Empörung dadurch büßen muß, daß er immer und überall das Böse tut. Diesem Gesetz gemäß muß er den Engel, der ihn retten will, verführen und in das Reich der Finsternis herabziehen. Jedoch, er ist keineswegs glücklich über seinen Erfolg, er ist: »Plus triste que jamais.« Wie das Böse und das Übel an sich, so hat Gott auch Satan auf dem Gewissen und mit ihm alle, die Satan verfallen. Éloa ist bei Vigny begriffen als biblischer Name für élu = »auserwählt«. Und das hat seine Konsequenzen. Nicht nur der Empörer und seine Schuld hat Gott durch seine Grausamkeit erst erzeugt, sondern auch das Auserwähltsein wird zur Strafe. Dieser Gedanke hat seine monumentale Gestaltung erfahren in einem anderen mit Recht berühmten Gedicht Vignys: Moïse 257, das schon 1822 geschrieben wurde. Vigny hat hier selbst den Symbolcharakter betont. Moses ist für ihn Sinnbild für den Menschen aller Epochen, eher modern als antik, er ist das Genie, das seiner Einsamkeit müde ist: l'homme de génie, las de son éternel veuvage et désespéré de voir sa solitude plus vaste et plus aride à mesure qu'il grandit. Fatigué de sa grandeur, il demande le néant. 258
Moses ist der Auserwählte Gottes, aber die Auserwähltheit ist eine Last, die er abwerfen möchte: Il disait au Seigneur: »Ne finirai-je pas? Où voulez-vous encor que je porte mes pas? Je vivrai donc toujours puissant et solitaire? Laissez-moi m'endormir du sommeil de la terre! Que vous ai-je donc fait pour être votre élu? 259
Was habe ich Dir getan, daß Du mich zu Deinem Auserwählten erkoren hast? Genie-Sein ist Strafe Gottes, der Schrecken des Alleinseins! Eine tiefere Form der Anklage gegen Gott, der Anklage, daß Menschsein Strafe ist, konnte in der Romantik nicht konzipiert werden.
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Ebda., S. 31. Alfred de Vigny, »Moïse«, in: Œuvres (hrsg. F. Baldensberger), op.cit., Bd. 1, S. 7f. 258 Alfred de Vigny, »Lettre à Camilla Maunoir«, »Lettres à une puritaine«, 6. Dezember 1838, in: Poésies complètes (hrsg. Dorchain), Paris o. Datum. 259 Alfred de Vigny, »Moïse«, op.cit., S. 8. 145 257
Vigny hat eine große Dichtung über einen berühmten Empörer der Geschichte geplant: Julian Apostata, für den das Christentum das gleiche war wie für ihn selbst: eine »religion du désespoir«. Immer wieder hat dieser immer wieder enttäuschte Dichter Hoffnungen für eine bessere Zukunft geschöpft. Wir wissen, daß er politisch Legitimist war. Aber er verabscheute den katholisch-monarchischen Absolutismus ebenso wie die entschiedene Demokratie romantischer Prägung. -Le Pape de Joseph de Maistre et Le Contrat social de Jean-Jacque sont les deux livres théoriques qui représentent le mieux, l'un le système théologique des rois, l'autre le système critique des peuples. Tous deux ont une base également absurde, le droit divin et la souveraineté du peuple. 260
Vignys Poèmes philosophiques und die Entstehung der Großstadtlyrik Vor der Revolution von 1830 macht sich Vigny mit den liberalen Ideen Benjamin Constants vertraut, bewundert den katholischen Sozialismus des Abbé Lamennais (1782-1854) und studiert die Schriften Saint-Simons, eines Nachfahren des berühmten Memoirenherzogs aus dem 17. Jahrhundert. Saint-Simon hat die erste umfassende Theorie des industriellen Zeitalters entwikkelt, noch bevor dieses recht geboren war, und hat sich Gedanken darüber gemacht, welche Regierungs- und Gesellschaftsform für diese Epoche zu schaffen wäre. Unter dem Einfluß dieser Ideen schrieb Vigny das Gedicht Paris, 261 eine enthusiastische Schilderung der Hauptstadt voller neuer, gärender Ideen, aus denen sich, wie Vigny hoffte, das von Saint-Simon prophezeite goldene Zeitalter der industrialisierten Gesellschaft herausbilden würde. Vigny schwebte eine ideale Synthese von Königtum und Volk vor: {...) le pouvoir royal fortifié des idées du peuple. 262
Aber die Juli-Monarchie wurde eine bittere Enttäuschung, und mit den alten Hoffnungen wurden von ihm auch die Ideen Saint-Simons und Lamennais' wieder verworfen. Nun erst beginnt die Epoche des entschiedenen Pessimismus in seinem Denken, die erst spät wieder durch neue, aber keineswegs konkrete geschichtliche Hoffnungen erhellt wird. Die in den Jahren 1832 bis 1843 geschriebenen Gedichte hat Vigny unter dem Titel Poèmes philosophiques zusammengefaßt. Er hätte alle insgesamt so nennen können. Poesie war für ihn der reinste Ausdruck des Gedankens – die Kunst des großen Symbols. Er sieht keinen Widerspruch zwischen komplizierter Ideenproblematik und Poesie:
260
Alfred de Vigny, »Journal d'un poète«, op.cit., S. 889. Alfred de Vigny, »Paris«, in: Œuvres (hrsg. F. Baldensberger), op.cit., Bd. 1, S. 109. 262 Alfred de Vigny, »Journal d'un poète«, op.cit., S. 917. 146 261
Tous les grands problèmes de l'humanité peuvent être discutés dans la forme des vers. 263
In einem Vorwort zu seiner Gedichtsammlung Poèmes antiques et modernes nimmt Vigny für sich die Priorität in der Abfassung philosophischer Lyrik in Anspruch. Symbole verbergen bei ihm das Ich, das die anderen Romantiker so gern konfessionshaft präsentieren. Seine Verse lassen daher manches von dem Pathos seiner Zeitgenossen vermissen; ihm fehlt die unmittelbare Selbstaussage eines Musset, die Musikalität eines Lamartine, die strömende, volltönende Wortgewalt eines Hugo. Seine Verse sind eher – wenn wir ein Bild verwenden wollen – wie mit großer Anstrengung behauener Marmor, makellos im Ergebnis, von starken, faszinierenden Konturen und voller Kraft, die unter Verzicht auf thematische Fülle aus einem begrenzten, aber tiefen Schatz an Gedanken und aus einem unablässig auf seinen Sinn hin durchforschten Leben schöpft. Alfred de Vigny ist ein großer Dichter. Während man von Lamartine heute nur noch wenige Gedichte liest, hat die Poesie Vignys dem Interessenwandel der Zeit widerstanden.
Alfred de Musset, Weltschmerz und Liebe Wenn Alfred de Vigny der Dichter des Schicksals ist oder vielmehr der Dichter der unablässigen Frage nach dem Sinn dieses Schicksals, so ist Alfred de Musset, (1810-57) dieses enfant terrible seiner Generation, der Dichter der Liebe, in die sich von eh und je die ganze Welt einpacken läßt. Die Liebe ist sein zentrales Thema, die Liebe in allen Variationen, und zwar auf Grund der Erfahrung des Lebens wie der Literatur. Musset war ein Vielgeliebter und Vielliebender, so wie er auch ein Kenner der erotischen Literatur des 18. Jahrhunderts war, was in seiner Dichtung durchaus spürbar ist. Aber man darf ihm eben darüber nicht alles glauben. Wenn er in der frühen Verserzählung Namouna 264 die Gestalt des Don Juan beschwört und verklärt, so deshalb, weil er selber einer sein wollte, ja ihn überbieten wollte, aber er hatte nicht die Kraft, hatte nicht die Vitalität jenes vitalsten Frauenjägers der Literatur. Musset spielte viel mehr als er es war den vom Dämon der Wollust Getriebenen, dem keine Abnormität fremdgeblieben ist, den blasierten Lebemann, der alles ausgekostet hat, den alles anwidert und der doch dem Leben keinen anderen Sinn zu entringen vermag als eben den, es zu verbrauchen. Das ist Pose, aber doch nur zum Teil. Weltschmerz und Liebe standen für ihn immer in einem ursächlichen Zusammenhang. Was tun? Man greift zum Haschisch. In dieser frühesten Äußerung kündigt sich der Rhythmus an, der sein ganzes Lebensgefühl und seine Lebensführung bestimmen wird. Mit 18 Jahren übersetzt er, 1828, – früh von den Verführungen der Stimulanzien angezogen – Thomas de
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Ebda., S. 1204. Alfred de Musset, »Namouna«, in: Poésies complètes (hrsg. Maurice Allem), Paris 1957, S.239. 147
Quinceys Confessions of an English Opium Eater von 1822 ins Französische. Als er 1857- 47 Jahre alt- starb, war er erschöpft von seinen morbiden Neigungen, ein vorzeitiger Greis, aber ohne ein einziges graues Haar. Musset hat die Liebe immer ernster genommen als die romantischen Schulprogramme. Dafür hat sie ihn aber ebenso hart oder noch härter mitgenommen als die anderen Romantiker, und sogar ziemlich gleichzeitig. Man wird dieser chronologischen Tatsache freilich nicht die Bedeutung zumessen dürfen, die der bekannte französische Literarhistoriker Albert Thibaudet ihr geben wollte. Des feinsinnigen Literaturkritikers Thibaudet origineller Beitrag zur Literaturkritik beruhte – unter Bergsons Einfluß – auf einer Generationenaufteilung der Literaturgeschichte, die allerdings zu einer Manie wurde und dem Weltgeist unterstellte, daß er den Geschichtsprozeß nur, und immer generationenweise, einen Satz nach vorwärts tun ließ. Thibaudet bezeichnete das Jahr 1834 als das Jahr der Revolution im Liebesleben der Romantiker: Victor Hugo begann seine Liaison mit Juliette Drouet, für Vigny begann die Leidensgeschichte mit Marie Dorval, die er später symbolisch in den Liebesverrat der Dalila an Samson transponierte, und im gleichen Jahre fanden sich Musset und George Sand zusammen. Obwohl alle drei Begegnungen bemerkenswerte literarische Folgen zeitigten, sollte man doch die zeitliche Koinzidenz nicht überbewerten. Bis heute gilt indessen das Verhältnis zwischen George Sand und Musset als Urbild der romantischen Liebe überhaupt, und so nimmt es kein Wunder, daß sie mehrfach Gegenstand romanhafter Darstellungen wurde, die ich – da diese Tatsache als solche wie die Autoren interessant genug sind – wenigstens kurz erwähnen will. Zunächst drei leicht zu dechiffrierende Schlüsselromane. Verfasserin des ersten, der den Titel trägt Elle et lui, ist die Hauptbeteiligte selbst, George Sand, die hier die Ereignisse nach ihrer Perspektive zurechtrückte – zwei Jahre nach Mussets Tod, also 1859. Nur Monate später korrigierte Alfred de Mussets Bruder Paul George Sands Darstellung von Elle et lui mit dem Buch: Lui et Elle. Bereits einige Jahre vorher, 1851, war ein Roman mit dem Titel Lui, roman Contemporain erschienen. Verfasserin ist Louise Colet, die weniger durch ihre damals sehr erfolgreichen Bücher als durch ihre langjährige intime Freundschaft mit Flaubert in die Geschichte eingegangen ist. Es ist nicht ohne Reiz zu vermerken, daß diese Louise Colet ihren Roman Lui ausgerechnet über die Frau schrieb, die später zur verständnisvollsten, mütterlichen und innig verehrten Freundin Flauberts werden sollte, eben George Sand. Der vorhin erwähnte Umstand, daß Mussets und George Sands Beziehungen als Prototyp einer romantischen Liebe gelten, wurde sehr bezeichnenderweise bestätigt und bestärkt durch einen Roman, den Charles Maurras 1902 veröffentlichte: Les Amants de Venise. Maurras, den der staatliche Autoritätsglaube und der Haß auf die Republik später sogar für eine Anlehnung Frankreichs an Hitler werben ließen, war einer der wichtigsten Träger der antiromantischen Bewegung im modernen Frankreich, und Musset und George Sand wurden daher posthum die Opfer seiner scharfen Kritik an einer angeblich Frankreichs Niedergang verursachenden romantischen Dekadenz. Doch nun wieder zurück zu Musset selbst. Zwar sind seine berühmten vier Nuit-Gedichte ohne die schicksalhafte Begegnung mit George Sand nicht denkbar; um ihre Thematik zu finden, brauchte Musset jedoch nicht so lange zu warten. 148
Mussets Rolla, Selbstportrait der »jeunesse dorée« Als der Achtzehnjährige im Cénacle der Romantiker auftauchte, übte er durch seine geistvollen, wenn auch noch keineswegs originellen Gedichte über Liebe, Wein und Seelenschmerz eine Wirkung aus, zu der seine persönliche Erscheinung wesentlich beitrug: ein Dandy, Prototyp der jeunesse dorée, einmal in der Pose des blasierten Skeptikers, dann wieder offen, echt, ein junger Mann, dem man es glaubte, wenn er darüber klagte, daß er nicht im Griechenland des Perikles oder im Rom Leos X. lebte, und der wirklich in das Kostüm eines Renaissancepagen paßte, als der er sich mit Vorliebe verkleidete. Für diesen Dichter der Liebe war die französische Muttersprache auch die Sprache der Liebe par excellence: France, ô mon beau pays! j'ai de plus d'un outrage Offensé ton céleste, harmonieux langage, Idiome de l'amour, si doux qu'à le parler Tes femmes sur la lèvre en gardent un sourire. 265
Wir wollen rasch über die Contes d'Espagne et d'Italie hinweggehen, die Musset 1830also zwanzigjährig – veröffentlichte: frühreife Verserzählungen, frühreif nicht weil sie sehr originell und tief wären, sondern weil sie mit Raffinesse die Themen von Liebe, Lust, Haß, Tod und Eifersucht mit Duellen und Mordanschlägen mischen und das Ganze vor die exotisch gedachte Kulisse Italiens und Spaniens verpflanzen. Wie sehr Musset hier auch dem romantischen Drang nach diesen Ländern folgt, so ist er doch eigentlich der Dichter der Stadt Paris, freilich eines einseitigen Paris. Und einseitig genug ist die erste größere Dichtung Mussets, die – heute nicht mehr ganz überzeugend – seinerzeit großen Eindruck machte. Es ist Rolla von 1833: die Geschichte eines jungen Wüstlings, der, angeekelt vom Leben und von sich selbst, durch Selbstmord für sein Leben büßt; und zugleich die Geschichte eines Mädchens, das im Alter von fünfzehn Jahren von seiner Mutter an den Lebemann Rolla verkauft wurde. Dieses Mädchen, Marie, ist für die letzte Nacht Rollas bestimmt, an deren Ende er sich tötet. Romantik und Prostitution also, Sinnlichkeit, Tod, Weltschmerz, fehlgeleitete, besudelte Sehnsucht nach Reinheit, die bei Musset immer als unerlöster Begleitton mitklingt. Die Anregung gab ein fait divers, der Selbstmord eines jungen Lebemanns, der sein Vermögen mit Glücksspiel und Weibern verpraßt hatte, um, nach diesen rühmlichen Taten angewidert vom Leben, diesem Leben ein Ende zu setzen. Man kann den Rolla heute nicht mehr mit gutem Gewissen anpreisen, er enthält zuviel pathetische Rhetorik. Und doch wirkt heute noch manches daraus außerordentlich stark, etwa die Einleitung, in der Musset seinem Thema eine historische Dimension verleiht, indem er eine Urzeit der Menschheit evoziert, in welcher die schaumgeborene Venus, »vierge encore« 266, ihr Haar windet und die Erde befruchtet, da noch alle Quellen unter
265
Alfred de Musset, »Les secrètes pensées de Rafaël«, in: Poésies complètes (hrsg. M. Allem), op.cit., S. 121. 266 Alfred de Musset, »Rolla«, in: Poésies complètes (hrsg. M. Allem), op.cit., S. 273. 149
dem Kuß des Narziß erzittern, da Herkules richtend die Welt durchstreift und selbst die Schmerzen göttlich sind: Où tout était divin, jusqu'aux douleurs humaines; Où le monde adorait ce qu'il tue aujourd'hui; Où quatre mille dieux n'avaient pas un athée; Où tout était heureux, excepté Prométhée, Frère ainé de Satan, qui tomba comme lui? 267
Doch das goldene Zeitalter, das wir hierin vermuten, ist für Musset indessen die Zeit des glaubensstarken Christentums: Regrettez-vous le temps où d'un siècle barbare Naquit un siècle d'or, plus fertile et plus beau? ......... Où tous nos monuments et toutes nos croyances Portaient le manteau blanc de leur virginité? Où, sous la main du Christ, tout venait de renaître? 268
Aber diese goldene Zeit ist vorbei; der Dichter bekennt es: Je ne crois pas, ô Christ! à ta parole sainte: Je suis venu trop tard dans un monde trop vieux. 269
Die Unschuld ist für die Menschheit unwiederbringlich verloren. Und wo sie plötzlich wieder greifbar scheint inmitten der Verderbnis, da wird ihr Erlebnis mit dem Tode erkauft. Das ist das Schickal Rollas. Rolla ist ein junger Wüstling, der immer nur die Lust und nie die Liebe gekannt hat. Ein Don Juan, der indessen keine Eroberernatur ist, sondern der eine tiefe, untergründige Sehnsucht nach der Unschuld hat. Das Böse, das er tut, ist eigentlich gar nicht seine Natur, es ist vielmehr die Zeit, die Epoche, die in ihm handelt. Die Nähe zu dem Octave der Confession d'un enfant du siècle ist offenkundig. Aber Rolla ist, im Gegensatz zu Octave, unschuldig wie ein Kind. Da er – wiederum im Gegensatz zu Octave – nie wirklich geliebt hat, haben seine Ausschweifungen auch nie die Liebe besudelt. Und so wird es möglich, daß die erste Liebe, die Liebe zu dem von ihm mißbrauchten Mädchen Marie, ihn entsühnt, aber freilich zugleich im Tode. Rolla trinkt sein Gift, da er – der völlig Ruinierte – das Opfer seines Opfers nicht mehr annehmen kann. Sein letzter Kuß ist das erste reine Erlebnis seines Daseins: Dans ce chaste baiser son âme était partie, Et, pendant un moment, tous deux avaient aimé. 270
267
Ebda., S. 273. Ebda., S. 273 f. 269 Ebda., S. 274. 270 Ebda., S. 292. 150 268
Das ist makabre Romantik, aus dem Weltschmerzgefühl der verlorenen Unschuld, des Verdammtseins durch das Schicksal, des Zuspätgeborenseins, des Verurteiltseins zur Tatenlosigkeit dieser Generation, die schon in der Confession deutlich werden ließ, daß sie auf Surrogate verwiesen war. Eine Dichtung wie Rolla läßt – wie man heute immer über diese Mischung von Tod, Wollust und Unschuld denken mag – verstehen, welches die Impulse für die romantische Rückwendung zu Mittelalter und Christentum sind. Bei Dichtern wie Musset ist es für immer ungestillte Sehnsucht, bei politischen Köpfen wie de Maistre führen sie zum Versuch, den hierokratischen Staat des Mittelalters zu restaurieren.
Die »Nuit«-Gedichte Rolla wurde als die längst fällige Offenbarung des Genies eines Dichters begrüßt, der bisher alles wieder in spielerischer Ironie zurückgenommen hatte. Der gleiche Ernst prägt die vier Nuit-Gedichte, die Musset zwischen 1835 und 1837 schrieb und veröffentlichte. Drei dieser »Nächte« – Nuit de Mai, Nuit d'Août, Nuit d'Octobre – haben die Gestalt eines Zwiegesprächs zwischen dem Dichter und seiner Muse. Die vierte die einer wiederholten Begegnung des Dichters mit seinem double, seinem zweiten Ich, das zugleich seine Solitude ist. Der Titel Nuits bezieht sich sowohl auf die Erlebniszeit dieser Dialoge wie auf die Art ihrer Abfassung. Musset verschloß sich dabei in sein Zimmer, versetzte sich bei üppiger Blumendekoration und vielfachem Kerzenlicht mit geeigneter Lektüre und stimulierenden Getränken in Ekstase – und empfing seine Muse bis zum Morgengrauen. Alle vier Gedichte kreisen um das gleiche Grundthema: Liebe und Künstlertum. Die Liebe ist – Glück und Leiden zugleich – identisch mit dem Leben, und der Konflikt von Liebe und Kunst ist der Konflikt von Kunst und Leben. Die Liebe, das ist – bei Musset mehr als bei jedem anderen – die Gier nach dem Leben, die, gerade, indem sie die Erfüllung dieses Lebens bieten soll, sich an der Kunst versündigt. In einem anderen Gedicht – À la Malibran – schrieb Musset: Rien n'est bon que d'aimer, n'est vrai que de souffrir. 271
Hier erscheinen Wahrheit und Gutheit im Lieben und Leiden beschlossen, aber die Wahrheit wird für den Dichter erst existent durch die Dichtung. Und die Erfüllung des einen schließt – so empfindet es Musset – die des anderen aus. Das Leben verlangt das Opfer der Kunst, so wie die Kunst das Opfer des Lebens: J'aime, et pour un baiser je donne mon génie. 272
So heißt es in La Nuit d'Août.
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272
Alfred de Musset, »A la Malibran«, in: Poésies complètes (hrsg. M. Allem), op.cit., S. 340. Alfred de Musset, »La nuit d'août«, in: Poésies complètes (hrsg. M. Allem), op.cit., S. 317. 151
Die Nuits folgen auf den Bruch mit George Sand, aber sie beziehen sich keineswegs ausschließlich auf sie, so wie es auch falsch wäre, alles einfach biographisch erklären zu wollen. Wenn Musset seinen Dichter ausrufen läßt: Honte à toi qui la première M'as appris la trahison (...) 273
so kann nicht George Sand gemeint sein, die ja keineswegs die erste war, die ihn betrog, wohl aber will Musset hier in Versen dasselbe sagen wie in der Confession, wo der gleiche Bruch der Lebenslinie durch einen ersten Liebesverrat erzählerisch aufgenommen ist – wie Sie sich erinnern. Und wenn in der Nuit d'Octobre der Gedanke ausgesprochen wird, daß man Mitleid und Verstehen für die Frau aufbringen soll, die einen betrogen hat, so ist dies das gleiche Motiv wie in dem Drama André del Sarto, diesmal erweitert um den Gedanken, daß Schmerz und Leid den Menschen, zumal den Dichter, bereichern. Man könnte sich über die Nuit-Gedichte lange verbreiten, und man müßte sorgsam ihre Qualitäten und Schwächen abwägen. Wir wollen dies nicht tun, sondern uns noch ein paar kurze Gedichte Mussets ansehen, unter denen sich – wie ich glaube – diejenigen befinden, in denen Musset zu den Grenzen dessen, was ihm im lyrischen Bereich der Kunst zugänglich war, vorgestoßen ist. Musset ist am stärksten da, wo er unter Verzicht auf die Rhetorik, höchste Kunst mit höchster Einfachheit zu verbinden weiß. Das ist geschehen in dem 8-SilberSonett Tristesse, 1840, der in einfachster Sprache gefaßten lyrischen Bilanz seines Lebens: J'ai perdu ma force et ma vie, Et mes amis et ma gaieté; J'ai perdu jusqu'à la fierté Qui faisait croire à mon génie. Quand j'ai connu la Vérité, J'ai cru que c’était une amie; Quand je l'ai comprise et sentie, J'en étais déjà dégoûté. Et pourtant elle est éternelle, Et ceux qui se sont passés d'elle Ici-bas ont tout ignoré. Dieu parle, il faut qu'on lui réponde. Le seul bien qui me reste au monde Est d'avoir quelquefois pleuré. 274
Musset ist immer dann am schwächsten, wenn er tiefgründig-philosophisch sein will und wenn er diese Prätention rhetorisch drapiert. Wenn er aber darauf verzich-
273
Alfred de Musset, »La nuit d'octobre«, in: Poésies complètes (hrsg. M. Allem), op.cit., S. 524. 274 Alfred de Musset, »Tristesse«, in: Poésies complètes (hrsg. M. Allem), op.cit., S. 402. 152
tet und wenn er auf eine Länge verzichtet, die dieser kurzatmige Dichter nur schwerlich durchhält, dann bringt seine Sprache gleichsam von selbst die Tiefe mit. Das ist in Tristesse der Fall. Die Schlichtheit des Sprechens in der ersten Strophe ist kaum zu überbieten. Ihr fast prosaischer Charakter geht bis hart an die Grenze, da die Poesie des Verses zerstört und der Reim zur bloß äußeren Zutat wird. Aber eben doch nur bis hart an diese Grenze. Die Gefahr ist gebannt durch den Verzicht auf das Enjambement, durch einen Verzicht, der gerade im Kurzvers, wo er unvermeidlich scheint, die poetische Gebundenheit fast unmerklich wieder in den Sprachstil einführt. Der Parallelismus des zweimaligen »J'ai perdu« tut ein übriges, indem er den bloßen Bericht der ersten beiden Verse in den zwei folgenden zum Problem des Genieverlusts erweitert und steigert, ohne daß jener Berichtcharakter, jener Charakter der resignierten Rückschau, zerstört würde. Der zweite Quatrain behält diesen Ton bei: die Wahrheit, die er für eine Freundin hielt, hat ihn alsbald angewidert, denn die Wahrheit, das ist die Desillusionierung. Ich bin gezwungen, ein etwas geschwollenes Fremdwort zu gebrauchen, um deutlich zu machen, was Musset durch die Kunst des simplen Worts zum Ausdruck brachte. Das erste Terzett führt die persönliche Erfahrung des Wahrheitsproblems ins Allgemeine: wer sie ignoriert, begibt sich jeder Erkenntnis. Anders gesagt: Wahrheit und Erkenntnis sind immer durch Enttäuschung und Schmerz erkauft: Et pourtant elle est éternelle, Et ceux qui se sont passés d'elle Ici-bas ont tout ignoré.
Der Text deutet gleichsam nur an, und doch ist der Gedanke ganz vorhanden. Und weil dem so ist, kann Musset den allgemeinen Befund sogleich wieder auf seinen Ausgang, den persönlichen Erfahrungsgrund zurücklenken, mit dem Ergebnis, daß – paradox und überzeugend – das Allgemeine im Persönlichen aufgehoben ist: Dieu parle, il faut qu'on lui réponde; Le seul bien qui me reste au monde Est d'avoir quelquefois pleuré.
Das Ich der letzten Zeile ist das gleiche wie das der ersten Zeile, aber jetzt erweitert um die Dimension des totalen Bezugs, hereingeholt mit den einfachsten Mitteln. Die Wahrheit ist des Menschen Größe – weil er sie zu finden vermag -, und sie ist des Menschen Schwäche und Leid – weil sie ständiges Desillusionieren ist. Dies ist sein Schicksal, und dieses Schicksal ist der Spruch Gottes, der Antwort heischt. Und die Antwort des Menschen, die des ganz Einzelnen und Vereinzelten, ist das Weinen, das ganz Menschliche, das die Enttäuschung und das Wissen um sie einbegreift. Dieses Gedicht weist keinerlei Rhetorik auf, zeigt keine Metapher: es ist als Ganzes eine Metapher, die Persönlichstes und allgemein Menschlichstes identisch werden läßt: Wahrheit und Trug als menschliches Schicksal, als condition humaine, in subjektiver Brechung, die, gerade weil sie auf Explikation verzichtet, 153
im Moment der äußersten Subjektivität die Faszination der objektiven Gültigkeit zurückgewinnt. Diese Poesie lebt nicht vom gegenwärtigen Augenblick allein, sondern von der Erinnerung, die jener Augenblick des Bewußtwerdens evoziert. Und »Erinnerung« Souvenir – ist ein anderes, längeres Gedicht überschrieben, das Musset 1841 schrieb, nachdem er ganz zufällig George Sand wiederbegegnet war. Dieses Gedicht, dessen Anlaß also nachweisbar ein biographisches Faktum war, lebt doch ganz und gar von einer literarischen Antithese. Es bezieht sich auf eine berühmte Dante-Stelle. Im 5. Gesang von Dantes Inferno stehen die Verse, in denen Francesca da Rimini, zusammen mit ihrem Geliebten Paolo zu ewiger Höllenstrafe verdammt, das vergangene Glück beschwört, dessen Erinnerung – dem Gesetz des Danteschen Inferno gemäß – zum Bestandteil der Strafe selbst wird: E quella a me: Nessun maggior dolore che ricordarsi del tempo felice nella miseria... 275
Musset wendet diesen Gedanken in sein Gegenteil um. Er unterliegt nicht dem Gesetz des Danteschen Inferno, das die Gegenwart nur als Strafe für die Vergangenheit kennt. Mussets Gedicht lebt zwar von dem Schmerz über die Vergänglichkeit, über das unaufhaltsame Fließen der Zeit, aber er wendet das Negativum des Vergänglichen zum Positiven: Die Zeit verklärt in der Erinnerung die Vergangenheit. Was Schmerz war, wird Reichtum, denn der Schmerz versinkt, er verliert die harte Kontur und läßt nur noch das Schöne übrig, das in ihm beschlossen war, denn Schmerz setzt den Verlust von Schönem voraus, und sei dieses nur illusionär. Die Zeit und die Erinnerung aber verwandeln das Illusionäre in eine Wirklichkeit, die gewisser und beständiger ist als die Gegenwart es je zu sein vermöchte: und so wird die Erinnerung wahrer als das gegenwärtig erlebte Glück. Musset wendet sich direkt gegen Dante: Dante, pourquoi, dis-tu qu'il n'est pire misère Qu'un souvenir heureux dans les jours de douleur? Quel chagrin t'a dicté cette parole amère, Cette offense au malheur? 276
Und er hält Dante entgegen: Un souvenir heureux est peut-être sur terre Plus vrai que le bonheur. 277
Vielleicht haben beide Recht! Ich brauche kaum zu sagen, daß hier im Keim die Ansätze für das Zeit-Erlebnis Marcel Prousts bereit liegen. Und niemand, der Proust einmal gelesen hat, kann umhin, an ihn zu denken, wenn er die letzte Strophe von Mussets Souvenir liest:
275
Dante, »Inferno«, 5. Gesang, Vers 121-123. Alfred de Musset, »Souvenir«, in: Poésie complètes (hrsg. M. Allem), op.cit., S. 406. 277 Ebda., S. 406. 154 276
Je me dis seulement: »À cette heure, en ce lieu, Un jour je fus aimé, j'aimais, elle était belle. J'enfouis ce trésor dans mon âme immortelle, Et je l'emporte à Dieu!« 278
Proust hat die Konsequenz aus der Tatsache gezogen, daß der Gegenstand dieser erinnerten Wirklichkeit selber davon nichts weiß. Liebe, Glück und Unglück sind für ihn allein im Subjekt. Und er führt damit irgendwie – und sicher, ohne es zu wissen – einen Gedanken zu Ende, den der Neuplatoniker Leone Ebreo in der Renaissance auf der Grundlage des emanatorischen Eros und seiner Kraft zum Wiederaufstieg in die Regionen des Lichts gefaßt hatte: der Liebende ist immer a priori wertvoller als der Geliebte, denn nicht das Objekt, das nur Anlaß ist, sondern der Affizierte, ist Träger des Wesens, weil er der Träger der Liebeskraft ist. Musset hat keine philosophischen oder anthropologischen Konsequenzen aus diesen Erfahrungen gezogen. Aber er hat den Gedanken der Vergänglichkeit und ihrer Aufhebung von Schmerz und Glück in der Erinnerung in Poesie umgesetzt vermittels des einfachen Gedankens, Wechsel und Konstanz in der Liebe als Artikulationen des menschlichen Herzens zum Thema eines Gedichts zu machen. Es ist das Gedicht Chanson aus den Premières Poésies. J'ai dit à mon cœur, à mon faible cœur: N'est-ce point assez d'aimer sa maîtresse? Et ne vois-tu pas que changer sans cesse, C'est perdre en désirs le temps du bonheur? Il m'a répondu: Ce n'est point assez, Ce n'est point assez d'aimer sa maîtresse; Et ne vois-tu pas que changer sans cesse Nous rend doux et chers les plaisirs passés? J'ai dit à mon cœur, à mon faible cœur: N'est-ce point assez de tant de tristesse? Et ne vois-tu pas que changer sans cesse, C'est à chaque pas trouver la douleur? Il m'a répondu: Ce n'est point assez, Ce n'est point assez de tant de tristesse; Et ne vois-tu pas que changer sans cesse Nous rend doux et chers les chagrins passés? 279
4 Strophen mit insgesamt 4 Reimen bzw. 8 Reimwörtern. Je zweimal die Frage des Dichters an sein Herz, je zweimal die Antwort dieses Herzens an den Dichter: Zerlegung des Ich, das hier seine widersprechenden Gefühle reflektiert. Reflektiert in ständigen Parallelismen. Nur jede vierte Zeile dieses Gedichts bringt einen neuen Text, dergestalt, daß das Thema in Wiederholungen und Abweichungen und in
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Ebda., S. 409. Alfred de Musset, »Chanson«, in: Poésies complètes (hrsg. M. Allem), op.cit., S.123. 155
ganz allmählichem Verkehren des Gesagten den anfangs widersprüchlichen Gedanken zur Synthese vorantreibt. Die Grundfrage des Gedichts ist: bedeutet der stetige Wechsel in der Liebe – das »changer sans cesse« – den Verlust des Glücks oder dessen Perpetuierung? Und vom Thema des »changer sans cesse« her füllt sich das ganze vergangene Leben und Lieben in einem Bergen der Erlebnisschätze durch die Erinnerung, die den Abgrund zwischen Leid und Glück ausfüllt. Die Stetigkeit des Wechsels – des »changer sans cesse« – rückt die Summe des Lebens auf die zeitentrückte Ebene des Erinnerns, auf der alle partikulären Momente der Vergangenheit zu erfüllenden Rhythmen der jetzt ihren ganzen Reichtum erfahrenden Seele werden. Die Form dieses Gedichts ist ihr Inhalt selbst. Die Reimwörter lösen in Wiederholung und Antithese von »cœur« – »bonheur« – »douleur« -, »plaisirs« – »chagrins« -, »maîtresse«, »tristesse« alle Gegensätze auf im »changer sans cesse«, im Wechsel als Vorbedingung der Konstanz. Sie harmonisieren »plaisirs« und »chagrins«, »bonheur« und »douleur«; und das schwache Herz- »faible cœur« – ist die wahre Stärke des leiderfahrenen Ich. Die Repetition bringt unmittelbar die Repetition der Sprachmelodie und des Rhythmus mit: in Text und in Ton. Das Gedicht ist überschrieben: Chanson. Nicht zufällig, denn sein Bauprinzip ist der Zusammenklang von Musik und Text. Nicht Musik im wörtlichen Sinne, denn die Einheit von ausgeübter Musik und Text ist ja längst verloren: und eines der Geheimnisse romantischer Lyrik ist es, die verlorene Musikbegleitung in die Melodie der Sprache selbst hineinzunehmen. Und die Voraussetzung dafür, daß dies gelingt, ist die höchste Natürlichkeit der Sprache. Das aller Dichtung immanente Verfremden der Sprache durch die Form und den Stil fällt in diesem Gedicht – und das ist vielleicht sein eigentliches Geheimnis – mit der höchsten Kunstfertigkeit zusammen. Höchste Künstlichkeit ist identisch mit höchster Natürlichkeit. Und hierin ist Musset – selten genug, dann aber gleich in Vollendung – an die Grenzen der Möglichkeiten romantisch-lyrischer Aussage vorgestoßen. Ein Gedicht wie Chanson ist – so biographisch und geistesgeschichtlich determiniert sein Ausgangspunkt auch immer sein mag – keinem Wechsel des Geschmacks oder des Interesses unterworfen, solange Menschen Menschen bleiben in der Doppelbestimmung ihres Wesens als Stärke und Schwäche, im Widerspruch absoluter Sehnsucht und partieller Erfüllung, die zur Dauer und damit zur Aufhebung von Zeit und Raum drängt. Wir sind damit vielleicht zugleich nahe an die Gesetzlichkeit der lyrischen Gattung überhaupt herangekommen. Aber die Vorsicht gebietet, innezuhalten und voreilige Schlüsse zu meiden. Denn noch stehen uns neue Bereiche bevor: mit Nerval, mit Baudelaire. Und bevor wir dieses Neuland betreten, müssen wir ein monumentales Hindernis aus dem Wege räumen, indem wir es begreifen; dieses Hindernis heißt
Victor Hugo, die zivilisatorische Funktion der Lyrik Wir kennen ihn schon als Theoretiker und Praktiker des Dramas wie als Chef d'école der romantischen Bewegung. Sein Leben ist nicht ohne gravierende Widersprüche; das Prophetentum und die Pose des nationalen Gewissens, in der er 156
sich gefiel, haben Wurzeln in so mancher menschlichen Schwäche und enttäuschtem Ehrgeiz. Sein erst vor wenigen Jahren veröffentlichtes intimes Tagebuch legt höchst peinliche Blößen frei, aber der Umstand, ein schwacher Mensch zu sein in vielen Dingen, besagt keineswegs eine Minderung seiner Bedeutung, sondern eher das Gegenteil, wenn man in Betracht zieht, daß es aus dieser Schwäche erst einmal etwas zu machen gilt. Wir wollen das Urteil eines Mannes heranziehen, dessen kritische Kapazität zu Unrecht unter dem beherrschenden Eindruck eines größeren Bruders übersehen wird, das Urteil Heinrich Manns, der Victor Hugo liebte, nicht zuletzt um seines Romans Les Misérables willen, dem man zwar die beste Absicht, aber keineswegs ein wirkliches künstlerisches Gelingen zubilligen kann. Was Heinrich Mann indessen zu Beginn seines Hugo-Essays sagt, bleibt gültig: Er hatte nur die Gedanken aller Welt und jeden erst, wenn es Zeit war. Man sagt, er habe sie oft noch später gehabt als der Durchschnitt. Er hielt sich aber für einen Denker. Das war gut so. So konnte er mit voller Überzeugung die geltenden Begriffe gestalten. Er nahm sie ernster als andere und litt sogar für sie. Er war nicht Denker, aber Darsteller von Gedanken, auch mit seiner Person. 280
Besser kann es kaum gesagt werden. Es bleibt uns nur übrig, diese Synthese im folgenden in ihre lyrischen Momente zu zerlegen. Heinrich Mann hatte Recht: Hugo war kein Denker, wollte aber partout einer sein; und er verstand es, sich als solchen hinzustellen – andere dachten besser und schärfer als er, er aber gab den Gedanken und Gefühlen seiner Zeit Bild und Ton, nicht immer, aber oft besser als andere und stets reicher, vielfältiger, volltönender. Es wurde einmal gesagt, daß Hugo zeitweise gleich in Versen dachte und daß diese Verse sogleich mit allen Farben der Palette und allen Tönen der Skala versehen waren. Als er während der Verbannung auf den Kanalinseln vom Okkultismus angesteckt wurde und spiritistische Sitzungen und Tischrücken veranstaltete, da antwortete der Tisch – oh Wunder! – gleich in Versen. Die beschworenen Ahnen hatten inzwischen die romantische Metrik studiert! Es muß schon etwas daran gewesen sein an dem Denken in Versen. Noch bevor Hugo achtzehn Jahre alt wurde, hatte er bereits Tausende von Versen zu Papier gebracht. Wie man diese frühe Produktion immer beurteilen mag – sie zeigt doch bereits die Naturgabe Hugos für Farbe, Musik, den instinktiven Drang zu einem Maximum an pittoresker und akustischer Wirkung. Mit vierzehn Jahren schreibt er Verse, die bereits den späteren Meister der Lautmalerei ahnen lassen: La plage retentit, les échos lui répondent, Et d'un murmure sourd les sombres forêts grondent. 281
Die Macht über das Wort, die er auch für eine Macht über die Gedanken hielt, der Erfolg in allen Gattungen der Literatur, die eigene unerschöpfliche Kraft und Fruchtbarkeit und die Verehrung, die er sein ganzes Leben hindurch trotz mannig-
280 281
Heinrich Mann, »Victor Hugo«, in: Essays, Hamburg 1960, S. 65. Victor Hugo, »Côtes du Provence«, in: Œuvres poétiques (hrsg. Pierre Albouy), Paris 1964, Bd. 1, S. 36. 157
facher, vor allem politischer Enttäuschungen genoß, haben Hugo zu der Überzeugung gebracht, er stehe im Zentrum des Ganzen, sein Dichtertum sei der Nabel der Welt. Er ist der Prophet, die Seele mit den tausend Stimmen, die in der Menschheit Mitte ertönt und alles ausspricht, was diese Menschheit bewegt: Mon âme aux mille voix, que le Dieu que j'adore Mit au centre de tout comme un écho sonore! 282
So schreibt er in der Gedichtsammlung Feuilles d'Automne. Echo der Welt! An übergroßer Bescheidenheit hat Hugo nicht gelitten, wie man sieht. Er hat – wir können wieder auf Heinrich Mann zurückgreifen – seinen Ruhm gepflegt und gehegt, ja, man kann sagen, sein Ruhmbedürfnis und sein Bewußtsein von der Aufgabe des Dichters und seiner Pflicht zur Stellungnahme waren für ihn identisch geworden. Die Aussagen seines persönlichen Ich, Mitte der Welt, wie wir wissen, sprach nur aus, was in allen zum Ausdruck drängte. Von dieser seiner Selbstauffassung her formulierte er einen universalistischen Dichterbegriff und Dichtungsbegriff: ... tout poète véritable, indépendamment des pensées qui lui viennent de son organisation propre et des pensées qui lui viennent de la vérité éternelle, doit contenir la somme des idées de son temps. 283
So schreibt er in der Préface zu seiner Gedichtsammlung Les Rayons et les Ombres. Das Persönliche, Individuelle in der Dichtung ist und muß sein:... »un reflet de ce qui est général« 284 Es ist nur folgerichtig, wenn die Kunst des Dichters für Hugo Dienst an der Wahrheit ist. Der Dichter ist ein »artiste civilisateur«, 285 und daher nimmt Hugo, beeinflußt von utopischen Zukunftsvisionen des frühen Industriezeitalters und von sozialistischen Gedankengängen, Abstand von der romantischen Träumerei als Selbstzweck und distanziert sich von der Flucht in den Elfenbeinturm. 1864 nimmt er eindeutig Stellung sowohl zur romantischen Flucht nach innen wie zur Flucht des l'art pour l'art in die Kunst als autonomer Welt: Ah! esprits, soyez utiles! servez à quelque chose. Ne faites pas les dégoûtés quand il s'agit d'être efficaces et bons. L'art pour l'art peut être beau, mais l'art pour le progrès est plus beau encore. Rêver la rêverie est bien, rêver l'utopie est mieux. Ah! il vous faut du songe? Eh bien, songez l'homme meilleur. Vous voulez du rêve? en voici: l'idéal. Le prophète cherche la solitude, mais non l'isolement. 286
Einsamkeit, aber nicht Vereinsamung! Als Propheten, als Apostel, begriff Hugo sich selbst, den universalen Dichter:
282
Victor Hugo, »Les feuilles d'automne«, in: Œuvres poétiques (hrsg. P. Albouy), op.cit., Bd. 1, S.718. 283 Victor Hugo, »Les rayons et les ombres«, in: Œuvres poétiques (hrsg. P. Albouy), op.cit., 5. 1021, (»Préface«). 284 Victor Hugo, »Les chants du crépuscule«, in: Œuvres poétiques (hrsg. P. Albouy), op.cit., S. 811, (»Préface«). 285 Victor Hugo, »Les rayons et les ombres«, op.cit., S. 1020. 286 Victor Hugo, »William Shakespeare«, in: Œuvre complètes (hrsg. Jean Massin), Paris 1969, Bd. 12, S. 280. 158
[Le prophète] ne s'appartient pas, il appartient à son apostolat. Il est chargé de ce soin immense, la mise en marche du genre humain. Le génie n'est pas fait pour le génie, il est fait pour l'homme. Le génie sur la terre, c'est Dieu qui se donne. Chaque fois que paraît un chef-d'œuvre, c'est une distribution de Dieu qui se fait. 287
Da haben wir's. Die Dichter sind Instrumente der Vorsehung, ihre Meisterwerke Geschenke Gottes. Hinter diesen Sätzen erscheint der alternde Hugo selbst mit seinem sorgsam gepflegten Prophetenbart. Aber so wie der Schatten des Propheten Moses über dem Volk Israel lastete, im Alten Testament und noch mehr bei Alfred de Vigny, so lastete der Schatten Hugos über der jüngeren Dichtergeneration. Propheten handeln im Auftrage Gottes. Sie sind seine Sprecher. Und so liebte Hugo es, sich als Inspirierten hinzustellen. Er meint sich selbst, wenn er schon 1823 schreibt: Le poète inspiré, lorsque la terre ignore, Ressemble à ces grands monts que la nouvelle aurore Dore avant tous à son réveil, Et qui, longtemps vainqueurs de l'ombre, Gardent jusque dans la nuit sombre Le dernier rayon du soleil. 288
Nun, wer selber schon ein Berg ist, hat's nicht weit zum lieben Gott mit seinen Liedern: »Mes chants volent à Dieu, comme l'aigle au soleil.« 289 Diese Selbsteinschätzung trieb seltsame Blüten: Hugo ließ sich in der Pose des Ekstatikers mit zum Himmel gerichtetem Blick fotografieren und schrieb unter das Konterfei: »Hugo causant avec Dieu.« Hugo präsentierte sich als einen Inspirierten von monumentaler Größe, und seinen Stammbaum versuchte er auf ein lothringisches Adelsgeschlecht zurückzuführen. Aber er war weder inspiriert noch blaublütiger Herkunft. Und als Dichter war er ein Handwerker wie sein Großvater, der sich sein Brot als Tischler verdiente. Auch Victor Hugo hat gehobelt und gefeilt, mehr als mancher andere, es ging nur viel schneller als bei den anderen und vor allem: keiner der vielen abgefallenen Späne ging verloren. Er hob sie sogleich auf und leimte sie dort an, wo sie besser paßten – oft viele Jahre später! Die eingehende Untersuchung, die Artur Franz in seinem zweibändigen Werk Aus Victor Hugos Werkstatt 290 angestellt hat, läßt gar keinen Zweifel darüber, daß Hugo viel überarbeitet hat, daß seine Fruchtbarkeit zum großen Teil auf dem Umstand beruht, daß er alle Korrekturabfälle sorgfältig sammelte und wieder verwandte. Schon Nietzsche nannte Hugo – ihn darin mit Wagner vergleichend – einen Meister und ein Muster der Ökonomie.
287 288
289 290
Ebda., S. 280. Victor Hugo, »Odes et ballades«, in: Œuvres poétiques (hrsg. P. Albouy), op.cit., S. 339. Ebda., S. 365. Artur Franz, Aus Victor Hugos Werkstatt, Giessen 1929. 159
Hugos Odes et Ballades 1826 veröffentlichte Hugo seine erste Gedichtsammlung: Odes et Ballades. Hier werden noch alle Register der klassischen Rhetorik gezogen, aber sie instrumentieren ein romantisches Geschichts- und Menschenbild. Hugo, Sohn eines napoleonischen Generals, Angehöriger einer Generation, welcher unter dem Marschtritt der Armeen der Revolution und des Empire der Gang der Geschichte so nahe auf den Leib gerückt war wie noch keiner Generation vorher, beschwört fast visionär das Schicksal der Nationen über Höhen und Abgründe hinweg, in klassischen Alexandrinern noch und rhetorischer Klimax, aber in mächtigen Naturbildern: Le sort des nations, comme une mer profonde, A ses écueils cachés et ses gouffres mouvants. Aveugle qui ne voit, dans les destins du monde, Que le combat des flots sous la lutte des vents! 291
Und dann zwei brillante Verse: die Vergänglichkeit, die Tage, Jahre, Jahrhunderte, die nichts weiter hinterlassen als eine flüchtige Furche im ewigen Abgrund: Car les jours, et les ans, et les siècles ne tracent Qu'un sillon passager dans le fleuve éternel. 292
Beide Verse bilden inhaltlich und metrisch untereinander das, was Hugos Stärke und Eigenart ist: die Antithese – der breite, mächtige, durch die Kopula et gespreizte Gang der geschehnisreichen Zeiten und die Flüchtigkeit der Spur, die sie hinterlassen – im behenden Rhythmus der zweiten Verszeile. Die »Ballades« dieser Sammlung – keine Balladen im alten Sinne der französischen Tradition, sondern Romanzen – sind zum Teil technische Exerzizien über Themen aus dem Mittelalter, mit archaischen Wörtern, Echoreimen, kühnen Enjambements und Rejets. In der Ballade La Chasse du Burgrave sagt der Burggraf zu seinem König die weltbewegenden Worte – im Pluralis maiestatis: »Nous qui, nés de bons gentilshommes, »Sommes »Le seigneur burgrave Alexis »Six!«
Und weiter: Voilà ce que dit le burgrave Grave, Au tombeau de saint Godefroid, Froid. 293
291
Victor Hugo, »Odes et ballades«, op.cit., S. 339. Ebda., S. 340. 160 292
So geht es viele Strophen hindurch. Hugo hat dieses Spiel mit den Echoreimen offenbar selber nicht ganz ernst genommen, sonst hätte er nicht als Motto darüber setzen können: Un vieux faune en riait dans sa grotte sauvage. 294
Artistisch ist auch die Ballade Le Pas d'Armes du Roi Jean – lauter Strophen aus Dreisilbern: Çà, qu'on selle, Ecuyer, Mon fidèle Destrier. Mon cœur ploie Sous la joie, Quand je broie L'étrier. 295
So geht es 32 Strophen hindurch, ohne daß dem Dichter dabei die Luft ausgeht.
Les Orientales, Modellinterpretation von Les Djinns Zwei Jahre später – zwischendurch schreibt Hugo den Cromwell und die Préface de Cromwell – veröffentlicht er eine neue Gedichtsammlung: Les Orientales. 296 Hugo hat inzwischen die Pléjadendichter studiert; seine Versmaße und seine Sprache werden noch freier, noch reicher. Diese Gedichte reihen sich in eine Mode ein, die durch ganz Europa ging, den Orientalismus und den Philhellenismus. Die Griechenlandbegeisterung hatte durch Byrons Tod in Missolonghi im Jahre 1824 einen neuen Auftrieb erhalten. Im gleichen Jahr noch – inmitten von zahlreichen Dichtungen dieser Art sozusagen – stellte Delacroix sein Gemälde Das Massaker von Chios aus. Hugos Virtuosität erreicht hier einen ersten Höhepunkt. In den Orientales steht das Gedicht Les Djinns. Djinns sind böse Geister bei den Moslems. Das Gedicht hat fünfzehn Strophen aus je acht Versen, also huitains. Die erste Strophe hat Zweisilberverse, die zweite Dreisilber, die dritte Viersilber usw. bis zur achten Strophe, die aus Zehnsilbern besteht. Von Strophe neun an geht es wieder rückwärts, so wie es angestiegen ist, bis wir mit der fünfzehnten und letzten Strophe wieder beim Zweisilber sind. Die Reimfolge ist a b a b / c c c b.
293
Victor Hugo, »La chasse du Burgrave«, in: Œuvres poétiques (hrsg. P. Albouy), op.cit., S.523. 294 Ebda., S. 522. 295 Victor Hugo, »Le pas d'armes du Roi Jean«, in: Œuvres poétiques (hrsg. P. Albouy), op.cit., S.528. 296 Victor Hugo, »Les orientales«, in: Œuvres poétiques (hrsg. P. Albouy), op.cit., S. 585 ff. 161
Strophe eins evoziert eine schlafende Hafenstadt: Murs, ville, Et port, Asile De mort, Mer grise Où brise La brise, Tout dort. 297
Die Reimanordnung bleibt durch das ganze Gedicht dieselbe. In Strophe zwei, aus Dreisilbern, ertönt aus der Ebene ein fernes Geräusch durch die Nacht, das in Strophe drei – Viersilber – anwächst, in Strophe vier – Fünfsilber – sich zum unheilverkündenden Grollen steigert, das in Strophe fünf – Sechssilber – die Menschen bereits zur Flucht treibt und in Strophe sechs – Siebensilber – düster drohend die Luft erfüllt. In Strophe sieben – Achtsilber – sind die Djinns ganz nahe, und in Strophe acht – in aufgeregten Zehnsilbern – umtoben sie höllisch die wankenden Häuser: Cris de l'enfer! voix qui hurle et qui pleure! L'horrible essaim, poussé par l'aquilon, Sans doute, ô ciel! s'abat sur ma demeure. Le mur fléchit sous le noir bataillon. La maison crie et chancelle penchée, Et l'on dirait que, du sol arraché, Ainsi qu'il chasse une feuille séchée, Le vent la roule avec leur tourbillon! 298
Das ist der Höhepunkt. Mit immer fernerem, allmählich sich verlierendem Geräusch, zieht der Höllensturm vorüber, bis er wieder – in der vorletzten Strophe aus Dreisilbern – abstirbt und mit dem Geräusch der Meereswellen im Hafen zusammenfällt: Ce bruit vague Qui s'endort, C'est la vague Sur le bord; C'est la plainte, Presque éteinte, D'une sainte Pour un mort. 299
Und in der letzten Strophe – Zweisilber wieder – ist alles von der Stille der Nacht verschlungen:
297
Ebda., S. 653. Ebda., S. 655. 299 Ebda., S. 656. 162 298
On doute La nuit... J'écoute: – Tout fuit, Tout passe; L'espace Efface Le bruit. 300
Das ist virtuos, ja, das ist Versakrobatik, mit perfekter Beherrschung von Vers, Rhythmus, Melodie und Reim. In den Orientales hat Hugo darauf verzichtet, ein Denker zu sein, und deshalb kann man hier seine Vers- und Wortkunst ohne Einschränkung bewundern. In den Orientales erwachen auch die Erinnerungen an Spanien, das er in seiner Jugend kennengelernt hatte. Und die eigenen Erinnerungen verschmelzen mit literarischen Reminiszenzen und exotischen Neigungen in einzelnen Versen von hinreißender Schönheit. Wenn er die Atmosphäre Granadas evoziert, seine Frauen und seine Blumen, dann ist – ohne daß dies explizit gesagt ist – der abendliche Korso einer spanischen Stadt gegenwärtig, schwebend, immobilisiert in der stillstehend, nach Blüten duftenden Luft, die gleichsam eins wird mit dem Abend, den Frauen und den Blumen, bei deren Erscheinen der Wind den Atem anhält, so wie der Satz, der sich im Bogen über drei Verse spannt, um erst im letzten sein Geheimnis preiszugeben: Et l'on dit que les vents suspendent leurs haleines Quand par un soir d'été Grenade dans ses plaines Répand ses femmes et ses fleurs. 301
Es sind Verse, in denen der Dichter mit dem Wissen des Lesers um Granada, seine Geschichte, seinen Charakter rechnet; und er evoziert dieses Wissen des Lesers, ohne dies auszusprechen. Es wird selbst mit zum Bauelement der Dichtung. In den Orientales triumphiert die couleur locale, aufdringlich oft, aber in den soeben zitierten Versen ist sie unaufdringlich, steht eher zwischen als in den Worten und ist doch unmittelbar zu verspüren.
Hugos Les Rayons et les Ombres, Interpretation von Les Nuits de juin und Tristesse d'Olympio Wiederum nur wenige Jahre später – 1831 – erscheinen die Feuilles d'Automne,1835 die Chants du Crépuscule und 1840 Les Rayons et les Ombres. In diesem Jahrzehnt nimmt Hugo Abschied von der Jugend – man erkennt es schon an den Titeln dieser Gedichtbände. Neue Themen treten auf und diesmal als sehr persönliche, erfahrene Probleme: religiöse Zweifel, politische und soziale Hoffnungen und
300 301
Ebda., S. 656. Victor Hugo, »Grenade«, in: Œuvres poétiques (hrsg. P. Albouy), op.cit., S. 663. 163
Befürchtungen. Hugo hat die Hernani-Schlacht hinter sich, hat den Roman Notre Dame de Paris, 1831, veröffentlicht, hat die Revolution von 1830 bewußt miterlebt und hat sich mit seiner Frau Adèle auseinandergelebt. Es beginnt sein Verhältnis zu Juliette Drouet, die seinen Lebensweg bis ins Exil teilen wird. In Les Rayons et les Ombres steht ein kleines Gedicht, nur zwei Vierzeiler, überschrieben Nuits de juin: L'été, lorsque le jour a fui, de fleurs couverte La plaine verse au loin un parfum enivrant; Les yeux fermés, l'oreille aux rumeurs entrouverte, On ne dort qu'à demi d'un sommeil transparent. Les astres sont plus purs, l'ombre paraît meilleure; Un vague demi-jour teint le dôme éternel, Et l'aube douce et pâle, en attendant son heure, Semble toute la nuit errer au bas du ciel. 302
Sommernacht, vom Tag eingegrenzt, weil dieser als bereits entflohen erwähnt wird; betäubender Duft aus der fernen, blumenreichen Ebene, alle Bestimmungen der »plaine«, des Subjekts, stehen im ersten Vers, »plaine« selbst im zweiten. Eine kunstvolle Inversion des Satzes, die impressionistisch zuerst den Ersteindruck suggeriert und dann erst das, was als Ursache dahintersteht und erst zu entschleiern ist. Und der Mensch, in dieser Sommernacht, bringt es, geschlossenen Auges und das Ohr den nächtlichen Geräuschen halb geöffnet, nur zum Halbschlaf, zu einem transparenten Schlaf, der alles hindurchläßt. In diesem Epitheton – transparent – sammelt sich die ganze Stimmung der ersten Strophe: On ne dort qu'à demi d'un sommeil transparent. 303
Es ist der Zustand zwischen Wachen und Träumen, in welchem die Erinnerung an den Tag und die Stille der Nacht in der Schwebe bleiben, in dem die Sterne reiner und die Schatten sanfter erscheinen. Ein vages Licht, aus Tag und Nacht gemischt, überzieht die Schöpfung- »le dôme éternel« -, Kirche und Welt zugleich. Und dann folgen zwei Verse, die zu den schönsten Hugos gehören, sowohl an und für sich, wie auch deshalb, weil das ganze bisher entworfene statische Bild, die Stimmung der suspendierten Erdbewegung auf der Traumgrenze zwischen Schlaf und Wachen, sich plötzlich als Verzögerung einer Bewegung, als verhalten ungeduldiges Verirren des Morgens offenbart, der, die ganze Nacht an den Grenzen des Himmels umherirrend, seine Stunde erwartet. Dieses Bild, fast eine Mythisierung der hellen Ränder des sommerlichen Nachthimmels, ist eminent poetisch. Nahtlos verbinden sich evozierte Stimmung und Bild: Et l'aube douce et pâle, en attendant son heure, Semble toute la nuit errer au bas du ciel. 304
302
Victor Hugo, »Nuits de juin«, in: Œuvres poétiques (hrsg. P. Albouy), op.cit., S.1117. Ebda., S.1117. 304 Ebda., S. 1117. 164 303
Die Natur ist vermenschlicht, ganz unaufdringlich: ihr Geschehen ist zielbestimmt und schicksalhaft zugleich, und das Zusammenfallen dieser beiden Bestimmungen ist der Moment der Tag- und Nachtgleiche, in der für den Menschen der Schlaf durchsichtig und durchlässig wird für eine vorübergehend stillstehende und sich offenbarende Welt. In Les Rayons et les Ombres steht auch das berühmte Gedicht Tristesse d'Olympio. 305 Olympio, das ist Hugo selbst, oder vielmehr sein zweites Ich, das Ich seiner Einsamkeiten, unlöslich verbunden mit der Erinnerung. Tristesse d'Olympio ist eine Meditation über die Vergänglichkeit und die Bewahrung des Vergangenen in der Erinnerung, vergleichbar dem Gedicht Le Lac von Lamartine und dem Gedicht Le Souvenir von Musset, von dem wir gesprochen haben. Und Olympio ist vergleichbar dem Double der Solitude, das Musset in seiner Nuit de Décembre beschwört. Mussets Le Souvenir bezog sich auf eine Wiederbegegnung mit George Sand. Tristesse d'Olympio beschwört – vier Jahre später – das Zusammensein Hugos mit Juliette Drouet in einem Landhaus bei Metz. Tristesse d'Olympio ist ein gedanklich, sprachlich und bildmäßig voll orchestriertes Gedicht, das mit einem Hymnus auf eine die Zeit und die Vergänglichkeit in der Erinnerung überwindende Liebe abschließt: Mais toi, rien ne t'efface, Amour! toi qui nous charmes! Toi qui, torche ou flambeau, luis dans notre brouillard! Tu nous tiens par la joie, et surtout par les larmes; Jeune homme on te maudit, on t'adore vieillard. 306
Der Schlußeffekt, auf den Hugo kaum verzichtet, beruht hier auf der Antithese »joie-larmes« in der vorletzten und auf einem raffinierten Chiasmus in der letzten Zeile: »Jeune homme on te maudit, on t'adore vieillard.«
Les Contemplations, Werbung des Dichters um die Gunst des Volkes Nach Les Rayons et les Ombres hat der Lyriker Hugo jahrelang geschwiegen. Sein politischer Ehrgeiz war wieder erwacht. 1845 wird er Pair von Frankreich, 1848 Abgeordneter des Volkes, ein Jahr darauf Mitglied der Assemblée Législative. Der Staatsstreich Napoleons III. von 1851 treibt ihn ins Exil, für achtzehn Jahre, die er auf der Kanalinsel Guernsey verbringt: grollend, Haßgesänge auf den Kaiser anstimmend. 1856 läßt er dann seine Gedichtsammlung Les Contemplations erscheinen. Seine Quelle war keineswegs versiegt oder in der Invektive aufgegangen. Die Contemplations haben insgesamt rund 10000 Verse. Hugo wollte hier wieder Denker sein, jetzt erst recht als Verbannter. Aber wieder ist er dort am reizvollsten, wo er das vergißt. Man hat dem Propheten, der auch so rührende Verse
305
Victor Hugo, »Tristesse d'Olympio«, in: Œuvres poétiques (hrsg. P. Albouy), op.cit., S.1093. 306 Ebda., S.1098. 165
über die Kunst, Großvater zu sein, geschrieben hat, vorgeworfen, daß er sich auch Gedichte voller Sinnlichkeit geleistet hat. Und doch gehören diese zu den schönsten. Ich will eins davon anführen aus den Contemplations. Es besteht aus vier Alexandriner-Quatrains: Elle était déchaussée, elle était décoiffée, Assise, les pieds nus, parmi les joncs penchants; Moi qui passais par là, je crus voir une fée, Et je lui dis: Veux-tu t'en venir dans les champs? Elle me regarda de ce regard suprême Qui reste à la beauté quand nous en triomphons, Et je lui dis: Veux-tu, c'est le mois où l'on aime, Veux-tu nous en aller sous les arbres profonds? Elle essuya ses pieds à l'herbe de la rive; Elle me regarda pour la seconde fois, Et la belle folâtre alors devient pensive. Oh! comme les oiseaux chantaient au fond des bois! Comme l'eau caressait doucement le rivage! Je vis venir à moi, dans les grands roseaux verts, La belle fille heureuse, effarée et sauvage, Ses cheveux dans ses yeux, et riant au travers. 307
Das ist zunächst nichts anderes als eine Pastourellensituation. Vom Ritter, der identisch war mit dem Dichter, ist nur der Dichter übriggeblieben. Von der Hirtin nur das nachlässig gekleidete, ländlich-wilde junge Mädchen, aber mit dem erhabenen Blick der Schönheit selbst noch im Augenblick ihrer Zähmung. Der Pastourellenvorgang selbst ist verkürzt: Wir erfahren die Werbung des Mannes, und der Ausgang ist deutlich angezeigt, aber nicht ausgesprochen. Der entscheidende Kunstgriff ist der Verzicht auf den Dialog. Das Mädchen antwortet nur mit einem Blick und dann mit einem zweiten, dessen Ergebnis sie nachdenklich macht und den Werber um den Erfolg bangen läßt. Und damit wird die wohl schönste Passage des Gedichts möglich: die Zuordnung der Natur zu dem aufs äußerste gespannten und eben doch nur angedeuteten Begehren des Mannes. Die Natur lockt in diesem Augenblick des bangen Zweifels mit allen ihren Reizen – verdichtet in zwei Elementen des alten bukolischen locus amoenus: Elle me regarda pour la seconde fois, Et la belle folâtre alors devint pensive. Oh! comme les oiseaux chantaient au fond des bois. Comme l'eau caressait doucement le rivage! 308
307
Victor Hugo, »Les contemplations«, in: Œuvres poétiques (hrsg. P. Albouy), op.cit., S. 521. 308 Ebda., S. 521. 166
Das zart seine Ufer liebkosende Wasser bewirkt eine letzte Steigerung. Das gedämpfte Bild erhält durch den Ausrufesatz die menschliche Perspektive. Wie beim Übergang vom ersten zum zweiten Terzett eines Sonnets zieht sich dieser Lockruf der Natur über die Spannung der Unentschiedenheit vom dritten zum vierten Quatrain unseres Gedichts hinüber, um seine Lösung zu finden in den letzten drei Versen. Und wie eine letzte Abwehr verdecken die Haare des herankommenden glücklichen, scheuen und wilden Mädchens das Versprechen der lachenden Augen: Je vis venir à moi, dans les grands roseaux verts, La belle fille heureuse, effarée et sauvage, Ses cheveux dans ses yeux et riant au travers. 309
Dieses Gedicht ist mit seiner verhaltenen Sinnlichkeit, seiner in einem reduzierten epischen Vorgang konkretisierten Vision naturhafter Liebesfreuden, mit seiner Feinheit des Groben, welche die Begegnung zwischen der differenzierten Welt des begehrenden Dichters und der unkomplizierten rustikalen Schönheit stilistisch birgt, in seiner Art ein vollkommenes dichterisches Gebilde. Es enthält als Grundfigur, eine traditionelle Struktur aktualisierend, die Darstellung einer Begegnung des Dichters mit dem Volk, des Intellektuellen, der mit Erfolg um das Vertrauen des Volkes wirbt. 310
Hugos La Légende des siècles Gleich zu Beginn des Exils, dessen erste Etappe Brüssel ist, schreibt Hugo seine große Streitschrift gegen den Usurpator Napoleon, mit dem wirksamen Titel Napoléon le Petit. Und 1853 veröffentlicht er die Sammlung seiner Châtiments: Haßgesänge, oft mit zuviel Gift und Galle. Von 1859 an stellt er seine lyrische Produktion unter den Gedanken, in lyrisch-epischen Gedichten die Geschichte der Menschheit zu besingen. Petites Epopées nennt er sie zunächst. Daraus wird dann die Sammlung La Légende des siècles. Hugo umreißt selbst in seiner Préface die anspruchsvolle Absicht: Exprimer l'humanité dans une espèce d'œuvre cyclique; la peindre successivement et simultanément sous tous ses aspects, histoire, fable, philosophie, religion, science, lesquels se résument en un seul et immense mouvement d'ascension vers la lumière; faire apparaître, dans une sorte de miroir sombre et clair... cette grande figure une et multiple, lugubre et rayonnante, fatale et sacrée, l'Homme; voilà de quelle pensée, de quelle ambition, si l'on veut, est sortie la Légende des Siècles. 311
309
Ebda., S. 521. Ich darf auf die Interpretation dieses Gedichtes verweisen, die ich in der Festschrift für Italo Siciliano veröffentlicht habe, Studi in onore di I. Siciliano, Firenze 1966, I, S. 593 ff. Der Artikel ist auch in meinem Buch Vermittlungen. Romanistische Beiträge zu einer historisch soziologischen Literaturwissenschaft, München 1976, S. 240ff. abgedruckt. 311 Victor Hugo, La légende des siècles (hrsg. Jacques Truchet), Paris 1950, S. 3. 167 310
L'épanouissement du genre humain de siècle en siècle, l'homme montant des ténèbres à l'idéal, la transfiguration paradisiaque de l'enfer terrestre, l'éclosion lente et suprême de la liberté... une espèce d'hymne religieux à mille strophes, ayant dans ses entrailles une foi profonde et sur son sommet une haute prière; le drame de la création éclairé par le visage du créateur... 312
Das sind große Worte, vor denen Hugo freilich nie zurückgescheut ist. Das Universum, die Menschheit, ihre Geschichte und Victor Hugo – so könnte man den Inhalt dieses Werks charakterisieren. Im zweiten Teil – D'Eve â Jésus – steht das berühmte Gedicht Booz endormi. Teil VI – Après les Dieux, les rois – holt seinen Stoff fast ausschließlich aus den spanischen Cid-Romanzen. Hugo ist hier auf dem Höhepunkt seines Virtuosentums, seine Wort- und Verskunst entwirft mächtige Bilder, die antithesenreichen Tiraden brennen ab wie ein immenses lyrisches Feuerwerk.
Selbstreflektion der Romantik, Hugos Réponse à un acte d'accusation Wir wollen auf die Légende des siècles nicht näher eingehen, sondern uns noch einmal den Contemplations zuwenden, und zwar einem Gedicht dieser Sammlung, in dem Victor Hugo Rechenschaft über sein Dichten ablegt: ein Gedicht, in dem er – unbescheiden wie immer im Ton, aber sachlich durchaus zutreffend – seine Rolle beim Umbruch der Literatur und des Stils im 19. Jahrhundert darstellt und verteidigt. Das Gedicht ist eine Rechtfertigung der Romantik durch deren ersten Wortführer. Es trägt den Titel: Réponse à un acte d'accusation. Schon im Vorwort der Orientales hatte Hugo dafür plädiert, daß es keinen Gegenstand geben dürfe, der aus dem Bereich der Literatur auszuschließen wäre. Nicht auf das Sujet komme es an, sondern allein darauf, ob es dichterisch behandelt ist oder nicht. Die gesamte Wirklichkeit ist poesiefähig: ... il n'y a, en poésie, ni bons ni mauvais sujets, mais de bon ou de mauvais poètes. D'ailleurs, tout est sujet; tout relève de l'art; tout a droit de cité en poésie... Que le poète donc aille où il veut, en faisant ce qui lui plaît; c'est la loi... Le poète est libre. 313
Die romantische Konzeption der Individualität, gipfelnd im Genie und seinem Recht auf Freiheit von aller Konvention und aller Reglementierung, führt zur Öffnung aller Grenzen der Dichtung, aller Grenzen, die bisher den Gattungen, den Stilen, dem Vokabular gesetzt waren. Hugo ist sich inzwischen völlig klar geworden, daß es die Aufhebung der Standesgrenzen des Ancien Régime war, die eine neue Ära der Kunst nicht nur ermöglichte, sondern verlangte. Er hat es in der Réponse à un acte d'accusation ausgesprochen: Quand je sortis du collège, du thème, Des vers latins, farouche, espèce d'enfant blême
312
Ebda., S. 7. Victor Hugo, »Les orientales«, (»Préface«), op.cit., S. 577. 168 313
Et grave, au front perchand, aux membres appauvris; Quand, tâchant de comprendre et de juger, j'ouvris Les yeux sur la nature et sur l'art, l'idiome, Peuple et noblesse, était l'image du royaume; La poésie était la monarchie; un mot Etait un duc et pair, ou n'était qu'un grimaud; Les syllabes pas plus que Paris et que Londre Ne se mêlaient; ainsi marchent sans se confondre Piétons et cavaliers traversant le pont Neuf; La langue était l'état avant quatrevingt-neuf; Les mots, bien ou mal nés, vivaient parqués en castes; Les uns, nobles, hantant les Phèdres, les Jocastes, Les Méropes, ayant le décorum pour loi, Et montant à Versaille aux carrosses du roi; Les autres, tas de gueux, drôles patibulaires, Habitant les patois; quelques-uns aux galères Dans l'argot; dévoues à tous les genres bas; Déchirés en haillons dans les halles; sans bas, Sans perruque; créés pour la prose et la farce; Populace du style au fond de l'ombre éparse; 314
Der Wortschatz war nach Kasten aufgeteilt, die literarischen Genres nach Ständen. So war es, bis er selber, Victor Hugo, kam – der umgedrehte Malherbe: Alors, brigand, je vins; je m'écriai: Pourquoi Ceux-ci toujours devant, ceux-là toujours derrière? Et sur l'Académie, aïeule et douairière, Cachant sous ses jupons les tropes effarés, Et sur les bataillons d'alexandrins carrés, Je fis souffler un vent révolutionnaire. Je mis un bonnet rouge au vieux dictionnaire. Plus de mot sénateur! plus de mot roturier! Je fis une tempête au fond de l'encrier, Et je mêlai, parmi les ombres débordées, Au peuple noir des mots l'essaim blanc des idées; Et je dis: Pas de mot où l'idée au vol pur Ne puisse se poser, tout humide d'azur! 315
Seine, Hugos, Tat ist der Nachvollzug der Revolution in der Literatur: Boileau wird zum zähneknirschenden ci-devant und der klassische Stil zum Anachronismus. Die neue Literatur wird zur Marseillaise. Man hört sie durch: Aux armes, prose et vers! formez vos bataillons! ..... Boileau grinça des dents; je lui dis: Ci-devant, Silence! et je criai dans la foudre et le vent: Guerre à la rhétorique et paix à la syntaxe!
314
Victor Hugo, »Réponse à un acte d'accusation«, in: Œuvres poétiques (hrsg. P. Albouy), op.cit., Bd. 2, S. 495 f. 315 Ebda., S. 496. 169
Et tout quatre-vingt-treize éclata. 316
Sehen wir davon ab, daß Hugo zu seinen Gunsten und auf Kosten seiner Mitstreiter übertreibt: Er hat die literarische Revolution und ihre geschichtlichen Hintergründe völlig richtig gesehen. Die Romantik ist die Revolution in der Literatur. Und so nimmt es nicht wunder, daß mitten in der Romantik, bereits weit über den langlebigen Hugo hinausgehend, schon die ersten literarischen Konsequenzen aus den geschichtlichen Folgen der Revolution einschließlich des beginnenden Industriezeitalters gezogen werden. Hugos Stil- und Literaturbegriff bleibt an der großen bürgerlichen Revolution orientiert. Bei anderen aber, Zeitgenossen Hugos, wird bereits das Ende der heroischen Epoche des Bürgertums gesichtet, und es werden andere Folgerungen für die Dichtung gezogen. Mitten in der Romantik noch setzt der Realismus ein. Und mitten in der Romantik, ihr noch ganz eng verbunden, ringt Gérard de Nerval sich zu einer Dichtersprache durch, welche die Keime einer neuen lyrischen Ära in sich birgt. Von ihm haben wir noch zu sprechen, bevor wir die romantische Lyrik verlassen.
Gérard de Nerval, Biographie und literarische Vorbilder Gérard de Nerval (1808-55) mußte erst wiederentdeckt werden, nachdem er ein rundes dreiviertel Jahrhundert fast vergessen war. Die berühmte Literaturgeschichte von Gustave Lanson hatte Nerval gerade noch eine Fußnote eingeräumt, die ihn als Übersetzer des Faust belobigte und im übrigen seine dichterischen Qualitäten auf die Elemente reduzierte, die ihn mit dem 18. Jahrhundert verbanden. Heute ist Nerval Gegenstand einer intensiven Forschung, die sich sowohl an seiner Dichtung wie an den Geheimnissen seines bewegten Lebens noch lange die Zähne ausbeißen wird. Nerval hat seine besten und tiefsten Werke geschrieben in den Abschnitten seines Lebens, da er an der Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn lebte, zwischen der Wirklichkeit und dem Nichts. Sein Leben hat die romantische Behexung von der Idee des Todes und der Liebe, der mysterienhaften Entwicklung der Außenwelt, der Realität des Traums selber erfüllt. Wenn jemals die platonische Vorstellung von der Manie des Genies, dem Wahnsinn als spezifischer Dichtergabe, Wirklichkeit geworden ist, dann in der Person Gérard de Nervals. Wir müssen, um dies zu verstehen, einen Blick auf seine Biographie werfen. Gérard Labrunie – so hieß er in Wirklichkeit- wurde 1808 in Paris geboren. Sein Vater zog kurz darauf als Militärarzt der Rheinarmee nach Deutschland, begleitet von seiner Frau, die im November 1810 in Schlesien verstarb. Die Psychoanalytiker, für die Nervals Traumwelt ein bevorzugtes Untersuchungsfeld wurde, haben an Nerval eine Art von Ödipuskomplex entdeckt, der eine Erklärung für das lebenslänglich gespannte Verhältnis zum Vater geben könnte. Gérard wurde in frühester Jugend
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Ebda., S. 497. 170
einem Großonkel anvertraut und verbrachte in der Ile de France glückliche, später vielfach evozierte Kindheitsjahre. Er erhielt dann eine gute Ausbildung als Schüler des Collège Charlemagne, wo Théophile Gautier sein Klassenkamerad war. Sehr früh beginnt er, Gedichte zu schreiben und zu veröffentlichen. Bekannt, ja berühmt wird er indessen erst, als er – erst zwanzig Jahre alt – 1828 seine Übersetzung des ersten Teils von Faust publiziert. Goethe, den man im romantischen Frankreich lange nur als den Verfasser des Werther gekannt hatte, war bis dahin durch zwei gewissenhafte, aber recht unpoetische Übersetzungen auch als Dichter des Faust bekannt geworden, und Delacroix' berühmte Illustrationen zum Faust taten ein übriges. Nervals Übersetzung ist eine glänzende Leistung, die dem Geist des Originals denkbar nahe kommt, obwohl oder weil sie in Prosa abgefaßt ist. Der vielzitierte Satz, den Goethe an Nerval geschrieben haben soll – »Ich habe mich nie so gut selber verstanden wie bei der Lektüre Ihres Textes« – ist zwar längst als Legende entlarvt worden, aber die von Eckermann unter dem Datum des 3. Januar 1830 überlieferten Äußerungen Goethes über Nerval sind kaum weniger schmeichelhaft. 317 Faust war für Nerval viel mehr als nur ein Buch, das er der Übersetzung und Vermittlung für würdig erachtete. Sein ganzes Leben hindurch war er von dieser Gestalt angezogen, die ihm einen Grundzug seines eigenen Wesens zu offenbaren schien: das Begehren nach dem Unendlichen, nach dem Entschleiern der geheimnisvollen Wirklichkeit hinter den Dingen, die unaufhörliche Frage nach dem Wesen der Welt. Charakteristisch dafür ist, was er im Vorwort zu seiner Übersetzung schreibt: Quelle âme généreuse n'a éprouvé quelque chose de cet état de l'esprit humain, qui aspire sans cesse à des révélations divines, qui tend, pour ainsi dire, toute la longueur de sa chaîne, jusqu'au moment où la froide réalité vient désenchanter l'audace de ces illusions ou de ces espérances ... 318
Viele Jahre hindurch trug er sich mit dem Gedanken, de faire un Faust dans le goût français, sans imiter Goethe l'inimitable, 319
Und die Spuren seiner Beschäftigung mit dem Faust sind in zahlreichen seiner Werke zu finden. Jahre später, nachdem er in Deutschland gewesen war und im Umgang mit deutschen Freunden, vor allem Heinrich Heine, sich noch tiefer in die Literatur des Nachbarlandes eingearbeitet hatte, übersetzte er in Auswahl auch den II. Teil und veröffentlichte ihn 1840. Die Faust-Übersetzung hat ihm einen Namen gemacht: er tritt in engen Kontakt mit der jungen Romantikergruppe. Victor Hugo vertraut ihm eine Rolle in der HernaniSchlacht an. Nerval schreibt für Zeitschriften; er gibt sich, wie so viele seiner Al-
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Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (hrsg. H. H. Houben), Wiesbaden 1975, S. 292. Gérard de Nerval, »Souvenirs de Thuringe. L'opéra de Faust à Francfort«, in: Œuvres (hrsg. Jean Guillaume, Claude Pichois), Paris 1961, Bd. 2, S. 776. Ebda., S. 776. 171
tersgenossen, als Dandy; sein Auftreten als Bohémien ist echt, liebenswert und etwas rätselhaft in seinen plötzlichen Stimmungsumschwüngen. 1835 mietet er zusammen mit einigen Freunden ein Haus in einer sehr obskuren Pariser Straße, in dem es ziemlich turbulent zugeht. Nerval ist seine Neigung zu den dunklen Altstadtstraßen mit ihren fragwürdigen Figuren nie losgeworden. Mehrmals wurde er bei Raufereien von der Polizei aufgegriffen, aber – sogar von den Polizisten als harmlos erkannt – immer schnell wieder freigelassen. 1835 beginnt für Nerval die schmerzliche, aber offenbar sein ganzes Leben hindurch nachklingende Liebe zu der Schauspielerin Jenny Colon (1808-42). Die Biographen sind sich noch nicht darüber einig geworden, wann es dabei ernst wurde, ja, ob es überhaupt ernst wurde, das heißt wie weit es ging, wenn ja, wie lange es dauerte, weshalb es zu Ende ging usw. Sicher ist, daß Nerval aus der hübschen, aber keineswegs geistig und seelisch sehr tiefgründigen Schauspielerin noch viel mehr machte, als Dichter üblicherweise aus ihren Auserwählten machen, und sicher ist auch, daß die Romanze nicht lange währte. 1838 heiratete Jenny Colon einen Flötisten und starb vier Jahre darauf. Nerval war inzwischen sein ererbtes Vermögen losgeworden, lebte in Not, von einer immer stärker werdenden Unruhe getrieben, die 1841 zum ersten Anfall seiner Geisteskrankheit führte, so daß er – wie später noch öfter, eine Heilanstalt aufsuchen mußte. Bis dahin hatte Nerval eine ganze Reihe von Gedichten deutscher Autoren übertragen, die er, nach vorausgehender Einzelpublikation in Zeitschriften, schon 1830 unter dem Titel Poésies Allemandes: Klopstock, Goethe, Schiller, Bürger gesammelt herausgab. Wie in der Faust-Übersetzung, so verzichtete Nerval auch hier auf den Vers, weil er dabei einen zu großen Verlust des Gehalts des Originaltextes befürchtete. Nerval hat Bürgers Lenore fünfmal übersetzt; von da an kennt die französische Literatur das Motiv des Totenritts. Nerval gehört zu den wichtigsten Vermittlern der deutsche Literatur. Die Novellen, die Nerval schreibt, stehen vorwiegend unter dem Einfluß von E. T. A. Hoffmann, dessen Wirkung in Frankreich in den Jahren nach 1825 ungeheuer stark ist. Eine ganze Literatur der Phantastik ist an ihm orientiert, von der wir noch werden sprechen müsen. Auf Nerval mußte die Mischung von Traum und Leben, das ständige Eindringen des Numinosen ins Leben, eine große Anziehung ausüben: dort fand er Magisches, Kabbalistisches, das Übersinnliche, die Verdoppelung bzw. Spaltung der Persönlichkeit, das Literarisieren des Unterbewußten. Und dort fand er auch eine Konzeption der Liebe, die seinen eigenen Vorstellungen entsprach, dem Traum von einer idealen Gestalt, die übersinnlich konturenlos, ein Gebilde der Sehnsucht war, in das hinein alle konkreten Begegnungen aufgelöst wurden, oder anders und wohl zutreffender gesagt: die Frauen, die er liebte – besonders Jenny Colon – waren für ihn Verkörperung des Ideals, eines sehr hohen, fast ganz entsinnlichten, spirituellen Ideals, und so mußte die Enttäuschung furchtbar sein. Die Fallhöhe zwischen Ideal und Wirklichkeit war vernichtend. Mehr noch als seine Zeitgenossen wurde Nerval von dem Generationenerlebnis zu Vorstellungen gedrängt, die sich aus Okkultismus und Illuminismus nährten. Nerval beschreibt selbst den Zustand, in dem er und seine Freunde sich damals befanden:
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Nous vivions alors dans une époque étrange,... c'était un mélange d'activité, d'hésitation et de paresse, d'utopies brillantes, d'aspirations philosophiques ou religieuses, d'enthousiasmes vagues, mêlés de certains instincts de renaissance; d'ennui, des discordes passées, d'espoirs incertains (...) 320
Und er selbst verspürt den Drang nach Taten, die doch nicht möglich sind, und er begreift und gestaltet sein Leben als ein Abenteuer, das an der Literatur orientiert ist: j'aime à conduire ma vie comme un roman, et je me place volontiers dans la situation d'un de ces héros actifs et résolus qui veulent à tout prix créer autour d'eux, le drame, le noeud, l'intérêt, l'action en un mot. 321
Die Unrast treibt ihn immer wieder auf Reisen, er lernt fast ganz Europa kennen, reist schließlich in den Orient. Und unaufhörliche Entdeckungsreisen unternimmt er im Bereich der mystisch-religiösen Geheimlehren, der esoterischen Sekten, der Geisterseherei Swedenborgs. Für seine Geisteskrankheit sucht er eine Erklärung in dem Magnetismus Messmers. Im Orient wohnt er den religiösen Exerzitien der Derwische bei. Seine Schriften über Cazotte, Cagliostro, den Grafen von SaintGermain, Rétif de la Bretonne und andere, die er unter dem Titel Les Illuminés, 1852, zusammenfaßt, stehen alle im Zeichen des Illuminismus, des Versuchs, das Übersinnliche durch das Medium des Traums aufzuschlüsseln. Nach der Orientreise – die von Ende 1842 bis Anfang 1844 dauert – mehren sich die Anzeichen der Schizophrenie. Nerval streift nächtelang durch die Straßen, sieht seine Freunde kaum noch, aber er ist eng mit Heinrich Heine verbunden, dessen Gedichte er ins Französische überträgt. Geängstigt von der wachsenden Herrschaft seiner Krankheit schreibt er die Erlebnisse seiner Reisen nieder: Voyage en Orient, 1851, und Lorely: Souvenirs d'Allemagne, 1852; er schildert die Eindrücke des nächtlichen Paris: La Bohème galante, 1855, und schreibt schließlich die Filles du feu, 1854, darunter Sylvie, Octavie, Isis, dann die zwölf Sonette Les Chimères und Aurélia. Am Morgen des 26. Januar 1855 wird er in der Rue de la vieille Lanterne erhängt aufgefunden. Bis heute verbinden sich damit die seltsamsten Spekulationen. Manche glauben, Gérard de Nerval sei von Ganoven umgebracht wrden, die den nächtlichen Wanderer als Polizeispitzel verdächtigten, wieder andere vertraten die Ansicht, es handle sich um einen Racheakt von Freimaurern, weil er deren Geheimnisse preisgegeben habe usw. Sicheres ist nicht auszumachen; es ist jedoch kaum zweifelhaft, daß Gérard de Nerval in einem neuen Anfall seiner Krankheit Selbstmord begangen hat; vielleicht wollte er dadurch seines anderen Ichs, des Ichs seiner Fieberträume, habhaft werden.
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Gérard de Nerval, Œuvres, Pléiade, Bd. I, Paris 1974, S. 242. Gérard de Nerval, Œuvres, Pléiade, Bd. II, Paris 1984, S. 506. 173
Nervals Une Allée du Luxembourg und Fantaisie, der poetische Augenblick 1826 hatte die »Académie des jeux floraux« einen Preis für eine Arbeit über die Literatur des 16. Jahrhunderts ausgeschrieben. Dadurch wurde Sainte-Beuve zu seinem Tableau historique et critique de la poésie française et du théâtre français au XVIe siècle, 1828, angeregt. Auch Nerval beteiligte sich und gab seine Arbeit 1830 heraus als Vorwort einer von ihm getroffenen Auswahl von Gedichten der Pléiade. 322 Die Beschäftigung mit Ronsard prägt die kleine Gruppe von eigenen Gedichten, die er unter dem Titel Odelettes, 1831, zusammenfaßt. Er selbst sagt darüber: »En ce temps, je ronsardisais.« 323 Die Odelettes genießen kein großes Ansehen, sie wurden von der Kritik zu leicht befunden, und doch finden sich wunderschöne Verse darin, volksliedhaft, Mädchenerscheinungen evozierend, die so rasch verschwinden, wie sie die Sehnsucht hervorgezaubert hat. Das Glück, das wieder vorbeigeht, nachdem es kaum erst aufgeleuchtet ist: Elle a passé, la jeune fille Vive et preste comme un oiseau: A la main une fleur qui brille, A la bouche un refrain nouveau. C'est peut-être la seule au monde Dont le cœur au mien répondrait, Qui venant dans ma nuit profonde D'un seul regard l'éclaircirait! Mais non, – ma jeunesse est finie... Adieu, doux rayon qui m'as lui, – Parfum, jeune fille, harmonie... Le bonheur passait, – il a fui! 324
Man vergleiche dieses Gedicht mit Baudelaires berühmtem Sonett A une passante, und man wird sogleich die Parallelen erkennen. Parallelen aber auch mit anderen Gedichten des 19. Jahrhunderts, so von Marceline Desbordes-Valmore, Sainte-Beuve, Petrus Borel, noch Verlaine und Mallarmé. 325 Zum besten gehört ein vierstrophiges Gedicht: Fantaisie. Die erste Strophe verbindet eine alte Melodie mit ihrem ganz persönlichen Reiz, mit der Tiefe der Erinnerung:
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Gérard de Nerval, »Les poètes du XVI' siècle«, in: Œuvres (hrsg. J. Guillaume, C. Pichois), op.cit., Bd. 2, S. 938 ff. 323 Gérard de Nerval, »Petits chateaux de Bohème«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), Paris 1966, Bd. 1, S. 17. 324 Gérard de Nerval, »Une allée de Luxembourg«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S.46. 325 Vgl. hierzu den Aufsatz von Kurt Reichenberger »Die schöne Unbekannte«, in: ZfSL, 71 (1961), 5.135-139. 174
Il est un air pour qui je donnerais Tout Rossini, tout Mozart et tout Weber Un air très-vieux, languissant et funèbre, Qui pour moi seul a des charmes secrets. 326
Mit dieser Melodie verbindet sich eine Vision des 17. Jahrhunderts, der Epoche Ludwigs XIII.; sie wird zum Bild, in dem der Dichter selber figuriert, zurückverpflanzt um zwei Jahrhunderte über Zeit und Raum: Or chaque fois que je viens à l'entendre, De deux cents ans mon âme rejeunit... C'est sous Louis treize; et je crois voir s'étendre Un coteau vert, que le couchant jaunit (...) 327
Im Schein der untergehenden Sonne taucht ein Schloß auf, in rötliches Licht getaucht, mit Park, Fluß, Blumen, am Fenster eine Dame, blond, mit schwarzen Augen: Puis un château de brique à coins de pierre, Aux vitraux teints de rougeâtres couleurs, Ceint de grands parcs, avec une rivière Baignant ses pieds, qui coule entre des fleurs. Puis une dame, à sa haute fenêtre, Blonde aux yeux noirs, en ses habits anciens, Que, dans une autre existence peut-être, J'ai déjà vue... et dont je me souviens! 328
Dieses kleine Gedicht enthält schon vieles von dem späteren Nerval: Eine alte Melodie erschließt eine historische Vergangenheit, traumhaft; und plötzlich wird diese Vergangenheit zur Dimension einer Erinnerung, die alle Gegenwart abstreift, weil sie die Sehnsüchte dieser Gegenwart als eine frühere, bessere und schönere Wirklichkeit zurückprojiziert in ein früheres Leben, in dem die ideale Frau, die Nerval überall sucht, greifbar nahe war, als unvergänglich und nicht erreichbar.
Le réveil en voiture, die poetische Restitution der Wirklichkeit Und noch ein weiteres Gedicht der Sammlung Odelettes scheint uns bemerkenswert, weil die Außenwelt vermöge des Traums ganz in Bewegung gerät, sich belebt in der Projektion des Inneren auf die vorüberziehende Natur. Das Gedicht ist überschrieben Le réveil en voiture. Der Dichter ist bei einer Wagenfahrt und träumt; der Traum aber läßt die vorüberziehende Landschaft durch, holt sie herein und unterwirft sie seinem Gesetz, das die Grenze zwischen Realität und Irrealität
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Gérard de Nerval, »Fantaisie«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 20. Ebda., S. 20. 328 Ebda., S. 20. 327
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aufhebt. Erst die letzte Zeile restituiert die Wirklichkeit, die einen Augenblick lang allein die Gefühle des Dichters artikuliert hat und somit selbst in Bewegung geraten ist, während der Wagen und mit ihm der Dichter stillzustehen scheinen: Voici ce que je vis: – Les arbres sur ma route Fuyaient mêlés, ainsi qu'une armée en déroute; Et sous moi, comme ému par les vents soulevés, Le sol roulait des flots de glèbe et de pavés. Des clochers conduisaient parmi les plaines vertes Leurs hameaux aux maisons de plâtre, recouvertes En tuiles, qui trottaient ainsi que des troupeaux De moutons blancs, marqués en rouge sur le dos. Et les monts enivrés chancelaient: la rivière Comme un serpent boa, sur la vallée entière Etendu, s'élançait pour les entortiller... -J'étais en poste, moi, venant de m'éveiller. 329
Das Initiationsritual in Nervals Les Chimères Der Ruhm Nervals als Lyriker aber wird vor allem von den zwölf Sonetten getragen, welche den Obertitel Les Chimères,1854, haben. Diese Gedichte sind die ungeheuerlichste Anstrengung, die krankhafte Phantasie, die Welt des wuchernden Traums, die Verzweiflung, die Beseeltheit der Welt im Bösen wie im Guten, die Gegenwart in der Erinnerung zu beschwören, zu bannen, aufzuheben, in der strengsten Form und der dichtesten Sprache einzufangen und zu beherrschen. Wie die zerrissene Welt sich in der zerrissenen Seele Nervals spiegelt, davon mag ein kleiner Auszug aus dem Tagebuch der Orientreise Zeugnis geben: ... Les rêves et la folie – L'étoile rouge le Désir de l'Orient – L'Europe mot illisible – le rêve se réalise – Les mers – souvenirs débrouillés à travers... – Climat où ma tête repose – Amours laissés dans un tombeau – Elle, – je l'avais fuie, je l'avais perdue je l'avais faite grande – Italie – Allemagne – Flandre – Vaisseau d'Orient – Amours de mot illisible – Rosalie 330. ... idées sur les nombres. Somnambulisme... Poursuivre les mêmes traits dans des femmes diverses. Amoureux d'un type éternel... – La fatalité. 330a
Gedankenfetzen, manchmal assoziativ verbunden, oft aber wirr durcheinander, alle rationale Ordnung im Chaos von Erinnerung, Gegenwart, Phantastik, Sehnsucht,
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Gérard de Nerval, »Le réveil en voiture. En marge des »Petits chateaux de Bohème«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 44. 330 Gérard de Nerval, »Le carnet de Caire«, in: Œuvres (hrsg. J. Guillaume, C. Pichois), op.cit., Bd. 2, S. 853. 330a Gérard de Nerval, »Dossier en 'Voyage de Orient'«, in: Œuvres (hrsg. J. Guillaume, C. Pichois), op.cit., Bd. 2, S. 844. 176
Zahlenmystik, Erlebnis, Traum und Wahnsinn ineinander auflösend. Wie soll all das sich zur rettenden Einheit zusammenschließen? Wir wissen: Gérard de Nervals Leben ist daran zerbrochen. Nicht aber seine Dichtung. Die Chimères sind die fast unglaubliche Synthese, qualvollste und größte Vollendung eines kurzen Dichterlebens, das doch so leicht und beschwingt begann: J'ai fait les premiers vers par enthousiasme de jeunesse, les seconds par amour, les derniers par désespoir. La Muse est entrée dans mon cœur comme une déesse aux paroles dorées; elle s'en est échappée comme une pythie en jetant des cris de dou leurs. 331
Und doch stehen am Ende der Chimères die Vers dorés, wie eine Erlösung! In einem Zeitraum von zwölf Jahren – von 1843 bis 1854 – sind die zwölf Sonette der Chimères entstanden – Stationen eines Leidenswegs, den Nerval selbst seine »Descente aux enfers« nannte und immer wieder mit dem Orpheus-Mythos verknüpfte. Ihre Interpretation bietet große Schwierigkeiten; Nerval hat es ironisch selber eingestanden: die Sonette wurden geschrieben... (...) dans cet état de rêverie super-naturaliste, comme diraient les Allemands, ... Ils ne sont guère plus obscurs que la métaphysique de Hégel ou les Mémorables de Swedenborg, et perdraient de leur charme à être expliqués, si la chose était possible. 332
Wir müssen gleichwohl eine – wenigstens andeutende – Erklärung versuchen. Erst in jüngerer Zeit ist man auf den Gedanken gekommen, die zwölf Sonette der Chimères nicht bloß einzeln zu interpretieren, sondern auch als eine Einheit, innerhalb derer jedes Gedicht einen besonderen Stellenwert hat. Es ist sicherlich kein Zufall in der Anordnung, die Nerval selbst bestimmt hat, und es dürfte auch kein Zufall sein, daß er die Chimères zusammen mit den sieben Novellen Les Filles du feu, und zwar als deren Abschluß veröffentlicht hat. Fast alle Ausgaben täuschen darüber hinweg, weil sie die Novellen und die Chimères trennen. Es hat schon seinen Sinn, wenn Nerval das Sonett El Desdichado an den Anfang, das Gedicht Artémis in die Mitte und die Vers dorés an den Schluß stellt und wenn er so den ersten Teil der Chimères aus den Gedichten bildet, deren Titel antike Gottheiten beschwören: Myrtho, Horus, Antéros, Del fica, während der zweite Teil aus den fünf zusammengehörenden Sonetten Le Christ aux Oliviers besteht. Wir werden diese Anordnung im Auge behalten müssen. Die »Descente aux Enfers« hat in den Chimères ein doppeltes, zentrales Symbol gefunden: »la porte« und »la grotte«. Die Pforte, das ist der Durchgang vom Leben zum Traum, vom Diesseits zum Jenseits, das Tor, das ins Nichts, aber auch in die höhere Wirklichkeit führen kann. Ein zentrales Symbol der Romantik, aber auch noch Baudelaires. Die Erzählung Aurélia, die man zur Interpretation der Sonette immer wieder heranziehen muß, beginnt mit den Sätzen:
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Gérard de Nerval, »Petits chateaux de Bohème«, op.cit., S. 7. Gérard de Nerval, »Les filles du feu. A Alexandre Dumas«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, 5.503. 177
Le Rêve est une seconde vie. Je n'ai pu percer sans frémir ces portes d'ivoire ou de corne qui nous séparent du monde invisible. 333
Und gegen Ende von Aurélia heißt es: Je résolus de fixer le rêve et d'en connaître le secret. – Pourquoi, me dis-je, ne point enfin forcer ces portes mystiques, armé de toute ma volonté, et dominer mes sensations au lieu de les subir. 334
»Fixer le rêve... forcer ces portes mystiques...": Die Chimères erscheinen wie die Ausführung dieses Entschlusses, wie die Öffnung der Pforte, die nicht mehr nur ins Nichts führt, sondern sinnliche und übersinnliche Welt verbindet und das Chaos ordnet. Daß dies künstlerisch gelingt, ist die Leistung einer neuen Dichtersprache. Und hierauf werden wir besonders zu achten haben: auf die Magie des Worts, die Objektives und Subjektives zugleich beschwört, die die Verdichtung des Sinnes bis zu einer Dunkelheit vorantreibt, deren Erhellung das Wesen der Dinge in ihrer Einheit entschlüsselt, weil sie ihre Fülle im vielfach sinntragenden Wort kristallisiert.
El Desdichado, der unglückliche Orpheus Beginnen wir unsere Besprechung der Chimères mit deren erstem Sonett, das wir genauer betrachten wollen: Je suis le ténébreux, – le veuf, – l'inconsolé, Le prince d'Aquitaine à la tour abolie: Ma seule étoile est morte, – et mon luth constellé Porte le soleil noir de la Mélancolie. Dans la nuit du tombeau, toi qui m'as consolé, Rends-moi le Pausilippe et la mer d'Italie, La fleur qui plaisait tant à mon cœur désolé, Et la treille où le pampre à la rose s'allie. Suis-je Amour ou Phébus? ... Lusignan ou Biron? Mon front est rouge encor du baiser de la reine; J'ai rêvé dans la grotte où nage la sirène... Et j'ai deux fois vainqueur traversé l'Achéron: Modulant tour à tour sur la lyre d'Orphée Les soupirs de la sainte et les cris de la fée. 335
Das Sonett trug ursprünglich den Titel: Le Destin. Der Titel El Desdichado – spanisch: der Unglückliche, unter einem bösen Stern Stehende – ist dem Roman Ivan-
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Gérard de Nerval, »Aurélia«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 753. Ebda., S. 822. 335 Gérard de Nerval, »El Desdichado«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 694. 178 334
hoe, 1819, von Walter Scott entlehnt, wo ein seines Lehens beraubter Ritter dieses Wort als Devise gewählt hat. In Vers 1 führt der Dichter sich selbst als Desdichado ein in dreifacher Bestimmung: 1.) »Le ténébreux« – der Bewohner ständiger Finsternis, der zum Unglück, zu Nacht und Tod Verdammte. An anderer Stelle spricht Nerval vom »beau ténébreux«, denn das »ténébreux« – Sein erhält seine Tragik durch den Anspruch des jungen, edlen, schöngeistigen Menschen auf ein Glück, das ihm immer versagt bleibt, je mehr er es sichtet. Der beau ténébreux ist der bel tenebroso der spanischen Ritterromane, der am Rande des Wahnsinns steht wie Don Quijote in der Sierra Morena, oder dem Wahnsinn verfallen ist, wie Ariosts Rasender Roland. Immer ist – und so auch bei Nerval – mit dem »ténébreux« der Bezug auf die Fatalität in der Liebe gewahrt. Und das gilt ja auch für die zweite Bestimmung: 2.) »le veuf« – der Alleingelassene, der Witwer, nicht im Sinne des Standesamtes, sondern der von allem Weiblichen Verlassene, für immer. Für immer ungetröstetdas will die dritte Bestimmung besagen: 3.) »L'inconsolé«. Warum wählt Nerval das Partizip statt des Adjektivs »inconsolable«? Auch hier ist ausschlaggebend die doppelte Perspektive der drei Bestimmungen. Inconsolable hätte involviert, daß er immer untröstlich war, daß er nie die Möglichkeit des Glücks erfahren hätte. »L'inconsolé« aber, die »definite« Form, enthält den Gedanken eines unwiederbringlichen Verlusts, ebenso wie – vom Wort selbst her – »veuf« und ebenso wie – vom alten literarischen Motiv her – der »ténébreux«. Alle drei Bestimmungen beschwören also eine Vergangenheit, die Glück zu verheißen schien, als einen Verlust, der, indem er jetzt end-gültig ist, die Zukunft determiniert und verschließt in der Gegenwart des Sprechers selbst: »je suis«. Und noch eine weitere Dimension kommt in diesem einen, ersten Vers hinzu: der bestimmte Artikel – »le ténébreux«, »le veuf«, »l'inconsolé« – scheint noch etwas von seiner ursprünglichen Bedeutung als Demonstrativpronomen (ille) zu bewahren: »jener«, das heißt der, der «ténébreux...; der »veuf«, katexochen – nicht irgendeiner. Dieser erste Vers ist auch metrisch ein kleines Wunder. Es ist ein Alexandriner, der, ganz regelmäßig, die Zäsur in der Mitte hat, nach »ténébreux«. Aber die Zäsur hat hier die ganz bestimmte Funktion übernommen, gleichsam einen Abgrund aufzureißen, den Abgrund des »ténébreux«-seins, bei dem der Atem anhält, um vor dem kurzen, zweisilbigen »le veuf« – nach dem dreisilbigen »ténébreux« – sogleich wieder zu stocken, und dann, nach neuer Zäsur-im viersilbigen »l'inconsolé« -sich vor der unendlichen Dauer einer trostlosen Zukunft zu befinden. Im Vorwort zu den Filles du feu, die Nerval ja – wie wir wissen – zusammen mit den Chimères gedruckt hat, hat Nerval eine Art von Vision geschildert, in welcher er sich mit einer Gestalt aus Scarrons Roman comique, 1651, identifiziert und sie verwandelt. Die Helden dieses Romans heißen Le Destin und Mlle de L'Etoile. Le Destin war der ursprüngliche Titel unseres Sonetts, und das vom Dichter in Kursivdruck hervorgehobene » étoile « der 3. Zeile des ersten Quatrain enthält -unter anderem -auch die Reminiszenz an die weibliche Hauptfigur jenes Romans. Le Destin und l'Etoile sind bei Scarron Schauspieler, das heißt sie sind adliger Abkunft 179
und durch ihr Schicksal dazu verdammt, sich verborgen zu halten. In jener Vision des Vorworts, von dem ich sprach, geht l'Etoile für Le Destin verloren, im Gegensatz zur Handlung von Scarrons Roman. Und Le Destin, der alles Glück und alles Leid und alle Größe auf der Bühne dargestellt und durchlebt hat, steht allein da und verlassen von seiner »étoile fugitive«. Und seine Klage führt uns erst recht wieder auf unser Gedicht zurück: Ainsi, moi, le brillant comédien de naguère, le prince ignoré, l'amant mystérieux, le déshérité, le banni de liesse, le beau ténébreux ... 336
Wir haben hier einen der Untergründe, eine der Bedeutungsschichten des ersten Verses unseres Sonetts gefunden, die zugleich zur Erklärung der zweiten Zeile beitragen kann: »Le prince d'Aquitaine à la tour abolie«: Diese Zeile, die an den «prince ignoré« der soeben zitierten Stelle erinnert, erscheint wie eine vierte, zusammenfassende Bestimmung. Gérard de Nerval hat sich immer gern mit den von ihm genannten geschichtlichen und mythologischen Gestalten identifiziert – mit Napoleon wie mit Orpheus, so wie Le Destin sich mit den von ihm gespielten Rollen. Und ich erinnere an die bereits zitierte Passage, in der Nerval sagt, daß er sein Leben wie einen Roman oder ein Drama führen möchte, das heißt ständig in einer Wirklichkeit, die von der Fiktion konstituiert wird. Der »Prince d'Aquitaine« mag eine Legendengestalt sein, vielleicht ein gewisser Waifre d'Aquitaine, der sein Leben auf der Flucht vor Pippin dem Kurzen verbringen mußte; »à la tour abolie« spielt an auf den Enterbten, den dés-»hérité«, den »Desdichado« Ivanhoes, meint zugleich den legendären Fürsten und meint die Zerstörung aller Hoffnungen des Dichters selbst. Man braucht gar nicht zu wissen, wer jener Prince d'Aquitaine war, wer mit ihm gemeint ist: Die Vagheit, die Unbestimmtheit dieses Verses ist zugleich größte Präzision insofern, als der Fürst aus alter Zeit, dessen Turm zerstört ist – wieder bestimmter Artikel! – sogleich den fatalen Untergang großer Hoffnungen beschwört, fast magisch ferne Geschichte und Gegenwart verbindend. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß wir in der »tour abolie« auch ein sexuelles Symbol zu sehen haben, das Ende, die Zerstörung alles sinnlichen Liebesbegehrens. Andere Stellen aus Nervals Werk legen die Möglichkeit einer solchen Interpretation immerhin sehr nahe. Der dritte und der vierte Vers des ersten Quartetts bringen nun, die Bestimmung der beiden ersten wieder aufnehmend und nuancierend, in neuer zusätzlicher Verdichtung wiederum vielschichte Vorstellungen. »Ma seule étoile est morte« – wir kennen den Bezug zu Scarron durch die Vision hindurch. Der einzige Stern, der versunken ist für immer, ist aber auch – und das wird nun freilich bereits unwesentlich -Jenny Colon, als Inkarnation der Liebessehnsucht. Der »Stern« ist aber auch – und das betrifft nun die Struktur unseres Gedichts – die Entsprechung zu »ténébreux«. Sein Erlöschen erst hat die unaufhebbare Finsternis bewirkt. Und auf der sternbesäten Laute – das heißt am Himmel des Dichters – hat sich die Sonne verfinstert. Der Witwer – »le veuf« -, der –
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Gérard de Nerval, »Les filles du feu«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 495, (»Préface«). 180
es kann jetzt unausgesprochen bleiben – sich schwarz kleidet, lebt unter der schwarzen Sonne der Melancholie, welch letztere wiederum – nach der Temperamentenlehre von der schwarzen Galle herrührend – Entsprechung ist zu »inconsolé«. Die schwarze Sonne der Melancholie – nach einem Bild Dürers, das Nerval immer fasziniert hat – gibt dem subjektiven, schon durch die Vielschichtigkeit der Bedeutungen wie durch den betimmten Artikel zur Absolutheit erweiterten Erleben nun noch eine apokalyptische Dimension: die der Sonnenfinsternis, die das Ende der Welt ankündigt. Daß wir hier nicht zuviel hineindeuten, zeigt eine Stelle aus Aurélia: Je crus que les temps étaient accomplis, et que nous touchions à la fin du monde annoncée dans l'Apocalypse de saint Jean. Je croyais voir un soleil noir dans le ciel désert... 337
Die schwarze Sonne, das ist der erloschene Stern, der einzige- »ma seule étoile« ,das ist die finstere Welt des »ténébreux«, die Verlassenheit des »veuf«, die Melancholie des »inconsolé«. Es ist die »Nacht des Grabes«, aus welcher jetzt, im zweiten Quatrain, der Desdichado nach der Frau ruft, die ihn einst getröstet hat: »Dans la nuit du tombeau, toi qui m'as consolé.« Nerval hat sich nicht gescheut, zwei Komposita des gleichen Worts miteinander reimen zu lassen: »consolé« – das für immer verlorene Einst – steht in antithetischer Entsprechung zu »l'inconsolé«. Und er hat sich auch nicht gescheut, noch ein drittes Wort aus dieser Familie in den Reim zu stellen: »désolé« – in der dritten Zeile des zweiten Quartetts, dieses als Zeugnis für eine Verzweiflung, die noch keine endgültige war, da sie Trost erfuhr. In umgekehrter Reihenfolge – »inconsolé«, »consolé«, »désolé« – beschwört diese differenzierende, jedoch bedeutungs- und lautverwandte Reihe in einer Art von Wortmagie den Prozeß von der Hoffnung, die der Trost auch in der Verzweiflung nährte, zur endgültigen Verdüsterung. Der chronologische Vorgang ist umgedreht, so wie die ganze gedankliche Bewegung des Gedichts in seiner gegenwärtigen Fixierung von dem Entwurf der hoffnungslosen Zukunft zunächst in die Vergangenheit zurückführt, indem der Dichter an die Frau appelliert, die ihn einst getröstet hat: Rends-moi le Pausilippe et la mer d'Italie, La fleur qui plaisait tant à mon cœur désolé, Et la treille où le pampre à la rose s'allie.
Nerval hatte in Italien eine Begegnung mit einer jungen Engländerin – Octavie – gehabt, die für kurze Zeit sein Leben wieder erhellte. Der Posilippo, ein Hügel am Ufer des Meers bei Neapel, wird zum Symbol für diese letzte Hoffnung nach der Verzweiflung des »cœur désolé«. Und als solches Symbol erscheint der Posilippo an zahlreichen Stellen im Werk Nervals. Zu diesem Erlebnis gehören auch die »fleur«, die »treille« und die »rose«. Das Rendez-vous hat – wenn man den Andeutungen in der Novelle Sylvie Glauben schenken darf, in einer Weinlaube bei
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Gérard de Nerval, »Aurélia«, op.cit., S. 802. 181
Portici stattgefunden. Es genügt, dies zu wissen und dann weiterzugehen zu der Bedeutung, die diese biographischen Elemente im Zusammenhang des Gedichts erhalten. Anstelle von »fleur«, das durch Kursivdruck hervorgehoben ist, stand zuerst ancolie, die Akelei, Symbol der Traurigkeit und Emblem des Wahnsinns. Hat Nerval diesen Namen getilgt, weil der Gleichklang mit Mélancolie zu aufdringlich gewesen wäre? Oder weil die Blume hier doch Tröstliches darstellen sollte in der Trostlosigkeit selbst? Das ist schwer zu entscheiden. Jedenfalls bringt der folgende Vers – wiederum in Gestalt der Blumensymbolik – das Wunschbild einer idealen Synthese, abermals aus der konkreten Erinnerung übertragen ins Allgemeine: »Et la treille où le pampre à la rose s'allie.« Es ist schwer zu sagen, welche unter den vielen Symbolbedeutungen vor allem der Rose hier mitspielen, welche im Vordergrund stehen mag. Wein und Rose, miteinander vereinigt, symbolisieren bereits in einer mittelalterlichen Version die unauslöschliche Liebe von Tristan und Isolde. Jedenfalls wird die Doppelung, die hier wunschbildhaft als Synthese erscheint, im folgenden Terzett weitergeführt und in einer Alternativfrage wieder zerrissen: »Suis-je Amour ou Phébus? ... Lusignan ou Biron?« Wieder stehen wir vor Rätseln, Amor und Phöbus: Was sollen sie hier? Die Kommentare gehen elegant darüber hinweg. Natürlich stehen die zwei Namenspaare miteinander in engster Beziehung, verbinden Mythos und mittelalterliche Geschichte. Lusignan und Biron sind die Namen von Adelsgeschlechtern, die im Valois beheimatet waren, woNerval seine Jugend verbracht hat. Der Name Lusignan ist engverbunden mit der Legende vonder Fee Melusine, für die einer aus diesem Geschlecht ein Schloß erbaute und die ihn nächtens vom Turme aus anruft, solange, bis dieser zerstört wird. Damit ist wiederum eine Verbindung zu der »tour abolie« von Vers 2 hergestellt. Noch schwieriger ist es mit dem Namen Biron. Ist ein bestimmtes Mitglied dieser Familie gemeint, etwa einer aus dem 16. Jahrhundert? Nerval hat in seiner Jugend ein Gedicht geschrieben: Pensée de Byron. Dort heißt es: L'espérance a fui comme un songe, Et mon amour seul m'est resté. 338
Der Gedanke ist klar: die Qual einer Liebe, der jede Hoffnung auf Erfüllung entzogen ist. Aber wie ist er dem Phébus zuzuordnen, wenn Lusignan sich auf Amor bezieht? Vielleicht ist die Antwort in der Nymphe Dafné zu suchen, die dem Apoll für immer entzogen wurde. So in Delfica. Nicht weniger dunkel ist der folgende Vers: »Mon front est rouge encore du baiser de la reine.« Ein Manuskript trägt eine Randbemerkung Nervals: Reine Candace. Das heißt die Stammutter der Königinnen von Äthiopien und der Königin von Saba? Vermutlich ist zugleich damit Adrienne gemeint, eine der Mädchenfiguren, in denen Nervals Träume Gestalt angenommen haben. Und möglicherweise ist auch die Jungfrau Maria, die Himmelsgöttin, hier mit eingegangen und zugleich wieder eine Beziehung zu dem Prince d'Aquitaine hergestellt, dem Enterbten, der also noch den Verheißungskuß der Königin auf der Stirn trägt und der – im nächsten
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Gérard de Nerval, »Pensée de Byron«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 23. 182
Vers – durch die Grotte in das Reich des Traums eingedrungen ist, in dem die Sirene lockte: »J'ai rêvé dans la grotte où nage la sirène.« Der Weg in die Grotte aber ist zugleich die »Descente aux enfers«, der Abstieg in die Unterwelt; die Grotte ist – wie es in dem Sonett Delfica heißt -: ...la grotte, fatale aux hôtes imprudents, Où du dragon vaincu dort l'antique semence. 339
Es ist die Grotte, in der, unter anderen, Tannhäuser verschwand, der Sybillenberg, den der italienische Legendenheld Guerin Mercino betritt, die gleiche Grotte letztlich, in der Antoine de la Salle um 1440 den Helden seiner Erzählung Le Paradis de la Reine Sibylle untergehen läßt. In seiner eigenen Erzählung La Reine de Saba 340 läßt Nerval den Helden in die Unterwelt hinabsteigen und vergleicht dessen Weg mit dem descensus des Aeneas, an anderer Stelle mit der Höllenwanderung Dantes. Über einem Kapitel von Aurélia steht als Motto: Euridyce! Eurydice! 341 Und im zweiten Terzett von El Desdichado fällt denn auch der Name Orpheus, verbunden mit dem zweimaligen Überqueren des Höllenflusses, das auf zwei Wahnsinnsanfälle des Dichters anspielt. Nun stellt sich nachträglich auch noch eine Verbindung her zu Amor und Phöbus Apollo, denen gleichfalls die Unterwelt zugänglich war. Und im letzten Vers des Gedichts vereinigen sich, verbunden mit den Hoffnungen des hinabsteigenden Sängers Orpheus, zwei Frauenbilder, das Spirituelle und das Sinnliche, gleichermaßen unerfüllt, die Heilige und die Fee, Amor und Apoll und gewiß auch Lusignan und Biron, und sie nehmen »le pampre« und »la rose« wieder auf und desgleichen die »reine« und die »sirène«, in der glänzenden Antithese von den Seufzern der Heiligen und den Rufen der Fee: Et j'ai deux fois vainqueur traversé l'Achéron: Modulant tour à tour sur la lyre d'Orphée Les soupirs de la sainte et les cris de la fée.
So fassen die letzten Verse, nach der schwarzgefärbten Trostlosigkeit des ersten Quartetts und der farbigen Beschwörung eines glücklichen Augenblicks aus der Vergangenheit, der die Doppelheit von Ranke und Rose synthetisierte, eine vage Hoffnung zusammen, daß der Weg in die Welt des Traums vielleicht doch die Vereinigung des Ideals mit der Wirklichkeit bringen könnte durch ihr Ineinandergehen. Denn die »sainte« und die »fée« stehen für das Spirituelle und das Körperliche, so wie Nerval es in der Erzählung Sylvie ausgesprochen hat mit Bezug auf Adrienne und Sylvie – den halbrealen Mädchentraumgestalten seiner Jugend:
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Gérard de Nerval, »Delfica«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 700. Gérard de Nerval, »La Reine de Saba«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 12. 341 Gérard de Nerval, »Aurélia«, op.cit., S. 788. 183 340
Tour à tour bleue et rose comme l'astre trompeur d'Aldebaran, c'était Adrienne ou Sylvie – c'étaient les deux moitiés d'un seul amour. L'une était l'idéal sublime, l'autre la douce réalité. 342
Der Dualismus von Seele und Körper, Diesseits und Jenseits, Traum und Wirklichkeit, löst sich im Wunschbild einer irrealen Einheit auf, deren Akkorde die Laute des zwischen Traum und Wirklichkeit hin- und herwandernden Sängers und Dichters anstimmt: Modulant tour à tour sur la lyre d'Orphée Les soupirs de la sainte et les cris de la fée.
Diese letzten Verse des die Chimères einleitenden Gedichts erscheinen wie die Verheißung einer Erlösung durch die Kunst, welche die folgenden Sonette vollziehen sollen. Ich habe dieses erste Gedicht so ausführlich besprochen, weil wenigstens an einem Fall zu zeigen war, wie überaus kunstvoll die Dichtung Nervals strukturiert ist, wie vielschichtig die Bedeutung jedes Wortes ist, wie sich – bei aller verbleibenden Dunkelheit -zwischen diesen Schichten ein Netz von Beziehungen herstellt und wie jedes Wort zugleich so gewählt ist, daß es, ohne explizit zu werden, ohne sich wirklich zu öffnen und herzugeben, eine Fülle von Assoziationen erzeugt, die in der Schwebe bleiben und doch in ihrer Konvergenz jeden Vers zu einem magischen »Sesam öffne Dich« werden lassen, das den Blick auf Abgründe erschließt, auf Abgründe, welche die Macht des beherrschten Worts in ihrer ganzen Schrecknis und Finsternis zugleich beschwört und bannt.
Myrtho, das Fortleben des Mythos Das zweite Sonett ist überschrieben Myrtho. Der biographische Erlebnishintergrund, wenn von einem solchen überhaupt gesprochen werden kann, ist diesmal erst recht die Begegnung mit der Engländerin – Octavie – und, zur selben Zeit, mit einem leichten Mädchen; Begegnungen, in welche sich die Erinnerung an Jenny Colon mischt. Myrtho meint die Myrthe, ein Attribut der Venus. Und Myrtho ist Octavie, die noch einmal sein Leben verzaubert, wie eine antike Göttin, unter deren Fuß, zum Untergang bestimmt wie einst die ganze antike Welt, sich die Vulkane öffnen. Wieder wird der Posilippo beschworen, das Erlebnis, in dem diesmal schwarz und gold sich verbinden für den Dichter, den die Muse zum Sohn der Griechen machte. Der Vulkan, der sich öffnete, ist die quälende Erinnerung an Jenny Colon, unter welcher der antike Traum, den Octavie verkörperte, versinkt. Und dieser Traum, einen Augenblick Wirklichkeit geworden, ist wie das Überleben der Welt der heidnischen Antike, die in diesem südlichen Italien der normannische Herzog – das Christentum – zerstörte, als er die tönernen Götterbilder stürzte. Und nur im flüchtigen Traum, im Schatten Virgils, vereinigen sich die beiden Welten, die
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Gérard de Nerval, »Sylvie«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 624. 184
»blasse Hortensia» – das Christentum – und die »grüne Myrthe« der heidnischen Göttin: Je pense à toi, Myrtho, divine enchanteresse, Au Pausilippe altier, de mille feux brillant, A ton front inondé des clartés d'Orient, Aux raisins noirs mêlés avec l'or de ta tresse. C'est dans ta coupe aussi que j'avais bu l'ivresse, Et dans l'éclair furtif de ton oeil souriant, Quand aux pieds d'Iacchus on me voyait priant, Car la Muse m'a fait l'un des fils de la Grèce. Je sais pourquoi là-bas le volcan s'est rouvert... C'est qu'hier tu l'avais touché d'un pied agile, Et de cendres soudain l'horizon s'est couvert. Depuis qu'un duc normand brisa tes dieux d'argile, Toujours, sous les rameaux du laurier de Virgile, Le pâle hortensia s'unit au myrthe vert! 343
Eine andere, von Nerval später verworfene Version von Myrtho zeigt zwei Terzette, die im endgültigen Text den Abschluß des späteren Sonetts Delfica bilden und von der Wiederkehr der von Octavie beweinten Götter reden: Ils reviendront, ces dieux que tu pleures toujours.
Wir kommen darauf zurück. Für Nerval fallen Venus und Isis zusammen. Und der Sohn der orientalischen Göttin Isis und des Osiris, der nach dem Tod des alten Gottes Kneph geboren wird, ist Horus, der bei Nerval zur Präfiguration eines Erlösers der Erde wird. Das Meer spiegelt das Bild der Göttin wider, die in vergoldeter Muschel entflieht, und der Himmel erglänzt unter den Farben des Regenbogens, der Schärpe der Iris: La déesse avait fui sur sa conque dorée, La mer nous renvoyait son image adorée, Et les cieux rayonnaient sous l'écharpe d'Iris. 344
Horus, dessen Name den Titel dieses Gedichts bildet, ist Gegenstand einer mystischesoterischen Religiosität, einer geheimen Soteriologie. Und die Titelfigur des folgenden Sonetts Antéros – symbolisiert gleichfalls das untergründige Weiterleben des Heidentums in der christlichen Ära. In den Illuminés, 345 den Geheimsekten, bei Mystikern und Okkultisten, fand Nerval den Beweis für dieses Weiterleben, und er hat diese Überzeugung in einer der Geschichten seiner Illuminés, den Magier Ca-
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Gérard de Nerval, »Myrtho«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 696. Gérard de Nerval, »Horus«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 698. Gérard de Nerval, »Les Illuminés, ou les Précurseurs du socialisme«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 79. 185
gliostro betreffend, auch formuliert und viele Zeugen genannt, unter ihnen die Templer und die Freimaurer. Antéros ist die stumme Revolte der vom Christentum besiegten heidnischen Götter, die der Dichter mit den Unterlegenen und Verstoßenen des Alten Testaments vereinigt: mit Kain, mit Esau, mit den Amalekitern. Die Gestalt des Antéros hat Nerval wahrscheinlich während seiner Renaissance-Studien kennengelernt. Antéros ist Anti-Eros; er ist ebenfalls ein Sohn der Venus wie Eros-Amor selbst, geschaffen im Mythos, um die ewige Kleinheit, den Kindeswuchs Amors zu ergänzen, und dazu bestimmt, alle diejenigen zu strafen, die auf Liebe nicht mit Gegenliebe antworten. Antéros steht bei Nerval für alle ungeliebten Gestalten der alten Geschichte, für das Geschlecht des Antäus, den Herkules immer erneut besiegte, für den Gott Baal, der Jehovah weichen mußte, für Kain, der sich an dem von Gott bevorzugten Abel rächte, für den enterbten Esau. Sie alle stehen noch im Kampf, im Kampf des heidnischen Polytheismus gegen den christlichen Monotheismus, den Sieger.
Delfica, Nervals Verarbeitung von Goethes Wilhelm Meister Das nächste Sonett, Delfica, verkündet die Rückkehr der nur unterdrückten, aber noch nicht völlig vernichteten, der nur schlafenden, aber nicht gestorbenen heidnischen Götter. Wie Myrtho, so hat auch Delfica zum Ausgangspunkt Octavie, die Engländerin von Neapel. War sie bis jetzt verglichen mit Venus-Iris, so nun mit der Sibylle, benannt nach dem Orakel von Delphi – daher Delfica. Die lateinischen Epigraphe Nervals verweisen auf die Sibylle von Cumae, die in Virgils 4. Ekloge die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters verkündet. La connais-tu, Dafné, cette ancienne romance, Au pied du sycomore, ou sous les lauriers blancs, Sous l'olivier, le myrte, ou les saules tremblants, Cette chanson d'amour qui toujours recommence? ... Reconnais-tu le Temple au péristyle immense, Et les citrons amers où s'imprimaient tes dents, Et la grotte, fatale aux hôtes imprudents, Où du dragon vaincu dort l'antique semence? ... Ils reviendront, ces Dieux que tu pleures toujours! Le temps va ramener l'ordre des anciens jours; La terre a tressailli d'un souffle prophétique... Cependant la sibylle au visage latin Est endormie encor sous l'arc de Constantin –Et rien n'a dérangé le sévère portique. 346
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Gérard de Nerval, »Delfica«, op.cit., S. 700. 186
Wir müssen damit beginnen, Goethe zu zitieren, nicht weil sich so etwas immer gut macht und bei Goethe ja immer etwas Geeignetes zu finden ist, sondern weil Nerval Goethe im Kopf gehabt hat, als er Delfica schrieb. Es handelt sich um Mignons berühmtes Italienlied aus dem Wilhelm Meister: Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühn, Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrthe still und hoch der Lorbeer steht, Kennst Du es wohl? Dahin! Dahin Möcht ich mit Dir, o mein Geliebter, ziehn! Kennst Du das Haus? auf Säulen ruht sein Dach,...
Und in der dritten Strophe von Mignons Lied: In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut... 347 Sie erkennen leicht die Parallelen: Kennst Du das Land... ? La connais-tu, Dafné... ? Kennst Du das Haus? auf Säulen ruht sein Dach... Reconnais-tu le Temple au péristyle immense... ? Die Myrthe – le myrte, der Lorbeer – le laurier. In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut Et la grotte... Où du dragon vaincu dort l'antique semence.
Auch die Zitronen erscheinen bei Nerval wieder. Es ist gar kein Zweifel möglich über die Abhängigkeit. Fast möchte man meinen, Nerval identifiziere die von ihm beschworene »ancienne romance«, »cette chanson d'amour qui toujours recommence«, mit Mignons Lied. Man muß solche Entlehnungen sehen und doch zugleich danach fragen, was daraus gemacht wird, in welchen neuen Funktionszusammenhang sie einrücken. Dafné ist die Nymphe, die dem Apollo besonders teuer ist, dem Herrn des Tempels von Delphi; der »laurier« ist der Baum, der Apollo heilig ist. Zu ihm treten Sykomore und die Weide, beide wahrscheinlich christlich bezogen, ferner der Olivenbaum der Minerva, die Myrthe der Venus – alle verschiedener Provenienz -, vereinigt und doch durch stetiges »ou« – »oder« – getrennt: Später, nachchristlicher Synkretismus der Landschaft beim Tempel der Isis in Pompeji, bei der eine alte Romanze erklang, die eine vergangene Welt evozierte, während der Dichter einst Octavie,
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Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meister, Goethes Werke, Bd. 7, Romane II, (hrsg. Erich Trunz), Hamburg 1968, 5.145. 187
die Freundin jener Tage, in die Mysterien des Isiskults einführte, die er, wie er in der Novelle Octavie andeutet, im Werk des Apuleius kennengelernt hatte. Alles in den beiden Quartetten ist Beschwörung eines Vergangenen, ist Wiederbelebung in der Erinnerung: La connais-tu, Dafné, cette ancienne romance, ... Cette chanson d'amour qui toujours recommence? Reconnais-tu le Temple au péristyle immense? Et les citrons ... Et la grotte ...
Die ganz persönliche Erlebnisevokation verbindet sich mit der Evokation der alten Welt. Die bitteren Zitronen, in welche Octavie ihre Zähne drückte, erscheinen wie die Bitterkeit des Schicksals der antiken Gottheiten, deren Tempel verfallen sind und die, mit Hilfe der Sirenen, die Spätgeborenen in ihre Grotte locken, in welcher der vom Christentum besiegte Drache schläft, bereit, seinen Samen wieder auszugießen. Der Drache, der in der Mythologie von Jason besiegt und dessen Zähne von Cadmus verstreut wurden, symbolisiert die Welt der alten, auf ihre Wiederkehr wartenden Götter. Und auch das erste Terzett führt die innige Verbindung von privatem Erlebnis und Götterwelt weiter: Die Wieder-Erinnerung, das mehrfache re- wird aufgenommen, zur Wiederkunft verwandelt, und die Zukunft projiziert als Verheißung eines Goldenen Zeitalters, in dem die alte Ordnung wiederhergestellt sein wird: Ils reviendront, ces Dieux que tu pleures toujours! Le temps va ramener l'ordre des anciens jours, La terre a tressailli d'un souffle prophétique.
Der wieder aufgebrochene Vulkan scheint die Rückkehr der alten Götter anzukündigen – aber alles bleibt ruhig: Der goldene Traum bleibt begraben im Schlaf der Sibylle, die noch unter dem Triumphbogen Kaiser Konstantins ruht, jenes Triumphbogens, der Konstantins Übertritt zum Christentum verherrlicht und somit den Untergang der Götterwelt besiegelt. Und nichts hat bis jetzt die strenge Portica, streng und feindselig gegenüber den Göttern, zum Wanken gebracht: »Et rien n'a dérangé le sévère portique.« Flüchtig, wie die Begegnung mit Octavie, war die Hoffnung auf die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters. Die Götter schlafen unter der schweren Last des Christengottes. Gebrochen zwar, doch strukturbildend als unverlorene, obwohl resignierende Hoffnung, ist der Archetypus der Wiederkehr sichtbar, der zyklischen Wiederkehr der Zeitalter, die sich auf ein antik-goldenes richtet. 348 Nahtlos sind in diesem Gedicht das persönliche Erlebnis, die paganistisch-mystische Verheißung einer Zeit des klaren Lichts und der geschichtliche Traum als universeller Hintergrund einer individuellen Erlösungssehnsucht ineinandergefügt. Der Aufruf zur Erinnerung an die mit der Sibylle und der Apollonymphe Daphne gleichgesetzte, längst wieder verlorene Octavie mündet ein in den
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Vgl. hierzu: Rüdiger Stephan, Goldenes Zeitalter und Arkadien, Heidelberg 1971. 188
Zwang zum Aufschub, in das Schweigen der schlafenden Götter und der schlafenden Sibylle, deren Wiederkehr nun wieder so ungewiß bleibt wie diejenige des Glücks, das sich einst in Octavie zu verkörpern schien. Nicht umsonst heißt Octavie – zugleich die Sibylle – hier Daphne, wie die Nymphe, die, von dem in Liebe entbrannten Apollo verfolgt, von ihrer Mutter, der Erdgöttin Gäa, in einen Lorbeerbaum verwandelt und so dem Zugriff des Gottes für alle Zeiten entzogen wurde. Daphne, die zum Baum erstarrte Nymphe, die prophetische Sibylle, weiterhin zum Schlaf verdammt, und Octavie, das flüchtige Glück weniger Tage, sind identisch geworden und schließen in diese Einheit persönliche und geschichtliche Hoffnung, aber auch die Resignation des »Nicht-Mehr«, des »NochNicht-Wieder« und des »Wahrscheinlich-Nie-Mehr« mit ein. Nervals fast gewaltsame Identifikationen bilden die Grundelemente einer subjektiven, synkretistischen Mythologie, hinter der sich gleichwohl die Konturen vager, poetisierter, geschichtlicher Hoffnungen abzeichnen.
Artémis, der Kreislauf der Zeit Auf Delfica folgt – in der Mitte der Chimères stehend – das Sonett Artémis, das Sonnet pivotal, 349 wie Nerval es einmal nennt, das heißt den Angel- und Drehpunkt der kleinen Sammlung der Chimères. Es ist zugleich das dunkelste. Ein Manuskript zeigt, daß Nerval diesem Gedicht zuerst den Titel Ballet des Heures 350 gegeben hatte. Und damit ist ein erster Hinweis gegeben, wie man das Gedicht vielleicht verstehen kann, vor allem die ersten Verse. La Treizième revient... C'est encor la première; Et c'est toujours la seule, – ou c'est le seul moment; Car es-tu reine, ô toi! la première ou dernière? Es-tu roi, toi le seul ou le dernier amant?... Aimez qui vous aima du berceaù dans la bière; Celle que j'aimai seul m'aime encor tendrement: C'est la mort – ou la morte... O délice! ô tourment! La rose qu'elle tient, c'est la Rose trémière. Sainte napolitaine aux mains pleines de feux, Rose au cœur violet, fleur de sainte Gudule: As-tu trouvé ta croix dans le désert des cieux? Roses blanches, tombez! vous insultez nos dieux, Tombez, fantômes blancs, de votre ciel qui brûle: – La sainte de l'abîme est plus sainte à mes yeux! 351
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Gérard de Nerval, »Artémis«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 702 (»Note«). 350 Ebda., S. 702. 351 Gérard de Nerval, »Artémis«, op.cit., S. 702. 189
Artemis-Diana nimmt hier alle Aspekte der Frau in sich auf, der letzten und der ersten, der Dreizehnten, welche wieder die erste ist: Das letzte ist identisch mit dem ersten. Es ist immer dieselbe Frau, die überall gesucht wird, Ende und Anfang, und es ist zugleich die Behexung durch das Problem der Zeit, so wie der dreizehnte Mond wieder der erste ist, die dreizehnte Stunde ist wieder die erste; aber ist in diesem Kreislauf auch für das individuelle Leben das Ende gleich dem neuen Anfang, ist die erste Frau, die »Reine«, auch die einzige, ist sie die erste oder die letzte; ist der Liebende der einzige oder nur der letzte? Wieder erscheint der Traum als die einzige Möglichkeit, in das kosmische Geschehen und seine ewige Erneuerung den Menschen und seine Sehnsucht einzubegreifen? Für Nerval hatte die Zahlenmystik und Symbolik immer etwas Faszinierendes: Mit der Dreizehn beginnt die Zeit den neuen Zyklus, sie ist einzigartig, Angelpunkt, »l'heure pivotale«; sie schließt, Ende und Neuanfang identifizierend, Vergangenheit und Zukunft in sich ein. Und die dreizehnte Geliebte ist wieder die erste; in ihr ist die Zeit aufgehoben: La Treizième revient... C'est encore la première; Et c'est toujours la seule, – ou c'est le seul moment; Car es-tu reine, ô toi! la première ou dernière? Es-tu roi, toi le seul ou le dernier amant?
Erste oder letzte, gleich: Einzige. Im Kreislauf, der Anfang und Ende im Einzigen aufhebt, ist das Geheimnis dieser Verse beschlossen, die diesen Kreislauf magisch beschwören in Wiederholung und Steigerung, in der Kongruenz von Zeit und Liebe, Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit. Die dreizehnte Stunde ist auch die erste, als Dreizehnte ist sie das Ende, der Tod des Bisherigen. Die dreizehnte Karte des Tarockspiels, das Nerval vermutlich sehr beeindruckt hat, ist die Karte des Todes. Und der Tod der Zeit ist, wiederum gleichgesetzt, der Tod der geliebten Frau, Voraussetzung ihrer Wiedergeburt in einer anderen usw. Und sie alle umschließt die einzige Liebe – die des Dichters – von der Wiege bis in den Sarg. Der Tod ist die Tote, ist Entzücken und Qual, Qual wegen des Sterbens und Entzücken über die Wiedergeburt. Und wie Aurélia, so trägt die dreizehnte, erste, letzte und einzige Geliebte die symbolische Rose, die »Rose trémière«, die Zitterrose: Aimez qui vous aima du berceau dans la bière; Celle que j'aimai seul m'aime encore tendrement: C'est la mort-ou la morte... O délice! ô tourment! La rose qu'elle tient, c'est la Rose trémière.
Das erste Terzett evoziert die Begegnung mit einer Neapolitanerin, die Kirchengewänder stickte, aus deren Händen voller Feuer und Farbe die Blume der Heiligen aufblühte. Die Neapolitanerin verschmilzt mit der Heiligen Gudula, und beide sind wieder Aurélia, die ewige Geliebte, die Rose mit dem violetten Herzen: Sainte napolitaine aux mains pleines de feux, Rose au cœur violet, fleur de sainte Gudule
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Der letzte Vers des ersten Terzetts bringt nun in Form einer Frage an die Geliebte erneut das Thema: Götter oder Gott, Heidentum oder Christentum? As-tu trouvé ta croix dans le désert des cieux?
Die Wüste des christlichen Himmels kennt nur das Kreuz. Und so wendet sich das letzte Terzett gegen die Heiligen der Kirche, welche die Götter beleidigen, gegen die weißen Rosen und die weißen Phantome, die den brennenden Himmel durch ihr Unschuldsopfer rechtfertigen: Roses blanches, tombez! vous insultez nos dieux, Tombez, fantômes blancs, de votre ciel qui brûle (...)
Und das ganze Gedicht endet mit der Apotheose der gestürzten Göttin, der in den Abgrund verdammten Heiligen aller nicht-christlichen Religionen, der gestürzten Artemis, Urbild der Frau für Nerval. Die wahre Heilige ist die Heilige des Abgrunds: »La sainte de l'abîme est plus sainte à mes yeux!« Mit Artémis endet die Beschwörung der alten Götter, die unter der schweren Last des Christentums, besiegt, niedergeworfen, in der Tiefe schlafen.
Le Christ aux Oliviers, die Apotheose des Zufalls Die folgenden fünf Sonette bringen ein Thema, das wir kennen: der verlassene Christus am Ölberg. Wie bei Alfred de Vignys Gedicht Le Mont des Oliviers ging die Anregung von Jean Paul aus: der »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei. « Und als Motto setzte Nerval vor seine Sonette die Worte Jean Pauls: Dieu est mort! le ciel est vide... Pleurez! enfants, vous n'avez plus de père! 352
Gott schweigt, wie bei Vigny, auf die angstvolle Frage seines leidenden Sohnes. Und Christus ruft seinen schlafenden Jüngern zu: ... Mes amis, savez-vous la nouvelle? J'ai touché de mon front à la voûte éternelle; Je suis sanglant, brisé, souffrant pour bien des jours! Frères, je vous trompais: Abîme! abîme! abîme! Le dieu manque à l'autel où je suis la victime... Dieu n'est pas! Dieu n'est plus! Mais ils dormaient toujours! 353
Überall hat Christus das Auge Gottes gesucht und immer nur das Nichts, die Leere und die wachsende Finsternis gefunden, wie es im zweiten Sonett heißt:
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Gérard de Nerval, »Le Christ aux oliviers«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 705, Zitat in: Jean Paul, »Rede des toten Christus, vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei«, op.cit., S. 271. Gérard de Nerval, »Le Christ aux oliviers«, op.cit., S. 705. 354 Ebda., S. 706. 191
En cherchant l'oeil de Dieu, je n'ai vu qu'une orbite Vaste, noire et sans fond, d'où la nuit qui l'habite Rayonne sur le monde et s'épaissit toujours! 354
Die »orbite Vaste, noire et sans fond« ist Jean Pauls »leere, bodenlose Augenhöhle«, die von den französischen Romantikern, zum Beispiel auch von Hugo mehrfach übernommen wird. An Jean Paul orientiert ist auch das dritte Sonett von Le Christ aux Oliviers: ein Bild des Kosmos, der vom Fatum, von der Notwendigkeit und vom Zufall regiert wird, von Gesetzen, die keine sind, es seien denn solche, die sich zum Menschen in eisiger Gleichgültigkeit verhalten. Der erste Quatrain, der dieses Bild eines in der Kälte erstarrenden und verbleichenden Universums entwirft, ist von einer kristallinischen Sprache: Immobile Destin, Muette sentinelle, Froide Nécessité! ... Hasard qui, t'avançant Parmi les mondes morts sous la neige éternelle, Refroidis, par degrés, l'univers pâlissant. 355
»Destin«, »Nécessité«, »Hasard« sind großgeschrieben, als die Wesenheiten dieser Welt, die sie bestimmen. Und zu ihrem Wesen selbst gehört, was die Adjektive ausdrücken: »immobile Destin«, «muette sentinelle«, »froide Nécessité«. Unbeweglich, stumm, kalt – unvertauschbare Epitheta, die keine Akzidentien meinen, sondern die kosmische Erstarrung selbst. Die Verse 3 und 4 führen diese drei Bestimmungen fort – »la neige éternelle«, refroidir, Junivers pâlissant« – und fassen sie zusammen in den »mondes morts«, den »toten Welten«. Nur eine Bewegung gibt es in diesem geronnenen Universum: den »Hasard«, nicht mehr reduzierbar auf einen transzendenten Sinn. Und Christus erhebt die bange Frage an Gott, ob er die Macht über die Welt verloren habe, ob er in der Lage sei, einen unsterblichen Hauch von einer absterbenden Welt zur anderen, entstehenden hinüberzuretten: Sais-tu ce que tu fais, puissance originelle, De tes soleils éteints, l'un l'autre se froissant... Es-tu sûr de transmettre une haleine immortelle, Entre un monde qui meurt et l'autre renaissant? 356
Man ist versucht, diese Aussage zu historisieren, zum Weltzeitalter, das stirbt, und zur Zukunft, die nichts verspricht. Sollte Gott, der Vater und Schöpfer, die Macht über Leben und Tod verloren haben? Sollte er im letzten Kampf mit seinem Widersacher, dem »Engel der Nacht«, unterlegen sein? Denn er, Christus, ist allein, und mit seinem Tod wird alles Lebendige sterben wie die erlöschenden Sonnen:
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Ebda., S. 706. Ebda., S. 706. 356 Ebda., S. 706. 192 355
O mon père! est-ce toi que je sens en moi-même? As-tu pouvoir de vivre et de vaincre la mort? Aurais-tu succombé sous un dernier effort De cet ange des nuits que frappa l'anathème? ... Car je me sens tout seul à pleurer et souffrir, Hélas! et si je meurs, c'est que tout va mourir! 357
Aber Gott und die Welt bleiben stumm. Der leidende Christus ruft in seiner Todessehnsucht nach dem Bösen, nach Judas, der ihn verkauft hat: »Viens ! ô toi qui, du moins, as la force du crime!« Aber Judas, schlecht bezahlt, ist nicht mehr interessiert, und nur Pilatus hat schließlich Mitleid mit dem vermeintlichen Narren, beifällig, zufällig, Schicksal, das weder mit Gott noch mit seinem Sohn zu tun hat: Enfin Pilate seul, qui veillait pour César, Sentant quelque pitié, se tourna par hasard: »Allez chercher ce fou!« dit-il aux satellites. 358
Damit schließt Sonett IV. In Sonett V, das den Zyklus Le Christ aux Oliviers beendet, wird erkennbar, wie Nerval das ihn immer wieder beunruhigende Christentum synkretistisch mit der heidnischen Götterwelt zu verschmelzen sucht: Christus, der leidende, göttliche Narr, wird identisch mit Ikaros, dem abgestürzten Flieger, mit Phaeton, dem Sohn des Sonnengottes, dem Lenker des Sonnenwagens, den Zeus zerschmettert, mit Atys, dem Geliebten der großen Mutter, der sich im Wahnsinn selbst verstümmelt: C'était bien lui, ce fou, cet insensé sublime... Cet Icare oublié qui remontait les cieux, Ce Phaéton perdu sous la foudre des dieux, Ce bel Atys meurtri que Cybèle ranime! 359
Die pantheistische Lösung in Nervals Vers dorés Die erste Hälfte der Chimères betraf den Untergang der antik-heidnischen Welt, die Hoffnung auf eine Wiederkehr der Götter. Die zweite das Schweigen der Welt vor der Frage des Christusmenschen, seine Todessehnsucht, seinen Untergang. Und heidnische und christliche Welt, getragen vom menschlichen Erkenntnisanspruch gegenüber dem stummen Universum, vereinigen sich zu einem Synkretismus, der die Einheit zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Innen und dem Außen, nur noch ins Auge zu fassen vermag, indem er allen Dingen dieser Welt eine Seele einpflanzt oder vielmehr jedem Ding eine Seele, deren Geheimnis es zu entschleiern und zu erschließen gilt. Eine polytheistische Allbeseelt-
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Ebda., S. 706. Ebda., S. 707. 359 Ebda., S. 707. 358
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heit der Welt ist die letzte Chance, sie als Einheit und somit als letztlich doch sinnerfüllt zu begreifen. Mit diesem Versuch endet der ganze Zyklus der Chimères, und dieser Versuch hat Gestalt gewonnen in dem tiefsinnigen Sonett Vers dorés: Homme, libre penseur! te crois-tu seul pensant Dans ce monde où la vie éclate en toute chose? Des forces que tu tiens ta liberté dispose, Mais de tous tes conseils l'univers est absent. Respecte dans la bête un esprit agissant: Chaque fleur est une âme à la Nature éclose; Un mystère d'amour dans le métal repose; »Tout est sensible! « Et tout sur ton être est puissant. Crains, dans le mur aveugle, un regard qui t'épie: A la matière même un verbe est attaché... Ne la fais pas servir à quelque usage impie! Souvent dans l'être obscur habite un Dieu caché; Et comme un oeil naissant couvert par ses paupières, Un pur esprit s'accroît sous l'écorce des pierres! 360
Dieses Gedicht verlangte eigentlich einen eingehenden Kommentar, Zeile für Zeile wie im Ganzen, analytisch und synthetisch zugleich. Es ist nicht nur durch seine Gedanken, sondern auch durch seinen Stil und durch seine Struktur eines der bedeutendsten, tiefsten und besten Sonette der französischen Literatur. Der Grundgedanke ist in dem Motto enthalten, das Nerval vorangestellt hat: ein Wort des Pythagoras: Eh quoi! tout est sensible. 361
Alles hat Empfindung, das heißt, alles ist beseelt. Aber der Mensch weiß es nicht, er spürt es nicht. Der erste Quatrain evoziert die Macht des menschlichen Denkens, die Freiheit des Menschen, über seine Geisteskräfte zu verfügen: »Homme, libre penseur!« Das geschieht jedoch nur, um sogleich die Kluft zwischen dem denkenden Subjekt und der Welt der Objekte aufzureißen. In parallelistischen Verspaaren wird das singuläre Denken vor eine allbeseelte Welt gestellt – »où la vie éclate en toute chose«. Dieser Mensch aber ist isoliert, weil sein Denken das Ganze, das Universelle, nicht mit einbegreift, es nicht mitzudenken vermag. Nerval formuliert es umgekehrt: Das Universum nimmt nicht teil am Denken: »Mais de tous tes conseils l'univers est absent.« Das Universum ist das Primäre! Die Einheit der Welt, jene mystische Einheit, die Nerval nach Pythagoras, nach dem Illuminismus, nach Swedenborg konzipiert, steckt in oder besser hinter den Dingen. Der »libre penseur« aber steht außerhalb, so wie der Nerval der »Aurélia« gestanden hat. Dort, in Aurélia, tritt das Wort auf, mit dem Swedenborg Verwandt-
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Gérard de Nerval, »Vers dorés«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 709. Ebda., S. 709. 194 361
schaft und Einheit aller Dinge bezeichnet hat, das die Grundlage der Synästhesien wird und das Baudelaire als Titel seines berühmtesten Sonetts verwenden wird: Correspondances. In Aurélia heißt es: Comment... ai-je pu exister si longtemps hors de la nature et sans m'identifier à elle? Tout vit, tout agit, tout se correspond; 362
Man versteht diesen Gedanken bei Nerval nur im Zusammenhang mit seiner Vorstellung von der Allbeseeltheit der Welt. Jedes Einzelding und Einzelwesen ist durch unsichtbare Beziehungen mit dem Ganzen verbunden, nicht im strengeren Sinne eines Pantheismus, der Gott in der ganzen Natur als solcher existent sein läßt, sondern alle Dinge entsprechen – hier sind wir wieder beim Polytheismus – einer ebenso großen Vielzahl von Geistern, Geistern des Lichts oder der Finsternis, die Nerval offensichtlich aus Swedenborgs Theorie von den überall wirksamen guten und schlechten Engeln bezogen hat. In seiner Lithographie mystique schreibt Nerval: Il faudrait se représenter le monde visible, c'est dire la société humaine, comme pressé de tous côtés par le monde extérieur peuplé d'esprits puissants.... L'âme de chaque créature correspond à toute une chaîne d'esprits de lumière ou d'obscurité, qui agissent par elle sur les choses du monde... 363
Eine Kette von Geistern also zieht sich durch Belebtes und Unbelebtes, unsichtbar, aber beständig wirksam. Wir finden diesen Gedanken bis in den Wortgebrauch»puissant«, »agissent« – hinein wieder im 2. Quatrain unseres Sonetts, und zwar in wirkungsvoller Umkehrung der Reihenfolge vom Belebten zum Unbelebten, vom Tier über die Pflanze zum Metall. Im Tier lebt und wirkt ein Geist, in der Blume eine Seele, im Metall – lukrezisch – ein Mysterium der Liebe. Alliterationen, Vokalgleichklänge und syntaktisch vereinigte Elemente von Antithesen verleihen der Sprache hier die Macht, die Einheit dieser Welt im Wort zu realisieren, in einer Einheit, die in der Repetition des letzten Quatrain-Verses gipfelt, der in die Allbeseeltheit das Wesen des denkenden Menschen als Objekt dieser Beseeltheit einschließt: Respecte dans la bête un esprit agissant: Chaque fleur est une âme à la Nature éclose; Un mystère d'amour dans le métal repose; »Tout est sensible!« Et tout sur ton être est puissant.
Hatte der erste Quatrain den denkenden Menschen in seiner Beziehungslosigkeit zum Universum, in der Fremdheit von Subjekt und Objekt dargestellt, so wird jetzt sein Affiziertsein von der beseelten Welt der Objekte als seine Wahrheit und Bedingtheit herausgestellt. Ohne daß er es weiß, steht er unter der Wirkkraft und Prägekraft der Dinge, in denen korrespondierend alles lebt, was auch sein eigenes
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Gérard de Nerval, »Aurélia«, op.cit., S. 810. Gérard de Nerval, »Une lithographie mystique«, in: Œuvres (hrsg. H. Lemaitre), op.cit., Bd. 1, S. 375. 195
Wesen bestimmt: »esprit«, »âme«, »mystère d'amour». Jeder menschliche Gedanke korrespondiert mit einer Bewegung in der Welt der Geister, wie Nerval an anderer Stelle einmal schreibt: » Chacune de nos idées, bonnes ou mauvaises, met en mouvement quelque esprit qui leur correspond.« 364 So wird das Subjekt, zum Bewußtsein seiner Fremdheit vor der Welt der Objekte gebracht, im gleichen Augenblick als ein Moment, als Teil jener Welt selbst verstanden, der er sich nur durch seinen Verstand entfremdet hat. Und Nerval spricht die Warnung aus, jene Welt der Dinge nicht zu mißbrauchen, ihr vielmehr ihr Geheimnis, die letzte Einheit, abzulauschen; in der Materie selbst ist das Verbum, ist der Logos verborgen, das Mysterium einer einheitlichen Schöpfung, das sich entschleiern läßt: Crains, dans le mur aveugle, un regard qui t'épie: A la matière même un verbe est attaché! Ne la fais pas servir à quelque usage impie!
Der Logos in der Materie selbst, das »mystère d'amour« im Metall – das ist Magnetismus, Alchimie, Lukrez. Das Sakrileg des Mißbrauchs der Dingwelt; das ist ein Sakrileg im Hinblick auf das orthodoxe Christentum – wenn man so will. Die Identität des Lebendigen mit dem Leblosen: das ist Pantheismus. Die übersinnliche Wirklichkeit wird im Materiellen selbst sichtbar für denjenigen, der ihre Geistbegabtheit erkennen will. In den Dingen ruht ihre verborgene Einheit – in beiden Terzetten und in beiden Quartetten erscheint das Wort »dans«. In allem ist ein Gott oder ein reiner Geist verborgen: Souvent dans l'être obscur habite un Dieu caché; Et comme un oeil naissant couvert par ses paupières, Un pur esprit s'accroît sous l'écorce des pierres!
Das ist bereits auch schon surrealistisch: das noch lidbedeckte wachsende Auge im Stein. »Ein reiner Geist wächst unter der Schale der Steine!« »Ecorce« bedeutet Schale oder Rinde. Steine pflegen weder eine Schale noch eine Rinde zu haben, und sie pflegen nicht zu wachsen, so wenig ein Geist anwächst unter der unmöglichen Rinde eines Steins, der ja keine dehnbare Rinde oder Schale haben kann. Das wußte Nerval natürlich genauso wie wir es wissen. Er wußte auch, daß an und für sich Mauern nicht blind sind, weil sie, als ein Materielles, auch nicht sehen können, und er wußte auch, daß alle Dichtung sich bisher an diesen sozusagen »natürlichen« Sachverhalt gehalten hat. Aber gerade weil diese Dingwelt für ihn zum Inbegriff der Fremdheit geworden ist, für die Inkarnation einer unverstandenen Objektwelt, eines unbewältigten Außen, deshalb wird es geistbegabt, deshalb korrespondiert es, wird zum Träger jener gleichen einheitlich beseelten Welt, welcher der Mensch, der ihr doch hervorragend zugehört, entfremdet ist, weil er ihre Sprache nicht versteht. Aus der romantischen Beseelung der, Natur. wird hier ein Ernstgemacht, der weit über die Romantik hinausführt., Wenn für die Romantik – wir sahen es bei Lamartine und anderen die Natur entweder idyllisches Echo des
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Gérard de Nerval, Œuvres, Pléiade, Bd. II, Paris 1984, S.1102f. 196
vorübergehenden Seelenglücks ist oder aber – meistens – die Bestätigung der Indifferenz der Außenwelt gegenüber Qual und Leid der Individualseele, so durchschlägt Nervals Denken jene Mauer der Indifferenz, gibt die Schuld, die dem Außen zukommt, nicht mehr dem Außen, sondern dem Menschen, der es nicht mehr versteht. Die Sprache erhält eine ganz andere Funktion als nur diejenige, den Tatbestand der Isolierung zu artikulieren. Sie erhält die Funktion, die Wände zu durchstoßen, indem sie in voller Entschiedenheit das Gegensätzliche mit sich selbst in Beziehung bringt, das Adjektiv, das dem Leblosen zukam, zum Lebendigen stellt und umgekehrt. Die Rinde bzw. Schale der Steine macht aus dem Anorganischen Organisches; die blinde Mauer bedarf schon gar nicht mehr des Zusatzes, daß in ihr ein Gott verborgen ist, der den Menschen beobachtet. Das Geheimnis der Liebe im Metall – das heißt lukrezisch der anthropomorphe Atomismus in der Übertragung und Universalisierung des Menschlichsten – verwandelt die Materie selbst, hebt alle Gegensätze im Lebendigen auf. »Tout est sensible!« Das allein schon begründet eine Identität, die universal und total ist, die alle Antagonismen auflöst, weil sie die Möglichkeit einer Unio ins Auge faßt. Jede _Erscheinung, ist Symbol, weil sie zugleich für ein anderes, hinter ihm liegendes steht, das wiederum Glied in der Kette der korrespondierenden Geister ist. Und darum hat auch jedes Wort, das die Erscheinung bezeichnet, seine verborgene Bedeutungsschicht, die sich in dem Augenblick erschließt, da es in dem Zusammenhang erscheint, der jenes Geheimnis andeutet und aufbricht und beschwört. Die »blinde Mauer« mit ihrem spähenden Blick« würde uns – die wir das Erbe des Symbolismus verdaut haben – bei einem modernen Dichter kaum mehr sonderlich wundern – aber hier schießt erstmals völlig Gegensätzliches, völlig Inkommensurables zusammen kraft der Sprache, die plötzlich. magische Fähigkeiten erlangt, indem sie die logischen Denkkategorien der Gewohnheit durchbricht. Das heißt: die entfremdete Welt – die Welt, die zugleich unter dem Firnis der erstarrten sprachlichen Kategorien erstarrt und verdeckt ist – wird aufgebrochen. Ihre geronnene Oberfläche wird durchschlagen, indem ihre scheinbar fest lokalisierten Bedeutungen jetzt ihres gewohnten Kontexts enthoben sind und miteinander in Beziehungen treten, die bisher niemand geahnt hat. Die Natur gibt ihr Geheimnis preis, wenn eine neue Dichtersprache im vollen Bewußtsein ihrer Möglichkeiten alle bisherige Logik in der Vereinigung des Gegensätzlichen durch den Blick hinter die Dinge und die Bezeichnungen umkehrt, wenn jede Farbe für einen Ton, jeder Ton für einen Geruch, jeder Geruch für ein Gefühl, alles Tote für ein Lebendiges steht und Zeugnis ablegt, wenn alle Dinge Metaphern sind, w ..die Natur ei-a,,Tempel_ist, in dem alles Sinnliche Zeichen für ein Übersinnliches ist, so wie es Baudelaire – hierin der große, vollendende Erbe Nervals – formulieren wird: La nature est un temple où de vivants piliers Laissent parfois sortir de confuses paroles; L'homme y passe à travers des forêts de symboles Qui l'observent avec des regards familiers. 365
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Charles Baudelaire, »Correspondances«, in: Œuvres complètes (hrsg. Claude Pichois), Paris 1961,S.11. 197
Nervals »regard qui t'épie« ist hier bereits zum »regard familier« geworden, zum vertrauten Blick. Die Sprache ist sich ihrér Sache sicher. Man könnte meinen, die Sprache, die jene numinose, mystische Einheit zu erschließen trachtet, müsse sich selbst in der Vagheit der Andeutungen, im bloßen Assoziieren erfüllen. Das Gegenteil ist der Fall: es ist eine Sprache der Exaktheit, die erst in der durchreflektierten, vielschichtigen Wechselbeziehung ihrer bisher so gegensätzlichen Bedeutungskategorien deren Identität offenbaren kann: es ist die Exaktheit, die der Versuch der totalen Bewältigung des total Entfremdeten unabdinglich verlangt. Das heißt letztlich: es ist die Sprache bereits der modernen. Dichtung. Das Wort ist gerade in seiner nunmehr erkannten oder geschaffenen Symbolhaltigkeit die Chiffre für das Geheimnis, die das Unsichtbare sichtbar, das Tote lebendig, das Uneigentliche eigentlich macht. Das Substantiv, das plötzlich ein Adjektiv zugesellt erhält, welches aus einem ganz anderen Bereich stammt und somit völlig Verschiedenes zur Einheit zwingt, entriegelt verschlossene Türen, entriegelt Pforten zum Wesen der Dinge, den verborgenen Göttern. Das Epitheton hat seine bloß schmückende Funktion endgültig abgelegt.
Nervals Hermetismus und Baudelaires Fleurs du Mal Das Sonett Vers dorés, das wie eine Hoffnung den Zyklus der Chimères beschließt, war ursprünglich überschrieben Pensées antiques – weil es von pythagoreischen Ideen und von pantheistischen und polytheistischen Vorstellungen lebt. Wenn Nerval ihm schließlich den Titel »Vergoldete Verse« gab, so drückt sich darin das Vertrauen in eine neue Dichtersprache aus, die gleichsam vermöge ihrer erkenntnistheoretischen Kraft ein neues, erneuertes Goldenes Zeitalter eröffnet. In Nervals Sprache ist erstmals in der neueren Zeit die Magie der Exaktheit verwirklicht, die allein die entfremdete, ins Ungemessene partikularisierte Dingwelt zu bewältigen verspricht. Subjekt und Objekt sind – die Romantik ist ein einziger großer Beleg dafür – so abgründig auseinandergetreten wie Individuum und Gesellschaft. Es geht jetzt um das qualvolle Besitzergreifen einer dem Zugriff des Individuums entzogenen Welt; ein Versuch, der zur äußerst möglichen Projektion des Innen auf das Außen mit dem Ziel absoluter Anverwandlung führt; das heißt zur Allbeseelung der Natur und alles Dinglichen. Und diese geschichtliche Situation läßt ihre genialsten Vertreter eine neue Dimension der Sprache entdecken. Nervals Chimères sind – wir haben es vielfach feststellen müssen – dunkel im Sinn und doch von leuchtender Klarheit. Sie sind von der visionären Klarheit jener unwirklichen Grenzlage zwischen Traum und Wachsein, die Nervals persönliches Schicksal war, von jener Klarheit, die alles Alltäglich-Wirkliche verzerrt, zerreißt, anders ordnet, neu ordnet, so wie der Traum, und die so wie der Traum völlig neue Beziehungen als Möglichkeiten offenbart, in denen doch offenbar Wesenheiten stecken. Das Gegensätzliche, scheinbar Unvereinbare, weit Auseinanderliegende, schießt hier zusammen in Gesichten, die von der kristallinischen Leuchtkraft der Sprache in der strengsten aller poetischen Gattungen, dem Sonett, gezähmt sind, im Ent198
riegeln durch das Verdunkeln, im Klarwerden durch das Vertiefen, in einer sprachlichen Zucht, deren verzweifelte Anstrengung man nur ahnen kann. Der Hermetismus der Nervalschen Sonette ist Bergen einer Wahrheit, die anders nicht zugänglich ist, eben weil sie immer ferner, immer dunkler erscheint. Aus diesem Grunde erhalten die Sprache, der Stil, die Repetitionen, die Alliterationen, die Antithesen die Funktion einer magischen Beschwörung. Sie schmieden ursprünglich Fremdes zusammen. Nervals Symbolik – wie erst recht diejenige der Symbolisten – kann nicht mehr jene kollektive Symbolik sein, wie sie das Mittelalter überliefert hatte. Nervals Rosen sind nicht mehr einfach und selbstverständlich rot, und rot ist nicht mehr einfach Liebe und Blut oder Blühen und Verwelken. Es ist keine objektive, von allen gewußte Symbolik, keine schlechthin allgemein verbindliche mehr, sondern eine solche, die in ihrer subjektiven Betroffenheit jene größte Anstrengung des Interpreten verlangt, die dem Fremdwerden des bisher Eindeutigen, Vertrauten, Klaren, Offenkundigen entspricht. Nichts ist mehr selbstverständlich vorgegeben. Jedes Ding ist seinem ursprünglichen Verständnis entrissen, weil der Zusammenhang, in dem es stand, undurchschaubar geworden ist. Und daher entreißt auch die Sprache es diesem gewohnten Zusammenhang und stellt es in einen anderen, der es in neuer Weise wieder vertraut machen soll, durch die Verfremdung hindurch. Ziehen wir einen letzten, riskanten, eigentlich erst gründlicher Untersuchungen bedürfenden Schluß. In der modernen Industriegesellschaft erlangen die Dinge Macht über den Menschen. Sie erlangen diese Macht in demselben historischen Augenblick, da der Mensch sich durch die große Revolution, durch die eruptive Befreiung der Individualität aus den Normen einer inhuman gewordenen Gesellschaftsordnung erlöst glaubte und sich plötzlich mit einer in anderer, ungeahnter Weise feindseligen Welt konfrontiert sah. Wir brauchen uns nicht zu wundern, daß der große Realist Balzac, fassungslos und fasziniert von der Dynamik der neuen Wirklichkeit, den gleichen mystisch-magischen und illuministischen Lehren zuneigte wie Nerval. Nerval hat eine Welt beseelt, die anders nicht zu begreifen war. Er hat die historische Entwicklung antizipiert, auf die im Bereich der Lyrik die Antwort Baudelaires erfolgte. Seine Götter, vergoldet noch vom Glanz der erinnerten, irgendwann einmal – wie er glaubte – wiederkehrenden heidnischen Welt, sind bei Baudelaire gänzlich tot. Über den korrespondierenden Dingen der Fleurs du Mal liegt der Schatten einer nur noch bösen Gottheit, die Behexung durch einen Satanismus, der, Geist wie zuvor, der Geist des Bösen ist, der die neue Welt zu beherrschen scheint – beschworen mit der Sprache, die Nerval als erster entdeckt hat, die aber nun die Sprache der Fleurs du Mal ist – der Blumen des Bösen. Mit Gérard de Nerval beschließe ich die Behandlung der romantischen Lyrik. Wir kehren zurück zum Roman, zurück auch chronologisch, zu Stendhal. Mit ihm aber sind wir beim Realismus, und wir tun gut daran, wieder einmal innezuhalten und uns erneut einigen grundsätzlichen Überlegungen zur geschichtlichen Entwicklung und zur literaturgeschichtlichen Periodisierung hinzugeben.
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Der Roman des Realismus
Versuche einer Begriffs- und Epochenbestimmung: Lanson, Klemperer, Thibaudet Wann setzt der Realismus ein? Wann beginnt der Naturalismus? Was ist Impressionismus? Was Symbolismus? Die Antworten der Literaturgeschichte scheinen klar zu sein, sind es aber beileibe nicht immer. Ihre Einteilungen sind weitgehend Notbehelfe. Die Romantik beherrscht noch die Literatur, als Stendhal und Balzac die ersten großen Meisterwerke des Realismus schreiben. Wie sieht es aber dann mit dem »Realismus« als Epochenbegriff aus? Die berühmte Histoire de la littérature française,1894, von Gustave Lanson hat noch kein eigenes Kapitel für den Realismus. Stendhal und Balzac erscheinen in dem Abschnitt Le roman romantique. Und – das ist eines der schwierigsten Probleme überhaupt – was ist eigentlich Realismus? Offenbar doch Epochenbegriff und zugleich auch Bezeichnung für eine auch zu anderen Zeiten mögliche Art und Weise der Darstellung, die realistische Stilart. Kein Wunder bei dieser Doppelheit, daß dem Begriff des Realismus zuweilen eine Bedeutungsweite gegeben wird, die ihn völlig zu entwertendroht. Wir müssen also im Verlauf dieser Vorlesungen versuchen, diese Frage zu klären. Weiter: wenn Realismus, Symbolismus, Naturalismus nicht bloß bequeme Etiketten oder Schubladen zur praktischen Aufteilung, sondern abgrenzbare und Wesentliches aussagende Epochenbegriffe sein sollen, die – wie das Wort kundtut – mit bestimmten geschichtlichen Epochen in einem unlösbaren genetischen Zusammenhang stehen, dann ist es wichtig, zu einer literaturgeschichtlichen Periodisierung zu kommen, die diesem Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichte Rechnung trägt. Wenn nicht der Reichtum des 19. Jahrhunderts an großen Werken, großen Namen – von zweit- und drittklassigen zu schweigen – an Stilrichtungen und Schulen und Tendenzen in einem allgemeinen Brei verrührt werden soll, dann müssen wir uns nach den Möglichkeiten einer sinnvollen Gliederung umsehen, das heißt zunächst: nach einer Periodisierung. Wie machen es die anderen? Der bereits erwähnte Gustave Lanson hatte es schwerer und leichter zugleich. Seine Histoire de la littérature française erschien zuerst im Jahre 1894. Lanson gehörte noch selbst dem 19. Jahrhundert an, und so konnte er – als Zeitgenosse – das ganze Kapitel über die Literatur des 19. Jahrhunderts überschreiben: L'époque contemporaine, aufgeteilt in vier Abschnitte: 1.) Literatur der Revolution und des Empire 2.) Romantik 3.) Naturalismus 4.) Fin de siècle. 200
Wir sehen, daß diese Klassifikationsbegriffe einmal aus der politischen Geschichte, zweimal von Stilrichtungen bzw. Schulen und schließlich einmal aus der allgemeinen Kulturgeschichte, einem bestimmten geistig-moralischen Zustand der Gesellschaft – fin de siècle – genommen sind. Das ist verständlich und schadet auch noch nichts, hinterläßt jedoch den Eindruck einer Verlegenheitslösung, die nicht befriedigt. Auf ganz andere Weise versuchte es der einstige Vossler-Schüler und spätere »Amateurmarxist« Victor Klemperer. 366 Er teilte die neuere französische Literatur in drei Phasen ein: 1.) Romantik 2.) Positivismus. Für die 3. Phase hat er keine Bezeichnung en bloc, stellt sie aber als eine noch nicht abgeschlossene unter den Stern Henri Bergsons (1859-1941). Das ist nicht inkonsequent, da er ja für die 2. Epoche bereits einen Begriff der Philosophiegeschichte verwendet hat. Dann aber stimmt es mit der Romantik nicht – und an dieser wiederum ist nicht zu rütteln. Der Begriff des Positivismus hat den Vorteil, vieles sonst Widerstrebende unter einen Hut zu bringen, aber der Hut ist zu klein für Flaubert, die Goncourts, Zola, Maupassant, Daudet, Dumas Fils, Leconte de Lisle, Banville und viele andere. Ging der Parnass zur Not noch darunter, so mußte Baudelaire – und damit der Symbolismus – sich eben in die Phase »Romantik« bequemen mit dem Trost einer Spezifizierung: »Romantik im Umbau«, wo er dann in die Nähe Balzacs rückt. Mit seiner dritten Phase kam Klemperer in den späteren Jahren begreiflicherweise in Schwierigkeiten: der irrationalistische Philosoph Bergson als Leitstern einer noch nicht abgeschlossenen Literaturepoche in einem Lande, das unter seinen namhaften Schriftstellern eine ganze Reihe von Mitgliedern der kommunistischen Partei besitzt! Das ging nicht. In der Neuauflage seiner Geschichte der französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, erschienen 1956, sprach Klemperer nach bekannten Vorbildern sein kulturpolitisches mea culpa. Da er aber Bergson nicht opfern wollte, erklärte er nun die dritte Phase für abgeschlossen und stellte als den Beginner der neuen fortschrittlichen Literaturepoche den Romancier und Essayisten Henri Barbusse (1874-1935) vor. Das machte sich sehr gut, denn Barbusse war nicht bloß der Autor des bekannten Kriegsromans Le feu: journal d'une esconade, 1916, und eines Buches über Jesus, sondern auch Verfasser einer enthusiastischen Stalinmonographie, und er war sogar in Moskau verstorben. Als drittes Beispiel wollen wir uns den Periodisierungsversuch ansehen, den der renommierte Kritiker und Literarhistoriker Albert Thibaudet 367 unternommen hat. Für Thibaudet ist die Geschichte der Literatur eine solche von SchriftstellerGenerationen. Dieses Ordnungsprinzip hat große Vorteile gegenüber der üblichen Epocheneinteilung. Vor allem bietet es Thibaudet Gelegenheit für effektvolle Vergleiche und Analogien, mit deren Hilfe sich die simultane Vielfalt des literarischen Lebens gut darstellen läßt und verborgene Bezüge und Verwandtschaften zu Tage
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Victor Klemperer, Geschichte der französischen Literatur, Leipzig 1925, 3 Bände. Albert Thibaudet, Histoire de la littérature française de 1789 à nos jours, Paris 1963. 201
gefördert werden. Was daran falsch ist, ist die zugrundeliegende Vorstellung einer Art von biologischem Mystizismus, die Auffassung, daß die Geistesgeschichte in Rhythmen abläuft, deren Phasen dem Generationenalter von etwa 33 Jahren entsprechen. Thibaudet hat dabei freilich das Glück, daß seine Generationsabläufe in etwa mit herausragenden geschichtlichen Ereignissen oder Wendungen zusammenfallen. Er mußte dabei etwas mogeln, aber das fiel weiter nicht auf. Er kam so zu einer Periodisierung nach den Generationen von 1789, 1820, 1850, 1885 und 1914. Das ergibt eine gewisse Koinzidenz mit wichtigen politischen Ereignissen, ganz besonders am Anfang- der großen Revolution -, in der Mitte -1850 – und am Ende – Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Jahrhundertmitte bezeichnet auch für Thibaudet – und darin stimmt er mit der neueren Forschung überein – einen der schärfsten Einschnitte, welche die französische Literatur kennt. Die Begründung, die Thibaudet gibt, ist freilich einerseits rein deskriptiver Natur, andererseits wieder so geheimnisvoll-mystisch wie der élan vital, den Thibaudet von Bergson für seine Literaturtheorie bezogen hat. Um 1850 geht – man erfährt nicht wieso – nach Thibaudet die schöpferisch-strömende Kraft der Phantasie zu Ende. Die großen Schöpfer ganzer Welten, Balzac, Hugo, Dumas Père, ja Eugène Sue, hören auf zu schreiben, oder sie sterben. Kraft ihrer unversieglichen Phantasie wollten sie nach einem berühmten Wort Balzacs mit dem Standesamt in Wettstreit treten. Um 1850 vollzieht sich der Wandel: Die Romanschriftsteller, bisher Konkurrenten des Standesamts, werden jetzt seine Angestellten. Das ist sehr hübsch gesagt – aber dabei bleibt es leider. Und die »Angestellten« sind dann für Thibaudet die Realisten! Wieder stehen wir vor einer neuen Variante des Begriffs Realismus. Über das Warum dieser großen stilgeschichtlichen Wende erfahren wir gar nichts. Es tritt eben eine Generation auf, der es an Phantasie gebricht und die deshalb darauf angewiesen ist, sich an die Wirklichkeit zu halten. 368 Mit der Bedeutung der Jahrhundertmitte stoßen wir übrigens auf ein eigenartiges Phänomen der französischen Geschichte. D'Alembert, der wertvollste Mitarbeiter Diderots an der Encyclopédie française, hatte in seinem Essai sur les éléments de philosophie, 369 angeregt durch das Erlebnis der Aufklärung, seiner Verwunderung darüber Ausdruck gegeben, daß »la nature ait destiné le milieu de chacque siècle à être l'époque d'une révolution dans l'ésprit humain«. 370 D'Alembert, der hierbei natürlich an das Ereignis der großen Enzyklopädie denkt, konnte nicht ahnen, daß das folgende Jahrhundert das gleiche Phänomen aufweisen würde, sogar in einer durchaus präzisierbaren Gestalt. Die Mitte des 19. Jahrhunderts, das ist der Zeitraum von 1848 bis 1851, das heißt von der Februar-Revolution bis zum Staatsstreich Bonapartes, später Napoleon III. Ob man nun diesen politischen Ereignissen einen entscheidenden Einfluß zuschreibt oder nicht – wir werden diese Frage
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Zur Kritik an der Generationentheorie im Zusammenhang mit dem Problem der Periodisierung vgl.: Werner Krauss, »Periodisierung und Generationstheorie«, in: W. K., Grundprobleme der Literaturwissenschaft, Hamburg 1973, S. 119 ff. 369 Jean le Rond d'Alembert, Essai sur les éléments de philosophie (hrsg. Richard Schwab), Hildesheim 1965. 370 Ebda., S. 7. 202
zu prüfen haben -, sicher ist, daß sich – angesichts der Schwierigkeiten einer Periodisierung nach geistesgeschichtlichen und stilgeschichtlichen Epochenbegriffen – die Jahrhundertmitte als ein vorzügliches Einteilungsmerkmal anbietet. So hat auch Eduard von Jan seine Darstellung der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts und der Moderne aufgegliedert in die zwei großen Kapitel » Romantik« und » Hauptströmungen von 1850 bis zur Gegenwart«. 371
Die historische Entwicklung bis 1850 und die Literatur Wir sehen also: Über die Romantik sind sich alle einig. Die Schwierigkeit ist jedoch hier, daß, wenn man die Romantik mit Recht bis etwa 1850 datiert, die beiden großen Ereignisse, die Stendhal und Balzac heißen, entweder – wie ja manche es tun – noch zur Romantik rechnen oder aber zu Vorläufern erklärt werden – was angesichts ihrer Bedeutung nicht gerechtfertigt ist – oder aber als Übergangsautoren begriffen werden – womit ihre Erscheinung wiederum verharmlost wird. Wir stehen also vor der Notwendigkeit, auch den Zeitraum bis 1850 zu periodisieren, um ein klares Bild zu erhalten. Wir wollen dies versuchen, indem wir uns an den Daten der geschichtlichen Ereignisse orientieren und dabei stets die Literatur im Auge behalten und an jenes Phänomen denken, das man die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« genannt hat. 1815 tritt Napoleon 1. endgültig ab. Wir kennen die Folgen dieses Zusammenbruchs für die Literatur, die Bildung der Napoleon-Legende; ich erinnere an Alfred de Mussets Confession d'un enfant du siècle. Das romantische Individuum, funktionslos, isoliert, aber erfüllt von den Vorstellungen der Größe und des fatalen Genies. Die Monarchie wird restauriert. Dem noch ziemlich gemäßigten LudwigXVIII. folgt 1824 der reaktionäre Karl X. In dieser Phase schreibt Victor Hugo sein berühmtes Manifest der Romantik, die Préface de Cromwell, 1827. Das von Revolution, Empire und Restauration geprägte neue Geschichtsbild führt zur Entstehung des historischen Romans in der Nachfolge Walter Scotts: 1826 veröffentlicht Alfred de Vigny seinen Cinq-Mars, drei Jahre später Mérimée seinen Charles IX. Im gleichen Jahr, 1829, vollzieht Balzac die Wendung vom historischen Roman zum Gegenwartsroman: Er konzipiert die Comédie Humaine. 372 Als Karl X. die Kammer auflöst, die Wahlgesetze abändert und die Zensur wieder einführt, da entlädt sich im Volk das Gefühl, durch das Bündnis von restaurativem Königtum, Adel und reichgewordener Bourgeoisie um alle Früchte der großen Revolution betrogen worden zu sein, in einer neuen Revolution. Aber die Barrikadenkämpfe von 1830, die zur Abdankung Karls X. führen, bringen Louis Philippe an die Macht, den Bürgerkönig, und damit beginnen die »goldenen Tage der Bourgeoisie«. Ein Jahr später erringt die Romantik mit Victor Hugos Hernani ihren Tri-
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Eduard von Jan, Französische Literaturgeschichte in Grundzügen, Heidelberg 1967. Über die Phasen der Rezeption Walter Scotts in Frankreich informiert eine Arbeit von Klaus Meßmann, Die Rezeption der historischen Romane Sir Walter Scotts in Frankreich (1816-1832), Heidelberg 1972. 203
umph, mit einem Stück, das revolutionäre Akzente trägt. Im gleichen Jahr, das auch Hugos Roman Notre-Dame de Paris bringt, erscheinen Stendhals Le Rouge et le Noir und Balzacs Peau de Chagrin. Drei Jahre später Mussets Lorenzaccio und 1835 der erste dramatische Protest gegen die geistfremde, inhumane kapitalistische Bourgeoisie: Alfred de Vignys Chatterton. Es wurde bereits mehrfach auf die Auswirkung der Revolution von 1830 auf die Literatur hingewiesen. Ihr Reflex in der romantischen Dichtung ist uns nur eine Bestätigung dafür, daß das Erscheinen von Stendhals Le Rouge et le Noir und der Durchbruch Balzacs zur Comédie Humaine – nach jahrelanger Produktion von Kolportageromanen – gerade in dieser Zeit keine Zufälle darstellen. Das Jahr 1830 wollen wir daher als wichtig für unsere Periodisierung festhalten. Balzac schreibt alle seine großen Werke in der Epoche des Bürgerkönigtums – 1830 bis 1848; er stirbt 1850 kurz nach deren Beendigung und kurz vor dem Staatsstreich Napoleons. In den gleichen Zeitraum fallen die sozialen Romane George Sands, Michelets historiographische Werke und Proudhons Schrift De la Propriété mit dem berühmten Schlagwort: »Eigentum ist Diebstahl«. In dieser Epoche beginnt mit Mérimées Colomba, 1840, die neue Novelle, arbeitet Auguste Comte sein System des Positivismus aus, schreibt Tocqueville seine Démocratie en Amérique,1830, propagiert Lamennais seinen katholischen Sozialismus. In diesen Jahren bildet sich der Parnass, gibt Théophile Gautier – 1835 im Vorwort seines Romans Mademoiselle de Maupin – das Stichwort des l'art pour l'art, erfindet Louis Daguerre – 1838 – die Daguerreotypie, das heißt die Fotografie – ein Ereignis, dessen Niederschlag in der Literatur wir zu beachten haben werden. Es ist die Zeit der industriellen Revolution und der Anfänge der sozialistischen Bewegung. Am 25. Februar 1848 wurde das Bürgerkönigtum gestürzt. Wenige Wochen später – Wochen, in denen Karl Marx von Frankreich aus das Kommunistische Manifest zum Druck beförderte – betrog die bürgerliche Reaktion die Revolutionäre wieder um den Sieg. Als die Arbeiterschaft erneut auf die Straßen ging, wurde sie auf Befehl des Kriegsministers Cavaignac zusammengeschossen. Louis Bonaparte wurde Staatspräsident, obwohl er bereits Jahre zuvor wegen des Versuchs, sich zum Kaiser aufzuschwingen, verbannt worden war. Drei Jahre später gelang ihm der Staatsstreich. Zu den ersten Autoren, die begriffen, daß mit 1848 ein neuer Abschnitt der Geschichte begann, gehörte Flaubert. Er war auch der erste, der die Revolution von 1848 im Roman schilderte: die Education sentimentale, 1869, ist ohne diese Ereignisse nicht zu begreifen. Zum ersten Mal war durch diese Barrikadenkämpfe und durch den vorübergehenden Sieg des Volkes über die Reaktion die soziale Frage als geschichtliches und menschliches Problem in das Bewußtsein aller Denkenden gerückt. Neben Flaubert, der bitter vor der gefestigten Herrschaft der verhaßten Bourgeoisie resigniert und sich in die Anatomie der Gesellschaft zurückzieht, tritt der humanitäre Sozialismus eines Zola, der in seinem Werk den Zusammenbruch des Kaiserreichs voraussagt und die naturalistische Schule begründet. Wir halten hier inne, um die Daten einer objektiven geschichtlichen Periodisierung festzuhalten: 1830: Juli-Revolution – Bürgerkönigtum, 1848: Februar-Revolution – 2. Republik, dann 2. Empire, 204
1871: Ende des 2. Empire – Kommune-Aufstand – 3. Republik. Es soll sich im Verlauf unserer weiteren Überlegungen zeigen, ob und inwieweit diese Daten für eine Periodisierung der Geschichte der Literatur verwendbar sind, ob sie es erlauben, die stilistischen Epochenbegriffe, sowie das System der literarischen Gattungen präziser zu fassen und ihre Entstehung in den Griff zu bekommen. Eines können wir jedenfalls jetzt schon festhalten: die drei genannten politischen Ereignisse sind jeweils begleitet von Hoffnung und Enttäuschung. Nicht umsonst ergibt sich in ihrem Gefolge jedesmal eine neue Welle der Desillusionsthematik in der Literatur. Daß dieser Rhythmus von Hoffnung und Enttäuschung aus dem konkreten historischen Bereich im 19. Jahrhundert so unmittelbar in die Thematik der Literatur übergeht, ist die Folge von Revolution und Empire, die erstmals der Gesamtheit der Nation ein umfassendes Geschichtsbewußtsein vermittelt hatten. Das 19. Jahrhundert ist – wie wir sehen – eine Geschichte von Revolutionen. Es umfaßt aber zugleich die Geschichte der industriellen Revolution, einen dynamischen Prozeß, dessen Auswirkungen sich auf allen Gebieten nicht nur des täglichen Lebens, sondern auch der Ideen spiegeln. Diese Entwicklung wird begleitet und beeinflußt von einer Reihe von geistigen Strömungen, Theorien, Schulen, deren wichtigste wir skizzieren müssen, zumal alle großen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts – direkt oder indirekt – an ihnen teilgenommen, sich mit ihnen auseinandergesetzt und von ihnen gelernt haben.
Das Vorbild der Naturwissenschaften Wichtig ist es, sich zu vergegenwärtigen, daß mit der Popularisierung der naturwissenschaftlichen Forschungen die große Tradition der französischen Enzyklopädie weitergeführt wird. Die Entdeckungen der Laplace, Lamarck, Cuvier, Ampère werden Besitz des Allgemeinbewußtseins. Die zoologische Lehre eines Geoffroy de Saint-Hilaire werden wir bei Balzac wiederfinden. In der gleichen Tradition der Enzyklopädisten stehen die sogenannten Ideologen, so genannt, weil sie aus der Analyse der Vorstellungen, der »Ideen«, Regeln für Erziehung, Recht, Staat und Gesellschaft zu gewinnen versuchten. Die Ideologen waren in den Salons der Aufklärungsphilosohen in die Lehre gegangen. Als liberale Feinde von Despotie und Kirche zogen sie den Zorn Napoleons auf sich, trugen jedoch mutig den Geist der Aufklärung durch Empire, Restauration und Romantik hindurch. Ihr bekanntester Vertreter, Antoine Destutt de Tracy (1754-1836), ein Schüler Condillacs, übte großen Einfluß auf Stendhal aus. Mit dem Arzt und Physiologen Pierre-Jean-Georges Cabanis (1737-1808), einem Freund Mirabeaus und Condorcets, dem er 1794 das tödliche Gift ins Versteck brachte, setzen die Ideologen die materialistische Richtung der Aufklärungsphilosophie fort. Nach der Auffassung Cabanis' produziert das Gehirn vermöge der Sinnesempfindungen die Gedanken in ähnlicher Weise wie die Magensäfte die Nahrung verdauen. Die Anschauungen der Ideologen, deren legitimer Erbe Taine sein wird, rufen eine idealistisch-spiritualistische Gegenströmung auf den Plan. Ihr Haupt ist der bedeutende Philosoph und Psychologe Maine de Biran (1766-1824), dessen Lehren je205
doch von dem Vielschreiber und Eklektizisten Victor Cousin (1792-1867) mit dünnem Wasser versetzt werden.
Auguste Comtes Grundlegung des Positivismus Unmittelbarer und selbständiger Fortführer der Ideologen ist Auguste Comte (17981857), der Begründer der Theorie des Positivismus. Comte veröffentlichte 1830 bis 1842 seinen sechsbändigen Cours de philosophie positive, dessen Lehren er 1852 in seinem Catéchisme positiviste zusammenfaßte. Bekanntlich beruht sein geschichtsphilosophisches System auf dem Gesetz einer fortschreitenden Entwicklung der Menschheit in drei Stadien. Im ersten Stadium, dem theologischen, deutet der Mensch alles aus seinem Glauben an Götter und Dämonen; im zweiten, dem metaphysischen, bildet er Begriffe und Gedanken, transzendierend. Erst im dritten Stadium, das in der Gegenwart einsetzt, wendet sich der Mensch durch Beobachtung und Experiment den Erscheinungen selbst zu. Dieses Stadium ist das positivistische, erst eigentlich wissenschaftliche, verbunden mit dem Verzicht auf die Frage nach den letzten Ursachen zugunsten der Feststellung des Tatsächlichen. Alle Metaphysik wird strikt abgelehnt. Der Positivismus ist agnostizistisch. Die Wissenschaften erhalten bei Comte eine feste Ordnung in der aufsteigenden Reihenfolge ihrer größeren Komplexität. An oberste Stelle gerät dabei die Soziologie – der Name stammt von Comte. Die Soziologie – Comte verwendet auch den Ausdruck »physique sociale« 373 – wird definiert als partie complémentaire des sciences naturelles.
Soziologie ist nach Comte also eine Disziplin, deren Methodik als eine naturwissenschaftliche vorgestellt wird. Wir erkennen den Weg, der zu Hyppolite Taine führt. Zum Stadium der positiven Wissenschaft gehört die industrielle Gesellschaft, deren Elemente, von der positiven Philosophie zu erarbeiten und zu realisieren, lauten: l'amour pour principe, l'ordre pour base et le progrès pour but. 374
In den letzten Jahren seines Lebens hat Comte offenbar das erstere Element gar zu ernst genommen. Getrieben – wie es scheint – von seiner Leidenschaft zu Clotilde de Vaux, fing er an zu phantasieren und huldigte einem phantastischmystizistischem Humanitätskult. Die Streuung der positivistischen Ideen ist unermeßlich. Ohne die Grundkonzeption und den Wissenschaftsbegriff zu kennen, der alle Wissenschaften als Naturwissenschaften begreift, verstehen wir das Wesen des 19. Jahrhunderts nicht, bleiben
373
Auguste Comte, Cours de Philosophie positive (hrsg. Charles le Verrier), Paris 1952, Bd. 1, S.49. 374 Ebda., S. XLI. 206
Figuren wie Taine oder Renan unverstanden, entgeht uns aber auch grundlegend Wichtiges im Werk der großen Romanciers.
Der Saint-Simonismus Comtes Positivismus kommt indessen nicht allein von den Ideologen her. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, daß Auguste Comte eine Zeitlang Sekretär und Mitarbeiter des Mannes war, der dem Saint-Simonismus den Namen gegeben hat. Wir müssen bei dieser wichtigen, zur Begründung des Sozialismus führenden Strömung einige Minuten verweilen. Claude-Henri de Rouvroy, Comte de Saint-Simon (1760-1825), wie er mit vollem Namen hieß, stammte aus einem bekannten Adelsgeschlecht, das seinen Stammbaum auf Karl den Großen zurückzuführen versuchte. Ganz anders veranlagt als sein Vorfahr, der berühmte Memoiren-Herzog Louis de Rouvroy (1675-1755), hielt jedoch der jetzige Saint-Simon überhaupt nichts vom Adel. 1760 geboren und unter dem Einfluß der Enzyklopädisten aufgewachsen, nahm er am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg teil und verzichtete bei Ausbruch der französischen Revolution als einer der ersten auf die Privilegien seines Standes. Sein Vermögen gab er freiwillig dem Staat, gewann es aber durch geschickte Bodenspekulationen wieder zurück und führte jahrelang das korrupte Leben der neureichen Bourgeoisie. Nachdem er den größten Teil seines Besitzes verzecht hatte, fing er – vierzigjährig – an zu studieren und ruinierte sich schließlich restlos zugunsten seiner Forschungen. Sein Selbstmordversuch 1823 reichte nur hin, ein Auge einzubüßen. Zwei Jahre später – 1825 – starb er in den Armen seiner Schüler. Saint-Simon war darin ein echter Nachfahr der Aufklärung, daß er die Geschichte als Universalgeschichte begriff und somit die große französische Revolution als Durchbruchsereignis, das eine neue Epoche einleitete, verstand. Der politische, soziale und ökonomische Utopismus scheint ihm jetzt in das Stadium der Realisierbarkeit einzutreten, weil die neuen Wirtschaftsformen – wie dieser Prophet des Industriezeitalters glaubt – nicht nur dem Menschen endgültig die Herrschaft über die Erde sichern, sondern auch alle Möglichkeiten einer harmonischen Gesellschaftsordnung in sich bergen. Saint-Simon entwirft das Bild einer Planwirtschaft unter globalen Gesichtspunkten. Wissenschaft und Industrie können, wie er sicher glaubt, das Schicksal der Menschheit entscheidend verbessern. An die Stelle der bisherigen nationalen und monarchischen Regierungsformen, die er radikal verwirft, soll eine Regierung aus geistig und wirtschaftlich produktiven Menschen treten, die dafür sorgt, daß die Reichtümer gerecht verteilt werden. Saint-Simons Konzeption der Gesellschaft steht ganz und noch undifferenziert unter dem Eindruck der beginnenden Industrialisierung. Er baut seine neue Weltordnung auf der Unterscheidung von produktiven und unproduktiven Menschen auf. Produktiv ist jeder am Wirtschaftsprozeß Teilhabende, der Unternehmer und der Bankier ebenso wie der Arbeiter, der Handwerker und der Wissenschaftler. Unproduktiv sind der Feudale, der Rentier, der Müßiggänger. Der Klassencharakter der modernen Industriegesellschaft bleibt Saint-Simon noch verborgen. 207
Saint-Simons unmittelbaren Jüngern war es nicht beschieden, die Gedanken des Meisters weiterzuentwickeln. Die Insuffizienz ihrer Leistung konnte es jedoch nicht verhindern, daß Saint-Simons Lehre tiefe Nachwirkungen zeitigte. Sein Einfluß auf die Literatur, etwa auf Sainte-Beuve und Balzac, sei jetzt nur angedeutet. Erstaunlich, aber doch leicht erklärlich ist es, daß Saint-Simons Werke ebenso zu Unterrichtsbüchern für Industriekapitäne wurden wie für die späteren Theoretiker des Sozialismus. Es war in der Tat nicht sehr schwer, seine Ideen über die Industriegesellschaft zu einer Art von Unternehmertechnokratie und Rechtfertigung des Kapitalismus zu wenden, zumal Saint-Simon das selbstgestellte Problem, wie die geistig Produktiven mit den industriell Produktiven gemeinsam regieren sollten, in keiner Weise zu lösen vermochte.
Charles Fourier und die Entstehung des Sozialismus Tief in der Aufklärung verwurzelt ist auch Charles Fourier, der von 1771 bis 1837 lebte. Aufklärerisch ist seine Überzeugung, daß alles darauf ankomme, den Menschen selbst in seiner konkreten Natürlichkeit zum Element der Ordnung zu machen, nicht mittels einer Überwindung der menschlichen Triebnatur durch die Vernunft, sondern durch die Ausrichtung der Triebnatur auf eine soziale Harmonie hin durch eine entsprechende Erziehung. Alle Leidenschaften können sozial produktiv sein, wenn sie richtig genutzt werden. Fourier war ein hoffnungsvoller Kolonialwarenhändler, als die Revolution ausbrach, ihm die Existenz nahm und fast auch noch den Kopf gekostet hätte. Er blieb indessen seinem Beruf treu und begann, sich mit den Problemen des Handels und des Warenaustauschs zu beschäftigen. Als sein Chef ihm 1799 den Auftrag erteilte, im Hafen von Marseille eine Reisladung zu vernichten, damit die Preise hoch blieben, entschloß er sich zum Entwurf eines Wirtschaftssystems, das dem Profit Grenzen setzen sollte. Die Frucht dieser Studien war der Traité de l'association domestique et agricole von 1822. 1832 gründete er eine Zeitung, Le Phalanstère, die später den Titel führte: La Phalange. Dieser Titel bezeichnet einen zentralen Punkt des Fourier'schen Denkens. Das Heilmittel für die in Sonderinteressen zerfallende Gesellschaft sieht Fourier in den sogenannten »phalanges«, das heißt in Gruppen von circa 1600 bis 1800 Personen, die jeweils eine Gemeinschaft bilden, innerhalb deren die Arbeit den größten Nutzen erbringen und die Harmonie der individuellen Interessen gewährleistet sein soll. Fourier ordnet die Grundtriebe des Menschen bestimmten wirtschaftlichen Tätigkeitsweisen zu. So sollen etwa das Machtverlangen, das »besoin de changement«, der Ehrgeiz, das Konkurrenzstreben innerhalb der kleinen Lebensgemeinschaft der »phalange« ihre strenge Grenze und zugleich ihre optimale Nutzanwendung finden. In jeder »phalange« soll ein Trieb dominieren und die Menschen entsprechend gruppieren. Über der Fülle der »phalanges« stellt sich Fourier dann eine Weltherrschaft vor, die nicht Herrschaft über Menschen, sondern nur Symbol der Herrschaft des Menschen über die Welt und über sich selbst sein soll. Die Grundidee ist die einer freien Organisation, die der Mannigfaltigkeit der individuellen Interessen Rechnung trägt, mit Elementen, die sowohl zu föderativen wie zu anarchistischen Konsequenzen führen können, wie sie dann bei 208
Proudhon und vor allem bei Bakunin zu Tage treten werden. Fouriers Lehre enthält eine schwer zu beurteilende Mischung von vernünftigen und phantastischen, ja grotesken Ideen. Sein Geschichtsbild ist indessen soweit fortgeschritten, daß wir an ihm leicht den Weg zum modernen Sozialismus erkennen können. Fourier unterscheidet fünf geschichtliche Epochen: 1.) Eine Zeit des instinktiven Urkommunismus, in welcher die Triebe ohne Komplikation und Konflikt ihre Verwirklichung finden konnten, eine Zeit der nicht in Frage gestellten glücklichen Herrschaft des Instinkts. 2.) Eine Epoche des Piratentums und der unmittelbaren Tauschwirtschaft. 3.) Das Patriarchat und die Entwicklung des Handels. 4.) Die Epoche der ökonomischen Privilegien, das heißt der eigenen Zeit, der eigentlichen Barbarei des tödlichen Konkurrenzkampfes, aus der dann als 5.) Epoche diejenige des Sozialismus hervorgehen soll. Wir haben hier einen Entwurf von großer Tragweite vor uns insofern, als die Geschichte hier bereits als ein Prozeß und nicht mehr nur völlig undialektisch als ein mechanistischer Progress verstanden wird. Mit Fouriers Lehre wird ein entscheidender Schritt zum modernen Sozialismus getan. Damit dieser freilich eine differenzierte Ausbildung und die Stoßkraft erhielt, die sich bis heute verfolgen läßt, dazu bedurfte es der folgenreichen Begegnung von Karl Marx mit der Hegelschen Philosophie.
Sozialistische Theoretiker: Pierre Leroux, Louis Blanc und Pierre-Joseph Proudhon Ein Schüler Fouriers, der Advokat Cabet (1785-1856), entwirft 1842 in seinem Buch Voyage en Icarie eine kommunistische Utopie, die er später vergeblich durch die Gründung kleiner Gemeinschaften in den Vereinigten Staaten zu verwirklichen sucht. Wichtiger, weil wirksamer als Cabet sind jedoch Pierre Leroux (1797-1871), Louis Blanc (1811-1882) und Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865). Leroux ist Mitbegründer der Zeitschrift Le Globe, die Saint-Simonistische Ideen entwikkelt. Er gibt der neuen Bewegung den Namen Sozialismus, dessen Programm jedoch nicht von ihm, sondern von Louis Blanc in dessen Schrift L'organisation du travail von 1839 entworfen wird. Blanc, der auch eine Geschichte der französischen Revolution geschrieben hat, erkannte die Konkurrenz als Prinzip der modernen ökonomischen Gesellschaft und kam von dieser Einsicht her zu einem System, das wir heute als einen Staatssozialismus bezeichnen würden, bei dem die Gefahr des Umschlags in einen Staatskapitalismus in keiner Weise gebannt ist. So wie Fourier die Gesellschaft auf den »phalanges « aufbauen wollte, so dachte Blanc an die staatliche Gründung von durchorganisierten Werkstätten, deren erfolgreiche Konkurrenz die kapitalistischen Privatbetriebe bald überrunden würde. Im Gegensatz zu Fourier hatte Blanc wenigstens für kurze Zeit die Chance, seine Idee zu verwirklichen: Er wurde durch die Revolution von 1848 Arbeitsminister und gründete die Nationalwerkstätten. Der Versuch war mit dem Sieg der Reaktion rasch zum Scheitern verurteilt. 209
Von noch größerer Wirkung auf die Zeitgenossen war das Werk Proudhons. Proudhon vertrat gegen Blanc und gegen die kommunistischen Ideen eine Dezentralisation mit größtmöglicher Wahrung der individuellen Freiheiten. Karl Marx, der in nächtelangen Diskussionen versuchte, Proudhòn die Hegelsche Dialektik einzutrichtern, hat an ihm scharfe Kritik geübt: Proudhon erschien ihm als letzter in der Reihe von Philosophen, die nur anders über die Welt denken lehren, anstatt die Welt zu verändern. Wie dem sei: Proudhon gab in seiner 1840 erschienenen Abhandlung Qu'est-ce que c'est que la propriété die wirksame Parole aus: »La propriété, c'est le vol.« 375 Proudhon vertritt einen ökonomischen Föderalismus, eine Parzellisierung der Industrie, und erwartet von diesen Maßnahmen die Aufhebung der Klassengegensätze und der nationalen Grenzen. Proudhons Sozialismus ist kosmopolitisch und individualistisch orientiert. Es ist unverkennbar, daß diese Gedankengänge in das Werk eines Victor Hugo, einer George Sand, eines Eugène Sue und schließlich eines Zola eingehen. Zunächst sei jedoch noch auf die Auswirkungen hingewiesen, welche sie auf das religiöse Denken hatten, auf die früheste Herausbildung einer katholischen Linken. Der beherrschende Name ist hier Félicité Robert de Lamennais, (1782-1854).
Félicité Robert de Lamennais und die Entstehung der katholischen Linken Lamennais, Bretone, geweihter Priester, ursprünglich Traditionalist und Feind jeder Aufklärung, gelangte über einen liberalen Katholizismus zu einem christlichen Sozialismus. 1830 gründete er die Zeitschrift L'Avenir, die das Motto trug: »Dieu et la liberté«. In ihr forderte er die Volkssouveränität, die Presse- und die Versammlungsfreiheit und die Trennung von Staat und Kirche. Dafür wurde die Zeitschrift verboten und seine Lehre von der Kirche verworfen. 1834 veröffentlicht er seine Paroles d'un croyant, die eine tiefgehende Wirkung hinterlassen und von Rom als ketzerisch verdammt werden. Lamennais vollzieht nun seine endgültige Trennung von der Kirche, aber keiner seiner Freunde folgt ihm auf dem Weg zum konsequenten Republikanertum. Sein Einfluß auf die Literatur ist darum nicht weniger bedeutsam; er ist greifbar in Lamartines Jocelyn, in Hugos Misérables, bei George Sand und vielen anderen.
375
Pierre-Joseph Proudhon, Qu'est-ce que c'est que la propriété, ou recherches sur le principe du gouvernement (hrsg. M. Augé-Laribé), op.cit., S. 2. 210
Auf der Suche nach der umfassenden Gattung, Friedrich Schlegels Romantheorie Nach diesem kurzen Blick auf einige wesentliche ideologische Ausgestaltungen des 19. Jahrhunderts wollen wir zur Literatur im engeren Sinne zurückkehren. Die Generation um 1830 war sich klar darüber, daß die verwandelte Welt einer neuen Orientierung der Literatur bedurfte. Wir wissen, in welchem Maße das Programm der romantischen Schule und ihres chef d'école, Victor Hugos, von diesem Bewußtsein bestimmt war. Der demonstrative, mit dem Hernani spektakulär gewordene Bruch mit der klassischen Dichtungstradition erzeugte auch eine andere Konzeption der literarischen Gattungen. Für Victor Hugo war es die Gattung des erneuerten, des romantischen Dramas, dem die führende Rolle in der literarischen Deutung der veränderten Welt zufallen sollte. Die berühmte Préface de Cromwell enthält das Programm. Eine Zeitlang sah es so aus, als sollte Hugo Recht behalten, aber der Erfolg seiner eigenen Stücke wie derjenigen Vignys und Dumas' lief sich mit der romantischen Bewegung selbst tot. Was Hugo vom totalen, alle Gattungen in sich aufnehmenden Drama erhoffte, erwartete Lamartine von der Lyrik. In seinem Essai Des destinées de la poésie 376 aus dem Jahre 1834 schrieb Lamartine: La poésie sera la raison chantée; voilà sa destinée pour longtemps; elle sera philosophique, politique, sociale, comme les époques que le genre humain va traverser, ... Ce sera l'homme lui-même et non plus son image, l'homme sincère et tout entier. 377
Und weiter: A côté de cette destinée philosophique, rationelle, politique, sociale de la poésie à venir, elle a une destinée nouvelle à accomplir; elle doit suivre la pente des institutions et de la presse; elle doit se faire peuple, et devenir populaire comme la religion, la raison et la philosophie. 378
Die Poesie soll – wie man sieht – die umfassende Gattung werden, in genauer Entsprechung zu einem neuen Begriff vom Menschen, seiner Vernunft und seinem Gefühl, adäquat aber auch dem neuen technischen Zeitalter, den modernen Institutionen, der Gesellschaftsform, der Presse und populär wie Religion, Raison und Philosophie. Es ist also eigentlich ein demokratisches Literaturprogramm, in dem der Poesie die Hauptrolle zugeschrieben wird. Darin liegt nun freilich auch ein sehr romantischer Zug: der Glaube an die Sangbarkeit aller denkbaren Inhalte. Und hierin liegt ein Grundirrtum beschlossen: die neue Zeit ist nämlich eine Zeit der Prosa. Die Prosa des Lebens ist ihre Signatur, und die literarische Gattung, die sie in ihrer Totalität erfassen will, kann daher weder die Lyrik noch das Drama sein.
376
377 378
Alphonse de Lamartine, »Des destinées de la poésie«, in: Œuvres complètes, Tournai o. Datum, S. 313. Ebda., S. 320. Ebda., S. 321. 211
Weder die Erwartung Hugos noch die Prophezeiung Lamartines erfüllten sich. Wer Recht behielt, war vielmehr Friedrich Schlegel (17721829). In einem berühmten Fragment nennt Schlegel die epochemachenden Ereignisse seiner Zeit, die – wie er sagt – drei größten Tendenzen des Jahrhunderts: die französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Wilhelm Meister, das heißt das umwälzende politische Ereignis, eine fundamentale philosophische Theorie der Wissenschaft und einen sämtliche Gattungen – sei's theoretisch, sei's praktisch – einbegreifenden Roman. Daß Schlegel bei dieser Zusammenschau von herausragenden, repräsentativen Erscheinungen seiner Zeit die Kunst durch einen Roman vertreten läßt, ist nichts weniger als Zufall: Romantik ist für ihn die neue Epoche, die mit der französischen Revolution und mit der idealistischen Philosophie eröffnet wird. Er begreift das Romantische als die fällige totale Erschließung der Welt. Romantische Dichtung ist für ihn – wie er sagt – »progressive Universalpoesie«, ist, wie einst das Epos, »ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters«, gipfelnd in der Gattung des Romans. Das ist die gleiche universalistische Konzeption der Literatur, wie wir sie auch bei Victor Hugo und Lamartine wirksam sahen. Hören wir, wie Schlegel die romantische Dichtung definiert: Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. 379
Diese in konsequent romantischer Auffassung alle Gattungs- und Stilgrenzen sprengende Dichtung findet nach Schlegels Ansicht ihre höchste Erfüllung im Roman als der totalen Gattung, die auf dem bewußt gewordenen Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit beruht und die daher nicht nur als die Form der »progressiven Universalpoesie«, sondern auch als »transzendentale Buffonnerie« bezeichnet wird. Diese letztere Bestimmung, welche den Begriff der romantischen »Ironie« in sich aufnimmt, ist offenbar an Cervantes orientiert, den die deutsche Romantik wiederentdeckt hat. Die »transzendentale Buffonnerie« Schlegels erscheint wieder bei Georg Lukâcs, und zwar bereits bei dem jungen, noch nicht marxistischen Lukâcs, in negativer Wendung als »transzendentale Obdachlosigkeit«: negativ, weil die moderne, aufgebrochene Welt ihr Versprechen an den Menschen nicht gehalten hat und doch stets das Bewußtsein dieser Möglichkeit wachhält. Der Roman ist – darin treffen sich der romantische Kritiker Schlegel und Lukâcs über ein Jahrhundert hinweg – die »Form der transzendentalen Obdachlosigkeit«, er ist daher auch die beherrschende literarische Gattung des modernen Zeitalters. Die Romantik bildet den Ansatz. Die Verwirklichung aber, die eigentliche Entsprechung der Herausforde-
379
Friedrich Schlegel, »Fragmente«, in: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, München 1967, Bd. 2, S. 182. 212
rung der Moderne an die Literatur, der Roman, führt sogleich über die Romantik hinaus.
213
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